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Jeroen Kemperman

Jeroen Geelhoed
Jennifer op 't Hoog Hrsg.

Brillante
Businessmodelle
im Finanzwesen
Pioniere für ein verlässliches
Bank- und Versicherungswesen
Brillante Businessmodelle im Finanzwesen
Jeroen Kemperman · Jeroen Geelhoed
Jennifer op ’t Hoog
(Hrsg.)

Brillante Businessmodelle
im Finanzwesen
Pioniere für ein verlässliches Bank- und
Versicherungswesen
Herausgeber
Jeroen Kemperman Jennifer op ’t Hoog
Zilveren Kruis, Achmea Achmea
Amsterdam, Niederlande Tilburg, Niederlande

Jeroen Geelhoed
&samhoud
Utrecht, Niederlande

ISBN 978-3-658-18288-5 ISBN 978-3-658-18289-2  (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail-
lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Gabler
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018
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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vertrauen kommt zu Fuß und verschwindet im Ferrari.


– Mark Carney, Gouverneur der Bank of England

Vertrauen ist die wichtigste Währung im Geschäftsleben. Kaum eine Industrie hat das in
den zurückliegenden Jahren so deutlich erfahren wie das Finanzwesen. Ob in Form stei-
gender Refinanzierungskosten, schärferer Regulierung, schwindender Kundentreue oder
geringerer Identifikation der Mitarbeiter – geringes Vertrauen hat einen hohen Preis. Im
deutschsprachigen Raum, namentlich in Deutschland, ist das Vertrauen in den Finanz-
sektor besonders schwach, besagt das Edelmann Trust Barometer 2017.
Das vorliegende Buch ist keine weitere Veröffentlichung über Fehlleistungen in der
Finanzindustrie. Es ist das Gegenteil. Wir haben Geschichten von Unternehmen gesam-
melt, die vorbildlich agieren in ihrem Bestreben, für alle Stakeholder Wert zu schaffen:
für Mitarbeiter und Anteilseigner, für Kunden und für die Gesellschaft. Wir stellen Orga-
nisationen und Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Branchen und unterschiedlichen
Ländern vor. Es sind Beispiele für brillante Businessmodelle aus der Geschichte und aus
der Gegenwart.
Nachdem wir bereits Studien zu brillanten Geschäftsmodellen im Gesundheitssektor
und für den Bereich Food vorgelegt haben, wenden wir uns mit Brillante Businessmodelle
im Finanzwesen einer Branche zu, deren Funktionieren und Reputation in einer markt-
wirtschaftlichen Ordnung von Bedeutung für den Wohlstand und die Zukunftsfähigkeit
der ganzen Gesellschaft ist. Werden die traditionellen Player die Kraft finden, sich aus
sich selbst heraus zu erneuern? Oder bedarf es der disruptiven Kraft digital geborener
Wettbewerber? Wir wünschen viel Vergnügen und Inspiration bei der Lektüre.

Köln Friedrich Pautasso


im Januar 2018

V
Vorwort

Du brauchst nur einen einzigen wahren Satz zu schreiben.


– Ernest Hemingway

2013 haben wir die Ergebnisse unserer Suche nach inspirierenden Unternehmen in ver-
schiedenen Branchen im Buch Brillante Businessmodelle festgehalten.1 Geleitet waren
wir von der Faszination für Unternehmen, die in ihrem Bereich wirklich einen Unter-
schied machen. Unternehmen, die die Spielregeln verändern und ganze Märkte auf den
Kopf stellen. Unternehmen, die in ehrlicher Art und Weise nicht nur auf ihren eigenen
Vorteil bedacht sind, sondern auch für ihre Kunden und die Gesellschaft ein Wertan-
gebot schaffen. Paradoxerweise sind sie gerade durch ein solches Verhalten auch sehr
erfolgreich für Mitarbeiter und Anteilseigner. Kurzum, diese Unternehmen machen alle
Beteiligten glücklich, was sich wiederum in einem Wert für das Unternehmen selbst nie-
derschlägt.
Wir suchten und fanden Unternehmen, die sich durch eine bahnbrechende und sich
selbst stärkende Wertschöpfung für alle Stakeholder auszeichnen. Dabei galt ein strenges
Auswahlkriterium: Die Wertschöpfung muss mess- und nachweisbar sein. Konkret hieß
das, dass wir Unternehmen suchten, die sowohl Gewinne erzielen als auch sehr treue und
zufriedene Mitarbeiter haben und die außerdem noch einen Beitrag zur Gesellschaft leis-
ten. Unternehmen, die auf diese Weise ein Wertangebot schaffen, müssen einfach brillant
sein. Aber wie stellen sie das an? Brillante Businessmodelle sind durch drei wiederkeh-
rende Merkmale gekennzeichnet, so lautete unsere Schlussfolgerung in Brillante Busi-
nessmodelle:

1. Sie werden von einem Leitbild angetrieben: Sie basieren auf der Idee, dass sich
Dinge wirklich ändern müssen. Brillante Businessmodelle werden „inside out“ durch
ihren Ehrgeiz, die Welt zu verändern, angetrieben. Sie wollen nicht nur „outside in“

1Kemperman et al. (2013) Briljante businessmodellen – Een bijzondere benadering voor betere

business. Academic Service, Den Haag.

VII
VIII Vorwort

bestehenden Marktbedürfnissen gerecht werden. Ihre Markenpositionierung haben sie


anschließend aufbauend auf ihrem Leitbild entwickelt.
2. Sie bleiben sich selbst in ihrem Businessmodell treu: Sie zeichnen sich durch Unter-
nehmergeist und Kreativität aus. Unternehmen mit brillanten Businessmodellen
setzen alles daran, um ihr Leitbild zu realisieren. Die Ambitionen und Markenverspre-
chen sind strukturiert und sehr fest in der Betriebsführung, dem Unternehmen und der
Zusammenarbeit mit Partnern verankert. So können sie nachhaltig, differenziert und
rentabel verwirklicht werden.
3. Sie sind bahnbrechend für und durch Stakeholder: Auf der Grundlage von Merk-
mal 1 und 2 verändern sie den Markt, das Leben von Stakeholdern und die Spiel-
regeln der Branche. Brillante Businessmodelle machen das Unmögliche möglich,
indem sie Konventionen brechen und überraschende Paradoxa schaffen, wo einst
Gegensätze zu existieren schienen. Das zeigt sich nicht nur in dem, was Unternehmen
für ihre Stakeholder tun, sondern auch in dem, was die Stakeholder anschließend für
die Unternehmen tun.

Kurzum, ein brillantes Businessmodell entsteht aus einem Leitbild. Dieses muss
anschließend konsistent im Businessmodell verankert und umgesetzt werden – was
jedoch nicht immer einfach ist. Danach muss es zum Erfolg für und durch Stakeholder
führen. Diese sind deshalb auch bereit, ihrerseits wieder mehr zurückzugeben und in
Energie und Ressourcen zu investieren. Dadurch entsteht eine sich selbst stärkende und
finanzierende Spirale. Das Unternehmen kann seinen Einfluss auf Kunden, Mitarbeiter
und die Gesellschaft vergrößern, was wiederum auch den Eigentümern wieder zugute-
kommt. Das ist etwas Besonderes und Wertvolles.
Unsere Suche nach brillanten Geschäftsmodellen setzte sich 2014 speziell im
Gesundheitswesen fort. Hier war unser Ausgangspunkt eine umgekehrte Perspektive.
Suchten wir sonst erst nach brillanten Unternehmen, um dann herauszufinden, wie sie
die Welt verbesserten, begannen wir nun mit den wünschenswerten Verbesserungen in
der Welt und suchten anschließend brillante Businessmodelle, die zeigten, wie diese
möglich sind. Eine der größten weltweiten Herausforderungen unserer Zeit ist die dau-
erhafte Sicherstellung von bezahlbarer und qualitativ guter medizinischer Versorgung für
alle. Wir formulierten die fünf Durchbrüche, die dafür erforderlich sind. Danach bega-
ben wir uns auf die Suche nach Unternehmen und Organisationen, die die erforderli-
chen Veränderungen realisieren und so ein inspirierendes Beispiel für die Erzielung der
gewünschten Durchbrüche sind. Und diese Beispiele haben wir gefunden: Unternehmen,
die für das gleiche Geld wesentlich mehr Krankenversicherungsleistungen von besserer
Qualität bieten und/oder viel mehr für die Gesundheit bewirken. Diese Leistungen bie-
ten sie selbst, aber beispielsweise auch indem sie Kunden und Patienten im Pflege- und
Gesundheitsmanagement eine strukturell andere Rolle für sich selbst und andere zuteil-
werden lassen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten brauchen wir diese Art brillanter
Vorwort IX

Businessmodelle, um unsere medizinische Versorgung und Gesundheit zu verbessern.


Nicht zur Nachahmung, sondern zur Belehrung und Inspiration. Inspiration, um die
Lösungen zu finden, mit denen die medizinische Versorgung und Gesundheit nachhaltig
verbessert werden können.
Es gibt mehr Bereiche, in denen bahnbrechende neue Lösungen und brillante Busi-
nessmodelle erforderlich sind. Wir setzten unsere Suche online und offline mithilfe vie-
ler anderer fort. Im vorliegenden Buch richten wir den Fokus auf das Finanzwesen. Für
Banken und Versicherungsunternehmen war das vergangene Jahrzehnt sicher eine turbu-
lente Zeit. Die Wirtschaft durchlebte eine tiefe Krise und einige scheinbar unantastbare
Unternehmen konnten sich nicht ohne Hilfe von außen behaupten. Das Misstrauen von
Kunden wuchs – und das häufig auch zu Recht. Darüber hinaus geschah das alles nicht
zum ersten Mal. Die Geschichte hat mehrere Male gezeigt, dass der Finanzsektor tur-
bulenten Zeiten ausgesetzt sein kann, zum Beispiel als es zum großen Börsencrash im
Jahr 1929 kam. Was ist 2008 und zu vergleichbaren früheren Zeitpunkten schiefgelau-
fen? Viele Versicherungsunternehmen und Banken begannen einst ausgehend von einem
gesellschaftlichen Bedürfnis mit hehren, gemeinsamen Absichten: Sicherheit geben,
um die medizinische Versorgung im Alter oder einen durch einen Unfall verursachten
Schaden bezahlen zu können; Geld verleihen, um ein Unternehmen zu gründen oder ein
Haus zu bezahlen; der Aufbau einer Altersrücklage für den Ruhestand. Das sind sehr
wichtige, fundamentale Dinge, die Sicherheit und Kontinuität im Leben von Menschen
darstellen.
Heute, einige Jahrzehnte nach ihrer Gründung, scheint es so, als hätten viele Finanz-
dienstleister in ihren traditionellen Rollen das Vertrauen der Menschen verloren und als
seien ihre Dienste nicht mehr erwünscht. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie viel zu sehr
mit sich selbst beschäftigt sind: mit ihrer eigenen Existenz, ihrer eigenen Sicherheit und
ihrem eigenen Gewinn. Über die Medien, die Politik und sogar die Gerichte hagelt es
Beschwerden bzw. Klagen von Kunden und der Öffentlichkeit. Diese Beanstandungen
klingen umso härter, als dass das gesellschaftliche Interesse an finanzieller Sicherheit und
Kontinuität nach wie vor unvermindert groß ist. Die häufig harte Kritik ist gerechtfertigt,
weil es um entscheidende Punkte geht und Menschen auf gut funktionierende Finanzin-
stitute vertrauen können müssen. Das wird schmerzlich sichtbar, wenn die Politik sich in
Krisenzeiten aufgrund des gesellschaftlichen Interesses gezwungen sieht, ­Unternehmen
mit Steuergeldern zu retten. Was braucht man, um in dieser Branche brillant zu b­ leiben?
Was brauchen Menschen und Unternehmen, um Kontinuität sicherzustellen, um den
Ursprüngen des Unternehmens gerecht zu werden und um in Zukunft innovativ zu
bleiben? Was sind die mentalen Vereinbarungen und Verantwortlichkeiten, die glück-
lich machen und bei denen für jeden transparent ist, was er oder sie gibt und nimmt?
Was ist erforderlich, um langfristig ausgewogenen Mehrwert für alle Beteiligten zu bie-
ten und zu verhindern, dass Mitarbeiter oder Anteilseigner sich kurzfristig auf Kosten
von Kunden bereichern? Wie schafft man ein Gleichgewicht, bei dem für die Kunden
X Vorwort

und die Gesellschaft ersichtlich ist, dass es eine gemeinsame Verpflichtung für die
Zukunft gibt? Kurzum, wir hatten noch einige Fragen …
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, stets den Kern und die Relevanz der finanziellen
Dienstleistung, die in den Fallstudien erbracht wird, zu verstehen. Deshalb haben wir uns
sechs Formen der finanziellen Dienstleistung angesehen, die jede für sich eine eigene
Rolle im Leben vom Kunden spielt, und zwar:

• (Gemeinschaftlicher) Zahlungsverkehr;
• (Gemeinschaftliches) Banking;
• Gemeinsame Finanzierung;
• Gemeinsame Investition;
• Teilung alltäglicher Risiken;
• Teilung besonderer Risiken.

Dabei hatten wir den Eindruck, dass die Antworten für die Zukunft bereits in der Vergan-
genheit, im Ursprung der finanziellen Dienstleistung, verborgen liegen. Wir wollten den
Sektor neu entdecken, um ihn dann zu erneuern und relevant, d. h. wertvoll, für morgen
zu machen. Deshalb haben wir für die sechs Formen der finanziellen Dienstleistung stets
drei brillante Businessmodelle gesucht: in der Vergangenheit, in der Gegenwart und für
die Zukunft.
Schließlich sind von den mehr als 300 untersuchten Unternehmen auf der Longlist der
Fallstudie diejenigen übrig geblieben, die in diesem Buch aufgenommen wurden. Wir
haben online und offline von Ko-Kreation Gebrauch gemacht. Wir haben gemeinsame
Autoren- und Redaktionsabende organisiert und anschließend unter www.wikibusiness-
models.com weitergearbeitet. Die ausgewählten Unternehmen werden anhand der kon-
zeptionellen Rahmenbedingungen für brillante Businessmodelle beschrieben, die in
den beiden ersten Büchern entwickelt und beschrieben wurden. Wir haben unser Bestes
gegeben, zu verstehen, wie die Unternehmen sich im Laufe der Zeit entwickelt haben.
Häufig hatten sogar diese brillanten Businessmodelle ihre weniger brillanten Momente,
in denen es große Probleme zu meistern galt, die sich jedoch nicht immer sofort lösen
ließen. Wir sind begeistert von Geschichten und dem journalistischen Ansatz: „Niemals
sollte die Wahrheit einer guten Geschichte im Wege stehen.“ Bei unserer Suche haben
wir uns das Gegenteil zu Herzen genommen: „Niemals sollte eine Geschichte dem Ver-
stehen der Wahrheit im Wege stehen.“ Wir wollten aufzeigen, wie Unternehmen sich ent-
wickelt haben, vor welchen Problemen sie gestanden haben und wie sie diese gemeistert
haben. Dieses Buch und die Website sind unsere Art, Leser auf die Reise mitzunehmen,
die diese brillanten Businessmodelle selbst auch gemacht haben. Wir hoffen, dass sie
Ihnen dabei helfen, die Welt der Finanzdienstleistungen zu verbessern.
Das Redaktionsteam: Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog.
Vorwort XI

PS: Ko-Kreation und Inspiration entwickeln sich permanent weiter und auch wir wol-
len uns kontinuierlich verbessern. Wir sammeln auch weiterhin neue Fallstudien und
möchten Sie deshalb herzlich einladen, Ihr persönliches Lieblingsbeispiel eines brillan-
ten Businessmodells online mit den anderen Lesern und den Autoren dieses Buchs zu
teilen. Schmökern und mitmachen können Sie in der eigens dafür gegründeten Commu-
nity unter www.wikibusinessmodels.com.

Lese(freude)ratgeber
Wir hoffen, dass Sie die Lektüre dieses Buchs genauso schön und faszinierend finden
wie wir – d. h. die Redaktion und Fallstudienautoren – seine Realisierung. Inspiriert von
der Montessoripädagogik empfehlen wir Ihnen, Ihre Energie in das Lesen der Kapitel zu
investieren, die Sie zum jeweiligen Zeitpunkt am interessantesten finden und die Ihnen
deshalb Energie zurückgeben.2 Dafür bringen Sie die größte Offenheit mit und es kostet
Sie am wenigsten Mühe. Auf diese Weise zahlt sich Ihre Investition am besten aus. Um
genau das zu ermöglichen, kann dieses Buch von A bis Z gelesen werden; das Lesen der
einzelnen Fallstudien als Collage ist aber auch möglich. Das Buch besteht aus zwei Tei-
len: den Rahmenbedingungen und den Fallstudienbeschreibungen.

Teil I: Rahmenbedingungen für brillante Businessmodelle im Finanzwesen


Teil I behandelt in Kap. 1 die Entstehung von Innovation sowie den Aufstieg und Fall
neuer Businessmodelle. Beschrieben wird, wie Mangel, gesellschaftliche Probleme und
neue technologische Möglichkeiten zu innovativen Lösungen führen. Es wird der Frage
nachgegangen, warum disruptive Innovation häufig von Start-ups kommt und nicht von
bereits existierenden Unternehmen und was das für die Innovation von Businessmodel-
len bedeutet. Des Weiteren wird die Finanzwelt näher beleuchtet und ermittelt, inwieweit
hier Anzeichen dieser Art von disruptiver Businessmodellinnovation zu erkennen sind.
Die Kap. 2 bis 4 beschäftigen sich mit den konzeptionellen betriebswissenschaftlichen
Rahmenbedingungen, die der Beschreibung der Fallstudien zugrunde liegen. Gemäß den
Merkmalen brillanter Businessmodelle wollen wir uns zunächst dem Leitbild und der
Markenpositionierung zuwenden. Ausgehend davon untersuchen wir die Marktsegmente,
das Wertangebot für den Kunden sowie die Kanäle und das Verfahren, die die Bausteine
des Businessmodells bilden. Anschließend konzentrieren wir uns auf das Wertangebot,
das das Businessmodell für Kunden, Anteilseigner, Mitarbeiter und die Gesellschaft
bereithält, und auf das, was dem Unternehmen dafür zurückgegeben wird. Nach unserer
Definition ist ein Businessmodell schließlich erst dann brillant, wenn es auch tatsächlich
zu einer relevanten Wertschöpfung für alle Stakeholder führt.

2Montessori M (1967) The Absorbent Mind. Delta, New York.


XII Vorwort

Teil II: Fallstudien brillanter Businessmodelle im Finanzwesen


Teil II ist das Herzstück dieses Buchs. Die echte Verbesserung des Finanzwesens beginnt
mit dem Verstehen der elementaren Probleme von Kunden(gruppen) und der Angebote,
die sie fordern. Deshalb richten wir die Aufmerksamkeit auf sechs Formen der finanzi-
ellen Dienstleistung. Die Herausforderung auf jedem dieser Gebiete besteht darin, auf
der Grundlage der gelernten Lektionen von gestern wertvolle und transparente Lösungen
für morgen zu entwickeln. Deshalb beleuchten wir für jede dieser Gruppen die Vergan-
genheit, die Gegenwart und die Zukunft. Diese Beschreibungen sind auf der Grundlage
der festen Rahmenbedingungen für brillante Businessmodelle entstanden. Nacheinander
wird für jede Fallstudie auf das Leitbild und die Markenpositionierung, die konsistente
Umsetzung im Businessmodell und die sich daraus ergebende Wertschöpfung für alle
Beteiligten eingegangen.
Abschließend werden in Kap. 11 die Lektionen aus allen Fallstudien behandelt. Was
können wir jetzt lernen, wenn wir bahnbrechende neue Businessmodelle im Finanzwe-
sen entwickeln möchten, die wertvoll, zukunftsbeständig und zuverlässig sind?

Fallstudien
Als Leser wählen Sie selbst, wo Sie anfangen, aufhören und das Lesetempo beschleu-
nigen. Für den Anfang können die Kap. 2 bis 4 überschlagen werden, wenn Sie unser
vorheriges Buch Brillante Businessmodelle oder Brillante Businessmodelle im Gesund-
heitswesen gelesen haben oder wenn Sie direkt mit den Praxiserfahrungen beginnen
möchten. Um die Fallstudien besser zugänglich zu machen, sind sie nach einem festen
Schema aufgebaut. Dabei können Sie die Fallstudien auch überfliegen, indem Sie sich
die Abbildungen ansehen. Anschließend können Sie dann immer noch entscheiden, ob
Sie den Text vollständig oder überhaupt nicht lesen. Sie haben die Möglichkeit, jede
Fallstudie einzeln für sich zu lesen.

Vertiefung
Wir können uns vorstellen, dass Sie mit dem Überfliegen bzw. Lesen der Fallstudien in
Teil II anfangen, auf die Sie am neugierigsten sind. Des Weiteren hoffen wir, dass Sie
sich danach die nächste Fallstudie vornehmen und so mit dem Lesen fortfahren. Wenn
Sie dabei das Bedürfnis verspüren, einen Schritt zurückzugehen und das Ganze zu vertie-
fen, sollten Sie zurückblättern. Um mehr Einblick in die Businessmodellinnovation und
die Herausforderungen im Finanzwesen zu erhalten, lesen Sie Kap. 1. Um sich in die
einzelnen Formen der finanziellen Dienstleistung zu vertiefen, benutzen Sie den ersten
Abschnitt der verschiedenen Themenkapitel und lesen Sie die drei jeweiligen Fallstu-
dien. Wenn Sie das verwendete konzeptionelle Modell besser verstehen möchten, blät-
tern Sie zu den Kap. 2 bis 4.
Vorwort XIII

Schnell an die Arbeit


Wenn Sie sich so schnell wie möglich selbst an die Entwicklung eines brillanten Busi-
nessmodells machen möchten, empfehlen wir Ihnen, sich an eine inspirierende Fallstudie
aus diesem Buch zu halten, die Ihrer eigenen Praxis nahekommt. Diese können Sie dann
mit Kollegen teilen, um gemeinsam zu erörtern, was Sie daraus für Ihr eigenes Unterneh-
men lernen können.
Viel Spaß beim Lesen!
Danksagung

Die meisten der Unternehmen, die wir betrachten, verfolgen zu Anfang ein großartiges
und begeisterndes Ziel. Allerdings kann man „kein Feuer ohne einen Funken“ machen.
Und so endet hier meistens der Plan. Der Feinschliff erfolgt im Rahmen einer Entde-
ckungsreise. Immer wieder müssen Lösungen für neue Hindernisse gefunden werden,
die hinter einer neuen Wegbiegung auftauchen. Die Herausforderung besteht darin, den
Weg nicht sofort zu verlassen und den verführerisch duftenden Blumen im Wald zu ver-
fallen. Das Problem muss mit einem neuen Angebot gelöst werden. Es muss mit einer
ausgewogenen Kombination aus Integrität, Konsistenz, Durchsetzungsvermögen, Krea-
tivität, aber auch Humor und Naivität für die nötige Prise Spaß entwickelt werden. Das
gilt für die Entwicklung eines brillanten Businessmodells und für dessen Erforschung
gleichermaßen.
Wir machen uns mit einer immer größer werdenden Gruppe von Mitarbeitern daran,
brillante Businessmodelle zu ergründen – inzwischen besteht unser Team aus insgesamt
etwa 35 Fallstudienautoren. Unsere Suche nach dem Wesen und der Wirkung brillanter
Businessmodelle ähnelt manchmal ein bisschen der Suche von Unternehmen nach der
richtigen Strategie und einer neuen innovativen Lösung. Wir alle treffen auf neue Prob­
leme und Schwierigkeiten, deren Zusammenhänge wir verstehen und erläutern. Dann
enden wir wieder „verwirrt auf einer höheren Ebene“. Wir wissen vorab auch nicht,
was wir während der Suche finden und lernen werden. Manchmal gräbt man und findet
nichts außer Schlamm, manchmal entdeckt man einen inspirierenden Brillanten. Manch-
mal findet man sogar Beispiele, bei denen man sich mit seinen Partnern sofort an die
Arbeit machen möchte, um das eigene Unternehmen zu verbessern oder ein vergleich-
bares neues Unternehmen zu gründen. Wir möchten uns gern bei einer Reihe von Men-
schen bedanken, die diese Reise möglich gemacht haben, sich als Reisebegleiter beteiligt
haben, uns den Weg gewiesen haben oder denen wir mit unserer Reise zur Last fallen
durften.
In erster Linie möchten wir uns bei den Menschen bedanken, die die Reise möglich
gemacht und uns dazu ermutigt haben. Bei Achmea sind das Norbert Hoogers, der weiß,
dass man Austern öffnen muss, um Perlen zu finden, Roelof Konterman, der den Wert
von Konsistenz und Integrität im Leitbild und in der Strategie ergründet, sowie Willem

XV
XVI Danksagung

van Duin, der die Bedeutung der gemeinschaftlichen Solidarität in Businessmodellen im


Finanzwesen in der Praxis lebt. Bei &samhoud sind wir Salem Samhoud zu Dank ver-
pflichtet, der uns nicht nur inhaltlich inspiriert und herausfordert, sondern selbst auch
aktiv wird, um in der Praxis die Grenzen des eigenen Businessmodells zu verschieben.
Die Mitarbeiter, die sich beteiligen, sind natürlich alle Fallstudienautoren dieses
Buchs, aber auch der vorangegangenen Bücher. Des Weiteren möchten wir uns auch bei
einer ganzen Reihe von Kollegen von Achmea bedanken: Bei den Kollegen im Vorstand,
bei den Nachwuchsführungskräften, bei den Mitarbeitern in Entwicklungspositionen
und in SPIL, der Abteilung Pflege und Gesundheit, aber auch bei den Mitarbeitern in der
Abteilung Beschleunigen und Innovation, mit denen wir gemeinsam nach Innovationen
für und ausgehend von Achmea gesucht haben. Bei den Beratern von &samhoud, die
zusammen mit ihren Kunden an neuen und immer besseren Businessmodellen arbeiten.
Bei den Unternehmern und Partnern, mit denen neue Firmen in Bereichen wie Pflege,
Gesundheit, Lebensmittel und natürlich Finanzen gegründet wurden. Außerdem bei
allen, die uns bei der Erstellung dieses Buchs geholfen haben. Ein großes Dankeschön
geht auch an Elke Vergoossen, Wieke Oosthoek und ihren Kollegen bei BIM Media/
Academic Service, die gemeinsam mit Rinus Vermeulen für die enorme Redaktionsar-
beit verantwortlich sind. Für die Überarbeitung der deutschen Ausgabe bedanken wir
uns herzlich bei Friedrich Pautasso, Thomas Winkler, Carsten Brüggerhoff und Sinah
Schmid. Danke auch an Vida Falkeisen für ihre kreativen Einblicke und natürlich die
Gestaltung und an Anke Werkman-Kramer für die Gründung einer Community, in der
wir alle unsere Erkenntnisse zusammentragen (wikibusinessmodels.com).
Und dann gibt es auch noch eine Reihe von wegweisenden Menschen, bei denen wir
uns ganz besonders bedanken möchten. Job Daemen und Chris Fentener aus Vlissingen
für die Informationen und Hintergründe zu den grundlegenden Geschäften in der Welt
der Finanzdienstleistungen. Ida Kempermann-Wilke, die die Onlinearchive nach Mate-
rialien über die Amsterdamer Wechselbank und Lloyd’s of London durchforstet hat.
Donald Kohen und Daniel van Delft von Visa für die Interviews über diesen Riesen im
Zahlungsverkehr. Khaled El-Naggar, der die Texte zur Fallstudie über das historische
Mit Ghamr gelesen und kommentiert hat.
Mikael Sørensen (Hauptgeschäftsführer von Handelsbanken Nederland) für das Inter-
view, das wir über Svenska Handelsbanken führen konnten, Dimo Yanchev und Niklaus
Hilti für das Teilen ihrer Kenntnisse und Jeroen van der Wolk für das Mitlesen und die
kontinuierliche Verbesserung der Fallstudie über Credit Suisse. Rahul Bhagat von Pebble
Technology Corporation für die Nutzereinblicke und lebendigen Geschichten über die
Kickstarter-Fallstudie. Pieter Louter, Jack Hommel, Robin Clements und Tamara Pie-
terse für ihre Anregungen zur Fallstudie von Centraal Beheer. Jack Buckens, Adriaan van
Engelen, Arné van den Boom, Jack Hommel, Rene Voets, Bob van Leeuwen, Frank van
Tiggelen, Jurgen Surstedt, Patty Jansen und Jan-Willem Blank (von Interpolis) sowie Kurt
Veweire (von Vlerick Business School) und Peter Maas (von St. Gallen) für ihre Beiträge
zur Fallstudie von Interpolis. Theo Zurhake und Ewoud Bom für die Informationen über
die besonderen Risiken bei Lloyd’s, AIG und Credit Suisse. Ralph van den Boogaard und
seinen Partnern Cornelissen und Brussé für den Beitrag zum Rentenfonds der Rotterdamer
Ruderer. Andrew Kuper und Don Gray für die Interviews über und Einblicke in LeapFrog.
Danksagung XVII

Und dann sind da schließlich noch die Lieben zu Hause, denen auffällt, dass man
auch abends und am Wochenende weg ist, weil wieder einmal am Buch geschrieben wer-
den muss. Jeroen Kemperman bedankt sich bei Francien, Job und Pip für die schönen
Gespräche am Esstisch und die geteilte Arbeitsfreude, wenn heute alle zusammen gleich-
zeitig ihre Hausaufgaben machen. Für Jeroen Geelhoed sind es Evelien, Bram, Daniël,
Thomas und Eva, die ihn während und nach dem ganzen Lesen, Reisen, Diskutieren und
Schreiben immer wieder erden und auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Jennifer
op ’t Hoog bedankt sich bei Jaap van den Berg für die Unterstützung und auch dieses
Mal wiederum für die Anregungen und das Schreiben.

Jeroen Kemperman
Jeroen Geelhoed
Jennifer op ’t Hoog
Inhaltsverzeichnis

Teil I  Rahmenbedingungen für brillante Businessmodelle im Finanzwesen


1 Disruption und Businessmodellinnovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
1.1 Mangel und bahnbrechende Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.2 Disruptive Technologie und die Entstehung neuer Businessmodelle . . . . 9
1.3 Anzeichen von Disruption: Businessmodellinnovation im
Banken- und Versicherungswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2 Was sind die Fundamente für ein brillantes Businessmodell?. . . . . . . . . . . . . 21
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Thomas Winkler
2.1 Leitbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.2 Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
3 Was ist ein Businessmodell?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Thomas Winkler
3.1 Marktsegmente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3.2 Wertangebot für Kunden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.3 Kanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3.4 Betrieb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
4 Wertschöpfung und Gesamtrahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
4.1 Wertschöpfung für alle Stakeholder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
4.2 Konzeptioneller Rahmen und Phaseneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

XIX
XX Inhaltsverzeichnis

4.3 Fallstudie in Phase 4: Das brillante Businessmodell von Progressive. . . . 55


4.4 Test der Brillanz: Wie beurteilt man Banken und Versicherungen
anhand der Messlatte für brillante Businessmodelle?. . . . . . . . . . . . . . . . 71
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Teil II  Fallstudien brillanter Businessmodelle im Finanzwesen


5 Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
5.1 Die Amsterdamer Wechselbank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.1.1 Das Fundament: Vertrauen in virtuelles Geld, das
man nicht stutzen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
5.1.2 Das Businessmodell: Urmodell der Zentralbank. . . . . . . . . . . . . 94
5.1.3 Das Ergebnis: Gemeinsames Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
5.1.4 Die brillanten Lektionen der Amsterdamer Wechselbank. . . . . . 99
5.2 Visa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
5.2.1 Das Fundament: Das Visum für weltweiten
Zahlungskomfort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
5.2.2 Das Businessmodell: Immer erreichbar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
5.2.3 Das Ergebnis: Weltweites Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5.2.4 Die brillanten Lektionen von Visa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
5.3 GCash. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
5.3.1 Das Fundament: Armut vom Mobiltelefon aus bekämpfen. . . . . 119
5.3.2 Das Businessmodell: Von Mängeln zu Nutzern. . . . . . . . . . . . . . 122
5.3.3 Das Ergebnis: Der Kunde als Produktbotschafter. . . . . . . . . . . . 129
5.3.4 Die brillanten Lektionen von GCash. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
6 Gemeinschaftliches Banking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
6.1 Mit Ghamr Savings Association . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
6.1.1 Fundament: Sozialökonomische Bottom-up-Entwicklung. . . . . 146
6.1.2 Das Businessmodell: Es geht ausschließlich ums Vertrauen. . . . 148
6.1.3 Ergebnis: Veränderung der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
6.1.4 Die brillanten Lektionen von Mit Ghamr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
6.2 Svenska Handelsbanken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
6.2.1 Das Fundament: Die Filiale ist die Bank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
6.2.2 Das Businessmodell: Vollkommene Dezentralisierung. . . . . . . . 162
6.2.3 Das Ergebnis: Zufriedenheit ist der Schlüssel. . . . . . . . . . . . . . . 168
6.2.4 Die brillanten Lektionen von Svenska Handelsbanken. . . . . . . . 170
Inhaltsverzeichnis XXI

6.3 Umpqua Bank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172


6.3.1 Das Fundament: Eine Bank als Einzelhandelsgeschäft. . . . . . . . 173
6.3.2 Das Businessmodell: Anders aufgrund ausgezeichneter
Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
6.3.3 Das Ergebnis: Wertschöpfung für alle Stakeholder. . . . . . . . . . . 181
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
7 Gemeinsame Finanzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
7.1 Friedrich Wilhelm Raiffeisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
7.1.1 Die Basis: ein Mann mit Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
7.1.2 Das Businessmodell: Seele und Sachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 198
7.1.3 Das Ergebnis: Wohlstand für alle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
7.1.4 Raiffeisens brillante Lehren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
7.2 Bank Rakyat Indonesia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
7.2.1 Das Fundament: Fehler sind Erfolge, wenn wir
aus ihnen lernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
7.2.2 Das Businessmodell: Zurück zu den Wurzeln. . . . . . . . . . . . . . . 211
7.2.3 Das Ergebnis: Stabilität und Sicherheit für alle Beteiligten . . . . 217
7.2.4 Die brillanten Lektionen von Bank Rakyat Indonesia. . . . . . . . . 219
7.3 SKS Microfinance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
7.3.1 Das Fundament: Indische Kultur und westliche
Geschäftsprinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
7.3.2 Das Businessmodell: Frauen die Chance geben, sich als
Unternehmerinnen zu beweisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
7.3.3 Das Ergebnis: Kapazitätsvergrößerung in selbstverstärkenden
Wachstumsspiralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
7.3.4 Die brillanten Lektionen von SKS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
8 Gemeinsame Investition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Thomas Winkler
8.1 Der Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
8.1.1 Das Fundament: Können wir es selbst, dann machen
wir es auch selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
8.1.2 Businessmodel: Individuelles Interesse und
Gruppenengagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
8.1.3 Das Ergebnis: Nach 80 Jahren ein blühender Fonds. . . . . . . . . . 255
8.1.4 Die brillanten Lektionen des Rentenfonds
der Rotterdamer Ruderer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
XXII Inhaltsverzeichnis

8.2 LeapFrog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261


8.2.1 Das Fundament: Wir bitten Sie, nicht zwischen
Geld und Bedeutung zu wählen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
8.2.2 Das Businessmodell: Profit with purpose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
8.2.3 Das Ergebnis: Das Modell ist am Arbeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . 272
8.2.4 Die brillanten Lektionen von LeapFrog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
8.3 Kickstarter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
8.3.1 Das Fundament: Gemeinsam kreative Projekte realisieren. . . . . 278
8.3.2 Das Businessmodell: Füreinander, voneinander. . . . . . . . . . . . . 282
8.3.3 Das Ergebnis: Rückenwind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
8.3.4 Die brillanten Lektionen von Kickstarter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
9 Teilung alltäglicher Risiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
9.1 Centraal Beheer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
9.1.1 Das Fundament: „Angelegenheiten gemeinschaftlich
selbst regeln“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
9.1.2 Das Businessmodell: Mal eben anrufen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
9.1.3 Das Ergebnis: Sich selbst neu erfinden und die
Kategorie neu definieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
9.1.4 Die brillanten Lektionen von Centraal Beheer . . . . . . . . . . . . . . 316
9.2 Interpolis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
9.2.1 Das Fundament: Es beginnt mit Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
9.2.2 Das Businessmodell: nur wenn es stimmt, stimmt es. . . . . . . . . 323
9.2.3 Das Ergebnis: Gegenseitiges Vertrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
9.2.4 Die brillanten Lektionen von Interpolis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
9.3 Google? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
9.3.1 Das Fundament: Immer und überall Zugang zu allen
Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
9.3.2 Das Businessmodell: Sehr viel für jeden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
9.3.3 Das Ergebnis: Wachstum, Wachstum, Wachstum. . . . . . . . . . . . 345
9.3.4 Die brillanten Lektionen von Google . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
10 Teilung besonderer Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
10.1 Lloyd’s of London. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
10.1.1 Das Fundament: Lloyd’s wagt sich an jedes Risiko heran . . . . . 357
10.1.2 Das Businessmodell: Eine Sonderstellung für jedes Risiko . . . . 362
Inhaltsverzeichnis XXIII

10.1.3 Das Ergebnis: Lloyd’s ist ein Wertangebot. . . . . . . . . . . . . . . . . 368


10.1.4 Die brillanten Lektionen von Lloyd’s. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
10.2 American International Group. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
10.2.1 Das Fundament: Alle Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
10.2.2 Das Businessmodell: Alle Informationen und Netzwerke. . . . . . 379
10.2.3 Das Ergebnis: Jede Belohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
10.2.4 Die brillanten Lektionen von AIG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
10.3 Credit Suisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
10.3.1 Das Fundament: Vorausdenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
10.3.2 Das Businessmodell: Mit dem Kunden vorwärtsgehen. . . . . . . . 391
10.3.3 Das Ergebnis: Nachhaltiger Wert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
10.3.4 Die brillanten Lektionen von Credit Suisse. . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
11 Lektionen für die Schaffung brillanter Businessmodelle
im Finanzwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso
11.1 Fundament, Leitbild und Markenpositionierung: Tu ich das Richtige?. . . 406
11.2 Businessmodell: Mache ich es richtig?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
11.3 Wertschöpfung: Schaffe ich relevanten Wert?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
Über die Autoren

Das Redaktionsteam

Jeroen Kemperman verantwortet die Bereiche Strategie, Programme und Investments


bei Achmea Health. Er hat Erfahrung in den Bereichen Änderungsprogramme, ­Integration,
Fusion, Leitbild- und Strategieumsetzung, Umstrukturierung, Markenportfolioaspekte,
Markenpositionierung, Beteiligung, Businessmodellentwicklung und Innovation. Jeroen
Kemperman ist ein gefragter Redner auf Kongressen und Gastdozent für verschiedene
Studiengänge und veröffentlichte zuvor Bücher wie „Die Markenfunktionsmethode“,
„Brillante Businessmodelle“ und „Brillante Businessmodelle im Gesundheitswesen“.
Jeroen Geelhoed  ist Partner bei &samhoud. Er berät große Unternehmen in verschiedenen
Branchen und hat Erfahrung in den Bereichen Änderungsprogramme, Leitbild- und Stra-
tegieumsetzung, Businessmodellinnovation, Mitarbeiterführung und Spaß-Management.
Darüber hinaus ist er verantwortlich für den Bereich Knowledge Development bei der
Unternehmensberatung &samhoud. Jeroen Geelhoed sprach unter anderem auf der Tagung
TEDx Sheffield und veröffentlichte mehrere Bücher zu Themen wie „Spaß & Leistung“,
„Die Aktivierung des Leitbilds“, „Was ist uns unser Name wert?“, „Brillante Businessmo-
delle“ und „Brillante Businessmodelle im Gesundheitswesen“.
Jennifer op ’t Hoog verantwortet den Bereich Bildung bei Achmea Health. Sie hat
Erfahrung in den Bereichen Änderungsprogramme, Leitbild- und Strategieumsetzung
sowie Businesstransformationsmodell. Derzeit ist sie verantwortlich für das Identifi-
zieren, Sammeln, Beschreiben und Teilen von Best Practices, Innovationen und Lehren
und sucht nach neuen Methoden, um gemeinsam mit Partnern diesem Verfahren Form
und Inhalt zu geben. Auch sie ist eine gefragte Rednerin auf Kongressen und veröffent-
lichte zuvor die Bücher „Brillante Businessmodelle“ und „Brillante Businessmodelle im
Gesundheitswesen“.

XXV
XXVI Über die Autoren

Friedrich Pautasso ist Partner und Gründer von &samhoud Deutschland. Er arbei-


tet seit 2014 bei &samhoud und gründete &samhoud Deutschland ein Jahr darauf. Vor
seiner Zeit bei &samhoud war er Vorstandsmitglied und COO der Krankenversiche-
rungen der Generali Deutschland Gruppe. In dieser Funktion war er unter anderem für
die ­Bereiche Business Development, Operations, Asset Management, Personal und
Unternehmenskommunikation verantwortlich. Friedrich Pautasso verfügt über 15 Jahre
Senior-Management- und ­Beratungserfahrung in der Entwicklung und Führung von High
Performing Organisationen. In Deutschland und international arbeitet er als Berater und
Coach auf Board- und Topmanagementebene.
Thomas Winkler  ist Seniorberater bei &samhoud. Er verfügt über 15 Jahre Beratungs-
erfahrung im Umfeld Strategie, Organisationsentwicklung und digitale Transformation.
Zwischenzeitlich hatte Thomas Winkler operative Verantwortung übernommen und das
internationale Geschäft eines etablierten deutschen Industrieunternehmens von einer
direktiven, patriarchalen Organisation in eine kompetenzbasierte und partizipative Orga-
nisation überführt. Heute ist er Teil von &samhoud Deutschland und hier verantwortlich
für die Themenfelder Ledership & High Performing Teams und New Work. Er glaubt
an die Stärke und das Zusammenspiel inspirierender und identitätsstiftender Leitbilder,
offener Organisationsstrukturen und exzellenter Führung.

Die Fallstudienautoren

Inmaculada Macías Alonso  ist Doktorandin im Studiengang Organizational Behavior


an der IE Business School in Madrid. Im Mittelpunkt ihrer Forschung steht das Thema
Islamisches Wirtschafts- und Finanzwesen, moralische Identität sowie die Rolle von
Kultur und Religion im unternehmerischen Zusammenhang.
Sander Asma  ist als Seniorberater bei &samhoud tätig. Er beschäftigt sich insbesondere
mit der Leitbild- und Strategieentwicklung sowie mit der Businessmodellinnovation und
deren Umsetzung. Asma möchte Unternehmen in ihrem Vorhaben unterstützen, ihren
Kunden und Mitarbeitern einen Mehrwert zu bieten. Seine Arbeit bereitet ihm vor allem
dann Spaß, wenn er sich abwechselnd auf eine nationale und internationale Ebene bege-
ben kann. Und vor allem, wenn schöne Ideen in der Realität brillant werden.
Thomas Bachet  arbeitet als Unternehmensberater bei TNO Strategic Business Analysis
und ist auf Innovationsmanagement spezialisiert. Im Rahmen seiner Tätigkeit berät er
Unternehmen unter anderem zu neuen Businessmodellen für bestehende und innovative
Produkte und Dienstleistungen.
Jaap van den Berg  ist strategischer Personalberater bei Achmea Zorg & Gezondheid. Er
hat Erfahrung mit der Entwicklung und Positionierung von strategischen Änderungspro-
grammen und der Beratung des Vorstands zu verschiedenen Aspekten der Unternehmens-
politik. Als Lean-Experte übernahm er zwischen 2007 und 2010 unangenehme Aufgaben.
Über die Autoren XXVII

Rob van de Blaak arbeitet seit 2000 für &samhoud und hier insbesondere für Auf-
traggeber aus dem Finanzdienstleistungssektor. Van de Blaak hat einen Marketinghin-
tergrund und hat zwischen 1993 und 2000 in diesem Bereich für Rabobank Nederland
gearbeitet. Als Seniorberater verfügt er über viel Erfahrung in der Entwicklung und
Implementierung von Leitbildern und Strategien bei Banken und Versicherungen. Darü-
ber hinaus hat er bei mehreren Fusionen die kulturelle Integration begleitet. Van de Blaak
ist ehemaliger Wasserballnationalspieler, verheiratet und hat vier Kinder.
Floor Burgers hat einen Abschluss in Verwaltungsmanagement der Universität Utrecht
und begann ihre berufliche Karriere im Jahr 2013 als Führungsnachwuchskraft bei Achmea.
In dieser Funktion hat sie ihrer Neugier und ihrer Unvoreingenommenheit bei der Identifi-
zierung und Beschreibung von einem der brillanten Businessmodelle freien Lauf gelassen.
Carsten Brüggerhoff  ist Seniorberater bei &samhoud. Er ist Unternehmer und erfah-
rener Geschäftsführer. 2002 gründete er mit Freunden die sepago GmbH und verantwor-
tete aus der Geschäftsführung heraus die Bereiche Unternehmenskultur, HR, Finanzen,
Administration und Marketing. Sepago ist ein mittelständisches IT-Beratungshaus in
Köln, Hamburg und München und Pionier im Bereich Unternehmenskultur. sepago ist
mehrfach zum besten Arbeitgeber Deutschlands vom Great Place to Work Institut
gekürt worden. In diesem Prozess hat Carsten Brüggerhoff dies als sein berufliches
Lebensthema entdeckt und konzentriert sich seit Anfang 2017 auf die Beratung von
Organisationen und Menschen in Veränderung. Carsten Brüggerhoff ist ein aufmerksa-
mer Zuhörer und positiver Querdenker und hat viel operative Erfahrung auf seinem Weg
zum Besten Arbeitgeber Deutschlands gesammelt.
Elleke Brul ist Teamleiterin im Kundendienst von Achmea Zorg. Davor hat sie ein
Praktikum bei der Geschäftsführung von Achmea absolviert. Brul hat einen Bachelor of
Science an der Hoge Hotelschool und einen Master of Science in International Business
erworben.
Floris de Bruin arbeitet als Seniorberater beim Beratungsunternehmen &samhoud.
Zu seinen Fachgebieten zählen Strategieentwicklung, Lean und die Verbesserung der
Zusammenarbeit zwischen Unternehmensbereichen, insbesondere zwischen Business
und IT. De Bruin verfügt über eine achtjährige Berufserfahrung, die er sich in nationa-
len und multinationalen Unternehmen in verschiedenen Branchen erworben hat, darunter
Transport/Logistik, Behörden und Finanzdienstleistungen. Er wohnt in Utrecht und hat
eine große Leidenschaft für Hindernislaufen und lange Fernreisen.
Tom Buijtendorp  hat neben seiner beruflichen Tätigkeit als Strategieberater im Bereich
Mikroversicherungen auch zahlreiche historische und archäologische Studien durch-
geführt und hat auf diesem Gebiet im Jahr 2010 an der Freien Universität Amsterdam
promoviert. Als Stratege sucht er immer nach der gesellschaftlichen Relevanz von
Geschäften sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Dabei legt er den
Schwerpunkt auf die praktische Anwendbarkeit zugunsten einer besseren Gesellschaft.
XXVIII Über die Autoren

Wim Geelhoed  ist in Rente, jedoch als freiwilliger Arbeiter immer noch aktiv. Davor
hat er fast 40 Jahre innerhalb der Rabobank-Organisation gearbeitet. Er hat verschiedene
Funktionen gehabt, darunter die Funktion als Manager der Betriebsorganisation und er
war der Bereichsleiter für Privatkunden. Einer seiner Gründe, um für die Rabobank zu
arbeiten, war die Inspiration auf Basis des genossenschaftlichen Gedankenguts.
Ger Haan ist derzeit das Herzstück seines eigenen Unternehmens GeRaken. Davor
war er 25 Jahre als Manager und Berater bei Interpolis und Rabobank tätig. In den Jah-
ren 1994 und 1995 war Haan Projektleiter des Änderungsprogramms Vast & Zeker
(Rabobank/Interpolis), das zum Ziel die Neugestaltung aller Kundenprozesse hatte. Zwi-
schen 2000 und 2014 fungierte er vor allem als „Anwalt des Kunden“ für Interpolis und
war darüber hinaus für Strategie- und Businessentwicklung verantwortlich.
Marlon Hoogervorst  ist ein ehrgeiziger Innovationsexperte und arbeitet als Marktma-
nager bei Mediq. Davor war er als Strategie- und Marketingberater bei VODW sowie
als New Business Developer am Flughafen Amsterdam-Schiphol tätig. Hoogervorst hegt
eine berufliche Leidenschaft für kundenorientierte Innovation, Angebotsentwicklung und
das Gesundheitswesen.
Ivy Jeuken  ist Beraterin bei &samhoud. Aufgrund ihres wirtschaftlichen Hintergrunds
und ihrer Tätigkeit bei &samhoud interessiert sie sich für den Finanzsektor und (Finanz-)
Unternehmen, die sich trauen, einen Unterschied zu machen und in eigensinniger und
brillanter Weise diesen Sektor innovieren.
Annemijn Kuenen  hat als Werkstudentin bei &samhoud ein wachsendes Interesse für
einzigartige Businessmodelle mit Gewinnstrategien entwickelt. Derzeit schreibt sie ihre
Abschlussarbeit im administrativen Bereich, wo sie das Wissen über kommerzielle Busi-
nessmodelle mit öffentlichen Zuständigkeiten kombinieren möchte.
Sophie van der Meer  ist Werkstudentin beim Beratungsunternehmen &samhoud. Mit
ihrer Leidenschaft für das Schreiben und Reisen hat sie ihr Studium Conflict Resolution
and Governance abgeschlossen. Sie hat ein großes Interesse an Beziehungen zwischen
Menschen, Unternehmen und der Gesellschaft. Die Zukunft sieht sie in Unternehmen,
die mit ihrem brillanten Businessmodell die Welt zu einem besseren Ort machen.
Maaike Polders  schloss 2004 ihr Jurastudium in Leiden ab. Derzeit arbeitet sie als Ana-
lystin für Gesetze und Verordnungen bei Achmea. Neben ihrer Arbeit bei Achmea ist sie
als Rechtsberaterin für (Jung-)Unternehmer und Privatpersonen bei CEP Juristen tätig.
Gemeinsam mit Floris de Bruijn schrieb Polders an der Progressive-Fallstudie.
Über die Autoren XXIX

Lies van Rijssen  ist Soziologin und seit 2010 Beraterin bei der Pensioenfederatie, der
Branchenorganisation der Rentenfonds in den Niederlanden. Davor arbeitete sie 25 Jahre
im Bereich der Rentenfonds für die Altersversorgung von Selbstständigen wie Ärzte
und Apotheker, aber auch Lotsen und die Ruderer im Rotterdamer Hafen. In den ver-
gangenen Jahren hat sich van Rijssen intensiv mit den Themen Rentenkommunikation,
Eignung von Rentenfondsverwaltern und Risikomanagement beschäftigt. Als Geschäfts-
führerin ihres Unternehmens Yonder Communicatie zeichnet sie auch verantwortlich für
verschiedene journalistische Beiträge. So porträtierte sie beispielsweise in den vergange-
nen Jahren die unentbehrlichen Hauptakteure der Rentenbranche.
Bastiaan Schepman  ist Bereichsleiter für Internationale Beziehungen bei Achmea Cor-
porate Relations. Im Rahmen dieser Tätigkeit ist er verantwortlich für die international
operierenden Großkunden von Achmea sowie für die Verwaltung und den Ausbau der
Geschäftsbeziehung mit Maxis, dem globalen Mitarbeitersozialleistungsnetzwerk, an das
Achmea als Partner die niederländischen Risiken seiner internationalen Kunden über-
trägt. Die Fallstudie von Lloyd’s war also kein unbekanntes Terrain für ihn. Diese Stu-
die hat ihm vor allem viel Inspiration gegeben, um das „Realisieren“, so wie Lloyd’s es
bereits seit 300 Jahren macht, für seine eigene Arbeit und für Achmea zu übernehmen.
Sinah Schmid  ist Beraterin bei &samhoud und war zuvor in der Finanzbranche im Per-
sonalbereich tätig. Sie absolvierte ihr Bachelor- und Masterstudium an der Schnittstelle
zwischen Kultur- und Organisationswissenschaften sowie Psychologie und verfügt über
einen systemischen Beratungshintergrund. Persönlich begeistert sie sich für Organisa-
tionen, die einen gesamtgesellschaftlichen Mehrwert generieren und ist daher von der
Durchschlags- und Inspirationskraft brillanter Businessmodelle überzeugt.
Miranda Schutz begann 2009 als Führungsnachwuchskraft bei Achmea. Zwei Jahre
später ließ sie sich auf ein Abenteuer ein und ging zusammen mit ihrem Freund nach
Hongkong, wo sie eineinhalb Jahre als Projektleiterin bei der australischen Bank ANZ
arbeitete. Dort fand sie heraus, dass Mitarbeiterführung ihre große Leidenschaft ist, und
entdeckte außerdem die Kraft des Vertrauens in und des Mitverantwortungsgefühls für
ein Unternehmen. Und genau diese Leidenschaft füllt sie seit zwei Jahren als Teamleite-
rin bei Achmea Zorg & Gezondheid (Kundenkontakt und Betrieb) sehr gern mit Leben,
wobei sie sich zum Ziel gesetzt hat, ihre Abteilung brillant zu machen.
Marsha Sinninghe  ist Angebotsmanagerin bei Syntrus Achmea Real Estate & Finance.
Während ihres Studiums der Soziogeografie und Planologie entdeckte sie ihre große Lei-
denschaft für Indonesien. In ihrer Bachelorarbeit beleuchtete sie die Vergabe von Mik-
rokrediten durch die Bank Rakyat Indonesia. Mit ihrem erworbenen Wissen möchte sie
Menschen auf kreative Weise inspirieren und mit ihnen die brillanten Erkenntnisse tei-
len, die sie gewonnen hat.
XXX Über die Autoren

Pascal Steeghs  ist Beraterin bei &samhoud. Die zentrale Funktion, die Finanzinstitute
in der Gesellschaft einnehmen, veranlassen sie, diesen Markt genau zu verfolgen und die
Institute auf dem Weg in die Zukunft zu Veränderungen zu inspirieren. Sie glaubt, dass
diese brillanten Businessmodelle die neue Richtung zeigen, die der Finanzsektor ein-
schlagen muss.
Liedewij Trampe ist Markenmanagerin bei Centraal Beheer. Davor arbeitete sie als
Seniorberaterin für Markenmanagement in der Abteilung Pflege und Gesundheit von
Achmea, die seinerzeit das Versicherungsunternehmen Zilveren Kruis zur wichtigsten
Powermarke zählte. Trampe begann ihre berufliche Karriere als Nachwuchsführungs-
kraft bei Achmea, wo sie unter anderem gemeinsam mit Jeroen Kemperman das Buch
Die Markenfunktionsmethode schrieb, ein Buch über Markenportfoliomanagement in
der Praxis, in dem die wichtigsten Grundlagen für das Businesstransformationsmodell
gelegt wurden.
Tom Vollebergh ist geschäftsführender Eigentümer von TVO. Er ist ein erfahrener
Projekt-/Programm- und Linienmanager mit den Fachgebieten Finanzdienstleistun-
gen (Versicherungswesen, Rente) und Medien (Tageszeitungen und Wochenmagazine).
Vollebergh arbeitet schon sehr lange im Bereich Business und IKT. Er ist ein Verfechter
der Automatisierung, versteht Geschäftsproblematiken und kann Brücken schlagen. Dar-
über hinaus ist er Vorstandsmitglied des Rentenfonds PGB.
Chris de Witte  ist Manager bei Achmea und hat dort in den vergangenen Jahren ver-
schiedene Projekt- und Managementaufgaben übernommen. Der ehemalige Student der
Universität von Tilburg und Vlerick Business School verfügt über einen betriebswirt-
schaftlichen Hintergrund und ist spezialisiert auf Finanzen und Strategie. De Witte zieht
seine Energie aus Erneuerung und Innovation und ist permanent auf der Suche nach
Möglichkeiten zur Verbesserung und Optimierung. Er ist der Meinung, dass Kundenwert
eng mit den Aspekten Betriebswert und Effizienz verknüpft ist. Diese betrachtet er als
ausschlaggebende Elemente für eine erfolgreiche und skalierbare Unternehmensstrategie.
Karen Willemsen  arbeitet derzeit als Senioranalystin bei Achmea. Davor war sie als
Dozentin für Finanzwesen an der Universität tätig. Im Rahmen ihrer Berufserfahrung
im Bereich der Projektfinanzierung bei ABN Amro Bank und ihrer Tätigkeit als Finan-
zingenieurin lernte sie die Tricks und Kniffe von Finanzprodukten kennen. Als geborene
Finanzingenieurin mit Schweizer Familie konnte Willemsen es dann auch nicht abwar-
ten, diese in ihrer Brillanz zu untersuchen und zu beschreiben.
Teil I
Rahmenbedingungen für brillante
Businessmodelle im Finanzwesen
Disruption und
Businessmodellinnovation 1
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

1.1 Mangel und bahnbrechende Lösungen

Wo soll man suchen, wenn man brillante Businessmodelle finden will? Das scheint auf
den ersten Blick eine sehr einfache Frage zu sein, aber bei genauerer Betrachtung muss
man feststellen, dass dem überhaupt nicht so ist. Unter ökonomischen Gesichtspunkten
würde man dazu tendieren, zuerst an dem Ort zu suchen, wo es die richtigen und meis-
ten Mittel für die Investition in Innovation gibt. Das ist auch ein wunderbarer Ort, wenn
man auf der Suche nach Optimierung, der besten Qualität und der neuesten Technolo-
gie ist. Es gibt viele Beispiele für die Art von Clustern, bei denen Unternehmen einander
durch gegenseitigen Wettbewerb fördern und so gemeinsam Grenzen verschieben. In die-
sem Fall geht es häufig um miteinander verbundene Unternehmen, die einander auf der

Dieses Kapitel wurde auf der Grundlage gemeinsamer Denkarbeit und Interaktion realisiert. Eine
besondere Erwähnung und ein besonderer Dank gilt dabei Norbert Hoogers und Erik van Doorn
für ihre Unterstützung und die Diskussionen über dieses Thema.

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 3


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_1
4 J. Kemperman et al.

Grundlage aufregender neuer technologischer Möglichkeiten und Lösungen anstacheln


und stärken. Silicon Valley ist ein aktuelles Beispiel dafür, aber in früheren Jahrhunderten
waren das in der westlichen Welt nacheinander die Städte Alexandria, Athen, Rom, Kons-
tantinopel – das heutige Istanbul –, Florenz, Amsterdam, London und New York.
Wohlhabende Gesellschaften wie jene im reichen Westen, die über viele Kenntnisse
und Mittel verfügen, sind jedoch nicht immer eine gute Grundlage für echte Durchbrü-
che. Häufig gelingt es gerade den Unternehmen und Ländern mit den meisten Mitteln
und der besten Ausgangsposition nicht, damit brillante neue Businessmodelle zu entwi-
ckeln. Gerade Unternehmen, denen die wenigsten Mittel zur Verfügung stehen, bieten
eine gute Grundlage für disruptive Innovationen.
Schließlich werden häufig erst aus Mangel bahnbrechende Innovationen entwickelt.
Das ist schon immer so gewesen. Zum Beispiel wuchs vor ca. 2500 Jahren im alten Grie-
chenland die Zahl der Einwohner von Athen schnell an, aber in der unmittelbaren Umge-
bung der Stadt gab es nur wenig Anbaufläche – zumindest nicht genug, um die gesamte
Bevölkerung mit Nahrung versorgen zu können. Deshalb entschied man sich, hinauszufah-
ren und Kolonien in Übersee für die Agrarproduktion zu gründen. Anschließend wurden
diese Kolonien ihrerseits wiederum auch zum Ausgangspunkt für Handel und Import neuer
Ideen und Innovationen, sodass Athen noch größer wurde. Hätte es keinen Mangel gege-
ben, hätten die Athener schön zu Hause bleiben können und es wäre folglich viel weniger
passiert.1 Ist das ein Einzelphänomen? Ganz und gar nicht. Auch die Expansion von Rom
wurde durch die Notwendigkeit befeuert, die Stadtbevölkerung zu ernähren. Es ist ein wie-
derkehrendes Muster in der Entwicklung von Handel und Städten (vgl. Steel 2008).2 Wo
liegen die Athens und Roms des 21. Jahrhunderts? In Indien beispielsweise finden sich die
überraschendsten und innovativsten Lösungen im Gesundheitswesen, in der Pharmazie
sowie im IT-Bereich. Dort wird häufig ‚westliche‘ Qualität zu gerade einmal 1 bis 10 %
der Kosten geliefert (vgl. Fallstudien in Kemperman J, Geelhoed J, op ’t Hoog J 2013,
2014). Des Weiteren ist die Mobiltelefonie im Bank- und Versicherungswesen in Afrika
und Südamerika weiter verbreitet als in Europa und Nordamerika. Das gilt beispielsweise
auch für die biometrische Identifizierung, mit der Menschen, die Geld abheben möchten,
aber nicht schreiben können, sich mit einem Fingerabdruck identifizieren können.
Mangel und der ‚Boden der Wohlstandspyramide‘ erweisen sich auf der Suche nach
neuen Businessmodellen als äußerst nützlich (vgl. Prahalad 2009). Ist das eine Überra-
schung? Eigentlich nicht. In Südostasien wollen auch alle gern ein Smartphone, aller-
dings haben die Menschen dort viel weniger Geld. Es gibt also einen sehr großen Markt
für viele preiswerte Smartphones, und die kommen auch. Im Vergleich zu den chinesi-
schen Nachahmerprodukten ist Samsung dann sehr schnell zu teuer.
Es ist logisch, dass Indien in bahnbrechender Weise die Herstellung ­ preiswerter
Medikamente voranbringt und sich dabei auch nicht durch Gesetze und Verträge
aufhalten lässt. Wenn Sie den Wirkstoff nicht preiswert liefern, hat das noch viel größere

1Mit Dank an Pip Kemperman und die Gemeinschaft für Geschichtshausaufgaben.


2Mit Dank an Willem Treep von Willem&Drees für das Teilen dieser Erkenntnis und der Quelle.
1  Disruption und Businessmodellinnovation 5

­ uswirkungen als eine Erhöhung der Gesundheitskosten: sehr viele Menschen würden
A
sterben. Ein Großteil disruptiver Innovation wird, wie von Christensen (1999) beschrie-
ben, nicht durch Hightech-Maßarbeit bewirkt, bei der Lowtech-Konsumgüter ersetzt wer-
den, sondern umgekehrt. Die ‚einfache maßgeschneiderte Lösung‘ wird immer besser und
verdrängt die teureren und komplizierten Vorgängerprodukte. Wenn man ein brillantes
Businessmodell finden will, muss man offensichtlich gerade an dem Ort suchen, wo man
es nicht erwartet. Häufig befindet sich hier auch der Ursprung des Wettbewerbs für bereits
existierende Unternehmen. Das ist ein Problem, denn man kann nur schwer auf das ach-
ten, was man nicht sieht und was nicht wichtig erscheint. Aber wie funktioniert es dann?
Es scheint so, als gäbe es einen Grundmechanismus. Häufig ist eklatanter Mangel der
Ausgangspunkt. Wenn es an etwas mangelt, heißt das faktisch, dass es eine unerfüllte
Nachfrage gibt. Kommerziell und ökonomisch gesehen ist unerfüllte Nachfrage ein
Markt. Das Gegenstück zu Nachfrage ist Angebot. Es hat also alles mit ziemlich ele-
mentarer Ökonomie zu tun: Mangel schafft Nachfrage, und Nachfrage schafft Angebot.
Handelt es sich dann um eine extreme und dringliche Nachfrage, die nur mit bahnbre-
chenden Lösungen erfüllt werden kann, besteht auf einmal die Wahrscheinlichkeit,
dass diese auch tatsächlich entwickelt werden. Zum Beispiel haben dank des Jaipur
Foot schon mehr als eine halbe Million Menschen in Indien eine Beinprothese für nur
40 EUR (vgl. Fallstudie in Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog 2014). Einmal fragte
uns jemand, warum so etwas in Indien möglich sei, während wir es hier nicht schaffen,
die Gesundheitskosten im Zaum zu halten. Die beste Antwort, die wir geben konnten,
lautete: Ganz einfach, weil es sein musste! Natürlich wird auch bei uns in Europa hin
und wieder gefragt, ob so eine Prothese nicht für etwas weniger Geld als die üblichen
6000 bis 8000 EUR pro Patient erhältlich sei. Aber niemand hat je nach einem künstli-
chen Bein zum Preis eines Essens in einem durchschnittlichen Restaurant gefragt.
Wenn echter Mangel mit Innovation behoben werden kann, ist das eine Feststellung,
die viel Anlass zur Hoffnung gibt. Gilt hier vielleicht die Binsenweisheit „Wenn die
Not am größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten“ oder die englische Version „The dar-
kest hour is before the dawn“? Wenn wir uns die großen ökonomischen Probleme und
Herausforderungen in den letzten Jahrhunderten ansehen, wurde echter Mangel dann
tatsächlich immer mit Innovation behoben? Begeben wir uns auf eine Zeitreise zurück
ins späte Mittelalter, als mehr als zwei Drittel der niederländischen Bevölkerung in der
Landwirtschaft arbeitete. Auch wenn zu diesem Zeitpunk drei Viertel der Ackerflächen
bewirtschaftet wurden, mussten dennoch viele Menschen hungern.
Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung rasend schnell. Man muss kein Visionär sein, um
vorherzusagen, dass eine große Hungersnot und Unterernährung nicht lange auf sich war-
ten lassen, wenn sich die Bevölkerung verdoppelt … Dennoch passiert genau das nicht.
Heute wohnen fünfzehnmal so viele Menschen in den Niederlanden, und es arbeiten
gerade einmal 2 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft, wobei der Agrarsektor haupt-
sächlich für den Export produziert. Auch global gesehen leiden die Menschen weniger
Hunger als je zuvor. Unterernährung wird immer mehr zu einem Verteilungsproblem;
was die Nahrungsmittelmengen angeht, gibt es kein großes Problem. Selbstverständlich
6 J. Kemperman et al.

muss die Agrarproduktion noch nachhaltiger und gesünder werden, aber mittlerweile ist
ein großes Problem gelöst, sodass die Weltbevölkerung ernährt werden kann.
Was ist in der Zwischenzeit passiert? Der pro Hektar Anbaufläche erwirtschaf-
tete Ertrag wurde erheblich gesteigert. Die Nutzpflanzen wurden gegen eine Reihe von
Krankheiten resistent gemacht, sodass dramatische Missernten verhindert werden kön-
nen. Die Pestizide wurden verbessert, sodass weniger Nutzpflanzen absterben. Durch die
Mechanisierung und Automatisierung benötigt die Landwirtschaft nur wenige menschli-
che Ressourcen, was auch für angeschlossene Branchen wie die Verpackungsindustrie,
Logistik und Distribution gilt. Mangel schafft Nachfrage, und Nachfrage schafft Ange-
bot!
Durch die Mechanisierung und Automatisierung gibt es keinen Mangel an mensch-
lichen Ressourcen in der Landwirtschaft, stattdessen kommt es gerade zu einem Über-
fluss. Wo bleiben dann all die Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiteten? Mit der
Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts wurden viele Produktionsarbeiten in die
Fabriken verlagert, was dazu führte, dass viele Menschen in die Städte zogen. Auch
das war nicht unbedingt ein Vergnügen: lange Arbeitstage, niedrige Löhne sowie harte,
gefährliche und schmutzige Arbeit, häufig auch für Kinder. Zu allem Überfluss schien
die übrig gebliebene Arbeit auch noch von Maschinen verrichtet zu werden. Einem
Großteil der Bevölkerung mangelte es an Arbeit und Geld. In weiten Teilen der Gesell-
schaft herrschten Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit. Und es kam noch schlim-
mer, denn das ‚Großkapital‘ konnte Arbeiter durch Maschinen ersetzen. Dann muss doch
etwas falsch laufen? Dann kommt es doch zu Hungersnot und Revolution? Was unver-
meidlich schien, passierte nicht. Heute arbeiten nur noch 20 % der Bevölkerung in der
Industrie und Produktion. Der Wohlstand in der westlichen Welt ist weit verbreitet, und
es gibt eigentlich keinen nennenswerten Mangel an Ressourcen und Luxusprodukten
mehr. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich seit 1900 weltweit sogar verdop-
pelt und liegt heute bei fast 70 Jahren. Die Maschinen und die Industrialisierung haben
nicht nur Arbeit übernommen, sie haben darüber hinaus noch viel mehr als das getan.
Die Arbeit in einer Produktionsumgebung in der westlichen Welt ist nicht mehr schwer,
schmutzig und gefährlich, sondern gut bezahlt – bei reduzierter Stundenzahl wohlge-
merkt. Der große Mangel an Arbeit und Geld bei einem Großteil der Bevölkerung in der
Vergangenheit wurde durch Innovation behoben.
Der Schwerpunkt der Wirtschaft hat sich von der Landwirtschaft über die Industrie
hin zum Dienstleistungssektor verlagert. Dabei überwog anfangs in den 1980er Jahren
ein Gefühl der Angst. Wie kann die Wirtschaft mit Produkten am Laufen gehalten wer-
den, die man nicht sehen oder anfassen kann? Sind das überhaupt Produkte, sind das
keine Luftblasen? Ist es nicht sehr gefährlich, wenn der größte Teil der erwerbstätigen
Bevölkerung in dieser ‚Luftproduktion‘ arbeitet? Angenommen, jemand kommt dahin-
ter. Macht das die Wirtschaft nicht sehr anfällig? Werden diese Zusatzdienste so nicht
unbezahlbar? Die Prognose lautet, dass Volkswirtschaften, die zu stark vom Dienst-
leistungssektor abhängig sind, langfristig in schwieriges Fahrwasser geraten könnten.
1  Disruption und Businessmodellinnovation 7

Und tatsächlich haben wir es mit verschiedenen Krisen zu tun, aber die scheinen nicht so
sehr von einem zu großen Dienstleistungssektor herzurühren. Auch hier wird allmählich
ein Teil der Arbeit von Maschinen übernommen und in diesem Fall insbesondere durch
Automatisierung. Dabei wird ein Großteil der Arbeit eigentlich an die Kunden selbst
delegiert, die mit einem Augenzwinkern als „unbezahlte, ungeschulte und unmotivierte
Arbeitnehmer“ beschrieben werden (vgl. Frei und Morriss 2012). Nichtsdestotrotz stellt
sich heraus, dass sie die Selbstbedienung bestens beherrschen und am Ende des Dienst-
leistungsprozesses häufig auch noch zufriedener sind. Kurzum, wo Dienstleistung durch
hohe Arbeitskosten zu teuer wird, entstehen wieder neue Lösungen, für die weniger
Personal benötigt wird. In diesem Zusammenhang ist es wahrscheinlich auch nicht ver-
wunderlich, dass die größten Durchbrüche auf dem Gebiet der Selbstbedienung in den
Ländern gefeiert werden, wo Arbeit absolute Mangelware und deshalb am teuersten ist.
Die Supermärkte wurden schließlich in den USA erfunden und vielleicht ist es auch kein
Zufall, dass ein Unternehmen wie IKEA, wo Menschen ihre Möbel selbst aus dem Lager
holen, nach Hause bringen und zusammenbauen, in Schweden entstanden ist.
Die Erkenntnis, dass Mangel als Quelle von latenter Nachfrage neues Angebot befeu-
ert, ist nicht nur unter historischen Gesichtspunkten interessant. Sie ist auch relevant,
wenn wir in die Zukunft blicken und die Art und Weise in Augenschein nehmen, mit
der aktuelle Probleme gelöst werden. Neue Denkfabriken wie die Singularity University
sagen aus diesem Grund voraus, dass jeder Mangel durch Technologie behoben werden
kann. Sie argumentieren beispielsweise wie folgt: Wenn die Sonne mehr saubere Ener-
gie liefert als auf der Erde nötig ist, kann diese Energie genutzt werden, um Salzwasser
in Süßwasser umzuwandeln und anschließend alle Wüsten wieder fruchtbar und für den
Anbau von Lebensmittel geeignet zu machen (vgl. Diamandis und Kotler 2012; Ismail,
Malone und Geest 2014). Diese Szenarien enthalten häufig exponentielle Wachstums-
kurven. Das ist vielleicht etwas optimistisch, denn in Wirklichkeit wird daraus zu einem
bestimmten Zeitpunkt doch wieder eine S-Kurve. Mit dieser Differenzierung ist zurück-
blickend auf die großen ökonomisch-gesellschaftlichen Probleme in der Vergangenheit
die Vorhersage, dass sämtlicher Mangel durch Technologie behoben wird, doch etwas
weniger absurd, als dass alles vollständig zugrunde gehen würde. Natürlich kommen
sehr schnell weitere Fragen auf. Woher kommen die neuen Technologien, mit denen alle
Probleme gelöst werden? Und welche Menschen und Unternehmen kommen zu diesen
Lösungen?
Bei den echten Durchbrüchen ist keine Rede von inkrementellen Schritten bei Nach-
frage und Angebot. Es geht um eine wirklich andere Nachfrage und um ein wirklich
anderes Angebot. Dieses wirklich andere Angebot entsteht, weil es sehr nötig ist und
weil es grundlegend anders sein kann. Bei den positiven Zukunftsbildern der Singularity
University kommen immer die aktuell größten Probleme mit den allerneuesten Techno-
logien zusammen. Auch das ist ein fruchtbarer Boden für Innovation. Denn innovative
Lösungen entstehen auch nicht nur auf der Basis von Mangel und latenter Nachfrage,
sondern auch dort, wo es ungeahnte, neue Möglichkeiten gibt, d. h. abgesehen von
Indien auch in Silicon Valley.
8 J. Kemperman et al.

Dabei scheint echter Überfluss an Mitteln, der die Nachfrage weit übertrifft, auch
wieder seinen eigenen Weg nach neuer Nachfrage und Anwendung zu suchen. So gibt
es momentan auf den Finanzmärkten viel Geld, das auf der Suche nach neuen Anlage-
möglichkeiten ist, was wiederum zu neuen Innovationen und Finanzierungsmöglichkei-
ten führt.3 Das gleiche Phänomen tritt bei anderen Ressourcen auf. Menschen, die auf
den Arbeitsmarkt kommen, aber keine Stelle finden, ergreifen selbst die Initiative und
gründen neue Unternehmen; Gebäude und Geschäfte, die leerstehen, können wiederher-
gerichtet und als Pop-up-Location und sogenannte incubator spots genutzt werden. Aller-
dings funktioniert das nicht immer wie gewünscht. Ein Überfluss an Öl, der die Preise
sinken lässt, macht auch eine Reihe neuer und innovativer Methoden zur Gewinnung und
Einsparung von Energie sofort unrentabel.
Wir leben in einer Zeit mit einer breiten Palette an vielversprechenden und fundamen-
tal neuen Technologien. Das zeigt sich in der gesamten Digitalisierung der Gesellschaft,
der Entwicklung des Internets, Virtual Reality, Big Data, künstlicher Intelligenz sowie in
der Verwendung von Robotern. Mit Nanotechnologie lassen sich Substanzen auf mole-
kularer Ebene erforschen und verändern, was die Schaffung völlig neuer Materialien
ermöglicht, in denen die Eigenschaften bereits bestehender Materialien kombiniert wer-
den. Entwicklungen wie 3-D-Drucker haben das Potenzial, die Produktion von Waren
und Gütern drastisch zu verändern. Ist es immer noch nötig, Produkte zu transportieren
und zu lagern? Wie sehen Produkte aus, die nicht geradlinig und eckig sein müssen, um
durch Maschinen zu passen? Wie viel Verschwendung kann verhindert werden, wenn
Waren nicht mehr vorab produziert und in die Regale gelegt werden, sondern wenn vor
Ort gedruckt wird, was jemand bestellt und bezahlt (vgl. z. B. Kaku 2011 für ein verfüg-
bares Buch über die Zukunftsmöglichkeiten mit bahnrechenden neuen Technologien)?
Aus der Makroperspektive betrachtet können wir uns glücklich schätzen, dass wir in
so einer interessanten Zeit leben. Es gibt große Probleme, die große Lösungen erfordern;
es gibt also eine Menge schöner Arbeit zu tun. Aus der Mikroperspektive eines Individu-
ums oder Unternehmens betrachtet kann man die Zukunft dagegen nicht unbedingt durch
eine rosarote Brille sehen. Wenn man derjenige ist, der dem Mangel im Alltag begegnet
und die Auswirkungen großer Probleme am eigenen Leib spürt, ist das natürlich nicht
immer schön. Gehört man selbst zum überflüssigen Angebot auf dem Arbeitsmarkt, ist
die Suche nach einer neuen Stelle nicht nur eine Herausforderung. Ist man derjenige,
der auf die bestehende Technologie angewiesen ist, stellen diese Durchbrüche auch eine
Bedrohung dar. Die Art und Weise, in der Innovation durch ein eklatantes Ungleichge-
wicht zwischen Angebot und Nachfrage zustande kommt, hat laut Schumpeter (1934) auch
etwas von „kreativer Zerstörung“. Echte Durchbrüche gehen einher mit dem Niedergang
bestehender Unternehmen und der Entstehung neuer Unternehmen. Was bedeutet das
alles auf Mikroebene für ein bestehendes Unternehmen und sein Businessmodell?

3Mit Dank an Chris Fentener van Vlissingen, der diese Erkenntnis mit uns teilte.
1  Disruption und Businessmodellinnovation 9

1.2 Disruptive Technologie und die Entstehung neuer


Businessmodelle

Das Sprichwort „Der König ist tot, lang lebe der König“ gilt leider auch für Unterneh-
men und ihre Businessmodelle. Viele exzellente und sogar brillante Beispiele von ges-
tern sind morgen schon nicht mehr relevant. Manchmal gehen sie mit viel Getöse unter.
Häufiger versinken sie in der Bedeutungslosigkeit, werden anschließend übernommen,
saniert und in Teilen verkauft, woraufhin ein Teil unter dem alten Namen und ein Teil
unter einem anderen Namen weitermacht. Es gibt zahlreiche Beispiele. Das 1879 in den
USA eingerichtete NCR (National Cash Register) konzentrierte sich so stark auf die
bestehenden elektromechanischen Registrierkassen, dass es zwischen 1972 und 1976
80 % des Markts an die Hersteller von elektronischen Kassen verlor (vgl. Volberda,
Bosch & Heij 2013). IBM verlor in den 1960er Jahren seine Vormachtstellung an den
Newcomer DEC, der einen Milliardenmarkt für Minicomputer schuf. 1980 brach der
Umsatz bei DEC ein, und es stellte sich heraus, dass CEO, Ken Olsen, mit seiner Ein-
schätzung, es gebe „keinen einzigen Grund für jemanden, zu Hause einen Computer
zu besitzen“, völlig falsch lag. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Newcomer,
einschließlich IBM von einer separaten Einheit aus, eroberten den PC-Markt. Diese
mussten sich später größtenteils dem Baukastensystem von Dell beugen, das wiederum
durch Laptops und danach durch Tablets und Smartphones von Apple, dem Nachfolger
Samsung und einer ganzen Reihe von Nachahmern aus China abgelöst wurde. Dabei
kann bei den Smartphones darauf hingewiesen werden, dass die Anbieter der vorange-
gangenen Generation von Mobiltelefonen, z. B. Nokia, die Smartphones zwar vorherge-
sehen haben, ihre Marktführung aber nicht behalten konnten. Puh, was für ein Chaos!
Wie kann das sein?
Was hätte Ken Olsen getan, wenn einer seiner Mitarbeiter bei DEC gesagt hätte, dass
eine Zeit kommen würde, in der Kinder unter zehn Jahren auf der ganzen Welt hoch-
leistungsstarke Computer in ihrer Hosentasche als Spielzeug für die Kommunikation
untereinander tragen würden? Im Nachhinein blickt man häufig mitleidig auf Markt-
führer, die signifikante Trendveränderungen nicht haben antizipieren und ihr Business-
model nicht entsprechend haben anpassen können. Was haben die geschlafen! Träumer?
Die Wahrheit ist natürlich, dass diese Marktführer zu ihrer Zeit das Geld und das Image
hatten, um damit die besten Jungen und Mädchen aus den Klassenzimmern auf der gan-
zen Welt anzuwerben und die professionellsten Manager einzusetzen. Das haben sie
auch gemacht. Aber was ist dann los? Insbesondere Clayton Christensen hat bahnbre-
chende Arbeit geleistet, um aufzuzeigen, wie disruptive Technologie und Innovation
dafür sorgen können, dass ganze Branchen erneuert und verändert werden. Christensen
argumentiert, dass sich Unternehmen mit ihren schlauesten Jungen und Mädchen sowie
professionellsten Technikfreaks und Managern häufig vollständig auf die kontinuierliche
Verbesserung von Produktleistungen und Optimierung von Prozessen fokussieren, um
den am besten und meisten zahlenden Kunden einen immer höheren Mehrwert zu bieten.
Das klingt auch wie eine logische Strategie für ein Unternehmen. Seinen besten Kunden
10 J. Kemperman et al.

sehr gut zuhören und das machen, wofür sie bezahlen wollen. Den Fokus auf höheren
Mehrwert richten. Produkte verbessern, um sich auch künftig von der Konkurrenz zu
unterscheiden. Prozesse optimieren, um die Qualität weiter zu verbessern und so gleich-
zeitig Kosten schrittweise zu reduzieren. Wow, das sollte jedes Unternehmen machen!
Was also läuft falsch? Das Frustrierende ist, dass die Gefahr häufig aus einer reizlo-
sen und chaotischen Ecke kommt: Sympathische, unternehmerische Amateure, die den
Markt überhaupt nicht kennen und schlechtere, weniger leistungsfähige Produkte herstel-
len und diese an Kunden liefern, die weder Geld noch eine Ahnung von den bestehenden
Produkten haben. Die Produkte, die schließlich den Markt erobern, sind bei ihrer Einfüh-
rung häufig preiswerter, kleiner, einfacher, nicht einzigartig und gehen schneller kaputt.
Das sind also Märkte, die man gern Newcomern überlässt, weil sie so zur Kannibali-
sierung des eigenen Businessmodells führen könnten.4 Das klassische und viel zitierte
Beispiel dafür ist Kodak. Was noch nicht jeder weiß, ist die Tatsache, dass Kodak nicht
nur der Erfinder der Digitalkamera war, sondern auch der erste Hersteller davon (wenn
auch mit dem Design und Markennamen von Apple). Das Problem ist, dass einige die-
ser preiswerten und minderwertigen Produkte anschließend mit ihren niedrigeren Preisen
oder ihrer simplen Bedienung oder ihrem einfachen Transport eine große Zahl von Men-
schen erreichen. Es gibt einen Zusammenhang mit dem im vorangegangenen Abschnitt
erwähnten Mangel. Offensichtlich bestand ein Mangel an preiswerteren und einfacheren
Produkten. Diese latente Nachfrage fordert Newcomer heraus, ihre Produkte für wenig
Geld doch so gut wie möglich herzustellen. Anschließend sinken die Kosten weiter,
während die Produktleistungen kontinuierlich gesteigert werden. Das neue, hochwertige
Angebot entsteht aus dieser Art von Produkten und übernimmt den Markt der wanken-
den, alten Marktführer. Dieses Prinzip wird in Abb. 1.1 veranschaulicht.
Um den Mechanismus von disruptiver Innovation zu verstehen, sehen wir uns kurz
eine Reihe von Branchen an, in denen disruptive Technologien bestehende Marktführer
und ihre Businessmodelle zu Fall gebracht haben. Ein klassisches und zugleich histo-
risches Beispiel ist das der Buchdruckerkunst. Stellen Sie sich vor, Sie leben im Mit-
telalter, in einer Zeit, in der fast niemand lesen kann. Sie sind ein Mönch, der Bücher
mit wunderschönen Zeichnungen von Buchstaben zur Illustration überschreibt. Das sind
Lebenswerke zu Ehren Gottes. Oder Sie sind in dieser Zeit ein Geschichtenerzähler, der
umherzieht, um Menschen Geschichten mit sich reimenden Versen zu erzählen und so
ihre Kultur und Geschichte zu teilen und zur Unterhaltung und Bildung beizutragen.
Dann kommt jemand, der mit einer Art Kartoffelstempel einen Buchstaben mit Tinte
auf Papier drucken kann, was fleckig und schmutzig aussieht. Er sagt, dass er mehrere
von diesen Buchstaben hintereinander setzen kann, sodass ein Wort oder ein Satz und
schließlich vielleicht ein ganzes Buch entsteht. Hören Sie dann mit dem Kopieren von
Büchern per Hand oder dem Erzählen von Geschichten auf, um auch zu stempeln? Wenn

4Die Angst vor Kannibalisierung wird von Debruyne (2014) als größtes Hindernis für Businessmo-
dellinnovation gesehen.
1  Disruption und Businessmodellinnovation 11

Denkrahmen: Die Stärke und das Risiko von disruptiver Technologie

1 Stärkende
Technologie 2 Disruptive
Technologie 3 Stärkende
Technologie

• Etablierte Unternehmen • Newcomer • Newcomer


• Kontinuierliche • Verschlechterung von übernehmen den
Verbesserung Produktleistungen, Markt und erfüllen
von Produktleistungen aber häufig die Bedürfnisse aller
• Fokussiert auf steigende preiswerter, kleiner, Marktsegmente
Leistungsbedürfnisse simpler, einfacher
des höheren Markt- • Niedrigeres
segments Marktsegment
Produktspezifikationen

2 3
1

Zeit

Abb. 1.1  Der Mechanismus von Innovation durch disruptive Technologie. (Quelle: Clayton M.


Christensen, The Innovator’s Dilemma)

ein paar Jahrhunderte später jeder lesen kann und viele Bücher gedruckt werden und
jemand mit einem Kopiergerät kommt, hören Sie dann mit dem Drucken hochwertiger,
schöner Bücher auf?
Wenn das zu hohen Kopierauflagen führt und wenn die Druckauflagen etwas abneh-
men, wandeln Sie dann Ihre Druckerei in einen Printshop um? Wenn anschließend an
jedem Ort kopiert wird, schließen Sie dann Ihr Geschäft, um Kopiergeräte herzustel-
len und zu installieren? Wenn Menschen auf dem Bildschirm lesen, können Sie dann
Bildschirme füllen? Wenn Menschen keine Buchstaben mehr wollen, sondern Sprache
und Bild, setzen Sie sich dann als Mönch hin und zeichnen oder geben Sie als Erzähler
Geschichten zum Besten?
Christensen (1999) hat anhand einer Reihe von Branchen aufgezeigt, wie sich
Betriebszweige verändern. Das klassischste Beispiel ist das Diskettenlaufwerk. Ab den
1970er Jahren gab es 14-Zoll-Diskettenlaufwerke von IBM, Control Data und Univac für
Großrechner. Ab 1977 wurden diese durch 8-Zoll-Laufwerke von Shugart, Micropolis und
Quantum für den Minicomputer ersetzt. Ab 1980 wurde diese durch 5,25-Zoll-Laufwerke
12 J. Kemperman et al.

von Seagate, Memorex und EMM für Desktop-PCs ersetzt. Ab 1985 wurde diese wiede-
rum ersetzt durch 3,5-Zoll-Laufwerke von Fujitsu, Hitachi und NEC, die auch für Laptops
verwendet werden konnten. Das ist 30 Jahre her. Leser, die nach 1990 geboren sind, fra-
gen sich wahrscheinlich mittlerweile, was ein Diskettenlaufwerk ist. Drehte sich in der
Zeit zwischen 1970 und 1995 noch alles um Diskettenlaufwerke und darum, dass Akteure
schon ersetzt wurden und alles bahnbrechend war, wurde es danach noch heftiger. Die
Datenspeicherung verlagerte sich auf externe Festplatten, Memorysticks und Speicherkar-
ten, eine hohe Zahl eingebauter Gigabytes oder in die Cloud. Auch hier werden wir per-
manent Zeugen des Untergangs bestehender Technik und des Aufstiegs neuer Akteure.
Der Übergang zu alternativen Technologien geht meistens einher mit neuen Verbrau-
chergruppen und simpleren Anwendungen, sodass man in diesem Zusammenhang auch
von Businessmodellinnovation spricht. Dabei verschiebt sich auch diese Technologie:
Das neue Produkt wird nicht mehr nur in einer professionellen Umgebung von Unter-
nehmen mit der Unterstützung von Spezialisten verwendet, sondern mittlerweile auch im
Rahmen der Selbstbedienung in einer privaten Umgebung von Verbrauchern. Das wird
momentan beispielsweise dort sichtbar, wo die Massentechnologie von Kindern und für
den Privatgebrauch nicht nur preiswerter, sondern auch viel schneller, aktueller und hip-
per ist als die am Arbeitsplatz, und wo Menschen hoffen, dass sie ihr eigenes Telefon
oder ihren eigenen Computer mitnehmen dürfen.
Das Szenario, in dem Massentechnologie die Maßarbeit ersetzt, ist nicht die einzige
Art und Weise, in der Durchbrüche zustande kommen. Es gibt auch immer noch Erfin-
dungen, die den umgekehrten Weg von Hightech- zu Lowtech-Lösungen gehen. Denken
Sie beispielsweise an das Internet, das ursprünglich größtenteils für militärische Zwe-
cke entwickelt wurde. Die massentechnologischen Durchbrüche sind momentan am rele-
vantesten und sichtbarsten. Um als Marktführer rechtzeitig die richtigen Maßnahmen zu
treffen und das eigene Businessmodell zu erneuern, reicht es nicht aus, sich in funda-
mental neue Technologien und Mechanismen von disruptiver Technologie und Innova-
tion zu vertiefen. Man muss auch wirklich mitmachen. Das Problem ist natürlich, dass
es ständig Newcomer mit minderwertigen Produkten gibt. Auf diesen Zug können Sie
nicht immerzu aufspringen, indem auch Sie preiswerte Produkte für noch nicht beste-
hende Kunden herstellen. Ereignis A passiert vor Ereignis B, aber nicht jedes Ereignis A
führt auch zu Ereignis B. Es bleibt vor allem erforderlich, die bestehenden Produkte zu
verbessern. Prozesse müssen jeden Tag gestrafft werden, um die Fehlerquote zu reduzie-
ren und auch weiterhin zu konkurrenzfähigen Preisen produzieren zu können. Das bringt
jedoch sofort ein fundamentales Problem mit sich. Wenn das Unternehmen darauf einge-
stellt ist, alles immer besser zu machen, gibt es zahlreiche professionelle Mechanismen,
die eine Verschlechterung des Unternehmens verhindern. Auf diese Weise blockieren
Qualitätssysteme Innovation, die manchmal mit schlechteren Ergebnissen beginnt.
Ein professionelles System für die größtmögliche Garantie, dass alle Risiken aus dem
Beratungsgespräch beim Kauf von Anteilspaketen geholt werden, blockiert Selbstbedie-
nung. Diese ist viel schneller, preiswerter, aber auch anfälliger. Das Problem dabei ist,
1  Disruption und Businessmodellinnovation 13

dass disruptive Innovation häufig eine leichte Verschlechterung und eine höhere Risiko-
bereitschaft hinsichtlich der Produktleistungen erfordern. Das Wasser muss manchmal
nach oben über einen Hügel fließen können, um noch tiefer ins Tal vorzudringen. Das
ist schwierig, wenn die gesamte Schwerkraft dafür sorgt, dass das Wasser nur nach unten
fließen kann. Wie soll man damit als Unternehmen umgehen und das eigene Business-
modell kontinuierlich erneuern? Inwieweit ist das auch aktuell und relevant für finanzi-
elle Dienstleistungen?

1.3 Anzeichen von Disruption: Businessmodellinnovation im


Banken- und Versicherungswesen

Disruptive Innovation kommt in verschiedenen Bereichen vor, z. B. im Verlagswesen,


bei der Datenspeicherung und in der Krankenpflege. Ist sie auch schon im Finanzwesen
zutage getreten? Ja, durchaus – und zwar nach sehr vergleichbaren Mustern. Eigentlich
kommt es hier zum gleichen Phänomen, wobei die Technologie näher am Unternehmen
ist und die Facharbeit zur Selbstbedienung wird. Das beste und klassischste Beispiel sind
natürlich die täglichen Bankgeschäfte. Es ist noch nicht so lange her, dass Einkäufe bar
bezahlt wurden und Bargeld bei der Bank eingezahlt und abgehoben wurde. Das war
sogar das Hauptgeschäft einer Privatkundenbank. Jetzt sind daraus persönliche PIN-
Codes, kontaktloses Bezahlen und Homebanking geworden. Die Menge an Transaktio-
nen ist enorm gestiegen, aber die Kosten pro Transaktion sind enorm gesunken. War für
speziellere Bankgeschäfte anfänglich noch eine Bankfiliale nötig, ist diese heute auch
dafür entbehrlicher. Nach ein paar Jahren kommt man als Kunde nicht weiter als zum
Eingangsbereich, in der sich der Geldautomat befindet. Gleiches gilt für die ehemaligen
Beratungsprodukte, die zu Selbstbedienungsprodukten geworden sind. Aktientransakti-
onen sowie Kranken- und Autoversicherungen können größtenteils online abgewickelt
werden. Der einzige Grund, warum sich die Online-Abwicklung bei Hypotheken noch
nicht so durchgesetzt hat, ist die noch zu enorme Tragweite und Bedeutung einer solchen
Angelegenheit für den Verbraucher. Technisch lässt sich das ziemlich einfach realisieren.
Kurzum, wir haben im Bank- und Versicherungswesen einige disruptive Entwicklun-
gen aufgrund von Digitalisierung gesehen, bei der aus Beratungs- und Büroprodukten
Selbstbedienungsprodukte geworden sind. Gibt es abgesehen von den praktischen Vor-
teilen der Selbstbedienung von zu Hause aus noch weitere Entwicklungen? Gibt es im
Bank- und Versicherungswesen grundlegendere Anzeichen von Disruption? Bestehen
Möglichkeiten für neue Unternehmen mit frischen, bahnbrechenden Businessmodellen,
die nicht nur schneller, digitaler und preiswerter sind, sondern auch noch mehr geschätzt
werden? Können diese die bestehende Ordnung durcheinanderbringen, und müssen
bestehende Banken und Versicherungsunternehmen sich Sorgen machen? Ja, absolut! Um
das etwas eingehender zu betrachten, empfiehlt es sich zunächst, die Nachfrage von und
die Entwicklungen bei den Kunden zu beleuchten. Wie ist die öffentliche Wahrnehmung
des Finanzwesens, und gibt es einen potenziellen Mangel und eine latente Nachfrage auf
14 J. Kemperman et al.

dem Markt? Anschließend untersuchen wir, ob es Möglichkeiten gibt, diese Bedürfnisse


mit disruptiver Technologie zu erfüllen. Außerdem gehen wir der Frage nach, ob es kon-
krete Anzeichen neuer Businessmodelle gibt.
Beginnen wir mit der öffentlichen Wahrnehmung von Versicherungsunternehmen und
Banken. Gibt es Anzeichen dafür, dass Kunden nicht mehr glücklich und zufrieden sind
mit ihren Banken und Versicherungen und dass sie etwas Anderes wollen? Der auffäl-
ligste Vorfall im Finanzwesen in den vergangenen Jahren ist natürlich die Finanzkrise im
Jahr 2008. Allem Anschein nach kommt es alle sieben bis acht Jahre zu so einer Krise.
Vor 2008 gab es die Internetblase in den Jahren 2000/2001, die schlechte Arbeitsmarkt-
situation um 1992 herum sowie Arbeitslosenzahlen auf Rekordniveau und Insolvenzen
in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Dann kam es auch noch zur Ölkrise, gemixt mit
dem giftigen Cocktail hoher Zinsen, hoher Arbeitslosigkeit und sinkender Immobilien-
preise gegen Ende der 1970er Jahre. Die letzten Jahre hingegen waren gezeichnet von
äußerst niedrigen bis hin zu negativen Zinsen. Banken und Versicherungsunternehmen
haben als Branchen stark unter dieser Art von Krisen zu leiden, obwohl sie häufig auch
noch als deren Ursache ausgemacht werden. Das extremste Beispiel ist der Börsencrash
von 1929, aber 2008 gilt als der vorläufige Höhepunkt der vergangenen Jahrzehnte.
Gehen wir ein paar Jahre zurück. Es beginnt alles im Sommer 2008, als mehrere Finanz-
dienstleister nacheinander Probleme mit schlechten Hypothekenportfolios bekommen.
Nationale Regierungen stecken notgedrungen viele öffentliche Gelder in die Rettung
von Banken und Versicherungsunternehmen, mit denen Guthaben und Sicherheiten für
Privatpersonen und Unternehmen garantiert werden. Das geschieht zähneknirschend. Es
geht um Finanzdienstleister, die offensichtlich nicht pleitegehen dürfen, weil die Folgen
für das System dann unvorhersehbar wären. Gleichzeitig regt sich viel Widerstand gegen
diese Abhängigkeit und die Menschen, die diese Krise verursacht haben.
Das Vertrauen in den Finanzsektor und in seine Mitarbeiter ist 2008 stark gesunken
und konnte seitdem nur begrenzt wiederhergestellt werden. Kunden möchten gern genau
wissen, woran sie sind und kein Risiko eingehen. Gleichzeitig ist die Finanzwelt kom-
plex und (die meisten) Menschen wollen sich nicht wirklich näher damit befassen. Dabei
liegt es in der Natur der Produkte, dass man erst im Laufe der Zeit dahinterkommt, ob sie
die Erwartungen wirklich erfüllen. Nämlich wenn geliehenes Geld zurückgezahlt werden
muss, wenn gespartes Geld ausgezahlt wird oder wenn eine Versicherung in Anspruch
genommen wird, um einen Schaden zu bezahlen, d. h. in der Zukunft. In diesem Moment
kann man sich nicht mehr mit rückwirkender Kraft für eine andere Bank oder einen
anderen Versicherer entscheiden. Gleichzeitig hat so ein Finanzprodukt eine enorm große
Auswirkung auf das Leben eines Verbrauchers. Es gibt ‚Vertrauen‘ eine andere Bedeu-
tung als bei Produkten und Zusatzdiensten, die sofort konsumiert werden und bei denen
die Abhängigkeit nur begrenzt ist. Die fundamentalen Erwartungen, die Banken und Ver-
sicherer erfüllen sollen, um das Vertrauen wiederherzustellen, sind eher implizite und
unterbewusste Vorstellungen von der Zukunft als explizite und rational ausgearbeitete
Konzepte. Die fundamentaleren Probleme können aber sehr wohl beleuchtet werden.
1  Disruption und Businessmodellinnovation 15

Die Verflechtung der Finanzeinrichtungen untereinander und der sich daraus erge-
bende Dominoeffekt sind in Zeiten der Finanzkrise viel komplexer als erwartet. Pro-
dukte und Konstruktionen wie beispielsweise Kreditderivate und Absicherungen durch
Verbriefung sind wenig transparent. Das gilt sowohl für die Öffentlichkeit als auch für
die Politik, aber auch für die Verantwortlichen im Finanzsektor selbst, die mit noch
intelligenteren Lösungen und Konstruktionen in Konkurrenz untereinander stehen. Am
Ende des Tages stellt sich nämlich heraus, dass es keine Konstruktionen gibt, die höhere
Erträge ohne Risiko garantieren. Wenn ein Produkt oder eine Konstruktion diese den­
noch verspricht, ist höchste Vorsicht geboten. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass
man noch nicht begriffen hat, wie es sich tatsächlich verhält. So stellte sich 2008 und
in den darauffolgenden Jahren heraus, dass breite Aktivitätenportfolios von Banken und
Versicherungsunternehmen, die scheinbar zusätzliche Garantien boten, da schließlich
nicht alles gleichzeitig schiefgehen könnte, erst recht eine Ansteckungsgefahr beinhalte-
ten. Schlechte Immobilieninvestitionen auf der einen Seite des Unternehmens können
dafür sorgen, dass Sparguthaben auf der anderen Seite des Unternehmens unter einer
völlig anderen Marke nicht zurückgezahlt werden können, sofern die Regierung die
zusätzlichen Sicherheiten oder Mittel dafür nicht bereitstellt. Der Kunde versteht diese
Verflechtung nicht und geht eigentlich auch automatisch davon aus, dass Sparguthaben
und Lebensversicherungen ihm gehören und auch immer gehören werden. Gleiches gilt
beispielsweise auch für gemeinschaftliche Sozialleistungen wie Renten und Krankenver­
sicherungen. Reserven und eigenes Vermögen sind dabei in den Augen vieler Kunden
auch gemeinschaftliches Eigentum der Gesellschaft und auf keinen Fall Eigentum des
Rentenanbieters oder Rentenversicherers, über das er frei verfügen kann. Gleichzeitig
scheint das menschliche Maß ausgehöhlt oder zumindest noch schlecht fühlbar zu sein,
sodass nicht mehr deutlich ist, mit wem welche Risiken geteilt werden und welche Soli­
darität das erfordert und warum. Darüber hinaus werden von der Öffentlichkeit und von
Kunden mitunter auch paradoxe oder sogar widersprüchliche Anforderungen gestellt.
Warum gehen wir beispielsweise nicht zurück in die Zeit, in der die Krankenversiche-
rung noch kostenlos war und alles erstattet wurde? Können wir die gemeinsam gesparten
Reserven nicht einfach zurückgeben? Gibt es nicht bereits eine Garantie, dass es niemals
schiefgehen kann, wenn in der Zukunft ausgezahlt werden muss? Warum können wir die
Beiträge zur Rentenversicherung nicht einfrieren, Rentenauszahlungen aber indexieren und
der Inflation anpassen, obwohl die Zinsen gleichzeitig auf einem historischen Tiefstand
sind?
Das Unverständnis nimmt zu, wenn Geld nicht nur eingezahlt wird, sondern wenn
dieses anschließend, in Form von Dividenden für Aktionäre sowie Boni und Gehältern
für das Management, auch wieder herausgenommen wird. Darf das denn sein, wenn es
sich um einen Gemeinschaftstopf handelt? Und muss es nicht erst recht ausgeschlos-
sen sein, wenn darin öffentliche Steuergelder eingezahlt werden? Die Kombination ver-
schiedener Produktgruppen ohne klare Abgrenzungen untereinander, Eigentümerschaft
an Gütern und Vermögen beim Finanzinstitut sowie Gewinnziele mit Dividenden und
marktfähigen Managementgehältern ist eine heikle Mischung. Sie vergrößert das Risiko,
16 J. Kemperman et al.

dass Finanzdienstleister nicht das erfüllen, was die Kunden und die Öffentlichkeit erwar-
ten. Allem Anschein nach verlangen Banken und Versicherer von ihren Kunden blindes
Vertrauen in ihr integres Handeln. Gleichzeitig kann bei diesen Kunden am besten von
‚klugem Vertrauen‘ gesprochen werden, wenn es eindeutig um abgegrenztes eigenes
Guthaben oder um das Guthaben einer Gruppe geteilter Risiken und/oder eines geschlos-
senen Systems geht, aus dem kein Geld entnommen werden kann. Die fundamentalen
Probleme im Zusammenhang mit dem Vertrauen der Öffentlichkeit scheinen damit über
das einfache wiederholte Erklären von Produktbedingungen und das präzise Festlegen
und Einhalten von Vereinbarungen hinauszugehen. Finanzdienstleister sind gewöhnliche
Unternehmen, die Gewinne erzielen und Dividenden ausschütten (vgl. Abb. 1.2).
Privat mit Gewinn
für Aktionäre
Unternehmensform und Gewinnausschüttung

Blindes Kluges
Vertrauen Vertrauen
Privatisierung zu Marktaktivitäten
Nationalisierung als öffentliche

Gemeinschaft mit
geschlossenem
Geldtopf
öffentlichem Geld
Kollektiv mit

Blindes Kluges
Misstrauen Misstrauen

Ein geteilter Topf Portfolios mit Management für


von Bank / Abgrenzungen den Kunden
Versicherungs- von Bank / durch Bank /
unternehmen Versicherungs- Versicherungs-
unternehmen unternehmen
Eigentümerschaft an verwaltetem Geld und Vermögen

Entbündelung und zusätzliche Transparenz

Integration und Verflechtung untereinander

Abb. 1.2  Die impliziten Probleme bei der transparenten Organisation des Finanzwesens


1  Disruption und Businessmodellinnovation 17

Um auf mehr Verständnis bei ihren Kunden zu stoßen und das Vertrauen aufrechtzuer-
halten, müssen sie viel transparenter werden und deutlich machen, was mit dem für ihre
Kunden verwalteten Geld passiert und wem es gehört.
Es scheint eine große Kluft zwischen der tatsächlichen Organisation des Finanzsek-
tors und der fundamentalen Wahrnehmung und Erwartung von Kunden zu bestehen. Das
ist in erster Linie ein implizites und latentes Problem, bis eine weitere schwere Krise
den Finanzsektor erschüttert. Zeigt diese kritische Sicht auf das Finanzwesen auch einen
bestehenden Mangel auf und damit auch eine latente Nachfrage, die vom Finanzwesen in
seiner aktuellen Form nicht bedient wird?
Die fundamentalen Probleme des Finanzsektors und die Rolle, die Banken und
Versicherer im Alltag von Menschen und Unternehmen spielen können, sind von gro-
ßer Bedeutung und auf elementarem Niveau nach wie vor unverändert. Es gab und gibt
Bedarf an Sicherheit im Zahlungsverkehr. Menschen wollen Geld für später auf die
Seite legen oder leihen, um jetzt leben oder sich verwirklichen zu können. Es besteht
Bedarf daran, Risiken mit anderen teilen zu können, sodass Kontinuität im Alltag von
Menschen und Unternehmen sichergestellt wird und große finanzielle Rückschläge
in Krisenzeiten abgefedert werden. Dieser Bedarf hat in den vergangenen Jahren nicht
abgenommen, sondern eher zugenommen. Gerade in Zeiten der Krise in den vergange-
nen Jahren besteht zusätzlicher Bedarf an finanzieller Sicherheit: An Verlässlichkeit des
Zahlungsverkehrs, daran, Geld sparen zu können sowie an einem ausreichenden Kre-
ditangebot. Gleichzeitig ist deutlich, dass Finanzdienstleister sich dazu gezwungen sahen
(häufig durch verschärfte regulatorische Anforderungen), vorsichtiger zu agieren, statt
zusätzliche Risiken zu übernehmen und weitere finanzielle Mittel bereitzustellen. Das ist
logisch, weil zusätzliche Sicherheit und Reserven gefordert wurden, um Krisenfestigkeit
zu garantieren und finanzielle Puffer wieder auf das ursprüngliche bzw. auf ein höheres
Niveau auszubauen. Bürger, Wirtschaft und Gemeinwesen werden durch diese Entwick-
lung belastet. Private Vorsorge wird teurer, Kredite für Unternehmen werden restriktiver
vergeben, die Erwartungen an den Staat steigen.
Die Kombination aus verlorenem Vertrauen in den Finanzsektor und der tatsächlich
gesunkenen Bereitschaft, Risiken zu übernehmen bzw. Kredite zu vergeben, hat die
Chancen für neue Anbieter vergrößert. Dabei handelt es sich nicht so sehr um Akteure,
die grundsätzlich etwas völlig Anderes tun. Vielmehr sind es Anbieter, die im Wesent-
lichen die klassischen Funktionen von Banken und Versicherungsunternehmen erfüllen,
jedoch häufig von den Grundbedürfnissen ausgehen. Gleichzeitig sind mit dem World
Wide Web, mobiler Technologie und Big Data die Möglichkeiten enorm gestiegen, auf
der Grundlage von Selbstbedienung und Internet schnell und preiswert einen optimierten
Finanzdienstleister einzurichten. Dabei bieten soziale Medien viele neue und schnelle
Möglichkeiten, Gruppen von Menschen zusammenzubringen und gemeinsam Risiko und
Finanzierung zu regeln und einzukaufen. Praktisch äußert sich das auch in zahlreichen
neuen Formen von Finanzdienstleistungen und einer Vielzahl an Alternativen dazu. Wäh-
rend mit dem Zahlungsverkehr in westlichen Ländern nicht einmal so viel schiefgeht,
entstehen zahlreiche alternative Formen wie zum Beispiel Bezahlen per ­Mobiltelefon,
18 J. Kemperman et al.

Bezahlen in Fremdwährung oder Tauschen in Naturalien. Bei der Finanzierung neuer


Unternehmen herrscht Mangel, denn aktuell ist es schwierig, Geld zusammenzube-
kommen. Dafür entstehen derzeit in hohem Tempo andere Formen von risikoträchtigen
Investitionen, wie etwa Crowdfunding über Kickstarter oder alternative Plattformen zur
Projektfinanzierung. Im Bank- und Versicherungswesen werden derzeit Online-Vari-
anten und -Vergleichsportale entwickelt, die zu erheblich niedrigeren Tarifen und mit
mehr Transparenz arbeiten. Im Versicherungswesen entstehen die ersten neuen Grup-
pen und Online-Anbieter, die Solidarität innerhalb der eigenen Gruppe sehr transparent
untereinander gestalten. Wie üblich bei disruptiver Innovation geht es zunächst häufig
um etwas kleinere Initiativen und Mengen. Darüber hinaus geht es häufig auch um die
Kundengruppen, mit denen die etablierten Player eigentlich keine Bank- oder Versiche-
rungsgeschäfte tätigen wollen oder können. Selbstständige mit unvorhersehbarem Ein-
kommen sind schwierige Kunden, wenn man Gehaltsabrechnungen gewöhnt ist. Dabei
übernehmen die Newcomer im Bank- und Versicherungswesen häufig nicht die zentra-
len Dienstleistungen im Sinne der Verwaltung oder des tatsächlichen finanziellen Risikos
und Managements. Sie entwickeln sich vor allem an den Rändern der traditionellen Busi-
nessmodelle des Finanzwesens, zum Beispiel in den Bereichen Distribution, Produktver-
gleich, Risikoprävention oder Zahlung mit Naturalien. Auf diese Weise schwächen sie
die etablierten Player, denn die werden hinter den Kulissen als austauschbare Verwalter
eingesetzt. Kurzum, es gibt sehr wohl Anzeichen für Disruption im Finanzwesen. Des-
halb sollten sowohl neue Anbieter als auch etablierte Unternehmen in diesen Zeiten ihr
Businessmodell gut überprüfen und dafür sorgen, dass es brillant ist für morgen.
Zur Inspiration werden in Teil II 18 Fallstudien behandelt. Dabei sehen wir uns
zunächst die Merkmale eines solchen brillanten Businessmodells und im Anschluss die
Ausprägung in den einzelnen Beispielen an.

Literatur

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tact, Amsterdam/Antwerpen
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Kemperman J, Geelhoed J, op ’t Hoog J (2013) Briljante businessmodellen – Een bijzondere bena-
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Kemperman J, Geelhoed J, op ’t Hoog J (2014) Briljante businessmodellen in de zorg. Baan-
brekende benaderingen voor betere en betaalbare zorg. Academic Service, Den Haag
1  Disruption und Businessmodellinnovation 19

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fits (revidierte und überarbeitete Sonderausgabe zum 5. Jubiläum). Pearson Prentice Hall, Bos-
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Boston MA
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Volberda H, van der Bosch F, Heij K (2013) Re-inventing business – Hoe bedrijven hun business-
model innoveren. Van Gorkum, Assen
Was sind die Fundamente für ein
brillantes Businessmodell? 2
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Thomas Winkler

Der konzeptionelle Rahmen, der für die Betrachtung und Beschreibung brillanter Busi-
nessmodelle verwendet wird, wurde bereits ausführlich im Buch Brillante Businessmo-
delle (Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog 2013) erläutert. Deshalb wollen wir uns an
dieser Stelle auf eine eher kurze Erklärung beschränken. Die Modellannahmen wurden
während unserer praktischen Arbeit bei Achmea, dem größten Versicherer in den Nieder-
landen, und &samhoud, der führenden Unternehmensberatung in den Niederlanden für
Organisationsentwicklung und Change, entwickelt. Es handelt sich um einen allgemei-
nen, breiten und integrierten betriebswissenschaftlichen Rahmen, der in verschiedenen
Branchen verwendet werden kann. Dieser Rahmen kommt häufig sowohl in gewinnori-
entierten als auch in gemeinnützigen Organisationen zum Einsatz. Des Weiteren dient er
auch zur Beschreibung einer bestimmten Marke oder eines bestimmten Angebots eines
Unternehmens sowie zur Beschreibung gemeinschaftlicher Aktivitäten in einem Netz
bzw. in einer Kette von Unternehmen. Sogar Personen, die sich im Verhältnis zum Rest
der Welt selbst beschreiben wollen, verwenden den Rahmen.

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
T. Winkler 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 21


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_2
22 J. Kemperman et al.

Der Rahmen für brillante Businessmodelle entstand auf der Grundlage unserer
Analyse zahlreicher Unternehmen, die außerordentliche Ergebnisse erzielten. Diese
Unternehmen wiesen sehr gute Gewinne, sehr zufriedene Kunden und sehr engagierte
Mitarbeiter auf und verbesserten außerdem die Gesellschaft. Das machte sie in unse-
ren Augen brillant. Wir fanden heraus, dass diese besonderen Unternehmen eine Reihe
gemeinsamer Merkmale aufweisen. Alle betreffenden Unternehmen werden durch ein
prägendes und praxisrelevantes Leitbild angetrieben. Sie haben eine Markenpositionie-
rung, die zu ihrem Leitbild passt. Darüber hinaus wird das Leitbild auf jeder Ebene und
in jedem Bereich des Unternehmens umgesetzt. In den von uns untersuchten Fallstudien
fügt sich alles aneinander. Kurzum, ein brillantes Unternehmen, das eine Wertschöpfung
für alle Stakeholder bietet, ist nicht nur wegen seines Geschäftsmodells brillant. Viele
bestehende betriebswissenschaftliche Konzepte betrachten Leitbild, Markenpositionie-
rung, Geschäftsmodell und Wertschöpfung isoliert voneinander. Unsere Studien haben
gezeigt, dass diese Aspekte eng miteinander verknüpft sind und einander wechselseitig
stärken müssen, um ein wirklich brillantes Unternehmen zu entwickeln.
Der Ehrgeiz bei der Entwicklung des Rahmens für brillante Businessmodelle bestand
darin, Leitbild, Markenpositionierung, Businessmodelle und Wertschöpfung in ein kon-
zeptionelles Modell zu integrieren, um auf diese Weise im Zusammenhang entwickeln
und forschen zu können.1 Dabei war der Kerngedanke, dass die Brillanz eines Business-
modells durch eine ausgewogene Wertschöpfung für alle Beteiligten nachgewiesen wird.
Erfolg zu haben erfordert immer eine gute Balance zwischen „inside out“ und „outside
in“, zwischen Versprechen und Realisieren.
Diese integrale Betrachtungsweise und die Verwendung eines umfassenden konzep-
tionellen Rahmens sind innovativ. Die Fundamente und Bausteine für unsere Methode
stammen aus bestehenden und erprobten Konzepten sowie aus der Theorie und Praxis
von anderen und von uns. Das betrifft Theorien, Modelle und Erkenntnisse über Leitbild,
Strategie, Segmentierung, Wertschöpfungsketten, Wertschöpfungsmanagement, Change,
Marketing, Positionierung und Markenmanagement. Übereinstimmungen mit bekann-
ten Konzepten sind also keine Zufälle, sondern das Ergebnis intensiver Forschung und
bewussten Lernens und Übernehmens seitens der Autoren. Bereits bestehendes Gedan-
kengut wurde dankbar aufgegriffen, zum Beispiel von Größen wie Collins, Heskett, Zeit-
haml und Aaker. Und genau das erleichtert das Arbeiten mit diesem Ansatz in der Praxis,
weil viele Unternehmen damit bereits Erfahrungen gemacht haben und deshalb bereits
Elemente in ihrer betrieblichen Praxis nutzen.

1Siehe vorangegangene Bücher, in denen die Grundlagen für den konzeptionellen Rahmen von
brillanten Businessmodellen gelegt werden, insbesondere Kemperman und Trampe (2012) und
Geelhoed, Samhoud und Smolders (2012).
2  Was sind die Fundamente für ein brillantes Businessmodell? 23

Konzeptioneller Rahmen für brillante Businessmodelle


In Teil I wird in Kap. 2 bis 4 zunächst der konzeptionelle Rahmen behandelt, der
für die Analyse und Beschreibung brillanter Businessmodelle verwendet wird.
Dieses Modell wird im Finanzwesen und darüber hinaus verwendet. Dabei wird
an allgemeine betriebswissenschaftliche Ausdrücke wie „Kunden“, „Märkte“ und
„Positionierung“ angeknüpft. Das sieht zusammengefasst wie folgt aus:

Kap. 2 Was sind die Fundamente eines brillanten Businessmodells?

1. Leitbild: Ein Leitbild bringt das Unternehmen in Bewegung. Es spiegelt wider,


woher das Unternehmen kommt, wer das Unternehmen ist und wer das Unter-
nehmen sein will. Damit ist das Leitbild des Unternehmens die primäre Basis
des Businessmodells. Alles, was das Unternehmen macht, muss an diesem
Ausgangspunkt prüfbar sein. Ein Leitbild umfasst nach unserem Verständnis
das sogenannte Höhere Ziel einer Organisation, ihr sogenanntes Gewagtes Ziel
sowie ihre Kernwerte und Kernqualitäten.
2. Markenpositionierung: Die Positionierung einer Marke ist die angestrebte
Wahrnehmung, die das Unternehmen mit einer Marke im Kopf von (potenziel-
len) Kunden einnehmen möchte. Die Positionierung einer Marke wird über den
Markenkern, den Markenursprung, das Markenversprechen, die Markenwerte
sowie den Markenbeweis beschrieben.

Kap. 3 Was ist ein Businessmodell?

1. Marktsegmente (Wo agiert das Unternehmen?): Die Beschreibung der Markt-


segmente verdeutlicht, in welchem Markt das Unternehmen sein Leitbild
realisiert und welche Kunden bedient werden. Ausgangspunkt ist die Festle-
gung relevanter Methoden zur Segmentierung des Markts. Wenn klar ist, mit
welcher/n Methode/n der Markt segmentiert wird und an wen sich die Marke
richten soll, können diese Marktsegmente geprüft und beschrieben werden. Sie
können über Positionierung, Wettbewerber, Zielgruppe und einzigartige Kun-
deneinblicke beleuchtet werden.
2. Wertangebot für Kunden (Was bietet das Unternehmen?): Wenn bekannt ist, wie
sich die Marke für welche Marktsegmente positioniert, kann ausgehend vom
Kundenerlebnis ausgearbeitet werden, welches Wertangebot das Unternehmen
mit der Marke schaffen möchte. Was bekommen Kunden, auf was müssen sie
verzichten und was ändert sich in ihrem Leben, wenn sie Kunde werden? Das
Wertangebot für den Kunden kann beschrieben werden über jeweils drei Ele-
mente, die das Wertangebot für den Kunden vergrößern (Ergebnis, Prozess und
Gefühl), oder verkleinern (Preis, Aufwand und Risiko).
3. Kanäle (Welche Kanäle verwendet das Unternehmen?): Wenn klar ist, welchen
Kunden welches Wertangebot versprochen wird, muss es in den Kanälen und
24 J. Kemperman et al.

im Betrieb realisiert werden. Die Kanäle umfassen die Aktivitäten des Unter-
nehmens, in deren Rahmen die Interaktion für und mit dem Kunden stattfin-
det. Das betrifft tatsächliche Produkttransaktionen beim Verkauf, aber auch die
Beziehung als Ganzes und die Interaktion in Markenkontaktpunkten vor und
nach dem Verkauf. Die Kanäle können über die Elemente Marketing, Verkauf,
Kundenkontakt und Zusatzdienste beschrieben werden.
4. Betrieb (Wie organisieren Sie das?): Der Betrieb umfasst die Aktivitäten des
Unternehmens ‚hinter‘ den Kanälen. Ein optimierter Betrieb bildet das Herz des
Unternehmens und ist das Rückgrat für die Kanäle. Der Betrieb kann über die
Begriffe Produktion, Technologie, Lieferanten und Partner beschrieben werden.

Kap. 4 Welches nachweisbare Wertangebot wird geschaffen?

1. Wertschöpfung: Die Versprechen in den Rahmenbedingungen für brillante Busi-


nessmodelle müssen realisiert werden. Das ist die Voraussetzung für zufriedene,
treue und gewinnbringende Kunden sowie die Basis für Wertschöpfung für
Eigentümer und Mitarbeiter, die wiederum zur Wertschöpfung für die Gesell-
schaft beiträgt. Das Wertangebot, das für die Beteiligten und das Unterneh-
men realisiert wird, ist das Ergebnis des Businessmodells und der ultimative
Test und Beweis für dessen Brillanz. Das Unternehmen kann sich Ziele für die
Wertschöpfung setzen und diese für Kunden, Eigentümer, Mitarbeiter und die
Gesellschaft messen.
2. Phaseneinteilung: Die Reihenfolge von 1 bis 4.1 ist nicht willkürlich. Vielmehr
ist sie die Stufenfolge, in der brillante Businessmodelle am besten beschrieben
werden können. Gleichzeitig ist sie auch die Reihenfolge, bei der der Fokus auf
der Zeit liegt und damit auf der Kausalität in der Entwicklung des Unterneh-
mens. Das Ziel ist Wertschöpfung für alle Stakeholder, jedoch nicht von Beginn
an. Das ist das gewünschte Ergebnis. Dafür bedarf es eines funktionierenden
und konsistenten Businessmodells. Dafür wiederum sind ein klares Leitbild und
eine ebenso klare Positionierung erforderlich.

Ein Unternehmen ist und bleibt ein soziales Konstrukt. Paradoxerweise ist es
gerade für ein Unternehmen, das die oben aufgeführten Schritte erfolgreich ausge-
führt hat, besonders schwierig, erfolgreich zu bleiben. Denn es ist eine besondere
Herausforderung den Kern eines erfolgreichen Businessmodells zu erhalten und
das Unternehmen gleichzeitig für die Zukunft zu rüsten.
Zusammenfassend kann ein historisches, bestehendes, überarbeitetes und neues
brillantes Businessmodell mit Abb. 2.1 beschrieben und entwickelt werden.
Markenkern Kunst der Positionierung Kunde
Was ist der fundamentale Kern?

Wertangebot für Kundenwert


Kunden Marktsegmente
Höheres Ziel
Warum existieren wir? Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Unternehmen
Versprechen Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,
Kundeneinblicke

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir? Wertschöpfung
Ziel Unternehmen Unternehmen
Wohin gehen wir?

Betriebsstärke
Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Kundenerlebnisstärke
Kernqualitäten Betrieb Kanäle
Was zeichnet uns aus?
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Realisieren Lieferanten & Partner Kundenkontakt & Mitarbeiter Eigentümer
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Leitbild & Markenpositionierung Businessmodell Wertschöpfung

• Wer will man sein? • Welche Zielgruppe wird ins Auge gefasst? • Was ist das nachhaltige
Ergebnis für alle Beteiligten?
• Welche Position soll die Marke • Welches Wertangebot wird für Kunden
im Kopf der Kunden haben? geschaffen?
• Welcher Interaktionsprozess mit Kunden ist
2  Was sind die Fundamente für ein brillantes Businessmodell?

dafür erforderlich?
• Was erfordert das vom Betrieb im
Unternehmen?

Abb. 2.1  Konzeptioneller Rahmen für brillante Businessmodelle


25
26 J. Kemperman et al.

Wenn ein Unternehmen nachhaltigen Wert schöpfen will, benötigt es unbedingt ein
­solides Fundament. Dabei geht es einerseits um das Leitbild des Unternehmens und
andererseits um die Markenpositionierung. Mit anderen Worten, die Antwort auf die
Frage „Welche Position soll die Marke im Kopf der Kunden haben?“ (Markenpositi-
onierung) muss nahtlos an die Antwort auf die Frage „Wer will man sein?“ (Leitbild)
anknüpfen. Unternehmen mit brillanten Businessmodellen haben in der Regel ein inspi-
rierendes und authentisches Leitbild und eine Markenpositionierung, die unzertrennlich
mit dem Businessmodell verbunden ist. Deshalb wird in diesem Kapitel erst auf das Leit-
bild und dann auf die Markenpositionierung eingegangen.

2.1 Leitbild2

Überblick
Ein Leitbild bringt das Unternehmen in Bewegung. Es spiegelt wider, woher das
Unternehmen kommt, wer das Unternehmen ist und wer das Unternehmen sein
will. Damit ist das Leitbild des Unternehmens die primäre Basis des Businessmo-
dells. Alles, was das Unternehmen macht, muss mit dem Leitbild als Ausgangs-
punkt in Übereinstimmung stehen.
Das Leitbild eines Unternehmens kann mit der Beantwortung von vier Fragen
beschrieben werden (vgl. Van der Loo, Geelhoed und Samhoud 2007):

• Das Höhere Ziel: Warum existieren wir?


• Das Gewagte Ziel: Wohin gehen wir?
• Die Kernwerte: Wofür stehen wir?
• Die Kernqualitäten: Was zeichnet uns aus?

Die Unterstellung, dass ein brillantes Businessmodell mit der Erforschung des Markts
anhand von Kundenumfragen, Wettbewerbsanalysen und Marktstudien beginnt, klingt
logisch. Auf der Grundlage der gefundenen ‚Marktlücke‘ wird ein passendes Ange-
bot erstellt. Es geht schließlich um das Bedürfnis des Kunden, sollte man denken. Mit
anderen Worten: Man soll herausfinden, welches Bedürfnis der Kunde hat, und diesem
Bedürfnis entsprechen.
So funktioniert es bei brillanten Businessmodellen zu Beginn aber in der Regel nicht!
Im Gegenteil. Brillante Businessmodelle scheinen fast immer auf dem eigenen Leitbild
des Unternehmens zu basieren, und zwar auf dem, was es bieten und was es verändern
will (inside out). Dabei handelt es sich häufig um eine Vision, die durch die Betrach-
tung der eigenen zukünftigen Aktivitäten oder der gewünschten Veränderung aus der
Außenperspektive definiert wird. Die erste Triebfeder ist meistens eine Erkenntnis, mit

2Wenn Sie mehr über Leitbilder lesen möchten, weisen wir Sie neben Kemperman, Geelhoed
und op ’t Hoog (2013) auch auf Collins und Porras (2003), Van der Loo, Geelhoed und Samhoud
(2007) sowie Geelhoed, Samhoud und Smolders (2012) hin.
2  Was sind die Fundamente für ein brillantes Businessmodell? 27

Höheres Ziel
Warum existieren wir?
Ursprünge Flügel
Höheres Ziel und Gewagtes Ziel und
Kernwerte bilden Kernqualitäten
die Ursprünge des Kernwerte Gewagtes Ziel geben der
Wofür stehen wir? Wohin gehen wir?
Unternehmens ab Entwicklung des
Unternehmens
Flügel, Richtung und
Energie
Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Abb. 2.2  Erfolgreiche visionäre Unternehmen errichten

der Kunden fundamental besser bedient werden können oder mit der der Markt aufge-
baut wird. Oder sie ist das, was die Gründer einfach gut und produktionswürdig finden
(vgl. Wulleman 2013). Erst danach wird geprüft (oder einfach probiert), ob Kunden dar-
auf gewartet haben. Gerade bahnbrechende Neuerungen bedienen häufiger ein latentes
Bedürfnis als eine explizite Nachfrage im Markt.
Die Methoden, mit denen Unternehmen ihr Leitbild beschreiben, können variieren.
Dabei kommt es auch zu Unterschieden in der verwendeten Terminologie. So lassen
sich Elemente der Leitbilder auch in Texten über Mission, Werte, Identität und S ­ trategie
­wiederfinden. In diesem Buch wird das Leitbild eines Unternehmens anhand seines
Höheren Ziels, seines Gewagten Ziels, seiner Kernwerte und seiner Kernqualitäten
beschrieben (vgl. Van der Loo, Geelhoed und Samhoud 2007).
Das Leitbild des Gründers bildet häufig die Grundlage eines brillanten Businessmo-
dells. Von diesem Moment an ist das Leitbild nicht in Stein gemeißelt. Gerade bei Erfolg
liegt die zusätzliche Herausforderung darin, das Leitbild mit allen Beteiligten zu erneuern.
Wie von ‚Markenguru‘ Giep Franzen beschrieben, ist das Leitbild sowohl die Basisphilo-
sophie (Ursprung) als auch das Zukunftsbild (Flügel) eines Unternehmens (vgl. Franzen
und Van den Berg 2003; vgl. Abb. 2.2). Die amerikanischen Wissenschaftler James Collins
und Jerry Porras zeigen in ihrer Studie über erfolgreiche visionäre Unternehmen auf, dass
es diesen Unternehmen kontinuierlich gelingt, die optimale Balance zwischen dem Erhalt
ihres Kerns (Ideologie) und der Förderung des Fortschritts (Ambition) zu halten (vgl. Col-
lins und Porras 2003). Das Höhere Ziel und die Kernwerte sind primär mit den Ursprün-
gen und der Identität verbunden, an denen das Unternehmen festhalten will. Das gewagte
Ziel und die Kernqualitäten sind mehr dynamischer Natur und füllen die Förderung des
Fortschritts auf der Grundlage gemeinsamer Ambitionen für die Zukunft mit Inhalten aus.
28 J. Kemperman et al.

Höheres Ziel

Höheres Ziel
Warum existieren wir?
Gewagtes Ziel

Kernwerte Gewagtes Ziel


Wofür stehen wir? Wohin gehen wir?
Kernwerte

Kernqualitäten
Kernqualitäten Was zeichnet uns aus?

Abb. 2.3  Ein Leitbild in Eigenregie entwickeln?

Durch die Weiterentwicklung des Unternehmens auf der Grundlage seines Kerns
wird an die Identität und Stärke angeknüpft, die seit jeher die Basis des Unternehmens
bilden. Auf diese Weise werden die Kenntnisse und Kompetenzen genutzt, die – unbe-
wusst und bewusst – in den Menschen und Prozessen verankert sind. Eine gute Ver-
knüpfung mit den Aktivitäten, durch die sich das Unternehmen stets ausgezeichnet hat,
ist ein erkennbarer Dreh- und Angelpunkt, der Kunden und andere Beteiligte verstehen
lässt, warum es logisch ist (und erscheint), dass man als Unternehmen im jeweiligen
Markt tätig ist und dort ein bedeutungsvolles, differenziertes und attraktives Angebot
schaffen kann (vgl. Taylor 2007).
Die Formulierung eines Leitbilds für ein bestehendes Unternehmen ist damit auch
eine (Wieder-)Entdeckung von dem, was in puncto Ursprung und Potenzial bereits im
Unternehmen steckt. Ein klares und allgemein akzeptiertes Leitbild ist gemeinsamer
Ausgangspunkt und Ziel. Das Leitbild eines Unternehmens kann mit der Beantwortung
der folgenden Fragen beschrieben (oder bei der Entwicklung eines Leitbilds gemeinsam
ausgearbeitet) werden (vgl. Van der Loo, Geelhoed und Samhoud 2007; vgl. Abb. 2.3):

• Das Höhere Ziel: Warum existiert das Unternehmen? Dieser Aspekt beschreibt das
Existenzrecht des Unternehmens, was das Wesen des Unternehmens ist und was es
im Kern sein will. Das Höhere Ziel gibt in klarer, inspirierender und treffender Weise
wider, was die Ideale eines Unternehmens sind und welchen einzigartigen Beitrag es
für alle Stakeholder leisten will. Damit ist das Höhere Ziel ein fester Dreh- und Angel-
2  Was sind die Fundamente für ein brillantes Businessmodell? 29

punkt und ein Leitfaden für jedes Handeln. Das Höhere Ziel von The Walt Disney
Company lautet beispielsweise: „Menschen jeden Alters glücklich machen, überall.“
• Das Gewagte Ziel: Wohin geht das Unternehmen? Dabei handelt es sich um das
anspruchsvolle Zukunftsbild, das durch allergrößte Anstrengungen erreicht werden
kann. Es bezieht sich auf die Vision oder Ambitionen, die ein Unternehmen realisieren
will. Die Hauptfunktion eines Gewagten Ziels ist die Freisetzung von Energie. Das
Endergebnis muss so konkret wie möglich beschrieben werden, einschließlich einer
Frist, innerhalb der es erzielt werden soll. Das archetypische Beispiel eines Gewagten
Ziels ist die 1962 von John F. Kennedy formulierte Absicht, „vor Ende des Jahrzehnts
einen Mann auf den Mond zu bringen und ihn wieder sicher auf die Erde zu holen“.
• Die Kernwerte: Wofür steht das Unternehmen? Das sind die festen Überzeugungen,
die Aufschluss darüber geben, was die Mitarbeiter eines Unternehmens richtig und
wichtig finden. Es handelt sich dabei um moralische Maximen, die Menschen erstre-
benswert finden und die sie deshalb schätzen und als Motivation betrachten. Werte
haben auch einen emotionalen Gehalt: Sie spiegeln das wider, was Menschen gern
machen wollen. Sie prägen die interne Zusammenarbeit und das Auftreten des Unter-
nehmens nach außen. Kernwerte der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Nie-
derlande waren beispielsweise: dynamisch, unerschrocken und konsequent (vgl.
Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog 2013).
• Kernqualitäten: Worin zeichnet sich das Unternehmen aus? Kernqualitäten geben wieder,
worin ein Unternehmen bereits besonders gut ist bzw. worin es sich auszeichnen soll. Es
handelt sich um Eigenschaften und Fähigkeiten, die für ein Unternehmen charakteristisch
sind und die es zu Spitzenleistungen führen (vgl. Hamel und Prahalad 1994). Kernqua-
litäten der indischen Augenklinik Aravind sind beispielsweise: erstklassige Augenbe-
handlung, Herstellung zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Verbindungen und
kontinuierlicher Verbesserung (vgl. Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog 2013).

2.2 Positionierung3

Die (Marken-)Positionierung ist die Position, die man als Unternehmen für die Marke im
Hinblick auf den Kunden und andere Marken auf dem Markt wählt. Die Wahl führt zu
der Antwort auf die Frage: „Wer will ich auf dem Markt für welche Kunden sein?“ Eine
gute Positionierung ist wie die Unternehmensidentität keine Erfindung, sondern eine
Entdeckung. Ihre Formulierung ist eine Entdeckungsreise auf der Grundlage der Frage,
wie und worin das Unternehmen exklusiv(er) oder besonders für den (potenziellen) Kun-
den auf dem Markt sein kann. Wenn so eine Reise in einer Positionierung endet, die als

3Wenn Sie mehr über Markenpositionierung lesen möchten, weisen wir Sie auf Ries und Trout
(2013) und Aaker (1996) hin.
30 J. Kemperman et al.

völlig neu empfunden wird, ist irgendwo etwas schiefgelaufen und gekünstelt worden,
obwohl es gerade echt sein muss. Eine gute Positionierung ist mehr als eine Entdeckung
von etwas, das schon immer hätte da sein müssen.

Überblick
Das, was Sie mit der (Marken-)Positionierung für die Außenwelt ausstrahlen
möchten, muss mit Ihrem tatsächlichen Wesen und dem gewünschten Image im
Leitbild übereinstimmen. Die Positionierung ist die angestrebte Position, die das
Unternehmen mit der Marke im Kopf und Herzen von (potenziellen) Kunden ein-
nehmen möchte (Definition von Ries und Trout 2013). Die Positionierung einer
Marke kann mithilfe der folgenden fünf Fragen beschrieben werden:

• Markenkern: Was ist der fundamentale Kern und das Herz?


• Markenursprung: Was ist der Ursprung und die Glaubwürdigkeit?
• Markenversprechen: Was sind die Vorteile, die geboten werden sollen?
• Markenwerte: Was sind die fundamentalen Werte und die Persönlichkeit?
• Markenbeweis: Was müssen die Kunden erfahren?

Damit Kunden, Eigentümer und die Gesellschaft eine Marke in ihr Herz schließen, muss
sie erst das Herz der Mitarbeiter erobern. Marken, die das geschafft haben, sind am
stärksten und nachhaltigsten. Mitarbeiter treten in Kontakt mit der Außenwelt, und ihr
Markenerlebnis muss deshalb authentisch und konsistent sein. Das ist der Unterschied
zwischen „eine Marke haben“ und „eine Marke sein“ (vgl. Winter und Van der Weijden
2008). Um als Marke authentisch zu sein, muss eine Marke konsistent mit dem Leitbild
verknüpft sein. Die vier Aspekte zur Beschreibung des Leitbilds sind also der Input und
die Inspiration für die Positionierung.
Die Positionierung einer Marke kann mit den folgenden fünf Elementen und den zuge-
hörigen Leitfragen beschrieben werden (vgl. Kemperman und Trampe 2012; vgl. Abb. 2.4):

• Markenkern: Was unterscheidet uns im Kern von anderen Marken und ist dieser
Unterschied relevant für Kunden? Wie lässt sich der Kern mit nur wenigen Schlüssel-
wörtern beschreiben? Was ist demnach das Herz und die Seele der Positionierung?
• Markenursprung: Woher kommen wir? Was ist unsere Geschichte, und warum exis-
tieren wir? Welche historischen Verbindungen bestehen mit dem Markt? Wie verleiht
diese Herkunft dem Unternehmen eine Grundlage, um eine Rolle auf dem Markt
glaubwürdig erfüllen zu können? Wo ist die Schnittstelle mit dem Höheren Ziel, für
das das Unternehmen stand und noch steht? Wie ist das verankert in konsistenten und
eindeutigen visuellen Merkmalen (Farbe, Logo), durch die die Wiedererkennung des
Unternehmens langfristig sichergestellt wird?
• Markenversprechen: Was ist – in einer kurzen griffigen Formulierung – das Verspre-
chen gegenüber dem Kunden? Ist es konsistent zum Gewagten Ziel? Wofür steht das
2  Was sind die Fundamente für ein brillantes Businessmodell? 31

Markenkern

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?
Markenursprung Markenversprechen

Markenwerte Markenbeweis

Abb. 2.4  Eine Markenpositionierung in Eigenregie festlegen?

Unternehmen, und was bedeutet das konkret aus der Perspektive des Kunden? Wel-
chen Unterschied verspricht das Unternehmen im Leben oder in der Betriebsführung
des Kunden zu machen?
• Markenwerte: Wofür steht die Marke? Und wenn die Marke eine Person ist: Was
für eine Person sollte das sein? Wer verkörpert die Kernwerte? Wo ist er oder sie
geboren? Was für Freunde hat er oder sie? Was für Kleidung trägt er oder sie? Oder
grundsätzlicher: Wie ist es, diese Person zu sein? Gibt es andere Archetypen wie zum
Beispiel ein Tier, eine politische Partei oder ein Auto, die bei der Beschreibung dieser
Persönlichkeit helfen?
• Markenbeweis: Wie erfährt der Kunde, dass das Unternehmen keine leeren Verspre-
chungen abgibt, sondern wirklich einen Unterschied macht? Wo ist der Beweis, dass
das Unternehmen die versprochenen Vorteile auf der Grundlage seiner Kernqualitäten
bieten kann? Was sind die einzigartigen Hilfsquellen (wie z. B. Distributionskanäle,
Technologie oder Einkaufsvorteile), mit denen das Unternehmen die Versprechen
gegenüber dem Kunden jeden Tag realisieren kann?
32 J. Kemperman et al.

Literatur

Aaker DAA (1996) Building Strong Brands. Free Press, New York
Collins JC, Porras JI (2003) Immer erfolgreich: die Strategien der Top-Unternehmen. DVA, München
Franzen G, van den Berg M (2003) Strategisch management van merken (2. Ausgabe). Kluwer,
Alphen aan den Rijn
Geelhoed J, Samhoud S, Smolders I (2012) Wat is onze naam waard? Creëer blijvend resultaat
voor klanten, medewerkers, aandeelhouders en maatschappij. Academic Service, Den Haag
Hamel G, Prahalad CK (1994) Competing for the Future. Harvard Business School Press, Boston MA
Kemperman J, Geelhoed J, op ’t Hoog J (2013) Briljante businessmodellen – Een bijzondere bena-
dering voor betere business. Academic Service, Den Haag
Kemperman JEB, Trampe L (2012) De Merkrolmethode – Over merkportfolio’s, kalkoenen en
grindbakken. Scriptum, Schiedam
Ries A, Trout J (2013) Positioning – Wie Marken und Unternehmen in übersättigten Märkten über-
leben. Vahlen, München
Taylor DJ (2007) Never mind the sizzle … Where’s the sausage? Branding based on substance not
spin. John Wiley & Sons, Chichester
Van der Loo H, Geelhoed J, Samhoud S (2007) Plezier & prestatie; hét managementprincipe voor
organisaties. Academic Service, Den Haag
Winter E, van der Weijden W (2008) Authentieke organisaties. Echte merken. Hoe internal bran-
ding wel werkt. Van Duuren Management, Culemborg
Wulleman P (2013) De verlichte merkdespoot. LannooCampus, Tielt/Houten
Was ist ein Businessmodell?
3
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Thomas Winkler

Ein schönes Leitbild zu haben ist eine Sache. Aber es muss realisiert werden, und zwar
so, dass man von einer Wertschöpfung sprechen kann. Dafür gibt es das Businessmodell.
Ein Businessmodell kann in einem sogenannten Elevator Pitch durch folgende Frage
beantwortet werden: „Was bietet das Unternehmen wem, warum und wie realisiert es
damit eine Wertschöpfung für alle Beteiligten?“ Ein Businessmodell hilft also bei der
systematischen Definition der Art und Weise, wie das Unternehmen Wertschöpfung reali-
siert (Abb. 3.1).
Ein Businessmodell besteht aus vier Komponenten, wobei jede Komponente Antwort
gibt auf eine Reihe fundamentaler Fragen:

• Marktsegmente: An welche Kunden will sich die Marke richten? Welche Märkte wol-
len wir bedienen oder bedienen wir? Das ist die Definition von Kunde. Auf dieser
Grundlage wird der Marktfokus im Hinblick auf Position, Wettbewerber, Zielgruppe
und Kundeneinblicke festgelegt.

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
T. Winkler 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 33


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_3
34 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,
Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 3.1  Businessmodell

• Wertangebot für Kunden: Welches Wertangebot schaffen wir im Leben von Kunden?
Das ist das Wertangebot, das (zukünftigen) Kunden eines Unternehmens erwarten und
vermittelt durch die Produkte oder Dienstleistungen erleben sollen. Das Wertangebot
für den Kunden kann beschrieben werden über jeweils drei Elemente, die das Wert-
angebot für den Kunden vergrößern (Ergebnis, Prozess und Gefühl) oder verkleinern
(Preis, Aufwand und Risiko).
• Kanäle: Welche Interaktion ist dafür zwischen dem Unternehmen und Kunden erfor-
derlich? Über welche Kanäle transportiert ein Unternehmen das Wertangebot für
Kunden? Beschrieben werden die Anforderungen an das Unternehmen, Kunden anzu-
werben, zu bedienen und zu behalten in Marketing, Verkauf, Kundenkontakt und
Zusatzdiensten.
• Betrieb: Wie wird die Realisierung des Wertangebots für Kunden organisiert?
Beschrieben werden die Anforderungen, die der Betrieb (für den Kunden häufig nicht
sichtbar) erfüllen muss, um tatsächlich an den Kunden zu liefern und das Wertangebot
über die Kosten hinauszuheben. Es geht um Produktion, Technologie, Lieferanten und
Partner.

Diese Komponenten müssen nahtlos miteinander verknüpft sein, wenn das Business-
modell brillant sein soll. In diesem Kapitel gehen wir ausführlich auf die verschiedenen
Komponenten eines Businessmodells ein.
3  Was ist ein Businessmodell? 35

3.1 Marktsegmente1

Überblick
In seinem Leitbild legt das Unternehmen fest, wer es sein will. Die Beschreibung
der Marktsegmente verdeutlicht, in welchem Markt das Unternehmen sein Leitbild
für welche Kunden realisiert. Ausgangspunkt ist die Festlegung relevanter Metho-
den zur Segmentierung des Markts. Wenn klar ist, an welche Marktsegmente sich
das Unternehmen richten will, können diese Marktsegmente anhand von vier Fra-
gen geprüft und beschrieben werden:

• Position: Wie ist die aktuelle Position in diesen Marktsegmenten?


• Wettbewerber: Wie sieht die Wettbewerbsumgebung aus?
• Zielgruppe: Wie verhält es sich mit der Menge, der Erreichbarkeit und der Ein-
träglichkeit der Zielgruppe?
• Kundeneinblicke: Was sind die einzigartigen Kundeneinblicke, um den Markt
zu bedienen?

Die Ausgangsfrage in einem Businessmodell lautet: Wer ist der Kunde? In der Manage-
mentliteratur geht man implizit und automatisch davon aus, dass diese Frage einen Kun-
dentyp betrifft, der das Produkt wählt, kauft, verwendet, bezahlt und ersetzt. In der Praxis
geht dieses einfache Ausgangskonzept häufig nicht auf. Viele Unternehmen arbeiten in
einer Kette: Sie liefern (Unter-)Komponenten eines Produkts, die anschließend von ihrem
direkten Kunden oder deren Kunden an den Endkunden weiterverkauft werden. Wenn sie
ihre Komponenten so verändern, dass das Gesamtprodukt einen höheren Wert für den End-
kunden hat, ist es auch für die dazwischenliegenden Unternehmen von höherem Wert (vgl.
Kemperman, Edelman und Van der Pool 2000). Darüber hinaus ist es häufig noch weniger
eindimensional. Das wird bei Modellen deutlich, bei denen das Unternehmen verschiedene
Marktparteien miteinander verbindet wie etwa bei den meisten Unternehmen im Bereich
der sozialen Medien. Es findet ein Austausch auf einem Markt und in einem Netz statt,
bei denen zwei oder sogar mehr Parteien bezahlen. Entscheider, Zahler und Nutzer sind
häufig nicht ein und dieselbe Partei, und dann gibt es innerhalb dieses Kreises von Betei-
ligten auch noch verschiedene Gruppen. Das wird beispielsweise in früheren Fallstudien-
beschreibungen in den Büchern Brillante Businessmodelle und Brillante Businessmodelle
im Gesundheitswesen deutlich (vgl. Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog 2013, 2014).
LinkedIn hat Nutzer, die für Zusatzdienste teilweise bezahlen. Personalvermittlern Daten
über diese Nutzer bereitzustellen ist für das Unternehmen am lukrativsten. Der Fußball-
verein Ajax Amsterdam erzielt höhere Einnahmen, wenn er mehr Zuschauer und Fans hat.

1Wenn Sie mehr über Segmentierung lesen möchten, weisen wir Sie auf Kemperman und Trampe
(2012) hin.
36 J. Kemperman et al.

Das realisiert der Verein teilweise durch Kartenverkauf und Merchandising, vor allem aber
über Sponsoring und Medien, zum Beispiel über Werbung bei der Übertragung von Spie-
len. PatientsLikeMe bringt Patienten zusammen, die Erfahrungen austauschen, aber den
eigentlichen Nutzen aus der Plattform ziehen Pharmaunternehmen, die von den Erfah-
rungen der Patienten lernen. Auch im Finanzwesen ist die Rolle des Kunden häufig nicht
eindimensional. Bei der Gründung vieler Versicherungsunternehmen und Banken sind
die Kunden gleichzeitig auch die Eigentümer, die Mitarbeiter und die Lieferanten in ihrer
eigenen Gemeinschaftsinitiative. Dabei ist der Finanzdienstleister häufig nicht allein ein
Produktanbieter. Wenn man zurück zum Ursprung geht, stellt man häufig fest, dass es vor
allem ein Organisator ist, der verschiedene Kunden miteinander verbindet. Risiken werden
über eine Gruppe von Kunden gestreut, die sich alle versichern. Geld wird für die eine
Gruppe von Kunden verwaltet und an andere Kunden geliehen. Wenn neben den Kunden
auch andere Player eine wichtige Rolle im Businessmodell spielen, können die als separate
Kundengruppe oder als Partner oder Dienstleister einbezogen werden.
Die durch das Unternehmen bedienten Kundengruppen und die verschiedenen Seg-
mente innerhalb dieser Gruppen können mithilfe der folgenden Fragen beschrieben wer-
den (vgl. Abb. 3.2):

• Position: Was ist die aktuelle Position des Unternehmens in diesem Markt? Das kann
knapp in der Zusammenschau von Kundenzahl, Umsatz und Marge dargestellt werden.
Darüber hinaus geht es um die Entwicklung, die dem vorausging. Die Kunden von
heute sind in vielen Fällen schon gestern oder vorgestern Kunden geworden. Es geht

Position

Marktsegmente
Position, Wettbewerber,
Zielgruppe,
Wettbewerber Kundeneinblicke

Zielgruppe

Kundeneinblicke

Abb. 3.2  Eine Marktsegmentierung in Eigenregie vornehmen?


3  Was ist ein Businessmodell? 37

also auch darum zu verstehen, woher die Kunden des Unternehmens kommen, wie sie
Kunden geworden sind, wie lange sie schon Kunden sind und wie sich der Kundenbe-
stand entwickelt hat.
• Wettbewerber: Wie sieht die Wettbewerbsumgebung aus? Das betrifft den allgemei-
nen Wettbewerb auf dem Markt, insbesondere aber auch die Unternehmen, die sich
auf die gleichen Kunden fokussieren. Dabei kann die Konkurrenz viel breiter gefä-
chert sein als nur die Lieferanten des gleichen Produkts. Wenn sich Menschen hin-
sichtlich der Wirtschaft und ihrer Zukunft unsicher fühlen, werden das Sparkonto und
die Tilgung der Hypothek plötzlich zu wichtigen Wettbewerbsfaktoren für Anbieter,
z. B. von Fernreisen oder eines neuen Autos.
• Zielgruppe: Welche Eigenschaften hat die Zielgruppe? Wie verhält es sich mit ihrer
Größe, Erreichbarkeit und Profitabilität? Es geht um Zahlen, aber auch darum, wie die
Zielgruppe kommunikativ erreichbar ist, inwieweit Lieferanten benötigt werden und
es geht um den finanziellen Spielraum in diesen Marktsegmenten.
• Kundeneinblicke: Was sind die einzigartigen Kundeneinblicke, mit denen die Segmente
bedient werden? Das betrifft die wesentlichsten und fundamentalsten Bedürfnisse im
Marktsegment, in dem das Unternehmen bereits aktiv ist oder aktiv sein will und kann. Es
geht nicht nur um die klar formulierten Wünsche von Kunden, die für Kunden und Wettbe-
werber schon immer klar waren. Es geht auch um die latenten und fundamentalen Bedürf-
nisse, die das Unternehmen im Hinblick auf die Konkurrenz wie kein anderes erfüllt und
erfüllen kann. Dabei besteht die Herausforderung darin, zum Kern zu gelangen, wobei die
endgültigen Kundeneinblicke sehr einfach sein können. Beispiel: Wenn Menschen um
12.30 Uhr zu Mittag essen und um 19.00 Uhr zu Abend essen, bekommen sie auf dem
Heimweg von der Arbeit Hunger. Das ist also die ideale Zeit, um am Bahnhof oder an der
Tankstelle einen nahrhaften und handlichen Snack für zwischendurch zu verkaufen.

Fast genauso wichtig wie die Entscheidung, wer Kunde eines Unternehmens sein soll, ist
die Entscheidung, wer NICHT Kunde sein soll. Ein brillantes Businessmodell erfordert
klare Entscheidungen. Es ist nämlich fast unmöglich, alles für jeden zu bieten.

3.2 Wertangebot für Kunden2

Überblick
Wenn bekannt ist, wie sich die Marke für welche Marktsegmente positioniert, kann
ausgehend von der Kundenperspektive ausgearbeitet werden, welches Wertange-
bot das Unternehmen schaffen möchte. Welchen Nutzen haben die Kunden? Was

2Wenn Sie mehr über das Wertangebot für Kunden lesen möchten, weisen wir Sie auf Heskett et al.

(2003) sowie Kemperman et al. (2000) hin.


38 J. Kemperman et al.

haben Kunden dafür zu leisten? Und was ändert sich damit in ihrem Leben? Das
Wertangebot aus der Kundenperspektive kann mithilfe der folgenden sechs Fragen
beschrieben werden:

• Ergebnis: Was bekomme ich?


• Prozess: Wie bekomme ich es?
• Gefühl: Was fühle ich dabei?
• Preis: Was kostet es mich?
• Aufwand: Was muss ich dafür tun?
• Risiko: Wie unsicher ist es?

Der Wert der Kunden für das Unternehmen spielt eine bedeutende Rolle, aber die Bezie-
hung beginnt mit der Frage, was das Wertangebot für Kunden ist. Ohne Kunden hat man
nichts zu tun und verdient nichts. Wenn das Wertangebot für Kunden nicht klar formu-
liert werden kann, ist das Unternehmen nicht im Business. Die Verbindung zwischen den
ausgewählten Marktsegmenten und dem Wertangebot für diese Kunden nennen wir die
„Kunst der Positionierung“.
Für die Kunden geht es um den Unterschied, den das Angebot der Unternehmen in
ihrem Leben (oder in der Betriebsführung bei Geschäftskunden) macht. Was ändert sich
als Kunde dieses Unternehmens im Vergleich zur Situation, in der ich mich für einen
Wettbewerber entscheide oder nichts mache? Damit betrifft das Wertangebot für Kun-
den nicht das, was das Unternehmen objektiv liefert, sondern was die Kunden subjektiv
erwarten und erleben. Die Herausforderung besteht also darin, aus der Kundenperspek-
tive eine Antwort auf die folgenden Fragen zu geben: Was habe ich von dem Produkt
oder der Dienstleistung? Wie hilft es bzw. sie mir? Was löst es bzw. sie für mich? Ver-
gessen Sie dabei nicht den Vergleich, denn wahrscheinlich ist das Unternehmen nicht
der einzige Anbieter auf der Welt. Was also macht das Unternehmen anders im Vergleich
zum Wettbewerber?
Das Wertangebot, das das Unternehmen einem bestimmten Kunden unterbreitet, ist
nicht fest umrissen. Es hängt ab vom Zeitpunkt, Ort, Produkt und Verhalten des Kunden.
Das Unternehmen kann definieren, welches Wertangebot es versprechen und realisieren
will. Auf diese Weise legt es ein wichtiges Ziel fest, das die Richtung vorgibt.
Der Wert, den der Kunde den Produkten und der Dienstleistung eines Unternehmens
beimisst, setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen (vgl. Kemperman und Van
Engelen 1999, Kemperman, Edelman und Van der Pool 2000; Heskett Sasser und Whee-
ler 2008; Kemperman und Trampe 2012; Geelhoed Samhoud und Smolders 2012). Diese
werden nachfolgend anhand einiger kurzer Beispielfragen beschrieben, die ein Kunde
möglicherweise beim Kauf eines Mobiltelefons mit Vertrag stellt.
Bei wertsteigernden Elementen geht es um den Nutzen. Hier nimmt der Wert für den
Kunden in dem Maße zu, wie er mehr Nutzen hat (und bei weniger nimmt der Wert ab):
3  Was ist ein Businessmodell? 39

• Ergebnis: Was für ein Produkt oder eine Dienstleistung bekomme ich? Funktionieren
das neue Telefon, die Apps und der Provider gut? Habe ich immer guten Empfang
und eine schnelle Verbindung? Bietet das Telefon alle Funktionen, die ich haben will?
Hat es genügend Speicherplatz für meine Bedürfnisse?
• Prozess: Wie bekomme ich es? Werde ich gut dazu beraten, welches Gerät und wel-
cher Vertrag zu meinen Bedürfnissen passen? Wird mir schnell und kompetent gehol-
fen, wenn ich Fragen, Beschwerden oder Probleme habe?
• Gefühl: Was fühle ich dabei? Was für ein Gefühl gibt mir die Marke, und wie fühlt
es sich an, dieses Telefon zu besitzen und zu nutzen? Wie finden meine Freunde das?
Passt es zu mir? Bestärkt es mich in meiner Persönlichkeit?

Bei wertmindernden Elementen geht es um die Belastungen für den Kunden. Hier nimmt
der Wert für den Kunden in dem Maße ab, wie er mehr Belastungen übernimmt (und bei
weniger nimmt der Wert zu):

• Preis: Was kostet es? Zahle ich jetzt und danach monatlich nicht zu viel? Wie hoch
sind die festen und variablen Kosten? Wie ändern sich diese, wenn ich das Gerät
anders nutze?
• Aufwand: Was muss ich dafür tun? Kostet es mich viel Zeit, mich für das richtige
Gerät und den richtigen Vertrag zu entscheiden und herauszufinden, wie sie funktio-
nieren? Kostet es mich viel Zeit, die Nutzung dieses Geräts zu erlernen?
Risiko: Wie unsicher ist es? Habe ich doppelte Kosten, wenn das Gerät kaputtgeht
oder wenn ich zu einem neuen Provider wechsele? Sind alle Apps und Schnittstellen
jetzt und in Zukunft verfügbar? Vertraue ich darauf, dass der Provider meine Abhän-
gigkeit nicht ausnutzt, nachdem ich mich für ihn entschieden habe?

Natürlich ist es für Kunden attraktiv, über dem Strich den größtmöglichen Gesamtwert
und unter dem Strich die kleinstmögliche Wertminderung zu erreichen. Insbesondere
geht es jedoch um das Verhältnis: Der Kundenwert muss sich für den Kunden wie ein
guter und logischer Deal anfühlen. Die Analyse, was dieses Wertangebot für Kunden
bedeutet, kann bei dessen Optimierung helfen. Gerade Unternehmen mit einem bril-
lanten Businessmodell legen häufig sehr deutlich fest, durch welche Elemente sie sich
unterscheiden wollen und in welchen Bereichen sie das gleiche Angebot wie die Wettbe-
werber bereitstellen (vgl. Verweire 2014).
Das Wertangebot, das ein Unternehmen verspricht und das ein Kunde erwartet und
erlebt, bildet den Kern des ‚Vertrags‘ zwischen der Marke und dem Kunden (Abb. 3.3).
Der gemeinsame ‚Vertrag‘ von dem, was der Kunde bekommt und gibt, hängt von einem
mehr oder weniger emotionalen oder funktionalen Produkt ab. Es kann vereinbart sein.
Die implizite Wahrnehmung von dem, was ein Kunde bekommt und gibt, kann letzt-
endlich genauso hart sein wie die formellen juristischen Vereinbarungen. Denken Sie
beispielsweise an das, was passiert, wenn Kunden sich abwenden, Protestkampagnen
starten oder negative Werbung verbreiten, auch wenn sie formell und juristisch gesehen
40 J. Kemperman et al.

Wertangebot für
Kunden
Ergebnis, Prozess, Gefühl,
Preis, Aufwand, Risiko

Kundenwertsteigernde Elemente (mehr = mehr)

Ergebnis
Was bekomme ich? + Prozess
Wie bekomme ich es? +
Gefühl
Was fühle ich dabei?

Preis
Was kostet es? + Aufwand
Was muss ich dafür tun? + Risiko
Wie unsicher ist es?

Abb. 3.3  Ein Wertangebot für Kunden in Eigenregie entwickeln?

vielleicht nicht Recht haben. Im Finanzwesen muss man nicht lange suchen, um ein Bei-
spiel dafür zu finden. Derivate gelten in der öffentlichen Meinung und in den Medien als
Teufelszeug. Die Art und Weise, in der über diese Produkte transparent kommuniziert
werden musste, wurde genau festgelegt und gesetzlich vorgeschrieben. Zwar war juris-
tisch an der Sache nicht zu rütteln, aber letztendlich musste sich das Gesetz dem Geist
der Vereinbarung doch geschlagen geben. Kunden hatten nämlich eine andere Vorstel-
lung als das, was auf dem Papier stand, und das wurde bei der Zusprechung von Scha-
densersatz maßgeblich.
Philosophisch gesehen ist das ein wichtiger Moment. Ging man im 19. Jahrhundert
häufig noch von einer objektiven Wahrheit aus, wurde im 20. Jahrhundert festgestellt,
dass lediglich eine gemeinsame so genannte „intersubjektive Wahrnehmung“ von der
Wirklichkeit bestand, dass man aber die tatsächliche Wahrheit niemals kennen würde.
Im 21. Jahrhundert wendet sich das Blatt: Diese intersubjektive Wahrnehmung wird die
Wirklichkeit! Das klingt sehr schwierig. Es läuft schließlich darauf hinaus, dass man am
besten dafür sorgt, dass Menschen genau das im Kopf haben, was man ihnen bieten kann
3  Was ist ein Businessmodell? 41

und auch will und das auch einfach macht. Viele brillante Businessmodelle unterschei-
den sich, weil sie gerade in diesem Punkt des mentalen gegenseitigen Vertrags transpa-
renter sind, sodass für Kunden klar ist, was sie bekommen und geben, aber auch wie das
mit den Kosten und dem Verdienstmodell des Unternehmens im Zusammenhang steht.
Die Poster an der Wand bei IKEA sagen einem genau, was man selbst transportieren und
zusammenbauen muss, welche Kosten dadurch gespart werden und wie auch die Umwelt
davon profitiert.

3.3 Kanäle3

Überblick
Wenn klar ist, welchen Kunden welches Wertangebot auf der Basis des Leitbilds
und der Markenpositionierung versprochen wird, muss es in den Kanälen und im
Betrieb realisiert werden. Die Kanäle umfassen die Aktivitäten des Unternehmens,
in deren Rahmen die Interaktion für und mit dem Kunden stattfindet. Das betrifft
tatsächliche Produkttransaktionen beim Verkauf, aber auch die durchgängige
Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen als Ganzes sowie die Kontaktmo-
mente innerhalb dieser Beziehung. Die Kanäle können mit den folgenden vier Ele-
menten beschrieben werden:

• Marketing: Wie sehen Marken- und Kundenkommunikation aus?


• Verkauf: Wie werden Aktivitäten organisiert, um Kunden anzuwerben und zu
behalten?
• Kundenkontakt: Über welche Kanäle erfolgt der Kundenkontakt?
• Zusatzdienste: Wie werden Zusatzdienste für und mit dem Kunden gestaltet?

Der theoretische Rahmen für brillante Businessmodelle zwischen dem Wert-Versprechen


eines Unternehmens und seiner Einlösung:

• Versprechen: Auf der Grundlage des Höheren und Gewagten Ziels des Unternehmens
sowie des Kerns, des Ursprungs und des Versprechens der Marke wird festgelegt, wel-
ches Wertangebot die Zielgruppen erwarten dürfen.
• Einlösung: Auf der Grundlage der Kernwerte und Kernqualitäten des Unternehmens
sowie der Werte und des Beweises der Marke muss das versprochene Wertangebot für
Kunden im Betrieb und in den Kanälen realisiert werden.

3Wenn Sie mehr über Kanäle lesen möchte, weisen wir Sie neben Kemperman et al. (2013) auch
auf Frei und Morriss (2012), Grönroos (2000) sowie Osterwalder und Pigneur (2010) hin.
42 J. Kemperman et al.

Das Wertangebot, das den Kunden versprochen wurde, muss in den Kanälen und betrieb-
lichen Prozessen realisiert werden. Was das Unternehmen darin für den Kunden kreiert,
ist das Produkt des Unternehmens. Die Kanäle betreffen die Aktivitäten, in deren Rah-
men die Interaktion zwischen Kunden und dem Unternehmen stattfindet. Die Einrich-
tung der Kanäle beginnt mit einer guten Analyse von Kontaktpunkten des Kunden mit
dem Unternehmen. Dafür blickt man aus der Kundenperspektive auf das Unternehmen,
um die wesentlichen Markenkontaktpunkte zu identifizieren, an denen das Kundenerleb-
nis gestaltet wird. Die Reise, die der Kunde durch das Unternehmen macht, kann durch
das Unternehmen selbst entwickelt und gestaltet werden – mit dem Ziel, den gewünsch-
ten Zielgruppen den gewünschten Kundenwert zu bieten. Dabei kann entschieden wer-
den, wie sich das Unternehmen wann von den Wettbewerbern unterscheiden will und
auch wodurch es sich nicht unterscheiden will.
Ein wesentlicher Bestandteil bei der Einrichtung der Kanäle ist die Kanalstrategie.
Mit der Kanalstrategie legt das Unternehmen fest, über welche Kanäle es das Wertange-
bot für den Kunden liefert. Es geht um die Frage, wie ein Kunde seinen Service von dem
Unternehmen beziehen und nutzen kann. Inwieweit und zu welchem Zeitpunkt erfolgt
der Kontakt persönlich, telefonisch, schriftlich oder online? Die gewählten Kanäle müs-
sen auf die Markenpositionierung, das versprochene Wertangebot für Kunden und die
Art der gelieferten Produkte und Zusatzdienste ausgerichtet sein. Wenn dabei die Beto-
nung auf einer persönlichen und menschlichen Beziehung liegt, erfordert das mehr als
automatische Bandansagen und Internet. Wenn es bezahlbar bleiben soll, kann vom Kun-
den verlangt werden, dass er so viel wie möglich selbst macht und sich das dafür erfor-
derliche Wissen aneignet. Die Finanzwelt verzeichnet in der letzten Zeit enorme Erfolge
in puncto Digitalisierung. Dabei fällt auf, dass Kunden zufriedener und treuer sind, wenn
sie selbstständig agieren können. Sie wissen selbst am besten, was ihnen wichtig ist, und
verzeihen sich einen kleinen Fehler, der ihnen beim Homebanking unterlaufen ist, wäh-
rend ein Fehler seitens der Bank für sie völlig inakzeptabel ist.
Die Kanäle eines Unternehmens (vgl. Abb. 3.4) mit einer Marke können anhand der
folgenden Komponenten beschrieben werden:

• Marketing: Wie sehen Marken- und Kundenkommunikation aus? Wie ist diese Kom-
munikation im Produkt integriert? Dabei geht es um die Kommunikation über das
Unternehmen und die dafür eingesetzten Medien. Des Weiteren geht es auch um
das Kommunikationsmaterial, mit dem Kunden angeworben, gehalten und Dienst-
leistungen unterstützt werden, sowie um die Rolle der Kunden und der unmittelbar
Beteiligten in der Kommunikation wie beispielsweise durch soziale Medien, Mund-
propaganda und Empfehlungen.
• Verkauf: Wie sind Kundengewinnung und Kundenbindung organisiert? Das betrifft
die verwendeten Kanäle und Personen. Ist beispielsweise physischer Kontakt und/
oder eine Bestellung im Internet möglich? Relevant sind auch die Ausgestaltung von
Kontaktpunkten sowie das Kundenerleben und Selbstbedienungselemente. Kunden-
gewinnung und Kundenbindung können eine bestimmte Kundengruppe betreffen, die
3  Was ist ein Businessmodell? 43

Marketing

Verkauf

Kundenkontakt Kanäle
Marketing & Verkauf,
Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Zusatzdienste

Abb. 3.4  Kanäle in Eigenregie festlegen?

entscheidet, nutzt und bezahlt. Es kann aber auch andere Parteien umfassen, die mit-
bestimmen, verweisen, bezahlen oder empfehlen.
• Kundenkontakt: Wie ist der Kundenprozess aufgebaut? Was trägt dieser Prozess zum
Produkt oder der Dienstleistung bei, bzw. was bietet das Unternehmen den Kun-
den? Dabei geht es um verschiedene Kontaktmomente mit bestehenden Kunden und
die dafür verwendeten Kanäle. Erfolgt der Kontakt beispielsweise telefonisch oder
online? Gibt es Dienstleistungsstandorte oder Hausbesuche? Welche Rolle spielen
dabei die Mitarbeiter und die Kunden selbst? Wo kommt es zu einer Abtretung an
Partner oder Lieferanten? Was bedeutet das für die Kunden?
• Zusatzdienste: Wie werden Zusatzdienste für und mit dem Kunden gestaltet? Was tra-
gen diese Prozesse zum Produkt bei? Welche Dienste werden angeboten? Was pas-
siert bei der Dienstleistung auf praktischer und emotionaler Ebene in der Beziehung?
Was erfordert das von den Mitarbeitern und den Kunden?

3.4 Betrieb

Überblick
Der Begriff Betrieb umfasst die Aktivitäten des Unternehmens hinter den Kanälen.
Ein optimierter Betrieb bildet das Herz des Unternehmens. Er ist das Rückgrat für die
Kanäle und bietet meistens Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Realisierung
44 J. Kemperman et al.

von Synergien und Kosteneffizienz. Der Betrieb kann mit den folgenden Elementen
beschrieben werden:

• Produktion: Wie werden Produkte oder Dienstleistungen hergestellt?


• Technologie: Welche Technologie, Kenntnisse und menschlichen Ressourcen
sind erforderlich für die Produktion und Kanalstrategie?
• Lieferanten: Welche Anforderungen und Auswahlkriterien werden an die Liefe-
ranten gestellt?
• Partner: Welche (anderen) Partner werden gewünscht? Was tragen sie bei?

In der traditionellen Vorstellung von industriellen, physischen Produkten werden Güter


im Betrieb auf Vorrat hergestellt und anschließend über die Kanäle vermarktet und ver-
kauft. Die Kanäle sind in zunehmendem Maße ein wesentlicher Bestandteil des Pro-
dukts (vgl. Reddy, Buskirk und Kaicker 1993). Diese Entwicklung ist ganz im Sinne von
Dienstleistern wie Banken und Versicherungsunternehmen, denn sie erfordert eine inten-
sivere Abstimmung zwischen Kanälen und Produktion. Kurzum, die Kunst der Verbin-
dung zwischen Betrieb und Kanälen ist wichtiger geworden. Dabei stehen die Kanäle
weniger im Dienste des Betriebs, vielmehr sind in den meisten Fällen die Kanäle ton-
angebend. Die Herausforderung im Betrieb besteht darin, die Interaktion mit den Kun-
den und die Bereitstellung eines Wertangebots dabei so gut und effizient wie möglich zu
unterstützen. Eine gute Betriebsstrategie ist damit keineswegs nach innen gerichtet. Der
Betrieb muss in Verbindung mit den Kanälen die Versprechen realisieren.
Neben den ‚eigenen‘ Mitarbeitern in der Produktion werden auch Lieferanten und
Partner in zunehmendem Maße in den Bereitstellungsprozess einbezogen. Denken Sie
beispielsweise an die Auslagerung von Dienstleistungen für Kunden an Lieferanten, neue
Formen der Zusammenarbeit mit Partnern, um Kunden gemeinsam zu bedienen, sowie
an die intensive Kooperation und den intensiven Informationsaustausch innerhalb der
Kette. Die dafür zwischen Kanälen und Betrieb erforderliche Verbindung ist nicht ein-
fach, insbesondere weil Unternehmen häufig bei den Gesamtkosten in der Kette sparen
wollen.
Der Betrieb eines Unternehmens (vgl. Abb. 3.5) kann mit den folgenden Elementen
beschrieben werden:

• Produktion: Wie werden Produktionsaktivitäten organisiert? Wie sehen die Produkti-


onsprozesse aus, bei denen kein persönlicher Kundenkontakt besteht? Was sind die
daraus resultierenden Beiträge zum Produkt bzw. zu den Produkten des Unterneh-
mens? Wie wird Mitarbeitern ermöglicht, ihre tägliche Arbeit effektiv und effizient
verrichten zu können?
• Technologie: Welche Technologie, menschlichen Ressourcen und Kenntnisse sind erfor-
derlich für die Produktion und die Kanäle? Was erfordert das von den eigenen Managern,
3  Was ist ein Businessmodell? 45

Produktion

Technologie

Lieferanten Betrieb

Produktion & Technologie,


Lieferanten & Partner

Partner

Abb. 3.5  Den Betrieb in Eigenregie organisieren?

Experten und Mitarbeitern? Wie wird das vorhandene Wissen bei den Mitarbeitern
maximal genutzt, damit jeder das macht, was er am besten kann? Wie schafft man es,
dass Menschen bei ihrer Arbeit nicht über- oder erst recht nicht unterfordert werden?
Was für Schulungen und entscheidungsunterstützende Systeme sind dafür notwendig?
Welche Informationen müssen dafür erfasst und übermittelt werden? Welche Anforde-
rungen werden an die unterstützenden Technologien, Geräte und Instrumente gestellt?
• Lieferanten: Welche Anforderungen und Auswahlkriterien werden an die Lieferanten
gestellt? Wie sehen die Produktionsprozesse der Lieferanten aus? Was tragen sie zum
Produkt bzw. zu den Produkten des Unternehmens bei?
• Partner: Welche anderen Partner werden gewünscht? Was tragen Sie bei? Besteht bei
der Zusammenarbeit Bedarf an anderen Partnern als Lieferanten im Betrieb oder in
den Kanälen? Welche Produktionsprozesse werden gemeinsam oder parallel mit Part-
nern ausgeführt? Was tragen sie zum Produkt bzw. zu den Produkten des Unterneh-
mens bei?

Literatur

Frei F, Morriss A (2012) Uncommon Service – How to win by putting customers at the core of
your business. Harvard Business Review Press, Boston MA
Geelhoed J, Samhoud S, Smolders I (2012) Wat is onze naam waard? Creëer blijvend resultaat
voor klanten, medewerkers, aandeelhouders en maatschappij. Academic Service, Den Haag
46 J. Kemperman et al.

Grönroos C (2000) Service Management & Marketing – A Customer Relationship Management


Approach (2. Ausgabe). John Wiley & Sons, Chichester
Heskett JL, Sasser J, Schlesinger L (2003) The Value Profit Chain – Treat Employees like Custo-
mers and Customers like Employees. Free Press, New York NY
Heskett JL, Sasser J, Wheeler J (2008) The Ownership Quotient – Putting the Service Profit Chain
to work for unbeatable Competitive Advantage. Harvard Business Press, Boston MA
Kemperman J, Edelman T, van der Pool H (2000) Strategisch ketenmanagement. Holland Manage-
ment Review, Mai 2000 (71)
Kemperman J, Geelhoed J, op ’t Hoog J (2013) Briljante businessmodellen – Een bijzondere bena-
dering voor betere business. Academic Service, Den Haag
Kemperman J, Geelhoed J, op ’t Hoog J (2014) Briljante businessmodellen in de zorg. Baan-
brekende benaderingen voor betere en betaalbare zorg. Academic Service, Den Haag
Kemperman J, Trampe L (2012) De Merkrolmethode – Over merkportfolio’s, kalkoenen en grind-
bakken. Scriptum, Schiedam
Kemperman J, van Engelen J (1999) Operationalizing the Customer Value Concept. In: Hildebrand
L, Annacker D und Klapper D (Hrsg) Marketing and Competition in the Information Age –
Proceedings of the annual conference of the European Marketing Academy, 11.-14. Mai. Euro-
pean Marketing Academy, Berlin
Osterwalder A, Pigneur Y (2010) Businessmodel Generatie – Een handbook voor visionairs, game
changers en uitdagers (niederländische Ausgabe). Kluwer, Deventer
Reddy AC, Buskirk BD, Kaicker A (1993) Tangibilization the Intangibles Some Strategies for Ser-
vices Marketing. Journal of Service Marketing 7(3):13–17
Verweire K (2014) Strategy Implementation. Routledge/Taylor & Francis Group, London und New
York NY
Wertschöpfung und Gesamtrahmen
4
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

4.1 Wertschöpfung für alle Stakeholder1

Überblick
Ein Businessmodell bekommt in diesem Buch nur dann das Prädikat „brillant“,
wenn es für alle Beteiligten wertvoll ist. Glücklicherweise kann Wertschöpfung für
verschiedene beteiligte Parteien einen stärkenden Effekt haben. Ein brillantes Busi-
nessmodell, das dem Leitbild und der Positionierung des Unternehmens voll und
ganz entspricht, ist die Quelle für zufriedene sowie treue und gewinnbringende
Kunden. Anschließend ist das wiederum Grundlage für Wertschöpfung für Eigen-
tümer und Mitarbeiter. Die Wertschöpfung, die damit für die Beteiligten und das

1Wenn Sie mehr über Wertschöpfung lesen möchten, weisen wir Sie auf Zeithaml, Parasuraman
und Berry (1990), Reichheld (1996), Heskett, Sasser und Schlesinger (2003), Heskett, Sasser und
Wheeler (2008) sowie Geelhoed, Samhoud und Smolders (2012) hin.

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 47


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_4
48 J. Kemperman et al.

Unternehmen selbst realisiert wird, ist das Ergebnis des Businessmodells als Gan-
zes und damit der ultimative Test für dessen Brillanz. Das Unternehmen kann sich
Wertschöpfungsziele setzen und diese für die einzelnen Beteiligten messen:

• Kunden: Was gibt der Wert, der im Businessmodell für Kunden realisiert wurde,
an Wert für das Unternehmen zurück?
• Anteilseigner: Welcher Wert wird für Aktionäre und andere Eigentümer generiert?
Was bringt das dem Unternehmen?
• Mitarbeiter: Welcher Wert wird für Mitarbeiter geschaffen? Was bringt das dem
Unternehmen?
• Gesellschaft: Welcher Wert wird für die Gesellschaft erzeugt? Was bringt das
dem Unternehmen?

Die Bedeutung der Einlösung von Versprechen ist ein wichtiges Thema nicht nur in
der Markentheorie, sondern auch in der Theorie rund um die Wertschöpfungskette
(Value Profit Chain), die in den vergangenen 25 Jahren ausgehend von der Erforschung
des Dienstleistungsmarketings aufgebaut wurde.2 Das zentrale Thema ist die Realisie-
rung eines nachhaltigen finanziellen und kommerziellen Erfolgs, indem Unternehmen
ihren Kunden ein relevantes Wertangebot versprechen und dieses Versprechen auch
wahr machen. Der kausale Zusammenhang dahinter ist, dass nachhaltiger Erfolg auf
der Grundlage von treuen Kunden realisiert wird (vgl. z. B. Bügel 2004). Kunden wer-
den treu, weil sie zufrieden sind. Kunden werden zufrieden, weil der erwartete Wert bei
der Anschaffung auch bei der Nutzung erlebt wird (vgl. Kemperman und Van Engelen
1999). Der kausale Zusammenhang zwischen finanziellem Erfolg und der Realisierung
des erwarteten Kundenwerts wird in Abb. 4.1 veranschaulicht.
Zwischen der Zufriedenstellung von Kunden, Mitarbeitern, Anteilseignern und der
Gesellschaft scheint ein Spannungsfeld zu bestehen. Kurzfristig können die Quartals-
zahlen sogar häufig unterschiedliche Werte für verschiedene Parteien aufweisen. So kann
beispielsweise die Entscheidung getroffen werden, die Marge der Produkte auf Kosten
bestehender Kunden und zugunsten der Eigentümer zu erhöhen.
Bei langfristigen Vertragsformen (z. B. Strom, Telekom und Versicherungen) wird
dadurch kurzfristig der Gewinn erhöht, doch ist die Transparenz so gestaltet, dass dieser
Effekt nicht nachhaltig ist. Außerdem kann ein Teil des Gewinns des abgelaufenen Jahres
als Gehalt oder Bonus an Mitarbeiter und somit entsprechend weniger an Eigentümer abge-
führt werden. Studien zum Thema Wertschöpfung für die Beteiligten haben ergeben, dass
die besten Unternehmen mit etwas Weitblick für alle Beteiligten geradezu brillieren: Kun-
den, Mitarbeiter, Anteilseigner und die Gesellschaft. Sisodia führt an, dass Unternehmen,
die alle Stakeholder im Blick haben, an der Börse schließlich achtmal besser a­ bschneiden

2Siehe z. B. Zeithalm, Parasuraman und Berry (1985, 1990), Reichheld (1996), Heskett, Sasser

Schlesinger (2003) sowie Heskett, Sasser und Wheeler (2008).


4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 49

Erwarteter
Kundenwert

Nachhaltiger
Balancierter Kunden-
Kundentreue finanzieller
Kundenwert zufriedenheit
Erfolg

Erlebter
Kundenwert

Abb. 4.1  Von der Realisierung des erwarteten Kundenwerts zum finanziellen Erfolg

als der Durchschnitt (der Aktienindex S&P 500)3 und sogar dreimal besser als die
legendären „Good to Great“-Unternehmen (vgl. Sisodia, Wolfe und Sheth 2007; Collins
2001). Das Fazit ist, dass die Realisierung eines Wertangebots für Kunden, Eigentümer
und Mitarbeiter langfristig keine dieser Parteien ausschließt, sondern dass diese einander
vielmehr stärken und auch einen gesellschaftlichen Wert generieren. Gemeint ist eine posi-
tive Spirale, in der Beteiligte, für welche Mehrwert geschaffen wird, ihrerseits auch Mehr-
wert an das Unternehmen zurückgeben. Auf diese Weise wird Mehrwert für die Beteiligten
generiert. In dieser Spirale ändert sich der Grad der Verbundenheit bei den Beteiligten von
Zufriedenheit zur Teilhaberschaft (vgl. Heskett, Sasser und Wheeler 2008). Die positive
Beziehung zwischen Wertschöpfung für und durch Kunden, Mitarbeiter und Anteilseigner
wird in Abb. 4.2 veranschaulicht (vgl. Geelhoed, Samhoud und Smolders 2012; ­Heskett,
Sasser und Schlesinger 2003).
Philosophisch gesehen kann ein Unternehmen als ein soziales Konstrukt betrachtet
werden, in dem Beteiligte Wert austauschen. Der Beweis für und der ultimative Test auf
die Brillanz eines Businessmodells ist Wertschöpfung, also das Maß, in dem Wert für
alle Beteiligte generiert wird, und das Maß, in dem das dafür sorgt, dass diese Beteilig-
ten Wert an das Unternehmen zurückgeben.
Wenn diese Bilanz positiv ausfällt und alle Beteiligten zufrieden sind, hat das Unter-
nehmen tatsächlich ein nachhaltiges Existenzrecht und verdient das Prädikat „brillant“.
Dabei ist es gut zu wissen, dass die Parteien häufig auch in unterschiedlichen Eigenschaften

3Sisodia betrachtete den Return on Investment dieser Unternehmen über einen Zeitraum von zehn

Jahren.
50 J. Kemperman et al.

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Abb. 4.2  Positive Spirale der Wertschöpfung für und durch Beteiligte

b­ eteiligt ist: Ein Mitarbeiter, ein Kunde oder eine Behörde kann beispielsweise auch Akti-
onär sein. Das kommt sogar immer häufiger vor, weil gegenwärtig mehr Menschen selbst-
ständig arbeiten und deshalb Eigentümer und Mitarbeiter zugleich sind. Dabei tauschen
Menschen in der Share Economy wieder öfter, sodass sie dann Kunde und Lieferant fürein-
ander sind. Außerdem ist es mitunter schwierig, finanzielle Mittel zu bekommen, was auch
zu alternativen Lösungen führt, bei denen Kunden selbst in ein neues Produkt investieren
oder Mitarbeiter in einem neuen Unternehmen ihre Arbeitsstunden in Anteilen ausbezahlt
bekommen. Das Unternehmen kann sich Wertschöpfungsziele setzen und diese für die ver-
schiedenen Beteiligten messen:

• Wert für Kunden: Abgesehen vom Wert des Unternehmens für die Kunden (der
bereits im Businessmodell beschrieben wurde) haben die Kunden auch Wert für das
Unternehmen. Dieser Wert kann in Treue, Ko-Kreation, Empfehlungsverhalten und
Portfolioanteil gemessen werden.
• Wert für Anteilseigner: Der Wert des Unternehmens für die Anteilseigner beinhaltet
Ertrag, Marktwert und Wachstum. Umgekehrt bringen auch Anteilseigner einen Wert
für das Unternehmen durch Treue, Investitionen und Empfehlungen.
• Wert für Mitarbeiter: Der Wert des Unternehmens für die Mitarbeiter beinhaltet die gege-
bene Wertschätzung und Freude in Form von Herausforderungen, Inspiration, Vergütung,
Bestätigung, Offenheit, Freiheit, Feiern und Balance. Es geht um materielle Vergütung,
aber auch um den Raum für ein Privatleben sowie für Ausbildung und Entwicklung.
Im Gegenzug hat der Mitarbeiter einen Wert für das Unternehmen durch Leistungen
in der Kundenbindung, Ideen, Motivation, Treue und Anwerbung anderer Mitarbeiter,
­Produktion und Umsatz in der Verwendung und Übertragung von Wissen und Kultur.
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 51

• Gesellschaftlicher Wert: Der Wert des Unternehmens für die Gesellschaft beinhal-
tet die Schaffung von Arbeitsplätzen, Wohlbefinden, Zufriedenheit und Wohlstand.
Umgekehrt sind der gute Ruf in der Öffentlichkeit sowie die Bestätigung und Wert-
schätzung des gesellschaftlichen Beitrags des Unternehmens durch die öffentliche
Meinung von großer Bedeutung für das Unternehmen. Dabei kann der Wert in der
Schaffung eines gesetzlichen oder physischen Umfelds für Aktivitäten oder sogar in
der Unterstützung und Rettung des Unternehmens bei Schwierigkeiten angesichts des
gesellschaftlichen Interesses zum Ausdruck kommen.

Indikatoren für Wertschöpfung


Häufig lassen sich eindeutige Daten für die Bewertung, ob ein Unternehmen
im Hinblick auf seine Wettbewerber auch wirklich brillant ist, nur sehr schwer
beschaffen. Wenn man als Unternehmen eigene Forschungen anstellt, können die
oben genannten Indikatoren verwendet und diese auf der Grundlage von individu-
eller Arbeit gestaltet werden. Was kann man auf der Grundlage von öffentlichen
Daten zutage fördern? Für Kunden, Anteilseigner und Mitarbeiter stellt sich nicht
so sehr die Frage, welche Indikatoren ein gutes Bild geben, sondern inwieweit
Daten darüber gefunden werden können. Dabei kann nach den in Tab. 4.1 aufge-
führten Indikatoren gesucht werden.
Die Messung der Wertschöpfung für und durch die Gesellschaft, bei der die
Indikatoren nicht eindeutig definiert sind, bedeutet zusätzlichen Aufwand. Im
Grunde soll herausgefunden werden, inwieweit das Unternehmen durch die
Öffentlichkeit, die Presse, die Behörden und die Politik unterstützt oder fallen
gelassen wird. Das kann mithilfe von Medienüberwachung auf der Grundlage von
Schlüsselwörtern analysiert werden, allerdings gilt es dabei zu beachten, dass die
Aktualität der letzten paar Wochen das Ergebnis nicht beherrscht. Uns ist bewusst,
dass nicht jeder Zugang zu dieser Art von Dienstleistung und Tools hat. Um sich
dennoch ein Bild machen zu können, haben wir eine schnelle Bestandsaufnahme
entwickelt, die mit frei verfügbaren Suchmaschinen wie Google, Bing und Yahoo
problemlos durchgeführt werden kann. So betrachten wir die Anzahl der Treffer,
um einen Eindruck von der Aufmerksamkeit für das Unternehmen zu erhalten.
Darüber hinaus experimentieren wir auch mit dem Society Promotion Score (SPS).
Dabei sehen wir uns die ersten 25 Treffer mit einer Bewertung des Unternehmens
von außerhalb an. Der SPS ist der Anteil der positiven Bewertungen in Prozent.
Bei den Suchmaschinen gilt es stets Vorsicht walten zu lassen, weil die Ergebnisse
(kostenlos oder gebührenpflichtig) mit Tools wie Suchmaschinenoptimierung ver-
ändert und verbessert werden können. Des Weiteren betrachten wir quantitativ und
qualitativ die Zusammensetzung der Top 10 von Anerkennung und Kritik: Gesell-
schaftliche Auszeichnungen, aber auch Anhörungen, Verurteilungen und Verglei-
che oder wichtige Zulassungen und Aufträge.
52 J. Kemperman et al.

Tab. 4.1  Indikatoren für Wertschöpfung aus öffentlichen Daten


Wertschöpfung Messung der relativen Position im Vergleich
zu Peers auf der Grundlage von
Kunden: Net Promoter Score (NPS) Marke Öffentliche Marktforschung
% Entwicklung Kundenbestand Öffentliche Marktforschung, Anzahl Kun-
den, Marktanteil
Kundenrankings Vergleichsportale, Preise, Verbraucherstudie

Anteilseigner: Wert Unternehmen Börsendaten, Geschäftsbericht


Dividende Börsendaten, Geschäftsbericht
Gewinn Börsendaten, Geschäftsbericht
Mitarbeiter: Net Promoter Score (NPS)/ Great Place to Work, Mitarbeiterumfrage,
Verbundenheit Geschäftsbericht, Glasdoor, Kununu

Fehlzeiten Geschäftsbericht
% Entwicklung Geschäftsbericht, Börsendaten
Mitarbeiterbestand

Gesellschaft: Societal Promoter Score Suchmaschinenergebnis Top 25 positive


oder negative Bewertungen (% positiv -/- %
negativ, ohne die Treffer des betreffenden
Unternehmens)
Anerkennung & Kritik Top 10 Anerkennung (Auszeichnungen auf
gesellschaftlichem Gebiet, Zulassungen,
öffentliche Aufträge usw.) und Kritik (Ver­
urteilungen, Prozesse, Vergleiche, parla­
mentarische Untersuchungen usw.)

Beachtung Suchmaschinenergebnis (Anzahl Treffer)

4.2 Konzeptioneller Rahmen und Phaseneinteilung

Auf der Grundlage der von uns analysierten Fallstudien gibt es eine logische Reihen-
folge und einen logischen Zusammenhang zwischen Leitbild, Positionierung, Busi-
nessmodell und der Erzielung von Ergebnissen. Aus diesem Grund wurde in dem
konzeptionellen Modell, das in diesem Buch im Mittelpunkt steht, die Theorie zu Leit-
bild, Positionierung, Servicemarketing und Businessmodellen integriert und in einen
Gesamtrahmen gesetzt. Wir sehen drei Phasen, wobei in jeder Phase einige wichtige Fra-
gen beantwortet werden. Diese aufeinanderfolgenden Fragen bilden einen Stufenplan.

• Phase 1: Leitbild und Positionierung (diese Phase bezieht sich auf „wer man warum
sein will“)
– Leitbild: Was ist das Leitbild des Unternehmens im Hinblick darauf, wer es sein
will und warum es existieren will?
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 53

– Positionierung: Welche Position soll die Marke im Kopf und Herzen der Kunden
haben?
• Phase 2: Businessmodell (in dieser Phase wird konkretisiert, wie das Unternehmen
Wert generiert, liefert und gestaltet) (vgl. Heskett, Sasser und Wheeler 2008)
– Marktsegmente: An welche Kunden will sich die Marke richten?
– Wertangebot für Kunden: Welches Wertangebot schafft das Unternehmen im
Leben von Kunden?
– Kanäle: Welche Interaktion ist dafür zwischen dem Unternehmen und Kunden
erforderlich?
– Betrieb: Was erfordert das vom Betrieb im Unternehmen?
• Phase 3: Ergebnis (diese Phase betrifft das Ergebnis, das für Kunden, Mitarbeiter,
Anteilseigner und die Gesellschaft erzielt wird)
– Wertschöpfung: Was ist das nachhaltige Ergebnis für alle Beteiligten (vgl. Abb. 4.3)?

Der Gesamtrahmen von Phase 1 bis 3 wird als Aufhänger und Struktur für die Beschrei-
bung der verschiedenen Fallstudien in diesem Buch verwendet. Die Reihenfolge ist also
nicht willkürlich. Vielmehr handelt es sich um eine Stufenfolge, in der brillante Busi-
nessmodelle am besten beschrieben werden können (vgl. Kemperman et al. 2013).

Wert durch und für


Kunden

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Wert durch Wert durch und


Mitarbeiter Eigentümer
und für für Anteilseigner
Mitarbeiter

Wert durch und für die Gesellschaft

Abb. 4.3  Eine Wertschöpfung in Eigenregie festlegen?


54 J. Kemperman et al.

Gleichzeitig ist es auch die logische Reihenfolge sowohl in puncto Zeit als auch in
puncto Kausalität. Wie funktioniert diese Kausalität? Wir haben für die zwei voran-
gegangenen Bücher und dieses Buch insgesamt 45 Fallstudien für brillante Business­
modelle analysiert und beschrieben. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass nur eines von
drei Unternehmen, die ursprünglich auf der Longlist standen, es bis ins Buch schafft. Das
heißt, wir fangen an zu verstehen, wie es funktioniert. Eigentlich sehen wir immer, dass
die Phase 3 der Phase 2 folgt und Phase 2 auf Phase 1 folgt. Daraus dürfen wir getrost
schließen, dass Phase 3 nur über Phase 1 und 2 erreicht wird. Hieraus schlussfolgern wir,
dass dieser Prozess manchmal planmäßig über mehrere Jahre hinweg verläuft, jedoch häu-
figer eine Suche ist, in deren Verlauf der Unternehmer und das Unternehmen herausfin-
den, wie das Leitbild zu realisieren ist. Was im Rückblick wie eine logische, planmäßige
Abfolge aussieht, war in Wirklichkeit häufig ein organischer, nicht immer stringent gesteu-
erter Prozess. Das macht es auch so spannend.
Es gibt viele Bücher, in denen erfolgreiche Unternehmen vorgestellt und anschlie-
ßend Tipps präsentiert werden, um es für einen schnellen Erfolg genau so zu machen.
Darin liegt ein Denkfehler. Die Tatsache, dass Phase 3 auf Phase 2 folgt und Phase 2
auf Phase 1 folgt, bedeutet nicht, dass umgekehrt Phase 1 immer zu Phase 2 führt und
Phase 2 immer in Phase 3 mündet. Wir plädieren sehr dafür, Unternehmen zu gründen
und diese zu benutzen, um alle Stakeholder glücklich zu machen und die Welt rentabel
zu verbessern. Doch das ist nicht der einfache Weg. Ein begeisterndes Leitbild, das mit
Gewohnheiten bricht, konsequent im Businessmodell umzusetzen, ist möglicherweise
der Beginn eines brillanten Businessmodells. Allerdings kann sich dieses Leitbild auch
als Garant für grandiose Misserfolge entpuppen. Wenn man sich nicht anpassen will (me
too), kann das Businessmodell scheitern (grandioser Misserfolg) oder sich bewähren
(brillantes Businessmodell). Hört es damit bei Phase 3 auf und bleibt dann nur noch ewi-
ger Ruhm? Leider nicht!
Ein brillantes Unternehmen bleibt nicht automatisch immer brillant. Nachdem die
drei Phasen durchlaufen sind, besteht die Herausforderung darin, die dazugehörigen drei
Kriterien im Zusammenhang konsistent zu halten und weiterzuentwickeln. In dieser vier-
ten Phase kommt es darauf an, nicht am eigenen Erfolg zugrunde zu gehen. Wenn die
Verantwortlichen zu viel an der Vergangenheit festhalten, wird das Unternehmen ein-
geholt und überholt. Wenn im Rahmen der Innovation Tabula Rasa gemacht wird, löst
sich die Bindung zu den Ursprüngen und Kernqualitäten, obwohl gerade diese das Unter-
nehmen einzigartig machen. Kurzum, die Kunst besteht dann darin, den Kern zu wah-
ren und das Unternehmen auf dieser Grundlage stetig zu überdenken und gegebenenfalls
anzupassen (vgl. Collins und Porras 2003). Eigentlich will man zurück in die Zukunft zu
Phase 1, wobei die Frische und der Ehrgeiz dieser Phase mit der gesammelten Erfahrung
und den erzielten Erfolgen bereichert werden. Gleichzeitig wird es dadurch nicht einfa-
cher. Das Unternehmen ist weniger flexibel, denn jetzt sind viel mehr Parteien von dem
Wert abhängig, den das Unternehmen generiert, und umgekehrt hängt auch das Unter-
nehmen von dem Wert ab, den alle Stakeholder wieder zurückgeben.
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 55

4.3 Fallstudie in Phase 4: Das brillante Businessmodell von


Progressive

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Floris de Bruin, Maaike Polders und
Jeroen Geelhoed verfasst.

Die Gefahren von Phase 4 sind real. Bevor wir uns also die brillanten Beispiele ­ansehen,
beschreiben wir in diesem Buch deshalb auch ein Unternehmen, das zwar ü­berzeugend
brillant war, das jetzt aber etwas angeschlagen in Phase 4 angekommen ist. Das
­Versicherungsunternehmen Progressive wurde von vielen Kunden immer als ein bril-
lantes Unternehmen bejubelt. Das bahnbrechende Businessmodell, das inspirierende
Leitbild und die verblüffenden Ergebnisse wurden und werden in Büchern, Artikeln und
­Harvard-Fallstudien ausführlich erörtert. Progressive ist nicht dramatisch untergegangen,
sondern ist bei genauerer Betrachtung nach 2004 nur immer mehr zu einem ‚gewöhnli-
chen‘ Unternehmen geworden, durchschnittlich in puncto Leistungen und Kundenzufrie-
denheitsstudien. Die Fallstudie von Progressive zeigt überdeutlich, dass es gerade in der
Finanzdienstleistungsbranche sehr schwierig ist, brillant zu bleiben.

Progressive Insurance
Fortschritt durch Innovation

Prolog
Stellen Sie sich einmal folgende Situation vor: Sie sind gerade mit einem anderen
Auto zusammengestoßen. Mit hohem Puls und voller Adrenalin stehen Sie hinter der
Leitplanke. Natürlich regnet es heftig und es weht ein lästiger, kalter Wind. Wie geht
es jetzt weiter? Sie rufen Ihre Versicherung an und fragen, wie Sie den Schaden mel-
den können und wie Sie ein Formular bekommen, das Sie mit dem anderen Autofah-
rer ausfüllen. Die Mitarbeiterin am Telefon gibt Ihnen freundlich Auskunft und teilt
Ihnen mit, dass ihr Kollege zu Ihnen kommt. Kurze Zeit später hält ein weißer Klein-
bus. Es ist ein Mitarbeiter der Versicherung! Er lädt Sie ein, in seinem warmen Klein-
bus Platz zu nehmen. Er gibt Ihnen eine Decke und eine Tasse Kaffee. Nachdem er
Ihre Geschichte gehört hat, hilft er Ihnen beim Ausfüllen der erforderlichen Doku-
mente. Außerdem gibt er auch noch sofort eine erste Schätzung Ihres Schadens ab.
Diesen Betrag überweist er Ihnen, damit Sie zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihrem
Auto zur Werkstatt fahren können, um den Schaden reparieren zu lassen. Der andere
Autofahrer steht buchstäblich und bildlich noch draußen im Regen… Aber auch für
ihn interessiert sich der Mitarbeiter! Er bekommt den gleichen Service, wenn er zu
Progressive wechselt. Das ist der Service von Progressive: schnell und innovativ.

Einleitung
Die Autoversicherung Progressive wurde am 10. März 1937 von Joseph Lewis und
Jack Green gegründet. Angespornt werden die beiden Gründer von einer Überzeu-
gung: Sie wollen Autoversicherungen einfach und zugänglich machen, sodass mehr
Menschen ihr Auto versichern können. In der Anfangsphase des Unternehmens
­richtet sich Progressive dann auch an Autobesitzer mit einem hohen Risikoprofil, die
56 J. Kemperman et al.

nicht bei anderen ­Versicherungen unterkommen können. Darüber hinaus bietet das
Unternehmen die Möglichkeit, den Versicherungsbeitrag in Raten zu zahlen, weil
die Höhe der jährlich anfallenden Prämie für einige Kunden ein Hindernis darstellt.
Nach dem Tod von Jospeh Lewis im Jahr 1955 wird Jack Green Geschäftsführer des
Unternehmens. Ihm folgt 1965 Peter Lewis – der Sohn von Joseph Lewis –, der sich
­insbesondere mit der Frage beschäftigt, wie sich Progressive von seinen Wettbewer-
bern unterscheiden kann (vgl. Frei 2004).
Unter Peter Lewis erlebt Progressive eine lange Periode bis dahin unbekannten Wachs-
tums, der durch Innovation befeuert wird. Verschiedene Artikel berichten lobend über
„Progressive’s Firsts“, eine Reihe von Innovationen, die in einer Gesamtübersicht auf der
unternehmenseigenen Website aufgeführt sind.4 Diese Website war übrigens auch eine
Innovation, die das Unternehmen als erste Versicherung einführte. Weitere Beispiele sind
ein Preisvergleichsservice, schnelle Einsatzfahrzeuge und ein 24/7-Schadenservice. Ange-
trieben durch diese Innovationen wuchs Progressive bis 2005 durchschnittlich um 17 %
pro Jahr und erreichte einen sagenhaften Umsatz von 14 Mrd. US$ (13,2 Mrd. EUR*).5

2001 wurde Peter Lewis von Glenn Renwick als Geschäftsführer abgelöst. Zu diesem
Zeitpunkt ist Renwick bereits 14 Jahre bei Progressive tätig. Als ehemaliger Leiter der
Informationstechnologie kümmert er sich insbesondere um die Stärkung der technologi-
schen Eigenschaften des Unternehmens.6 Mit ihm als Firmenchef ist Progressive seinen
Wettbewerbern auf technologischer Ebene immer einen Schritt voraus. Für seine mobilen
Anwendungen und die Qualität seiner Website erhält Progressive verschiedene Auszeich-
nungen.7 In unserer Studie stellen wir allerdings fest, dass das brillante Businessmodell
in den letzten Jahren Risse bekommen hat, die unter ökonomischen Aspekten nicht zu
erklären sind. Diese Aspekte haben allenfalls geholfen, die Risse sichtbarer zu machen.
So sehen wir beispielsweise, dass das Unternehmen in Kundenzufriedenheitsumfragen
immer schlechter abschneidet und in puncto Kundenwertschätzung mittlerweile ins Mit-
telmaß abgerutscht ist.8 In dieser Fallstudie beleuchten wir vor allem die erfolgreiche
Periode von Progressive unter Peter Lewis, von der wir viel lernen können. Selbstver-
ständlich werden wir uns jedoch auch kurz den Rissen zuwenden. Denn wie kommt es,
dass so ein strahlendes Unternehmen von seinem brillanten Weg abkommt? Beide Perio-
den enthalten wertvolle Lektionen für die Entwicklung eines eigenen brillanten Business-
modells in der Finanzdienstleistungsbranche.

4http://www.progressive.com/progressive-insurance/first/.

5http://www.google.com/finance; *Der hier zugrunde liegende Umrechnungskurs beträgt 0,94


(März 2015).
6http://www.insurancetech.com/management-strategies/voelker-keeps-progressive-on-cutting-

edg/210800522.
7http://in.reuters.com/article/2011/11/07/idUS190147+07-Nov-2011+BW20111107.

8http://www.forbes.com/sites/jimgorzelany/2012/05/11/auto-insurance-companies-with-the-most-

satisfied-customers/.
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 57

Das Fundament: Progressiv in jeder Hinsicht


1937 nahm das Unternehmen Progressive seine Geschäftstätigkeit auf, indem es
schwer versicherbaren Zielgruppen Autoversicherungen anbot, die bei anderen
­Versicherungsunternehmen nicht unterkommen konnten. Die Existenz des Unternehmens
gründet also darauf, anders und zugänglich zu sein – gemäß seinem höheren Ziel, das
menschliche Trauma und den finanziellen Schaden infolge von Autounfällen so gering wie
möglich zu halten. Die Zusatzdienste und Produkte spiegeln diese Ambition wider, weil
sie die Zugänglichkeit von Versicherungen sowie eine möglichst schnelle und einfache
Abwicklung von Schadensfällen in den Mittelpunkt der Geschäftsaktivitäten von Progres-
sive stellen. Ein Beispiel dafür ist der 2003 eingeführte persönliche Schadenservice, der
den Kunden von Progressive ermöglicht, den gesamten Reparaturprozess von einem Servi-
cemitarbeiter des Unternehmens abwickeln zu lassen. Die Kunden brauchen das Auto nur
in der Werkstatt abzugeben und wieder abzuholen. Zur Überbrückung erhalten die ­Kunden
einen Mietwagen. Das ist heute üblich, damals jedoch war es etwas ­Außergewöhnliches.
Das gewagte Ziel von Progressive für die nächsten Jahre war es, die erste Wahl von
US-amerikanischen Verbrauchern zu werden, wenn es um Autoversicherungen geht. Ange-
sichts des starken Wettbewerbs war das ein ehrgeiziges Ziel, aber nicht unmöglich. Um
Kunden zu gewinnen und zu binden, verspricht Progressive den Kunden: Zugänglichkeit,
Einfachheit und minimale Zeitinvestition durch Innovation. Oder in den Worten des Unter-
nehmens: „Fast. Fair. Better. That’s what customers can expect from Progressive Direct.“9
Die Kultur von Progressive unterstützt diese Wachstumsstrategie. Natürlich ist der
Wert „Integrität“ Teil des definierten Wertekanons (der sogenannten „License to Ope-
rate“), dennoch sind es zwei andere Werte, mit denen sich Progressive von der Konkurrenz
abhebt. Der außergewöhnlichste Wert ist die sogenannte „Goldene Regel“. Dieser Wert
umfasst Umgangsregeln, wie Respekt gegenüber allen Mitarbeitern, die Wertschätzung
unterschiedlicher Menschen sowie die Behandlung von anderen so wie man selbst gern
behandelt werden möchte. Der Nichtausschluss von Kunden, der sich anfänglich nur auf
schwer versicherbare Menschen bezog, ist darin viel breiter interpretiert und in der Unter-
nehmenskultur verankert. Progressive zeigt, wie weitgehend das in der Praxis umgesetzt
werden kann. Für seine fortschrittliche Personalpolitik erhielt das Unternehmen mehrere
Auszeichnungen, darunter viele Jahre hintereinander eine sehr hohe Platzierung in The
Human Rights Campaign for Corporate Equality Index, einem wichtigen Gradmesser in
den USA für Unternehmen im Hinblick auf ihre Offenheit für homosexuelle, lesbische,
bisexuelle und Transgender-Mitarbeiter.10 Auch das ist eine Form von „being progressive“.
Der zweite Wert, der für die Unternehmenskultur kennzeichnend ist, lässt sich viel-
leicht am besten als Ergebnisorientiertheit beschreiben. Bei Progressive wird viel in
Menschen investiert – das Unternehmen hat auch verschiedene Preise im Bereich der

9www.progressive.com.

10www.hrc.org.
58 J. Kemperman et al.

Weiterbildung gewonnen –, im Gegenzug wird aber auch viel von Menschen erwartet.
Jedem Mitarbeiter werden ambitionierte Ziele sowohl auf individueller Ebene als auch
auf Teamebene gesetzt. Leistungsträger klettern die Karriereleiter schnell nach oben,
aber Mitarbeiter, die andauernd schlechte Leistungen erbringen oder nicht gut in die
Unternehmenskultur passen, bleiben auch nicht lange unbemerkt. Dieser Fokus auf Leis-
tung ist notwendig, um tatsächlich die Nummer eins auf dem Markt zu werden. Nach
außen hin profiliert sich Progressive in Werbespots hauptsächlich durch die Figur Flo,
einem Mitarbeiter, der Serviceorientierung vorlebt. Diese Figur ist so populär, dass sie
eine eigene Facebook-Seite hat, die bereits über fünf Millionen Mal gelikt wurde.11 Flo
verkörpert die Markenwerte, die Progressive ausstrahlen möchte. Flo ist anders und –
genau wie Progressive – ein wenig verrückt, jedoch auf eine liebenswerte Weise. So
wie jeder Mitarbeiter bei Progressive ist Flo einfach erreichbar und sehr service- und
lösungsorientiert. Die Mitarbeiter von Progressive sorgen dafür, dass alles schnell gere-
gelt wird. Das entspricht absolut der ergebnisorientierten Kultur und der Innovationskraft
des Unternehmens.
Die ausgeprägte Kultur ist wichtig, aber ein Unternehmen muss auch über distinktive
Kernqualitäten verfügen. Auf dem Weg zur Nummer vier auf dem Markt hat Progres-
sive eine Reihe von Qualitäten erworben, die das Unternehmen von seinen Wettbewer-
bern unterscheiden. Von Beginn an war Innovation ein wichtiges Element, und das ist
eine Qualität, auf die das Unternehmen noch immer weiterbaut. Durch die konstante
Flut an (technologischen) Innovationen ist Progressive eine bewegliche Zielscheibe für
seine Wettbewerber. Die zahlreichen Publikationen über diese Innovationen sind dafür
ein deutlicher Beweis für Kunden.12 Darüber hinaus ist Progressive schnell – sowohl
im Kundenservice als auch bei der Einführung von Innovationen bei Produkten und
betriebsinternen Prozessen. Kunden erfahren das in Form von schnellen Einsatzfahr-
zeugen, die zum Unfallort fahren, und der Geschwindigkeit, in der die Versicherung
nach dem Schaden zahlt. Progressive hat als eines der ersten Unternehmen auf dem
Markt spezifische Datenanalysekompetenzen aufgebaut. Das entspricht dem Ursprung
des Unternehmens, denn wenn man schwer versicherbare Gruppen nicht ausschließen
möchte, sondern gerade sie versichern will, muss man die damit verbundenen Risiken
sehr gut einschätzen können. Diese Kompetenz ist außerdem viel breiter nutzbar, zum
Beispiel bei der exakten Festlegung der Versicherungsprämie pro Kunde. Letzteres ist in
der Versicherungsbranche von großer Bedeutung und hat beim Ausstechen der Wettbe-
werber in den 1990er Jahren eine wichtige Rolle gespielt.

11https://www.facebook.com/flotheprogressivegirl.

12Siehe u. a.: Frei (2004), http://www.csc.com/p_and_c_general_insurance/success_stories/49129-


progres-sive_insurance_drives_innovation_with_customer_focused_billingen http://innovationpov.
com/future-of-auto-insurance/.
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 59

Das Businessmodell: Schnell, technologiegetrieben und transparent


Progressive verfügt nicht nur über Innovationskraft, sondern hat auch ein sehr gutes
Auge für Neuerungen, die sowohl vorteilhaft für das Unternehmen selbst sind als auch
den Kunden einen Mehrwert bieten. Es war das erste Unternehmen, das dem anrufen-
den Kunden sofort ein Angebot unterbreiten konnte. Dieses Angebot enthielt nicht nur
die Versicherungsprämie von Progressive, sondern auch einen Vergleich mit den Prämien
der drei größten Konkurrenten (vgl. Abb. 4.4). Dafür brauchte der Kunde nicht vier Ver-
sicherungsunternehmen einzeln anzurufen. Viele Menschen erklärten das Unternehmen
seinerzeit – wir schreiben das Jahr 1994 – für verrückt, tatsächlich jedoch war das ein
äußerst schlauer und strategischer Schachzug, der auf den hervorragenden Datenanalyse-
kapazitäten aufsetzt.

Marktsegmente: Vom Fokus auf schwierige Zielgruppen zum vollständigen Markt


Seit der Gründung im Jahr 1937 ist Progressive ausschließlich auf Autoversicherungen
spezialisiert. Während der Wettbewerb zunimmt und der Markt explosionsartig wächst,
versucht Progressive sich ab 1956 von seinen Wettbewerbern weiter abzuheben, indem
es seinen Fokus auf Nichtstandardfahrer richtet, ein Segment, das durchschnittlich 20 %
des Gesamtmarkts ausmacht (vgl. Frei 2004).13 Nichtstandardfahrer sind Kunden, die
nicht in die Standardkategorien fallen, weil sie beispielsweise einmal verurteilt wurden,
zu jung sind oder ein (für die damalige Zeit) ungewöhnliches Fahrzeug fahren. Viele
Versicherungen weigern sich, diese Fahrer aufgrund des vermeintlich höheren Schadens-
risikos aufzunehmen, aber Progressive sieht Möglichkeiten, sie dennoch rentabel zu ver-
sichern.
Das Unternehmen hat Erfolg mit dieser Strategie, weil es diese Gruppen besser seg-
mentieren kann als seine Wettbewerber. Peter Lewis, der Sohn von Gründer Joseph
Lewis und Geschäftsführer von 1965 bis 2000, sagt: „We are very good price segmen-
ters. We built our business by outsegmenting the competition.“14 Ein Beispiel für diese
Stärke ist das Segment Motorräder, in dem Progressive seit 1969 Versicherungen anbie-
tet. Während die Wettbewerber sich bei der Festlegung der Versicherungsprämie vor
allem vom Wert und der Größe des Motors leiten lassen, fügt Progressive das Alter des
Fahrers als Variable zum Vergleich hinzu. Heute ist allgemein bekannt, dass ältere Fahrer
ein geringeres Risiko darstellen. Zum damaligen Zeitpunkt ist diese Erkenntnis jedoch
neu. Was passiert also, wenn man diese Erkenntnis als Erster erlangt? Die Wettbewerber
bekommen alle jüngeren Fahrer, die mit höheren Schadenslasten pro Police übrig blei-
ben, und müssen schließlich ihre Prämien erhöhen. 1:0 für Progressive.

13Frei (2004).
14http://faculty.msb.edu/homak/homahelpsite/WebHelp%20061813/Progressive_CEO_Interview_

BW_9-12–00.htm.
60 J. Kemperman et al.

Markenkern: Autoversicherungen einfach und zugänglich machen

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Das menschliche Trauma und den • Die erste Wahl für US-amerikanische
finanziellen Schaden infolge von Verbraucher im Bereich der
Autounfällen so gering wie möglich halten Autoversicherungen sein

Markenursprung Markenversprechen
• 1937 von Joseph Lewis und Jack Green • „Fast. Fair. Better.“
gegründet
• Ab 1965 legt Peter Lewis (Sohn von
Joseph Lewis) den Schwerpunkt auf
Distinktion
• Die erste Versicherungswebsite

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kernwerte Kernqualitäten
• Die goldene Regel • Innovation
• Ergebnisorientiertheit • Schnelligkeit
• Datenanalyse
Markenwerte
• Ein wenig verrückt, jedoch auf eine Markenbeweis
liebenswerte Weise • Ratenzahlung
• Einfach erreichbar • 24/7-Schadenservice
• Sehr service- und lösungsorientiert • Preisvergleichsservice
• Personifizierung durch Flo, den • Schnelle Einsatzfahrzeuge
serviceorientierten Mitarbeiter

Abb. 4.4  Leitbild und Positionierung von Progressive


4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 61

In den darauffolgenden Jahren nimmt Progressive immer mehr den Gesamtmarkt der
Fahrzeugbesitzer ins Visier. In den Worten von ‚Strategieguru‘ Michael Porter könnte
man sagen, dass sich das Unternehmen von einem „focused differentiator“ zu einem
„broad differentiator“ entwickelt: Zwar unterscheidet es sich auch weiterhin durch Inno-
vation, aber es hat den Gesamtmarkt von Fahrzeugbesitzern im Blick (vgl. Grant 2013).
Inzwischen bietet es neben Versicherungen für Autos und Motorräder auch Versicherun-
gen für Boote, Wohnwagen, Häuser und sogar Haustiere. Dabei richtet es sich sowohl an
Unternehmen als auch an individuelle Verbraucher. Auch in geografischer Hinsicht expan-
diert das Unternehmen und nimmt geschäftliche Aktivitäten in anderen US-Bundesstaten
und Australien (als Online-Versicherungsunternehmen) auf. Da private Fahrzeugbesitzer
90 %15 des Umsatzes ausmachen, konzentriert sich diese Fallstudie hauptsächlich auf
diese Personengruppe.
Progressive konkurriert mit einigen großen, national operierenden Playern und einer
großen Anzahl kleiner Versicherungsunternehmen auf lokaler Ebene. Die größten Wett-
bewerber sind Allstate, State Farm und Geico, wobei State Farm mit einem Anteil von
18,9 % im Jahr 2000 Marktführer ist. Trotz dieses schwierigen Markts hat sich Progres-
sive als Nummer vier auf dem US-amerikanischen Markt etablieren können, wobei das
Unternehmen im Zeitraum von 1990 bis 2000 mitunter ein jährliches Wachstum von
20 bis 30 % bei einem jährlichen Marktwachstum von nur 3 % verzeichnete. Wie hat das
Unternehmen das geschafft? In erster Linie durch aggressives Innovieren und progres-
sives Denken getreu seinem Leitbild. Betrachten wir einmal näher, welche innovativen
Produkte dadurch entstehen.

Wertangebot für Kunden: Schneller und transparenter (vgl. Abb. 4.5)


Versicherungen sind schwierige Produkte, wenn es darum geht, sich von der Konkurrenz
abzuheben und Kunden an sich zu binden. Die Grundlage für jedes Versicherungsange-
bot ist schließlich mehr oder weniger immer gleich: Kunden zahlen regelmäßig einen
festen Betrag, auf dessen Basis sie dann gegen unerwartet hohe Kosten infolge eines
Unfalls versichert sind. Logischerweise bedeutet das, dass einige Kunden mehr Geld
zurückbekommen als sie als Prämie gezahlt haben und andere weniger, aber allen Kun-
den werden Sorgen genommen. Heißt das, dass der Preis und das Branding die einzigen
distinktiven Faktoren sind? Progressive hat gezeigt, dass dem nicht so ist.
Eines von Progressive’s Firsts ist sein Angebotssystem, das in puncto Preistranspa-
renz einem Durchbruch für den Kunden gleichkommt. 1994 ist Progressive das erste
Versicherungsunternehmen, das potenziellen Kunden nicht nur die Höhe seiner eigenen
Prämie nennt, sondern auch die der drei größten Konkurrenten. Der Grund dafür ist, dass
Progressive besser in der Lage ist, das Risikoprofil von Kunden vorherzusagen. So stellt
dieser Service faktisch ein ideales Selbstselektionsmittel dar. Für Kunden, von denen
erwartet wird, dass sie ein niedrigeres Risikoprofil haben als bei der Konkurrenz, fällt die
Versicherungsprämie bei Progressive niedriger aus. Die Erstellung der Angebote ist also

15Marketline Report (28. November 2014), Company profile: the Progressive Corporation.


62 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Schnelle Schadensabwicklung • Ein broad differentiator im
Autoversicherungsmarkt, der sich
+ durch Service und Innovation abhebt
Prozess Wie bekomme ich es?
• Schaden kostet so wenig Zeit wie Wettbewerber
möglich, sodass ich schnell wieder • Große, national operierende Player wie
weiterfahren kann Allstate, State Farm und Geico

+ Zielgruppe
Gefühl Was fühle ich dabei? • Zunächst: schwer versicherbare
• Wow, das ist schnell und gut! Mir Zielgruppen mit einem höheren
werden Sorgen genommen Risikoprofil
• Die Nichtstandardfahrer, ca. 20 % des
Markts
• Später: der gesamte Markt an
Preis Was kostet es? Fahrzeugbesitzern mit günstiger
• Preis passend zum Risikoprofil und Schadenquote
Transparenz durch das
Angebotssystem Kundeneinblicke
+ • Es ist unfair, dass sichere Fahrer für
risikobehaftete Fahrer bezahlen
Aufwand Was muss ich dafür tun? müssen. Das Risiko ist mit genügend
• Alles kann online und schnell oder über Variablen ziemlich genau
einen Versicherungsmakler geregelt vorherzusagen
werden
+
Risiko Wie unsicher ist es?
• Ich kann die Höhe der Prämie sofort mit
der von Wettbewerbern vergleichen

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 4.5  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Progressive


4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 63

ein Mittel, die Datenanalysestärke von Progressive einzusetzen, um die besten Kunden
zu bekommen. Gleichzeitig ist das ein Vorteil für Kunden, weil diese besten Kunden bei
einer anderen Versicherung in einen Topf mit höheren Risikogruppen geworfen würden
und so eine höhere Prämie zahlen müssten. Für Kunden mit einem höheren Risiko ist es
gerade sehr attraktiv, in einen Topf geworfen zu werden. Diese sind also auch besser bei
der Konkurrenz aufgehoben und bedanken sich bei Progressive für den ehrlichen Ver-
weis auf ein besseres Angebot. Ein brillanter Schachzug von Progressive, der sich unter
anderem in einem Rekordwachstum beim Prämienumsatz von über 35 % im Jahr 1994
niederschlägt (vgl. Frei 2004).
Geschäftsführer Lewis möchte sehr schnelle Dienstleistungen bieten. Von seinen Mit-
arbeitern erwartet er, dass sie nicht länger in Tagen denken, sondern in Stunden, wenn es
um die Schadenabwicklung geht. Deshalb führt Progressive einen 24/7-Service, Sonder-
experten und die schnellen Einsatzfahrzeuge ein. Letztere sind weiße Geländewagen mit
Schadensabwicklungsexperten und Sonderausrüstung an Bord, die im Land umherfahren
und bei Unfällen so schnell wie möglich vor Ort sind. Der Einsatz dieser Wagen wird
durch den Vormarsch von Mobiltelefonen und die Einführung der kabellosen Datenüber-
tragung ermöglicht. Dadurch kann ein Mitarbeiter von Progressive aus dem Auto sofort
die Daten eingeben und den Schaden so schnell wie möglich abwickeln. In vielen Fällen
wird dem Kunden bereits innerhalb weniger Tage die Leistung auf sein Konto überwie-
sen. Diese brillante Innovation bedeutet zwei Durchbrüche für den Kunden: schnellere
Hilfe bei einem Unfall und schnellere Abwicklung durch die Überweisung auf das
Konto.
Das ist alles wunderbar, aber ist so ein Service nicht entsetzlich teuer? Das muss
doch schließlich auch mit den Prämien bezahlt werden? Dass dieser Service bezahlt
werden muss, stimmt; gleichzeitig senkt er aber auch das Betrugsrisiko und die Wahr-
scheinlichkeit langwieriger Prozesse mit sämtlichen Anwaltskosten, die damit in der
Regel verbunden sind. In den USA ist man schnell geneigt, Anwälte zu verpflichten, die
die Schadensersatzansprüche so weit wie möglich in die Höhe treiben, weil ihr Hono-
rar schließlich auch davon abhängt. Durch diese schnelle Abwicklung ohne langwieri-
gen Prozess mit Anwälten bekommt der Kunde oder die Gegenpartei sehr schnell einen
Betrag ausgezahlt. Schließlich stellt sich heraus, dass dieser Service von Kunden sehr
geschätzt wird und Progressive zu Kosteneinsparungen dank niedrigeren Schadensersatz-
ansprüchen und weniger Betrugsfällen verhilft. Wiederum ein brillantes Meisterwerk der
Innovation.
Kurzum, als Kunde von Progressive erhält man über die Website Informationen in
ansprechender Weise. Über das Angebotssystem bekommt man bei geringerem Risiko
eine niedrigere Prämie als bei der Konkurrenz und profitiert im Schadensfall von einem
sehr schnellen und persönlichen Service. Übertragen auf den Kundenwertvergleich
hat Progressive damit Durchbrüche erzielt beim Ergebnis (schnelle Auszahlung), bei
der Abwicklung (schnellere und persönlichere Hilfe im Schadensfall) und beim Preis
(Preistransparenz dank des Angebotssystems): also ein hervorragendes Angebot.
64 J. Kemperman et al.

Kanäle: 30.000 unabhängige Versicherungsmakler und eine preisgekrönte Website


(Abb. 4.6)
In den vergangenen Jahren sind die Marketingausgaben von Versicherungsunternehmen
stark gestiegen, wobei Geico mit einem Budget von fast einer Milliarde Dollar (940 Mio.
EUR) die Liste anführt.16 Marketing gilt als ein bedeutendes Wettbewerbsinstrument
für ein Produkt, das in den Augen des Kunden nicht distinktiv oder sexy ist. Progressive
steht zwar ein etwas bescheideneres Budget von rund 300 Mio. US$ zur Verfügung, den-
noch kann es sich im Marketingwettbewerb gut behaupten – dank seiner ansprechenden
Website, der Figur Flo (in Werbespots und in sozialen Netzwerken) und den schnellen
Einsatzfahrzeugen, die mittlerweile zum Straßenbild in den gesamten USA gehören.
Seit jeher stützt sich das Distributionssystem von Progressive stark auf ein engma-
schiges Netz von ca. 30.000 unabhängigen Versicherungsmaklern. Obwohl Progressive
dieses Netz noch immer aufrechterhält, ist der Direktvertrieb über Online-Kanäle immer
bedeutender geworden. Das ist ein allgemeiner Trend in der Versicherungsbranche, aber
Progressive hat seine technologische und innovative Stärke genutzt, um einen „first
mover“- Vorteil zu erzielen. Ein Unternehmen, das sofort ein Angebot abgeben kann, ein-
schließlich eines Vergleichs mit der Konkurrenz, hat die Kernqualitäten, um im Direkt-
vertrieb erfolgreich zu sein. 1995 ist Progressive das erste Versicherungsunternehmen,
das eine Website startet. Dadurch können Interessierte online Informationen über das
Unternehmen und die Versicherungsprodukte einholen. In den darauffolgenden Jahren
investiert Progressive auch weiterhin in seine Website, Apps und mobile Technologie und
gewinnt so verschiedene Preise, darunter auch den für die beste Versicherungswebsite
(„Best Insurance Website“). Die Tatsache, dass der Geschäftsführer der ehemalige Leiter
der Informationstechnologie ist, zeigt die Leidenschaft des Unternehmens für technologi-
sche Innovation, ein Bereich, in dem es sich auch heute noch auszeichnet.

Betrieb: Fokus auf Kernkompetenzen und Entwicklung einer Hochleistungskultur


Progressive verfügt über starke Qualitäten auf dem Gebiet der Datenanalyse, Techno-
logie und Innovation. Diese Kompetenzen ermöglichen die Bereitstellung innovativer
Produkte und Zusatzdienste wie etwa das Angebots- und Servicefahrzeugsystem und
die gleichzeitige Umsetzung dieser Services in einen Kostenvorteil. Die technologische
Qualität wird beispielsweise genutzt, um Prozesse vollständig papierlos zu machen. Ein
Trend, dem mittlerweile viele Unternehmen folgen, dem Progressive aber voraus war.
Für seine Distribution unterhält Progressive Beziehungen mit einer Vielzahl unabhän-
giger Versicherungsmakler. Darüber hinaus verfügt das Unternehmen über ein US-weites
Netz von Vertragswerkstätten, bei denen Kunden ihr beschädigtes Auto abgeben und ggf.
ein Ersatzfahrzeug mieten können.

16http://adage.com/article/news/insurance-industry-s-4-billion-advertising-brawl/148992/.
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 65

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Bewusste Anwerbung neuer Mitarbeiter • Relativ kleines Marketingbudget (30 %
unter ehemaligen Soldaten der des Marktführers)
amerikanischen Streitkräfte. Diese sind • Die Figur Flo über die (sozialen) Medien
fortschrittlich, loyal und diszipliniert, um • Verkauf durch über 30.000 unabhängige
Kundenwert zu liefern Versicherungsmakler und online
• Viel Raum für Mitarbeiter, den richtigen
Arbeitsplatz zu finden und sich zu Kundenkontakt & Zusatzdienste
entwickeln • Die schnellen Einsatzfahrzeuge helfen
• Datenanalysekompetenzen aufgebaut vor Ort, sind jedoch auch als
und erweitert Marketinginstrument unterwegs
• Mobile Geräte und kabellose • Netz von Vertragswerkstätten, in die
Datenübertragung: am Straßenrand Kunden beschädigte Autos bringen und
sofort Daten eingeben und den Schaden einen Ersatzwagen mieten können
abwickeln

Lieferanten & Partner


• Netz von Werkstätten für Reparaturen

Abb. 4.6  Betrieb und Kanäle von Progressive


66 J. Kemperman et al.

„Love what you do.“ Mit diesem Slogan bietet Progressive freie Stellen bei sich
an.17 Er bringt gut zum Ausdruck, was für Progressive wichtig ist: Mitarbeiter, die das
machen, was ihnen Spaß bereitet, erbringen bessere Leistungen. Deshalb gibt das Unter-
nehmen seinen Angestellten die Möglichkeit, zu experimentieren und den richtigen
Arbeitsplatz zu finden. Derzeit verfügt Progressive über 26.000 Mitarbeiter. Die Per-
sonalpolitik ist auf Menschen ausgerichtet, die sich durch ihre Loyalität und Disziplin
auszeichnen. Aus diesem Grund sucht das Unternehmen bewusst neue Mitarbeiter unter
ehemaligen Soldaten der amerikanischen Streitkräfte. Aber die Personalpolitik zeichnet
sich nicht nur durch das Anwerben von Veteranen aus.18 Auch Fortschrittlichkeit ist ein
Merkmal. Progressive steht nicht nur in der Liste der besten Arbeitsplätze für Homose-
xuelle und Transgender19 weit oben, sondern auch in der Rangliste der besten Arbeitge-
ber für Frauen.20
Wenn man einmal bei Progressive angestellt ist, bietet das Unternehmen einem eine
breite Palette an Schulungen und Weiterbildungen zur Verbesserung der eigenen Fähig-
keiten. Diese Schulungen sind nicht nur darauf ausgerichtet, die Mitarbeiter in ihrem
aktuellen Job zu verbessern, sondern ihnen auch bei der Suche nach einer nächsten Her-
ausforderung zu helfen, damit ihre Karriere nach ihren Wünschen verläuft. 2012 und
2013 war das Schulungs- und Fortbildungsprogramm in den Training Top 125 gelistet.21
Dabei sind für die Jury nicht nur der Inhalt und die Dauer einer Schulung ausschlagge-
bend, sondern auch die Ergebnisse dieser Schulung: Ist die Schulung an die Ziele des
Unternehmens geknüpft? Wie ist die Verwertbarkeit der Schulung? Führt die Weiterbil-
dung zu Innovationen? Mit diesen Weiterbildungen fördert Progressive also nicht nur die
Entwicklung seiner Mitarbeiter, sondern auch die des Unternehmens selbst!
Das Ergebnis: Wertschöpfung für alle Stakeholder, aber der Kundenwert steht unter
Druck. Durch Innovation, Preistransparenz und eine effektive Segmentierungsme-
thode belohnt Progressive seine Kunden mit niedrigem Risikoprofil. Kunden zahlen es
Progressive im Laufe der Zeit mit einer enormen Umsatzsteigerung und Profitabilität
zurück. In den vergangenen Jahren scheint die Kundenzufriedenheit allerdings stetig
abzunehmen, was einer der wichtigsten Gründe ist, warum wir Progressive nicht länger
als brillant betrachten. Bei einer kürzlich durchgeführten Kundenzufriedenheitsstudie

17http://www.progressive.com/jobs/.
18Siehe unter anderem: http://militaryfriendly.com/employers/progressive-insurance/, http://best-
forvets.militarytimes.com/best-employers-for-veterans/2014/, http://bestforvets.militarytimes.com/
best-employers-for-veterans/2013/.
19http://asp.hrc.org/issues/workplace/organization_profile.asp?organization_id=5042&search_

id=1&search_type=Quick.
20http://www.bestcompaniesaz.com/top-25-workplaces-for-women.

21http://www.trainingmag.com/.
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 67

unter Versicherungsunternehmen nimmt Progressive den 22. Platz ein und liegt damit
unter dem Durchschnitt.22 Ein enttäuschendes Ergebnis für ein einst so erfolgreiches
Unternehmen.
Bis 2003 weist Progressive ein enormes Umsatzwachstum auf. Nach 2003 geht es
jedoch bergab. Das hat zweifellos mit der anhaltenden Wirtschaftskrise zu tun, doch es
zeigt auch, dass es für Progressive wegen der schwindenden Kundenzufriedenheit und
dem weniger bahnbrechenden Service immer schwieriger wird, neuer Kunden an sich zu
binden (wie wir später noch sehen werden). Ungeachtet der abnehmenden Wachstums-
dynamik bleibt Progressive übrigens ein profitables Unternehmen.
In der Versicherungsbranche ist die „combined ratio“ (Schaden-Kosten-Quote) ein
wichtiger Indikator. Die Schaden-Kosten-Quote teilt die Kosten (betriebliche Kosten
plus Schadenzahlungen) durch die Einnahmen aus den Prämien. Je kleiner diese Quote
ist, desto höher ist die versicherungstechnische Ertragsstärke des Unternehmens. Die
Schaden-Kosten-Quote von Progressive liegt bei 93 %, was eine beträchtliche Marge für
das Unternehmen bedeutet. Das EBIT (Earnings Before Interest and Taxes) beträgt im
Jahr 2013 1,8 Mrd. US$ – ein gesunder Gewinn für ein Versicherungsunternehmen mit
einem Umsatz von 18,4 Mrd. US$ (vgl. auch Abb. 4.7).
Wie wir bereits gesehen haben, praktiziert Progressive eine sehr fortschrittliche Per-
sonalpolitik. Neben dem bereits erwähnten CEI (Corporate Equality Index) hat Progres-
sive Preise für seine Schulungs- und Fortbildungspolitik (Training Top 125) und sein
Betriebliches Gesundheitsmanagement gewonnen23. Das Unternehmen steht weit oben in
den Ranglisten der besten Arbeitgeber, insbesondere bei Frauen. Die Unternehmenskul-
tur von Progressive funktioniert nach dem Prinzip „work hard, play hard“ und in Kom-
bination mit der besonderen Aufmerksamkeit für die Mitarbeiter bildet sie eine ideale
Arbeitsumgebung für gute Leistungen.
Das Versicherungsunternehmen bringt seinen Namen gern mit innovativen Projek-
ten in Verbindung. Im Zeitraum von 2007 bis 2010 war Progressive der Hauptsponsor
eines Design-Wettbewerbs für energieeffiziente Autos. Die teilnehmenden Teams hatten
drei Jahre Zeit, um ein sicheres Auto zu bauen, das unter normalen Bedingungen über
100 Meilen mit nur einer Gallone Benzin fahren konnte. Das entspricht 42,3 km pro
Liter Benzin!24 Schließlich durften sich drei Teams den Hauptpreis teilen.25 Nicht nur
mit derartigem Sponsoring trägt Progressive zur Veränderung der Gesellschaft bei. Auf
seine ganz eigene Weise verändert Progressive unsere Denkweise: Für uns ist es mittler-
weile normal, dass wir täglich und rund um die Uhr einen Schaden melden oder die Prä-
mie monatlich zahlen können. Kürzlich hat Progressive seine Fusion mit Zubie bekannt

22JD Power and associates (reports from 2010, 2011 and 2012), customer satisfaction with auto
insurers, McGrawHill-companies; siehe außerdem: http://www.forbes.com/sites/jimgorzel-
any/2012/05/11/auto-insurance-companies-with-the-most-satified-customers.
23Greatist.com 44 most healthy company’s.

24http://auto.xprize.org/.

25http://latimesblogs.latimes.com/technology/2010/09/automotive-x-prize-winners.html.
68 J. Kemperman et al.

Abb. 4.7  Aktionärswert von Progressive

gegeben.26 Zubie hat ein Tool entwickelt, mit dem der Fahrer eines Autos über eine App
Feedback zu seinem Fahrverhalten auf sein Mobiltelefon bekommt. Nutzer von Zubie
können sich Rabatte auf ihre Versicherungsprämie sichern, indem sie Zubie mit einem
besonderen Programm von Progressive verknüpfen. Damit erhoffen sich die Unterneh-
men, gemeinsam zu einem sichereren Fahrverhalten beizutragen.

Die brillanten Lektionen von Progressive


Trotz der weniger brillanten Entwicklung bei Progressive war das Unternehmen bis 2003
äußerst erfolgreich (vgl. Abb. 4.8). Welche Lektionen können wir aus den früheren Erfol-
gen lernen?

26http://zubie.co/.
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 69

Wert durch Kunden (Versicherte)


• Es wurden verschiedene Fallstudien zu der hohen Kundenzufriedenheit bei Progressive
geschrieben. Progressive nahm regelmäßig Spitzenplätze ein
• Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt jedoch, dass Progressive jetzt unter dem
Durchschnitt auf dem 22. Platz rangiert

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Auszeichnungen für Ausbildungspolitik • Enormes Umsatzwachstum (1994 und 1997
(Training Magazine) und Engagement sogar um 30 %) in einem Markt, der mit
für die Mitarbeitergesundheit 3 bis 5 % langsam wächst
gewonnen • Ab 2003 geht das Umsatzwachstum zurück
• Hohe Platzierungen in • Combined Ratio: 93 %
„Great Place to Work“-Rankings und
im Corporate Equality Index

Wert für und durch die Gesellschaft


• Unterstützung in der Entwicklung energieeffizienter Autos
• Zubie: Ein Tool, das über eine App Autofahrern Feedback zu ihrem Fahrverhalten gibt

Abb. 4.8  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Progressive


70 J. Kemperman et al.

• Setzen Sie sich ehrgeizige Ziele wie die Verkürzung der Bearbeitungszeit des For-
derungsprozesses von Monaten auf Tage oder die Versicherung der Zielgruppen, die
andere Versicherungen ablehnen. Ehrgeizige Ziele spornen Menschen an, alte Denk-
weisen über Bord zu werfen und wirklich kreativ zu werden.
• Trauen Sie sich, Risiken einzugehen und zu innovieren. Progressive hat den gesam-
ten Versicherungsmarkt mit einer Flut an Innovationen revolutioniert. Diese Innovati-
onen in Kombination mit technologischem Wissen sind der wichtigste Antrieb für das
ungeahnte Wachstum von Progressive gewesen.
• Konzentrieren Sie sich auf eine begrenzte Zahl von Kernqualitäten, und nutzen Sie
diese kontinuierlich für die Schaffung neuer Chancen und Möglichkeiten. Progressive
ist sehr stark auf dem Gebiet der Innovation, Datenanalyse und Geschwindigkeit. Und
diese Qualitäten hat das Unternehmen ein ums andere Mal eingesetzt, um der Kon-
kurrenz einen Schritt voraus zu sein und bis vor Kurzem auch zu bleiben.

Brillanz mit Rissen


Wir schließen dieses Kapitel mit einer Diskussion rund um eine interessante, aber auch
schwierige Frage: Warum können wir Progressive trotz aller guten Leistungen nicht län-
ger als ein brillantes Businessmodell betrachten? Der wichtigste Grund dafür ist die Tat-
sache, dass die Kundenzufriedenheit in den letzten Jahren mittelmäßig ist. J. D. Powers’
(weltweit tätiges Marktforschungsinstitut und Teil von McGraw Hill Financial) in der
Autoversicherungsbranche durchgeführte Kundenzufriedenheitsstudien zeigen, dass Pro-
gressive in puncto Kundenzufriedenheit mittelmäßig geworden ist und häufig sogar unter
dem Landesdurchschnitt liegt. Auffällig an der Studie ist, dass das Unternehmen bei der
Qualität der Website und der Technologie sehr gut abschneidet, bei den meisten anderen
Aspekten wie Produktqualität und Abwicklung jedoch viel schlechter. Andere Kunden-
zufriedenheitsstudien wie beispielsweise die von Insure.com durchgeführte Studie lassen
ein vergleichbares Bild erkennen: Progressive bleibt auf dem Gebiet der Kundenzufrie-
denheit weit hinter seinen größten Wettbewerbern zurück. Diese niedrige Zufriedenheit
geht einher mit einem viel bescheideneren Wachstum seit 2007. Das ist nicht das Bild,
das man von einem wirklich brillanten Businessmodell erwarten würde.
Obwohl es natürlich schwierig ist, genau herauszufinden, was sich geändert hat, ohne
selbst 20 Jahre bei Progressive gearbeitet zu haben, lässt sich sehr wohl ein Muster in
den Vorgängen erkennen. Die technologische und innovative Stärke von Progressive hat
im Laufe der Jahre zu einer Reihe negativer Vorfälle geführt. Ein wichtiges Beispiel ist
die Einführung von Autograf, einem Gerät, das man als Kunde von Progressive in sei-
nem Auto anbringen lassen kann und das anschließend das Fahrverhalten aufzeichnet.
Auf der Basis dieser Messungen, so wird den Kunden versprochen, wird sicheres Fahr-
verhalten mit einer niedrigeren Prämie belohnt. Nach Abschluss eines Pilotprojekts mit
1100 Kunden wird 2001 jedoch bekannt, dass Autograf viel mehr Daten über Kunden
gesammelt hat als von Progressive kommuniziert wurde. Wahrscheinlich werden diese
von Progressive verwendet, um eine anspruchsvollere Segmentierung und Kundenpro-
filbildung durchführen zu können. Es kommt zu einem Sturm der Kritik und Vergleichen
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 71

mit Big Brother. Ein peinlicher Schnitzer für ein Unternehmen, das zuvor immer als ein
erfrischender Erneuerer an der Seite des Kunden wahrgenommen wurde.
Seit 2002 sind noch verschiedene andere kontroverse Geschichten über das Unter-
nehmen ans Licht gekommen. So zum Beispiel die Geschichte von Matt Fisher aus dem
Jahr 2012. Es geht um ein sehr pikantes Beispiel, bei dem einer der Kunden von Pro-
gressive, die Schwester von Matt Fisher, bei einem Autounfall mit einem unterversicher-
ten Fahrer ums Leben kommt. Laut Bestimmungen ist Progressive verpflichtet, den Teil
auszuzahlen, den die Gegenpartei nicht aufbringen kann, doch stattdessen unterstützt das
Unternehmen im Gerichtssaal die Verteidigung der Gegenpartei, um so möglicherweise
einer Zahlung zu entgehen. Matt Fisher arbeitet in der Medienbranche und macht die
Geschichte publik. Dieser Skandal schlägt ein wie eine Bombe und führt zu einer Welle
der Entrüstung und einem Sturm der Kritik am Unternehmen.
Beide Beispiele und insbesondere die Reaktion von Progressive sind für Kunden
und die Öffentlichkeit das Signal, dass das Unternehmen die Interessen seiner Kunden
nicht länger wirklich ins Zentrum seines Handelns stellt. Gleichzeitig wissen wir, dass
der Sohn des Gründers, der das Unternehmen 35 Jahre lang geführt hat, 2001 die Zügel
an Glenn Renwick, den ehemaligen Leiter der Informationstechnologie des Unterneh-
mens, übergeben hat. Diese Entscheidung ist Beleg für das Engagement von Progressive
in technologischer Hinsicht. Aber in einem wirklich brillanten Businessmodell darf der
Ausbau der technologischen Stärke niemals zulasten der Kundeninteressen gehen. Die
niedrige Kundenzufriedenheit, die Skandale und die Tatsache, dass die Qualität der Web-
site und die Apps die wichtigsten Faktoren sind, die Kundenzufriedenheitswerte nicht
gänzlich in den Keller sacken zu lassen, weisen alle in die gleiche Richtung. Der Fokus
auf Technologie geht in den letzten Jahren immer mehr zulasten der Kundenorientierung.
Eine wichtige Lektion ist folglich, die eigenen Kernkompetenzen nicht so sehr in den
Vordergrund zu stellen, dass die Bindung zum Kunden verloren geht, Kernwerte verletzt
werden und die Sicht auf das Höhere Ziel getrübt wird. Progressive steht vor der großen
Herausforderung, sich auf seine Wurzeln zurückzubesinnen und wieder die Vorreiterrolle
auf dem Versicherungsmarkt einzunehmen. Für andere in der Finanzdienstleistungsbran-
che stellt sich die Frage, wie man brillant werden oder bleiben kann, wenn sogar die Pro-
gressives dieser Welt dabei ins Straucheln geraten und hart zu kämpfen haben.

4.4 Test der Brillanz: Wie beurteilt man Banken und


Versicherungen anhand der Messlatte für brillante
Businessmodelle?

Was muss man als neues oder bestehendes Unternehmen im Allgemeinen erfüllen, um
ein brillantes Businessmodell im Finanzwesen zu werden und zu bleiben? Das ist eigent-
lich nicht so schwer: sich im Fundament, im Businessmodell und in der Wertschöpfung
einfach auszeichnen! Der Kern eines brillanten Businessmodells besteht darin, dass alle
Stakeholder vom Wirken des Unternehmens profitieren. Ist das nicht der Fall, macht es
72 J. Kemperman et al.

keinen Unterschied, dass man existiert, und steht im schlimmsten Fall sogar das eigene
Existenzrecht auf dem Spiel. Gerettet zu werden, weil Parteien von einem abhängig sind,
schafft zeitweilige Abhilfe, aber letztlich reicht das natürlich nicht aus. Versicherungsun-
ternehmen und Banken nehmen grundsätzlich eine wichtige Funktion in der Gesellschaft
ein und wurden häufig auch von Menschen gegründet, um gemeinsam Risiken abzude-
cken, zu sparen oder in die Zukunft zu investieren. Deshalb ist es wichtig zu wissen,
woher das Unternehmen kommt, und zu garantieren, dass die ursprüngliche Mission
noch immer erfüllt wird. Kontinuität ist bei jedem Unternehmen ein wichtiges Ziel, und
das gilt insbesondere für Banken und Versicherungen, wobei die Garantie der Zukunft
Bestandteil des Versprechens und des Angebots ist. Aus diesem Grund ist das Risiko
größer, dass das Fortbestehen auch zum einzigen Ziel wird und das Unternehmen sich
defensiv nach innen kehrt. Paradoxerweise kann der Fokus auf das Fortbestehen genau
dieses gefährden. Um tatsächlich brillant zu sein, ist zudem ein Gewagtes Ziel erforder-
lich, das inspiriert und das von der Außenwelt geteilt und geschätzt werden kann. Die
übergreifenden Werte, für die jeder Finanzdienstleister stehen muss, sind: Zuverlässig-
keit, Transparenz und Solidität für die Zukunft. Dabei ist es wegen der häufigen Abs-
traktheit von Finanzprodukten erforderlich, dass man deren Funktion nicht nur erzählt
und erklärt. Vielmehr braucht es einen konkreten und spürbaren Markenbeweis und
Geschichten, die Kunden selbst weitererzählen können, um den Mehrwert verständlich
zu machen.
Welche Anforderungen werden im Finanzwesen an das Businessmodell selbst
gestellt? Bei der Betrachtung der Marktsegmente kommt es in erster Linie darauf an,
sich deutlich für eine Zielgruppe zu entscheiden und das eigene Unternehmen in diesem
Segment auch einfach besser zu positionieren als die Wettbewerber. Wenn es um den
Kundenwert geht, kommt es im Finanzwesen darüber hinaus darauf an, verständliche
Vertragsbedingungen zu gestalten, damit klar ist, was die Parteien jetzt und in Zukunft
voneinander erwarten können. Der Kunde muss nicht nur ja sagen, er muss auch wissen,
was das heißt. Dafür müssen die Kanäle so eingerichtet sein, dass der Kunde mit dem
Unternehmen sein eigenes Wunschangebot gestalten kann. Internet und Digitalisierung
bieten diesbezüglich hervorragende Möglichkeiten. Allerdings muss auf der Grundlage
eines menschlichen Maßes gearbeitet werden. Dies stellt eine zusätzliche Herausforde-
rung im Finanzwesen dar, wo dieses Maß durch den Kunden häufig nicht mehr richtig
wahrgenommen wird. Während die Digitalisierung oft als eine Quelle von Depersona-
lisation gesehen wird, ist in der Praxis genau das Gegenteil der Fall. Sie eröffnet Mög-
lichkeiten ungeahnten Ausmaßes für Maßarbeit, Selbstbedienung und Ko-Kreation. Im
Betrieb erfordert das optimierte Prozesse bei der Wahl von Marktsegment, Kundenwert
und Kanälen sowie eine kontinuierliche Verbesserung mit Technologie, menschlichen
Ressourcen und Lieferanten auf der Grundlage von Informationen aus den Kanälen.
Bei der Wertschöpfung läuft es schließlich auf die gleiche Frage hinaus: Schöpft das
Unternehmen für Kunden, Mitarbeiter, Anteilseigner und die Gesellschaft einen Wert,
4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 73

sodass jeder glücklich damit ist? Gerade in der Finanzdienstleistungsbranche bedarf


es dabei eines Wertversprechens, das für alle Stakeholder konsistent ist (vgl. Peverelli
und de Feniks 2010). Der „Systemfaktor“ kann unter Umständen dafür sorgen, dass das
Unternehmen (zähneknirschend) durch den Staat aufrechterhalten wird, aber reicht das
für alle Stakeholder? Verflechtung und Locked-in-Mechanismen können dafür sorgen,
dass Kunden, aber auch Mitarbeiter und Anteilseigner sich nicht kurzfristig vom Unter-
nehmen abwenden können. Für das Fortbestehen reicht das kurzfristig aus, langfristig
jedoch ist das keine tragfähige Basis. Und es ist sicher nicht brillant. Die kritische Frage
lautet also, ob alle Beteiligten sich erneut für das Unternehmen entscheiden, wenn sie
das heute wieder tun müssten.
Die oben genannten Punkte können in einer Selbsteinschätzung (vgl. Abb. 4.9, 4.10
und 4.11) in 13 Fragen zusammengefasst werden.
In Teil II beleuchten wir die Beispiele für brillante Businessmodelle im Finanzwe-
sen, die zeigen, wie es funktionieren soll und kann. Zuallererst erfordert das, „back to
the roots“ zu gehen, und zwar zu den Ursprüngen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und
der elementaren Rolle, die das Unternehmen als Finanzdienstleister spielt. Anschließend
besteht die Herausforderung darin, diese Rolle für das 21. Jahrhundert neu zu erfinden.
Deshalb wird immer eine spezifische Form der Finanzdienstleistung mit der dazugehö-
rigen gesellschaftlichen Funktion als Ausgangspunkt genommen. Anschließend wird ein
brillantes Businessmodell aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft näher
betrachtet.
Geld hat verschiedene gesellschaftliche Funktionen. Rund um diese Funktionen bzw.
Rollen sehen wir Probleme und Knappheit einerseits sowie gleichzeitig Überfluss und
Möglichkeiten, die den Weg für Durchbrüche in Businessmodellen ebnen. Die Struktur
von Teil II dieses Buchs fußt auf diesen gesellschaftlichen Funktionen von Geld. Dabei
behandeln wir sechs Hauptthemen mit jeweils drei Fallstudien.

Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr (Kap. 5)


Zuverlässiger Zahlungsverkehr, durch den Menschen miteinander handeln, tauschen und
für ihre Arbeit belohnt werden können:

• Probleme und Knappheit: Wie können wir schlechtes Geld draußen lassen und dafür
sorgen, dass jeder weiterhin auf den Wert und die Werthaltigkeit von Geld vertrauen
kann?
• Möglichkeiten und Überfluss: Wie können wir Menschen Zugang zu zuverlässigem
Zahlungsverkehr ermöglichen? Welche Möglichkeiten bieten neue Infrastrukturen
wie mobiles Internet und mobile Telefonie, um Zahlungen und Geldüberweisungen
für jedermann zu vereinfachen und zugänglich für Menschen zu machen, die bis jetzt
noch keinen Zugang haben?
74 J. Kemperman et al.

Markenkern

Frage: Geht es Kunden, Mitarbeitern, Anteilseignern und der Gesellschaft besser, weil wir
existieren?

Höheres Ziel und Markenursprung Gewagtes Ziel und Markenversprechen

Frage: Verstehen wir, warum wir Frage: Haben wir neben der Garantie von
existieren? Erfüllen wir diese Mission unserem Fortbestehen auch ein offensiv
immer noch? ehrgeiziges Ziel, das über das Überleben
hinausgeht?

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern und Markenwerte Kernqualitäten und Markenbeweis

Frage: Sind wir transparent, zuverlässig Frage: Sind unsere Versprechen und
und solide für die Zukunft? Qualitäten in Beispielen sichtbar, die
Kunden verstehen? Erzählen Sie
einander davon?

Abb. 4.9  Fragen für die Selbsteinschätzung zu Leitbild und Positionierung


4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 75

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Frage: Verstehen Kunden, was sie Frage: Ist unsere Position stärker als
von uns bekommen? Ist das relevant die unserer Wettbewerber bei der von
für sie? uns anvisierten Zielgruppe?

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,
Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Frage: Haben wir einen optimierten Frage: Haben wir Kontakt mit unseren
Betrieb mit der erforderlichen Kunden auf der Grundlage eines
Technologie und das Wissen, um die menschlichen Maßes, in dem wir
Erwartungen aller Beteiligten zu gemeinsam die gewünschte Lösung
erfüllen? gestalten?

Abb. 4.10  Fragen für die Selbsteinschätzung zu Kunden und Marktsegmenten


76 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden

Frage: Würden sich Kunden heute wieder für uns entscheiden und uns anderen Kunden
empfehlen?

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Arbeitnehmer Wert für und durch Anteilseigner

Frage: Würden sich Arbeitnehmer heute Frage: Würden sich Anteilseigner heute
wieder für uns entscheiden und uns wieder für uns entscheiden und uns
anderen Arbeitnehmern empfehlen? anderen Anteilseignern empfehlen?

Wert für und durch die Gesellschaft

Frage: Würde die Gesellschaft uns unterstützen, wenn wir heute erneut unsere
geschäftlichen Aktivitäten aufnehmen würden, die wir derzeit ausüben?

Abb. 4.11  Fragen für die Selbsteinschätzung zu Wertschöpfung


4  Wertschöpfung und Gesamtrahmen 77

Gemeinschaftliches Banking (Kap. 6)


Private Banking, bei dem Menschen zeitweilig Geld parken können, um anderen das Lei-
hen von Geld zu ermöglichen:

• Probleme und Knappheit: Wo kann ich mein Geld sicher anlegen und wo bekomme
ich noch angemessene Zinsen? Welche Konditionen sind überhaupt angemessen? Wie
halten wir es mit dem menschlichen Maß und der Transparenz?
• Möglichkeiten und Überfluss: Wie können Menschen mit einem Überfluss an Geld die-
ses nicht nur vermehren, sondern auch sinnvoll arbeiten lassen, um anderen zu helfen?

Gemeinsame Finanzierung (Kap. 7)


Wie können wir Mittel finden, um Unternehmen zu finanzieren?

• Probleme und Knappheit: Wie kommen Unternehmen an einen Kredit, wenn sie ihn
gemäß den gängigen Kriterien nicht bekommen können oder dürfen, weil sie zu klein,
mittellos oder risikobehaftet sind?
• Möglichkeiten und Überfluss: Welche Möglichkeiten bieten Technik und soziale
Medien für die Bildung von Gruppen, die zusammen stärker sind? Wie können große
Gruppen von Menschen und Unternehmen gebündelt werden, um gemeinsam und
untereinander einen attraktiven und zuverlässigen Markt zu bilden?

Gemeinsame Investition (Kap. 8)


Wie können wir rentabel in die Zukunft investieren und unser Geld für uns arbeiten lassen?

• Probleme und Knappheit: Wie legt man sein Geld an, um sich einer guten Zukunfts-
sicherung sicher zu sein? Wie halten wir die Kosten angesichts der Überalterung der
Gesellschaft und der steigenden Anzahl von Rentnern im Rahmen und stabil?
• Möglichkeiten und Überfluss: Wie können wir eine rentable Bestimmung für die
enorme Geldmenge auf den Finanzmärkten finden? Können wir Win-win-Situationen
realisieren, in denen der Investor nicht nur Aktionär ist, sondern er auch anderweitig
als Kunde, Mitarbeiter oder Geschäftspartner am Unternehmen beteiligt ist?

Teilung alltäglicher Risiken (Kap. 9)


Wie können wir Kontinuität im Alltag garantieren?

• Probleme und Knappheit: Können wir Risiken transparent machen, teilen und
gemeinsam tragen? Wie können wir einander noch vertrauen, wenn es um Geld und
Informationen geht? Mit wem will ich welche Risiken teilen?
• Möglichkeiten und Überfluss: Sind neue Formen der Solidarität möglich? Wie können
wir Transparenz schaffen? Gibt es Möglichkeiten für eine gemeinsame, straffere und
bessere Problembehebung, wenn es doch schiefgeht? Können wir Risiken durch Prä-
vention verringern? Welche Möglichkeiten bieten Digitalisierung, soziale Medien und
Big Data für die Teilung, Abwehr und Verringerung von Risiken?
78 J. Kemperman et al.

Teilung besonderer Risiken (Kap. 10)


Wie kann man risikobehaftete Unternehmungen realisieren?

• Probleme und Knappheit: Wie können wir die großen Risiken eliminieren, die
uns von attraktiven, abenteuerlichen Unternehmungen abhalten? Wie können wir
unzumutbar große Risiken in kleinere Portionen aufteilen und gemeinsam tragen?
• Möglichkeiten und Überfluss: Wie können wir mit alten Versicherungsprinzipien und
neuen Möglichkeiten der Technik und Informationstechnologie das Problem der unkal-
kulierbaren Risiken, wie Katastrophen, angehen? Können wir die großen Mengen an Ver-
mögen in der Welt nutzen, um den Schaden bei großen Risiken finanziell abzufedern?

Das sind alles wesentliche Probleme und Möglichkeiten. Und die bestehen hier und jetzt.
Es ist Zeit für Durchbrüche. Echte brillante Businessmodelle geben darauf Antworten,
von denen wir lernen können. Es ist höchste Zeit, sich Teil II zuzuwenden!

Literatur

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Teil II
Fallstudien brillanter Businessmodelle im
Finanzwesen
Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr
5
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

Welche Funktion und welchen Wert hat ein zuverlässiger Zahlungsverkehr? Es ist schwer
zu verstehen, was das eigentlich bedeutet, wenn man stets in einem Wirtschaftssystem
gelebt hat, in dem jeder auf (Zugang zu) Geld und dessen stabilen Wert beim täglichen
An- und Verkauf vertrauen kann. Es wird erst dann richtig klar, wenn man an eine Zeit
denkt, in der es noch kein Geld gab oder in der der Wert des Geldes sehr instabil war.
Geld kann glücklich oder unglücklich machen. Im Grunde ist es bloß eine Einheit,
mit der der Wert aller Güter ausgedrückt wird. Nach der Einführung des Geldes kann
überall Handel getrieben werden, und dieser ist nicht länger abhängig von einem zufäl-
ligen gegenseitigen Bedarf an Produkten der am Handel beteiligten Partner. Das macht
es einfacher, Dienste wie etwa das Arbeiten für jemand anderen anzubieten, weil man
schließlich nicht in Naturalien bezahlt werden muss. Auch ist es möglich, Geld für mor-
gen zur Seite zu legen, ohne dass der Besitz sofort verloren geht, sehr viel Platz ein-
nimmt oder einfach gestohlen werden kann.
Außerdem ermöglicht Geld den Handel über große Entfernungen, ohne dass Tausch-
waren transportiert werden müssen. Geld wird gemeinhin als Fundament zuverlässigen

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 81
J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_5
82 J. Kemperman et al.

Zahlungsverkehrs und damit auch eines modernen Wirtschaftssystems mit Spezialisie-


rung auf jedermanns Arbeit betrachtet. Kurzum, Geld ist eine sehr nützliche Erfindung.
Wenn wir uns die Geschichte des Geldes ansehen, lässt sich in groben Zügen eine
Entwicklung von der Tausch- und Teilwirtschaft über die Einführung wertvoller Tau-
scheinheiten (z. B. besondere Muscheln), die Einführung von Edelmetallen (die
anschließend mit der Angabe ihres Gewichts geprägt wurden) bis hin zur Entstehung von
Papiergeld und -quittungen erkennen. Momentan erfolgt der Großteil des Zahlungsver-
kehrs vollständig digital, ohne dass noch ein physischer Beleg ausgetauscht wird. Die
Zahlungseinheiten wurden im Laufe der Zeit einfacher und effizienter im Gebrauch,
jedoch gleichzeitig auch abstrakter. Wer versteht, was es heißt, wenn 1000 Mrd. EUR
zusätzliches Geld durch die Zentralbank in den USA oder in Europa gedruckt und in
die Wirtschaft gepumpt wird? Die Abstraktion bewirkt, dass es mehr auf einem gemein-
schaftlichen Vertrauen im gesellschaftlichen Konsens basiert, als dass das Geld echten
Wert hat und als solches ausgegeben und akzeptiert wird. Solange niemand ausspricht,
dass der Kaiser keine Kleider trägt, trägt er welche. Im Laufe der Jahrhunderte kommt
es zu Ereignissen, bei denen der Wert durch Hyperinflation sehr instabil wird, z. B. in
den 1930er Jahren oder erst kürzlich im Rahmen der Finanzkrise in Argentinien im Jahr
2001. Es gibt noch viele weitere Beispiele für andere Güter, deren Wert durch Speku-
lation in kurzer Zeit immer weiter anstieg, um danach wieder zu sinken. Gemeint sind
hier etwa die Tulpenzwiebeln im 18. Jahrhundert, die französisch-amerikanischen Han-
delskompanien für die anrüchigsten Produkte im 19. Jahrhundert, die russischen Eisen-
bahnen im 20. Jahrhundert und Internetaktien zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aber als
stabile Recheneinheit schlägt Geld sich vergleichsweise gut im Zahlungsverkehr. Über-
raschend ist nicht die Tatsache, dass es so viele Beispiele von Hyperinflation und Hyper-
deflation gibt, sondern gerade wie wenige es davon gibt. Es ist insbesondere verblüffend,
wie tief verwurzelt das Vertrauen in Geld ist.
Auf internationaler Ebene wächst der Anteil an Entwicklungsländern im Bargeldzah-
lungsverkehr und digitalen Zahlungsverkehr. Weltweit gibt es immer mehr Zugang zu
zuverlässigem Zahlungsverkehr (vgl. Rhyne 2009). Wie in den vergangenen Jahrhunder-
ten im Westen handelt es sich dabei immer noch um die Abschaffung von Tausch- und
Teilgeschäften zugunsten von Bezahlgeschäften, sowie von Selbstversorgung zugunsten
von Spezialisierung. Dabei fällt auf, dass Afrika, Südostasien und Südamerika bei der
Nutzung neuer, mobiler Zahlungstechnologien die Nase vorn haben. Das leuchtet ein,
weil diese neuen Technologien Möglichkeiten bieten, um Probleme zu lösen, die in west-
lichen Ökonomien bereits gelöst wurden, z. B. das Angebot zuverlässiger Tauschmittel
und die Möglichkeit, Geld zu sparen, zu verwahren und zu überweisen. Und damit sind
wir wieder bei dem Grundsatz, dass Mangel latente Nachfrage ist und zu Lösungen führt
und… zu brillanten Businessmodellen. Die Einführung von mobilem Zahlungsverkehr in
westlichen Ländern verläuft langsamer als in Entwicklungsländern, weil dieser als eine
Lösung erscheint, die quasi noch auf der Suche nach einem großen Problem ist. In Ent-
wicklungsländern stellt es hingegen häufig den ersten Zugang überhaupt zu Zahlungsver-
kehr dar. Im Westen ist das Problem weniger groß oder weniger dringend; vielmehr geht
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 83

es insbesondere um einfacheres, bequemeres oder preiswerteres Bezahlen. Der Kosten-


vorteil scheint derzeit vor allem darin zu bestehen, dass Transaktionen in Ländern wie
den USA noch relativ teuer sind (im Vergleich zum PIN-System in Deutschland). Neue
digitale und mobile Möglichkeiten im Zahlungsverkehr bieten Unternehmen die Chance,
tiefere Einblicke in das Zahlungsverhalten von Kunden zu gewinnen. Das muss nicht so
teuer sein und ist beispielsweise der Werbebranche sogar Geld wert. So etwas ist äußerst
attraktiv aus der Perspektive von Anbietern aus anderen Wirtschaftszweigen, die ihr Geld
nicht mit Margen auf Finanztransaktionen verdienen. Hier kommt es also zur Disruption
im Bereich des Zahlungsverkehrs mit traditionellen Playern wie Banken und Kreditge-
sellschaften. Und diese Disruption kommt von unerwarteter Seite. Es handelt sich um
PayPal, das sich in wenigen Jahren eine wichtige Position im Zahlungsverkehr erstrei-
ten konnte – dank Google, das Businessmodelle auf der Grundlage von Daten generiert;
dank Amazon, das so Zugang zu Informationen über Transaktionen erhält; dank Apple,
das in diesem Service Zusatzfunktionen und Apps sieht, mit denen die eigenen Produkte
bereichert werden können; dank Starbucks, das seinen Kunden die Bezahlung erleichtern
möchte und dank Telekommunikationsanbietern wie AT&T, Vodafone und T-Mobile, die
sich dadurch differenzieren können.
Dabei fällt auf, dass diese Anbieter häufig nicht die Kernfunktion des Bankings im
Sinne des Geldmanagements und der zeitgemäßen Anpassung hinsichtlich der Verwal-
tung erfüllen möchten. Sie sind vor allem an der Fassade, an den Kanälen und dem Bran-
ding der Transaktionen vor Ort bei der Bezahlung interessiert.
Im Bereich des Zahlungsverkehrs lässt sich eine fundamentale Entwicklung erken-
nen, bei der noch viele weitere Merkmale eines alternativen Zahlungsverkehrs deutlich
werden. Geld wird neu erfunden in Recheneinheiten wie Bitcoins, aber auch in neuen,
lokalen und klein angelegten Initiativen mit Münzeinheiten wie dem Gelre (Gelderland),
dem Dam (Rotterdam) sowie dem Makkie und dem Noppes (Amsterdam), mit denen die
Gründer der Initiativen Mittelständlern und Kleinunternehmern mehr finanziellen Spiel-
raum geben wollen.1 Das ist übrigens nicht neu, denn in der Schweiz gibt es bereits seit
1934 den so genannten WIR als alternatives Zahlungsmittel für kleine und mittelständi-
sche Unternehmen (vgl. Peverelli und de Feniks 2010). Alte Prinzipien des Tauschens
und Teilens werden einer Verjüngungskur unterzogen und erhalten ein neues Gesicht in
der Sharing Economy. Diese Ökonomie des Teilens ist ein Wandel von unten, bei dem
Menschen Geschäfte untereinander selbst regeln.2 Das ist eine interessante Entwick-
lung, wenn es um brillante Businessmodelle im Finanzwesen oder um neue Initiativen
zur Teilung von Risiken untereinander oder zum gemeinsamen Sparen oder Investie-
ren geht. Damit steigt ein ‚altes‘ Modell wie die Kooperation wie ein Phönix aus der
Asche und knüpft nahtlos an die Prinzipien der Mikrofinanzierung an. Auch aus der

1http://www.ftm.nl/exclusive/rotterdam-lokale-munt-dam/.

2SieheRotmans (2012) für eine Beschreibung dieses Übergangs und vergleichbarer Übergänge in
den Niederlanden und eine breitere Sicht darauf.
84 J. Kemperman et al.

Perspektive des Zahlungsverkehrs in diesem Kapitel betrachtet ist es wichtig, weil auf
philosophischer und gesellschaftlicher Ebene andere Prinzipien in puncto Besitz und
Transaktionen (erneut) Einzug halten. Teilweise betrifft das nur den Verkauf mit Hilfe
von Geld, aber manchmal geht es auch tatsächlich um Tauschen und Teilen in Natura-
lien anstelle von Geld (z. B. bei Swap.com) oder Gratisprodukten (z. B. auf Freecylce
und Kashless). „Die Tauschwirtschaft betrifft das gemeinschaftliche Schaffen, Produ-
zieren, Verteilen, Handeln und Konsumieren von Waren und Zusatzdiensten durch ver-
schiedene Personen und Organisationen“ (vgl. Matofska 2014). Dabei geht es häufig um
die Nutzung von Social-Media-Plattformen, mit denen beteiligte Parteien direkt mitein-
ander in Kontakt gebracht werden sollen und zwar dort, wo früher der Handel über ein
Unternehmen erfolgte. Auf diese Weise werden die Möglichkeiten der Informationstech-
nologie genutzt, um Menschen über eine große Entfernung miteinander zu verbinden,
wobei mithilfe von Online-Referenzen Vertrauen geschenkt und gutes Verhalten belohnt
wird (vgl. Sundararajan 2013). Das Ergebnis ist, dass Verbraucher ihrerseits auch wie-
der Produzenten und Anbieter auf Märkten werden, die in zwei Richtungen agieren. So
entstehen Online-Märkte für Produkte und Zusatzdienste wie Alibaba, eBay, Craigslist,
Krrb, TaskRabbit und Markt.de in Deutschland. Des Weiteren geht es um die Teilung
von Überkapazitäten (z. B. ein leer stehendes Haus oder ein Auto) durch neue Unterneh-
men wie HomeExchange, Zipcar, Airbnb und UberPOP sowie um die Teilung von Com-
puterzeit, Speicherkapazitäten, Medien und Produkten (z. B. durch Snapgoods). Aber es
betrifft auch die Teilung von menschlicher Denk- und Kreativkraft in Form von Stun-
den (z. B. mit Ko-Kreation und Preisfragen), in Form von Open-Source-Software wie
Linux oder von Patenten oder Daten (z. B. durch Data.gov – The London Data Store)
oder im Finanzbereich bei gegenseitigen Darlehen (z. B. durch Zopa, Prosper und für
Hypotheken Home Equity Share (vgl. Bakas und Peverelli 2009)). Es zeigt sich wei-
terhin in kleinen Kooperationsinitiativen in ländlichen Gebieten oder Stadtvierteln mit
dörflichem Charakter, wo Ideale der 1970er Jahre den Vorstellungen im 21. Jahrhundert
angepasst wurden. Als Beispiele können eine kooperative Bibliothek, eine Kindertages-
stätte, die freiwillige Betreuung Pflegebedürftiger oder eine Schule genannt werden, aber
auch neue Mechanismen wie etwa die Rückführung von Energie ins Stromnetz und der
dafür gemeinschaftliche Erwerb von Solarmodulen und die Teilung von Energie in der
Nachbarschaft (vgl. Botsman und Rogers 2010). Bei der Auslotung der neuen Grenzen
der Tausch- und Teilwirtschaft von Kalifornien aus durch Unternehmen wie Airbnb und
UberPOP lässt sich eine für San Francisco angemessene Kombination aus Hippie-Ide-
alen und Expansion in Wildwest-Manier erkennen. Dem materialistischen Betrachter
in dieser idealistischen Welt kommt es so vor, als beziehe sich das Teilen vor allem auf
die Nutzer der Plattform und als wolle der Eigentümer der Plattform in erster Linie ein
Monopol mit einer Marge für jede Transaktion errichten. Sozialsysteme, Steuergesetze
und Genehmigungsverfahren sind noch nicht bereit für diese neuen Tauschmechanismen.
Deshalb besteht ein Risiko, dass bestehende Unternehmen aus nicht richtigen Gründen
zuschauen müssen, wie ihre Geschäftsmodelle nach und nach in sich zusammenfallen.
Wie erhebt man Mehrwertsteuer auf privaten Handel oder gar Produkte in Naturalien?
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 85

Und wo geht das einfache Weiterverkaufen von Gegenständen in ein Unternehmen über?
Wie wird Arbeit besteuert? Und wie sichert man die Förderung und Abgabe für Renten
und Sozialleistungen, ohne dass man gegenseitige Hilfe schier unmöglich macht?
Kurzum, Zahlungsverkehr geht über schlichte digitale Finanztransaktionen hinaus,
und abgesehen vom Geld geht es auch um den Handel in Naturalien. Es sind fundamen-
tal neue Entwicklungen zu beobachten, deren Ziele noch nicht absehbar sind. Die neuen
Technologien bieten unzählige Möglichkeiten für die Innovation des Zahlungsverkehrs.
Um zu verstehen, welche Innovationen auch wertvoll sein können, betrachten wir die
Fundamente, die heutige Welt und die neuen Entwicklungen.

Vergangenheit: Businessmodelle wie die Amsterdamer Wechselbank


Um den Wert von Vertrauen im Zahlungsverkehr zu verstehen, liegt es nahe, nach bahn-
brechenden Akteuren Ausschau zu halten, die Historisches geleistet haben. Ein klassi-
sches und zugleich beeindruckendes Beispiel ist das der Amsterdamer Wechselbank.
Diese wurde in einer Zeit gegründet, in der es eine große Vielzahl an Münzen gab, deren
Wert nicht eindeutig war. Dadurch wurde das Wachstum von Amsterdam als Handels-
zentrum erheblich gebremst. Der Wechselbank gelang es, Papiergeld einzuführen, dem
mehr Vertrauen entgegengebracht wurde als dem Münzgeld. Aber sie war nicht die erste
Wechselbank, denn sie wurde inspiriert durch brillante Businessmodelle von Banken
in Barcelona (1401) und Venedig (1587). Die Amsterdamer Wechselbank diente ihrer-
seits wieder als Vorbild für die Wechselbanken in Middelburg (1616), Rotterdam (1621),
Delft (1621) und Hamburg (1619) (vgl. Nieuwkerk 2009). Danach wurde sie auch zum
Vorbild für führende Zentralbanken in den Niederlanden selbst, aber auch für die Natio-
nalbanken in London (1694) und New York (1853), das sich schließlich zum Finanzzen-
trum entwickelte.

Gegenwart: Businessmodelle wie Visa


Auf der ganzen Welt kann man Coca-Cola kaufen und bei McDonald’s essen. Das ist
für uns keine Besonderheit mehr. Noch weniger überrascht uns die Tatsache, dass wir
überall auf der Welt mit einer Kreditkarte bezahlen können. Es ist doch auffällig, wie
weit verbreitet Unternehmen wie Visa und American Express sind. In diesem Zusam-
menhang ist es auch noch gut zu wissen, dass jeder auf Visa als zuverlässiges Zahlungs-
mittel vertraut, aber die meisten Menschen nicht darüber nachdenken, warum sie Visa
vertrauen und wie diese Art von Unternehmen eigentlich funktioniert. So wie die Busi-
nessmodelle der Wechselbank und der Nationalbanken sorgt Visa für stabile Transak-
tions- und Garantiesysteme hinter dem Zahlungsverkehr, allerdings aus kommerziellen
Intentionen heraus. Das Unternehmen entwickelt frühere Lösungen wie Postanweisun-
gen und Reiseschecks weiter. Es ist interessant zu sehen, dass ausgehend von sozia-
len Medien und Mobilgeräten die Infrastruktur von Akteuren wie Visa und American
Express scheinbar problemlos zu neuen Anbietern im Zahlungsverkehr wie Google und
Apple passt.
86 J. Kemperman et al.

Zukunft: Businessmodelle wie GCash


Es überrascht, dass die Vorreiter des mobilen Zahlungsverkehrs nicht in der westlichen
Welt zu finden sind, sondern in den Entwicklungsländern. Das sind schöne Inspirations-
quellen, von denen wir wiederum für die Zukunft lernen können. Die Entwicklungslän-
der halten sich nicht mehr mit dem Aufbau eines Festnetzes auf, sondern machen sofort
den Schritt hin zum Mobilfunk. Sie überspringen sozusagen eine Phase. Eine physische
Infrastruktur an Geldautomaten und Bankfilialen ist größtenteils nicht vorhanden. Denn
hier herrschen alle wesentlichen Probleme der Tauschwirtschaft, in der es schwierig ist,
untereinander Handel zu betreiben, füreinander zu arbeiten und etwas für morgen zur
Seite zu legen oder für heute zu leihen. Es gibt also einen echten Mangel und (vielleicht
nicht immer explizit) unerfüllte Bedürfnisse. Um mit einem Handy mit SIM-Karte zu
telefonieren, wurde ein einfaches System aus Guthaben, Abbuchung und Identifizierung
geschaffen, das eigentlich einen rudimentären Charakter hat. Dieses ist die Grundlage für
eine disruptive Entwicklung von Banking durch Mobilfunk- und Telekommunikationsan-
bieter. Ein Beispiel dafür ist GCash auf den Philippinen.
Ein weiteres bekanntes Beispiel ist M-Pesa, das Angebot von Vodafone in Kenia.
Diese Fallstudien haben wir übrigens in unserem vorangegangenen Buch Brillante Busi-
nessmodelle im Gesundheitswesen beschrieben. In beiden Fällen wurde die Nutzung von
Mobiltelefonie auf Microbanking für Gruppen mit niedrigen Einkommen ausgeweitet.
Die SIM-Karte wird als mobiles Sparkonto verwendet. Um sich ein Bild von weiteren
Möglichkeiten mit mobilem Zahlungsverkehr und Banking zu machen, lohnt sich ein
Blick nach Südafrika, wo Wizzit und MTN tätig sind. In Japan zeigt NTT DoCoMo, wie
Menschen sich identifizieren und bezahlen können, indem sie an der Kasse ihr mobi-
les Portemonnaie zücken. In den Niederlanden wird damit noch vorsichtig in Leiden
und in der Berenstraat in Amsterdam experimentiert. Mittlerweile sind auch die großen
Player im Bereich Social Media wie Apple, Google und Amazon erwartungsgemäß auf
dem Vormarsch. Sie haben so enorme technologische Möglichkeiten und so viel Geld für
Investitionen, dass sie die Branche noch viel stärker aufmischen werden. Darüber hinaus
bringen sie auch noch einen neuen Ansatz für Big Data mit, mit dem sie Transaktionsin-
formationen für sich selbst und die Werbebranche wieder zu Geld machen können. Und
das bietet wiederum traditionellen Banken und Versicherern neue Möglichkeiten. Gleich-
zeitig wirft dieser Ansatz für neue und bestehende Player fundamentale Probleme auf,
durch die das Vertrauen in den Zahlungsverkehr beschädigt werden kann und welche der
Privatsphäre und Diskretion möglicherweise wieder einen Wert geben, für die Kunden
bezahlen wollen.
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 87

5.1 Die Amsterdamer Wechselbank

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Tom Buijtendorp und Jeroen Kemper-
man verfasst.

Ruhe, Reinheit und Regelmäßigkeit im finanziellen Geschäftsverkehr


Prolog
Im Katastrophenjahr 1672 wurde die Republik der Vereinigten Niederlande von ver-
schiedenen Seiten angegriffen. Französische Truppen nehmen Utrecht ein, und die
Den Haager Bürgerwehr tötet den Ratspensionär Johan de Witt und seinen Bruder
Cornelis in der Nähe des Binnenhof.3 Die Kurse am Amsterdamer Rokin halbieren
sich, und Menschen fürchten um ihren Besitz. Am 20. August kommt es zu einem
Sturm auf die Wechselbanken, bei dem die Wechselbanken in Rotterdam und Middel-
burg schließen müssen. Da sie einen Teil der Rücklagen weiterverliehen haben, kön-
nen sie die wütende Menge nicht sofort ausbezahlen. Die Kassierer der Amsterdamer
Wechselbank hingegen können das. Sie stellen damit das Vertrauen wieder her und
hinterlassen im In- und Ausland einen bleibenden Eindruck. „Dieser Eindruck wurde
noch verstärkt, als sich herausstellte, dass etliche der zurückgegebenen Münzen durch
einen Brand in der Anfangszeit der Bank versengt waren. Diese Münzen hatten dort
also wirklich die ganze Zeit gelegen!“ schrieb Voltaire später voller Bewunderung.4
Mit dem Katastrophenjahr endet das Goldene Zeitalter, woraufhin viele Menschen in
die Armut abgleiten. So auch der 25-jährige Pachtbauer Jan Rultje, der sechs Jahre
nach der Krise Schulden in Höhe von 300 Talern hat, was etwa vier Jahreslöhnen ent-
spricht. Oder der junge Anton van der Laaken aus Leiden, der Enkel eines wohlha-
benden Kaufmanns, der den Namen des Stoffs trug, der die Tücherstadt einst reich
gemacht hatte und der nun zurecht für sich selbst und seine Nachkommen ein Leben
in großer Armut prophezeite.
Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen, wirtschaftlichen Verfalls entfaltet sich
die Wechselbank auf wundersame Weise bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. In enger
Zusammenarbeit mit der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC)
und der Stadt Amsterdam entwickelt sich die Wechselbank zum Dreh- und Angel-
punkt des internationalen Zahlungssystems und wird zum Vorbild für die späteren
Zentralbanken. Der endgültige Zusammenbruch der VOC richtet die Bank nach zwei
Jahrhunderten schließlich zugrunde, doch zu dem Zeitpunkt hat dieses Beispiel einer
Zentralbank bereits in anderen Ländern Schule gemacht. Das Erfolgsgeheimnis wird
gelüftet, als den einfallenden französischen Soldaten 1795 die vertraulichen Rech-
nungsführungsunterlagen der Wechselbank in die Hände fallen.
Sie erleben eine Überraschung…

3Interessierte können alles über das Katastrophenjahr 1672 in Panhuysen (2009) lesen.
4Der Verweis auf Voltaire wurde mit Dank von Nieuwkerk (2005) übernommen.
88 J. Kemperman et al.

Einleitung
Für die junge Republik der Sieben Vereinigten Provinzen ist 1609 ein denkwürdiges
Jahr mit der Gründung von Neu-Amsterdam (heute New York) und einem Friedens-
vertrag, der dem internationalen Handel mehr Raum gibt. Zum gleichen Zeitpunkt
wird die Amsterdamer Wechselbank gegründet (vgl. Nieuwkerk 2009), die zum Erfin-
der des modernen Geld- und Zahlungsverkehrs avanciert (vgl. Mantle 2008). Sie wird
die erste Zentralbank der Welt: Eine durch die Regierung eingesetzte Bank, deren Ziel
eine führende Münzeinheit mit stabilen Wechselkursen und begrenzter Inflation ist
(vgl. Dehing 2012).
Die Gründung der Wechselbank prägt einen legendären Zeitraum von zehn ­Jahren
entscheidend mit: Er reicht von der Gründung der VOC, der ersten Aktiengesell-
schaft der Welt5, im Jahr 1602 bis zur Eröffnung der Börse auf dem Rokin, der ersten
­Aktienbörse der Welt, im Jahr 1611. Zusammen gelten die VOC, die Wechselbank und
die Börse als Eckpfeiler des Goldenen Zeitalters der Niederlande. Amsterdam entwickelt
sich zum Finanzzentrum der Welt und behält diese Position bis Ende des 18. Jahrhun-
derts. Die Stadt wird zur weltweiten Handels- und Prägestätte für Gold und Silber. Die
Wechselbank bietet eine zuverlässige Basis für die Entwicklung kommerzieller Banken.
Viele Privatvermögen werden in Amsterdam verwaltet. Der Finanzmarkt von Amster-
dam ist der Ort, an dem europäische Monarchen ihre Kriege finanzieren und Transaktio-
nen abschließen, die Weltgeschichte schreiben. Amsterdam entwickelt sich zum Zentrum
schlechthin für Staatsanleihen, darunter auch Anleihen, die an der ­Aktienbörse öffentlich
handelbar werden: die ersten Staatsanleihen so wie wir sie heute noch kennen.
Die Amsterdamer Wechselbank ist ein bedeutendes Vorbild für die britische Zen-
tralbank, die 1694 als Bank der britischen Regierung unter Wilhelm III., König von
England und Statthalter von Holland, Seeland, Utrecht, Gelderland und Overijssel,
gegründet wurde. Die Staaten von Holland unterstützen 1695 die damals noch schwa-
che Bank von England und werden daraufhin ein wichtiger Geldgeber dieser Bank
im 18. Jahrhundert. Das von der Wechselbank gelegte Fundament hat Langzeitauswir-
kungen. Ein spektakuläres Beispiel ist das Darlehen, das niederländische Geldgeber
1803 den Amerikanern für den Erwerb des gesamten Gebiets entlang des Mississippi,
einem immens langen Fluss, geben. Damit kaufen die Amerikaner den Franzosen so
viel Land ab, dass sich das Staatsgebiet der USA nahezu verdoppelt.
Die Amsterdamer Wechselbank hat zu diesem Zeitpunkt ihren Zenit überschrit-
ten. Wie bei vielen brillanten Businessmodellen zerbricht sie, weil die ursprünglichen
Prinzipien über Bord geworfen werden. Vertrauensmissbrauch und die Verflechtung
mit der VOC und der Gemeinde Amsterdam bringen die Amsterdamer Wechselbank
am Ende des 18. Jahrhunderts in schwierige Fahrwasser mit unlösbaren Problemen.
Ihre Auflösung im Jahr 1820 ist schließlich unausweichlich.

5Siehe das Standardwerk von Gaastra (1999) für eine ausführliche Beschreibung der VOC, Kem-
perman in Kemperman, Geelhoed & op ’t Hoog (2013) für die Beschreibung der VOC als bril-
lantes Businessmodell und Petram (2011a) für die Entstehung und Entwicklung der Amsterdamer
Aktienbörse.
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 89

Tab. 5.1  Historische Entwicklungen rund um die Amsterdamer Wechselbank


Jahr Ereignisse (Siehe u. a. Quin und Roberds (2005), Mantle (2008) und Schama (1987))
1543 Erste (kurze) Einführung Florin/Gulden (20 Stuiver) durch Karl V
1568 Aufstand gegen Spanien, durchgängige Periode der Münzentwertung
1579 Beginn Republik der 7 Vereinigten Provinzen mit der Utrechter Union
1602 Gründung der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC)
1609 Gründung der Amsterdamer Wechselbank und Gründung von Neu-Amsterdam/New
York
1611 Gründung der Amsterdamer Aktienbörse
1659 Formalisierung Bankgulden mit Aufschlag/Agio 5 % auf Münzgulden
1672 Katastrophen- und Krisenjahr, das die Wechselbank durchsteht
1683 Die Wechselbank bietet Vorfinanzierung für Silber und Gold
1694 Gründung Bank von England nach Vorbild der Wechselbank
1780 Verlust von Handelsrouten VOC im 4. Seekrieg mit England
1794 Einfall französischer Truppen in die Niederlande
1795 Finanzkrise bei Wechselbank nach Bekanntgabe von Privatdarlehen
1814 Übertragung öffentlicher Aufgaben von Wechselbank auf De Nederlandse Bank
1820 Formelle Auflösung der Wechselbank
1853 Gründung der ersten Wechselbank und Zentralbank in den USA

Das Ende einer Ära, der Niedergang der VOC und der Wechselbank
1780 bricht der Vierte Seekrieg mit England aus, im Zuge dessen die VOC ihre
Handelsrouten und damit ihre Lebensadern verliert. 1784 fährt Cuperus mit der
Marmietenslag auf der Schelde noch einen kleinen Sieg ein, doch dieser stellt sich
als ein letztes Aufbäumen heraus. Die Position des Statthalters Wilhelm V. gerät
ins Wanken. Die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 wirkt wie ein Brand-
beschleuniger auf den schleichenden Niedergang. So herrscht als Evert van der
Laaken am 1. März 1789 zusammen mit dem mittlerweile berühmten Kapitän
Cuperus auf dem Schiff Juffrouw Johanna nach Niederländisch-Indien aufbricht,
noch Optimismus über die Wiederherstellung der VOC. Die Juffrouw Johanna ist
ein ‚Fischerboot‘, ein neuer und preiswerter Schiffstyp mit weniger Tiefgang, der
die VOC zurück ins Rennen katapultieren soll.
Aber als Evert am 27. Juli des Jahres 1793 nach Texel zurückkehrt, drohen die
Verantwortlichen der VOC schon mit der Schließung der Werften. Als der franzö-
sischen Armee 1795 die Rechnungsführungsunterlagen der Wechselbank in die
Hände fallen, gelangen verfängliche Details ans Licht und besiegeln das Aus der
VOC endgültig. Worum geht es?
Im Gegensatz zu dem, was wir gegenwärtig bei Banken sehen, besteht das Ziel
der Wechselbank nicht darin, Geld zu generieren, sondern es tatsächlich nur zu
verwahren. Das Prinzip, dass 100 % aller Guthaben der Wechselbank auch in der
90 J. Kemperman et al.

Kasse liegt, wird schon kurz nach der Gründung heimlich über Bord geworfen,
wenn auch nur in begrenztem Umfang. Mit Zustimmung der (sich verbürgenden)
Amsterdamer Stadtverwaltung werden streng geheime Vorauszahlungen an die
Staaten von Holland, Amsterdam selbst und vor allem an die VOC geleistet. Im
Katastrophenjahr 1672 befinden sich 5,5 Mio. Gulden in der Kasse, obwohl es für
die 100 %ige Deckung aller Guthaben eigentlich 6,6 Mio. Gulden sein müssten.
Glücklicherweise findet der Ansturm auf die Bank mit 3,3 Mio. aufgenommenen
Gulden ein mehr als rechtzeitiges Ende. Weil die Staaten von Holland, die Stadt-
verwalter von Amsterdam, die VOC-Verantwortlichen, die Kreditgeber und der
Bankvorstand sich gut kennen, kann die Zahlung von Vorschüssen geheim gehal-
ten werden. Bis 1783 geht es auch um relativ kleine Beträge, die schnell wieder
kompensiert werden, sodass es sich tatsächlich nur um Vorschüsse und eine Über-
brückung handelt und es niemals zu Problemen kommt – im Gegensatz zu den
niederländischen Privatbanken. Diese gehen durch das Verleihen großer Beträge
bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts teilweise in Konkurs. Die Wech-
selbank kommt erst dann vom Kurs ab, als unter politischem Druck von sowohl
der Provinz als auch von Amsterdam viel mehr Geld an die VOC geliehen wird,
obwohl diese nicht mehr solvent ist. Mit schönen Worten und neuen Schiffsty-
pen kann die VOC noch eine Weile den Schein wahren, doch hinter den Kulissen
schmelzen die Reserven der Wechselbank wie Schnee in der Sonne. 1795 kann die
Bank keine Auszahlungen mehr leisten und verliert auf einen Schlag ihren guten
Ruf. 1795 flüchtet Wilhelm V. nach England, wird mit militärischer Unterstützung
der Franzosen die Batavische Republik ausgerufen und die VOC aufgelöst.
Die VOC und die Wechselbank sind im 17. und 18. Jahrhundert eng mit dem
gesellschaftlichen Interesse und dem Staat verflochten. So wie die Besitztümer und
Verpflichtungen der VOC 1795 auf die Batavische Republik übergehen, so gehen
die öffentlichen Aufgaben der Wechselbank auf die Nederlandse Bank über. Diese
wird 1814 gegründet und ist 200 Jahre später immer noch die Zentralbank der Nie-
derlande. In ihren letzten Jahren ist die Amsterdamer Wechselbank eine Bank von
marginaler Bedeutung. 1820 wird sie endgültig aufgelöst.

5.1.1 Das Fundament: Vertrauen in virtuelles Geld, das man nicht


stutzen kann

Die Amsterdamer Wechselbank ist für fast zwei Jahrhunderte lang ein finanzieller Fels in
der weltweiten Brandung und deshalb weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Sie
wird von einflussreichen Denkern wie Voltaire und Adam Smith für ihre entscheidende
und richtungsweisende Rolle ab dem Goldenen Zeitalter gepriesen. Die Wechselbank legt
die Grundlage für die Entstehung des modernen Geldes und ist das Beispiel par excel-
lence für die Art und Weise, wie eine Zentralbank zu organisieren ist, auch wenn das die
Organisatoren zu dem Zeitpunkt selbst noch herausfinden müssen. Sie dient als Vorbild für
verschiedene andere Wechselbanken, darunter die Zentralbanken in London und New York
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 91

(vgl. Mantle 2008). Wie funktionierte diese Bank und wie entstand das Businessmodell,
das sich auf der ganzen Welt verbreitet hat? Hatten die Gründer der Wechselbank über-
haupt eine genauere Vorstellung davon, was sie gründen würden? Was waren ihre Motive?
Die wesentliche Aufgabe der Wechselbank besteht darin, Ruhe, Reinheit und Regel-
mäßigkeit in den Wechselkursen und im Zahlungsverkehr zu garantieren. Das ist in
dieser Zeit wahrlich keine leichte Aufgabe. Der Gulden bildet zwar die formelle Rechen-
einheit, allerdings ist er nicht die Standardmünze im täglichen Gebrauch.
Man kann in Amsterdam mit lokalen Reichstalern zahlen, während in Leiden mit
­silbernen holländischen Dukaten von vergleichbarem Wert abgerechnet wird. So zirku-
lieren zum damaligen Zeitpunkt zwischen 800 und 1000 verschiedene Sorten Münzen,
so dass der Städter Frans van der Laaken sein Brot mit anderen Münzen kauft als Bauer
Jan Rultje (vgl. Petram 2011b). Im Prinzip ist jede Münze das Edelmetall wert, aus dem
sie besteht, sodass der Einfachheit halber der Wert beim Prägen auf der Münze angege-
ben wird. In der Praxis werden die Münzen jedoch ‚gestutzt‘ oder ‚gekappt‘, d. h., dass
von den Rändern Gold oder Silber abgetrennt wird, wodurch sie weniger wiegen als der
angegebene Wert (vgl. Kappelhof 2006). Dabei behalten Wechsler und Kaufleute gute
Münzen zurück und geben nur schlechte, verschlissene Geldstücke heraus (das so genannte
­„Bicquetteeren“). Und wenn dann gute Münzen mit dem richtigen Gewicht zirkulieren,
steigt ihr Wert über den formellen Wert, der auf ihnen angegeben ist (der so genannte
„Steygeringe“) (vgl. Quin und Roberds 2005). Des Weiteren prägen beispielsweise die
französischen Autoritäten Silbermünzen mit immer weniger Silbergehalt. Kurzum, es ent-
steht ein Teufelskreis, in dem das Geld immer ein kleines bisschen weniger wert wird. Die-
ser Effekt ist auch als „Greshamsches Gesetz“ bekannt: Schlechtes Geld verdrängt gutes
Geld (vgl. French 2006). Bei Zahlungen mit geringem Wert ist das nicht so ein großes Pro-
blem, aber bei größeren Transaktionen kann es zu einer erheblichen Wertdifferenz führen.
Das ist nicht nur problematisch und unübersichtlich, sondern verursacht auch Inflation:
Wenn Münzen an Wert verlieren, muss man mehr davon ausgeben und die Preise für Pro-
dukte sind höher als in umliegenden Ländern. Diese Instabilität ist schlecht für den Handel.
Die Stadtverwalter wollen Amsterdam aber gerade zum Handelszentrum der Welt machen
und mit diesem höheren Ziel vor Augen wird s­ chließlich die Wechselbank gegründet.
Die Amsterdamer Wechselbank wird nach dem Vorbild früherer, kleinerer Ban-
ken in Handelsstädten rund um das Mittelmeer aufgebaut, darunter Barcelona (1401),
Genua (1407), Valencia (1409) und vor allem Venedig (1587) (vgl. Quin und Roberds
2005). Das primäre Ziel besteht jedoch nicht darin, wie bei diesen Banken Gewinne
einzufahren, sondern monetäre Stabilität zu bewerkstelligen. Schon sehr schnell wer-
den entscheidende Innovationen eingeführt wie etwa der Bankgulden als internationale,
administrative Recheneinheit und als erstes und einziges Zentralbankgeld sowie frühe
Formen einer Wechselkurspolitik. Auf diese Weise erwirbt sich die Bank eine internatio-
nal anerkannte Vertrauensposition.
Die Amsterdamer Wechselbank beginnt als Wechselstube, in der man fremde M ­ ünzen
wechseln und sicher deponieren kann. Letzteres ist wichtig, weil beispielsweise 300
Reichstaler (die Schulden von Jan Rultje) ca. 9 kg wiegen, was eine schwierig zu ver-
wahrende, aber gleichzeitig einfach zu stehlende Menge Geld ist. Die Wechselbank
kann es sich deshalb erlauben, eine Depotgebühr von maximal 0,5 % zu verlangen, ohne
92 J. Kemperman et al.

Zinsen zu zahlen. Die angenommenen Münzen werden gewogen, und das Äquivalent
des tatsächlichen Werts des Edelmetalls wird als Guthaben in Bankgulden festgelegt,
wobei dem Einzahler ein Guthabenbeleg ausgehändigt wird („Quittung“). Anschließend
kann der Guthabenbeleg aufbewahrt oder auf eine andere Person ausgestellt, oder das
­Gut­haben wieder abgehoben werden. Die Wechselbank erzielt keine Marge, indem sie
das Geld zu einem hohen Zins wieder verleiht. Das Geld bleibt sicher im Keller. Das
Tauschen, Deponieren, Überweisen und Auszahlen erfolgt in harten Bankgulden. Dabei
garantiert die Wechselbank den Wert, indem sie den Kurs der Bankgulden im Hinblick
auf eine bestimmte Menge Silber stabil hält. Das klingt nicht spannend, aber der Effekt
ist für die damalige Zeit bahnbrechend und atemberaubend.
1636 entsteht ein Kontosystem mit dem Bankgulden. Dieser ist ab dem Zeitpunkt nur
eine Recheneinheit und keine greifbare Münze, doch im internationalen Zahlungsverkehr
entwickelt er sich zu einer Schlüsselwährung. Die Position des Bankguldens als interna-
tionale Kontowährung geht der Schlüsselrolle des britischen Pfunds im 19. Jahrhundert
und dem amerikanischen Dollar im 20. Jahrhundert voraus. Faszinierend ist, dass immer
weniger Bedarf daran besteht, das Geld tatsächlich abzuheben. Die Papierguthabenbe-
lege der Wechselbank sind härteres Geld als die Edelmetallmünzen, die man auf der
Straße geboten bekommt; deren Wert kennt man schließlich nicht.
Das hat Auswirkungen auf den Wert. Der zuvor für die guten, schweren Münzen im
informellen Zahlungsverkehr fällige Aufschlag („Agio“) wird jetzt auch für die ‚harten‘
Bankgulden erhoben. Das faszinierende Ergebnis ist, dass sich das Stutzen von Münzen
nicht mehr rentiert: Das gekappte Geld wird gewogen, und je nach Ausmaß des Schnitts
erhält man einfach weniger Bankgulden dafür. Auf diese Weise wird das schlechte, gekappte
Geld von den guten Bankgulden verdrängt und der Traum eines jeden Zentralbankers erfüllt:
Gutes Geld verdrängt schlechtes Geld! Die Amsterdamer Wechselbank legt damit den
Grundstein für den Zahlungsverkehr, den wir heute kennen. Der Bankgulden wird 1659 zum
offiziellen Zahlungsmittel befördert, wobei zu Beginn ein Aufschlag von 5 % fällig wird.
Das Ziel der Amsterdamer Wechselbank ist erreicht. Im Zahlungsverkehr mit Münzen
herrscht Stabilität, während die Inflationsspirale durchbrochen ist. Obwohl die meisten
anderen Länder Europas regelmäßig mit einer hohen Inflation zu kämpfen haben, beträgt
die Inflation in der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen im 17. und 18. Jahrhun-
dert durchschnittlich nur 0,4 % – der Traum einer jeden modernen Zentralbank.
Während die Stabilisierung der physischen Handelsmünzen das ursprüngliche Ziel ist,
wächst die Wechselbank, die das Fundament für die heutigen Zentralbanken legt, allmäh-
lich aus ihrer ursprünglichen Rolle heraus. Amsterdam wird das Finanzzentrum der Welt,
eine Position, die später von London und schließlich von New York eingenommen wird.
Die Wechselbank baut ihre bedeutende Stellung im internationalen Zahlungsverkehr wei-
ter aus und wird schließlich zum Finanzzentrum, wo Edelmetall gegen Bankgulden aus
Papier getauscht werden kann. Die Wechselbank avanciert zur Zentralbank im internatio-
nalen Zahlungsverkehr und Amsterdam zum pulsierenden Herzen des Welthandels.
Die Wechselbank kann ihre dominante Rolle im internationalen Zahlungsverkehr nur
erfüllen, weil sie sehr zuverlässig und integer ist (Abb. 5.1).
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 93

Markenkern: Ruhe, Reinheit und Regelmäßigkeit in Wechselkursen und


im Zahlungsverkehr

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Für eine führende Münzeinheit und • 1609: Als Wechselbank die Inflationsspirale
stabilen Zahlungsverkehr als Grundlage durchbrechen und stabile Wechselkurse
für die Position von Amsterdam am mit dem Bankgulden realisieren
Handelszentrum der Weltsorgen • 1659: Als Zentralbank ein solides
Fundament für die Schlüsselposition von
Amsterdam als internationales
Markenursprung Finanzzentrum legen
• Beispiele und Erfahrung von
Wechselbanken in Barcelona (1401) und Markenversprechen
Venedig (1587) • Ruhe, Reinheit und Regelmäßigkeit beim
• Großes Problem in Form eines instabilen Wechseln, Überweisen und Abheben von
Zahlungsverkehrs mit Unklarheit bzgl. Geld im internationalen Handelsverkehr
der Menge der Münzsorten und
ihren Werten
Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Zuverlässig • Ausgezeichnet im Wechseln, Verwahren,
• Tatkräftig Überweisen und Abheben von Geld
• Praktisch • Mechanismen des Wechselmarkts und
der Zentralbank verstehen und steuern

Markenbeweis
• Stabiler Wert des Bankguldens
• Das eigene Guthaben an Händler immer
sofort auszahlen können (wie
im Katastrophenjahr 1672)

Abb. 5.1  Leitbild und Positionierung der Amsterdamer Wechselbank


94 J. Kemperman et al.

Das erfordert Moral, Tatkraft und Rückgrat in Krisenzeiten. Sie muss gegen Manipu­
lationen von Finanzakteuren wie beispielsweise Wechslern angehen, die Interesse an
volatilen Wechselkursen, hohen Zinsen und Aufschlägen haben. Darüber hinaus ist ein
praktischer Ansatz erforderlich, bei dem man die Bewegungen und Empfindungen im
Markt für sich arbeiten lässt, statt sie zu bekämpfen. Übertragen auf die Qualitäten der
Einrichtung heißt das, dass sie nicht nur auf Betriebsebene exzellent im Wechseln, Ver-
wahren, Überweisen und Auszahlen von Geld sein, sondern sich durch das Verstehen
und Beeinflussen der zugrunde liegenden sozialen Mechanismen und Dynamik auszeich-
nen muss. Gegenwärtig ist es immer noch ein gefundenes Fressen für Makroökonomen:
die Bekämpfung von Inflation und Deflation, die Steuerung von Wechselkursen und
stabilen Münzeinheiten, die Verknappung oder Ausdehnung der Geldmengen und die
Zügelung von Spekulanten, die andere Interessen haben als die Gesellschaft. Die Wech-
selbank ist darin erfolgreich und liefert den Beweis mit stabiler, niedriger Inflation sowie
mit Ruhe, Reinheit und Regelmäßigkeit im finanziellen Geschäftsverkehr. Wie sieht das
Businessmodell aus, mit dem die Amsterdamer Wechselbank das realisiert?

5.1.2 Das Businessmodell: Urmodell der Zentralbank

Marktsegmente: Starke Position als verlängerter Arm der Stadt Amsterdam


Die Amsterdamer Wechselbank wird mit der Unterstützung der Staaten von Holland von
den Regenten der Stadt Amsterdam gegründet. Diese ergreifen 1609 Maßnahmen, mit denen
Ruhe in die Wechselkurse und in den Münzwert gebracht werden soll. Per Erlass wird fest-
gelegt, dass Handelstransaktionen in Amsterdam mit einem Wert von mehr als 600 Gulden
(nach 1643 sind es 300 Gulden) über die Wechselbank erfolgen müssen, ebenso wie sämtli-
cher Handel mit der VOC (vgl. Nieuwkerk 2009). Im Rahmen dieses Erlasses wird der Beruf
des Wechslers zunächst verboten. Später, im Jahr 1621, können die Wechsler ihre Tätigkeit
wiederaufnehmen, jedoch nur für kleinere Transaktionen wie Vorschüsse und Darlehen,
d. h. für Geschäfte, die die Wechselbank selbst nicht öffentlich anbietet. Schließlich bürgt
die Stadt Amsterdam selbst zu 100 % für die Rückzahlung und den Wert des Bankguldens,
sodass man von einem vollständigen Einlagengarantiesystem sprechen kann. Das ist eine
starke Ausgangsposition, die von der Tatkraft zeugt, die Zügel im Zahlungsverkehr auch tat-
sächlich in die Hand zu nehmen. Die Verflechtung mit Amsterdam ist sicht- und fühlbar. Die
Bank hat ihren Sitz im alten Rathaus mitten auf dem Damm (ist heute abgerissen) und zieht
ca. 1655 um in das viel größere, neue Rathaus, den heutigen Paleis op de Dam.
Zu den Kunden der Wechselbank zählen neben der VOC insbesondere die Kaufleute
mit großen Handelsvolumina. Der Höchststand wird zwischen 1720 und 1730 mit 2900
Kontoinhabern erreicht, die einen wichtigen Teil der Handelswirtschaft ausmachen. Abge-
sehen von dem Wettbewerb in Amsterdam gibt es natürlich die Konkurrenz aus anderen
Städten. In enger Zusammenarbeit mit der VOC, der Aktienbörse und den Stadtverwaltern
ist Amsterdam seit Beginn des 17. Jahrhunderts der internationale Knotenpunkt für Handel
und Finanzen. Diese Position behält die Stadt von Beginn des 17. Jahrhunderts bis weit ins
18. Jahrhundert hinein. Die einzigartige Erkenntnis, die ­dieser Tatsache zugrunde liegt, ist,
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 95

dass Ruhe, Reinheit und Regelmäßigkeit im Zahlungsverkehr eine notwendige Grundlage


für Geschwindigkeit, Schlagkraft und Dynamik im Zahlungsverkehr bilden.

Wertangebot für Kunden: Sicher, wertbeständig und auch noch garantiert


(Abb. 5.2)
Dank der Wechselbank können Kunden sicher und wertbeständig Geld wechseln, verwahren,
überweisen und abheben. Die Amsterdamer Wechselbank bietet mit dem Bankgulden viel
mehr Sicherheit und Vertrauen in den Handel – sowohl innerhalb der Grenzen der Repub-
lik der Vereinigten Niederlande als auch international. Es gibt schon früher Schuldverschrei-
bungen aus Papier, aber nicht in diesem großen und allseits bekannten Umfang. So wird die
Abwicklung von Zahlungen über große Entfernungen vereinfacht. Es ist nicht mehr erforder-
lich, mit schweren Schatzkisten voller Geld zu reisen und an die damit verbundenen Gefah-
ren zu denken. Dieses System kann der internationale Händler nutzen. Darüber hinaus bietet
es jedoch auch die Möglichkeit, den Nachfahren von in fernen Ländern verstorbenen Mat-
rosen der VOC Geld über wertbeständige Schuldscheine auszuzahlen. So z. B. hinterlässt
Claude van der Laaken, ein Verwandter des bereits erwähnten Evert van der Laaken, im fer-
nen Batavia (heute Jakarta) 100 Gulden, die seine Brüder in Leiden abheben können.
Beim Wechseln und Deponieren von Geld und Edelmetall wird pro Halbjahr eine
Verwaltungsgebühr von 0,25 % für Silber (entspricht dem Standard) und 0,5 % für Gold
erhoben. Die Eröffnung des ersten Kontos kostet 10 Gulden, für jedes weitere Konto sind
3,15 Gulden zu zahlen. Eine Transaktion kostet 2 Stuiver, und damit Transaktionen unter
300 Gulden eine Ausnahme bleiben, werden dafür 6 Stuiver fällig. Schließlich werden
die Papierbankgulden mit 5 % Aufschlag (Agio) im Vergleich zu Münzgeld verkauft,
was 1 % mehr ist als die 4 % Agio, die beim Ankauf bezahlt werden. Das alles ist ein
niedriger Preis für zuverlässigen finanziellen Geschäftsverkehr, Zugang zum Handel mit
der VOC und vollständige Einlagengarantie.

Kanäle: Auf Basis der Reputation hinter den Kulissen in einer Regiefunktion agie-
rend (Abb. 5.3) 
Die international in den höchsten Tönen gelobte finanzielle Solidität trägt dazu bei, dass
Amsterdam bis Ende des 18. Jahrhunderts seine Position als Finanzzentrum der Welt
behauptet. Weil die Republik der Vereinigten Niederlande im Goldenen Zeitalter auf der
ganzen Welt aktiv ist, kann ein engmaschiges Netz von angeschlossenen Wechselbanken
eingerichtet werden. Als Pflichtwährung im Handel mit der VOC können die wichtigen
Händler die Wechselbank nicht umgehen. Und durch die Netzwerkeffekte der Händler
verbreitet sich der geschaffene Bankgulden auch international als die gemeinschaftli-
che Handelswährung. Grundlegend ist dabei der Übergang von persönlichem Vertrauen
zu Vertrauen in ein entpersonalisiertes System. Die ältesten Wechselbanken bauten eine
persönliche Vertrauensbeziehung auf, ein Vertrauen, das sie anschließend ziemlich miss-
brauchten. Bei der großen Amsterdamer Wechselbank ist der Kundenkontakt weniger per-
sönlich, der Kunde vertraut auf das Banksystem. Das Institut oder die ‚Marke‘ übernimmt
die Rolle der persönlichen Beziehung. Auf diese Weise wird das System skalierbar, und
am Ende reicht es sogar, dass eine Wechselbank als Autorität besteht, weil die echten
96 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Sicheres Wechseln, Verwahren, • Starke und durch die Stadt Amsterdam
Überweisen und Abheben von Geld formalisierte und geschützte Position im
Wechsel- und Zahlungsverkehr
+ • Mittelpunkt in führender internationaler
Handelsposition von Amsterdam und den
Prozess Wie bekomme ich es?
• Gemeinsam geteilte und bekannte Niederlanden mit VOC, WIC und
Standards auf dem Finanzmarkt Aktienbörse

+ Wettbewerber
• Nationale Konkurrenz durch Banken, die
Gefühl Was fühle ich dabei?
• Ruhe und Vertrauen im Wechsel- und Zinsen geben können und Geld verleihen
Zahlungsverkehr • Internationale Konkurrenz durch Banken
in anderen Handelsstädten und Ländern

Preis Was kostet es? Zielgruppe


• Angemessene Vergütung für • Händler in Amsterdam und international
Verwahrung und Transaktionen
Kundeneinblicke
+ • Ruhe, Reinheit und Regelmäßigkeit ist
eine notwendige und wertvolle Basis für
Aufwand Was muss ich dafür tun?
• Geschäfte einfach tätigen mit stabilen internationalen Handel
Handelspartnern oder Kassierern und
ggf. bei der Wechselbank selbst

+
Risiko Wie unsicher ist es?
• Zusätzliche Sicherheit durch 100%iges
Garantiesystem der Stadt Amsterdam

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 5.2  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente der Amsterdamer Wechselbank


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 97

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Bankgulden als harte virtuelle Währung • Promotion und Exklusivität bei der
mit Agio als Mechanismus zur Gründung durch die Stadt Amsterdam
Kompensation von Gewichts- und • Wachstum auf Basis des Renommees
Wertverlust von im Umlauf befindlichen und von Mundpropaganda
Gulden • Standard für Handelstransaktionen mit
• Produktangebot rund ums Wechseln, einem Wert von über 600 Gulden mit
Verwahren, Überweisen und Abheben der VOC in Amsterdam
von Geld mit handelbaren Instrumenten • Netzwerkeffekte mit Händlern auf
wie Wechselbriefe und (ab 1683) nationaler und internationaler Ebene
Empfangsscheinen • Prägung von Gulden im Tausch gegen
• Bahnbrechendes Leitbild und raue und gemünzte Edelmetalle
Fachwissen in puncto Wechselkurse,
Finanzinstrumente und Mechanismen Kundenkontakt & Zusatzdienste
im Wechsel- und Zahlungsverkehr • Direkte Kontakte beim Wechseln,
Verwahren, Überweisen und Abheben
Lieferanten & Partner • Entwicklung zur Rolle einer
• Produzenten und Lieferanten von Zentralbank und Auffangnetz hinter
Edelmetall und 800 Münzsorten den direkten Transaktionen auf dem
• Behörden und insbesondere die Stadt Finanzmarkt
Amsterdam • Verknüpfung mit dem Handelsverkehr
• Nationale und internationale der Aktienbörse, VOC und WIC sowie
Dienstpartner und Finanzpartner wie mit dem Handel von Edelmetallen
andere Wechselbanken

Abb. 5.3  Betrieb und Kanäle der Amsterdamer Wechselbank


98 J. Kemperman et al.

täglichen Banktransaktionen im Handel immer mehr von Wechslern und kommerziellen


Banken ausgeführt werden und die Wechselbank diesbezüglich keine Rolle mehr spielt.

Betrieb: Finanzielles Instrumentarium in der Praxis entwickeln


Das Herzstück des Sortiments und des Betriebs der Wechselbank ist der Bankgulden.
Durch das Hebelsystem mit einem Agio im Vergleich zu den Münzgulden ist das eine
selbst geschaffene neue Realität, die den Geldmarkt verändert. Der Betrieb und das
Fachwissen werden anschließend rund um die elementare Rolle einer Bank aufgebaut,
Münzgeld und Edelmetall in Bankgulden zu wechseln. Zur Deckung werden Münzgeld
und Edelmetall prinzipiell verwahrt, wobei diese ggf. wieder ausgezahlt werden kön-
nen. Im Wesentlichen sind es aber Guthaben in Bankgulden, mit denen auch die Trans-
aktionen getätigt werden. In der Praxis sind das echte Münzgeld und Edelmetall immer
weniger sichtbar und kaum noch notwendig; offiziell kann beides auch nicht einmal
mehr abgehoben werden. Abgesehen von den Wechselbriefen, die ab 1609 zum Einsatz
kommen, werden ab 1683 auch Empfangsscheine ausgegeben, die sich noch zu einem
direkten Zahlungsmittel weiterentwickeln. Darüber hinaus betreibt die Wechselbank mit
kleinen Änderungen beim Agio tatsächlich eine Wechselkurspolitik für den Bankgulden.

5.1.3 Das Ergebnis: Gemeinsames Interesse

Gegensätzliche Interessen und Spekulanten können einen Markt destabilisieren. Ein ein-
faches Beispiel dafür ist das Stutzen von Münzgeld. Die Wechselbank kann erfolgreich
ein System realisieren, das für alle Beteiligten einen Wert hat, weshalb alle an der Auf-
rechterhaltung dieses Systems interessiert sind. Für ihr Geld bekommen die Menschen
offizielle Bankgulden in Form eines Papiers wie beispielsweise eines Wechselbriefs oder
eines Empfangsscheins. Indem sie Vertrauen in die Wechselbank setzen und den Bank-
gulden verwenden, erheben die Beteiligten diese geschaffene virtuelle Recheneinheit
in den Stand eines echten wertbeständigen Geldes. Es beginnt in Amsterdam, aber ver-
breitet sich auf der ganzen Welt. Als Folge davon füllen die Amsterdamer Händler und
internationalen Parteien die Schließfächer der Wechselbank unter dem Dam mit unge-
ahnten Mengen an Münzgeld und Edelmetall. Es werden sogar Schienen angelegt, um
die schweren Geldkisten zu bewegen. Einige spezielle Sicherheitsvorrichtungen des
Tresors sind erhalten geblieben, zum Beispiel die feuerfeste Eisentür mit verschiedenen
Schlüsseln, damit diese nur zusammen mit anderen Verantwortlichen geöffnet werden
kann. Aber auch die Fenster mit schwerer Vergitterung und Schatzkisten aus Eisen mit
Geheimschlössern sind noch zu sehen. Die Wechselbank war ein Fels in der Brandung
oder – um es mit den Worten des Dichters Vondel zu sagen – ein „Fels aus Metall“.
Die Stadt Amsterdam ist Eigentümerin der Wechselbank und will die Stadt zu einem
weltweiten Handelszentrum für Waren machen. Dieses wachstumsunterstützende Ban-
king bringt auch noch Geld ein, wie eine erhaltene Holzschnitzerei auf dem Tresen der
Wechselbank veranschaulicht: ein Füllhorn, aus dem ein großer Berg Münzen zum Vor-
schein kommt. Mit den Gebühren, die die Wechselbank für das Wechseln, Verwalten,
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 99

Überweisen und Auszahlen von Geld erhebt, werden die Kosten mehr als ausgeglichen.
Im Gegenzug legt Amsterdam die Rolle der Wechselbank in seiner Gesetzgebung fest
und die Stadt garantiert den Kontoinhabern den Wert des Geldes und die Rückzahlung.
So wird das Vertrauen bei den Kunden geweckt. Es kommt erst zu Problemen, als ab
1780 unter dem Druck der gleichen Regierung die hohe Deckungsquote freigegeben
wird und auch die Stadt selbst sich Geld von der Bank leiht. Auf diese Weise wird deut-
lich, dass es nicht immer klug ist, Politikern direkten Einfluss auf die Zentralbank zu
geben, und dass die Generierung von Geld falsch läuft, wenn die falschen Schuldner
daran beteiligt sind und/oder das Vertrauen verloren geht.
Bei der Wechselbank arbeitet ein Dutzend Menschen, die gut bezahlt werden. Der
Vorstand mit anfänglich drei und schließlich sechs Mitgliedern ist mit enormen Macht-
befugnissen ausgestattet und genießt hohes Ansehen, das man in der erhalten gebliebe-
nen Vorstandsetage immer noch fühlen kann. Die Wechselbank hatte dann auch keine
Schwierigkeiten, die Vertrauenspositionen mit äußerst fähigen und integren Mitarbeitern
gut zu besetzen. In Anbetracht des großen Interesses an starkem Vertrauen werden Sün-
der hart und in aller Öffentlichkeit bestraft. Ein Beispiel dafür ist der Buchhalter Rutger
Vlieck, der in einem Zeitraum von 20 Jahren den ungeheuren Betrag von 300.000 Gul-
den beiseiteschaffen konnte. Das entspricht fünf Mal dem Jahresgewinn und 15 % des
eigenen Vermögens der Bank! Vlieck wird 1673 auf dem Dam gegenüber seines alten
Arbeitsplatzes enthauptet (vgl. Dehing 2012).
Die Amsterdamer Wechselbank liefert einen enormen gesellschaftlichen Wert als eine
der Säulen, die die Entwicklung Amsterdams zum weltweiten Handels- und Finanz-
zentrum tragen. Der Wert spiegelt sich auch in harten Zahlen – in der bereits genann-
ten gewünschten und realisierten niedrigen Inflation – wider. Die Qualität des einfachen
Münzgeldes wird verbessert, weil sich das ‚Kappen‘ der Münzen nicht mehr lohnt
(Abb. 5.4).
Auch tragen die Stabilität und Zugänglichkeit von Geld dazu bei, dass sich Unterneh-
men der Republik der Vereinigten Niederlande und die Obrigkeit sehr günstig Geld lei-
hen können. Das ist ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil. So bezahlt die VOC zu Beginn
des 17. Jahrhunderts für Darlehen über 6 %, während der Zinssatz in Antwerpen in die-
ser Zeit bei ca. 10 % liegt. Es ist auffällig, dass die Zinsen, die der niederländische Staat
bezahlt, Mitte des 17. Jahrhunderts auf ca. 5 % herabsinken und zu Beginn des 18. Jahr-
hunderts zeitweise sogar nur etwa 3 % betragen. Heutzutage ist das Vertrauen in die
wirtschaftliche Stabilität immer noch die Basis für strukturell niedrige Zinsen auf nie-
derländische Staatsschuldtitel. Sogar das Unvorstellbare ist eingetreten: So wie bei der
Wechselbank die Deponierung von Geld gebührenpflichtig war, so wurde auch 2014 und
2015 ein Negativzins auf niederländische Staatsanleihen erhoben.

5.1.4 Die brillanten Lektionen der Amsterdamer Wechselbank

Die Amsterdamer Wechselbank ist das Vorbild für Zentralbanken in den Niederlanden
(1814), aber auch für Zentralbanken in den späteren Finanzhauptstädten der Welt wie
100 J. Kemperman et al.

Wert für und durch Kunden


• Aus der virtuellen Münzeinheit Bankgulden eine echte neue Währung machen, die auch
als solche wahrgenommen und behandelt wird
• Vertrauen bzw. Treue beim Wechseln, Verwahren, Überweisen und Abheben von
Geld und Edelmetall
• Mundpropaganda und Verbreitung der Wechselbank durch Einsatz in internationalen
Transaktionen

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Sehr respektable und mächtige • Die Stadt Amsterdam verankert die
Position im Zentrum der Position der Wechselbank in der
internationalen Handelsmacht Gesetzgebung und bürgt zu 100 %
• Treue für die Bank und Realisierung des • Die Wechselbank ist einer der
in die Mitarbeiter gesetzten Vertrauens Trümpfe, mit denen sich Amsterdam
zu einem weltweiten
Handelszentrum im 17. und
18. Jahrhundert entwickeln kann

Wert für und durch die Gesellschaft


• Inflation 150 Jahre lang bei 2 % pro Jahr, wodurch ein stabiler Zahlungsverkehr mit
eindeutigen Wechselkursen entsteht
• Stabile Preise, Einkommen und Vermögen
• Einwohner Amsterdams profitieren von der Rolle der Stadt als internationales
Handelszentrum, was u. a. durch die Wechselbank ermöglicht wurde
• 18.600 Treffer (bei Google)
• Positive Bewertung Top 25: 96 % (bei Google)

Abb. 5.4  Wertschöpfung für und durch Stakeholder der Amsterdamer Wechselbank


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 101

London (1694) und New York (1853). Durch die Jahrhunderte hindurch preisen einfluss-
reiche Denker die Amsterdamer Wechselbank: Der Britische Diplomat William Temple
bezeichnet sie 1672 als einen wichtigen Grund für die niederländische Blütezeit, die
sicherer ist als der eigene Tresor (vgl. Shorto 2013). Voltaire beschreibt ihre Rolle 1751
im Katastrophenjahr, Adam Smith widmet ihr 1776 ein komplettes Kapitel in „Der Wohl-
stand der Nationen“, Karl Marx lobt die Bank 1867 in „Das Kapital“ und Galbraith rühmt
sie 1970 als „Hüterbank, die ihrer Zeit voraus war“ (vgl. Nieuwkerk 2005). Warum wur-
den alle diese Menschen so von der Amsterdamer Wechselbank inspiriert und was können
wir, abgesehen von vielen Grundlektionen über (Zentral-)Banken, noch daraus lernen?

• Beim Zahlungsverkehr geht es um Vertrauen und Integrität. Die Finanzkrise von 2008
hat erst kürzlich gezeigt, wie wichtig Vertrauen für ein nachhaltiges Finanzsystem ist
und wie schwerwiegend die Folgen sind, wenn das Vertrauen in das Niveau des Sys-
tems und die Institute schwindet. Die Amsterdamer Wechselbank ist ein elementares
Beispiel dafür, wie Vertrauen geschaffen werden kann und wie es mit dem gewon-
nenen Vertrauen funktioniert. Gleichzeitig gibt ihr endgültiger Zusammenbruch Auf-
schluss darüber, was passiert, wenn das Vertrauen beschädigt wird.
• Vision wird Wirklichkeit. Die Wechselbank zeigt, dass ein Unternehmen eine Vision
bei Menschen hervorrufen kann, die so stark ist, dass Menschen ihr Verhalten danach
ausrichten und sie anschließend auch Wirklichkeit wird. Das ist geschehen mit der
Erfindung des modernen Papiergelds, das es vorher nicht gab. Dafür muss man groß
denken und innovativ und schlagfertig auftreten können. Durch die Vision, die Men-
schen Wirklichkeit haben werden lassen, werden die Spielregeln verändert.
• Praktisch mit dem Strom schwimmen, um das Ziel zu erreichen. Die Amsterda-
mer Wechselbank musste bestehende Mechanismen wie das ‚Kappen‘ von Münzen
und die Aktivitäten von Wechslern stoppen. Wo am Ziel eisern festgehalten wurde,
bediente man sich nicht dogmatischer, sondern pragmatischer Methoden, um das
Ziel zu erreichen. So wurde das Agio aus der informellen Wechselökonomie nicht
bekämpft, sondern formalisiert, was anschließend half, das Ziel zu erreichen. Das Ver-
bot der Aktivitäten von Wechslern und Privatbanken wurde zum richtigen Zeitpunkt
wieder aufgehoben, aber in der Zwischenzeit hatte die Wechselbank eine Schlüs-
selposition eingenommen. Die Wechsler und Banken konnten danach sogar für die
Durchführung der tatsächlichen Transaktionen auf dem Markt herangezogen werden.
Dadurch konnte die Wechselbank die Rolle der Zentralbank erfüllen.
• Politische Einmischung auf der Basis von Kurzzeitinteressen ist tödlich. Trotz einer
Phase des wirtschaftlichen Rückgangs im 18. Jahrhundert konnte sich die Wechsel-
bank ungewöhnlich gut behaupten. Der Niedergang setzte erst ein, als man sich unter
enormem politischem Druck vom bis dahin durch Umsicht geprägten Handeln ver-
abschiedete. Das Schöpfen von Geld, indem man als Obrigkeit selbst mehr leiht und
darauf dringt, auch Geld an große Institute zu verleihen, die in Schwierigkeiten ste-
cken, scheint kurzfristig eine rettende Lösung zu sein. Aber auf lange Sicht kann ein
solches Gebaren auch großen Schaden anrichten.
102 J. Kemperman et al.

• Leuchtendes Beispiel für niedrige Zinsen und Inflation. Die Wechselbank ist zwei
Jahrhunderte lang ein leuchtendes Beispiel dafür, dass niedrige Zinsen langfristig
möglich sind, wenn die monetäre Umgebung solide ist, die Währung stabil bleibt und
die Inflation niedrig gehalten wird.

5.2 Visa

Die in diesem Abschnitt darstellte Fallstudie wurde von Floor Burgers und Jennifer op ’t Hoog
verfasst.

Flexibler durch das Leben


Prolog
Über einen Kontakt von einem Kontakt auf LinkedIn lernte ich einen Mitarbeiter von
Visa Nederland kennen. Wir verabredeten uns zum gemeinsamen Mittagessen gegen-
über von seinem Arbeitsplatz. Über Google versuche ich, die Adresse des Visa-Büros
in Amsterdam herauszufinden, aber das ist gar nicht so einfach. Ich finde vor allem
Antworten auf die Frage, wo man Visumsanträge für Fernreisen stellen kann. Der
Adresse des Restaurants nach zu urteilen liegt das Visa-Büro in der Nähe der Amster-
dam Arena. Als ich am Tag des Mittagessens noch schnell überprüfe, mit wem genau
ich mich treffe, wird mir klar, dass ich eine Verabredung mit dem Country Manager
von Visa Nederland habe. Zum Glück habe ich noch am gleichen Morgen Obama und
Co. mit Hubschraubern auf dem Rijksmuseum landen sehen. Das hilft mir, meine Ver-
abredung wieder zu relativieren…
Nach einem angeregten Gespräch laufen wir gemeinsam zurück in Richtung Büro
und Bahnhof. Das Büro von Visa ist mir immer noch nicht aufgefallen, deshalb frage
ich, bevor ich mich verabschiede, noch schnell nach, wo genau es sich befindet. Ins-
geheim möchte ich es mir gern von innen ansehen. Zu meiner großen Verwunderung
stellt sich heraus, dass ich bereits vor dem Büro von Visa Nederland stehe. „Da wir
nur zu dritt sind, mieten wir einfach einen Raum in diesem Gebäude.“ Jetzt fällt es
mir wie Schuppen von den Augen. Visa ist ein unantastbarer, einflussreicher und
brillanter Player in der Welt des Bezahlens. Gleichzeitig ist es ein Ort, an dem nur
wenige Menschen arbeiten und sich Spezialisten um das Funktionieren eines Sys-
tems kümmern, das den weltweiten Zahlungsverkehr ermöglicht. Mit einem breiten
Lächeln im Gesicht gehe ich in Richtung Bahnhof. Das verspricht eine interessante
Geschichte zu werden!

Einleitung
Der War on Cash ist der kommerzielle Kampf, der seit 1976 von Visa geführt wird.
Mit der Einrichtung eines zuverlässigen und schnellen Zahlungssystems ermöglicht
Visa die Zahlung mit einer Karte statt mit Bargeld oder Scheck. Visa hat sowohl
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 103

Guthabenkarten als auch Kreditkarten auf den Markt gebracht; die Marke ver-
dankt ihre Bekanntheit vor allem Letzteren. Deshalb liegt der Schwerpunkt dieser
Fallstudie auch auf der Kreditkarte. Die Visa World Card ist die weltweit am meis-
ten akzeptierte Kreditkarte. Allein in den Niederlanden kann man damit an über
90.000 Adressen einfach und sicher bezahlen.6 Weltweit ist die Bezahlung an über
36 Mio. Orten möglich.7 Der Kampf gegen Bargeld ist noch nicht beendet. Es gibt
immer noch Orte auf der Welt, an denen die Nutzung eines digitalen Zahlungssys-
tems nicht möglich ist und Visa deshalb immer noch viel Wachstumspotenzial hat.
Der schnell ansteigende Wert der Anteile zeigt, dass Visa immer noch erfolgreich
und kampflustig ist.8
Visa wird weltweit als Zahlungsmittel blind akzeptiert. Aber wie funktioniert die-
ses System eigentlich? Der Brillant von Visa glänzt nur, wenn seine Oberfläche von
vier Parteien geschliffen wird. Das Vier-Parteien-System ist der wichtigste Erfolgs-
faktor des Unternehmens und ist deshalb für das Verständnis des Businessmodells von
Visa essenziell. Es besteht aus:

• dem Karteninhaber: der mit Kreditkarte zahlende Bürger/Verbraucher;


• dem Akzeptanten: die Verkaufsstellen (z. B. Unternehmen oder Geschäfte), die
einen Vertrag mit einem Finanzinstitut (häufig Banken) für die Annahme und Ver-
arbeitung von Kreditkartentransaktionen abgeschlossen haben;
• dem Verarbeiter: das Finanzinstitut, das die Zahlungsdaten für den Akzeptanten
verarbeitet;
• dem Aussteller: das Finanzinstitut, das die Kreditkarte ausstellt.

Visa selbst stellt keine Kreditkarten aus und schließt auch keine Verträge mit Akzep-
tanten ab. Das machen die Unternehmen, die die Rolle des Ausstellers und/oder Verar-
beiters, die Mitglieder von Visa, einnehmen.9
Der Aussteller und der Verarbeiter nutzen die bereits im Besitz der Bank befind­
liche Kundendatei, um einen Vertrag mit den Karteninhabern und Akzeptanten abzu-
schließen. Der Karteninhaber und der Akzeptant sind indirekte Kunden von Visa. Weil
Karteninhaber und Akzeptant ihre Bankgeschäfte meistens nicht über die gleiche
Bank abwickeln, sind häufig zwei Banken an der Transaktion beteiligt. Der Ausstel-
ler ist die Bank des Karteninhabers und der Verarbeiter die Bank des Akzeptanten.
Ein Finanzdienstleister kann also je nach Transaktion der Aussteller und/oder der

6http://www.emscard.com/nl/producten-en-diensten/acceptatie-van-betalingen-op-locatie/credit-

card.
7Visa Inc. (2013).

8Visa Inc. (2013).

9Interview Visa Nederland.


104 J. Kemperman et al.

1 Aussteller 2 Verarbeiter

4 Karteninhaber 3 Akzeptant

Abb. 5.5  Visa-Modell. (Quelle: Understanding Visa Businessmodel, 2012)

Verarbeiter sein. Zusammen bilden sie das Vier-Parteien-System. Darin erfolgen die
Transaktionen formell über Visa, das die Transaktionsverarbeitung ermöglicht und
bestimmt, welche Aussteller und Verarbeiter eine Lizenz für die Teilnahme am Sys-
tem erhalten. Das Vier-Parteien-System ist eine Initiative von Visa und hat für ein
exponentielles Wachstum des Unternehmens gesorgt (vgl. Abb. 5.5).

5.2.1 Das Fundament: Das Visum für weltweiten Zahlungskomfort

Vor der Gründung von Kreditversicherungsgesellschaften wurde nahezu sämtlicher


Geldtransfer physisch ausgeführt. American Express kümmert sich in dieser Zeit um
den Transfer von Wertgegenständen, die häufig sehr schnell, versichert und per Ein-
schreiben versendet werden. Diese Tatsache spiegelt sich im alten Logo von American
Express wider, das einen Kutscher zeigt. Es war zwar nicht genauso wie in den Filmen
und Comics, aber es gab viele Überfälle auf diese Kutschen. Deshalb entwickelt sich
American Express von einem Transportunternehmen für Wertgegenstände zu einer Kre-
ditgesellschaft. So ist die erste Kreditkartengesellschaft entstanden. Anschließend wird
auf Initiative von Bloomingdale und McNamara 1950 der Diners Club gegründet. Die-
ser Club stellt eine Karte aus, mit der die Karteninhaber bei 27 Restaurants in New York
bezahlen können. Es ist eine Reaktion auf das Bedürfnis von Geschäftsleuten, einfach
ohne Bargeld bezahlen zu können und vermutlich gleichzeitig zu zeigen, dass man zum
Inner Circle gehört. Vor der Nutzung der Karte müssen die Kunden einen festen Bei-
trag bezahlen. Der Diners Club kümmert sich um die Zahlung an die Unternehmen und
sendet monatlich eine Rechnung an seine Mitglieder. Was als ein Lifestyle-Gag beginnt,
wird ein großer Erfolg.
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 105

Der Erfolg von Diners Club veranlasst die Bank of America (später Visa) 1958 zur
Ausgabe der BankAmericard (vgl. De Nederlandse Bank 2010). Der Unterschied zu
American Express und Diners Club ist, dass die Bank of America die Rolle des Aus-
stellers und Verarbeiters nicht selbst übernimmt, sondern diese Aufgabe der Bank des
Karteninhabers und der Bank des Akzeptanten überlässt.10 So entwickelt sich das Vier-
Parteien-System. American Express und Diners Club arbeiten zu dem Zeitpunkt mit
einem Drei-Parteien-System. In den nächsten elf Jahren beantragen verschiedene Ban-
ken eine Genehmigung für die Nutzung des Zahlungssystems der Bank of America,
sodass ein immer größeres Bankennetz dem Zahlungssystem angeschlossen wird. In den
1960er Jahren erteilt die Bank of America Lizenzen an Banken in verschiedenen anderen
Ländern, sodass auch auf internationaler Ebene das Wachstum voranschreitet. Auf diese
Weise entstehen Karten mit lokalen Markennamen, z. B. die Carte Bleu in Frankreich
und die Barclaycard in Großbritannien. 1976 fällt die Entscheidung, die internationa-
len Netzwerke zu einem Netzwerk mit einem Namen zusammenzuschließen. Ab diesem
Zeitpunkt ist die Bank of America eine unabhängige Einheit, die unter der gemeinsamen
Weltmarke Visa vereint ist – mit dem höheren Ziel, jedem, sei es in den größten Städ-
ten der Welt oder in den abgelegensten Regionen, Zugang zu einem elektronischen Zah-
lungssystem zu geben.11 Um einen geeigneten Namen für das Unternehmen zu finden,
schreibt der Gründer Dee Hock einen Wettbewerb aus, bei dem der Gewinner 200 US$
(188 EUR) gewinnen kann. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Visa ein Visum
für die Zahlung weltweit bietet und aus der Überzeugung heraus, dass das Wort universal
akzeptiert und verstanden wird, fällt die Entscheidung auf Visa als Gewinner (vgl. De
Nederlandse Bank 2010). Heute ist der Begriff Visa ein Akronym für Visa International
Service Association.
Bis 2007 funktioniert Visa wie ein Netzwerk, aber gleichzeitig ist es auch eine Reihe
lockerer Einheiten, deren Eigentümer regionale Banken weltweit sind. Im März 2008
(etwa ein halbes Jahr vor den ersten Anzeichen der Finanzkrise) geht Visa an die Börse
und verzeichnet dabei einen der erfolgreichsten Börsengänge in der Geschichte. Fast alle
Einheiten gehen den Schritt an die Börse mit, die einzige Ausnahme ist Visa Europe.
Visa Europe ist ein selbstständiger Mitgliedsverband mit einer unbefristeten Lizenz für
den Betrieb von Visa Inc. Die Rechte und Pflichten rund um die Marke Visa sind Eigen-
tum von Visa Incorporate, auf das wir uns beziehen, wenn es in dieser Fallstudie um das
Unternehmen Visa geht (vgl. De Nederlandse Bank 2010). Die hier aufgeführten Bei-
spiele oder Zahlen aus den Niederlanden sind Ergebnisse von Visa Europe.
Das gewagte Ziel von Visa ist es, das geläufigste, akzeptierteste, einfachste, sicherste
und zuverlässigste Zahlungssystem der Welt zu bieten. Ein Zahlungssystem, das Lan-
desgrenzen überschreitet und für jeden ein geeignetes Produkt bietet. Um dieses Ziel
zu erreichen, sind Zuverlässigkeit (mit der dazugehörigen Sicherheit), Einfachheit (für

10Interview Visa Nederland.


11http://en.wikipedia.org/wiki/Visa_(credit_card).
106 J. Kemperman et al.

Effizienz und Komfort) und Omnipräsenz (um weltweit das gängigste und akzeptierteste
System zu werden) die Werte, auf deren Grundlage Visa seinen Betrieb organisiert. Die
Kernqualität von Visa besteht darin, diese Werte im fragmentierten Geschäft des Zah-
lungsverkehrs anzuwenden und so die vier Parteien zu verbinden. Natürlich ist es für
Visa eine große Herausforderung, die Werte auch an Orten zu realisieren, an denen das
Finanzsystem noch nicht (vollständig) entwickelt ist. Mit der Einführung des weltweit
ersten echten elektronischen Autorisierungs-, Abrechnungs- und Abwicklungssystems
(VisaNet) ermöglicht Visa die Verarbeitung von 12.000 Transaktionen pro Sekunde aus
über 200 Ländern.12 Visa ist das größte Zahlungssystem der Welt13 und weltweit eine
führende Finanztransaktionsmarke14 (vgl. Abb. 5.6).

5.2.2 Das Businessmodell: Immer erreichbar

Visa kann als ein Technologieunternehmen betrachtet werden, das weltweite Zahl­
ungen mithilfe eines Netzwerks ermöglicht, das für verschiedene Parteien ein Wert-
angebot bereithält. Die Nutzung des Systems durch eine der Parteien vergrößert den
Mehrwert für die anderen Parteien, wenn sie dem System beitreten. Diese Netzwerkef-
fekte oder -externalitäten sind ein bekanntes Phänomen in Arbeitsfeldern, bei denen es
um Transaktion und Interaktion geht. Abgesehen vom Finanzdienstleistungssektor sind
diese auch vorherrschend in der Telekommunikation, in der Informations- und Kom-
munikationstechnologie sowie in den sozialen Medien. Auch hier geht es häufig um
Businessmodelle, bei denen mehrere Rollen zugewiesen werden, und nicht so sehr um
eindimensionale Lieferanten-Kunden-Beziehungen. Gleiches gilt auch für LinkedIn (vgl.
Fallstudie in Kemperman, Geelhoed, op ’t Hoog 2013). Das Unternehmen hält Doppel-
rollen für seine Stakeholder bereit. Kunden (Nutzer) sorgen für den Inhalt und sind so
auch Lieferant. Sie schaffen ein Wertangebot füreinander und durch sich selbst und sind
darüber hinaus auch wertvoll für die Personalvermittler, die LinkedIn größtenteils finan-
zieren.

Marktsegmente: Die Welt liegt einem zu Füßen


Visa richtet sich an zwei Zielgruppen: Anbieter (Aussteller und Verarbeiter) und Abneh-
mer (Karteninhaber und Akzeptanten), wobei die Anbieter die Mitglieder von Visa und
die Abnehmer die gemeinsamen Kunden sind. Derzeit gibt es weltweit 14.600 Aussteller
und Verarbeiter, 36 Mio. Akzeptanzstellen und 2,1 Mrd. Karteninhaber.15 Ausgehend von

12Visa Inc. (2013).


13http://www.prnewswire.co.uk/news-releases/visa-completes-milestone-upgrade-to-visanet-bank-

card-clearing-system-155762755.html.
14http://www.bestglobalbrands.com/previous-years/2013.

15Visa Inc. (2013).


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 107

Markenkern: Weltweiter Zahlungskomfort

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Jedem, egal wo auf der Welt, Zugang zu • Gängigstes, akzeptiertestes, einfachstes,
elektronischen Zahlungsmöglichkeiten sicherstes und zuverlässigstes
geben Zahlungssystem der Welt

Markenursprung Markenversprechen
• 1958 Einführung der BankAmericard, der • Weltweit Geld über Landesgrenzen hinaus
ersten Kreditkarte für Verbraucher transferieren, einfach, zugänglich und
• 1970 Gründung von Visa als eine Einheit zuverlässig
• 2008 Börsengang von Visa

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Zuverlässig • Verbindung
• Einfach • Partnerschaft
• Omnipräsent • Innovation

Markenbeweis
• In 200 Ländern vertreten
• 12.000 Transaktionen pro Sekunde
• Führte das weltweit erste
Autorisierungs-, Abrechnungs- und
Abwicklungssystem ein (VisaNet)

Abb. 5.6  Leitbild und Positionierung von Visa


108 J. Kemperman et al.

einer Weltbevölkerung von ca. 7 Mrd. Menschen bedient Visa 30 % des Weltmarkts. Auch
bei uns hat Visa einen großen Marktanteil, auch wenn die Niederlande seit jeher nie wirk-
lich ein Kreditkartenland waren, was u. a. an dem gut entwickelten bargeldlosen Zah-
lungsverkehr liegt. Erst 1980 beschließen die niederländischen Banken, den Fokus mehr
auf Kreditkarten zu richten. Und dann geht es doch ziemlich schnell. Waren zu Beginn der
1980er Jahre noch keine 200.000 Kreditkarten im Umlauf, waren es 2010 ungefähr 6 Mio.
(davon 2 Mio. von Visa). Das ist eine Verdreißigfachung in nur drei Jahrzehnten.
Die zwei größten Wettbewerber von Visa sind MasterCard und American Express.
In den Niederlanden ist MasterCard mit über drei Millionen Karteninhabern größer als
Visa,16 doch weltweit betrachtet ergibt sich ein anderes Bild: hier hält Visa einen grö-
ßeren Marktanteil. Ungefähr 85 % des weltweiten Umsatzes mit Kreditkarten wird über
Visa oder MasterCard abgewickelt. MasterCard hat 850 Mio. Kreditkarten ausgestellt
(vgl. De Nederlandse Bank 2010). American Express ist kleiner und richtet sich an ein
wirtschaftlich höheres Segment (Verbraucher mit einem durchschnittlich doppelt so
hohem Einkommen wie Karteninhaber von Visa World Card oder MasterCard). Ein wei-
terer Unterschied tritt zutage in Ländern mit einer weniger entwickelten Finanzdienst-
leistungsinfrastruktur wie etwa Zentralafrika. Hier ist Visa vertreten, Wettbewerber gibt
es nicht. Und hier zeigt Visa große Ambitionen, um tatsächlich weltweit die Standards
im Zahlungsverkehr zu setzen.
Abgesehen von diesen großen etablierten Wettbewerbern tauchen am Horizont noch
einige andere Bedrohungen auf. Verbraucher, Wettbewerber und Gesetzgeber versuchen,
der Dominanz von Visa und MasterCard und ihrer Preisbildungsmacht zu entkommen.
Neue Wettbewerber haben es ständig auf die hohen Gewinne abgesehen, die die Player
in diesem Zahlungsoligopol auf der Grundlage ihrer Standards verbuchen. Der Preiskrieg
hat also begonnen. Neue Techniken schaffen neue Wettbewerber wie PayPal, Facebook,
Apple und Google. Dabei zeigen Player wie M-Pesa, GCash und Bima in Entwicklungs-
ländern, welche Möglichkeiten das Finanzwesen in Kombination mit Mobiltelefonie bie-
tet (vgl. Fallstudie in Kemperman, Geelhoed, op ’t Hoog 2013; Fallstudien in diesem
Buch). Visa arbeitet hart daran, diesen Wettbewerbern voraus zu sein, u. a. indem es
seinen Fokus auf neue innovative Zahlungsmethoden mit Partnern richtet.17 Der Vorteil,
der sich dabei für Visa ergibt, ist, dass sein System nahtlos an die neuesten Innovationen
anknüpft. Die neuen Wettbewerber aus den sozialen Medien und der Mobiltelefonie sind
häufig auch wieder (potenzielle) Partner, die eine oder mehrere Rollen im Vier-Parteien-
System übernehmen können. Visa hat also immer noch eine Daseinsberechtigung, den-
noch besteht die Herausforderung natürlich darin, diese Rolle auch in Zukunft ausfüllen
zu können.

16http://www.internetkassa.nu/credit-card.

17Interview Visa Nederland.


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 109

Ein Beispiel für die Zusammenarbeit mit neuen Playern zu Innovationszwecken ist
die Kooperation zwischen Visa Nederland und Vodafone (das auch an M-Pesa beteiligt
ist), bei der Visa hinter den Kulissen die Zahlung per Smartphone ermöglicht. Für Visa
Nederland ist Vodafone einer der ersten Kooperationspartner, der nicht aus dem Finanz-
dienstleistungssektor kommt. Gleichzeitig passt diese Form der Partnerschaft hervorra-
gend zum Businessmodell, bei dem Visa über Dritte schließlich die Kunden bedient. Das
bedeutet auch, dass das Businessmodell von Visa nicht durch neue Player verändert wird.
Es werden nur einige Player im Arbeitsfeld ausgetauscht. So kommt es, dass Visa eine
schnelle Anpassungsfähigkeit besitzt und auf Marktinnovationen reagieren kann, ohne
an Bedeutung zu verlieren. Auffallend in puncto Innovation ist, dass Visa in Entwick-
lungsländern aktiv ist, was hervorragend zum höheren Ziel des Unternehmens passt. Das
sehen wir u. a. in der Einführung des mobilen Zahlungsprodukts Tigo Cash, das mobile
Zahlungen für Kleinbauern in Ghana sicherer und preiswerter ermöglicht. Ein anderes
Beispiel ist das mHMtaani-Projekt von Pathfinder International. „mHMtaani“ bedeutet
frei übersetzt „mobile Gesundheit für meine Gemeinschaft“. Berater und Sozialarbeiter
im Gesundheitswesen können damit ihre Patientenregistrierung vornehmen und Zah-
lungen per Mobiltelefon empfangen. Diese Innovationen gehen über das Finanzwesen
hinaus, da auch Dienstleistungen im Gesundheitswesen in Anspruch genommen wer-
den können, z. B. das Teilen von Gesundheitsdaten und Ergebnissen per Mobiltelefon.18
Laut Kundeneinblicken bezahlen Kunden gern mit Kreditkarte oder Debitkarte, weil es
bequem und sicher ist; und am liebsten kommen Kreditkarte und Co. natürlich bei einem
anerkannten und zuverlässigen Anbieter zum Einsatz.

Wertangebot für Kunden: Geld zeit- und ortsunabhängig verschieben (vgl.


Abb. 5.7)
Als zukünftiger Kunde von Visa kann man seine Kreditkarte bei einer ausstellenden Par-
tei beantragen. In den Niederlanden ist das beispielsweise über das Internet, per Post
oder bei einer Bankfiliale möglich. Nach Beantragung erhalten Sie die Karte innerhalb
von zwei Wochen. Die Bedingungen sind übersichtlich. Als ein in den Niederlanden
wohnender Niederländer kann man eine Visa World Card beantragen, wenn man min-
destens 18 Jahre alt ist, über eine Telefon- und Kontonummer verfügt, ein monatliches
Nettoeinkommen von mindestens 1150 EUR nachweisen kann und keinen Eintrag bei der
Meldestelle für Großkredite hat. Für Studenten wird beim Einkommen eine Ausnahme
gemacht: Mithilfe einer Bürgschaftserklärung können auch sie eine Visa World Card
erhalten. Die Bedingungen in anderen Ländern sind vergleichbar.19 Die Einkünfte bestim-
men die Höhe des Kreditlimits, und je niedriger das Limit ist, desto früher kommt man
in Betracht für eine Kreditkarte. Als Inhaber einer Visa-Kreditkarte bezahlt man in den
Niederlanden einen jährlichen Beitrag zwischen zwölf und 55 EUR, wobei die Kosten je

18http://nextbillion.net/blogpost.aspx?blogid=4191.

19http://www.credit.com/credit-cards/visa/.
110 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Immer und überall innerhalb von • 200 Länder und Regionen, 150 Millionen
Sekunden bezahlen können Transaktionen täglich
+ • 2,1 Milliarden Karteninhaber, 2 Millionen
Kartenlesegeräte und 36 Millionen
Prozess Wie bekomme ich es? Akzeptanzstellen
• 14.600 Aussteller und Verarbeiter
• Bezahlen per Visa-Kreditkarte mit PIN-
Code und/oder Unterschrift Wettbewerber
+ • Die größten Wettbewerber sind
MasterCard und American Express
Gefühl Was fühle ich dabei?
• Kleinere Parteien sind z. B. Diners Club,
• Vertrautheit, Freiheit und Luxus JCB, Discover Card
• Zukünftiger Wettbewerb kann durch
Preis Was kostet es? Player wie Google, Facebook und eBay
• Variiert je nach Land zwischen 0 und aufkommen
80 Euro jährlich; Für sofortige Zahlungen
Zielgruppe
fallen keine Gebühren an, für verzögerte
Zahlungen und überfällige Kredite Visa hat vier relevante Zielgruppen:
hingegen schon • Karteninhaber

+ • Akzeptanten
• Verarbeiter
Aufwand Was muss ich dafür tun? • Aussteller
• Ich beantrage meine Visa-Kreditkarte im Kundeneinblicke
Internet, bei der Post oder bei der Bank
und erhalte die Karte innerhalb von zwei • Die Zahlung mit der Karte bietet Komfort
Wochen und Sicherheit. Am liebsten nutzen
Kunden die Kartenzahlung bei einem
+ anerkannten und zuverlässigen Anbieter
Risiko Wie unsicher ist es?
• Geringes Risiko, 99,99999 %
Systemverfügbarkeit
Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 5.7  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Visa


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 111

nach Kartentyp variieren. Bei der Zahlung verwendet man seinen Pass in Kombination
mit einem PIN-Code und/oder Unterschrift. Zahlungen sind überall auf der Welt mög-
lich. Außerdem hat man als Karteninhaber die Möglichkeit, später zu bezahlen. Unter
­emotionalen Aspekten gibt das ein Gefühl von Sicherheit und Luxus. Erst am Ende des
Monats erhält der Karteninhaber die Abrechnung, für eine zeitverzögerte Zahlung inner-
halb der maximalen Frist fallen keine Gebühren an. Außerdem ist der Verbraucher bei
der Rückzahlung flexibel. Für den offenen Betrag, den der Verbraucher nicht innerhalb
der Frist von 21 Tagen ablöst, wird ihm mit 15 % ein relativ hoher Zins in Rechnung
gestellt. Als Kunde kann man über seine Ausgaben Buch führen, sodass man sein Geld
selbst verwalten kann. Das Visa-System ist immer verfügbar und schützt den Kunden vor
Verlust, Betrug und Diebstahl. Das größte Risiko liegt als nicht so sehr im Zahlungsver-
kehr, sondern in der Anhäufung von Schulden und der Aufsummierung von Zinsen.

Kanäle: Ein sich selbst stärkendes Netzwerk (Abb. 5.8)


Eine breit akzeptierte Kreditkarte ist für Karteninhaber attraktiv, während ein Zahlungs-
system, das von Kunden viel genutzt wird, wiederum für den Akzeptanten attraktiv ist.
So entsteht ein sich selbst stärkendes und weit verzweigtes Netzwerk. Visa macht primär
Geschäfte mit seinen Mitgliedern: den Ausstellern und den Verarbeitern. Gleichzeitig ist
es von großer Bedeutung, dass die Marke im Verbrauchermarkt solide positioniert ist.
Auf diese Weise erreicht Visa potenzielle Karteninhaber, so zum Beispiel mithilfe von
Sponsoraktivitäten bei der Fußballweltmeisterschaft oder durch Werbung auf Flughäfen.
Aber die echte Verbreitung der Marke findet über die 14.600 Aussteller und Verarbeiter,
die sie in ihrer Kommunikation verwenden, die 36 Mio. Akzeptanzstellen, die das Visa-
Logo auf ihre Tür geklebt haben, und die 2,1 Mrd. Karteninhaber, die ihre Karte sichtbar
verwenden, statt.

Betrieb: Brillante Technologie


Das System VisaNet, das weltweite Zahlungen ermöglicht, ist der Motor des Unterneh-
mens. Die Anstrengungen, die Visa für die Wartung dieses Systems unternimmt, dürfen
dann auch nicht unterschätzt werden. Pro Sekunde laufen einige Tausend Transaktionen
durch das System. Eine Störung auf diesem Niveau würde einen großen Teil des Zah-
lungsverkehrs auf der Welt lahmlegen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass das Sys-
tem sehr gut gesichert ist und bleibt. Einen erheblichen Teil seines Umsatzes gibt das
Unternehmen dann auch für die Wartung und insbesondere für die kontinuierliche Erneu-
erung des Systems aus. Und diese Erneuerungen sind für uns als Verbraucher direkt
sichtbar. Früher bezahlte man mit einer Pappkarte, auf der eine Nummer stand. Heute
ist die mobile, kontaktlose Zahlung der letzte Schrei.20 Dass Investitionen sich loh-
nen, ergibt sich aus der Tatsache, dass Visa Vorreiter auf dem Gebiet der elektronischen

20Interview Visa Nederland.


112 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• VisaNet ist ein hochmodernes • Physische Erkennbarkeit: Der
elektronisches Zahlungssystem und Aufkleber an der Tür von
Vorreiter im Rahmen der wachsenden Einzelhändlern oder digital bei Online-
Nachfrage nach elektronischer Zahlung Zahlungen
• Flexibles Systemdesign, das regionalen • Sponsoring der Olympischen und
Wünschen angepasst wird Paralympischen Spiele sowie der
• Produkte und Zusatzdienste sind für FIFA-Fußballweltmeisterschaft
jedes Gerät, jede Karte, jeden Laptop, und der National Football League
jedes Tablet und jedes Mobiltelefon
verfügbar
Kundenkontakt & Zusatzdienste
Lieferanten & Partner • Netzwerkeffekt: Jeder Nutzer und
• Aussteller Akzeptant von Visa macht die Marke
• Verarbeiter wertvoller
• Akzeptanten • Visa selbst hat keinen direkten
Kundenkontakt (nur Verarbeitung und
Verwaltung des Zahlungsverkehrs)

Abb. 5.8  Betrieb und Kanäle von Visa


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 113

­ ahlung ist. 2014 konnte das Unternehmen die Zahl der Nutzer mobiler Zahlungen auf
Z
80 Mio. verdoppeln.21 Diese Entwicklung macht Visa gemeinsam mit (inter)nationalen
Partnern und Vorreitern im mobilen Zahlungsverkehr, wie zum Beispiel SmartPass (eine
App für die mobile Zahlung) und mWallet, die beide mit der Vodafone Group entwickelt
wurden und u. a. in Deutschland und Spanien eingeführt wurden. Wichtig bei dieser
Entwicklung ist, dass das Netzwerk auch für neue Arten der Finanzierung relevant ist.
Hier kommt als Beispiel Kickstarter infrage, das aktiv im Crowdfunding ist: Die Geld-
geber bezahlen erst, nachdem die vollständige Finanzierung für ein Projekt sichergestellt
wurde. Ermöglicht wird das u. a. durch die Unterstützung von Kreditkarten und somit
auch von Zahlungsnetzwerken wie Visa.
Damit ein Finanzinstitut Aussteller von Visa-Kreditkarten sein kann, benötigt es eine
Lizenz, für die es nur infrage kommt, wenn es eine Reihe von durch Visa gestellte Bedin-
gungen erfüllt.22 Zu den Aktivitäten des Ausstellers zählen die Ausgabe von Kreditkarten,
der Versand von Kontoauszügen und die Einziehung der ausstehenden Saldi. Der Ausstel-
ler leistet dem Karteninhaber also Zusatzdienste. Der Aussteller erhält die Einnahmen des
Karteninhabers bei der Anschaffung der Karte und bei verzögerten Zahlungen.
Auch der Verarbeiter muss als Finanzinstitut über eine Lizens verfügen, bevor er
Transaktionen über das Visa-Zahlungssystem verarbeiten lassen kann. Wenn ein Akzep-
tant Visa nutzt, bedeutet das für den Verarbeiter zusätzliche Transaktionen und damit
Einnahmen. Ein Akzeptant zahlt dem Verarbeiter eine Provision, die sich meistens auf
ein Prozent des Transaktionsbetrags beläuft. Häufig ist der Verarbeiter ein anderes Finan-
zinstitut als der Aussteller, weil Karteninhaber und Akzeptant ihre Bankgeschäfte häu-
fig nicht bei der gleichen Bank abwickeln, aber das muss nicht zwangsläufig der Fall
sein (vgl. De Nederlandse Bank 2010). Als Akzeptant muss man mit den spezifischen
Produktbedingungen und den allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verarbeiters ein-
verstanden sein. Darin werden Aspekte geregelt wie das Verfahren bei Kartenakzeptanz,
die Bedingungen für garantierte Zahlung, die finanziellen Bedingungen und die Haftung
(vgl. De Nederlandse Bank 2010).

5.2.3 Das Ergebnis: Weltweites Vertrauen

Der Begriff „Globalisierung“ wurde zum ersten Mal von Theodore Levitt verwendet.23
Er definiert Globalisierung als „die Veränderungen in sozialen Verhaltensmustern und
Technologie, die es Unternehmen ermöglichen, das gleiche Produkt auf der ganzen Welt

21http://www.visa.nl/over-visa/pers/pers-en-nieuwsberichten/mobiele-betalingen-krijgen-een-

nieuwe-impuls-in-europa.
22Interview International Card Services (ICS).
23http://sociologiecom4.wordpress.com/2012/01/11/globalisering-2/.
114 J. Kemperman et al.

zu verkaufen“. Die Welt ist kleiner geworden. Produkte, die man im Internet bestellt,
werden aus der ganzen Welt zu einem nach Hause geliefert. Das Businessmodell von
Visa verstärkt diese Entwicklung, und gleichzeitig ist es auch die Globalisierung, die
Visa erfolgreich macht.
Nutzer von Visa haben eine positive Meinung über die Marke. Wenn es um die Wei-
terempfehlung des Unternehmens geht, punktet Visa im Vergleich zu seinen Wettbe-
werbern überdurchschnittlich.24 Das System vereinfacht Transaktionen, und gerade
an diesen Transaktionen verdienen die Stakeholder. Diesen Bezahlungen liegt das Sys-
tem von Visa zugrunde, das allen beteiligten Parteien Vorteile ermöglicht. Unter ande-
rem ermöglicht Visa den beteiligten Parteien ihre Einnahmen, und die danken es dem
Unternehmen mit großer Loyalität und der Möglichkeit, eine gute Marge zu erzielen.
Die Einnahmen von Visa setzen sich zusammen aus den einmaligen Kosten, die mit dem
Erhalt einer Lizenz verbunden sind, den jährlichen Mitgliedsbeiträgen für das Netzwerk
und einem Betrag pro Transaktion, die durch das System verarbeitet wird.25 Die Kosten
für eine Lizenz hängen von den spezifischen Wünschen des Ausstellers oder Verarbei-
ters ab. Dabei geht es um einen Betrag von einigen Zehntausend Euro; genaue Auskünfte
darüber gibt Visa allerdings nicht. Die Rendite pro Transaktion ist sehr marginal (Zehn-
telcent) und hängt von der Zahl der Transaktionen ab, die ein Mitglied generiert. Die
Preisgestaltung ist gestaffelt. Dank des großen Netzwerks kann Visa die Transaktions-
kosten im Vergleich zu seinen Wettbewerbern relativ niedrig halten.26
Die Finanzergebnisse von Visa sind ausnahmslos gut für ein Finanzunternehmen, erst
recht, wenn man die wirtschaftlich turbulenten Zeiten berücksichtigt. Die Aktien von
Visa steigen seit dem Börsengang im Jahr 2008 stetig. Der Wert pro Aktie ist 2013 um
23 % im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Der Umsatz konnte im Jahr 2013 um 13 %
gesteigert werden.27 Dank der starken und stabilen Wettbewerbsposition ist Visa ein inte-
ressantes Unternehmen für Anleger. Und durch die weltweite Zunahme von digitalen
Zahlungen sagt das Unternehmen ein solides Volumenwachstum in den kommenden Jah-
ren voraus. Visa beschäftigt 10.000 Mitarbeiter in über 35 Ländern.28 Für ein Unterneh-
men mit einem Umsatz von 11,8 Mrd. US$ (11,1 Mrd. EUR)29 ist das wenig. „Kleines
Team, große Wirkung“ lautet das Motto von Visa.30 Diese Zahl bestätigt die bedeutende
Rolle der Technik innerhalb des Unternehmens und den Großteil der Mitarbeiter von
Visa stellen dann auch tatsächlich Technikexperten. Abgesehen von diesen Experten, die
in San Francisco am System arbeiten, beschäftigt das Unternehmen eine große Gruppe

24https://experiencematters.wordpress.com/tag/visa/.

25Interview Visa Nederland.


26Interview Visa Nederland.
27Visa Inc. (2013).

28http://usa.visa.com/about-visa/our-business/history-of-visa.jsp.

29Visa Inc. (2013).

30http://usa.visa.com/about-visa/our-business/history-of-visa.jsp.
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 115

an Mitarbeitern, die sich um das Netzwerk mit lokalen Ausstellern und Verarbeitern
kümmern. Das Unternehmen hat längst nicht in jedem Land, in dem mit Visa-Kreditkarte
bezahlt werden kann, eine Niederlassung.
Visa schafft ein Wertangebot für die Gesellschaft, indem es die Wirtschaft ankurbelt.
Ein sicherer und transparenter Zahlungsverkehr trägt zur Entwicklung der Gesellschaft
bei. So kommt Geld sicher und schnell am gewünschten Ort an (vgl. Abb. 5.9).
Obwohl das Transaktionsvolumen stark zugenommen hat, ist die Zahl der Betrugs-
fälle bei Visa so niedrig wie nie zuvor. Der Mehrwert, den Visa der Gesellschaft bietet,
hat auch eine Kehrseite. „Geld leihen“ heißt im wirtschaftlichen Sinne nämlich „Geld
schöpfen“. Die Geldmenge in der Wirtschaft muss im Verhältnis zum tatsächlichen
Umfang der Wirtschaft stehen. Es dürfen auf Land- und Kundenniveau keine Luftbla-
sen entstehen. Der Verbraucher profitiert vom einfachen Zugang zu Geld, aber es ist von
essenzieller Bedeutung, dass er sich der Gefahren davon bewusst ist und auch bewusst
damit umgeht. Das ist übrigens auch im Interesse von Visa: Es ist schön, wenn Men-
schen ihre Kreditkarte intensiv nutzen, aber wenn sie sich zu viel Geld leihen, können
auch immer mehr von ihnen ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen. Das erfordert Auf-
klärung und Bildung. Visa kommt diesem Bedürfnis nach, indem es mit Schulen zusam-
menarbeitet, die den Verbrauchern den guten Umgang mit Finanzdienstleistungen lehren.
Der größte Druck auf die Marktposition von Visa entsteht nicht durch bestehende
Wettbewerber, sondern durch disruptive innovative Technologien. Mobile-Finance
stellt beispielsweise neuen Wettbewerb dar, und zwar zu scharfen Tarifen und mit mehr
Zugänglichkeit. Einerseits ist es eine Bedrohung, andererseits ist es auch wertvoll,
denn so bleibt Visa strikt auf sein Businessmodell und die Beziehung zu seinen Part-
nern fokussiert. Das ist von Nutzen, denn möglicherweise besteht die größte Bedrohung
letztendlich in neuen Gesetzgebungen und Regelwerken. In den USA beschränken der
Wall Street Reform Act und der Consumer Protection Act31 die gegenseitigen Vergütun-
gen zwischen Banken und Kreditkartengesellschaften. Auch die Europäische Kommis-
sion will „mehr Wettbewerb“, „mehr Auswahl“ und „mehr Transparenz“ auf dem Markt
für die Zahlung per Kreditkarte und Internet.32 Das Paradoxe für Visa diesbezüglich ist,
dass die Realisierung seines gewagten Ziels im weltweiten Zahlungsverkehr auch wieder
Gefahren birgt. Das Unternehmen nimmt eine nahezu institutionelle und regierungssei-
tige Rolle ein, was für alle Player von Nutzen ist. Aber wie die Geschichte zeigt, wird
das von der Gesellschaft, der Politik und dem Staat nur dann nachhaltig akzeptiert, wenn
die Macht, die sich daraus ergibt, nicht missbraucht wird.

31http://www.morningstar.nl/nl/news/109790/visa-mastercard-en-american-express-interessant-

voor-beleggers.aspx#sthash.ROOgsNEy.dpuf.
32http://www.morningstar.nl/nl/news/109790/Visa-mastercard-en-american-express-interessant-

voor-beleggers.aspx#sthash.ROOgsNEy.dpuf.
116 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden


• Durch Kunden wird die Relevanz anderer Player im finanziellen Netzwerk unterstrichen und
Visa wird angespornt, aktiv zu werden und zu bleiben
• Net Promoter Score: 10 (2013)
• Platz 69 der Best Global Brands 2013
• Wert Unternehmensname: 5,9 Millionen USD (5,5 Millionen EUR)

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• „Kleines Team, große Wirkung“ • Größter Börsengang in der Geschichte (2008)
• 10.000 Mitarbeiter in über 35 Ländern • Aktienpreis stieg um 258 % nach Börsengang
• 50 % der Mitarbeiter würde Freunden • Solides Volumenwachstum so gut wie sicher
Visa als Arbeitgeber empfehlen dank der Zunahme digitaler Zahlungen in den
• Vor allem Technikexperten, nächsten Jahren
Mathematiker, Ingenieure, Psychologen, • Weltweit erfolgen die meisten Zahlungen
Marktstrategen und Manager, die den über Visa
Zahlungsverkehr positiv beeinflussen • Unternehmenswert: 161,7 Milliarden USD
wollen (152 Milliarden EUR), Stand: 13.1.2015
• Entwicklung der Mitarbeiterschaft: • Dividende über 1 Milliarde USD
- 2011: 7.500 (0,94 Milliarden EUR) (2013-2014)
- 2012: 8.500
- 2013: 9.500

Wert für und durch die Gesellschaft


• Förderung des (internationalen) transparenten Zahlungsverkehrs und damit Stärkung der
Wirtschaft
• Sicherer Zahlungsverkehr: Obwohl das Transaktionsvolumen stark zugenommen hat, ist die
Zahl der Betrugsfälle so niedrig wie nie zuvor
• Kein Missbrauch von Macht und Standards für nachhaltiges Existenzrecht
• Treffer: 91 Millionen, Bewertung Top 25: 87,5 positiv (Google)

Abb. 5.9  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Visa


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 117

5.2.4 Die brillanten Lektionen von Visa

Visa hat einen enormen Beitrag zur Entwicklung des weltweiten Zahlungsverkehrs
geleistet. Das Unternehmen kann nur dann überleben, wenn vier Parteien (Aussteller,
Verarbeiter, Akzeptanten und Karteninhaber) sich kontinuierlich dem Zahlungssystem
anschließen. Mit den meisten Karteninhabern und Akzeptanzstellen ist es Visa gelungen,
zu einem der größten Player in der Finanzwelt heranzuwachsen. Was können wir daraus
lernen?

• Ein sich selbst stärkendes Netzwerk bauen: Visa bildet ein starkes, durch alle Stake-
holder gestütztes Netzwerk, dessen Zirkel bei gleichbleibender Relevanz nicht durch-
brochen wird. Die Parteien bekommen auf diese Weise die Möglichkeit, ihr eigenes
Business zu stärken, wobei eine gute Leistung automatisch Mehrwert für die Rentabi-
lität und den Markennamen des großen Riesen dahinter, d. h. Visa, bedeutet. Gleich-
zeitig zeigen Entwicklungen in der Gesetzgebung, dass es wichtig ist, die sich daraus
ergebende Abhängigkeit zu nutzen, aber niemals auszunutzen.
• Schuster bleib bei deinen Leisten: Konzentrieren Sie sich auf das Kerngeschäft. Worin
liegt die Stärke Ihres Unternehmens? Für Visa ist das die Bereitstellung eines Systems
mit Standards für Transaktionsnetzwerke, das immer funktioniert und absolut zuver-
lässig ist. Visa rückt die kontinuierliche Verbesserung dieses Systems dann auch in den
Mittelpunkt seines Handelns. Die Technik hat für Visa oberste Priorität, an zweiter Stelle
kommt der Kontakt mit Mitgliedern und Kunden. Diese folgen nämlich sehr wohl, wenn
es das Unternehmen schafft, das zuverlässigste Zahlungssystem der Welt zu bieten.
• Bewegungen des Kunden folgen und mit dem Strom des Markts schwimmen: Durch
die Globalisierung entsteht der Bedarf nach einem grenzüberschreitenden Zahlungs-
system. Auf diesem Gebiet ist Visa immer noch Vorreiter. Indem das Unternehmen
der Bewegung des Kunden folgt und mit dem Strom auf dem Markt schwimmt, bleibt
es für die anderen Parteien wichtig, Teil des Netzwerks zu sein. Bei der Gründung hat
Visa gezeigt, dass es ein innovativer Player ist. Mit der Entwicklung eines zuverläs-
sigen und grenzüberschreitenden Zahlungssystems reagiert es auf den Wunsch meh-
rerer Parteien. Und weil sich die Wünsche dieser Parteien immer weiterentwickeln,
muss sich das Unternehmen ebenfalls weiterentwickeln. In diesem Zusammenhang
sind eine weitere Digitalisierung und neue Zahlungsmethoden wie mobiles Bezah-
len zu nennen. Visa muss dafür sorgen, dass diese Art von Innovationen und neuen
Technologien sein eigenes Businessmodell nicht beeinträchtigen, sondern sich nahtlos
darin einfügen und es weitgehend stärken.
118 J. Kemperman et al.

5.3 GCash

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Elleke Brul und Jennifer op ’t Hoog
verfasst.

Liebend gern bezahlen


Prolog
Nimuel eilt zum Amsterdam World Trade Center. Es ist der 10. November 2013. Zwei
Tage zuvor fegte der zerstörerische Taifun Haiyan über die Philippinen hinweg – dem
Land, das er vor sechs Jahren verlassen hatte, um als Arbeitsimmigrant in die Nieder-
lande zu gehen. Der Rest seiner Familie und Verwandten wohnt noch immer dort. Nach
den ersten Nachrichtenmeldungen über den Taifun harrt Nimuel mehr als 24 h in einem
Zustand großer Besorgnis und Anspannung. Die Naturkatastrophe hat 6300 Menschen
das Leben gekostet. Es gelingt ihm nicht, Kontakt mit seinen Angehörigen aufzuneh-
men. Dann erhält er endlich die erlösende Nachricht: Die gesamte Familie hat überlebt,
aber ihr Haus und die Reisfelder, die als kleine Einnahmequelle dienten, sind komplett
verwüstet. Nimuel ist überglücklich zu hören, dass seine Familie diese schreckliche
Katastrophe trotz allem überlebt hat. Gleichzeitig macht er sich große Sorgen über ihre
trostlose Situation. Schon seit er in den Niederlanden wohnt, überweist er monatlich
Geld an seine Familie und Verwandten, aber jetzt möchte er alles überweisen, was er
selbst entbehren kann, damit seine Angehörigen die erste Zeit überbrücken können. Im
World Trade Center in Amsterdam befindet sich eine Filiale der Philippine National
Bank, die den GCash-Überweisungsservice bietet. Hier kann er mit einem Code Geld
an seine Familie überweisen; mit dem gleichen Code kann sich seine Familie dann bei
jeder GCash-Stelle melden, um das Geld abzuheben. So können seine Angehörigen in
jedem Fall Notmaßnahmen treffen und die elementaren Bedürfnisse abdecken. Nimuel
schätzt sich glücklich, dass er Arbeit in den Niederlanden hat und so seine Familie aus
der Ferne unterstützen kann. Es hätte nämlich auch ganz anders laufen können …

Einleitung
Die Philippinen bestehen aus über 7000 Inseln mit insgesamt über 100 Mio. Einwohnern.33
Der Inselstaat zählt mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1746 US$ pro Jahr, d. h. ca.
4,78 US$ pro Tag (ca. 1641 EUR pro Jahr und 4,50 EUR pro Tag), zu den ärmeren Län-
dern der Welt. Darüber hinaus ist die ökonomische Ungleichheit im Land groß. 2006 leben
drei Viertel der Einwohner unter der Armutsgrenze (vgl. Ravallion, Shaohua, Sangraula
2009). Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in städtischen Gebieten. Die andere Hälfte
wohnt verteilt über die Inseln in ländlichen Regionen.34 Diese Verteilung ist die Ursache
dafür, dass viele Menschen keinen Zugang zu anständigen Produkten und Dienstleistun-
gen haben. 2007 hatten über 80 % der Bevölkerung keinen oder nur schlechten Zugang zu

33Geschätzte Zahl der philippinischen Regierung im Juli 2014 (vgl. The World Bank Group 2014).
34BBC News (2014), http://www.bbc.com/news/world-asia-15521300.
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 119

einer Bank (vgl. The World Bank Group 2014). Die Veränderung, die GCash in das Leben
dieser Menschen bringt, ist enorm, und das ist der Schlüssel zum Erfolg.
Die Philippinen gehören zu den größten Exporteuren von billigen Arbeitskräften auf
der Welt (vgl. National Statistical Coordination Board 2010). Nahezu 10 % von 9 Mio.
Einwohner haben die Philippinen verlassen, um im Ausland zu arbeiten und dort Geld
für die hinterbliebenen Familienangehörigen zu verdienen. Ihre Beiträge werden
sowohl von der Familie selbst als auch von der philippinischen Regierung geschätzt.
Laut Weltbank überwiesen philippinische Migranten im Jahr 2010 17 Mrd. US$ (ca.
16 Mrd. EUR) in ihr Land. Das bedeutet eine beachtliche Unterstützung der philippini-
schen Wirtschaft. Durch die hohe Arbeitsmigration ist die philippinische Bevölkerung
schon seit Jahren mit internationalen Geldüberweisungen vertraut und das ist eine gute
Grundlage für das schnelle Wachstum von GCash. Ein weiterer Wachstumsimpuls ist
die Tatsache, dass die Nutzung von Mobiltelefonen für die philippinische Bevölkerung
bei der Gründung von GCash im Jahr 2004 bereits Gewohnheit war. Durch moderne
Technologien und florierende Secondhandmärkte waren Mobiltelefone einer breiten
Öffentlichkeit schnell zugänglich. 2008 hat fast die Hälfte der Bevölkerung ein Handy-
Abo, heute liegt die Marktdurchdringung von Mobilfunkabonnenten sogar bei über
100 %. Wie kann das sein? Menschen haben mehrere Mobiltelefone (Evans 2014).
Aber warum gab es nicht schon früher einen Anbieter, der den Markt für Mobile-
banking erobern konnte? Der Markt war mehr als bereit dafür. Die ersten Anbieter auf
dem Markt für Mobilebanking machen einen entscheidenden Fehler. Sie bieten Rubbel-
karten mit Telefonguthaben ab 6 US$ (5,64 EUR), was ein viel zu hoher Betrag für den
Durchschnittsphilippino ist. Globe Telecom (das Mutterunternehmen von GCash) ist
im Mobilfunk tätig und nicht im Finanzdienstleistungssektor. Es ist ein börsennotiertes
Unternehmen, das in der Telekommunikationsbranche verschiedene Dienstleistungen
auf nationaler und internationaler Ebene bietet. Mobilebanking ist also in erster Linie
nur ein Experiment am Rand seines Businessmodells. Globe Telecom reagiert klug auf
die latente Nachfrage nach preiswertem Mobilebanking. Es macht Telefonguthaben
für alle Beträge elektronisch verfügbar. Man kann das Guthaben sogar in Cent aufla-
den. Das führt zu einem exponentiellen Wachstum der Zahl der Nutzer. Durch die elek-
tronische Aufladung des Telefonguthabens gewöhnen sich alle Beteiligten an mobile
Finanztransaktionen und die dazugehörige Administration und Identifikation. So wird
unbemerkt die technische und soziale Basisinfrastruktur für Mobilebanking eingeführt.

5.3.1 Das Fundament: Armut vom Mobiltelefon aus bekämpfen

GCash wird zwar erst 2004 gegründet, aber auf den Philippinen ist es heute die
schnellste, effizienteste, zuverlässigste und sicherste Art der Geldüberweisung. Beim
Übergang vom Telefon zur elektronischen Geldbörse hat es eine zentrale Rolle gespielt.
Darüber hinaus ist GCash ein Vorreiter und brillantes Beispiel für Mobilebanking, das
überall in Afrika und Südostasien auf dem Vormarsch ist. So wie M-Pesa (beschrieben
im Buch Brillante Businessmodelle im Gesundheitswesen (vgl. Kemperman, Geelhoed
120 J. Kemperman et al.

und op ’t Hoog 2014)) hat der Konzern es ermöglicht, Zahlungen per SMS zu tätigen.
Die Zahl der Nutzer und Transaktionen sind aus kommerzieller Perspektive betrachtet
beeindruckend. Was es brillant macht, ist die disruptive Innovation des Bankzahlungs-
verkehrs mithilfe der Mobiltelefonie. Dabei wird relativ einfach auf der Grundlage einer
Telekommunikationsinfrastruktur ein neues finanzielles ‚Ökosystem‘ realisiert, mit dem
der Zahlungsverkehr zugänglich wird. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten und Märkte
für die Gegenwart und Zukunft. Es hat enorme Auswirkungen auf den Alltag von aktu-
ellen und potenziellen Nutzern, die vorher keinen Zugang zu Finanztransaktionen hat-
ten, weil sie für ein Konto nicht in Betracht kamen. Ohne Konto erfordert Geldsparen
viel Ausdauer. Dabei ist die Schaffung einer sicheren Umgebung zur Aufbewahrung oder
Überweisung von Geld eine Herausforderung. Der Wochenlohn wird nicht mehr lose in
der Hosentasche aufbewahrt, sondern ‚im‘ Mobiltelefon mit einem PIN-Code gesichert.
Das ist ein Wandel im Spar- und Bezahlverkehr. GCash hat eine Wende beim Zugang zu
Finanzdienstleistungen im ganzen Land herbeigeschafft, insbesondere auf den zahlrei-
chen Inseln mit ländlichem Charakter, wo noch wenig Infrastruktur vorhanden ist.
GCash ist Synonym für einfache, erschwingliche und sichere (mobile) Finanzdienst-
leistungen (vgl. Abb. 5.10). Es macht mobiles Bezahlen einfach und preiswert. Auf diese
Weise ist es für viele Menschen zugänglich. Vor der Gründung von GCash kann ein
Großteil der philippinischen Bevölkerung keinen Gebrauch von Finanzdienstleistungen
machen. Sie haben keinen Zugang zu einer Bank, einer Kontonummer oder einem PIN-
Code. Sie haben nicht die richtigen Papiere, sind Analphabeten oder weil sie in ländli-
chen Gebieten wohnen, zu schwer zu erreichen. GCash bietet diesen Menschen häufig
zum ersten Mal die Möglichkeit, Geld sicher zu überweisen und Überweisungen aus der
ganzen Welt (z. B. von ausgewanderten Familienangehörigen) zu erhalten.
Das Mutterunternehmen von GCash, Globe, positioniert sich selbst im Markt mit
einem Leitbild, bei dem „Einfachheit und Relevanz“ oberste Priorität haben. Globe setzt
sich selbst dabei das Ziel, die tägliche Kommunikation zu bereichern, indem es „Hin-
dernisse in der Kommunikationstechnologie abbaut und entfernt sodass wir unsere Kun-
den näher an das heranführen, was am wichtigsten für uns ist“ (www.globe.com). Das
höhere Ziel von Globe lautet dann auch „durch die glücklichsten Mitarbeiter, Kunden
und Anteilseigner eine wunderbare Welt für Menschen, Unternehmen und das Land
schaffen“.
Das gewagte Ziel des Konzerns ist es, nach Möglichkeit noch grandioser „unser Leit-
bild auf die glücklichsten Kunden auszurichten und auf diese Weise Leben zu bereichern
und Menschen durch Kommunikation zu inspirieren“. Die Kern- und Markenwerte, derer
GCash und seine Mitarbeiter sich dafür bedienen, sind „die Knüpfung echter Kontakte“
und „ein auf das Helfen von Menschen ausgerichtetes Handeln“. GCash will integer
handeln und auf die Weise bedeutungsvoll für das Leben von vielen Menschen sein. Wo
immer es möglich ist, versucht das Unternehmen es Menschen so angenehm wie mög-
lich zu machen. Dabei ist stets der Ausgangspunkt, dass „der Kunde immer die Nummer
eins ist“. So steht der Kunde immer im Mittelpunkt, nicht das Produkt oder das Angebot.
GCash hat einen tief verwurzelten Glauben an die Relevanz und Hingabe seiner Mitar-
beiter: „Unsere Mitarbeiter machen den Unterschied, und sie machen sich wirklich viel
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 121

Markenkern: Einfache, erschwingliche und sichere (mobile) Finanzdienstleistungen

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Durch die glücklichsten Mitarbeiter, • Leben bereichern und Menschen
Kunden und Anteilseigner eine durch Kommunikation inspirieren
wunderbare Welt für Menschen,
Unternehmen und das Land schaffen Markenversprechen
• Armut durch praktische und
Markenursprung erschwingliche Finanzdienstleistungen für
• Gegründet, um Finanzdienstleistungen alle Einwohner der Philippinen und
ohne Bank, Kontonummer oder EC- darüber hinaus bekämpfen
Karte für die philippinische
Bevölkerung zu ermöglichen
Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Menschlich: Unsere Mitarbeiter • Sicher
machen den Unterschied • Schnell
• Bedeutungsvoll: Der Kunde ist
• Einfach
immer die Nummer 1
• Bereichernd: Wir inspirieren und • Innovativ
schaffen Möglichkeiten
• Integer: „Wir kümmern uns wie ein Markenbeweis
Eigentümer“ • Wandel von Zahlungsverkehr zu mobilem
Zahlungsverkehr
• GCash kann in kurzer Zeit einen eigenen
Marktanteil bedienen
• Überweisungssystem erheblich vereinfacht
• Verschiedene Auszeichnungen wie Best Mobile
Messaging Service

Abb. 5.10  Leitbild und Positionierung von GCash


122 J. Kemperman et al.

aus Ihnen“ („Wir kümmern uns wie ein Eigentümer“). Distinktive Qualitäten des Unter-
nehmens sind Sicherheit, Schnelligkeit, Einfachheit und Innovation.
Kurzum, GCash verwendet sehr viele schöne Worte, wenn es um Ziele, Versprechen,
Werte und Kernqualitäten geht. Aber von dieser Sorte Unternehmen gibt es noch mehr.
Lassen Sie den schönen Worten auch sichtbare Taten folgen? Ja, durchaus, was sich
auch in einer Reihe konkreter Ergebnisse niederschlägt. So macht GCash einen riesigen
Wachstumssprung und gewann in kürzester Zeit eine Reihe wichtiger Auszeichnungen,
darunter den GSMA Award für Best Mobile Messaging Service im Jahr 2005.
Doch der echte Beweis ist natürlich die Tatsache, dass Finanztransaktionen jetzt über-
all und für jedermann auf den Philippinen zugänglich sind, wo diese vor der Gründung
von GCash nur einer glücklichen Minderheit vorbehalten waren. Das gibt einen wich-
tigen Impuls auf individueller, aber sicher auch auf gesellschaftlicher Ebene. Dabei
denken wir an die positiven Auswirkungen, die es auf die persönliche Sicherheit von
Menschen hat, wenn diese ihr ganzes Bargeld nicht mehr in der Tasche mit sich tragen
müssen. Oder an die Möglichkeiten, die sich für die Zukunft ergeben, wenn Sparen ein-
fach und sicher ist. Was für ein Businessmodell steckt hinter diesem Erfolg?

5.3.2 Das Businessmodell: Von Mängeln zu Nutzern

Marktsegmente: Ein erfolgreicher Cocktail aus Armut, geografischer Verstreuung


und Arbeitsmigration
Die Markteinführung von GCash kommt zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort
und für die richtige Zielgruppe. Für die philippinische Bevölkerung ist der Vorteil des
mobilen Zahlungsverkehrs direkt spürbar und eine Annehmlichkeit, die gern von ihr
in Anspruch genommen wird. Mittlerweile hat GCash eine eigene Position im Markt
erobert.
GCash hat über zwei Millionen treue Abonnenten (Smart Money, das früher gegrün-
det wurde, verzeichnet nach zehn Jahren etwas weniger als eine Million Abonnenten),
einen Transaktionswert von 100 Mio. US$ pro Monat (94 Mio. EUR, vgl. Agcaoili
2012a), und über 80 Partner in über 7000 Filialen in mehr als 33 Ländern. Und mit einer
Bevölkerung von 100 Mio. Menschen gibt es auch noch ausreichend Wachstumspoten-
zial. Die Nutzung von mobilem Zahlungsverkehr hat natürlich nicht nur Auswirkungen
auf den Verbraucher und Einzelhändler, sondern sicherlich auch auf den internationalen
Zahlungsverkehr.
Wettbewerber von GCash sind die kommerziellen Banken (die nur für einen kleinen
Teil der Bevölkerung zugänglich sind) und Barzahlungen (die für jedermann zugänglich
sind, aber die nicht so sicher und nicht so praktisch, dafür aber zeitintensiver sind, ins-
besondere im Hinblick auf den Geldtransfer über große Entfernungen). Darüber hinaus
gibt es auch im Bereich Mobilebanking Wettbewerber. Wie bereits erwähnt, war GCash
nicht der erste Anbieter für Mobilebanking auf den Philippinen, dafür aber der klügste.
2001 führt Wettbewerber SMART Communications zusammen mit seinem Partner
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 123

BDO ­Unibank den Zusatzdienst SMART Money (vgl. Leishman 2009) ein. Dabei geht
es um eine wiederaufladbare Zahlungskarte, die mit einem Mobiltelefon von SMART
verknüpft ist. Kunden können mit dem Telefon Geld senden und erhalten und die Karte
als Zahlungsmittel verwenden. Die Einschränkung dieses Zusatzdienstes besteht darin,
dass viele kleine selbständige Ladenbesitzer vor Ort nicht genug Geld besitzen, um sich
das für die Akzeptanz der Zahlkarte erforderliche Kartenlesegerät anzuschaffen. Damit
schließt SMART Money eine große Gruppe potenzieller Nutzer aus. Darüber hinaus
werden die Kosten als hoch empfunden; jeder Händler, der nicht der BDO Unibank
angeschlossen ist, zahlt eine Gebühr von 0 % bis 3 % des Transaktionswerts. Globe führt
drei Jahre später, d. h. 2004, den Zahlungsdienst GCash ein. GCash bietet den gleichen
Service, eliminiert dabei aber einen überflüssigen Verfahrensschritt, nämlich die Zah-
lungskarte.
Zum Zeitpunkt der Einführung im Oktober 2004 hält Globe Telecommunications mit
12,5 Mio. kabellosen Abonnenten einen Marktanteil von ca. 40 %.35 Ende 2004 regist-
riert GCash über 200.000 Kunden. Im Mai 2014 hat Globe über 40 Mio. mobile Nut-
zer,36 GCash über 2 Mio.37 Was die Zahl der Mobilfunknutzer betrifft, ist Globe zwar
kleiner als PLDT Groep, der Mutterkonzern von SMART Communications, der im Sep-
tember 2014 69 Mio. Nutzer verzeichnet (vgl. PLDT 2014), aber GCash ist mit 2 Mio.
Nutzern doppelt so groß wie SMART Money, das 1 Million Nutzer zu seinen Kunden
zählen kann (seit Ende 2012, vgl. Agcaoili 2012b).

Wertangebot für Kunden: Einfach seinen Beitrag leisten (vgl. Abb. 5.11)


Vor der Gründung von GCash war Bargeld für einen Großteil der philippinischen Bevölke-
rung die einzige Zahlungsmöglichkeit. Im Übrigen ist es immer noch die wichtigste Zah-
lungsart, aber auch GCash ist sowohl für Verbraucher als auch für Ladenbesitzer vor Ort
interessant. Für Letztere ist es sicher und preiswert; sie brauchen keine Transaktionskosten
zu bezahlen. Für Verbraucher besteht der Vorteil darin, dass sie auch bei anderen Einrichtun-
gen als Banken Geld abheben können. Auf diese Weise bleibt die Zugänglichkeit nicht nur
auf urbane Regionen beschränkt. Und je mehr Einzelhändler GCash in Anspruch nehmen,
desto nützlicher wird der Service für die Verbraucher und umgekehrt. So kann Globe mit
GCash ein Netzwerk aufbauen, das die Antwort auf einen Mangel an zugänglichem Zah-
lungsverkehr für Menschen mit wenig Geld ist. Das gilt nicht nur für die örtlichen Laden-
besitzer, auch Versicherungsunternehmen, Versorgungsbetriebe und noch viele weitere
Dienstleister akzeptieren GCash-Zahlungen. Wann immer sie möchte, kann die philippini-
sche Bevölkerung jetzt ganz einfach (inter)nationale Produkte bestellen oder verkaufen –
etwas, was in der Vergangenheit völlig undenkbar war. Auf diese Weise ermöglicht das
Unternehmen nicht nur Zugang zum Zahlungsverkehr, sondern auch Zugang im ­weitesten
Sinne zu (inter)nationalen Produkten und Dienstleistungen. Geld von Verwandten im

35http://www.globe.com.ph/documents/7122541/7146904/Annual_2004.pdf.

36http://www.globe.com.ph/press-room/globe-mobile-subscriber-base-breaches-40m-mark.

37http://www.globe.com.ph/press-room/mobile-technology.
124 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Man kann einfach mobil bezahlen und • Über 2 Millionen Abonnenten
andere Finanzdienstleistungen in • Über 80 Partner in 7.000 Filialen und in
Anspruch nehmen 33 Ländern
+ Wettbewerber
Prozess Wie bekomme ich es? • Die großen kommerziellen Banken, die
• Über das Mobiltelefon, per SMS, App oder für den Großteil der Bevölkerung nicht
über eine Verkaufsstelle zugänglich sind

+
• Bargeldzahlungen
• SMART Money von SMART
Gefühl Was fühle ich dabei? • An ein höheres Segment gerichtete
• Man bestimmt selbst und fühlt sich Kommunikation
selbstsicher
Zielgruppe
• Menschen auf der Suche nach einer
Preis Was kostet es? einfachen, erschwinglichen und
• Größtenteils kostenlos, bei einer sicheren Art, Finanzdienstleistungen in
Transaktion mit höherem Betrag bezahlt Anspruch zu nehmen
man eine geringe Gebühr

+ Kundeneinblicke
• Verbraucher wollen auf einfache,
Aufwand Was muss ich dafür tun? erschwingliche und sichere Art und
• Durch einen Anruf oder per App registriert Weise Geld überweisen, Rechnungen
man sich direkt mit einem Mobiltelefon bezahlen sowie Finanzprodukte und
(kostenlos) -dienstleistungen in Anspruch nehmen

+
Risiko Wie sicher ist es?
• Geringes Risiko,
gesichert durch persönlichen
PIN-Code
Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 5.11  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von GCash


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 125

­ usland zu erhalten ist jetzt viel einfacher und sicherer. Und das Geld kann direkt über
A
das GCash Wallet ausgegeben oder über einen Ladenbesitzer vor Ort ausgezahlt werden.
So wird auch die lokale wirtschaftliche Aktivität gefördert. Dank dieser einfachen Form des
Bankings werden Zeit und Geld durch Kunden jetzt effizienter genutzt.
Kunde werden? Kunden können sich überall und jederzeit ganz einfach mithilfe eines
Mobiltelefons mit aktiver SIM-Karte von Globe oder Touch Mobile (Teil von Globe)
registrieren. Vorher erfolgte die Registrierung über SMS oder über ein in der SIM-Karte
integriertes Menü. Derzeit können sich Interessierte auch über die GCash-App regis-
trieren. Nach der Eingabe der KYC-Daten (Know Your Customer: Name, Geburtsjahr,
Adresse) ist man sofort als Kunde registriert und kann loslegen. Die Nutzung von GCash
ist mit einem PIN-Code gesichert. Damit ist das GCash Wallet genauso sicher wie Mobi-
lebanking. Diese Kosten sind niedrig. Viele der Zusatzdienste von GCash sind sogar kos-
tenlos, für einige Services fallen geringe Gebühren an. Im Allgemeinen gilt: Je niedriger
die Beträge, desto niedriger die Gebühr. Kunden zahlen für das, was sie nutzen und was
für sie relevant ist. Des Weiteren sind sie jederzeit Herr über ihre eigenen Finanzen, die
sie einfach und effizient zugleich verwalten können.

Wie funktioniert GCash eigentlich?


Jede Transaktion, sei es eine Überweisung, die Zahlung des Schuldgeldes oder ein
Einkauf in einem Geschäft, kann per SMS bezahlt werden. Der Nutzer braucht nur
die Nummer des Empfängers einzugeben, gefolgt vom zu zahlenden Betrag und
des persönlichen PIN-Codes. Wenn zusätzliche Daten erforderlich sind, z. B. ein
Bearbeitungszeichen oder eine Studentenausweisnummer, können diese der Nach-
richt hinzugefügt werden. Nach der Transaktion erhält der Nutzer eine Bestäti-
gung mit den Informationen zum Zahlungsauftrag. Wenn ein GCash-Nutzer Geld
abheben möchte (das auch von einer Überweisung stammen kann), zeigt er bei der
entsprechenden Verkaufsstelle (Bank oder Vertretung vor Ort) einen gültigen Licht-
bildausweis mit dem Kennzeichen der jeweiligen Transaktionen vor. Bislang ist die
virtuelle Geldbörse von GCash mit der SIM-Karte verknüpft. Die Möglichkeiten
der direkten Verknüpfung mit einem (zukünftigen) Konto werden noch untersucht.

Kanäle: Persönlich und individuell (vgl. Abb. 5.12)


Die Beteiligung der lokalen Ladenbesitzer, die auch als Leihhäuser bezeichnet wer-
den, ist ein genialer Zug. Leihhäuser sind zentrale Punkte im Netzwerk des lokalen
Geschäftsverkehrs der untersten ökonomischen Klassen. Sie sind sogar als Nutzer Teil
des Netzwerks und bringen auch wiederum ihre eigenen Kunden ein. Weil so viele Kun-
den auch als Partner von den Services von GCash profitieren, stärken sie damit zusätz-
lich den Kundenwerbungs- und -bindungseffekt. Selbstverständlich hilft Globe GCash
als Mutterkonzern. So auch in der Marken- und Kundenkommunikation, z. B. mit ein-
fachen und ansprechenden Clips, in denen bekannte Philippiner erklären, wie man
GCash nutzt. Im Marketing und in der Kommunikation kommen Online-/Mobilmo-
delle und Rollenmodelle sichtbar zum Einsatz. Aber die Zusammenarbeit geht über das
126 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Mit dem GCash Wallet kann man Geld • Verwendung der Marketinginstrumente
(international) senden und empfangen, von Globe, Dual Branding über
Produkte kaufen und für Leihhäuser und Partner
Dienstleistungen bezahlen • Kundenregistrierung erfolgt über mobilen
• Flexible Plattform: Verkauf von Produkten und Services über
- Verkaufsstelle zu Mobiltelefon Mobiltelefon und Partner
- Mobiltelefon zu Verkaufsstelle
- Mobiltelefon zu Mobiltelefon Kundenkontakt & Zusatzdienste
- Internet zu Mobiltelefon • Persönlicher Ansatz durch lokale
- Verkaufsstelle zu Verkaufsstelle Verkaufsstellen; Auch hier werden
- Internet zu Verkaufsstelle bestehende Instrumente von Globe
eingesetzt; das Callcenter, Twitter,
Lieferanten & Partner Live-Chat, E-Mail, SMS, Hotmail, die
• Bankpartner hinter GCash ist Bangko Globe-Community und die
Sentral ng Philipinas Globe-Filiale
• Neben Vertrieb und Servicenetzwerk • Zusatzdienste und Zugang zu
besteht eine Zusammenarbeit im internationalen Produkten über Partner
gesamten Ökosystem für wie American Express®, eBay und iTunes
Zahlungsverkehr z. B. mit Arbeitgebern
und Versorgungsbetrieben
• Unterstützung von den
Regulierungsbehörden

Abb. 5.12  Betrieb und Kanäle von GCash


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 127

Dual ­Branding hinaus, denn Globe bietet die Plattform für Kommunikation. GCash nutzt
alle bestehenden Globe-Kanäle, um mit Kunden zu kommunizieren.
Kunden können über ein Callcenter, Twitter, Live-Chat, E-Mail, SMS, eine Hotline
und über eine Globe-Filiale Kontakt aufnehmen. Darüber hinaus gibt es die Globe-
Community, eine Art Forum, in dem Kunden ihre Fragen posten können und von ande-
ren Kunden und den Globe-Mitarbeitern Hilfe bekommen. Der Kunde entscheidet selbst,
wie er Kontakt aufnehmen möchte; das Unternehmen sorgt dafür, dass über jeden Kanal
eine persönliche Mitteilung versendet wird. Normalerweise haben Bankkunden unter-
schiedliche Telekommunikationsanbieter. GCash ist der verlängerte Arm von Globe,
d. h., dass es logischerweise nur einen Anbieter gibt. Daraus ergeben sich zusätzliche
Möglichkeiten bei der Bereitstellung und beim Vertrieb, aber auch bei der Innovation
und beim Experimentieren mit Anwendungen, die über die offenen Bank- und Telekom-
munikationsstandards hinausgehen. Selbstverständlich profitiert Globe auch, wenn es
seine Kanäle GCash zur Verfügung stellt: Beide Seiten können voneinander lernen, und
das Mutterunternehmen selbst profitiert von treueren Kunden.
Wenn ein Kunde auf seinem GCash Wallet ein Guthaben besitzt, kann es bei soge-
nannten Verkaufsstellen38, Banken (online und cash out) und anderen Finanzdienst-
leistern eingelöst werden. Mobilebanking ist ebenso möglich wie das Einkaufen in
Geschäften (von Warenhäusern und Einzelhandelsketten bis hin zu kleinen Läden vor
Ort). Darüber hinaus hat der Kunde Zugang zu internationalen Zusatzdiensten wie Ame-
rican Express®, eBay und iTunes39. In Zusammenarbeit mit den letztgenannten Zusatz-
diensten ermöglicht GCash seinen Nutzern den Kauf US-amerikanischer Produkte.
Dabei geht es um Produkte, die direkt heruntergeladen werden können, z. B. aus dem
iTunes Store, aber auch um physische Produkte, die aus den USA verschifft werden.40

Globe sieht GCash von Anfang an als Schlüsselelement beim Übergang zu mobi-
len Geldbörsen: „Die bedeutendste Innovation der Branche 2004 war GCash, das
Mobiltelefone von Globe Handyphone und Touch Mobile in mobile Geldbörsen
verwandelt. Der karten- und bargeldlose sowie textbasierte Service ist Vorreiter auf
den Philippinen und der einzige mobile Service im Land, der die Schlüsselfacetten
des M-Commerce über eine einzige Plattform bietet.“

Betrieb: Unbegrenzte Partnerschaften


GCash wurde vom Mutterunternehmen Globe gegründet. Wichtige Bereiche von GCash,
wie u. a. das Marketing und der Kundenkontakt, sind eng mit dem Konzern verflochten.

38http://www.globe.com.ph/gcash/productandservices/mobile-money/using-gcash.

39http://www.globe.com.ph/gcash/productandservices/mobile-money/using-gcash.

40Globe (2014) Virtual Pay.


128 J. Kemperman et al.

Mit GCash und der Realisierung von GCash Wallet, dem Rückgrat von GCash, erschließt
Globe einen neuen Markt. Auf dieser mobilen Geldbörsenplattform finden Finanztrans-
aktionen statt. Die Geldbörse lässt sich über das Menü des Mobiltelefons oder über die
GCash-App aufrufen. Die Einzahlung und Abhebung von Geld erfolgt über Mobileban-
king, über Zahlungen an die oder von den Verkaufsstellen und über das Internet. Diese
drei Kanäle (Mobiltelefon, Verkaufsstelle und Internet) sind ihrerseits auch miteinander
verknüpft. Mit GCash kann man folgendermaßen bezahlen oder Geld erhalten:

• Mobiltelefon zu Mobiltelefon: von Ihrem GCash Wallet zum GCash Wallet einer


anderen Person, z. B. eines Familienmitglieds;
• Mobiltelefon zu Verkaufsstelle: im örtlichen Laden von Ihrem GCash Wallet aus;
• Verkaufsstelle zu Mobiltelefon: das Gehalt auf dem GCash Wallet erhalten, Geld von
einem Bankkonto abheben oder bar einzahlen und dem GCash Wallet gutschreiben;
• Mobiltelefon zu Internet: Produkte oder Dienstleistungen einer Website mit dem
Mobiltelefon bezahlen;
• Internet zu Mobiltelefon: Per Onlinebanking Geld in das GCash Wallet einzahlen;
• Verkaufsstelle zu Verkaufsstelle: Als Leihhausinhaber Zahlungen an einen anderen
Einzelhändler tätigen oder Geld vom geschäftlich genutzten GCash Wallet auf ein
Bankkonto überweisen;
• Internet zu Verkaufsstelle: als Einzelhändler Artikel online bestellen und mit dem
geschäftlich genutzten GCash Wallet bezahlen.

Die Bangko Sentral ng Pilipinas (BSP) spielt von Anfang an eine wichtige Rolle als
finanzielles Rückgrat von GCash. Sie hat es möglich gemacht, dass Finanzdienstleis-
tungen nicht nur von Banken und Finanzberatern angeboten werden. Das erleichtert das
Wachstum des finanziellen Ökosystems im Zahlungsverkehr von GCash. GCash arbeitet
an der Front nicht mit einer kommerziellen Bank zusammen, sondern unterstützt statt-
dessen größtenteils Geschäftsbetreiber ohne Bankhintergrund. Örtliche Ladenbesitzer
(von Leihhäusern bis Warenhäusern), Globe-Filialen, aber auch die kleineren Banken in
ländlichen Regionen werden für Ein- und Auszahlungen von Geld genutzt. Die Zusatz-
dienste von GCash werden vielfach in Anspruch genommen, sodass Arbeitgeber ihre
Angestellten jetzt elektronisch bezahlen können, was Zeit spart und weniger risikobe-
haftet ist als eine Barauszahlung. Auch andere Unternehmen wie Versorgungsbetriebe,
Versicherer und Behörden können ihren Kunden mit GCash eine einfachere und preis-
wertere Form der Rechnungsbegleichung bieten. Das spart Kunden wiederum Fahrzeit
und bietet einen besseren Überblick über die eigenen Finanzen. Außerdem werden die
Verwaltungskosten der Unternehmen und die Zahl der verspäteten Zahlungen reduziert.
Weil Ladenbesitzer tatsächlich Rollen übernehmen, die normalerweise von Banken
eingenommen werden, gibt es einige besondere Anforderungen. Nicht jeder lokale Laden-
besitzer kann einfach Geld kassieren, um es in das GCash Wallet (cash in) einzuzah-
len oder bei einer Auszahlung entsprechend Geld herauszugeben (cash out). Dafür sind
5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 129

eine individuelle Lizenz, die nach offizieller Anforderung und Registrierung erteilt wird,
und die Teilnahme an einer kurzen Schulung in Form des eintägigen AMLA-Seminars
erforderlich. Dabei handelt es sich um einen Schnellkurs für Finanzdienstleister, örtliche
Ladenbesitzer und Geschäftsbetreiber ohne Bankhintergrund, bei dem u. a. die Bedeu-
tung der Bekämpfung von Geldwäsche und die Finanzierung von Terrorismus erörtert
werden. Nach Erhalt der Lizenz wird der örtliche Ladenbesitzer oder Geschäftsbetreiber
ein „Vertreter“ von GCash. Um die Hürde für potenzielle Vertreter in ländlichen Regi-
onen zu senken, setzt Globe Mitarbeiter ein, die Schulungen vor Ort bieten. GCash hat
einen Durchbruch in puncto Partnerschaften erzielt; es hat sogar gesetzliche Maßnahmen
getroffen, um lokale Geschäftspartner an sich zu binden. Diese neuen Partner – örtliche
Ladenbesitzer, Banken in ländlichen Regionen und Geschäftsbetreiber ohne Bankhin-
tergrund – erhalten eine Provision, wenn Kunden Geld überweisen oder abheben (1 %
des Transaktionswerts oder mindestens 10 Peso, was 0,21 EUR entspricht). Die örtlichen
Ladenbesitzer profitieren außerdem davon, dass sie nicht mehr zu viel Bargeld in der
Kasse haben, und auch für die Kunden ist es preiswerter und sicherer.

5.3.3 Das Ergebnis: Der Kunde als Produktbotschafter

Wertschöpfung für die Gesellschaft hat zusammen mit der Bekämpfung von Armut als
gewagtem Ziel oberste Priorität für GCash. Durch relevante und erschwingliche Pro-
dukte in Kombination mit der Nutzung der Mobilfunkinfrastruktur hat GCash ein
Netzwerk für Zahlungsverkehr geschaffen, das für die gesamte Unterschicht der phil-
ippinischen Gesellschaft zugänglich ist. GCash hat sich mit den Lebensumständen und
Einschränkungen dieser Bevölkerungsgruppe ernsthaft auseinandergesetzt, um diese
anschließend bei der Produktentwicklung zu berücksichtigen. Dadurch haben Kunden
das Gefühl, dass das Angebot von GCash auch tatsächlich für ‚Menschen wie sie‘ ist,
wodurch wiederum zusätzliches Vertrauen in die Finanzprodukte entsteht.
Dank seiner Relevanz und Nützlichkeit generiert GCash unzählige treue Kunden, was
auch wiederum zur Markentreue für Globe beiträgt. Die SIM-Karte kann einfach gegen
eine andere getauscht werden, aber das GCash Wallet bleibt natürlich erhalten! So hat
GCash in dieser Kundenkategorie für einen Rückgang der Fluktuation bei Globe von
monatlich 3 % auf 0,5 % gesorgt (vgl. Rhyne 2009). GCash hat verschiedene internati-
onale Preise gewonnen, darunter den GSMA Award (die renommierteste Auszeichnung
in der Telekommunikationsbranche) in der Kategorie Best Mobile Messaging Service im
Februar 2005, den Mobile News Asia’s Most Innovative Mobile Service und den Glo-
bal Messaging Award für die beste M-Commerce-Service-App im gleichen Jahr. 2013
gewann GCash im Rahmen der International Business Awards den Gold Award for New
Product or Service Introduction für die Einführungskampagne American Express Virtual
Pay.
Die Mitarbeiter von GCash realisieren den kundenorientierten Ansatz; dafür wer-
den sie ausgewählt und geschult. Globe beschäftigt etwa 6000 Mitarbeiter, die sehr
130 J. Kemperman et al.

stolz darauf sind, dass sie gemeinsam GCash möglich machen.41 Der Kunde hat für sie
oberste Priorität. Um es mit den Worten von Globe auszudrücken: „Wir kümmern uns
wie ein Eigentümer.“
Globe Telecom Inc. ist ein börsennotiertes Unternehmen, das in der Telekommuni-
kationsbranche verschiedene Dienstleistungen auf nationaler und internationaler Ebene
bietet. Der Konzern bietet auch kabellose Kommunikationsservices unter anderen Mar-
ken wie Globe Handyphone (GHP) und Touch Mobile. Er verfügt über eine Reihe voll-
wertiger Tochterunternehmen wie Innove Communications und GTI Business Holdings.
2013 verzeichnet Globe bei seinem Nettogewinn ein Wachstum von 13 %, ein Jahr zuvor
lag das Wachstum bei 9 %. Der Gewinn des Konzerns beläuft sich auf 11,6 Mrd. Peso
(246 Mio. EUR). Die Gewinnsteigerung verdankt der Konzern dem Mobilfunkgeschäft
(zu dem GCash gehört), dem Breitbandgeschäft und dem Festnetzgeschäft. GCash ist
also nicht nur ein gesellschaftlich relevantes Unternehmen, das dabei hilft, die Kunden-
bindung im Mobilfunkgeschäft zu stärken, sondern auch ein sich selbst finanzierender
und gewinnbringender Teil des Geschäfts.
Mit der Gründung von GCash wurde ein Wandel im Überweisungssystem ermöglicht.
Die Empfänger von internationalen Überweisungen, die in Städten oder auf dem Land
wohnen, haben einfacher und preiswerter Zugang zu ihren Überweisungen. Auch phil-
ippinische Arbeitsimmigranten können einfacher und preiswerter Geld aus dem Ausland
an ihre Angehörigen überweisen. Die Einsparungen von Zeit und Geld sorgen dafür, dass
Menschen mehr Zeit zum Arbeiten haben und folglich auch mehr Geld zum Ausgeben
oder Sparen haben. Beides sorgt für einen Schub der lokalen Wirtschaft. Außerdem kön-
nen dank des innovativen Charakters und des engmaschigen Partnernetzes groß ange-
legte CSR-Projekte organisiert werden, die die (finanzielle) Situation der philippinischen
Bevölkerung verbessern.
GCash ist mehr als nur Mobilebanking. Mit GCash ist ein Mikrofinanznetzwerk ent-
standen, mit dessen Hilfe jedermann Finanzdienstleistungen in Anspruch nehmen kann.
Davon profitieren Banken, Ladenbesitzer und Kunden (vgl. Abb. 5.13).42

5.3.4 Die brillanten Lektionen von GCash

• Die eigenen Mittel für disruptive Innovation an den Rändern des Businessmodells
benutzen: GCash hat seine Telekommunikationsinfrastruktur genutzt, um ein völlig
neues Netzwerk im Bankzahlungsverkehr aufzubauen. Dafür muss man den Kern sei-
ner Fähigkeiten und Ressourcen sehr gut verstehen sowie Mut zum Experimentieren
und Lernen in einer anderen Branche haben.

41http://www.globe.com.ph/annual-report/our-people.

42Aktionärswert: Jahresbericht Globe Telecom, Wert für die Gesellschaft: Google.


5  Gemeinschaftlicher Zahlungsverkehr 131

Wert durch Kunden


• Rückgang der Fluktuation von GCash-Nutzern bei Globe von 3 % auf 0,5 %
• Kunden sind Botschafter: Sie machen das Netzwerk relevant und verbessern so das
Finanzsystem
• Aktive Beteiligung in der Community, um Kundenfragen zu beantworten

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Eigene Mitarbeiter sind stolz auf • Eine sich selbst finanzierende Methode
Innovation und den gesellschaftlichen zur Stärkung der Kundenbindung im
Wert Kerngeschäft
• Leihhäuser/Einzelhändler spielen eine • GCash zeigt sich für Globe von seiner
wichtige Rolle im Ökosystem: Sie sind der innovativen Seite
direkte Kontakt für den Kunden und • Weil jeder Partner von GCash sein will
erhalten die Relevanz des Netzwerks (und somit auch von Globe), wirkt sich
• Leihhäuser/Einzelhändler können das positiv auf das Image und das
einfacher und sicherer Geld erhalten und Netzwerk aus
verwahren und bekommen eine Schulung • Unternehmenswert von Globe Telecom:
5,1 Milliarden USD (4,8 Milliarden EUR)

Wert für und durch die Gesellschaft


• Mikrofinanzierungssystem mit einem für jedermann zugänglichen Netzwerk
• Schub für die nationale Wirtschaft durch einfache internationale Finanztransaktionen
• Globe und GCash organisieren CSR-Projekte, um die (finanzielle) Situation der philippinischen
Bevölkerung zu verbessern
• Treffer: 701.000, positive Bewertung 80% (Google)

Abb. 5.13  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von GCash


132 J. Kemperman et al.

• Das System und die Infrastruktur in einer anderen Branche verändern und nutzen:
um das zu tun, hat GCash die Kooperation mit einer Bank gesucht; als Partner haben
beide gemeinsam Veränderungen in der Gesetzgebung realisiert, damit auch andere
Dienstleister außer Banken und Finanzberater Finanzdienstleistungen bieten kön-
nen. Auf diese Weise konnten sie wiederum lokale Partner an sich binden. Durch die
Beteiligung lokaler Partner konnte GCash auf ein bestehendes Anbieter- und Kun-
dennetzwerk zugreifen, in dem mit Blick auf das Vertrauen der Verbraucher auch der
lokale Charakter und der persönliche Ansatz eine Rolle spielen.
• Sich ehrlich und ernsthaft in die Situation seiner Partner und Kunden hineinversetzen:
GCash ist in der Produktentwicklung weit gegangen. Das Unternehmen hatte nicht
nur die Wünsche und Bedürfnisse seiner Zielgruppe(n) im Blick, sondern setzte sich
auch mit den Lebensumständen und Einschränkungen dieser Bevölkerungsgruppe
auseinander. Das Ergebnis war ein Produkt, das für jedermann erschwinglich ist und
sowohl Partnern als auch Kunden Komfort bietet. So hat GCash eine unglaublich
starke Win-win-Situation für Partner und Verbraucher geschaffen.
• Probleme zu Erfolgen machen: die Arbeitsmigration und die dazugehörigen Überwei-
sungen, die geografische Verstreuung über zahlreiche Inseln und die weit verbreitete
Armut sind nicht wirklich attraktive Umstände, auf die man sich gerne einstellt. Aber
Sie spielen dem Mangel in die Hände und stellen echte Probleme dar, die es zu lösen
gilt. Globe und damit auch GCash konnten diesen Probleme in Erfolgsfaktoren ver-
wandeln. Jede Lösung braucht ein Problem, und die Lösung von Mobilebanking hatte
davon sogar mehrere gleichzeitig.
• Man muss nicht der Erste sein, wenn man nur der Klügste ist: obwohl im Markt
bereits ein Player aktiv war, der ein ähnliches Produkt zu vermarkten versuchte,
gelang es GCash dennoch, den Markt zu öffnen und erfolgreich zu innovieren. Durch
winzige, aber wichtige Veränderungen, vor allem Vereinfachungen des Produkts und
des auf Partner ausgerichteten Ansatzes, wurde GCash zum disruptiven Innovator auf
dem philippinischen Markt.

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Gemeinschaftliches Banking
6
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

Das so genannte „Retailbanking“, oder standardisierte Privatkundengeschäft, ist in seiner


grundlegendsten Form ein ziemlich übersichtliches Feld. Man verwahrt für Menschen
Geld gegen Zinsen und dieses Geld wird wiederum an andere zu höheren Zinsen verlie-
hen. Mit der Differenz werden Kosten bezahlt und mögliche Schulden gedeckt, die Kun-
den nicht zurückzahlen. Alles, was dann noch übrig bleibt, ist Gewinn. Aber so einfach ist
das auch wieder nicht, ganz im Gegenteil: Manchmal kann die Angelegenheit sogar sehr
komplex werden. Und zugegeben, die Sache wurde auch ziemlich verkompliziert für die
Öffentlichkeit, die Kunden und sogar für die direkt Betroffenen und die Menschen, die
jeden Tag damit arbeiten. Deshalb verharren wir für jeden, der es aufschlussreich findet,
einen Augenblick an der Basis des Bankings, um zu sehen, wie es eigentlich funktioniert.
Sinn und Zweck ist es, die Rolle und den Wert dieser Finanzsparte gut zu verstehen.
Beim Banking geht es um das zeitweilige Verschieben von Geld zwischen Parteien.
Wenn man Geld übrig hat, möchte man nicht unbedingt alles im Haus aufbewahren.
Hier ist es schließlich nicht sicher. Es stellt sich also die Frage, wer das Geld für einen
verwahren kann. Umgekehrt braucht man vielleicht schon zu einem früheren Zeitpunkt

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 135


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_6
136 J. Kemperman et al.

mehr Geld als einem zur Verfügung gestellt wird. Übertragen auf den Zahlungsverkehr
kommt auf diese Weise sehr schnell der Banker ins Spiel, der Geld temporär verwahrt
oder vorschießt.
Manchmal deponiert man Geld, das man später braucht bei der Bank, manchmal leiht
man sich dort Geld, das man später zurückzahlt. Gemeint sind damit die im vorangegan-
genen Kapitel mit den dazugehörigen Gehaltskonten und PIN-Zahlungen beschriebenen
täglichen Transaktionen und der fortlaufende Zahlungsverkehr. Aber so fing das Banking
nicht an. Die ersten Banken waren insbesondere mit großen Geldströmen beschäftigt
und waren deshalb eng mit dem Handel verbunden. Schließlich benötigt der Handel zum
Erwerb von Waren große Beträge. Wenn es gut läuft, bekommt man als Händler dafür
noch mehr Geld zurück; dieses Geld muss bis zum Kauf neuer Waren auch wiederum
verwahrt werden und dafür braucht es wiederum eine Bank. Im Handel geht es dabei
häufig nicht nur um den Einkauf von Waren, sondern beispielsweise auch um die Finan-
zierung von Transport und zwischenzeitlicher Lagerung. Damit sind wir eigentlich ganz
schnell bei Investitionen, bei denen die Bank mit dem Händler zusammenarbeitet.
Finanzieren und Investieren gehen über das Betreiben von Handel hinaus. Sie betref-
fen auch die Produktion. Einige Waren oder Dienstleistungen können vorab vom Auf­
traggeber, der sie haben möchte, bezahlt werden. Als Beispiele kommen etwa Tischler
oder Maler infrage, die nach Auftrag arbeiten, aber auch Dienstleister wie Reinigungs-
kräfte, Schuhputzer oder Taxifahrer, die in einem einzigen Prozessschritt einen Auftrag
erhalten, liefern und direkt bezahlt werden. Das ist das Modell der Ur-Ökonomie, das sich
jedoch auch in der modernen Share Economy wiederfindet. Dabei entstehen wiederum
neue Möglichkeiten, überall zu bezahlen, auf Bestellung vor Ort zu liefern und abzurech-
nen. Dann ist ein Vorschuss durch den Produzenten nicht notwendig. Das ist zum Bei-
spiel der Fall beim Teilen oder Vermieten eines Objekts – ein Phänomen, das bereits in
der Share Economy anzutreffen ist, aber auch beim 3D-Drucken eines Motivs in Echt-
zeit. Dennoch werden viele Waren immer noch auf Vorrat oder Bestellung produziert und
(noch) nicht geteilt, oder es sind Produktionsmittel oder Rohstoffe erforderlich, die erst
bezahlt werden müssen, oder der Zeitpunkt der Zahlung entspricht nicht dem Zeitpunkt
der Lieferung. Wenn man das Geld dafür gerade nicht hat, ist also eine Investition erfor-
derlich. Und so entsteht der Bedarf an Menschen, die das Geld sehr wohl haben.
Wenn man Geld braucht, kann man sich auf die Suche nach jemanden machen, der
viel Geld hat, und fragen, ob er oder sie einem hilft, indem er oder sie einem Geld leiht.
Wenn das der Fall ist, steht demgegenüber in der Regel eine Vergütung, und sei es nur
wegen des Risikos, dass das Geld nicht (rechtzeitig) zurückgezahlt werden kann. Hier
kommt also der Zins ins Spiel. Dabei wird die Person einen fragen, wie sie sicher sein
kann, dass das Geld auch zurückgezahlt wird. Wenn man etwas Wertvolles besitzt, das
man nicht verlieren möchte, das aber zur Not verkauft werden kann und Geld einbringt,
kann dieser Gegenstand als Sicherheit dienen. Dafür kommen beispielsweise bewegliche
Güter wie Schmuck infrage oder unbewegliche Güter wie Häuser und Land; letztere kön-
nen nirgendwo hin, d. h., diese sind als Sicherheit natürlich bestens geeignet. Dabei ist es
logisch, dass man das, was man mit dem Geld kauft, als Sicherheit deklariert. Das kann
also ein Posten Produktionsmittel sein, ein Vorrat an fertigen Produkten oder ein Haus,
6  Gemeinschaftliches Banking 137

ein Stück Land oder ein Viehbestand. Wo Schmuck noch physisch als Sicherheit hinter-
lassen werden kann, ist das mit unbeweglichen Gütern praktisch nicht möglich. Das ist
auch nicht nötig, weil es hier um eine Kategorie von Gütern geht, die nicht einfach so
verschwinden. Und natürlich möchte man unbewegliche Güter auch weiterhin nutzen, so
wie die Produktionsgüter, denn anderenfalls kann man nicht damit produzieren, womit
wir wieder am Ausgangspunkt angekommen wären.
Kurzum, hier sind die Sicherheiten, die Notare, die Hypotheken, die Vorratsfinanzie-
rungen und die Objektfinanzierung, einschließlich der Hypotheken und der Basis von
Leasing.
Das Faszinierende, Magische und auch Unbegreifliche, das beim Leihen von Geld
passiert, ist die Tatsache, dass mehr Geld entsteht und dass dieses Geld wieder in Umlauf
kommt, wohingegen nicht mehr Vermögen entsteht. Es ist vergleichbar mit einer Fami-
lie mit zwei Kindern: Die Mutter hat zwei Kinder, der Vater hat auch zwei Kinder, und
dennoch sind es nur zwei Kinder insgesamt. Wenn Person A 10.000 EUR auf ein Konto
einzahlt, bleibt diese Summe ihr Geld und Vermögen. Wenn das Geld anschließend in
voller Höhe an Person B geliehen wird, hat diese Person auch 10.000 EUR, die ausgege-
ben oder investiert werden können. Die Person, die das Geld geliehen hat, hat im Gegen-
zug für dieses Geld Schulden aufgenommen und hat deshalb nicht mehr Vermögen, aber
das bestehende Vermögen, mit dem nichts passierte, wurde aktiviert. Es wurde also Geld
geschaffen und totes Vermögen wieder aktiv genutzt! Das ist von Nutzen für die Gesell-
schaft – solange es übersichtlich bleibt. Die Wirtschaft wird durch zusätzlichen Konsum
und weitere Investitionen angekurbelt.
Auf Banken wird insofern Druck ausgeübt, als dass sie einerseits vor allem viel Geld
verleihen sollen, ohne dabei jedoch zu hohe Zinsen zu verlangen, und dass andererseits
Aktionäre einen möglichst hohen Gewinn mit ihren Wertpapieren erzielen wollen. Um
zu veranschaulichen, wie das funktioniert, können vier wichtige Stellschrauben betrach-
tet werden, an denen eine Bank im Rahmen des Zinsgeschäfts drehen kann.

Die Marge auf die Zinsen, die als Risikoaufschlag verlangt werden
Die verlangten Zinsen sind niedriger, je höher die gegebene Sicherheit ist. Wenn ein
Haus als Sicherheit für ein Darlehen mit 30-jähriger Laufzeit dient und sich der gelie-
hene Betrag nur auf 50 % des Werts beläuft, ist ein Risikoaufschlag von 1 % pro Jahr
bei Rückzahlungsausfall schon viel zu viel. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Geld nicht
zurückgezahlt wird und auch nicht durch den Verkauf des Hauses hereingeholt werden
kann, ist schließlich kleiner als 30 %. Es ist sehr wohl möglich, mehr Zinsen zu ver-
langen, wenn der Prozentsatz für einen langen Zeitraum festgelegt wird, weil das Unsi-
cherheit mit sich bringt. Wenn bei einem anderen Darlehen nur ein Auto als Sicherheit
eingesetzt wird, das als Taxi genutzt wird und das für über 1 % Finanzierung herhalten
muss, werden wohl mehr als 1 % Aufschlag pro Jahr fällig. Wenn jemand nur eine Idee
für die Entwicklung eines neuen, sensationellen Produkts hat, ist das möglicherweise zu
risikobehaftet, um Geld auf Basis einer begrenzten Zinsmarge zu verleihen. Solange der
Prozentsatz angemessen und über ausreichend verschiedene Darlehen gestreut ist, gilt
138 J. Kemperman et al.

das Gesetz der großen Zahlen. Die Darlehen, die in dem Jahr nicht zurückgezahlt wer-
den, können mit den Zinsen des Jahres finanziert werden. Wenn Banken beim Versuch,
so viel Geld wie möglich zu verleihen, miteinander konkurrieren, besteht das Risiko,
dass sie zu wenig Marge fordern und sich selbst reich rechnen. Das ist umso gefährli-
cher, wenn es auch noch zu einer Wirtschaftskrise kommt und die Menschen ihre Schul-
den nicht mehr zurückzahlen können. Einerseits können niedrige Zinsen dann gut für
Kunden sein, andererseits können sie langfristig auch wiederum viele Gefahren in sich
bergen. Denn wer kommt dann dafür auf?

Die Geldmenge, die man für Sparer in der Kasse behält


Nicht alle kommen gleichzeitig, um ihr Geld wieder abzuheben. Deshalb braucht man
nicht das ganze Geld, das Menschen einem zur Verwahrung anvertrauen, in der Kasse
zu behalten. Man beginnt beispielsweise mit der Faustregel, dass man für jede 100 EUR
immer 30 EUR in der Kasse behalten möchte. Das bedeutet, dass 70 EUR verliehen
werden können. Das bedeutet auch, dass die Zinsen, die man für die 70 EUR bekommt,
höher sein müssen, als die Zinsen, die man für 100 EUR bezahlt, d. h., dass die Zin-
sen erhöht werden. Wenn man vereinbart, dass Sparer das Geld für eine Weile festle-
gen, kann man sehr wohl 80 EUR verleihen und so auch mehr Zinsen für sich selbst und
für andere bekommen. Dabei kann vereinbart werden, dass eine Gebühr zu zahlen ist,
wenn die Sparer das Geld doch früher abheben möchten, um sicherer zu sein, dass alles
gut geht. Wenn die Bank schon eine ganze Weile existiert und jeder viel Vertrauen in
sie hat, kann es auch sein, dass 10 % eigentlich auch schon genug sind und die Bank
90 % verleihen kann. Geld, das in der Kasse zurückbehalten wird, ist schließlich ‚totes
Kapital‘, das nicht arbeitet, für das aber sehrwohl Zinsen gezahlt werden müssen. Die
Kunst ist also, so viel Geld wie möglich zu verleihen und es nicht verkümmern zu lassen.
Allerdings besteht das Risiko, dass wenn alle Sparer gleichzeitig ihr Geld abheben, der
Geldvorrat bei Weitem nicht ausreicht! Garantiefonds helfen zu vermeiden, dass jeder
gleichzeitig zur Bank geht, um sein Geld abzuheben. Solange Menschen darauf ver-
trauen, dass ihr Geld ausgezahlt werden kann, gibt es auch kein Problem. Das schließt
natürlich nicht aus, dass die Garantien manchmal auch tatsächlich in Anspruch genom-
men werden müssen, so wie bei DSB und Icesave.

Die Geldmenge, die man für Darlehensnehmer in der Kasse haben muss
Das Prinzip, dass man als Bank nicht alles Geld physisch im Tresor haben muss, gilt
nicht nur für gespartes, sondern auch für verliehenes Geld. Insbesondere mit digitalen
Transaktionen kann man viel mehr Geld verleihen, als man tatsächlich in der Kasse hat.
Wenn man 100 EUR verwaltet, stellt sich nicht nur die Frage, ob man davon 70, 80 oder
90 EUR verleihen könnte. Man kann diese 70, 80 und 90 EUR beispielsweise auch noch
verfünffachen, sodass man fünfmal so viel verleihen kann. Natürlich wird hier erst die
Generierung von Geld durch die Bank tatsächlich materiell. Es geht nicht mehr nur um
Verdoppelung, sondern um noch viel mehr. Wenn man beispielsweise für jede gespar-
ten 100 EUR 10 EUR in der Kasse behält und anschließend dreimal 90 EUR verleiht,
6  Gemeinschaftliches Banking 139

dann befinden sich 270 EUR mehr Geld in der Wirtschaft. Das ist von Nutzen, weil
es Unternehmen und Arbeitsplätze fördert. Gleichzeitig ist es nicht für jeden ersicht-
lich, wie das funktioniert. Viele Sparer haben eigentlich das Gefühl, dass ihr Geld bei
der Bank einfach für sie verwahrt wird, bis sie es wieder brauchen. Aber jeder, der ein-
mal kurz innehält und darüber nachdenkt, versteht sofort, dass das Geld verliehen wird,
denn anderenfalls würde man keine Zinsen bekommen. Dass anschließend mehr Geld
verliehen als gespart wird, macht die Sache wieder etwas komplizierter. Es bedarf des
Vertrauens von Sparern und Banken müssen damit sorgfältig umgehen. Dabei muss ganz
genau im Auge behalten werden, ob die Bank selbst auch noch Vermögen hat, um etwa-
ige Differenzen zu kompensieren, wenn alle Guthaben wieder an die Sparer ausgezahlt
wurden, die Darlehen aber nicht vollständig zurückgeholt wurden.

Das Verhältnis zwischen eigenem Vermögen und dem Geld von Sparern
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Banking häufig mit Menschen beginnt, die selbst Geld
übrighaben und es verleihen. Es ist auch nicht merkwürdig, dass der Bedarf an Geld-
verleih bereits schnell die Mittel übersteigt. Wenn man nicht aufpasst, wird es zur täg-
lichen Aufgabe. Es ist also nur logisch, dass Banken entstehen, die eine Vermittlerrolle
spielen zwischen Menschen, die Geld übrighaben, und Menschen, die Geld leihen wol-
len. Ein logischer Anfang dabei ist, dass die Person, die bereits eigenes Geld verleiht,
neben diesem eigenen Vermögen auch Geld für andere verwaltet und verleiht. Das kann
sie tun, indem sie selbst eine Vergütung an die Menschen auszahlt, die ihr Geld zur Ver-
wahrung geben, um dieses Geld anschließend für etwas mehr Zinsen an andere Men-
schen zu verleihen. Eine wichtige Frage ist natürlich, wie viel Geld man verleihen kann.
Wenn man eigenes Geld verleiht, behält man selbst etwas für eigene Ausgaben und zur
Sicherheit zurück. Wenn man Geld von anderen verleiht, gilt das gleiche Prinzip, wobei
die Situation noch etwas weniger vorhersehbar ist. Die Frage ist dann natürlich, wie man
das Verhältnis zwischen dem eigenen Vermögen und dem Geld von Sparern handhabt.
Wenn man mehr eigenes Vermögen einbehält, hat man einen Puffer, mit dem Darlehen
zurückgezahlt werden, wenn doch zu wenig Risikoaufschlag verlangt wurde. Dabei ist
die Wahrscheinlichkeit kleiner, dass man das Geld nicht in der Kasse hat, wenn Sparer
es abheben, denn dann steht man selbst in der Schlange. Durch ein kleineres eigenes
Vermögen kann man jedoch mehr verleihen und dafür eine Marge für die Eigentümer
der Bank erzielen. Nehmen wir die 100 EUR von Sparern aus dem vorangegangenen
Beispiel, von denen 10 EUR in der Kasse bleiben und mit übrig bleibenden 90 EUR
270 EUR verliehen werden. Wenn von 100 EUR 50 EUR das eigene Spargeld bzw. das
Vermögen der Bank ist, ist immer noch viel eigenes Geld nötig. Wenn man von jeden
100 EUR selbst 5 EUR als eigenes Vermögen anlegt, ist das ein Verhältnis von 1:20 und
es kann verhältnismäßig viel mehr Geld verdient werden. Denn dann können schließ-
lich mit 5 EUR eigenem Vermögen 100 EUR Spargeld verwaltet und 270 EUR verliehen
werden. Das ist für Aktionäre viel attraktiver. Es erhöht jedoch wiederum das Risiko für
Sparer, denn wenn ein Teil der 270 EUR nicht zurückgezahlt wird, ist das eigene Vermö-
gen in Höhe von 5 EUR schnell aufgebraucht. Die Banken sind also wiederum gefragt,
140 J. Kemperman et al.

sorgfältig damit umzugehen, denn einfache Sparer sind sich dieser Mechanismen nicht
wirklich bewusst. Deshalb ist es nützlich, dass Regierungen, Zentralbanken und Banken
untereinander Vereinbarungen treffen über das gewünschte eigene Vermögen, das sie in
der Kasse haben müssen. Das ist besser als miteinander zu konkurrieren, wer das größte
Risiko einzugehen wagt. Logischerweise wollen Banken gern noch andere Aktivitäten
als nur das Zinsgeschäft betreiben, sodass sie relativ viel eigenes Vermögen benötigen.
Deshalb sind Banken auch stark durch das Angebot von Zusatzdiensten gewachsen, für
die Kunden zahlen müssen, z. B. Transaktionen, Kontoführung und Risikomanagement.
Vor allem in den USA sind diese Aktivitäten mit Abstand die größte Einnahmequelle für
Banken.
Das Verwalten und Verleihen von Geld bleibt eine Kernaktivität von Banken und ist
gesellschaftlich von Nutzen, um damit Handel und Investitionen zu ermöglichen. Das
Zinsgeschäft ist risikobehaftet. Der Sparer bleibt dem eigenen Gefühl nach Eigentümer
des Geldes, aber das Generieren von Geld durch Verleih ist nicht ganz risikolos. Wenn
kein Geld verliehen wird, gibt es zwar kein Risiko, aber dafür gibt es auch weniger Wirt-
schaft. Wenn Wucherzinsen verlangt werden oder keine Nachsicht mit Menschen in
finanziellen Schwierigkeiten geübt wird, kommt es zu ernsten gesellschaftlichen Prob-
lemen. Wenn jedoch zu viel Geld zu einem zu niedrigen Zins verliehen wird, kommt es
zwar kurzfristig zu Beifallsbekundungen, aber langfristig kann auch alles völlig schief-
gehen. Dann können Sparer auf schmerzhafte Weise dahinterkommen, dass ihr Geld
ganz einfach in die Konkursmasse geflossen ist. Dann haben Anleger ihre Investition ver-
loren, sodass es schwierig wird, um für den Bankbetrieb das eigene Vermögen überhaupt
zusammenzubekommen. Um ein solches Szenario zu vermeiden, braucht es Banker,
die ihr Fach verstehen und die nicht zu viele Risken eingehen, sondern die verantwor-
tungsvoll Geld verleihen. Banker, denen man sein Erspartes anvertrauen kann und die
ihre Macht nicht missbrauchen, wenn man zum Leihen von Geld von ihnen abhängig ist.
Sehen wir uns einmal diese Art von brillanten Businessmodellen im gemeinschaftlichen
Banking an.

Vergangenheit: Businessmodelle wie Mit Ghamr


Möglicherweise ist klar, dass das Führen einer gemeinschaftlichen Bank auch eine
Quelle von ethischen Rätseln und Versuchungen ist. Habsucht, die sich darin äußert,
zu viel Geld zu verleihen und zu wenig eigenes Vermögen zu haben, kann Sparer und
indirekt ganze Ökonomien in Gefahr bringen. Dabei bedeutet die Forderung von Zin-
sen beim Verleihen von Geld natürlich automatisch, dass man an Menschen verdient,
die gerade Geld brauchen. Das können auch Menschen sein, die keine Arbeit haben,
obdachlos sind oder Hunger haben. Eine radikale Art, das zu verhindern, ist ein Verbot
der Forderung von Zinsen für Geld. Das war der Fall im Christentum, weshalb Juden
von alters her eine starke Rolle im Bankwesen in Europa und in den USA gespielt
haben. Und so ist es heute noch im Islam ausgelegt. Das bedeutet, dass dort andere
Wege und Möglichkeiten gefunden werden müssen, um ohne Forderung von Zinsen
den Menschen bei Investitionen und Handel zu helfen. Das klassische Rollenmodell des
6  Gemeinschaftliches Banking 141

islamischen Bankwesens ist das von Mit Ghamr. Ein Konzept, das nur für kurze Zeit in
Ägypten praktiziert wurde und das immer als Beispiel herangezogen wird, über das aber
gleichzeitig nur so viel bekannt ist wie in einem kurzen Elevator Pitch präsentiert wer-
den kann. Das hat sich jetzt geändert.

Gegenwart: Businessmodelle wie Svenska Handelsbanken


Das Retailbanking und die Tätigung von Zinsgeschäften erfordert Solidität, Integrität
und tiefe Verankerung in der Gemeinschaft vor Ort. Auf diese Weise macht man sich mit
Spargeld vertraut und lernt zu unterscheiden, in was verantwortungsvoll investiert wer-
den kann und in was nicht. Ein gutes und schönes Beispiel aus der Praxis ist Svenska
Handelsbanken. Dieses brillante Businessmodell passt in die Tradition von Banken,
die in der Gemeinschaft vor Ort gut verwurzelt sind. Dabei liegt der Fokus in diesem
Fall auf sehr vermögenden Kunden. Im Vergleich haben wir es in den Niederlanden mit
einem Rabobank-Ansatz für Kunden von Van Lanschot zu tun. Wenn man die Banken
unter die Lupe nimmt, die tief in der Gesellschaft und Region verwurzet sind, findet man
auch Beispiele für die Gefahren, die das mit sich bringt. Ein drastisches und markan-
tes Beispiel ist die Banca Monte dei Paschi di Siena (MPS), die älteste Bank der Welt,
die seinerzeit in Siena gegründet wurde. Diese Bank investierte jahrhundertelang in die
Gesellschaft und zeigte auf diese Weise, dass das Bankwesen ein soziales Gesicht haben
kann. Schließlich wurde die Verflechtung mit der Gesellschaft zu stark, sodass sich diese
Bank in soziale Netze verstrickte und missbraucht wurde für soziale Projekte, die zwar
gesellschaftlich relevant waren, aber die nicht mehr tragbar waren, als es zu einer Kredit-
krise kam. Ein weiteres Beispiel für brillante Businessmodelle im Retailbanking, die die
Phase 4 erreicht haben, sind viele regionale Banken in Spanien, die die Schuldenlast aus
der Krise mit Immobilien nicht tragen können. Svenska Handelsbanken zeigt mit schwe-
discher Nüchternheit und Zuverlässigkeit, dass es auch anders geht.

Zukunft: Businessmodelle wie Umpqua Bank


Mit der modernen Digitalisierung erscheinen die traditionellen Bankfilialen wie ein Ana-
chronismus. Retailbanking funktioniert auch prima ohne physischen Standort. Die Poten-
ziale und Erfolge mit Internetbanking liegen auf der Hand und werden von Onlinebanken
wie First Direct, ING Direct und Zurich Connect eindrucksvoll verkörpert.1 Das Wich-
tigste ist und bleibt, sich für eine Strategie zu entscheiden und daran festzuhalten. Ein
Beispiel für eine Bank, die einen völlig anderen Ansatz praktiziert, ist die Umpqua Bank,
eine Bank, die sich dafür entschied, den Filialstandort mit hervorragenden Dienstleistun-
gen in den Mittelpunkt zu rücken. Es gibt noch mehr Beispiele für diese Art von Kun-
dennähe im Bankwesen, z. B. die Bankfilialen von Jyske Bank (vgl. Verweire 2014) in
Dänemark, das Retailkonzept CheBanca von MedioBanca in Italien sowie das bürgernahe

1Siehe Verweire (2014) für eine Beschreibung der Fallstudie von ING Direct und Peverelli und de
Feniks (2010) für eine Beschreibung der Fallstudie ING Direct und First Bank.
142 J. Kemperman et al.

Konzept von BBVA und Caja Navarra (vgl. Bakas und Peverelli 2009, Peverelli und de
Feniks 2010) in Spanien. Aber vielleicht ist dieser ausgezeichnete Service letztlich noch
am ehesten zu vergleichen mit dem Ansatz von Unternehmen in anderen Branchen wie
z. B. Singapore Airlines und Zappos oder dem Club, in dem Umpqua selbst seine Mitar-
beiter in Kundenorientierung schult: The Ritz-Carlton.2

6.1 Mit Ghamr Savings Association

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Immaculada Macías Alonso und Jeroen
Geelhoed verfasst.

Der Vorreiter im islamischen Bankwesen


Prolog
Das islamische Bankwesen ist im Aufwind. Die Branche realisiert ein Wachstum zwi-
schen 10 % und 20 % pro Jahr. Das Angebot an Büchern über islamisches Bankwesen
nimmt kontinuierlich zu und umfasst mittlerweile sogar den Band „Islamic Finance
for Dummies“! Jedes dieser Bücher enthält natürlich ein Einführungskapitel mit der
Geschichte des islamischen Finanzwesens. Und in jedem dieser Einführungskapitel
wird voller Stolz erzählt, dass alles im ägyptischen Mit Ghamr begann. Hier wurde
einst das Fundament des modernen islamischen Bankwesens gelegt. Was dort passiert
ist, ist sehr besonders. Zunächst wird in diesem Beitrag in drei bis vier Zeilen in sehr
allgemeinen Worten erzählt, was dort passiert ist; abschließend wird ein weiteres Mal
festgestellt, wie bahnbrechend die Ereignisse dort waren.
Unterdessen wird man als Leser in einem gemischten Zustand aus Neugier und
Enttäuschung zurückgelassen. Was ist denn so besonders? Was genau ist dort pas-
siert? Warum ist das bahnbrechend? Wie ist man an die Sache herangegangen? Als
Leser möchte man mehr erfahren und begibt sich folglich auf die Suche. Doch lei-
der gibt die Literatur nichts darüber her. Auch die Suche im Internet ergibt nicht
mehr als ein paar obligatorische Informationen. Bis man noch einem anderen Mit-­­
Ghamr-Interessierten begegnet, mit dem man einige Puzzleteile zusammenfügen
kann: Ein Interview mit dem Sohn des Gründers und ersten Mit-Ghamr-Managers,
ein amerikanischer Bericht der Ford Foundation aus dem Jahr 1967 und die in einem
Antiquariat gefundene Dissertation über den Gründer Ahmed El-Naggar aus dem
Jahr 1982 in deutscher Sprache. Und tatsächlich: Es stimmt. Was in Mit Ghamr pas-
siert ist, ist etwas Besonderes. Lesen Sie selbst!

2Siehe z. B. Treacy und Wiersema (1995) für eine Beschreibung der Kundennähestrategie, Ver-
weire (2014) sowie Geelhoed et al. in Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog (2013) für Zappos.
6  Gemeinschaftliches Banking 143

Einleitung
Wir schreiben das Jahr 1963. Die Mit Ghamr Savings Association wird gegründet.
Diese arbeitet mit islamischer Mikrofinanzierung, schon lange bevor ein islamisches
Bankwesen oder traditionelle Mikrofinanzierung existieren. Mit Ghamr wird gegrün-
det und geführt von Ahmed El-Naggar, der durch die Gründung der deutschen Spar-
kassen wie z. B. der Genossenschaftsbanken von Raiffeisen inspiriert wird.3 Das
wichtigste Ziel der Mit Ghamr Savings Association ist es, den Menschen die Bedeu-
tung des Sparens aufzuzeigen. Mit Blick auf dieses Ziel arbeitet El-Naggar an Fra-
gen zu sozialer Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung, wirtschaftlicher Entwicklung und
gleichem Zugang zu Krediten (Hegazy 2007, S. 585). Die meisten Autoren betrachten
Mit Ghamr deshalb als erste islamische Bank (vgl. Chapra 2000, Vogel und Hayes
1998) oder die einzige kurzzeitige Erfahrung mit einem islamischen sozialen Bank-
wesen (vgl. Asutay 2012, Kahf 2004). Wie dem auch sei, für islamische Ökonomen
bleibt es ein inspirierendes Beispiel. Mit Ghamr wird überall als einzigartige und kre-
ative Einrichtung gesehen, die für soziale Zwecke ins Leben gerufen wurde. Das ist
etwas, was keiner anderen islamischen Bank bis heute gelungen ist (vgl. Abb. 6.1).
Islamische Ökonomie ist eine breite moralische Disziplin, die sich mit dem all-
gemeinen Wohlbefinden der Gesellschaft beschäftigt. Man spricht dann von islami-
schem Bankwesen: Awqaf (religiöse Gaben), Zakat (das Geben von Almosen) und
Takaful (Versicherungen). Die moderne Idee der islamischen Ökonomie entsteht um
die Zeit der Aufteilung von Indien im Jahr 1947. Zinsen werden (in der islamischen
Welt) als ein Instrument westlicher Dominanz und eine Quelle islamischer Dekadenz
betrachtet (Kuran 1995, S. 206). Vor diesem Hintergrund entsteht eine neue Form von
islamischem Selbstbewusstsein. Man könnte sagen, dass die islamische moralische
Wirtschaft eine Reaktion auf die schwache wirtschaftliche Entwicklung in der mus-
limischen Welt ist. Gleichzeitig bietet sie eine Alternative zum Kommunismus und
Kapitalismus (vgl. Visser 2009, Asutay 2012), denn das islamische Finanzwesen folgt
den Regeln der Scharia (des islamischen Gesetzes) auf der Grundlage des Koran und
der Sunna. Die Scharia betrachtet Zinsen (Riba), Spekulation (Gharar) und Glücks-
spiel (Maysir) als Dinge, die bei allen geschäftlichen Transaktionen zu vermeiden
sind. Diese kritische Sichtweise auf das Verdienen von Geld mit Geld ist nicht nur auf
den Islam beschränkt. Sie ist vergleichbar mit den Regeln im frühen Christentum, in
dem ebenfalls ein Zinsverbot galt. Aus diesem Grund spielen Nichtchristen von alters
her eine zentrale Rolle im europäischen Bankwesen. Das islamische Bankwesen bein-
haltet eine Reihe klarer Regeln: Zinsen sind allgemein verboten, Spekulation nicht
erlaubt. Investitionen in bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten sind verboten (darunter
die Verarbeitung von Schweinefleisch, Alkohol, Tabak sowie die Waffenproduktion,
Glücksspiel und Pornografie). Die Gewinne, Risiken und Verluste der wirtschaftlichen

3SieheGeelhoed und Geelhoed in Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog (2013) für das brillante
Businessmodell von Raiffeisen.
144 J. Kemperman et al.

Markenkern: Finanzielle Inklusion

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Menschen die Bedeutung des Sparens • Armutsbekämpfung
beibringen • Soziale Gerechtigkeit
• Wirtschaftliche Entwicklung
Markenursprung
• Die islamische moralische Wirtschaft als • Gleicher Zugang zu Krediten für die
Alternative zum Kommunismus und ägyptischen Bauern
Kapitalismus
• Ahmed El-Naggar studierte in Markenversprechen
Deutschland, war fasziniert vom • Produkte, die den religiösen Überzeugungen
deutschen Sparkassensystem und entsprechen
integrierte diese Idee in das islamische
Bankwesen
• Begonnen als ein Projekt
Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Finanzielle Inklusion • Religion, Wissenschaft und
• Entwicklung der Gesellschaft Finanzpraktiken aufeinander abstimmen
• Soziale Gerechtigkeit
Markenbeweis
• Allgemeines Zinsverbot (Ribā)
• Verbot der Spekulation (Gharar)
• Verbot des Glücksspiels (Maysir)

Abb. 6.1  Vision und Positionierung von Mit Ghamr


6  Gemeinschaftliches Banking 145

Aktivitäten sind auf alle beteiligten Parteien zu verteilen und hinter jeder Finanztrans-
aktion müssen materielle Aktiva stecken. Es sind also keine finanziellen Konstrukti-
onen erlaubt, die keine Verbindung zur realen Wirtschaft haben (Volk und Pudelko
2010, S. 192–193). Nach islamischem Gesetz muss Geld auf produktive Weise ver-
wendet werden. In aller Deutlichkeit heißt das: Das Erzielen von Gewinnen ist nicht
verboten, sondern wird als eine gerechte Belohnung für das Verrichten von Arbeit
betrachtet.
Die Dinge, die im islamischen Bankwesen verboten sind, bilden die Grundlagen für
das Geschäftsmodell der westlichen Banken: Zinsen, Spekulation, Derivate, Transaktio-
nen, hinter denen keine materiellen Aktiva stecken usw. Wenn man auf einem so völlig
anderen Fundament eine erfolgreiche Bank bauen kann, ist man wirklich ein Pionier.
Ein Unterscheidungsmerkmal der islamischen Ökonomie ist der Fokus auf Ent-
wicklung und gesellschaftliche Ziele. Das islamische Bankwesen bietet finanzielle
Inklusion für Menschen, die sich selbst aus religiösen Gründen außerhalb des herr-
schenden Finanzsystems positionieren (Warde 2004, S. 40). Deshalb wird von isla-
mischen Finanzinstituten erwartet, dass sie die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern,
dass sie vielversprechende Wirtschaftssektoren unterstützen, unternehmerische Initia-
tiven begünstigen, sich für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit einsetzen und Armut
bekämpfen (Warde 2004, S. 174–175). Darüber hinaus können Banken ihren Beitrag
zu Zakat-Fonds für wohltätige und soziale Zwecke leisten.
Obwohl nicht jeder die soziale Funktion des islamischen Bankwesens in den Mit-
telpunkt stellt, sind sich alle islamischen Ökonomen darin einig, dass das islamische
Bankwesen auf dem Teilen von Gewinnen und Verlusten statt auf Zinsen basieren
muss (vgl. El-Ashker und Wilson 2006). Was bedeutet das konkret? Darlehen wer-
den auf der Basis von Gewinn- und Verlustbeteiligung (GuV) aufgenommen. Viel-
versprechende Unternehmen, die Geld brauchen, bekommen Geld von der Bank. Auf
diese Weise wird die Bank Risikoträger des jeweiligen Unternehmens und ist auch an
den Gewinnen (und Verlusten) des Unternehmens beteiligt. Der Ertrag für die Bank
ist also nicht der Zins für das Darlehen (wie im konventionellen Bankwesen), son-
dern ein Teil des Gewinns des Unternehmens (Warde 2004, S. 40). Das ist attraktiv
für Unternehmer, die bei einem besseren Ergebnis mehr zurückgeben und bei einem
schlechteren Ergebnis entsprechend weniger. Die Risikoteilung ist damit natürlich
viel unsicherer und meistens unattraktiver für Banken (Nienhaus 1994, S. 12)! Auf-
grund der größeren Unsicherheit, ob das Geld zurückgezahlt wird, braucht man mehr
Spargeld und eigenes Vermögen, um den gleichen Betrag verleihen zu können. Dabei
ist die Zusammenarbeit mit den Parteien, die sich bei einem Geld leihen, viel schwie-
riger und intensiver. In der Praxis wurden bei islamischen Banken im Jahr 2015
weniger als 10 % der Kredite auf GVB-Basis zugeteilt. Aus diesem Grund werden
bestehende islamische Finanzinstitute kritisiert, weil sie vom islamischen Ideal der
Gewinn- und Verlustbeteiligung abweichen (Henry und Wilson 2004, S. 3).
Kurzum, es gibt Kritik an den islamischen Banken von heute, dass sie ihre Wurzeln
verleugnen und einen zu geringen sozialökonomischen Beitrag leisten. Gleichzeitig
146 J. Kemperman et al.

geht es dem islamischen Finanzsektor blendend mit einem durchschnittlichen jährlichen


Wachstum von ca. 10 % bis 20 %. Vor diesem Hintergrund ist Mit Ghamr eine rundum
packende Fallstudie. Als erstes Experiment innerhalb des islamischen Bankwesens mit
seinen einzigartigen Eigenschaften, die sich von denen der heutigen islamischen kom-
merziellen Banken unterscheiden, ist diese Fallstudie eine genauere Betrachtung wert.

6.1.1 Fundament: Sozialökonomische Bottom-up-Entwicklung

Ahmed El-Naggar studiert Wirtschaft an der Universität von Kairo und promoviert
anschließend in der Bundesrepublik Deutschland. Hier ist er sehr beeindruckt vom System
der örtlichen Sparkassen, die eine bedeutende Rolle im wirtschaftlichen ­Wiederaufbau
von Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg spielen (Mayer 1985, S. 393). Zurück
in Ägypten arrangiert Dr. El-Naggar im Jahr 1961 Treffen mit den Führern des Wirtschafts-
und Finanzministeriums, der Nationalbank, der Zentralbank und der Postsparbank. Warum
macht er das? Ahmed El-Naggar ist berührt vom Leben der ägyptischen Bauern. Sie sind
arm, ihnen mangelt es an Selbstbewusstsein und persönlicher Initiative und sie sind sehr
religiös. Zwischen den politischen Führern des Landes und den Bauern herrscht großes
Misstrauen (El-Naggar 1982, S. 21, 27, 44). Die von Ahmed El-Naggar aufgeworfene
Frage lautet: Wie können wir soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Entwicklung und
Eigeninitiative schaffen? El-Naggar beschließt, die Ärmel hochzukrempeln und Verant-
wortung zu übernehmen. 1962 zieht er zusammen mit 20 speziell ausgebildeten Mitar-
beitern aus der Region Mit Ghamr, die er zuvor im Rahmen eingehender und intensiver
Bewerbungsgespräche ausgewählt hat, in das ägyptische Dorf Mit Ghamr um. Das alles
mit dem Gedanken, eine Sparkasse zu gründen und das Vertrauen und die ­Unterstützung
der Gemeinschaft zu gewinnen. El-Naggar und seine Mitarbeiter investieren viel Zeit
und Mühe in das Sammeln ausführlicher Informationen über die Stadt Mit Ghamr, etwa
über die wirtschaftlichen Probleme und Bedürfnisse, die Arbeitslosigkeit und den Anal-
phabetismus und die lokalen Traditionen und Gebräuche (Hegazy 2007, S. 588). Ein Jahr
später wird die Mit Ghamr Savings Association ins Leben gerufen. El-Naggars religiöser
Hintergrund kommt durch seinen Onkel, Mohammed Abdullah al-Arabi, den ersten arabi-
schen Ökonomen, der über das islamische Wirtschaftssystem geschrieben hat (Kahf 2004,
S. 19). Er entwirft die zinslosen Gewinnbeteiligungsprodukte der Bank.
Das Projekt wird finanziell vom Sparkassenverband unterstützt, einem Institut, das
1961 unter der Leitung des Finanzministeriums gegründet wird. Auf diese Weise ist die
Mit-Ghamr-Bank mit dem öffentlichen Sektor verbunden und muss dem Staat Rechen-
schaft ablegen.
Das vom Ministerium zur Verfügung gestellte Budget ermöglicht den Bau eines
Gebäudes, die Bezahlung von Gehältern und Bürokosten sowie die Finanzierung von
Geschäftsreisen des Sparkassenverbands (Ready 1967, S. 11). Gleichzeitig kommt Mit
Ghamr in den Genuss der Freiheit, auf Entfernung als relativ unabhängiges Programm zu
funktionieren. Zu diesem Zeitpunkt sind alle Finanzinstitute Eigentum des Staates. Genau
6  Gemeinschaftliches Banking 147

in der Zeit zwischen 1959 und 1961 kommt es zu einer Welle von Verstaatlichungen von
27 ägyptischen kommerziellen und spezialisierten Banken, die zu vier nicht konkur-
rierenden Staatsbanken umstrukturiert werden und die jede für sich auf einen anderen
Wirtschaftszweig ausgerichtet ist (Handy 1998, S. 56, El-Ashker 1990, S. 60). Zwischen
1963 und 1967 eröffnet die Mit Ghamr Savings Association neun Filialen, drei in Kairo
und sechs in Dakahlia (vgl. El-Naggar 1982). „Der enorme Erfolg des Unternehmens
gründet auf der Verwendung der Mittel von Großgrundbesitzern und kleinen Händ-
lern, die bis dahin noch niemals Banken in Anspruch genommen hatten, weil für sie als
fromme Moslems Verträge auf Zinsbasis nicht infrage kamen“ (Wilson 1997, S. 155).
Dennoch stellt sich die Mit Ghamr Savings Association nach außen hin nicht expli-
zit als islamisch dar. Der Begriff wird informell für die Gemeinschaft und Kunden vor
Ort verwendet, aber er ist kein Etikett. Auch die Mikrofinanzierung und der Islam sind
bei Mit Ghamr eine Frage der Handhabung: Es ergibt sich einfach so in der Praxis. Mit
Ghamr zieht Spargeld von der Gemeinschaft in ländlichen Gebieten vor Ort ein, wo
kleine Betriebe aktiv sind und starke religiöse Überzeugungen vorherrschen, und sorgt
dafür, dass die Geschäftsaktivitäten der Bank zu den Überzeugungen und Rahmenbedin-
gungen passen. So wird daraus automatisch eine islamische Mikrofinanzierung. Es ist
wichtig zu betonen, dass dieses Experiment nicht in Verbindung steht mit islamischen
Bewegungen und Parteien oder mit den islamischen Religionsgelehrten. Darüber hinaus
gibt es weder einen Schariarat noch eine Kommission von Religionsgelehrten, der bzw.
die darauf achten, dass die Verträge, Verfahren und Unternehmenspolitik schariakonform
sind. Mit Ghamr ist eine einzigartige Einrichtung, die nicht in direktem Wettbewerb mit
den etablierten kommerziellen Banken steht, weil sie eine Marktnische bedient, in der
es keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen gibt. Die Bedeutung des Projekts liegt in
der Tatsache, dass „es gelungen ist, kleine Sparguthaben von einzelnen Personen mit
begrenztem Einkommen zu mobilisieren und so den Lebensstandard vieler Menschen in
diesen Gebieten zu verbessern“ (El-Ashker 1990, S. 62).
Doch nach dem Krieg von 1967 findet der Erfolg ein jähes Ende, als ein Komitee der
Zentralbank entsandt wird, um die Bank zu schließen. Mit einem einzigen gewaltigen
Zug verleibt sich die Regierung die Bank ein und stellt sie unter staatliche Aufsicht. Die
Bank verliert ihre Freiheit, und der Bottom-up-Ansatz wird ins Gegenteil verkehrt. Die
Bank gehört nicht mehr den Menschen (El-Ashker und Wilson 2006, S. 367). Die ver-
schiedenen Filialen werden von den vier Staatsbanken National Bank of Egypt, Bank of
Alexandria, Banque Misr und Banque du Caire übernommen. Die Gründe für die Ver-
staatlichung von Mit Ghamr sind sowohl juristischer als auch politischer Natur.4 Was

4Swaminathan (1996, S. 1350). „Anforderungen an die Umgebung bei Gründung haben häu-
fig langfristige Auswirkungen auf die Strategie und Struktur des Unternehmens sowie auf dessen
Überleben.“ Stärker noch: „In einer ungünstigen Umgebung gegründete Unternehmen müssen
häufig zwangsweise schließen.“
148 J. Kemperman et al.

die juristischen Gründe betrifft, so hat El-Naggar nicht die Genehmigung der Zentral-
bank eingeholt, weil Mit Ghamr unter die Mit Ghamr Savings Association fällt. Recht-
lich gesehen ist die Genehmigung jedoch erforderlich, um Spargeld sammeln zu dürfen.
Die politischen Gründe liegen darin, dass das Experiment in einer Zeit entstand, in der
die Regierung und die herrschende Klasse sehr streng gegenüber allen islamisch-politi-
schen Aktivitäten waren. In der Literatur herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass die
Aktivitäten von Mit Ghamr die politische Machtbasis im Land zerstörten (Asutay 2012,
S. 98). Die Sozialisten betrachten Mit Ghamr als Bedrohung ihrer Ideologie.
Dadurch, dass den Armen geholfen wird, sich selbst zu helfen und sich zu mobilisie-
ren, sind sie nicht mehr länger unter staatlicher Kontrolle. Aber gerade das will die linke
ägyptische Regierung: strenge Kontrolle, zentrale Planung und staatliche Kontrolle über
Entwicklungsprojekte. „Das alles zu Lasten der Unabhängigkeit von Initiativen aus dem
privaten Sektor“, meint El-Naggar. „Linksorientierte Politiker assoziieren islamische
Loyalitäten mit reaktionären Gefühlen, die der Realisierung ihrer Ziele im Wege stehen.
Damit muss kurzer Prozess gemacht werden“ (Mayer 1985, S. 395). Und so ist es auch
geschehen. Sowohl die Mikrofinanzierung als auch der islamische Ansatz werden nicht
fortgesetzt. Die Banken übernehmen die Filialen und wandeln sie langsam aber sicher in
traditionelle Banken um. Leider.

6.1.2 Das Businessmodell: Es geht ausschließlich ums Vertrauen

Die örtlichen Gemeinden, in denen die Bank gegründet wird, werden im großen Stil am
Projekt beteiligt. Vertrauen ist essenziell für eine gute Betriebsführung. Für Darlehen
wird keine Sicherheit verlangt, alles hängt vom Ruf der Person und gegenseitigem Ver-
trauen ab. El-Naggar gibt einen klaren Ansatzpunkt vor: „Indem man den Schwerpunkt
auf Absicherung und Sicherheit als Bedingung für die Finanzierung von Projekten legt,
untergräbt man die Rolle des Vertrauens in einer finanziellen Beziehung“ (Hegazy 2007,
S. 587).

Marktsegmente: Der ägyptische Bauer


Ahmed El-Naggar ist besorgt über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der ägyp-
tischen Gesellschaft. Er ist tief beeindruckt vom deutschen Sparkassensystem. Dennoch
kann dieses System nicht einfach eins zu eins übernommen werden:

Es ist von Anfang an klar, dass die Gründung von Sparkassen, die mit denen in anderen
Ländern vergleichbar sind, unpraktikabel ist. Das liegt an den großen Unterschieden im
Hinblick auf die wirtschaftliche, soziale und politische Situation und generell großen Unter-
schieden im Vergleich zu anderen Ländern. Zum Beispiel der Mangel an Bürgerinitiative,
an Unternehmen, die Unwissenheit im Umgang mit Finanzinstituten, die Qualität des Kapi-
talmarkts und der Mangel an Erfahrung. Deshalb ist es notwendig, eine Methode zu finden,
die der bestehenden Situation angemessen ist und zu unseren arabischen Traditionen und zu
unserem geistigen Erbe passt (Ready 1967, S. 8).
6  Gemeinschaftliches Banking 149

El-Naggar weiß, dass ägyptische Bauern in begrenztem Umfang immer etwas Geld
gespart und verliehen haben. Er will ihnen beibringen, diese Angewohnheit so auszuwei-
ten, dass die eigene Gemeinschaft mehr Nutzen davon hat. Der Standort der Bank, die
Stadt Mit Ghamr im Gouvernement Dakhalia, wird auf der Grundlage von drei Kriterien
ausgewählt:

1. Das Gouvernement ist demografisch repräsentativ;


2. Das Gouvernement ist im Nildelta zentral gelegen, sodass das Projekt einfach in alle
Richtungen ausgeweitet werden kann;
3. Der dortige Gouverneur ist daran interessiert, das Projekt zu unterstützen, ohne dass
er sich überall einmischen will (Ready 1967, S. 12).

Wertangebot für Kunden: Wirtschaftliche Entwicklung, die zur Religion passt (vgl.
Abb. 6.2)
Mit Ghamr bietet drei Arten von Spareinlagen und zwei Arten von Darlehen. Die drei
Arten von Spareinlagen sind Sparkonto, Anlagekonto und ein sozialer Hilfsfonds für die
Kanalisierung der Almosen. Für Sparkonten gibt es keine Zinsen, vielmehr sollen mit
den Sparkonten kleine Sparer an das sichere Verwahren und Deponieren von Geld bei
einer Bank herangeführt werden. Anlagekonten verstehen sich auf Basis von Gewinn-
und Verlustbeteiligung und mit einem Sozialfonds werden Almosen gesammelt. Die-
ser wird auf freiwilliger Basis von Privatpersonen bezahlt (vgl. Ready 1967, El-Ashker
1990, S. 60). Obwohl man keine Zinsen für das Spargeld bekommt, hat ein Sparkonto
dennoch seine Vorteile. Zuallererst haben Menschen mit einem Sparkonto Recht auf ein
zinsloses Darlehen, wobei sie Anspruch auf Zakat aus dem Sozialfonds haben, wenn sie
sich in ernsten finanziellen Schwierigkeiten befinden. Mit anderen Worten, die Bank bie-
tet ein finanzielles Sicherheitsnetz (El-Naggar 1982, S. 65).
Es gibt zwei Arten von Darlehen: Eine für Investitionen und eine für Nichtinvestiti-
onen. Für beide gibt es keine Zinsen. Wenn Spargeld gebündelt und unter denjenigen
verteilt wird, die sich Geld leihen möchten, „besteht kein Bedarf an Zinsen“, so El-Naggar
(Wilson 1997, S. 155). Nichtinvestitionsdarlehen werden gewährt, um persönliche
Finanzprobleme zu lösen – unter der Bedingung, dass der Darlehensnehmer bereits ein
Sparkonto bei der Bank hat. Das Ziel der Investitionsdarlehen ist, „die lokale Produktion
im Handel, in der Industrie und in der Landwirtschaft zu steigern. Eine der wichtigs-
ten Bedingungen für ein Darlehen ist, dass es ausschließlich in dem Bereich investiert
wird, aus dem das Spargeld kommt“ (Ready 1967, S. 9). Investitionsdarlehen, die für
kleine Betriebe und Handwerker bestimmt sind, werden auf Basis von Gewinnbeteili-
gung gewährt (El-Ashker 1990, S. 60). Durch die Vergabe von Geld wird die Bank
Miteigentümer des Betriebs und wird der Gewinn proportional zum investierten Betrag
geteilt. Beispiele für diese Betriebe sind eine Steinfabrik, eine Privatschule, eine Nudel-
fabrik, eine halb automatisierte Bäckerei, ein automatisiertes Bewässerungsprojekt und
eine Molkerei (El-Ashker 1990, S. 60). Weil sich die Aktivitäten der Bank auf ein kleines
Gebiet beschränken, ist es einfacher, die Aktivitäten der Betriebe, in die investiert wird,
150 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Geld zur Tätigung von Geschäften und • Lokale Bank, die zum bestehenden
Lösung persönlicher finanzieller Klima, zu den arabischen Traditionen und
Probleme und einen sicheren Ort für zur persönlichen Religion passt
Erspartes Unabhängig vom Staat
+ Wettbewerber
Prozess Wie bekomme ich es? • Kommerzielle Banken sind keine direkten
• Mit Ghamr hilft bei der Führung des Wettbewerber
Betriebs • Der größte Wettbewerber ist die
+ Tatsache, keine einzige Bank zu haben

Gefühl Was fühle ich dabei? Zielgruppe


• Kongruenz zwischen Religion, Tradition • Fromme Moslems in der Region Mit
und Finanzen Ghamr, für die Verträge auf Zinsbasis
(Ribā) nicht in Frage kommen

Preis Was kostet es? Kundeneinblicke


• Keine Zinsen, aber Beteiligung an • Durch die Vergangenheit und den Staat:
Gewinnen und Verlusten/Risiken Ein Mangel an Eigeninitiative und

+ Unwissenheit im Umgang mit Finanzen


und Finanzinstituten
Aufwand Was muss ich dafür tun?
• Disziplin haben, Geld zu sparen

+
Risiko Wie unsicher ist es?
• Kann man diesen Menschen vertrauen?

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 6.2  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Mit Ghamr


6  Gemeinschaftliches Banking 151

zu kontrollieren (Hegazy 2007, S. 588). Wenn ein Darlehen gewährt wird, hilft die Bank
dem Darlehennehmer bei der Verbesserung der Betriebsführung. Die Bank organisiert
Workshops, um den Menschen bei der Führung ihres Betriebs und bei der Produktion
qualitativ hochwertiger Produkte zu helfen.

Kanäle: Persönlicher Kontakt und Vertrauen (vgl. Abb. 6.3)


In einem Bericht der Ford Foundation ist die Rede von der Wandlung von einer traditio-
nellen bäuerlichen Gesellschaft hin zu einer eher industriellen Gesellschaft in der ägyp-
tischen Provinz. „Zu Beginn ist die Marktstruktur der traditionellen Wirtschaft in der
Region stark unterentwickelt. Die ägyptische Wirtschaft lässt eine große Leere entstehen.
Schwache oder nicht vorhandene institutionelle Regelungen schließen arme Men-
schen von der Teilnahme an Marktaktivitäten aus“ (Mair und Marti 2007, S. 494). Die
Sparkasse von Mit Ghamr wird als ein wichtiges Institut betrachtet, das den Weg für den
notwendigen Übergang ebnet (vgl. Ready 1967). Das gelingt ihr, weil sie sich gerade an
die Minderheit in der Gesellschaft wenden, die von den bestehenden Finanzinstitutionen
übersehen wird.
Mit Ghamr bekommt Vertrauen und sozialpolitische Legitimität durch enge lokale
Kontakte und die Beteiligung der Gemeinschaft am Projekt, durch den islamischen
Hintergrund der Aktivitäten sowie durch die relative Unabhängigkeit vom Staat.
­
Dr. El-Naggar und seine Mitarbeiter werden später behaupten, „persönlich mit jedem
erwachsenen Mann und vielen der Kinder in der Provinz Mit Ghamr gesprochen [zu]
haben. Die einzige Frau im Verband sagt, dass sie persönlich mit ‚fast allen‘ Frauen
gesprochen habe“ (Ready 1967, S. 14). Das Team von Mit Ghamr spricht schon vor der
Gründung der Bank mit den Menschen in den Moscheen und Cafés über ihr Leben, ihre
Meinungen, über Traditionen und über informelle Führer. Diese „Zuhörphase“ ist ein
wichtiger erster Schritt. Jeden Abend kommt das Team zusammen, um die gewonne-
nen Erkenntnisse zu teilen und die Ergebnisse zu analysieren (El-Naggar 1982, S. 87).
Anschließend gehen El-Naggar und sein Team zu den informellen Führern wie Scheichs,
Lehrern und Imamen und bitten sie, die Idee der Mit Ghamr Savings Association zu
unterstützen. Sie appellieren an ihre Liebe und Verbundenheit mit den Menschen aus den
Dörfern und bieten an, bei der Entwicklung der bäuerlichen Gesellschaft zu helfen.
Sobald die informellen Führer ihre Beteiligung zugesagt haben, organisiert El-Nag-
gar Informationsveranstaltungen und Theaterstücke in den Dörfern. Um dafür zu sor-
gen, dass Menschen zu den Veranstaltungen gehen, wird die lokale Bevölkerung dazu
von einer Blasmusikkapelle dazu ‚eingeladen‘. Bei diesen Treffen mit ungefähr 100 bis
150 Menschen spricht ein Scheich, ein Imam oder ein anderer informeller Führer ein
paar einleitende Worte und erklärt seine Unterstützung der Initiative: „Endlich jemand,
der uns hilft. Das ist keine staatliche Bank, sondern wird unsere Sparkasse sein.“ Um die
Bedeutung des Sparens aufzuzeigen und die Grundlektionen des Sparens zu vermitteln,
werden Theaterstücke aufgeführt. Anschließend folgen Diskussionsrunden über eine
Reihe von Fragen wie: Wie kann man Geld sparen, wenn man arm ist? Wie können wir
die Verantwortung für die Entwicklung unserer eigenen Gemeinschaft übernehmen? Am
152 J. Kemperman et al.

Ende der Veranstaltungen lässt der informelle Führer seinen Worten Taten folgen und
eröffnet ein Sparkonto (El-Naggar 1982, S. 89–91). Viele andere tun es ihm gleich.

Betrieb: Wir sind die Bank


Die Gemeinschaft in Mit Ghamr ist die Bank. Es wird stets betont, dass die Bank den
Menschen selbst gehört und die lokale Bevölkerung im Bankbetrieb vertreten wird. Das

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,
Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Die Bank gehört den Menschen selbst; • Mundpropaganda von (informellen)
lokale Bevölkerung ist im Bankbetrieb Führern
vertreten • Informationsveranstaltungen und
• Neue Mitarbeiter werden sorgfältig Bildungstreffen
ausgewählt • Theaterstücke und Blasmusik

Lieferanten & Partner Kundenkontakt & Zusatzdienste


• Technische Unterstützung durch • Persönlicher Kontakt mit Menschen,
Geräte, Schulungen und Berater aus denen man vertraut
Deutschland • Filialen in der Gemeinschaft vor Ort
• Unterstützung und Schutz durch den • Hilfe beim Umgang mit Geld,
Wirtschaftsminister, aber insbesondere dem Sparen und bei der
Unabhängigkeit von staatlicher Führung eines Betriebs
Bürokratie

Abb. 6.3  Betrieb und Kanäle von Mit Ghamr


6  Gemeinschaftliches Banking 153

ermöglicht soziale Kontrolle, sodass jedem, der versucht die Bank zu bedrohen oder ihr
anderweitig Schaden zuzufügen, Einhalt geboten wird. Wenn Menschen einander ken-
nen, sind Zuverlässigkeit und Vertrauen viel besser fühlbar, ja fast schon greifbar. Und
sollte sich doch jemand mal etwas erlauben, weiß man, dass man demjenigen, der einen
bedroht, noch unzählige Male im Dorf begegnen wird. Das macht Betrug und Betrügerei
schon viel weniger attraktiv (vgl. Bateson 1988).
Damit die Bank sich in die Kultur und Identität der Region einfügt (vgl. Carroll und
Swaminathan 2000), passt El-Naggar die Einstellung der Sparkasse der Religion ihrer
potenziellen Kunden an. Damit wird das Projekt „voll und ganz von der dominanten
Religion in der Region akzeptiert und werden die Bedürfnisse der Menschen vollständig
anerkannt“ (Ready 1967, S. 38). In der ersten Zeit nach der Gründung der Bank fungiert
einer der 20 ersten Mitarbeiter als Manager für sechs bis 15 Monate. In der Zwischenzeit
werden die örtlichen Kunden geschult. Nach dieser Phase werden die Aktivitäten und
Verantwortlichkeiten der jeweiligen Filiale an einen lokalen Vorstand, einen permanenten
lokalen Manager und lokale Mitarbeiter übertragen (Ready 1967, S. 10). El-Naggar fin-
det es sehr wichtig, diese neuen Mitarbeiter im Rahmen eingehender Bewerbungsgesprä-
che sorgfältig auszuwählen und sie anschließend in Hinblick auf die Konzepte der Bank
und der Finanzwelt zu schulen. Aufgrund schlechter Erfahrungen mit Beamten bevor-
zugt El-Naggar junge dynamische Menschen, die nach ihrem Universitätsstudium nicht
als Beamte gearbeitet haben. Zusammen mit einem Psychologieprofessor entwickelt er
einen psychologischen Test für die Bewerber. Nach der Aufgabe einer Reihe von Anzei-
gen in den Zeitungen melden sich 462 Bewerber. Nur 20 von ihnen werden ausgewählt
(darunter eine Frau; Ready 1967, S. 12, El-Naggar 1982, S. 111–113). Diese Menschen
glauben an das Konzept, identifizieren sich sehr mit dem Leitbild und ihr Unternehmer-
geist ist ausgeprägt. Diese Art von Menschen ist von großer Bedeutung, um das Ver-
trauen der Bauern zu gewinnen.
Mit Ghamr erhält technische Unterstützung aus Deutschland. 1963 wird ein Vertrag
mit zweijähriger Dauer zwischen der deutschen und ägyptischen Regierung unterzeich-
net. Die deutsche Regierung stellt die notwendigen Materialien und Berater für das Pro-
jekt in Ägypten bereit und kümmert sich um eine spezielle Schulung in Deutschland für
zehn Mitglieder des Verbands (Ready 1967, S. 12).
Schließlich bezieht Mit Ghamr eine neutrale Position im Hinblick auf die Politik und
hegt keinerlei politische Ambitionen. El-Naggar entwickelt das Projekt mit der Unter-
stützung und dem Schutz des Wirtschaftsministers Kaissouni. Durch seine Vermitt-
lung erhielt El-Naggar den Auftrag von Präsident Nasser, das Experiment fortzusetzen.
Jedoch war von all dem nichts bekannt, und El-Naggar handelt nach eigenem Ermessen,
als ihm die erforderliche Unterstützung für die Initiative sicher ist. Damit Mit Ghamr
nicht im Fokus steht, kann das Projekt unabhängig von der staatlichen Bürokratie blei-
ben, die von den Bauern als ungerecht und ineffizient erachtet wird.
154 J. Kemperman et al.

6.1.3 Ergebnis: Veränderung der Gemeinschaft

Die nachträgliche Bewertung des Experiments hängt davon ab, wer die Bewertung vor-
nimmt. Aus der Sicht der sozialistischen Politiker von damals ist das Projekt misslun-
gen. Anderenfalls hätte man es auch nicht so rücksichtslos verstaatlicht. Aus der Sicht
der Bauern sowie unter dem Aspekt des Wirtschaftswachstums in der Region und des
Wachstums der Mit Ghamr Savings Association entsteht ein völlig anderes Bild (vgl.
Brown und Jones 1998) und das Mit-Ghamr-Projekt ist ein großer Erfolg. Mit Ghamr
konnte auf mehrere Filialen ausgeweitet werden, mehr Menschen (auch mit niedrigem
Einkommen) zum Sparen bringen und (auch die kleinen) Unternehmer anspornen (Kahf
2004, S. 19; Chapra 2000, S. 266). Das belegen die Fakten.
Bei einer von Ready (1967) durchgeführten Studie unter 150 Befragten geben die
meisten an, dass sie nur Spargeld bei der Mit Ghamr Savings Bank (87 %) haben, dass
sie vorher nie gespart haben (61 %) und dass es ihnen leidtut, in der Vergangenheit nie
gespart zu haben (57 %). Darüber hinaus sagen die meisten, dass sich ihre Meinung
über Spargeld in den vergangenen fünf oder sechs Jahren erheblich geändert hat (77 %).
Der Studienbericht belegt außerdem, dass es sehr hohe Tilgungsraten auf Darlehen gibt
und dass die Zahl der Sparer, die durchschnittliche Höhe der Einlagen sowie die Aktiva
und der Gewinn der Bank ausreichend steigen. Zum Zeitpunkt der Schließung kann Mit
Ghamr fünf neue Standorte pro Jahr eröffnen und eine Reihe von Anfragen vorweisen,
die diese Zahl bei Weitem überschreitet. Ein weiterer auffälliger Fakt ist die Zahl der
Kunden, die gigantisch ansteigt. Im ersten Jahr hat die Mit Ghamr Savings Association
17.560 Kunden. Vier Jahre später, d. h. 1967, ist diese Zahl bereits auf 251.152 Kunden
angestiegen (El-Naggar 1982, S. 121).
Über die Mitarbeiter sind nicht viele Informationen verfügbar. Es ist aber klar, dass
die Moral und der Unternehmergeist hoch sind und dass Mitarbeiter inspiriert und enga-
giert bei ihrer Arbeit sind.
Unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet zeigt Mit Ghamr, dass kommerzielle
Banken nicht auf der Grundlage von Zinsen organisiert werden müssen. Ein besonderer
Erfolgsindikator in dieser Zeit kommt von der Postal Savings Bank. Diese senkt in der
gleichen Provinz Mit Ghamr die Mindesteinzahlung von einem Pfund auf zehn Piaster
(Mit Ghamr hat eine Mindesteinzahlung in Höhe von fünf Piastern) und reduziert die
Anforderungen für die Einzahlung und Abhebung von Geld in der Absicht, mit dem Pro-
jekt zu konkurrieren (Ready 1967, S. 17).
Der von Mit Ghamr geschaffene gesellschaftliche Wert ist enorm. Es kommt zur einer
systematischen Mobilisierung der Bauern gegen die Gleichgültigkeit und den Fatalismus
(El-Naggar 1982, S. 111–113), die zur Folge hat, dass Selbstvertrauen, Verantwortung,
Bewusstsein, Dynamik, persönliche Entwicklung und Arbeitsmotivation zunehmen (vgl.
Abb. 6.4).
El-Naggar ist Mitbegründer der Islamischen Entwicklungsbank (IDB) in Dschidda. Er
war auch Generalsekretär der Internationalen Vereinigung Islamischer Banken (IAIB).
Des Weiteren war er auch an der Gründung der meisten islamischen Banken auf der
6  Gemeinschaftliches Banking 155

Wert durch Kunden


• Zahl der Kunden steigt von 17.560 auf 251.152 in vier Jahren
• 61 % hat noch nie zuvor Geld gespart
• 77 % haben ihre Meinung über Sparen grundlegend geändert

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Ausgeprägte Moral und Unternehmergeist • Gewinn
• Mitarbeiter sind inspiriert und engagiert • Beweis, dass kommerzielle Banken nicht
auf Zinsbasis organisiert werden müssen

Wert für und durch die Gesellschaft


• Es kommt zu einer systematischen Mobilisierung der Bauern gegen die Gleichgültigkeit
und den Fatalismus; Sie ergreifen wieder die Initiative und tragen so zur Entwicklung der
Region bei
• Mit Ghamr legt das Fundament für das moderne islamische Bankwesen

Abb. 6.4  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Mit Ghamr


156 J. Kemperman et al.

ganzen Welt bis zu den 1990er Jahren beteiligt. Damit ziehen die gesellschaftlichen
Auswirkungen immer weitere Kreise. Mit Ghamr legt das Fundament für das moderne
islamische Bankwesen.

6.1.4 Die brillanten Lektionen von Mit Ghamr

Obwohl die Fallstudie von Mit Ghamr 50 Jahre zurückliegt, können wir eine Reihe wich-
tiger Schlussfolgerungen ziehen und Lektionen daraus lernen:

• Ein persönlicher und lokaler Ansatz mit aufrichtigem Einfühlungs- und Zuhörvermö-
gen ist wichtig. Mit Ghamr zeigt, wie Finanzinstitute damit in kurzer Zeit das Ver-
trauen gewinnen können. In Bezug auf Mit Ghamr waren das viele Gespräche mit
Bauern und Galionsfiguren der Gesellschaft und die Anpassung an arabische Traditio-
nen und das geistige Erbe. Auch unerwartete ‚Marketingaktionen‘ wie Theaterstücke,
Blasmusik und Informationsveranstaltungen liefern dazu einen wichtigen Beitrag.
• Es ist möglich, neue Verdienstmodelle in einem schwierigen Markt zu entwickeln,
wenn man dazu gezwungen wird, weil die bestehenden Verdienstmodelle nicht zuläs-
sig sind. Die Einführung zinsloser Darlehen auf Basis von Gewinn- und Verlustbe-
teiligung eröffnet neue Möglichkeiten für die Wertschöpfung und die führende Rolle
der Banken in der Gesellschaft. In diesem neuen Modell sind die Interessen der Bank
und der Kunden gleich. Da Gewinn und Verlust geteilt werden, ist der Erfolg der Kun-
den auch für die Bank von Bedeutung. Deshalb hilft die Bank bei der Optimierung
der Betriebe ihrer Kunden und bei der Entwicklung der Gemeinschaft. Die Bedeutung
von Mit Ghamr liegt in seiner charakteristischen Philosophie, weil es bis heute ein
ausgezeichnetes Beispiel für das Entwicklungsziel der islamischen Finanzwelt ist.
• Der Erfolg hängt von der gesellschaftlich-politischen Akzeptanz ab. Die Stiftung von
Mit Ghamr ist das Ergebnis einer Reihe miteinander zusammenhängender Ereignisse.
Das Projekt ist das Resultat eines klaren Leitbilds des Gründers Ahmed El-Naggar,
das durch den institutionellen Kontext im damaligen Ägypten geformt wurde. Das
Experiment stößt bei Mitarbeitern und Kunden auf Akzeptanz, die ägyptische Regie-
rung jedoch ist weniger angetan und lässt die Bank verstaatlichen.
• Das Vertrauen zwischen der Bank und den Kunden basiert auf Gewinn- und Verlust-
beteiligung. Im Vergleich zu den islamischen kommerziellen Banken von heute hat
Mit Ghamr einzigartige Merkmale. Ein Schariarat und ein „islamisches“ Etikett feh-
len. Dieses Beispiel hat langanhaltende Auswirkungen auf die Bankenwelt; die dis-
tinktiven Eigenschaften des Projekts sind immer noch Thema von Diskussionen.
6  Gemeinschaftliches Banking 157

6.2 Svenska Handelsbanken

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Annemijn Koenen, Jeroen Geelhoed und
Thomas Winkler verfasst.

Maßgeschneiderte Bankdienstleistungen für Kunden, die vom Kirchturm ausgesehen


werden können
Prolog
„Es ist wirklich keine Raketenwissenschaft. Es ist schlichtweg unsere Überzeugung,
dass die Entscheidungen, die nah beim Kunden getroffen werden, die besten Ent-
scheidungen sind.“ Die folgende Anekdote belegt diese Maxime, so Mikael Søren-
sen (Hauptgeschäftsführer von Handelsbanken Nederland).5 Eines Tages will ein
Unternehmer einen Berg wirtschaftlich nutzen, indem er eine große Skipiste an des-
sen Hang anlegt. Er geht zu zwei verschiedenen Banken mit der Frage, ob sie ihn
bei der Finanzierung des Projekts unterstützen wollen. Eine der beiden Banken ist
Svenska Handelsbanken, eine Bank mit einer Filiale in unmittelbarer Umgebung des
betreffenden Bergs. Obwohl der Unternehmer einen ausgezeichneten Businessplan
hat, verweigert Svenska Handelsbanken die Finanzierung. Eine Stockholmer Bank,
die 400 km weiter weg eine Filiale unterhält, sieht hingegen keine Probleme in dem
Geschäftsplan des Unternehmers und ist froh, bei der Finanzierung helfen zu können.
Und schon sehr schnell ist die Skipiste fertig. Doch dann gibt es ein großes Prob-
lem mit der Lage der Bergflanke. Einen Großteil des Tages liegt diese nämlich in der
Sonne, sodass der Schnee nicht gut genug zum Skifahren ist. Svenska Handelsbanken
war sich dessen bewusst, weil die Filiale, bei der der Unternehmer war, die Umge-
bung gut kennt. Die Bank in Stockholm hingegen hatte davon keine Ahnung, weil sie
buchstäblich 400 km vom Berg entfernt ist.

Einleitung
Schon seit Jahren ist Svenska Handelsbanken AB, auch Handelsbanken genannt, eine
der solidesten und zuverlässigsten Banken der Welt.6 Handelsbanken ist eine Univer-
salbank für Geschäfts- und Privatkunden im gehobenen Segment. Sie verfügt über ein
engmaschiges Filialnetz in Schweden und unterhält nach und nach immer mehr Filia-
len in Dänemark, Finnland, Großbritannien, den Niederlanden und Norwegen, wenn-
gleich die Zahl der Filialen in diesen Ländern noch lange nicht so hoch ist wie in
Schweden. Zwar betrachtet die Bank diese sechs Länder als ihre Heimmärkte, aber

5Interview mit Mikael Sørensen, Hauptgeschäftsführer von Handelsbanken Nederland, der die
Einfachheit des Businessmodells in einem Interview greifbar machen konnte.
6http://www.bloomberg.com/slideshow/2013-05-01/the-world-s-strongest-banks.html#slide11.
158 J. Kemperman et al.

derzeit beschäftigt sie etwas mehr als 11.000 Mitarbeiter in insgesamt 24 Ländern.7


Die Bank verfolgt ein stetiges Wachstum statt schnellen Gewinn und musste während
der Bankenkrise keine Unterstützung anfordern.
Bis 1970 ist Handelsbanken vergleichbar mit den meisten anderen Banken und
arbeitet mehr oder weniger mit dem gleichen universalen Bankmodell, das die meis-
ten großen Kreditgeber heute einsetzen. Eine Welle von Skandalen, darunter frag-
würdiger Handel mit Fremdwährung, führt zum Rücktritt der Geschäftsleitung der
Bank. Die Bank steht vor der Herausforderung, sich selbst neu zu erfinden. 1970
stellt Svenska Handelsbanken Jan Wallander8 als Hauptgeschäftsführer ein. Er sorgt
für eine Revolution innerhalb der Bank, indem er ein gänzlich anderes Businessmo-
dell implementiert (Wallander 2003, S. 7). Der Akademiker Wallander nimmt eine
einschneidende Veränderung vor: Er delegiert die meisten Befugnisse des Vorstands
an die lokalen Filialen der Bank.9 Seitdem ist der Betrieb der Bank dezentralisiert,
d. h. dass nahezu alle Geschäftsentscheidungen auf Filialebene getroffen werden
(Nieuwenhuijzen 2012, S. 30). Das führt zu einer höheren Kundenzufriedenheit, einer
höheren Effizienz und durchdachteren Entscheidungen bei der Kreditvergabe. Han-
delsbanken hat mehr zufriedene Kunden als vergleichbare andere Banken, ist eine der
kosteneffizientesten, börsennotierten Universalbanken Europas und weist in den ver-
gangenen 41 Jahren konstant höhere Renditen auf als der Durchschnitt gleichartiger
Banken.10

6.2.1 Das Fundament: Die Filiale ist die Bank

Der Markenkern und die Grundidee von Handelsbanken ist einfach, aber sehr effektiv:
Handelsbanken steht für Dezentralisierung. Das spiegelt sich in der Kernaussage „Die Fili-
ale ist die Bank“ wieder. Die Pyramide wurde auf den Kopf gestellt ausgehend von dem
Verständnis, dass nicht das Stammhaus die tatsächliche Bank für den Kunden ist, sondern
die Filiale vor Ort (Wallander 2003, S. 15). Jan Wallander sagt, dass Dezentralisierung das
führende Prinzip der Bank ist, dass dieses Prinzip aber auch nicht zu einem unpraktischen
Dogma werden darf. Das Credo, nach dem die Bank handelt, kann deshalb am besten mit
folgendem Grundsatz veranschaulicht werden: Wenn vernünftige und gleichwertige Alterna-
tiven vorhanden sind, ist immer die dezentralisierte Alternative zu wählen (Wallander 2003,
S. 82). Diese konservative Denkweise findet sich auch im charakteristischen sogenannten

7http://www.handelsbanken.nl/shb/INeT/IStartEn.nsf/FrameSet?OpenView&id=nl_personal_en&

iddef=aboutthegroup&navid=Investor_Relations_EN&sa=/SHB/Inet/ICentEn.nsf/Default/
q6BCA99899.268D1C-5C12.575EE0046BF48.
8Mittlerweile ist Pär Boman Hauptgeschäftsführer.

9http://uk.finance.yahoo.com/news/handelsbanken-championing-old-way-doing-201039721.html.

10Jahresbericht Handelsbanken.
6  Gemeinschaftliches Banking 159

Church Spire Banking Principle (Kirchturmprinzip) wieder. Damit ist gemeint, dass die
­Filialen nur Geschäfte mit Kunden machen, die sie vom örtlichen Kirchturm aus sehen kön-
nen, um so beim persönlichen Banking neue Maßstäbe zu setzen. Filialmanager kennen den
lokalen Markt und sind in der lokalen Gemeinschaft tief verwurzelt, sodass sie sofort auf die
Signale in der Umgebung des Kunden reagieren können. Diese Kenntnisse werden als so
wertvoll erachtet, dass die Filialmanager mit allen Befugnissen ausgestattet sind, um dem
Kunden sofort zu helfen; sie können sogar ihre eigenen Entscheidungen bei der Kreditver-
gabe ohne Rücksprache mit der Bankzentrale treffen.11 Die Ambition besteht buchstäblich
darin, so nah wie möglich am Kunden zu sein, um ihm den bestmöglichen Service bieten zu
können.12
Das höhere Ziel und die Unternehmensphilosophie der Bank drehen sich um Kun-
denzufriedenheit und Service. Alle Geschäftsentscheidungen werden mit dem Kunden
im Hinterkopf getroffen.13 Darüber hinaus hat sich Handelsbanken zum Ziel gesetzt, als
verantwortungsvolles Finanzinstitut innerhalb der Gesellschaft aufzutreten. Die Bank
sieht die Verantwortungsübernahme als essenzielles Element eines erfolgreichen und
nachhaltigen Bankbetriebs. Neben der finanziellen Verantwortung sieht es die Bank als
ihre Pflicht, auch ihrer unternehmerischen Sozialverantwortung nachzukommen, indem
sie einen Beitrag zur Gesellschaft und Umwelt leistet und ethisches Handeln gegenüber
allen ihren Stakeholdern an den Tag legt.
Handelsbanken rückt bessere Dienstleistungen, höhere Kundenzufriedenheit und
niedri­gere Kosten konstant in den Fokus.14 Die Ziele sind, immer eine höhere Renta-
bilität als der Durchschnitt der Wettbewerber zu haben, und immer zufriedenere Kun-
den und niedrigere Kosten als die Wettbewerber zu erreichen.15 Das Ziel, niedrigere
­Kosten als andere Banken zu haben, spiegelt sich in der schlichten Einrichtung ohne
eine unnötig teure Ausstattung der Filialen von Handelsbanken wider. Dieses Einrich-
tungsprinzip hilft, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten und eventuelle Nachteile
der dezentralisierten Organisation der Banken zu vermeiden. Arbeiten auf der Grundlage
von Sparsamkeit und Solidität. Das Konzept verhindert, dass lokale Banken wie kleine
Königreiche geführt werden und die Kontrolle über die Geschäfte verloren geht (Wallan-
der 2003, S. 63). Die Zielsetzung eines höheren Gewinns, einer höheren Kundenzufrie-
denheit und niedrigerer Kosten ist auf jeder Ebene die Grundlage von Handelsbanken und
prägt alle täglichen Arbeiten. Bis 1970 unterhält die Bank eine eigens für die Formulie-
rung von allumfassenden Unternehmensleitbildern und -strategien eingerichtete Abtei-
lung. Nachdem diese Abteilung geschlossen wird, beschäftigt sich die Bank nicht mehr mit

11 http://www.handelsbanken.co.uk/shb/inet/icentrb.nsf/vlookuppics/1_news_the_times_

apr_13/$file/the-swedish-bank-that-brought-back-the-bank-manager.pdf.
12Interview Mikael Sørensen.

13http://uk.finance.yahoo.com/news/handelsbanken-championing-old-way-doing-201039721.html.

14Interview Mikael Sørensen.

15https://www.handelsbanken.nl/shb/INeT/IStartEn.nsf/FrameSetOpenView&id=nl_personal_

en&iddef=abouthandelsbanken&navid=NL_About_En&sa=/SHB/Inet/ICentEn.nsf/Default/
q848A387F5D42E8C5C1258018003C7D3B.
160 J. Kemperman et al.

der Entwicklung von Leitbildern und strategischen Plänen. Stattdessen sind diese perma-
nenten Zielsetzungen ausschlaggebend, um den Gewinn und die Kundenzufriedenheit zu
erhöhen und die Kosten zu senken (Wallander 2003, S. 123).
Der Kernwert, der für Handelsbanken am wichtigsten ist, heißt Kundenfokus (vgl.
Abb. 6.5). Die Bank beschränkt sich bewusst auf die Größe des Portfolios der Kunden-
betreuer und legt immer einen sehr persönlichen Ansatz zugrunde, um das Verständnis
ihrer Kunden zu erhöhen und ihren finanziellen Wünschen und Bedürfnissen so gut
wie möglich gerecht zu werden. Nicht Kundenvolumen, sondern hohe Rentabilität und
Zufriedenheit der Kunden haben die höchste Priorität. Der zweite Kernwert der Bank
besteht deshalb auch darin, gerade keine Vertriebsziele und langfristigen Ziele hinsicht-
lich Markanteile festzulegen. Jan Wallander argumentiert, dass Budgets nur die triviale
­Botschaft verbreiten, immer etwas besser und effizienter zu arbeiten. Darüber hinaus
­treten Marktvorhersagen häufig nicht ein und so können Budgets sogar ein Hinder-
nis dabei darstellen, die für die Erfüllung der aktuellen Wünsche und Bedürfnisse des
­Marktes ­notwendigen Veränderungen umzusetzen (Wallander 2003, S. 110–111).
Langzeitfokus ist ein weiterer wichtiger Kernwert, den Handelsbanken konkret umge-
setzt hat. Vornehmlich um keine falschen Anreize zu schaffen, handhabt die Bank statt
individueller Boni eine Arbeitnehmerstiftung namens Oktogonen, mit der sie ihren
Mitarbeitern eine gleiche Gewinnbeteiligung auszahlt, wenn sie ihr Ziel – eine höhere
Rendite als die Wettbewerber zu erzielen – erreicht. In jedem Jahr, in dem die Renta-
bilität der Bank über dem Durchschnitt anderer Banken liegt, wird der nach Abzug der
Steuern verbleibende Gewinn halbiert und zu gleichen Teilen an die Aktionäre und die
Arbeitnehmer weitergegeben. Jeder Vollzeitarbeitnehmer bekommt unabhängig von
seiner Funktion oder seines Gehalts von der Stiftung Oktogonen die gleiche Gewinn-
beteiligung in Form von Anteilen. Die letzten Kernwerte betreffen die niedrige Risikoto-
leranz der Bank und die sich daran anschließende Kreditpolitik. Das Businessmodell von
Handelsbanken ist darauf ausgerichtet, Risiken auf Filialebene zu minimieren. Deshalb
werden Kreditentscheidungen immer auf der Grundlage des Cashflows und der Solvenz
des Kunden getroffen.16 Weil es für die Bank wichtig ist, Kredite verantwortungsvoll zu
gewähren, wird sie eine unsichere Solvenz niemals durch hohe Margen kompensieren.17
Die Kernqualitäten der Bank stimmen in hohem Maße mit den Zielen überein,
die sich die Bank für sich selbst gesetzt hat. So verzeichnet Handelsbanken in den
vergangenen 24 Jahren eine höhere Rentabilität als der Durchschnitt der Wettbe-
werber und erreicht das höchste Niveau der Kundenzufriedenheit. Um dieses Ziel zu rea-
lisieren, rücken die Verantwortlichen der Bank kosteneffektives Handeln in den Fokus.

16http://www.handelsbanken.nl/shb/inet/IStartEn.nsf/FrameSet?OpenView&iddef=NL_Branches_

Nl&navid=NL_Branches_Nl&navob=1&base=/Shb/Inet/ICentEn.nsf&sa=/Shb/Inet/ICentEn.
nsf/default/q6F53F7F10D662FDB8025799600421.729.
17http://www.handelsbanken.nl/shb/INeT/IStartEn.nsf/FrameSet?OpenView&id=nl_personal_

en&iddef=aboutthegroup&navid=Investor_Relations_EN&sa=/SHB/Inet/ICentEn.nsf/Default/
q6BCA99899.268D1C-5C12.575EE0046BF48.
6  Gemeinschaftliches Banking 161

Markenkern: „Die Filiale ist die Bank“

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Wertschöpfung für alle Stakeholder • Immer mehr Gewinn und zufriedenere
Kunden und niedrigere Kosten als die
Markenursprung Wettbewerber
• Gegründet 1871 in Stockholm
• Bis in die 1970er Jahre eine gewöhnliche Markenversprechen
Bank mit gelegentlichen Skandalen • Persönlich
• Ab 1970 übernimmt Jan Wallander die
• Nah
Leitung mit einer Philosophie der
radikalen Dezentralisierung

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Fokus auf den Kunden • Kompetenz im Bankwesen
• Langzeitfokus • Kenntnisse über den lokalen Markt
• Risikobegrenzung • Kosteneffektives Arbeiten
• Weitestgehende Dezentralisierung
von Arbeiten Markenbeweis
• Keine Beteiligung an Risikofinanzierungen
wie kommerzielle Immobilien
• Unsicherheiten werden nicht durch hohe
Margen kompensiert
• Nur Kunden, die man vom örtlichen
Kirchturm aus sehen kann
• Verschiedene Auszeichnungen

Abb. 6.5  Leitbild und Positionierung von Svenska Handelsbanken


162 J. Kemperman et al.

Das ist eine Kernqualität von Handelsbanken, die sie zur kosteneffektivsten Universal-
bank von Europa macht. Dank der niedrigen Risikotoleranz ist das Kredit-Verlust-Ver-
hältnis von Handelsbanken niedriger als das der Wettbewerber.18 Das alles kann nur
erreicht werden, weil kontinuierlich an der Bündelung von Kenntnissen über den loka-
len Markt, an der Optimierung von Arbeitsprozessen und am Ausbau der Fachkompe-
tenz gearbeitet wird. Diese letzte Kernqualität bestimmt sogar die Geschwindigkeit des
Wachstums von Handelsbanken. Es gibt eine Marschroute für die Ausweitung des Filial-
netzwerks, allerdings ohne Zeitplan. Qualität ist das einzige Kriterium (Nieuwenhuijzen
2012, S. 31).
Nicht nur die Bank selbst bezeichnet die oben aufgeführten Kernqualitäten als ihre
Stärken. Handelsbanken gewinnt auch viele Preise, die diese Qualitäten unterstreichen.
So wurde die Bank im Jahr 2013 zum dritten Mal in fünf Jahren vom schwedischen
Wirtschaftsmagazin Privata Affärer zur Bank des Jahres gewählt und darüber hinaus in
der alljährlich durchgeführten unabhängigen Umfrage von Finansbarometern zum dritten
Mal nacheinander zur Business Bank 2013 gekürt. Dabei erzielte die Bank eine Note von
4,8 auf einer Skala bis 5 bei der Bewertung der Kundenzufriedenheit, der elektronischen
Zusatzdienste, der Qualität von Beratungsservices, des Gebühren- und Serviceniveaus,
der Einstellung und des Angebots von Produkten und Dienstleistungen. Das ist die
höchste Bewertung, die im Rahmen einer Umfrage jemals für eine Bank gegeben wurde.

6.2.2 Das Businessmodell: Vollkommene Dezentralisierung

Marktsegment: Das Kirchturmprinzip


Was das Angebot betrifft, ist Handelsbanken eine Universalbank, die sich allerdings nicht
an den gesamten Markt, sondern an eine Nische richtet. „Wir sind keine Bank für den
Massenmarkt. Durch die sorgfältige Auswahl unserer Kunden können wir unsere Ziele
und Versprechen realisieren.“19 Wie bereits in der Einleitung erwähnt, will Handelsbanken
eine Bank sein, die nah am Kunden ist und die Situation vor Ort durch und durch kennt.
Das bedeutet, dass Kunden immer in der Nähe einer Filiale von Handelsbanken sind (das
so genannte Kirchturmprinzip). Svenska Handelsbanken ist eine Universalbank, die sich
an Geschäfts- und Privatkunden im höheren und obersten Segment und Ländern mit einer
soliden und gesunden Wirtschaft richtet. Die Bank hat in diesem Segment in Schweden
eine starke Marktposition und eine kontinuierlich wachsende Position in ihren anderen
Zielmärkten: Dänemark, Finnland, Großbritannien, Niederlande und Norwegen. Kunden,
die sich in der Spitze der Pyramide befinden, sind Kunden mit niedrigem ­Risikoprofil,

18 http://www.handelsbanken.nl/shb/INeT/IStartEn.nsf/FrameSet?OpenView&id=NL_Perso-

nal_Nl&iddef=overdegroep&navid=Investor_Relations_EN&sa=/shb/Inet/ICentEn.nsf/Default/
q6BCA99899268D1C-5C12.575EE0046BF48.
19Interview Mikael Sørensen.
6  Gemeinschaftliches Banking 163

gesundem Cashflow und höheren Einkommen als der Durchschnitt. Im Prinzip sind alle
Universalbanken in den Hausmärkten von Handelsbanken Wettbewerber für die Bank,
wenn sie sich an die gleiche Zielgruppe richten. In den Niederlanden sind die größten
Wettbewerber beispielsweise ING, Rabobank und ABN AMRO. Eine internationale Bank,
die sich an die gleiche Zielgruppe richtet ist Credit Suisse; in den Niederlanden ist das
beispielsweise Van Lanschot. Diese beiden haben jedoch eine schickere und glamourö-
sere Ausstrahlung als das nüchterne schwedische Pendant. Die Bank bringt sich jedoch in
eine besonders günstige Position im Vergleich zu ihren Wettbewerbern, indem sie schon
seit 42 Jahren ihre Ziele erreicht: eine ausgezeichnete Kundenzufriedenheit und eine
höhere Rendite als die Wettbewerber. Die wichtigste Erkenntnis der Bank ist die Tatsache,
dass zufriedene Kunden die Basis für Erfolg und eine hohe Rentabilität bilden. „Unsere
­Führung einer Bank basiert auf Vertrauen und Respekt für den Einzelnen“ (Svenska
­Handelsbanken 2013, S. 12).

Kundenwert: Persönliches Banking ist Maßarbeit (vgl. Abb. 6.6)


Die Produkte sind so einfach wie möglich und bleiben nah an den Kernaufgaben des
Bankings. „Dadurch arbeiten wir mit transparenten Produkten. Im Fall einer Hypothek
unterschreibt der Kunde für ein Darlehen mit (gegebenenfalls) einem Tilgungsplan und
einem festgelegten Zins. Es ist nicht die Rede von Kombipaketen mit Begleitversiche-
rungen und Anlageprodukten. Die machen es nur kompliziert“, erklärt Marc Bruin von
Handelsbanken Emmen (Nieuwenhuijzen 2012, S. 32). Die dezentralisierte Bank hält
die Kundenzahl ihrer Kundenbetreuer bewusst niedrig, um auf diese Weise eine persön-
liche Betreuung zu ermöglichen. Jeder Kunde bekommt langfristig einen persönlichen
Betreuer, der für die Bereitstellung von maßgeschneiderten Finanzlösungen und quali-
tativ hochwertigen Dienstleistungen verantwortlich ist. Der Kunde steht in Kontakt mit
dem Kundenbetreuer durch eine Telefonnummer mit Direktdurchwahl und eine Filiale
in seiner Umgebung, in der der Kundenbetreuer immer persönlich zu erreichen ist.20
Darüber hinaus hat die Bank die Telefonhotline Handelsbanken Direkt Personal Service
eingerichtet, die Kunden an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr zur Verfügung
steht und ihnen Hilfe und Beratung durch erfahrene Bankmitarbeiter bietet.21 Geschäfts-
kunden können sich darauf verlassen, dass sich die Bankmitarbeiter Zeit nehmen, das
Unternehmen kennen zu lernen, damit die Bank eine angemessene Unterstützung bie-
ten kann, die zum Erfolg des Unternehmens beiträgt. Nach eigener Aussage glaubt

20 http://www.handelsbanken.nl/shb/INeT/IStartEn.nsf/FrameSet?OpenView&id=NL_Per-

sonal_Nl&iddef=particulier&navid=NL_Personal_Nl&sa=/shb/Inet/ICentEn.nsf/Default/
qFF4292D83C-F6A598802.577C100.242FA0.
21Sustainability report 2010: https://www.unglobalcompact.org/system/attachments/14141/origi-

nal/SHB_Sustainability_Report_2010.pdf?1329323099.
164 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Komplettservice: einfache Produkte, die • Lokale, engagierte Bank
nah am Kern des Bankings sind • Jeder Kunde muss vom örtlichen
+ Kirchturm aus zu sehen sein

Prozess Wie bekomme ich es? Wettbewerber


• Persönlicher Ansatz • Die etablierten Banken
• Telefonhotline täglich und rund um die
Uhr verfügbar Zielgruppe
• Schneller Entscheidungsprozess • Kunden, sowohl Geschäfts- als auch
+ Privatkunden mit niedrigem Risikoprofil;
Das höhere Marktsegment
Gefühl Was fühle ich dabei?
• Engagierte Bankmitarbeiter Kundeneinblicke
• Kunden möchten einen persönlichen und
engagierten Ansatz von einer
Preis Was kostet es? kompetenten Bank, die ihr Geschäft
• Marktkonforme Zinsen und Tarife versteht

+
Aufwand Was muss ich dafür tun?
• Man muss ein „Aufnahmegespräch“
führen, um Kunde zu werden

+
Risiko Wie unsicher ist es?
• Geringes Risiko, weil Handelsbanken
eine der stärksten Banken der Welt ist

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 6.6  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Svenska Handelsbanken


6  Gemeinschaftliches Banking 165

Handelsbanken nicht an Standardlösungen, vielmehr bietet die Bank individuelles und


persönliches Banking.22 Das Businessmodell ist auf die Identifizierung und Verwaltung
des endgültigen Kreditrisikos auf Filialebene ausgerichtet. Ziel ist es, Marktrisiken und
alle andersartigen Risiken zu minimieren.23 Im Rahmen eines persönlichen Beratungs-
gesprächs in einer Filiale vor Ort wird festgestellt, ob der Kunde zur Bank passt. Dies ist
durchaus ein gegenseitiger Prozess. Alle Geschäftsentscheidungen, die die individuelle
Kundenbeziehung mit der Bank betreffen, werden von der örtlichen Filiale getroffen und
basieren auf den Bedürfnissen des Kunden. Die Filialmanager von Handelsbanken sind
mit einer weitreichenden Autonomie ausgestattet, weil die Bank davon überzeugt ist,
dass sie dem Kunden am nächsten sind und deshalb die vernünftigsten Entscheidungen
aus der Perspektive des Kunden und der Bank treffen.24

Kanäle: Jede Filiale hat individuelle Bedürfnisse (vgl. Abb. 6.7)


Die örtliche Filiale spielt eine wichtige Rolle im Unternehmenskonzept von Handelsban-
ken, was eine logische Konsequenz des Kirchturmprinzips ist. Das Filialnetz im Heimat-
land Schweden ist mit 462 Filialen so engmaschig wie nötig. In den anderen Ländern
ist das noch nicht der Fall (Dänemark 56, Finnland 45, Großbritannien 161, Niederlande
18 und Norwegen 49), aber der Ausbau des Filialnetzes in diesen Ländern schreitet wei-
ter voran. Niemand kennt die spezifischen Anforderungen und Wünsche der örtlichen
Gemeinschaft besser als die Filiale vor Ort. Deshalb hat die Bank im Allgemeinen keine
zentralen Marketingpläne und -kampagnen. Handelsbanken passt sein Verkaufsangebot
den individuellen Bedürfnissen und Umständen des Kunden an. Aus diesem Grund stellt
die Bank auch keine zentralen Anforderungen im Hinblick auf Volumina, Budgets oder
Verkaufsziele. Stattdessen misst die Bank ihren Erfolg an Zielvorgaben im Bereich Kun-
denzufriedenheit, Rentabilität und Kosteneffizienz. „Dieser Ansatz führt zu schnelleren
und besseren Entscheidungen nah am Kunden. Er schafft Verbundenheit und außerdem
Möglichkeiten für unsere Mitarbeiter, ihre Arbeit wirklich gut erledigen zu können und
einen Unterschied zu machen“ (Svenska Handelsbanken 2013, S. 12). Der Kunde steht
in Kontakt mit demjenigen, der die Entscheidung trifft und nicht mit dem Berichterstatter
als Mittler des Stammhauses. „Wenn ein Kunde mit uns in Kontakt tritt, muss das Tref-
fen einfach und unbürokratisch sein“ (Svenska Handelsbanken 2013, S. 12). Nahezu alle
Kundenbeziehungen beginnen in der örtlichen Filiale des Kunden, verlagern sich später

22 http://www.handelsbanken.nl/shb/INeT/IStartEn.nsf/FrameSet?OpenView&id=NL_Per-

sonal_Nl&iddef=particulier&navid=NL_Personal_Nl&sa=/shb/Inet/ICentEn.nsf/Default/
qFF4292D83C-F6A598802.577C100.242FA0.
23http://www.handelsbanken.nl.

24Annual report 2013: https://www.handelsbanken.se/shb/inet/icentsv.nsf/vlookuppics/investor_

relations_en_hb_13_highlights/$file/hb_13_highlights.pdf.
166 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Dezentralisierung durch lokale Filialen • Keine zentralen Marketingpläne, die
• Kein Jahresplanzyklus und keine örtlichen Filialen passen das Angebot den
zentrale Strategieplanung individuellen Umständen an
• Niedrigste Finanzierungskosten • Aufnahmegespräche mit Kunden, um zu
• Begrenzung der Portfolios von sehen, ob sie zur Bank passen
Kundenbetreuern
• Kein Bonusprogramm Kundenkontakt & Zusatzdienste
• Fokus auf: Kundenzufriedenheit, • Schlichte Filialen ohne überflüssige
Gewinn und Kosteneffizienz Ausstattung, um Kosten zu senken
• Qualität von Mitarbeitern bestimmt die • Persönlich, telefonisch, online, Tablets
Wachstumsgeschwindigkeit der Bank

Lieferanten & Partner


• Strenge Auswahl von Einkaufspartnern

Abb. 6.7  Betrieb und Kanäle von Svenska Handelsbanken

jedoch häufig auf die telefonische oder Internetebene. Es ist das erklärte Ziel der Bank,
dass ihre Kunden sich frei zwischen den verschiedenen Arten der Kommunikation (Tele-
fon, Smartphone, Tablet oder Internet) bewegen können, sodass Bankgeschäfte dann erle-
digt werden können, wenn es den Kunden am besten passt. Die Bank bietet z­ ahlreiche
6  Gemeinschaftliches Banking 167

Universalbankdienste an, die in vier Betriebsbereichen eingeteilt werden: Handelsbanken


Capital Markets, Stadshypotek, Forestry and Farming und Handelsbanken Direkt.

Betrieb: Service ist alles


Eine Besonderheit in der Betriebsführung von Handelsbanken sind Budgetierungsrun-
den und Jahresziele. Diese gibt es nämlich nicht! Budgetierung bietet keinen Mehrwert,
sie ist ein überflüssiges Übel (Murray 2007, S. 5). Der große Nachteil eines formel-
len, zentralen und strategischen Planungsverfahrens ist dessen Vorhersehbarkeit. Jeder
nimmt den Plan vom Vorjahr, addiert 5 % und fertig ist die Laube (das Schweden-
häuschen). Anschließend verschwindet der Plan in der Schublade und jeder lehnt sich
zufrieden zurück, wenn die Ziele erreicht werden, obwohl es in Wirklichkeit immer bes-
ser gemacht werden kann. Ein weiterer Nachteil ist, dass ein zentrales Budgetierungs-
verfahren viel zu viel Zeit kostet. Diese Zeit kann besser in die Ausführung investiert
werden. Und schließlich ist es sehr schwierig, die Zukunft weiter als ein Jahr vorher-
zusagen, also warum sollte man dann so viel Zeit dafür investieren? Aber was macht
Handelsbanken dann eigentlich? Der Ansatz enthält viele Merkmale der kontinuier-
lichen Optimierung gemäß der Lean-Methode auf der Grundlage von kontinuierlichen
Feedbackzyklen an die Mitarbeiter in der Betriebsabwicklung. Jede Filiale erstellt ihren
eigenen Betriebsplan. Anschließend werden pro Filiale kurzzyklisch einige Indikatoren
genauer betrachtet: Eigenkapitalrendite, Aufwand-Ertrag-Verhältnis, Gewinn pro Mitar-
beiter, Gesamtrentabilität und natürlich Kundenzufriedenheit (Murray 2007, S. 9). In den
Diskussionen zur Entwicklung der Zahlen wird immer der Vergleich mit anderen Filia-
len und mit den Wettbewerbern angestellt, sodass jede einzelne Filiale weiß, ob sie bes-
ser oder schlechter als die anderen ist. Es findet also ein kontinuierliches Benchmarking
statt, durch das man immer wachsam bleibt und auf Verbesserung fokussiert ist.
Handelsbanken arbeitet konstant an technischen Lösungen, die zur Bereitstellung von
konstantem und gutem Service beitragen können. „Wie auch immer der Kunde Kontakt mit
der Bank aufnehmen möchte, der gebotene Service muss konsistent sein. Das bedeutet, dass
es möglich sein muss, alle gewünschten Bankgeschäfte sowohl in einer unserer Filialen als
auch über einen unserer digitalen Kanäle abzuwickeln“ (Svenska Handelsbanken 2013,
S. 12). Dafür hat die Bank einen neuen Onlineservice mit besseren und effizienteren Funk-
tionen und Zusatzdiensten eingeführt. Neben einer mobilen Zahlungsmöglichkeit für Pri-
vat- und Geschäftskunden wurde auch neue Technologie für die elektronische Unterschrift
entwickelt, um so Transaktionen zu vereinfachen (vgl. Svenska Handelsbanken 2013).
Die Lieferanten von Handelsbanken sind nach Möglichkeit in Regionen ansässig, in
denen die Bank tätig ist. Sowohl in Schweden als auch in den anderen Ländern. Das
ermöglicht eine Verbundenheit mit der örtlichen Gemeinschaft und schafft Kenntnisse
über den lokalen Markt. Auch wenn Handelsbanken selbst als Kunde auftritt, stellt das
Finanzinstitut hohe Anforderungen. Bei der Auswahl von Lieferanten legt Handelsban-
ken großen Wert auf ethische Aspekte wie zum Beispiel der Einhaltung von Tarifverträ-
gen, Richtlinien zur Arbeitsplatzgestaltung und Richtlinien zum Geben oder Annehmen
von Zuwendung. Die Zusammenarbeit mit lokalen Lieferanten hilft, etwaige Risiken
168 J. Kemperman et al.

hinsichtlich Verletzung von Menschenrechten und Arbeitsbedingungen zwischen den


Anbietern auf ein Minimum zu reduzieren (vgl. Svenska Handelsbanken 2013).

6.2.3 Das Ergebnis: Zufriedenheit ist der Schlüssel

Handelsbanken ist davon überzeugt, dass nachhaltiges Langzeitwachstum und ein positi-
ver Aktionärswert nur dann realisiert werden können, wenn gleichzeitig ein langfristiges
Wertangebot für die Kunden der Bank geschaffen wird. Wie bereits erwähnt hat Han-
delsbanken nur die besten Kunden aus den sichersten Segmenten und Märkten. Diese
Kunden haben jeder für sich ein niedriges Risikoprofil, was zu einer hohen Qualität
im Hinblick auf Kreditnehmer und langfristige Geschäftsbeziehungen führt. Die starke
finanzielle Position und Bewertung (AA- bei Fitch und S&P)25 sorgen dafür, dass die
Bank nicht nur guten Zugang zu allen möglichen Finanzierungsquellen hat, sondern
diese auch zu den niedrigsten Finanzierungskosten auf dem Markt anbieten kann.26
Handelsbanken ist eine der wenigen Banken, die in den Jahren der Finanz- und Schul-
denkrise einen positiven Aktionärswert behaupten konnte. Außerdem ist sie die einzige
kommerzielle und an der Stockholmer Börse notierte Bank, die es nicht nötig hatte, ihre
Aktionäre in diesem Zeitraum nach neuem Kapital zu fragen. In den vergangenen fünf
Jahren hat Handelsbanken einen positiven Wert für die Aktionäre von 150 Mrd. SEK
generiert. Der Börsenkurs ist um 122 Mrd. SEK gestiegen, während Handelsbanken
28 Mrd. SEK als Dividende ausgeschüttet hat. Ende 2013 lag der Wert der A-Aktien von
Handelsbanken bei 316 SEK, was einer Steigerung von 36 % entspricht. Einschließlich
der Dividende betrug die Gesamtrendite 41 %.
Nicht nur Kunden müssen sich einem strengen Auswahlverfahren unterziehen, sondern
auch die Mitarbeiter (vgl. Abb. 6.8). Der Filialmanager selbst muss Mitarbeiter einstellen,
die zum Kundenprofil passen. Mitarbeiter müssen ausgezeichnete Banker sein, vor allem
aber müssen sie „Handelsbanken verkörpern“. Alle Mitarbeiter werden enorm angetrieben,
aber im Gegensatz zu vielen anderen Banken herrscht kein Wettbewerb unter den Mitar-
beitern. Mitarbeiter arbeiten zusammen und tragen ein hohes Maß an Verantwortung. Die
Wertschätzung dafür ist groß und spiegelt sich in der ausgezeichneten Kundenzufriedenheit
und im Gewinnbeteiligungsplan von Handelsbanken wider. Seit 1973 wurde – mit Aus-
nahme von zwei Jahren – jedes Jahr eine Gewinnbeteiligung für jeden Mitarbeiter durch
die Oktogonen Foundation ausgeschüttet.27 Die Auszahlung erfolgt nicht sofort, sondern
wird verzögert. Auf diese Weise werden die Aktien zusammengehalten, die ihrerseits ein

25https://thebanks.eu/banks/17591.

26 http://www.handelsbanken.nl/shb/INeT/IStartEn.nsf/FrameSet?OpenView&id=NL_Per-

sonal_Nl&iddef=particulier&navid=NL_Personal_Nl&sa=/shb/Inet/ICentEn.nsf/Default/
qFF4292D83C-F6A598802.577C100.242FA0.
27http://www.handelsbanken.nl/shb/inet/icentsv.nsf/vlookuppics/investor_relations_en_hb_13_

highlights/$file/hb_13_highlights.pdf.
6  Gemeinschaftliches Banking 169

Wert durch Kunden


• Höchste Kundenzufriedenheit (4,8 auf einer Skala von 5)
• Dreimal in fünf Jahren als beste Bank ausgezeichnet (Swedish Quality Index)

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Attraktiver Arbeitgeber: 64 % der • Wertzunahme des Unternehmens in 5 Jahren
11.000 Mitarbeiter empfiehlt 122 Milliarden SEK (13,3 Milliarden EUR)
Handelsbanken • 41 % Rendite im Jahr 2013
• Gleiche Gewinnbeteiligung aus dem • Platz 11 in der Rangliste der stärksten Banken
Arbeitnehmerfonds Oktogonen der Welt
• Mitarbeiterzufriedenheit 2,8 von 5 • Betrieblicher Gewinn: 14,2 Milliarden SEK
(vgl. Glassdoor 2014) (1,55 Milliarden EUR)
• Ein strukturell niedrigeres Kredit-Verlust-
Verhältnis als bei Wettbewerbern
• 42 Jahre nacheinander eine höhere
Eigenkapitalrendite im Vergleich zu anderen
vergleichbaren Banken
• Bewertung AA- bei Fitch und Standard & Poors
• Der Eigenkapitalkoeffizient (Basel II) beträgt
21,6 %

Wert für und durch die Gesellschaft


• Keine staatlichen Hilfen erforderlich
• Beitrag zum Wohlstand der lokalen Gemeinschaft
• Treffer: 525.000 (Google)
• Auszeichnungen (2014): Business Bank of the Year, Sweden’s Small Enterprise Bank,
Best at Service

Abb. 6.8  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Svenska Handelsbanken


170 J. Kemperman et al.

beträchtliches Kapital bilden. Oktogonen hält über 10 % der Aktien von Handelsbanken,
was die Mitarbeiter indirekt zu einem der beiden größten Aktionäre macht. Die Stiftung
gibt Mitarbeitern eine echte Bedeutung im Unternehmen, sodass ein Gefühl der Eigentü-
merschaft entsteht. Die Mitarbeiter fühlen dadurch die Bedeutung des kundenorientier-
ten und kostenbewussten Handelns.28 Die einzelnen Anteile werden ausgezahlt, wenn der
Mitarbeiter in Rente geht. Das System der Oktogonen Foundation ist ein Ausdruck der
Vernunft, des gegenseitigen Vertrauens und des Respekts, die den Mitarbeitern die Wert-
schätzung für ihre Arbeit vor Augen führen. Dass Handelsbanken ein attraktiver Arbeit-
geber ist, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass 64 % der Mitarbeiter Handelsbanken
einem Freund oder Bekannten empfehlen.29
Eine finanziell stabile Bank wirkt sich auf die Wertschöpfung für die Gesellschaft aus:
So hat die Bank beispielsweise noch nie um finanzielle Hilfe vom Staat bitten müssen.
„Wir glauben, dass eine Bank ohne staatliche Hilfen auskommen und funktionieren muss.
Wir brauchen das Geld nicht, und wir wollen unter keinen Umständen als Bank gesehen
werden, die hilfebedürftig ist“30. Die Verantwortlichen von Handelsbanken sagen jedoch,
dass verantwortungsvolles Unternehmertum weit über den finanziellen Aspekt hinaus-
geht. Als nachhaltiges Finanzinstitut will Handelsbanken auch ein attraktiver Arbeitgeber
und ein stabiler Player auf dem Finanzmarkt sein, der mit seinem positiven Beitrag die
Gesellschaft bereichert. Obwohl die Bank beispielsweise danach strebt, den durch ihre
Aktivitäten verursachten CO2-Ausstoß zu verringern, ist der Umwelteinfluss von Ban-
ken im Allgemeinen betrachtet ziemlich begrenzt. Bei ihrem Anliegen, tatsächlich etwas
zu bewirken, sieht die Bank ihre größten Möglichkeiten in der Übernahme sozialer und
gesellschaftlicher Verantwortung, insbesondere in ihrer Rolle als Kreditgeber.

6.2.4 Die brillanten Lektionen von Svenska Handelsbanken

Mit ihrer bewusst und mutig getroffenen Entscheidung zur Dezentralisierung ist Svenska
Handelsbanken einzigartig in der Branche und buchstäblich nah am Kunden. Auf diese
Weise realisiert sie nicht nur eine höhere Kundenzufriedenheit, sondern gleichzeitig
auch niedrigere Kosten und mehr Gewinn. Welche brillanten Lektionen können wir von
Svenska Handelsbanken lernen?

• Seinen Prinzipien treu bleiben: Handelsbanken bleibt den Kernprinzipien des Bankwesens
treu und ist nicht auf schnelles Wachstum angewiesen. Sie nimmt Qualität als Hauptkrite-
rium, ist nicht auf das schnelle Geld erpicht und hält sich aus dem Geschäft mit kommer-
ziellen Immobilien heraus. Sie baut nicht auf komplizierte Finanzkonstruktionen, sondern

28http://employeeownership.co.uk/news/guest-blogs/handelsbanken-guest-blog-jan14-2/.

29http://www.glassdoor.com/Reviews/Svenska-Handelsbanken-Reviews-E10607.htm.

30http://uk.finance.yahoo.com/news/handelsbanken-championing-old-way-doing-201039721.html.
6  Gemeinschaftliches Banking 171

bietet kontinuierlich grundlegende Bankprodukte ohne komplizierte integrierte Versiche-


rungskonstruktionen. Im ersten Moment ist diese Vorgehensweise mühsam, aber hinterher
zeigt sich, dass sie der Bank viele Verluste und Pleiten und der Gesellschaft viele Kosten
spart.
• Sich trauen, anders als die anderen zu sein und die ausgetretenen Pfade zu verlas-
sen: Svenska Handelsbanken hat sich getraut, neue Wege zu beschreiten und sich
für die Implementierung eines radikal anderen Businessmodells zu entscheiden. Die
Bank profitiert jetzt von einer sehr günstigen Position auf dem Markt und stellt sich
ins Rampenlicht, indem sie klare und einzigartige Kernwerte berücksichtigt und ihren
Erfolg in Parametern wie Kundenzufriedenheit, Rentabilität und Kosteneffizienz misst.
• Die Kernwerte und Unternehmensphilosophie auf allen Unternehmensebenen umset-
zen und dafür sorgen, dass sie eingehalten werden: Wenn Kunden sehen und fühlen,
dass die Kernwerte der Bank überall und konsequent befolgt werden, wird dadurch
Vertrauen geweckt und die Kundenzufriedenheit gesteigert. Nicht nur die Kunden,
sondern auch die Mitarbeiter schätzen eine klare Linie, um sich dadurch im Unterneh-
men besser entwickeln zu können.
• Nicht alle Kunden sind gleich: Ein persönlicher Ansatz wird sehr geschätzt und kann zu
starken langfristigen Geschäftsbeziehungen führen. Der Service, der bei einem persön-
lichen Ansatz geboten werden kann, geht über die Perfektionierung von Komfortleis-
tungen hinaus. Er zeigt Respekt für den Einzelnen, sodass eine vertrauliche Beziehung
aufgebaut und gefestigt werden kann. Kennen Sie Ihre gewünschte Zielgruppe, und tref-
fen Sie Ihre Wahl auf dieser Grundlage. Wenn Sie Ihre Kunden mit Bedacht auswählen,
haben Sie die ersten Kontakte bereits geknüpft und können Risiken minimieren.
• Zufriedene Kunden bilden die Grundlage für den Erfolg und schließlich für die Ren-
tabilität eines Unternehmens: Ohne Kunden gibt es keinen Geldstrom und keine Basis
für Rentabilität. Mit einem zufriedenen Kunden kann eine langfristige Geschäftsbe-
ziehung aufgebaut werden, was der Stabilität zugutekommt. Darüber hinaus neigen
zufriedene Kunden zu Mundpropaganda in ihren Bekannten- und Freundeskreisen.
Auf diese Weise erreichen Sie problemlos die richtige Zielgruppe, ohne zusätzlichen
Aufwand zu leisten.
• Die Mitarbeiter sind die wahren Botschafter des Unternehmens: Geben Sie Mitarbei-
tern ein Gefühl der Eigentümerschaft, indem Sie ihnen Verantwortung übertragen und
Wertschätzung entgegenbringen. Dann fühlen sie sich motiviert für die Generierung
von Wachstum. Eine gute Methode, das Gefühl der Eigentümerschaft zu verstärken
ist, die Mitarbeiter als Anteilseigner auch buchstäblich zum Eigentümer des Unter-
nehmens zu machen.
• Radikal aufhören mit Dingen, die jeder macht, die aber keinen Mehrwert bieten und
nur ablenken und hinderlich sind: Die traditionellen Budgetierungsrunden, die in jedem
Unternehmen stattfinden, bieten keinen Mehrwert. Deshalb hat Handelsbanken diese
radikal abgeschafft. Stattdessen setzt die Bank auf eine Methode der kontinuierlichen
Optimierung, die dafür sorgt, dass jeder Mitarbeiter immer wachsam bleibt und Dinge
immer besser gemacht werden können.
172 J. Kemperman et al.

6.3 Umpqua Bank

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Sander Asma, Ivy Jeuken, Sophie van
der Meer und Jeroen Geelhoed verfasst.

„Willkommen bei der großartigsten Bank der Welt“


Prolog
„Wenn man jemandem die Augen verbindet, ihn in eine Bank führt, die Augenbinde
abnimmt und ihn fragt, wo er sich befindet, wird derjenige antworten: ‚Ich bin in einer
Bank.‘ Wir aber wollen, dass derjenige sagt: ‚Ich bin in einer Umpqua Bank‘“ (vgl.
Freeze 2006). Mit dieser Aussage von Ray Davis, dem Generaldirektor von Umpqua
Bank, wird einem die serviceorientierte Unternehmenskultur und einzigartige physi-
sche Präsenz von Umpqua Bank klar vor Augen geführt. Denn wo findet man heute
eine Bank, in der man nicht gleich von einem Mitarbeiter angesprochen wird und in
der man erst in Ruhe kostenlos eine Tasse Kaffee trinken kann? Eine Bank, in der man
kostenlosen Internetzugang nutzen kann? Eine Bank, in die man seine Kinder mitneh-
men kann, um ihnen beizubringen, wie sie am besten mit ihrem Spargeld umgehen?
Eine Bank, in der man über alle Services informiert wird und sich anschließend von
den äußerst freundlichen Mitarbeitern helfen lassen kann? Die Filialen von Umpqua,
oder ‚Geschäfte‘ wie Davis sie lieber nennt, sollen der Gemeinschaft dienen. Anwoh-
ner können hier mehrere Stunden verbringen, miteinander reden, sich treffen, eine
Tasse Kaffee trinken, ihre E-Mails checken und – oh ja – sie können hier natürlich
auch ihre Bankgeschäfte abwickeln. Wenn einem also die Augenbinde abgenommen
wird und man sich in einer Bank befindet, in der Menschen in gemütlichen Sitzecken
miteinander plaudern, in der auf modernen Flachbildschirmen über die neuesten Ser-
vices informiert wird und in der es nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen riecht, weiß
man, dass man in einer Umpqua Bank ist. Und wie Umpqua selbst gern zu sagen
pflegt, ist das „ziemlich cool für eine Bank“.

Einleitung
Die Geschichte von Umpqua Bank, der kleinen Lokalbank, die Mitte der 90er Jahre
des vergangenen Jahrhunderts die amerikanische Bankenwelt zu überraschen wusste,
beginnt im Jahr 1953 in Canyonville, Oregon. Umpqua Bank wurde gegründet, um
den finanziellen Bedürfnissen der lokalen Gemeinschaft von Holzfällern und Bau-
ern gerecht zu werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wächst die kleine
Bank zu einer Bank mit sechs Filialen am Umpqua-Fluss an. 1994 verfügt Umpqua
Bank über 140 Mio. US$ (131,6 Mio. EUR) an festen Aktiva.31 In dem Jahr ist es für
den damaligen Generaldirektor an der Zeit in Rente zu gehen und der Vorstand muss

31Website Umpqua Bank: www.umpquabank.com/umpqua-life/our-history/.


6  Gemeinschaftliches Banking 173

entscheiden, wer sein Nachfolger wird. Die Vorstandsmitglieder treffen eine unkon-
ventionelle Wahl: Sie entscheiden sich für Ray Davis, der kein typischer Bankmana-
ger ist, sondern ein energischer und dynamischer Bankberater. Davis erinnert sich an
jene Zeit: „Ich erzählte ihnen, dass wenn sie nicht offen für Veränderungen wären, ich
nicht ihr Mann wäre. Wenn sie jedoch eine grundlegende Veränderung wollten, mit
der mehr Aktionärswert generiert würde, wäre ich sehr wohl der Richtige“ (vgl. Davis
und Shrader 2007).
Mit seinem einzigartigen Leitbild hinsichtlich der Unternehmenskultur von
Umpqua Bank führt Davis in den Jahren nach seiner Ernennung zum Geschäftsfüh-
rer drastische Veränderungen durch. Als Folge dieser Veränderungen wächst die Bank
beständig. 1998 wird Umpqua Bank Teil der Umpqua Holdings Corporation und geht
an die Börse.32 Es folgen mehrere Übernahmen, und der Aktionärswert steigt. 2004 ist
Umpqua zu einer Bank mit 65 Geschäften und 3 Mrd. US$ (2,8 Mrd. EUR) an Aktiva
angewachsen (Wallander 2003, S. 8, 18). Trotz der Herausforderungen, mit denen sich
die Bankenwelt im neuen Jahrtausend konfrontiert wird, gelingt es Davis, die Kun-
den an Umpqua Bank zu binden. 2013 verfügt die Umpqua Bank über 11 Mrd. US$
(10,3 Mrd. EUR) an Aktiva und nimmt den 19. Platz in der Liste der hundert besten
Banken laut Forbes Magazine ein (vgl. Umpqua Bank 2013).
Umpqua Bank ist ursprünglich eine Lokalbank, und gerade weil Davis daran fest-
hält, kann er die Expansion der Bank erfolgreich vorantreiben. 2013, 60 Jahre nach
der Gründung von Umpqua Bank, hat sich die Lokalbank aus Oregon zu einer milliar-
denschweren Bank mit über 200 Filialen in drei Bundesstaaten entwickelt. Wie kann
Davis so erfolgreich sein, ohne sich von der einzigartigen Unternehmenskultur von
Umqua Bank zu verabschieden?

6.3.1 Das Fundament: Eine Bank als Einzelhandelsgeschäft

Als Davis 1994 als Generaldirektor bei Umpqua Bank seine Tätigkeit aufnimmt, rückt er
die folgende Frage in den Mittelpunkt seines Handelns: „Wie kann sich die Bank in die-
sem Markt differenzieren?“ Um sich von anderen Banken differenzieren zu können, stellt
sich Davis selbst noch eine weitere Frage und zwar: „In welcher Branche sind wir tat-
sächlich tätig?“ Er kommt zu dem Schluss: „Wir sind in der Einzelhandelsbranche tätig.“
Davis beschließt, den Schwerpunkt auf das zu legen, was die Kunden unmittelbar erle-
ben, wenn sie Bankgeschäfte tätigen: die Dienstleistungen der Bank. Er entschließt sich
dazu, die Bankprodukte von Umpqua Bank auf einzigartige Weise bereitzustellen. Denn
wie soll er schließlich die Menschen dazu bringen, gerade seine Produkte zu kaufen?
Durch den Einsatz von Servicepersonal, das sich extrem gut auf das Verkaufen versteht

32Website Umpqua Bank: www.umpquabank.com/umpqua-life/our-history/.


174 J. Kemperman et al.

in einer Umgebung, die den Verkauf und Service fördert. Dafür traut sich Davis, über den
Tellerrand der Bankenwelt zu schauen. Er studiert Unternehmen, die ausgesprochen gut
in der Bereitstellung von Dienstleistungen sind, darunter Starbucks, das Modegeschäft
Banana Republic und die Hotels der Kette The Ritz-Carlton. Das ist Gastronomiegewerbe
oder Einzelhandel, zieht Davis seine Schlüsse, und das ist genau die Branche, in der
Umpqua Bank auch tätig sein muss.
Davis sendet seine Mitarbeiter aus, um Inspiration zu sammeln und von anderen Ein-
zelhandelsgeschäften zu lernen. Die gesammelten Eindrücke werden verarbeitet, und ein
Jahr später ist das erste Umpqua-Geschäft eine Tatsache. Das neue Umpqua-Geschäft
durchbricht die gängige Wahrnehmung einer Bank; Umpqua Bank bekommt ein neues
Image und erklärt sich selbst zur World’s Greatest Bank. Die Mitarbeiter von Umpqua
Bank glauben wirklich daran. Das merkt man, wenn man die Bank anruft. Dann hört
man nämlich folgende Begrüßung: „Die großartigste Bank der Welt, hier spricht [Name
des Mitarbeiters].“
Der neue Ansatz bringt Umpqua Bank einen Schritt näher an sein höheres Ziel: Eine
einzigartige, bemerkenswerte Bankumgebung zu schaffen, die für Anteilseigner, Mit-
arbeiter, Kunden und die Gesellschaft eine Wertschöpfung ermöglicht. Kunden sollen
Umpqua Bank als einen unersetzlichen Partner beim Erreichen ihrer finanziellen Ziele
erleben (vgl. Abb. 6.9).
Umpqua Bank will seine Mitarbeiter unvergleichliche Erfolge auf privater und beruf-
licher Ebene erzielen lassen. Anteilseigner erhalten einen außergewöhnlichen Bonus für
ihre Eigentümerschaft. Durch die Verankerung in der örtlichen Gemeinschaft schafft die
Bank auch einen Wert für die Gesellschaft, zum Beispiel durch ehrenamtliche Tätigkeit
und die Einrichtung eines Treffpunkts in der Bank.
Um ein Einzelhandelsgeschäft zu werden, muss Umpqua Bank bestimmte Qualitäten
verbessern. Die Bank ist seit jeher mit der örtlichen Gemeinschaft stark verbunden, und
diese Qualität wird auch eine zentrale Rolle im neuen Geschäft spielen. Die Mitarbeiter
(oder in der hausinternen Umpqua-Sprache: Universal Associates) erhalten eine Schu-
lung bei The Ritz-Carlton, um anschließend ihren Kunden den besten Service bieten zu
können. Darüber hinaus werden ihnen spezielle Kenntnisse über die Bankprodukte ver-
mittelt, damit sie ein zuverlässiger Berater für ihre Kunden sein können. Ausgehend von
diesem revolutionären Schachzug wächst Umpqua Bank unaufhaltsam. Gegen Ende der
1990er Jahre kommt es zu mehreren großen Fusionen und Übernahmen. Aber mit der
Einführung von Onlinebanking nimmt die Zahl der physischen Besucher von Bankfilia-
len im gesamten Land ab. Der einzigartige Charakter von Umpqua als Lokalbank gerät
aufgrund des enormen Wachstums der Bank in den Jahren zuvor unter Druck. Davis
sieht den Wettbewerbsvorteil seiner einzigartigen Geschäfte schwinden und weiß, dass es
an der Zeit ist, mit den Umpqua-Geschäften neue Maßstäbe zu setzen.
In den 20 Jahren nach dem revolutionären Schachzug von Davis bleibt es eine Her-
ausforderung, mit der Zeit mitzugehen und die Bedeutung der Umpqua-Geschäfte in
einer sich verändernden Bankenwelt aufrechtzuerhalten. 2002 geht Umpqua Bank eine
Kooperation mit dem Designbüro Ziba ein. Gemeinsam begeben sich beide auf die
6  Gemeinschaftliches Banking 175

Markenkern: „Die großartigste Bank der Welt“

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Wertschöpfung für alle Stakeholder durch • Umpqua Bank will wachsen und
die Realisierung einer einzigartigen, gleichzeitig eine Lokalbank bleiben und
bemerkenswerten Bankumgebung an ihrer starken Unternehmenskultur
festhalten
Markenursprung
• 1953 als Bank für die lokale • Wachstum nicht als Ziel an
Holzfällergemeinschaft gegründet. sich, aber um die Bedeutung der Bank in
der Gesellschaft zu verstärken
• Von Beginn an ist Umpqua Bank darauf
ausgerichtet, die lokale Gemeinschaft Markenversprechen
erfolgreich sein zu lassen. • „Den Besuch eines Umpqua-Geschäfts
• Darüber hinaus ist die ausgeprägte zum schönsten Erlebnis des ganzen
Serviceorientierung von ´Tages zu machen“
Anfang an charakteristisch
für Umpqua Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?
Bank

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kernqualitäten
• Sehr ausgeprägte Serviceorientierung
Kern- und Markenwerte • Verankerung in der lokalen Gemeinschaft
• Universeller Kundenservice • Zuverlässiger Berater
• Gesellschaftliches Engagement • Innovation
• Überraschend
• Eigensinnig Markenbeweis
• Starke Kapitalposition
Verschiedene Auszeichnungen:
• Platz 19 in der Liste von Amerikas
100 größten Banken im Forbes
Magazine
• Connect Volunteer Network: 2013 erreicht
Umpqua Bank den Meilenstein von
250.000 Arbeitsstunden
in Wohltätigkeitsorganisationen

Abb. 6.9  Leitbild und Positionierung von Umpqua Bank


176 J. Kemperman et al.

Suche nach dem Kern von Umpquas Unternehmenskultur, der die Grundlage für die
Neugestaltung des Filialauftritts ist. In den neuen Räumlichkeiten spielt die Verbindung
mit der lokalen Gemeinschaft eine noch bedeutendere Rolle. Die Geschäfte sind tatsäch-
lich ein Ort, wo sich Menschen treffen können. So gibt es beispielsweise separate Räume
für Versammlungen der Gemeinschaft.
Seit der Einstellung von Ray Davis wurden die Umpqua-Filialen von Banken in
Geschäfte und anschließend in Nachbarschaftszentren verwandelt. Noch immer ist
Umpqua Bank auf der Suche nach neuen Innovationsmöglichkeiten für die Zukunft. Es
ist eine Herausforderung, auch das Onlinebanking zum „schönsten Erlebnis des ganzen
Tages“ zu machen. Also ist Umpqua Bank dieses Mal auf der Suche nach einer digitalen
Revolution. Der 2014 von Umpqua Bank in Seattle eröffnete Flagshipstore der nächsten
Generation wurde so konzipiert, dass Kunden dank neuester technologischer Spielereien
noch mehr vernetzt werden: Es gibt eine interaktive digitale Wand, auf der die Produkte
und Dienstleistungen von Umpqua mithilfe der neuesten Bewegungssensortechnologie
präsentiert werden. In der Erfrischungsbar können Kunden Kaffee oder Tee trinken und
in der Zwischenzeit ihr Mobiltelefon aufladen oder das kostenlose WLAN und die zur
Verfügung gestellten Tablets nutzen. Des Weiteren gibt es Räume, die für virtuelle oder
persönliche Treffen reserviert werden können (vgl. Biro 2014).
Die Geschichte der Umpqua Bank zeigt, dass die Bank immer wieder das Spannungs-
feld zwischen Wachstumsambitionen und der Beibehaltung ihrer starken Unternehmens-
kultur aufsucht. Die Kernwerte von Umpqua Bank sind stark und sorgen dafür, dass die
Bank sich selbst treu bleibt. Davis’Intention ist nicht zu wachsen des Wachsens wegen,
sondern um die Bedeutung der Bank in der Wahrnehmung ihrer Mitarbeiter, Kunden und
der Gesellschaft zu stärken. Und das trotz der jüngeren Entwicklungen in der Banken-
welt. Umpqua Bank hat gezeigt, dass sie mit der Zeit gehen kann und gleichzeitig ihre
Unternehmenskultur und Werte behält. Das liegt unter anderem daran, dass Umpqua
Bank sich seiner Werte und Qualitäten bewusst ist und diese als Unterscheidungsmerk-
male einsetzt, um in der Bankenwelt einen Unterschied zu machen.

6.3.2 Das Businessmodell: Anders aufgrund ausgezeichneter


Dienstleistungen

Marktsegmente: Verbunden mit der lokalen Gemeinschaft


Mit dem Aufkommen des Internets und einer immer weiter voranschreitenden Digitali-
sierung wurde die Abwicklung von Bankgeschäften immer unpersönlicher. Aber dieser
Trend ist genau das Gegenteil von dem, was Menschen wirklich wollen, wenn man sich
ihre Grundbedürfnisse ansieht. Menschen wollen nicht wie eine Nummer behandelt wer-
den, sie wollen von ihrer Bank verstanden werden. Kunden sehnen sich nach persönli-
chem Kontakt und dem Gefühl, dass die Bank nah bei ihnen ist. Umpqua Bank hat sich
erfolgreich auf diese Bedürfnisse eingestellt und eine einzigartige Position eingenom-
men, indem sie als Bank dem Ansatz des Einzelhandels folgt. Wo die meisten Banken
6  Gemeinschaftliches Banking 177

ihre Filialen schließen oder unbesetzt lassen, setzt Umpqua Bank auf einen persönlichen
Ansatz. Es besteht eine hohe Geschäftsdichte und die Mitarbeiter sind den Kunden gern
zu Diensten. Die Kundenzielgruppe von Umpqua Bank besteht aus der lokalen Gemein-
schaft der Bank; Menschen und Unternehmen, die großen Wert auf Gemeinschaft legen
und miteinander verbunden sein wollen. Die Umpqua-Geschäfte übernehmen neben
ihrer Funktion als Bank auch eine weitere wichtige Rolle in der Gesellschaft, denn sie
dienen als Ort, an dem sich Menschen treffen können. So werden beispielsweise Nach-
barschaftstreffen und Filmabende während der Öffnungszeiten und nach Geschäfts-
schluss abgehalten.
Andere Banken, die Wettbewerber von Umpqua Bank, sehen den Erfolg von Davis’
neuer Formel und sind vom plötzlichen Aufschwung von Umpqua überrascht. Die kleine
Lokalbank mit ihrer einzigartigen Unternehmenskultur und unkonventionellen Strategie
ist auf einmal ein ernst zu nehmender Konkurrent. Die Bereitstellung von Bankproduk-
ten in Geschäften, in denen Service im Mittelpunkt steht, entpuppt sich als Erfolg, und
so versuchen andere Banken, dieses einzigartige Konzept zu kopieren. Eine Sache haben
sie jedoch nicht verstanden: Die Veränderung der Einrichtung allein reicht nicht aus. Die
Geschäfte sind eine Illustration des besonderen Leitbilds und der Unternehmenskultur
von Umpqua. Die Stärke von Umpqua Bank liegt in der Kanalisierung seiner Produkte,
bei der man als Kunde die einzigartige Umpqua-Kultur erleben kann.

Wertangebot für Kunden: Eine einzigartige Erfahrung (vgl. Abb. 6.10)


Ausgehend vom Ansatz, dass Umpqua Bank in der Einzelhandelsbranche tätig ist, steht
das Kundenerlebnis an erster Stelle. Umpqua Bank verspricht seinen Kunden, dass
ein Besuch einer seiner Filialen „das schönste Erlebnis des ganzen Tages“ sein wird.
Dadurch wird die Abwicklung von Bankgeschäften in einem Umpqua-Geschäft zu einer
einzigartigen Erfahrung und zwar für Jung und Alt. Für Familien mit kleinen Kindern
gibt es jeden Dienstagnachmittag eine „Fun Bank Tour“, bei welcher Kinder etwas über
die Bank lernen und für die Bedeutung des Sparens sensibilisiert werden. Während der
Tour erfahren die Kinder Wissenswertes rund um das Thema Geld und sehen außer-
dem, wie das Geld von den Maschinen gezählt wird und wie ein Banktresor funktioniert
(s. die Website der Umpqua Bank). Kunden fühlen sich in einer Umpqua-Bank wie zu
Hause. Während sie eine herrliche Tasse Kaffee genießen, können sie die Zeitung lesen
und ihre Bankgeschäfte tätigen. Sie fühlen sich verstanden, denn sie werden von den
freundlichen Umpqua-Mitarbeitern bedient, die serviceorientiert und zugleich kompe-
tent sind. Darüber hinaus müssen die Mitarbeiter keine Backoffice-Aufgaben erledigen,
sodass sie sich voll und ganz auf den Kunden und sein Anliegen konzentrieren können.

Kanäle: In einem Umpqua-Geschäft werden alle Sinne gereizt (vgl. Abb. 6.11)


Die Bedürfnisse und Philosophie von Umpqua wurden eins zu eins auf das soziale Design
des Geschäfts, die Kundenreise durch das Geschäft und die dabei gesammelten Erfah-
rungen übertragen. Wenn man in ein Umpqua-Geschäft geht, werden alle Sinne gereizt.
178 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Große Auswahl an qualitativ hochwertigen • Umpqua Bank hat eine einzigartige
Bankprodukten Position, weil die Bank dem Ansatz des

+ Einzelhandels folgt. Die Bank ist eine


freundliche und zugängliche Alternative
Prozess Wie bekomme ich es? für Menschen, die unzufrieden mit dem
• Mit sehr gutem, freundlichem und unpersönlichen Service der andere
persönlichem Service in einer vertrauten Banken sind
Umgebung

+ Wettbewerber
• Konkurrierende Banken versuchen den
Gefühl Was fühle ich dabei? einzigartigen Service und die
• Ich fühle mich verstanden und sicher Geschäftseinrichtung von Umpqua zu
• Banking ist eine angenehme Erfahrung kopieren

Zielgruppe
Preis Was kostet es?
• Die Kundenzielgruppe besteht aus der
• Vergleichbar mit anderen Banken
lokalen Gemeinschaft: Privatpersonen,
+ kleine und mittelständische Betriebe und
Großunternehmen. Das sind häufig
Aufwand Was muss ich dafür tun? Menschen, die Wert auf ihre
• Wenig, denn in jedem Viertel gibt es ein Gemeinschaft legen und miteinander
Umpqua-Geschäft; außerdem besteht die verbunden sein möchten
Möglichkeit zum Onlinebanking

+ Kundeneinblicke
• Menschen haben ein Bedürfnis an
Risiko Wie unsicher ist es?
• Nicht sehr unsicher, denn die Bank Intimität und Gemeinschaftlichkeit
verzeichnet trotz der Krise ein Wachstum; • Kunden möchten sich verstanden und
außerdem ist die Investmentbank von sicher fühlen in der unsicheren und
Umpqua Bank getrennt unnahbaren Bankenwelt

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 6.10  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Umpqua Bank


6  Gemeinschaftliches Banking 179

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Mitarbeiter spielen die wichtigste • Umpqua Bank glaubt nicht an den traditionellen
Rolle im Produktionsverfahren. Die Marketingansatz, sondern nutzt einen neuen,
Mitarbeiter sind sehr kompetent eigensinnigen Marketingansatz. Zum Beispiel
und haben als Ziel die Handshake-Marketing
Bereitstellung von gutem Service • Der Einsatz der Umpqua Bank für die
• Der Einrichtung der Geschäfte wird Gemeinschaft, z. B. ehrenamtliche Tätigkeiten
viel Aufmerksamkeit beigemessen und die Organisation von Treffen und
• Umpqua Bank nutzt die neuesten Versammlungen in Umpqua-Filialen sind
technologischen Entwicklungen kostenlose Werbung
und innovative Produkte in den • Die Abteilung Kreative Strategie sorgt dafür,
Geschäften und online dass Umpqua Bank immer und überall
erkennbar ist
Lieferanten & Partner • Online aktiv präsent, z. B. in sozialen Medien
• Kooperationen mit lokalen • Umpqua-Filialen sind wie Geschäfte
Vereinen und Clubs eingerichtet. Weil Kunden hier lange sitzen
• Zusammenarbeit mit anderen können, kaufen sie auch eher/mehr
Fachleuten und Unternehmen, • Das innovative Geschäft gibt eine menschliche
z. B. mit dem Designer Ziba, US Note an einen Sektor zurück, der
Postal Service (unterhält Schalter entpersonifiziert und automatisiert wurde
in den Umpqua-Geschäften), Ritz-
Carlton (für Schulungen) und Kundenkontakt & Zusatzdienste
Microsoft (auf dem Gebiet der • Hohe Geschäftsdichte: Es gibt immer ein
Innovation) Umpqua-Geschäft in der Nähe
• Kunden können die 8 wählen, um direkt mit
Ray Davis telefonischen Kontakt aufzunehmen
• Bereitstellung von qualitativ hochwertigen
Dienstleistungen mit Einzelhandelsservice

Abb. 6.11  Betrieb und Kanäle von Umpqua Bank


180 J. Kemperman et al.

Man sieht die besondere Einrichtung mit allerlei technischen Spielereien und Bildschir-
men. Die Ausstattung erinnert eher an eine Kombination aus Internetcafé und Kaffeege-
schäft als an eine Bank. Es liegen Zeitungen und Zeitschriften aus, die nur darauf warten,
von den Kunden gelesen zu werden. Des Weiteren gibt es einen Schalter von US Postal
Service, an dem man Postgeschäfte abwickeln kann. Auch Umpqua-Handelsartikel wie
Tassen und T-Shirts mit dem Umpqua-Logo können erworben werden. Über ein Telefon
im Geschäft können Kunden direkt mit Ray Davis Kontakt aufnehmen. Das Geschäft
duftet nach Kaffee, der von den Mitarbeitern der Umpqua Bank frisch aufgesetzt wurde.
Während man eine Tasse Kaffee genießt (schmecken), kann man seine Bankgeschäfte
tätigen. Und das zu Musik von lokalen Bands im Hintergrund (hören), die im Rahmen des
Projekts „Discover Local Music“ die Möglichkeit bekommen, ihre Musik in den Umqua-
Geschäften vorzustellen (vgl. Taylor 2011). Die kühle, erhabene Bank ist menschlich und
persönlich geworden. Und nicht zu vergessen: Man kann den ausgezeichneten Service der
Umpqua-Mitarbeiter erleben. Die Universal Associates, wie die Mitarbeiter auch genannt
werden, sprechen Kunden nicht sofort an, sondern lassen sie in Ruhe einen Plausch mit
dem Nachbarn oder Geschäftspartner abhalten. Der zugrunde liegende Gedanke dahinter
ist: Je mehr die Kunden sich wie zu Hause fühlen, desto länger bleiben sie im Geschäft.
Das wiederum verschafft Umpqua mehr Möglichkeiten, seine Produkte zu verkaufen.
Zu den sich stark differenzierenden Eigenschaften der Umpqua Bank gehört auch ein
anderer Marketingansatz. Bei Umpqua glaubt man nicht an den traditionellen Marke-
tingansatz. Vielmehr muss man etwas machen, was zu einem passt. Jeder Kommunika-
tionskanal muss die gleiche Kultur und das gleiche Gefühl vermitteln. Kunden erleben
die Einzigartigkeit von Umpqua, wenn sie in einer der Filiale sind. Aber wie trägt man
das nach außen? Das macht Umpqua u. a. durch Handshake-Marketing. Ein Beispiel:
Wenn man bei Starbucks in der Reihe steht, kann es vorkommen, dass man beim Bestel-
len des Kaffees Folgendes zu hören bekommt: „Diesen Kaffee bekommen Sie heute
von Umpqua Bank.“ Überrascht blickt man um sich und fragt sich, wer der großzü-
gige Geber ist. Des Rätsels Lösung: Die Person, die vor einem in der Reihe stand, war
ein Mitarbeiter von der Umpqua Bank, der in einem zufälligen Akt der Freundlichkeit
jemandem den Tag mit einer kostenlosen Tasse Kaffee im Namen der Umpqua Bank ver-
schönern wollte. Darüber hinaus erlangt Umpqua Bank einen höheren Bekanntheitsgrad
und profitiert von kostenloser Werbung für sich selbst, indem es gemeinsame Treffen und
Versammlungen in seinen Filialen organisiert, ehrenamtliche Aufgaben übernimmt und
eine Stiftung gründet. Bei der Eröffnung einer neuen Filiale fährt ein Eiswagen durch
das Viertel. Darüber hinaus nutzt Umpqua auch soziale Medien. Als beispielsweise ein
Kunde eine Mitteilung über eine negative Erfahrung mit der Umpqua Bank twitterte,
reagierte ein Mitarbeiter des Kontaktcenters darauf mit der Frage, wie das Problem
gelöst werden könnte. Fünf Minuten später twitterte der Kunde: „Umpqua ist die beste
Bank, ich liebe sie“ (vgl. Smith und Milligan 2011).
6  Gemeinschaftliches Banking 181

Betrieb: Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellen und gemeinsam kontinuierlich


erneuern und verbessern
Die Einrichtung der Bankfilialen als Einzelhandelsgeschäfte ist ein revolutionärer
Schachzug von Davis, mit dem er die Bank aus einer völlig neuen Perspektive betrach-
tet. Doch reicht die Einrichtung allein nicht aus, um eine Revolution im Bankensektor
zu entfachen. Schließlich kann jede Bank seine Filiale in schöne Geschäfte umwandeln;
vielmehr geht es darum, was in den Geschäften passiert. Deshalb liegt der Fokus auf den
Mitarbeitern von Umpqua. Das spiegelt sich auch im Anwerbungsverfahren wider: Neue
Mitarbeiter werden nach ihren Fähigkeiten (häufig kommen sie aus dem Einzelhandel
oder Gastronomiegewerbe) und nach ihrer Übereinstimmung (Fit) mit der Umpqua-
Kultur beurteilt. Anschließen erhalten sie eine umfassende Schulung, bei der sie sowohl
Kenntnisse über Bankprodukte erwerben als auch für die Erbringung eines guten Servi-
ces sensibilisiert werden. Auf diese Weise kann jeder Mitarbeiter dem Kunden ein biss-
chen weiterhelfen. Die Bedeutung der Umpqua-Kultur lässt sich auch an der Übernahme
anderer Banken erkennen; diese Banken werden nach ihrem strategischen und kulturel-
len Fit ausgewählt und anschließend durch den Einsatz von Umpqua-Mitarbeitern in den
übernommenen Banken „geumpquatisiert“.
Technologie zur Förderung der Interaktion mit dem Kunden spielt eine immer wich-
tigere Rolle. Dem Internetcafé und den großen interaktiven Touchscreens werden in
Zukunft noch weitere neue technologische Spielereien folgen. So hat Umpqua ein Inno-
vationslabor eingerichtet, in dem im Rahmen des Programms „Branch of the Future“
neue Technologien zur Interaktion mit Kunden entwickelt und getestet werden. Und das
macht Umpqua nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit Technologieunternehmen
wie Cisco und Microsoft (vgl. Crosman 2010).

6.3.3 Das Ergebnis: Wertschöpfung für alle Stakeholder

Das Leitbild der Umpqua Bank besteht in der Wertschöpfung für alle Beteiligten
und das spiegelt sich im einzigartigen Ansatz wider, mit dem das Unternehmen seine
Bankgeschäfte abwickelt. Mitarbeitern wird viel Aufmerksamkeit entgegengebracht –
ausgehend von der Überzeugung, dass zufriedene Mitarbeiter diese Aufmerksamkeit
durch einen ausgezeichneten Service an die Kunden weitergeben. Kunden ihrerseits
tätigen ihre Bankgeschäfte gern bei der Umpqua Bank, sodass die Bank kontinuier-
lich wachsen kann. Empowerment spielt dabei eine wichtige Rolle. Das bedeutet,
dass Mitarbeiter der Umpqua Bank mit der Freiheit und Verantwortung ausgestattet
werden, Entscheidungen selbst zu treffen, wenn sie ihren Kunden zu Diensten sein
wollen. Sie bekommen die Möglichkeit, ihre Fehler selbst zu korrigieren, ohne die
Zustimmung eines Vorgesetzten einzuholen, einen Blumenstrauß an einen Kunden
zu schicken oder einen Rabatt auf bestimmte Services zu geben. Die Freiheit, die der
Mitarbeiter erhält, sorgt für ein Gefühl von Vertrauen innerhalb des Unternehmens
182 J. Kemperman et al.

und führt zu einer höheren Mitarbeiterzufriedenheit und letztlich auch zu einer höhe-
ren Kundenzufriedenheit.
Im Stammhaus in Oregon ist man kontinuierlich damit beschäftigt, die starke
Umpqua-Kultur aufrechtzuerhalten und zu übermitteln. Die Namen der Abteilungen
beschreiben, was die Mitarbeiter tatsächlich tun, wodurch sie eine inspirierende Funk-
tion haben. Die Abteilung Personalangelegenheiten wird beispielsweise Cultural Enhan-
cement genannt, und die Abteilung, die für die Marke, das Kundenerlebnis und für die
externe Kommunikation verantwortlich ist, heißt Creative Strategies. Die Manager erfül-
len eine Vorbildfunktion, wobei Ray Davis, der bereits 20 Jahre Generaldirektor ist, an
der Spitze steht. Davis besucht regelmäßig lokale Filialen, um den Mitarbeitern wieder
eine Dosis Inspiration und Energie zu geben. Im Stammhaus und in den Geschäften
gibt es täglich motivierende Veranstaltungen oder auch nur kleinere Initiativen und Ges-
ten, bei denen Mitarbeiter einander motivieren und inspirieren können, indem sie eine
Ansprache halten oder Übungen machen, die zum Nachdenken anregen, Gedichte aufsa-
gen oder Süßigkeiten verteilen. Erfolge werden gemeinsam gefeiert.
Die Kundenzufriedenheit wird in dem von Umpqua selbst entwickelten Return
on Quality (ROQ) gemessen. Dieser Index misst die Qualität des Services, der in den
Geschäften erbracht wird. Jedes Geschäft wird jeden Monat auf unterschiedliche Weise
bewertet, z. B. im Rahmen von Produktivitätsstudien, Kundenumfragen, Vertriebsef-
fizienzprüfungen und Telefonanrufen, bei denen überprüft wird, ob die Mitarbeiter
der Umpqua Bank ihre Kunden freundlich bedienen. Jeden Monat werden sowohl die
Geschäfte, die am besten abschneiden, als auch das Geschäft, das sich am meisten ver-
bessert hat, mit einem Wanderpokal ausgezeichnet. Als Höhepunkt findet einmal jähr-
lich eine wahrhaftige ROQ-Gala statt. Bei dieser Celebration of Excellence kämpfen die
Umpqua-Geschäfte in mehreren Kategorien um einen Oscar für ihren Service. Das ROQ-
Programm basiert auf der felsenfesten Überzeugung von Davis, dass „wenn wir uns auf
den Service konzentrieren, der Umsatz folgen wird“ (vgl. Freeze 2006). Der ROQ ist
sowohl eine Qualitätsbewertung als auch eine gute Möglichkeit, die Mitarbeiter zu moti-
vieren und für ihren Einsatz zu belohnen.
Abgesehen von der starken Kultur bietet die Umpqua Bank seinen Mitarbeitern noch
weitere Vorteile: Reisen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln werden vom Unternehmen
bezahlt, es gibt eine kostenlose medizinische Versorgung und Mitarbeiter können sogar
ein Darlehen abschließen, um sich formelle Kleidung für die Arbeit bei der Umpqua
Bank zu kaufen (vgl. Smith und Milligan 2011). Das alles führt dazu, dass Umpqua-Mit-
arbeiter stolz darauf sind, bei der Umpqua Bank zu arbeiten. Das ist bei einigen anderen
Banken ganz anders, wo in den vergangenen Jahren Arbeitsplätze rationalisiert wurden
und die Mitarbeiter als ein Kostenpunkt mit abnehmendem Nutzen in einer digitalisierten
Umgebung verwaltet werden. Die Zufriedenheit der Mitarbeiter ergibt sich unter ande-
rem aus der Liste der 100 Besten Unternehmen für Arbeitnehmer des Fortune Magazine,
in der Umpqua Bank im Jahr 2013 zum achten Mal nacheinander aufgenommen wurde
(vgl. Umpqua Bank 2013).
6  Gemeinschaftliches Banking 183

Durch das Wertangebot, das für Mitarbeiter und Kunden geschaffen wird, schafft die
Umpqua Bank auch ein Wertangebot für ihre Aktionäre (vgl. Abb. 6.12). Die Umpqua
Bank zeigt, dass Gewinn und Streben nach einem höheren Ziel sich nicht zwangsläufig
ausschließen und einander sogar stärken können. Trotz der Finanzkrise und ihrer Folgen
sind die Nettoeinnahmen der Umpqua Bank im Jahr 2012 um 37 % höher als 2011 (vgl.
Umpqua Bank 2012). Dieses Wachstum verdankt das Geldhaus größtenteils den Fusio-
nen und Übernahmen, die zu einem enormen Wachstum an Aktiva geführt haben.33 Aber
das organische Wachstum ist nicht weniger beeindruckend. Beide Arten von Wachs-
tum sind die Folge der innovativen Führung von Davis. Der Erfolg des anorganischen
Wachstums ist vor allem der richtigen Auswahl der zu übernehmenden Banken und der
anschließenden Integration dieser Banken sowie der Übertragung der starken Kultur
von Umpqua zu verdanken. Die Kombination von Innovation und Service hat zu guten
Ergebnissen und stetigem organischen Wachstum geführt. Offensichtlich ist die Umpqua
Bank dank ihrer unvergleichlichen und authentischen Strategie unbeschadet aus der
Krise hervorgegangen – mit der Folge, dass Aktionäre eine außerordentliche Belohung
für ihre Eigentümerschaft bekommen und auch weiterhin in die Bank investieren.
Die seit jeher starke Verbindung mit der örtlichen Gemeinschaft sorgt dafür, dass
bei der Umpqua Bank auch dem gesellschaftlichen Wert, den die Bank liefert, viel
Beachtung geschenkt wird. Die Geschäfte fungieren als Treffpunkt für die örtliche
Gemeinschaft. Jeder Mitarbeiter wird ermutigt, sich pro Jahr 40 h ehrenamtlich über
das Connect Volunteer Network zu engagieren. Die ehrenamtlichen Tätigkeiten dür-
fen während der Arbeitszeiten für Projekte im Zusammenhang mit Erziehung, Kindern
und Jugendlichen verrichtet werden. 2013 haben sich die 2400 Mitarbeiter 43.345 h für
über 1500 verschiedene Organisationen in der Region eingesetzt. Das entspricht insge-
samt 250.000 h an ehrenamtlicher Tätigkeit bis einschließlich 2013 (vgl. Umpqua Bank
2013).34

Die brillanten Lektionen von Umpqua Bank

• Dafür sorgen, dass man ganz genau weiß, worin das Unternehmen wirklich gut ist
bzw. worin seine Einzigartigkeit besteht: „Finde heraus, in welcher Branche du tat-
sächlich tätig bist.“ Davis sah sich um und stellte fest, dass seine Wettbewerber im
Grunde alle das Gleiche taten, und das war seiner Ansicht nach langweilig und abge-
droschen. Er sah darin eine Chance und wusste schlau darauf zu reagieren. Indem er
herausfand, in welcher Branche die Umpqua Bank tatsächlich tätig war, konnte er das
Unternehmenskonzept völlig neu ausrichten und das Fundament für den Erfolg legen.

33https://www.law.unc.edu/components/handlers/document.ashx?category=24&subcategory=52&

cid=121.
34Umpqua Bank (2013), Website Umpqua Bank.
184 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden


• Kunden sind zufrieden mit den Dienstleistungen und der Serviceorientierung von Umpqua
Bank. Das führt zu einem positiven Image von Umpqua Bank und mehr Kunden, die dort ihre
Bankgeschäfte tätigen möchten
• Kunden werden im Rahmen von Qualitätsbewertungen nach ihrer Meinung gefragt (Return on
Quality)

Kunde

Kundenwert

Unternehmen
Wert für und
durch Anteilseigner
• Umpqua Bank
Unternehmen Unternehmen
erzielt gute
Ergebnisse und hat
Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg einen Wettbewerbs-
Wert für und vorteil dank
durch Mitarbeiter Mitarbeiter Eigentümer Innovation und
• In 2013 erreichte Service
Umpqua Bank zum • Unternehmenswert
achten Mal einen Platz (2013) 11,6
auf der Liste der ,,100 Milliarden USD
best companies to work (10,9 Milliarden
for‘‘ von Fortune EUR)
Magazine • Nettogewinn: 97,6 Millionen USD
• Empowerment durch Freiheit und (91,7 Millionen EUR)
Verantwortung beim Kontakt mit Kunden • Von 2011 bis 2012 Anstieg der Einnahmen
• Hochqualitatives Management:
um 37 % auf 74 Millionen USD
Vorbildfunktion des Managements für die
Mitarbeiter, z. B. gemeinsames Feiern von (69,6 Millionen EUR)
Erfolgen und Förderung motivierender • Nach der Fusion mit Sterling Bank ist
Momente Umpqua Bank mit 394 Filialen in
• Professionelle Entwicklung durch 5 Bundesstaaten die größte Bank an der
Schulungsprogramme und die eigene Westküste
World’s Greatest Bank University • 22 Milliarden USD (20,7 Milliarden EUR) an
• Mitarbeiter sind loyal, die Fluktuation ist
Aktiva, 15 Milliarden USD (17,9 Milliarden
niedrig
• Entwicklung der Mitarbeiterschaft 2013: EUR) an Darlehen, 16 Milliarden USD
2.400 Mitarbeiter, 2014: 4.542 Mitarbeiter (15 Milliarden EUR) an Einlagen

Wert für und durch die Gesellschaft


• Auf die soziale Verantwortung des Unternehmens ausgerichtetes, starkes Leitbild, seit
jeher mit der örtlichen Gemeinschaft verbunden
• Wachstum und unternehmerische Gesellschaftsverantwortung gehören zusammen
• 43.345 Stunden ehrenamtliche Tätigkeit durch Umpqua-Mitarbeiter über Connect
Volunteer Network im Jahr 2013
• Treffer: 422.000, Bewertung Top 25: 80 % positiv (Google)
• Flagshipstore San Francisco: Store of the Year (2013)
• Zum dritten Mal nacheinander „Angesehenster Geschäftsführer im Bereich
Finanzdienstleistungen“ im Jahr 2013

Abb. 6.12  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Umpqua Bank


6  Gemeinschaftliches Banking 185

• Von anderen Branchen lernen: Die Umpqua Bank beschloss, über den eigenen Tel-
lerrand auf andere Wirtschaftszweige zu schauen, die auf den ersten Blick nichts mit
dem Bankwesen zu tun haben. Durch das Schulungsprogramm mit The Ritz-Carlton
konnte die Umpqua Bank seine Serviceorientierung entwickeln, die im Laufe der Zeit
eine der einzigartigen und starken Qualitäten der Bank wurde.
• Kontinuierlich nach Fortschritt streben: Davis sagt: „Man kann entweder schlechter
oder besser werden, dazwischen gibt es nichts.“ In Bezug auf Wachstum sollte man
sich nicht nur auf die Unternehmensgröße oder Zahlen versteifen. „Wachstum“ kann
verschiedene Dinge bedeuten, und im Fall der Umpqua Bank bedeutet es besser zu
werden in dem, was man tut, und seine Bedeutung für Mitarbeiter, Kunden und die
Gesellschaft zu verstärken. Die Umpqua Bank wächst auf zweifache Art: Zum einen
durch Innovation, d. h. eine organische Art des Wachstums, und durch Fusion und
Übernahmen, d. h. eine anorganische Art des Wachstums.
• Wachsen durch kontinuierliches Innovieren: „Finde die Revolution, bevor sie dich fin-
det.“ Die Umpqua Bank schwimmt nicht mit dem Strom, sondern setzt auf kontinu-
ierliche Innovation. Die Stärke des Wachstums der Umpqua Bank besteht in dem Mut
des Unternehmens, auf andere Branchen zu schauen und die guten Eigenschaften zu
übernehmen. Innovieren heißt folglich, seinen Horizont zu erweitern und die Dinge
aus einem anderen ‚Blickwinkel‘ zu betrachten, z. B. ausgehend von einem anderen
Wirtschaftszweig.
• Man selbst bleiben, ehrlich zu sich selbst sein und auch in der Erneuerung seinen
Ursprüngen treu bleiben: Die Umpqua Bank strebt nach Fortschritt und Innovation.
Gleichzeitig bleibt das Unternehmen mit der lokalen Gemeinschaft verbunden. Darü-
ber hinaus hat die Umpqua Bank ihren Namen ganz bewusst beibehalten („Umpqua“
bedeutet „wildes Wasser“ in Athapaskisch, der Sprache der Indianer, die am Umpqua-
Fluss wohnten). Die Bank wächst, bleibt jedoch überschaubar, sodass die Kultur und
die lokale Entscheidungsbefugnis beibehalten werden können. Viele konkurrierende
Banken haben versucht, das Konzept der Umpqua Bank zu kopieren. Aber der einzig-
artige Ansatz der Umpqua Bank ist keine ‚Masche‘, die man einfach so übernehmen
kann. Der Ansatz ist in der Kultur und Strategie zum Umgang mit Mitarbeitern, Kun-
den und der Gesellschaft verankert. Das Herzstück befindet sich damit nicht in einem
Marketingkonzept des Stammhauses oder einer Werbeagentur, sondern im Geschäft.
• Eine konsistente, einzigartige und erkennbare Marke sein: Jeder Besucher weiß
sofort, wenn er oder sie ein Umpqua-Geschäft betritt: „Das ist eine Umpqua-Filiale.“
Nicht nur die Geschäfte, sondern auch alle Kommunikationskanäle (die Mitarbeiter,
die Callcenter, das Internet, das Marketing) tragen ein und dieselbe Umpqua-Kultur
nach außen. Es empfiehlt sich, das zu tun, was zu einem passt, so wie beispielsweise
das Handshake-Marketing der Umpqua Bank eine Verbindung mit der Gemeinschaft
knüpft, die wie ein Marketinginstrument funktioniert.
• Seinen Mitarbeitern die Verantwortung und Freiheit geben, Entscheidungen selbst
zu treffen (Empowerment): Wenn Menschen mit Verantwortung ausgestattet werden,
186 J. Kemperman et al.

fühlen sie sich ermutigt, die Initiative zu ergreifen und für den Kunden einen Schritt
weiter zu gehen. Empowerment sorgt dafür, dass die Mitarbeiter diesen zusätzlichen
Schritt gehen.

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Gemeinsame Finanzierung
7
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

Wie in Kap. 6 beschrieben, erfordert gemeinschaftliches Banking Solidität und Integrität


in der Zinspolitik, doch bedeutet das eben auch, dass nahezu keine großen Risiken ein-
gegangen werden. Der Kundenfokus, ausgehend von der Verantwortung als Banker, liegt
daher eher auf der Oberklasse und der Mittelschicht. Diese Bevölkerungsschichten haben
mehr Geld zum Sparen, mehr Sicherheiten, die als Pfand dienen können, und sind darüber
hinaus vermeintlich seriösere Player in Handel und Produktion. Die Gruppe, auf die sich
der Fokus eher nicht richtet, sind Menschen ohne festes Einkommen, ohne Sicherheiten
und ohne Ersparnisse. Für sie ist es äußerst schwierig und mitunter unmöglich, Geld zu
leihen. Sie kommen kaum an Liquidität, um sich aus der Armut herausarbeiten zu kön-
nen. Wenn alles völlig danebengeht, weil etwa eine Ernte ausfällt, ein Tier stirbt oder
jemand krank wird, können sich solche Marktteilnehmer oft nur bei einem Wucherer Geld
­leihen, der angesichts des hohen Risikos und der nahezu nicht vorhandenen Konkurrenz
sehr hohe Zinsen und die letzten Besitztümer als Sicherheit fordert. Wenn in einer solchen
Situation Geld geliehen wird, entsteht rasch eine Negativspirale, in der die Menschen,
die bereits wenig haben, mit nichts oder sogar weniger als nichts enden bzw. jahrelang

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 189
J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_7
190 J. Kemperman et al.

eine hohe Zins- und Tilgungslast tragen. Kurzum, es besteht ein Finanzierungsmangel
für ärmere Bevölkerungsschichten in Gesellschaften, die kein ausreichendes Netz von
Sozialleistungen haben, das sie auffängt. Das ist übrigens keine neue Entwicklung. Die
Probleme, die jetzt die ärmsten Bevölkerungsgruppen in Südostasien, Afrika und Südame-
rika betreffen, stimmen weitestgehend überein mit den Problemen, die der europäischen
Bevölkerung von Beginn des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu schaffen
machten. Das gilt auch für die kreativen und sozialen neuen Businessmodelle, die entwi-
ckelt werden, um solche Probleme zu lösen.
Die Rede ist von einem Mangel, der zu innovativen, bahnbrechenden, neuen Lösun-
gen führt. Mit solchen Lösungen werden alle im betreffenden Land vorhandenen
Ressourcen für soziale und technische Innovation genutzt. Das zeigt sich sowohl im Auf-
kommen des genossenschaftlichen Bankings im Europa des letzten Jahrhunderts als auch
in der Mikrofinanzierung in Entwicklungsländern in der heutigen Zeit. Es entstehen bril-
lante Businessmodelle, die sich selbst finanzierende Lösungen für scheinbar unlösbare
Probleme bieten. Es kommen dabei Modelle zum Vorschein, die Solidarität und soziale
Gruppenmechanismen vereinen und die altmodisch und modern zugleich sind. Das ist
uns Grund genug, das einmal genauer zu betrachten.

Vergangenheit: Businessmodelle wie Raiffeisen


Im 19. und 20. Jahrhundert entstehen an verschiedenen Orten in Europa Genossenschaf-
ten. Beispielsweise bilden sich Produktions- und Vertriebsgenossenschaften in der Land-
wirtschaft, darunter die Vorgänger von Campina Melkunie sowie eine Reihe von Obst- und
Gemüseauktionen in den Niederlanden. Es handelt sich hierbei noch um Produzenten, die
per Handschlag Geschäfte abschließen, um mit mehr Verkaufsmacht ihre Produkte zu ver-
kaufen und an den Mann zu bringen. Zudem entstehen Einkaufsgenossenschaften wie etwa
die Supermärkte von Coop, von denen gemeinsam ein Produkt bezahlbar eingekauft wird.
Bei den Initiativen zur gegenseitigen Versicherung und Finanzierung sind beide Formen
sichtbar. Mitunter geht es um Angebotskooperationen wie dem Algemeen Ziekenfonds
Amsterdam (heute Zilveren Kruis), der von Ärzten gegründet wird (Klein 2012, S. 10,
14). Meist handelt es sich um Einkaufskooperationen, nämlich dann, wenn ein Mangel an
bezahlbarem Angebot besteht. Beispiele dafür sind in den Niederlanden die Bauern, die
sich untereinander gegen Feuer versichern (ältester Vorläufer von Achmea als Ganzes),
und die Bauern, die ihrer gegenseitigen Finanzierung mit der Rabobank Gestalt geben. Das
bekannteste internationale Vorbild für genossenschaftliches Banking waren die Kreditge-
nossenschaften, die von Raiffeisen initiiert wurden. In unserem vorangegangenen Buch
Brillante Businessmodelle wird die Fallstudie Raiffeisen ausführlich beschrieben.
Raiffeisen war zugleich Visionär, der die Armut bekämpfen und gemeinschaftliche
Prosperität ermöglichen wollte, und Unternehmer, der dieses hehre Ziel unerschrocken
und Schritt für Schritt in seinem unmittelbaren Wirkungskreis in die Realität umge-
setzt hat. Hierbei war es sein Ansatz, den Armen zu helfen, sich selbst zu helfen und sie
damit aus den Fängen der sonst in dieser Zeit sehr aktiven Wucherer zu ziehen. Mit dem
gewagten Ziel, dass Bauern keine wehrlosen Opfer mehr sein dürfen, gründete Raiffeisen
zunächst Brot- und Kuhvereine, an die Geldgeber Geld verliehen in dem Wissen, dass
7  Gemeinsame Finanzierung 191

dieses einem guten, bestimmten und lokalen Zweck, wie beispielsweise dem Erwerb
einer Kuh für einen ansässigen Bauern, zugeführt würde. Raiffeisen appellierte hierbei
sowohl bei Geldgebern, als auch bei Geldnehmern an die christlichen Werte der Nächs-
tenliebe, Gerechtigkeit und Vertrauen, aber auch an Sparsamkeit und die Übernahme
von Verantwortung. Aus diesen Organisationen entstand 1864 die erste echte Kreditge-
nossenschaft. Die Werte bleiben auch über die Zeit der raschen Ausbreitung der Kre-
ditgenossenschaften die gleichen. Wohlhabende verleihen Geld zu geringen Zinsen an
Arme, die sich damit eine Zukunft aufbauen können. Die Mitglieder der Genossenschaft
haben auch heute noch einen hohen moralischen Anspruch. Kreditnehmer müssen inte-
ger sein, das Geld muss sinnvoll investiert werden, das Vermögen der Genossenschaft ist
Gemeinschaftsgut und alle Mitglieder haften gesamtschuldnerisch. 2018 wäre Raiffeisen
200 Jahre alt geworden.

Gegenwart: Businessmodelle wie Bank Rakyat Indonesia


Die Grundlagen für die Mikrofinanzierung von heute wurden in den 1970er Jahren
gelegt. Die Vorreiter sind Grameen Bank (siehe nachfolgenden Exkurs) und das hier
behandelte brillante Businessmodell der Bank Rakyat Indonesia (BRI). BRI hat in den
1970er Jahren vom indonesischen Staat den Auftrag erhalten, der ländlichen Bevölke-
rung breiten Zugang zu Finanzdienstleistungen zu gewähren. Auf diese Weise sollte die
Bank grundsätzlich herausfinden, wie dieser Zugang möglichst effizient realisiert wer-
den konnte und wie Menschen in entlegenen Orten des Landes, die kaum Geld besa-
ßen, investieren und zurückzahlen konnten. Dabei wurden Sachverhalte entdeckt wie
beispielsweise der Wert bestehender Netzwerke, denen man sich anschließt oder die
zentrale Rolle der Frau als besserer Unternehmer und verlässlicherer Rückzahler. Diese
gesammelten Ergebnisse sind die Grundlagen der Vorgehensweise, wie Mikrofinan-
zierung funktioniert und wie eine sich selbst ausbreitende Keimzelle zur allmählichen
Ausweitung der Geschäftsaktivitäten geschaffen werden kann. BRI hat damit nicht nur
ein Exempel statuiert, sondern ist selbst zu einem der größten Mikrofinanzierer der Welt
herangewachsen. In dieser Funktion ist sie eine führende allgemeine Bank in Indone-
sien, die mittlerweile börsennotiert ist und die in Zeiten der Finanzkrise bewiesen hat,
dass die Mikrofinanzsparte Rückschläge abfangen kann, weil sie konjunkturell nicht so
stark an die Weltwirtschaft gekoppelt ist. Nach BRI gab es viele andere allgemeine Ban-
ken, die in Entwicklungsländern Fuß fassten und häufig eine eigene Marke mit einem
eigenen Angebot der Mikrofinanzierung bildeten. Beispiele sind ICICI in Indien (Klein
2012, S. 14–22), Credifé (von Pichincha), Banco Sol in Bolivien, Sogebank in Haiti,
ANZ Bank auf den Fidschi-Inseln, Banco Postal (von Banco Bradesco) und Banco Real
in Brasilien sowie Banco Caja Social in Kolumbien (Klein 2012, S. 118). Auffällig ist
bei den erfolgreichen Beispielen, dass stets die Genehmigung der Mutterbank eingeholt
wird und je nach Situation in größerem oder kleinerem Maße auch die der automatischen
Bankingsysteme. Die Innovation selbst findet an den Rändern des Businessmodells der
Mutterbank statt. Das neue Unternehmen ist nicht involviert und wird separat organisiert
und koordiniert. Auf diese Weise will man dem spezifischen Leitbild, den Anforderungen
192 J. Kemperman et al.

an das Businessmodell und der Art der Wertschöpfung angesichts der enormen Menge an
Transaktionen mit marginalen Beträgen in dieser speziellen Zielgruppe gerecht werden.
Dabei wird häufig kreativ Trittbrett gefahren, denn um die ‚letzten schweren Kilometer‘
zurückzulegen, werden Partnerschaften im Rahmen bestehender Distributionsinfrastruk-
turen anderer Sektoren eingegangen, die tief in den ländlichen Regionen verankert sind.
Es geht dann um so etwas wie die Verteilung von SIM-Karten, aber auch um die Postzu-
stellung oder die Versorgung mit Nahrungsmitteln (Klein 2012, S. 25, 30).

Zukunft: Businessmodelle wie SKS


Die Vorreiter in der Mikrofinanzierung sind die allgemeinen Banken wie Bank Rakyat
Indonesia und ICICI Bank in Indien. Aus gesellschaftlichen Gründen werden sie vom
Staat verpflichtet, der armen Bevölkerung Zugang zu Finanzdienstleistungen zu bieten.
Des Weiteren gibt es die Vereinigungen, die aus Idealismus und zum Zweck der Ent-
wicklungshilfe gegründet wurden, zum Beispiel Grameen, aber auch Organisationen wie
Dhan in Indien (Maxeiner 1988, S. 10) und das Programm von Mit Ghamr aus dem vor-
angegangenen Kapitel. Dabei lässt sich für die Zukunft eine interessante Entwicklung
erkennen, bei der Unternehmer in die Mikrofinanzierung einsteigen und daraus tatsäch-
lich ein Businessmodell machen wollen. Für sie gilt der Leitsatz „Wohltätigkeit ist nicht
skalierbar“; sie suchen bewusst nach Methoden, durch die Unternehmensprinzipien ein-
gesetzt werden können, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Dabei geht es um
potenzielle Wachstumsmärkte für die Zukunft, in die es sich sehr lohnt zu investieren.
Das sehen wir im Kap. 8, in dem es um die Investition in Mikroversicherungen mit
­LeapFrog geht. Hier scheint es angesichts der guten Rückzahlungsziffern in der Mikro-
finanzierung und der Kompensierung niedriger Beträge durch die hohen Volumina gute
Möglichkeiten für rentables Wachstum zu geben. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob
es sich um Unternehmen handelt, die eine Möglichkeit gefunden haben, Geld zu ver-
dienen mit den Geschäften, die es ihrer Meinung nach wert sind, oder ob es sich auch
um Auswüchse handelt, die eher modernen und ausgereiften Wucherpraktiken gleichen,
durch welche Geld mit Menschen verdient wird, die am wenigsten haben. Das Ergebnis –
so scheint es alles in allem – ist, dass Menschen im unteren Teil der Wohlstandspyra-
mide viel mehr Zugang zu Investitionsmitteln als zunächst angenommen haben und dass
dabei aktivierende Mechanismen zum Einsatz kommen, während ein Großteil der tra-
ditionellen Entwicklungsarbeit mitunter auch unbeabsichtigte Nebeneffekte hat, die für
die lokale Wirtschaft schädlich sind und sie in ihrer Entwicklung behindern. Das wohl
bekannteste Beispiel einer Mikrofinanzierungsbank, die auf der Basis betriebswirtschaft-
licher Prinzipien enorm schnell gewachsen ist und anschließend einen erfolgreichen
Gang an die Börse realisiert hat, ist SKS. Das ist abgesehen von Bank Rakyat Indone-
sia das größte Mikrofinanzierungsinstitut der Welt mit einer modernen Betriebsführung.
Sie ist aber nicht das einzige Beispiel einer Bank, die Mikrofinanzierung von Beginn an
als Kernaktivität ausgeübt hat und anschließend an die Börse gegangen ist. Weitere Bei-
spiele sind Mi Banco in Peru, Banco Solidario in Equador, Equity Bank in Kenia, und
Compartamos in Mexico (Van der Steen 2012, S. 36).
7  Gemeinsame Finanzierung 193

Grameen: Bank für die Armen und Wegbereiter für Mikrokredite


Jaap van den Berg
Neben dem Einzelbanksystem von Bank Rakyat Indonesia, das in diesem Kapi-
tel beschrieben wird, ist Grameen Bank ein weiteres prominentes Beispiel eines
brillanten Businessmodells auf dem Gebiet der Mikrofinanzierung. Die Grameen
Bank von Muhammad Yunus wurde sogar mit einem Nobelpreis ausgezeichnet.
Für dieses Buch haben wir uns entschieden, das Modell von Bank Rakyat Indo-
nesia zu beleuchten, weil es einerseits nicht so bekannt ist, andererseits aber zehn
Mal mehr Kunden hat als die Grameen Bank. Dabei arbeitet die Bank Rakyat
Indonesia im Gegensatz zur Grameen Bank ohne Subventionen und auf Basis eines
unabhängigen und gewinnbringenden Businessmodells für das Microbanking. Und
dennoch ist eine Fallstudie zum Thema Mikrofinanzierung nicht vollständig, ohne
kurz auf Grameen Bank einzugehen.
Es ist das Jahr 1974. In Bangladesch herrscht eine Hungersnot. 80 % der Bevöl-
kerung lebt in Armut. Yunus träumt von dem Tag, an dem die Armut der Vergan-
genheit angehört. Er initiiert eine Reihe von Projekten und lädt seine Studenten
ein, gemeinsam das Dorf Jobra zu besuchen und herauszufinden, wie das Leben
der armen Einwohner verbessert werden kann. Yunus und seine Studenten kommen
zu dem Schluss, dass Armut nicht die Folge von Faulheit oder eines Mangels an
Intelligenz ist. Sie sehen fundamentale Strukturfehler im sozialökonomischen Sys-
tem, aufgrund derer die Ärmsten der Armen keinen Zugang zu Krediten haben und
keine andere Wahl haben, als Darlehen mit exorbitant hohen Zinsen zu akzeptieren,
um zu überleben. Yunus beschließt, dass sich etwas ändern muss; etwas, auf das die
Ärmsten der Armen vertrauen können. 1976 startet er ein Experiment und bietet
den ärmsten Einwohnern von Jobra Kredite an. Das Experiment erweist sich als
kleiner Erfolg. Und so wird in Zusammenarbeit mit der Zentralbank von Bangla-
desch das Experiment ausgeweitet und 1983 die Grameen Bank offiziell gegründet.
Die Grameen Bank bietet den Ärmsten der Armen – insbesondere Frauen – Finanz-
dienstleistungen, um ihnen bei der Bekämpfung von Armut zu helfen und selber
gewinnbringende und finanziell gesunde Betriebe zu gründen, von denen sie leben
können. Die Bank schafft Möglichkeiten für Arme, als Selbstständige zu wirtschaf-
ten, und versucht auf diese Weise, der Ausbeutung von Darlehensnehmern ein Ende
zu setzen und den Teufelskreis von geringem Einkommen, geringem Vermögen und
geringer Investition zu durchbrechen. Geboren ist eine Philosophie, die traditio-
nelle Überzeugungen im Finanzsektor durchbricht. Das System der Grameen Bank
fußt auf dem Glauben, dass der Zugang zu Krediten ein Menschenrecht ist. Die
Bank verlangt keine Sicherheit oder Analyse des eigenen Vermögens und Einkom-
mens, sondern geht stattdessen vom menschlichem Potenzial aus.
Die Kernwerte Vertrauen und Solidarität stehen bei der Grameen Bank im Mit-
telpunkt, deshalb wird der Kredit an eine Gruppe von fünf bis zehn Personen verge-
ben, die gemeinsam für dessen Abzahlung verantwortlich sind. Die Gruppe bekommt
einen Kredit, der eine Chance ist, den Teufelskreis zu durchbrechen. Darüber hinaus
194 J. Kemperman et al.

profitiert die Gruppe vom Zugang zu Dienstleistungen und Schulungen durch die
Mitarbeiter der Grameen Bank. Der Wert dieses Kredits geht über das reine Darle-
hen hinaus. Menschen fühlen Respekt und Vertrauen, weil sie kreditwürdig sind, und
nehmen die Herausforderung zu beweisen, dass sie es wert sind, gern an. Die Gegen-
leistung, die das System dafür verlangt, ist harte Arbeit, Einigkeit, Mut und Diszip-
lin. Das System funktioniert, denn es hat eine Rückzahlungsquote von nahezu 100 %.
Der Erfolg der Grameen Bank bleibt nicht unbeachtet: 2006 erhält Muhammad
Yunus für seine Arbeit den Friedensnobelpreis. Seine Erkenntnisse und sein Ansatz
waren brillant und bahnbrechend und bilden das Fundament für viele Mikrofinanzie-
rungsinitiativen von heute, darunter auch für die Initiativen, die bereits bei den Busi-
nessmodellen von Bank Rakyat Indonesia und SKS genannt wurden.

7.1 Friedrich Wilhelm Raiffeisen

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Wim Geelhoed, Jeroen Geelhoed, Friedrich
Pautasso und Sinah Schmid verfasst.

Hilfe zur Selbsthilfe


Prolog
In der Regel dauert es sechs bis sieben Jahre bis das Ziel erreicht ist. Durch Missernten
hat der Bauer keinen müden Taler mehr. Und natürlich braucht er Geld, um Essen zu
kaufen und seine Familie zu ernähren. Gott sei Dank tritt ein ‚Geldgeber‘ auf den Plan,
der helfen möchte. Der Bauer muss lediglich ein paar Papiere unterzeichnen und kann
das Geld sofort mitnehmen. Natürlich bedeutet dies, dass eine seiner Kühe in den Besitz
des Geldgebers übergeht und er fortan stattliche Zinsen zu zahlen hat. Auf die erste Kuh
folgt dann rasch die zweite. Der Ertrag des Bauern reicht irgendwann gerade noch zur
Begleichung der Zinsen und später kommen eine dritte und eine vierte Kuh als Teilzah-
lung hinzu. Der Bauer gerät immer fester in die Fänge des ‚hilfsbereiten‘ Wucherers.
Wenn der Bauer dann seine letzten Kühe an den Wucherer übergibt, da er die Zinsen
nicht mehr aufbringen kann, ist sein gesamter Viehbestand an den finanziellen Dienst-
leister übergegangen. Es dauert nicht lange, bis auch das Heu und das Getreide auf den
Feldern Eigentum des Wucherers sind. Nach etwa sieben Jahren dreht der Wucherer den
Hahn zu und der ganze Bauernhof wird öffentlich versteigert. Und wer ist der Käufer?
Natürlich der Wucherer. Der Preis? Kümmerliche 49 Taler. Und zwar für ein Haus, einen
Stall, einen Schuppen und ein wertvolles Weiderecht mit den zugehörigen Ländereien,
die zusammen eigentlich weit über 1000 Taler wert waren. Der geschädigte Bauer fleht
den Geldgeber unter Tränen an, sein Gebot zu erhöhen. Vergeblich – der Wucherer ist
der einzige Bieter und beruft sich vor dem Richter hartnäckig auf bestehende Gesetze.
Innerhalb eines einzigen Jahres war Friedrich Wilhelm Raiffeisen zähneknirschen-
der Zeuge sechzehn solcher Verkäufe (Braumann o. J., S. 63–65). „Dem muss wirk-
lich ein Ende gesetzt werden“, dachte er. Und schließlich hatte er eine Idee.
7  Gemeinsame Finanzierung 195

Einleitung
Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) ist der Erfinder der Genossenschafts-
banken. Kurz nach der Publikation seiner Ideen entstehen überall kleine Kredit-
genossenschaften. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den umliegenden
Ländern schießen sie wie Pilze aus dem Boden. In den Niederlanden führt dies zu
den R ­aiffeisen-Genossenschaftsbanken und den sogenannten „Boerenleenbanken“
(landwirtschaftliche Kreditgenossenschaften), die 1972 unter dem Namen Rabobank
(„Ra“ von Raiffeisen und „Bo“ von Boerenleenbank) fusionieren. Diese historische
Fallstudie vermittelt ein Bild des ursprünglichen Businessmodells der Raiffeisen-
Genossenschaft.

7.1.1 Die Basis: ein Mann mit Ideen

Friedrich Wilhelm Raiffeisen wird 1818 im deutschen Hamm als siebtes Kind geboren. Sein
Vater ist Bürgermeister, wird aber irgendwann aufgrund eines Skandals seines Amtes entho-
ben. Für die Familie brechen dürftige Zeiten an. Glücklicherweise nimmt sich sein Patenon-
kel, ein reformierter Pfarrer, sowohl in materieller als auch immaterieller Hinsicht der armen
Kinder an. Raiffeisen wird von frommen und sozialen Menschen erzogen – zwei Eigen-
schaften, die fortan eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen (Klein 2012, S. 10, 14).
Mit 17 Jahren erhält er einen Platz in der preußischen Artillerie. Er wird Soldat und
absolviert tatsächlich eine militärische Ausbildung! Friedrich Wilhelm betrachtet dies
jedoch als Zwischenstation, da er die Bekleidung eines öffentlichen Amtes anstrebt. Wäh-
rend seines Militärdienstes ist er in Koblenz stationiert, wo er mit verschiedenen Lehrern
und Pfarrern in Kontakt kommt, von denen viele gerne einen Beitrag zur Lösung der Sozi-
alfragen und zur Stärkung der Ausbildung in diesem Bereich leisten möchten. Es ist eine
Zeit, in der Raiffeisen eine prägende Entwicklung durchmacht und große Freude an sei-
nem Leben hat. Er wird Mitglied von Euterpia, einer Art Studentenverbindung, wo tiefe
Freundschaften entstehen. Später entwickelt er ein Augenleiden, weshalb er seine Stellung
als Oberfeuerwerker aufgeben und den Militärdienst quittieren muss. Er erhält einen Büro-
job in der zivilen preußischen Verwaltung (Klein 2012, S. 14–22). Jedoch nicht für lange.
1845 wird Raiffeisen zum Bürgermeister von Weyerbusch ernannt; ein Zusammen-
schluss von Dörfern in einem bitterarmen Bauerngebiet, dem Westerwald. Sein Ziel, ein
öffentliches Amt zu bekleiden, ist erreicht, aber es ergeben sich schnell neue Herausfor-
derungen. Es herrscht großes Elend in Weyerbusch, die Häuser sind in einem erbärm-
lichen Zustand und die Schule ist eine nasse, kalte und zugige Bruchbude, in der die
Kinder andauernd erkranken. Raiffeisen hat einige Ideen und konzentriert sich auf zwei
Schwerpunkte: Die Schule muss renoviert und es muss eine Straße Richtung Rhein ange-
legt werden, damit das Dorf schneller erreicht und besser Handel getrieben werden kann.
Es gelingt ihm, für beide Vorhaben genügend Menschen und Geld zu mobilisieren, sodass
die Pläne erfolgreich umgesetzt werden. Die Schule wird mit einem großen Umzug eröff-
net und auch die Straße wird eingeweiht. Die strukturellen Probleme bleiben jedoch
weiterhin bestehen. Durch Missernten herrschen Hunger und Geldmangel. Raiffeisen
beantragt bei der Regierung, dass Getreide angeliefert wird, welches jedoch nur gegen
196 J. Kemperman et al.

sofortige Barzahlung abzugeben ist. Zur Lösung dieses Problems hat Raiffeisen wieder
eine Idee: den „Brotverein“. Er bittet die wohlhabenderen Dorfbewohner, dem Verein
ihr überschüssiges Geld gegen einen moderaten Zinssatz zur Verfügung zu stellen. Der
Verein verleiht das Geld dann an die armen Bauern, damit diese Brot erwerben können.
Der „Brotverein“ baut als eine Art Einkaufsgenossenschaft sogar ein Backhaus, damit
die Kosten für Brot gesenkt werden. Alle Bauern, die Geld leihen, können ihre geringen
Schulden nach einem Jahr wieder zurückzahlen, und so wird die Not gelindert.
„Es ist ihm gelungen, Menschen zur Solidarität zu bewegen“, stellt Michael Klein fest.
Raiffeisen tut dies, indem er Menschen auf ihre christliche Verantwortung verweist, die unter
anderem vorschreibt, dass den Armen und Bedürftigen geholfen werden muss (Klein 1999,
S. 118). Raiffeisen ist ein tiefgläubiger Mann, der sich jeden Morgen ausgiebig Zeit zum
Gebet und zur Bibellektüre nimmt, und sein Denken und sein Tagwerk dadurch leiten lässt
(Klein 2012, S. 25, 31). In Kombination mit seiner Kreativität, seiner Gabe, Menschen zu
mobilisieren, und seiner immensen Tatkraft führt dieser Antrieb zu immer neuen Initiativen.
Nicht lange nach dem Erfolg in Weyerbusch wird Raiffeisen in einer entfernter gele-
genen Dorfgemeinschaft angestellt: in Flammersfeld. Dort präsentiert sich die Situation
nicht viel anders als in Weyerbusch, sodass Raiffeisen auf dieselbe Art und Weise vor-
geht. Die von Weyerbusch aus angelegte Straße wird verlängert und gemeinsam mit dem
Pfarrer Heinrich Müller setzt er sich dafür ein, die Armut unter den Bauern zu bekämp-
fen. Er stellt fest, dass die Grundursache der Armut darin liegt, dass Bauern, die Kühe auf
Kredit kaufen, den Geldverleihern Wucherzinsen zu zahlen haben. Um Abhilfe zu leisten,
entsteht eine neue Idee: kein „Brotverein“, sondern ein „Kuhverein“. Wohlhabende Men-
schen stellen ihr Geld dem Verein zur Verfügung. Dort können arme Bauern über einen
längeren Zeitraum und zu niedrigen Zinsen Geld leihen, um Kühe zu erwerben. Inner-
halb von ein paar Jahren sind die Kühe abbezahlt und das Dorf blüht immer weiter auf.
Nach dem Erfolg in Flammersfeld wird Raiffeisen nach vier Jahren in eine neue
Dorfgemeinschaft versetzt: nach Heddesdorf. Ein Dorf, in dem nicht nur arme Bauern,
sondern auch viele arme Arbeiter leben. Gemeinsam mit dem dortigen Pfarrer Renkhoff
gründet er den Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein – wieder aus denselben Beweggrün-
den, aber auch hier in einer neuen Form. Der Verein setzt sich explizit zum Ziel, den
körperlichen und seelischen Wohlstand der Dorfbewohner zu fördern. Er kümmert sich
um verwahrloste Kinder, die Beschäftigung von Arbeitslosen und die Verleihung von
Geld. Dies alles wird aber irgendwann zu viel. Die Geldgeber ziehen sich allmählich
zurück und Raiffeisen sieht sich gezwungen, den Verein in einen Kreditgeber umzuwan-
deln. „Wir müssen den Armen helfen, sich selbst zu helfen“, wird ihm mehr und mehr
bewusst (Maxeiner et al. 1988, S. 10). Für ihn persönlich kommt jedoch eine schwierige
Zeit: seine Frau Emilie stirbt, er bleibt mit vier Kindern zurück und seine Sehkraft ver-
schlechtert sich zusehends, sodass er bereits mit 47 Jahren in Rente gehen muss. Und das
passiert ausgerechnet ihm, der über Jahre an der Realisierung eines ganz eigenen Leit-
bilds gearbeitet hat. Raiffeisen treibt der Wunsch an, durch Kooperation und Solidarität
Wohlstand und Wohlergehen (sowohl materiell als auch seelisch) zu schaffen. Er möchte
Menschen helfen, sich selbst zu helfen. Er möchte, dass die Bauern nicht mehr arm sind.
Er möchte, dass sie nicht länger wehrlose Opfer in den Fängen der Wucherer sind. Er
möchte die Realisierung dieses gewagten Ziels fortsetzen (vgl. Abb. 7.1).
7  Gemeinsame Finanzierung 197

Markenkern: Hilfe zur Selbsthilfe

Höheres Ziel Gewagtes Ziel / Markenversprechen


• Schaffen von Wohlstand und • Linderung der Not der ländlichen
Wohlbefinden (materiell und geistig) Bevölkerung
durch Zusammenarbeit und Solidarität • Menschen aus der Armut und den Fängen
von Wucherern befreien
Markenursprung
• Erziehung durch Menschen, die fromm
und sozial eingestellt sind

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir? Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Nächstenliebe • Menschen zur Solidarität bewegen
• Sparsamkeit • Dinge zustande bringen
• Übernahme von Verantwortung • Aufbauen (von Gesellschaften)
• Gerechtigkeit • Ideen generieren
• Vertrauen • Organisieren

Markenbeweis
• Brotverein (Weyerbusch) und Kuhverein
(Flammersfeld) gegründet mit sichtbarer
Auswirkung auf Wohlbefinden und
Wohlstand

Abb. 7.1  Leitbild und Positionierung der Raiffeisen-Genossenschaft


198 J. Kemperman et al.

Raiffeisen liegt Untätigkeit fern, denn dank aller Erfahrungen der vergangenen Jahre
hat das Konzept der Genossenschaft in seinem Kopf Gestalt angenommen. In Heddes-
dorf gründet er 1864 den Heddesdorfer Darlehnskassenverein – die erste echte Kre-
ditgenossenschaft. Diese Bank gründet nicht auf Wohltätigkeit der Geldgeber, wie die
vorherigen von ihm gegründeten Organisationen (Van der Steen 2012, S. 36). Seine
Überlegungen fasst er in dem Buch „Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe
der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und
Arbeiter“ zusammen, das er seiner Tochter Amalie diktiert. Dieses Buch bringt seine
Kernwerte zum Ausdruck. Die Begriffe Nächstenliebe, Sparsamkeit, Übernahme von
Verantwortung, Gerechtigkeit und Vertrauen ziehen sich wie ein roter Faden durch das
Konzept der Genossenschaft. Aber was genau beinhaltete dieses Werk? Wie sah das
Businessmodell der Genossenschaft aus? Was war so Besonderes an diesen Inhalten,
dass innerhalb kürzester Zeit überall Genossenschaften entwickelt wurden und Men-
schen von nah und fern Raiffeisen aufsuchten, um ihn um Rat zu bitten?

7.1.2 Das Businessmodell: Seele und Sachlichkeit

Marktsegment: die lokale Gemeinschaft


An welche Zielgruppe wendet sich Raiffeisen? Als Bürgermeister überrascht es nicht,
dass Raiffeisen sich an die lokale Gemeinschaft als Ganzes wendet, und das Wohlerge-
hen und den Wohlstand all ‚seiner‘ Bürger anstrebt. Was die von ihm entwickelte Genos-
senschaft angeht, lässt sich jedoch mehr sagen. Die Raiffeisen-Genossenschaft wendet
sich spezifisch an Reich und Arm. Von den Reichen verlangt Raiffeisen, ihr überschüs-
siges Geld gegen geringe Zinsen zur Verfügung zu stellen. Den Armen wiederum kann
er dadurch Geld zur Verfügung stellen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen und
unternehmerisch auftreten zu können. In Bezug auf die Zielgruppe ist die geografische
Abgrenzung ein wichtiges Kriterium. Die Genossenschaft ist auf ein bestimmtes abge-
grenztes Gebiet beschränkt; im Falle Raiffeisens auf die Dorfgemeinschaften, in denen
er zum gegebenen Zeitpunkt Bürgermeister ist. So können an vielen verschiedenen Orten
Genossenschaften entstehen, die jeweils in ihrem eigenen Gebiet operieren. Man könnte
natürlich meinen, dass sich die Genossenschaft nach und nach zu einem gewaltigen
Ganzen entwickelt, welches später zu einem Moloch entartet. Aber weit gefehlt, es ist
die Idee, die sich verbreitet, wodurch in zahllosen lokalen Gemeinschaften neue kleine
Genossenschaften entstehen, die meist mitten in der Gemeinschaft verankert sind. Die
Genossenschaft befriedigt ein enormes Bedürfnis, da es für die Bauern so gut wie keine
Möglichkeiten der Kreditaufnahme gibt. Der Weg in die nächstgelegene Stadt ist weit
und die dort ansässigen Banken gewähren den Bauern für gewöhnlich keinen Kredit.
Hat Raiffeisen in diesem Bereich Wettbewerber? Natürlich. Etwa zur selben Zeit ist
Hermann Schulze-Delitzsch in Sachsen mit vergleichbaren Konzepten beschäftigt. Auch
er gründet Genossenschaften. Obwohl beide Männer in Kontakt zueinander stehen, kommt
es zu keiner herzlichen Kooperation. Viel zu stark weichen die Ideen voneinander ab.
7  Gemeinsame Finanzierung 199

Schulze-Delitzsch möchte Dividenden an die Geldgeber ausschütten, während Raiffeisen


den Gewinn in der Genossenschaft halten und nicht ausschütten will. Raiffeisen möchte
die Reicheren nicht auf der Grundlage von Geld an die Organisation binden, sondern
auf der Grundlage der Philosophie der Nächstenliebe. Außerdem möchte er, dass den
Armen größere Beträge mit einer langen Rückzahlungsfrist gewährt werden, während
Schulze-Delitzsch kurze Rückzahlungsfristen fordert (Klein 2012, S. 69). Die Genossen-
schaft von Raiffeisen ist bestrebt, ihre Mitglieder „moralisch zu erheben“ und arbeitet in
enger Anlehnung an kirchliche Strukturen, während die Genossenschaften von Schulze-
Delitzsch liberal eingestellt sind und auch kommerzielle Anliegen verfolgen. Letzterer
wendet sich an eine möglichst große Bandbreite von Personen, wobei der Einsatz der zur
Verfügung gestellten Mittel nicht kontrolliert wird. Raiffeisen setzt die Notwendigkeit der
Kontrolle voraus und möchte die Genossenschaft aus diesem Grunde möglichst klein hal-
ten (Bol und Dierick 1989, S. 8). Die Zahl der Unterschiede ist also frappierend!
Ein weiterer Wettbewerber ist sein Zeitgenosse Karl Marx. In „Das Kapital“ präsen-
tiert Marx seine Ideen zur Lösung von Sozialfragen und Armut. Davon will Raiffeisen
aber nichts wissen. Er will keine Revolution und verweist auf die Quelle allen Übels:
Die sowohl bei Arm als auch bei Reich zu findende Tendenz, immer mehr zu wollen. Er
mache sich nichts aus dem Erwerb „irdischen Genusses“, so Raiffeisen. Die moralische
Erhebung ist für ihn bedeutender als eine Revolution (Klein 2012, S. 60–61).
Schließlich gibt es noch die Wettbewerber in Gestalt der Wucherer. Diese treiben
meist länger als erwünscht ihr Unwesen, da sie den ‚Kunden‘ einen entscheidenden Vor-
teil bieten: Sie helfen anonym. Man muss vor niemandem zugeben, dass man pleite ist
und Geld benötigt. Ein großes Problem ist tatsächlich die (falsche) Scham und die Angst
davor, zuzugeben, dass man Hilfe benötigt. Das ist ein sehr wichtiges Kriterium zum
Verständnis der Kunden. Raiffeisen stellt dem die Einsicht gegenüber, dass Menschen
sich gerne selbst helfen. Und genau darauf zielt die Genossenschaft ab: Hilfe zur Selbst-
hilfe.

Werte für den Kunden ausgehend vom menschlichen Maß (vgl. Abb. 7.2)
Damit sind wir bei den Werten für den Kunden angekommen. Was hat ein Reicher davon,
Mitglied einer Genossenschaft zu werden? Und was kostet es ihn? Zunächst erhält der
reiche Gläubiger einen angemessenen Zinssatz (3 %) für die Verleihung seines über-
schüssigen Geldes. Er weiß zudem, dass das Geld gut angelegt ist, da es der Gemein-
schaft zugutekommt. Das löst bei ihm ein gutes Gefühl aus: Ich helfe anderen beim
Aufbau ihrer Existenz und unterstütze damit in schwierigen Zeiten die Gemeinschaft
bei ihrer Entwicklung. Zusätzliche Abgaben sind nicht zu zahlen, er trägt aber ein nicht
unbeträchtliches Risiko, denn als ordentliches Mitglied der Genossenschaft übernimmt
er gesamtschuldnerische Haftung. Ausgehend vom Prinzip „Einer für alle, alle für einen“
kann man privat haftbar gemacht werden, wenn es der Genossenschaft an Geld mangelt.
Trotz dieses Umstandes gelingt es Raiffeisen, wohlhabende Menschen zu mobilisieren
und sie dazu zu bringen, auf Grundlage des Anspruches der christlichen Nächstenliebe
200 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Geld zum (Wieder-) Aufbau der Existenz* • Gemeinschaften entwickeln, indem man
• Ich bekomme angemessene Zinsen für Menschen hilft, sich selbst zu helfen
das Ausleihen meines überschüssigen
Geldes** Wettbewerber
+ • Wucherer: Wucherer ,,verhalfen‘‘ den
Prozess Wie bekomme ich es? armen Menschen auch zu Geld,
• Ausreichend Zeit für Rückzahlung, strikte allerdings anonym
Abzahlung* • Sozialismus: Der Sozialismus hatte
• Mein Geld ist in guten Händen** auch bessere soziale Verhältnisse als

+
Ziel, allerdings sind diese eher
revolutionär eingestellt
Gefühl Was fühle ich dabei? • Schulze-Delitzsch: Schulze-Delitzsch
• Ich muss um Hilfe bitten* gründete auch Genossenschaften,
• Ich kann es selbst* allerdings war er mehr auf Geld und
• Ich helfe anderen und helfe beim Aufbau Kurzfristigkeit fokussiert
der Gemeinschaft**
Zielgruppe
• Gesellschaften mit ungleichen sozialen
Preis Was kostet es? Verhältnissen
• Ich zahle ehrliche Zinsen (keine
Wucherzinsen)* Kundeneinblicke
• Es gibt keinen Preis** • Menschen wollen in der Lage sein, sich
+ selbst zu helfen
• Falscher Scham führt einen geradewegs
Aufwand Was muss ich dafür tun?
in die Hände von Wucherern
• Ich muss kreditwürdiges Verhalten an den
Tag legen*
• Ich bin zur Mitgliedschaft verpflichtet**
+
Risiko Wie unsicher ist es?
• Ich gebe mein Haus als
Sicherheit* Kunst der Positionierung
• Ich bin als Mitgleid
uneingeschränkt
Wertangebot für
haftbar** Marktsegmente
Kunden
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt & *Kreditnehmer
Zusatzdienste **Kreditgeber

Kunst der Vernetzung

Abb. 7.2  Kundenwert, Marktsegmente, Handlung und Lieferung Raiffeisen


7  Gemeinsame Finanzierung 201

Gelder zur Verfügung zu stellen. Nach Ablauf einiger Jahre minimiert sich das Risiko,
da die Kredite tadellos zurückgezahlt werden, der Gewinn innerhalb der Genossenschaft
verbleibt und das eigene Vermögen irgendwann nicht mehr nötig ist.
Für die Schuldner verhält es sich anders. Sie erhalten Geld für den Wiederauf-
bau ihrer Existenz, auch in Zeiten von Hunger, Missernten und unter anderen schwie-
rigen Umständen. Dabei wird ihnen ausreichend viel Zeit zur Rückzahlung des Geldes
gewährt, wobei bei Verstößen gegen die Rückzahlungsvereinbarungen null Toleranz gilt.
Man hat also Zeit zur Rückzahlung, aber die getroffenen Vereinbarungen müssen erfüllt
werden. Einerseits muss man das schlechte Gefühl überwinden, bei der Genossenschaft
um Hilfe zu bitten, andererseits löst der Beitritt ganz andere Gefühle aus: „Ich kann es
jetzt selbst! Ich bin nicht mehr den Launen der Wucherer ausgeliefert.“ Und der Preis
ist durchaus akzeptabel: Ein fairer Zinssatz in Höhe von 3,5 % zuzüglich einer Provi-
sion von 0,25 % (Staudinger 1895, S. 23). Dieser liegt weit unter den Zinssätzen, die
die Wucherer verlangen. Zudem muss die eigene Kreditwürdigkeit nachgewiesen wer-
den. Ist bekannt, dass man nicht mit Geld umgehen kann und dieses zum Fenster hin-
auswirft, kommt man nicht in Betracht für einen Kredit der Genossenschaft. Dies ist ein
sehr wichtiger Mechanismus der Selbstkorrektur basierend auf dem menschlichen Maß.
Kein Vergleich zu den verpackten, international gehandelten, anonymen Hypotheken-
portfolios, die zum Auslöser der Krise unserer Zeit wurden, und bei denen niemand mehr
wusste, wem eigentlich mit welchem Risiko Geld geliehen worden war.

Schlichte Kanäle, aber in der Nähe! (vgl. Abb. 7.3)


Betrachtet man die Distributions- und Verkaufskanäle der Raiffeisen-Genossenschaft,
stellt man fest, dass diese von großer Schlichtheit geprägt sind. Eigene Büros beste-
hen zu Anfang nicht. Raiffeisen arbeitet eng mit ‚Distributionspartnern‘ wie der Kirche
zusammen. Viele Geistliche richten in ihrem Haus einen Raum für die Kreditgenos-
senschaft ein, in den ein Tresor gestellt wird – und das war’s. Lehrer übernehmen für
gewöhnlich die Buchhaltung (Braumann o. J., S. 96). Dadurch bleiben die Genos-
senschaften klein und schlicht und nur in einem sehr beschränkten Maße sichtbar. Zur
Außenwahrnehmung trägt das nicht bei, hält jedoch die Kosten gering (Sluyterman et al.
1998, S. 52). Die Genossenschaft befindet sich in der Nähe, in der lokalen Gemeinschaft,
und es herrscht soziale Kontrolle, die es ermöglicht, herauszufinden, ob Menschen kre-
ditwürdiges Verhalten an den Tag legen und ihr Geld korrekt ausgeben oder nicht. Die
Verbindung mit der lokalen Kirche und dem Bürgermeister schafft zudem Vertrauen in
die Genossenschaft.

Handeln mit der richtigen Geisteshaltung


Raiffeisen legt großen Wert darauf, dass die Dinge auf eine integre Art und Weise aus-
geführt werden. Menschen, die – für gewöhnlich unentgeltlich – für die Genossenschaft
arbeiten, sollen in ihrem Handeln als lebendes Vorbild für deren Leitbild fungieren. Von
ihnen wird erwartet, dass sie die richtige Geisteshaltung und eine moralische Bindung
an die Genossenschaft haben (Klein 2012, S. 86). Nicht durch die Satzungen und deren
202 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Marktsegmente
Kunden
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Mitarbeiter, die das Leitbild tatsächlich • Häufig ist es die örtliche Gemeinde
leben, die richtige „Geisteshaltung“ und (der Bürgermeister) oder die Kirche
eine moralische Bindung haben. Sie (der Pfarrer), die anfänglich die
betätigen sich größtenteils ehrenamtlich Glaubwürdigkeit und das Vertrauen
• Jeder Kreditantrag wird separat beurteilt der Geldgeber garantieren, die aber
nach: 1. Risiko, 2. Zweck, für den das auch für Bindung und Vertrauen
Geld verwendet wird und 3. der sorgen
Einstellung und dem Verhalten des • Das Raiffeisen-Buch (eine Art
Antragstellers Anleitung zur Gründung einer
• Es gibt eine zentrale Genossenschaft für Genossenschaft) sorgt für ein hohes
Notfälle und für die gegenseitige Maß an Bekanntheit und Inspiration,
Unterstützung unter den sodass überall neue
Genossenschaften Kreditgenossenschaften entstehen

Lieferanten & Partner Kundenkontakt & Zusatzdienste


• Partnerschaft mit kirchlichen und • Die Genossenschaften verfügen
bürgerlichen Einrichtungen (insbesondere zu Beginn) über keine
• Menschen, die sich mit Wucherern separaten Räumlichkeiten oder gar
eingelassen haben, werden aus der Büros. Viele Geistliche richten deshalb
Genossenschaft verbannt in ihrem Haus ein Zimmer für die
• Keinen Fokus auf Gewinn und genossenschaftlichen Kreditbanken
Gewinnausschüttung. Alle Gewinne ein. Und häufig kümmern sich Lehrer
fließen in die Genossenschaft (eine Art um die Buchhaltung
Gemeinschaftskasse)
• Mitglieder sind unbegrenzt und
gesamtschuldnerisch haftbar (später
wird die Haftung beschränkt), haben die
Kontrolle und wählen ihren eigenen
Vorstand. Alljährliche „Verbandstage“

Abb. 7.3  Betrieb und Kanäle von Raiffeisen


7  Gemeinsame Finanzierung 203

Festlegungen, sondern ausschließlich durch die Arbeit der Menschen wird der dauerhafte
Fortbestand der Raiffeisen-Genossenschaft gewährleistet. Aus diesem Grund organisiert
Raiffeisen jährliche Verbandstage, an denen er seinen Zuhörern fortlaufend die Konzepte
der Nächstenliebe und der moralischen Erhebung vor Augen führt, welche die Grundlage
der Genossenschaft bilden. Er will vermeiden, dass sich die Genossenschaften zu Ver-
einen mit rein finanzieller Ausrichtung entwickeln (Klein 2012, S. 85). Auch in einem
anderen Punkt hat Raiffeisen ganz klare Prinzipien. Menschen, die sich mit Wucherern
einlassen (ganz gleich, ob es sich dabei um Gläubiger, Schuldner oder Mitarbeiter han-
delt), werden sofort aus der Genossenschaft ausgeschlossen. Es geht ihm um den Auf-
bau der Gemeinschaft. Das Vermögen der Genossenschaft stellt in diesem Konzept ein
Gemeinschaftsgut dar, welches auf keinen Fall durch riskante Geschäfte mit Wucherern
bedroht werden darf. Schließlich wurde das Vermögen mit größter Sorgfalt aufgebaut,
indem der Gewinn nicht ausgeschüttet, sondern den Reserven zugeführt wurde.
Ein weiterer wichtiger Punkt im Businessmodell der Genossenschaft ist der Prozess
der Kreditvergabe. Die Kreditvergabe wird genauestens überwacht, indem jeder Kredit-
antrag eingehend überprüft und das potenzielle Risiko festgestellt wird. Darüber hinaus
hinterfragt man das Verhalten und die Einstellung des Schuldners: Legt er oder sie kre-
ditwürdiges Verhalten an den Tag? Vertrauen wir darauf, dass diese Person sorgsam mit
Geld umgeht und dieses ordnungsgemäß zurückzahlt? Der lokale Charakter der Genos-
senschaft erleichtert diese Vorgehensweise, da die Menschen einander kennen und sich
auf ihr Verhalten ansprechen können. Sie stellt also einen sehr wichtigen Mechanis-
mus zur Selbstkontrolle basierend auf dem menschlichen Maß dar. Natürlich wird auch
berücksichtigt, für welche Ausgabe das zu verleihende Geld verwendet wird. Es ist not-
wendig, dass es sich um eine sinnvolle Investition handelt, und nicht um eine Ausgabe,
die dem verschwenderischen Konsum oder ähnlichen Dingen dienen soll (Klein 2012,
S. 69). Nicht nur Raiffeisen legt großen Wert auf den Prozess der Kreditvergabe, sondern
auch die Mitglieder selbst, denn schließlich sind alle Mitglieder gesamtschuldnerisch
haftbar. Obwohl diese gerne anderen Menschen auf der Grundlage von Nächstenliebe
helfen, wollen sie keine unnötigen Risiken eingehen.
Es soll noch einmal hervorgehoben werden, dass die Genossenschaft ein aus Mitglie-
dern bestehender Verein ist. Als Mitglied trägt man ein Risiko und ist haftbar, verfügt
aber gleichzeitig auch über Mitbestimmungsrechte. So wählen die Mitglieder aus den
eigenen Reihen einen eigenen (unentgeltlich agierenden) Vorstand (Van der Steen 2012,
S. 37). Sie wählen sozusagen ihr eigenes Management. Zum Schluss sei angemerkt, dass
ab einem gewissen Zeitpunkt ein übergreifendes Organ eingesetzt wird. Die kleinen
Kreditgenossenschaften in den Dörfern sind verletzlich und können selbst in Schwierig-
keiten geraten. Auch hierfür hat Raiffeisen eine Idee: Er entwickelt eine Zentralgenos-
senschaft, deren Mitglieder wiederum die lokalen Kreditgenossenschaften sind, sodass
diese einander aushelfen und untereinander eine stärkere und stabilere Verbindung
schaffen. Auch dieses Beispiel macht überall Schule. Neue Kreditgenossenschaften mit
übergreifenden zentralen Organen entstehen – in Deutschland und in den umliegenden
Ländern (Braumann o. J., S. 90–91).
204 J. Kemperman et al.

7.1.3 Das Ergebnis: Wohlstand für alle

Der Erfolg von Raiffeisens genossenschaftlichem Businessmodell ist atemberaubend.


Für alle Stakeholder wird Wert generiert.
Auf gesellschaftlicher Ebene sind Wohlstand und Wohlergehen im gesamten Wester-
wald gestiegen. Dörfer und Städte blühen auf und Menschen können ihre Existenz wie-
der eigenständig gestalten. In Flammersfeld ist es beispielsweise gelungen, innerhalb
von zehn Jahren aus allen Bauern, die in die Fänge von Wucherern geraten waren, wie-
der freie Bauern zu machen (Staudinger 1895, S. 6). Raiffeisen bekommt hierfür öffent-
liche Anerkennung. Er erhält den Roten Adlerorden und Kaiser Wilhelm I. übergibt ihm
einen Geldbetrag in Höhe von 15.000 Mark (umgerechnet etwa 106.000 EUR) als Zei-
chen der Anerkennung.1
Vonseiten der Kunden erhält Raiffeisen ebenfalls ausschließlich Lob. Innerhalb weni-
ger Jahre entstehen 75 Genossenschaften und in einem Zeitraum von zehn Jahren werden
1100 Kunden bedient. Rasend schnell verbreitet sich das genossenschaftliche Gedan-
kengut über das ganze deutsche Reich, über die Grenzen des Landes hinweg und in der
ganzen Welt. Die niederländische Rabobank ist aus der Raiffeisen-Genossenschaft her-
vorgegangen. Wir weisen besonders auf die Mikrobanken und Mikrokredite hin, welche
dasselbe Modell mit demselben Erfolg wie im Deutschland des neunzehnten Jahrhun-
derts anwenden. Weltweit sind 2012 mehr als 1 Mrd. Menschen Mitglied einer Genos-
senschaft.2 Zudem wurde nachgewiesen, dass der Zinssatz für Darlehen in Ländern, in
denen Genossenschaftsbanken Fuß gefasst haben, signifikant niedriger ist. Das Bestehen
von Kreditgenossenschaften hat also allgemein günstige Effekte für Kunden.
Der Mitarbeiterwert ist ebenfalls ein interessanter Punkt. Viele Menschen arbeiten
unentgeltlich für die Genossenschaft, lediglich der Buchhalter wird bezahlt. Ihr Antrieb
ist der Einsatz für einen guten Zweck. Der Wert, der für die Mitarbeiter geschaffen wird,
ist das Bewusstsein, etwas Sinnvolles zu tun, an der positiven Entwicklung der Gesell-
schaft mitzuwirken und damit letztendlich auch für sich selbst zu sorgen.
Finanziell betrachtet ist das Genossenschaftsmodell ein voller Erfolg. Innerhalb kür-
zester Zeit liegen beeindruckende Finanzergebnisse vor. In weniger als zehn Jahren wird
ein Umsatz von 40.000 Talern generiert, werden 20.000 Taler verliehen und wird ein
Reservekapital in Höhe von 1500 Talern aufgebaut, schreibt Raiffeisen in einem Brief
an Mitbewerber Schulze-Delitzsch (Klein 2012, S. 68). Innerhalb von etwas mehr als
dreißig Jahren schließen sich 3000 lokale Kreditgenossenschaften der Zentralgenossen-
schaft an (Bol und Dierick 1989, S. 8). Auch langfristig sind die Auswirkungen mehr
als deutlich spürbar. Noch heute genießen Genossenschaftsbanken durchgehend höchste

1https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Statistiken/Unternehmen_Und_Private_

Haushalte/Preise/kaufkraftaequivalente_historischer_betraege_in_deutschen_waehrungen.pdf?__
blob=publicationFile.
2http://www.2012intlsummit.coop/.
7  Gemeinsame Finanzierung 205

Kreditwürdigkeit und sorgen für Stabilität im Finanzsektor. Es stellt sich eine wichtige
Frage: Wie hätten der Finanzsektor und die Kreditkrise ohne das Wirken von Raiffeisen
ausgesehen?

7.1.4 Raiffeisens brillante Lehren

Aus einem derart einflussreichen Businessmodell kann man einige Lehren ziehen. Unse-
rer Ansicht nach sind das die folgenden (vgl. Abb. 7.4):

• Ein glänzendes Businessmodell entsteht nicht einfach so: Im Gegenteil, das Konzept
entwickelt sich langsam nach vielen Versuchen und Irrtümern. Zunächst entsteht ein
„Brotverein“, dann ein „Kuhverein“ und schließlich ein Wohltätigkeitsverein, der in
die Kreditgenossenschaft übergeht. Die Lehren, die in der Zwischenzeit gezogen wer-
den, fließen stets in das neue Konzept mit ein.
• Das menschliche Maß ist eine Grundbedingung für die Genossenschaft: Da die
direkte soziale Bindung wesentlicher Bestandteil des Businessmodells ist, müssen die
Genossenschaften verhältnismäßig klein bleiben, damit die Menschen einander ken-
nen, vertrauen und helfen können. Wie aktuell dies heute noch ist, wird von Rabo-
bank-Spitzenfunktionär Piet Moerland auf den Punkt gebracht, der das Folgende für
sehr wichtig hält: „Die Person, die einen Kredit aufnimmt, muss mit der Person, die
diesen gegeben hat, verbunden bleiben.“ Als Bankmanager mit der Erstellung kompli-
zierter Kreditpakete (Verbriefung) begannen und diese anschließend über die ganze
Welt verstreuten, begann laut Moerland das Elend: „Das ist der Kern der Kreditkrise.
Hier wurde die Verbindung zwischen dem Kunden und dem Kreditgeber unterbro-
chen. Hier entkoppelte sich die Finanzindustrie von der Realwirtschaft“ (Hensen und
Kreling 2013, S. 12).
• Soziale Kontrolle, gegenseitiges Vertrauen und das menschliche Maß sind wichtige
Eckpfeiler im Businessmodell der Genossenschaft: Diese werden explizit formuliert,
fortlaufend hervorgehoben und in der praktischen Umsetzung angewendet. Es stellt
sich die Frage, ob es die unzähligen Ramschhypotheken oder eine Kreditkrise gege-
ben hätte, wäre diese Grundhaltung in unserer Zeit innerhalb des komplexen Bank-
wesens eingenommen worden. Der Gedanke, Menschen zu helfen, um sich selbst zu
helfen, ist eine wirkungsvolle Philosophie. Es ist ein ehrliches Konzept, schafft Win-
Win-Situationen und senkt die soziale Abhängigkeit.
• Immer an seinem Glauben und seiner Philosophie festhalten, auch wenn Rückschläge
auftreten und Wettbewerber auf den Plan treten: Zieht man in Betracht, dass man im
Kleinen bereits eine große Wirkung erzielen kann, darf man sich nicht dazu verführen
lassen, seinen Kern aufzugeben und Kompromisse einzugehen, um seiner Organisa-
tion zu stärkerem Wachstum zu verhelfen.
• Um den Kern einer Organisation zu bewahren, müssen die Hintergründe, die Philo-
sophie und die Ideen geteilt und gesichert werden: Dies kann auf unterschiedliche
206 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden


• 1.100 Kunden in 10 Jahren
• Bis 1870 entstehen 75 genossenschaftliche Vereinigungen

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Die meisten Mitarbeiter setzen sich ehrenamtlich • In 9 Jahren wird ein Umsatz von
ein, weil sie sich gern am Aufbau von Wohlstand 40.000 Talern erzielt
und Wohlbefinden der örtlichen Gemeinschaft • 20.000 Taler werden ausgeliehen
beteiligen • Es wird ein Reservekapital von
1.500 Talern aufgebaut
• Im Jahr 1898:
3.000 Genossenschaften sind der
zentralen Genossenschaft
angeschlossen

Wert für und durch die Gesellschaft


• Kaiser Wilhelm I. macht eine Schenkung im Wert von 15.000 Mark als Zeichen der
Anerkennung
• Raiffeisen wird für sein gesellschaftliches Engagement mit dem Roten Adlerorden
ausgezeichnet
• Im Westerwald herrscht Wohlstand

Abb. 7.4  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Raiffeisen


7  Gemeinsame Finanzierung 207

Arten geschehen: Durch die Einstellungspolitik, Publikationen, Ansprachen und ähn-


liche Maßnahmen. Kümmert man sich nicht ausreichend um diese Dinge, besteht die
Gefahr, dass die Organisation in ein seelen- und bedeutungsloses Gebilde zerfällt. Mit
anderen Worten: Durch das fortlaufende Teilen des Businessmodells und der dahinter-
liegenden Philosophie wird es von den verschiedensten Stakeholdern verstanden und
diese verhalten sich dann entsprechend.
• Raiffeisen war Bürgermeister und handelte gleichzeitig als Unternehmer. Das
bekannte Dilemma zwischen freier Marktwirtschaft und öffentlicher Verwaltung gab
es nicht, sondern es ging vielmehr darum, Unternehmertum zur Realisierung sozia-
ler Ziele einzusetzen. Gesellschaftliche Organisationen (unter anderem Staat und Kir-
chen) können durch die Lehren Raiffeisens lernen, als soziale Unternehmer zu denken
und zu handeln, um Wohlstand und Wohlergehen in einer Gesellschaft zu fördern und
somit Wertschöpfung für alle zu erreichen.

7.2 Bank Rakyat Indonesia

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Marsha Sinninghe und Jennifer op ’t Hoog
verfasst.

Nachhaltige und gewinnbringende Bereitstellung der Mikrofinanzierung


Prolog
März 2008, nach ein paar Tagen im großen und geschäftigen Jakarta setze ich meine
Reise ins Landesinnere von Java fort. Kilometerlang sehe ich nicht viel mehr als
Berge und Reisfelder. Sogar hier, fernab von der pulsierenden Metropole, stoße ich
an den entlegensten Orten noch auf kleine Siedlungen. Die Lebensverhältnisse an die-
sen abgelegenen Orten scheinen fast weniger ärmlich zu sein als in den Slums von
Jakarta. Fasziniert von meinen Beobachtungen möchte ich mehr über das Leben in
den ländlichen Regionen von Indonesien wissen. Wo arbeiten die Bewohner? Und wie
gehen sie mit dem Geld um, das sie mit ihrer Arbeit verdienen?
Zurück in den Niederlanden berührt mich die besondere Geschichte von Bank
Rakyat Indonesia (BRI). Als ich hörte, dass ein Buch über brillante Businessmodelle
im Finanzwesen geschrieben wird, stand für mich sofort fest, dass BRI darin ein
Kapitel erhalten muss. Warum? Die Mikrofinanzsparte von BRI tätigt ihre Geschäfte
bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung völlig unabhängig von Subventionen und hat
den Weg für ein enormes Wirtschaftswachstum im Land geebnet. Das ist eine seltene
Leistung in der Welt der Mikrofinanzierung. Dieser Diamant hat es also wirklich ver-
dient, einem größeren Publikum präsentiert zu werden!

Einleitung
Lange bevor wir die umfassende und nicht subventionierte Mikrofinanzsparte von
BRI als brillant bezeichnen können, wird das Geldhaus 1895 gegründet. Zu Beginn
besteht BRI aus verschiedenen Banken, die zusammen ein durch den Staat betrie-
208 J. Kemperman et al.

benes Kreditsystem bilden (vgl. Robinson 1992). Der ursprüngliche Name während
der Kolonialzeit ist De Poerwokertosche Hulp- en Spaarbank der Inlandsche Hoof-
den (vgl. Maurer 1999). Mit dem Ausrufen der Unabhängigkeit Indonesiens wird der
Name in Bank Rakyat Indonesia bzw. Volksbank Indonesien geändert. 1950 folgt eine
Fusion mit der Algemene Volkskredietbank, die zum Ziel hat, eine nationale, kom-
merzielle staatliche Bank für Bauern zu gründen (vgl. Maurer und Seibel 2001).
Selbstverständlich braucht es mehr als nur eine Fusion, um der ländliche Bevölkerung
tatsächlich Zugang zu Finanzdienstleistungen zu bieten.
Zwischen 1960 und 1980 kommt es im Zuge der sogenannten Grünen Revolution
zu einer Modernisierung der asiatischen Landwirtschaft, um die Ernährung der wach-
senden Bevölkerung zu gewährleisten. Unter dem Eindruck dieser Veränderungen
entwickelt die indonesische Regierung das Subventionsprogramm BIMAS zur Förde-
rung des Reisanbaus. Um dieses Programm zu realisieren, nutzt BRI zu Beginn der
1970er Jahren ein engmaschiges nationales Netz von Bankfilialen in den ländlichen
Regionen, das auch als Unit Desa System (UDS) bezeichnet wird. Dieses UDS ist der
außergewöhnlichste Teil von BRI, auf dem dann auch der Fokus in dem hier beschrie-
benen Businessmodell liegt. Allerdings ist das UDS in seinem Aufbau zugunsten von
BIMAS alles andere als erfolgreich, sodass es zunächst eine Reihe bitterer Pillen
schlucken musste. Das BIMAS-Programm ist ein Erfolg, aber die Kreditkomponente,
die die Grundlage für das UDS bildet, scheitert.
BRI steht vor der entscheidenden Wahl, das UDS entweder aufzulösen oder gründ-
lich zu reformieren. Finanziell geht es dem UDS schlecht, aber eine Auflösung des
Systems würde in 90 % der Regionen das Ende der Bereitstellung von Finanzdienst-
leistungen bedeuten und so große wirtschaftliche Probleme verursachen. BRI hat
ein ausgewachsenes Problem. Gefördert durch das Finanzministerium und das Leit-
bild des Vorstands beschließen die Verantwortlichen 1983, am System festzuhalten,
es aber drastisch zu reformieren. Dieser Beschluss wurde die Basis des erfolgreichen
Businessmodells von UDS. Diese Reform bedeutet für BRI und Indonesien einen
großen Erfolg und ein brillantes Fallbeispiel für den Mikrofinanzsektor weltweit.
Betrachten wir einmal näher, was diesem Erfolg zugrunde liegt.

7.2.1 Das Fundament: Fehler sind Erfolge, wenn wir aus ihnen
lernen3

Indonesien ist ein großes Inselreich mit vielen ländlichen Regionen. Diese Regionen
sind reich an Rohstoffen. Mit Ausnahme der ländlichen Elite kann die Bevölkerung zu
Beginn der 1970er Jahre am treffendsten als ärmlich beschrieben werden. Die grüne
Revolution ermöglicht eine Massenproduktion mit höheren Erträgen, wodurch höhere

3Zitat von Malcolm S. Forbes.


7  Gemeinsame Finanzierung 209

Erlöse ermöglicht werden. Im Licht dieser Entwicklung führt die Regierung das Pro-
gramm BIMAS ein. Dank BIMAS werden Reisbauern neue Techniken vermittelt und
Kredite gewährt. Um das zu realisieren, erhält BRI den Auftrag, Subventionen aus dem
BIMAS-Programm auf nationaler Ebene zu verteilen. Ein Auftrag, der im Einklang
mit dem höheren Ziel von BRI steht, nämlich Finanzdienstleistungen in den ländlichen
Gebieten zugänglich zu machen. BRI realisiert diese Verteilung, indem es 3600 Bankfi-
lialen (BRI-Einheiten) auf Unterbezirksebene (UDS) eröffnet (vgl. Robinson 2002). Die
Kreditkomponente von BIMAS erweist sich jedoch als Misserfolg. Die Kredite erreichen
die Reisbauern nicht, sondern gelangen größtenteils durch Korruption zur reichen, länd-
lichen Elite. Die Rückzahlungsquote ist niedrig, und auch das Sparen über die BRI-Ein-
heiten zündet nicht. In diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis, dass Banken zu diesem
Zeitpunkt überhaupt keinen Anreiz zum Sparen bieten konnten, äußerst hilfreich. Der
von der Regierung festgelegte Zins für die Kreditvergabe betrug 12 % und der Zins für
Sparguthaben 15 %. Die weit verbreitete Meinung, dass Bauern und Dorfbewohner zu
primitiv zum Sparen seien, hilft auch nicht wirklich weiter (vgl. Robinson 2002). Und
die Tragweite dieser Fehleinschätzung ist enorm.
Durch die hohen Kosten und die zunehmenden Verluste wird das UDS zu einer Last
sowohl für den Staat als auch für die BRI als Unternehmen. Anfang der 1980er Jahre
wird die Auflösung des UDS in Betracht gezogen. Gleichzeitig beschließt die natio-
nale Regierung, sich nicht länger von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft abhängig zu
machen, wohl wissend, dass diese nicht ewig so hoch sein werden. Die Regierung ini-
tiiert eine groß angelegte Finanzreform. Private Investitionen werden gefördert. In die-
sem Zusammenhang ist es inakzeptabel, die subventionierte Kreditvergabe fortzusetzen
(vgl. Robinson 2002). Der Markenkern von BRI bleibt unverändert: Finanzdienstleis-
tungen für die ländliche Bevölkerung zugänglich machen. Dieses Ziel rückt wieder ein
Stückchen näher, als die Wirtschaftsminister trotz der widrigen ökonomischen Bedin-
gungen und der trostlosen Erfolgsbilanz des UDS am Potenzial des großen bestehenden
ländlichen Finanzdienstleistungssystems von BRI festhalten und weiter daran glauben.
Die Verantwortlichen beschließen, das UDS zu erhalten und zu reformieren. Es ist ein
Sprung ins Ungewisse, denn noch nie zuvor wurde in so großem Stil damit begonnen,
Finanzdienstleistungen für Arme zugänglich zu machen. BRI lernt hierbei viel von der
in den 1970er Jahren gegründete Bank Dagang Bali, die von Beginn an eine gewinn-
bringende Mikrofinanzierung realisieren konnte (vgl. Robinson 2002). Darüber hinaus
wurden die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung sowie die Anforderungen an die
Produkte, die für eine einträgliche und nachhaltige Mikrofinanzierung erforderlich sind,
eingehend untersucht. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass Dienstleistungen und Produkte
einfach, transparent und sicher und auf der Grundlage optimierter Prozesse verfügbar
sein müssen.
Das gewagte Ziel ist die kommerzielle Abwicklung der Mikrofinanzierung auf Lan-
desebene mithilfe eines einmaligen finanziellen Zuschusses und einer umfassend unter-
suchten Strategie (vgl. Abb. 7.5). Noch ambitionierter, insbesondere im Zusammenhang
mit Mikrofinanzierung, ist das Ziel, innerhalb von zwei Jahren den Break-even-Punkt zu
210 J. Kemperman et al.

Markenkern: Finanzdienstleistungen für die indonesische


Landbevölkerung zugänglich machen

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Die Entwicklung der ländlichen • Innerhalb von 2 Jahren (1986) nachhaltige,
Regionen durch die Bereitstellung gewinnbringende und nicht subventionierte
kompletter Finanzdienstleistungen Bereitstellung der Mikrofinanzierung in
ländlichen Regionen
Markenursprung
• 1895 gegründet und 1984 Markenversprechen
verselbstständigt • Sichere Spar- und Kreditmöglichkeiten für
• Kommerzielle staatliche Bank mit der jedermann
Aufgabe, Finanzdienstleistungen
in ländlichen Gebieten
bereitzustellen
Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Kontinuierliches Lernen und Verbessern • Gewinnbringende und nachhaltige
• Sicherheit Abwicklung der Mikrofinanzierung
• Sichere und zugängliche Spar- und
• Transparenz
Kreditoptionen
• Einfachheit • Lernvermögen

Markenbeweis
• Innerhalb von 2 Jahren (1986) nachhaltige
und gewinnbringende Mikrofinanzierung
• Beim Börsengang als Best Newly Listed
Company ausgezeichnet
• Wissensaustausch über das international
ausgerichtete Visitor Program

Abb. 7.5  Leitbild und Positionierung von Bank Rakyat Indonesia


7  Gemeinsame Finanzierung 211

erreichen. Das will die Bank durch sichere Spar- und Kreditmöglichkeiten für jedermann
erreichen. Letztendlich gelingt es dem UDS, innerhalb von zwei Jahren eine vollstän-
dig unabhängige und nachhaltige Mikrofinanzierung zu entwickeln – und zwar durch die
Optimierung seiner Kernmarkenwerte: kontinuierliches Lernen und eine stetige Verbes-
serung des Unternehmens, eine transparente Betriebsführung und Produkte, bei denen
Komfort, Sicherheit und Einfachheit im Mittelpunkt stehen. Durch die Bereitstellung
von sicheren und zuverlässigen Finanzdienstleistungen hat das UDS eine Methode ent-
wickelt, mit deren Hilfe die Mikrofinanzierung auf nationaler Ebene gewinnbringend
und nachhaltig praktiziert werden kann. In diesem Modell erweist sich das menschliche
Kapital von unschätzbaren Wert. BRI nutzt diese Qualitäten optimal und die Lernbe-
reitschaft ist auf allen Ebenen des Unternehmens zu finden. Auf allen Ebenen werden
Mitarbeiter für ihre spezifische Aufgabe in der jeweiligen Umgebung ausgebildet und
geschult. Diese Kernqualitäten führen dazu, dass das UDS als eine der wenigen Mikro-
finanzorganisationen innerhalb von zwei Jahren gewinnbringend wirtschaftet, ohne Sub-
ventionen zu erhalten. Beim Börsengang zeichnet sich das UDS abermals aus und BRI
wird als Best Newly Listed Company ausgezeichnet. Das Unternehmen ist auch heute
noch eines der besten Beispiele für Mikrofinanzierung und teilt sein Wissen weltweit.
BRI zeigte eine außerordentliche Leistung. Im Folgenden wollen wir einmal genauer
betrachten, wie das gelang.
Um vorab einen Zipfel des Schleiers zu lüften, möchten wir an dieser Stelle ein Zitat
von Pak Sugianto, dem Hauptgeschäftsführer von BRI, aus dem Jahr 1987 anführen: „In
der Mikrofinanzierung kann man nur dann erfolgreich sein, wenn man sie liebt“ (vgl.
Robinson 2004). Der Einsatz für, der Glaube an und das Vertrauen in das Businessmodell
sind die wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg. Allein durch den Glauben, dass das
System selbstfinanzierend organisiert werden kann, ist das Vorhaben letztendlich gelun-
gen. Deshalb sollte man Mut haben, zu träumen und den Träumen mit Leidenschaft zu
folgen. Das besonders Schöne an BRI ist, dass es die Mikrofinanzierung so sehr liebt,
dass es anderen weiterhelfen will und sein Wissen im Rahmen des International Visitor
Program gern teilt.

7.2.2 Das Businessmodell: Zurück zu den Wurzeln

In diesem Kapitel gehen wir zurück zu den Wurzeln. Wir tauchen in das Businessmodell
zur Zeit der Reform in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre.

Marktsegmente: Ihr Wunsch ist uns Befehl


BRI hat eine von staatlicher Seite auferlegte Aufgabe: der Landbevölkerung Indonesiens
den Zugang zu Finanzdienstleistungen zu ermöglichen. Damit ist die Zielgruppe vorgege-
ben. Mit der Reform des UDS wird diese Zielgruppe auf der Grundlage von Ideologie und
Forschungsergebnissen sehr viel spezifischer. Im UDS geht es nicht nur um Mikrokredite,
sondern um Mikrofinanzierung, auch Microbanking genannt, oder eben um Sparen und
212 J. Kemperman et al.

Ausleihen. Das ist essenziell für die Lebensfähigkeit eines solchen Systems, denn genau
wie bei anderen Finanzinstituten gilt das Prinzip, dass man kein Geld ausleihen kann,
wenn die Kasse leer ist. Innerhalb der Zielgruppe der Landbevölkerung erfolgt eine Unter-
teilung in eine Zielgruppe für Kredite und eine Zielgruppe für das Sparen.
Kreditoptionen sind für jeden bestimmt, der kreditwürdig ist. Sparoptionen richten
sich vor allem an kleine Sparer, die eine hohe Liquidität erreichen wollen. Große Sparer
sind selbstverständlich auch willkommen, gehören aber nicht zur primären Zielgruppe.
Schaut das UDS auch auf die Wettbewerber? Zu Beginn nicht, unabhängige Banken
in den ländlichen Gebieten können es zu dem Zeitpunkt nicht mit den BRI-Einheiten auf-
nehmen. Die BRI-Einheiten sind Teil eines nationalen Systems mit Kosten und Risiken,
die viel niedriger sind als die der unabhängigen Banken. Ein weiterer Wettbewerber kann
in der informellen Bankenszene gesehen werden, aber hier liegen die Kreditzinsen auf
Wucherniveau und Sparguthaben sind weitaus weniger sicher. Aus diesem Grund braucht
das UDS in seinen Anfangsjahren nicht auf die Konkurrenz zu achten und kann enorm
wachsen. Zwar sieht das Konkurrenzumfeld zum heutigen Zeitpunkt anders aus, aber
das UDS ist bereits so groß, dass es seinen Wettbewerbern weit voraus ist und bleibt. Im
Jahr 2000 hat das UDS bereits 2,7 Mio. aktive Kreditnehmer, die zusammen 660 Mio. EUR
an Krediten aufgenommen haben. Noch umfangreicher sind die Zahlen, die die Sparopti-
onen betreffen. Zum gleichen Zeitpunkt verzeichnet das UDS 25,8 Mio. Sparkonten, die
zusammen ein Guthaben in Höhe von 1,6 Mrd. EUR ausmachen. 2009 sind diese Zahlen
noch weiter angestiegen. Das UDS hat in diesem Jahr nicht weniger als 4,7 Mio. ausste-
hende Kredite, die insgesamt einen Wert von 4,7 Mrd. EUR ausmachen. Die Zahl der Spar-
konten ist auf 21,2 Mio. gesunken, aber der gesamte Umfang von Sparguthaben ist 2009
auf 6,5 Mrd. EUR gestiegen (vgl. Siebel, Rachmadi und Kusumayakti 2010).

Wertangebot für Kunden: KUPEDES und SIMPEDES (vgl. Abb. 7.6)


Die Menschen in den ländlichen Gebieten Indonesiens sind auf der Suche nach Sicher-
heit. Sicherheit, dass ihr Geld sicher angelegt ist und Sicherheit, dass es immer Mög-
lichkeiten gibt, um sich Geld auszuleihen. Dieser Wunsch fordert die Stabilität und die
Zuverlässigkeit des Finanzsystems. Das UDS realisiert diese finanzielle Stabilität und
Sicherheit, was mit der Bereitstellung von Finanzdienstleistungen für jedermann anfängt.
Bei der Kundenbefragung, die der Reform vorausgeht, wird deutlich, dass es eine große
Nachfrage nach Sparmöglichkeiten, Einfachheit und Liquidität unter den Kunden gibt.
Die meisten Mikrofinanzkunden wollen mehr als nur ein Sparkonto (um für verschie-
dene Ziele zu sparen), und Sparguthaben müssen immer verfügbar sein. Darüber hinaus
wollen Sie auch über eine Geldleihoption verfügen, wenn sie sie brauchen. Kreditneh-
mer verlangen ein einziges Darlehen, das sie für verschiedene Ziele nutzen können (vgl.
Robinson 2002).
Das UDS bietet der Bevölkerung auf dem Land diese Spar- und Kreditmöglichkei-
ten. 1984 wird KUPEDES eingeführt, ein neues Kreditprodukt, das für jedes produktive
Ziel eingesetzt werden kann. Zugänglich für jeden, der kreditwürdig ist. Um für einen
Kredit in Betracht zu kommen, wird analysiert, ob ein potenzieller Kreditnehmer seinen
7  Gemeinsame Finanzierung 213

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Ich bekomme Zugang zu zuverlässigen • Im Jahr 2000 gibt es 2,7 Millionen aktive
und stabilen Spar- und Kreditnehmer und die ausstehenden
Kreditmöglichkeiten Kredite belaufen sich auf 660 Millionen

+ EUR
• Es gibt 25,8 Millionen Sparkonten mit
Prozess Wie bekomme ich es? einem Guthaben von insgesamt
1.613 Millionen EUR
• Ich stelle einen Antrag in der örtlichen
Bankfiliale
Wettbewerber
+ • Wenig bis keine Wettbewerber

Gefühl Was fühle ich dabei? Zielgruppe


• Ich fühle mich unabhängig und stark • Die Bevölkerung im ländlichen
Indonesien

Kundeneinblicke
• Bietet die Möglichkeit zur Ausweitung
Preis Was kostet es? und Diversifizierung wirtschaftlicher
• Ich zahle monatlich 1,5 % für Aktivitäten, sodass Einkommen und
Betriebskapital und 1 % für Selbstvertrauen der Zielgruppe erhöht
Investitionskapital werden können
+
Aufwand Was muss ich dafür tun?
• Für meinen Kredit gebe ich eine
Sicherheit. Um zu sparen, eröffne ich ein
Konto

+
Risiko Welche Risiken trage ich?
• Mein Risiko ist klein. Ich kann
nicht mehr ausleihen als
für mich vernünftig ist Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 7.6  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Bank Rakyat Indonesia


214 J. Kemperman et al.

Zahlungsverpflichtungen nachkommen kann und will. Diese Analyse liegt in der Verant-
wortung des Kreditbeauftragten der lokalen Einheit. Auf diese Weise wird das Risiko
sowohl für die Bank als auch für den Kreditnehmer begrenzt. Wenn jemand für einen
KUPEDES-Kredit infrage kommt, müssen das Ziel, die Laufzeit und der Tilgungsplan
innerhalb einer festgelegten Bandbreite der jeweiligen Situation angepasst werden (es
sind 36 verschiedene Kombinationen möglich). Das Kreditprodukt hat einen festgeleg-
ten Kreditplafond. Wenn der Kredit pünktlich und vollständig zurückgezahlt wird, erhöht
sich dieser Plafond schrittweise. Der Kreditplafond wächst also auf der Basis von Ver-
trauen und Erfahrung. Neben dem Kreditplafond gibt es eine maximale Laufzeit. Für
Betriebskapital gilt eine maximale Laufzeit von zwei Jahren und für Investitionskapi-
tal eine maximale Laufzeit von drei Jahren. Auch die Zinsen (und damit der Preis) fol-
gen dieser Zweiteilung. Als Anreiz für die pünktliche Rückzahlung liegt der anfänglich
zu zahlende Zins monatlich bei 0,5 % höher. Bei pünktlicher Tilgung wird dieser Zins
zurückgezahlt. Und schließlich muss ein Kreditnehmer bei der Aufnahme eines Kredits
eine Sicherheit einbringen. In diesem Punkt ist die Gesetzgebung in Indonesien flexibler
und kreativer als in Europa sonst üblich. Als Sicherheit kann bewegliches Gut dienen,
das mit dem Kredit erworben wurde, z. B. Motoren, Möbel, Maschinen oder finanzielle
Mittel wie Lohn und Spargeld (vgl. Robinson 2002).
Die Sparoption wurde nach dem Kreditprodukt auf dem Markt eingeführt. Das wich-
tigste Produkt der vier angebotenen Sparoptionen ist SIMPEDES. Dieses Sparprodukt
richtet sich hauptsächlich an kleine Sparer mit einem Bedarf an hoher Liquidität.
Sparer erhalten je nach Umfang des Sparguthabens einen monatlich festgesetzten
Zins. Sie können unbegrenzt Geld abheben und ihr Geld sicher deponieren. SIMPEDES
ist das Produkt schlechthin, das zur guten Bilanz von UDS beiträgt und im Zuge der
Reform speziell entwickelt wurde. Mithilfe von SIMPEDES wird das Mikrofinanzsys-
tem unabhängig. Kleine Sparer bekommen hier das Selbstvertrauen und den Glauben,
das bzw. den sie brauchen, um KUPEDES-Kunde zu werden.

Kanäle: Bingo! (vgl. Abb. 7.7)


Potenzielle Kreditnehmer werden über Mundpropaganda von Freunden und Familien-
angehörigen auf KUPEDES aufmerksam. Anschließend gehen sie zur lokalen Einheit,
um die Möglichkeiten eines Kreditantrags auszuloten. Es gibt ein nationales Netz von
BRI-Einheiten des UDS, die sich hauptsächlich an zentralen (Markt-)Plätzen in den
Dörfern befinden. Der Kreditbeauftragte schätzt die Kreditwürdigkeit ein und rät auf
der Grundlage seiner Einschätzung zum tatsächlichen Kreditantrag oder nicht. Die sorg-
fältige Beurteilung des Kreditantrags ist für die BRI-Einheit selbst von großer Bedeu-
tung. Bei einer Rückzahlungsquote von weniger als 95 % pro BRI-Einheit verliert diese
ihre Kreditwürdigkeit. Außerdem ist ein solches Verfahren charakteristisch für Indo-
nesien. Ein tatsächlicher Antrag wird im Rahmen der Vorabprüfung in 95 % der Fälle
genehmigt. Durch die frühzeitige Beratung zur Kreditwürdigkeit, -bzw. Fähigkeit wird
ein etwaiger Gesichtsverlust vermieden. Das ist wichtig in der Kundenbeziehung (vgl.
Robinson 2002). Der Kredit wird nach der Genehmigung als Bargeld ausgehändigt.
7  Gemeinsame Finanzierung 215

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Einfachheit, Standardisierung und • KUPEDES – auf Anfrage bei der örtlichen
Optimierung von Verfahren und Einheit
Prozessen • SIMPEDES – Kundenbesuch (häufig auf
• Einsatz der Mitarbeiter nach Empfehlung des Gemeinschaftsführers)
Produktivitätsquoten und Werbung über halbjährlich
• Richtlinien bezüglich Kreditrisiko stattfindende Lotterieveranstaltung
(einschließlich Plafond)
Kundenkontakt & Zusatzdienste
Lieferanten & Partner • Direkter Kundenkontakt in den Bankfilialen
• Bankfilialen: Bargeld und die Deponierung des Unterbezirks
von Überschüssen • Kreditbeauftragte, die in ländlichen
• Regionalfilialen von BRI und Stammhaus: Gebieten (Haus-)Besuche machen
Indirekte Aufsicht
• Regierung: Unterstützung beim Start der
Reform
• Bank Indonesia (Zentralbank): Aufsicht
• Weltbank: Unterstützung bei Initiierung
sowie Informations- und Wissenspartner

Abb. 7.7  Betrieb und Kanäle von Bank Rakyat Indonesia


216 J. Kemperman et al.

Bei der Anwerbung von Sparern spielt Beziehungsmanagement eine große Rolle.
Durch die Investition in die Beziehung mit Gemeinschaftsführern wird ersichtlich, wer
innerhalb der Gemeinschaft möglicherweise am Sparen interessiert ist. Darüber hinaus
werden Mitarbeiter in der Erkennung von Sparpotenzial geschult und alle Kreditnehmer
verpflichtet, ein Sparkonto zu eröffnen, wenn sie einen Kredit aufnehmen. Ein wichtiges
Werbeprodukt für das Sparen sind halbjährlich stattfindende Lotterien, die Teil von SIM-
PEDES sind. Jeder Kunde nimmt je nach Umfang seines Sparguthabens mit einer Anzahl
von Losen teil. Die Lotterie findet im Rahmen einer Zeremonie statt, bei der Würdenträ-
ger anwesend sind. Diese Veranstaltungen geben den BRI-Einheiten die Möglichkeit, die
Gemeinschaft über Produkte und Dienstleistungen zu informieren. Die Lotterien bilden
an sich also eine Marketingkampagne.

Betrieb: Brillanz in seiner Einfachheit


Für den Erfolg der Reform des UDS ist eine veritable Umwandlung des Betriebs not-
wendig, bei der aus 3500 verlustbringenden BRI-Einheiten gewinnbringende Einheiten
gemacht werden müssen (vgl. Maurer und Siebel 2001). Zu Beginn bekommt die Bank
finanzielle und Know-How-Unterstützung von der Regierung und der Weltbank. Gegen-
wärtig ist jede BRI-Einheit für ihren eigenen Gewinn sowie für ihre eigene Bilanz, die
Buchhaltung und die Jahresberichterstellung verantwortlich. Auf diese Weise kann pro
BRI-Einheit die Performance gemessen werden. Die Betonung liegt auf Transparenz,
Professionalität und Verantwortung. Das Personal wird umfassend geschult und die Auf-
sichtsstruktur angepasst. Eine BRI-Einheit ist eine kleine Filiale mit maximal elf Mitar-
beitern, die durchschnittlich 4500 Sparer und 700 Kreditnehmer bedient. Die betriebliche
Struktur einer BRI-Einheit ist einfach und standardisiert, wodurch die Einheit übersicht-
lich und skalierbar wird. Die Mitarbeiterstärke einer BRI-Einheit wird anhand der Pro-
duktivität bestimmt. Es wird festgelegt, wie viele Kunden ein Mitarbeiter bedient. Wenn
es mehr Kunden gibt, wird ein zusätzlicher Mitarbeiter eingestellt, bis die maximale
Anzahl von elf Mitarbeitern pro BRI-Einheit erreicht ist. Bei einer größeren Nachfrage
wird eine zusätzliche BRI-Einheit eingerichtet (vgl. Maurer 1999). Darüber hinaus wird
die Methode der Risikoeinschätzung standardisiert. Es werden Richtlinien für die Risi-
koeinschätzung erstellt, und es gibt Kreditplafonds, um ein unverantwortliches Leihen
von Geld und damit unverantwortliche Risiken zu verhindern.
Das UDS ist Teil des Mutterunternehmens BRI. Das Stammhaus überwacht die Per-
formance und nutzt Berichte von Regionalfilialen für Entscheidungen von nationaler
Tragweite. Darüber hinaus gibt es Regionalfilialen, die die Filialen in der jeweiligen
Region beaufsichtigen. Die Filialen auf Bezirksniveau erteilen subventionierte, große
Kredite und sind für die Begleitung und Aufsicht der BRI-Einheiten in ihrer Region ver-
antwortlich. Die BRI-Einheiten und -Filialen arbeiten eng zusammen. So können BRI-
Einheiten Überschüsse zu attraktiven Zinsen bei den Filialen deponieren. Und umgekehrt
liefern die Filialen Bargeld an die BRI-Einheiten, wenn diese liquide sein müssen.
7  Gemeinsame Finanzierung 217

7.2.3 Das Ergebnis: Stabilität und Sicherheit für alle Beteiligten

Durch die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen und das Gewähren von Sicherheit
bekommt das UDS Zuverlässigkeit und Loyalität von seinen Kunden zurück. Sie geben der
Bank Vertrauen, was durch die einfache Tatsache gewährleistet wird, dass sie ihr Darlehen
beim UDS rechtzeitig und diszipliniert zurückzahlen. Es gibt wenige Mikrofinanzorgani-
sationen, die solch außergewöhnlich hohe Rückzahlungsquoten wie die der UDS aufwei-
sen können. Dass die Kunden mit den Dienstleistungen der BRI-Einheiten zufrieden sind,
zeigt sich daran, dass 99 % der KUPEDES-Kunden angeben, KUPEDES habe ihnen bei
der Entwicklung und beim Wachstum ihres Unternehmens geholfen (vgl. Robinson 2002).
Und das Unternehmen wächst immer noch. Trotz des beispiellosen Wachstums hinsicht-
lich der Einheiten – 2009 gab es ca. 4500 Einheiten und 2013 schon über 5000 – werden
noch immer nicht alle Regionen und Menschen erreicht. BRI ist allerdings dabei, diesen
Zustand mit neuen innovativen Lösungen und Projekten zu ändern (vgl. Satria 2014).
Anfänglich waren die Weltbank, die Regierung und der Bankvorstand die Aktionäre.
Zwei Jahre nach der Restrukturierung konnte sich das Unternehmen selbst finanzieren,
sodass sich die Aktionäre zurücklegen. Seit dem sind es die Privataktionäre, die von
Rendite und Wachstum in einem entwickelten Markt profitieren. Gewinn und Return on
Assets (RoA) sind für eine Mikrofinanzorganisation phänomenal. 1996 wird ein Gewinn
von 143 Mio. EUR und ein RoA von 5,7 % realisiert (vgl. Robinson 2004). Der RoA
ist im Jahr 2009 auf nicht weniger als 10,2 % gestiegen (vgl. Siebel et al. 2010). 2003
geht BRI sogar an die Börse. Die Aktien entwickelten sich so gut, dass BRI von Asia
Money als Best Newly Listed Company 2003 ausgezeichnet wurde. Der Bank gelingt es,
größtenteils ausländische Privatinvestoren anzulocken, was zu dem Zeitpunkt einzigartig
in Indonesien ist (vgl. Robinson 2004). Dieses Engagement eröffnet BRI Entwicklungs-
und Wachstumsmöglichkeiten.
Mitarbeiter bekommen Anerkennung und stehen als Arbeitnehmer in der Mikrofi-
nanzbranche mit anderen Unternehmenselementen auf einer Stufe. Das spiegelt sich wie-
der in gleichen Chancen, Löhnen und Aufstiegsmöglichkeiten. Eine gute Performance
der eigenen BRI-Einheit führt zu einem gewinnabhängigen Bonus. Mitarbeiter ihrerseits
bringen Wissen über die lokalen Gewohnheiten, Sprache und Kultur in das Unternehmen
ein. Das ist wichtig für die zielgenaue Bedienung von Kunden und Voraussetzung bei der
Auswahl der richtigen und kreditwürdigen Kunden. Verstehen, wie das Geschäft vor Ort
funktioniert, ist eine essenzielle Voraussetzung, um mit Vertrauen einen Kredit vergeben
zu können. Die Kreditbeauftragten werden darin geschult, einfache Bilanzen und Ein-
kommensübersichten für verschiedene Unternehmen zu erstellen.
Der Einfluss, den das UDS auf seine Kunden, Aktionäre und Mitarbeiter hat, reicht
tief in die Gesellschaft hinein. Sicherheit und Stabilität auf persönlichem Niveau tra-
gen zu Sicherheit und Stabilität in der Gesellschaft bei (vgl. Abb. 7.8). Das wird überra-
schend deutlich während der Asienkrise Ende der 1990er Jahre. Das UDS, das bis dahin
218 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden


• Kunden sind loyal gegenüber der Bank. Weil sie Ersparnisse einzahlen und Kredite
pünktlich zurückzahlen, bleibt die Bank solide. 2013 hat BRI ca. 48 Millionen Kunden, was
einem Marktanteil von 29,5 % entspricht. Es gibt eine hohe Kundenzufriedenheit, die 2012
und 2013 mit dem Diamond-Rang bei den Service Quality Awards belohnt wurde

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch


• Mitarbeiter kommen aus der Umgebung und Anteilseigner
kennen deshalb die lokale Sprache und Kultur • Return on Assets: 5,4 %
• Mitarbeiter erhalten eine Schulung und sind Teil • Eigenkapital: ca. 5,6 Milliarden
der BRI-Familie Darüber hinaus besteht die EUR
Aussicht auf einen gewinnabhängigen Bonus (pro • Gesamtaktiva: ca.
Einheit) 44 Milliarden EUR
• Entwicklung der Mitarbeiterschaft 2012: 72.625, • Gesamtdividendenanteil:
2013: 81.238, 9,4 % Wachstum 388,9 Millionen EUR
• Mitarbeiterfluktuation: 1,9 %

Wert für und durch die Gesellschaft


• Die Verselbstständigung des UDS führt zu einer Verselbstständigung innerhalb der
Gesellschaft
• Die Gelder, die früher von der Regierung dafür zurückgelegt wurden, werden jetzt für die
Ärmsten der Armen eingesetzt
• Die groß angelegte Mikrofinanzierung sorgt für eine Umgebung, in der die Zunahme der
sozialen und politischen Partizipation möglich ist
• Treffer: 613.000 (Google, Suchbegriff: Bank Rakyat Indonesia)
• Viele Auszeichnungen, z. B.: „Weltweit größtes börsennotiertes Unternehmen“, „Bank des
Jahres 2013“, „Bester Wohlstandsschöpfer“

Abb. 7.8  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Bank Rakyat Indonesia


7  Gemeinsame Finanzierung 219

immer das hässliche Entlein von BRI war, mutiert zum stolzen Schwan, der den Betrieb
der Bank aufrechterhält. Anschließend beweist BRI ein weiteres Mal seine Stärke in
Form eines exorbitanten Lernvermögens. Die Erfahrungen, die das Stammhaus in der
Krisenzeit macht, wendet es bei einer Reform der jeweiligen BRI-Einheiten an – mit der
Folge, dass während der weltweiten Finanzkrise 2008 der gesamte BRI-Konzern nur in
geringem Ausmaß von den Auswirkungen der Krise betroffen ist. Dass das UDS beide
Krisen mit Glanz und Gloria übersteht, verstärkt das Vertrauen zwischen Kunden und
Mitarbeitern. Der Grund dafür liegt in der strengen Risikoeinschätzung vor der Kredit-
vergabe und in der Tatsache, dass die Entwicklung der Wirtschaft im unteren Teil der
Wohlstandspyramide nur geringfügig mit der im oberen Teil korreliert. Die Stabilität, die
das UDS auf diese Weise garantieren kann, ist ein großartiges Ergebnis für BRI als Gan-
zes, die Gesellschaft und die Anteilseigner (vgl. Robinson 2004).
Das Besondere am UDS ist, dass es bereits 1986 vollkommen unabhängig Mikrofi-
nanzierung betrieb. Da keine Investitionen und Subventionen seitens der Regierung
notwendig sind, kann der Staat sein Geld für die Hilfe von Menschen ausgeben, die in
der Gesellschaft ganz unten stehen. Die Mikrofinanzierung sorgt für eine Umgebung, in
der die Zunahme der sozialen und politischen Partizipation möglich ist. Darüber hinaus
zeigt das UDS, was Unternehmergeist ist und wie man ihn gestalten kann. Im Gegenzug
bekommt das UDS Unterstützung und Vertrauen von der Gesellschaft zurück. Das bildet
die Grundlage für sein erfolgreiches, brillantes Businessmodell.

7.2.4 Die brillanten Lektionen von Bank Rakyat Indonesia

Wie bereits oben zitiert: „In der Mikrofinanzierung kann man nur dann erfolgreich sein,
wenn man sie liebt“ (vgl. Robinson 2004). Viele der bekannten Mikrofinanzorganisatio-
nen sind abhängig von Subventionen und können nicht selbstständig wirtschaften. Das
Unit Desa System von Bank Rakyat Indonesia, SKS und die Beteiligungen von Lea-
pFrog, die ebenfalls in diesem Buch beschrieben werden, sind die Ausnahmen. Wie ist es
möglich, dass das UDS bereits innerhalb von zwei Jahren kostendeckend arbeiten kann
und seitdem kontinuierlich Gewinne einfährt?

• Mut zum Träumen: Das Geschäftsmodell zeigt, dass die eingehende Untersuchung
der Bedürfnisse von Kunden, das Lernen von anderen Einrichtungen, die Ergründung
der Geschichte und insbesondere das Lernen aus den eigenen Fehlern die Grundlage
für einen erfolgreichen Wandel und disruptive Innovation der bestehenden Produkte
und Businessmodelle bilden.
• Ein skalierbares Konzept erstellen: Selbst mit der Entwicklung der richtigen Produkte
ist es eine große Herausforderung, ein nationales Netz von kleinen lokalen Bankfili-
alen effizient zu betreiben. Das UDS lehrt uns, dass sich die Gründung eines erfolg-
reichen Unternehmens durch Einfachheit auszeichnet und Transparenz essenziell ist.
Dazu werden Sparzeiträume und Kreditlaufzeiten, Zinsen, Schulungen, Berichte und
220 J. Kemperman et al.

Verfahren ebenso standardisiert wie Richtlinien, die den Kompetenzbereich von örtli-
chen Bankfilialen definieren.
• Dem Kunden, der Gesellschaft und den örtlichen Bankfilialen Vertrauen schenken:
Abgesehen von dieser Standardisierung ist die Eigenverantwortung jeder BRI-Einheit
essenziell für den Erfolg. Sich gemütlich zurücklehnen und auf der Erfolgswelle eines
anderen mitreiten ist nicht möglich. Die Existenz, der Arbeitsplatzerhalt und der zu
verdienende Bonus hängen von der eigenen Rentabilität ab.
• Wichtig für den Erfolg ist das menschliche Kapital: Entscheidend sind beispielsweise
der Einsatz und die Ausbildung lokaler Mitarbeiter, die nicht neben, sondern in der
Zielgruppe stehen. Sie kennen die lokalen Märkte, Gebräuche und Sprache und sind
Teil der Gemeinschaft. Sie geben den Kunden Vertrauen und können Kreditrisiken
besser einschätzen.
• Standardkreditplafonds festlegen: Das ist eine ganz besondere Lektion für andere
Mikrofinanzorganisationen. Auf diese Weise werden große, politische und einflussrei-
che Geldgeber aus dem System herausgehalten. Außerdem nimmt das Korruptionsri-
siko ab.
• Für Botschafter sorgen: Zahlreiche Minister und Direktoren hatten wesentlichen Ein-
fluss auf die für die Bank entscheidenden Momente.

7.3 SKS Microfinance

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Chris de Witte, Carsten Brüggerhoff und
Jeroen Kemperman verfasst.

Die arme Bevölkerung zu Unternehmern ausbilden und so die Armut bekämpfen


Prolog
Ameena Bi arbeitete vor drei Jahren als Matratzenmacherin in einem Geschäft und
ihr Mann, Abdul Latif, als Bauarbeiter. Trotz ihres doppelten Einkommens in Höhe
von 120 Indischen Rupien pro Tag (1,50 EUR) hatten sie es mit drei schulpflichtigen
Kindern finanziell schwer. Dann hört Ameena von SKS und wird Mitglied. Sie nutzt
ihr erstes einkommensgenerierendes Darlehen in Höhe von 10.000 Indischen Rupien
(150 EUR). Das Paar eröffnet ein eigenes kleines Geschäft für Matratzen und Kis-
sen. Sie kaufen Baumwolle und Stoff von einem Großhandel in Bangalore und stel-
len einen Assistenten ein, der ihnen bei der Produktion hilft. „Es dauert ungefähr drei
Stunden, um eine Matratze zu machen, und wir verkaufen sie für 600 Indische Rupien
(9 EUR)“, erzählt Abdul. Ein halbes Jahr später läuft das Geschäft so gut, dass Ame-
ena ein mittelfristiges Darlehen in Höhe von 2000 Indischen Rupien (30 EUR) auf-
nimmt und mithilfe ihres Vaters einen kleinen Blumenladen eröffnet. Blumen holt
sie aus dem eigenen Garten und vom Blumenbasar in Kolar. Sie stellt zwei Assisten-
ten ein, die ihr beim Binden von Blumenkränzen helfen. Ameena und Abdul finden
Gefallen an der Sache, und ihr Vertrauen wächst. Ein Jahr später beschließt Ameena,
7  Gemeinsame Finanzierung 221

ihre Geschäftsaktivitäten auszuweiten und ihr zweites einkommensgenerierendes Dar-


lehen in Höhe von 12.000 Indischen Rupien (180 EUR) zu beantragen. Zu diesem
Zeitpunkt verdienen Ameena und Abdul zusammen ca. 600 bis 700 Indische Rupien
(9 bis 10,50 EUR) pro Tag. Ihr Familieneinkommen hat sich mehr als verfünffacht.
„Ich bin sehr froh, dass es SKS gibt. Unser Lebensstandard hat sich verbessert, und
wir werden respektiert. Wir wollen unseren Betrieb noch weiter vergrößern und träu-
men von einem guten Leben für unsere Kinder“, sagt eine dankbare Ameena.4

Einleitung
Viele der ärmsten Menschen auf der Welt leben in Indien. Etwa 800 Mio. Men-
schen leben dort von rund 1 EUR pro Tag. Die ärmsten 5 % der Bevölkerung wer-
den als „ultra-arm“ bezeichnet; es sind Analphabeten mit chronischem Hunger und
einem anhaltend schlechten Gesundheitszustand. Wenn es finanziell wirklich schlecht
läuft, haben die ärmsten Menschen häufig keine andere Wahl als einen Kredit bei
einem Geldverleiher aufzunehmen, der horrende Wucherzinsen zwischen 50 % und
manchmal sogar 100 % verlangt. Auf diese Weise gibt es kein Entkommen aus dem
Armutskreislauf und die Situation wird in vielen Fällen immer schlimmer. Bürokratie,
Korruption, Analphabetismus und logistische Herausforderungen enthalten der armen
Bevölkerung den Zugang zu Krediten zu realen Zinsen vor.5
Die Abhängigkeit von Wucherzinsen und das Risiko einer negativen Armutsspirale
sind vergleichbar mit der Situation der armen Bauern im Deutschland des 19. Jahr-
hunderts.
Dort konnte das Verpfänden einer Kuh mit dem Verlust des Hofs enden. Das
war für Raiffeisen der Grund, Kreditgenossenschaften zu gründen.6 Im Indien des
21. Jahrhunderts gibt es SKS. Dabei handelt es sich um ein gewinnorientiertes Mikro-
finanzinstitut (MFI), das der armen Bevölkerung in Indien mit kleinen Darlehen hilft.
SKS wurde 1998 als gemeinnützige Einrichtung gegründet und ist seit 2005 ein kom-
merzielles Unternehmen. Es wird weltweit für sein innovatives Businessmodell zur
Einführung einer gewinnbringenden Mikrofinanzierung in Indien geachtet. Seit sei-
ner Gründung konzentriert sich SKS auf die Vergabe von Darlehen an Frauen aus den
unteren Schichten der Gesellschaft.7 Bis 2014 hat sich SKS zu einem börsennotierten
Unternehmen mit 5,8 Mio. Mitgliedern und einem ausstehenden Portfolio von über
390 Mio. EUR entwickelt.8

4http://www.sksindia.com.

5http://www.sksindia.com.

6Siehe Fallstudie Raiffeisen von Geelhoed und Geelhoed (2013).


7http://www.microcapital.org/microcapital-brief-sks-microfinance-of-india-completes-36m-securi-

tization/.
8http://www.sksindia.com/operational_information.php.
222 J. Kemperman et al.

Seit über 15 Jahren bietet SKS armen Familien Möglichkeiten, sich selbst Schritt
für Schritt aus der Armut herauszuarbeiten. SKS vergibt Darlehen ausschließlich
für Investitionen zur Gründung oder zum Wachstum eines Betriebs.9 Das Unter-
nehmen ist also nicht ausgerichtet auf Konsumkredite für Menschen zu einem Zeit-
punkt, wo es ihnen schlecht geht, sondern auf Investitionen, die Menschen dabei
helfen zu sorgen, dass es ihnen gut geht. Dank der Kredite von SKS können Men-
schen beispielsweise einen Büffel kaufen, um anschließend Milch zu verkaufen, einen
Kiranaladen z. B. für Tee eröffnen, Süßigkeiten herstellen, Erfrischungsgetränke ver-
kaufen, Gewürze verarbeiten, Kerzen herstellen, ausgefallenes Haar für Perücken
sammeln, Uhren reparieren, einen Gemüseladen führen, Fahrräder herstellen oder
Zimmermanns- und Schweißarbeiten ausführen.
In Gruppen von fünf bis zehn bieten Frauen einander emotionale und finanzielle
Unterstützung. Sie helfen einander, und das Besondere ist, dass sie genauso wie bei
der Grameen Bank auch untereinander für die Rückzahlung des jeweiligen Darlehens
bürgen. Mit gerade einmal 4000 Indischen Rupien (60 EUR) kann eine Darlehensneh-
merin schon einen Kiranaladen eröffnen. Mit 10.000 Indischen Rupien (150 EUR)
kann eine Milchkuh oder eine Nähmaschine angeschafft werden. Viele Frauen wer-
den zu Führungspersonen innerhalb ihrer Gemeinschaft und initiieren Projekte, mit
denen sie allen Einwohnern ihrer Dörfer helfen. Mikrofinanzierungsprojekte fungie-
ren dadurch häufig als Basis für eine breitere strukturelle Entwicklung, einschließlich
der Verbesserung der Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und politischen Aktivität.
Darüber hinaus können Rückzahlungen und bezahlte Zinsen erneut für neue Betriebe
oder Projekte ausgeliehen werden.

7.3.1 Das Fundament: Indische Kultur und westliche


Geschäftsprinzipien

Die treibende Kraft hinter SKS ist Vikram Akula, der das Unternehmen 1998 als gemein-
nützige Einrichtung mit dem Ziel gründet, der armen Bevölkerung in Indien Mikrofinan-
zierungen zu gewähren. Akula selbst wurde im indischen Hyderabad geboren und zieht
als Dreijähriger mit seiner Familie in die USA.10 Im Jahr 1990 schließt er an der Tufts
University einen Bachelor-Studiengang in Philosophie erfolgreich ab. Danach erwirbt er
1996 seinen Master-Abschluss an der Yale University und 2004 seinen Doktortitel an der
University of Chicago. Darüber hinaus arbeitet er eine Zeit lang für McKinsey in Chi-
cago. Bei zahlreichen Familienbesuchen in Indien sieht Akula die allgegenwärtige Armut
dort und beschließt, etwas zu unternehmen, um sie zu besiegen. Inspiriert durch das

9http://www.sksindia.com.

10http://en.wikipedia.org/wiki/Vikram_Akula; http://vikramakula.com/.
7  Gemeinsame Finanzierung 223

Businessmodell der Grameen Bank, die von Muhammad Yunus in Bangladesch gegrün-
det wurde, ruft Akula SKS ins Leben, um die wirtschaftliche Entwicklung für die arme
Bevölkerungsschicht zu fördern. Als Startkapital stehen ihm gerade einmal 41.000 US$
(38.540 EUR) zur Verfügung, die er zuvor bei Freunden und Familienangehörigen
gesammelt hat. Sehr schnell kommt er zu der Erkenntnis, dass die Mikrofinanzierung, so
wie er sie jetzt gestaltet hat, nur sehr schwer ausgeweitet werden kann. Auch hier gilt der
Leitsatz: „Wohltätigkeit ist nicht skalierbar.“ Je mehr Darlehen vergeben werden sollen,
desto mehr Geld wird benötigt, was bedeutet, dass er mehr auf die Gutherzigkeit seiner
Mitmenschen angewiesen ist (vgl. Abb. 7.9).11
Akula beschließt, sich nach westlichen Geschäftsprinzipien zu richten und nimmt mit
seinem marktorientierten Ansatz eine Vorreiterrolle ein (Rhyne 2009, S. 252–257). 2005
wandelt er die Einrichtung in ein gewinnorientiertes Unternehmen um. Sein Konzept
geht zu 100 % auf: Anfang 2006 sind mehrere Private-Equity-Investoren bereit, Geld in
SKS zu investieren. 2010 führt Akula das Unternehmen an die Börse. 2011 beläuft sich
der Börsenwert auf insgesamt 2,2 Mrd. US$ (2,1 Mrd. EUR) und der Kundenbestand
erreicht mit 7,3 Mio. Kunden einen Höchstwert. Das Ergebnis: SKS ist das größte Mik-
rofinanzinstitut Indiens und das zweitgrößte der Welt.12
Der marktorientierte, westliche Ansatz von SKS ist nur zur Hälfte für den Erfolg
verantwortlich. Die Stärke des Unternehmens liegt in der Kombination aus westlichen
Geschäftsprinzipien und indischen Kulturaspekten. Die Vertrautheit Akulas sowohl mit
der amerikanischen als auch mit der indischen Geschäftskultur, die durch die Erfahrung
als Managementberater bei McKinsey verstärkt wird, trägt zweifellos zum Erfolg von
SKS bei. Es ist die indische Version des amerikanischen Traums, sich selbst aus der
Armut herauszuwirtschaften. So entscheidet Akula, Darlehen nur an Frauen zu verge-
ben. Indische Frauen tendieren eher dazu, Geld in einkommensgenerierende Aktivitäten
zu investieren, während indische Männer häufiger Geld für persönliche Konsumbedürf-
nisse ausgeben.13 Durch seine starke lokale Präsenz und ein System, bei dem Gruppen
von Frauen einander unterstützen und gleichzeitig für die Rückzahlung der jeweiligen
Kredite untereinander bürgen, weiß SKS die Gemeinschaft und die soziale Kontrolle in
indischen Dörfern clever für sich zu nutzen.
Als höheres Ziel verfolgt SKS die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen für
Arme und die Nutzung seines Netzwerks, um den Armen Zugang zu weiteren benö-
tigten Waren und Dienstleistungen zu geben. Im Kern bekämpft SKS die Armut mit
den Armen, indem es ihnen die Möglichkeit bietet, unternehmerische Aktivitäten
aufzunehmen und sich damit selbst aus der Armut zu befreien. Das gewagte Ziel ist,

11http://www.microcapital.org/whos-who-in-microfinance-vikram-akula/.

12http://en.wikipedia.org/wiki/Vikram_Akula.

13http://www.microcapital.org/whos-who-in-microfinance-vikram-akula/.
224 J. Kemperman et al.

Markenkern: Mit den Armen die Armut bekämpfen, indem ihnen die
Möglichkeit eingeräumt wird, sich selbst aus der Armut herauszuwirtschaften

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Familien mit niedrigem Einkommen • Ein kommerzielles Mikrofinanzierungsmodell
Finanzdienstleistungen bieten und entwickeln, mit dem 50 Millionen Haushalte in
ihnen so Zugang zu benötigten Indien und in anderen Teilen der Welt bedient
Waren und Dienstleistungen geben werden können

Markenursprung Markenversprechen
• 1998 als gemeinnützige • Finanzdienstleistungen für Arme und ihnen
Einrichtung gegründet Zugang zu anderen benötigten Waren und
• 2005 in ein gewinnorientiertes Dienstleistungen zu geben
Unternehmen umgewandelt
• Als erstes Mikrofinanz-
institut in Südasien an die Börse

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Der richtige Fokus: Kunden zuerst • Kapital
• Die richtigen Mittel: immer ethisch • Kapazität
• Die richtige Methode: konstante • Kosten
Qualität
Markenbeweis
• 99 % Rückzahlungsquote
• Das größte Mikrofinanzinstitut Indiens und
das zweitgrößte der Welt
• Großes Engagement von Mitgliedern

Abb. 7.9  Leitbild und Positionierung von SKS


7  Gemeinsame Finanzierung 225

„ein kommerzielles Mikrofinanzierungsmodell zu entwickeln, mit dem 50 Millionen


Haushalte in ganz Indien und in anderen Teilen der Welt bedient werden können.“14
Die Arbeitsweise ist eingebettet in die drei Kernwerte:15

1. Der richtige Fokus – Kunden zuerst: Produkte, Verfahren und Menschen sind auf die
Schaffung des besten Wertangebots für Kunden ausgerichtet. Dazu gehören u. a. die
respektvolle Behandlung der Kunden, das Verständnis dessen, was Kunden brauchen,
und Transparenz gegenüber Kunden.
2. Die richtigen Mittel – immer ethisch: Ethisches Handeln in allen Beziehungen und
jederzeit, einschließlich der Einhaltung des Gesetzes sowohl dem Wort als auch dem
Geist nach. Das erscheint wie eine grundlegende Mindestanforderung, aber davon ist
man sonst in Indien noch weit entfernt. Dazu gehören u. a. die Ablehnung von Beste-
chungsgeldern und die Nichtbezahlung bzw. Nichtannahme von Provisionen.
3. Die richtige Methode – konstante Qualität: Standardisierte Verfahren ermöglichen es,
die meisten Kunden kosteneffizient zu erreichen. Innovation wird gefördert, sodass
konstante Qualität gewährleistet bleibt.

7.3.2 Das Businessmodell: Frauen die Chance geben, sich als


Unternehmerinnen zu beweisen

Marktsegmente: Frauen aus Familien mit den niedrigsten Einkommen


Geografisch gesehen hat SKS einen enormen Aktionsradius, auch unter Gruppen, die
sehr schwer zu erreichen sind und wo ansonsten keine finanziellen Dienstleistungen
verfügbar sind. SKS nahm seine Geschäftsaktivitäten in der Region von Teangana in
Andhra Pradesh, eine der ärmsten Bundesstaaten Indiens, auf. Gegenwärtig umfasst der
Wirkungsbereich von SKS mehr als ein Lakh (100.000) Dörfer in Indien mit insgesamt
1255 Filialen in 15 Bundesstaaten.16 Damit deckt SKS die ländlichen Regionen sowie
die halbstädtischen und städtischen Gebiete des Landes ab. Das Unternehmen bedient
Frauen mit den niedrigsten Einkommen in zehntausenden von Dörfern und Slums in
Indien. Wir sprechen über ein Potenzial von 800 Mio. Menschen in Indien, die unter
dem Existenzminimum leben. Diese Gruppe von Frauen hat sehr begrenzten Zugang zu
Finanzdienstleistungen anderer Mikrofinanzierer und ist besonders auf Wucherer ange-
wiesen, die somit die wahren Wettbewerber von SKS sind und die es zu bekämpfen gilt.
Dieser Ausschluss führt zu einer Gesellschaft, in der es keine Möglichkeiten gibt, sich
von der Armut zu befreien. SKS will diese Lücke schließen und bringt Finanzdienstleis-
tungen in Gebiete und zu Zielgruppen, wo diese nicht verfügbar sind. In den meisten

14http://www.sksindia.com.

15http://www.sksindia.com.

16http://www.sksindia.com.
226 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Zugang zu Finanzierung, um ein • Mit über 5,8 Millionen Mitgliedern im
strukturelles Einkommen zu generieren Jahr 2014 ist SKS die größte
Mikrofinanzorganisation in Indien
+ Wettbewerber
Prozess Wie bekomme ich es?
• Nähe, im eigenen Dorf und innerhalb • Kommerzielle Banken und andere
der eigenen Darlehensnehmergruppe Mikrofinanzorganisationen (vor allem
gemeinnützige Einrichtungen)
+ Zielgruppe
Gefühl Was fühle ich dabei?
• Frauen aus Familien mit den
• Der Darlehensnehmer fühlt sich
niedrigsten Einkommen in Indien
unterstützt und verantwortlich für sich
selbst und für die Gemeinschaft
Kundeneinblicke
• Frauen aus Familien mit den
niedrigsten Einkommen können mit
Zugang zu Finanzierung einen Betrieb
Preis Was kostet es? gründen und sich aus der Armut
• Zinsen zwischen 21 % und 28 %, was befreien
niedriger ist als bei kommerziellen
Banken
+
Aufwand Was muss ich dafür tun?
• Einen Betrieb gründen und den
wöchentlichen
Rückzahlungsverpflichtungen
nachkommen, die auf die
Einkommensströme abgestimmt sind

+
Risiko Wie unsicher ist es?
Kunst der Positionierung
• Soziales Pfand:
Wenn ich nicht
zurückzahlen kann, Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
verliere ich mein
Gesicht und Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


werde von
Betriebsstärke

Kundeneinblicke
meiner Gruppe
unter Druck
gesetzt

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 7.10  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von SKS


7  Gemeinsame Finanzierung 227

Fällen bedeutet das die Vergabe von kleinen Darlehen an arme Familien, damit sie ein-
kommensgenerierende Waren kaufen und einen kleinen Betrieb gründen können.

Kundenwert: Sich selbst aus der Armut herauswirtschaften (vgl. Abb. 7.10)


SKS glaubt, dass Zugang zu Darlehen für die Unternehmensgründung die wirtschaftli-
chen Chancen der Frauen mit den niedrigsten Einkommen erheblich verbessert und dass
sie auf diese Weise sich selbst und ihren Familien helfen können, den Lebensstandard
zu erhöhen. Das Ergebnis für die Kunden von SKS ist Zugang zu primären Finanzie-
rungsmöglichkeiten, mit denen sie selbst Einkommen generieren und ihre Familie aus
der Armut holen. Das Zins- und Tilgungssystem ist so einfach wie möglich konzipiert,
sodass es für Kunden mühelos zu verstehen ist.17 SKS bietet neuen Kunden ggf. auch
eine Schulung zu diesem Thema an. Für seine Darlehen berechnet SKS Zinsen zwischen
21 % und 28 %.18 Nach westlichem Verständnis ist das hoch, dennoch liegt es weit unter
dem, was diese Gruppen normalerweise bei Banken zahlen müssen. Dabei hat diese Ziel-
gruppe wie so häufig überhaupt keinen Zugang zu Darlehen in der formellen Wirtschaft,
sodass sie auf Wucherer mit viel höheren Tarifen angewiesen ist. Die Zinsen enthalten
u. a. weitere Aufschläge für Risiko und Verwaltung. Es geht um jährliche Darlehen zwi-
schen 10.000 und 14.000 Indischen Rupien (151–211 EUR). In absoluten Beträgen sind
die Kosten äußerst begrenzt und in Bezug auf den indischen Markt und auch auf die
Mikrofinanzierung geht es um einen scharfen Preis.19
In den vergangenen Jahren kam SKS zu dem Schluss, dass diese arme Zielgruppe
mehr benötigt und baute das Angebot um weitere Finanzprodukte aus. So nahm SKS
Lebensversicherungen mit einer Auszahlung zum Todesfall von 5000 bis 10.000 Indi-
schen Rupien (75–151 EUR) zzgl. eines Sparbetrags in sein Portfolio auf. Darüber hin-
aus beteiligt es sich am Einkaufen, Vertreiben und Finanzieren von Produkten für seine
Kunden, darunter Mobiltelefone, Wohnungen, Wassersysteme und Solarzellen (Rhyne
2009, S. 252–257). Es werden Darlehen mit Zinsen vergeben, die vergleichbar sind
mit Zinsen für Geschäftskredite. Das hat auch für SKS einen Nutzen, weil das gekaufte
Objekt als Sicherheit für das im Gegenzug vergebene Darlehen verwendet werden kann.
Zusammen bilden diese Produkte eine zusätzliche Basis für die wirtschaftliche Ent-
wicklung von Kunden, aber auch für die Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes, zum
Beispiel durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, Bildungseinrichtungen und Pflegezen-
tren.20
Die Ultra-Armen, d. h. die ärmsten 5 % der Bevölkerung, brauchen mehr als Finan-
zierung. Für sie hat SKS ein Spezialprogramm aufgelegt, das eine Schulung rund um
die Themen Lebensunterhalt, Einkommensgenerierung, soziale Aspekte und Gesundheit

17http://www.sksindia.com.

18http://www.microcapital.org/whos-who-in-microfinance-vikram-akula/.

19http://www.cnbc.com/id/17844093.

20http://www.sksindia.com.
228 J. Kemperman et al.

beinhaltet. Nach 18 Monaten sind die Teilnehmer ausgebildet und bereit für die reguläre
Mikrofinanzierung. In sehr extremen Fällen bietet SKS auch zinslose Darlehen.21 SKS
praktiziert einen systematischen Ansatz, mit dem es eine sensationelle Rückzahlungs-
quote von über 99 % realisiert. Der Ansatz ist eingebettet in die gemeinschaftsorientierte
Kultur Indiens, in der Ehre und Respekt tief verwurzelt sind.
Die Inverzugsetzung kann dabei zum Verlust der Ehre führen.22 So wird das Risiko
der Negativauslese (Menschen, die leihen, sind Menschen, die mehr Risiko eingehen)
und des moralischen Fehlverhaltens (Menschen gehen mehr Risiko ein, sobald sie
Geld geliehen haben) reduziert. In Wirklichkeit wird ein physisches Pfand, das in die-
ser Gruppe fast nie vorhanden ist, durch ein ‚soziales Pfand‘ ersetzt. Dieser Druck lastet
mitunter so enorm, dass einige Kunden Selbstmord begehen, weil sie ihr Darlehen nicht
zurückzahlen konnten. Genau das ist dann auch die Schattenseite dieses Ansatzes: Die
Nichtrückzahlung stellt für Kunden ein echtes Risiko dar.
SKS senkt das Rückzahlungsrisiko auf der Grundlage der folgenden drei Prinzipien:

1. Mit gegenseitiger Unterstützung und gegenseitigem Druck für Kreditdisziplin sorgen:


Wenn ein einzelnes Gruppenmitglied nicht zurückzahlen kann, hat das Konsequenzen
für die Leihmöglichkeiten der restlichen Gruppenmitglieder. Durch diese informelle
Gemeinschaftsgarantie kommt die Gruppe für gewöhnlich der Zahlung nach und
jedes Mitglied wird zur pünktlichen Zahlung animiert.
2. Fokus auf einkommensgenerierende Darlehen für Haushalte mit niedrigen Einkom-
men. SKS leiht ausschließlich mit dem Ziel, einkommensgenerierende Aktivitäten
aufzunehmen. Dieser Ansatz erhöht die Wahrscheinlichkeit der Rückzahlung und ver-
hindert, dass das Darlehen selbst die Ursache von sich auftürmenden Problemen ist.
3. Zur Risikominderung werden Darlehen nur an Frauen vergeben: SKS leiht Geld aus-
schließlich an Frauen, weil diese risikoaverser als Männer sind.

Kanäle: Darlehen mit sozialem Pfand dank der Einbettung in die indische Kultur
(vgl. Abb. 7.11)
Für die Vergabe neuer Darlehen sorgt SKS für Präsenz in Dörfern und städtischen Gebie-
ten, damit die arme Bevölkerung keine langen Strecken zurückzulegen braucht und ein
wöchentlicher Kontakt zwischen SKS und seinen Darlehensnehmern besteht. Darlehen
werden bei wöchentlichen Treffen in kleinen Summen zurückgezahlt, die auf die Höhe
der Einkommensströme abgestimmt sind. Kleine erste Darlehen basieren auf Kreditdis-
ziplin und kollektiver Verantwortung, wobei Darlehensnehmer sich in kleinen Gruppen
zusammentun. Diese dienen auch dazu, um gemeinsam Erfahrung und Vertrauen für grö-
ßere Darlehen in der Zukunft aufzubauen. Von der Auswahl der Dörfer bis zur Vergabe
von Darlehen folgt SKS einem klaren Bereitstellungsprozess, der sich aus den folgenden

21http://www.sksindia.com.

22http://en.wikipedia.org/wiki/SKS_Microfinance.
7  Gemeinsame Finanzierung 229

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Ergebnis, Prozess, Gefühl,
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Selbstorganisation in Gruppen auf der • SKS wählt Dörfer aus und animiert
Kundenebene Gruppen zu Selbstorganisation
• SKS investiert kontinuierlich in • Mit einem „sozialen Pfand“ kann SKS
Technologie, um Kanäle zu Darlehen an die ärmsten
standardisieren sowie preiswert und Bevölkerungsgruppen in Indien vergeben
skalierbar zu machen
Kundenkontakt & Zusatzdienste
Lieferanten & Partner • SKS hat enorme Präsenz vor Ort und
• SKS finanziert Technologie und bedient mit 1.255 Filialen über
Wachstum mit Mitteln von 100.000 Dörfer in 15 Bundesstaaten
internationalen, großen und • Im Rahmen wöchentlicher Treffen werden
renommierten externen Investoren Engagement und Disziplin geweckt

Abb. 7.11  Betrieb und Kanäle von SKS


230 J. Kemperman et al.

sechs Schritten zusammensetzt: Dörferauswahl, zwei Informationsveranstaltungen, die


Bildung von Gruppen, Gruppenschulungen und regelmäßige zentrale Zusammenkünfte.
Die Tatsache, dass auch in Indien der Durchdringungsgrad der Mobiltelefonie unter
den ärmsten Bevölkerungsgruppen hoch ist, bietet eine zusätzliche Möglichkeit, diese zu
erreichen und zu verbinden. SKS kombiniert und unterstützt den Gruppenansatz sowohl
mit menschlichem Kontakt im eigenen Viertel als auch mit mobiler Technologie. Kon-
krete Beispiele dafür sind die kostenlose Mitglieder-Hotline, die täglich 15 Stunden
erreichbar ist, die Tatsache, dass SKS eine der ersten Mikrofinanzorganisationen ist, die
ihre Außendienstmitarbeiter mit Handcomputern ausgestattet hat sowie ein Pilotprojekt,
bei dem die Verwendung von Mobiltelefonen für Banktransaktionen im Bundesstaat
Andhra Pradesh ermöglicht wird (Rhyne 2009, S. 252–257). Die Art und Weise, mit der
Technologie genutzt wird, ist tief im Unternehmensbetrieb verankert.

Bereitstellungsprozess von SKS


1. Dörferauswahl: Bevor Darlehen vergeben werden, werden Dorfumfragen
durchgeführt, um sich eine Übersicht über örtliche Bedingungen wie Popula-
tion, Armutsniveau, Erreichbarkeit, politische Stabilität und Mittel zur Siche-
rung des Lebensunterhalts zu verschaffen.
2. Informationsveranstaltung: Wenn ein Dorf ausgewählt wurde, stellt SKS seine
Mission, Arbeitsweise und Dienstleistungen der Gemeinschaft vor.
3. Kleine Informationsveranstaltung: Für interessierte Frauen wird eine weitere
Veranstaltung anberaumt.
4. Gruppenbildung: Frauen bilden selbstständig Gruppen mit jeweils fünf Mitglie-
dern, um füreinander zu bürgen. Die Erfahrung lehrt, dass Gruppen von fünf
Personen klein genug sind für Effektivität in Form von Gruppendruck und groß
genug sind, um füreinander einzustehen, wenn ein Mitglied Hilfe braucht.
5. Obligatorische Gruppenschulung: Dabei handelt es sich um eine Schulung, bei
der Prozesse und Verfahren erläutert werden und die Mitglieder mit den Grund-
sätzen der Kreditdisziplin vertraut gemacht werden. Erst nachdem die Frauen
den Test bestanden haben, können sie offiziell Mitglied werden und ein Darle-
hen bekommen.
6. Zentrale Zusammenkünfte: Drei bis zehn Gruppen kommen jede Woche frühmor-
gens vor ihrer Arbeit zusammen, um Finanztransaktionen abzuwickeln. Darüber
hinaus werden neue Anfragen bearbeitet und gemeinsame Probleme besprochen.

Betrieb: Mangel mit Fokus auf Kapital, Kapazität und Kosten überwinden
Das Businessmodell von SKS basiert auf Skalierbarkeit. Bei der Umsetzung des Busi-
nessmodells hat SKS eine Reihe von Hindernissen identifiziert, die der Skalierbarkeit im
Weg standen. SKS hat dabei nach innovativeren Lösungen gesucht, um diesen Mangel
zu überwinden. Diese Lösungen basieren auf den drei Ks: Kapital, Kapazität, Kosten.23

23http://www.sksindia.com
7  Gemeinsame Finanzierung 231

SKS entwickelt somit ein Businessmodell, bei dem Best Practices aus der internationalen
Wirtschaft zum Einsatz kommen. Diese Best Practices wurden bis dahin noch nicht im
Mikrofinanzsektor angewendet.

• Kapital: Viele Menschen glauben, dass der Mikrofinanzsektor Social Business ist,


d. h., dass Investoren zwar ihr Geld zurückbekommen, dafür aber auf Gewinne ver-
zichten. SKS denkt darüber anders und will Investoren sehr wohl Gewinne bieten. Mit
diesem Konzept macht SKS im Jahr 2005 den Schritt von einer gemeinnützigen Ein-
richtung hin zu einem gewinnorientierten Unternehmen mit kommerziellen Investo-
ren. Dieser Ansatz findet sich heute beispielsweise im brillanten Businessmodell des
Investitionsfonds LeapFrog wieder.
• Kapazität: Eine schnelle Ausweitung der Geschäftsaktivitäten führt zu Kapazitätspro-
blemen innerhalb des Unternehmens. Anders als der Rest der Branche orientiert sich
SKS an einer Strategie der Standardisierung von Produkten und Prozessen. Durch die
Implementierung von einer werkseitigen Arbeitsweise und Schulungsmodellen für
Mitarbeiter und Kunden kann SKS mit seinen Standards den Aktionsradius schnell
ausweiten, ohne sich kapazitätsmäßig zu übernehmen.
• Kosten: SKS glaubt, dass niedrige Transaktionskosten der Schlüssel für die Auswei-
tung der Geschäftsaktivitäten sind. Dabei versetzt Technologie das Unternehmen in
die Lage, Prozesse schneller und kostengünstiger zu machen und so mehr Kunden zu
erreichen. Anders als der Rest der Branche hat SKS von Beginn an in die Optimie-
rung von Prozessen investiert und war eines der ersten Unternehmen, das eine eigene
Plattform für die Bedienung seiner Kunden entwickelte. Die Systeme basieren auf
Benutzerfreundlichkeit, Schnelligkeit und Genauigkeit. Sie sorgen dafür, dass Daten-
quellen miteinander verknüpft werden können. Dank hochmoderner IT kann SKS
wachsen und gleichzeitig die Übersicht bewahren.

Im Vergleich zu kommerziellen Banken, die wichtige Player auf dem indischen Mikro-
finanzmarkt sind, ist SKS erheblich effizienter, was den Wirkungsbereich, die Nutzung
der Automatisierung und die Einrichtung von Prozessen betrifft. Gründer Akula glaubt,
dass der Erfolg von SKS auch der Nutzung von fortschrittlicher Technologie für die
Registrierung und die Gewinnung von Echtzeit-Daten zu verdanken ist.24 Bereits im
Jahr 2000 leistet SKS Pionierarbeit mit IT-Systemen, indem es als erstes Unternehmen
eine eigene Mikrofinanzierungsplattform für die Verwaltung von Darlehen und Kunden-
daten entwickelt. Mithilfe externer Investoren investiert SKS anschließend massiv in IT,
um die Geschäftsaktivitäten auszuweiten und zu verstärken. 2009 arbeitet SKS an einem
innovativen IT-System, u. a. für Data Warehousing, Business Intelligence und die Vernet-
zung der SKS-Filialen in Indien.25 Inzwischen unterhält SKS verschiedene strategische

24http://www.microcapital.org/whos-who-in-microfinance-vikram-akula/.

25http://www.sksindia.com.
232 J. Kemperman et al.

­ artnerschaften, u. a. mit Microsoft, Wipro, Reliance, HCL und Sify. Dank der frühen
P
und kontinuierlichen Investitionen in Technologie ist SKS in der Lage, Prozesse zu opti-
mieren und Kosten zu senken. Angesichts der niedrigen Beträge, um die es bei Darlehen
geht, ist das ein bedeutendes Element für die Skalierbarkeit der Millionen kleiner, von
SKS verarbeiteter, Transaktionen.26

7.3.3 Das Ergebnis: Kapazitätsvergrößerung in


selbstverstärkenden Wachstumsspiralen

Das Wachstum von SKS zeigt, dass das Businessmodell funktioniert. SKS ist heute die
größte Mikrofinanzorganisation in Indien und die zweitgrößte der Welt. Während die
Organisation 2004 nur 24.800 Mitglieder (Rhyne 2009, S. 252–257) und 2005 bei der
Umwandlung von einer gemeinnützigen Einrichtung in ein gewinnorientiertes Unterneh-
men nur 120.000 zählte, stieg diese Zahl 2001 auf 7,3 Mio. Darlehensnehmer mit einem
Betrag von mehr als einer halben Milliarde ausstehender Darlehen (vgl. SKS India
2009). Zwischen 2008 und 2014 hat SKS ca. 30 Mio. Darlehen an seine Kunden verge-
ben. Das Engagement von Kunden lässt sich an der beispiellos hohen und stabilen Rück-
zahlungsquote von über 99 % bei Darlehen ohne Sicherheit erkennen.
Die gleichen sensationellen Wachstumszahlen sind auch bei den Investitionen und
beim Betriebswert zu sehen. Bei der ersten Investition 2006 geht es um einen Betrag
von 2,5 Mio. US$ (2,3 Mio. EUR), doch schnell folgt eine zweite Investitionsrunde
mit 11,5 Mio. US$27 (10,8 Mio. EUR), an der sich u. a. Sequoia Capital (bekannt
durch Investitionen in Apple, Oracle, Cisco Systems, Yahoo!, Google und YouTube)
mit 6,5 Mio. US$ (6,1 Mio. EUR) beteiligt. Das ist die größte Investition in Mikrofi-
nanzierung eines kommerziellen Unternehmens bis zu dem Zeitpunkt (Rhyne 2009,
S. 252–257). In den darauffolgenden Jahren folgen noch weitere Investitionen von kom-
merziellen Unternehmen, darunter auch die Versicherungsgesellschaft Bajaj Allianz.28
Selbst nach der Pleite von Lehman Brothers im Jahr 2008 schafft es SKS, das Interesse
von Private-Equity-Unternehmen zu wecken und Investitionen in Höhe von 75 Mio. US$
(70,5 Mio. EUR) u. a. von Sandstone Capital, Kismet Capital und der Silicon Val-
ley Bank zu sammeln. Mit diesem neuen Impuls und anderen großen Investoren wie
Goldman Sachs wächst SKS kontinuierlich. 2012 ließ die finanzielle Performance von
SKS zu wünschen übrig, diese verbesserte sich jedoch schnell. Der Börsenwert beträgt
Ende 2014 rund 1 Mrd. EUR bei einem Gewinn von 15 Mio. EUR im Wirtschafts-
jahr 2013/2014, woraus ersichtlich wird, dass das Potenzial von SKS durch Investoren
immer noch sehr stark eingeschätzt wird.

26http://www.sksindia.com.

27http://www.cnbc.com/id/17844093.

28http://en.wikipedia.org/wiki/SKS_Microfinance.
7  Gemeinsame Finanzierung 233

SKS zeigt, wie ein Businessmodell genutzt werden kann, um die Welt besser zu
machen. Die Wirkung der geschäftlichen Aktivitäten von SKS bleibt nicht auf direkte
Auswirkungen auf Kunden, Investoren und Arbeitnehmer beschränkt. Indirekt gibt
es auch einen gesellschaftlichen Effekt, von dem die gesamte Gemeinschaft profitiert.
Einige Frauen sind mit ihrem Betrieb so erfolgreich, dass sie Mitarbeiter einstellen und
Arbeitsplätze schaffen. Darüber hinaus führt mehr wirtschaftliche Aktivität zu einer bes-
seren Bildung, einer besseren Gesundheitsversorgung und zu mehr politischer Aktivität.
SKS selbst trägt auch als Arbeitgeber direkt zur Beschäftigungslage in Indien bei. Bei
der Gründung im Jahr 1998 arbeiteten nur eine Handvoll Menschen bei SKS, wohinge-
gen das Unternehmen heute über 20.000 Mitarbeiter beschäftigt. Um weiterzuwachsen,
ist SKS stets auf der Suche nach neuem Know-how und gut ausgebildeten Mitarbeitern.
Viele Mitarbeiter von SKS kommen von Managementschulen, aus der Wirtschaft oder
von Mikrofinanz- und Entwicklungsorganisationen.29 Auf Mitarbeiterebene bietet SKS
seinen Beschäftigten Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln und sich Wissen über die
Mikroversicherung anzueignen. Lernen ist dabei ein kontinuierlicher Prozess, bei dem der
Schwerpunkt auf die Aneignung neuer Fähigkeiten gelegt wird (vgl. SKS India 2009).
Für diese Leistungen bei SKS wurde Gründer Akula mit diversen Preisen ausge-
zeichnet. So wurde er 2006 vom TIME Magazine zu einem der hundert einflussreichsten
Menschen der Welt gekürt und mit dem Schwab Social Entrepreneur of the Year in India
Award und dem Ernst & Young Entrepreneur of the Year in India Award für die Unterneh-
mensgründung 2006 und die Unternehmensumwandlung 2010 ausgezeichnet. Darüber
hinaus wurde Akula 2008 zum World Economic Forum’s Young Global Leader erklärt.30
Soll man deshalb alles nur durch die rosarote Brille sehen? Natürlich nicht. Der
Erfolg von Mikrofinanzierungen im Allgemeinen und der von SKS ist eine Herausfor-
derung. Die Umwandlung von einer nicht-staatlichen Organisation in eine Mikrofinan-
zorganisation auf kommerzieller Basis verläuft nicht ohne Probleme. Aufgrund seines
Businessmodells muss SKS sowohl seinen Kunden als auch seinen Investoren einen
Mehrwert bieten. Hinzu kommt, dass die schnellen Wachstumsspiralen Erwartungen
für die Zukunft wecken, die auch eine Gefahr in sich bergen. Kritiker verweisen dabei
auf die Risiken, die sich ergeben, wenn man kommerzielle Interessen über Kundeninte-
ressen stellt. Durch eine höhere Effizienz auf dem Mikrofinanzmarkt werden außerdem
die Margen höher, was wiederum die Frage aufwirft, ob mit der Mikrofinanzierung der
ärmsten Bevölkerungsschichten tatsächlich so viel Geld verdient werden darf. Diese
Fragestellung ist sehr real. Einige Mikrofinanzorganisationen haben in den ersten zehn
Jahren des 21. Jahrhunderts ihre Zinsen auf über 40 % erhöht, während ihre Betriebskos-
ten weniger als 20 % betragen. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, hat die indische
Regierung in den vergangenen Jahren in einer Reihe von Regionen Veränderungen vor-
genommen wie beispielsweise Registrierungspflicht, Begrenzung von Zinstarifen sowie
Anforderungen für die Zurückhaltung von Kapital und Maßnahmen für risikobehaftete

29http://www.sksindia.com.

30http://www.echoinggreen.org/fellows/vikram-akula.
234 J. Kemperman et al.

Darlehen. Diese Veränderungen werden auch durch Auswirkungen auf etablierte Mik-
rofinanzorganisationen und schnell wachsende Organisationen wie SKS, die viel neues
Kapital benötigen, angewandt. Wegen der neuen Kapitalanforderungen musste SKS
einige Restrukturierungen durchführen und sein Portfolio verkleinern (vgl SKS India
2011). Um der neuen Gesetzgebung zu folgen, hat SKS wichtige Schritte unternommen,
z. B. die Konsolidierung bestehender Darlehen und die Diversifikation mit Darlehen, bei
denen das Objekt, in das investiert wird (z. B. ein Mobiltelefon oder ein Geschäft), auch
als Sicherheit fungiert. Diese restriktive Kapitalvergabe und die anderen Maßnahmen
sind prinzipiell sinnvoll, um den Sektor gesund zu halten und Kontinuität sicherzustellen.
Auf diese Weise wird verhindert, dass es zu einem Wettbewerb bei der Zurückhaltung
der niedrigsten Reserven kommt und dass die Beteiligten zu hohe Risiken eingehen.
Die effektive Marketingformel von SKS für das Verfahren von der Auswahl der Dör-
fer bis zur Kreditvergabe birgt aber auch für die Zukunft eine Reihe von Risiken, die sich
durch die zugenommene Vielfalt an Produkten verstärken werden (Rhyne 2009, S. 252–
257). Wie wir in den vergangenen Jahren auch im Westen gesehen haben, birgt das in
Kombination mit den Wachstumserwartungen die Gefahr, dass ein angebotsorientiertes
Modell über ein nachfrageorientiertes Modell gestellt wird, bei dem Kunden einen Kre-
dit bekommen, der nicht für sie geeignet ist. Weiteres Wachstum kann also zu Lasten
einer konservativen Politik gehen, die darin besteht, nur das Geld zu verleihen, das Men-
schen problemlos verdienen und zurückzahlen können, indem sie in ihr eigenes Unter-
nehmen investieren. Wie alle anderen erfolgreichen brillanten Businessmodelle plädiert
auch SKS dafür, den Arbeitsauftrag kontinuierlich zu erneuern und als Unternehmen zu
wachsen, ohne dabei seinen Ursprung aus den Augen zu verlieren (vgl. Abb. 7.12 und
7.13).

7.3.4 Die brillanten Lektionen von SKS

SKS hat eine Reihe einzigartiger Entscheidungen getroffen und umgesetzt, die zur Über-
windung von Mangel, der Schaffung von Skalierbarkeit und der sensationellen Rückzah-
lungsquote von 99 % geführt haben. Was kann man davon lernen?

• Ein ‚soziales Pfand‘ schaffen, wenn kein physisches Pfand vorhanden ist: Durch die
Kombination westlicher Unternehmensprinzipien mit der indischen Kultur und die
Verwendung indischer Kulturaspekte hat SKS eine Alternative zum physischen Pfand
gefunden, das bei der armen Zielgruppe meistens nicht vorhanden ist. Indem das
Unternehmen den Fokus auf lokale Dörfer richtet und es Frauen in kleinen Gruppen
füreinander bürgen lässt, bedient es sich der sozialen Kontrolle als ‚soziales Pfand‘.
• Geld für Investitionen statt für Konsum verleihen: Konsumkredite sind häufig die
Quelle einer Abwärtsspirale mit zunehmenden Schulden. SKS fördert den Unterneh-
mergeist und bietet Darlehen für die Aufnahme einkommensgenerierender Aktivitä-
ten. Wöchentliche Rückzahlungen sind auf die Höhe der von den Kunden zukünftig
7  Gemeinsame Finanzierung 235

Wert durch Kunden


• 30 Millionen Darlehen zwischen 2008 und 2014 vergeben. Auf dem Höhepunkt im
Jahr 2011 gibt es 7,3 Millionen Darlehensnehmer und einen Betrag von mehr als einer
halben Milliarde Euro an ausstehenden Darlehen
• Frauen aus Familien mit den niedrigsten Einkommen gelingt es, einen eigenen Betrieb
zu gründen und strukturell Einkommen zu generieren
• Das Kundenengagement ist mit einer Rückzahlungsquote von 99 % sehr beeindruckend

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wertangebot und Wertangebot für und durch Anteilseigner


durch Mitarbeiter • Technologisches Know-how von Anteilseignern hat enorm
• SKS selbst sorgt für zur Standardisierung und Skalierbarkeit beigetragen
Beschäftigung für mehr als • Kapitalanlagen, die begrenzt mit der Konjunktur
20.000 Menschen westlicher Märkte korrelieren und damit das Risiko
• Investitionen in Menschen und streuen
ihre Entwicklung • Börsenwert Ende 2014: ca. 1 Milliarde EUR
• Gesellschaftlich relevante Arbeit • Marktkapitalisierung: 0,7 Milliarden EUR
• Die Jahresberichte von 2008 bis 2014 zeigen, dass
die Dividenden nicht ausgezahlt wurden, sondern
erneut investiert wurden, um Wachstum zu realisieren

Wert für und durch die Gesellschaft


• Der gesellschaftliche Effekt ist eine Wachstumsspirale, bei der erfolgreich gegründete
Betriebe von Kunden wiederum Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft stärken
• Mehr wirtschaftliche Aktivität führt zu einer besseren Bildung, einer besseren
Gesundheitsversorgung und zu mehr politischer Partizipation
• Treffer: 2.180.000 Treffer
• Gründer Vikram Akula wird zu einem der 100 einflussreichsten Menschen erklärt (2006)
• Excellence Award (Grameen Foundation USA Microfinance Practitioner Award for
Excellence, 2005)
• Größte Mikrofinanzorganisation Indiens und zweitgrößte der Welt (2009, MIX Market)

Abb. 7.12  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von SKS


236 J. Kemperman et al.

9000
Mitglieder (x 1000) Anzahl vergebener Darlehen (x 1000) Brutto-Portfolio (Mil. Euro)
8000
7397 7307
7090
6780
7000

5783
6000
5351
5021
5000 4700

4133
3953
4000

3000 2730

3953
1879
2000
1160
1000 540 513
307 389
131 208 294

0
GJ 08 GJ 09 GJ 10 GJ 11 GJ 12 GJ 13 GJ 14
GJ= Geschäftsjahr

Abb. 7.13  Wertschöpfung von SKS (mit Portfolio auf Basis von Kursen 2014). (Aktionärs-
wert: Bloomberg, Annual Reports 2008–2014, sksindia.com, Wert für und durch die Gesellschaft:
Google, sksindia.com)

generierten Einkommen abgestimmt. Mit diesem Konzept generieren Kunden selbst


Cashflow und verfügen über die Mittel, um Zins- und Tilgungszahlungen zu tätigen.
Erfolgreiche Betriebe generieren darüber hinaus zusätzliche Arbeitsplätze, sodass sich
Wohlstand auch außerhalb der Familie etabliert. Abgesehen von Wirtschaftswachstum
entsteht eine Aufwärtsspirale mit besserer Bildung, besserer Infrastruktur und bes­
serer medizinischer Versorgung. Kurzum, die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind
enorm.
• Die Zielgruppe auswählen und dem eigenen Businessmodell anpassen: SKS stellt
fest, dass Frauen innerhalb seiner Zielgruppe weitsichtiger sind als Männer. Wo
Frauen den zukünftigen Wohlstand ihrer Familie im Blick haben, tendieren Männer
eher dazu, sich kurzfristige Konsumbedürfnisse zu erfüllen. Indem SKS Geld aus-
schließlich an Frauen aus Haushalten mit niedrigem Einkommen verleiht, nutzt es
diesen geschlechtsbedingten Unterschied auf clevere Weise. Die dabei von SKS ins
Auge gefasste Zielgruppe ist ungeschult. SKS führt potenzielle Kunden in die Grund-
prinzipien der Finanzierung ein, prüft sie im Rahmen von Tests, lässt Menschen
anhand kleiner erster Darlehen Erfahrungen sammeln und organisiert wöchentliche
Dorfzusammenkünfte, bei denen Rückzahlungen getätigt und eventuell neue Darlehen
vergeben werden. So erschafft SKS Kunden, die das Businessmodell vorleben.
• Mangel mit Skalierbarkeit und Fokus auf Kapital, Kapazität und Kosten überwinden:
Obwohl das Businessmodell von SKS dem von anderen gemeinnützigen Einrich-
tungen ähnelt, hat das Unternehmen sein Konzept skalierbar gemacht, indem es das
Interesse von Private-Equity-Investoren geweckt und neben einer gesellschaftlichen
7  Gemeinsame Finanzierung 237

und sozialen Perspektive auch eine finanzielle Perspektive geboten hat. Von Anfang
an hat SKS massiv in Standardisierung, Automatisierung und Technologie investiert.
Weil die Transaktionsbeträge relativ klein sind, ist es von essenzieller Bedeutung, die
Transaktionskosten niedrig zu halten und den Aktionsradius ausweiten zu können.

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Gemeinsame Investition
8
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Thomas Winkler

Geld, das man nicht sofort braucht, kann man auf ein Sparkonto einzahlen. Die
Bank kann es dann wiederum verleihen und zahlt Zinsen dafür. Wie bereits in Kap. 6
beschrieben, wird das Geld damit für einen gewissen Zeitraum bewegt. Da sich die
Zinsen in der Zukunft ändern können, weiß man als Sparer vorher nicht immer, was
am Ende des Sparzeitraums als Rendite herauskommt. Die Bank nimmt die Rolle des
Vermittlers ein und sucht ein anderes Ziel, für das das Geld eingesetzt werden kann.
Als Sparer bei einer Bank weiß man normalerweise nicht, an wen das Geld ausgeliehen
wird und was dieser jemand damit tut. So kann es sein, dass man sein Geld doch nicht
einfach bei einer allgemeinen Bank anlegen möchte, die es dann wiederum investiert,
sondern dass man es lieber selbst in etwas Bestimmtes investieren möchte. Das ist über
ein Sparkonto oder ein anderes Produkt möglich, dann allerdings mit einer Zweckbin-
dung. So wie auch die anderen Produktgruppen ist das keine Raketentechnologie und
im Grunde ziemlich einfach. Fachleute aus dem Finanzwesen können das Folgende also

Diese Einleitung basiert u. a. auf dem Beitrag von Job Daemen, dem unser Dank dafür gilt!

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
T. Winkler 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 239
J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_8
240 J. Kemperman et al.

gerne überspringen. Für die anderen folgen an dieser Stelle einige Betrachtungen zum
Thema Investieren.
Warum sollte man nicht einfach sparen ohne Zweckbindung? Unter Umständen gibt
es ein spezifisches Ziel, für das gespart wird und das besondere Anforderungen stellt.
Möglicherweise möchte man sein Geld am liebsten in eine bestimmte Aktivität investie-
ren, weil man denkt, dass das mehr Rendite bei vergleichbarem Risiko bringt. Es kann
auch sein, dass das Geld – solange man es noch nicht selbst braucht – in ein bestimmtes
Unternehmen investiert wird, dem man sich verbunden fühlt. Diese einfache und nicht
erschöpfende Auflistung von Betrachtungen ist bereits die Grundlage für eine bunte
Palette an Investitionsmethoden. Ein interessantes Phänomen dabei ist, dass die Welt mit
dem Aufkommen der sozialen Medien wieder etwas kleiner geworden ist, sodass Kun-
den jetzt noch einfacher aussuchen können, in was sie investieren wollen. Beispielsweise
ist es ziemlich einfach, herauszufinden, ob es vielversprechende, börsennotierte, mittel-
große Unternehmen in China oder Indien in den Bereichen Softwareentwicklung, Solar-
energie oder Mobiltelefonie gibt. Wissen über internationale Zinstarife und Obligationen
sind buchstäblich in Reichweite. Transaktionen können automatisiert ausgeführt werden,
d. h., dass man Geld ganz einfach ohne hohe Kosten anlegen kann. Es besteht weniger
die Notwendigkeit, mit einem Finanzdienstleister als Vermittler zu arbeiten – sowohl
hinsichtlich der Schaffung von Wissen als auch hinsichtlich pragmatisch-technischer
Möglichkeiten – entsprechend stehen die Transaktionskosten und die dazugehörigen
Businessmodelle enorm unter Druck.1 Diese Entwicklungen sorgen dafür, dass Märkte
den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Funktionieren besser gerecht werden, denn
Liquidität, Transparenz und Legitimität nehmen dadurch zu.

In ein Ziel investieren


Beim Sparen und Investieren für ein Ziel geht es als Privatperson beispielsweise
um Geld für die Rente, um Geld für den Kauf eines Hauses oder um Geld für einen
bestimmten Gegenstand wie ein Auto oder ein Kunstwerk, das mehr Geld kostet als
gerade verfügbar ist. Wenn man einen Gegenstand haben will, legt man unter Umstän-
den dafür regelmäßig Geld zur Seite und kauft ihn, wenn man den Gesamtbetrag für den
Kauf gespart hat. Es geht aber auch anders: Man kauft den Gegenstand sofort und zahlt
ihn wie in Kap. 7 beschrieben anschließend ab.
Letztendlich gibt es auch noch eine Lösung irgendwo dazwischen: Man bekommt einen
Gegenstand, nachdem man einen Teil der Kaufsumme bezahlt hat und zahlt den Rest erst
später ab. Hier gibt es noch eine besondere Variante, bei der gleichzeitig Geld ausgeliehen
und gespart wird. In einer perfekten Welt (z. B. ohne Steuern) würde diese Methode sehr
von Nachteil sein, weil man mehr Zinsen zahlen muss als man tilgt. Dann heißt es, das ganze
Geld, das man nicht sofort benötigt, für die Tilgung aller Schulden einsetzen und dann die
Summe sparen oder leihen, um so mit einer ‚leichten Kapitalbilanz‘ durchs Leben zu gehen.

1Siehe das Werk von Nobelpreisträger Robert C. Menton und zum Beispiel Mason, Menton,
Perold, Tufano (1995) für weitere Einblicke in die Optionstheorie und Finanztransaktionskosten.
8  Gemeinsame Investition 241

Tatsächlich wird das zweckgebundene Sparen für bestimmte Ziele oder das ­Leihen
von Geld für bestimmte Zwecke gefördert. So gilt für sehr viele Haushalte in den Nieder-
landen, dass sie Geld für die Rente gespart haben und gleichzeitig Schulden in Form einer
Hypothek haben, mit der sie zukünftig das Haus abzahlen, während sie auch noch für die
Hypothek sparen, diese jedoch jetzt nicht tilgen, weil sie dadurch Steuer­vergünstigungen
verlieren würden. Geld für die Rente an die Seite zu legen und ein Haus zu kaufen sind
Ziele, die gesellschaftlich und politisch bewusst gefördert werden. Aber es gab beispiels-
weise Anlageprodukte mit geliehenem Geld, bei denen im Grunde nur die Steuervorteile
zwischen Anbieter und Kunden aufgeteilt wurden. Diese Steuervorteile hätte es ohne ein
Steuersystem nicht gegeben. Das macht die ganze Sache ziemlich kompliziert.
Bei einem Unternehmen kann es unter Umständen vorkommen, dass das Geld geparkt
wird, aber dass es wieder zur Verfügung stehen muss, um eine bestimmte Rechnung in
der Zukunft bezahlen zu können, z. B. für ein Gebäude oder für ein riesiges Schiff, das
bestellt wurde, oder für Dividenden oder Gehälter, die noch ausgezahlt werden müs-
sen. Es kann auch sein, dass jetzt schon bekannt ist, was in der Zukunft erworben wer-
den muss, aber der Preis noch nicht feststeht, z. B. wenn es um Rohstoffe wie Getreide
oder Öl geht. Dafür wurden wiederum spezielle Konstruktionen geschaffen, sogenannte
Futures, mit denen man zu einem aktuell festgelegten Preis ein Produkt kauft, das in der
Zukunft geliefert wird. Im Prinzip ist bei diesen Futures alles sehr gut geregelt, denn der
Lieferant trägt das umgekehrte Risiko. Er muss etwas liefern und ihm entstehen Kosten,
wobei er noch nicht weiß, was ihm das später einbringt. Natürlich gilt es vorsichtig zu
sein, weil das Risiko niedriger ist, solange es um die Menge geht, die später benötigt
wird, und weil das Risiko größer wird, wenn man Futures für weniger oder mehr erwirbt.
Dann ist es Spekulation. Zwischen beiden Möglichkeiten befindet sich eine Grauzone,
denn wenn man für einen längeren Zeitraum im Voraus einkauft, ist man danach beson-
ders vorsichtig – je nachdem wie sich der Preis schätzungsweise entwickelt. Das Sparen
für und Investieren in ein bestimmtes Ziel ist im Grunde sehr einfach, und es ist hilf-
reich, nach bestimmten Methoden zu suchen, mit denen man so sicher wie möglich sein
kann, dass man sein Ziel auch erreicht. Gleichzeitig kann das zu zahlreichen Abwandlun-
gen führen, was die Sache komplexer macht und unter Umständen den Spekulanten in
die Hände spielt, wenn man das Ziel aus den Augen verliert.

In das beste Rendite-Risiko-Verhältnis investieren


Ein guter Grund, Geld nicht auf ein Sparkonto einzuzahlen, ist die erwartete und
gewünschte Rendite. Beim Schreiben dieses Satzes sind die Zinsen für Spargeld in den
Niederlanden und anderen europäischen Staaten auf einem historisch niedrigen Niveau.
Nach der Gutschrift der Zinsen und dem Abzug der Vermögenssteuer ist das Guthaben
auf dem Konto geschrumpft und wenn dann noch die Inflation hinzukommt, ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass das Guthaben weniger wert ist, auf jeden Fall sehr groß. Im Laufe der
Zeit machte man sich auf die Suche nach rentableren Investitionen als Spargeld. Dabei
versuchen Menschen natürlich Risiken zu vermeiden. Das bedeutet, dass die erwartete
Rendite im höheren Bereich sein muss, bevor sie bereit sind, weitere Risiken einzugehen.
242 J. Kemperman et al.

Der Marktmechanismus muss also dafür sorgen, dass mit Investitionsmöglichkeiten, die
weniger risikobehaftet sind, einfacher und preiswerter Geld verdient werden kann und
dass man dafür tatsächlich weniger Zinsen zahlen muss. Ein risikofreudigeres Unter-
nehmen erzielt ja nicht automatisch mehr Rendite. Im Prinzip würde das bedeuten, dass
Unternehmen mit mehr Risikobereitschaft und geringerer erwarteter Rendite keine Finan-
zierung finden, doch reine Informationen sind ja eben nicht alles. Hohe erwartete Ren-
diten hatten über Jahrhunderte hinweg eine enorme Anziehungskraft, weshalb sie eine
schier unerschöpfliche Quelle für Anekdoten, beeindruckende Erzählungen, Hochsta-
pelei, Drama und Tragik sind. Abgesehen von Unternehmensaktien wurde im Laufe der
Zeit immer viel mit Immobilien und (kostbaren) Rohstoffen spekuliert. Klassische Bei-
spiele für fallende brillante Businessmodelle in den vergangenen Jahrhunderten sind die
Tulpenkrise in den Niederlanden, die Bewirtschaftungsfonds, die insbesondere in Frank-
reich in allerhand merkwürdigen und obskuren Produkten aus Nord- und Südamerika
verkauft wurden, die russischen Eisenbahngesellschaften und verschiedene Internetaktien
zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Feststellung, dass häufig spekuliert wird und hohe
Risiken für eine höhere Rendite eingegangen werden, bedeutet nicht, dass Rendite ein fal-
sches Ziel ist. Das Minimalziel, dass das Spargeld, das man morgen benötigt, auf jeden
Fall nicht an Wert verlieren soll, erscheint logisch; Rendite trägt beispielsweise dazu bei,
dass Renten bezahlbar bleiben. Im Allgemeinen scheint es so, dass zur Sicherheit besser
gestreut als spekuliert und nach Investitionsmöglichkeiten gesucht wird, die langfristig der
wirtschaftlichen Entwicklung folgen oder sich am besten noch etwas besser entwickeln.
Auch ein Grachtenhaus in Amsterdam behält über die Jahrhunderte ungefähr den gleichen
Wert, aber das gilt dann wiederum nicht für kürzere Zeiträume von zehn oder 20 Jahren.
Mit der Digitalisierung gibt es immer mehr Möglichkeiten, um als Privatperson sein Geld
mit extrem niedrigen Transaktionskosten direkt anzulegen. Diese Selbstbedienung gibt es
in den Niederlanden beispielsweise bei der Binck Bank und De Giro. Diese haben den
Markt von Privatkundenbanken mit viel höheren Tarifen übernommen. Die einfachste und
effizienteste Art der Risikostreuung bei Kapitalanlagen ist die automatische Verfolgung
eines Index. Insbesondere die Indexfonds, wie beispielsweise die Exchange-traded Funds
(ETFs), die tatsächlich dem Kurs folgen und die Dividende auch auszahlen, erzielen his-
torisch betrachtet häufig die besten Renditen. Die niedrigeren Transaktionskosten, die sich
daraus ergeben, dass kein Wissen von Analysten und Beratern bei der Bank, beim Ver-
sicherungsunternehmen oder bei der Vermittlungsstelle bezahlt werden muss, scheinen in
der Praxis langfristig häufig den Umstand aufzuwiegen, dass Fachleute eventuell schlauere
Kapitalanlagen realisieren. Das erklärt auch den Erfolg der alternativen Rentenversiche-
rungen wie beispielsweise Brand New Day in den Niederlanden.

In ein gewünschtes Unternehmen investieren


Geld ist mehr als ein Betrag, der verwendet werden kann, um ein Sparziel zu erreichen
oder einen finanziellen Gewinn zu erzielen. Es ist auch ein Produktionsmittel und sorgt
für die nötige Energie zur Spekulation. Es kann also etwas Gutes damit gemacht werden
oder genau das Gegenteil. Sparer können spezielle Wünsche haben bezüglich dessen,
8  Gemeinsame Investition 243

was mit ihrem Geld während des Zeitraums passiert, in dem sie es selbst nicht brau-
chen. Vor allem, wenn Geld im Überfluss vorhanden ist und sie es selbst nicht unbedingt
brauchen, wird das Spekulieren wichtiger als das Ziel und die Rendite. Dann kann es um
Mindestanforderungen gehen und vor allem darum, was nicht mit dem Geld passieren
darf. Das Geld kann auch einfach bei einer Bank deponiert werden, die es bespielweise
nicht ausleiht an Waffenhersteller, Tabakfabriken, stark umweltbelastende Industrien,
Süßwarenfabriken oder an Unternehmen, die unverantwortlich produzieren oder Liefe-
ranten haben, die das tun. Für große Banken, die viele Kunden haben und Investitionen
tätigen, ist das natürlich wiederum schwieriger. Für große Unternehmen, die Geld leihen
wollen, ist das natürlich auch schwieriger als für kleine. Als multinationaler Player lie-
fert man sehr schnell direkt oder über Distributionspartner an die falschen Parteien, und
sei es auch nur der Verkauf von Software, Nahrungsmitteln, Farbe oder Kraftstoff. Dabei
kauft man selbst auch alles Mögliche ein und wer weiß schon, ob alles korrekt gelaufen
ist? Es kann auch sein, dass man über Mindestanforderungen hinausgeht und das Geld
tatsächlich für spezifische, gute Investitionen zweckgebunden wird, wie zum Beispiel
grüne Energie, Gesundheitswesen oder ökologische Landwirtschaft. Es kann natürlich
noch spezifischer und noch näher sein. Dann wird es wieder sehr altmodisch und modern
zugleich. Es kann beispielsweise sein, dass man zusammen mit einigen Menschen Geld
und Energie in ein gemeinsames Unternehmen investiert.
Manchmal ist eines der oben genannten Motive ausschlaggebend für die Zweckbin-
dung von Investitionen, manchmal auch eine Kombination aus mehreren Motiven. Es ist
natürlich ideal, wenn das eigene Sparziel mit geringem finanziellem Aufwand erreicht
wird, weil eine Top-Rendite realisiert wird und weil in der Zwischenzeit auch noch jede
Menge fantastische Dinge mit dem Geld passiert sind. Aber das gelingt natürlich nicht
immer. Die drei oben genannten Motive (Ziel, Rendite, Spekulation) und ihre Kombina-
tionen sind wichtige Quellen für verschiedene Investitionsmöglichkeiten. Das geschieht
teilweise über traditionelle Banken, indem Spargeld zweckgebunden wird. Doch dann ist
es weniger ein großes Depot, für das die Bank das Risiko übernimmt, die täglich über
das Geld verfügt. Die Zweckbindung von Geld eröffnet mehr Möglichkeiten, am Sparer
als Eigentümer festzuhalten und diesem einfach die Rendite nach Abzug von Transak-
tions- und Verwaltungsgebühren gutzuschreiben. Für Banken und ihre Aktionäre ist das
natürlich auch attraktiv, weil hier kein eigenes Vermögen zurückgehalten werden muss
wie bei einem Zinsgeschäft, bei dem sie selbst mit einer kapitalleichten Bilanz arbeiten
können. Gleichzeitig ist die Vermittlung von Investitionen als Geschäftsbank wieder eine
völlig andere Aufgabe als die verantwortungsvolle Verwaltung der Gelddepots von Spa-
rern. Ersteres ist einfach eine Dienstleistung, bei der im Falle einer Bankenpleite kaum
Geld der Investoren verloren ginge. Bei Letzterem ist das sehr wohl der Fall. Auf diese
Weise mutet die Rettung einer Bank bei Problemen im Geschäftsbanking mit dem Ziel,
die Sparer bei Zinsgeschäften zu schützen, merkwürdig an. Logischerweise werden auch
viele Stimmen laut, diese Aktivitäten auseinanderzuhalten und sie hinsichtlich Verwaltung
und Mittel nicht miteinander zu verknüpfen. Gleichzeitig ist es auch für andere Parteien
und Bevölkerungsgruppen selbst viel einfacher, gemeinsam in ein bestimmtes Ziel und
244 J. Kemperman et al.

aus einem bestimmten Grund zu investieren. Das ist ohne Weiteres möglich, indem eine
Gruppe einfach eine Art zweckgebundene Geschäftsbank gründet. Das passiert natür-
lich vor allem bei Mangel: Wenn es nicht gelingt, bei einer gewöhnlichen Zinsbank oder
Geschäftsbank ein spezifisches Ziel zu finanzieren, wenn die Rendite als niedrig emp-
funden wird oder wenn eine Aktivität nicht finanziert werden kann. Banken selbst laufen
damit natürlich Gefahr, dass ein Teil ihres potenziellen Markts von anderen eingenommen
wird. Diese Samenkörner können anschließend wachsen und die Kernaktivitäten überneh-
men. Sehen wir uns zunächst einmal eine Reihe von brillanten Businessmodellen dieser
Art an und konzentrieren uns dann auf drei Beispiele, die ausgehend von verschiedenen
Rollen als Stakeholder gleichzeitig auf Ziel, Rendite und Spekulation ausgerichtet sind.

Vergangenheit: Businessmodelle wie der Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer


Ein wichtiges Ziel beim Sparen von Geld ist es, später im Alter davon leben zu k­ önnen:
die Rente. Dieses Ziel bringt eine Reihe spezifischer Fragen mit sich. Sie alle richten sich
auf die Zukunft und die Ergebnisse bzw. Antworten sind vorab nicht bekannt. Wie lange
kann und wird man noch weiterarbeiten? Wann muss oder darf man in Rente gehen? Was
passiert eigentlich mit dem Partner und den Kindern, wenn man stirbt und man noch
nicht so lange hat arbeiten können, um eine ausreichende Rente aufbauen zu können?
Wie lange lebt man noch, nachdem man in den Ruhestand gegangen ist? Wie sorgt man
dafür, dass das Geld nicht schon vor dem Tod aufgebraucht ist? Oder gerade andershe-
rum gefragt: Wie verhindert man, dass das Geld durch einen zu sparsamen Lebensstil
unnötig gehortet wird und einem damit viele schöne Dinge entgehen, die man sonst hätte
machen können. Hat man im Ruhestand auch einen Partner und Kinder, für die man sor-
gen muss? Stirbt der Partner vor einem (oder nicht) und was passiert in diesem Fall?
Wie kann man sicher sein, dass das verfügbare Geld trotz der Inflation zum Leben aus-
reicht? Was passiert, wenn die Zinsen für das gesparte Geld sehr niedrig sind? Wie kann
man dennoch dafür sorgen, dass bei Einritt in den Ruhestand genügend Geld vorhanden
ist? Kurzum, es gibt ziemlich viele Fragen und Unsicherheiten. Eigentlich möchte man
einfach nur sicher sein, dass das, was man bekommt, wertbeständig und garantiert ist,
egal wie alt man auch wird, und dass das auch für die Hinterbliebenen gilt. Doch das
ist noch nicht so einfach. Es hilft schon, sich Odysseus und die Sirenen zum Vorbild zu
nehmen: Man bindet sich selbst von vornherein am Mast fest, um dafür zu sorgen, dass
man nicht der Versuchung erliegt, das für die Rente gesparte Geld anzutasten, wenn es
einem wirtschaftlich einmal nicht so gut geht.2 Ein grundlegendes Mittel, dieser Unver-
nunft vorzubeugen, sind die Sperrkonten, wie wir sie etwa aus den USA kennen. Dass
das alles andere als leicht ist, hat sich in den letzten Jahren auch wieder in den Nieder-
landen anhand der Zahl der Selbstständigen gezeigt, die sich 2008, als es wenig Arbeit

2Siehe Elster (1984) für eine Beschreibung dieses Prinzips. Darüber hinaus wird die Notwendig-
keit, Menschen zum Aufbau einer Rente zu ermutigen und dabei vor sich selbst zu schützen, bei-
spielsweise von Lans Bovenberg u. a. in Peverelli und de Feniks (2010) beschrieben.
8  Gemeinsame Investition 245

für sie gab, gezwungen sahen, in die eigene Rentenkasse zu greifen. Zudem wurde für
andere Gruppen in den Niederlanden ein einzigartiges Rentensystem geschaffen, bei dem
gemeinsam in einer Berufsgruppe oder mit einem Unternehmen Geld für später zur Seite
gelegt wurde. Das brillante Businessmodell des Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer
zeigt, wie es funktioniert. Die Stiftung sah sich im Laufe der Zeit mit allen oben genann-
ten Fragen konfrontiert und hat ihre eigenen Lösungen und Antworten darauf gefunden.
Das Schöne dabei ist, dass die großen makroökonomischen Probleme im Hinblick auf
die Langlebigkeitsrisiken, die Rentenindexierung, die Zusammensetzungen von Kapital-
anlagen und das Umlageverfahren aus menschlicher Perspektive beleuchtet werden.

Gegenwart: Businessmodelle wie LeapFrog


LeapFrog ist ein brillantes Businessmodell im Finanzwesen mit einem Droste-Effekt.3
Es handelt sich um einen Fondsanleger für westliche Banken und Versicherungsunter-
nehmen, der wiederum selbst in Mikrofinanzversicherungen investiert. Dabei entsteht
eine interessante Kombination von Zielen: Das Streben nach höherer Rendite, die Stär-
kung lokaler Ökonomien und Unternehmer durch die Investition in Mikrofinanzver-
sicherungen sowie Optionen und Informationen für Investoren, die vielleicht selbst in
Entwicklungsländern aktiv werden wollen. Dabei sind alle diese Ziele gleich wichtig
und richtungsweisend für das Unternehmen. LeapFrog ist ein auffälliger Player in die-
sem Markt, ein echter Trendsetter, was jedoch nicht heißt, dass es keine vergleichbaren
Unternehmen gibt. Insbesondere wenn es um Investitionen in Mikrokredite geht, gibt es
mehr Investitionsfonds und westliche Unternehmen, die sich direkt beteiligen oder aktiv
sind. Auch hier zeigt sich häufig eine Kombination aus gesellschaftlich verantwortlicher
Unternehmensführung, der Realisierung von Rendite oder zumindest der Auszahlung
von Investitionen (früher wurde darauf verzichtet), aber auch der Schaffung von Opti-
onen und Marktpositionen in Entwicklungsländern. In den Niederlanden finden sich
Beispiele wie Rabobank, Achmea, ABP und Triodos Bank. Darüber hinaus gibt es aber
auch eine ganze Reihe anderer brillanter Businessmodelle. So wie beispielsweise Visa,
das in der Dominikanischen Republik aktiv ist, und AIG, das sich mit FINCA in Uganda
zusammengetan hat und jetzt auch in Tansania, Malawi und mit TATA in Indien tätig
ist. Lloyd’s, Schweizer Rück und Münchener Rück, die auf internationaler Ebene als
(Rück-)Versicherungsunternehmen auftreten. Credit Suisse, das das mexikanische Unter-
nehmen Compartamos an die Börse gebracht hat. Oder die Barclays Bank, die aktiv in
Ghana ist. Sun Life mit einem Joint-Venture-Unternehmen mit Adiya Birla in Indien.
Citigroup, die mit ihrer Microfinance Group zum Beispiel in Equador mit Banco Solida-
rio und mit BRAC in Bangladesch vertreten ist (vgl. Rhyne 2009).

3Der Droste-Effekt ist ein visueller Effekt, der ein Bild im Bild bezeichnet. Dieses Prinzip lässt
sich theoretisch endlos fortsetzen. In der Praxis wird die Rekursion jedoch nur so weit fortgesetzt,
wie die Bildauflösung es zulässt.
246 J. Kemperman et al.

Zukunft: Businessmodelle wie Kickstarter


Seit jeher ist es sehr üblich, dass ein auftraggebender Kunde auch Geldgeber ist. Eine
moderne Variante davon sind die Menschen, die sich in Gruppen zusammenfinden,
um Initiativen finanziell zu unterstützen, z. B. Kickstarter. Sie zeichnen sich darin aus,
einen Beitrag in Form von Geld zu leisten und vorab das Produkt zu kaufen, das durch
den Unternehmer vorgestellt wird. Auf diese Weise entsteht durch die Nutzung sozialer
Medien ein neuer und alternativer Finanzierungsmarkt, der gleichzeitig sehr menschlich
und ­althergebracht erscheint und gleichzeitig absolut trendig und progressiv ist. Neben der
Finanzierung und der kombinierten Kundenrolle entsteht auch eine Co-­Unternehmerschaft,
weil bereits in einem frühen Stadium viele Kunden am Konzept beteiligt sind, die es ent-
weder gut bewerten oder nicht. Sie stimmen mit den Füßen ab, indem sie das Produkt
kaufen, aber sie kümmern sich auch um das Marketing, indem sie das Konzept in den sozi-
alen Medien verbreiten. Kickstarter ist ein Vorreiter und einer der auffälligsten Player im
Bereich Crowdfunding und Ko-Kreation. Doch ist es nicht das einzige Unternehmen seiner
Art: Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Indiegogo. Die Startkosten für ein solches Busi-
nessmodell sind begrenzt, das bedeutet, dass es sehr viele kleine, spezifische oder lokale
Initiativen wie SmartMoney Entrepreneurs in New York gibt. Auch in großen Unterneh-
men findet das Phänomen Crowdfunding große Beachtung. So hat ABN AMRO dafür eine
eigene Plattform lanciert und Megakonzerne wie Procter & Gamble arbeiten zusammen
mit kleineren Playern wie CircleUp.

8.1 Der Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer4

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Tom Buijtendorp, Miranda Schutz,
Jeroen Kemperman und Thomas Winkler verfasst.

An einem Strang ziehen


Prolog
Die Geschichte des Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer ist eine Geschichte über Vision,
Mut und Ausdauer. Es ist auch eine Geschichte über den Glauben an die eigenen Fähigkei-
ten und über die starke gegenseitige Verbundenheit (Prikker 1998, S. 11 ff.).

Schiffe los- und festbinden, das ist das, was die Ruderer im Hafen machen. Sie leben
in ihrer eigenen Welt mit ihrer eigenen Sprache. Ihnen steht eine ganze Flotte an
Schiffen zur Verfügung: Schuten, Lastschiffe und Stevenboote. Und sie haben eine
Reihe von Lotsenbooten, um damit Lotsen zu einem Seeschiff zu bringen und wieder
abzuholen. Ein Arbeitsplaner verteilt pro Bereich die Arbeiten sämtlicher Ruderer in
einem der vier Dienstgebäude.

4Dieser
Artikel ist Dank des Beitrags von Boogaard, Cornelissen und Brussé von KRVE zustande
gekommen.
8  Gemeinsame Investition 247

Während seines zwölfstündigen Diensts verschiebt er die Namensschilder und legt


die Fahrten der Ruderer auf der Grundlage der Schiffsbewegungen fest. Der Einsatz-
ort ist immer die raue Umgebung des Rotterdamer Hafens, aber auch in Moerdijk
und Dordrecht sind die Ruderer der Eintracht tätig. Seile und insbesondere Trossen
spielen eine wichtige Rolle im Leben der Ruderer: Sie machen Tag ein Tag aus die
Trossen an den Pollern am Kai fest. Das Festmachen beginnt häufig mit zwei Spring-
leinen: Vorspring und Achterspring. Anschließend folgen die Trossen. Vom Wasser
aus können die Ruderer die Haltetaue ans Ufer fahren oder mit einem Marlspieker
eine festsitzende Trosse losmachen. Sie lassen die Schiffsbesatzung die Trossen ein-
holen oder rufen mit lauter Stimme: „Slack!“ Ist die Arbeit erledigt, drehen die Rude-
rer als Zeichen mit ihren Händen einen Kreis über ihren Köpfen. Jetzt ist es Zeit für
eine Tasse Kaffee im Dienstgebäude. Oder es geht sofort weiter mit der nächsten
Fahrt. So machen sie es schon 120 Jahre, vereinigt in der Königlichen Ruderervereini-
gung Eintracht (KRVE bzw. RVE als die Vereinigung noch nicht den Zusatz „König-
lich“ trug).5
Gijs Kievit ist 1910 der erste Ruderer, der in den Ruhestand geht. In diesem Fall
wird von der Leitung eine so genannte Rentenerklärung abgegeben. Auf Siegelpapier.
Die Rente von Kievit ist eine Rente ohne Rentenfonds. Ein Versprechen, das von den
Gehältern der noch arbeitenden Kollegen finanziert wird. Ein Ausbund an Solidarität
(vgl. Prikker 1998)? Anfänglich läuft es gut, aber geht es dann auch so weiter? Der
Ruf nach einem richtigen Rentenfonds wird laut und verhallt irgendwann nicht mehr:
Ein Rentenfonds ohne finanzielle Abhängigkeit, sauber von der Vereinigung getrennt.
Denn dann kann die Vereinigung nicht in die Kasse greifen, um die Lohntüten in wirt-
schaftlich schlechten Zeiten aufzufüllen. Das für die Rente gesparte Geld muss für
später reserviert bleiben, für die Ruderer im Ruhestand oder für deren Witwen. Es ist
ein Hilferuf vieler jüngerer Ruderer und auch der älteren Ruderer und in regelmäßigen
Abständen ein echter Streitpunkt innerhalb der Eintracht. Mehrere Versuche, Start-
kapital für einen Rentenfonds an die Seite zu legen, scheitern. Als in der Nacht vom
30. September 1932 der 56-jährige Janus de Reus bei seiner Arbeit ums Leben kommt
und eine Frau sowie sechs Kinder hinterlässt, führt das zu einer Wende im Denken der
noch verbliebenen Mitarbeiter: Nach etwas mehr als einem halben Jahr ist der Ren-
tenfonds der Ruderer im Rotterdamer Hafen Tatsache. Gut 80 Jahre später existiert
er immer noch, und zwar in voller Pracht. Ein florierender Rentenfonds von, für und
durch die Ruderer selbst. Unabhängig und doch tief mit der Eintracht verbunden.

Einleitung
Die besondere Geschichte des Rentenfonds der Ruderer handelt von einer kleinen
Gruppe Menschen, die gemeinsam für ihren eigenen Ruhestand und den der ande-
ren sorgen. Im selben Maße sind diese Ruderer ein Symbol für das ­Aufkommen

5Frei nach Maandag (2010) Lustrumboek KRVE, Umschlag.


248 J. Kemperman et al.

von ­ Rentenfonds im großen Stil. Auf ihrem Weg treffen sie auf all die großen
­Systemprobleme, mit denen wir es jetzt auch noch zu tun haben: Renditen, die hinter
den Erwartungen bleiben, Unterdeckung, Überalterung der Gesellschaft und Solidari-
tät zwischen Generationen mit Hinterbliebenen. Eine Betrachtung der Lösungen, die
sie für die von ihnen wahrgenommenen Probleme wählen, trägt dazu bei makroöko-
nomische Diskussionen wieder auf ein menschliches Maß zurückzubringen. Es hilft
wiederum zu verstehen, was der Kern und der Wert einer gemeinsamen Regelung für
eine gute Rente ist. Später lösen sich die Schwierigkeiten, die eine so komplexe Rente
mit sich bringt, gänzlich in Luft auf und die Erkenntnis gewinnt die Überhand, dass
der Wind mitunter von vorne bläst und dass man im Interesse aller Betroffenen einan-
der helfen muss.
Eine Rente für die Mitglieder ist bei der Gründung der Ruderervereinigung Ein-
tracht (RVE) im Jahr 1895 noch lange nicht in Sicht. 1910 bringt die sogenannte
Rentenerklärung etwas Bewegung in die Sache. Die Rentenerklärung ist ein auf Siegel-
papier von der Leitung gegebenes Versprechen an das RVE-Mitglied. Darin ist festge-
legt, dass er bei der Beendigung seiner Eintracht-Mitgliedschaft zwischen dem 60. und
65. Lebensjahr als ehemaliges Mitglied Recht auf eine Altersrente hat. Für die Auszah-
lung dieser Rente ist der Schatzmeister verantwortlich. Nach Ende des Ersten Welt-
kriegs brechen wirtschaftlich schwere Zeiten an. Die Rente wird von den Gehältern der
Arbeiter gezahlt, aber dieses ‚Umlageprinzip‘ kann sich aufgrund der tiefgreifenden
wirtschaftlichen Rezession nicht halten. Die Rentenregelung kann nicht länger garan-
tiert werden. Was macht man in einem solchen Fall als Vereinigung? 1921 wird die
Rentenerklärung um einen Satz ergänzt, der aufhorchen lässt: „Ein pensioniertes Mit-
glied darf keine gerichtliche Verfolgung der Vereinigung anstrengen, wenn die Rente
aufgrund einer finanziell schlechten Situation der Vereinigung nicht ausgezahlt werden
kann!“ Auf diese Weise hält sich die Vereinigung ein Hintertürchen offen, für den Fall,
dass tatsächlich nicht genug Geld vorhanden ist. Umgekehrt ist dieses Hintertürchen
natürlich eine undichte Stelle in der Garantie für die Ruderer nach ihrer Pensionierung.
Das Sozialsystem der Eintracht wird 1921 um eine Erwerbsunfähigkeitsleis-
tung in Höhe von 15 Gulden (6,81 EUR) pro Woche für einen Ruderer ergänzt, der
während der Arbeit einen Unfall erleidet. Eine Witwe erhält eine einmalige Zahlung
von 100 Gulden (45,38 EUR) beim Tod ihres Mannes. Am 22. Oktober 1922 kommt
Tinus Doff bei einem Unfall ums Leben. Er hinterlässt eine junge, schwangere Frau.
Die Leitung wird mit der Tatsache konfrontiert, dass eine einmalige Auszahlung von
100 Gulden nur sehr wenig Hilfe bietet. Deshalb beschließt sie, dass Witwen eines
arbeitenden Mitglieds neben der Auszahlung von 100 Gulden unverzüglich ein hal-
bes Jahr wöchentlich eine Witwenrente in Höhe von 12,50 bis 15 Gulden (5,67 bis
6,81 EUR) erhalten. Diese Regelung gilt rückwirkend auch für die Witwe von Tinus
Doff. Die Finanzierung erfolgt erneut über die Umlage: Alle Ruderer verzichten pro
Woche auf einen Viertel Gulden (0,11 EUR).
In den darauffolgenden Jahren läuft es mit den Rentenauszahlungen nicht durchgän-
gig gut. Das Rentenversprechen kann aufgrund der schlechten finanziellen Situation der
Vereinigung mehrmals nicht gehalten werden. Über einige Jahre erfolgt die Auszahlung
8  Gemeinsame Investition 249

mit einem festen Betrag in Höhe von 7,50 Gulden (3,40 EUR) pro Woche, obwohl die
Löhne steigen. Die Ruderer können so nicht darauf vertrauen, dass sie auch eine ange-
messene Rente erhalten. So wird der Ruf nach einem richtigen Rentenfonds lauter. Am
3. Mai 1926 findet eine allgemeine Mitgliederversammlung statt. Zu diesem Zeitpunkt
geht es der Eintracht finanziell besser, und auch das gesamtwirtschaftliche Blatt hat sich
zum Positiven gewendet. Weil in England 800.000 Minenarbeiter streiken, verdient sich
die Vereinigung an den vielen Kohleschiffen, die im Rotterdamer Waalhaven losge-
macht werden, eine goldene Nase. Die Schiffe liegen in drei Reihen an Bojen und Pfäh-
len und der Waalhaven wird in „Goudvelden“ (Goldfelder) umbenannt. Die Mitglieder
tragen der Leitung einstimmig auf, einen Plan für die Einrichtung eines Rentenfonds
auszuarbeiten und auszuloten, ob dieser Plan von einem Rentenversicherungsunterneh-
men getragen werden kann. Ein Jahr später ist dies aber immer noch nicht gelungen:
Die Anforderungen der Versicherungsgesellschaften sind so hoch, dass der Schatzmeis-
ter alle Angebote abweisen musste.
Der Wunsch nach einem eigenen Fonds bleibt jedoch bestehen. Der finanzielle Wohl-
stand versetzt die Eintracht in die Lage, die Flotte nach dem Verkauf von altem Mate­
rial zu erweitern und eine Neuanschaffung in Form eines Motorboots als Eigentum der
Vereinigung zu tätigen. Das Motto „Was wir selbst können, machen wir auch selbst“
ist charakteristisch für die Ruderer, wie sich später mehrmals herausstellen wird. Im
Oktober 1927 beschließen die Mitglieder nach dem missglückten Versuch, eine Versi-
cherungsgesellschaft für ihren Rentenfonds zu gewinnen, einen eigenen Sparfonds zu
gründen und darin wöchentlich 5 Gulden (2,27 EUR) bis zum 1. Januar 1928 einzu-
zahlen. Das gesparte Geld wird bei einer Bank deponiert. Die Leitung will es jedoch
nicht dabei belassen und arbeitet das Modell weiter aus. Ein Versuch, sich dem System
der Freiwilligen Altersrentenversicherung des niederländischen Staats anzuschließen,
führt ins Nichts – zum Glück, denn dieses System scheitert auf ganzer Linie. Aber auch
der neue Sparfonds der Ruderer findet sehr schnell ein ruhmloses Ende, als durch den
Börsencrash die Weltwirtschaft zusammenbricht und die Ruderer das an ihrem Umsatz
spüren. Nicht jeder kann die Beträge zahlen und warum sollten sie mit dem Abrufen
des Geldes warten, wenn sie es doch gerade so sehr zum Leben brauchen?
Einmal mehr wird deutlich, dass die Zahlung der Rentenprämien nicht von der
guten oder schlechten wirtschaftlichen Situation des Ruderbetriebs abhängig sein
darf. Die Befürworter eines Rentenfonds geben nicht auf. 1930 wird eine Kommission
beauftragt, dafür zu sorgen, dass alle Mitglieder wöchentlich einen Gulden (0,45 EUR)
in einen Sparfonds einzahlen. Das so zu bildende Startkapital für einen Rentenfonds
wird bei einem Notar deponiert. So wird verhindert, dass es in einer schlechten Woche
wieder in den Lohntüten landet. Aber 1932 scheitert auch dieser Versuch, als es der
RVE finanziell schlechter geht. Trotz des heftigen Widerstands seitens der jüngeren
Mitglieder gelingt es einer Reihe älterer Mitglieder, die Leitung davon zu überzeugen,
den Sparfonds aufzulösen und das Geld unter den Mitgliedern zu verteilen.
Am 30. Dezember 1932 kommt der 56-jährige Ruderer Janus de Reus bei einem
Arbeitsunfall ums Leben. Seine Witwe erhält eine einmalige Auszahlung von 100 Gulden
(45,38 EUR) und bis Ende Juli 1933 eine wöchentliche Auszahlung von einem ­Viertel
250 J. Kemperman et al.

Gulden (0,11 EUR) von allen Ruderern. Es liegt möglicherweise an diesem traurigen


Vorfall und der definitiven Ablehnung des Versuchs, die Ruderer in den Dienst der Stadt
Rotterdam zu stellen, dass die Gedanken in den Mitgliedern der Eintracht reifen, einen
finanziell unabhängigen Rentenfonds einzurichten. Am 2. Juli 1933 heftet Willem Deij
deshalb ein Schreiben an das Mitteilungsbrett im Warteraum der Vereinigung auf dem
Willemsplein. Darin schlägt er vor, „einen Fonds für den Ruhestand einzurichten“. Sechs
Wochen später findet die Versammlung zur Gründung eines Rentenfonds für die Ruderer
statt, eines Rentenfonds, der endlich finanziell unabhängig von der RVE wirtschaften kann
und der langfristig das Ziel realisieren kann, für das er gegründet wird: ein garantiertes
Einkommen, wenn die Rudertätigkeit bei der Eintracht altersbedingt beendet wird.

Der Sozialstaat entfaltet sich 1890–19456


Die Beschreibung des Lebenszyklus eines Arbeiters um 1900 spiegelt die Risiken
wider, die damals mit dem Leben verbunden waren:

Schon in seinem 13. oder 14. Lebensjahr beginnt für ihn die aktive Teilnahme am
Überlebenskampf, der ihn unabhängig davon, wie tief unten in der Gesellschaft dieser
auch ausgefochten wird, reifen lässt, sodass er beispielsweise in seinem 20. Lebens-
jahr erheblich entwickelter ist als der bürgerliche Knabe, der zu diesem Zeitpunkt
erst die Schule abschließt und das Privileg innehatte, sich für geistige Arbeit qualifi-
zieren zu können. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass der Arbeiter häufig um das
25. Lebensjahr herum, nämlich dann, wenn er in der Regel den Höhepunkt seiner Ent-
wicklung erreicht hat, eine Familie gründet. Mit jedem neuen Jahr wird dann ein weite-
res Kind geboren und damit wachsen stetig auch die Sorgen. Sind endlich die jüngsten
Kinder in der Lage, für sich selbst zu sorgen, hat er den Zenit seines Lebens bereits
überschritten. Bereits einige Jahre später ist er vom Arbeitgeber nicht mehr gewünscht
und seine Einkünfte fangen an zu sinken (vgl. Millard 1898).

Nach dieser schweren Phase folgt der Ruhestand. Renten gibt es entweder über-
haupt nicht oder kaum. Dadurch sind die Älteren auf die Unterstützung der Fami-
lienmitglieder oder Verwandten, auf kümmerliche Ersparnisse oder – wenn nichts
dergleichen vorhanden ist – auf die Wohltätigkeit der Mitmenschen oder der Kir-
che angewiesen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sinkt zwar die Säuglings-
sterberate und in der Breite erfolgt eine schnelle Senkung der meisten mit dem
Lebenszyklus verbundenen Risiken. Durch die sinkende Sterberate und einer rela-
tiv hohen Geburtenrate nimmt die Bevölkerung schnell zu. Der positive Trend und
der zunehmende Wohlstand verringert die Wahrscheinlichkeit der Verwitwung und
­Verwaisung. Die Menschen leben nach ihrem Eintritt in den R ­ uhestand länger. Weil
mehr Menschen alt werden, nimmt der Bedarf an Produkten zur Altersversorgung
stark zu (vgl. Gerwen 2000). Bis 1900 liegt für die breite Bevölkerungsschicht der
(finanzielle) Schwerpunkt vieler Menschen auf der Deckung der täglichen Bedürf-
nisse, die von kurzfristiger Natur sind. Ab ca. 1900 entsteht etwas mehr Freiraum

6Zitierendund aufbauend auf Gerwen (2000), Zusammenfassung der Rentenaspekte aus den Kapiteln
Risiken und Prävention.
8  Gemeinsame Investition 251

und der Schwerpunkt verlagert sich auf die Deckung längerfristiger Bedürfnisse.
Familienplanung und Sparen für das Alter werden für viele Menschen zugänglich.
Ende des 19. Jahrhunderts existiert eine große Anzahl an Fonds. Die meisten
Fonds zielen auf die Versicherung der Begräbniskosten ab. Wegen der relativ hohen
Kosten ist die Versicherung von Altersrenten und Witwenrenten weniger weit ent-
wickelt. Das versicherungsmathematische und juristische Fundament dieser Fonds
steht in der Regel auf sehr wackeligen Füßen. Für die Versicherung von Begräbnis-
kosten ist die zugenommene Lebenserwartung ein Segen, denn es werden über län-
gere Zeiträume Versicherungsprämien eingezahlt und das Geld verbleibt länger in
der Kasse. Dieses sogenannte Sterblichkeitsrisiko wirkt sich günstig auf die Reser-
ven und Puffer dieser Fonds aus. Für die Renten verhält sich das genau umgekehrt.
Fonds müssen länger Renten bezahlen als vorgesehen. Die meisten Fonds fristen
durch dieses sogenannte Langlebigkeitsrisiko ein mühseliges Dasein.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts organisieren sich viele Fachkräfte und Arbeiter in
Gewerkschaften, um gemeinsam eigene Fonds zu gründen. Probleme mit der Finan-
zierung stellen die größten Bedrohungen dieser Fonds dar. Ab 1914 gelingt es immer
mehr Gewerkschaften, im Rahmen von Tarifverträgen Vereinbarungen zur Alterver-
sorgung zu treffen. Sozial engagierte Unternehmer richten Unternehmensrentenfonds
mit obligatorischer Beteiligung ein – übrigens nicht immer zur Freude der Arbeitneh-
mer, die die Teilnahmepflicht als eine Lohnsenkung betrachten. Arbeitgeber, die nicht
selbst als Risikoträger auftreten wollen, können das Risiko an eine Versicherungsge-
sellschaft übertragen. Die Verbreitung der tarifvertraglichen Altersversorgung nimmt
vor allem in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts stark zu. Die Zahl der tarifvertrag-
lichen Altersrenten beträgt 1890 ca. 30, im Jahr 1938 liegt sie bereits bei 800. Diese
Zunahme wird zum einen durch eine Reihe von Sozialgesetzen, durch die die betrieb-
liche Altersvorsorge über den Arbeitgeber relativ preiswert wird, und zum anderen
auch durch den gestiegenen Wohlstand gefördert. Auf diese Weise blicken Menschen
weiter voraus als nur bis zur Mahlzeit von morgen. Sie haben etwas zu verlieren bzw.
zu schützen und gleichzeitig gibt es auch mehr Möglichkeiten zum Sparen.

8.1.1 Das Fundament: Können wir es selbst, dann machen wir es


auch selbst

Das Leben der Arbeiter am Ende des 19. Jahrhunderts ist schwer und von Unsicherheiten
geprägt. Die Lebenserwartung ist niedrig, die Kindersterblichkeit hoch. Was die Altersversor-
gung betrifft, sind viele Menschen von anderen abhängig. In der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts kommt aber Bewegung in die Sache. Die Lebenserwartung und der Wohlstand
steigen. Sparen für das Alter wird für eine breite Bevölkerungsschicht zugänglich. Gewerk-
schaften von Fachkräften und Arbeitern richten eigene Fonds ein. Die Regierung spielt dabei
eine wichtige Rolle, indem sie einige Sozialgesetze verabschiedet. In dieser Zeit wird auch
die Altersversorgung für die Ruderer im Rotterdamer Hafen, der Rentenfonds Aufschwung
RVE, eingerichtet.
252 J. Kemperman et al.

Am 21. August 1933 wird die ursprüngliche Altersversorgung der Ruderer in einen echten


Rentenfonds umgewandelt. Bei der Gründung des Fonds wird das (höhere) Ziel wie folgt
­formuliert: „Die Mitglieder müssen den Fonds als ein Teil der Familie betrachten, zusammen
eins sein.“ Das Bedürfnis an Eigenständigkeit und der Wunsch, nicht von anderen abhän-
gig zu sein, auch nach der Pensionierung, spielt eine zentrale Rolle. Der Fonds kann Renten
bezahlen, soweit es die Finanzen des Fonds zulassen. Die Mitglieder beschließen das, was sie
angemessen und verantwortlich finden. Der nächste Schritt ist die Realisierung einer garan-
tierten Altersversorgung. Dafür muss das Vermögen gut und unabhängig verwaltet werden.
Aus dem Umlageprinzip wird ein Kapitaldeckungssystem. Es wird in die Altersversorgung
für die RVE investiert, aber auch darüber hinaus. Als Folge der neuen RVE-Verordnung im
Jahr 1948 werden alle RVE-Mitglieder zur Beteiligung am Rentenfonds verpflichtet. Das
nächste Ziel erscheint am Horizont: Eine wertbeständige Altersrente für alle RVE-Mitglieder
und ein Fonds, der zur Kontinuität und Zukunft der RVE beitragen kann.
Die starke und unabhängige Vereinigung wird gekennzeichnet durch ein hohes Maß
an Nüchternheit und gesundem Menschenverstand, von Realitätssinn, Gewissenhaftig-
keit und einer Mentalität im Stil von „können wir es selbst, dann machen wir es selbst.“
Die Männer begegnen einander jeden Tag im Hafen. Das führt zu einer starken Bindung
innerhalb der Gruppe. Einheit, Treue und Loyalität gegenüber der Vereinigung und den
Kollegen sind wichtige Kernwerte. Die Ruderer bilden eine eingeschworene Gemein-
schaft; es besteht ein hohes Maß an Berufsstolz und gegenseitigem Vertrauen in der
Gruppe. Auf diese Weise entsteht eine Art Selbstverständlichkeit in den Erwartungen der
einzelnen Mitglieder aneinander; jeder zählt auf jeden.
Die Ruderer sind Fachkräfte. Sie müssen bei der Arbeit und allem anderen einan-
der blind vertrauen können, also auch hinsichtlich der Rentenfrage. Die Ruderer sind
stramme Burschen, aber sie sorgen füreinander und besitzen starke autarke Züge. Sie
hören einander zu und Ihnen werden die Rentenangelegenheiten verständlich erklärt.
Unter den RVE-Mitgliedern herrscht kein mangelndes Interesse an der Altersversorgung.
Ihnen wird bewusst, dass ihre Existenz gesichert ist, wenn sie nicht mehr arbeiten kön-
nen, und dass sie für diesen Lebensabschnitt gemeinsam Vorkehrungen treffen müssen.
Die Mitglieder wollen und fordern auch Offenheit und Einblicke in die Finanzen und
stellen Anforderungen an neue Mitglieder. Im Laufe der Jahre stellt der Fonds die gegen-
seitige Solidarität auf eine harte Probe. Das beweist seinen Wert: Trotz der schlechten
Zeiten hat der Fonds sich behauptet und existiert immer noch.

8.1.2 Businessmodel: Individuelles Interesse und


Gruppenengagement

Marktsegmente: Eine echte eingeschworene Gemeinschaft


Der Rentenfonds ist von den Rotterdamer Ruderern, wird durch die Ruderer erhalten
und ist für die Ruderer, von denen es im Laufe der Jahre nie mehr als paar Hundert gibt.
Bemerkenswert ist, dass sich die Ruderer unter dem Druck der Stadt und Reedereien
zusammengetan haben und seitdem eine Art ‚Gilde‘ bilden. Die Stadt und die Reeder
8  Gemeinsame Investition 253

Markenkern: Als Ruderer des Rotterdamer Hafens gemeinsam füreinander und


für die Altersversorgung einstehen

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Die RVE-Mitglieder müssen den Fonds • Eine wertbeständige Altersrente für alle
als ein Teil der Familie betrachten, RVE-Mitglieder und ein Fonds, der zur
zusammen eins sein Kontinuität und Zukunft der RVE
beitragen kann

Markenursprung Markenversprechen
• In Übereinstimmung mit der Entfaltung • Wir regeln füreinander und unsere
des Sozialstaats in den Niederlanden in Hinterbliebenen eine wertbeständige
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rente
• Der Rentenfonds wird 1933
eingerichtet, aber die Vereinigung der
Ruderer bezahlt schon seit 1910
Renten vom Gehalt der
arbeitenden Kollegen
Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Nüchternheit, gesunder Verstand und • Gegenseitiges Vertrauen für die gemeinsame
Realitätssinn Regelung einer Altersversorgung
• Stark und unabhängig • Transparenz und Offenheit in der Verwaltung
• Einheit und Treue und bei Entscheidungen zur gemeinsamen
Rentenkasse

Markenbeweis
• Tatsächliche Realisierung einer garantierten
Altersversorgung für die Rotterdamer Ruderer
• Fortbestand des Rentenfonds, auch in
schwierigen Zeiten

Abb. 8.1  Leitbild und Positionierung des Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer


254 J. Kemperman et al.

wünschten sich eine einzige Anlaufstelle und nicht eine ganze Reihe von Selbstständi-
gen, die ohne Absprache untereinander ihre Arbeit verrichteten. Die Mitglieder der demo-
kratisch gesinnten Vereinigung haben ein offenes Ohr füreinander, wobei man sich als
Ruderer der M­ ehrheit zu fügen hat. Es wird hart gearbeitet. Jeder kennt seine Aufgabe
und trägt große Verantwortung. Durch die gemeinschaftliche Struktur sind die Ruderer
miteinander in ihrer Selbstständigkeit verbunden; die Arbeit wird untereinander aufgeteilt.
Damit hat die Vereinigung Merkmale einer Gilde, man kann sowohl praktisch als auch
genehmigungstechnisch nicht einfach im Hafen rudern, ohne sich der Vereinigung anzu-
schließen. Die Art der Organisation bringt eine soziale Kontrolle und Abhängigkeit mit
sich, die man zwar aushalten muss, aber in der man auch viele Vorteile und Geborgenheit
finden kann. Die Ruderer selbst fühlen sich nicht in ihrer Freiheit beschränkt. Jeder von
ihnen weiß, was er von den Kollegen und der Vereinigung hat; es ist kein Druck nötig, der
Zusammenhalt ist den Ruderern in den Genen, nicht so sehr aus Güte, sondern aus purer
Notwendigkeit. Sie haben die Erkenntnis gesammelt, dass sie gemeinsam sehr viel fürein-
ander erreichen können, z. B. gesunde Mahlzeiten in ihrem Arbeitsleben und auch danach.

Kundenwert: Verständliche und logische Rentenvereinbarungen


Selbstständige Berufstätige sind mit ihrer Tätigkeit beschäftigt und weniger mit ihrer
Rente. Aber diese Ruderer haben es nicht nötig, ihr Geld den Rentenversicherern zu
überlassen. Sie können in ihrem eigenen Kreis und miteinander über ihren eigenen
Rentenfonds für eine gute Altersrente sorgen, die anderen guten Altersversorgungen
mindestens gleichkommt. Die Interessen der Mitglieder und des Fonds sind eng mitei-
nander verflochten, wodurch ein Gefühl von Geborgenheit und gegenseitigem Vertrauen
entsteht. Gerade als Selbstständige sind sie verwundbar im Hinblick auf ihre Arbeit
und Sozialleistungen. Dank intensiver Zusammenarbeit in einer relativ kleinen Gruppe,
in der jeder jeden kennt, ist dabei eine gute Mischung aus individuellem Interesse und
Gruppenengagement entstanden. Es ist vollkommen klar, wie der Fonds arbeitet, wer die
Schlüsselspieler sind, in was investiert wird und wie die Finanzen stehen. Das macht es
übersichtlich und gibt Sicherheit.

Kanäle: Nüchterne Selbstorganisation


Der Fonds gehört den Mitgliedern und wird für und durch die Mitglieder der RVE gelei-
tet. Die Teilnahme ist nicht verpflichtend, aber in der Praxis beteiligen sich alle Ruderer
gern am Rentenfonds zur betrieblichen Altersversorgung, d. h., dass Marketing und Ver-
trieb mit der Aufnahme eines neuen Ruderers ihre Früchte tragen. Neue Ruderer kom-
men auf Umwegen zur RVE und dann prüfen die Mitglieder selbst, ob die potenziellen
neuen Mitglieder zu ihrer eingeschworenen Gemeinschaft passen oder nicht. Die Fonds-
organisation ist innovativ, nicht um der Innovation willen, sondern weil die Verbesserung
für alle Beteiligten besser ist; so wie die KRVE ist der Fonds eine stetig lernende Organi-
sation, die auf konstante Modernisierung aus ist, wenn es um funktionelle und praktische
Hightech-Anwendungen bei der Arbeit geht, der es aber gleichzeitig gelingt, bei ‚sich
selbst‘ zu bleiben.
8  Gemeinsame Investition 255

Spirenzchen oder eine beschönigende Sprache, die die Ruderer nicht verstehen, kom-
men in der Vereinigung nicht gut an.

Betrieb: Eigenes Eigentum


Die KRVE zeichnet sich durch eine flache Hierarchie aus. Es gibt ein ausgeklügeltes
Gleichgewicht zwischen Sachlichkeit und Gemeinschaftssinn. Die Verwaltung und Rege-
lung des Fonds sind verblüffend einfach, aber effektiv. Dadurch ist die Transparenz groß
und sind die Kosten niedrig. Im Laufe der Jahre wurde am Konzept des Fonds sehr wenig
geändert. Das Renteneintrittsalter wurde einige Male angepasst. Mithilfe des Rentenfonds
wurden die Geräte und die Flotte, mit denen die Ruderer ihre Arbeit verrichten, erneuert,
und dieses Know-How wird wiederum an Dritte verkauft. Auch die Betriebsgebäude sind
Eigentum der KRVE. Außer von einem gut funktionierenden und florierenden Rotterda-
mer Hafen sind die Ruderer bei ihrem Broterwerb von nichts und niemandem abhängig.

8.1.3 Das Ergebnis: Nach 80 Jahren ein blühender Fonds

Die Ruderer sind und bleiben ihre eigenen Kunden, Anteilseigner und Mitarbeiter. Die
Ruderer haben im Laufe der Zeit gemeinsam für ihre Pensionierten gesorgt. 1946 waren
das 19 Personen, darunter fünf Witwen von Ruderern. Und 25 Jahre später waren es
49 Personen, darunter 27 Witwen.
Der aktuelle Rentenfonds SRR (Stiftung Rentenfonds für Ruderer im Rotterdamer
Hafen) ist immer noch eng mit der KRVE (Königliche Ruderervereinigung Eintracht)
verbunden. Der Fonds ist zwar finanziell unabhängig und juristisch getrennt, aber den-
noch nicht separat von der KRVE zu sehen. Die KRVE ist tatsächlich ein integrales
Konzept, aus dem ersichtlich wird, dass der von den Ruderern gebildete Verband die
Strukturen einer Gemeinschaft, einer Community, hat. Die Zusammenarbeit erfolgt aus
dem wohlverstandenen Eigeninteresse eines jeden Mitglieds heraus. Als Gruppe wohn-
ten die Mitglieder früher häufig im Viertel nah beieinander. Zwar hat sich das geändert,
aber viele Ruderer besuchen sich nach wie vor der Arbeit als Freunde. Die Ruderer ver-
dienen alle das Gleiche und sind an eine flache Unternehmensstruktur gewöhnt. Jeder
Ruderer bezahlt eine Aufnahmegebühr, um sich der KRVE anschließen zu können. Die-
ses Betriebskapital bekommt er bei seiner Pensionierung zurück, aber es ist keine Rente.

Tab. 8.1  Zusammenstellung des Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer


Jahr Gesamtzahl der Pensionierten Davon Witwen In Prozent (%)
1946 19 5 26
1951 31 10 32
1956 38 17 45
1961 45 23 51
1966 42 24 57
1971 49 27 55
256 J. Kemperman et al.

Die Ruderer haben das Patent für die Partizipationsgesellschaft im Kleinen, sodass
sie keine kollektiven Mittel benötigen. Auch im 21. Jahrhundert sind die Fundamente der
Vereinigung und damit die des Fonds noch stabil. Das „gemeinsam“ ist geblieben, die
Solidarität miteinander auch und wo erforderlich, wurde diese formalisiert, um zu ver-
hindern, dass die Solidarität durch finanzielle Rückschläge torpediert wird. Das Fazit ist,
dass die Ruderer mit Leib und Seele Profis sind – sowohl bei ihrer Arbeit als auch bei der
Leitung des Rentenfonds. Ihre Arbeit ist eine Quelle der Freundschaft, und diese Freund-
schaft hilft umgekehrt wiederum, die Arbeit besser zu verrichten. Die Infrastruktur des
Fonds funktioniert immer noch gut. Das ist unter anderem der Erreichbarkeit füreinander
und der Einfachheit des Konzepts zu verdanken. Die Teilnehmer wollen den Fonds mit
allen damit verbundenen Eigenheiten aufrechterhalten. Die Arbeit ist wie die Rente gut
organisiert. Der Aktionsradius wird sogar noch ausgeweitet: Im Hafenbereich Tweede
Maasvlakte wird ein neues Dienstgebäude errichtet (am Standort FutureLand).

8.1.4 Die brillanten Lektionen des Rentenfonds der Rotterdamer


Ruderer

Mit zehn anderen Rentenfonds zur betrieblichen Altersversorgung fällt der SRR unter ein
eigenes Gesetz: das Gesetz zur obligatorischen Altersversorgung (entspricht dem Ren-
tengesetz, ist aber ursprünglich für Rentenfonds zur betrieblichen Altersversorgung kon-
zipiert). Durch die direkte Verbundenheit mit der Muttergesellschaft, der KRVE, ähnelt
der SRR tatsächlich mehr einem Unternehmensrentenfonds als einem Rentenfonds zur
betrieblichen Altersversorgung. Das sehen die Ruderer auch selbst so.
Mitglieder anderer Rentenfonds zur betrieblichen Altersversorgung sind mehr auf
sich gestellt und unterstützen einander weniger. Aufgrund der Art ihrer Tätigkeit ist die
Zusammenarbeit nicht so eng wie bei den Ruderern im Rotterdamer Hafen, die ohne ein-
ander ihre Arbeit nicht verrichten können. Die Eins-zu-eins-Umsetzung des Konzepts
der Ruderer (Berufsverband und Rentenfonds) auf die Situation anderer Berufstätiger ist
deshalb nicht möglich. Bei den Berufsverbänden anderer Berufstätiger scheint die Ver-
bundenheit zwischen den Mitgliedern deutlich weniger ausgeprägt zu sein als bei den
Ruderern. Eine Erklärung dafür ist (wieder), dass die KRVE die Funktion eines Berufs-
verbands erfüllt, aber gleichzeitig „das Ruderunternehmen“ selbst ist.
Die Grundprinzipien des Rentenfonds der Ruderer können also nicht so einfach auf
andere Rentenfonds und schon gar nicht auf andere Berufsgruppen übertragen werden.
Und dennoch ist es interessant zu sehen, dass eine Reihe von Problemen, mit denen die
‚großen‘ Fonds jetzt zu kämpfen haben, bei den Ruderern auf ganz eigene Weise gelöst
werden. Es fällt auf, dass Steine einfacher aus dem Weg geräumt werden, weil Probleme
offenkundig sind und andere Probleme im Ganzen gar nicht erst entstehen. Gründe hier-
für sind persönliches Engagement der Mitglieder des Rudererfonds füreinander und die
Zugänglichkeit der zumeist auch aus Ruderern bestehenden Fondsleitung.
8  Gemeinsame Investition 257

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Eine gute und garantierte • DIE Vereinigung par excellence für
Altersversorgung für uns alle Ruderer, die damit auch verpflichtend an
ihrem gemeinsamen Rentenfonds zur
+ betrieblichen Altersversorgung teilnehmen
Prozess Wie bekomme ich es?
• Wenn ich mit dem Arbeiten aufhöre, Wettbewerber
bekomme ich eine Rente • Es gibt keinen Wettbewerb durch eine
andere Gruppe mit Ruderern innerhalb des
+ Rotterdamer Hafengebiets. Untereinander
herrscht Gleichheit, und die Arbeit wird
Gefühl Was fühle ich dabei? verteilt
• Gefühl von Geborgenheit und
gegenseitigem Vertrauen in der Gruppe Zielgruppe
• Richtet sich an die paar Hundert Ruderer
Preis Was kostet es? im Rotterdamer Hafen
• Ich lege einen Teil meines
Einkommens zur Seite (für meinen Kundeneinblicke
Ruhestand) und das machen alle • Gemeinsam können wir viel füreinander
Kollegen. Es entstehen so gut wie erreichen, gesunde Mahlzeiten während
keine Kosten und nach dem Arbeitsleben

+
Aufwand Was muss ich dafür tun?
• Ich befasse mich mit dem Konzept
des Fonds und habe eine Übersicht
darüber, was ich zur Seite lege. Bald
weiß ich, wie wir in unsere
gemeinsame Rentenkasse
investieren

+
Kunst der Positionierung
Risiko Wie
unsicher ist es? Wertangebot für
• Weil wir es Kunden Marktsegmente
gemeinsam Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

machen und Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke
einander
vertrauen, fühle
ich mich sicher

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 8.2  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente des Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer
258 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Kompakte, flache Hierarchie ohne • Anwerbung von Ruderern erfolgt über
Vorstand oder Führungsstab, dafür mit Umwege und Auswahl auf Basis der
ein paar Schlüsselspielern, die Mentalität und Einfügung in die Kultur
gemeinsam eingestellt und vergütet • Automatische Teilnahme am Rentenfonds
werden ist mit der Tätigkeit als Ruderer im
• Einfache und für jedermann Rotterdamer Hafen verbunden
verständliche Verwaltung für eine
begrenzte Anzahl von Mitgliedern unter
Verwendung der aktuellen Technologie

Lieferanten & Partner Kundenkontakt & Zusatzdienste


• Investition eines Teils des Rentengelds in • Der Fonds funktioniert für und durch die
eigene Technologie und Innovation und Mitglieder, d. h. sie sind die Kunden und
in eigene Immobilien im Rotterdamer Botschafter
Hafen
• Zusammenarbeit in der gesamten
Infrastruktur des Rotterdamer Hafens
und Umgebung

Abb. 8.3  Betrieb und Kanäle des Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer


8  Gemeinsame Investition 259

Wert durch Kunden


• Die Ruderer selbst sind die Kunden. Sie leisten ihren Beitrag zur Vereinigung und
zum Rentenfonds, indem sie bei ihrer Arbeit Eigenverantwortung übernehmen und
Rentenverpflichtungen mit Solidarität auf der Grundlage von wohlverstandenem
Eigeninteresse nachkommen
• Renten für 19 Personen im Jahr 1949 und für 49 Personen im Jahr 1971

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Wert für und durch Anteilseigner


Mitarbeiter • Durch den gemeinsamen Aufbau von
• Die Ruderer haben ein gutes Gehalt und Vermögen und die gemeinsame Investition
eine gute Rente. Diese beiden Parameter kann eine wertbeständige Rente garantiert
sind für alle Mitglieder gleich, sodass bei werden
der Verteilung von Arbeit und Vermögen
nicht konkurriert werden muss

Wert für und durch die Gesellschaft


• Dank der Selbstorganisation der Ruderer wird die Arbeit im Rotterdamer Hafen gut
bewerkstelligt und werden keine kollektiven Leistungen benötigt

Abb. 8.4  Wertangebot für und durch Stakeholder des Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer
260 J. Kemperman et al.

Können gegebenenfalls Aspekte dieser Beobachtungen in die aktuelle Rentendis-


kussion eingebracht werden, wenn es beispielsweise um den Wunsch geht, für die
wachsende Anzahl Selbstständiger und Kleinunternehmer eine gute Altersrente zu
garantieren? Interessant ist, wie es dem Rentenfonds für die Ruderer gelingt, eine Reihe
selbstständiger Berufstätiger an einen Fonds zu binden, für den sie sich in hohem Maße
engagieren und verantwortlich fühlen. Was können wir daraus lernen?

• Das Geld für später einfach und transparent verwalten: Durch die direkte und einfa-
che Verwaltung ist der Rentenfonds weder unpersönlich noch abstrakt und es existiert
auch keine große Kasse mit unendlichen Geldmengen. Die Mischung aus Investitio-
nen, die eigene Kontinuität und Entwicklung fördern, und solchen, die sicheres Ver-
mögenswachstum garantieren, lässt die Beteiligten sehr aktiv zum Erfolg des Fonds
beitragen. Es ist jederzeit ersichtlich, wie sich dieser Fonds mit dem eigenen Einkom-
men im Ruhestand entwickelt.
• Menschliches Maß einer kleinen Gruppe, mit der die Rente geteilt wird: Das Tätig-
keitsfeld ist ebenfalls ein wichtiger Erfolgsfaktor. Das menschliche Maß bewirkt,
dass Leiter und Mitglieder einander kennen, dass die Mitglieder sich untereinander
kennen und häufig miteinander arbeiten. Diese Verbindung macht das Sprechen über
Regelungen, Kürzungen und Indexierungen ein Stück leichter. Auch unpopuläre Maß-
nahmen können nach guter Rücksprache schnell getroffen werden. Das fördert die
Schlagkraft und Steuerbarkeit des Fonds. Außerdem können so die Verwaltungskosten
des Fonds auf niedrigem Niveau gehalten werden.
• Lebenslange Teilnahme an der gleichen Gruppe: Ein wichtiges Kriterium für die
Ruderer ist, dass sie fast ausnahmslos ihr gesamtes Arbeitsleben am gleichen Fonds
partizipieren. Der Fonds bleibt bei den Mitgliedern. Auch das fördert das Engage-
ment der Mitglieder. Diskussionen über Solidarität zwischen Altersgruppen erhalten
dadurch eine andere Dimension.
• Kooperative Gemeinschaft, die über finanzielle Interessen hinausgeht: Den Ruderern
ist es gelungen, das Konzept der Community implizit anzuwenden, während wir heute
dabei sind, dies (virtuell oder nicht virtuell) neu zu erfinden. Die Selbstverständlich-
keit, mit der das vonstatten geht, trägt zur Flexibilität und Steuerbarkeit der Organi-
sation bei. Es gibt wenige Diskussionen über Form und Struktur, vielmehr wird die
Energie in Inhalt und Ergebnis gesteckt.
• Solidarität heißt nicht, dass alle gleich viel bekommen: Solidarität heißt nicht bis zum
letzten Cent zu bestimmen, wer mit wem solidarisch ist, sondern dass man fürein-
ander einsteht, auch wenn man dafür nicht sofort das Geld zurückerhält. Damit die
Solidarität nicht in Wohltätigkeit des Gebers und Abhängigkeit des Empfängers aus-
ufert, ist mitunter die Regelung von Solidarität erforderlich. Aber der Wille, füreinan-
der einzustehen, bleibt auch dann die Grundlage. Stellen wir mit der Nüchternheit der
Ruderer fest, dass diese Bereitschaft auch mit der Größe und dadurch mit der Erkenn-
barkeit der Gruppe, innerhalb derer die Solidarität aufgebracht wird, zusammenhängt.
8  Gemeinsame Investition 261

8.2 LeapFrog7

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Tom Buijtendorp, Miranda Schutz,
Jeroen Kemperman und Thomas Winkler verfasst.

Donald Trump + Mutter Theresa = Sexy


Prolog
Im reich ausgestatteten Saal des stattlichen Grosvenor House Hotel an der Park
Lane in London herrscht eine Atmosphäre, die in keiner Weise an die Zielgruppe
von armen Menschen in Afrika und Asien erinnert. 30 Investmentspezialisten von
­LeapFrog und Investoren von großen Finanzinstituten plaudern miteinander, die meis-
ten von ihnen in einem dunklen Maßanzug und das Sektglas routiniert in der Hand. Sie
wohnen in wohlhabenden Städten wie Sydney, London, Zürich oder Amsterdam und
übernachten in einem der luxuriösen Zimmer des Hotels. Für Außenstehende könnte
es ein Umtrunk einer Investmentbank sein, die einen Millionendeal feiert. Aber
hier stehen Menschen mit einem höheren Ziel als Geld allein. Erklärtes Ziel ist, den
80 % der Weltbevölkerung, die weniger als 10 US$ pro Tag (9,40 EUR pro Tag) zur
Ver­fügung haben, eine Existenzgrundlage zu garantieren. Das ist zum jetzigen Zeit-
punkt noch unerreichbar für diese Gruppe. LeapFrog will dieses Ziel mit Geld von
Investoren erreichen, die sich in den betroffenen Ländern bislang vor allem auf die
reicheren Bevölkerungsschichten konzentriert haben. Die gerade gezeigten Präsenta-
tionen verdeutlichen, dass der Traum mittlerweile Wirklichkeit wird, mit guten Ergeb-
nissen sowohl für die anwesenden Investoren als auch für die arme Zielgruppe, die
beispielsweise über Mobiltelefone Zugang zu Versicherungen erhalten hat. Obwohl
die Entwicklung noch nicht weit vorangeschritten ist, wurden bereits renommierte
Preise vergeben, die beweisen, dass die Anwesenden ein neues bahnbrechendes Busi-
nessmodell geschaffen haben. Als Außenstehende sind wir vom Konzept noch nicht
vollkommen überzeugt: Im Maßanzug den Armen helfen und damit Geld verdienen,
ist das möglich? Als wir uns unter die Anwesenden mischen, fällt uns auf, dass die
Gespräche anders sind als bei einem durchschnittlichen Investitionsfonds. Es handelt
sich tatsächlich um Menschen mit einer Mission, aber ohne Socken aus Schafswolle.
Was scheinbar unmöglich zu kombinieren war, kommt hier zusammen. „Profit with
purpose“ wie Mitbegründer Andrew Kuper in einer Rede vor den geladenen Gästen
wiederholt. Es wird applaudiert. Man fühlt, dass hier etwas Besonderes passiert. Han-
delt es sich hier um einen Paradigmenwechsel im Finanzwesen?

7DiesesKapitel konnte nur auf der Grundlage eines Besuchs bei LeapFrog und der damit verbun-
denen Gespräche mit Gründer und Hauptgeschäftsführer Andy Kuper sowie Seniorberater Don
Gray realisiert werden. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken. Gleichzeitig übernehmen die
Autoren die Verantwortung für eventuelle Fehler.
262 J. Kemperman et al.

Einleitung
LeapFrog legt Vermögen in Finanzdienstleistungsunternehmen und insbesondere in Ver-
sicherungsgesellschaften für Menschen mit niedrigen Einkommen an. Das ist ein brillan-
tes Businessmodell im Finanzwesen, das selbst wiederum neue brillante Businessmodelle
im Finanzwesen schafft. LeapFrog Investments wurde 2007 von Andrew Kuper, der sich
selbst Andy nennt und immer noch Hauptgeschäftsführer ist, und Jim Roth, der als Partner
immer noch bei LeapFrog arbeitet, gegründet. Geboren und aufgewachsen in Südafrika,
absolvierte Andy Studiengänge an den renommiertesten Universitäten wie Cambridge in
England und Harvard in den USA.8 Andy lernt Jim Roth in Cambridge kennen, wo beide
beim selben Professor erfolgreich promovieren. Andy hat Unternehmergeist mit der Mut-
termilch aufgesogen und ist fasziniert durch die Verknüpfung von profit mit purpose. Er
ist Networker, Unternehmer und Marketingspezialist. Jim weiß u. a. Dank seiner Doktor-
arbeit alles über (Mikro-)Versicherungen und ist ein internationaler Experte auf diesem
Gebiet. Zehn Jahre später, d. h. 2007, haben sie gemeinsam die Idee, die in unterschiedli-
chen Welten gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse miteinander zu kombinieren. Sie
sehen in (Mikro-)Versicherungen einen potenziellen Markt, in dem die Kombination von
profit und purpose sowohl etwas bewirken als auch Wachstum realisieren kann.

Erste Investition AllLife: Lebensversicherung für Menschen mit HIV und Diabetes
in Südafrika
Die beabsichtigte soziale Wirkung zeigt sich in der ersten Investition von LeapFrog,
einem Anteil an AllLife von 6,7 Mio. US$ (6,3 Mio. EUR). Für ein Unternehmen wie
AllLife ist kein Investorengepräch leicht, wenn es erklärt, dass es Lebensversiche-
rungen für Kunden mit HIV anbietet und wachsen will. LeapFrog schreckten diese
Ausführungen nicht ab.9 Jim Roth beschreibt die Bedeutung dieser Versicherungsge-
sellschaft in der Zeitschrift The Economist wie folgt: „Jemanden unterstützen, damit
er lebt.“10 Es ist das einzige Unternehmen in Südafrika, das Lebensversicherungen
für Kunden bietet, die AIDS haben, die mit dem HIV-Virus infiziert sind oder die mit
Diabetes Typ 1 oder Typ 2 leben. Mit der wichtigen Bedingung, dass diese Kunden
regelmäßig ihr Blut testen lassen müssen, um zu zeigen, dass sie die verschriebenen
lebensrettenden Medikamente nehmen. Eine Lebensversicherung bietet diesen Kunden
außerdem Zugang zu anderen Finanzprodukten. Jemand mit HIV kommt häufig nicht
in Betracht für eine Hypothek, weil die Bank Angst hat, dass er stirbt, bevor das Geld
zurückgezahlt ist. Mit einer Lebensversicherung ist der Kreditnehmer gegen dieses
Risiko geschützt, sodass die Bank eher bereit ist, eine Hypothek zu gewähren. Diese
Lebensversicherung ist auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene einzigartig, ins-
besondere in Südafrika, das weltweit die größte AIDS- und HIV-Rate hat und wo Prä-
vention häufig durch die mit HIV und Aids verbundenen Stigmata unterbunden wird.11

8http://www.leapfroginvest.com/lf/leapfrog/popup3.php?id=137.

9http://www.leapfroginvest.com/lf/media/videos/4.

10http://www.economist.com/node/21528678.

11http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3136617/.
8  Gemeinsame Investition 263

8.2.1 Das Fundament: Wir bitten Sie, nicht zwischen Geld und
Bedeutung zu wählen

LeapFrog sieht Potenzial bei einer wichtigen Bevölkerungsgruppe, die von Investoren
und Unternehmen häufig übergangen wird: die Gruppe mit den niedrigsten Einkommen,
die häufig schlechten bis keinen Zugang zu finanzieller Sicherheit und Unterstützung
hat. Eine Gruppe Menschen, die gerade beides so sehr nötig hat, weil ihre Möglichkei-
ten zur Geldeinnahme begrenzt sind. LeapFrog konzentriert sich auf Entwicklungs- und
Schwellenländer, vornehmlich in Asien und Afrika. LeapFrog ist der Meinung, dass
Spenden langfristig keine wesentliche Verbesserung für die Gruppe bringen, die an der
Armutsgrenze lebt. Auch hier gilt der Leitsatz, der in diesem Buch häufiger zu finden ist:
„Wohltätigkeit ist nicht skalierbar.“12 Wohltätigkeit ist häufig kurzfristig und begrenzt,
und verbessert die Fähigkeit zur Selbsthilfe nicht bedeutend. Um wirklich den Unter-
schied machen zu können, müssen Kapital und Folgewirkung Hand in Hand gehen. Eine
Investition in ein Versicherungsunternehmen mit viel Wachstumspotenzial (profit) muss
untrennbar verbunden sein mit der Schaffung von Auswirkungen auf den Kundenwert für
Gruppen, die es am meisten brauchen (purpose). Wie sehen diese Auswirkungen genau
aus und welche technische und soziale Innovationen sind dafür erforderlich? Innerhalb
der Bevölkerungsgruppe mit wenig Einkommen kann man beispielsweise einem Bauern
die Möglichkeit geben, eine Versicherung abzuschließen für den Fall, dass sein einziger
Traktor den Geist aufgibt. Andy und Jim sehen, dass die Auswirkungen und Wachstums-
möglichkeiten mit dieser Art von Lösungen innerhalb dieser großen Bevölkerungsgruppe
gigantisch sind.13
Was ist das Ergebnis? „Profit with purpose“ ist ein Magnet für gute Ideen, gute Men-
schen und Kapital. Es spricht die fundamentalsten und primärsten Triebfedern von
Menschen an. Nur purpose allein ist langweilig und dürftig. Nur profit allein ist nichts
weiter als reiner Profit. Die Kombination ist spannend und attraktiv. Oder so wie Andy
es erklärt: „Mutter Theresa ist sozial, aber nicht sexy. Donald Trump ist erfolgreich, aber
nicht gut. Mutter Trump ist eine attraktive Kombination, die die besten Menschen und
Investoren anzieht und mit der man jeden Wettbewerber hinter sich lassen kann.“ Es reizt
auch deshalb, weil viele es für unmöglich halten, Gewinn machen zu können und gleich-
zeitig armen Menschen zu helfen. Dank ihres Netzwerks erhalten die Gründer Jim und
Andy viel Unterstützung in der Anfangsphase. Führende internationale Investoren wie
George Soros und Pierre Omidyar von eBay stehen hinter ihnen. Sie können mietfrei in
einem Büro von McKinsey beginnen. Auch andere Top-Berater stehen den beiden gern
mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem ist es sicherlich eine große Hilfe, dass der ehemalige

12Zitat mit Dank an Prof. Shetty van Narayana. Siehe: Kemperman, Geelhoed und op ’t Hoog

(2014).
13http://www.leapfroginvest.com/lf/about/what-we-do.
264 J. Kemperman et al.

US-Präsident Bill Clinton, der auf diesem Gebiet sehr aktiv ist, bereits bei der Gründung
ankündigt, dass es sich hierbei um eine wichtige, neue Initiative handelt.
Es ist dennoch ein rumpeliger Start mit vielen Hindernissen. So wird LeapFrog in der
ersten Woche mit dem Untergang von Lehman Brothers konfrontiert, einem Ereignis, das
die Welt der Investitionen in ihren Grundfesten nachhaltig erschüttert hat. Das hält Lea-
pFrog jedoch nicht davon ab, seinen Weg fortzusetzen und ein starkes Managementteam
zu bilden. Dieses Team wird mit dem Expertenwissen talentierter Menschen bereichert,
die Jim und Andy um sich herum versammelt haben.
Diese Menschen arbeiten gemeinsam an der Stärkung und Bereicherung von Versi-
cherungsunternehmen für Menschen mit wenig Einkommen, indem sie Geld und Know-
How darin investieren. Im Wesentlichen steht LeapFrog für Gewinngenerierung, um
Existenzkontinuität auf der Grundlage der Philosophie „profit with purpose“ zu garantie-
ren. Die Basis sind die eigenen Wurzeln und Netzwerke der Gründer in Kombination mit
dem Leitbild, das sich an Mikroversicherungen und Innovation für Menschen am Sockel
der Einkommenspyramide orientiert. Das höhere Ziel von LeapFrog besteht darin, den
Teufelskreis von Armut nachhaltig zu durchbrechen. Das klingt nobel, aber wie genau
stellt man das an? LeapFrog verknüpft Kapital mit dem Bedarf von Menschen mit gerin-
gem Einkommen an finanzieller Entwicklung und Schutz.
2008 setzt sich LeapFrog zum gewagten Ziel, in zehn Jahren 25 Mio. Menschen mit
einem niedrigen Einkommen den Zugang zu bedeutungsvollen Versicherungsprodukten
zu ermöglichen. Der erste Fonds wird 2008 eingerichtet, bei dem das ehrgeizige Ziel in
Form eines Investitionsbetrags von 100 Mio. US$ (94 Mio. EUR) um 30 Mio. übertrof-
fen wird. Zu diesem Zeitpunkt wurden über die Investitionen aus diesem Fonds bereits
22,5 Mio.14 Menschen erreicht. Daraufhin wurde das Ziel nach oben korrigiert: Bis 2020
sollten 50 Mio. Menschen mit einem niedrigen Einkommen erreicht werden. Laut neu-
ester Prognosen wird dieses neue Ziel bereits 2017 erreicht sein. Im Jahr 2014 soll ein
zweiter Fonds in Höhe von 200 Mio. US$ (188 Mio. EUR) realisiert werden. Dieses ehr-
geizige Projekt mündet schließlich in einem Fonds von 400 Mio. US$ (376 Mio. EUR)
(vgl. Chassany 2014).
LeapFrog glaubt an das Wachstum des Markts für Menschen mit niedrigen Einkom-
men. Verbesserte Lebensstandards und ein wachsender Konsum werden Triebfeder eines
jährlichen Wachstums dieses Markts sein, das laut Internationalem Währungsfonds zwei-
oder sogar dreimal so hoch ist wie das Wachstum in entwickelten Märkten. ­LeapFrog
setzt das in die Wachstumsambitionen für die Unternehmen um, in die investiert wird.
Die Zielvorgabe ist, dass die Eigenkapitalrendite (RoE) jährlich um 20 % bis 25 %
wachsen muss. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt sich LeapFrog bei den Versicherungs-
gesellschaften, in die investiert wird, nicht mit einem Kompromiss zwischen finanziellen
Erträgen und sozialer Auswirkung zufrieden. Profit und purpose gehen Hand in Hand
und stärken einander. Intern werden regelmäßig Begriffe wie „LeapFroggy“ verwendet.

14http://www.leapfroginvest.com/lf/about/what-we-do.
8  Gemeinsame Investition 265

Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich gut anfühlt. Dafür will LeapFrog wie
bereits erwähnt so attraktiv sein wie eine „Mutter Trump“. Das Unternehmen will Füh-
rungspersonen aus den verschiedenen Welten Investment und Entwicklungsarbeit mitei-
nander verbinden. Anschließend muss sich LeapFrog auszeichnen durch Networking und
Profilierung, fundiertes Expertenwissen über Mikroversicherungen sowie durch kreatives
und intelligentes Fondsmanagement.

8.2.2 Das Businessmodell: Profit with purpose

Das Businessmodell von LeapFrog muss eine gesunde Rendite generieren und eine sozi-
ale Wirkung erzielen. Das gelingt, indem die traditionellen, auf Gewinn ausgerichteten
Instrumente wie internationale Fondswerbung und straffe Performance-Berichte mit Ins-
trumenten aus der Entwicklungszusammenarbeit wie technische Assistenz, Nutzung von
Entwicklungsgeldern, Networking und Unterstützung in der Zusammenarbeit mit loka-
len Partnern kombiniert werden. Die Kombination schafft ein einzigartiges Businessmo-
dell für die Versicherung armer Menschen.

Marktsegmente: Finanzdienstleister für Versicherte mit niedrigen Einkommen


Ein Investmentfonds ist ein Markplatz, wo angelegtes Vermögen von Investoren mit dem
Vermögensbedarf von Unternehmen verknüpft wird. In einem gewöhnlichen Investment-
fonds liegt dabei der Fokus auf den Investoren. Ausgehend von der Warum-Frage (why?)
legt LeapFrog den Schwerpunkt mehr auf die Unternehmen, in die investiert wird, und
zieht auf dieser Grundlage Investoren an, die sich als Partner beteiligen möchten. Es
bleibt ein Marktplatz, aber um dem Businessmodell von LeapFrog gerecht zu werden,
wird das Modell in dieser Fallstudienbeschreibung umgekehrt: Die Finanzdienstleister
und Versicherten werden hier als Kunden beschrieben und die Investoren als Lieferanten.
LeapFrog investiert in die direkte Zielgruppe der lokalen Finanzdienstleister. Das sind
primär Versicherer und sekundär Distributoren für Finanzprodukte und unterstützende
Betriebe wie technische Plattformen und Verwaltungsdienste. Über diese Betriebe rich-
tet sich LeapFrog an die zweite Zielgruppe der Armen mit niedrigem Einkommen. Das
betrifft im weitesten Sinne die über 5 Mrd. Menschen (80 % der Weltbevölkerung), die
pro Person höchstens 10 US$ pro Tag (9,40 EUR) ausgeben können. Hier geht es vor
allem um die Gruppe von ca. 3 Mrd. Menschen (50 % der Weltbevölkerung), die pro Tag
weniger als 2,50 US$ (2,25 EUR) ausgeben können und von denen 1,4 Mrd. Menschen
täglich sogar weniger als 1,25 US$ (1,17 EUR) zur Verfügung haben. Diese Menschen
sind jetzt so gut wie noch nicht versichert, und das ganze Prinzip muss noch erklärt wer-
den. Die Kollegen sind die anderen Finanzdienstleister, die diese Welt ebenfalls erobern
wollen. Zu den einzigartigen Kundeneinblicken von LeapFrog gehört, dass auf Basis
der Unternehmensauswahl in der Zielgruppe der armen Menschen mit extrem niedrigen
Einkommen, angesichts der hohen Verbraucherzahlen und des starken Wirtschaftswachs-
tums, gesellschaftlich viel bewirkt und Gewinn erzielt werden kann.
266 J. Kemperman et al.

Markenkern: „Profit with purpose“

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Den Teufelskreis des Rückfalls in die Armut • Bis 2020 über 50 Millionen Menschen in
durchbrechen, indem Verbraucher und Entwicklungsmärkten versichert
Kleinunternehmer in Entwicklungsmärkten
versichert werden
Markenversprechen
• LeapFrog investiert in
Markenursprung Versicherungsunternehmen und damit
• Entstanden aus den renommiertesten der verbundenen Finanzdienstleistern in Afrika
internationalen, finanzgesellschaftlichen
und Asien, die mit skalierbaren,
und universitären Netzwerke, die das
gewinnbringenden Businessmodellen
Unternehmen auch nach wie vor
tatsächlich etwas bewirken
unterstützen
• Angetrieben von einem Leitbild und
Vorbildern, um in Entwicklungs-
märkten sowohl Gewinn
Markenkern
für Investoren als Was ist der fundamentale Kern?
auch eine soziale
Auswirkung
für Versicherte Höheres Ziel
zu erzielen Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kernqualitäten
• Networking und Profilierung
• Expertenwissen über Mikroversicherung
• Kreatives und intelligentes Fondsmanagement
Kern- und Markenwerte
• Profit with purpose Markenbeweis
(„LeapFroggy“) • Beteiligte Personen auf Seiten der Investoren, das
• Sexy („Mutter Trump“ als Team von LeapFrog und
Magnet) Finanzdienstleistungsunternehmen in
• Bindeglied zwischen Welten Entwicklungsmärkten
(Investitionen und • Erreicht 22,5 Millionen Versicherte mit den Fonds
Entwicklungsarbeit, westliche Leapfrog I in Höhe von 100 Millionen USD
Märkte und (94 Millionen EUR) und LeapFrog II in Höhe von
Entwicklungsmärkte) 400 Millionen USD (376 Millionen EUR)

Abb. 8.5  Leitbild und Positionierung von LeapFrog


8  Gemeinsame Investition 267

Wertangebot für Kunden: Zugang zu Versicherungen für die Armen


Das für die versicherten Menschen erreichte Ziel besteht darin, dass ihre Existenzgrund-
lagen besser geschützt werden. Damit wird verhindert, dass Menschen bei einem Rück-
schlag strukturell in Armut und unter das Existenzminimum zurückfallen. Dabei kann
es sich um Kompensation für den Verlust von Produktionsmitteln wie Maschinen, Tiere
oder den eigenen Körper handeln. Oder es handelt es sich um Gesundheitskosten oder
das Einkommen für den Ruhestand oder die Hinterbliebenen. Das klingt alles fantas-
tisch, aber gleichzeitig ist Versichern als Konzept – noch viel mehr als Banking – schwer
zu erklären, wenn jemand nicht weiß, wie es funktioniert. Warum sollte man sich ver-
rückt machen und Geld für theoretische Probleme von morgen zahlen, wenn es doch
heute schon so viele ‚echte‘ Probleme gibt? Wie kann es sein, dass man Geld zahlt, wenn
doch (noch) gar nichts schiefgelaufen ist? Wie erklärt man das? Wie bringt man es fer-
tig, dass jeder kontinuierlich zahlt und die Entschädigung bekommt, auf die er Anspruch
hat? LeapFrog sucht nach einfachen Vorschlägen, die intuitiv so logisch sind, dass Men-
schen sie verstehen, ohne hohe Beratungskosten zu zahlen und Gefahr zu laufen, das
­Falsche zu tun. LeapFrog investiert dabei typischerweise in Unternehmen, die innova-
tive Ansätze gefunden haben, Kunden einfach und preiswert Versicherungen näher zu
bringen, z. B. über das Mobiltelefon oder durch die Nutzung bestehender Distributions­
netzwerke wie beispielsweise kleine Geschäfte oder lokale Zusteller. Dabei wird nach
sehr preiswerten Lösungen und kreativen Zahlungsmethoden in kleinen Raten gesucht,
damit die Versicherungen auch für größere und ärmere Gruppen zugänglich werden.

Kanäle: Willkommen bei den regionalen Investment Teams und in den LeapFrog Labs


Für Unternehmen, in die investiert wird, hat LeapFrog Investment Teams gebildet, die
neue Investitionen suchen, sowie LeapFrog Labs eingerichtet, die bestehende Inves-
titionen unterstützen. Die Investment Teams sind weltweit organisiert und haben ihren
Standort in drei unterschiedlichen geografischen Regionen: Afrika, Südasien und Südost-
asien. Indem LeapFrog selbst auch Erfahrungen vor Ort mit bestehenden Unternehmen
sammelt, die bereits einen Kundenstamm haben, gewinnt es nützliche Erkenntnisse über
die gewünschte Kundengruppe, Do’s and Dont’s und besondere Merkmale des Markts.
Dabei können Erfahrungen zwischen Ländern geteilt, genutzt und angewendet werden.
Der Mangel an beispielsweise zuverlässigen Marktdaten mit Einkommensstatistiken und
Schadensdaten muss auf diese Weise durch eigene Kundeninformationen und Orientie-
rungswerte kompensiert werden.
Mit umfassenden technischen Support-Teams in Form von LeapFrog Labs unterschei-
det sich LeapFrog von anderen Investoren. Es ist damit mehr ein Berater, der bei einer
Turnaround- oder Wachstumsstrategie auf Basis eines mit dem lokalen Management
gemeinsam erstellten Businessplans hilft, als ein Großaktionär, der dem Unternehmen
aus der Ferne neue Zielsetzungen vorgibt. Ziel ist es auch, die ‚Einsamkeit‘ der Haupt-
geschäftsführer zu durchbrechen. In Gesprächen geben die Vorstände der betroffenen
Unternehmen auch an, dass ihnen mit dem technischen Support von LeapFrog enorm
geholfen wird. Häufig stecken sie fest in einer bestimmten Entwicklungsphase, sodass
268 J. Kemperman et al.

entweder eine Pleite drohte oder anderweitig ihre Möglichkeiten nicht erreicht werden
können. Dank intensiver Begleitung gelingt es den Unternehmen, die nächste Wachs-
tumsstufe zu erreichen. Dieser Ansatz ist an die Mikrofinanzierung und -versicherung
angelehnt, bei denen häufig mit Spendengeldern bezahlter technischer Support geboten
wird. Als Mitglieder eines fliegenden Teams können die Mitarbeiter des LeapFrog Lab
an den gewünschten Standort entsandt werden. LeapFrog Labs werden als separate
Einheit betrieben, die zum jetzigen Zeitpunkt noch gemeinnützig durch Spendengelder
finanziert werden. „Labs“ unterstützt das gesamte Portfolio von LeapFrog und arbeitet
eng mit den Investment Teams zusammen.

Betrieb: Ein Magnet für die besten Partner und Menschen


LeapFrog praktiziert ein strenges und straffes Auswahlverfahren für Investitionen. Aus
100 Möglichkeiten werden 10 ernsthaft geprüft, um anschließend eine oder zwei als
Investitionsprojekt auszuwählen. LeapFrog verschafft sich mit Marktforschung und -ana-
lysen eine Übersicht darüber, welche Investitionsobjekte möglicherweise zum Business-
modell passen und das Potenzial haben, schließlich zu einem höheren Wert verkauft zu
werden. Das Unternehmen muss das Potenzial haben, mit intensiver technischer Unter-
stützung von LeapFrog (Hundert-Tage-Plan) Wachstum zu realisieren. LeapFrog inves-
tiert nicht in Unternehmen, die sich noch in der Aufbauphase befinden oder gerade erst
gegründet wurden. Investiert wird außerdem nicht in Initiativen von ehrenamtlichen oder
gemeinnützigen Organisationen, die anschließend noch in ein Unternehmen umgewan-
delt werden müssen.
Das würde einen zu großen und zeitraubenden Umschwung in der Kultur und im
Businessmodell erfordern. Gleichzeitig wiegt die soziale Komponente als Prüfstein
bei der Erwägung einer Investition schwer. Neben der üblichen Prüfung der finanziel-
len Situation (Financial Due Diligence) führt LeapFrog deshalb auch eine so genannte
Social-Due-Diligence-Prüfung durch. Wenn ein potenzieller Investitionskandidat für
das Portfolio nicht zu 100 % LeapFroggy ist, bedeutet das beispielsweise, dass die Due-
Diligence-Prüfung gezeigt hat, dass für eine Ausweitung nicht genügend Professionalität
vorhanden ist oder dass die interne Kultur nicht gut zum Leitsatz „profit with purpose“
passt. Wenn der Investitionskandidat schließlich darauf ausgerichtet ist, schnell Geld zu
verdienen, will LeapFrog ein solches Unternehmen unter keinen Umständen mit ins Boot
holen.
LeapFrog hat einen Bewertungsrahmen aufgestellt, mit dem die Ergebnisse eines
Versicherers in vier Bereichen gemessen werden und mit dem evaluiert bzw. analysiert
werden soll, ob der Versicherer investitionswürdig ist und wie erfolgreich die Investition
seien könnte.15 Diese Bereiche sind:

15FAIRM: LeapFrog’s Profit with Purpose Measurement Framework, 2014, Samantha Duncan,

Associate Director of Impact, [email protected], [vertraulich].


8  Gemeinsame Investition 269

Tab. 8.2  Bewertungsrahmen von LeapFrog


Finanzen Wachstum und Gewinn des Unternehmens
Auswirkung Anzahl von Kunden mit niedrigem Einkommen. Die Qualität der Produkte
(soziale Wirkung für die Kunden) gute Leitung und Politik. Als Indikator für
eine gute Leitung und Politik dient das Instrument Global Investing Ratings
System (GIRS), das sich auf soziale Zwecke und Ziele im Umfeld bezieht
Innovation Innovation wird beurteilt nach besseren Preisen der Produkte, der Skalier-
barkeit und/oder alternativen Distributionskanälen der Produkte und nach
Verbesserungen in der Produktivität (Anzahl der Verkäufe pro Vertreter)
Risikomanagement Risikomanagement verschafft eine Übersicht über das Ausmaß des effekti-
ven Risikomanagements und die Solvenzquote

Mit diesem Bewertungsrahmen (kurz FIIRM) lässt sich das gewagte Ziel überprüfen.
Er zeigt, ob LeapFrog sein Versprechen gegenüber Investoren und Versicherten im Hin-
blick auf Geld und Bedeutung wahrmacht. Das gilt pro Investition, aber auch für das
Portfolio als Ganzes. Die wichtigsten Partner für LeapFrog sind die Investoren. Was
den zweiten Fonds betrifft, gehören dazu Unternehmen wie Axa, AIG, Alliance, Zurich,
Prudential, Schweizer Rück und TIAA-CREF, aber auch niederländische Unternehmen
wie Achmea, FMO und Triodos Bank. Der Investitionsmarkt ist ein Angebotsmarkt. Es
gibt immer größeren Bedarf an Investitionen als Geld vorhanden ist, weshalb um die
Gunst der Investoren konkurriert werden muss. Ein wichtiges Unterscheidungskrite-
rium ist dabei die zügig entwickelte Stärke von LeapFrog als zuverlässige Marke. Da
LeapFrog von Anfang an mit einem engmaschigen Netzwerk von großen Namen ver-
bunden ist, betrachten Investoren weltweit das Unternehmen als frischen und innovie-
renden Gesprächspartner auf Augenhöhe, obwohl sie selbst viel größer sind und länger
existieren. Dabei sind die Galionsfiguren von LeapFrog häufig auf internationalen Büh-
nen anzutreffen, wo sie ihre Botschaft mit dem Rest der Welt teilen. So verleihen sie der
Marke die gewünschte Mutter-Trump-Ausstrahlung. Auf entsprechende Anfrage geben
verschiedene Investoren an, dass LeapFrog auch als Investmentfonds sehr proaktiv und
professionell ist. So finden beispielsweise in London, das für viele Investoren eine häufig
frequentierte Stadt ist, regelmäßig Konferenzen statt, auf denen die Hauptgeschäftsfüh-
rer der durch die Investitionen begünstigten Unternehmen Präsentationen halten. Diese
Veranstaltungen sind ideal, um Fragen zu stellen oder Diskussionen anzustoßen; darüber
hinaus bieten sich Gelegenheiten, um direkt mit den Mitarbeitern von LeapFrog und den
Unternehmen, in die investiert wird, in Kontakt zu treten.

BIMA
Ein erfolgreiches Beispiel für ein LeapFroggy Versicherungsunternehmen, in das
investiert wird, ist BIMA. Dieser Mobilfunkanbieter hat ein einzigartiges Business-
modell, das auf der Versicherung über das Mobiltelefon basiert. Das U ­ nternehmen
hat in drei Jahren sieben Millionen Abonnenten gewinnen können und nimmt
270 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Ich bin versichert und meine Existenz ist • Anführer und Bindeglied eines
gesichert, wenn ich Schaden erleide, krank tonangebenden internationalen Netzwerks
werde oder jemand stirbt auf dem Gebiet der
+ Vermögensverwaltung, Entwicklungsarbeit
und Finanzdienstleistung
Prozess Wie bekomme ich es?
• So nah, einfach und zugänglich wie Wettbewerber
möglich, z. B. über das Mobiltelefon • Die meisten Menschen sind nicht

+
versichert, es wird mit anderen (Rück-)
Versicherern „konkurriert“, um das als
Gefühl Was fühle ich dabei? Erstes zu ändern
• Ein Gefühl von mehr Halt und Sicherheit
für die Zukunft Zielgruppe
• Richtet sich über Finanzdienstleister mit
Wachstumspotenzial in
Entwicklungsmärkten an die 5 Milliarden
Preis Was kostet es? Menschen, die pro Tag weniger als
• Ich zahle monatlich eine niedrige Prämie 10 USD (9,40 EUR) zur Verfügung haben,
zwischen 2 und 5 USD (1,88-4,70 EUR) und insbesondere an die 3 Milliarden
Menschen, die pro Tag weniger als
+ 2,50 USD (2,25 EUR) ausgeben können
Aufwand Was muss ich dafür tun?
• Ich muss mich mit der Funktion und dem Kundeneinblicke
Warum des Versicherungsprinzips • Menschen mit niedrigen Einkommen
befassen, aber es ist einfacher als früher können sich häufig nicht gegen Risiken
versichern, angesichts der großen Anzahl
+ ist diese Bevölkerungsgruppe jedoch ein
vielversprechender Markt mit viel
Risiko Wie unsicher ist es?
Wachstumspotenzial
• Die Menschen, die die Versicherung
anbieten, sind zuverlässig,
aber wenn mir nichts passiert,
ist die gezahlte Prämie Kunst der Positionierung
dennoch verloren
Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 8.6  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von LeapFrog


8  Gemeinsame Investition 271

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Die Prüfung von Unternehmen, in die • An Endkunden gerichtetes Marketing
investiert wird, gemäß dem FAIRM- über lokale Versicherer und
Bewertungsrahmen (Finanzen, Finanzdienstleister, in die LeapFrog
Auswirkung, Innovation und investiert
Risikomanagement) zeigt, ob LeapFrog • Identifizierung von Unternehmen, in die
sein Versprechen hinsichtlich Geld und anschließend über regionale
Bedeutung wahrmacht Investment Teams investiert wird

Lieferanten Kundenkontakt
• Starke Position bei Investoren durch • LeapFrog und seine Kunden arbeiten als
internationales, renommiertes Netzwerk im Partner zusammen
finanziellen, universitären und
gesellschaftlichen Bereich Zusatzdienste
• Große Investoren, die Bedarf haben an • Lokale Zusammenarbeit erfolgt über
verantwortlichen und rentablen LeapFrog Labs, die als separate
Investitionen gemeinnützige Organisation betrieben
und durch Dritte wie
Partner Wohltätigkeitsorganisationen und
• Zusammenarbeit mit Schlüsselspielern Behörden finanziert werden
bei lokalen Instanzen und Behörden

Abb. 8.7  Betrieb und Kanäle von LeapFrog


272 J. Kemperman et al.

­ ittlerweile auf drei Märkten eine profitable Position ein. Der Großteil seiner Kun-
m
den verfügt über ein niedriges Einkommen. So leben gut drei Viertel von weniger als
3,75 US$ am Tag (Senegal) oder sogar von weniger als 2,50 US$ (Tansania). Viele
Kunden haben kein Konto und befinden sich damit außerhalb des Blickfelds tradi-
tioneller Mikroversicherer, die häufig auf einen Start mit Mikrofinanzierung wei-
terbauen. Oft geht es um Menschen in abgelegenen ländlichen Regionen, die ein
Mobiltelefon besitzen. Der Telekommunikationsanbieter erhöht mit den Zusatz-
diensten die Kundenbindung, was in seinem Markt, auf dem vor allem um den
Preis von Gesprächsminuten konkurriert wird, eine essenzielle Stärkung für das
Businessmodell ist. BIMA ist häufig der erste Versicherer im Leben von Menschen.
Damit erhöht das Unternehmen das Bewusstsein über das Konzept „versichern“
und verbessert die Zugänglichkeit mit der Distribution per Mobiltelefon. Die Versi-
cherungsprämie wird über das Telefonguthaben auf dem Mobiltelefon gezahlt und
kassiert. Damit der Betrag für die Kunden bezahlbar bleibt, ist die bereits niedrige
monatliche Prämie in fünf Raten eingeteilt. Auf diese Weise ist die Versicherung für
eine sehr große Gruppe von Menschen zugänglich. Auffällig ist die hohe Qualität
von Kunden, was sowohl für den Telekommunikationsbetreiber als auch für den
Versicherer viel Wert ist. Wichtige Erfolgsfaktoren sind Einfachheit und Niedrig-
schwelligkeit. So gibt es beispielsweise das Freemium-Konzept, bei dem ab einem
bestimmten Telefonguthaben ein kostenloser niedriger Versicherungsschutz gewährt
wird, der gegen Bezahlung erhöht werden kann. In den ersten Jahren bot BIMA
Produkte lokaler Versicherer an, darunter Lebensversicherungen, Unfallversiche-
­
rungen und Krankenversicherungen. Im Frühjahr 2014 hat BIMA in Kambodscha
zum ersten Mal selbst eine Versicherungslizenz erhalten – ein nächster Meilenstein
in seiner Entwicklung. Am 13. Juni 2014 gibt die Financial Times in Zusammenar-
beit mit der International Finance Corporation (IFC) bekannt, dass BIMA mit dem
Award for Excellence in Transformational Business ausgezeichnet wurde.16

8.2.3 Das Ergebnis: Das Modell ist am Arbeiten

Der Anlagehorizont des ersten Fonds von LeapFrog (aus dem Jahr 2008) beträgt zehn
Jahre, einschließlich des Verkaufs von Anteilen. Damit ist das sicherlich noch kein gänzlich
bewährtes Businessmodell. Das schließt nicht aus, dass es bereits Frühindikatoren dafür
gibt, dass alle Beteiligten ein starkes Vertrauen in das Modell haben und alle aus diesem
neuen Ansatz einen Nutzen ziehen werden. Das Herz der Wertschöpfung durch und für
LeapFrog ist die bereits erwähnte und erörterte Kombination aus profit und purpose, die
die wichtigsten Triebfedern von Menschen anspricht und so eine magnetische Anziehungs-
kraft auf Stakeholder ausübt, die miteinander verbunden werden. Andy: „Man kann Zweck
durch die Schröpfung von Profit und Profit durch die Schröpfung von Zweck realisieren.“

16http://aboutus.ft.com/2014/06/13/ft-and-ifc-announce-winners-of-2014-transformational-busines

s-awards/#axzz3CcWO1Fxf.
8  Gemeinsame Investition 273

Zuallererst gibt es in den jeweiligen Ländern die Endverbraucher der Unternehmen, in die
investiert wird. Das betrifft nicht nur die Menschen, die bereits Kunden waren, als LeapFrog
investierte, sondern auch die neuen Kunden, die danach geworben wurden. Das Wachstum
übertrifft die Erwartungen; damit wird auch ein Wertangebot für und durch die Unterneh-
men geschaffen, in die Investitionen fließen. So stieg bei der Investition in Express Life in
Ghana der Kundenbestand innerhalb von zwei Jahren von 12.000 auf 350.000, wobei 60 %
der Kunden weniger als 5 US$ pro Tag (4,70 EUR) ausgeben kann. Da die Unternehmen,
in die LeapFrog investiert, häufig die ersten Versicherer sind für Menschen mit niedrigem
Einkommen in Afrika und Asien erobern sie wertvolle Schlüsselpositionen. Diese haben viel
Wachstumspotenzial, insbesondere im Vergleich zu den gesättigten westlichen Märkten.
Fondsverwalter wie LeapFrog legen enorme Vermögen mit einem Team an, das aus
einer sehr begrenzten Anzahl von Mitgliedern besteht. Die Anwerbung und Bindung der
besten Mitarbeiter an die Investment Teams und an das Unternehmen dahinter ist deshalb
von großer Bedeutung für Erfolg. Dabei herrscht Wettbewerb in der kleinen, schnellen
und häufig auch etwas leeren Welt der Vermögensanleger. Was veranlasst junge Talente
führende Finanzdienstleistungsunternehmen zu verlassen, um für LeapFrog zu arbeiten,
häufig sogar noch zu einem niedrigeren Gehalt? Andy Kuper verweist auf die Unterneh-
menskultur bei LeapFrog hin. Neben einem reichen Wissensschatz und einem hohen
Grad an Fachkompetenz (insgesamt 150 Jahre Erfahrung in Entwicklungsmärkten und
200 Jahre im Finanzsektor) besteht eine enorme Leidenschaft, das Ziel „profit with pur-
pose“ zu realisieren. Bloß Geld verdienen ist blöd, und die Mitarbeiter von LeapFrog
teilen das Gefühl, dass sie mit ihrer Arbeit einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag
liefern können. Mit der Kombination aus der attraktiven Welt der Investitionen und der
Anziehungskraft des höheren Ziels kann LeapFrog die allerbesten Talente auf dem Markt
anwerben. Oder wie Andy es ausdrückt: „Wir bekommen die besten Leute, die meinen,
dass sie etwas mehr in der Welt bewirken können. Sie bringen sich voll und ganz in ihre
Arbeit ein, und es gibt keine Toleranz gegenüber Politik oder Unauthentizität.“
Wie man unschwer am Umfang von 400 Mio. US$ (376 Mio. EUR) des zweiten Fonds
LeapFrog II ablesen kann, sind Investoren positiv eingestellt. Mit der Randbemerkung,
dass die meisten Investitionen ziemlich jung sind und sich die endgültigen Ergebnisse
erst noch einstellen müssen, besteht Vorschussvertrauen. LeapFrog profitiert vom zuneh-
menden Bedarf an Social-Impact-Fonds. Auf entsprechende Anfrage geben Investoren an,
dass dies für sie ein zweischneidiges Schwert sei. Mit LeapFrog wurde die Möglichkeit
geschaffen, Kapital professionell in Mikroversicherungen anzulegen. Das FAIRM-Dash-
board misst pro Quartal sowohl profit als auch purpose. Diese Art der integrierten Bericht-
erstattung ist zurzeit ein wichtiges Thema, bei dem LeapFrog eine Vorreiterrolle einnimmt.
Auf dieser Grundlage können die Investoren in ihren eigenen Berichten konkrete finanzi-
elle und soziale Resultate zeigen. Die LeapFroggy Kultur verstärkt dabei die Überzeugung
bei Investoren, dass sie in der Tat mit einem Zweck investieren, aber gleichzeitig passt die
Art von Menschen wiederum zur Kultur und dem eigenen Networking der Investoren.
Was den Profit angeht, so besteht Aussicht auf eine gesunde, aber nicht exzessive Ren-
dite von 15 bis 20 %, die die Investoren brauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Dabei hilft es,
dass inzwischen wiederum zwei Investitionen verkauft wurden. In beiden Fällen mit einem
274 J. Kemperman et al.

kräftigen Buchgewinn und einer deutlichen sozialen Auswirkung. Abschließend sehen


einige Investoren Möglichkeiten, an bestimmten strategischen Investitionen selbst beteiligt
zu bleiben. Dank LeapFrog bekommen sie dabei die Möglichkeit, in einem frühen Stadium
Einsicht in das schnell wachsende Marktsegment der (Mikro-)Versicherungen in Entwick-
lungsmärkten zu bekommen und dort selbst auch Fuß zu fassen. Das kann beispielsweise
auch durch Übernahme von Anteilen von LeapFrog geschehen, was sich natürlich wiede-
rum positiv auf die Ergebnisse der Investitionsfonds auswirkt. Die gesellschaftlichen Ziele,
die für alle Beteiligten wichtig sind, weisen gute Resultate auf. LeapFrog liefert den Beweis
und schöne Geschichten für Zuhause, Netzwerke, Vorträge, soziale Medien und Jahresbe-
richte, die zeigen, dass „profit with purpose“ funktioniert, was natürlich alle gerne hören.
Als Anerkennung für die ersten Ergebnisse und die Attraktivität wurde LeapFrog mittler-
weile mit Preisen von Investoren aus aller Welt ausgezeichnet. So gewann ­LeapFrog zwei
Preise auf der „Private Equity Africa“-Versammlung im Sommer 2013. In der Kategorie
Social Impact gewann LeapFrog den Preis „Portfolio Company of the Year“. Darüber hinaus
erhielt das Unternehmen die Auszeichnung „Small Cap Deal of the Year“. Kurz zuvor wurde
Andy Kuper auf dem Weltwirtschaftsforum im März 2013 unter zahlreichen Nominierten
als einer der „21 Young Global Leaders“ aus Afrika ausgezeichnet. In den ­Jahren 2012 und
2013 wurde LeapFrog durch die Financial Times und Weltbanktochter IFC als „Sustainable
Investor of the Year“ ausgezeichnet.17 Und wie bereits erwähnt wurde BIMA 2014 mit dem
„Award for Excellence in Transformational Business“ ausgezeichnet.18

8.2.4 Die brillanten Lektionen von LeapFrog

LeapFrog steht als junger Brillant im Wachstum noch vor so manchen Herausforderungen.
Wie bei allen brillanten Businessmodellen besteht die Gefahr, dass man sich von der Grund-
idee verabschiedet und das Modell verwässert wird, sobald der Siegestaumel der ersten
Erfolge verflogen ist. Was macht LeapFrog in schwierigen Zeiten, zum Beispiel, wenn die
finanziellen Ergebnisse hinter den Erwartungen bleiben? Wie werden Dellen beim purpose
verhindert, wenn das Wachstum rückläufig wird? Sind das höhere Ziel und die Ideale von
LeapFrog stark genug, um nicht in die Kompromissfalle zu tappen? Wie trifft man schwie-
rige Entscheidungen, wie beispielsweise nicht mehr länger in ein Unternehmen zu investie-
ren, wenn man selbst aktiv an der Entwicklung und Implementierung der Wachstumsstrategie
beteiligt war? Kann LeapFrog seine versprochene Auswirkung auch zukünftig erzielen?
Ein einzelner Investor warnt in den Gesprächen vor einer möglichen Abkehr vom Leit-
bild: Werden die Investitionsbeträge pro Unternehmen mehr als verdoppelt, rücken sehr
schnell größere Unternehmen ins Bild. Es stellt sich die Frage, ob in dieser Kategorie

17http://www.leapfroginvest.com/lf/wp-content/uploads/2013/06/FTIFCforsite.pdf.

18Kundenwert: impactassets.org, leapfroginvest.com, Aktionärswert: US4Campaign-Archive, Wert

für und durch die Gesellschaft: Google, leapfroginvest.com.


8  Gemeinsame Investition 275

Wert für und durch Kunden


• 22,5 Millionen Menschen sind bei Finanzdienstleistern versichert, in die LeapFrog investiert
(Kundenbestand, August 2014)
• Die Partnerunternehmen von LeapFrog haben einen Kundenbestand von 22,7 Millionen
Menschen in 16 Ländern
• Beispiel der Entwicklung eines Kundenbestands: Bei der Investition in Express Life in Ghana
wuchs der Kundenbestand innerhalb von zwei Jahren von 12.000 auf 350.000
• Das Vertrauen ist groß, sechs der größten Versicherer der Welt und drei führende
Player innerhalb der Rückversicherer

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Vergleichsweise etwas • Es wurden 530 Millionen USD (ca. 0,5 Milliarden
niedrigeres Gehalt, aber dafür EUR) in LeapFrog I und II investiert
ein hohes Maß an • Dividende: erwartete Rendite zwischen 15-20%
Zufriedenheit und Sinngebung • Im März 2014 berichtetes Wachstum:
• Teamgeist mit anderen Top- durchschnittliches Umsatzwachstum 40,6%
Talenten, um gemeinsam zu • Investoren des LeapFrog-Fonds bekommen
lernen und etwas zu bewirken finanzielle und soziale Rendite, indem sie die
• Großer Einsatz für echtes Existenzkontinuität von Menschen mit niedrigem
soziales und finanzielles Einkommen garantieren
Resultat • Strategische Einblicke und Optionen in
Entwicklungsmärkten

Wert für und durch die Gesellschaft


• Den Teufelskreis von Armut bei Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen in Asien
und Afrika durchbrechen
• Lösungen für Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen schaffen, die sich selbst
finanzieren und damit nachhaltig und skalierbar sind
• Zweimal als „Sustainable Investor of the Year“ durch die Financial Times und Weltbanktochter
IFC ausgezeichnet
• Treffer: 16.100.000, Bewertung Top 25: 87,5 % positiv (Google)

Abb. 8.8  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von LeapFrog


276 J. Kemperman et al.

genügend Unternehmen zu finden sind, die die Zielgruppe mit niedrigen Einkommen
erreichen. LeapFrog hat ausführlich Marktforschung betrieben und sieht ausreichende
Möglichkeiten, aber es bleibt ein spannender Weg. Das schließt nicht aus, dass ­LeapFrog
schon jetzt seine Denkweise über die Möglichkeiten verändert, wie es Gewinn und ges­
ellschaftliche Ziele Hand in Hand gehen lassen kann. Nachdem der Stein in den Teich
geworfen wurde, schlägt er neue gesellschaftliche Wellen.
Es folgen einige wichtige Erkenntnisse, die auch in einer breiteren Perspektive von
Bedeutung sind:

• Sich trauen, am Unmöglichen zu arbeiten: Eine gute Idee ausgehend vom höheren
Ziel kann wie ein Magnet ein festes Fundament schaffen und damit ungeahnte Kräfte
mobilisieren. Der Denkhorizont sollte nicht durch Dinge begrenzt werden, die bis-
lang unmöglich waren. Die Kombination aus purpose und profit ist sexy und attraktiv.
Seien Sie Mutter Trump!
• Vertrauen ist nicht nur eine notwendige Voraussetzung als Untergrenze, sondern
auch eine Quelle der potenziellen Erneuerung: Indem LeapFrog das Vertrauen gro-
ßer Player und Namen für sich gewinnen konnte, war das Unternehmen in der Lage,
in atemberaubender Geschwindigkeit ein neues Businessmodell zu schaffen, das sich
ohne diese erste Hilfe nicht hätte behaupten können.
• Messen ist überzeugen: LeapFrog kann Investoren überzeugen, weil es in einem ers-
ten Arbeitsschritt die soziale Auswirkung messbar macht und das in attraktiver Art
und Weise präsentiert, die der Denkweise von Investoren entspricht. Dieser faktenba-
sierte Ansatz hilft, Menschen zu überzeugen und auf die eigene Seite zu bringen.
• Menschen beim Leitbild und bei der Realisierung mitnehmen: Durch die aktive Inves-
tition von Zeit in die Begegnung von Investoren und lokalen Parteien und die Zusam-
menführung dieser beiden Personengruppen mit Mitarbeitern von LeapFrog lässt das
Unternehmen die Stakeholder am Prozess teilhaben. Auf diese Weise entsteht ein
Gemeinschaftsgefühl unter allen Beteiligten. Außerdem ergibt sich so die Möglich-
keit, Menschen auf verschiedene Weise an das Unternehmen zu binden. So steigen
Investoren aufgrund finanzieller, gesellschaftlicher und potenziell strategischer Ren-
dite ein.

8.3 Kickstarter

Die in diesem Absatz dargestellte Fallstudie wurde von Jaap van den Berg, Marlon Hoogevorst,
Jennifer op ’t Hoog und Friedrich Pautasso verfasst.

Gemeinsam ein Motor für Innovation sein


Prolog
Während seines halbjährigen Studiums in den Niederlanden wundert sich der kanadi-
sche Hightechunternehmer Eric Migicovsky, dass die Niederländer Fahrrad fahren und
8  Gemeinsame Investition 277

gleichzeitig auf Ihr Smartphone gucken können. Er fragt sich, wie das kommt.19 Die
Idee, diese Fähigkeit auch anderen zu ermöglichen, ohne dabei eine Hand vom Lenker
zu nehmen, führt schließlich zur Pebble Watch, der allerersten Smartwatch. Ohne Kick-
starter wäre dieses Produkt nicht auf den Markt gekommen. Um seine Idee zu verwirk-
lichen, braucht Eric natürlich Geld. Auf seiner Suche nach Investoren in San Francisco
und Umgebung fängt sich Eric einen Korb nach dem anderen. Die erforderlichen Inves-
titionen für ein Hardwareunternehmen wie Pebble sind ein zu großes Risiko für Inves-
toren. Die Künstlerplattform Kickstarter, auf der kreative Projekte von einer großen
Zahl von Spendern unterstützt werden, ist die Lösung. In dieser Zeit haftet der Platt-
form noch etwas Hippie-Image an, doch die Möglichkeiten, die sie dem Jungunterneh-
mer bietet, liegen auf der Hand: Vorab investieren in ein Produkt, das man selbst auch
bekommt, wenn es entwickelt wird, keine Anteilsverteilungen und außerdem direkte
Kundeneinblicke. Menschen investieren nur dann, wenn sie ihr Produkt auch selbst
haben wollen. Nach zwei Monaten ausführlicher Vorbereitung ist ein kurzer werbewirk-
samer Kampagnenfilm im Kasten. Der Erfolg ist überwältigend! Statt der angestrebten
100.000 US$ (94.000 US$) befinden sich 10 Mio. US$ (9,4 Mio. EUR) in der Investi-
tionskasse. Es beginnt sofort eine spannende Zeit. Mit so vielen Geldgebern nimmt der
Druck auf den Schultern zu, allen Erwartungen auch tatsächlich gerecht zu werden. Ein
Großteil der Geldgeber sind technologieaffine Unternehmen aus dem Silicon Valley, die
Pebble enthusiastisch unterstützen, indem sie Apps für den App-Store von Pebble ent-
wickeln. So entsteht fast in null Komma nichts eine sehr aktive Pebble-Fangemeinde.
Die Spender investieren nicht nur 10 Mio. US$ (9,4 Mio. EUR), sondern auch sich
selbst. Aus dieser Community entsteht das Unternehmen Pebble, das mittlerweile unge-
fähr 150 Mitarbeiter beschäftigt. Anfang 2013 treffen die ersten Pebble Watches bei den
Investoren ein. Pebble ist die Erfolgsgeschichte par excellence von Kickstarter in den
vergangenen Jahren.20 Ohne Kickstarter hätte es kein Pebble gegeben, doch Pebble war
seinerseits das Sprungbrett für das erfolgreiche Wachstum von Kickstarter, durch das
dieser junge Brillant innerhalb kürzester Zeit ins Rampenlicht katapultiert wurde.

Einleitung
So wie Pebble ist auch Kickstarter aus der Verwunderung seines Gründers heraus ent-
standen. 2002 möchte Perry Chen als Musiker auf einem Jazzfestival auftreten. Geld-
mangel bei der Organisation des Festivals macht dem Künstler jedoch einen Strich
durch die Rechnung. Ohne dass das Publikum ein Mitspracherecht hat, wird die Ver-
anstaltung einfach abgesagt. Das bringt ihn auf die folgende Idee: Was wäre, wenn
Menschen auf einer Website Geld für Konzerttickets spenden könnten? Wenn genug
Geld gespendet wird, kann das Konzert stattfinden und das Geld eingenommen wer-
den, anderenfalls nicht. Der Grundstein für Kickstarter war gelegt.

19www.nrc.nl/tech/2013/01/10/ces-2013-pebble-smartwatch-van-kickstarter-naar-ces.

20Die Pebble-Fallstudie wird häufig zitiert, wenn es um Kickstarter geht und umgekehrt. Google
für eine Impression von der Kombination „Pebble Kickstarter“.
278 J. Kemperman et al.

Kickstarter ist die erste erfolgreiche Crowdfundingplattform der Welt. Der kom-
merzielle Einsatz von kollektivem Fundraising, wie so oft, wenn das Höhere Ziel ein
guter Zweck ist war eine brillante Idee. Anders als bei herkömmlichem Fundraising
nutzt Kickstarter das Bedürfnis von Menschen, zur Entstehung neuer Dinge beitragen
zu wollen. So bieten die creators (die kreativen Unternehmer) von Projekten immer
greifbare rewards (Prämien) im Tausch für die geforderten Spenden. In seiner Rolle
als Unterstützer hat Kickstarter wenig Fixkosten. Die Plattform muss gepflegt und
kreative Unternehmer und backers (Spender) müssen unterstützt werden. Die Wer-
bung für Kickstarter geschieht durch Unternehmer, die (soziale) Medien aufrufen, um
Werbung für ihre Innovation zu machen und dabei gleichzeitig die Aufmerksamkeit
auf Kickstarter lenken. Unternehmer nehmen damit verschiedene Rollen im Business-
modell ein: Kunde, Lieferant und Distributer.
Mit seinem Erfolg stellt Kickstarter die Welt der Investitionen auf den Kopf. Gin-
gen Start-up-Unternehmen früher den Weg über Investoren, suchen heute viele Unter-
nehmer ihr Heil sofort im Crowdfunding. Spezialisierte Plattformen wie Sellaband
(Musik) oder größere Plattformen wie Kickstarter und Indiegogo machen es möglich.
Obwohl Crowdfundingplattformen immer noch wie Pilze aus dem Boden schießen,
sind nur wenige so erfolgreich wie Kickstarter. 2013 haben drei Millionen Menschen
insgesamt 19.911 Projekte im Wert von insgesamt 480 Mio. US$ (451 Mio. EUR)
über Kickstarter finanziert. Das entspricht einer Investition von 1,3 Mio. US$ pro Tag
(1,2 Mio. EUR) und 913 US$ (858 EUR) pro Minute.21

8.3.1 Das Fundament: Gemeinsam kreative Projekte realisieren

Kreativität ist auf der Welt unabkömmlich – das ist die tiefe Überzeugung von Kickstar-
ter. Für Künstler und Artisten ist es nicht immer einfach, Anerkennung oder Wertschät-
zung zu erfahren, geschweige denn von ihrem künstlerischen Schaffen zu leben. Das
war schon immer so. Vincent van Gogh wurde schließlich zeit seines Lebens verkannt
und gemieden. Vergeblich war er auf der Suche nach einer Plattform, nach Menschen,
die seine Kunst verstanden, nach Menschen mit einer Lebensgestaltung, die zu seiner
Gefühlswelt passte. Er verkaufte nur ein einziges seiner impressionistischen Gemälde
und starb verarmt.22
Kickstarter möchte zur Verwirklichung kreativer Produkte beitragen. Mit der Zugäng-
lichkeit von Fotos und Videos für alle, dem Wegfallen physischer Grenzen durch das
Aufkommen von Internet und anderen technologischen Entwicklungen ist es für Künst-
ler des ausgehenden 20. Jahrhunderts einfacher, eine Bühne, ein Publikum und Wert-
schätzung zu finden. Perry Chen, der Gründer von Kickstarter, begriff, was notwendig

21www.kickstarter.com/help/stats.

22www.briljantemislukkingen.nl/2012/02/vincent-van-gogh-een-briljante-mislukking.
8  Gemeinsame Investition 279

ist, um kreative Produkte lebensfähig zu machen: Zugang zu einer Finanzquelle. Wo


klassische Geldgeber gern das Risiko von Investitionen in Künstler und Artisten beto-
nen, vertritt Kickstarter eine andere Position: Das Publikum bestimmt. Menschen, die
sich für ein Kunstwerk oder einen Künstler begeistern, sind bereit und fest entschlos-
sen, gemeinsam einen Teil des (finanziellen) Risikos zu tragen. Gleichzeitig ist diese Art
der Finanzierung nicht neu: Die Rollen von Investor und Kunde werden nämlich häufi-
ger kombiniert. Crowdfunding von Künstlern findet schon viele Jahre statt, sogar in der
Zeit von Beethoven, Mozart und Mark Twain. Ihre Konzerte und Kompositionen wurden
durch das Publikum mitfinanziert. Spender erhielten im Gegenzug beispielsweise exklu-
siven Zugang zu einem Konzert.23 Gleiches gilt für Gemälde und die bildende Kunst:
Museen und Kirchen sind voll mit Werken, die erst dann angefertigt wurden, nachdem
der entsprechende Auftrag dafür erteilt worden war. Die kulturelle Blüte der Kunst in
Städten wir Rom, Venedig, Florenz, Amsterdam und Paris ging auch immer Hand
in Hand mit wirtschaftlichem Wohlstand. Das gilt übrigens nicht nur für Kunst: Auch
Möbel und Häuser wurden immer nach Auftrag angefertigt bzw. gebaut. Diese investie-
renden Auftraggeber, die im Voraus zahlen, sind mit der aufkommenden Massenproduk-
tion etwas aus dem Blickfeld geraten. Was Kickstarter macht, ist also nichts anderes als
die Neuerfindung des Auftraggeberprinzips, jedoch ausgehend von einer Gruppe und in
der Umsetzung von Ideen im 21. Jahrhundert.
Der Markenname ist so wie das Konzept gut durchdacht. Ein Kickstarter ist ein Pedal,
das verwendet wird, um den Motor eines Mopeds oder eines Motorrads zu starten.
Kickstarter hat sich das gewagte Ziel gesetzt, Menschen ein Mitbestimmungsrecht und
Einfluss bei der Realisierung kreativer Projekte zu geben. Täglich arbeitet das Unterneh-
men an diesem Traum, indem es auf seiner Plattform Unternehmer und Spender selbst
arbeiten lässt. Kickstarter trägt kein quantitatives Ziel nach außen. Das tut das Unterneh-
men höchstwahrscheinlich bewusst, weil Quantifizierung das Ziel weniger sympathisch
macht und darüber hinaus die Aufmerksamkeit der Unternehmer ablenkt. Die digitale
Plattform ermöglicht die Kommunikation zwischen kreativen Unternehmern und Men-
schen, die Geld spenden und unterstützen möchten; das ist das Rückgrat des Unterneh-
mens. Die Plattform ist die Bühne, und die Community der Arbeitnehmer, Spender und
Unternehmer spielen die Hauptrolle. Alle Beteiligten sind gewillt und fest entschlossen,
Innovationen zu verwirklichen. Kickstarter bietet einen sicheren, zugänglichen und ange-
nehmen Ort, um neue kreative Projekte ins Leben zu rufen und zu unterstützen. So kann
ein Spender sich kostenlos und unbegrenzt umsehen, sich von kreativen Projekten inspi-
rieren lassen, selbst entscheiden, ob und mit welchem Betrag er ggf. ein Projekt unter-
stützt und anschließend den Fortschritt seines Lieblingsprojekts in Echtzeit verfolgen.
Die Plattform bietet ihren Nutzern vor allem Spaß. Für jeden gibt es ein Projekt, das ihn
oder sie anspricht: zum Beispiel Dash, fortschrittliche, wasserdichte, kabellose In-Ohr-
Kopfhörer mit integrierter Flashkarte für den Sportfreak; und für die Glamper unter uns

23www.companisto.com/en/crowdinvesting-vs-crowdfunding.
280 J. Kemperman et al.

The Coolest Cooler,24 eine multifunktionale Kühlbox mit u. a. einem USB-Ladegerät,
Lautsprecherintegration und einem Mixer. Für die unruhigen Schläfer gibt es Sense, eine
kleine Kugel mit LED-Beleuchtung, die die Schlafumgebung analysiert und die Qualität
des Schlafs aufzeichnet.25 Ein Unternehmer erhält Zugang zu neuen Finanzierungsquel-
len und einem breiten Publikum und kann von den Erfahrungen anderer erfolgreicher
oder gescheiterter Projekte lernen. Doch Kickstarter steht selbstverständlich nicht nur
für Spaß, sondern auch für Spannung. Spannung, weil man Echtzeit-Informationen über
den Fortschritt der Geldeinwerbung bekommt, und Spannung, weil man verfolgen kann,
ob sich eine Community bildet, die mit Enthusiasmus soziales Marketing auf Facebook,
Twitter oder in anderen sozialen Medien betreibt.
Man kann sich fragen, wie es kommt, dass Kickstarter im Gegensatz zu anderen, ver-
gleichbaren Initiativen in der Lage ist, sein Gedankengut breit zu vermarkten und eine
wachsende Gemeinschaft zu bilden. Ein Teil der Antwort liegt augenscheinlich in der
Tatsache, dass Kickstarter bei allen seinen Aktivitäten seinen drei Kernwerten treu bleibt:
Ehrlichkeit, Transparenz und Vertrauen. Das Konzept ist ehrlich in dem Sinne, dass es
für jeden zugänglich ist – ungeachtet der Dicke des Portemonnaies. Über allem steht
Ehrlichkeit und Transparenz – sie sind überall zu finden: Bei der Finanzierung von Pro-
jekten, bei der Projekterfolgsquote und bei der Provision (5 % für Kickstarter bei erfolg-
reicher Aufbringung der Mittel.) Auf diese Weise versteht jeder, wie es funktioniert.
Dieses Maß an Transparenz schafft Vertrauen bei den Nutzern und zeigt, dass Kickstar-
ter eine einzigartige Plattform ist, um für mehr Kreativität auf der Welt zu sorgen. Ein
anderer Teil der Antwort liegt in den Qualitäten von Kickstarter selbst. Dem Unterneh-
men gelingt es, bildende Künstler und das Publikum auf der Bühne – seiner digitalen
Plattform – zusammenzubringen. Kickstarter weiß die Community zu inspirieren und
unterschiedliches Know-How für eine erfolgreiche Entwicklung miteinander verschmel-
zen zu lassen. Die Werte und Qualitäten scheinen sich gesellschaftlichen Trends wie
Ko-Kreation, Nachhaltigkeitsförderung und Digitalisierung nahtlos anzuschließen. Ein
schlauer Schachzug, der nicht wirkungslos bleibt. So stieg das Crowdfunding erfolgrei-
cher Projekte in Spenden pro Minute von 53 US$ (50 EUR) im Jahr 2010 auf 1050 US$
(987 EUR) im Jahr 2014. Das Unternehmen verzeichnet eine Zunahme der Zahl der
Spender, der Zahl der treuen Spender und der Zahl der internationalen Spender.
Vorläufig scheint es zu funktionieren, aber der Erfolg dieses Businessmodells lässt
sich nicht gänzlich verifizieren. Kickstarter verzeichnet ein kräftiges Wachstum sowohl
bei der Zahl erfolgreicher neuer Projekte als auch bei der Zahl der Nutzer und bei der
Menge der pro Minute gespendeten Dollars.

24money.cnn.com/2014/08/29/smallbusiness/coolest-cooler-kickstarter-campaign-ends/index.html.

25www.kickstarter.com/discover.
8  Gemeinsame Investition 281

Markenkern: Für Kreativität auf der Weltsorgen

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Kreative Produkte weltweit zum Leben • Potenziellen Kunden Einfluss auf die
erwecken Realisierung kreativer Projekte geben

Markenursprung Markenversprechen
• Perry Chen gründet 2001 Kickstarter • Die Schaffung eines sicheren,
aus seiner Verwunderung über das zugänglichen und angenehmen Ortes,
mangelnde Mitspracherecht des um neue kreative Projekte ins Leben
Publikums bei der Absage eines zu rufen und zu unterstützen
Popkonzerts
• Crowdfunding von Künstlern wurde
bereits in der Vergangenheit
in Anspruch genommen, u. a. Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?
durch Beethoven, Mozart
und Mark Twain

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Vertrauen • Schaffende Künstler und Publikum auf der Bühne
• Transparenz zusammenbringen
• Ehrlichkeit • Die Community inspirieren
• Spaß • Know-How mit Unternehmern teilen, um erfolgreiche
kreative Projekte zu realisieren

Markenbeweis
• Die Summe der Finanzierung erfolgreicher Projekte
wächst: von 53 USD an Spenden pro Minute im
Jahr 2010 auf 1.050 USD im Jahr 2014
• Zunahme der Zahl der nationalen + internationalen
Spender und deren Treue
• Abgeschlossene Projekte bleiben verfügbar,
um die Community selbstlernend zu machen

Abb. 8.9  Leitbild und Positionierung von Kickstarter


282 J. Kemperman et al.

Unternehmer tun, was sie versprechen. Und was ist mit der Zahlungssicherheit, dem
Recht am geistigen Eigentum sowie dem Schutz persönlicher Daten? Darüber scheint
sich niemand wirklich Sorgen zu machen.

8.3.2 Das Businessmodell: Füreinander, voneinander

Das Businessmodell von Kickstarter funktioniert aufgrund des Zusammenspiels zwi-


schen den Schöpfern (Unternehmern) und den Unterstützern (Spendern). Beide Gruppen
sind Kunden von Kickstarter. Da sie die Hauptrolle spielen, wird auch das Businessmo-
dell in diesen Fallstudien aus diesen beiden Perspektiven erläutert.

Marktsegmente: Regisseur von softkommerziellen Investitionen


Kickstarter hat den Begriff „Kreativität“ in eine Form gegossen, indem es 15 kreative
Projektkategorien unterscheidet, darunter klassische kreative Ausdrucksformen wie Tanz,
Theater, Kunst und Musik, aber auch ‚neuere‘ kreative Kategorien wie Games und Tech-
nologie. Die Kategorien Musik, Theater und Tanz weisen mit über 55 % die höchsten
Erfolgsquoten aller Kategorien auf. Gleichzeitig tragen sie viel weniger zum Gesamter-
trag von Kickstarter bei, einfach weil es dabei um weniger Geld geht. In den vergange-
nen Jahren hat sich herausgestellt, dass Design, Games und Technologie die Kategorien
sind, die 72 % des Gesamtertrags ausmachen. Um sicherzustellen, dass Kreativität bei
den Projekten im Mittelpunkt steht, handhabt Kickstarter sehr strenge Zulassungskrite-
rien. So müssen beispielsweise die Prämien selbst gemacht sein, darf das Produkt nicht
im Rahmen künstlerischer Darstellungen gezeigt werden und müssen die Projekte ein
deutliches kreatives Ziel haben.
Aus dem ehrgeizigen Aspekt heraus, mehr kreative Arbeit auf der Welt zu ermögli-
chen, kann Kickstarter über mehr Wettbewerb nur jubeln.26 Unter unternehmerischen
Aspekten betrachtet gelten andere Crowdfundingplattformen wie zum Beispiel Sellaband
und Indiegogo als Wettbewerber. Ist Kickstarter seinen Wettbewerbern bei der Gesamt-
zahl der Projekte haushoch überlegen, liegt die durchschnittliche Erfolgsquote von
Kickstarter-Projekten etwas unter jener von konkurrierenden, aber beträchtlich kleineren
Crowdfundingplattformen in den Niederlanden. Werden 47 % der Projekte bei Kickstarter
ein Erfolg, ist das bei Geldvoorelkaar zu 90 % und bei Voordekunst zu 71 % der Fall.27
Wettbewerb besteht auch in den klassischeren Finanzierungsformen wie Private-Equity-
Investoren oder Banken. Aus der Spenderperspektive sollten nicht staatliche Organisa-
tionen oder Mikrofinanzierungsinitiativen gerade als Wettbewerber betrachtet werden,
denn ein Spender gibt sein Geld nur einmal aus, um eine gute Initiative zu unterstützen.
Die Unterscheidungskraft von Kickstarter basiert jedoch auf einem qualitativ guten und

26www.fastcompany.com/3006694/where-are-they-now/true-to-its-roots-why-kickstarter-wont-sell.

27www.nrc.nl/nieuws/2014/04/29/neemt-Kickstarter-crowdfunding-in-nederland-over.
8  Gemeinsame Investition 283

einzigartigen Projektangebot, der großen Zahl der Projekte und wiederum deren eigenen
Größenordnung sowie auf einer Gruppe treuer Unterstützer.
Spender werden inspiriert von der großen Community, zu deren Teil sie werden, und
angetrieben von den tollen Projekten und dem Ideal, Jungunternehmern helfen zu kön-
nen. Damit entscheiden sie sich, Teil von etwas Neuem und Spannendem zu sein. Das ist
ein völlig anderer Anreiz als die Unterstützung eines guten Zwecks. Die kreativen Unter-
nehmer sehen Kickstarter als eine ideale Methode, Geld sicher einzusammeln, die Zügel
in der Hand zu halten und die Produktabnahme zu garantieren. Diese Kundeneinblicke
unterstützt Kickstarter kontinuierlich, indem es selbst eine unterstützende Rolle ein-
nimmt und die Rahmenbedingungen schafft. Auf diese Weise sind die Zügel in den Hän-
den der Spender und der Unternehmer, die Kickstarter gemeinsam zu einem beispiellos
erfolgreichen Investitionsmedium heranwachsen lassen.

Wertangebot für Kunden: Limitierte Auflage und eine schöne Geschichte


Was Kickstarter einzigartig für kreative Unternehmer macht, ist die Unabhängigkeit, die
das Unternehmen während der unsicheren Anlaufphase genießt.
Darüber hinaus bietet Kickstarter, sofern für das Projekt genügend finanzielle Mit-
tel gesammelt werden, dem Unternehmen Sicherheit und Bestätigung, dass ein ausrei-
chendes Marktbedürfnis vorhanden ist. Es ist eine Methode ohne viele große finanzielle
Risiken für die Unternehmen, da sich die Investitionen in einem überschaubaren Rahmen
halten. Deshalb ist Kickstarter so erfolgreich. Was die ersten kreativen Unternehmer von
Kickstarter überzeugt, ist die einzigartige Möglichkeit, vorab Geld für die Realisierung
eines Projekts zu sammeln. Und das ohne von den Geldgebern abhängig zu werden, wie
es bei traditionellen Investoren häufig der Fall ist. Kickstarter wirkt sich auch positiv auf
den Ruf der Innovation aus und trägt zur Bildung einer großen Fangemeinde bei. Die
globalen Spender sind aktive Kunden und gleichzeitig Botschafter, die die Geschichte
über die Innovation (meistens) gern innerhalb ihres Netzwerks teilen. So bietet sich die
Möglichkeit, schnell internationale Bekanntheit für das Unternehmen zu generieren und
einen enormen Reputationsgewinn zu erzielen. Die Kunden von Kickstarter nehmen wie
bereits erwähnt eine Doppelrolle ein, aber auch das Unternehmen selbst ist Marktfor-
scher, Investor und Reputationsfabrik in einem. Bei Erfolg kann ein Projekt ungeahnte
Höhen erreichen, und bei zu wenig Investoren … tja, dann ist dies ein deutliches Feed-
back, das unnötige Investitionen von Zeit und Energie vermeiden kann. Eigentlich ver-
körpert Kickstarter Schumpeters Prinzip der kreativen Zerstörung, bei dem es die Besten
von selbst an die Oberfläche schaffen und die anderen untergehen. Glücklicherweise
geschieht das in einer Weise, durch die man sich bei Misserfolg zwar möglicherweise
verkannt fühlt, durch die man aber sicherlich nicht zugrunde gehen wird.
Abgesehen von den vielen Vorteilen, die Kickstarter den Unternehmern bei der
Sammlung von Investitionen bietet, ist Kickstarter auch für Spender eine nützliche Platt-
form. Kickstarter reagiert auf die Erkenntnis, dass Menschen „Gutes tun wollen“, wobei
der Erwerb eines einzigartigen Produkts oder das Erleben eines einzigartigen Projekts
ein zusätzlicher Anreiz ist. Darüber hinaus wollen sie auch zeigen, dass sie gut und
284 J. Kemperman et al.

zugleich hipp sind, und das wollen sie teilen, indem sie den kreativen Unternehmern
durch das persönliche Kampagnenvideo ein Gesicht geben. Die Spender wissen, wen
sie unterstützen und welches Ziel sie zu realisieren helfen. Die Spender werden von der
Community über neue Projekte und von den Unternehmern über Produktentwicklung
und Kundenbedürfnisse auf dem Laufenden gehalten. Das bedeutet also, dass die Spen-
der eine schöne Geschichte kaufen, die sie mit ihren Freunden teilen können. Diejenigen,
die weniger durch ‚gutes Tun‘ geleitet werden, können sich von den einzigartigen Pro-
dukten (und den oft limitierten Auflagen) angezogen fühlen. Diese Trendsetter entschei-
den sich für ein Produkt oder Projekt, das sie anspricht und mit dem sie sich verbunden
fühlen. Sie sind die ultimativen Promoter, die voller Stolz über das Produkt berichten.
Dabei hat Kickstarter eine völlig neue Methode entwickelt, mit der es das Risiko für
Investoren auf einem akzeptablen Niveau hält. Bei Risikokapital werden Hunderte von
guten Ideen genau unter die Lupe genommen, um anschließend zwei bis vier umzuset-
zen. Anschließend wird sehr viel Energie in die optimale Überwachung gesteckt. Bei
Kickstarter hält sich das Risiko in Grenzen, weil es auf so viele Parteien verteilt ist, dass
diese es im Fall eines Scheiterns tragen können. Konkret bedeutet das, dass mit Risiko-
kapital so gut wie keine Unternehmen gegründet werden, die sich noch in der Konzept-
phase befinden, was bei Kickstarter jedoch eher die Regel als die Ausnahme ist.

Kanäle: Die Macht der Masse


Kickstarter ist nur erfolgreich, wenn seine Unternehmer erfolgreich sind. Deshalb setzt
Kickstarter sein ganzes Marketingbudget ein, um die Aufmerksamkeit der Medien für
Projekte zu erregen statt die Plattform selbst zu promoten. Auch hier gilt das Prinzip der
Auswahl durch das Publikum und der Verbreitung wie ein Ölfleck. Erfolgreiche Projekte
erobern die ganze Welt, und das ist viel effektiver als irgendeine bezahlte Kampagne.
Das entwickelte Produkt ist dann der greifbare Beweis, der zweifelsfrei kommuniziert,
dass Kickstarter diese Entwicklung ermöglicht. In diesem Fall buchstäblich kommu-
niziert durch das Logo „mit freundlicher Unterstützung von Kickstarter“, das in allen
erfolgreichen Kickstarter-Projekten aufgenommen wird. Es ist eine Form von Dual Bran-
ding, bei der Kickstarter in den meisten Fällen nichts weiter tun muss, als sein Logo den
Unternehmern auf der Plattform zur Verfügung zu stellen. Kickstarter lenkt zusätzliche
Aufmerksamkeit auf Projekte, an die es glaubt, mithilfe von Mitarbeiter Ratings. Diese
Projekte werden auf der Homepage besonders hervorgehoben. Das ist eine subjektive
Auswahlmethode mit enormer Wirkung, die bei den nicht ausgewählten Unternehmern
für viel Frustration sorgen kann.
Neben allen Funktionssystemen wie etwa dem Unternehmerdashboard, mit denen die
Unternehmer die Investitionen ermöglichen und die Investitionen in Echtzeit verfolgen
können, ist Kickstarter auch für die Vernetzung der Spender miteinander verantwortlich.
Das macht Kickstarter mit der Unterstützung von Projektcommunitys und einer attrakti-
ven Website, auf der Spender in ihrem eigenen, personalisierten Bereich neue Projekte
entdecken und den Status der von ihnen unterstützten Projekte einsehen können. Für jedes
Projekt wird eine Communityseite eingerichtet, die nur für diejenigen Spender zugänglich
8  Gemeinsame Investition 285

ist, die das Projekt unterstützen. Hier können Spender miteinander und mit dem Unter-
nehmer Gedanken austauschen und über den Fortschritt des Projekts diskutieren. Die
Website von Kickstarter wird immer moderner und ist auf das Bedürfnis von Menschen
eingestellt, neue Dinge zu entdecken, die für sie wichtig sind. Über die Sucheinstellungen
kann ein Spender seine Interessen angeben, um dann ein spezifisches Projektangebot zu
erhalten. Da die Zahl der gleichzeitig offenen Projekte auf Kickstarter unendlich groß ist,
beginnt genau hier die Entdeckungsreise für den Spender.

Betrieb: Die Unterstützung eines amüsanten und flexiblen Investitionsprozesses


Als Ermöglicher und Unterstützer des Investitionsprozesses besteht die vornehmli-
che Rolle von Kickstarter darin, eine attraktive Website und eine flexible Abwicklung
zu garantieren. Dafür werden klare Regeln aufgestellt und gehandhabt und Investitio-
nen in gute Software und Zahlungssysteme getätigt. Da es bei Kickstarter um das Teilen
finanzieller Mittel geht, ist die finanzielle Struktur der erste Aspekt, der gut organisiert
sein muss. Dabei gilt als Grundlage, dass Spenden erst dann eingezogen werden, wenn
der Zeitraum der Einwerbung abgelaufen ist und der angestrebte Betrag auch tatsäch-
lich erzielt wurde – nach dem Motto ohne Lieferung, keine Zahlung. Das ist der Grund,
warum Spender nur mit ihrer Kreditkarte bezahlen können. Hierfür ist Kickstarter Part-
nerschaften mit verschiedenen Kreditkartenunternehmen wie Amazon Payments in den
USA eingegangen. Neben der Verwaltung der Geldströme besteht die Rolle von Kick-
starter darin, sowohl Spendern als auch Unternehmern Einblick in den Status der Pro-
jekte zu verschaffen und den Unternehmern die Kontrolle über die Administration der
Spendergruppe zu geben. Zu diesem Zweck stellt Kickstarter auf seiner Plattform ver-
schiedene Softwaresysteme zur Verfügung. Es gibt ein Dashboard für die Unternehmer,
auf dem Sie den Status der Spenden sehen, Kontakt mit den Spendern aufnehmen und
das Geld einsammeln können. Wenn der Investitionszeitraum abgelaufen ist, wird aus
diesem Dashboard ein anderes Softwaresystem: das Spendermanagementsystem.
Es ermöglicht dem Unternehmer, den Kontakt mit dem Spender aufrechtzuerhalten
und die Lieferung des Produkts abzustimmen und zu organisieren. Die dritte unterstüt-
zende Rolle von Kickstarter ist das Teilen von Wissen. Kickstarter teilt seine Erfahrun-
gen mit der jahrelangen Entwicklung erfolgreicher Projekte und Werbekampagnen über
ein Toolkit, das Kickstarter’s Creator Handbook.28 Darüber hinaus verfügt Kickstarter
über das Tool Launch Now, mit dem ein Projekt auf bestimmte Aspekte überprüft wird,
bevor es online freigeschaltet wird. Bei dieser Prüfung wird festgestellt, ob das Projekt
den Richtlinien von Kickstarter entspricht und ob es die wichtigsten Elemente für einen
Erfolg enthält. Gibt es beispielsweise einen aussagekräftigen Kurzfilm? Und welche
selbstgemachten Prämien werden geboten?

28www.kickstarter.com/help/handbook#defining_your_project.
286 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Die exklusive limitierte Auflage eines • Die Plattform par excellence für die
innovativen Produkts*, die Möglichkeit, weltweite Finanzierung von Projekten
einen vielversprechenden und Künstlern
Unternehmer/ein vielversprechendes • 15 kreative Kategorien: Kunst, Comics,
Produkt zu unterstützen* Tanz, Design, Mode, Film, Lebensmittel,
• Finanzierung und Marktvalidierung**, Games, Musik, Fotografie,
engagierte Erstanwender**, Verlagswesen, Technologie und Theater
internationale Bekanntheit**
+ Wettbewerber
• Andere Crowdfundingplattformen
Prozess Wie bekomme ich es? • Klassische Finanzierungsformen wie
• Digitale Kommunikation Private-Equity-Investoren oder Banken
• Die Prämie wird zugesendet* • Nichtstaatliche Organisationen oder
• 100%ig digital: Ein Projektdashboard als Mikrofinanzierungsinitiativen
Übersicht über Finanzierung und
Kommunikation**
Zielgruppe
+ • Erstanwender, die gern Innovationen
Gefühl Was fühle ich dabei? und junge Unternehmer/Künstler
• Engagement, Stolz, Spaß* unterstützen*
• Unabhängigkeit und Unterstützung** • Kreative Menschen, die in den
Bereichen Film, Musik, Kunst, Tanz,
Design, IKT oder Technologie aktiv sind
Preis Was kostet es? und eine Finanzierungsmöglichkeit für
• Ich spende so viel, wie es mir wert ist* ihr Produkt oder den Start ihres
• Ich zahle 5 % Provision von der Projekts suchen**
Gesamtfinanzierung**
+ Kundeneinblicke
• Ich unterstütze gern innovative Projekte
Aufwand Was muss ich dafür tun?
und Produkte, die ichnützlich finde.
• Ich suche Unternehmer/Produkte,
Ich will der Erste sein, der das Produkt
die ich unterstützen will*
hat, und den Unternehmer unterstützen*
• Ich starte eine Kampagne in den
• Ich brauche finanzielle
sozialen Medien mit einem Kurzfilm,
Mittel, um mein Projekt
einem Businessplan und einem
Kunst der Positionierung ohne die Einmischung
Narrativ
von Investoren zu
+ Wertangebot für realisieren**
Marktsegmente
Risiko Wie unsicher ist es? Kunden
• Alles-oder-nichts- Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Finanzierung*
Betriebsstärke

Kundeneinblicke

• Alles-oder-nichts-
Finanzierung**
*Der Spender
Betrieb Kanäle
**Der Unternehmer
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 8.10  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Kickstarter


8  Gemeinsame Investition 287

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Interaktionsorientierte Plattform für die • Spender und Unternehmer suchen
Community der Beteiligten selbst das Medium für ihr Projekt.
• Ein großes Spendernetzwerk, das Kickstarter reitet auf der Erfolgswelle mit
mehrere Projekte unterstützt • Dual Branding: Das Logo von Kickstarter
• Spenden werden erst dann ist auf den Kommunikationen der
eingesammelt, wenn der Unternehmer abgebildet
Geldeinwerbungszeitraum abgelaufen ist • Geschichte: Kickstarter fördert
und der angestrebte Betrag auch erfolgreiche und inspirierende Projekte
tatsächlich erzielt wurde • Direkter Vertrieb, ausschließlich online
• Jedes Projekt hat seine eigene Seite und • Eine zugängliche Plattform, die viel
Community sowie sein eigenes Abwechslung für „Schaufenstergucken“
Dashboard und Transaktionen bietet
• Spender sind Vermittler und Botschafter
Lieferanten & Partner eines Projekts in sozialen Medien
• Kreditkartenunternehmen wie Amazon
Payments in den USA, um die Alles-oder- Kundenkontakt & Zusatzdienste
nichts-Finanzierung zu erleichtern • Community: Spender und Unternehmer
• Spendermanagementsysteme wie z. B. tauschen Informationen untereinander
ein Spenderkit für die Zeit nach der aus
Finanzierung • Die Zahlung und Projektaktualisierungen
erfolgen online über die Kickstarter-
Plattform
• Die Unternehmer erhalten Zugang zu
einem Portal mit Tipps und Tricks aus
dem „Unternehmerhandbuch“
• Mitarbeiter bieten den Unternehmern
Hilfe über den digitalen Kanal
• Unternehmer bekommen Feedback über
das Tool Launch Now

Abb. 8.11  Betrieb und Kanäle von Kickstarter


288 J. Kemperman et al.

Gesichter des Mutes – Intime Porträts von Frauen am Rand der Gesellschaft
Mit diesem Projekt soll die dramatische Realität der Armut gezeigt werden, mit
der Millionen von Frauen in Entwicklungsländern tagtäglich zu kämpfen haben.
Mithilfe der Fotografie macht Mark Tuschman die Welt auf diese Frauen und
ihre Geschichten aufmerksam. Das Projekt gibt den Frauen ein Gesicht, lässt den
Betrachter der Fotos den Schmerz der Frauen nachempfinden und zeigt sowohl die
Machtlosigkeit als auch die Würde und die Kraft, die sie ausstrahlen. Diese Foto-
dokumentation illustriert in beeindruckender Weise, wie dringend notwendig Men-
schenrechte für alle sind.
Gleichzeitig wird auf den sichtbaren Fortschritt in der Bildung und in Bestre-
bungen zur Gleichstellung von Frauen sowie auf die vielen stillen Helden (Ärzte,
Pflegekräfte, Freiwillige) aufmerksam gemacht, die sich unermüdlich dafür ein-
setzen, das Leben von Millionen von Frauen auf der Welt zu verbessern. Insge-
samt haben 505 Unterstützer die Realisierung dieses Projekts mit 60.316 US$
(56.697 EUR) ermöglicht. Dieses Projekt gehört zur Kategorie Fotografie, einer
Community mit 225.000 Unterstützern und über 1800 Projekten. Das Buch mit
300 Fotos wurde Ende 2014 veröffentlicht. Die engagierte Community leistet ihren
Beitrag zur Werbung für den Bildband.

8.3.3 Das Ergebnis: Rückenwind

Am 28. April 2009 wird Kickstarter dem ‚digitalen Publikum‘ vorgestellt. Heute, knapp


neun Jahre nach dem Start, ist das Unternehmen an Projekten auf der ganzen Welt betei-
ligt und für viele Menschen ein Synonym für Crowdfunding geworden. Nahezu alle
Wertindikatoren weisen ein unnachahmliches Wachstum auf. Das beweist die Brillanz
dieses Businessmodells. Wenn man allerdings die Ambitionen von Kickstarter betrach-
tet, sollte man das Modell erst nach einem längeren Zeitraum beurteilen. Wie flexibel ist
das Unternehmen, wenn sich der Wind plötzlich dreht und das Wachstum abnimmt? Bis
heute gibt es keine Antwort auf diese Frage.
Kickstarter bietet mit seiner technischen Plattform und seiner Website tatsächlich
nicht viel mehr als ein Online-Treffpunkt für Menschen, die eine Leidenschaft für Inno-
vation haben. Die leidenschaftliche aktive Kundengemeinde ist der tatsächliche Wert-
schöpfer dieses Businessmodells. Mehr als bei anderen Unternehmen geht es um ein
Wertangebot für und ein Wertangebot durch Kunden.
Dass der Kundenwert für Spender absolut klar ist, ergibt sich aus der enormen Größe
der Community: 7,5 Mio. Menschen haben ein Projekt unterstützt. Darüber hinaus ist die
Community treu: 30 % der Mitglieder, oder 2,3 Mio. Menschen, haben mehr als ein Pro-
jekt unterstützt; und 81.000 Menschen haben sogar mehr als zehn Projekte gefördert. Die
Spender kommen aus 214 Ländern von allen sieben Kontinenten, darunter auch der Ant-
arktis!29 Unternehmer profitieren von dieser großen globalen Community. Die M ­ ehrzahl

29www.kickstarter.com/discover.
8  Gemeinsame Investition 289

Tab. 8.3  Finanzen von Kickstarter


Jahr Finanziert (€) Einnahmen (€) Wachstum (%)
2010 22.147.858 1.107.393 –
2011 79.609.249 3.980.462 359
2012 256.259.820 12.812.990 322
2013 384.646.206 19.232.310 150
2014 442.976.041 22.148.802 115

der Kunden sind Erstanwender. Diese Gruppe ist unabkömmlich bei der Marktvalidie-
rung eines Feedbacks über das zu entwickelnde Produkt. Die Praxis zeigt, dass diese
Menschen gern Botschafter sind und an Projekten teilnehmen. Kreative Unternehmer
liefern im Gegenzug Informationen, regelmäßige Updates über den Fortschritt ihres Pro-
jekts und schließlich die einzigartige Prämie. Dabei bringen sie die positive Energie von
Menschen mit, die von einer Idee träumen und nach einer Möglichkeit suchen, für die
Realisierung dieses Traums bezahlt zu werden.
Der größte Kundenwert, der von den Spendern geschaffen wird, ist die Tatsache, dass
Unternehmer vorab die Investition erhalten, ohne gleich einen Teil ihres Unternehmens
in Form von Anteilen aus der Hand geben zu müssen und ohne sich selbst zu umfassen-
der Berichterstattung zu verpflichten. Die Spender bieten also finanziellen Spielraum und
Unabhängigkeit. Vor allem für technische Projekte mit hohen Startkosten und Projekte, die
sich noch in der Konzeptphase befinden, ist das besonders wichtig. Unternehmer sind sich
des starken Markennamens von Kickstarter und der Tatsache, dass sich dieser auch auf das
eigene Image auswirkt, bewusst. Sowohl bei Erfolg als auch bei Misserfolg wird das Projekt
mit Kickstarter in Verbindung gebracht. Angesichts der bislang 192.000 lancierten Projekte
ist es klar, dass Unternehmer einen Mehrwert bieten und dass sie dem Wert, den der Kon-
zern für sie generiert, positiv gegenüberstehen. Kickstarter will unabhängig bleiben und ist
kein börsennotiertes Unternehmen. So ist das Unternehmen nicht an das Gesetz gebunden,
Anteilseigner über Aktiva, Passiva, Investitionen und Kosten zu informieren. Bei Kickstarter
liebt man ausführliche Statistiken und Transparenz, aber nur im Hinblick auf Indikatoren,
die zu den Zielen und zum Leitbild passen. Indikatoren, die Kickstarter relevant findet, sind
beispielsweise die Zahl der lancierten Projekte, die Zahl der erfolgreichen Projekte, die Zahl
der Spender, der Umfang der Spenden und die Erfolgsquote pro Kategorie.
Finanziell gesehen konnte Kickstarter in den vergangenen Jahren ein starkes Wachs-
tum verzeichnen. Der jährlich gesammelte Spendenbetrag stieg von 27  Mio.  US$
(25,4 Mio. EUR) im Jahr 2010 auf geschätzte 552 Mio. US$ (520 Mio. EUR) im Jahr 2014.
Mit anderen Worten: Investierten Spender 2010 noch 53 US$ (50 EUR) pro Minute,
waren es 2014 schon 1050 US$ (987 EUR) pro Minute!30 Es ist davon auszugehen, dass
Kickstarter diesen Geldfluss in Gewinn umsetzt. Bis jetzt haben Spender 1,4 Mrd. US$
(1,32 Mrd. EUR) in erfolgreiche Projekte (Projekte, die ihr Investitionsbudget erzielt
haben) investiert. Kickstarter verlangt von den Unternehmern eine Provision von 5 %. Im

30www.kickstarter.com/discover.
290 J. Kemperman et al.

Jahr 2010 beliefen sich die Einnahmen damit auf 1,4 Mio. US$ (1,32 Mio. EUR). Diese
stiegen 2014 exponentiell auf schätzungsweise 27,6 Mio. US$ (25,9 Mio. EUR). Insgesamt
sind damit 74 Mio. US$ (69,5 Mio. EUR) in die Unternehmenskasse geflossen.31
Mit der Einführung von Kickstarter in Großbritannien im Oktober 2012 ist das Unter-
nehmen nun auch außerhalb der USA aktiv. Die ersten Zahlen aus Großbritannien sind
vielversprechend: 322.000 Spender investierten 22 Mio. Pfund (31 Mio. EUR) in über
1500 Projekte.32 In Kanada wurden im ersten Jahr nach der Einführung im Septem-
ber 2013 über 24 Mio. Kanadische Dollar (17,8 Mio. EUR) für 3700 Projekte gespen-
det.33 Australien, Neuseeland, die Niederlande, Irland und eine Reihe skandinavischer
Länder haben mittlerweile auch eine ‚nationale‘ Kickstarter-Plattform. Das Unterneh-
men hat allem Anschein nach genügend Vertrauen für eine globale Expansion. Die Nie-
derlande sind nach den USA, Großbritannien, Frankreich und Kanada das Land, in dem
am meisten Geld durch Crowdfunding gesammelt wird.34 Es bleibt abzuwarten, inwie-
weit Kickstarter dieses Potenzial in Marktanteile und einen Kreativitätsimpuls umsetzen
kann. In den ersten fünf Monaten läuft bei Kickstarter noch nicht alles rund: Lediglich
25 % der 231 Projekte, für die Geld gesucht wurde, wurden erfolgreich finanziert.35
Die etwa 100 Mitarbeiter von Kickstarter machen die Community leidenschaftlich
und engagiert auf die kreativen Projekte aufmerksam. Mit ihrem Fachwissen und den
Lektionen, die sie aus früheren, erfolgreich finanzierten Projekten gelernt haben, helfen
sie Unternehmern, ihr Projekt attraktiv zu gestalten. Als Mitarbeiter hat man das gute
Gefühl, dass man einen Beitrag zu einem inspirierenden Projekt leistet und dass man
möglicherweise den Unterschied ausmacht. Spaß ist das verbindende Element zwischen
den Webdesignern und Programmieren auf der einen Seite, die die Plattform entwickeln
und verwalten, und den Mitarbeitern auf der anderen Seite, die die Community unter-
stützen und für eine spezifische Kategorie verantwortlich sind. Peu à peu werden sie
zu Kickstarter-Erfahrungsexperten. Auffällig ist, dass in allen Stellenausschreibungen
Spaß, Leidenschaft für Kreativität und Teamgeist hervorgehoben werden und klassische
Arbeitsbedingungen kaum thematisiert werden.
Kickstarter existiert, damit Ideen von anderen Menschen existieren können. Das
Unternehmen ist sich bewusst, dass es damit eine gesellschaftliche Verantwortung trägt.
Um zu demonstrieren, dass Engagement und Energie in Transparenz, gesellschaftliche
Verantwortung und Nachhaltigkeit investiert wird, trägt das Unternehmen seit 2014 das
Gütesiegel Certified B Corporation.36 Diese Zertifizierung ist für Unternehmen das, was
das Fairtrade-Siegel für Kaffee ist, und zeigt, dass hohe Anforderungen im Bereich der
sozialen und wirtschaftlichen Performance und Transparenz erfüllt werden.

31www.kickstarter.com/discover.

32www.kickstarter.com/blog/kickstarter-in-the-uk-the-first-year.

33www.kickstarter.com/blog/kickstarter-in-canada-the-yearbook.

34www.emerce.nl/nieuws/infographic-fenomale-groei-crowdfunding.

35www.collaborative-economy.com/project-updates-nl/halfjaar-kickstarter-in-nederland-75-campa-

gnes-faalt.
36www.bcorporation.net/community/kickstarter-inc.
8  Gemeinsame Investition 291

Das Modell funktioniert – auch in der Praxis. Inzwischen wurden 74.438 Projekte


erfolgreich finanziert. 40 % aller Projekte wurden in den künstlerischen Kategorien
Film und Video (22 %) sowie Musik (18 %) initiiert. Die Beispiele Gesichter des Mutes
und SEED zeigen, dass das Zusammenspiel zwischen Spender und Unternehmer als
­Katalysator fungiert, durch den ein kreatives Produkt mit gesellschaftlichem Wert ent-
steht. Die Prüfung auf lange Sicht geschieht über die Zahl der Unternehmen, die sich
über mehrere Jahre hinweg als nachhaltig erfolgreich herausstellen. Der ultimative Wir-
kungstest unterm Strich ist dann die Prüfung, inwieweit die Kreativität dieser Unterneh-
men die Welt auch tatsächlich zu einem schöneren und glücklicheren Ort gemacht hat,
so wie es das erklärte Ziel von Kickstarter ist. Vorläufig sieht es danach aus, als habe das
Unternehmen eine einzigartige Methode gefunden, um diese Auswirkung zu realisieren
(Abb. 8.12).

SEED: Die unerzählte Geschichte, Dokumentarfilm


Dieser Dokumentarfilm erzählt die dramatische Geschichte von Samen, die eine
essenzielle Grundvoraussetzung für das Leben auf der Erde sind. Die Forschung
geht 12.000 Jahre in der Menschheitsgeschichte zurück in eine Zeit, in der der
Mensch die Samen als Rückgrat seiner Kultur hegte und pflegte. Gegenwärtig
sind 94 % der Samenarten ausgestorben und weitere Arten sind vom Aussterben
bedroht. SEED will zeigen, dass Habsucht und monopolistisches Gedankengut
von kommerziellen Agrarkonglomeraten nicht zu unterschätzende Konsequenzen
für den Fortbestand der Menschheit haben können.37 1359 Unterstützer haben mit
Spenden in Höhe von 95.485 US$ (89.756 EUR) die Realisierung dieses Projekts
ermöglicht.
Mittlerweile ist auch eine Facebook-Community mit über 18.000 Mitgliedern
entstanden. Der Film wurde Anfang 2015 fertiggestellt. Dieses Projekt gehört zur
Kategorie Film und Video, einer Community mit 2,8 Mio. Unterstützern und über
16.000 Projekten!

8.3.4 Die brillanten Lektionen von Kickstarter

Der Erfolg von Kickstarter sucht immer noch seinesgleichen. Und dennoch kann es nicht
anders sein, als dass ein so großer Erfolg auch Haken hat. Was macht die Brillanz dieses
Businessmodells aus? Und wo sind die Haken?

• Deutlich sagen, wofür man steht und was man erreichen will, und dieses Leitbild nach
innen und nach außen kommunizieren: Das Leitbild durch klare Richtlinien für Kun-
den aufrechterhalten und Erfolgsgeschichten mit Kunden (Spendern) teilen, um ihnen
optimal zu helfen.

37www.seedthemovie.com.
292 J. Kemperman et al.

Wert für und durch Kunden


• Sämtliche Gelder kommen von Spendern aus der Community: 7,5 Millionen
Spender
• Die Community besteht aus treuen Spendern: 81.090 Spender haben mehr als
10 Projekte unterstützt, 975 Spender haben mehr als 100 Projekte unterstützt
• Entwicklung der Projektzahlen 2010: 11.000, 2014: 194.100
• Zahl der Spender 2012: 570.672, 2014: 2.240.807
• Unternehmer haben 192.000 Projekte initiiert

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch


Mitarbeiter
• Mix aus technik-
begeisterten und sozial
eingestellten jungen
Menschen
Wert für und durch Anteilseigner
• Alle Mitarbeiter werden ermutigt,
• 1,2 Milliarden USD Crowdfunding (2010-2014)
tolle Projekte zu finden und den
• Kickstarter hat durch 5% Provision
Unternehmern bei der Realisierung
schätzungsweise 59,4 Millionen USD erhalten
dieser Projekte zu helfen
• Ein starker und stetiger Anstieg des gesamten
• Die Mitarbeiter sind jeweils für eine Crowdfundings:
Kategorie verantwortlich und ausnahms- - 22 Millionen USD im Jahr 2010
los Kickstarter-Erfahrungsexperten
• Entwicklung der Mitarbeiterschaft 2013: - 256 Millionen USD im Jahr 2012
79 Mitarbeiter, 2014: 103 Mitarbeiter - 443 Millionen USD im Jahr 2014

Wert für und durch die Gesellschaft


• Eine Plattform für junge kreative Unternehmer und Künstler
• Beitrag zur Realisierung von Innovationen weltweit
• Anreiz für Innovation und gesellschaftliches Bewusstsein, weil es Finanzierung, mediale
Aufmerksamkeit und Botschafter bietet
• Das Gütesiegel Certified B Corporation zeigt, dass Kickstarter die Bedeutung von CSR
ernst nimmt
• Treffer: 44.800.000, Bewertung Top 25: 84% positiv (Google)
• Crunchies Best Overall Startup (Techcrunch 2014)
• TriBeCa Disruptive Innovation – Christensen Award (2014)
• Webby Break Out of the Year (Webby Awards, 2014)

Abb. 8.12  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Kickstarter


8  Gemeinsame Investition 293

• Transparenz schafft Vertrauen: Die von Kickstarter verlangte Kommission von 5 %
und die Rendite, die die Spender erhalten, ist eine Kleinigkeit in den Augen der
Unternehmer, die wissen, was traditionelle Investoren im Gegenzug verlangen. Auch
für die Spender ist die Angelegenheit klar: Sie bestimmen selbst, wie viel sie inves-
tieren wollen, und wählen auch die dazugehörige Prämie selbst aus. Es fallen weiter
keine unvorhergesehenen Kosten an. Das Businessmodell ist einfach und transparent.
Ein Haken dabei ist, dass Kickstarter (noch) keine Angaben macht zu internen Kos-
ten, Investitionen und dem Gewinn, der durch die Provision von 5 % generiert wird
und der stetig wächst und im Jahr 2014 bereits 22 Mio. US$ betrug.
• Die Kraft der Kombination: Kickstarter hat ein klassisches Modell des Auftraggebers
als Kunde und Investor für das 21. Jahrhundert neu erfunden. Das Unternehmen hat
das Kernprinzip einer Einzelhandelsplattform (der Verkauf von Produkten bzw. Kon-
zertkarten) mit dem Businessmodell eines Investors kombiniert. Bei diesem cleveren
Kombinationsmodell entfällt das Investitionsrisiko. Kickstarter garantiert, dass nur
dann bezahlt werden muss, wenn die Finanzierung des Unternehmens erfolgreich war.
Für den Verbraucher ist Kickstarter darüber hinaus attraktiver als eine herkömmli-
che Einzelhandelsplattform, weil hier die allerneuesten Gadgets verfügbar sind und
sie zur Realisierung schöner, kreativer Projekte beigetragen können. Spender werden
gern Teil dieser hippen, tonangebenden und internationalen Community.
• Co-Branding heißt das Zauberwort: Kickstarter betreibt in brillanter Weise Marketing.
Indem es nicht seine eigene Plattform vermarktet, sondern die Projekte seiner Kun-
den, reitet Kickstarter auf der Erfolgswelle kreativer Unternehmer mit und heimst für
sich selbst weltweite Bekanntheit ein.
• Unternehmer kontinuierlich beteiligen: Projekte, deren Geldeinwerbungszeitraum
abgelaufen ist, entwickeln sich automatisch weiter und werden nach einiger Zeit
nicht mehr mit Kickstarter in Verbindung gebracht. Von der Möglichkeit, erfolgreiche
Unternehmer als Botschafter oder sogar als Berater und Coaches für neue Unterneh-
mer einzusetzen, wird bisher noch nicht Gebrauch gemacht.
• Es muss nicht um einen selbst gehen, sondern darum, anderen bei der Realisierung
ihres Traums zu helfen: Die Sympathie, die Kickstarter mit seiner Mission, die Welt
zu einem kreativeren Ort zu machen, sorgt dafür, dass die weniger schmeichelhaften
Aspekte seines Businessmodells, z. B. der Mangel an Transparenz bezüglich seiner
internen Kosten, stillschweigend hingenommen werden. Weil Kickstarter diese Mis-
sion auf allen Unternehmensebenen konsequent vorlebt, zweifelt niemand an ihrer
Echtheit. Die wichtigste Lektion, die Kickstarter uns damit lehrt, ist die Tatsache, dass
der Erfolg eines Unternehmens steht und fällt mit der sympathischen und gänzlich
umgesetzten Mission und deren sozialer Wirkung. Erst dann ist es wirklich brillant.
294 J. Kemperman et al.

Literatur

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rufen am 8. September 2014 über: financialtimes.com
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Kemperman J, Geelhoed J, op ’t Hoog J (2014) Briljante businessmodellen in de zorg. Baan-
brekende benaderingen voor betere en betaalbare zorg. Academic Service, Den Haag
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Rhyne E (2009) Microfinance for bankers and investors – Understanding the opportunities and
challenges of the market at the bottom of the pyramid. McGraw-Hill, New York
Teilung alltäglicher Risiken
9
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

Wo die Streuung von Geld die Kernaktivität von Bankern ist, ist die Streuung von Risi-
ken innerhalb von Gruppen die Kernaktivität von Versicherern. Diese Gruppen können
Menschen und Unternehmen sein. Sinn und Zweck ist es, Kontinuität in den wichtigsten
Bereichen des Lebens zu gewährleisten, indem die größten (finanziellen) Risiken elimi-
niert werden. Für die Interessierten unter den Lesern werden nachfolgend erst die Kern-
punkte dieser Form des Versicherns erläutert, um sich danach der Frage zuzuwenden,
wie brillante Businessmodelle den Versicherungen Form und Inhalt geben. Wir behan-
deln zunächst die Risiken, die sich für Privatpersonen und Unternehmen ergeben, und
betrachten anschließend die Art und Weise, in der diese Risiken geteilt, behoben oder
(besser noch) minimiert werden.
Kontinuität des Lebens betrifft in erster Linie einen selbst, etwa in Form von Einkom-
men, wenn man nicht mehr arbeiten kann, aber auch Partner und Kinder, die von einem
abhängig sind. Wenn man zum Beispiel aufgrund seines Alters in Rente geht, tauchen
Unsicherheiten auf, denn schließlich weiß man vorher nicht, wie alt man wird. Aber zu
einem erheblichen Teil geht es auch um das in Kap. 8 behandelte Sparen und ­Investieren.

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 295


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_9
296 J. Kemperman et al.

Es kann beispielsweise der Fall eintreten, dass man durch einen Unfall arbeitsunfähig
wird. Das ist ein Risiko, gegen das man sich versichern kann. Unter Umständen kann es
dazu führen, dass man für den Rest des Lebens überhaupt nichts mehr verdienen kann. Es
ist auch gut möglich, dass die Arbeitsunfähigkeit nur temporär ist und man eine andere
Arbeit sehr wohl verrichten kann, die vielleicht wiederum weniger einträglich ist. Es
kann um das Einkommen gehen, das für das tägliche Leben gebraucht wird, aber auch
um die Schulden, die man nicht mehr tilgen kann, wenn man nichts mehr verdient, zum
­Beispiel für ein Haus. Da es also verschiedene Risiken gibt, gegen die man sich v­ ersichern
kann, sind viele Varianten möglich. Übrigens, auch wenn das Einkommen weitergezahlt
wird, können plötzlich hohe Kosten entstehen, die man nicht so ohne ­Weiteres tragen
kann. Dabei kann es beispielsweise um die medizinische Versorgung gehen, für die sich
die Kosten schnell in astronomische Höhen summieren können, etwa wenn eine kompli-
zierte Operation ansteht oder es zu einer langwierigen Erkrankung kommt. Oder es geht
um große Objekte: Immobilien wie etwa Häuser, die abbrennen oder ­einstürzen, aber auch
bewegliche Güter wie Autos oder Produktionsmittel, die abbrennen, kaputtgehen oder
gestohlen werden. Es kann natürlich auch sein, dass einem selbst so ein Unglück zwar
erspart bleibt, man aber jemand anderen ins Unglück stürzt. Jemand kommt ums Leben,
wird arbeitsunfähig oder krank oder etwas Kostbares geht durch eigenes Verschulden
kaputt. Auch das sind alles Risiken, gegen die man sich versichern kann. Für selbststän-
dige Unternehmer gelten im Grunde die gleichen Risiken. Auch diese Personengruppe
muss leben und arbeitsfähig sein, um Geld verdienen zu können, und auch hier gibt es
möglicherweise Besitztümer, die zu teuer sind, um sie selbst problemlos ersetzen zu kön-
nen. Wächst das Unternehmen, ergeben sich zusätzliche Risiken, zum Beispiel Verant-
wortlichkeiten und die Abhängigkeit vom Leben und der Gesundheit von Mitarbeitern
oder Verpflichtungen und gegenseitige Risiken in der Zusammenarbeit mit Lieferanten,
Händlern und Kunden.
Die täglichen Risiken, die man nicht allein tragen kann, können sehr wohl als Gruppe
getragen werden und genau das ist auch der Grund, warum es Versicherer gibt. Das
betrifft häufig Gruppen von Menschen oder Unternehmern, die vereinbaren, bei Miss­
erfolg ein Risiko gemeinsam zu tragen. Bei der Gründung von Achmea im Jahr 1811
geht es beispielsweise um 39 Bauern, die vereinbaren, gemeinsam die Kosten zu tragen,
wenn der Hof eines Bauern abbrennt. Für die gemeinsame Zahlung eines Hofs ist viel
Geld erforderlich, d. h., was beginnt als „gemeinsam das Risiko tragen, wenn etwas pas-
siert“, wird sehr schnell zu „gemeinsam Geld zur Seite legen, für den Fall, dass man es in
Zukunft braucht“. Das nennen wir heute „Prämie“. Dann braucht auch niemand als Kas-
senwart zu fungieren, das Geld einzusammeln und zu notieren, wer bezahlt hat und wer
nicht. Dann gibt es plötzlich eine Verwaltung und einen Versicherer. Darüber hinaus ist
es sinnvoll, genau festzulegen, wann ausgezahlt wird und wann nicht, denn wenn jemand
seinen Hof selbst in Brand steckt, will man dafür selbstverständlich nicht gemeinsam
aufkommen. So entsteht also Versicherungsschutz. Wenn sich viele andere Bauern betei-
ligen möchten, wird kritisch geprüft, ob diese auch sorgfältig mit der Sicherheit auf dem
Hof umgehen. Es gibt also Bedingungen und Aufnahmekriterien. Kurzum, ehe man es
sich versieht, gibt es einen Versicherer.
9  Teilung alltäglicher Risiken 297

Das Ziel besteht nicht etwa darin, Geld zu erhalten, wenn etwas passiert, sondern
die Kontinuität zu gewährleisten. Wenn der Hof abbrennt und man danach drei Ernten
auf das Geld warten muss, geht man schließlich Pleite. Es ist also nicht ungewöhnlich,
gemeinsam Vorkehrungen zu treffen, um so schnell und effizient wie möglich weiter-
wirtschaften und den Hof wiederaufbauen zu können. Natürlich ist es für jeden noch
schöner, wenn der Hof erst gar nicht abbrennt. Deshalb sind sehr schnell Menschen wie
Heubrandkontrolleure vor Ort, die mit einem langen Thermometer messen, wie warm
der Heuhaufen von innen ist. Die Auszahlung von Geld lässt sehr schnell die Gemein-
schaftskasse schrumpfen, weshalb es im gemeinsamen Interesse liegt, einen Brand
zu verhindern. Die gleichen Prinzipien, die für das Versichern eines Bauers gelten, der
weiterwirtschaften und am liebsten niemals so ein Drama wie einen Brand erleben will,
gelten für alle Versicherungen. Das Wort „Schadenversicherung“ ist eigentlich abwegig.
Man sollte lieber eine „Kein-Schaden-Versicherung“ abschließen. Eine Autoversicherung
ist schon besser, aber noch lieber versichert man seine Mobilität. Eine Krankenversiche-
rung ist notwendig, eine Pflegeversicherung ist besser, aber eigentlich will man doch
eine Gesundheitsversicherung. Eine Todesversicherung gibt es nicht, eine Lebens- oder
Rentenversicherung hingegen schon. Eine Einkommensversicherung trägt auch den rich-
tigen Namen, denn er gibt deutlich Aufschluss darüber, um was für eine Versicherung es
sich dabei handelt und was sie einem an Sicherheit bringt.
Die Kontinuität von Menschen und Unternehmen versichern ist nützlich für die Betei-
ligten selbst und für die Gesellschaft. Es hilft einem, einfach weiterzumachen, wenn
etwas unerwartet schiefgeht. Bei den Risiken, die man selbst nicht tragen kann, hilft es
auch zu verhindern, dass man nach einem erlittenen Schaden in einer Spirale landet, bei
der man beispielsweise seine Produktionsmittel verkaufen muss, um Rechnungen bezah-
len zu können, und bei der man anschließend einen strukturellen Einkommensschwund
verkraften muss. Auf Basis aller verschiedenen Risiken, Gruppen sowie Möglichkeiten
zur Teilung, Behebung und Verhinderung von Risiken ist ein bunter Strauß an Versiche-
rern entstanden. Und eine Reihe von ihnen ist sogar brillant.

Vergangenheit: Businessmodelle wie Centraal Beheer


Ein Teil der Versicherungen wird von Unternehmen aus der Industrie gegründet, die Risi-
ken teilen wollen. Zugrunde liegt hier der Gedanke, dass es besser ist, etwas im gemein-
samen Verbund selbst zu regeln, als dafür vom Staat abhängig zu sein. Ein Beispiel dafür
ist Centraal Beheer von Achmea, das als Unternehmen für die gemeinsame („Centraal“)
Verwaltung („Beheer“) von Risiken von Arbeitgebern gegründet wurde, die häufig Sozi-
alleistungen und Renten für Arbeitnehmer betrafen. Es ist ein klassisches Beispiel für die
Selbstorganisation als Gruppe zur Teilung von Risiken, denn viele Versicherer sind im
19. und 20. Jahrhundert auf diese Weise entstanden. Im Laufe der Zeit wurde das Modell
bei Centraal Beheer weiterentwickelt, sodass ab den 1960er Jahren schließlich auch die
Risiken von den Arbeitnehmern selbst versichert wurden. Diese Anpassung folgt dem
Gedanken „Geschäfte gemeinsam selbst regeln“ und zwar ohne die Einbindung von
Beratern und Versicherungsmaklern, dafür aber in direktem Kontakt mit dem Kunden.
298 J. Kemperman et al.

Für das Modell charakteristisch sind die intensive Zusammenarbeit mit dem Kunden
und telefongestützten Serviceangebote, was optimierte Deckungsanalysen und transpa-
rente Produkte erfordert. Damit war und ist Centraal Beheer ein Vorläufer der Direkt-
versicherer. Es gibt Ähnlichkeiten mit Progressive in Kap. 4, das ebenfalls Vorreiter auf
dem Gebiet der innovativen und direkten Kommunikation mit Versicherten war. Direkt-
versicherer setzen sich eigentlich erst in den letzten Jahren so richtig auf internationaler
Ebene durch, weil heute zur Gründung von Gruppen sowohl Onlinemedien als auch sozi-
ale Netzwerke zur Verfügung stehen. In den Niederlanden nutzt Achmea beispielsweise
InShared und FBTO und in Griechenland AnyTime.1 In Deutschland experimentiert
Friendsurance mit Peer-to-Peer-Versicherungen. Nicht zufällig scheint ein Versicherer
wie Centraal Beheer, der schon lange existiert, gut für die Herausforderungen der Sha-
ring Economy gerüstet zu sein.

Gegenwart: Businessmodelle wie Interpolis


Der Großteil der Genossenschaften wurde ursprünglich von Bauern gegründet, die sich
aus Eigeninitiative organisierten. Das gilt häufig auch für die Bereiche Finanzierung und
Versicherung. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Unternehmen Interpolis, das auch
als Versicherer hinter der ebenfalls genossenschaftlich organisierten Rabobank steht.
Was Interpolis unterscheidet ist, dass es in den 1990er Jahren als erstes Unternehmen
einen Kurswechsel in der traditionellen Arbeitsweise eines Versicherers vornahm: weg
vom Versichern auf der Grundlage von Misstrauen hin zum Versichern auf der Grund-
lage von Vertrauen und Transparenz. Mit diesem Schritt wurde der genossenschaftlichen
Basis Rechnung getragen. Das erinnert an die Mikrokredite in Kap. 7 und die Mikrover-
sicherer, in die LeapFrog in Kap. 8 investiert. Darüber hinaus gibt es auch viele Überein-
stimmungen mit den sogenannten Brotfonds, die gegenwärtig von Selbstständigen in den
Niederlanden gegründet werden, um sich gegen Arbeitsunfähigkeit zu versichern. Diese
Gemeinschaftsidee geht zurück auf einen völlig anderen Ursprung, der nach der Finanz-
krise und dem weit verbreiteten Misstrauen in den Finanzsektor aktueller denn je gewor-
den ist. Die gleiche Herausforderung, nämlich wieder zu einer Kundenbeziehung auf der
Grundlage von Vertrauen zurückzukehren, stellt sich allen großen führenden Versiche-
rungsgesellschaften in Europa, die sich Kundennähe ebenfalls auf ihre Fahne geschrie-
ben haben. Es geht um europäische Marktführer wie AXA aus Frankreich, Generali aus
Italien und Prudential und Aviva aus Großbritannien. Es ist auch nicht verwunderlich,
dass – ausgehend von einem gemeinsamen Interesse mit Versicherten – Anbieter wie
Zurich aus der Schweiz und USAA aus den USA ebenso wie Interpolis auf Hilfe bei der
Prävention und Reparatur setzen.2

1Siehe Peverelli und de Feniks (2010) für weitere Informationen z. B. über InShared.
2Siehe Peverelli und de Feniks (2010) für Beispiele für Präventionsmaßnahmen von Zurich und
siehe Veldhoen und Slooten (2014) für die kundenorientierte Hilfe von USAA in Notfällen.
9  Teilung alltäglicher Risiken 299

Zukunft: Businessmodelle wie Google


Sowohl die bestehenden als auch die neuen Onlineversicherungsunternehmen sind in ers-
ter Linie auf das Teilen von Risiken innerhalb von Gruppen ausgerichtet. Das verwundert
nicht, denn im Kern geht es beim Versichern schließlich genau darum. Die Versicherung
wird so transparent wie möglich organisiert, wobei Risiken mit Menschen und Unter-
nehmen geteilt werden, die in einer Beziehung zueinanderstehen. So wie bei Progressive
in Kap. 4 und Unternehmen wie Allstate werden Kunden, die weniger Risiken bergen
und weniger Schäden melden, mit einer niedrigeren Versicherungsprämie belohnt.3 Die
Analyse von Risiken und die Festlegung der Versicherungsprämie basieren häufig auf
Big Data. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, das Versicherungsschutzpaket so gut
wie möglich auf die eigenen Risiken und Umstände abzustimmen.
Es kann durchaus sein, dass ein Teil der Disruption auf dem Versicherungsmarkt von
etwas Anderem herrührt: nicht von der möglichst cleveren, einfachen und preiswerten
Teilung von Risiken, sondern von der Schadensbehebung und Risikovermeidung. Wenn
es um das Versichern von Kontinuität geht, und das ist schließlich das Ziel einer Versi-
cherung, gibt es viele neue Anbieter, die einem helfen, die Sache so schnell wie mög-
lich wieder ins rechte Lot zu bringen. Übrigens, dabei handelt es sich häufig nicht um
Versicherer. Die besten Anbieter findet man über Onlinevergleichsportale wie Check24.
Dabei eröffnen sich neue Möglichkeiten, um die Wahrscheinlichkeit von Unfällen zu
senken oder sogar fast gänzlich auszuschließen. Ein Beispiel ist die Autoversicherung.
Bei einem Unfall rufen einige Modelle von BMW automatisch bei der Versicherung an,
um Hilfe anzufordern. Gegenwärtig werden Autos so konstruiert, dass sie dem Fahrer
das Einparken abnehmen und ihn warnen oder sogar selbst eingreifen, um Unfälle zu
vermeiden. Im Extremfall sind Autos in der Lage, automatisch zu fahren, ohne dass der
Fahrer selbst das Steuer in die Hand nehmen muss. Darüber hinaus nimmt die Zahl der
jungen Menschen ab, die selbst ein Auto haben wollen. Vor allem wenn man in einer
Stadt wohnt, ist es teuer und unpraktisch; eigentlich will man doch nur eine Mobilitäts-
und Transportversicherung, ohne selbst irgendwelche Nachteile zu haben. Dabei haftet
man natürlich, wenn man das, was man verwendet, beschädigt; aber man selbst hat gar
kein Auto, und deshalb muss der eigene Besitz auch nicht geschützt werden. Kurzum,
es gibt neben der Versicherung ganz andere Möglichkeiten, um Kontinuität sicherzu-
stellen, und diese Möglichkeiten bewirken, dass das zu versichernde Risiko kleiner ist.
Daten spielen bei dieser Entwicklung eine Schlüsselrolle – sowohl bei der Teilung von
Risiken im Kern des Businessmodells als auch bei der Prävention und Reparatur an den
Rändern des Businessmodells. Es ist also interessant, sich die möglichen Formen der
Disruption anzusehen, die brillante Businessmodelle hervorrufen, etwa am Beispiel von
Google.

3Siehe Peverelli und de Feniks (2010) für die Festlegung der Risikoprämie z. B. bei AllState.
300 J. Kemperman et al.

9.1 Centraal Beheer4

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Liedewij Trampe und Jeroen Geelhoed
verfasst.

Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst regeln


Prolog
Ach, wie cool wäre es doch, bei Google zu arbeiten?! Dort arbeitet man tatsächlich an
innovativen Produkten mit einer anderen Sicht auf die Dinge. Man bekommt die Zeit,
die Freiheit und die Mittel, um sich selbst zu entfalten und wahrhaftig etwas Schönes
für die Kunden entstehen zu lassen. Zugegeben, es ist nicht jedermanns Sache, sich in
dieses Mekka der coolen Nerds zu begeben, aber als jemand, der im Land des Marke-
tings auch nur etwas auf sich hält, muss man dort natürlich Kontakte haben. Was ist
schöner als eine Einladung für ein einwöchiges Seminar im Googleplex, der in Moun-
tain View ansässigen Unternehmenszentrale von Google? Oder als ein Mittagessen in
der von einem echten Chefkoch geführten ‚Betriebskantine‘ an der sogenannten Ams-
terdamer Südachse? Und noch ein weiteres Beispiel: Zappos, wo Mitarbeiter ange-
spornt werden, alles zu tun, um Kunden glücklich zu machen. Dort ist man derart von
der eigenen Stärke und Kultur überzeugt, dass man einen Bonus erhält, wenn man
nach einer erfolgreichen Probezeit das Unternehmen verlässt, sodass nur die wirklich
motivierten Mitarbeiter bleiben.
Diese Art von Unternehmen lässt der Fantasie freien Lauf. Man will als Kunde
dazu gehören, aber sicher auch als Mitarbeiter. Sie prägen diese Zeit: Sie geben einem
den Raum, sich zu entwickeln, das Leben der Kunden zu verbessern und innovati-
ver auf dem Markt zu sein. Die Niederlande sind natürlich eher kühl als cool. Und
dennoch findet man auch hier Beispiele für außergewöhnliche Unternehmen. Wenn
ich Ihnen von einem niederländischem Unternehmen erzähle, das schon vor mehr als
30 Jahren speziell für seine Mitarbeiter eine eigene Tankstelle betrieb, das Spanisch-
kurse während der Arbeitszeit anbot, das auf Gruppentherapie für die persönliche
Entwicklung seiner Mitarbeiter setzte, das Technologie und Kundenkontakt oberste
Priorität einräumte und das seinen Mitarbeitern erlaubte, Haustiere einfach mit ins
Büro zu nehmen, würden Sie mir dann glauben, dass es sich um eine Versicherungs-
gesellschaft handelt? Ja mehr noch: Um eine sehr erfolgreiche Versicherungsgesell-
schaft aus der niederländischen Provinz? Ja, es geht tatsächlich um Centraal Beheer
aus Apeldoorn. Das Unternehmen ist immer noch ein sehr guter Versicherer, aber
Centraal Beheer war vor allem zwischen 1960 und 1990 ein veritabler Vorreiter in der
Versicherungsbranche. Aber was passierte da eigentlich?

4Die wichtigsten schriftlichen Quellen, die für diese Fallstudie verwendet wurden und die inter-
essierten Lesern für weitere Informationen empfohlen werden, sind Duffhues Korsten und Vonk
(2011) und Velema (1993).
9  Teilung alltäglicher Risiken 301

Einleitung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tritt eine der ersten Säulen des Sozialversicherungs-
systems in Kraft: das Gesetz zur Regelung der gesetzlichen Unfallversicherung. Mit
dieser verordneten Maßnahme werden Arbeitgeber verpflichtet, die finanziellen Fol-
gen eines Betriebsunfalls für ihre Mitarbeiter abzufedern. Die Ausführung und Admi-
nistration dieser gesetzlichen Regelung müssen zentral abgewickelt werden. Dafür
gibt es staatliche Behörden, doch viele Arbeitgeber wollen diese Angelegenheit für
ihre Mitarbeiter lieber selbst und ohne Einmischung von außen regeln. Von diesem
Gedanken ausgehend wird Centraal Beheer im Jahr 1909 gegründet. Die Gründung
erfolgt für und durch Arbeitgeber, wobei „Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst
regeln“ das Grundprinzip und Motto ist. Was viele Menschen heute nicht mehr über
Centraal Beheer wissen ist, dass das Unternehmen seinerzeit in Amsterdam gegründet
wurde, und zwar am Singel innerhalb des Grachtengürtels, um genau zu sein. In erster
Instanz geht es dabei nicht um Versicherungen. Es wird vorab keine Prämie gezahlt,
mit der das Risiko versichert wird. Vielmehr geht es um die Verwaltung der Kosten,
die im Laufe des Jahres entstanden sind. Diese Kosten werden dann addiert, auf alle
Unternehmen aufgeteilt und entsprechend weitergegeben. Also „centraal beheren“
(zentral verwalten), um es als simples Tätigkeitswort auszudrücken. Die Teilung der
Risiken erfolgt zwischen den Unternehmen innerhalb eines Wirtschaftszweigs. Dieses
Konzept übt eine Anziehungskraft aus, denn immer mehr Wirtschaftszweige möchten
sich anschließen. Auch bei neuen Risiken, die die Arbeitgeber tragen, ist diese zent-
rale Verwaltung in einer gemeinschaftlichen Organisation äußerst nützlich. Diese trägt
anschließend nämlich auch das Risiko und zahlt vorab die Versicherungsprämie, was
letztlich doch viel einfacher ist als hinterher womöglich noch unabsehbare Rechnun-
gen zu erhalten. Das niederländische Verb „centraal beheren“ ist auf diese Weise zu
einem Substantiv, einem Unternehmen geworden.5
In der Verwaltung und Ausführung aller Versicherungen für Arbeitgeber und
Arbeitnehmer ist Centraal Beheer schließlich so gut, dass sich das Unternehmen
­
Anfang der 1950er Jahre sogar sein eigenes Grab schaufelt. Während des Zweiten
Weltkriegs werden in London Pläne für ein neues Sozialsystem für die Niederlande
geschmiedet. Schließlich wird entschieden, dass die meisten der von Centraal Beheer
ausgeführten Aufgaben vom GAK übernommen werden müssen, d. h. vom Staat. Der
Vorreiter des Mottos „Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst regeln“ – Centraal
Beheer – steht damit paradoxerweise Pate für die Abwicklung des niederländischen
Sozialversicherungssystems durch den Staat. Die Tragik dieser Innovation besteht
darin, dass das Herzstück von Centraal Beheer aus dem Unternehmen herausge-
schnitten wird. Der Großteil der Mitglieder akzeptiert die Veränderung und wechselt

5Siehe De Coöperatieve Vereeniging „Centraal Beheer“ G. A. (1934) und Balk (1959) für eine aus-
führliche Beschreibung der Entwicklung vor 1960.
302 J. Kemperman et al.

zum GAK. 1959 bleibt schließlich nicht mehr als ein lockeres ­Unternehmensgerippe
mit weniger als 300 Arbeitnehmern übrig, die gezwungen sind, einen Neuanfang zu
gestalten. Aber was dann? Weiter wird mit der gleichen Kraft wie zu Beginn durch-
gestartet und gewirtschaftet. Denn es kann schließlich nicht angehen, dass ein
­anderer, und schon gar nicht der Staat, sich in Angelegenheiten einmischt, die die
Branche selbst regeln kann, oder? Centraal Beheer expandiert und regelt neben den
Risiken von Unternehmen auch die Versicherungen für individuelle Arbeitnehmer
und den Privatkundenmarkt als Ganzes – natürlich auf eine eigene unternehmeri-
sche Weise. Die ehemalige Ausführungsorganisation konkurriert auf besondere Art
und Weise mit dem grauen Einerlei im feudalen Versicherungssystem jener Zeit. Sie
entwickelt ­Innovationen im Rahmen einer gemeinschaftlichen Endeckungsreise und
wird zu einem aufsehenerregenden Vertreter der Branche in den 1960er, 1970er und
1980er Jahren. Aber wie?
Nachdem der größte Teil der Aufgaben von Centraal Beheer durch den Staat über-
nommen wurde, wird im Jahr 1960 auf gemeinsame Initiative der Arbeitgeber eine
Vereinigung für die zentrale elektronische Verwaltung gegründet und Centraal Beheer
mit dem Aufbau einer solchen Verwaltung beauftragt.
Centraal Beheer übernimmt in den 1960er Jahren eine Vorreiterrolle auf dem
Gebiet der Automatisierung und Prozessoptimierung. Nachdem der Großteil der
Kernaufgaben an das GAK übertragen worden war, beschließt das Unternehmen, sein
angestaubtes Image abzuschütteln und seinen Firmensitz 1972 nach Apeldoorn zu
verlegen.
Der Zeitraum zwischen 1960 und 1990 ist eine sehr spannende und revolutio-
näre Phase für Centraal Beheer. Die neue Unternehmensstrategie äußert sich unter
anderem in einem völlig neuen und sicherlich für die damalige Zeit revolutionären
Gebäude. Fortan gehen die Mitarbeiter ihrer Arbeit in Großraumbüros und nicht
mehr in ihrem ‚eigenen‘ Büro nach. Auch die Kampagne „Even Apeldoorn bellen“
(Mal eben in Apeldoorn anrufen) erweist sich als ein einzigartiges und strategisches
Puzzleteil in der Entwicklung von Centraal Beheer. Die Strategie machte das Unter-
nehmen zum ersten großen und erfolgreichen Direktversicherer für Privatpersonen
der Welt und zu einer besonderen Gemeinschaftsversicherung für das Segment der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Aber was genau macht das Businessmodell von Cen-
traal Beheer so brillant? Centraal Beheer durchbrach eine Reihe von Paradigmen
im Versicherungssektor und schaffte die Grundlage für ein Unternehmen, das heute
immer noch sehr erfolgreich ist und sich durch eine starke Versicherungsmarke und
einen kundenorientierten Ansatz auszeichnet. Um den Kern des Modells zu verste-
hen, sehen wir uns in dieser Fallstudie insbesondere den Zeitraum zwischen 1960
und 1990 an, in dem der Grundstein für den Erfolg des Unternehmens gelegt wurde.
Anschließend erörtern wir, wie sich dieses Fundament im heutigen Unternehmen
widerspiegelt.
9  Teilung alltäglicher Risiken 303

9.1.1 Das Fundament: „Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst


regeln“

Der Ursprung von Centraal Beheer liegt in der Wirtschaft und hier vor allem bei den
Arbeitgebern und den Arbeitnehmerverbänden. Die Geschäfte im Kollektiv zu regeln ist
essenziell. Der Kern von Centraal Beheer ist schon über 100 Jahre alt: „Angelegenheiten
gemeinschaftlich selbst regeln“. „Centraal beheren“ ermöglicht einer Branche, Risiken
gemeinschaftlich zu tragen, wenn man als Arbeitgeber den Arbeitnehmern Sozialversi-
cherungen bietet und diese verwaltet und ausführt. Der Staat spielt dabei keine Rolle,
und auch Versicherungsmakler werden von Anfang an außen vor gelassen. Das wird zu
einem Problem, als Centraal Beheer anfängt, Schadensversicherungen für Unternehmen
anzubieten. Ziel ist es, zusätzliche Einnahmen zu generieren, mit denen die Kosten ande-
rer Aktivitäten finanziert werden sollen. Das Rückversichern der größten Risiken an der
Versicherungsbörse ist jetzt notwendig, und diese Börse ist nur über Versicherungsmak-
ler zugänglich, die eng mit dem Vermittlerkanal verbunden sind. Es kommt zu einem
Boykott, und Centraal Beheer weicht für das Rückversichern auf das Ausland aus. Nach
jahrelangem Streit erhält Centraal Beheer für seine Vorgehensweise schließlich die offi-
zielle Anerkennung in Form eines Briefs von Ihrer Majestät der Königin Wilhelmina.
Die Anstrengungen werden somit belohnt (vgl. Velema und Dreijklufft 1993).
Die Philosophie von Centraal Beheer wird anlässlich des 40-jährigen Bestehens im
Jahr 1949 wie folgt zusammengefasst: „Wo die Branche in der Lage ist, Geschäfte selbst
zu regeln, gehört es sich, die Chance dazu zu ergreifen. Was durch die Branche selbst
erledigt werden kann, darf nicht durch staatliche Einrichtungen übernommen werden“
(Duffhues et al. 2011). In den 1970er Jahren betritt Centraal Beheer den Privatkunden-
markt mit Wohngebäudeversicherungen und einer Reihe einfacher Lebensversicherun-
gen wie etwa Risikolebensversicherungen, vor allem aber mit Autoversicherungen. Auch
hier bleibt man dem Konzept „Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst regeln“ treu. In
Anlehnung an das, was Centraal Beheer bereits jahrelang macht, werden jetzt Privatper-
sonen ‚direkt‘ und ohne die Bemühung eines Versicherungsmaklers bedient. Der Begriff
„Direktversicherer“, der dafür verwendet wird, ist ein Gegenentwurf zu dem Versiche-
rungsbegriff underwriting, bei dem mehrere Versicherer gemeinsam ein Risiko versi-
chern und hierfür untereinander ihre Unterschrift leisten. Das Risiko des Kunden wird
direkt von Central Beheer übernommen. In der Praxis wird bei Direktversicherungen für
Privatpersonen nichts gemeinsam mit dem Kunden unterzeichnet, denn es gibt keinen
persönlichen Kontakt. Das ist revolutionär im Verkauf und in der Abwicklung von Ver-
sicherungen für Privatpersonen. So etwas ist nicht nur auf dem niederländischen Markt
eine Neuheit. Auch auf internationaler Ebene wird derzeit an allen Orten mit dem per-
sönlichen Kontakt durch Vertreter oder Versicherungsmakler gearbeitet und nicht per
Fernverwaltung und brieflichem bzw. telefonischem Kontakt. Das Versprechen, das
Centraal Beheer mit „Even Apeldoorn bellen“ gibt, erscheint heute überholt (welchen
Versicherer kann man als Kunde nicht anrufen?), war aber zur damaligen Zeit eine Revo-
lution. Es ist vergleichbar mit den ersten Onlinegeschäften.
304 J. Kemperman et al.

Der Slogan, der inzwischen Kultstatus genießt, und die dazugehörige Werbekam-
pagne „Even Apeldoorn bellen“ ist tatsächlich das Motto des ersten Direktversicherers
in den Niederlanden. Einfach direkt anrufen, wenn etwas passiert ist. Dann finden wir
gemeinsam eine Lösung. Dafür braucht es keinen Versicherungsmakler. Das ist zu dem
Zeitpunkt übrigens nicht nur für Kunden neu, sondern auch für die Mitarbeiter am ande-
ren Ende der Leitung im modernen Bürogebäude in Apeldoorn. Dort sitzen die Mitar-
beiter nicht in erster Linie herum und warten auf Anrufe von Kunden … Was für Werte
bringt das für ein Unternehmen mit sich? Die Werte von Centraal Beheer in dieser Zeit
können wie folgt beschrieben werden: direkt, gemeinsam und bahnbrechend.

• Direkt, weil Kunden ohne Bemühung eines Versicherungsmaklers Versicherungen


abschließen können. Das bedeutet, dass Central Beheer zugänglich und praktisch sein
muss, damit die Angelegenheiten auch über das Telefon geregelt werden können.
• Gemeinschaftlich, weil Versicherungen im Wesentlichen aus einer Gruppe herausge-
bildet werden, die die Angelegenheit gemeinschaftlich regelt. Das Bindeglied, wel-
ches so etwas ermöglicht, ist Centraal Beheer. Die Mentalität von Centraal Beheer
besteht also nicht darin, den Versicherten selbst nach einer Lösung suchen zu lassen,
sondern mit ihm gemeinsam nach der besten Lösung zu suchen. Natürlich muss der
Versicherer menschlich und sympathisch sein, um die Angelegenheit mit dem Versi-
cherten gemeinsam regeln zu können.
• Bahnbrechend, weil dieser Lausbub unter den Versicherern für eine Reihe revo-
lutionärer Durchbrüche sorgt. Einem Durchbruch wie „Die Angelegenheiten
gemeinschaftlich selbst regeln“ liegt häufig zugrunde, dass er organisch und mit in
Eigenregie durchgeführten, gemeinschaftlichen Experimenten zustande gekommen
ist.6 In Apeldoorn wird der Ansatz zwar mit einer Prise Solidität gewürzt, aber die
ursprüngliche Amsterdamer Gutsherrenart mit großer Klappe und etwas Opportunis-
mus ist immer noch präsent und stellt eines der Erfolgsrezepte dar.

Dadurch, dass Centraal direkt, gemeinschaftlich und bahnbrechend ist, hat das Unterneh-
men in einem Zeitraum von 30 Jahren eine Revolution vollzogen. Der Vertrieb mittels
Kundenbedienung durch Mitarbeiter wurde auf dem niederländischen Versicherungs-
markt unwiderruflich verändert. Centraal Beheer kann dies umsetzen, weil „Angelegen-
heiten gemeinschaftlich selbst regeln“ in der Arbeitsmethode und Unternehmenskultur
fest verankert ist. Die meisten Heldengeschichten über Centraal Beheer berichten auch
heute noch von Menschen, die ganz unten im Unternehmen und ohne Budget oder Auf-
traggeber mit etwas Neuem angefangen haben. Häufig wird mit Kollegen aus völlig

6Die Strategieentwicklung von Centraal Beheer weist – wie von Lindblom (1959) beschrieben –
im positiven Sinn Merkmale von Durchwurschteln („muddling through“) auf und passt zur Idee
der begrenzten Rationalität („bounded rationality“), mit der Herbert Simon (1955) gegen den plan-
mäßigen Politikansatz der 1950er Jahre anging.
9  Teilung alltäglicher Risiken 305

anderen Unternehmensbereichen etwas Neues initiiert, was sich anschließend zu einem


Riesenerfolg entwickelt. Aber Freiheit und Unternehmergeist sind auch bei der alltägli-
chen Arbeit vonnöten. Wenn Menschen in den Callcentern in direktem Kontakt mit Kun-
den stehen und sie in dem Moment gemeinsam eine Lösung finden müssen, muss man
darauf vertrauen, dass sie es auch „gemeinschaftlich selbst machen können“, und sie
dazu ermutigen. Das bedeutet, dass das Unternehmen viel Freiheit und viele Entfaltungs-
möglichkeiten bieten muss. Entsprechend haben Mitarbeiter bereits in den 1970er Jah-
ren ein großes Mitspracherecht bezüglich der Einrichtung ihrer Arbeitsumgebung und
ihrer Arbeitsbedingungen. Das Wort „Empowerment“ existiert in dieser Zeit noch nicht,
jedoch wird der Begriff „Emanzipation“ umso häufiger verwendet. Passend zu dieser
Zeit gibt es eine Kultur der Selbstentfaltung, die schließlich dazu führt, dass Mitarbeiter
ihre Haustiere zur Arbeit mitbringen, an kostenlosen Sprachkursen im Büro teilnehmen
und bei der persönlichen Weiterentwicklung auf Gruppentherapie setzen. Möglicher-
weise werden Privatleben und Arbeit hier sehr stark miteinander vermischt, aber heut-
zutage können weibliche Mitarbeiter bei Facebook und Google ihre Eizellen einfrieren
lassen und es werden wirklich alle Ereignisse, egal ob am Arbeitsplatz oder im privaten
Bereich, in sozialen Medien geteilt. Was ist nun verrückter? (Abb. 9.1)
Eine beim Kunden und Mitarbeiter wirklich gelebte Philosophie von „Angelegen-
heiten gemeinschaftlich selbst regeln“ reicht jedoch nicht aus. Diesen müssen einfache
und optimierte Produkte und Prozesse zur Verfügung gestellt werden, um sich „selbst
gemeinschaftlich“ bedienen zu können. Na sowas! Wie sieht ein Businessmodell aus, das
diese Bedingungen erfüllt?

9.1.2 Das Businessmodell: Mal eben anrufen?

Marktsegmente: Über den Geschäftsmarkt zu den Arbeitnehmern und Privatper-


sonen
Centraal Beheer ist von Anfang an das gemeinschaftliche Produkt von Arbeitgebern.
Das Unternehmen ist eine wichtige Plattform und ein ebenso wichtiges Instrument für
die Eigeninitiative von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, um eine Politik auszuarbei-
ten und auszuführen, in der sich der Staat zurückzieht, in der man nicht von wem auch
immer abhängig ist und in der man der Überzeugung folgt, es besser machen zu kön-
nen. Auf diese Weise werden Arbeitgeber, aber auch die dazugehörigen Organisationen
in der Gesellschaft, einschließlich des Staates, zu wichtigen Playern für Centraal Beheer.
In den 1960er Jahren und davor ist die Basis, dass Central Beheer ein Versicherer für
Unternehmen ist und nicht für Privatpersonen. Die Ausweitung der Geschäftsaktivitäten
auf individuelle Arbeitnehmer und Privatpersonen ist neu. Es ist eine logische Antwort
auf der Suche nach Raum für Expansion auf Basis der täglichen Praxis. Viele Arbeit-
geber ermöglichen ihren Mitarbeitern nämlich, ihr Auto über eine Gruppenversiche-
rung zu versichern. Das Privatkundenangebot stellte in erster Linie eine Fortsetzung des
Arbeitgeberangebots dar. Strategie folgt dem Markt! Diese ‚Personalleistungen‘ werden
306 J. Kemperman et al.

Markenkern:„Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst regeln“ mit Arbeitgebern,


Arbeitnehmern und Privatpersonen

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Wo die Branche in der Lage ist, • Wir werden der erste große
Angelegenheiten gemeinschaftlich Direktversicherer in den Niederlanden
selbst zu regeln, ergreift Centraal und auf der Welt, ohne die
Beheer die Chance dazu, denn was Zwischenschaltung von Vertretern oder
selbst erledigt werden kann, braucht Versicherungsmaklern
nicht durch staatliche Einrichtungen
ausgeführt zu werden Markenversprechen
• „Mal eben in Apeldoorn anrufen“, wenn
Markenursprung etwas passiert, und bei Centraal Beheer
• Gegründet von Arbeitgebern, die es kann man sicher sein, dass die
für ihre Arbeitnehmer selbst regeln Angelegenheit gemeinsam gelöst wird
wollten
• Den Status quo
herausfordern und es
ggf. wagen, Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?
Konventionen zu
durchbrechen
ausgehend vom
Prinzip Höheres Ziel
Warum existieren wir?
„Angelegen-
heiten gemein-
schaftlich selbst Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
regeln“ Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Direkt • Mitarbeiter, die als Person emanzipiert
• Gemeinschaftlich und als Funktionsträger berechtigt sind,
• Bahnbrechend Angelegenheiten im direkten Kontakt mit
dem Kunden zu regeln
• Verständliche Produkte und Prozesse,
um Angelegenheiten auch
gemeinschaftlich selbst regeln zu können
Markenbeweis
• Das Problem auch wirklich lösen, wenn
der Kunde „mal eben in Apeldoorn anruft“
• Wachstum von Direktversicherung im
Vergleich zu den traditionellen Kanälen

Abb. 9.1  Leitbild und Positionierung von CBA


9  Teilung alltäglicher Risiken 307

anschließend zu einer immer wichtigeren Säule von Centraal Beheer. Anfang der
1980er Jahre kommt abermals eine Diskussion über die Zukunft des Konzerns auf. Cen-
traal Beheer ist seit dem Umzug nach Apeldoorn stark gewachsen. Das Unternehmen hat
von den Vorteilen der Direktversicherung vollumfänglich profitieren können. Weil keine
Provision an Versicherungsmakler gezahlt werden muss, kann den Kunden ein günstiger
Preis für Versicherungsprodukte und eine umfassende Deckung geboten werden. Darüber
hinaus kann dann auch noch eine gesunde Marge erzielt werden. Das Blatt scheint sich
jedoch zum Negativen zu wenden, da die Erfolge Wettbewerbern natürlich nicht verbor-
gen bleiben. Zudem befinden sich die Niederlande in wirtschaftlich schweren Zeiten. Um
eine noch stärkere Position auf dem Versicherungsmarkt einzunehmen, konzentriert sich
Centraal Beheer in den 1980er Jahren verstärkt auf ein besonderes, aber für das Unter-
nehmen sehr natürliches Marktsegment: die Arbeitnehmerversicherung.
Intern spiegelte sich diese Strategie in dem Motto „Zurück zum Ursprung, auf dem
Weg zum Vorsprung“ wider. Centraal Beheer wurde schließlich gegründet, um im Auf-
trag der Wirtschaft gesetzlich vorgeschriebene oder freiwillige Sozialversicherungen
für Arbeitnehmer zu verwalten; das Unternehmen ist traditionell stark im Rentensek-
tor aufgestellt und bietet unter Zuhilfenahme der Arbeitgeber Dienste für Arbeitnehmer
an. Diese starke Position in der Welt der Arbeitsbedingungen bleibt über Jahre hinweg
deutlich. So wird Centraal Beheer in den 1990er Jahren ein natürlicher Vorreiter des
Cafeteria-Modells, bei dem Menschen selbst Arbeitsbedingungen erstellen können, was
natürlich zuerst den eigenen Mitarbeitern geboten wurde.
Centraal Beheer konkurriert mit anderen Versicherern im Bereich der gängigen Ver-
sicherungsprodukte und der Altersversorgung. Damit fordert das Unternehmen im Hin-
blick auf das Privatkundengeschäft die traditionellen Versicherungsmakler heraus, wobei
auch der Privatsektor mit dem B2B-Markt stark verwurzelt ist. Als Unternehmen, das
von Arbeitgebern gegründet wurde und mit Konzepten wie Direktversicherung und
Personalleistungen arbeitet, schafft es Centraal Beheer immer wieder, neue Terrains zu
erschließen, die zu seinen eigenen Wurzeln und Werten passen, und sich von denen der
Wettbewerber unterscheiden. Die Triebkraft ist die Erkenntnis, dass Arbeitgeber, Arbeit-
nehmer und Privatpersonen vieles selbst regeln wollen und können, und dass man sich
auf der Grundlage eines gegenseitigen, wohlverstandenen Eigeninteresses gemeinsam
ans Werk machen kann.

Kundenwert: Gemeinschaftlich selbst versichern in praktischer und emotional


niedrigschwelliger Form
Wenn man mit einem Versicherungsmakler arbeitet, drängt sich die implizite Annahme
auf, dass die Produkte und Prozesse zu komplex sind, um sie als Privatperson zu verste-
hen. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass man auf jeden Fall jemanden braucht, der
sich beim Versicherer einsetzt, schließlich sitzt er einem ja gegenüber und nicht neben
einem. Wie sieht der Kundenwert aus, den ein Direktversicherer anbieten muss, um die-
ses Szenario zu durchbrechen? Ein wesentlicher Teil der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und
Privatpersonen will Probleme gemeinsam mit dem Versicherer regeln, wenn es auf diese
308 J. Kemperman et al.

Weise schnell und gut geregelt werden kann. Dies bringt einiges mit sich. Es dürfen
keine grundsätzlichen Probleme entstehen und es darf keine Fallstricke geben. Dienst-
leistungen müssen klar, herzlich und sympathisch erbracht werden und es muss beim
Kunden das Gefühl entstehen, dass man sich entspannt zurücklehnen kann, weil alles gut
geregelt ist. Man kauft also tatsächlich etwas Gemütsruhe. Als Belohnung für die eigene
Beteiligung an der Lösung muss das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen, was natürlich
besser gelingt, wenn kein Versicherungsmakler bezahlt werden muss. Als Randnotiz sei
angemerkt, dass das Konzept simpel bleiben und dass der Versicherungsschutz einfach
sehr gut sein muss, damit auch wirklich alles gut geregelt ist. Der Abschluss einer Ver-
sicherung und die Abwicklung einer Inanspruchnahme müssen transparent und einfach
sein. Eigentlich ist es das erklärte Ziel, dass man nichts falsch machen kann und dass
automatisch alles gut wird. Wenn dem so ist und es auch noch Menschen gibt, denen
man eine reibungslose Abwicklung zutrauen kann, sind die Risiken des gesamten Verfah-
rens zum „Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst regeln“ durchaus überschaubar.
In dieser Zeit erscheint das Wertversprechen eigentlich sehr logisch und selbstver-
ständlich. Selbstverständlich wird das auch immer noch geschätzt. Kunden sind heute
besser geschult, Produkte und Prozesse sind einfacher geworden und Versicherte k­ önnen
häufig selbst die Bedingungen und das Risiko wählen. In den 1980er Jahren war das
noch nicht so. Damals sollte Centraal Beheer alle diese Vorzüge nach und nach entde-
cken und schließlich ein völlig anderes Wertversprechen bieten als die anderen Versiche-
rer. Was ist im Hinblick auf Kanäle und Betrieb erforderlich?

Kanäle: „Mal eben in Apeldoorn anrufen“


Centraal Beheer verfügt seit jeher über ein umfassendes Netzwerk von Arbeitgebern und
ist auch in der Gesellschaft fest verankert. Das Unternehmen hat keine Vertreter, Filia-
len oder Versicherungsmakler und will es auch nicht haben. Zu Beginn der 1970er Jahre
werden über Umwege private Arbeitnehmer bedient, was zu jener Zeit noch kein Mas-
senmarkt war. Die Versicherung von Privatpersonen soll vereinfacht werden, damit bei
der Vermittlung einiges an Kosten eingespart werden kann. Centraal Beheer übernimmt
in dieser Zeit bereits die Verwaltung für Arbeitnehmer. Um den Übergang zum Direkt-
versicherer für den Privatkundenmarkt zu vollziehen, muss ein geeigneter Kommunika-
tions- und Vertriebskanal gefunden werden.
Für den Großteil der Öffentlichkeit ist Centraal Beheer in dieser Zeit ein relativ
unbekanntes Unternehmen. Ende der 1970er Jahre belegt eine Studie, dass nur 4 % der
niederländischen Bevölkerung Centraal Beheer kennen. Zum Vergleich: 45 % kennen
Nationale Nederlanden, 31 % Delta Lloyd, 30 % Victoria Vesta, 28 % RVS und 19 %
Ennia. Auch ist den Teilnehmern der Studie nicht klar, in welchem Bereich Centraal
Beheer aktiv ist. Selbst in Apeldoorn denken 56 % der Einwohner, dass es sich um eine
halbstaatliche Einrichtung handelt. Interessierte müssen demnach die Marke Centraal
Beheer von Grund auf kennenlernen und werden zur Kontaktaufnahme und Tätigung
von Geschäften mit dem Unternehmen aktiv angesprochen. Man ergreift ganz und gar
untypische Marketingmaßnahmen über den Arbeitgeber und über das direkte Anbieten
9  Teilung alltäglicher Risiken 309

von Rabattgutscheinen in Anzeigen und Briefen. Dafür braucht es ansprechende klassi-


sche Massenwerbekampagnen. Mit diesen soll kommuniziert werden, dass ein direkter
Abschluss und die Regelung von Versicherungsfällen nicht schwierig, sondern einfach
ist. Hierbei muss kommuniziert werden, dass man bei direktem Kontakt keinen großen
bürokratischen Versicherer am anderen Ende der Leitung hat, sondern einen sympathi-
schen und hilfsbereiten Menschen. Angebotsdifferenzierung allein reicht also nicht aus,
Sympathie und Humor müssen ebenfalls vorhanden sein. Dabei kann waghalsig bis zum
Äußersten gegangen werden, um auszuloten, was geht. Die vorherrschende Schwerge-
wichtigkeit komplexer Produkte und Prozesse muss minimiert werden, als handele es
sich um des Kaisers neue Kleider, mit denen das Volk zum Narren gehalten werde. In
den 1980er Jahren gipfeln die Maßnahmen in einer ultimativen Fernsehkampagne, die
es auch heute noch gibt. Aufgrund der mangelnden Bekanntheit der Marke entscheidet
man sich für den Slogan „Even Apeldoorn bellen“ (Mal eben in Apeldoorn anrufen)
und nicht für „Even Centraal Beheer bellen“ (mal eben Centraal Beheer anrufen). Der
Start der Kampagne verläuft zeitgleich mit der Umsetzung von Maßnahmen zur Aus-
weitung der telefonischen Erreichbarkeit. Die Mitarbeiter bekommen den Film noch vor
der Geschäftsleitung zu sehen. „Even Apeldoorn bellen“ avanciert zu einem der bekann-
testen Werbeslogans in den Niederlanden. Die Kampagnen machen Centraal Beheer ab
Mitte der 1980er Jahre bekannt und sympathisch.
Die Bekanntheit des Namens bei Privatpersonen wächst stetig und ruft positive Asso-
ziationen hervor. Das bringt Kunden dazu, bei dem Unternehmen zu verbleiben und auch
bei weiteren Abschlüssen aus den vielen Angeboten und Vergleichslisten die Marke Cen-
traal Beheer zu wählen, bei der sie ein gutes Gefühl haben.

Betrieb: Lochkarten, Remington Rand, wissenschaftliche Geschäftsführung und


Affenfelsen
Um das Prinzip Direktversicherung mit Inhalten auszufüllen, muss Centraal Beheer die
Initiative ergreifen und seine Produkte und Prozesse einfacher und zugänglicher machen.
Diese müssen sowohl für Kunden als auch für Mitarbeiter klar und verständlich sein.
Natürlich bleiben Versicherungen komplexe Produkte, die nicht vollständig zusammen-
gestrichen werden können. Produkte, die verwässert sind, bringen es mitunter mit sich,
dass nichts versichert oder geregelt ist, und das ist natürlich überhaupt nicht einfach und
sympathisch. Darüber hinaus sind die Prozesse auch ohne persönlichen Kontakt schon
kompliziert genug, was erforderlich macht, dass diese einfach werden und andere Kom-
munikationskanäle und -momente eingesetzt werden, um die Komplexität zu besser zu
transportieren.
Centraal Beheer verfügt über eine langjährige Erfahrung mit Automatisierungsmaß-
nahmen. Der Start als zentraler Verwalter im Auftrag der Arbeitgeber im Jahr 1909 stellt
das Unternehmen vor große Herausforderungen bei der Transaktionsverarbeitung. Cen-
traal Beheer verfolgt ehrgeizige Pläne zur Verbesserung der Verarbeitung. Arbeitgeber
investieren gern darin, denn sie wollen schließlich ebenso, dass Transaktionen so effizient
wie möglich abgewickelt werden. 1921 ist Centraal Beheer eines der ersten Unternehmen
310 J. Kemperman et al.

in den Niederlanden, das 40.000 Gulden in eine Lochkartenmaschine, eine Adressier-


maschine und in eine tabellarische Schreibmaschine investiert. 1961 wird für 1,1 Mio.
Gulden ein Remington Rand erworben, einer der ersten Supercomputer der Niederlande.
Centraal Beheer ist in puncto IT seiner Zeit weit voraus. Um 1990 wird mit zwei iden-
tischen Administrationen gearbeitet. Die reguläre Versicherungsadministration wird all-
abendlich als Kopie erstellt und diese zweite Datei wird einem Data-Mining unterzogen.
Des Weiteren wird Direct Mailing genutzt, um immer gewitztere und feinmaschigere
Kampagnen zu führen und um Risiken besser zu beherrschen.7
Im Laufe der Zeit entwickelt sich Centraal Beheer zu einem Vorreiter neuer Manage-
mentmethoden. So experimentiert das Unternehmen in den 1920er Jahren mit wis-
senschaftlicher Geschäftsführung. Die Innovation im Bereich Management und
Geschäftsführung geht weit über reines Effizienzstreben hinaus. In den 1970er Jahren ist
Centraal Beheer das erste Unternehmen, das die Methode Führung durch Zielvorgaben
praktiziert. Ein zentraler Punkt ist die Eigeninitiative der Mitarbeiter. Die Philosophie
in den 1970er Jahren besteht darin, die funktionelle Zusammenarbeit untereinander zu
fördern und weniger auf Hierarchie zu setzen. Dieser Trend spielt in den 1970er Jahren
sonst überhaupt keine Rolle in der Finanzdienstleistungsbranche. Die Manager im Versi-
cherungssektor haben meistens einen eigenen Lift, eine eigene Etage und eigenes Perso-
nal. Sie haben wenig familiären oder direkten Kontakt mit den Mitarbeitern, geschweige
denn mit den Endkunden. Das Gebäude, in dem Centraal Beheer seinen Firmensitz hat,
trägt dann auch den Beinamen „der Affenfelsen“. Dieses ist unhierarchisch und offen
gestaltet, sodass jeder jeden sehen und ansprechen kann (Abb. 9.2 und 9.3).
Centraal Beheer ist nicht nur innovativ in der Verbesserung von Vertrieb, Produk-
ten, Prozessen und Automatisierung. Die Innovation findet ebenso an den Rändern des
Businessmodells statt, nämlich dort, wo Menschen mittels Prävention selbst Schaden
vermeiden können oder entstandenen Schaden mithilfe von angeschlossenen Dienst-
leistern schneller wieder beheben können. Im Geschäftsbereich Prävention gibt es seit
1973 den Centraal-Beheer-Jahrespreis für Initiativen zur Erhöhung der Verkehrssicher-
heit und der Vermeidung von Verkehrsunfällen. Im Geschäftsbereich Reparatur wird die
gesamte Kette der Karosseriewerkstätten ab den 1980er Jahren neu gestaltet. Autorepara-
turen sind zu dem Zeitpunkt ein Spiel mit undurchsichtigen Rechnungen in eher schäbi-
gen Werkstätten mit freizügig gekleideten Frauen auf Postern an den Wänden. Centraal
Beheer übernimmt die Vorreiterrolle bei der Neustrukturierung und Professionalisierung
dieser Kette. Indem das Unternehmen die Schadensbehebung in den Fokus rückt, opti-
miert es die Kfz-Reparaturbranche in den Niederlanden und gestaltet sie neu. Centraal
Beheer propagierte beispielsweise, dass eine Reparaturwerkstatt mit 27,3 Vollzeitarbeits-
kräften am effektivsten ist. Es fehlte zudem häufig an Gerät, sodass das Auto zu einer
anderen Werkstatt gebracht werden musste. Weiterhin gab es zu viel Bürokratie und Ver-
waltung, wodurch die Kosten in die Höhe getrieben wurden.

7Mit Dank an Menno van Dijk von THNK für dieses Beispiel.
9  Teilung alltäglicher Risiken 311

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Mir ist als Arbeitgeber, Arbeitnehmer • Starke Position bei Arbeitgebern,
und/oder Privatperson eine gute Lösung Arbeitnehmern und Privatpersonen
sicher sowie in der Gesellschaft in den
+ Bereichen Schadenversicherungen,
Einkommensversicherungen,
Prozess Wie bekomme ich es? Altersvorsorge und Sparen
• Wir regeln es wirklich gemeinsam, und
dieser Ansatz ist sympathischer und
Wettbewerber
zugänglicher, als sonst von einem • Herausforderer aller anderen
Versicherer erwartet Versicherer und insbesondere
Mittlerorganisationen, die das Gleiche
+ tun, oder Kunden, die es nicht
gemeinsam mit dem Direktversicherer
Gefühl Was fühle ich dabei? regeln können
• Gefühl der Sicherheit, Kontrolle und
Behaglichkeit Zielgruppe
• Unternehmen und ihre Angestellten
sowie Privatpersonen
Preis Was kostet es?
• Ein ehrlicher Preis für ein Kundeneinblicke
Premiumprodukt • Es bereitet Kunden Spaß, funktioniert
+ schnell und spart Kosten, wenn es
ihnen möglich ist, die Angelegenheit
Aufwand Was muss ich dafür tun? für ihr Unternehmen, ihre
• Komplexe Angelegenheiten werden auf Angestellten, für sich selbst oder für
einfache Weise verständlich gemacht: ihre Familie selbst zu regeln
„Ich verstehe es, und so können wir es
gemeinsam selbst regeln“

Risiko Wie unsicher Kunst der Positionierung


ist es?
• Es herrscht wenig
Unsicherheit über Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
die gute Lösung,
Position, Wettbewerber,
weil ich selbst Ergebnis, Prozess, Gefühl,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


gewählt habe und Kundeneinblicke
Betriebsstärke

Centraal Beheer
in meinem
Interesse als
Kunde
Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 9.2  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von CBA


312 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Einfache kundenfreundliche Produkte • Werbung, mit der kommuniziert wird,
und Prozesse ohne komplizierte dass Centraal Beheer ein warmes,
Klauseln oder Einschränkungen, offenes und zugängliches Unternehmen
sodass Missverständnisse oder ist, das das Leben nicht verkompliziert,
Diskussionen verhindert werden z. B. durch Humor und den Slogan „Mal
• Prävention und Reparatur sind in den eben in Apeldoorn anrufen“
Produkten und Angeboten integriert • Zugängliche Kommunikation und
• Geschichte der Innovation in IT für Informationen über Produkte und
optimierte administrative Prozesse und Prozesse bestätigt, dass es gemeinsam
Möglichkeiten selbst geregelt werden kann
• Geschichte neuer • Direkter Vertrieb über Aktionsaufrufe in
Managementmethoden, die Mitarbeiter den Medien und proaktive
ermutigen, die Dinge selbst in die Hand Telefonanrufe
zu nehmen, die Zusammenarbeit zu • Cross-Selling bei regulärem
suchen und das Problem für den Kundenkontakt
Kunden zu lösen
Kundenkontakt & Zusatzdienste
Lieferanten & Partner • Persönlicher und herzlicher
• Netzwerk von Dienstleistern in der Kundenkontakt bei administrativen
Kette der Prävention bis hin zur Angelegenheiten und Forderungen,
Reparatur auf Weltklasseniveau indem einfühlsame, sympathische
• Passend zum Netzwerk von Menschen ans Telefon gesetzt werden,
Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit denen man als Kunde das Problem
bestehen seit jeher starke Bindungen tatsächlich gemeinsam selbst lösen
mit und Abhängigkeiten von (halb-) möchte
staatlichen Einrichtungen, • Zugängliche, persönliche und
gesellschaftlichen Organisationen und überraschend einfache Zusatzdienste
der Politik für Prävention und Reparatur

Abb. 9.3  Betrieb und Kanäle von CBA


9  Teilung alltäglicher Risiken 313

Geschichte und Hintergrund des Affenfelsens in Apeldoorn


Am 24. und 25. Januar 1968 findet ein besonderer Mitarbeiterausflug statt. Alle
Mitarbeiter haben die Möglichkeit, gemeinsam mit ihren Partnern den zukünftigen
Standort von Centraal Beheer in Apeldoorn zu besuchen. Ein pikantes Detail ist,
dass Apeldoorn, wo Centraal Beheer schließlich seinen neuen Firmensitz errich-
tet, ursprünglich nicht einmal in den Top 5 der möglichen Standorte steht. Das
Unternehmen entscheidet sich letztlich doch für die Stadt im Osten der Nieder-
lande, weil sie mit ihren ehrgeizigen Wachstumszielen den meisten Platz für die
Erweiterung des Unternehmensstandorts und Einrichtungen für die Angestellten
bot. Außerdem ist die Situation auf dem lokalen Arbeitmarkt gut. Der Umzug stellt
eine große Herausforderung für die Organisatoren dar. Das Bürogebäude muss ein
inspirierender und angenehmer Arbeitsort für ca. 1000 Mitarbeiter sein. Auf der
Grundlage dieser Philosophie macht sich der junge Architekt Herman Hertzberger
an die Arbeit. Mitarbeiter werden am Bau und an der Einrichtung intensiv beteiligt.
In verschiedenen Arbeitsgruppen werden Themen wie flexible Arbeitzeiten, Kaf-
feepausen und Kinderbetreuung ausführlich diskutiert. Der endgültige Entwurf von
Hertzberger ist sehr innovativ. Mit dem Bürogebäude, das wegen seiner versetz-
ten Würfel im Volksmund der Affenfelsen heißt, macht er sich sogar international
einen Namen. Im Mittelpunkt des Entwurfs steht die Förderung der informellen
Interaktion, z. B. durch die offenen Besprechungsräume und Kaffeebars.

9.1.3 Das Ergebnis: Sich selbst neu erfinden und die Kategorie neu
definieren

Centraal Beheer ist derzeit als Versicherer in den Niederlanden nicht wegzudenken. Das
Unternehmen steht abwechselnd mit Interpolis und Univé auf den ersten drei Plätzen
der stärksten Marken für Schadenversicherungen. Der Weg an die Spitze verlief nicht
immer geradlienig und einfach. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt sich
Centraal Beheer zu einem so erfolgreichen Unternehmen, dass es ‚verstaatlicht‘ wird
und sich selbst neu erfinden muss. In den 30 Jahren zwischen 1960 und 1990 wandelt es
sich von einem eher behäbigen Unternehmen, das zum GAK gehört und in dem zuwei-
len der Amtsschimmel wiehert, zu einem dynamischen und tonangebenden Unternehmen.
Zunächst baut Centraal Beheer weiter auf den vertrauten Versicherungsmarkt für Unter-
nehmen mit automatisierten administrativen Dienstleistungen und Renten. Die Bran-
che, aus der Centraal Beheer hervorgegangen ist, hat weiterhin eine starke Bindung zum
Unternehmen und hält ihm die Treue. Darüber hinaus gerät in den 1970er Jahren allmäh-
lich der Privatkundenmarkt in den Fokus, auf dem Centraal Beheer durch die Einführung
der Direktversicherung und durch den Vertrieb an Arbeitnehmer über die Arbeitgeber den
Unterschied macht. 1986 erhält die 125.000ste Familie als Neukunde ein Jahr lang kosten-
losen Versicherungsschutz. Der Erfolg des Direktversicherns beginnt mit der Kfz-Versi-
cherung. In diesem Marktsegment verzeichnet Centraal Beheer dank der Gruppenverträge
den höchsten Bekanntheitsgrad. Das Unternehmen profitiert von der Massenmotorisierung
314 J. Kemperman et al.

in den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1960 versichert Centraal
Beheer 3 % der Personenkraftwagen. Dieser Anteil steigt bis 1982 kontinuierlich auf 6 %.
Zu dem Zeitpunkt sind 275.000 Fahrzeuge über Unternehmen und 25.000 direkt über Pri-
vatpersonen bei Centraal Beheer versichert. Die Gesamtzahl eingehender Prämien für alle
Produkte steigt von 750 Mio. im Jahr 1975 auf etwa 3 Mrd. im Jahr 1990.
Centraal Beheer war lange eine Genossenschaft und hat heute als Bestandteil von
Achmea auch wieder genossenschaftliche Anteilseigner. Centraal Beheer ist das Ins-
trument, mit dem Unternehmen, Arbeitnehmer und Privatpersonen Angelegenheiten
gemeinschaftlich selbst regeln können, aber gleichzeitig auch eine Quelle für Gewinn
und Dividenden. Der Gewinn steigt von 15 Mio. Gulden im Jahr 1974 auf 114 Mio. Gul-
den im Jahr 1990.
Die Zahl der Mitarbeiter steigt von 300 im Jahr 1959 auf ca. 1200 im Jahr 1975 und
1900 im Jahr 1990. Centraal Beheer ermöglicht seinen Mitarbeitern im Laufe der Jahre
viele Möglichkeiten, sich selbst zu entfalten und zu entwickeln. Das Unternehmen för-
dert Unternehmergeist und bietet Möglichkeiten zur Innovation in den Bereichen Auto-
matisierung, Managementmethoden, Vertrieb und Marketing. Dabei ist Centraal Beheer
Vorreiter dank neuer Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel die Einführung flexibler
Arbeitsbedingungen mit dem Cafeteria-Modell zu Beginn der 1990er Jahre. Auf diese
Weise ist das Unternehmen selbst auch Versuchslabor, in dem die eigenen neuen Pro-
dukte getestet, optimiert und vorgestellt werden. Unter gesellschaftlichen Aspekten
betrachtet hat Centraal Beheer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige
Rolle bei der Schaffung von Sozialleistungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den
Niederlanden gespielt. Dabei muss das, was mit „Angelegenheiten gemeinschaftlich
selbst regeln“ umrissen wird, nicht zulasten von „Angelegenheiten gemeinschaftlich kol-
lektiv regeln“ gehen und wird gleichzeitig ein Beitrag zur Innovation der Personalpolitik
geleistet (Abb. 9.4).

Tab. 9.1  Centraal Beheer in Zahlen, 1975–1990


1975 1980 1985 1990
Prämien für Lebensversicherungen 447 739 749 1206
Prämien für Schadenversicherungen 117 316 401 731
Ertrag aus Kapitalanlagen 168 451 734 1007
Ertrag aus Automatisierungsdiensten 19 69 88 0
Gesamteinnahmen 751 1575 1972 2944
Versicherte Beträge für Renten und 14.250 28.212 33.449 46.394
Lebensversicherungen
Angelegtes Vermögen 2233 5255 8448 13.421
Nettobetriebsergebnis 15 −1 95 114
Zahl der Mitarbeiter 1183 1868 1939 1900

(Beträge in Millionen Gulden)


9  Teilung alltäglicher Risiken 315

Wert durch Kunden


• Starke Bindung mit Unternehmen (auch als Arbeitgeber), die im Laufe der Jahre ein
starkes Zugehörigkeitsgefühl mit „ihrem“ Centraal Beheer fühlen und zeigen
• Treue Privatkunden mit mehr Produkten, weil sie selbst gewählt haben und damit auch
wissen, was sie haben und brauchen
• Guter Ruf und Top-3-Marke im Bereich Schadenversicherungen über Jahre hinweg
• Anstieg der Gesamtprämie für Schaden- und Lebensversicherungen von 750 Millionen
Gulden (340 Millionen EUR) im Jahr 1975 auf fast 3 Milliarden Gulden im Jahr 1990
(1,36 Milliarden EUR)

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Viele Entfaltungsmöglichkeiten und • Mittel, um es als genossenschaftliche
Raum für Unternehmergeist und Gründer und Mitglieder gemeinschaftlich
Innovation selbst zu regeln
• Distinktive und neue Arbeitsbedingungen, • Gesunde Margen durch alternativen
z. B. das Cafeteria-Modell, Haustiere am Vertrieb ohne Provision für
Arbeitsplatz und Psychoanalyse bei und Versicherungsmakler
mit dem Vorgesetzten • Gewinnzuwachs von 15 Millionen Gulden
• Mitarbeiterzuwachs von 300 im Jahr 1959 (6,8 Millionen EUR) im Jahr 1975 auf
auf fast 2.000 im Jahr 1990 114 Millionen Gulden (51,7 Millionen EUR) im
Jahr 1990

Wert für und durch die Gesellschaft


• Grundlagen für Sozialleistungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Über Jahre hinweg werden
viele „Angelegenheiten gemeinschaftlich selbst geregelt“, was Kosten beim „Angelegenheiten
gemeinschaftlich kollektiv“ einspart
• Treffer: 302.000, positive Bewertung Top 25: 70 %

Abb. 9.4  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von CBA


316 J. Kemperman et al.

9.1.4 Die brillanten Lektionen von Centraal Beheer

Centraal Beheer hat im Laufe der Jahre viel von sich selbst gelernt. Grundlagen aus
dem Zeitraum zwischen 1960 und 1990 sind heute noch erkennbar und wurden für das
21. Jahrhundert angepasst. Das Unternehmen steht vor der Herausforderung, sich in
der Sturm-und-Drang-Zeit der Digitalisierung und Onlinewandlung kontinuierlich neu
zu erfinden, und gerade sein unkonventioneller Ansatz passt sehr gut in die Zeit von
Google, Lean-Startups und Inkubatoren. Die Art und Weise und die Kultur der Inno-
vation bei Centraal Beheer ähnelt stark jener von Google, die später beschrieben wird.
Diese Art von Innovationskraft ist unbedingt erforderlich für branchenfremde Neuheiten
wie selbstfahrende Autos, die keine Unfälle mehr verursachen. Heute ist Centraal Beheer
wieder Vorreiter mit interessanten Experimenten wie beispielsweise dem Versichern von
Autos, die für Carsharing genutzt werden, und Objekten wie etwa Bohrmaschinen, die
ausgeliehen werden. Übrigens: Man kann immer noch mal eben in Apeldoorn anrufen,
aber man kann auch mit den Mitarbeitern chatten oder whatsappen.
Auffällig an Centraal Beheer ist vor allem der explorative Unternehmergeist: Ange-
trieben von seinem Ehrgeiz und dem Drang, sich zu beweisen, erneuert sich Centraal
Beheer kontinuierlich selbst, indem es experimentiert und lernt. Die dadurch entste-
henden Bausteine stärken einander enorm, gleichzeitig ist es jedoch häufig eher eine
organische Entdeckungsreise als eine Erfindung mit ordentlichen chronologischen Mei-
lensteinen und Entwicklungsplattformen. Was können wir von Centraal Beheer lernen?

• Mumm haben und einfach machen! Centraal Beheer lehrt uns, pragmatisch und unter-
nehmerisch zu sein und gleichzeitig die eigenen Fundamente maximal zu nutzen.
Zum Beispiel indem man über den Tellerrand des Geschäftsmarkts schaut und voll
auf Direktversichern und den Privatkundenmarkt setzt. Genau das tat Centraal Beheer,
weil es verstanden hat, dass die Arbeitgeber, mit denen es eine starke Bindung hatte,
Versicherungen für ihre Arbeitnehmer abschlossen. Diese Arbeitgeber konnten also
gut als Vertriebskanal eingesetzt werden.
• Sich auf die Anziehungskraft und verbindende Energie eines starken Leitbilds und
Markenpositionierung konzentrieren: Centraal Beheer hat immer einige Energie
investiert und Raum gegeben, um die Auswirkungen des eigenen Leitbilds und dessen
Positionierung zu erforschen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Mitarbeiter erhiel-
ten den Raum, Dinge selbst in die Hand zu nehmen und gemeinsam mit dem Kunden
zu regeln (Regelfreiheit am Telefon und bei der Entfaltung), und Räume wurden tat-
sächlich darauf abgestimmt (der Affenfelsen in Apeldoorn). Gleichzeitig hielten ein
klares, geteiltes Leitbild und die eindeutige Positionierung diesen freien Unterneh-
mergeist zielgerichtet und zusammen.
• „Wir machen gemeinsam, was wir gemeinsam machen können“ ist eine gute Aus-
gangsbasis, die noch immer einen zentralen Kern des Unternehmens bildet: Das
macht den Mitarbeiter und den Kunden von Centraal Beheer zum Mittelpunkt des
Unternehmens. Eines Unternehmens, das einfach dafür sorgt, dass die Dinge geregelt
9  Teilung alltäglicher Risiken 317

werden. Man ist nicht dagegen versichert, sondern für etwas versichert. Das schafft
eine natürliche Verbindung mit dem Kunden, der sich so auch als Eigentümer fühlt
und dem Unternehmen und seinen Versicherungen treu ist. Man hat es schließlich
gemeinsam selbst geregelt.

9.2 Interpolis

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Jennifer op ’t Hoog und Ger Haan
verfasst.

Säen in genossenschaftlichem Vertrauen


Prolog
Am 7. Juni 1990 wird Rabobank Großaktionär von Interpolis. Die Verantwortlichen
von Interpolis sehen darin eine Chance, denn schließlich kann der Vertrieb über die
zu dem Zeitpunkt 750 lokalen Banken verbessert werden. Gleichzeitig wird genau
von diesen Banken Kritik über die Performance von Interpolis geäußert. Die Rede ist
also von zwei Perspektiven, die scheinbar meilenweit auseinanderliegen. Was braucht
es, um diese Parteien zueinander finden zu lassen? Rabobank setzt einen eigenen
Geschäftsführer ein und betraut ihn mit der anspruchsvollen Aufgabe, das Unterneh-
men einschneidend zu verändern und zu verbessern. Und so geschah es: 1993 packt
das Veränderungsteam diese Herausforderung in enger Zusammenarbeit mit dem
Vorstand und dem Programm „Vast & Zeker“ („Ganz sicher“) an. Sie suchen nach
einem Weg, nicht nur zu reorganisieren und zu sanieren, sondern vor allem auch neue
Perspektiven zu erschließen. Sie wollen die Konventionen der traditionellen Versi-
cherungsbranche durchbrechen, die auf der Basis von Kontrolle, Kontrolle und noch
mal Kontrolle arbeitet. Sie wollen Interpolis als Versicherungsgenossenschaft dem
Kunden zurückgeben, indem sie gegenseitiges Vertrauen als Arbeitsgrundlage etab-
lieren. Sie suchen nach einem Weg, dieses Vertrauen greifbar zu machen. Die Dis-
tanz zum Kunden ist zu dem Zeitpunkt riesig. Die Beispiele dafür finden sich in der
Schadensregulierung, die von Distanz, schriftlicher Kommunikation und einer Häu-
fung von Regeln gekennzeichnet ist. Wenn ein Kunde beispielsweise anruft, um einen
beschädigten Ski zu melden, kann es passieren, dass er erst nach langem Hin und Her
des Versicherers von einem Versicherungsmakler besucht wird, der dann den Ski als
Beweismaterial an die Versicherung schickt… Das Ergebnis ist, dass Interpolis einen
Keller voll mit Gegenständen seiner Kunden hat, aber noch wichtiger ist die Tatsache,
dass seine Beziehung mit der Außenwelt folglich auf immer größer werdendem Miss-
trauen basiert.
Schritt für Schritt werden Prozesse entwickelt und optimiert. Interpolis sucht
nach Möglichkeiten, den Kernwert ‚glasklar‘ für seine Kunden greifbar zu machen.
Es folgt ein systematischer und umfassender Ansatz, der zu einer Umwandlung des
Unternehmens beiträgt. Ende der 1990er Jahre wird ein Konzept entwickelt, mit dem
318 J. Kemperman et al.

Vertrauen für den Kunden greifbar gemacht werden soll. Unter dem Motto „Lassen
Sie die Belege ruhig zu Hause, wir glauben Ihnen auch so“ werden reguläre Schäden
auf der Grundlage der entsprechenden Kundenangaben ausgezahlt – und zwar sofort,
noch während des Telefongesprächs! Es beginnt mit fünf Mitarbeitern bei Interpolis,
die telefonisch erreichbar sind und einer Reihe von Rabobank-Filialen, die in ihrer
Zahl sehr schnell wachsen. Das ist wirklich gewagt und unbekanntes Terrain. Es gibt
zwar keine hieb- und stichfeste Fallstudie, aber sehr wohl einen unerschütterlichen
Glauben an glasklare Prinzipien. Die Schadensachbearbeiter erklären Interpolis für
verrückt und erwarten, dass ein solches Konzept zu Verlusten führen wird. Interpo-
lis rechnet damit, dass Versicherungen vermehrt in Anspruch genommen werden, aber
gleichzeitig gehen die Verantwortlichen davon aus, dass sowohl bei Interpolis als auch
bei Rabobank sehr viele Arbeitsstunden eingespart werden und dass durch den direk-
ten Kundenservice Schadenbeiträge gesenkt werden können. Aber vor allem ist man
von dem Prinzip überzeugt, weshalb das Konzept auch umgesetzt wird.
Aber was passiert dann? Indem das Unternehmen seinen Kunden Vertrauen
schenkt, bekommt es von seinen Kunden Vertrauen zurück! Kunden fühlen sich mehr
verantwortlich und werfen ihre Belege nicht mehr weg, um zu sehen, was bezahlt
wird. Sie hören auf, Geschichten zu erzählen, von denen sie glauben, dass der Versi-
cherer sie hören will, und probieren es einfach mal mit der Wahrheit. Sie überprüfen
selbst ihre ungerechtfertigten Abrechnungen und fordern sogar weniger! Vertrauen
und Verantwortung gehen hier also Hand in Hand. Was kann man noch mehr aus die-
sem glasklaren, brillanten Businessmodell lernen?

Einleitung
In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entstehen in der Gesellschaft
allerlei genossenschaftliche Kooperationsverbände. Aus wohlverstandenem Eigen-
interesse können diese Unternehmen in gegenseitiger Verbundenheit Dinge reali-
sieren, die sie allein nicht schaffen würden. So entstehen beispielsweise auch die
Bauernschaftsverbände. In diesen Verbänden wird gemäß der genossenschaftlichen
Idee intensiv im Bereich An- und Verkauf sowie bei der Organisation von Auktio-
nen zusammengearbeitet. Diese Bauernschaftsverbände richten neben ihren eigenen
Versicherungsgesellschaften einen Rentenfonds ein. 1969 fusionieren die vier Versi-
cherungsgesellschaften, die Bauernschaftsverbände und das Lebensversicherungsun-
ternehmen zu N.V. Interpolis. Sehr schnell folgen Fusionen mit Hagelunie (1972), mit
Twaalf Gewesten (1985) sowie mit Sterpolis (1993), die eine immer größere Auswei-
tung des Produktportfolios bedeuten. 1990 wird Interpolis Teil der Rabobank. 2006
kommt es zu einer Fusion mit dem Unternehmen Achmea, zu dessen Aktionär Rabo-
bank dann wird.
Achmea ist Europas größter Krankenversicherer und Marktführer in den Nieder-
landen mit einem Portfolio an Pflege-, Schaden-, Renten-, Lebens- und Einkommens-
versicherungen.
9  Teilung alltäglicher Risiken 319

1992 steht Interpolis finanziell noch nicht gut da. Die Rabobank ist unzufrieden
mit der Zusammenarbeit, und die Zahlen sind nicht ohne. Die Herausforderung, vor
der Interpolis steht, besteht darin, innerhalb eines halben Jahres nachweislich ein
nachhaltig positives Ergebnis zu realisieren und innerhalb von zwei Jahren tatsäch-
lich schwarze Zahlen zu schreiben. Das Ziel ist äußerst ambitiös: Kostensenkung in
der Kette um 30 % bis 50 %, Reduzierung des Schadensatzes um 10 % und eine sub-
stanziell höhere Zufriedenheit von Banken, Endkunden und Mitarbeitern. Dafür ist
mehr als eine schrittweise Verbesserung notwendig. Um ein Versicherer zu sein, der
den Kunden auf der Grundlage genossenschaftlicher Prinzipien hilft, wird in enger
Zusammenarbeit mit den lokalen Rabobank-Filialen und Rabobank Nederland eine
fundamentale Neugestaltung der Unternehmensprozesse und -systeme vorgenommen.

9.2.1 Das Fundament: Es beginnt mit Vertrauen

Um das Fundament von Interpolis wirklich verstehen zu können, kehren wir wieder
zurück zur Rabobank, die ihre Ursprünge in der Grundidee von Raiffeisen hat. In Bril-
lante Businessmodelle entdecken wir, wie Raiffeisen die Bedeutung von gegenseitigem
Vertrauen auf der Grundlage verlässlicher Beziehungen und das menschliche Maß in
den Vordergrund stellt und damit ein gesundes und verständliches Banking sicherstellt
(vgl. Kemperman Geelhoed und op ’t Hoog 2013). Der Ausgangspunkt für die genos-
senschaftliche Rabobank: „Wir sind auf der Erde, damit die Gesellschaft besser zusam-
menarbeiten kann, und dabei sind wir uns unserer unterstützenden Rolle bewusst.“ Die
Bank ist aus einer Gruppe von Bauern entstanden, die gemeinsam ein Leihhaus für Bau-
ern gründeten, bei dem das Teilen von Mitteln im Mittelpunkt steht, sodass jeder mehr
realisieren kann.
Wenn Menschen in ihre Zukunft investieren wollen, kann dafür entweder Geld auf die
Seite gelegt oder geliehen werden. Seit jeher gelingt es der Rabobank, die Verbindung
zwischen Sparen, Investieren und ‚wohlverstandenem Eigeninteresse‘ sehr verständlich
zu machen. So wird Kindern erklärt, dass Spargelder bei der Bank von Bauern genutzt
werden, um das Land besser bewirtschaften zu können, was zu gutem Getreide und
leckerem Brot beim Bäcker führt. Und weil man mit Sparen einen Beitrag dazu leistet,
bekommt man dafür Zinsen zurück. So ist es besser für jeden. Dazu gehört dann auch die
Einsicht, dass wohlverstandenes Eigeninteresse nicht schlimm ist, sondern für Klarheit
in der Rollenverteilung sorgen kann und dass es zu einer nachhaltigen Wertschöpfung für
alle Beteiligten beiträgt. Der Erhalt von gegenseitigem Vertrauen ist essenziell für den
Erfolg des Unternehmens. Wenn die Kultur des Vertrauens zwischen allen Beteiligten
erhalten bleibt, so ist das eine beispiellose Erfolgsformel. Das ist sicher nicht einfach,
denn die Versuchung ist groß; außerdem erfordert es Mut und schonungslose Korrektur-
maßnahmen, um diese Kultur in guten wie in schlechten Zeiten zu verteidigen.
Das Fundament von Interpolis ist Konsistenz und Vertrauen. Es können sehr wohl
Leistungsindikatoren gemessen werden (Neukundengewinnung, Kundentreue und
­Bearbeitungszeiten), aber es geht um einen tiefer liegenden Wert: Die Basis ist die
320 J. Kemperman et al.

­ ertrauenskultur. Nicht umsonst ist der Markenkern von Interpolis „der glasklare Versi-
V
cherer“. Kunden wissen intuitiv, was sie erwarten können, und sie vertrauen darauf. Die
Markenursprünge von Interpolis liegen in der genossenschaftlichen Idee. 2006 fusioniert
Interpolis mit Achmea. Das 2009 festgelegte höhere Ziel von Achmea passt zu Interpolis:
„Wir sind eine Gemeinschaft von engagierten Menschen, in der sich der Kunde gut ver-
sichert fühlt. Ausgehend von der genossenschaftlichen Idee ist unsere Gruppe kunden-
und ergebnisorientiert.“
Das gewagte Ziel von Achmea besteht darin, der zuverlässigste Versicherer zu wer-
den, und auch das passt natürlich uneingeschränkt zu Interpolis. Das Markenverspre-
chen, das Interpolis seinen Kunden gibt, ist, dass sie sich verstanden fühlen und sie
erleben, dass sie Interpolis vertrauen können. Kunden bekommen einen glasklaren Ein-
blick in ihre Risiken und die Maßnahmen, die sie treffen können, um diese Risiken zu
senken. Interpolis macht die Risikobeherrschung glasklar durch einfache Kommunika-
tion und praktikable Lösungen, so geschehen in den letzten Jahren zum Beispiel unter
dem Motto „Versichern Sie nur das, was zählt“ und „Besser vermeiden als versichern“.
Für den Kunden bedeutet das weniger Risiko zu geringeren Kosten.
Die Fundamente der Vertrauenskultur und Verhaltensweise von Interpolis sind die
vier Werte: Vertrauen, Verantwortung, Verbindung und Freiheit. Diese Markenwerte
haben sich aus Offenheit, Klarheit und Vertrauen heraus entwickelt. Die Kernqualitä-
ten sind echten Kontakt knüpfen und glasklare Verbindung herstellen. Auf diese Weise
erfahren Interpolis und Rabobank die echte Geschichte der Kunden und wissen, was
wichtig für sie ist. Interpolis macht, was es verspricht (abgemacht ist abgemacht), und
ist darüber hinaus offen und ehrlich: Kunden wissen genau, woran sie sind (es gibt
hinterher keine Überraschungen). Interpolis gelingt es Ende der 1960er Jahre als ers-
tes Unternehmen, die Konventionen in der Versicherungsbranche zu durchbrechen, die
der Transparenz im Weg stehen. In einer Welt, die geprägt ist von Vertrauen, setzt das
Unternehmen den Zyklus des Vertrauens ein und kombiniert ihn mit einem hohen Maß
an Prozessoptimierung und Standardisierung. Die Standardisierung von Produkten und
Prozessen sorgt für Effizienz innerhalb des Unternehmens und auch bei den Rabobank-
Mitarbeitern, die die Produkte verkaufen. Dadurch kann Interpolis erheblich preiswerter
produzieren als seine Wettbewerber. Schätzungen gehen dabei von 20 % bis 25 % aus.
Bei dieser Standardisierung wird die gesamte Produktions- und Dienstleistungskette in
Augenschein genommen und werden die Komponenten, die keinen Mehrwert bieten,
herausgenommen. Schließlich wird bei Interpolis auf der Grundlage eines integralen
Systems gearbeitet und die Schadensregulierung selbst, statt über einen Versicherungs-
makler abgewickelt. Die Standardisierung Ende 1996 zeigt deutliche Auswirkungen:

• Die Kosten einschließlich des Schadensatzes in der Kette Rabobank-Interpolis wer-


den um 20 % gesenkt (die Schadenkosten selbst sogar um 13 %, der Schadensatz um
7 %); so ein Ergebnis ist in der niederländischen Versicherungsbranche beispiellos.
• Wachsende Marktanteile in den folgenden Jahren: Die Zahl der Privatkunden mit
einer „All in One“-Police steigt von 500.000 im Jahr 1994 auf 600.000 im Jahr 1997
und 900.000 im Jahr 1999 und schließlich auf über 1,3 Mio.
9  Teilung alltäglicher Risiken 321

• Auch die Kundenzufriedenheit bei Dienstleistungen im Schadenfall steigt von gut


ursprünglich 6 % über 7,5 % im Jahr 1996 auf 8 % seit 1999, und auch die Mitarbei-
terzufriedenheit steigt im Laufe der Jahre in gleichem Maße.
• Die Kostensenkung kann in erster Linie durch die Rationalisierung von Arbeitsplätzen
erreicht werden. Dennoch stieg die Zahl der Mitarbeiter schnell wieder an. Denn trotz
der signifikanten Verschlankung der Prozesse brauchte das Unternehmen vier Jahre
nach der Realisierung wieder genauso viele Mitarbeiter aufgrund der starken Portfo-
lioausweitung. Zur Kosteneinsparung pro Versicherung kam es schließlich nicht, weil
weniger Mitarbeiter die gleiche Menge an Arbeit erledigten, sondern weil die gleiche
Zahl von Mitarbeitern viel mehr Arbeit erledigte (Abb. 9.5).8

Gestaltungsprinzipien von Interpolis beim Programm „Vast & Zeker“


Im Rahmen des Programms „Vast & Zeker“ wird Interpolis anhand der folgenden
Prinzipien auf der Basis des so genannten 7 S-Modells von Grund auf neu gestaltet
(vgl. Peters und Waterman 1982):

1. Struktur: Verantwortung so nah wie möglich beim Kunden und Mitarbeiter.


2. Organisation: Interpolis-Performancezyklus, bei dem sich die Mitarbeiter je nach
Kompetenzen und Fähigkeiten aufeinander einstellen und sich ggf. anpassen.
3. Systeme: Einrichtung von integrierten Systemen mit der Rabobank. Rabobank
berät, Interpolis hilft Kunden bei Problemen und Verbesserung der Performance
auf allen Ebenen (zielgerichtete Managementinformationen).
4. Schlüsselfähigkeiten: Callcenterdienstleistungen werden eine völlig neue Kom-
petenz.
5. Stil: Serviceorientierte und inspirierende Führung und serviceorientierte Mitar-
beiter.
6. Strategie: Das Interesse des Kunden an der Genossenschaft wird maßgeblich für
das gesamte Handeln in der Kette.
7. Solidarische Werte: Vertrauen, Verantwortung, Verbundenheit und Freiheit (die
vier Werte).

Selbstverständlich wurden diese Gestaltungsprinzipien im Laufe der Jahre wei-


terentwickelt. So wurden beispielsweise Kenntnisse in Prävention und Risiko-
beratung sowie Kenntnisse im Umgang mit Internet und sozialen Medien als
Schlüsselfähigkeiten hinzugefügt. Das Neue Arbeiten („Het Nieuwe Werken“) ist
eine Kursänderung, die den Ehrgeiz des Unternehmens optimal unterstützt und
greifbarer macht. Bei Interpolis ist der Arbeitsplatz von Mitarbeitern dort, wo sie
sind, und dort tun sie, was nötig ist – zu jedem denkbaren Zeitpunkt.

8Die oben genannten Daten stammen aus Jahresberichten und internen Analysen und Studien (z. B.

Teamberichte Interpolis-Programm Vast & Zeker und Monatsberichte).


322 J. Kemperman et al.

Markenkern: Der glasklare Versicherer

Höheres Ziel von Achmea Gewagtes Ziel von Achmea


• Wir sind eine Gemeinschaft von • Der zuverlässigste Versicherer
engagierten Menschen, in der sich der
Kunde gut versichert fühlt. Ausgehend Markenversprechen
von der genossenschaftlichen Idee ist • Unsere Kunden fühlen sich
unsere Gruppe kunden- und verstanden und erleben, dass sie
ergebnisorientiert uns vertrauen können. Wir bieten
einen glasklaren Einblick in
Markenursprung Risiken und die Maßnahmen, die
• Interpolis und Rabobank teilen ein sie treffen können
genossenschaftliches Prinzip:
Gemeinsam sind wir stärker
• Interpolis durchbrach als
erstes Unternehmen
die Konventionen
in der Versicherungswelt, Markenkern
die der Transparenz Was ist der fundamentale Kern?
im Weg standen

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kernwerte von Achmea Kernqualitäten


• Einfühlen • Echter Kontakt und glasklare
• Innovieren Verbindung
• Fachkompetenz, Optimierung und
• Realisieren
Verbindung (geteilt in Achmea)

Markenwerte
Markenbeweis
• Offenheit • Wir sind glasklar in allem, was wir tun:
• Klarheit schnell, verständlich und gut. So wissen
• Vertrauen Kunden, was sie an uns haben
• Wir tun, was wir glauben (abgemacht ist
abgemacht), und wir sind offen und
ehrlich: Kunden wissen genau, woran
sie sind (es gibt hinterher keine
Überraschungen)

Abb. 9.5  Leitbild und Positionierung von Interpolis


9  Teilung alltäglicher Risiken 323

9.2.2 Das Businessmodell: nur wenn es stimmt, stimmt es

Marktsegmente: Kunden der Genossenschaftsbank


Neue Kunden werden über die Rabobank akquiriert und auch der Löwenanteil der
bereits vorhandenen Kunden sind Rabobank-Kunden. Damit zeichnet Interpolis fast zu
100 % verantwortlich für die Versicherungsprodukte der Rabobank, weshalb wir hier
natürlich von einer echten Bankversicherungspartnerschaft sprechen können. In den
Niederlanden ist die Rabobank Marktführer im Banking und der größte Versicherungs-
makler. Interpolis ist zwar Marktführer im Bereich Schadenversicherungen, aber der
Ursprung des Unternehmens liegt in der Sparte der Lebensversicherungen. Darüber hin-
aus bietet das Unternehmen auch Renten-, Einkommens- und Krankenversicherungen.
Interpolis bedient Privatkunden, kleine und mittelständische Betriebe sowie in geringe-
rem Umfang auch Großunternehmen. In der Versicherungsbranche existiert ein starkes
Konkurrenzumfeld, auf dem sich viele kleinere Versicherungsmarken tummeln, von
denen sich wiederum ein Teil auf eine bestimmte Nische des Markts konzentriert. Wo
Interpolis über ein breites Produktportfolio verfügt, führen die Wettbewerber häufig nur
einen Bruchteil des Produktangebots und/oder arbeiten über einen anderen Vertriebska-
nal. Zu den Wettbewerbern im Bereich Schadenversicherungen gehören unter anderem
Univé und Centraal Beheer, das Teil des gleichen Mutterkonzerns ist. Interpolis nutzt
sein breites Produktportfolio schon seit Jahren, indem es Paketpolicen bietet: die „All
in One“-Police für Privatpersonen und die „Unternehmen kompakt“-Police für Unter-
nehmen. Dabei handelt es sich um Rundum-Versicherungspakete. Wenn man als Kunde
Produkte aus verschiedenen Kategorien bei Interpolis unterbringt, kann das zu einem
Paketmengenrabatt von maximal 12 % führen. Der Kundeneinblick, auf den das Unter-
nehmen reagiert, ist die Tatsache, dass Kunden Verantwortung für sich selbst und ihre
Angehörigen übernehmen wollen. Um das vertrauensvoll machen zu können, lassen sie
sich gern von einem Anbieter helfen, der ihre Situation wirklich versteht und der für sie
da ist, wenn sie ihn brauchen.

Wertangebot für Kunden: Glasklarer Einblick und bewusste Entscheidungen


Forderungen werden zu 80 % während des Telefongesprächs beurteilt. Das funktioniert
gut, denn während des Gesprächs hört der Sachbearbeiter zwischen den Zeilen häufig
mehr, als wenn er sich Dokumente durchliest. Dabei bietet Interpolis Personen mit einer
Schadenversicherung einen glasklaren Einblick in die eigene Situation. Mit diesem Ein-
blick ist der Kunde in der Lage, die Versicherungen und Vorsorgemaßnahmen für sich
selbst und andere optimal auszuwählen bzw. zu treffen. Sie erlangen dadurch konkrete
und einfache Lösungen, realisieren den besten Kauf bei einer vertrauten Adresse in der
Nähe und haben Klarheit über die getroffenen Entscheidungen. Damit können Kunden
sich auf einmal gut versichern und zwar nur für das, was für sie wirklich wichtig ist. Das
gibt ein gutes und zufriedenes Gefühl. Was zahlen Kunden dafür? Interpolis ist nicht als
Preisbrecher bekannt, sondern als ein Anbieter mit einem Preis-Leistungs-Verhältnis, das
man von einer A-Marke erwarten kann. Als guter Kunde wird man übrigens mit einem
324 J. Kemperman et al.

Paketrabatt belohnt. Was muss man selbst dafür tun? Dadurch, dass Interpolis glasklar
über mögliche Risiken aufklärt, kann man sich als Kunde dafür entscheiden, diese Risi-
ken zu senken. Ein Kunde kann also selbst eine Rolle in der Verwaltung seiner Risiken
spielen und sich beispielsweise dafür entscheiden, ein Risiko selbst zu tragen und/oder
Präventionsmaßnahmen zu treffen. So kommt Interpolis gemeinsam mit seinen Kun-
den zur besten Lösung. Kunden treffen auf der Grundlage von Einblicken in die eigenen
Risiken eine wohlüberlegte Entscheidung darüber, wie sie mit diesen Risiken umgehen
wollen.

Kanäle: Niemals nur dem Kunden zuhören, sondern hinsehen, was er macht
Interpolis ist äußerst konsistent und genau bei der Übertragung des Leitbilds und der
Positionierung auf die Kanäle. Das beginnt mit der Kommunikation und den Kampagnen
und setzt sich fort im gesamten Kundenerlebnis, das vom Unternehmen geboten wird.
Paul Postma schwört schon jahrelang auf das Credo: „Niemals nur dem Kunden zu- son-
dern hinsehen, was er macht!“ Dadurch bleibt das Unternehmen aktiv und nah am Kun-
den. Wenn Interpolis merkt, dass der Kunde die Briefe zur Schadensregulierung nicht
mehr (aufmerksam) liest, wird untersucht, was zu den Bedürfnissen des Kunden besser
passt, zum Beispiel ein Film auf YouTube. Dem Teilen von Erfahrungen und Geschich-
ten, auch Storytelling genannt, wird immer eine besondere Rolle zuteil: Das ‚Aufklären‘
von Kundenerfahrungen mit dem Ziel, gemeinsam Lehren daraus zu ziehen.
Das Vertrauen betrifft auch das Treffen prinzipieller Entscheidungen auf Unter-
nehmensebene und nicht lediglich die plötzliche Entscheidung für pragmatische
Kompromisse, wenn es schmerzt. Begriffe wie „glasklar“ und „transparent“ haben
Konsequenzen in der Betriebsführung. Das bedeutet nicht, dass Interpolis niemals fal-
sche Entscheidungen bei den angebotenen Produkten und gegebenen Beratungen trifft.
Das kommt natürlich selten vor, und darüber hinaus werden eher Korrekturmaßnahmen
getroffen, weil auch auf der Vorstandsebene häufig die Frage gestellt wird, ob etwas glas-
klar ist und auch wirklich zu einer vertraulichen Beziehung mit dem Kunden passt. Um
das Jahr 2005 ist es für Interpolis glasklar, dass das Sparen das Produkt der Zukunft ist
und dass Lebensversicherungen vor allem dann für den Kunden nützlich sind, wenn es
um das Risiko eines frühen Todes oder eines sehr langen Lebens geht. Das hat enorme
Konsequenzen für das Unternehmen, erst recht wenn man bedenkt, dass die bestehenden
Lebensversicherungen bereit seit Jahren die Basis für Umsatz und Gewinn des Unter-
nehmens bilden. Es geht um schwere Unternehmensentscheidungen, aber wenn Unter-
nehmensentscheidungen deutlich besser für den Kunden sind, weiß man, was man zu tun
hat.
Durch die Kampagne „Lassen Sie die Belege ruhig zu Hause“ erleben Kunden, was
Vertrauen und Transparenz heißt. Anschließend will Interpolis bei seinen Dienstleistun-
gen noch einen Schritt weitergehen und seinen Versicherten bei der Reparatur und auch
in der Prävention helfen. Unter dem Motto „Besser vermeiden als versichern“ wird eine
Filiale für Präventionsdienstleistungen und -produkte eröffnet.
9  Teilung alltäglicher Risiken 325

2010 denken sich die Mitarbeiter bei Interpolis wieder etwas aus, das sich gegen die
Automatismen im Versichern stellt: Sie wollen Kunden aktiv empfehlen, nicht mehr alles
einfach so zu versichern. Intern kommt es zu heftigen Diskussionen, ob das nicht zu sehr
zu Lasten des Umsatzes und Gewinns gehen könnte. Schließlich gehört schon was dazu,
seine Kunden proaktiv mit der Mitteilung zu kontaktieren, dass sie das Produkt vielleicht
besser nicht mehr kaufen, weil sie es gar nicht brauchen. Der Plan wird umgesetzt. Kun-
den nehmen mithilfe von Interpolis alles kritisch unter die Lupe und versichern nur das,
was wirklich wichtig und was sie bei Verlust selbst nicht ersetzen können. Ist beispiels-
weise eine Zahnarztversicherung wirklich nötig? Oder braucht man für sein älteres Auto
unbedingt eine Vollkaskoversicherung? Was passiert dann? Kunden fühlen sich durch die-
sen Ansatz geschmeichelt und nach der Aufräumaktion bei den laufenden Versicherungen
sehen sie sich den Rest an und versichern anschließend häufig sogar mehr bei Interpolis!
Im Kontakt mit dem Kunden (telefonisch, online, schriftlich) wird davon ausgegan-
gen, dass der Kunde die Wahrheit sagt. Das bedeutet unter anderem, dass es zu keiner
Diskussion kommt. Kundenkontaktmitarbeiter sind lösungsorientiert und positiv einge-
stellt. Gleichwertigkeit ist essenziell im Kontakt mit dem Kunden, und so ist die Kom-
munikation von Offenheit, Deutlichkeit und Empathie geprägt. Kunden wollen sich gut
aufgehoben fühlen, wenn ein unvorhergesehenes Ereignis eintritt. Es soll so schnell wie
möglich weitergehen und alles wieder ins Lot gebracht werden. Die Methode „Lassen
Sie die Belege ruhig zu Hause“ macht das Vertrauen greifbar in dem Moment, in dem
es wirklich erforderlich ist. Das muss natürlich auf Gegenseitigkeit beruhen. Wenn ein
Kunde nachweislich nicht auf der Basis von Vertrauen handelt, zieht das deutliche Kon-
sequenzen nach sich. Er wird auf die schwarze Liste gesetzt und braucht bei Interpolis
nie wieder anzuklopfen. Auch das ist glasklar.

Betrieb: Das ist doch logisch


Glasklar sein hat erhebliche Konsequenzen für den Betrieb. Angebote wie die „All in
One“-Police und die „Unternehmen kompakt“-Police stellen die Backoffice-Prozesse völ-
lig auf den Kopf. Der Fokus muss von endloser Kontrolle nach gutem Kundenservice und
optimaler Abwicklung verschoben werden, sodass der Kunde seine (eventuelle) Auszah-
lung schnell erhält, am besten noch am gleichen Tag. Das ist ein gigantischer Wandel für
Mensch und System in der Kette mit Rabobank, der auch Transparenz bei Schäden erfor-
dert. Bei großen oder komplexen Schäden ist es wichtig, einen Experten vorbeizuschicken,
der wirklich Ahnung von der Sache hat, oder jemanden, der dem verletzten Opfer helfen
kann. Aber es gibt mehr: Ein glasklares Angebot erfordert auch einen Vertrag, einen Ver-
sicherungsschein, ein Inkasso- und ein Prämienhaus für bestehende und neue Kunden.
Es erfordert standardisierte Produkte und Prozesse, die dafür gemacht sind, Kunden opti-
mal zu helfen. Es bedeutet keine Produktüberschneidung, individuelle Bedingungen
(nur die Bedingungen der Produkte, die der Kunde versichert hat, und keine juristisch
notwendigen Details, die dem Kunden nicht helfen) und Einblick in Risiken und in
den Schadenstatus (online). Das klingt vielleicht sehr logisch, aber bei der Einführung und
auch heute noch ist es für einen Großteil der Versicherer eher Utopie denn Realität. Glasklar
arbeiten heißt, das Unternehmen sowie seine Produkte und Prozesse kritisch unter die Lupe
326 J. Kemperman et al.

zu nehmen. Welche Produkte, Dienstleistungen und Prozesse bieten dem Kunden einen
Mehrwert und welche nicht? Die Herausnahme von Elementen ohne Mehrwert aus dem
Prozess oder eine alternative Organisation des Prozesses führt zu Transparenz und Klarheit
für alle Beteiligten. In dieser Fallstudie wurde bereits das Beispiel der direkten Schadensre-
gulierung erwähnt; indem die Inkassoverantwortlichkeit der lokalen Rabobank zugewiesen
wurde, ist der Prozess noch um einen weiteren Schritt und einen weiteren Beteiligten kürzer
bzw. ärmer. Das ist natürlich offensichtlich und weniger wertvoll (Abb. 9.6 und 9.7).

Glasklar
Werfen wir mal eben einen Blick ins Innere dieses glasklaren Unternehmens. Beim
Betreten des Gebäudes an der Spoorlaan in Tilburg wird man von einer freundli-
chen Empfangsdame begrüßt. Mit der Rolltreppe fährt man in den ersten Stock und
betritt einen offenen Raum. Jede Ecke dieser sogenannten Flexwerketage hat eine
individuelle Einrichtung und Atmosphäre. So kann man beispielsweise an einem
Tisch am Fenster arbeiten oder in einer Art Kokon, der etwas mehr Privatsphäre
bietet. Direkt links neben der Rolltreppe stehen die sogenannten Ohrensessel mit
schalldämpfenden Kopfstützen, die sich hervorragend für Beratungsgespräche eig-
nen. Auf dieser Etage findet man auch die Kantine oder besser gesagt verschiedene
Essecken. Es gibt sieben Essecken mit unterschiedlichem Angebot; man wählt aus,
was man haben will, stellt es auf das Tablett und rechnet selbst ab. Kassiererinnen
gibt es keine. Wenn man einem Mitarbeiter mit einem belegten Brötchen nicht ver-
trauen kann, wie soll man dann jemals einem Kunden vertrauen können?
Entspannung nach einem anstrengenden Kundengespräch oder beim Überden-
ken eines neuen Angebots bietet eine Fernsehecke, eine Dartscheibe und sogar ein
Billardtisch. Kürzlich richtete Interpolis als offenes Unternehmen des 21. Jahr-
hunderts den Social Hub ein, einen physischen Ort im Gebäude, der als virtueller
Treffpunkt mit dem Kunden fungiert, der über alle Onlinekommunikationskanäle
anwesend ist. Was passiert im Netz? Wie regelt es Interpolis für seine Kunden?
Hier wird für jeden glasklar, was online passiert. Es ist einzigartig, dass der Kunde
jetzt auch im Unternehmen zu sehen ist, denn bislang beschränkte sich der Kontakt
auf das Telefon und auf den Schalter in der Rabobank.

Neue Mitarbeiter werden bei ihrem Einstand direkt ins „Aquabad“ von Interpolis gewor-
fen. Bei dieser Schulung lernen die neuen Mitarbeiter, was glasklar bedeutet. Interpo-
lis hat eine relativ flache Unternehmenshierarchie. Wenn man etwas will, findet oder
braucht von jemanden, spricht man am besten einfach eine vorbeigehende Person an,
egal ob es sich dabei um den Geschäftsführer oder einen Kollegen handelt. Das Neue
Arbeiten wird konsequent umgesetzt, das heißt, dass niemand ein eigenes Büro hat. Aus
dem Vertrauen heraus ist eine Unternehmenskultur mit Raum für Diskussion entstanden,
bei der die Mitarbeiter mit persönlichem Engagement und Ehrgeiz erörtern, was verbes-
sert werden kann. Die Mitarbeiter von Interpolis sind das Gesicht für den Kunden und
gleichzeitig der Spiegel für das Unternehmen.
9  Teilung alltäglicher Risiken 327

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Auf der Grundlage von Einblicken in • Vertriebsanteil von 90 %-100 % bei
meine Situation werde ich gegen Risiken Rabobank, Marktführer im Banking und
versichert, die für mich relevant sind größter Versicherungsmakler in den
+ Niederlanden
• Interpolis ist Marktführer für
Prozess Wie bekomme ich es? Schadenversicherungen (Marktanteil
• Glasklarer Einblick in meine Situation Privatkundenschäden ca. 14 %), stark im
(auch Konsequenzen). Alles ist auf einmal Bereich Lebensversicherungen und aktiv
gut, und versichert wird nur das, was in den Sparten Gesundheits-, Renten- und
relevant ist. Und die Belege können ruhig Einkommensversicherungen
zu Hause gelassen werden
+ Wettbewerber
• Schadenversicherungen: Univé und
Gefühl Was fühle ich dabei? Centraal Beheer bei Markenstärke und
• Ich fühle mich verstanden und sicher, mir Kundentreue
wird vertraut und ich fühle mich deshalb • Weitere Versicherungsunternehmen im
auch mehr verantwortlich jeweiligen Produktsegment

Zielgruppe
Preis Was kostet es? • Kunden der Rabobank, Privatpersonen
• Der beste Kauf für eine A-Marke und und Unternehmen
Paketrabatt bei mehreren Produkten
Kundeneinblicke
+ • Ich übernehme die Verantwortung für den
Aufwand Was muss ich dafür tun? Umgang mit meinen Risiken und die
• Ich kann konkret und einfach eine Rolle meiner Angehörigen, wenn ich
bei der Verwaltung meines Risikos spielen Unterstützung von einem Anbieter
(Risiko selbst tragen, Prävention) bekomme, der mir vertraut, so wie ich ihm
vertraue
+
Risiko Wie unsicher ist es?
• Ich habe Einblick in Kunst der Positionierung
meine eigenen Risiken
und habe mir gut Wertangebot für
überlegt, was ich Kunden Marktsegmente
versichere Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 9.6  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Interpolis


328 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Ergebnis, Prozess, Gefühl,
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Cleveres Vertrauen wird übertragen auf • Werbesendungen geben Aufschluss
die Kampagne „Lassen Sie die Belege darüber, was glasklar ist und wie es
ruhig zu Hause“ mit nachträglicher funktioniert und was das gemeinsame
stichprobenartiger Kontrolle. Bei Interesse von Prävention und schneller
Missbrauch des Systems wird der Kunde Schadensregulierung ist
sofort auf die schwarze Liste gesetzt • Erfahrungen und Storytelling als
• 7S-Modell: Struktur, Stab, Systeme, Schlüssel für die Verbreitung von
Schlüsselfähigkeiten, Stil, Strategie, Vertrauen
solidarische Werte
Kundenkontakt & Zusatzdienste
Lieferanten & Partner • Wir schenken vorab bedingungslos
• Fokus liegt auf einer durch die „Männer“ Vertrauen. Wir beginnen keine
von Interpolis ermöglichten, guten Diskussion mit dem Kunden
Lösung für den Kunden • Lösungsorientiert und positiv eingestellt
und nicht auf der Minimierung der (keine angsteinflößenden oder
Kosten Horrorszenarien)
• Wir sind offen, deutlich und empathisch
in unserer Kommunikation
• Neben Versicherungslösungen enthält
jedes Angebot ggf. Zusatzdienste und
Services in Bezug auf Risiko, Einblick
und Prävention

Abb. 9.7  Betrieb und Kanäle von Interpolis


9  Teilung alltäglicher Risiken 329

9.2.3 Das Ergebnis: Gegenseitiges Vertrauen

Der Schlüssel zum Erfolg von Interpolis ist, dass ein Mehrwert geboten wird und dieser
anschließend auch angenommen wird. Dieses Konzept kann immer nur auf Gegenseitig-
keit beruhen. Der Vertrauenszyklus beginnt bei Interpolis selbst: Der Versicherer vertraut
seinen Kunden und bekommt dieses Vertrauen von seinen Kunden zurück.
Die Ergebnisse dieses Kreislaufs sind spürbar. Eine von GFK im Jahr 2011 durch-
geführte Studie ergibt, dass Interpolis eines der wenigen Versicherungsunternehmen ist,
das in puncto Kundentreue bei Autoversicherungen ein positives Ergebnis erzielt. Die
Mehrheit der Wettbewerber weist in diesem Bereich ein hohes Defizit auf. Auch in der
landesweit durchgeführten Kundenerlebnisstudie, bei der unter anderem das funktionale
und emotionale Kundenerlebnis von Unternehmen aus den Branchen Telekommunika-
tion und Internet, Finanzwesen, Versicherungswesen, Energieversorgung und Behörden
überprüft wird, landet Interpolis auf dem zweiten Platz (und Rabobank übrigens auf dem
dritten Platz). Die 2013 durchgeführten Studien belegen, dass Interpolis bei der Erwä-
gung und Wiedererkennung durch Kunden den ersten bzw. den zweiten Platz sowohl bei
Geschäftskunden als auch bei Privatkunden einnimmt. Auch in Kundenzufriedenheits-
umfragen erhält Interpolis innerhalb seiner Branche gute Noten: 7,6 für Dienstleistun-
gen im Bereich Kranken- und Schadenversicherungen und eine 7,3 für Dienstleistungen
bezüglich Renten- und Lebensversicherungen.9
Seit der Veränderung im Jahr 1997 hat Interpolis ein enormes Umsatzwachstum bei
einer soliden und konstant gesunden Rendite verzeichnet. Das Unternehmen ist Teil von
Achmea. Interpolis bedient vor allem Kunden der Rabobank, die abgesehen vom Mit-
gliederverband von Achmea selbst der wichtigste Aktionär von Achmea ist. Interpolis
ist sowohl für Achmea als auch für Rabobank wertvoll. Der Jahresbericht von Achmea
für 2013 belegt, dass Interpolis 169.000 Geschäftskunden und 1.606.000 Privatkunden
hat. Das Ergebnis wird erst dann wirklich gut sichtbar, wenn man sich die Zahl der von
den Kunden gekauften Produkte ansieht. Durch das breite Produktportfolio und Angebot
wie die „All in One“-Police und die „Unternehmen kompakt“-Police gib es viele Kun-
den, die einen Großteil ihrer Versicherungen bei Interpolis abgeschlossen haben, und
das führt zu einer großen Zahl von Versicherungen pro Kunde und einem hohen Maß an
Kundentreue. Dabei stärken diese beiden Faktoren einander, denn je mehr Versicherun-
gen die Kunden haben, desto treuer sind sie.
Ein Unternehmen besteht aus Menschen. Die Kultur von Interpolis gehört damit auch
den Menschen, sie machen und tragen die Kultur. Nur wenn sie das Vertrauen spüren
und danach handeln, bleibt es auch erhalten. Mitarbeiter spielen also eine essenzielle
Rolle bei dieser wechselseitigen Beziehung. Auf Basis der ergebnisorientierten Einstel-
lung gibt Interpolis seinen Mitarbeitern viel Raum und Eigenverantwortung, um ihren

9https://www.interpolis.nl/over-interpolis/klanttevredenheid/Paginas/default.aspx.
330 J. Kemperman et al.

Arbeitsplatz und ihre Arbeitsstunden bestimmen zu können. Das Unternehmen ermutigt


seine Mitarbeiter, sich in die Lage des Kunden hineinzuversetzen und sich zu fragen:
Welche Unterstützung würde ich gern bekommen? Dadurch erhalten Mitarbeiter Ver-
trauen und sind sich auch ihrer Verantwortung bewusst, den Kunden so gut wie möglich
zu helfen. Auf diese Weise können sie das Vertrauen auch an den Kunden weitergeben
und auch die wechselseitige Beziehung bleibt intakt (Abb. 9.8).
Natürlich hat der Allround-Versicherer eine wichtige gesellschaftliche Funktion, die
darin besteht, die Kontinuität von Arbeit und Leben von sowohl Privatkunden als auch
Geschäftskunden zu versichern. Interpolis strengt sich dabei besonders an, um Menschen
mit Prävention, Teilung von Risiken und Reparatur zu helfen. Das sorgt für Sicherheit
bei unvorhergesehenen Ereignissen, gibt Menschen etwas Stabilität und bewirkt, dass
Menschen bei einem Rückschlag in der Lage sind, wieder auf die Beine zu kommen.
Natürlich ist auch hier wieder die Rede von Wechselseitigkeit: Wenn Menschen kei-
nen Schaden haben, ist es für jeden besser und bei Reparatur in Form von Sachhilfe
sind gemeinsame Akquisen günstiger als Alleingänge. Ein weiterer, distinktiver Beitrag
für und durch die Gesellschaft ist der Beitrag zur Wiederherstellung des Vertrauens in
Versicherungsunternehmen in den 1990er Jahren. In einer Zeit, die durch Misstrauen
geprägt war, gelang es Interpolis, als positive Ausnahmeerscheinung unter den Versiche-
rungsgesellschaften das Vertrauen wiederherzustellen. Das begann bei Interpolis selbst.
Das Unternehmen traute sich, in unruhigen Zeiten dem Kunden wieder Vertrauen ent-
gegenzubringen, und begann auf diese Weise den Zyklus von gegenseitigem Vertrauen.
Und dieser Kreislauf ist glücklicherweise auch heute noch intakt, was alles andere als
selbstverständlich ist. Der Fortbestand von Vertrauen verlangt allen Beteiligten etwas ab.
Mitunter kommt es zu schwierigen Entscheidungen wie die Kampagne „Lassen Sie die
Belege ruhig zu Hause“ und die aktive Empfehlung an Kunden, Produkte nicht mehr zu
kaufen. Diese Art von Entscheidungen wird es auch in Zukunft geben.

9.2.4 Die brillanten Lektionen von Interpolis

Was können wir von diesem glasklaren Versicherer lernen? Welche Einblicke können für
das eigene Unternehmen nützlich sein?

• Alles oder nichts: Vertrauen kann man nicht nur ein bisschen schenken – die Devise
lautet alles oder nichts. Also sollte man Entscheidungen nach dem Motto „nur ver-
sichern, was wirklich relevant ist“ treffen. Außerdem gilt es, der Unternehmenskul-
tur und der Grundidee treu zu bleiben, auch wenn dadurch kurzfristig Druck entsteht.
Sind die Dreh- und Angelpunkte des Unternehmens bekannt? An welchen Prinzipien
darf und wird niemals gerüttelt werden?
• In die Praxis umsetzen: Vertrauen ist essenziell für den Erfolg von Interpolis. Aber
es braucht noch mehr dafür. Es geht auch um ein messerscharfes Angebot, ein klares
Vertriebskonzept, Prozess- und Systemintegration und durchgänige Zahlungsprozesse,
9  Teilung alltäglicher Risiken 331

Wert durch Kunden


• Sehr guter Ruf (Top 3 zusammen mit Central Beheer und Univé und häufig die
Nummer eins unter den großen Versicherern und in Marktstudien im Bereich
Schadenversicherungen)
• Hohe Cross-Selling-Quote und hohes Maß an Kundentreue
• Vergleichsweise geringe Inanspruchnahme, Menschen verhalten sich
verantwortungsvoll, wenn ihnen Vertrauen anstatt Misstrauen entgegengebracht wird

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Mitarbeiter werden auf der Grundlage • Teil von Achmea, wobei Rabobank der
einer Kultur des Vertrauens und der größte Vertriebspartner und Aktionär
Klarheit ausgewählt. Das führt zu einer ist, wodurch eine starke Bindung und
Belegschaft von offenen Mitarbeitern, die gegenseitige Abhängigkeit zum
einander stärken und Vertrauen Ausdruck gebracht wird
verbreiten und gleichzeitig das • Robustes und konstantes Wachstum
Unternehmen auf Trab halten und zu und Gewinn, insbesondere im
gegenseitigem Vertrauen herausfordern Bereich Schadenversicherungen

Wert für und durch die Gesellschaft


• Beitrag zur Wiederherstellung des Vertrauens in den 1990er Jahren
• Menschen unterstützen die Kontinuität ihrer Arbeit und ihres Lebens durch Prävention,
Teilung von Risiken und Reparatur
• Treffer: 445.000, positive Bewertung Top 25: 80 %
• Preise und Auszeichnungen: Nationaler Vertrauens-Award 2011, Interpolis wurde als
vertrauenswürdigster Versicherer ausgezeichnet; Beste Marke in der Kategorie
Versicherungen in der Studie European Trusted Brands (2012, Reader’s Digest, diese
Auszeichnung erhielt das Unternehmen bereits fünfmal), niederländische Geschäftsführer
schließen ihre Versicherungen vorzugsweise bei Interpolis ab (MT Finance 2012), Platz 2
im Social Media Insurance Monitor (ITDS)

Abb. 9.8  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Interpolis


332 J. Kemperman et al.

(STP)-Prozesse. Es geht darum, seinen Ursprüngen treu zu bleiben. In diesem Fall ist
es der Ursprung der Genossenschaft. Das ist nicht einfach. Man kann Ursprünge inno-
vieren, aber man darf sie nicht verleugnen.
• Um die Ecke denken: Zum Beispiel bei der Übertragung des abstrakten Leitbilds in
echte Geschichten. So wie es Interpolis gemacht hat, als es zu dem Schluss kam, dass
Vertrauen für Kunden greifbar wird, wenn sie die Belege zu Hause lassen können.
Man kann zwar auf strategischer Ebene überlegen, was man realisieren will, aber
wenn die Kunden es nicht fühlen oder sehen, wird es niemals Wirklichkeit. Man muss
visionäre Träume haben wie die Vögel in der Luft und die Realität ergründen wie die
Würmer in der Erde.
• Intern beginnen, um extern zu gewinnen: Setzen Sie das Kundenkonzept eins zu eins
intern im Unternehmen um, seien Sie selbst das Kundenkonzept. Verstärken Sie so Ihr
Personal maximal, um einen besseren Kundenservice zu bieten.
• Mut haben: Selbstverständlich wird vorher und hinterher gerechnet. Aber die Reali-
sierung einer Vision erfordert auch einfach den Mut, etwas zu tun und das fortzuset-
zen, was gut für die Kunden ist. Langfristig wird man von den Kunden belohnt, aber
kurzfristig muss man mitunter in den sauren Apfel beißen.

9.3 Google?

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Pascal Steeghs, Ivy Jeuken, Rob van de
Blaak und Jeroen Geelhoed verfasst.

Immer und überall Zugang zu Informationen


Prolog
Wenn wir Direktoren von Banken und Versicherungsunternehmen die Frage stellen,
wer ihrer Meinung nach zukünftig der größte Wettbewerber sein wird, antworten sie,
dass sie Google als eine der größten Bedrohung sehen. Was einst als Suchmaschine
begann, hat sich zu einem Unternehmen mit unzähligen Produkten und Zusatzdiens-
ten entwickelt. Und Google baut sein Portfolio beständig weiter aus. Dabei geht es
bis an die Grenzen seines Businessmodells und versucht, diese Grenzen jedes Mal
aufs Neue zu erweitern. So hören und lesen wir immer mehr über die Ambitionen
von Google, auch im Finanzdienstleistungssektor aktiv zu werden und zwar sowohl
im Versicherungswesen als auch im Zahlungsverkehr. Die Ausweitung der Geschäfts-
aktivitäten erfolgt sowohl bewusst als auch unbewusst wie bei einer Hydra, die ein-
fach drauflosschlägt, obwohl sie eigentlich mit etwas Anderem beschäftigt ist. In
dieser Fallstudie sehen wir uns einen der Köpfe dieser Innovationshydra an: Wir las-
sen sogar das Google Wallet links liegen und betrachten nur das Versicherungskon-
zept. Google kann mit allen Informationen, die es durch seine bestehenden Dienste
gesammelt hat, theoretisch die präzisesten Profile von Versicherten sowie von
9  Teilung alltäglicher Risiken 333

Risiken und Reparaturen erstellen. Das ist in der Versicherungswelt schon immer von
unschätzbarem Wert gewesen, aber auf dem Niveau, auf dem Google es jetzt betrei-
ben kann, war es bislang noch nicht möglich. Ist das Theorie? Nein! Vielmehr arbeitet
Google schon längst daran. Das einzigartige und starke Businessmodell von Google
schafft immer wieder Möglichkeiten für Expansion. Und das finden wir brillant.

Einleitung
Wir schreiben das Jahr 1995. Der 22-jährige Larry Page besucht die Stanford Uni-
versity und wird von dem 21-jährigen Sergey Brin herumgeführt.10 Sie werden gute
Freunde, aber laut einigen Quellen sind sich die beiden Männer fast immer uneins.
Auf jeden Fall teilen sie eine Leidenschaft: Das Extrahieren relevanter Informationen
aus gigantischen Onlinedatensätzen. Ein Jahr später promovieren die beiden an der
Universität von Stanford und entwickeln gemeinsam in ihrem Studentenzimmer eine
Suchmaschine, die sie BackRub nennen. 1997 wählen sie einen anderen Namen für
die Suchmaschine: Google.
Dieser Name ist abgeleitet von der englischen Worterfindung „Googol“, der
mathematischen Bezeichnung für eine Eins mit hundert Nullen. Er bezieht sich auf
die Mission von Brin und Page: Das Organisieren der augenscheinlich unerschöpfli-
chen Menge an Informationen im Internet. Ja, das wird ein Unternehmen, wo Nerds
tatsächlich das Sagen haben! Sie lassen den Domainnamen www.google.com regis-
trieren, sodass Google eine Tatsache ist. Brin und Page stecken fast ihr ganzes Geld
in die Entwicklung der Suchmaschine und machen sich auf die Suche nach Investo-
ren. In Silicon Valley stößt ihr Projekt Google zunächst auf absolut kein Interesse.
Schließlich stellt Andy Bechtolsheim, Mitbegründer von Sun Microsystems, einen
Scheck über 100.000 US$ (ca. 94.000 EUR) an Google Inc. aus, ein Unternehmen,
das zu dem Zeitpunkt noch nicht existiert. Um den Scheck zu versilbern, gründen sie
das Unternehmen und lassen sich, so wie es sich immer noch gehört, in Silicon Valley
in einer Garage nieder.
Seit der Gründung in einer Garage nimmt der Erfolg von Google einen rasanten
Aufschwung. Von 10.000 Suchanfragen pro Tag im Jahr 1998 schafft es Google nur
zwei Jahre später auf über 100 Mio. Suchanfragen pro Tag. 2001 wird Eric Schmidt
zum Hauptgeschäftsführer ernannt, und drei Jahr später geht das Unternehmen an die
Börse (vgl. Mantle 2008). Etwa zehn Jahre später ist der einstige Garagenbetrieb zu
einem Milliardenunternehmen avanciert. Mittlerweile hat es YouTube übernommen
und führt ein breites Produktportfolio mit unter anderem Google Maps, Google Earth,
Gmail, Google Scholar, Google Talk, Google Transit, Google Docs, Google Chrome,
Google Hangout und sogar Google Romance. Wie hat Google diese Produkte entwi-
ckeln können? Google hat etwas, was fast niemand hat: Einen enormen Wirkungsbe-
reich und sehr viele Informationen, die in vielfältiger Weise verwendet werden können.

10http://www.google.com/intl/nl_nl/about/company/history/.
334 J. Kemperman et al.

Die neuesten Akquisitionen und die Angst bei Banken und Versicherungen deuten dar-
auf hin, dass diese einzigartige Stärke schon bald auch im Finanzdienstleistungssektor
eingesetzt wird. Die Frage ist nicht mehr, ob Google auf dem Versicherungsmarkt aktiv
wird, sondern in welcher Art und Weise das geschieht.

9.3.1 Das Fundament: Immer und überall Zugang zu allen


Informationen

Google sucht: Höheres Ziel, Leitbild und Mission


Google entsteht aufgrund der Faszination zweier Promovenden und der Komplexität der
Datenmenge, die online verfügbar ist. Brin und Page wollen alle verfügbaren Informatio-
nen organisieren und für alle zugänglich machen. Dieser Ehrgeiz ist dann auch die Basis
für das höhere Ziel von Google: „Das Organisieren von Informationen in der Welt, um
diese allgemein zugänglich und nützlich zu machen.“ Sie entwickeln eine Algorithmus,
der es ermöglicht, Daten zu ordnen und die relevantesten Informationen zu extrahieren.
Google hat in den vergangenen Jahren das Internet und die Welt für immer verändert;
aber gleichzeitig sieht es so aus, als habe das Unternehmen gerade erst begonnen. Google
entwickelt die Qualität der Art und Weise, wie Informationen gesammelt und geord-
net werden, permanent weiter und wird darin besonders gut. Einer der Kernwerte von
Google lautet dann auch „Sehr gut ist nun einmal nicht gut genug“. Das Unternehmen
strebt kontinuierlich nach dem allerbesten Resultat. Das führt dazu, dass Google schon
sehr lange ein dominanter Player auf dem Suchmaschinenmarkt ist. Ende 2016 hielt er
ca. 78 % Marktanteil am internationalen Suchmaschinenmarkt. Zur Veranschaulich: Bing
nimmt mit 19 % den zweiten Platz ein.11 Unter dem Motto „Schnell ist besser als lang-
sam“ hat sich Google zur schnellsten und besten Suchmaschine des Internets gemausert.
Google hat kein gewagtes Ziel, das öffentlich bekannt ist. Aber die Aktivitäten von
Google zeigen, dass das Unternehmen beabsichtigt, die Nutzung des Internets durch
die Menschen noch mehr zu intensivieren. Denn je mehr Zeit die Menschen im Internet
verbringen, desto mehr gucken, klicken und suchen sie und desto mehr Wert generieren
sie schließlich für sich selbst und Google. Google tut sein Bestes, um den Zugang zum
Internet und die Geschwindigkeit des Internets weltweit zu verbessern und die Distanz
zwischen jeder Aktivität und dem Internet zu verkleinern. Je intensiver die Nutzung des
Internets ist, desto größer ist der Mehrwert von Google. Es ist ein sich selbst verstärken-
der Effekt, der sich schließlich auch auf den Versicherungsmarkt auswirken wird.

Google sucht: Qualitäten, durch die sich Google auszeichnet


Ausgehend vom Prinzip „Es ist das Beste, eine Sache wirklich gut zu machen“ konzen-
triert sich Google auf die Kernqualität der Sammlung, Ordnung und Aufbereitung von
Onlinedaten. Und das ist eine unendlich große Aufgabe, denn bei Google ist man der

11https://www.searchenginejournal.com/august-2016-search-market-share/172078/.
9  Teilung alltäglicher Risiken 335

Ansicht, dass immer mehr Informationen verfügbar sind. Hinzu kommt, dass der Bedarf
der Nutzer an Informationen stetig wächst und dass diese Informationen immer noch
jederzeit und überall zugänglich sein müssen, auch außerhalb der Büroräume. Google
sucht kontinuierlich nach neuen Methoden, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
Die Kernqualitäten Kreativität und Innovation sind charakteristisch für die Suche von
Google nach Wegen und Möglichkeiten, den Kunden immer wieder zu überraschen und
seine Bedürfnisse erneut zu erfüllen (Abb. 9.9).
Ausgehend vom Kern der Suchmaschine breitet Google sich zu den Rändern seines
Businessmodells aus. Dabei nutzt das Unternehmen sehr geschickt die kombinierten
Informationen aus Suchanfragen, E-Mails, geplanten und zurückgelegten Strecken über
Google Maps, angesehenen Videos auf YouTube usw. Auf diese Weise erhält Google
Informationen über den Endnutzer, die auf vielfältige Art und Weise verwendet werden
können. Damit reagiert Google auf die Bedürfnisse der Internetnutzer des neuen Jahr-
tausends. Der Fokus auf den Kunden sorgt dafür, dass Google kontinuierlich neue Pro-
dukte und innovative Initiativen entwickelt, die sowohl für den Endnutzer als auch für
die Geschäftskunden ein Wertangebot schaffen. Die weltweite Präsenz und die Distri-
butionsstärke versetzen Google in die Lage, auf einen Schlag die gesamte Welt mit allen
seinen Produkten zu erreichen. Wie eine Selbstverständlichkeit kommen – geplant und
ungeplant – immer mehr Einnahmequellen hinzu.

Die 10 Kernprinzipien von Google12


• Der Fokus liegt auf dem Kunden, der Rest kommt ganz von selbst.
• Es ist das Beste, eine Sache wirklich gut zu machen.
• Schnell ist besser als langsam.
• Demokratie im Internet funktioniert.
• Man muss nicht unbedingt im Büro sein, wenn man auf eine Frage eine Antwort
braucht.
• Es ist möglich, Geld zu verdienen, ohne dabei Schlechtes zu tun.
• Es sind immer mehr Informationen verfügbar.
• Der Informationsbedarf kennt keine Grenzen.
• Man kann seriös sein, ohne einen Anzug zu tragen.
• Sehr gut ist nun einmal nicht gut genug.

9.3.2 Das Businessmodell: Sehr viel für jeden

Was kann Google für die Versicherungsbranche bedeuten? Versicherer haben großes
Interesse an Informationen, die Google in seinen Suchergebnissen präsentiert. Ihr Inte-
resse ist so groß, dass sie 2013 vier Milliarden Dollar (3,76 Mrd. EUR) für Google

12https://www.google.com/about/company/philosophy/.
336 J. Kemperman et al.

Markenkern: Immer und überall Zugang zu allen Informationen

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• „Die Informationen der Welt • Die Nutzung des Internets durch die
organisieren und allgemein Menschen noch mehr zu intensivieren
verfügbar und nützlich machen“ Markenversprechen
• Unbegrenzter und schneller Zugang zu
Markenursprung
verschiedenen Arten von Informationen
• Gegründet von zwei Promovenden, die
und innovativen Zusatzdiensten sowie
von komplexen Datenstrukturen
Innovation in Dienstleistungen
fasziniert waren und eine Möglichkeit
suchten, diese Informationen
zugänglicher zu machen
• Start-up-Kultur mit cleveren Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?
Gestaltern
• Suche nach Grenzen
von unbegrenzten
Höheres Ziel
Möglichkeiten Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte


Die 10 Kernprinzipien:
• Der Fokus liegt auf dem
Kunden, der Rest kommt ganz
von selbst
• Es ist das Beste, eine Sache
Kernqualitäten
wirklich gut zu machen • Informationen sammeln, ordnen und
• Schnell ist besser als langsam verwenden
• Demokratie im Internet • Kreativität und Innovation
funktioniert • Distributionsstärke und weltweite Präsenz
• Man muss nicht unbedingt im Markenbeweis
Büro sein, wenn man auf eine
• Google hält den größten Anteil am
Frage eine Antwort braucht Suchmaschinenmarkt (67,6 %), Bing nimmt mit
• Es ist möglich, Geld zu 19 % den zweiten Platz ein (2014)
verdienen, ohne dabei • Über 2 Millionen Suchanfragen pro Sekunde
Schlechtes zu tun • Es gibt über 500 Millionen Gmail-Konten
• Es sind immer mehr weltweit
Informationen verfügbar • YouTube hat jeden Monat 1 Milliarde
• Der Informationsbedarf kennt eindeutiger Nutzer, die zusammen 6 Milliarden
keine Grenzen Stunden Inhalt ansehen
• Man kann seriös sein, ohne • Seit dem Sommer 2014 hält Google Chrome
einen Anzug zu tragen über 20 % Anteil am Browsermarkt, Microsoft
• Sehr gut ist nun einmal Internet Explorer ist mit 58 % immer noch
nicht gut genug Marktführer

Abb. 9.9  Leitbild und Positionierung von Google


9  Teilung alltäglicher Risiken 337

AdWords und WordStream ausgaben.13 Der Versicherungsmarkt gehört zu den fünf


Top-Märkten, in denen das Internet zum beherrschenden Verkaufskanal wird (75 aller
Versicherungskäufe werden 2020 im Internet getätigt).14 Google könnte also ein wich-
tiger Player in diesem Markt werden. Aber wie genau, wo in der Kette und mit welchem
Wertangebot? Wir sehen drei mögliche Positionen, die Google im Zentrum des Versiche-
rungsmarkts einnehmen kann, wo es darum geht, Risiken transparent, einfach und preis-
wert zu teilen: als Vergleichsportal, als Anbieter von Informationsdiensten und/oder als
Versicherer.

1. Vergleich von Anbietern: 2012 hat Google in Großbritannien Beat That Quote
gekauft, aus dem Google Compare hervorgegangen ist. Gegenwärtig bietet Google
Compare15 Vergleiche in fünf verschiedenen Bereichen: Autoversicherungen, Reise-
versicherungen, Kreditkarten, Hypotheken und Banken.16
2. Anbieter von Informationsdiensten wie Google Maps for Insurance: Mit diesem
Informationsdienst und Service sind Versicherer in der Lage, dank eines vollständig
integrierten Systems eine Reihe von Prozessen zu optimieren. So können Versiche-
rer den Abschluss von Versicherungen verbessern (präzises Angebot, Risikomodelle),
Forderungen effizienter bearbeiten, ihr Marketing und ihren Vertrieb effizienter ein-
setzen und schließlich die Verwaltung von Schadensfällen dank der von Google erhal-
tenen Informationen besser organisieren.
3. Einstieg von Google als Versicherer: Wenn Google weiß, wo wir sind, was wir wann
machen und was wir in Zukunft machen werden, kann es uns perfekt versichern, ohne
durch die Altlasten eines Systemwirrwarrs beeinträchtigt zu sein wie etwa die bereits
bestehenden Versicherungsgesellschaften.

Neben diesen Funktionen ist Google bereits ein wichtiger Player bei der Reparatur und
Prävention, was wiederum mehr am Rand des Businessmodells von Versicherern liegt.
Bei der Reparatur bzw. Wiederherstellung ist Google beispielsweise eine große Num-
mer, wenn es um die Suche einer guten Werkstatt oder des richtigen Arztes geht. Bei der
Prävention wird Google immer mehr zu einem Experten auf den Gebieten Gesundheit,
Verkehr und Sicherheit und sorgt zwischenzeitlich auch noch für Erfindungen auf diesen
Gebieten wie beispielsweise das selbstfahrende Auto. Schließlich befinden sich hier noch
am ehesten die Unterscheidungskraft und die Möglichkeit, eine Beziehung mit dem Kun-
den auf der Grundlage gemeinsamer Interessen aufzubauen. Diese indirekte Bedrohung
für Versicherer ist also so ernst wie der direkte Wettbewerb beim Teilen von Risiken.

13http://www.statisticbrain.com/industries-that-spend-the-most-on-google-advertising/.

14http://techcrunch.com/2014/06/21/will-google-enter-the-insurance-industry/.

15Diese Aussage bezieht sich auf den Zeitpunkt der Erstausgabe dieses Buches. Im März 2016
wurde die Dienstleistung Google Compare durch das Unternehmen eingestellt.
16http://www.hallaminternet.com/2014/google-credit-cards/#ixzz3MX9InUe4.
338 J. Kemperman et al.

Marktsegment: Google für jeden Internetnutzer


Google hat sich eine eigene, einzigartige Position als Suchmaschine für nahezu eine Mil-
liarde Nutzer geschaffen (vgl. Duijvestein 2013). Das umfassende Netz sorgt für einen
Netzwerkeffekt, durch den der Wert des Produkts oder der Dienstleistung mit der Zahl
der Menschen steigt, die davon Gebrauch machen (vgl. Duijvestein 2013). Auf diese
Weise hat Google kaum Konkurrenz zu befürchten, was insbesondere für die USA und
Westeuropa gilt. Weil es Google am besten gelingt, große Informationsmengen zu sam-
meln und für die optimale Bereitstellung seiner eigenen Dienste einzusetzen, hat es im
Vergleich zu seinen Wettbewerbern einen großen Vorteil. Wodurch Google sehr wohl
ausgebremst wird, ist die Diskussion über Privatsphäre, über das Ausmaß von Objekti-
vität der von ihm gebotenen Dienste und über das Eigentum an den gesammelten Daten.
Für Versicherungen gibt es bis 2016 Google Compare, das nur in Großbritannien in
fünf verschiedenen Bereich aktiv ist und dem insgesamt 330 Anbieter angeschlossen
sind.17 Der Anteil von Google an diesem Markt ist noch nicht bekannt, aber die zukünf-
tige Ausweitung auf andere Lände und noch weitere Versicherungsprodukte liegt auf der
Hand. Die Informationsdienste von Google Maps haben als Zielgruppe bestehende Ver-
sicherungsgesellschaften. Es ist einzigartig, denn kein anderes System ist in der Lage,
dank der schon sehr großen Zahl von Nutzern den Kunden so zu profilieren und so ein-
fach in vorhandene Systeme zu integrieren wie Google. Die Versicherungsgesellschaft
Allianz entscheidet sich für diesen Dienst aufgrund der Vertrautheit, Zuverlässigkeit,
Genauigkeit, kontinuierlichen Innovation und der Beziehungen mit anderen Datenan-
bietern.18 Das sind genau die Kundeneinblicke, die Google mit seinem Dienst generie-
ren kann. Gleichzeitig bedeutet das wiederum eine neue Informationsquelle, die äußerst
nützlich ist, wenn sich Google selbst noch nachdrücklicher dazu entschließt, auf dem
Versicherungsmarkt aktiv zu werden.
Die oben genannten drei Positionen, die Google einnehmen kann, basieren auf den fol-
genden Kundeneinblicken. Der Versicherer will ein optimales Profil des Kunden, und dafür
will Google sorgen (Position 2 als Anbieter von Informationsdiensten). Der Versicherte
der Zukunft (Generation Millennium) vertraut den bestehenden Finanzdienstleistern nicht
mehr und sucht nach einem neuen, flexiblen System, das seinen finanziellen Bedürfnissen
gerecht wird (Position 1 als Vergleichsportal und Position 3 als Versicherer). Jede dieser
drei Positionen, die Google einnimmt, führt zu einer anderen Wettbewerbsposition. Wenn
Google selbst zum Versicherer wird, ist es ein Konkurrent für die bestehenden Versiche-
rungsunternehmen. Wenn es Informationsdienste bietet, sind die bestehenden Versiche-
rungsunternehmen entweder Partner oder Kunde. Und für die Position als Vergleichsportal
stellt sich Google über die Parteien und kämpft mit Check24 und anderen Vergleichspor-
talen. Man stelle sich beispielsweise einmal vor, was passieren würde, wenn Google alle
seine Daten verwenden würde, um für sich selbst als Versicherer oder Versicherungsmakler

17https://www.google.co.uk/compare/.
18https://www.google.com/work/mapsearth/insurance/.
9  Teilung alltäglicher Risiken 339

Risikoprofile von jedem Menschen auf der Welt mit der dazugehörigen Tagesprämie für
eine Wohn- und Autoversicherung zu erstellen? Und was wäre, wenn es diese Risikopro-
file für eine Krankenversicherung erstellen würde? Oder für eine Lebensversicherung? Was
würde passieren, wenn alle Menschen auf der Welt täglich 24 h ihre eigenen, individuel-
len Prämien auf Vergleichsseiten sehen könnten, also auch dann, wenn sie höher als bei
der Konkurrenz wäre? Die Versicherung wird dann bei Google abgeschlossen, wenn das
angesichts des Risikos am günstigsten ist, oder direkt über die Vergleichsseite beim Kon-
kurrenten. Was passiert, wenn einem als Versicherer diese Risiko- und Prämiendaten beim
Anbieten und Akzeptieren einer Versicherung zur Verfügung stehen? Was passiert, wenn
Google beschließt, die ursprüngliche Methode von Progressive weiterzuentwickeln und
auf einem viel höheren Niveau auszuführen? Was passiert, wenn man alle Risikodaten ver-
wendet, um auf Tageskursbasis zum jeweils besten Versicherer zu wechseln und Menschen
kontinuierlich bei der Schadensvermeidung und Reparatur zu helfen? Was kann Google
mit allen diesen Möglichkeiten den Kunden für einen Wert bieten?

Wertangebot für Kunden: Unbegrenzter Zugang zu Informationen


Der Kunde steht bei Innovation und Produktentwicklung im Mittelpunkt. Das Besondere
daran ist, dass Google eine große Zahl verschiedener Kunden hat, nämlich Internetnutzer,
die Werbebranche und die Unternehmen, die bestimmte Dienste und Distributionspartner
in Anspruch nehmen. Google bietet dem Internetnutzer unbegrenzten Zugang zu Infor-
mationen über den Internetbrowser, wobei der Nutzer das Gefühl bekommt, kostenlos
über eine unendliche Menge an Suchergebnissen zu einem bestimmten Thema verfügen
zu können. Die Einnahmen für diesen Dienst generiert Google über die Werbebranche
und Unternehmen, die andere Dienste in Anspruch nehmen. Kürzlich wurde beispiels-
weise bekannt, dass diese Suchergebnisse nicht für alle gleich sind und dass sie dem
Internetnutzer je nach Profil und früherem Suchverhalten angepasst werden können.19
Das wiederum wirft Fragen auf wie zum Beispiel: Wie ehrlich sind die Suchergeb-
nisse eigentlich, und wie viele Informationen erhält Google durch mein Suchverhalten?
Der Wert von Google Compare für den Kunden steckte im Konzept, dass er das beste
Geschäft macht, das er ganz einfach und übersichtlich im Internet abgeschlossen hat. Die
Informationsdienste, die Google Maps für Versicherer in bestehende Systeme integrieren,
geben mehr Aufschluss über die zu versichernde Person im Hinblick auf ein besser zu kal-
kulierendes Risiko, eine effizientere Schadensabwicklung sowie verbesserte Vertriebs- und
Marketingmöglichkeiten.20 Als Versicherungsgesellschaft bezahlt man für diesen Dienst
über Google Maps for Work. Obwohl dieser Dienst gute Möglichkeiten für Versiche-
rungsgesellschaften bietet, laufen sie damit Gefahr, einem potenziellen zukünftigen Wett-
bewerber zu viele Informationen preiszugeben. Der hypothetische Wert, den Google als
Versicherer bieten könnte, ist die adäquateste Beratung und Versicherung, die überhaupt

19http://www.nationale-denktank.nl/eindrapport2014/.
20https://www.google.com/work/mapsearth/insurance/.
340 J. Kemperman et al.

möglich ist, weil diese genau auf das individuelle Verhalten des jeweiligen Nutzers abge-
stimmt ist. Über verschiedene Produkte generiert Google verschiedene Arten von persönli-
chen Daten, die in einen Wert für den Kunden umgewandelt werden können:

• Durch Standortdaten und Nutzung eines wachsenden Satellitennetzes weiß Google


immer, wo sich alle Android-Smartphones befinden. Auf diese Weise lässt sich ein
Profil des Versicherten optimal erstellen. Darüber hinaus hat Google die Open Auto-
motive Alliance initiiert, um Android zur Plattform für sämtliche Technologie (Unter-
haltung, Apps) in Autos zu machen. Das Unternehmen erhält auf diese Weise täglich
und rund um die Uhr Einblicke in Risiken und wird zu einer ergiebigen Quelle für
Sicherheitsempfehlungen und einem Warnsystem.
• (Risiko-)Daten über Häuser und darüber, was in Häusern passiert, durch den Erwerb
von Nest Labs. Man stelle sich einmal vor, was mit Android als Basisplattform für das
Internet der Dinge (IdD) mit Blick auf smart Homes entstehen kann. Wenn die dar-
aus gewonnenen Daten mit Google Maps und Google Earth kombiniert werden, erge-
ben sich interessante (Risiko-) Informationen. Zum Beispiel eröffnen sich zusätzliche
Möglichkeiten für die Hausüberwachung, sodass ältere Menschen sicherer und länger
zu Hause in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben können.
• Daten über die Gesundheit von Menschen: Google Fit konkurriert mit anderen
Gesundheitsplattformen von unter anderem Apple und Samsung um die Vormachtstel-
lung auf dem Markt für Vitalität durch gesunde Bewegung, Entspannung und Ernäh-
rung. Dadurch ergeben sich viele Informationen über die Gesundheit und Aktivität
von Menschen und darüber, welche Maßnahmen bei der Verbesserung ihrer Gesund-
heit effektiv sein können.21

Kanäle: Immer nur ein Mausklick von Informationen oder Diensten entfernt
Google ist kaum zu sehen bzw. zu hören in Werbesendungen, die über traditionelle Mar-
ketingkanäle wie Fernsehen und Radio ausgestrahlt werden. Im Internet führt für den
Verbraucher jedoch kein Weg an Google vorbei. Als Standardsuchmaschine kommt jeder
Internetnutzer mit Google in Berührung. Außerdem kann Google dank der Vielzahl an
Veröffentlichungen über Google und der Präsentation der eigenen Geschichte auf zahl-
reichen Kongressen oder über Kanäle wie SlideShare viel Aufmerksamkeit für seine
Marke erzeugen. Auf diesen Plattformen wird auch häufig der mögliche Eintritt von
Google in den Versicherungsmarkt thematisiert. Dabei kann die Frage aufgeworfen wer-
den, inwieweit Google selbst auch zur Entstehung von Gerüchten über neue Dienste und
Produkte beisteuert.
Das einheitliche Layout der Google-Seite sorgt für ein konsistentes Erscheinungsbild.
Verkaufte Anzeigen werden (meistens) automatisch innerhalb der Suchergebnisse verar-
beitet. Im Jahr 2014 stammen 91 % aller Einnahmen von Google aus Onlineanzeigen über

21http://www.theverge.com/2014/7/22/5923849/how-apple-and-google-plan-to-reinvent-healthcare.
9  Teilung alltäglicher Risiken 341

Innovationen wie AdWords, AdSense, Google Mobile und YouTube.22 Fast der gesamte
Kundenkontakt erfolgt online. Der Endnutzer nimmt den Dienst in Anspruch, indem er
online nach Informationen sucht, und wenn Fragen auftauchen, können diese am besten
in der virtuellen Nutzergemeinschaft beantwortet werden. Auf diese Weise könnte Google
auch seine Dienste im Versicherungsmarkt bereitstellen: ohne Versicherungsmakler, dafür
aber mit bestehenden Systemen und alles online von einem Layout mit Wiedererken-
nungswert.
Für Unternehmen und die Werbebranche erfolgt der Kontakt mit Verkaufsberatern, die
einen optimalen Produktmix für die optimale Nutzung der verschiedenen Dienste emp-
fehlen. Der Kontakt erfolgt sowohl direkt vor Ort als auch standortfern und online. Da
Google die Onlinemethode bevorzugt, ist die Bereitstellung von Diensten vergleichs-
weise sehr viel weniger kapitalintensiv als das Businessmodell der gegenwärtigen Ver-
sicherer oder Banken. Gleichzeitig kann das Unternehmen bestehende Systeme wie
Google Maps optimal nutzen. Auf diese Weise ergeben sich für Google als Anbieter von
Informationsdiensten und als Versicherer gute Möglichkeiten. Google existiert bereits
und hat deshalb den großen Vorteil, dass es mit seinen aktuellen Distributionskanälen
und -systemen die Bereitstellung von Ersatzdiensten und neuen Diensten auf dem Ver-
sicherungsmarkt relativ einfach bewerkstelligen kann. Die Ortung gestohlener Autos
scheint dann auf einmal nicht mehr so schwierig zu sein. Sogar die Möglichkeit, den
Hergang des Autounfalls bei Bedarf genau zu rekonstruieren oder den Schuldigen zu
bestimmen, ist unter technischen Gesichtspunkten betrachtet nicht kompliziert. In die-
sem Zusammenhang stellt sich vielmehr die Frage, wie es um die Privatsphäre bestellt ist
(Abb. 9.10 und 9.11).

Betrieb: Technologie ist die Grundlage für den Betrieb von Google
Die Technologie, mit der Google seine Produkte bereitstellt, bietet einen einfachen
Zugang zum Endnutzer und Möglichkeiten für die Ausweitung seiner Dienste. Durch
die verschiedenen Dienste, mit denen Google mit dem Endnutzer in Kontakt steht (die
Suchmaschine, Google Maps, Gmail usw.), wird eine große Menge an Daten generiert,
mit denen, auf der Basis von Big Data, Analysen der Internetnutzer erstellt werden kön-
nen. Auf diese Weise ist Google in der Lage, ein optimales Profil der Internetnutzer zu
erstellen, das wiederum für den Verkauf von Diensten an die Werbebranche und Distri-
butionspartner und in den bereitgestellten Suchergebnissen für den Endnutzer verwen-
det wird. Die wichtigsten Partner von Google sind Unternehmen, Distributionspartner,
Mobilfunkanbieter und Softwareentwickler. Dank seiner vielseitigen Businessplattform
ist Google in der Lage, ergiebige Partnerschaften mit ihnen einzugehen und eine Viel-
zahl an Services zu bieten. Wenn Google Wissen fehlt, begibt es sich auf die Suche nach
Kooperationen oder Akquisitionen, um sein Wissen zu erweitern und noch mehr über
den Endnutzer zu erfahren. Zu den neuesten Akquisitionen und Kooperationen, die den

22http://www.wikinvest.com/stock/Google_(GOOG)/Provide_Value_Users.
342 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Unbegrenzter Zugang zu Informationen* • Einzigartig dank Besitz und Nutzung
• Vergleich, Informationsdienste* von Informationen (Suchtechnologie)*

+ Wettbewerber
Prozess Wie bekomme ich es? • Die größte Onlinesuchmaschine mit
• Per Internet* wenig Konkurrenz*
• Vergleich: Schnelle Übersicht** • Vergleich: Es gibt konkurrierende
• Informationsdienste: Integration von Vergleichsportale; Google scheint sich
Google Maps mit bestehenden unzureichend zu unterscheiden**
Systemen** • Informationsdienste: Als
+ Dienstleister für Versicherer hat
Google wenig Konkurrenz, denn kein
Gefühl Was fühle ich dabei? einziges System ist in der Lage,
• Ich finde, was ich suche* derartige Kundenprofile zu erstellen**
• Vergleich: Ich bin zufrieden, denn ich finde • Google als Versicherer: Alle
das beste Angebot** bestehenden Versicherer**
• Informationsdienste: Ich kann meinen
Kunden am besten bedienen** Zielgruppe
• Internetnutzer*
• Versicherte und Versicherer**

Preis Was kostet es? Kundeneinblicke


• Kostenlos*
• Der Versicherer will eine
• Vergleich: Kostenlos** optimale Kundenprofilbildung
• Informationsdienste: Bezahlung über Google • Der Versicherte der Zukunft
for Work** vertraut dem finanziellen
+ Dienstleister nicht und sucht
ein neues flexibles
Aufwand Was muss ich dafür tun? System, das seinen
• Google.de finanziellen
aufrufen und einen Kunst der Positionierung
Bedürfnissen
Suchbegriff entspricht
eingeben* Wertangebot für
• Vergleich: Schnelle und Kunden Marktsegmente
K einfache Einblicke** Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

• Informationsdienste: Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke
Einfache Integration**

+
Risiko Wie unsicher
ist es? Betrieb Kanäle
• Allgemein und Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Versicherungsmarkt: Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste
Angst, Google erhält
damit weitere
Einblicke in die Kunst der Vernetzung *Allgemein
Privatspähre der Nutzer **Versicherungsmarkt

Abb. 9.10  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Google


9  Teilung alltäglicher Risiken 343

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,
Kundeneinblicke

Betriebsstärke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion Marketing
• Clevere Gestalter sind die einzigartige • Kaum hör- bzw. sichtbar in
Stärke des Businessmodells von Google herkömmlichen Werbesendungen
• Google ist zugänglich in > 50 Ländern • Die Marke Google wird durch
und in > 100 Sprachen Veröffentlichungen, den großen
Marktanteil und die regelmäßige
Technologie Nutzung als Standardsuchmaschine
• Ausgehend von der aktuellen Technologie gestärkt
(Suchmaschine, Google Maps) innoviert • Einheitliches Layout sorgt für hohen
Google an den Rändern des eigenen Wiedererkennungswert
Businessmodells für die Integration mit
Systemen von Versicherern Verkauf
• Die Technologie ermöglicht die Erstellung • Verkaufsberater empfehlen einen
von Big-Data-Analysen von allen optimalen Produktmix: bestehende
Internetnutzern Systeme für neue Kunden und neue
Dienste für bestehende Kunden
Lieferanten & Partner
• Die wichtigsten Partner von Google sind Kundenkontakt & Zusatzdienste
Unternehmen, Distributionspartner, • Auch wenn der Kundenkontakt direkt
Mobilfunkanbieter und Softwareentwickler vor Ort, standortfern und online erfolgt,
• Wichtige Partnerschaft durch vielseitige bevorzugt Google die Onlinemethode
Businessplattform mit einer bunten Palette
an Dienstleistungen und Produkten
• Wenn Google Wissen fehlt, nutzt es eine
Akquisitionsstrategie, um sein Wissen zu
erweitern

Abb. 9.11  Betrieb und Kanäle von Google


344 J. Kemperman et al.

Eintritt in den Versicherungsmarkt vereinfachen, gehören Beat That Quote (durch die
britische Finanzdienstleistungsaufsicht autorisiertes Autovergleichsportal) und Nest Labs
(Thermometer- und Rauchmelderhersteller).23
Seit seiner Gründung zeichnet Google eine starke Unternehmenskultur aus. Trotz sei-
nes enormen Wachstums hat das Unternehmen versucht, die Start-up-Kultur, die 1998 in
der Garage entstand, zu bewahren. Das zeigt sich an den zehn Kernprinzipien und den
sieben Geheimnissen, die die Kultur von Google kennzeichnen. Wenn man ein Google-
Büro betritt, sieht man es sofort: Auch ohne Anzug kann man seriös und professionell
sein. Ausgehend vom Konzept, dass Arbeit Spaß machen und herausfordernd sein muss,
wohnt dem Gebäude eine informelle Atmosphäre inne. Es werden gemeinsame und indi-
viduelle Ergebnisse angestrebt, wenn sie zum Erfolg des gesamten Unternehmens beitra-
gen.24 Mit seiner unkonventionellen und verspielten Sicht auf die Dinge eröffnen sich für
Google immer wieder neue Möglichkeiten, um sein Imperium auszubauen.

Die sieben Geheimnisse der Unternehmenskultur von Google (vgl. Kim 2013)
• Ein umfassendes Anwerbungsverfahren, um die besten und schlauesten Mitar-
beiter zu rekrutieren,
• Personalmanagement ist eine Wissenschaft,
• lockere und demokratische Atmosphäre,
• klare Mission und Werte; warum man macht, was man macht,
• Transparenz und eine Politik der offenen Tür,
• Wertschätzung von Mitarbeitern für große und kleine Beiträge,
• soziales Engagement.

Die Mitarbeiter von Google werden auch als clevere Gestalter bezeichnet.25 Für die
Weiterentwicklung seiner Dienste setzt Google in seiner Personalpolitik voll auf quali-
tativ hochwertige Mitarbeiter. Die Abhängigkeit von Google von gutem Personal zeigt
sich im Personalmanagement, das das Arbeiten mit eigenverantwortlichen Teams, das
Reservieren von Zeit (früher 20 %) für Innovation und das Verinnerlichen der Google-
Unternehmenskultur vorsieht. So wird jeder Mitarbeiter optimal angespornt, Kreativität
und Innovation zum Unternehmen beizutragen. Im Googleplex, dem Hauptsitz in Kali-
fornien, werden Mitarbeiter in jeder Hinsicht angespornt, ihre Kreativität für Google
einzusetzen, wobei sie von den bestmöglichen technologischen Hilfsmitteln unterstützt
werden. Google hat insgesamt 85 Büros in über 40 Ländern und ist in über 50 Ländern

23http://techcrunch.com/2014/06/21/will-google-enter-the-insurance-industry/.

24https://www.google.com/about/company/philosophy/.

25http://www.slideshare.net/ericschmidt/how-google-works-final-1?ref=http://blog.slideshare.

net/2014/10/17/weekend-reading-googles-eric-schmidt-on-how-to-reach-business-nirvana/.
9  Teilung alltäglicher Risiken 345

in über 100 Sprachen zugänglich. Mit so vielen kreativen und superintelligenten Mitar-


beitern, die auch noch die Freiheit haben, Dinge selbst in die Hand zu nehmen und zu
experimentieren, ist Google keine siebenköpfige Hydra, sondern ein Tier mit viel mehr
Köpfen. Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass Google selbst noch nicht weiß,
wie es bestehende Märkte verändern wird, aber dass es gleichzeitig sicher ist, dass es
sie verändern wird. Das Problem mit Innovation bleibt die Tatsache, dass man nicht um
die Ecke sehen kann und dass man folglich nicht weiß, hinter welcher Ecke sich der
Erfolg befindet. Google entscheidet sich dafür, einfach um etwas mehr Ecken zu sehen
und selbst zu entdecken, was wie funktioniert. Wenn etwas nicht erfolgreich ist, hat das
Unternehmen in jedem Fall eine Lektion gelernt, was möglicherweise wieder zu etwas
Gutem führt, das so nicht vorhersehbar war. Das ist eine grundlegend andere Herange-
hensweise als beispielsweise der Ansatz von Apple, seine Innovationen innerhalb einer
sehr straff strukturierten inhaltlichen und zeitlichen Planung in den Markt zu bringen…

9.3.3 Das Ergebnis: Wachstum, Wachstum, Wachstum

Welches Wertangebot schafft Google? Google ermöglicht es einem, alle verfügbaren


Informationen online zu finden. Die Tatsache, dass Google damit von unschätzbarem
Wert für den Nutzer ist, zeigt das Ausmaß, in dem das geschieht: Google verarbeitet
zwei Millionen Suchanfragen pro Sekunde, bei denen 30 Mrd. verschiedene Websites
genutzt werden (vgl. Onfro et al. 2014). Die Endnutzer haben bei den Suchergebnissen
von Google immer ein Gefühl von Objektivität und hoher Relevanz. Dieses Image kann
Google immer schwieriger aufrechterhalten, weil immer mehr Berichte ans Tageslicht
kommen, aus denen hervorgeht, dass genau das nicht der Fall ist. Das kann das Busi-
nessmodell der „objektiven und relevanten Standardsuchmaschine“ in Gefahr bringen.
Gleichzeitig sind Nutzer sich immer mehr über den Wert von Suchanfragen für Google
bewusst, weil die Nutzung dieser Daten die Quelle für den Erfolg ist. Google verdient
Geld mit dem Anbieten von Suchtechnologie (Daten) und dem Verkaufen von Werbe-
flächen. Google erzielt 50 Mrd. US$ (47 Mrd. EUR) Umsatz aus Werbung durch sei-
nen Marktanteil von über 30 % des weltweiten digitalen Werbemarkts.26 Mit einem
jährlichen Umsatzwachstum von ca. 20 % ist Google ein sehr interessantes Unterneh-
men für Aktionäre. Der Wert für Aktionäre wird am besten durch die Entwicklung des
Börsenwerts von Google seit dem Börsengang im Jahr 2004 veranschaulicht. In zehn
Jahren ist der Börsenwert von 23 Mrd. US$ (ca. 21,6 Mrd. EUR) auf 397 Mrd. US$
(373 Mrd. EUR) gestiegen.
Die Tatsache, dass Google jährlich eine Million Lebensläufe erhält, beweist, dass
es ein sehr gefragter und begehrter Arbeitgeber ist (vgl. Kim 2013). Das Unternehmen

26http://www.wikinvest.com/stock/Google_(GOOG)/Provide_Value_Users.
346 J. Kemperman et al.

stand während seines kurzen Bestehens bereits fünf Mal auf Platz eins der vom Wirt-
schaftsmagazin Fortune veröffentlichen Liste der 100 Best Companies to Work For.27
Google sorgt gut für seine Mitarbeiter und ist sich im Klaren darüber, dass sie der wich-
tigste Erfolgsfaktor für das Unternehmen sind. Bei Google arbeiten clevere Gestalter,
also Menschen, die intelligent und zugleich kreativ sind. Im Rahmen des Einstellungs-
verfahrens werden Mitarbeiter nach ihren technischen Kenntnissen und Intelligenz in
Kombination mit der Fähigkeit, schnell und kreativ zu denken, ausgesucht. Brin und
Page sind selbst auch clevere Gestalter und die Gründer der Unternehmenskultur von
Google. Kernprinzipien wie „Man kann seriös sein, ohne einen Anzug zu tragen“ und
„Sehr gut ist nun einmal nicht gut genug“ beschreiben die besonderen Aspekte der Kul-
tur von Google. In den Büros herrscht eine ungezwungene, transparente und demokra-
tische Atmosphäre. Angelegenheiten werden offen bei wöchentlichen Meetings erörtert.
Es werden kontinuierlich die besten Ergebnisse angestrebt und die Leistungen von Mit-
arbeitern belohnt. Darüber hinaus bietet Google weitere Vorteile, die das Arbeiten im
Unternehmen angenehm machen, darunter Bowlingbahnen im Büro, Volleyball- und
Basketballfelder, Massagen- und Friseursalons und für jeden Mitarbeiter einen gesun-
den (und ungesunden) Snack in Reichweite. Die Personalpolitik, auch People Operations
genannt, ist ein elementarer Bestandteil des Erfolgs von Google (vgl. Kim 2013). Und
auch hier setzt Google seine einzigartige Stärke ein: Mit dem Sammeln von Informatio-
nen über die Mitarbeiter und ihr Verhalten versucht das Unternehmen, seine Personalpo-
litik weitestgehend zu optimieren.
Google hat das Internet und damit auch die Welt für immer verändert. Die Suchma-
schine und die Zusatzdienste von Google haben Transparenz, Schnelligkeit und Demo-
kratie ins Internet gebracht. Durch Google haben Menschen auf der ganzen Welt Zugang
zu allen verfügbaren Informationen im Internet. Die Nutzer von Google (und damit die
Gesellschaft) sorgen ihrerseits wiederum dafür, dass die Dienste so ein großer Erfolg
sind und immer häufiger genutzt werden. Denn das Unternehmen verdient buchstäblich
Geld durch die Zahl der Klicks; und bestimmte Dienste funktionieren nun einmal besser,
wenn mehrere Menschen im Netz davon Gebrauch machen, zum Beispiel Google Docs.
So wie bei vielen brillanten Businessmodellen ist der Erfolg auch wiederum die Quelle
für neue Probleme beim Fortbestehen.
Immer häufiger wird die Frage gestellt, ob Google nicht zu viel über uns weiß und zu
viel Macht bekommt. Was kann beispielsweise passieren, wenn Google einem Unterneh-
men oder einem Menschen Hindernisse in den Weg legen will und es oder ihn in einem
schlechten Licht erscheinen lässt oder sogar völlig im Dunkeln lässt?
Der Einfluss von Google auf die Privatsphäre und seine Marktdominanz sind immer
häufiger Gesprächsthema. Es wird Kritik an Google laut, dass es Suchergebnisse miss-
braucht, zensiert und manipuliert, dass es geistiges Eigentum Dritter verwendet und dass

27http://fortune.com/best-companies/.
9  Teilung alltäglicher Risiken 347

es die Privatsphäre der Internetnutzer missachtet.28 Das führte beispielsweise einmal in


der EU zu dem Vorschlag, Google in Europa in zwei Unternehmen aufzuteilen. Trotz
dieser Verdächtigungen kann sich das Unternehmen bislang der Sympathie der meisten
Nutzer immer noch sicher sein. Gerade weil das Produkt für den Nutzer gut, kostenlos
und unverzichtbar ist. Gleichzeitig ist klar, dass Google einen Weg finden muss, um län-
gerfristig die Gunst der Nutzer zu behalten.
Der Wert von Google liegt in erster Linie in der Veranschaulichung, Bereitstellung
und Demokratisierung von Wissen und der Verbreitung der Internetnutzung und des
Internetzugangs auf der ganzen Welt. Mittlerweile hat sich Google auch eine gesell-
schaftlich verantwortliche Unternehmensführung auf die Fahne geschrieben, zum Bei-
spiel im Rahmen der Initiative Google Green, mit der umweltfreundlichere (Internet-)
Technologien entwickelt werden29 oder der Initiative Googlefests30, bei der Wissen über
bestimmte Themen wie etwa Bildung von Google-Experten an gemeinnützige Organi-
sationen weitergegeben wird.31 Darüber hinaus verfügt Google auch über eine Unter-
nehmenseinheit namens Google Ventures, mit der Start-up-Unternehmen finanziell
unterstützt werden.32 Unter dem Namen Google.org setzt Google seine Innovationsstärke
und sein Wissen ein, um eine Reihe der größten weltweiten Herausforderungen anzuge-
hen, zum Beispiel den Kampf gegen Ebola und Empowerment von Frauen und Mädchen
(Abb. 9.12).33

9.3.4 Die brillanten Lektionen von Google

Was können wir von diesem gigantischen Datenriesen lernen?

• Fokus schaffen auf der Grundlage des eigenen Leitbilds und der eigenen Kernqualitä-
ten: Indem man echte Freiheit einräumt, um von dieser Grundlage aus zu agieren und
von unmöglichen Durchbrüchen zu träumen, kann man an den Rändern des eigenen
Businessmodells neue Märkte aufspüren oder bestehende Märkte völlig auf den Kopf
stellen. Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten auf dieser Basis zu suchen, heißt,
seinen Fokus zu erweitern, über den Tellerrand zu blicken und den Möglichkeiten
nachzugehen, die sich ergeben. Mit seinen Stärken, seiner Kultur und seinen Mitarbei-
tern bewegt sich Google als innovatives Unternehmen in Sphären der vollkommenen
Unsicherheit auf sicherem Terrain. Es gibt nichts Wesentliches zu verlieren. Man muss

28http://en.wikipedia.org/wiki/Criticism_of_Google.

29http://www.google.com/green/.

30https://sites.google.com/site/googfest/.

31http://googlefest.teameureka.net/.

32https://www.gv.com/.

33http://google.org/.
348 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden


• Angesichts des riesigen Marktanteils und der regelmäßigen Nutzung lässt sich mit Fug
und Recht behaupten, dass die Treue von Google-Kunden hoch ist
• Net Promoter Score: 53 %
• Kundenbestand: Fast 1 Milliarde Nutzer
• Kundenranking: 83 (ACSI-Index 2014)

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter


• Die 10 Kernprinzipien sind die
Wert für und durch Anteilseigner
Grundlage für alle Mitarbeiter und
die einzigartige Google-Kultur • In 10 Jahren ist der Börsenwert von
• Clevere Gestalter auswählen und 23 Milliarden USD(21,6 Milliarden EUR)
einstellen und eine Umgebung auf 397 Milliarden USD (373 Milliarden
schaffen, in der sie optimal EUR) gestiegen
arbeiten und sich entfalten können • Google verdient Geld mit dem Anbieten
• Datenanalysen für die Optimierung von Suchtechnologie (Daten) und dem
der Personalpolitik Verkaufen von Werbeflächen
• Platz 1 im „Great Place to • Basis: 19,4 USD (18,2 EUR),
Work“-Ranking seit mehreren Aktienzahl: 677.692.000, verwässert:
Jahren und in mehreren 19,1 USD (17,9 EUR), Aktienzahl:
Ländern 677.618.000
• 40.000 Mitarbeiter und jährlich • Gewinn 2014: 14,4 Milliarden USD
(13,5 Milliarden EUR)
> 1 Million Bewerber

Wert für und durch die Gesellschaft


• „Googeln“ ist zu einem Tätigkeitswort geworden, das mittlerweile in den Duden
aufgenommen wurde und die Gesellschaft für immer verändert hat
• Randnotiz: Privatsphäre
• Google beteiligt sich an zahlreichen gesellschaftlichen Initiativen wie z. B. Google Green
• 2 Millionen Suchanfragen pro Sekunde
• Google fördert soziale Auswirkungen und Verbesserungen über Impact & Challenge
Awards

Abb. 9.12  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Google


9  Teilung alltäglicher Risiken 349

sich stets seiner Unternehmenskultur und dem Wert seiner Mitarbeiter bewusst sein.
Außerdem gilt es, klare Werte zu schaffen, daran festzuhalten und sich ­Mitarbeiter aus-
zusuchen, die dazu passen. Google hat als kleines Zwei-Mann-Unternehmen in einer
Garage begonnen und schafft es, diese Kultur immer noch zu bewahren und erfolg­
reich einzusetzen. Innerhalb dieser Kultur sind die kreativen Gestalter die treibende
Kraft.
• Innovation ist harte Arbeit, in die man viel Zeit investieren muss: Kreativ und innova-
tiv sein lautet das Motto. Dabei sind Fehler erlaubt, jedoch gilt es dabei zu beachten,
dass man unbedingt ausgehend von seinem höheren und gewagten Ziel agiert. Um
Produkte weiterzuentwickeln, sollte experimentiert und das eigene Netzwerk genutzt
werden. Außerdem ist es hilfreich, eine Betaversion auf den Markt zu bringen und
seine Kunden um Feedback bzw. Input zu bitten. Es ist übrigens nicht erforderlich,
alles selbst zu erfinden. Innovation kann man auch einkaufen. Google kaufte im ver-
gangenen Jahr 24 Unternehmen in verschiedenen Branchen.
• Für Skalierbarkeit des Produkts sorgen und Netzwerkeffekte nutzen. Google konnte
dank der Entwicklung des Internets enorm wachsen. Je größer das Internet wird, desto
wichtiger ist eine gute Suchmaschine. Das ist ein sich selbst verstärkender Netzwerk-
effekt.

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­stippellijntjes. AVCB, Naarden
Teilung besonderer Risiken
10
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

Die Ursprünge der ersten Versicherungskonstruktionen und -verträge liegen viel weiter
zurück als die der Genossenschaften, die von Privatpersonen im 19. und 20. Jahrhun-
dert gegründet wurden. So wie Banking ist das Versichern seit jeher vor allem mit dem
Handel verbunden, bei dem große Warenposten eingekauft werden, die über große Ent-
fernungen – zum Beispiel mit Karawanen oder per Schiff – transportiert werden müs-
sen. Es geht um große Wirtschaftstransaktionen, doch gleichzeitig besteht auch das große
Risiko, dass das Schiff oder die Karawane in einen Sturm gerät bzw. überfallen wird. Das
sind nicht die kleinen alltäglichen Risiken, die wir alle kennen, sondern die großen Risi-
ken, an denen auch reiche Händler und Unternehmen zugrunde gehen können. Es ist also
logisch, dass nach Möglichkeiten gesucht wird, diese Risiken zu minimieren und sie zu
teilen. Die ersten Beispiele für Konstruktionen, mit denen seinerzeit Risiken beherrsch-
bar gemacht werden sollten, finden sich im Karawanenhandel in Babylonien wieder.
Dabei wird dem Händler Geld geliehen. Dieser muss das Geld mit Zinsen sowohl für die
Ausleihdauer als auch für das Risiko bei seiner sicheren Rückkehr zurückzahlen. Dieser
Brauch wird 2100 v. Chr. im Codex Hammurapi gesetzlich festgelegt (vgl. Bakas und

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 351


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_10
352 J. Kemperman et al.

Peverelli 2009). Später ist er mehr als 1000 Jahre v. Chr. beim Überseehandel mit den
Phöniziern gang und gäbe. Danach folgt das Phänomen der beherrschenden Handelsnati-
onen – von den Griechen und Römern über die italienischen, flämischen und niederländi-
schen Handelsstädte bis hin zu England und den USA. Neben dem Handel geht es später
auch um viele weitere große Risiken wie beispielsweise Großbrände in Fabrikanlagen,
Flugzeugabstürze, Zugunglücke, Havarien von Öltankern, Naturkatastrophen, etc.
Im Laufe der Jahrhunderte hat sich zwar vieles verändert, aber die nachfolgenden
Fundamente bei diesen besonderen Risiken sind im Wesentlichen die gleichen geblieben:

• Jedes Risiko kann prinzipiell versichert werden. Jede Unsicherheit kann analysiert
werden. Mithilfe einer Berechnung kann der Unsicherheit eine Wahrscheinlichkeit
zugeordnet werden. Diese wird mit dem versicherten Betrag, der verloren gehen kann,
multipliziert. Wenn dann eine Gewinnmarge und eine Risikomarge hinzuaddiert wird,
kann das Risiko dafür versichert werden.
• Mehr Risiko erfordert eine Gruppe mit mehr Kapital. Ist der versicherte Betrag sehr
hoch, sind mehr finanzielle Mittel und demnach meistens auch mehr Parteien not-
wendig, um den Betrag zu versichern. Idealerweise müssen diese Parteien auch noch
in der Lage sein, ihren Teil zu schultern, ohne dabei selbst zugrunde zu gehen, denn
anderenfalls ist es kein Versichern mehr, sondern Spekulieren. Wenn man eine Million
abdecken will, muss man folglich Parteien finden, die das können. Mit 100 Mio. oder
einer Milliarde wird das schon etwas schwieriger, dennoch ist weiterhin die Rede von
Versichern. Leider gibt es Obergrenzen, denn der beispielsweise von einem Atom-
krieg verursachte Schaden ist nicht zu tragen. Bis dahin heißt es aber immer weitersu-
chen nach der Gruppe, die das Risiko absorbieren kann.
• Wettbewerb findet mit hervorragendem Wissen statt. Am Ende der Suche geht es
darum, dass man sich ein genaues Bild vom Risiko macht: Wie groß ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass etwas eintritt, und wie hoch kann der maximale Schaden sein?
Dann weiß man, welche Prämie erforderlich ist. Wenn der Betrag zu kassieren ist
und es genügend Versicherungsverträge gibt, gilt anschließend das Gesetz der gro-
ßen Zahlen. Wenn man nicht auf dem Laufenden bleibt und nicht so gut informiert
ist wie ein Wettbewerber, der auch eine Prämie bieten muss, oder wie eine Partei, die
ihr Risiko versichern will, legt man eine ungenaue Prämie mit schlechteren Risiken
fest und läuft Gefahr, dass die Konkurrenz den Zuschlag für den Vertragsabschluss
erhält. Wenn die Prämienfestlegung erfolgreich ist, gelten anschließend die Regeln
der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wenn man nur oft genug die Würfel rollen lässt,
wird das durchschnittliche Ganze vorhersehbar und die Marge auch.
• Handel kann nur auf der Basis von Vertrauen stattfinden. Angesichts der großen
Beträge, um die es geht, und der hohen Abhängigkeit von Informationen über die am
Geschäft beteiligten Parteien ist gegenseitiges Vertrauen für die Risikominimierung
essenziell. Das bedeutet, dass es nur sehr logisch ist, in puncto Informationen immer
10  Teilung besonderer Risiken 353

einen Schritt voraus sein zu wollen, um das Spiel spielen zu können, dass aber der
Ruf sowie persönliche und soziale Netzwerke nichts von ihrer Bedeutung einbüßen,
wenn man als Handelspartner akzeptiert werden will.

Während diese Spielregeln im Laufe der Zeit unverändert geblieben sind, hat sich das
Spielfeld natürlich komplett verändert. Durch die Beschaffenheit der Wirtschaft und
Technologie gibt es derzeit völlig andere Risiken. Überdies sind Informationen jetzt
schneller verfügbar. Rothschild wurde nicht reich geboren, aber er wurde reich unter
anderem durch schnelle Informationen. Er verdiente beispielsweise eine Million Ster-
ling, weil er Augenzeuge von der Niederlage Napoleons bei Waterloo war und nach einer
schnellen Überfahrt 24 h an der Börse handeln konnte, ohne dass andere das wussten
(vgl. Morton 1962). Die Welt ist heute etwas kleiner, und das wirkt sich aus auf die Ver-
breitung von Informationen und die Gruppen, die gebildet werden können, aber auch
auf die Risiken, die ungeahnte Ausmaße erreichen können. Unternehmen wie Lloyd’s of
London, AIG und Credit Suisse zeichnen sich aus im Versichern von besonderen Risi-
ken. Sie werden in erster Linie vom Aktionär angetrieben, erweisen sich aber als brillant,
wenn man ihre Auswirkungen auf ihr Umfeld betrachtet.

Vergangenheit: Businessmodelle wie Lloyd’s of London


Lloyd’s ist direkt aus dem internationalen Handel hervorgegangen, und aus englischer
Perspektive ist das per definitionem Überseehandel. Die ersten Versicherungsverträge
wurden im 16. Jahrhundert in London von Händlern aus der Lombardei geschlossen.
Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass das Kaffeehaus Lloyd’s an der Lombard
Street beginnt. Lloyd’s ist immer der berühmteste Wegbereiter für das Versichern gro-
ßer und besonderer Risiken durch die Verteilung selbiger auf große Gruppen gewesen.
Dieses Beispiel eines Versicherungsmarkts, auf dem Menschen auch physisch zusam-
menkommen, um Handel zu betreiben, fand viele Nachahmer. In vielen Ländern wur-
den Versicherungsbörsen nach dem Vorbild von Lloyd’s gegründet. Dabei handelt es sich
auch um die physischen und heute häufig virtuellen Marktplätze, auf denen Broker und
Börsenmakler wie beispielsweise AON, Marsh, JLT Group, Willis, BGL Group und AA
Insurance Services tätig sind.

Gegenwart: Businessmodelle wie AIG


Neben dem Broker- und Börsenmaklerkosmos gibt es die großen (Rück-)Versicherungs-
gesellschaften, die auf eigene Rechnung versichern. Auch hier setzt man bei großen
Risiken auf die Zusammenarbeit mit anderen (Rück-)Versicherern, um die Risiken zu
teilen. AIG ist dafür ein Beispiel mit einer sensationellen Erfolgsbilanz, die vor allem
auf hervorragendem, big-data-artigem Know-how und Networking basiert. AIG ist nicht
der einzige Versicherer von großen, besonderen Risiken auf dieser Welt. ACE, Chubb
und Allianz sind Versicherungsunternehmen, die ebenfalls für die Versicherung beson-
354 J. Kemperman et al.

derer Risiken bekannt sind. Darüber hinaus gibt es große Rückversicherer, die sich auf
die Übernahme großer Risiken auch auf der Ebene vollständiger Versicherungssortfo-
lios spezialisiert haben. Dazu zählen beispielsweise Schweizer Rück, Münchener Rück,
SCOR, Berkshire, Hannover Rück, China Reinsurance Company und Korean Reinsu-
rance Company.

Zukunft: Businessmodelle wie die Cat-Bonds von Credit Suisse


Risiken wie Anschläge und große Schiffs- und Umweltkatastrophen sind schwierig zu
versichern. Das Gleiche gilt für Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Wir-
belstürme mit schwerwiegenden Folgen wie beispielsweise beim Unglück im japa-
nischen Atomkraftwerk Fukushima. Mit dem Größerwerden der Risiken ist auch die
Suche nach finanzkräftigen Parteien, die diese Risiken absorbieren können, aufwendiger
geworden. Gleichzeitig gibt es in der völlig anderen Welt des Investierens viele vermö-
gende Institute, die als Anleger nach Möglichkeiten suchen, zusätzlich zu den sichersten
Staatsschuldtiteln noch mehr Rendite zu erzielen. Das dürfen dann keine Investitionen
sein, die mit den Risiken an der Börse korrelieren. Diese beiden Titanwelten haben
kürzlich zueinander gefunden und dabei ein neues Konzept entwickelt, mit dem sie ihre
Probleme gemeinsam lösen: Cat(astrophe)-Bonds. Credit Suisse ist groß geworden im
weiten Vorausdenken sowie im kontinuierlichen Lernen von und mit seinen Mitarbei-
tern und Kunden. Das Unternehmen hat sich selbst auch wieder bewiesen, weil es das
erste Unternehmen war, das diese sogenannten Cat-Bonds in sein Portfolio aufgenom-
men hatte. Dabei handelt es sich um Programme, mit denen ein Investmentfonds von
beispielsweise 100 Mio. EUR gebildet wird, wobei das Kapital sicher angelegt wird.
Gleichzeitig ist dieser Geldtopf mit dem angelegten Gesamtvermögen die Bürgschaft
für eine bestimmte Katastrophe, zum Beispiel mit 1 % des versicherten Betrags, sodass
auch 1 % zusätzliche Rendite abgeworfen wird. Das sorgt zwar auch für mehr Risiko,
dann aber für die Art von Risiko, die nichts mit dem Ertrag aus anderen Kapitalanlagen
und beispielsweise den Börsenkursen zu tun hat. In diesem Kapitel wird das Cat-Bond-
Programm als Beispiel des brillanten Businessmodells von Credit Suisse beschrieben.
Andere darauf spezialisierte Anbieter sind Leadenhall Capital Partners LLP, Juniperus
Capital, AXA Investment Managers und Clariden Leu. Darüber hinaus gibt es natür-
lich noch die üblichen Verdächtigen für besonders große Risiken wie USAA, Schwei-
zer Rück, Münchener Rück, Liberty Mutual, Hannover Rück, Allianz und Tokio Marine
Nichido. Eine interessante Randnotiz ist die Tatsache, dass es vor genau 3000 Jahren in
Babylon wohl gängige Praxis war, eine große Summe Geld auszuleihen, die anschlie-
ßend mit Zinsen für die Ausleihdauer und das Risiko zurückgezahlt werden musste,
wenn kein Unglück eintrat.
10  Teilung besonderer Risiken 355

10.1 Lloyd’s of London1

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Bastiaan Schepman und Jeroen Kemper-
man verfasst.

Wir versichern die Gefahren Ihres Unternehmens


Prolog
1690 setzen die Versicherungsträger von Lloyd’s das sogenannte Lloyd’s Marine Insu-
rance Agreement auf. Darin beschreiben sie, wofür sie stehen und welche Risiken sie
versichern:

Betreffend der Abenteuer und Gefahren, für die wir, die Versicherer, bereitwillig die Verant-
wortung übernehmen und deren Risiken wir in dieser Reise tragen, umfasst die Seetrans-
portversicherung den Schutz auf See bei Bedrohung durch Kriegsschiffe, Feuer, Feinde,
Piraten, Vagabunden und Diebe, bei Seewurf, Handelswechsel, unvorhergesehen Ereignis-
sen, Seeeroberungen, bei Verhaftung, Behinderung und Haft von Königen, Fürsten und Leu-
ten unabhängig der Nationalität, Beschaffenheit oder Qualität, bei Barratterie des Kapitäns
und der Seefahrer sowie bei allen anderen Gefahren, Verlusten und Unglücken …2

Das klingt nicht nur abenteuerlich und heldenhaft, sondern sogar romantisch. Aber ist es
das auch? Eigentlich überhaupt nicht. Abenteuer erfordern paradoxerweise keinen roman-
tischen Ansatz, sondern gerade eine entmystifizierende und rationale Herangehensweise.
Die Versicherungsträger von Lloyd’s sind sich dessen vollkommen bewusst. Bei Lloyd’s
dreht sich von Anfang an alles um Informationen und einen faktenbasierten Big-Data-
Ansatz. Die oben genannten Risiken sind die realen Gefahren auf Seereisen in jener Zeit,
und diese kann das Unternehmen durch gute Analysen minimieren und versichern. Das
tatsächliche Herzstück von Lloyd’s wird sichtbar, wenn Dramatik und Romantik in Zahlen
ausgedrückt wird. So gibt es die vom Kriegskomitee erhobenen „Kriegschadensprämien“,
die in Kriegszeiten aufgrund der zugenommenen Risiken erhöhten Versicherungsprämien.
Sehen wir uns beispielsweise in Tab. 10.1 eine Übersicht aus dem Jahr 1782 an. Die Pro-
zentangaben des Werts der versicherten Schiffe bestimmen die Höhe der Prämie.

Tab. 10.1  Höhe der Prämie


Einfache Fahrt (%) Hin- und Rückfahrt (%)
London-Jamaika 12 20
London-New York/Halifax 15 25
London-Cork/Waterford/Dublin  6 n. z.
Irland-Westindische Inseln 10 20
Irland-Portugal 15−20 20−30

1DieseFallstudie ist u. a. durch den Beitrag von „Maverick“ Theo Zurhake zustanden gekommen,
dem unser Dank gilt!
2Zum Beispiel zitiert in Brown (1973).
356 J. Kemperman et al.

Diese Prozentangaben sind das kumulierte Resultat aller historischen Daten, Analy-
sen und Prognosen zu jenem Zeitpunkt hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer unver-
sehrten Fahrt zwischen den wichtigen Häfen. Lloyd’s teilt diese Angaben auch mit der
Marine. Es stellt sich beispielsweise heraus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Entfüh-
rung auf einer einfachen Fahrt zwischen Kuba und London 22 % beträgt, wenn nicht
im Konvoi gefahren wird, und 12 %, wenn im Konvoi gefahren wird. So wird nach
intensiver Beratung beschlossen, ab sofort nur noch bewachte Konvois zu versichern.
Gemeinsam wird darauf geachtet, dass diese Maßnahme auch tatsächlich umgesetzt
wird.3 Hier kommen alle Prinzipien zusammen, mit denen Lloyd’s groß geworden ist:
Besondere Risiken rationalisieren und analysieren, um diese beherrschbar zu machen
und anschließend versichern zu können, aber auch Maßnahmen treffen, um Risiken zu
minimieren.

Einleitung
Schon seit über 300 Jahren versichert Lloyd’s die Welt gegen äußerst große und
komplexe Risiken wie Umweltkatastrophen und Unglücke mit Schiffen, Flugzeugen
sowie in Fabriken und auf Ölplattformen. Häufig bietet und bekommt Lloyd’s das
beste Wertangebot in Kriegszeiten und anderen Perioden, die von großer Unsicherheit
und sozialen Unruhen im Inland geprägt sind (vgl. Brown 1973). Was ist das für ein
Unternehmen, das die Unwägbarkeiten der Welt schultern kann und gleichzeitig sein
Heil in Unsicherheit Chaos findet?
Lloyd’s ist eine Institution. Nicht nur weil es die Wiege der Versicherung ist,
sondern auch weil es eigentlich kein Versicherer ist, sondern vielmehr ein Versiche-
rungsmarkt. Und auf diesem Markt kann man so ziemlich jedes Risiko anbieten. Das
geschieht über die Broker von Lloyd’s. Diese machen sich auf die Suche nach Versi-
cherungsträgern, die bereit sind, im Auftrag des Syndikats der von ihnen vertretenen,
so genannten Names of Lloyd’s (heute meistens Unternehmen) das Risiko zu tragen.
Die Versicherungsträger unterbreiten dabei einen Vorschlag, für welchen Prämienbe-
trag sie ein Risiko versichern wollen und zu welchem Teil sie das wollen: Ein Schiff
im Wert von zehn Millionen wird beispielsweise für jährlich 2 % dieses Betrags
(200.00) versichert, und davon übernimmt der jeweilige Versicherungsträger 20 %
(40.000). Er deckt also maximal zwei Millionen Risiko für 40.000 mit den betreffen-
den Names of Lloyd’s. Anschließend sucht der Broker andere Versicherungsträger, die
neben diesem Hauptträger auch einen Teil übernehmen und ihren Namen buchstäblich
unter seinen Namen setzen wollen. So wird ein großes Risiko reduziert und auf meh-
rere Risikoträger aufgeteilt, die das nötige Kapital haben, um gemeinsam diese Mam-
mutaufgabe zu stemmen.4

3Siehe Beilagen in Frederiks (1876) für ausführliche, versicherungsmathematische Tabellen über


diese ‚Sterberaten‘ von Schiffen zwischen Reisezielen. Frederiks hat diese seinerseits aus „Histori-
cal and chronological deduction of the origin of commerce“ von Anderson übernommen.
4Siehe Lloyd’s (2014a) für eine Beschreibung der früheren und heutigen Arbeitsweise.
10  Teilung besonderer Risiken 357

10.1.1 Das Fundament: Lloyd’s wagt sich an jedes Risiko heran

Lloyd’s wird 1687 gegründet, als Edward Lloyd ein Kaffeehaus in der Towers Street eröff-
net. Er hat überhaupt keine Erfahrung mit Versicherungen oder Finanzen. Genau wie heute
ist es damals für Selbstständige schick und praktisch zugleich, ein Büro zu unterhalten und
sich in einem Kaffeehaus zu verabreden. Lloyd sieht die Chance, mit einem Kaffeehaus
speziell für Menschen und Nachrichten aus der Schifffahrt ein Netzwerk von Kunden an
sich zu binden. Ihm schwebt ein Kaffeehaus vor, in dem Kapitäne, Reeder, Händler und
Geldgeber zusammenkommen, um Informationen auszutauschen und Vereinbarungen zu
treffen. Außerdem wissen Kapitäne häufig, welche Routen gefährlich sind und wer wel-
ches Risiko in Kauf nimmt. Lloyd sammelt und teilt diese Informationen aktiv und kommt
somit in eine Vermittlerposition. Zum ersten Mal zieht Lloyd’s die Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit mit einer Anzeige in der London Gazette am 21. Februar 1688 auf sich, in
der eine Belohnung für Informationen über einen Diebstahl von fünf Uhren versprochen
wird. Die Informationen können an Mr. Lloyd in seinem Kaffeehaus gegeben werden. Bis
auf den heutigen Tag sind relevante Informationen das Herzstück von Lloyd’s, auch wenn
das Kaffeehaus nun deutlich repräsentativeren Örtlichkeiten gewichen ist. Traditionell
wird bei großen Neuigkeiten, zum Beispiel einer Katastrophe oder dem Auffinden eines
vermissten Schiffs, die Glocke geläutet. Diese Glocke stammt von dem Schiff The HMS
Lutine, das im 18. Jahrhundert in der Nähe der Westfriesischen Inseln gesunken ist. Es war
bei Lloyd’s versichert und man hatte versucht, die kostbare Ladung zu bergen. Doch den
Großteil der Fracht hatten die Inselbewohner bereits als Strandgut eingesammelt. Eines
der wenigen Dinge, das noch geborgen werden konnte, war die Schiffsglocke, die heute
im Zeichnungsraum (Underwriting Room) hängt. Diesem Umstand ist der berühmte Aus-
druck „Wem die Stunde schlägt“ zu verdanken. Das Läuten dieser Glocke hat auch eine
praktische Funktion: Auf diese Weise wird jeder gleichzeitig informiert und es wird ver-
hindert, dass noch schnell Risiken verlagert werden (vgl. Frederiks 1876).
Die Ereignisse überschlagen sich, sodass das Kaffeehaus schon im Jahr 1691 in ein
größeres Gebäude an der Lombard Street umziehen muss. Als Edward Lloyd 1713 stirbt,
wird sein Kaffeehaus übernommen und der von ihm eingeschlagene Weg fortgesetzt.
1696 wird die erste Lloyd’s News veröffentlicht, eine Zeitung mit Nachrichten aus der
Schifffahrt, zum Beispiel welche Schiffe wohin mit welcher Fracht fahren. Diese Infor-
mationen sind goldwert für die Versicherungsträger, Geldgeber und Rechner, die das
Risiko beurteilen müssen (vgl. Wright und Fayle 1928). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts
ist Lloyd’s der Ort schlechthin, an dem maritime Risikoträger zusammenkommen.
Aber es ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. 1769 sind einige wichtige Versiche-
rungsträger nicht damit einverstanden, dass bei Lloyd’s immer mehr spekuliert denn ver-
sichert wird. In beiden Fällen geht es um die Auszahlung in einer unsicheren Situation.
Aber beim Versichern betrifft es ein Unglück, durch das man selbst Schaden erleidet, wie
etwa das Sinken des eigenen Schiffs. So haben Versicherte und Versicherer ein gemein-
sames Interesse, Unglücke zu verhindern, solange der versicherte Betrag niedriger bleibt
als der Schaden. Beim Spekulieren kann es auch um eine Sache gehen, an der man kein
direktes Interesse hat, zum Beispiel das Sinken eines Schiffs von jemand anderem. Dann
358 J. Kemperman et al.

kommt es auch zum moralischen Problem, dass jemand plötzlich Interesse daran hat,
dass so ein Schiff untergeht oder dass beispielsweise jemand ums Leben kommt. Beim
ausgereiften Versichern wird dieses ‚Überversichern‘ und ‚Spekulieren‘ auch verboten
(vgl. Prudential Insurance Company of America 1915).
Die wichtigsten Versicherungsträger, die bei Lloyd’s Geschäfte machen, nehmen
Abstand vom Spekulieren. Sie überzeugen einen Kellner davon, ein neues Café zu eröff-
nen. Das New Lloyd’s Coffee House führt innerhalb von fünf Jahren zum Bankrott des
originalen Kaffeehauses. Nach zwei erfolgreichen Jahren bilden neun Händler, Versiche-
rungsträger und Broker ein Exekutivkomitee und im Jahr 1773 führen sie Lloyd’s an die
Royal Exchange und ernennen zwei sogenannte Masters zu Kontrolleuren des Markts.
Gegen Bezahlung einer Gebühr dürfen ‚Mitglieder‘ Teil von Lloyd’s an der London
Exchange sein. Um das Jahr 1779 hat Lloyd’s 179 Mitglieder. Sie haben exklusiven
Zugang zur Etage der Versicherungsträger von Lloyd’s.
Durch den Krieg mit Frankreich zwischen 1792 und 1815 kann der Markt für Ver-
sicherungen der Schifffahrtsbranche florieren und auf seinem Höhepunkt 2000 Mitglie-
der verzeichnen. 1844 werden die Mitglieder Eigentümer dieser Lloyd’s Corporation
und gehört dieser Versicherungsmarkt wirklich ihnen. Das ist der eigentliche Beginn von
Lloyd’s of London von heute.
Lloyd’s will im 21. Jahrhundert der am meisten spezialisierte Versicherungsmarkt der
Welt sein (vgl. Lloyd’s 2014b). Das ist nichts Neues, denn genau das ist das Unternehmen
seit dem 18. Jahrhundert schon immer gewesen. Lloyd’s setzt sich im Laufe der Jahrhunderte
zum Ziel, Menschen gegen Gefahren zu versichern, sodass sie Unternehmungen beginnen
können. Der Fokus hat sich im Laufe der Zeit vergrößert. Bei Lloyd’s kann man sich gegen
jedes Risiko versichern. Dabei wird eine Ausnahme gemacht für Schiffe und Flugzeuge, die
sich in Kriegszeiten nicht auf dem Meer oder in der Luft befinden, sondern an Land. Man
weiß, dass man eine angemessene Prämie bekommt, denn das Angebot wird einer Reihe von
Versicherungsträgern unterbreitet, die im Namen ihres Syndikats nur ihr bestes Gebot abge-
ben. Lloyd’s hat viele Gesichter und ist ein mächtiges und manchmal intransparentes Institut,
aber es hat einen unglaublichen Ruf und Werdegang, was die Erfüllung seiner Verpflichtun-
gen betrifft. Das besondere Konzept dieses Marktplatzes hilft, gleichzeitig große Risiken
zu versichern, einander persönlich zu kennen und sich weiterhin in die Augen schauen zu
können. Die Moral und Integrität, die es für Zuverlässigkeit nun einmal braucht, sind tief in
den Werten von Lloyd’s verankert. So gibt es eine bekannte Geschichte eines Underwriters,
der ein Risiko nicht mehr rechtzeitig vor dem Wochenende geprüft und gezeichnet hat. Als
damals das Schiff dann direkt nach dem Wochenende gesunken war, unterzeichnete er ver-
blüffenderweise dennoch und fand sich mit diesem Schaden ab, weil er es anderenfalls auch
getan hätte. Und in einem vergleichweise aktuellen Fall gab Lloyd’s schon zwei Wochen
nach dem Verschwinden von Flug MH370 an, die Auszahlung zu leisten, obwohl zu dem
Zeitpunkt noch keine Spur vom Flugzeug gefunden worden war (vgl. CBC news 2014).
Die weiteren, auffälligsten Werte von Lloyd’s beziehen sich auf den unternehme-
rischen und entdeckenden Charakter, der notwendig ist, um sich weltweit an neue und
unbekannte Risiken heranzuwagen. Informationen tragen dazu bei, Risiken beherrschbar
zu machen. Wenn es darauf ankommt, ist immer noch Rückgrat erforderlich, um beim
10  Teilung besonderer Risiken 359

Angebot eines Risikos zum richtigen Zeitpunkt Ja oder Nein zu sagen, und braucht es
Mut, um auf der anderen Seite der Welt unbekannte Millionenrisiken zu versichern. Das
erfordert trotzige, unorthodoxe, individualistische und unabhängige Denker. Die Mitar-
beiter von Lloyd’s bezeichnen sich selbst auch als „Mavericks“ oder als Nichtkonfor-
misten. In den Heldengeschichten über die wichtigsten Versicherungsträger, die Lloyd’s
geformt haben, geht es um noble, integre und abenteuerliche Unternehmer. Im 18. Jahr-
hundert gehört dazu beispielsweise John Julius Angerstein, der bei der Gründung von
Lloyd’s als Organisation von Versicherungsträgern eine Vorreiterrolle einnimmt. Er ist
auch der Erste, der die Versicherung von gesunkenen Schiffen auf der Grundlage von
erhofften Erträgen durch die Bergung übernimmt, auf die man als Versicherer Anspruch
hat. Er ist eine so respektierte Persönlichkeit, dass andere Versicherungsträge fast blind
unterzeichnen, wenn er als Hauptträger ein Gebot für ein Risiko abgibt.
Lloyd’s hat vor über 300 Jahren von seinem Kaffeehaus aus eine Reihe fundamentaler
Elemente autorisiert, die bis heute noch charakteristisch sind für seine Strategie. In Über-
einstimmung mit dem Zyklus vom Versichern bis zur Auszahlung von Forderungen gibt
es vier Kernqualitäten:

1. Innovativ bei neuen Lösungen: Indem man kreativ denkt und davon ausgeht, dass
jedes Risiko zu versichern ist, kann schließlich jede Unternehmung versichert werden.
2. Das Risiko wird durch Networking geteilt: Das Risiko wird gestreut. Lloyd’s bringt
Parteien zusammen auf einem Weltmarkt mit einer übersichtlichen Anzahl an Playern,
die einander kennen.
3. Informationen, Informationen, Informationen: Mit mehr Fachwissen, Einblick und
Informationen kann das Risiko besser einschätzt werden und eine präzisere und schärfer
gepreiste Prämie festgelegt werden.
4. Der Ruf zu zahlen, wenn nötig: Llyod’s zahlt den Schaden aus, ohne viel Aufheben zu
machen. Auf diese Weise bleibt Lloyd’s stets seinem Ruf gerecht, sich an die getroffenen
Vereinbarungen zu halten.

Lloyd’s beweist, dass es seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen kann durch


gute Bewertungen von Ratingagenturen (A+ von S&P, AA- von Fitch Ratings und A von
AM Best im Jahr 2014). Lloyd’s weist eine solide Erfolgsbilanz auf, wenn es ums Ver-
sichern geht, insbesondere jedoch, wenn es um Auszahlungen bei Forderungen geht. Es
versteckt sich niemals hinter kleinen Paragrafen, sofern nicht grobe Fahrlässigkeit oder
Betrug vorliegt. Wichtige Meilensteine der Wahrheit, die den Ruf von Lloyd’s im 20.
Jahrhundert geformt haben, sind beispielsweise das Erdbeben von San Francisco im Jahr
1906, der Untergang der Titanic im Jahr 1912 und der Hurrikan Betsy im Jahr 1965.
Lloyd’s war in der Lage, seinen fundamentalen Prinzipien über 300 Jahre treu zu bleiben.
Das Unternehmen ist offen dafür, jede Art von Risiko zu versichern. In Kombination mit der
Tatsache, dass Lloyd’s finanziell solide ist, traut man sich, auch exklusive Objekte zu versi-
chern. Das Festhalten an diesen Prinzipien in einem Zeitraum von über 300 Jahren ist in der
Versicherungsbranche beispiellos und einzigartig zugleich. Genau das hat Lloyd’s auch durch
die schwierigste Zeit seines Bestehens geholfen. Als Lloyd’s wegen eines Asbestskandals in
360 J. Kemperman et al.

eine tiefe Krise geriet, entpuppte sich das Markenversprechen bei der Wiederherstellung des
Vertrauens in das Unternehmen als entscheidender Faktor (Abb. 10.1).

Lloyd’s of London übersteht selbst auch Katastrophen


Am Ende der 1980er Jahre und zu Beginn der 1990er Jahre muss Lloyd’s of London
Milliarden an Schadenersatzforderungen und Bußgeldern wegen Umweltverschmut-
zung und Asbestklagen zahlen.5 Lloyd’s wird beschuldigt, Mitglieder, die der Gruppe
in den vergangenen zehn Jahren beigetreten sind, nicht ausreichend über diese Risiken
aufgeklärt zu haben. Die Neuen müssen jetzt ebenso wie die alten „Names of Lloyd’s“
die Rechnung dafür zahlen. Die kürzlich beigetretenen Mitglieder repräsentieren viel
frisches Kapital aus den Vereinigten Staaten. Häufig haben sie sich nicht nur durch
eine ‚sichere‘ Rendite verführen lassen, sondern auch durch den Gedanken, Teil
einer elitären und etwas mystischen Welt der alten englischen Aristokratie mit ihren
geheimnisvollen Verhaltenskodizes und jahrhundertealten Ritualen zu werden. Das
Gegenteil scheint nun der Fall zu sein und Lloyd’s hat plötzlich den Anschein eines
intransparenten, geschlossenen Netzwerks, eines sogenannten Inner Circle, in dem das
alte Establishment sich selbst schützt und sich die Bälle zuspielen. Das ist natürlich
inakzeptabel für ein Unternehmen, für das ein transparentes Geschäftsgebaren und
Teilen aller möglichen Risiken doch so enorm wichtig ist. Viele der Names of Lloyd’s
machen bankrott. Lloyd’s wird vom Betrug der neuen Names freigesprochen. Die
Governance, die Sicherheiten und die Risikoträger werden verschärft bzw. überarbei-
tet. Die Umwelt- und Asbestrisiken werden in einer separaten Einheit untergebracht.
Dennoch erwarten viele Kritiker, dass der Großteil der Unternehmen im Bereich der
(Rück-)Versicherungen auf einen ruhmlosen Untergang zusteuert (vgl. Redman 2000).
Und dann kommt der 11. September 2001 … Was für eine Ironie des Schick-
sals ist es, dass gerade dieser Terroranschlag in New York die Wende für Lloyd’s
bringt? Ein Terroranschlag, der das Unternehmen kalt erwischt und fünf Milliar-
den Dollar (4,7 Mrd. EUR) oder ein Viertel des gesamten versicherten Betrags des
World Trade Center. Seine seit der Gründung im Jahr 1688 eine essenzielle Rolle
spielende Kernqualität verleiht Lloyd’s einen unglaublichen Schub: das Auszah-
len von Schadenersatzansprüchen ohne viel Aufhebens. Nach dem Terroranschlag
vom 11. September 2011 befürchten viele zu Recht, dass die Versicherer die Aus-
zahlung von Schadenersatzansprüchen im großen Stil verweigern werden. Llyod’s
hingegen fängt keine große Diskussion an und hält sich an sein Versprechen der
Auszahlung, unabhängig davon, wie groß die Katastrophe ist. Das Unternehmen
erfährt sogar große Wertschätzung durch das Weiße Haus, als der US-amerikani-
sche Finanzminister John Snow kurz nach dem Anschlag erklärt: „Wir stehen in
Ihrer Schuld.“ Das zeigt, dass die Institution Lloyd’s immer noch von hohem Wert
ist und eine Daseinsberechtigung hat, wenn es wirklich brenzlig wird.

5Siehe Gunn (1993), Raphael (1994), Proctor (1996) und McClintick (2000) für ausführlichere
Beschreibungen über dieses Drama und darüber, wie es passieren konnte.
10  Teilung besonderer Risiken 361

Markenkern: Der am meisten spezialisierte Versicherungsmarkt der Welt

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Abenteuerliche Unternehmungen • Einnehmen, wahren und verstärken der
ermöglichen, indem das damit Position als weltweites Zentrum für
einhergehende Risiko versichert wird innovative und spezialisierte (Rück-)
Versicherungen
Markenursprung
• Aufbauend auf der internationalen Markenversprechen
Geschichte des Versicherns von • Lloyd’s versichert alle erdenklichen
Überseehandel Risiken auf der Welt, wenn etwas
• Seit der Gründung des Kaffeehauses als schiefgeht, ist Lloyd für den
Netzwerk von Menschen konzipiert, Versicherten da und kann die größten
die Vereinbarungen Risiken dank seiner einzigartigen
miteinander Marktstruktur absorbieren
treffen und
Informationen Markenkern
austauschen Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Nobel und integer • Innovativ: für jedes Risiko gibt es eine Lösung
• Abenteuerlich und • Inhaltliche Fachkompetenz mit detaillierten Informationen
unternehmerisch für die richtige Prämienfestlegung
• Unabhängige „Mavericks“ • Netzwerke organisieren, in denen Risiken geteilt und
absorbiert werden können
• Finanziell robust und solide, um jederzeit auszahlen zu
können
Markenbeweis
• Die höchsten Auszeichnungen und eine jahrhundertealte
Erfolgsbilanz und Reputation im Versichern von besonderen
Risiken und Auszahlen bei berechtigten Forderungen.
Beispiele: Erdbeben von San Francisco (1906), Untergang
der Titanic (1912), Hurrikan Betsy (1965), Terroranschläge
vom 11.9.2001 in New York

Abb. 10.1  Leitbild und Positionierung von Lloyd’s


362 J. Kemperman et al.

10.1.2 Das Businessmodell: Eine Sonderstellung für jedes Risiko

Marktsegmente: Eine solide Position schafft Raum für einzigartige Ausnahmen


Llyod’s reitet seit dem 18. Jahrhundert auf der wachsenden Erfolgswelle von England als
internationale Welt- und Seemacht mit. Darüber hinaus ist das Unternehmen eng mit der
englischen Aristokratie verbunden, weil viele der Names of Lloyd’s vermögende Eng-
länder sind, darunter auch Mitglieder von Adelsfamilien und Mitglieder des Parlaments
(vgl. Frederiks 1876; Wright und Fayle 1928; Brown 1973). Das macht es für einige
auch zu einem unzugänglichen Club und zum verlängerten Arm des Establishments (vgl.
Frederiks 1876; Gunn 1993; Raphael 1994). Nicht nur in der allgemeinen Wahrnehmung
nimmt das Unternehmen eine Sonderstellung ein. Zum Beispiel wird Lloyd’s als Versi-
cherungsmarkt in der Gesetzgebung von 1720 neben zwei durch die Krone formell aus-
gewählten Versicherern eine Sonderstellung zuerkannt. 1871 erhält das Unternehmen mit
dem speziellen Lloyd’s Act eine gesetzliche Grundlage, um seine geschäftlichen Akti-
vitäten selbstbestimmt und weisungsfrei ausführen zu können. In einem zweiten Gesetz
aus dem Jahr 1982 wird außerdem formell festgelegt, dass Lloyd’s eine eigene Struktur
haben darf.
Ein pikantes Detail dabei ist, dass sich unter den anonymen Names of Lloyd’s auch
Mitglieder des Parlaments befinden.
Im Laufe der Zeit weitet Lloyd’s seine geschäftlichen Aktivitäten sowohl geografisch
als auch produktmäßig aus. London ist und bleibt natürlich der zentrale Stammsitz des
Unternehmens, wenn man Lloyd’s of London heißt. Aber ab dem Beginn des 20. Jahr-
hunderts wird die Position in den USA zunehmend ausgebaut. Heute, am Beginn des 21.
Jahrhunderts, ist man auf der Suche nach Wachstum bei Risikoträgern und Versicherten in
den sich schnell entwickelnden Ländern. Lloyd’s bietet seine Dienste in 200 Ländern an.
Auch das Portfolio der versicherten Objekte und Situationen wurde erweitert. 1904
erhielt Lloyd’s die Anfrage, ein Auto zu versichern. Zu diesem Zeitpunkt gibt es über-
haupt keine Erfahrung damit und folglich auch keine Richtlinien für das Versichern eines
Autos. Deshalb nimmt man als Grundlage die Erfahrungen mit Schiffen, und so kommt
es, dass in den ersten Versionen von Versicherungsverträgen die Rede von „Schiffen, die
an Land fahren“ ist. Später stellt sich übrigens heraus, dass Autos tatsächlich auch auf
dem Wasser verunglücken können: Llyod’s übernimmt den Schaden für das erste Auto,
das mit einem Eisberg zusammenstieß: ein 24 PS starker Renault eines amerikanischen
Geschäftsmanns an Bord der Titanic geht verloren und kostet Lloyd’s 5000 US$ (4700
EUR). 1911 stellt Lloyd’s seine erste Flugzeugpolice aus. Diese wird nach einem Jahr
gekündigt, weil sich durch schlechtes Wetter zahlreiche Unglücke ereignet haben. 1919
wird diese geschäftliche Aktivität mit der Gründung der British Aviation Insurance Com-
pany durch einen Versicherungsträger von Lloyd’s wiederaufgenommen. Dass auch die
Versicherungsträger bei Lloyd’s nicht immer Recht haben, zeigt sich deutlich, als man
10  Teilung besonderer Risiken 363

1921 Flugzeugversicherungen erneut aus dem Portfolio herausnimmt, weil „diese Form
von Transport keine Zukunft hat und auch keine Möglichkeiten für die Ausstellung neuer
Policen bietet.“
Lloyd’s konzentriert sich heute auf sieben Kategorien von Versicherungen für große
Schadensrisiken (in der Reihenfolge des Marktanteils): Rückversicherungen, Immobi-
lien, Schadenversicherungen, Schifffahrt, Energie, Kfz und Luftfahrt. Kunden sind vor
allem große Unternehmen und mitunter vermögende Privatpersonen, die spezielle Risi-
ken versichern wollen, zum Beispiel Bürogebäude, Kunstwerke, Haftungsrisiken oder
die Produkte und/oder Dienstleistungen, die sie haben bzw. bieten. Manchmal sind es
auch andere Versicherer, die ihre Risiken auf dem Markt als Rückversicherung anbieten
(vgl. Lloyd’s 2014a).
Die einzigartige Erkenntnis von Lloyd‘ ist, dass alle abstrakten großen Gefahren
konkretisiert werden können in Produkte, mit denen man handeln kann. Wenn diese in
Stücke und damit beherrschbare Risiken geteilt werden, können sie absorbiert werden,
sofern die Zahl der finanzkräftigen Risikoträger groß genug ist. Das zeigt sich beispiels-
weise, wenn ein Versicherungsträger gefragt wird, wovor er mit diesen Versicherungen
am meisten Angst hat.
Er antwortet, dass er nicht die individuellen Risiken am meisten fürchtet, selbst wenn
sie noch so groß sind, sondern die Tatsache, dass im Durchschnitt eine viel zu niedrige
Prämie verlangt wird, wodurch die Summe nicht mehr stimmt (vgl. Brown 1973).

Kundenwert: Mit Lloyd’s kann man sich an jedes Risiko heranwagen


Ein Kunde, der die Prämie für eine Versicherung zahlt, erhält im Durchschnitt immer
weniger zurück als die Einlage. Das ist logisch, weil auch für Versicherer Kosten entste-
hen und das ist bei Lloyd’s nicht anders. Kunden ist also damit geholfen, zu versichern,
was sie selbst nicht mit regulären Mitteln bezahlen können oder wollen. Das Versichern
gegen echte Gefahren gibt Kunden die Freiheit und den Raum für besondere und aben-
teuerliche Unternehmungen. Der Kunde weiß, was er bekommt. Ein gutes Angebot für
das Versichern seiner Risiken durch einen zuverlässigen Markt. Außerdem ist Lloyd’s
schon seit Jahren finanziell gesund und hat nicht nur gute Bewertungen von Ratingagen-
turen, sondern auch ausgezeichnete Schaden-Prämien-Quoten.
Der Kunde weiß, dass sein Risiko immer gedeckt ist. Wenn sein Risikoträger sei-
ner Verpflichtung nicht nachkommen kann, springt der zentrale Kalamitätenfonds von
Lloyd’s ein.
Das Besondere bei Lloyd’s ist, dass man auch sehr große und besondere Risiken ver-
sichern kann. So gab es einmal einen schottischen Whiskyhersteller, der demjenigen eine
Million Pfund bot, der beweisen konnte, dass das Monster von Loch Ness tatsächlich
existiert. Er wurde doch etwas nervös und hat sich für den Fall, dass das Monster tat-
sächlich gefunden wurde, bei Lloyd’s versichert.
Lloyd’s stellte dabei die Bedingung, dass es in dem Fall auch die Bergungsrechte
erhalten würde (vgl. Brown 1973). Weitere Beispiele für besondere Objekte, Fahrzeuge
und sogar Körperteile von Menschen sind:
364 J. Kemperman et al.

• SpaceshipOne, die erste kommerzielle Raumfähre von Virgin Galactic;


• die Zunge eines Kaffeetesters für 10 Mio. Pfund;
• die Stimme von mehreren Sängern, darunter auch Bruce Springsteen;
• Hole-in-ones bei Golfturnieren;
• die Fortführung von großen Sportveranstaltungen wie die Fußball-WM und Wimbledon;
• Juwelen, die bei der Oscar-Verleihung getragen werden.

Kanäle: Informationen sammeln und mit Kunden teilen


Mit seiner jahrhundertealten Geschichte und seinem Symbolcharakter, dem Versichern
besonderer Objekte und der Auszahlung der aufsehenerregendsten Schadenersatzansprü-
che ist der Ruf von Lloyd’s eine sichere Bank. Das Unternehmen braucht keine (lokale)
Marketing- und PR-Maschine. Die Kunden, die eine Versicherung kaufen wollen, gehen
zu einem Berater und erläutern ihm das zu versichernde Risiko. Diese Berater sind ent-
weder selbst ein Versicherungsmakler von Lloyd’s oder nehmen mit einem Broker des
Unternehmens Kontakt auf. Je mehr Informationen zur Verfügung gestellt werden, desto
bessere Konditionen können geboten werden. Sofern es anschließend zu einer Schaden-
ersatzforderung kommt, geht der Kunde erneut zum Versicherungsmakler, der den Scha-
den für ihn abwickelt.
Die von Lloyd’s für die Festlegung der optimalen Prämie gesammelten Informationen
werden so wie im einstigen Kaffeehaus auch heute noch verwendet, um Kunden auf-
zuklären und bei der Prävention zu helfen. Zu den regelmäßigen Ausgaben, die heute
von der Lloyd’s of London Press veröffentlicht werden, gehören: List of shipping (täg-
lich), Shipping index (täglich), Voyage record (wöchentlich), Loading list (wöchentlich),
Casualty reports (wöchentlich) und Law reports (zweiwöchentlich). Das Sammeln und
Teilen von Informationen geht zurück auf die im Jahr 1700 gegründete Zeitung und die
Beobachtungsposten an der Küste im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus zeigt es sich auch
in der Verwendung sozialer Medien im Jahr 2014. Dabei geht es nicht nur um Informa-
tionen, sondern auch um Kommunikation und darum, seine Fühler vor Ort auszustre-
cken. Es ist ein großes Netzwerk entstanden mit aktuell etwa 500 Havarieagenten und
750 Subagenten in Häfen, die Informationen sammeln. Sie können Lloyd’s auch lokal
vertreten und beispielsweise vor Ort eine Reparatur abwickeln, Schiffen in Not helfen,
eine Bergung koordinieren oder eine verdorbene Ladung inspizieren. Bereits 1875 wer-
den mithilfe von Vertretern täglich die Informationen über 60.000 Schiffe gesammelt
und im Lloyd’s index gelistet, sodass deren jeweils aktueller Aufenthaltsort bekannt ist.
Und dann gibt es noch das Captains register, in dem das Dienstverhältnis und persönli-
che Angaben von 25.000 Personen stets auf dem neuesten Stand gehalten werden, denn
auch diese Daten geben viele Informationen über die Risiken. Außerdem kommt es zu
einer Zusammenarbeit mit Guglielmo Marconi, dem Erfinder des Telegrafen. Schon im
Jahr 1891 hat Lloyd’s in England 40 und weltweit 118 Sendestationen installiert. Lloyd’s
setzt das Projekt fort und installiert zusammen mit Marconi Pfähle und Telegrafen-
masten von Cornwall bis Kanada. Dadurch können Schiffe, die von und nach Amerika
fahren, immer mit dem Festland kommunizieren. Es geht bei Lloyd’s auch um große
Risiken mit militärischen und politischen Auswirkungen. Das ist auch der Grund, warum
10  Teilung besonderer Risiken 365

Lloyd’s schon ab dem 17. Jahrhundert den Umgang mit dem Nachrichtendienst und dem
Militär pflegt; um Neuigkeiten schnell zu verbreiten und Risiken zu analysieren und
diese anschließend buchstäblich zu eliminieren oder zu umsegeln (Abb. 10.2 und 10.3).

Betrieb: Wir sind Lloyd’s


Lloyd’s ist in erster Linie ein Markt. Zusammen sind alle Beteiligten Lloyd’s. Bei Licht
betrachtet besteht das Unternehmen dahinter aus zwei Welten: die tatsächlichen Player
auf dem Markt und daneben die zentrale Organisation, die die Spielregeln auf der
Grundlage einer straffen Governance mit den dazugehörigen Befugnissen und Instru-
menten überwacht und sicherstellt.
Die wichtigsten Player auf dem Markt sind die Versicherungsmakler mit ihren Kun-
den und die Versicherungsträger mit ihren Syndikaten, in denen die Risikoträger sitzen.
Diese sind einzig und allein auf das Versicherungsgeschäft ausgerichtet. In der frühen
Anfangsphase des Unternehmens sitzt der Versicherungsmakler im Kaffeehaus am Tisch
mit einem oder mehreren Versicherungsträgern. Diese Versicherungsträger arbeiten für
Gruppen von tatsächlichen Risikoträgern und richten sich an eine bestimmte Art von
Versicherungen oder Rückversicherungen. Bis Anfang der 1990er Jahren sind die Risi-
koträger vor allem Einzelpersonen. Mittlerweile sind diese Names of Lloyd’s deutlich
in der Minderheit, nachdem es Ende der 1980er Jahre und zu Beginn der 1990er Jahre
zu Skandalen und Schadenersatzansprüchen gekommen war. Für eine Reihe von ihnen
führen die Forderungen zum Konkurs, doch vor allem ist es für jeden die klare Botschaft,
dass man das Geld, für das man bürgt, auch tatsächlich verlieren kann. Seit dieser Zeit
arbeitet Lloyd’s insbesondere mit Syndikaten von Unternehmen und/oder Versicherern,
die auf dem Markt von Lloyd’s aktiv sein dürfen. Darunter befinden sich auch einige
große Versicherer wie zum Beispiel das in diesem Buch beschriebene Unternehmen AIG.
Ende 2014 besteht der Markt von Lloyd’s aus 57 Bevollmächtigten und 94 Syndikaten,
die zusammen ein enormes Wissen und Know-How auf dem Gebiet des (Rück-)Versi-
cherns bieten (vgl. Lloyd’s 2014a).
Der Markt ist in erster Linie immer noch ein physischer Face-to-Face-Markt. Im mar-
kanten Gebäude von Lloyd’s in der City of London ist die Etage der Versicherungsträ-
ger untergebracht. Weil alle Spezialisten unter einem Dach sind, können Entscheidungen
schnell getroffen werden und die Makler ihren Kunden eine schnelle und gute Beratung
geben. Mit dem Gedanken, dass Informationen entscheidend sind, investiert Lloyd’s kon-
tinuierlich in Kommunikationsinstrumente und -technologie, damit es Neuigkeiten mit
Kunden teilen und zwischen ihnen austauschen kann. Das gilt gegenwärtig auch in ver-
stärktem Umfang für Big Data. Lloyd’s hat schon immer einen gesetzlichen Sonderstatus
genossen und wurde erst nach 300 Jahren im Jahr 2000 unter die Aufsicht des Finanz-
ministeriums gestellt, das dafür sorgen muss, dass auch Lloyd’s die Anforderungen des
aktuellen Finanzsystems erfüllt.
Neben den Marktakteuren gibt es auch die Lloyd’s Corporation als zentrale Organi-
sation für die Marktregeln. Zeiten von Krisen und Katastrophen haben über die Jahr-
hunderte hinweg immer die Basis dafür gebildet, zuvor angeregte Verschärfungen
bei den Garantien und der Governance auch tatsächlich durchzuführen und bei dieser
366 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente


Ergebnis Was bekomme ich? Position
• Passender Versicherungsschutz für • Ab dem 17. Jahrhundert reitet Lloyd’s
jedes Risiko auf der Grundlage der auf der wachsenden Erfolgswelle von
maximal verfügbaren Informationen England als Welt- und Seemacht

+
Prozess Wie bekomme ich es?
• Gesetzlich verankertes Recht auf das
Organisieren des Versicherungsmarkts
ab 1720
• Mein Versicherungsmakler oder • Neben Risiken der Schifffahrt
Agent analysiert das Risiko und Ausweitung auch auf andere Bereiche
bietet eine Lösung (19. Jh.), Luftfahrt (20. Jh.) und
+ Entwicklungsländer (21. Jh.)
• Jahrzehntelang der größte und
Gefühl Was fühle ich dabei?
• Ich kann durch die Sicherheit dieser bekannteste (Rück-)Versicherer
Versicherung abenteuerliche(re) besonderer Objekte
Unternehmungen wagen
Wettbewerber
• Lokale und internationale (Rück-)
Preis Was kostet es? Versicherer, die große Risiken tragen
• Nicht die preiswerteste, aber die können wie Schweizer Rück und
zuverlässigste Versicherung: Münchener Rück, aber auch Berkshire
Preisfestlegung = Hathaway (von Warren Buffet)
Wahrscheinlichkeit + Aufschlag des
maximalen finanziellen Risikos Zielgruppe
+ • Große Finanzdienstleister, Versicherer,
Privatpersonen und Einrichtungen
Aufwand Was muss ich dafür tun? können ihre Risiken bei Lloyd’s anbieten
• Ich gehe zu einem
Versicherungsmakler in London
Kundeneinblicke
oder zu einem Vertreter vor Ort, und
• Alle abstrakten großen Risiken können
der regelt die Angelegenheit für
konkretisiert werden in Produkten, mit
mich bei Lloyd’s
denen man Handeln kann und die als
+ beherrschbare Risiken geteilt
Risiko Wie unsicher ist es? werden können
• Es bleibt immer ein
Kunst der Positionierung
Risiko, aber wenn
eine Forderung
gerechtfertigt ist, Wertangebot für
Marktsegmente
gibt es keinen Kunden
zuverlässig- Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Ergebnis, Prozess, Gefühl,


Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,
eren Anbieter
Betriebsstärke

Kundeneinblicke
was die Aus-
zahlung
betrifft

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 10.2  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Lloyd’s


10  Teilung besonderer Risiken 367

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Der Prozess des Versicherns erfolgt • Lloyd’s braucht keine
durch die Broker und Marketingmaschine, um seinen Ruf zu
Versicherungsträger, die zusammen verbessern. Die Geschichte der
Lloyd’s bilden und der Zugang sind zum aufsehenerregendsten Risiken und
Markt der Risiken, für die ein optimaler Schadenersatzansprüche sorgen für viel
Versicherungsschutz zur am schärfsten PR und Mundpropaganda
gepreisten Prämie gesucht wird • Der Vertrieb erfolgt direkt in London und
• Maximale Nutzung von neuen über regionale Versicherungsmakler,
Technologien und Personen mit Vertreter und Büros; man ist in über
Fachwissen für die Bewertung und 200 Ländern der Welt geschäftlich aktiv
Annahme von Risiken
• Governance für die Garantie der Kundenkontakt & Zusatzdienste
Sicherheit für Kunden mit Council of • Der Kontakt erfolgt durch einen
Lloyd’s und Pufferfonds Bevollmächtigten, der wiederum in
Kontakt steht mit einem Syndikat oder
Lieferanten & Partner Name of Lloyd’s, das bzw. der die
• Die Lieferanten sind tatsächlich die (Rück-) Versicherung übernimmt
Syndikate (Gruppen, die Risiken tragen), • Lloyd’s bietet Kunden zusätzliche
an denen man sich als individueller Informationen und Beratung, um Risiken
Name of Lloyd’s (Einzelperson) oder zu analysieren und zu minimieren, z. B.
Unternehmen wie (Rück-)Versicherer eine eigene Zeitung (ab 1734) und ein
beteiligt Netz von Beobachtungsposten entlang
• Am Analysieren und Reduzieren von der Küste
Risiken beteiligte Parteien wie
Regierungen, Streitkräfte und
Nachrichtendienste; und
Technologiepartner wie heute in IT und
Big Data

Abb. 10.3  Betrieb und Kanäle von Lloyd’s


368 J. Kemperman et al.

zentralen Organisation Kapital anzulegen. Dazu ist es in den vergangenen zehn Jahren
erneut gekommen. In der eigenen Governance wird heute mit einem Council, Franchise
Board und Principal Committees gearbeitet. Der Council of Lloyd’s ist der Aufsichts-
rat und besteht aus 18 Mitgliedern. Davon arbeiten sechs auf dem Markt selbst, sechs
wurden intern ausgewählt und weitere sechs wurden durch den Markt selbst nominiert.
Das Franchise Board ist der Vorstand des Markts. Es bestimmt die Richtlinien für den
Markt und sorgt dafür, dass die hohen Standards für das Versicherungsgeschäft und das
Risikomanagement sichergestellt werden. Des Weiteren gibt es eine Reihe von Principal
Committees mit Mitgliedern, die das Franchise Board beraten und ihm Empfehlungen
für die Bereiche Renumeration, Risikokomitee, Auditingkomitee und Investition geben
(vgl. Lloyd’s 2014a).
Die Finanzstruktur von Lloyd’s bietet Mitgliedern und Versicherungsnehmern zusätz-
liche Sicherheit. Dabei geht es um finanzielle Reserven und Puffer, die auf Syndikats-
und Mitgliederebene und als zentral deponiertes Kapital eingerichtet wurden:

• Auf Syndikatsebene werden alle erhaltenen Prämien in einem Trustfond deponiert.


Dieser kann bei einer Schadenersatzforderung zuerst beansprucht werden. Gewinn
kann erst dann erzielt werden, wenn gute Vorkehrungen für mögliche zukünftige For-
derungen getroffen wurden. Darüber hinaus wird das „underwriting year“ erst nach
drei Jahren abgeschlossen, damit alle Schäden so weit wie möglich abgewickelt sind,
bevor es in ein „accountant year“ umgewandelt wird.
• Auf Mitgliederebene müssen alle Mitglieder, egal ob Unternehmen oder Einzelperso-
nen, Kapital zur Verfügung stellen. Unter der Kontrolle des Aufsichtsrats muss jeder
Bevollmächtigte eine individuelle Kapitalbewertung durchführen, um zu sehen, wie
viel Kapital deponiert werden muss, um die Risiken zu 99,5 % zu decken.
• Des Weiteren gibt es noch einen zentral deponierten Kalamitätenfonds. Dieser steht
nach der Zustimmung des Council jedem Mitglied, das eine Forderung selbst nicht
erfüllen kann, zur Verfügung. Das zentrale Kapital für diesen Fonds wird von den
Mitgliedern durch ihren an Lloyd’s geleisteten Jahresbeitrag selbst finanziert.

10.1.3 Das Ergebnis: Lloyd’s ist ein Wertangebot

Schon seit Jahrhunderten finden Kunden ihren Weg zu Lloyd’s, das seine Geschäftsak-
tivitäten mittlerweile von ursprünglich England über die USA auf heute mehr als 200
Länder ausgeweitet hat. Im Jahr 2014 versichern fast 93 % der Dow-Jones- und FTSE-
Unternehmen Güter und/oder Objekte bei Lloyd’s. Die Anteilseigner von Lloyd’s sind
die Mitglieder. 2013 schrieb der Markt von Lloyd’s eine Prämie von 26,1 Mrd. Pfund
(36,5 Mrd. EUR), was einer Steigerung von 2,4 % im Vergleich zu 2012 entspricht.
Diese aufsteigende Linie verzeichnet Lloyd’s bereits seit 2007. Das Unternehmen hat seit
10  Teilung besonderer Risiken 369

jeher hohe Renditen erzielt. Eine Rendite zwischen 18 % und 20 % auf jährlicher Basis
für die Names of Lloyd’s war nicht ungewöhnlich. 2013 wird ein Gewinn von 3,2 Mrd.
Pfund (4,5 Mrd. EUR) verzeichnet, was ebenfalls eine Steigerung im Vergleich zum Vor-
jahr ist. Die Prämien-Schaden-Quote beträgt 2013 86,8 % und ist damit besser als die
91,1 % im Jahr davor. Mit anderen Worten, Lloyd’s ist ein finanziell gesunder und stabi-
ler Markt, der von den Auswirkungen der Finanzkrise im Jahr 2008 kaum betroffen ist.
Für Anteilseigner schafft das Unternehmen nicht nur ein monetäres Wertangebot, son-
dern sicherlich auch ein unsichtbares Wertangebot. Dank dieser ausgezeichneten Zahlen
bleibt Lloyd’s ein solider Partner für Versicherungen, sodass die Mitglieder von einem
konstanten Fluss an potenziell versicherbaren Risiken profitieren.
Für die Mitarbeiter von Lloyd’s Corporation ist die Belohnung als ausgezeich-
net zu bezeichnen. Lloyd’s hat verschiedene Mitarbeitergruppen, innerhalb derer das
Geschlechterverhältnis heute bei knapp 50:50 liegt. Das Unternehmen investiert viel in
Schulungen für seine Mitarbeiter und versucht mit seiner internationalen Präsenz, auch
weltweit Talente anzuziehen und an sich zu binden. Und das zahlt sich aus. Bei der Mit-
arbeiterzufriedenheitsumfrage im Jahr 2013 gaben 90 % an, mit den Arbeitsbedingungen
bei Lloyd’s zufrieden zu sein, und nicht weniger als 97 % waren stolz darauf, bei Lloyd’s
arbeiten zu dürfen (vgl. Lloyd’s 2014a).
Lloyd’s zeigt großes Engagement für die Gesellschaft. Dieses Engagement äußert sich
in erster Linie natürlich durch die Ermöglichung besonderer Unternehmungen, indem
das Unternehmen Gefahren versichert. Lloyd’s ermöglicht militärische und wirtschaft-
liche Expansion zunächst vor allem in England (ab dem 18. Jahrhundert), dann in den
USA (ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts) und heute auch auf internationaler Ebene.
Dieses Engagement wird über die Jahrhunderte hinweg durch Information, Kommu-
nikation und Prävention verstärkt. So beteiligt sich Lloyd’s an der Entwicklung von
Rettungsbooten und an Rettungsarbeiten. Des Weiteren wird 1803 der Patriotic Fund ein-
gerichtet, um die aus den Schlachten mit Napoleon zurückgekehrten verwundeten Sol-
daten zu unterstützen. Damit ist dieser Fonds einer der ältesten der Welt. Seitdem hat
Lloyd’s noch viele weitere Fonds eingerichtet und sich dabei vor allem auf geschäfts-
nahe Bereiche konzentriert, zum Beispiel Fonds zur Unterstützung von Menschen, die
durch Naturkatastrophen ihr Haus und/oder ihren Besitz verloren haben. Besonders am
Herzen liegt Lloyd’s sein Engagement für die Gestaltung und Realisierung einer besse-
ren Zukunft für Kinder. Das Unternehmen hat ein Programm entwickelt, mit dem es den
Kindern in den verschiedenen Phasen ihres Lebens Unterstützung bietet. Bei sehr jun-
gen Kindern ist das beispielsweise die Investition in Bücher und Lesekompetenz. Bei der
darauffolgenden Generation stehen Sport und Aktivitäten im Mittelpunkt der Förderung.
Und schließlich fließen Gelder in Stipendien, Ausbildungen und Workshops, um Jugend-
liche in Lohn und Brot zu bringen.
370 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden


• Kunden sind Lloyd’s treu, und das Unternehmen versichert heute Objekte und Güter bei
93 % der Dow-Jones- und FTSE-Unternehmen

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Arbeiten bei einem der größten und • Gute finanzielle Performance im Jahr 2013 mit
innovativsten (Rück-)Versicherer der einer Prämie von 26,1 Milliarden £
Welt ist für jeden mit einer Leidenschaft (36,5 Milliarden EUR), einem Gewinn von
für das Versichern großer Risiken 3,2 Milliarden £ (4,5 Milliarden EUR) und einer
attraktiv Schadenquote von 86,8 %
• Die Arbeitsbedingungen sind auch gut • Die Names of Loyd’s und Syndikate sind die
mit hervorragenden sekundären Anteilseigner der Genossenschaft Lloyd’s
Arbeitsbedingungen wie • Gemeinsame Sicherheiten, Reservefonds (ab
Krankenversicherungen, dem 20. Jh.) und eine effiziente
Lebensversicherungen, niedrige Kapitalzuführung machen es noch attraktiver,
Zinsdarlehen u. dgl. innerhalb von Lloyd’s zu arbeiten

Wert für und durch die Gesellschaft


• Lloyd’s ermöglicht Personen und Unternehmen, abenteuerliche Projekte anzugehen. Das ist
nützlich für England und andere, durch die internationale Expansion betroffene Länder sowie
für die Realisierung großer Unternehmungen. Das können wertvolle Unternehmungen sein,
die jedoch auch schädlich und gefährlich für die jeweils betroffenen Länder sein können
• Risikosenkung mit Programmen und Maßnahmen wie die Entwicklung von Rettungsbooten
und zusätzliche Fürsorge für Hinterbliebene mit einem Patriotenfonds und die Reduzierung
der Zahl der Schiffe, die verloren gehen
• Gesellschaftliche Programme wie die Gestaltung und Realisierung einer besseren Zukunft für
Kinder
• Treffer: 23.700.000 (Google)
• Positive Bewertung Top 25: 96 % (Google)

Abb. 10.4  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Lloyd’s


10  Teilung besonderer Risiken 371

10.1.4 Die brillanten Lektionen von Lloyd’s

Lloyd’s of London ist selbst auch ein Beispiel für ein besonderes Unternehmen, das in
seiner langjährigen Geschichte vielen Risiken trotzen musste. Heute ist es ein solides
und wachsendes Unternehmen mit einer einzigartigen, ursprünglichen Marktstruktur, die
immer noch intakt ist. Darüber hinaus ist Lloyd’s aus dem internationalen Handel her-
vorgegangen, sodass die Expansion in den sich entwickelnden Ländern hervorragend zu
diesem Ursprung passt. Was können wir aus den Gefahren und Risiken, für die Lloyd’s
im Laufe der Zeit gezahlt hat, lernen?

• Ein regulierter freier Markt mit menschlichem Maß: Lloyd’s kombiniert Marktwir-
kung im Wettbewerb zwischen Versicherungsmaklern und Versicherungsträgern mit
einer straffen Regulierung, was sich in der institutionellen Governance, den Reser-
vefonds und in den menschlichen Werten widerspiegelt. Schließlich ist es trotz des
finanziellen Umfangs ein übersichtlicher Markt, auf dem die Akteure einander ken-
nen und es zum Business gehört, sich heute einen Ruf als zuverlässiger Partner auf-
zubauen und zu wahren, um morgen wieder Geschäfte miteinander zu machen.
Natürlich ist es sehr spannend zu sehen, ob die eher anonymen Syndikate der Unter-
nehmen dauerhaft genauso gut funktionieren wie früher die Names of Lloyd’s.
• Die einzigartigen persönlichen Eigenschaften des zuverlässigen Maverick: Die besten
Mitarbeiter von Lloyd’s haben über die Jahrhunderte hinweg so etwas wie eine ein-
zigartige Kombination aus Integrität, Unternehmergeist und unabhängigem D ­ enken
gezeigt. Das ist eine inspirierende Kombination aus persönlichen Eigenschaften,
wenn es um die Finanzdienstleistung geht, die sich innovieren und gleichzeitig das
Vertrauen wahren muss.
• Informationen, Informationen und noch einmal Informationen: Um gut versichern zu
können, muss man nicht mutig ins kalte Wasser springen. Es geht darum, Informati-
onen zu sammeln, mit denen man bis ins Detail die Zusammenhänge verstehen und
sich so schnell wie möglich (schneller als die Konkurrenz) auf den neuesten Stand
der Dinge bringen kann. Das macht den Unterschied zwischen guter Kalkulation mit
einer scharf gepreisten Prämie und Spekulation mit einer zu niedrigen oder zu hohen
Prämie.
• Wenn man Risiken teilen kann, hat jedes Risiko seinen Preis: Die Struktur von
Lloyd’s ermöglicht die Absorption großer Risiken, indem diese auf eine sehr große
Gruppe von Menschen verteilt werden, die jeder für sich nicht mehr Risiko tragen
müssen als sie können. Wenn das geschafft ist, hat jedes Risiko seinen Preis und man
braucht keine Angst mehr vor einem eventuellen Unglück zu haben, sondern vielmehr
vor der Festlegung der richtigen Prämie.
372 J. Kemperman et al.

10.2 American International Group

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Thomas Bachet und Jeroen Kemperman
verfasst.

Kein Risiko ist zu groß


Prolog
Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, im März 1968, kommt die CIA dahinter, dass
die Marine der damaligen Sowjetunion ein Atom-U-Boot im Pazifik verloren hat:
das K-129. Dieses mit Nuklearwaffen, Codebüchern, Entschlüsselungssystemen und
anderen technologischen Geheimnissen ausgerüstete U-Boot ist für die Amerikaner
von großem Wert. Schon bald startet die CIA die geheime Operation Project Jenni-
fer, um das gesunkene U-Boot zu bergen. Der amerikanische Geheimdienst beauf-
tragt Howard Hughes damit, ein Spezialschiff zu konstruieren, das für diese komplexe
Operation eingesetzt werden kann. Kurze Zeit später wird die Hughes Glomar Explo-
rer gebaut, ein Schiff, das 63.000 t wiegt, 169 m lang ist und als technisches Glanz-
stück mit dem Capture Vehicle ausgestattet ist, einem großen Greifarm ganz im Stil
von James Bond, der auf den Meeresboden herabgelassen wird, um anschließend das
U-Boot zu packen und an die Wasseroberfläche zu heben.
Kein einziger Unternehmer – und ganz sicher nicht Howard Hughes – würde so eine
teure und geheime Operation unternehmen, ohne das Schiff gut zu versichern. Aber es
gibt nur wenige Versicherer, die sich auf so ein großes und ungewöhnliches Risiko ein-
lassen. Hughes und die CIA wenden sich an AIG, um die Versicherung abzuschließen.
Greenberg, damals Hauptgeschäftsführer von AIG, organisiert ein Treffen mit den
hochrangigen Führungskräften von Hughes und der CIA, um die globalen Konditi-
onen abzustecken. Ein paar Tage später ist der Versicherungsvertrag abgeschlossen
und es kann, wie sich später noch herausstellt, eine der teuersten und kompliziertes-
ten Operationen während des Kalten Kriegs in Angriff genommen werden. Es ist nie-
mals klargeworden, was genau die Amerikaner buchstäblich ans Tageslicht gebracht
haben… Klar ist jedoch, dass diese Operation ohne AIG niemals stattgefunden hätte.

Einleitung
AIG ist eine Institution in der Versicherungswelt. Der Konzern blickt auf eine fast
100-jährige Versicherungsgeschichte mit entsprechender Erfahrung zurück, hat 70
Mio. Kunden im Bereich Schadenversicherung und weist eine Erfolgsbilanz im Versi-
chern besonderer Risiken auf. Die Ursprünge von AIG liegen in Asien zu Beginn des
20. Jahrhunderts. 1919 gründet Cornelius Vander Starr das Unternehmen American
Asiatic Underwriters (AAU) in Shanghai. Wie der Name schon vermuten lässt, hat
Vander Starr niederländische Wurzeln, allerdings wächst er in den USA auf. Nachdem
er Karriere als Verkaufsvertreter für Autoversicherungen und als Feldwebel in der
amerikanischen Armee gemacht hat, zieht es ihn 1918 nach Asien. Er verbringt sechs
Monate in Japan, bevor er sich schließlich in Shanghai, dem chinesischen Handels-
10  Teilung besonderer Risiken 373

zentrum, niederlässt.6 Hier gründet er an seinem 27. Geburtstag eine Versicherungsge-


sellschaft, die sich zur größten Versicherung der Welt entwickeln wird.
Das Unternehmen von Vander Starr unterscheidet sich dadurch, dass es die ver-
schiedensten Risiken versichert – angefangen mit einem Baseballteam, das sich gegen
Schäden durch Regenstürme versichern lassen will, bis hin zur Fracht eines tschechi-
schen Schiffs, das voll mit Flüchtlingen von Wladiwostok nach Europa fährt. In erster
Linie ist AAU ein Akzeptant. Es stellt Bedingungen für Risiken auf, die anschließend
von amerikanischen Versicherungsunternehmen gedeckt werden. Das ändert sich nach
zwei Jahren. Vander Starr fällt auf, dass der lokale Versicherungsmarkt in China vor
allem aus englischen Versicherungsgesellschaften besteht. Diese Unternehmen haben
eher die defensive Haltung einer Bank als die eines Verkäufers. Des Weiteren fällt ihm
auf, dass Lebensversicherungen eine natürliche Anziehungskraft auf Chinesen haben.
In der chinesischen Tradition müssen Hinterbliebene dafür sorgen, dass der Verstor-
bene ausreichend Geld im Jenseits hat. Für Vander Starr ist es also nur logisch, dass es
andersherum auch funktionieren muss. Um darauf zu reagieren, gründet er eine separate
Lebensversicherungssparte für den lokalen Markt, die sich als sehr erfolgreich entpuppt.
Nachdem er erst in China expandierte, eröffnete er sehr schnell Niederlassungen
auch außerhalb von China. 1928 werden Filialen in Saigon, Haiphong, Djakarta und
Surabaya gegründet. Ein Jahr später kommen Büros in Singapur, Kuala Lumpur und
Malakka hinzu. Erst als das Unternehmen schon sieben Jahre existiert, wird der erste
Ableger in den USA gegründet: die American International Underwriters Coopera-
tion. Ab 1930 werden andere amerikanische Versicherungsunternehmen übernommen
und dadurch die Aktivitäten in den USA ausgeweitet. Eine der wichtigsten Übernah-
men ist die von Globe & Rutgers, das unter dem neuen Namen American Home zu
einem wichtigen Player auf dem amerikanischen Markt wird.
Wegen des Zweiten Weltkriegs und des darauffolgenden kommunistischen Regi-
mes in China muss das Unternehmen seine Aktivitäten aus Asien in andere Regionen
wie etwa Lateinamerika und Europa verlagern. Die Aktivitäten in Kuba sind gemes-
sen am Umfang bei Weitem die intensivsten in Lateinamerika. Schon während des
Zweiten Weltkriegs, aber insbesondere danach werden die Aktivitäten auf Europa aus-
geweitet und zwar auf Großbritannien, Frankreich und später auch in Deutschland.
Cornelius Vander Starr bleibt bis zu seinem 75. Geburtstag 48 Jahre Hauptge-
schäftsführer und wird 1967 von Maurice Greenberg abgelöst. Greenberg beginnt
kurz vor dem Antritt seiner Stelle als Hauptgeschäftsführer mit der Umstrukturierung
des Unternehmens, bei der der Schwerpunkt auf dem Verkaufen von Versicherungen
über unabhängige Versicherungsmakler statt über eigene Verkaufsvertreter liegt. Das
bedeutet eine signifikante Einsparung, die dem Unternehmen viel Geld einbringt.
1967 wird die American International Group (AIG) mit dem Ziel gegründet, die ver-
schiedenen Schaden- und Lebensversicherer darin aufzunehmen.

6Das Interessante ist, dass es in dieser Zeit der einzige Ort war, an dem Ausländer unter Einhaltung
der Gesetze und Verordnungen ihres eigenen Landes Geschäfte machen durften.
374 J. Kemperman et al.

Im Zuge der Globalisierung verändert sich die internationale politische Landschaft


erheblich. Auch in diesem Zeitraum fokussiert sich AIG auf neue Märkte. Zwischen
1967 und 2005 wird die Versicherungsgesellschaft zu einem Unternehmen mit einem
Börsenwert von 200 Mrd. US$ (188 Mrd. EUR) ausgebaut.
In den darauffolgenden Jahren expandiert AIG auch weiterhin auf internationaler
Ebene, obwohl der Wettbewerb auf dem Markt immer härter wird. Kunden schätzen
das Unternehmen vor allem wegen seiner ausgezeichneten Kenntnisse und Kompetenz
auf dem Gebiet des Technik- und Risikomanagements. AIG erweitert sein Portfolio mit
innovativen und sehr spezifischen Produkten wie beispielsweise Umweltverschmutzung
und politische Risiken. Greenbergs lange und erfolgreiche Karriere bei AIG findet nach
fast 40 Jahren 2005 ein jähes Ende: Nach einem Buchhaltungsskandal muss er zurück-
treten. Dennoch fühlt er sich AIG immer noch verbunden, was er jedoch vor allem als
aktiver Kritiker in den Medien und im Gerichtssaal zeigt. In den darauffolgenden zehn
Jahren gerät AIG in unruhiges Fahrwasser und bekommt fünf verschiedene Hauptge-
schäftsführer, von denen zwei von der amerikanischen Regierung ernannt werden.
Als die Finanzkrise mit voller Wucht ausbricht, muss AIG am 14. September 2008
bekannt geben, dass es dringend frisches Kapital brauche. Diese Meldung erfolgt zeit-
gleich mit der Vergleichsanmeldung der Investmentbank Lehman Brothers und der
Übernahme von Merrill Lynch. Das Vertrauen ist verloren und der Börsenkurs von
AIG stürzt ein. AIG steht am Abgrund. Für Menschen in der Versicherungsbranche
auf der ganzen Welt ist das ein großer Schock. Wenn sogar die Institution AIG ein-
fach so zusammenbrechen kann, ist in dieser Finanzkrise niemand mehr sicher. Am
17. September gibt die amerikanische Zentralbank bekannt, dass sie AIG mit einer
Finanzspritze vor dem Untergang retten werde. Der amerikanischen Regierung fallen
damit fast 80 % des Aktienkapitals von AIG in die Hände. Insgesamt steckt die Regie-
rung 181 Mrd. US$ (ca. 170 Mrd. EUR) in das Unternehmen. Um das Geld an die
Regierung zurückzahlen zu können, verkauft AIG wichtige Unternehmensbereiche.
Gut vier Jahre später ist das Unmögliche möglich geworden. AIG ist wie ein Phö-
nix aus der Asche wiederauferstanden und kann seine Schulden bei der Regierung mit
dem aus dem Verkauf von Unternehmensbereichen erzielten Gewinn mehr als zurück-
zahlen. Am 11. September 2012 gibt das Finanzministerium bekannt, dass es insge-
samt sogar 15,1 Mrd. US$ (14,2 Mrd. EUR) an allen Transaktionen verdient habe.

Wie es 2008 schiefgeht


Die Finanzkrise hinterlässt bei AIG ihre Spuren. Die Aufgabe eines seiner Kern-
prinzipien, die richtige Einschätzung von Risiken, wird für AIG zum Verhängnis.
Das Unternehmen findet sich schließlich im Bereich spekulativer Finanzprodukte
wieder, die allerdings nicht jeder Mitarbeiter von AIG versteht. Zwei Dinge gehen
schief: Zum einen die Kreditderivate (credit default swaps) von AIG Financial Pro-
ducts und zum anderen das Ausleihen von Wertpapieren (security lending) durch
die AIG Global Asset Management Holdings Corporation mit den Vermögenswer-
ten der Versicherungskomponenten als Sicherheit.
10  Teilung besonderer Risiken 375

Kreditderivate bei AIG Financial Products (AIGFP)


AIGFP wurde 1987 gegründet, um mit Derivaten zu handeln (vgl. O’Harrow und
Brady 2008). Bis 2002 sieht die Unternehmenspolitik vor, mit Hypotheken verbun-
dene Vermögenswerte zu meiden (vgl. U.S. Government 2010 Panel – June Oversight
Report 2010). Das ändert sich mit dem Antritt von Joseph Cassano als Hauptge-
schäftsführer von AIGFP. Cassano forciert die Ausweitung des Produktangebots und
nimmt darin auch die Art von Kreditderivaten auf, die AIGFP später in die Krise stür-
zen. Es funktioniert so, dass der Käufer regelmäßige Zahlungen an den Verkäufer die-
ses Kreditderivats leistet, der im Gegenzug dafür den Käufer entschädigt, wenn der
geliehene Betrag (credit) nicht zurückgezahlt werden kann (default). AIGFP handelt
Kreditderivate mit großen Finanzinstituten wie Goldman Sachs, die damit Risiken
von anderen Aktivitäten begrenzen. AIGFP hat eine sehr gute Bonitätsbewertung,
weil es Teil von AIG (triple A) und damit ein attraktiver Gegenpart ist. Eine der Arten
von Kreditderivaten besteht zu einem erheblichen Teil aus zweitklassigen Krediten
mit einem signifikant höheren Risiko (vgl. AIG August Presentation 2007). Auf der
Grundlage von Ergebnissen aus der Vergangenheit ist AIGFP davon überzeugt, dass
dieses Geschäft dennoch sehr sicher ist. Deshalb erachtet das Unternehmen es nicht
für notwendig, die Risiken vollständig zu decken. Das erweist sich später als Irrtum.
2007 erhält AIGFP den ersten Collateral Call wegen nicht zurückgezahlter Kredite
in Höhe von 1,8 Mrd. US$ (1,7 Mrd. EUR) von Goldman Sachs (Financial Crisis
Inquiry Commission 2011 of the National Commission on the Causes of the Finan-
cial and Economic Crisis in the United States 2010, S. 265–274). AIG wehrt sich
dagegen und zahlt den Betrag teilweise zurück, aber mittlerweile gehen immer mehr
dieser collateral calls ein (vgl. AIG – Collateral Postings Under AIGFP CDS 2008a).
Im Juli 2008 ist die mit dieser bestimmten Art von Kreditderivaten verbundene
Summe auf 16,5 Mrd. US$ (15,5 Mrd. EUR) angestiegen (vgl. AIG – Conference
Call Credit Presentation 26 2008b). AIG kann seiner Verpflichtung kurzfristig nicht
nachkommen, und als das Unternehmen ‚gerettet‘ zu sein scheint, ist die Summe
auf 24 Mrd. US$ (22,6 Mrd. EUR) angewachsen. Ein zusätzliches Problem ist, dass
die Anfälligkeit durch zweitklassige Kredite noch weiter verbreitet ist. Als AIGFP
sich seiner riskanten Lage bewusst wird und die Zahl dieser Kredite reduziert, wird
das mit den anderen Unternehmensbereichen, die gerade darin einen größeren Teil
ihres angelegten Vermögens investieren, nicht gut kommuniziert. Im August 2007
ist man bei der AIG noch davon überzeugt, dass das Risiko durch diese Vermögens-
werte gut absorbiert werden kann, auch wenn die Immobilienblase platzen sollte. Die
Geschichte lehrt uns, dass das vielleicht der größte Irrtum von AIG überhaupt war.

Ausleihen von Wertpapieren bei AIG Global Asset Management (AIGGAM)


So wie viele Versicherer leiht auch AIG sich Wertpapiere von anderen Finanzdienst-
leistern aus. Wie bei einem gewöhnlichen Gelddarlehen ist diese Form der Ausleihe
an Zinsen und Sicherheit gebunden. Auf dem Markt spricht man von einer Aktivität
376 J. Kemperman et al.

mit geringem Risiko und geringer Rendite. 1997 richtet AIG einen eigenen Unterneh-
mensbereich für diese Aktivität ein: AIGGAM (vgl. Pierce 2014). Die Wertpapiere der
Versicherungssparte von AIG werden ausgeliehen und das Geld reinvestiert, wobei der
Gewinn geteilt wird (vgl. AIG Jahresbericht 2008). Bei diesen Transaktionen ist nor-
malerweise der Wert der Aktien, die man besitzt, höher als die ausgeliehene Summe.
Die von AIG gehandhabte Standardregel sieht vor, dass der Marktwert der Vermö-
genswerte mindestens 102 % der ausgeliehenen Summe betragen muss. Eines Tages
wird dieses Prinzip über Bord geworfen und immer häufiger werden höhere Risiken
eingegangen (vgl. AIG 2010). AIG profitiert von der sehr guten Bonitätsbewertung,
die es hat. Das Vertrauen ist so groß, dass es von außen eigentlich keinen Druck mehr
gibt, um die vollen 102 % an Vermögenswerten gegenüber zu stellen. Stattdessen wer-
den nur noch 94 % gedeckt. Anfang 2008 hat AIG einen Anteil in Höhe von 80 Mrd.
US$ (75,2 Mrd. EUR) an ausgeliehenen Wertpapieren auf diesem Markt von drei Bil-
lionen Dollar (2,8 Billionen EUR) (vgl. Dive 2011). Das macht ein Unternehmen sehr
anfällig, wenn der Wert der Sicherheit an der Börse plötzlich einstürzt.

10.2.1 Das Fundament: Alle Risiken

AIG unterscheidet sich von anderen Versicherern, weil es die allerbeste technische Ana-
lyse und das allerbeste Risikomanagement bietet. Ein Beispiel aus den USA aus den frü-
hen 1960er Jahren zeigt, wie einzigartig AIG ist. Die Versicherungstarife werden von den
Versicherern in sogenannten Handelsorganisationen gemeinsam festgelegt. Das betrifft
beispielsweise die Dauer und den Preis von Feuerversicherungen. Die Regierung unter-
stützt diese Vereinbarungen und schließt den Versicherungsmarkt deshalb auch vom
Antikartellgesetz aus. AIG ist der Meinung, die Prämie schärfer gepreist berechnen zu
können, und entschließt sich, gemeinsam mit American Home nicht mehr länger Teil
dieser Handelsorganisationen zu sein. Es legt sogar die Dauer und den Preis für diese
Art von Versicherungen auf der Grundlage seiner eigenen unabhängigen Risikoeinschät-
zungen fest. So kann AIG ein wettbewerbsfähiges Angebot erstellen und auch bei inno-
vativen Bedingungen eine Vorreiterrolle einnehmen, was in diesem Fall eine niedrigere
Prämie für Feuerversicherungen durch die Einführung der Selbstbeteiligung bedeutet.
AIG verspricht, dass die Kunden immer vertrauensvoll in die Zukunft blicken können.
Um das zu ermöglichen, will AIG die verschiedensten Risiken zu einem guten Preis ver-
sichern. Unternehmen, Behörden und Privatpersonen erhalten dadurch die Freiheit, sich
nur um ihre Angelegenheiten zu kümmern, ohne sich Sorgen machen zu müssen.
AIG gibt Kunden bereits mehr als 95 Jahre das Vertrauen, sich auf Unternehmungen
einzulassen. In jedem Land, in dem AIG aktiv ist, sei es Russland nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs oder dem heutigen China, öffnet die Gruppe (amerikanischen) Unter-
nehmern Tür und Tor zu einem potenziell interessanten neuen Markt.
AIG will weltweit Marktführer für Versicherungen sein und bleiben. Es ist wichtig, vor-
auszuschauen und einzuschätzen, was die Zukunft bringen wird. Die Welt verändert sich
schließlich permanent und mit ihr auch die Risiken, denen die Kunden von AIG ausgesetzt
10  Teilung besonderer Risiken 377

sind. Weil AIG weltweit vertreten ist, kann es über Landesgrenzen hinweg operieren und
wegen seiner umfangreichen Fachkompetenz beispielsweise auch komplexe Haftungsrisi-
ken übernehmen. Auf diese Weise ist AIG in der Lage, für einen Großteil des Marktes die
passenden Versicherungslösungen zu bieten.
Der Unternehmergeist und das Sehen und Ergreifen großer Chancen wurden dem
Unternehmen bei seiner Gründung quasi in die Wiege gelegt. 1919 beginnt die Gründung
des Lebensversicherungsunternehmens mit einer einfachen Risikokalkulation. Cornelius
Vander Starr erkennt, dass der Einzug moderner Hygienestandards in Asien die Lebens-
erwartung der Chinesen steigern wird.
Unternehmerisch wie er ist, wird er zu dem Zeitpunkt aktiv auf dem Markt für Versi-
cherungen von Sterbegeldern, wo die Prämien auf der Grundlage einer Lebenserwartung
von weniger als 30 Jahren gigantisch sind. Dass er mit dieser Strategie Weitblick bewie-
sen hatte, zeigt sich auch an der Tatsache, dass die Lebenserwartung seitdem alle zehn
Jahre von Versicherungsmathematikern nach oben korrigiert wurde und sich die durch-
schnittliche Lebenserwartung innerhalb eines Jahrhunderts auf 70 Jahre verdoppelte.
Abgesehen von Unternehmergeist erfordert das Ergreifen von Chancen natürlich auch
Mut. Damit verbunden sind Tüchtigkeit und Common Sense. Ein Beispiel dafür ist der
Ansatz des Verdienstmodells. Versicherer können Geld verdienen, indem sie Gewinne
auf Prämien erzielen, aber auch indem sie das Geld, das in der Kasse für die Auszahlun-
gen zurückbehalten wird, schlau anlegen.
Ein wichtiger Grundsatz von Vander Starr ist, dass jedes Versicherungsprodukt eine
positive Marge auf der Basis einer höheren Prämie als Auszahlungen liefern muss.
Damit ist er ein Gegenpart zu vielen anderen Versicherern, die Produkte mit Verlust
auf die Prämie verkaufen, aber darauf hoffen, dass sie diesen Verlust mit den Investitio-
nen wieder wettmachen. Innovation ist ein weiterer wichtiger Kernwert von AIG. Anstatt
den Status quo aufrechtzuerhalten, entscheidet sich AIG für eine kreative Herangehens-
weise, die zu innovativen Produkten führt.
Kunden wird eine Versicherung angeboten, die auf ihre individuelle Situation zuge-
schnitten ist. Diese maßgeschneiderten Versicherungen erfordert eine professionelle
Organisation mit Sachverstand auf einem sehr hohen Niveau.
Schließlich ist das internationale Netzwerk von AIG von großer Bedeutung. Trotz
seiner asiatischen Wurzeln ist das Unternehmen genauso ein amerikanisches Exportpro-
dukt wie McDonald’s, Coca-Cola und Hollywood. Bei der internationalen Expansion
exportiert AIG neben den Versicherungsprodukten auch explizit die westlichen (kapi-
talistischen) Normen und Werte. Maurice Greenberg selbst nennt es „die Bekämpfung
von Nationalismus und anderen Übeln und die Förderung von Kapitalismus“. Das heißt
übrigens nicht, dass AIG nur mit Amerikanern funktioniert, im Gegenteil. Viele der
Managementpositionen in den einzelnen Geschäftsbereichen von AIG werden von loka-
len Experten übernommen (Abb. 10.5).
AIG weist eine Erfolgsbilanz vor, wie es nur wenige Unternehmen können. Während
der Finanzkrise hat das Unternehmen einen mächtigen Dämpfer erlitten, doch anschlie-
ßend hat es sich schnell wieder erholt und innerhalb von vier Jahren Schulden in Höhe von
181 Mrd. US$ (ca. 170 Mrd. EUR) abbezahlt. Die aktuellen Zahlen sind beeindruckend.
378 J. Kemperman et al.

Markenkern: Die komplexesten Risiken werden versichert

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Kunden können immer vertrauensvoll in die • Weltweiter Marktführer für Schaden-
Zukunft blicken und Lebensversicherungen sein und
bleiben
Markenursprung
• 1919 mit dem Ziel gegründet, Markenversprechen
amerikanische Unternehmen im Ausland • Unabhängig vom geografischen
vertrauensvoll wirtschaften zu lassen Standort oder der Komplexität des
Risikos können wir Sie versichern

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten


• Unternehmergeist • Technikspezialisten
• Mut • Risikospezialisten
• Innovation • Aktivitäten auf internationaler Ebene
• Zuverlässigkeit • Öffnung neuer Märkte

Markenbeweis
• Konkrete Ergebnisse wie die
Aufrechterhaltung der zivilen
Luftfahrt nach dem 11.9.2001 und
Aufnahme geschäftlicher
Aktivitäten in Russland und China

Abb. 10.5  Leitbild und Positionierung von AIG


10  Teilung besonderer Risiken 379

Kunden, insbesondere Geschäftskunden, können bei AIG auf ein maßgeschneidertes Pro-
dukt vertrauen, das ihren spezifischen Bedürfnissen entspricht. Um das zu realisieren,
ist es für AIG wichtig, den Kontext und die Risiken, mit denen es Kunden zu tun haben,
am besten einschätzen zu können. Das ist dann auch eine essenzielle Kernqualität, die
es von seinen Wettbewerbern unterscheidet. Was das praktisch bedeutet, wird beispiels-
weise nach den Anschlägen vom 11. September 2001 deutlich. Viele Versicherer wollen
von der Möglichkeit Gebrauch machen, nach so einer Katastrophe keine kommerziellen
Flüge mehr zu versichern. Passiert nichts, liegt innerhalb einer Woche ein Großteil des
Flugverkehrs lahm. Daraufhin richtet AIG innerhalb von vier Tagen einen branchenwei-
ten Versicherungsfonds in Höhe von einer Milliarde Dollar (940 Mio. EUR) ein, in den
AIG selbst unmittelbar 200 Mio. US$ (188 Mio. EUR) einzahlt. Durch diesen Fonds kann
die zivile Luftfahrt aufrechterhalten werden (vgl. Treaster 2001). Die gute Abwicklung von
Geschäften auf internationaler Ebene, der Umgang mit verschiedenen Interessen und Par-
teien und die gleichzeitige Realisierung der eigenen Unternehmensziele sind eine zweite
Kernqualität. Nach zwei Jahrzehnten der Investition in Geschäftsbeziehungen und intensi-
ver Lobbyarbeit erhält das kapitalistische AIG 1994 beispielsweise als erstes ausländisches
Unternehmen eine volle Lizenz als Versicherer in Russland (The AIG Story 2013, S. 74).

10.2.2 Das Businessmodell: Alle Informationen und Netzwerke

Marktsegmente: Riesiger Verbrauchermarkt und Nischenmärkte


AIG richtet sich auch an Verbraucher, vor allem aber an den Geschäftsmarkt. Für verschie-
dene Wirtschaftszweige steht ein eigenes Expertenteam zur Verfügung, das sich speziell
mit der Aneignung von Wissen über das jeweilige Business, der Einschätzung von Risi-
ken und dem Gelderwerb durch die Akzeptanz dieser Risiken beschäftigt. In der ersten
Zeit konzentriert sich das Unternehmen darauf, amerikanische Unternehmen in Asien zu
versichern. AIG unterscheidet sich immer noch dadurch, dass es Unternehmen an Orten
versichert, die Neuland sind. Es ist in Ländern tätig, wo andere Versicherer nicht arbei-
ten können oder wollen. Darüber hinaus akzeptiert es Risiken, die andere Versicherer nicht
übernehmen. Gegenwärtig zählt AIG über 88 Mio. Kunden in 130 Ländern insbesondere
in den Bereichen Schadenversicherungen, Lebensversicherungen und Rentenversicherun-
gen. Auf internationaler Ebene sind vor allem Lloyd’s und Rückversicherer wichtige Kon-
kurrenten, wenn es um das Versichern sehr großer Risiken geht. Darüber hinaus stehen die
Versicherungsgesellschaften im jeweiligen Land im Wettbewerb mit AIG. Das Unterneh-
men teilt mit Lloyd’s die Erkenntnis, dass jedes Risiko zu decken ist. Das schafft Raum für
Unternehmungen, auch unter unsicheren Bedingungen in risikobehafteten Ländern.

Kundenwert: Jedes Risiko wird versichert


Der Wert für Kunden besteht darin, dass die verschiedensten und komplexesten Risiken
an nahezu jedem Ort auf der Welt versichert werden können. Auf diese Weise gibt AIG
seinen Kunden die Freiheit und das Vertrauen, Unternehmungen zu starten, und zwar
wo, wann und wie sie das wollen. Deshalb bietet AIG relativ wenig Produkte von der
380 J. Kemperman et al.

Stange. Insbesondere Geschäftskunden bekommen häufig auf ihre Bedürfnisse zuge-


schnittene Versicherungsprodukte. Unternehmen wie General Electric in Hongkong
profitieren davon schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Nahezu alle großen amerika-
nischen Unternehmen nutzen im Rahmen ihrer Globalisierung die ausländischen Türen,
die ihnen von AIG geöffnet werden. So können sie Vermögenswerte und Interessen im
Ausland versichern und vor politischen Risiken, nicht zahlenden Geschäftskunden, Kid-
napping, Erpressung und Ansehensschädigung schützen sowie Garantieprogramme für
Produzenten von Spielzeug bis hin zu Mobiltelefonen gestalten. Gegenwärtig konzent-
rieren sich die Produzenten mehr auf Vorsorgemaßnahmen und Versicherungen für die
Risiken des 21. Jahrhunderts. Ein Beispiel dafür ist die Lieferkettenversicherung,7 bei
der sich das Unternehmen gegen Gewinnverluste durch unerwartete Verzögerungen bei
Lieferanten zum Beispiel durch den Ausbruch der Schweinegrippe, Personalausfall oder
ein Transportverbot versichern kann. Ein anderes Beispiel ist die Versicherung gegen
Datenschäden durch Cyberkriminalität und Ansehensschädigung durch eine Cyberatta-
cke. Mit diesen innovativen Produkten bietet AIG Sicherheit vor Risiken, die nicht von
anderen gedeckt werden.

Kanäle: Engmaschiges Beziehungsnetzwerk und Informationen


AIG bietet Produkte für Verbraucher und den Geschäftsmarkt. Die Art der Kanäle unter-
scheidet sich dabei stark je nach Produkttyp und Kundengruppe sowie je nach Marke-
tingbereich, Vertrieb und Kundenkontakt. Gearbeitet wird mit eigenen Beratern und
Vertretern, aber auch mit Vermittlern und Versicherungsmaklern. Wirklich auffällig
an AIG sind seine Beziehungsnetzwerke und die Informationen, über die es verfügt.
In Kombination mit dem Fokus auf Risiken weist das Versicherungsgeschäft bei AIG
auch Merkmale auf, die an Geheimdienste wie MI5 oder CIA erinnern. AIG unterstützt
die internationale Expansion der USA und der amerikanischen Unternehmen und im
Gegenzug kann es natürlich vom Erfolg mitprofitieren. Die Netzwerke der Privat- und
Geschäftskunden von AIG sind eng verflochten mit den amerikanischen Landsleuten in
Behörden, Instanzen und Unternehmen. Das hilft beim Verkauf, öffnet Türen vor Ort für
alle Parteien und bietet auch die Möglichkeit, sich über Risiken besser auf dem Laufen-
den zu halten und entweder sie zu eliminieren oder ihnen aus dem Wege zu gehen.
Das Management von AIG investiert viel Zeit in den Aufbau eines umfassenden und
qualitativ hochwertigen Netzwerks mit lokalen Stakeholdern in jedem Land, in dem es
aktiv ist. 1981 hat AIG eigens dafür ein Institut gegründet: das International Advisory Board
(IAB). Hier kommen viele der Personen aus dem Netzwerk von AIG regelmäßig zusam-
men, um die wichtigsten Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene miteinan-
der zu besprechen. Mitglieder des IAB waren unter anderem (ehemalige) Minister wie zum
Beispiel Aritoschi Soejim oder kamen aus dem Management internationaler Unternehmen
wie Edwin Stopper von der Schweizer Bank Leu und Yuet-Keung Kan, Vorsitzender der
Bank von Ostasien. Henry Kissinger war lange Zeit Vorsitzender dieses Instituts.

7Website AIG (2014).


10  Teilung besonderer Risiken 381

Informationen sind logischerweise sehr wichtig und von vitalem Interesse für das eigene
Unternehmen und für die Kunden. Diese Erkenntnis nehmen sich die Verantwortlichen des
Unternehmens bereits in den Anfangsjahren zu Herzen. Schon 1926 eröffnet AIG mit der
American International Underwriters Cooperation ein erstes Verbindungsbüro in New York.
Hier werden mit verschiedenen amerikanischen Unternehmen Informationen und Erfahrun-
gen ausgetauscht wie zum Beispiel Wissen darüber, wie man Geschäfte macht in China
(vgl. Starr Foundation 1970). Später bringt der Geschäftsbereich AIG Global Economics
das Executive Briefing Book heraus, eine Art von Business Intelligence, in der strategische
Risikoanalysen von AIG mit Kunden und Geschäftspartnern geteilt werden. AIG bietet sei-
nen Kunden weitere Initiativen dieser Art wie etwa den China Monthly Report. Ziel sind
ein zusätzlicher Service und die Risikominderung für Kunden.

Betrieb: Risiken verstehen, streuen und beeinflussen


AIG bietet die folgenden drei primären Produktgruppen: Schadenversicherungen,
Lebensversicherungen und Rentenversicherungen. AIG Property Casualty bietet Versi-
cherungsprodukte für Geschäftskunden, Einrichtungen und Privatpersonen. AIG Life
and Retirement bietet Lebensversicherungen und Rentenversicherungen in den USA.
Das alles erfordert optimierte Prozesse und die dazugehörige Automatisierung in den
verschiedenen Geschäftsbereichen innerhalb von AIG. Die übrigen Aktivitäten konzen-
trieren sich auf unterschiedliche Finanzdienstleistungen und insbesondere auf den Han-
del am Kapitalmarkt, die Tätigung von Investitionen und den Schutz dieser Investitionen
(Abb. 10.6 und 10.7).
AIG operiert mit einem Profit Center Ansatz. Jeder Markt bzw. jede Nische hat
einen separaten Bereich, der bzw. die für Gewinn und Verlust verantwortlich ist – vom
Moment der Risikoakzeptanz bis zur Abwicklung der Forderungen. Demzufolge ist der
Erfolg direkt mit dem Gewinn verknüpft, der mit der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz
eines Risikos für die gegenüberstehende Prämie generiert werden kann. Auf diese Weise
konzentrieren sich die verschiedenen Profitcenter darauf, den Verkauf und die Akzep-
tanz, das Risiko selbst und die dazugehörigen Kosten so gut wie möglich unter Kont-
rolle zu halten. Jedes Profitcenter geht der gleichen Art von Aktivitäten nach, allerdings
auf seinem jeweiligen Nischenmarkt. Um Risiken zur angemessenen Prämie zu akzep-
tieren, spielen Informationen wiederum eine essenzielle Rolle. Deshalb fokussiert sich
der Betrieb stark auf Experten und die Aneignung von Fachwissen. Da AIG international
tätig ist, hat es dabei Zugang zu internationalen Informationen und Daten, die für immer
bessere Einschätzungen von Risiken verwendet werden.
Starr Technical Risk Agency ist ein Beispiel für so ein Profit Center von AIG. Es
wurde 1967 gegründet und konzentriert sich auf die Öl- und Gasindustrie in den USA.
Die technischen Kenntnisse und Erfahrungen von AIG außerhalb der USA wurden sofort
berücksichtigt und haben dafür gesorgt, dass AIG die besten Risikoeinschätzungen
erstellen kann und Marktführer auf diesem Nischenmarkt ist.
382 J. Kemperman et al.

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Die nötige Sicherheit, um als • Internationaler Marktführer für
Privatperson oder als Unternehmen Schadenversicherungen. Signifikante
überall zu wirtschaften, auch wenn die Position in weiteren Märkten wie
Risiken groß und komplex sind Lebens- und Rentenversicherungen

+ Wettbewerber
Prozess Wie bekomme ich es? • International begrenzter Wettbewerb
• Sofern erforderlich, wird die in puncto großer Risiken durch
Versicherung exakt auf meine Rückversicherer, nationaler
Bedürfnisse zugeschnitten Wettbewerb durch die jeweiligen
+ großen Versicherungsunternehmen

Gefühl Was fühle ich dabei?


• Vertrauen, dass das Risiko gut Zielgruppe
eingeschätzt und gedeckt wird, und • Geschäftskunden: Komplexe
deshalb Handelsfreiheit Nischenmärkte
• Privatkunden: Auch
Allerweltsversicherungen

Preis Was kostet es? Kundeneinblicke


• Eine dem Risiko angemessene Prämie • Jedes Risiko ist zu decken, und das
+ schafft Raum für Unternehmungen
auch unter unsicheren Bedingungen
Aufwand Was muss ich dafür tun? und in risikobehafteten Ländern
• Einblick geben in die Risiken, die man
versichern lassen möchte

+
Risiko Wie unsicher ist es?
• AIG ist sehr sicher

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 10.6  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von AIG


10  Teilung besonderer Risiken 383

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Betrieb gemäß Profit Center Ansatz • Besonders starke Marke auf
• Optimierte Verarbeitung und internationaler Ebene
Automatisierung • Persönliche, schnelle und individuelle
• Streuung von Risiken durch intelligente Hilfe für Privat- und Geschäftskunden
Versicherung und Investition • Über professionelle Vermittler und die
• Die Risiken mit Branchenfachwissen eigene Organisation mit
und exzellenten Analysen wirklich Marktempfehlungen hinsichtlich großer
ergründen und komplexer Risiken
• Internationale Erfahrung mit und Daten
von Menschen und Systemen Kundenkontakt & Zusatzdienste
• Neben dem regulären, nationalen
Lieferanten & Partner Kundenkontakt auch internationale
• International agierende Behörden lokale Netzwerke
• Rückversicherer • Informationen und strategische
Analysen
• Beeinflussung von Risiken durch den
Einsatz des professionellen Netzwerks
und die Information von Kunden

Abb. 10.7  Betrieb und Kanäle von AIG


384 J. Kemperman et al.

10.2.3 Das Ergebnis: Jede Belohnung

AIG hat einen sich selbst stärkenden Zyklus geschaffen. Die Technik- und Risikoanalysen
von AIG auf der Grundlage seiner Fachkompetenz und Geschäftsbeziehungen sind überra-
gend. Dadurch werden sein Ruf und seine Anziehungskraft als Geschäftspartner für alle
Beteiligten verbessert und das Unternehmen wird zu einem unabkömmlichen Partner auf
unbekanntem Terrain. So werden wiederum neue Kunden, Mitarbeiter, Anteilseigner und
Behörden angezogen. Und das wiederum stärkt die Netzwerke und Informationen, wodurch
AIG in puncto Anwerbung und Bindung neuer Kunden für die Wettbewerber unerreichbar ist.
Der Bereich Schadenversicherungen von AIG ist mit über 70 Mio. Geschäfts- und Pri-
vatkunden globaler Marktführer. AIG macht Geschäfte mit 98 % der Fortune-500-Unter-
nehmen sowie mit 90 % der Fortune-Global-500-Unternehmen und versichert darüber
hinaus 40 % der reichsten Amerikaner. Es ist die Nummer eins unter den kommerziellen
Versicherungsgesellschaften in den USA und die Nummer eins unter den ausländischen
Schadenversicherungen in Japan und China. In anderen Regionen der Welt wie beispiels-
weise Europa, Nahost und Afrika ist es das größte amerikanische Schadenversicherungs-
unternehmen. In Lateinamerika baut AIG seine Position stark aus.
Die Aktionäre von AIG sind unterschiedlich – von großen Rentenfonds bis hin zu
Privatinvestoren. Ein Großteil des Managements von AIG ist über Starr International
Company (SICO) selbst auch Aktionär. Bis 2008 ist AIG eine Top-Investition. Umsatz,
Gewinn und Börsenwert weisen ein stabiles Wachstum auf, und das Unternehmen erhält
darüber hinaus eine Triple-A-Bewertung durch Ratingagenturen. So ist es für viele Akti-
onäre ein stabiler Kern im Aktienportfolio. Im Rahmen der finanziellen Unterstützung
wird die amerikanische Regierung Großaktionär mit gut 92 % der Gesamtaktien. Ein
anderer Großaktionär ist SICO mit einem Anteil von 8 %. Die bestehenden Aktionäre,
darunter der ehemalige Hauptgeschäftsführer Greenberg, verlieren damit Börsenwert
und Eigentum. Gegenwärtig besteht die größte Aktionärsgruppe von AIG aus Instituten.
Nach der Neustrukturierung sind das Betriebsergebnis und die Entwicklung des Aktio-
närswerts wieder gesund mit einem Umsatz von mehr als 65 Mrd. US$ (61 Mrd. EUR)
und einem Gewinn von fast sieben Milliarden Dollar (6,6 Mrd. EUR) im Jahr 2013 und
einem Unternehmenswert von nahezu 100 Mrd. US$ (94 Mrd. EUR) Ende 2014.
Die Unternehmenskultur erinnert vor allem in den Anfangsjahren etwas an einen
Familienbetrieb. Das zeigt sich insbesondere immer dann, wenn es notwendig ist. Ein
gutes Beispiel dafür ist der Regimewechsel in Kuba, wo AIG zu dem Zeitpunkt sehr
erfolgreich ist. Als Fidel Castro die Macht übernimmt, sorgt Vander Starr dafür, dass
Mitarbeiter die Möglichkeit haben, in die USA auszureisen – mit der Aussicht auf eine
neue Stelle bei AIG. Insgesamt machen 70 Familien Gebrauch von dieser Möglichkeit
(Starr Foundation 1970, S. 14).
Die Kultur bei AIG ist in hohem Maße auf Engagement und Langzeitbeziehungen
ausgerichtet. Die Mitarbeiter stehen im Mittelpunkt: Sie werden nach Qualitätskriterien
ausgewählt und nach Kräften unterstützt, um das Beste aus sich herauszuholen. Dabei
spielt beispielsweise die Herkunft keine Rolle. Dieses Credo ist tief in der Unterneh-
menskultur verwurzelt. Bereits 1919 arbeitet Vander Starr mit einheimischen Mitarbei-
10  Teilung besonderer Risiken 385

tern, denen er auch Positionen mit einer großen Verantwortung anvertraut. Seine ersten
beiden Angestellten sind Chinesen, was seinerzeit für viel Aufsehen sorgt. Über die Art
und Weise, wie er mit Menschen umgehen will, äußert sich Vander Starr folgenderma-
ßen: „Ein gutes Unternehmen ist nicht mehr als die Summe der Anstrengungen fähi-
ger Menschen, ihre Talente so einzusetzen, dass das, was sie machen, am besten wird.
Manchmal begegnet mir ein Mensch mit einem inneren Feuer, ein Mensch, der in seinem
Element ist, in seinem Kosmos. Und wenn ich ihn finde, unterstütze ich ihn.“
Diese Art der Auswahl führt von Anfang an die richtigen Mitarbeiter zum Unterneh-
men. Für beide Seiten ist es eine Win-win-Situation: Das Unternehmen bekommt gute
Mitarbeiter und die Mitarbeiter bekommen Vertrauen und einen herausfordernden Job,
bei dem sie auch die Möglichkeit haben, sich auf unbekanntem Terrain zu entwickeln
(vgl. Starr Foundation 1970). Die Unternehmenskultur wird durch die Profit Center
unterstützt, die sie auch tatsächlich wie ihr eigenes Unternehmen managen. Gleichzeitig
macht genau das das Unternehmen wiederum anfällig, wenn es keine Schutzvorrichtun-
gen gibt und Risiken geteilt werden, wie sich im Jahr 2008 gezeigt hat. Des Weiteren
investiert AIG in die Gesundheit und Entwicklung seiner Mitarbeiter. So werden bei-
spielsweise Hochschulstudiengänge bezahlt und eine Online-Karriereplattform betrie-
ben, um Mitarbeiter bei der Wahl des passenden Karrierewegs zu unterstützen.
Wenn Länder die Wirtschaft ankurbeln wollen, ist AIG als überzeugter Missionar
des Kapitalismus ein guter Partner. Es bietet die Sicherheit und Garantie für Wachstum
des internationalen Handels und Unternehmertums. Mit den Versicherungsfonds wer-
den auch Investitionen im Land selbst vorgenommen, um Länder wirtschaftlich weiter-
zuentwickeln und ihnen zu helfen, eine stabile Wirtschaft aufzubauen. AIG investiert in
lokale Infrastruktur, Unternehmen und Industrie. Das ist übrigens nicht nur im Interesse
der Gesellschaft, sondern auch im eigenen Interesse von AIG: Je stärker das Wirtschafts-
wachstum ist, desto größer ist der zukünftige Markt, und wenn man als Unternehmen in
den Aufbau eines Landes investiert hat, genießt man dort hohes Ansehen und hat eine
starke Position. Als Investor wendet es sich mit seinen Investitionen auch an Initiativen,
die gut für die Gesellschaft sind. So ist AIG schon seit 30 Jahren der größte Investor
in grüne Energie mit Investition in Höhe von zwei Milliarden Dollar (1,88 Mrd. EUR)
in Windenergie, Solarenergie, Erdwärme und weitere grüne Projekte weltweit. 2013 hat
AIG über 30 Mrd. US$ (28,2 Mrd. EUR) in Obligationen investiert, mit denen Sozial-
programme für Bildung und Erziehung sowie der Bau von Krankenhäusern, Feuerwehr-
und Polizeigebäuden und Transportsystemen finanziert werden (Abb. 10.8).

10.2.4 Die brillanten Lektionen von AIG

Was können wir von AIG lernen?

• Die Produkte auswählen, in denen man am besten sein will: AIG unterscheidet sich
durch die komplexen und großen internationalen Risiken und baut darauf seine Orga-
nisation, Kernqualitäten und Netzwerke.
386 J. Kemperman et al.

Wert für und durch Kunden


• Über 70 Millionen Geschäfts- und Privatkunden, die AIG als Partner die Treue halten
• Verschiedene Preise und Auszeichnungen: CX Excellent Award 2013 der Temkin Group,
AIG Asia Pacific, ACE 2014 (Achievement in Customer Excellence) Award for Travel, Best
Commercial Insurance Provider Risk Manager Choice Award 2013

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter


• Vor der staatlichen Unterstützung im
Zuge der Finanzkrise fast ein Jahrhundert
lang stabiles Wachstum, das für eine
„zuverlässige“ Aktie sorgt, die in vielen Portfolios
als Basisaktie gesehen wird Wert für und durch Anteilseigner
• Sogar für den Staat eine notwendige, aber • Langzeitbeziehungen mit den
letztlich doch einträgliche Investition Mitarbeitern
• Gegenwärtig wieder eine relativ stabile und • Entfaltungs- und
gewinnbringende Investition mit einem Umsatz Aufstiegsmöglichkeiten unabhängig
von über 65 Milliarden USD (61 Milliarden EUR) von der Herkunft
und einem Gewinn von 6,8 Milliarden USD • Mitarbeiter fühlen sich als Eigentümer
(6,4 Milliarden EUR) im Jahr 2013 ihres Profit Centers und zahlen es mit
• Unternehmenswert Ende 2014 fast zusätzlichem Einsatz zurück
100 Milliarden USD (ca. 94 Milliarden EUR

Wert für und durch die Gesellschaft


• Grundlage für internationalen Handel und Unternehmertum
• Wirtschaftswachstum und Investitionen im Land selbst
• Treffer: 31.200.000 (Google)
• Positive Bewertung Top 25: 60 % (Google)
• Zahlreiche Business Insurance Innovation Awards wie beispielsweise für „Parity
and Prospectus Edge“
• Innovation Awards 2014: AIG Multinational Program Design Tool

Abb. 10.8  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von AIG


10  Teilung besonderer Risiken 387

• Überragend in puncto Informationen sein: AIG ist immer Klassenbester, wenn es um


Risiken und Sicherheit geht. Auf diese Weise macht das Unternehmen intelligenter
Geschäfte und ist ein unabkömmlicher Partner, was über das reine Versichern gegen
eine Prämie hinausgeht, wenn man sich auf unbekanntes Terrain begibt.
• In das eigene Netzwerk investieren: Das internationale Netzwerk, das AIG aufgebaut
hat, ermöglicht dem Unternehmen, Geschäfte auf der ganzen Welt zu tätigen und die
besonderen Produkte zu bieten, durch die es sich unterscheiden will und mit denen es
sich bestens auskennt.
• Sein Business immer verstehen: AIG geriet in Schieflage, als es – basierend auf der
falschen Annahme, dass es nicht scheitern könne – keine Übersicht mehr über die
Risiken hatte, die es auf sich genommen hatte.
• Seinen Werten treu bleiben: Eine der wichtigsten Lektionen und Erkenntnisse ist,
dass es wichtig ist, an seinen Kernwerten festzuhalten. Wenn man über hervorragende
Informationen und Fachkenntnisse verfügt, muss man sich nicht mit Produkten und
Risiken auseinandersetzen, die man nicht bis ins kleinste Detail versteht. Darüber hin-
aus muss man an den Grundprinzipien festhalten, wie beispielsweise die Realisierung
einer gesunden Versicherungsrendite für jedes einzelne Produkt (es gehen mehr Prä-
mien ein als Forderungen hinausgehen) und dafür sorgen, dass man nicht mit Immo-
bilien arbeitet, die weniger wert sind als die geliehene Summe.

10.3 Credit Suisse

Die in diesem Abschnitt dargestellte Fallstudie wurde von Karen Willemsen und Jeroen Geelhoed
verfasst.

Schweizer Präzision mit Innovation in Form von Cat-Bonds


Prolog
In den Schweizer Bergen, etwa 1000 km von hier entfernt, blicken Onkel Urs und
mein kleiner Bruder aus dem Fenster auf den fallenden Schnee. Es sieht nach einer
dicken Schneeschicht aus, auf der man herrlich rodeln kann. Schon seit Monaten
träume ich davon, einen Berg hinabzusausen. Der Überlandbus fährt vorbei. Die ers-
ten Wintersportler stehen mit ihren Skiern und Snowboards in der Hand schon bereit,
um sich wieder einen schönen Urlaubstag zu machen. Währenddessen spielen meine
Eltern mit meiner kleinen Schwester noch eine Partie Kniffel im Wohnzimmer. Aus
der Küche zieht in der Zwischenzeit der herrliche Duft der frischgebackenen Mandel-
torte meiner Tante Hanneke ins Zimmer. Mein kleiner Bruder ruft mich. Er hat etwas
entdeckt. Schau mal da drüben! Er zeigt nach draußen. Da, Lichter! Und tatsächlich.
Hinter dem dunkel schimmernden Wasser des Rheins fährt etwas. Etwas Rotes mit
Weiß bahnt sich seinen Weg durch die Berge. Es sieht aus wie ein Zug. Urs, wohin
fährt dieser Zug? In den Süden nach Italien oder nach Frankreich? Und dann beginnt
Onkel Urs zu erzählen. Vor gut 150 Jahren lebte ein Schweizer mit viel Weitblick,
388 J. Kemperman et al.

ohne den es diesen Zug vielleicht nicht geben würde. Für viele ist er auch der Grün-
dervater des überragenden Schweizer Finanzsektors und der Industrialisierung der
kleinen Alpenrepublik. Die Rede ist von Alfred Escher, einem Politiker und Unterneh-
mer aus Zürich.
Einleitung
1856 gründet Alfred Escher die Schweizerische Kreditanstalt, die später unter dem
Namen Credit Suisse firmiert. Das Ziel dieser Bank ist die Finanzierung von Infra-
strukturprojekten, bei denen es um die Verlegung von Schienen und Elektrizitätslei-
tungen geht. Es werden Schienen für bekannte Verbindungen verlegt, zum Beispiel
zwischen Zürich und Konstanz am Bodensee. Diese Strecke verläuft quer durch den
hohen Berg Romanshorn hindurch. Außerdem werden auch Zürich und Basel mit-
einander verbunden und 1882 der Gotthardtunnel eröffnet. Schon in jungen Jahren
begreift Escher, dass ein gut ausgebautes Transport- und Streckennetz für die Schweiz
und die Kommunikation ihrer Bewohner untereinander von erheblicher Bedeutung ist.
Infolge großer finanzieller Verluste in der Landwirtschaft, in der Rohstoffförderung
und im internationalen Handel am Ende des 19. Jahrhunderts gründet Credit Suisse
auch Versicherungsgesellschaften. So wird aufgrund der negativen Ergebnisse von
Credit Suisse die Versicherungsgesellschaft Schweizer Rück gegründet. 1900 wei-
tet die Bank ihre Prioritäten auch auf Retailbanking aus. Mit dem Aufkommen der
Mittelschicht und einer wachsenden Popularität von Sparkonten nimmt die Nach-
frage danach zu. Gleichzeitig wächst auch die Nachfrage nach Projektfinanzierun-
gen für die weitere industrielle Entwicklung der Schweiz. Diese zwei Säulen von
Credit Suisse bestehen heute immer noch. Das Herzstück ihrer heutigen Aktivitäten
ist immer noch die Projektfinanzierung als Bestandteil ihrer Geschäfte im Bereich
Investmentbanking. Mit über 45.000 Mitarbeitern in 150 Ländern bietet Credit Suisse
seinen Kunden integrierte Produkte einerseits aus seiner Sparte Private Banking &
Wealth Management und andererseits Produkte aus seiner Sparte Investmentbanking.8
Mit einem Marktwert von über 36 Mrd. EUR und einem Ergebnis vor Steuern von
fast drei Milliarden Euro im Jahr 2013 ist Credit Suisse eine der weltweit größten und
rentabelsten Banken.
Der Weitblick von Alfred Escher ist in der Schweizer Bank tief verwurzelt. Credit
Suisse spielt häufig eine entscheidende Rolle in aktuellen politischen Diskussionen
in der Schweiz. Charakteristisch für Credit Suisse ist auch, dass die Bank über Jahre
hinweg Trends in der Umgebung ihrer Kunden ziemlich schnell antizipiert. Neben
den bereits erwähnten Beispielen ist die Entwicklung eines eigenen Code of Conduct
with Regard to the Exercise of Due Diligence im Jahr 1970 ein gutes Beispiel. Als
Reaktion auf den illegalen Transfer von 900 Mio. EUR auf italienische Konten über
das Tochterunternehmen in Chiasso entwickelt Credit Suisse zusammen mit ande-
ren Schweizer Banken diesen Verhaltenskodex für alle seine Mitarbeiter (Time 1977,

8https://www.credit-suisse.com/ch/en/about-us/who-we-are/at-a-glance.html.
10  Teilung besonderer Risiken 389

S. 82). Viele andere Banken aus verschiedenen Ländern folgen diesem Beispiel erst
nach den jüngsten Finanzskandalen im Jahr 2008 (vgl. Campbell und Follain 2008).
Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das reiche Fundament von Credit Suisse.

10.3.1 Das Fundament: Vorausdenken

Im Kern von Credit Suisse befindet sich eine große vorausdenkende Kraft. Der Aus-
gangspunkt liegt gut 150 Jahre zurück und heißt Alfred Escher. Im gemeinsamen Inte-
resse seines Bauunternehmens und des Schweizer Staats denkt er voraus. Dieser
Weitblick zeigt sich auch heute noch immer wieder. Einige aktuelle Beispiele sind die
Teilnahme von Credit Suisse an Nachhaltigkeitsdiskussionen (vgl. Dumelin 2014), die
frühzeitige Definition der Zielgruppe für seine Finanzlösungen und die kürzliche Zusam-
menlegung von verschiedenen Unternehmensbereichen, um so seinen Kunden die rich-
tigen integralen Finanzlösungen bieten zu können. Diese vorausdenkende Kraft schließt
sich nahtlos an das höhere Ziel der Bank an: Standards für das Angebot integrierter
Lösungen für Kunden festlegen. Das Bieten integrierter Lösungen ist etwas, was zum
Kunden von heute passt. Die Welt ist kleiner geworden und mit den Möglichkeiten, die
das Internet, die Mobiltelefonie und der weltweite Flugverkehr den Menschen bieten,
ist es zu einer Anforderung geworden, Kunden in kongruenter Weise zu dienen. Credit
Suisse hat sich zum Ziel gesetzt, darin nicht nur gut zu sein, sondern dafür auch den
Maßstab zu setzen und zu sein. Die Möglichkeit, genau das zu realisieren, ist im Unter-
nehmen tief verwurzelt. Weil Credit Suisse sowohl in der Schweiz als auch im Ausland
immer nah am Kunden ist und bleibt, kann es Trends in den Wünschen und Anforderun-
gen seiner Kunden rechtzeitig erkennen. Indem das Unternehmen immer ein offenes Ohr
für seine Kunden hat, ihre tatsächlichen Bedürfnisse versteht und ihnen entsprechende
Finanzlösungen bietet, ist es in der Lage, sein Ziel zu erreichen.
Ein Großteil der Unternehmenswurzeln und immer noch mehr als ein Drittel der Mit-
arbeiter befinden sich in der Schweiz. Es werden enge Beziehungen mit Kunden in der
Schweiz und auf der ganzen Welt gepflegt. So bleiben die Schweiz und Credit Suisse eng
miteinander verbunden und lernen und profitieren in vielerlei Hinsicht voneinander. Für
einen Großteil der Schweizer Bevölkerung ist Credit Suisse die wichtigste Bank, aber
umgekehrt sind Credit Suisse und seine Mitarbeiter wiederum wichtig für die Schweiz
und ein großer Steuerzahler.9 Wenn Credit Suisse den Grund für sein Bestehen auch
zukünftig unter Beweis stellt, wird das zwangsläufig zu seinem gewagten Ziel führen,
die angesehenste Bank der Welt zu werden. Die Anerkennung seiner außerordentlichen
Kompetenz im Bereich Private Banking, Vermögensverwaltung und Investmentbanking
geben dem gewagten Ziel von Credit Suisse eine Richtung. Im Gegenzug verspricht
Credit Suisse Stakeholdern, überragende Produkte, Services und Ergebnisse zu liefern.
Selbstverständlich geht das Hand in Hand mit der Wertschöpfung für Aktionäre.

9https://www.credit-suisse.com/nl/en/about-us/who-we-are/public-policy/switzerland-and-credit-

suisse.html.
390 J. Kemperman et al.

Ein Beispiel eines überragenden Produktes, das von Credit Suisse auf den Markt
gebracht wurde, sind die sogenannten Katastrophenbonds oder kurz Cat-Bonds, die einen
Teil des Risikos von beispielsweise großen Naturkatastrophen für Versicherer decken.
Cat-Bonds sind ein neues Phänomen, weil sie große Risiken decken können. Risiken,
die von einzelnen Versicherern nicht mehr zu decken sind. Cat-Bonds bieten zahlreichen
Investoren die Möglichkeit, für einen Teil des Risikos verantwortlich zu zeichnen. Credit
Suisse ist einer der Vorreiter auf dem Gebiet der Cat-Bonds. Es ist eine neue Erfindung,
die gleichzeitig auf den Kern des Versicherns zurückgeht. Deshalb gehen wir hier etwas
näher darauf ein. Früher wurden für das Versichern von Risiken bei großen Naturkata-
strophen in erster Linie Rückversicherungsprodukte und Konstruktionen über Versiche-
rungsmakler wie bei Lloyd’s in Anspruch genommen. Cat-Bonds bieten eine Alternative,
weil Investmentbanken den Investoren das Risiko aufbürden, die als Teil ihres Investi-
tionsportfolios ein spezifisches Risiko, wie etwa die Folgen einer Naturkatastrophe, im
Gegenzug für eine höhere Rendite tragen wollen. Prinzipiell wird bei Cat-Bonds ein
Investmentfonds eröffnet, mit dem das Geld beispielsweise sicher in Staatsschuldtiteln
angelegt wird, der bei einer bestimmten Katastrophe jedoch auch als Sicherheit und
Deckung genutzt wird. Die Versicherungsprämie dafür (z. B. 3 % des maximalen Scha-
dens bzw. der Fondshöhe) wird zu den Zinsen für die Staatsschuldtitel addiert.

Was ist ein Cat-Bond?


Cat-Bonds sind eine Art Katastrophenanleihen, denen Versicherungen gegen Kata-
strophen zugrunde liegen (vgl. Aalbers 2013). Diese Bonds funktionieren wie folgt.
Amerikanische Großstädte lassen sich beispielsweise gegen Naturgewalten wie
Tornados, Überflutungen usw. versichern. Versicherer fordern dafür eine Prämie,
d. h. hohe Beträge, zumal wenn es um große Finanzzentren oder noble Vororte
geht. Das Problem besteht darin, dass der Schaden bei einem tatsächlichen Tornado
oder einer tatsächlichen Überflutung so hoch sein kann, dass selbst der Versicherer
nicht über genügend Mittel verfügt, um für den Schaden aufzukommen. Wenn die
Verkäufer von Cat-Bonds erklären sollen, warum Versicherer bereit sind, so hohe
Zinsen zu bezahlen, kommen sie deshalb immer mit dem historischen Beispiel von
Hamburg. Als die Hansestadt 1842 bis auf die Grundmauern abbrannte, machte die
gesamte deutsche Versicherungsbranche Bankrott. Auch der astronomisch hohe
Schaden nach dem Hurrikan Katrina im Jahr 2005 wird gern als Beispiel angeführt.
Das heißt, dass dieser durch Naturkatastrophen verursachte Schaden Versicherer
zwingt, darüber nachzudenken, wie sie einen Teil des mit einer Naturkatastrophe
verbundenen Risikos ‚weiterverkaufen‘ können. Was der Versicherer tun kann, ist
einen (teuren) Rückversicherer zu suchen, ein Institut, das als Anleger im Ernstfall
so viel Geld mobilisieren kann, dass es beispielweise die durch einen Hurrikan wie
Katrina verursachten Schäden bezahlen kann. Alternativ kann er, und das machen
Versicherer auch in zunehmendem Maße, Investoren durch die Ausgabe von Obli-
gationen teilhaben lassen. Die Devise lautet: „Teile das Risiko. Gemeinsam ist man
stärker“ (Van Os 2008). Das ist das Prinzip der Cat-Bonds.
10  Teilung besonderer Risiken 391

Produkte wie Cat-Bonds passen zu den Kernwerten von Credit Suisse. Im Kern strebt
Credit Suisse ein kontinuierlich optimales Verhältnis zwischen Qualität und Kosten an.
Bereits in der Anfangsphase der Bank zeichnet sich Credit Suisse durch eine konserva-
tive Haltung gegenüber risikoreichen Projekten aus. Die Tatsache, dass Credit Suisse
als eine der am wenigsten in Mitleidenschaft gezogenen Banken aus der Krise gekom-
men ist (vgl. Shotter und Schäfer 2014), ist eine logische Konsequenz dieser prakti-
zierten Haltung. Das geht einher mit dem Bieten von nachhaltigen Lösungen durch
Weitblick. Credit Suisse selbst nennt Innovation nicht als einen Kernwert, den es bei
seinen Mitarbeitern sucht. Dennoch wird Innovation bei eingehender Betrachtung die-
ser Fallstudie sehr wohl als Kernwert sichtbar. Sehr bewusst schafft Credit Suisse die
richtige Umgebung für Innovation. Es geht nicht so sehr darum, ins kalte Wasser zu
springen, sondern vor allem darum, schlaue Lösungen zu bieten, mit denen kompli-
zierte Probleme wieder beherrschbar und behebbar gemacht werden. Wie man sich
eigentlich denken kann, ist Credit Suisse in puncto Schweizer Präzision und Intelli-
genz am besten. Durch die Förderung von Zusammenarbeit und die Belohnung inte-
graler Lösungen bekommt Credit Suisse das, was es will. Als Arbeitgeber will Credit
Suisse die Anwerbung der besten und unterschiedlichsten Talente (vgl. Robert Toigo
Foundation 2010). Sie bilden die Grundlage für seine integrierten innovativen Pro-
dukte. Indem die Bank ihre Mitarbeiter immer wieder herausfordert und sie innerhalb
des Unternehmens häufig rotieren lässt, entsteht im gesamten Unternehmen Stabili-
tät und Lernvermögen. Mit einem Fokus, der auf die richtige Lösung für die Kunden
gerichtet ist, sorgt Credit Suisse dafür, dass das Ziel stets vor Augen bleibt und ohne
viele Umwege erreicht werden kann (Abb. 10.9).
Durch die Kombination der verschiedenen Werte von Credit Suisse entsteht die größte
Qualität der Bank: Kunden dabei helfen, ihre individuellen Ziele zu erreichen. Der
schönste Beweis dafür ist die kürzlich lancierte Kampagne des Unternehmens, bei der
die Träume von Unternehmern skizziert wurden, für deren Realisierung wiederum die
Unterstützung von Credit Suisse ausschlaggebend war. So hatte Tony Fernandes vor gut
zehn Jahren den Traum, mit Air Asia „jeden fliegen zu lassen“.10 Credit Suisse räumte
ihm seinen ersten Kredit in Höhe von 30 Mio. US$ (28 Mio. EUR) ein. Durch den Glau-
ben an Air Asia und sein Führungsteam entstand eine Geschäftsbeziehung, bei der Credit
Suisse mit seinem Kunden mitgewachsen ist – in guten Zeiten und in Zeiten von Heraus-
forderungen, um das beachtliche Wachstum kontinuierlich möglich machen zu können.

10.3.2 Das Businessmodell: Mit dem Kunden vorwärtsgehen

Marktsegment: UHNWI und kundenorientierte Geschäfte


Credit Suisse hat sich für eine klare Zielgruppe entschieden und kürzlich seinen Fokus
auf eine Gruppe von Menschen mit sehr viel Geld eingegrenzt: die Ultra High Net Worth
Individuals (UHNWI).

10http://www.airasia.com/sa/en/about-us/corporate-profile.page.
392 J. Kemperman et al.

Markenkern: Immer flexibel sein, um die richtigen Finanzlösungen zu bieten

Höheres Ziel Gewagtes Ziel


• Maßstäbe im Bieten integrierter • Die angesehenste Bank werden, die
Lösungen setzen Anerkennung für ihre
außergewöhnliche Kompetenz im
Markenursprung Bereich Private Banking,
• 1856 von Alfred Escher gegründet Vermögensverwaltung und
Investmentbanking findet
• Wachstum und Erfolg durch Weitblick
Markenversprechen
• Die Lieferung überragender Produkte,
Services und Ergebnisse

Markenkern
Was ist der fundamentale Kern?

Höheres Ziel
Warum existieren wir?

Kernwerte Gewagtes
Wofür stehen wir?
Ziel
Wohin gehen wir?

Kernqualitäten
Was zeichnet uns aus?

Kernwerte Kernqualitäten
• Nach Wert streben, das Verhältnis • Kunden dabei helfen, ihre
zwischen Qualität und Kosten individuellen Ziele zu erreichen
• Verantwortung
• Innovation Markenbeweis
• Exzellenz • Credit Suisse glaubte an Tony
Fernandes, als der Aufstieg von
Markenwerte AirAsia noch ein Traum war
• Credit Suisse ermöglichte Lenovo
• Zusammenarbeit
die Eroberung des brasilianischen
• Integrale Finanzlösungen
Markts
• Verschiedenheit
• Stabilität
• Zielstrebigkeit

Abb. 10.9  Leitbild und Positionierung von Credit Suisse


10  Teilung besonderer Risiken 393

Mit der Verkleinerung des Fokus auf diese Gruppe und dem gleichzeitigen Streben
nach einer effizienteren Organisation entsteht mehr Wert für Kunden und das Unterneh-
men selbst. Blickt man zurück auf die Entwicklungen, die Credit Suisse im Laufe der
Zeit durchgemacht hat, treten ähnliche Entscheidungen zutage. Zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts geht das Unternehmen von Projektfinanzierungen zu Private Banking über,
um Finanzlösungen für die aufkommende Mittelschicht zu bieten. Jahre später wird die
Position der Schweiz als neutraler Staat im Ersten Weltkrieg dazu genutzt, der wohl-
habenden Bevölkerungsschicht eine sichere Basis für ihr Vermögen zu bieten. Credit
Suisse entscheidet sich auch für eine deutliche Präsenz auf den Entwicklungsmärkten.
Insbesondere in Nord- und Südasien verfügt Credit Suisse über eine gute Marktposition
als erklärte Privatbank Nummer eins in Asien und Best Investment Bank in Indonesien,
Singapur, Vietnam und der Schweiz.11 Sowohl für den Unternehmensbereich Private
Banking als auch für die Sparte Investmentbanking hat das kundenorientierte Business
absolute Priorität. Die Entwicklung von Cat-Bonds passt genau dazwischen. Damit wer-
den zwar vor allem die Bedürfnisse von institutionellen Anlegern berücksichtigt, doch
über die Fonds erhalten auch wohlhabende Privatpersonen die Möglichkeit der Partizi-
pation. Weil die Bank immer ein offenes Ohr für ihre institutionellen Kunden und ihre
Herausforderungen hat, werden die Finanzprodukte auch immer kundenorientierter.
Als eine der weltweit größten Banken im Bereich Wealth Management bekommt Cre-
dit Suisse Konkurrenz von der größten Schweizer Bank für Vermögensverwaltung.
Credit Suisse unterscheidet sich durch eine höhere Stabilität. So war Credit Suisse im
Gegensatz zu UBS und Goldman Sachs (vgl. Sorkin 2010) nicht auf staatliche Finanzhil-
fen während der Krisenjahre 2007 bis 2009 angewiesen (vgl. McKinsey 2009).

Wertangebot für Kunden: Cat-Bonds als Beispiel für passende Produkte


Als Kunde bekommt man den Service und das Produkt, der bzw. das zu einem passt.
Wenn man als Kunde genau untersucht, was einem wichtig ist, und genau weiß, wie viel
Risiko man bereit ist zu tragen, sucht Credit Suisse nach der passenden Lösung. Die Ent-
wicklung von Cat-Bonds ist eine logische Folge davon. Es ist eine Frage des richtigen
Verstehens, wer was braucht und wer was bieten kann:

• Der Mangel an Deckung für die großen Risiken bei Versicherern wird dadurch beho-
ben, dass große Anleger diese Risiken sehr wohl übernehmen wollen. Der Druck durch
Risiken im Zusammenhang mit Naturkatastrophen auf Portfolios von Versicherern ist
zu hoch geworden. Für die Deckung von Risiken, die damit einhergehen, suchen sie
nach Alternativen. Im Fall einer Naturkatastrophe kann der Schaden häufig nicht mehr
mit den Versicherungsprämien oder der Rendite aus anderen Investitionen bei Versi-
cherungsgesellschaften gedeckt werden. Investoren sind häufig auf der Suche nach
einem gut gestreuten Portfolio und in einigen Fällen bereit, ein großes Risiko einzuge-
hen. Und eine Naturkatastrophe korreliert auf jeden Fall nicht mit dem Börsenkurs.

11https://www.credit-suisse.com/ch/en/about-us/media/awards/pb-wm.html.
394 J. Kemperman et al.

• Der Mangel an garantierten Renditen bei großen Anlegern wird behoben, weil es sehr
wohl eine Marge für das Versichern von Risiken gibt. Mit dem Rückgang garantierter
Renditen in den 1990er Jahren entsteht für Investoren eine Möglichkeit, mit ihrem
Vermögen für große Risiken zu haften. Banken füllen mit Cat-Bonds diese Lücke bei
Versicherungsgesellschaften und Investoren, wobei Credit Suisse eine Vorreiterrolle
einnimmt.

Natürlich bietet Credit Suisse noch viel mehr Produkte und Zusatzdienste. Das Unter-
nehmen verfügt weltweit über 344 Filialen für persönlichen Kontakt und ist darüber hin-
aus auch online und mobil erreichbar. Auf diese Weise sorgt Credit Suisse dafür, dass
man als Kunde ein Gefühl von Sicherheit, Vertrautheit und Geborgenheit bekommt. Der
Qualität und Anwendbarkeit der gebotenen Lösungen steht ein Marked-to-Market-Preis
gegenüber. Viele Produkte haben einen Tageskurs, sodass ein flexibler und angemessener
Preis geboten werden kann. So kann man darauf vertrauen, dass man beim Abschluss
seiner Finanzprodukte nicht zu viel oder zu wenig bezahlt. Dank der transparenten Nut-
zung von Marktpreisen braucht man nicht viel Mühe aufzuwenden, wenn man sich mit
einem Marktpreis zufriedengibt. Die Zeit und die Mühe, die Credit Suisse für die Suche
nach geeigneten, integrierten Lösungen für den Kunden aufwendet, zahlen sich also in
Form eines marktkonformen Preises aus.

Kanäle: Roger Federer als Galionsfigur


Vertrauen kommt zu Fuß und geht zu Pferd – oder eben dem Ferrari. Das trifft vor allem
auf Banken und Finanzdienstleister zu. Geschäftsbanken kümmern sich von Natur aus
nicht viel um Verbrauchermarketing. Vor allem für Investmentbanking gilt, dass auf der
Grundlage direkter und wechselseitiger Kundenbeziehungen und einer guten Erfolgsbi-
lanz neue Geschäfte zustande kommen. Durch die jüngste Krise ist das Vertrauen in den
Finanzsektor allerdings gesunken; das Verständnis für den Markt nimmt zusehends ab.
Credit Suisse startet eine Kampagne, um sowohl innerhalb der Schweiz als auch darüber
hinaus der Bank wieder zu Ansehen und Bekanntheit zu verhelfen. Dafür wurde Roger
Federer als Galionsfigur vertraglich verpflichtet. Er verkörpert die Werte, für die auch
Credit Suisse stehen will, zum Beispiel internationale Bekanntheit, das Streben nach
Exzellenz und das Bieten von außergewöhnlicher Qualität. Diese und eine andere Kam-
pagne, bei der Unternehmer gezeigt wurden, deren Traum unter anderem mit der Unter-
stützung von Credit Suisse realisiert wurde, sollen den Ruf und den Bekanntheitsgrad
der Bank wieder verbessern (Abb. 10.10 und 10.11).
Die Umsetzung von Marketing in tatsächlichen Verkauf erfolgt sowohl digital als
auch über persönlichen Kontakt. Kunden können Transaktionen über einen Kunden-
betreuer oder eigens dafür eingerichtete Online-Services tätigen. Im Rahmen der Kun-
denbetreuung kann der Kontakt mit der Bank über die Hotline für Geschäfts- und
Privatkunden hergestellt werden. Die Maßarbeit zeigt sich auch bei den Cat-Bonds.
Versicherungsgesellschaften können über Credit Suisse Obligationen herausgeben, mit
10  Teilung besonderer Risiken 395

Wertangebot für Kunden Marktsegmente

Ergebnis Was bekomme ich? Position


• Maßgeschneidertes Produkt, das • Eine der weltweit führenden Banken im
meinen persönlichen Bedürfnissen Bereich Vermögensverwaltung und
entspricht Investmentbanking

+ Wettbewerber
Prozess Wie bekomme ich es? • Starke Konkurrenz innerhalb der
• Auf die für mich passende Art und Schweiz durch UBS
Weise, über persönlichen Kontakt • Ausländischer Marktführer in vielen
oder online Finanzbereichen in Asien

+ Zielgruppe
• Ultra High Net Worth Individuals
Gefühl Was fühle ich dabei?
(UHNWI)
• Sicherheit und Vertrautheit
• Unternehmer und Betriebe
• Kunden mit einem zu realisierenden
Traum
Preis Was kostet es?
• Marked-to-Market-Preis
Kundeneinblicke
• Kunden wollen mit der Bank in Kontakt
+ bleiben: Kundenerlebnisprogramme

Aufwand Was muss ich dafür tun?


• Das hängt von den gesuchten
Finanzprodukten ab, Online-Tools
helfen bei der Suche

Risiko Wie unsicher ist es?


• Ziemlich sicher und
zuverlässig, je nach
persönlichen
Kunst der Positionierung
Präferenzen

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,
Kundenerlebnisstärke

Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,


Betriebsstärke

Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Abb. 10.10  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Credit Suisse


396 J. Kemperman et al.

Kunst der Positionierung

Wertangebot für
Kunden Marktsegmente
Ergebnis, Prozess, Gefühl, Position, Wettbewerber,

Kundenerlebnisstärke
Preis, Aufwand, Risiko Zielgruppe,

Betriebsstärke
Kundeneinblicke

Betrieb Kanäle
Produktion & Technologie, Marketing & Verkauf,
Lieferanten & Partner Kundenkontakt &
Zusatzdienste

Kunst der Vernetzung

Betrieb Kanäle

Produktion & Technologie Marketing & Verkauf


• Kostenoptimierung durch 4 • Im Investmentbanking wird auf der
Center of Excellence Grundlage von Vertrauen und einer
• Produkte aus verschiedenen Sparten langjährigen Erfolgsbilanz die Beziehung
werden integriert zum Kunden aufgebaut
• Beste Technologie für die weltweite, • Für den Privatkundenmarkt und die
maximale Unterstützung von integralen Unternehmer läuft aktuell eine große
Produkten und Mitarbeitern Kampagne, bei der erfolgreiche
Firmenneugründungen beleuchtet
Lieferanten & Partner werden
• Lieferanten teilen den gleichen Wert, • Die meisten Verkäufe erfolgen digital
Kunden exzellenten Service zu bieten oder über einen Kundenbetreuer
• Die meisten Produkte und Services
stammen von vorab ausgewählten Kundenkontakt & Zusatzdienste
Anbietern mit einigen Standorten • Privat- und Geschäftskunden steht zur
• Partner aus verschiedenen Kontaktaufnahme eine Hotline zur
gesellschaftlichen Gruppen, mit Verfügung
zusätzlichen Möglichkeiten für Gruppen, • Viele Filialen auf der ganzen Welt, um für
die auf der Basis von Aspekten wie Kunden erreichbar zu sein
sexueller Orientierung und ethnischer • Exzellente Services und ausgezeichnete
Zugehörigkeit Minderheiten im Produkte, die dem Kunden helfen, seine
jeweiligen Business sind Träume zu realisieren

Abb. 10.11  Betrieb und Kanäle von Credit Suisse


10  Teilung besonderer Risiken 397

denen Kunden Geld in die Cat-Bonds investieren können. Daraus entwickelt sich direk-
ter Kontakt zwischen den Kundenbetreuern, den Fondsmanagern der Cat-Bonds und
der Versicherungsgesellschaft. Über ein Online-Portal oder im direkten Kontakt mit den
Fondsmanagern12 können interessierte Investoren anschließend die Obligationen der Ver-
sicherungsgesellschaft mit einer entsprechenden, erwarteten Rendite kaufen.
Für die stetig wachsende Bank ist es häufig eine Herausforderung, den Kontakt mit
den Kunden aufrechtzuerhalten. Deshalb hat Credit Suisse verschiedene Initiativen ent-
wickelt. Über die Experience Immersions beispielsweise können Kunden ihre Erfahrun-
gen mit Credit Suisse teilen (vgl. Wylie 2006). Auf diese Weise können sehr praktische
Verbesserungen vorgenommen werden, zum Beispiel am Geldautomaten. So ärgerte sich
ein Kunde darüber, dass beim Geldabheben bei nassem Wetter auch seine Tasche nass
wurde, weil er sie auf den Boden stellen musste. Deshalb wurden mittlerweile alle Geld-
automaten von Credit Suisse mit einer zusätzlichen Kerbung versehen. Kunden brauchen
ihre Taschen also nicht mehr auf den Boden zu stellen, sondern können die Tasche in die
Kerbe am Geldautomaten stellen.
Ein weiterer ansprechender Kanal ist das „my Solutions“-Tool. Erst kürzlich wurde
Credit Suisse für dieses Online-Tool mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem
Award für den besten Internetbankingservice.13 Das „my Solutions“-Portal bietet die
Möglichkeit, das richtige strukturierte Produkt für die Kundenbedürfnisse zu entwickeln.
Das Online-Tool ist so flexibel und breit orientiert, dass es auf der Grundlage von Basis-
werten, Indizes und Börsen genau das Investitionsportfolio auswählen kann, dass den
Wünschen des jeweiligen Kunden entspricht. Bei seiner Auswahl der Lieferanten und
Partner für die erforderlichen Produkte und Services sucht Credit Suisse nach Möglich-
keit Partner, die die gleichen Werte teilen, und zwar insbesondere den Wert, exzellente
Services und Produkte zu bieten.

Betrieb: Center of Excellence


Wie sich bereits im Kundenwert gezeigt hat, sorgt Credit Suisse für eine möglichst effi-
ziente Nutzung von Kapital und Mitarbeitern. Dank der Gründung von vier weltweiten
Center of Excellence in Indien, Polen und den USA können Produkte aus verschiedenen
Sparten integriert und optimal ausgestattet werden, um diese schließlich so kundenfreund-
lich wie möglich anzubieten. Das geschieht mit Unterstützung durch die besten techno-
logischen Lösungen bei der Entwicklung von eigenen Produkten und Zusatzdiensten.
Credit Suisse legt höchsten Wert darauf, dass Lieferanten und Partner aus verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen kommen. Insbesondere Gruppen, die im Marktangebot unter-
repräsentiert sind, ziehen die Aufmerksamkeit von Credit Suisse auf sich. Dazu gehören

12http://amfunds.credit-suisse.com/ir/en/individual-investor/product/fund/cs-iris-funds-p-l-c-cs-

iris-catastrophe-bond-fund-c/IE00BG5GTM95/fundmanager/.
13Banking Technology Award 2013, von Branchenführern in Großbritannien verliehen. https://deri-
vative.credit-suisse.com/ch/en/mysolution_introduction/.
398 J. Kemperman et al.

beispielsweise Unternehmen, die von Angehörigen einer ethnischen Minderheit, Frauen,


Lesben, Schwulen, Bisexuellen oder Transsexuellen (LGBT) geführt werden, aber auch
Unternehmen, denen Menschen mit Behinderung oder Veteranen vorstehen.14 Um den
Kunden die passenden integrierten Lösungen bieten zu können, ist eine breite Skala not-
wendig. Durch die Bündelung der Möglichkeiten und das Streben nach integralen Lösun-
gen hat auch bei der Auswahl von Partnern und Lieferanten der Fokus auf exzellente
Produkte für Kunden oberste Priorität. Das zeigt sich auch in der betrieblichen Unterstüt-
zung von Cat-Bonds. Die Möglichkeit der sicheren Online-Investition in den Fonds wird
durch exzellente Technologie unterstützt. Sofern gewünscht, kann der Kunde persönli-
chen Kontakt zum Fondsmanager aufnehmen. Veränderungen gemäß den Wünschen des
Kunden sind möglich, sodass sie bei ihrer Wahl bestmöglich unterstützt werden.

10.3.3 Das Ergebnis: Nachhaltiger Wert

Vorausdenken und die Bedürfnisse der Kunden rechtzeitig zu erkennen führen letztlich
zum nachhaltigen Wert von Credit Suisse. Der Kunde erhält die finanziellen Mittel oder
Produkte, die er zum Erreichen seiner Ziele braucht – angefangen mit dem Traum von
Tony Fernandes und seiner eigenen Fluggesellschaft Air Asia über Akris, dem Ort, an
dem Design und Komfort schon seit 90 Jahren zusammenkommen, bis hin zu Lenovos
großer Vision, den brasilianischen Markt zu erobern. Gemeinsam mit seinen Kunden
stellt Credit Suisse geeignete Finanzprodukte zusammen, die zum gewünschten Risiko
und zur gewünschten Rendite für den Kunden und für Credit Suisse selbst passen. Die
Cat-Bonds sind ein ideales Beispiel dafür. Es wird eine höhere Rendite für Kunden
erzielt, die dafür im Gegenzug das Risiko in Kauf nehmen, bei einer Katastrophe ihr
Geld zu verlieren. Doch dieses Risiko gehen sie mit einem Betrag ein, den sie ggf. ver-
schmerzen können. Außerdem ist das Risiko nicht an Renditen und Entwicklungen auf
anderen Finanzmärkten gebunden wie beispielsweise Börsenkurse, den Wert von Roh-
stoffen oder die Sicherheit von Obligationen.
Unternehmensweit wurden im Jahr 2013 neben den Geschäftskunden insgesamt 2,2
Mio.15 Privatkunden mit Finanzprodukten und -dienstleistungen bedient. Abgesehen von
der Möglichkeit für die einzelnen Kunden, ihren Zielen und Visionen nachzujagen, erhält
Credit Suisse durch sein umfassendes Engagement viele Informationen über den Markt.
Die Kunden geben Credit Suisse die Möglichkeit, vorauszublicken und sich auf zukünf-
tige Veränderungen bei den Wünschen und Bedürfnissen seiner Kunden einzustellen.
Darüber hinaus hat Credit Suisse über seine Tochterunternehmen in den USA seit 1978
mehrere Wahlkämpfe mit fast neun Millionen Dollar (8,5 Mio. EUR) unterstützt, um so
Einfluss auf die politische Agenda zu nehmen.16

14https://www.credit-suisse.com/bs/en/about-us/who-we-are/supply.html.

15https://www.credit-suisse.com/media/cc/docs/who-we-are/brief-presentation-en.pdf.

16http://influenceexplorer.com/organization/credit-suisse-group/2edad4cc65cc4970be8b878bd41163be.
10  Teilung besonderer Risiken 399

Der Schlüssel für Wertschöpfung für und durch Kunden sind die Mitarbeiter. Die
Mitarbeiter von Credit Suisse repräsentieren 161 verschiedene Nationalitäten. Das
Unternehmen bietet seinen Mitarbeitern intellektuelle Herausforderungen, zahlreiche
Schulungen und Begleitung bei der persönlichen Entwicklung sowie internationale Kar-
rieremöglichkeiten.17 46 % der freien Stellen wurden im vergangenen Jahr mit internen
Bewerbern besetzt. Laut einer Studie von Loosvelt (2006) ist Credit Suisse internationa-
ler orientiert als die meisten europäischen Banken (Loosvelt 2006, S. 134). Einzigartig
für Credit Suisse ist das Zusammenführen von Persönlichkeiten mit einer großen Vielfalt
an Talenten und Kompetenzen. Da der Fokus auf der Entwicklung integraler Lösungen
liegt, entstehen innovative Produkte. In Kombination mit der Förderung von Rotationen
innerhalb des Unternehmens erhöht das den Mitarbeiterwert und fördert Innovation.
Auf diese Weise entsteht ein Mehrwert für die Kunden, die Gesellschaft und die Akti-
onäre von Credit Suisse.18,19
Neben der Wertschöpfung für seine Kunden und Mitarbeiter schafft Credit Suisse
schon seit dem Beginn seiner Existenz, d. h. seit 150 Jahren, einen finanziellen Wert für
seine Aktionäre. Seit dem 1. Januar 2009 übertrifft Credit Suisse den EURO STOXX
Banks Index um 13 %. Wichtig für Aktionäre ist die Sicherheit ihrer Rendite. Die durch-
schnittliche Eigenkapitalrendite (RoE) von 15 % entspricht etwa dem Durchschnitt der
Banken weltweit, aber die Sicherheit bei Credit Suisse ist größer, wenn man sich die
RoE-Zahlen langfristig ansieht. Neben den guten finanziellen Ergebnissen und dem Wert
für die Wirtschaft hat sich Credit Suisse auch die Übernahme sozialer und gesellschaftli-
cher Verantwortung auf seine Fahne geschrieben. Die Bank verwaltet 519 Transaktionen,
die im Zeichen von Umwelt und sozialen Risiken stehen, und inzwischen haben über
2,4 Mio. Menschen weltweit Mikrokredite von Credit Suisse in Anspruch genommen.
Darüber hinaus gibt es 6,1 Mrd. EUR an verwaltetem Vermögen mit hohen Renditen für
die Gesellschaft und die Umwelt. Auf diese Weise wird Credit Suisse seiner Rolle als
sozial verantwortliches Unternehmen gerecht. Doch Credit Suisse hilft der Gesellschaft
nicht nur mit Krediten. Von den gut 45.000 Mitarbeitern beteiligen sich jedes Jahr 17.500
an ehrenamtlichen Tätigkeiten und sozialen Projekten. Darüber hinaus werden beispiels-
weise 40 GWh als Ergebnis einer effizienteren Nutzung des Servers eingespart und gut
137.000 h für Videokonferenzen eingesetzt, um den Flugverkehr und damit die CO2-
Emissionen zu reduzieren (Abb. 10.12).
Der wichtigste Beitrag von Credit Suisse für die Gesellschaft war, ist und bleibt sein
Wert für die Wirtschaft. Die Geschichte von Credit Suisse ist ebenso wie die vieler ande-
rer Finanz- und Versicherungsunternehmen mit einem brillanten Businessmodell eng mit

17http://bankingisback.toigofoundation.org/firmProfile_CS.html.

18http://www.glassdoor.com/Bene?ts/Credit-Suisse-US-Bene?ts-EI_IE3141.0,13_IL.14,16_IN1.htm.

19http://www.indeed.com/cmp/Credit-Suisse/reviews.
400 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden


• Die Bereitstellung von Finanzprodukten, die der Kunde für die Realisierung seines Traums
braucht, ist der Wert, den Credit Suisse seinen Kunden bietet. Indem Credit Suisse immer
ein offenes Ohr für seine Kunden hat, bekommt es einen guten Eindruck von dem, was die
Kunden weltweit brauchen. Weil Credit Suisse alle Kundenperspektiven auf einen
gemeinsamen Nenner bringt, entsteht Wert für das Unternehmen durch seine Kunden

Kunde

Kundenwert

Unternehmen

Unternehmen Unternehmen

Mitarbeiterwert Finanzieller Erfolg

Mitarbeiter Eigentümer

Wert für und durch Mitarbeiter Wert für und durch Anteilseigner
• Credit Suisse ist bekannt als gut • Eine jährliche Eigenkapitalrendite von ca. 15 %-20 %
zahlende Bank, die ihren • Der Fokus auf Return on Investment zwingt die
Mitarbeitern viel Freiraum zur Bank, ihren Betrieb progressiv und effizient zu
Entfaltung und Entwicklung bietet. gestalten
Darüber hinaus bietet das • Entwicklung des Unternehmenswerts: 49,2 Mrd. USD
Unternehmen seinen Mitarbeitern (46,2 Mrd. EUR) im Jahr 2013 32,4 Mrd. USD
die Möglichkeit, auch intern häufig (30,4 Mrd. EUR) im Jahr 2012 und 28,7 Mrd. USD
zwischen Abteilungen und (25,4 Mrd. EUR) im Jahr 2011
Bereichen zu wechseln. So wird • Gewinn: 2,3 Mrd. USD (2,2 Mrd. EUR) im Jahr 2013
integrales Wissen gesichert und und 1,3 Mrd. USD (1,2 Mrd. EUR) im Jahr 2012
die Möglichkeit geboten, bessere • Entwicklung der Mitarbeiterschaft: 2013:
Produkte für Kunden zu 46.000, 2012: 47.400, 2011: 49.700
entwickeln

Wert für und durch die Gesellschaft


• Credit Suisse entstand durch den Fokus auf die Gesellschaft: Die Einrichtung eines
Schienennetzes in der Schweiz. Durch Beispiele wie das Sorgen- und Identitätsbarometer
und seine Rolle bei Nachhaltigkeitsdiskussionen erhält das Unternehmen diesen Wert
aufrecht
• Durch die weltweiten Initiativen von Credit Suisse haben mittlerweile 2,4 Millionen Menschen
weltweit Mikrofinanzierungen in Anspruch nehmen können

Abb. 10.12  Wertschöpfung für und durch Stakeholder von Credit Suisse


10  Teilung besonderer Risiken 401

der Geschichte des Heimatlandes verbunden. Das führt uns zurück zur Entstehung von
Credit Suisse.
Dank des vorausschauenden Blicks von Alfred Escher spielt die Schweiz auch heute
noch eine bedeutende Rolle in der Finanzwelt. Seine Vision, die Industrialisierung der
Schweiz durch die Finanzierung eines Elektrizitäts- und Schienennetzes war dabei aus-
schlaggebend.

10.3.4 Die brillanten Lektionen von Credit Suisse

Was können wir von Credit Suisse und dem Beispiel der Cat-Bonds lernen?

• Vielfalt und Integration von Kompetenzen bringen Innovation: Credit Suisse entschei-
det sich ausdrücklich dafür, verschiedenen Perspektiven und Fachgebieten eine zent-
rale Bedeutung innerhalb seiner Organisation beizumessen. Der Fokus auf integrale,
zusammenhängende Finanzprodukte sorgt dafür, dass die Perspektiven gut genutzt
werden, um Kunden optimal zu helfen. Das fördert innovative Lösungen auf Kun-
denebene, aber auch bei den Angeboten für Investoren wie beispielsweise die Cat-
Bonds, bei denen ein spezifischer Markt geschaffen wird, um die unterschiedlichen
Bedürfnisse und Mittel von Versicherern und Investoren auf innovative Weise mitein-
ander zu verknüpfen und auszutauschen.
• Sich im Kontakt mit den Kunden entwickeln: Der kontinuierliche Dialog und Aus-
tausch mit den Kunden gibt einem die Möglichkeit, rechtzeitig Anpassungen vorzu-
nehmen und sich weiterzuentwickeln. Die Marktbeobachtung und der Kundenkontakt,
auch durch das obere Management, sorgen dafür, dass jede Unternehmensebene auf
Tuchfühlung mit den Kunden und den von Credit Suisse gebotenen Services ist. Statt
Marktforschungen und Umfragen durchführen zu lassen, sorgt diese Ko-Kreation in
der Praxis dafür, dass die Lücke zwischen dem Kunden von Credit Suisse und dem
kursbestimmenden Teil des Unternehmens nicht zu groß wird. Da der Fokus bei
Investmentbanking auf kundenorientierten Geschäften liegt, stellt sich die Versiche-
rungsfrage. Wenn man ein offenes Ohr für den Kunden hat, sorgt man dafür, dass
große Risiken anderweitig rückversichert werden können, nämlich durch Cat-Bonds.
• Mitarbeiter sorgfältig auswählen und sie ermutigen, verschiedene Perspektiven
zu integrieren und die beste Lösung für den Kunden zu finden: Credit Suisse sucht
Experten, die beim Verkauf eines bestimmten Produkts nicht von ihrem eigenen Sach-
verstand und Ego angetrieben werden, sondern sich dabei von dem Bedürfnis leiten
lassen, dem Kunden zu helfen und alle dafür erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
Hier kommen die zwei oben genannten Aspekte zusammen, sodass durch den mul-
tidisziplinären Ansatz die gewünschte Ko-Kreation für den Kunden entsteht. Logi-
scherweise passen Lösungen wie Cat-Bonds wiederum zu diesem Konzept, denn
sie erfordern die kreative und innovative Verknüpfung verschiedener Netzwerke und
Kompetenzen.
402 J. Kemperman et al.

• Sichtbar lernen und verbessern gibt Vertrauen und schafft Unternehmenswert: In den
vergangenen 150 Jahren wurden verschiedene gerichtliche Verfahren gegen Credit
Suisse angestrengt. Diesbezüglich ist das Unternehmen eine Bank, die genauso wie
alle anderen Banken auch unter die Lupe genommen wird. Die Art und Weise, wie
Verfahren genutzt werden, um Rechenschaft abzulegen, aus Fehlern zu lernen und
sich zu bessern, ist jedoch auffällig. Auf diese Weise hat Credit Suisse gezeigt, dass
die Bank ihre Ursprünge und Kernwerte in Ehren hält. So konnte auch das Vertrauen
von Aktionären erhalten bleiben und der Wert der Unternehmensaktien gesteigert
werden. Das zeigt, dass Fehler machen keine Schande ist, sofern man eine Lehre dar-
aus zieht.
• Rechtzeitig festlegen: Durch die Eingrenzung des Fokus auf UHNWI und die Erkun-
dung von Segmenten, die vom Markt unzureichend bedient werden, verschafft sich
Credit Suisse dank einer gleichzeitig gestarteten Effizienzoffensive innerhalb des
Unternehmens eine günstigere Wettbewerbsposition. Diese Maßnahmen wirken sich
sowohl auf die Erträglichkeit als auch auf die Kosten des Unternehmens aus. Die
Bereitschaft, diese Konsequenzen zu akzeptieren, sorgt für die Kontinuität des brillan-
ten Businessmodells.

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mers-are-you-crazy
Lektionen für die Schaffung brillanter
Businessmodelle im Finanzwesen 11
Jeroen Kemperman, Jeroen Geelhoed, Jennifer op ’t Hoog und
Friedrich Pautasso

Um die Zukunft zu verstehen, müssen wir in die Vergangenheit


zurückgehen.
– Pitbull, „Back in Time“ (Titelsong zum Film Men in Black 3)

Im Abschn. 4.4 wurden als „Selbsteinschätzung in 13 Fragen“ die Kriterien erläutert,


die man als neues oder bestehendes Unternehmen erfüllen muss, um zu einem brillan-
ten Businessmodell im Finanzwesen zu werden. Wir kamen zu dem Schluss, dass es im
Wesentlichen darum geht, sich durch das Fundament, das Businessmodell und die Wert-
schöpfung für Kunden, Mitarbeiter, Anteilseigner und die Gesellschaft auszuzeichnen.
In den Kap. 5 bis 10 wurden brillante Businessmodelle vorgestellt, die zeigen, wie es
funktioniert. Abschließend möchten wir hier kurz zusammenfassen, was wir aus diesen
Fallstudien lernen können. Dabei beziehen wir uns auf die Fragen aus der Selbstein-
schätzung.

J. Kemperman (*) 
Zilveren Kruis, Achmea, Amsterdam, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. Geelhoed 
&samhoud, Utrecht, Niederlande
E-Mail: [email protected]
J. op ’t Hoog 
Achmea, Tilburg, Niederlande
E-Mail: [email protected]
F. Pautasso 
&samhoud Deutschland GmbH, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 405


J. Kemperman et al. (Hrsg.), Brillante Businessmodelle im Finanzwesen,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-18289-2_11
406 J. Kemperman et al.

11.1 Fundament, Leitbild und Markenpositionierung:


Tu ich das Richtige?

Hinsichtlich des Fundaments geht es um die Warum-Frage: Warum existiert das Unter-
nehmen? Und wird ausgehend von dieser Perspektive immer noch das Richtige getan?

Markenkern: Geht es Kunden, Mitarbeitern, Anteilseignern und der Gesellschaft


besser, weil wir existieren?
Das Fundament von Banken und Versicherungsunternehmen beginnt im Prinzip mit dem
Wert für die Außenwelt. Ist das Unternehmen immer noch eine relevante Plattform, auf
der man gemeinsam für alle Beteiligten arbeiten kann? Im Kern sind die Probleme, für
die Finanzprodukte entwickelt und genutzt werden, wertvoll. Die Geschichte vieler gro-
ßer Banken und Versicherungsgesellschaften ist häufig eng mit der Entwicklung eines
Landes und seiner Bevölkerung verknüpft. Die Frage, die sich für das Unternehmen
stellt, ist, ob es relevante Probleme indirekt oder am besten direkt angeht. Wenn das der
Fall ist, darf im Gegenzug erwartet werden, dass es eine breite Akzeptanz für die unter-
nommenen Aktivitäten gibt. Das hilft in Zeiten, in denen es gut läuft, denn es stehen
mehr Energie und mehr Mittel zur Verfügung. Es hilft auch in schwierigen Zeiten, wenn
das Unternehmen Unterstützung braucht, um zu überleben. Als Inspirationsquelle dienen
Bank Rakyat Indonesia und GCash, die beide ein Angebot entwickelten, an dem es der
Gesellschaft mangelte:

• Bank Rakyat Indonesia erhält von der Regierung den Auftrag, den ärmsten Men-
schen in den entlegenen ländlichen Regionen Zugang zu Finanzprodukten zu bieten.
Dadurch kann die Bank auf die Regierung zurückkommen, wenn sie Hilfe braucht.
• GCash deckt den Bedarf an Finanzprodukten von Menschen aus den unteren Bevöl-
kerungsschichten am Sockel der Wohlstandspyramide, indem es die bereits vor-
handene Mobilfunkinfrastruktur nutzt. Das bringt dem Unternehmen genügend
Sympathie ein, um beispielsweise mit Vertretern zusammenzuarbeiten, die keine Ban-
ker oder Finanzberater sind.

Höheres Ziel und Markenursprung: Verstehen wir, warum wir existieren? Erfüllen
wir diese Mission immer noch?
Es ist faszinierend zu beobachten, dass die grundlegenden Fundamente und Existenz-
gründe des Finanzdienstleistungssektors aus den vergangenen Jahrhunderten tatsächlich
immer noch relevant und aktuell sind. Das grundlegende Bedürfnis an Kontinuität sowie
an Möglichkeiten zum Investieren oder Sparen für die Zukunft besteht immer noch. Von
Zeit zu Zeit hilft es, erneut über das ursprüngliche Ziel und den Markenursprung nach-
zudenken. Das führt zu Stolz und Verankerung, hilft aber auch, um ausgehend von dieser
Grundlage wieder neue Lösungen und Innovation zu realisieren sowie die Akzeptanz und
das Vertrauen aufrechtzuerhalten bzw. wieder zurückzugewinnen. Zur Inspiration lohnt
ein Blick auf die Unternehmen Lloyd’s, Raiffeisen und Interpolis:
11  Lektionen für die Schaffung brillanter Businessmodelle … 407

• Lloyd’s ist und bleibt im Wesentlichen ein Markt, auf dem Anbieter und Träger von
Risiken zusammenkommen. Das Unternehmen ist stolz auf seine Traditionen und
nutzt diesen Stolz, um den Kern des Versicherungsgeschäfts für sich selbst und seine
Umgebung in Schwung zu halten.
• Raiffeisen Genossenschaftsbank wurde mit einer christlichen und sozialen Mission
und Philosophie gegründet, um den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem arme Leute
durch Wucherei und die Not immer höhere Zinsen zahlen müssen und zunehmend
enteignet werden. Diese Werte dienen Raiffeisen bis heute als Prüfstein, um sich
selbst, aber auch seine Kreditgeber und seine Kunden zu motivieren und dazu anzu-
halten, auch zukünftig die richtigen Entscheidungen zu treffen.
• Interpolis hat sich selbst neu erfunden und dabei seinen eigenen Ursprung und seine
Rolle als Versicherer zugrunde gelegt. Das hat zu Stolz und der Erkenntnis geführt,
mit positiver Energie und Schlüsselbegriffen wie „Vertrauen“ und „glasklar“ das ver-
lorene Vertrauen in die Branche wiederherzustellen.

Gewagtes Ziel und Markenversprechen: Haben wir abgesehen von der Sicherung
unseres Fortbestehens auch ein herausforderndes offensives Ziel?
So wie in anderen Branchen wirkt die Kraft eines ambitionierten und bahnbrechenden
Ziels auch im Bank- und Versicherungswesen. Das Setzen von ehrgeizigen und uner-
reichbar scheinenden Zielen als Unternehmen setzt Energie und Kräfte bei allen Betei-
ligten frei, wodurch es möglich wird, die Welt zu verändern. Allerdings muss es sich
dabei um ein gewagtes Ziel handeln, das positive Auswirkungen auf alle Stakeholder
hat – insbesondere auf die Kunden und die Gesellschaft. Vermutlich ist es besonders
bemerkenswert, dass dieser Ansatz auch im Versicherungs- und Bankwesen funktioniert,
weil diese Branche auf den ersten Blick etwas angestaubt erscheint. Ja mehr noch: Es
funktioniert besonders gut im Finanzdienstleistungssektor, weil die Produkte langweilig
sind, aber die grundlegenden Probleme wie Einkommen, Armut, Gesundheit und Sicher-
heit große Auswirkungen sowohl auf die Gesellschaft als auch auf den Einzelnen haben.
Brillante Businessmodelle, die zeigen, wie es funktioniert, sind beispielsweise das der
Amsterdamer Wechselbank sowie jenes von LeapFrog und Google:

• Die Amsterdamer Wechselbank setzt sich selbst zum Ziel, in einer Welt mit über
300 unzuverlässigen Münzen zuverlässiges Geld mit stabilen Wechselkursen einzu-
führen. Um dieses Ziel zu realisieren, erfindet sie das Papiergeld.
• LeapFrog setzt sich für die Menschen aus den unteren Bevölkerungsschichten am
Sockel der Wohlstandspyramide in Entwicklungsländern ein und kann mit einer
Geschichte über die potenzielle soziale und finanzielle Rendite des Mikroversicherns
die Welt der schnellen und großen Investitionen mit gesellschaftlicher Prominenz und
Unternehmen von internationalem Rang verknüpfen.
• Google gelingt es, mit einem inspirierenden Ziel alle Informationen auf der Welt zu
organisieren und zugänglich zu machen und so Disruption in fast allen Gesellschafts-
schichten, einschließlich des Finanzdienstleistungssektors, zu verursachen.
408 J. Kemperman et al.

Kern- und Markenwerte: Sind wir transparent, zuverlässig und solide für die
Zukunft?
Finanzdienstleistungen erfordern eine besonders ausgeprägte Integrität. Kunden verste-
hen Produkte häufig weniger gut als Banker und Versicherer sie verstehen müssen. Dabei
muss sich der Wert häufig in der Zukunft zeigen. Nachträglich ist eine Wiederholung
nicht so ohne Weiteres möglich, wenn es beispielsweise um den Abschluss einer Versi-
cherung, die Aufnahme eines Hypothekendarlehens oder das Sparen für die Rente geht.
Es wird noch komplizierter, weil der Druck der Beteiligten zu Entscheidungen führen
kann, die zwar jetzt für alle gut sind, die aber hohe Ansprüche an die Zukunft stellen und
das Risiko des Scheiterns erhöhen. Jeder jubelt, wenn Geld günstiger geliehen werden
kann, mehr Rendite versprochen wird oder weniger in die Rentenkasse eingezahlt wer-
den muss bis zu dem Moment, in dem der Anbieter pleitegeht. Im Idealfall haben Banker
und Versicherer einen moralischen Vertrag mit der Außenwelt und miteinander auf der
Basis des gegenseitigen Vertrauens geschlossen. Inspiration kann beispielsweise aus den
Erfahrungen der Amsterdamer Wechselbank, der Rotterdamer Ruderer und von Interpolis
geschöpft werden:

• Die Amsterdamer Wechselbank beschäftigt Banker, die Schuldverschreibungen aus


Papier ausgeben, denen schließlich mehr Vertrauen entgegengebracht wird als dem
Münzgeld aus Edelmetall in den Straßen.
• Die Rotterdamer Ruderer eint eine gegenseitige Verbundenheit, auf deren Grundlage
sie Verantwortung mit Blick auf die tägliche Arbeitseinteilung und die Altersversor-
gung füreinander übernehmen.
• Interpolis hat Vertrauen zu einem Leitmotiv in der Art und Weise der gemeinsamen
Zusammenarbeit und des Umgangs mit Kunden gemacht. Und diese Vertrauensbasis
ist das Fundament für eine andere, neue Form des Versicherns.

Kernqualitäten und Markenbeweis: Sind unsere Versprechen und Qualitäten sicht-


bar in Beispielen, die Kunden verstehen und über die sie sprechen?
Finanzdienstleistungen sind nicht nur abstrakt und in die Zukunft ausgerichtet. Sie sind
geradezu unsichtbare Produkte. Deutlich wird dies an Menschen in grauen Anzügen,
denen es im Fernsehen nicht gelingt, das menschliche Maß zu finden, wenn sie mit dem
Scheitern eines Versicherungs- oder Finanzprodukts im echten Leben konfrontiert wer-
den. Die Komplexität und Abstraktion von Finanzdienstleistungen stellt somit zusätzli-
che Ansprüche an die sichtbare Realisierung der Versprechen mit Beispielen, die man
selbst sehen und erleben kann. Erkennbare und physische Beispiele finden sich bei Visa,
Umpqua Bank und Kickstarter:

• Visa ist größtenteils ein virtuelles Unternehmen, das als finanzielle und systemtech-
nische Architektur hinter Finanzdienstleistungen funktioniert und in den meisten
Ländern über eine sehr begrenzte personelle Besetzung verfügt. Gleichzeitig ist es
an allen, mit dem Visa-Logo gekennzeichneten, Zahlungsstellen auf der ganzen Welt
sehr präsent.
11  Lektionen für die Schaffung brillanter Businessmodelle … 409

• Die Umpqua Bank schwimmt gegen den Strom in einer digitalen Welt, in der Banken
ihre Filialnetzwerke verkleinern. Das Unternehmen verfolgt eine aktive Retailstrate-
gie, mit der Menschen in die örtliche Filiale gelockt werden und dort fühlen und erle-
ben, was Umpqua Bank ist.
• Kickstarter macht aus der Investition in Start-up-Unternehmen ein fröhliches Fest,
weil hier erfinderische Menschen ihre eigenen, kreativen und bahnbrechenden Ideen
als Prototypen vorstellen, in die dann investiert werden kann. Investoren können inno-
vative Produkte kaufen und darüber in den sozialen Medien berichten (Abb. 11.1).

11.2 Businessmodell: Mache ich es richtig?

Das Businessmodell dreht sich um die Wie-Frage: Macht das Unternehmen das, was es
macht, richtig?

Marktsegmente: Kennen wir unsere Zielgruppe gut? Haben wir eine stärkere Posi-
tion als unsere Wettbewerber bei der Zielgruppe, auf die wir uns konzentrieren?
Banken und Versicherungsgesellschaften haben Lieferanten und Kunden, aber in der
Praxis operieren sie häufig auch in einer größeren Infrastruktur mit Stakeholdern und
Partnern. Es geht um Genehmigungen, Distributionspartner, Allianzen, andere Finanz-
dienstleister und Standards. Das bietet die Möglichkeit, selbst ein Netzwerk zu schaffen
und eine zentrale Position in den eigenen Marktsegmenten einzunehmen, die von Wett-
bewerbern schwer kopiert werden können. Zu den Beispielen brillanter Businessmodelle,
die mit dieser Strategie erfolgreich sind, gehören AIG, Visa und Credit Suisse:

• AIG ist seit jeher stark mit der Auslandspolitik und den internationalen Netzwerken
der USA verbunden. Auf diese Weise erhält das Unternehmen einzigartigen Zugang
zu Märkten, sowohl was kommerzielle Interessen wie das schnelle Einholen umfas-
sender Informationen als auch den Schutz seiner eigenen Interessen und der Interes-
sen von Kunden betrifft.
• Visa fungiert als Rückgrat vieler Finanztransaktionen. Auf diese Weise entstehen ein
Netzwerk und eine Infrastruktur, die das Unternehmen wiederum zu einem logischen
Partner für neue Akteure im Zahlungsverkehr aus der Welt der Share Economy und
der sozialen Medien machen.
• Credit Suisse nimmt seit jeher eine starke Position ein, wenn es um traditionelle und
innovative Formen von Rückversicherungen und Investitionen geht. Mit seinen Cat-
Bonds kann das Unternehmen beides geschickt kombinieren.

Kundenwert: Verstehen Kunden, was sie von uns bekommen? Ist das relevant für sie?
Finanzprodukte sind mitunter neu und zu komplex für Kunden. Dadurch besteht das
Risiko, dass diese im Bedarfsfall mit dem Produkt nicht zufrieden sind und keinen Aus-
weg aus ihrer misslichen Lage finden. Das führt zu unzufriedenen Kunden, die für viel
410 J. Kemperman et al.

Markenkern

Frage: Geht es Kunden, Mitarbeitern, Aktionären und der Gesellschaft besser, weil wir existieren?

Lektion: Indem direkt auf die für Kunden und die Gesellschaft relevanten Probleme reagiert wird,
werden Türen geöffnet, die für andere verschlossen bleiben, und man bekommt Hilfe von
unerwarteter Seite

Inspiration: Bank Rakyat Indonesia und GCash sind Beispiele für Unternehmen, die ein
Angebot als Antwort auf Mangel entwickeln und die damit breite Unterstützung durch Beteiligte
erfahren und sich auf diese Weise entfalten können

Höheres Ziel und Markenursprung Gewagtes Ziel und Markenversprechen

Frage: Verstehen wir, warum wir existieren? Frage: Haben wir neben der Garantie von
Und widmen wir uns dieser Aufgabe immer unserem Fortbestehen auch ein offensiv
noch? ehrgeiziges Ziel, das über das Überleben
hinausgeht?
Lektion: Die Fundamente und
Daseinsberechtigungen von Lektion: Das Setzen von sensationellen und
Finanzdienstleistungen aus den bahnbrechenden Zielen und Versprechen
vergangenen Jahrhunderten sind auch im macht es möglich, die Welt zu verändern
21. Jahrhundert immer noch relevant und
aktuell Inspiration: Die Amsterdamer Wechselbank,
LeapFrog und Google sind Unternehmen, die
Inspiration: Lloyd‘s und Interpolis zeigen die sich äußerst ehrgeizige Ziele setzen und
den Wert der Wiederentdeckung ihrer diese dennoch realisieren
Wurzeln

Kern- und Markenwerte Kernqualitäten und Markenbeweis

Frage: Sind wir transparent, zuverlässig Frage: Sind unsere Versprechen und
und solide für die Zukunft? Qualitäten in Beispielen sichtbar, die Kunden
verstehen? Sprechen Sie miteinander
Lektion: Die besondere Art der darüber?
Finanzdienstleistung sowie das benötigte
Vertrauen in der Kundenbeziehung stellen Lektion: Die Abstraktion von
zusätzliche Ansprüche an die Integrität von Finanzdienstleistungen stellt zusätzliche
Bankern und Versicherern Ansprüche an die sichtbare Realisierung der
Versprechen mit Beispielen, die man selbst
Inspiration: Die Amsterdamer sehen und erleben kann
Wechselbank, Interpolis und die
Rotterdamer Ruderer zeigen den Wert eines Inspiration: Visa, Umpqua Bank und
mit der Außenwelt und miteinander Kickstarter zeigen mit erkennbaren und
geschlossenen moralischen Vertrags auf physischen Beispielen in den Straßen, im
der Grundlage von gegenseitigem Geschäft und am Standort, dass sie präsent
Vertrauen sind

Abb. 11.1  Leitbild und Positionierung von Lektionen brillanter Businessmodelle im Finanzwesen


11  Lektionen für die Schaffung brillanter Businessmodelle … 411

Unruhe in der Gesellschaft sorgen können. Für nachhaltigen Erfolg braucht es deshalb
eine klare gemeinsame Vereinbarung, bei der das Geschäft für den Kunden auch in sei-
nem Kopf verständlich und transparent ist. Beispiele brillanter Businessmodelle mit
besonders transparenten Produkten sind Mit Ghamr, Svenska Handelsbanken und Credit
Suisse:

• Mit Ghamr ist es mit viel Energie und vielen Gesprächen gelungen, neue und für das
islamische Bankwesen geeignete Lösungen zu entwickeln und diese gleichzeitig den
weniger gebildeten Zielgruppen ohne Erfahrung mit Finanzprodukten zu erklären.
• Svenska Handelsbanken legt viel Wert darauf, ihrer Umwelt zu erklären, wie Banking
eigentlich funktioniert und für welche Zielgruppen es attraktiv ist, mit Svenska Han-
delsbanken Geschäfte zu machen. Auf diese Weise baut das Unternehmen Beziehun-
gen auf der Grundlage klarer gegenseitiger Erwartungen auf.
• Credit Suisse hat sich in die Lage von Investoren und Risikoversicherern hineinver-
setzt und ihre Bedürfnisse erforscht, um ein Konstrukt zu bilden, das für alle Seiten
klar und straff organisiert ist. Der Austausch von Angebot und Nachfrage von beiden
Beteiligten ist heute vertraglich festgelegt.

Kanäle: Haben wir Kontakt mit unseren Kunden auf der Grundlage eines mensch-
lichen Maßes, in dem wir gemeinsam die gewünschte Lösung gestalten?
Das Banken- und Versicherungswesen erfordert ein menschliches Maß, das Gruppen
von Kunden Aufschluss über ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten gibt und ihnen
die Lösung bietet, die ihren individuellen Bedürfnissen entspricht. Gleichzeitig handelt
es sich bei vielen Versicherern und Banken um große Unternehmen, was im Hinblick
auf einige andere Aspekte wie Einkauf, Genehmigungen, Risikostreuung, Reserven
und internationale Positionen auch notwendig ist. Eine wichtige Frage ist hierbei, wie
innerhalb eines großen Unternehmens das menschliche Maß gefunden werden kann und
erkennbare gemeinsame Untergruppen geschaffen werden können. Dazu ist möglicher-
weise eine deutliche Trennung zwischen verschiedenen Produktgruppen und Portfolios
erforderlich, die aus der Sicht von Kunden oder der Gesellschaft als Ganzes nicht zusam-
menpassen. Dabei können klar definierte Gruppen gebildet werden, die als besonderes
Kollektiv oder Ressort zusammengehören und eine Einheit bilden.
Umpqua Bank, Svenska Handelsbanken und SKS zeigen, wie innerhalb großer Unter-
nehmen dennoch klar gegliederte soziale Gemeinschaften von Gleichgesinnten gebildet
werden können.

• Die Umpqua Bank macht ihre Filialen zu einem physischen Treffpunkt und ist des-
halb fest in der lokalen Gemeinschaft rund um die Filiale verankert.
• Svenska Handelsbanken fügt sich wie die Umpqua Bank auf der Basis einer starken
Präsenz vor Ort in die Gemeinschaft ein, allerdings konzentriert sich das Unterneh-
men dabei auf eine bestimmte Zielgruppe von Menschen mit vergleichsweise viel
Vermögen und weniger Risiko, die von gemeinsamen Geschäften profitieren.
412 J. Kemperman et al.

• SKS bildet lokale Gruppen von Unternehmerinnen, die untereinander für die Rück-
zahlung ihrer Darlehen bürgen. Ausgehend vom Gemeinschaftsinteresse wird auf
diese Weise ein soziales Pfand geschaffen.

Betrieb: Haben wir einen optimierten Betriebsablauf mit der erforderlichen Tech-
nologie und das Wissen, um die Erwartungen aller Beteiligten zu erfüllen?
Banken und Versicherer haben Bedarf an optimierten Prozessen und Digitalisierung, um
konkurrenzfähig sein zu können und ihre Position zu stärken. Dabei kommt es ihnen
zugute, wenn sie Verwaltungsaufgaben an die Kunden selbst delegieren. Darüber hinaus
bietet die Technologie für Kunden und das eigene Unternehmen vor allem Möglichkei-
ten, sich von seinen Wettbewerbern zu unterscheiden, wenn sie als Quelle für bessere
und schnellere Informationen und Kenntnisse genutzt wird. Das erfordert logischerweise
nicht nur das Sammeln und Analysieren von Daten, sondern auch deren Nutzung in
Feedbackschleifen und Dashboards für Mitarbeiter und Kunden in den täglichen Unter-
nehmensprozessen. Das ist kein neues Phänomen, denn die Informationstechnologie ist
viel älter als Big Data, die sozialen Medien, das Internet und auch der Beginn der Auto-
matisierung. Es geht auch nicht darum, wie tiefgründig oder schnell die Informationen
an sich sind, sondern darum, tiefgründiger und schneller zu sein als die direkte Konkur-
renz. Das wird anhand der brillanten Businessmodelle von Lloyd’s, AIG und Google
deutlich:

• Lloyd’s blickt auf eine Geschichte des Sammelns und Teilens von Wissen zurück, die
sogar noch älter als das Versichern ist. Als Vorläufer von Big Data wusste das Unter-
nehmen auch im 19. Jahrhundert schon rund um die Uhr, wo sich jedes seetüchtige
Schiff der Welt zum jeweiligen Zeitpunkt befand.
• AIG unterscheidet sich seit jeher durch eine überragende Datenerhebung und -ana-
lyse, mit der besondere Risiken auf internationaler Ebene analysiert und reduziert
werden. Dabei geht es um Onlineanalysen und Zahlenverarbeitung, aber auch um Off-
lineaktivitäten, einschließlich der Zusammenarbeit mit Behörden und Nachrichten-
diensten.
• Google ist auf Informationen gebaut. Das Unternehmen zeigt, wie die Welt durch das
Zugänglich- und Transparentmachen von Informationen verändert werden kann. Die
ersten Fingerübungen zeigen außerdem auch, welche Auswirkungen das auf den Zah-
lungsverkehr und das Versichern, Vermeiden und Beheben von Risiken hat.

Lektion: Das Teilen von Geld und Risiken untereinander erfordert das menschliche Maß
einer eigenen erkennbaren Gruppe von Gleichgesinnten (Abb. 11.2).
11  Lektionen für die Schaffung brillanter Businessmodelle … 413

Wertangebot für Kunden Marktsegmente


Frage: Verstehen Kunden, was sie Frage: Ist unsere Position stärker
von uns bekommen? Ist das relevant als die unserer Wettbewerber bei
für sie? der von uns anvisierten
Zielgruppe?
Lektion: Finanzprodukte sind
mitunter komplex und müssen Lektion: Banken und
auf das Wesentliche reduziert Versicherungen können ihre
werden, um eine klare Position stärken, indem sie sich fest
gemeinsame Vereinbarung mit in das eigene Netzwerk verankern
dem Kunden zu ermöglichen

Inspiration: Svenska Inspiration: Visa, Credit Suisse und


Handelsbanken, Mit Ghamr und AIG haben alle eine besonders
Credit Suisse haben besondere stabile Infrastruktur aufgebaut, die
Produkte für ihre Kunden ihnen einen echten Wettbewerbs-
transparent gemacht, vorteil verschafft
indem sie sich in ihre Lage
versetzt und die Produkte
verständlich gemacht haben

Betrieb Kanäle

Frage: Haben wir einen optimierten Frage: Haben wir Kontakt mit
Betrieb mit der notwendigen Technologie unserem Kunde auf der Basis des
und dem notwendigen Wissen, um die menschlichen Maßes, in dem wir
Erwartungen von allen zu erfüllen? gemeinsam die gewünschte Lösung
entwickeln?
Lektion: Das Sammeln von
Informationen und deren Nutzung in Lektion: Das Teilen von Geld und
Unternehmensprozessen ist Risiken untereinander erfordert das
ausschlaggebend für den Sieg über die menschliche Maß einer eigenen
Konkurrenz erkennbaren Gruppe von
Gleichgesinnten
Inspiration: Lloyd’s, AIG und Google
zeigen, wie Dominanz im Bereich von
Inspiration: Umpqua Bank,
Svenska Handelsbanken und SKS
Daten und Informationen
zeigen, wie innerhalb großer
anschließend zur Marktbeherrschung
Unternehmen klar gegliederte
führt
soziale Gemeinschaften von
Gleichgesinnten gebildet werden
können

Abb. 11.2  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Lektionen brillanter Businessmo-


delle im Finanzwesen
414 J. Kemperman et al.

11.3 Wertschöpfung: Schaffe ich relevanten Wert?

Bei der Wertschöpfung geht es um die Was-Frage: Schafft das Unternehmen auch jetzt
den relevanten Wert für alle Beteiligten, der im Kern angestrebt wird? Aufgrund der
zukunftsorientierten Beschaffenheit von Finanzprodukten muss hier der Frage noch mehr
Beachtung geschenkt werden, ob Beteiligte nicht bleiben, weil sie eigentlich keine andere
Möglichkeit haben, oder ob die Akzeptanz zwar immer noch vorhanden zu sein scheint,
tatsächlich aber schon längst verschwunden ist, wenn Beteiligte erneut wählen könnten.
Dabei ist es hilfreich, Akteure in verschiedenen Rollen als Stakeholder einzusetzen.

Wert durch Kunden: Würden sich Kunden heute wieder für uns entscheiden und
uns anderen Kunden empfehlen?
Die Beteiligung von Kunden und das Übertreffen von Erwartungen scheint in allen Bran-
chen zu funktionieren, und auch der Finanzdienstleistungssektor bildet darin keine Aus-
nahme. Sogar extreme Investitionen, um Kunden glücklich zu machen und zu beteiligen,
scheinen letztlich wieder in Mode zu kommen. Übergroße und bedingungslose Treue
gegenüber den Kunden scheint sich auszuzahlen, weil diese im Gegenzug dem Unter-
nehmen anschließend auch treu sind. Zu den Beispielen, die zeigen, wie sich ehrliches
Engagement für Kunden in Form von lebenslangen Fans und Botschaftern auszahlt,
gehören der Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer, Interpolis und die Umpqua Bank:

• Der Rentenfonds der Rotterdamer Ruderer zeigt, was passiert, wenn Menschen zent-
ral sind, weil sie auch als Eigentümer und Mitarbeiter mit der Organisation verbunden
sind und sogar eine eigene Gesellschaft haben.
• Interpolis hat sich entschieden, den Kunden erst Vertrauen zu schenken, und anschlie-
ßend die Erfahrung gemacht, dass sich dieses Verhalten nicht nur in treueren Kunden
und Markenbotschaftern auszahlt, sondern auch zu weniger Forderungen führt, weil
die Kunden selbst Verantwortung übernehmen.
• Die Umpqua Bank ist der Beweis dafür, dass die Bindung von Kunden mit einem
Fokus auf überragenden Service immer noch Möglichkeiten eröffnet, die Beziehung
zu den Kunden in der Welt des Retailbankings zu festigen.

Wert für und durch Anteilseigner: Würden sich Anteilseigner heute wieder für uns
entscheiden und uns anderen Anteilseigner empfehlen?
Abgesehen von der üblichen Verbundenheit mit Anteilseigner auf der Grundlage einer
vorhersehbaren und attraktiven Rendite sind im Finanzdienstleistungssektor auch viele
Beispiele von Verbindungen mit Aktionären und Investoren aus anderen Beweggrün-
den und Perspektiven sichtbar. Dabei sind die Anteilseigner gleichzeitig auch Kunde,
Mitarbeiter oder gesellschaftlicher Partner. Das ist logischerweise der Fall bei den tra-
ditionellen Genossenschaften und im Mikrofinanzsektor, wo Kunden gleichzeitig auch
11  Lektionen für die Schaffung brillanter Businessmodelle … 415

Eigentümer sind. Weitere inspirierende Beispiele sind die Central Beheer, LeapFrog
und Kickstarter:

• Centraal Beheer zeigt, was passiert, wenn Kunden die Dinge gemeinsam selbst in die
Hand nehmen und damit als Kunden auch Verantwortung übernehmen und sich nicht
von Dritten oder dem Staat abhängig machen.
• LeapFrog beweist, dass eine völlig andere Verbundenheit mit Investoren entsteht,
wenn sich diese auch unter gesellschaftlichen Aspekten beteiligen und sich mit Blick
auf mögliche zukünftige Expansionen auf die Art von Unternehmen, in die gemein-
sam investiert wird, Wissen aneignen.
• Kickstarter hat sich ein Unternehmen aufgebaut, das Investoren sucht, die gleichzeitig
auch Kunden für Unternehmer mit einer ansprechenden Produktidee sind (Abb. 11.3).

Wert für und durch die Mitarbeiter: Würden sich Arbeitnehmer heute wieder für
uns entscheiden und uns anderen Arbeitnehmern empfehlen?
Mitarbeiter sind die Wertlieferanten für Kunden und Anteilseigner im Dienstleistungs-
sektor. Banken und Versicherer konkurrieren um die besten Mitarbeiter und derjenige,
dem das am besten gelingt, ist und bleibt brillant. Auffällig an den brillanten Business-
modellen ist, dass sie Menschen an sich binden, die sich mit dem Unternehmen identifi-
zieren. Sie geben einen triftigen Grund für ihr Fortbestehen und funktionieren, weil sie
sich Mitarbeiter suchen, die zu ihren Werten passen. Centraal Beheer, Google und GCash
sind anschauliche Beispiele dafür.

• Centraal Beheer ist seit jeher ein attraktiver Arbeitgeber für unternehmerische Team-
player, die die Dinge gemeinsam selbst in die Hand nehmen. Um den Eigensinn und
Teamgeist zu erhalten, lassen die Verantwortlichen das neue Unternehmensgebäude
entsprechend gestalten und einrichten, lockern die Arbeitsbedingungen, erlauben
Haustiere am Arbeitsplatz und bieten ihren Mitarbeitern die Möglichkeit einer Psy-
choanalyse an.
• Google kümmert sich intensiv um seine „cleveren Gestalter“ und ist zum Traumar-
beitgeber par excellence avanciert. Mitarbeiter bekommen den Raum und die Heraus-
forderung für Innovationen, und das lockt die allerbesten Mitarbeiter an. Google weiß
noch nicht, wie es die Welt verändern wird, aber dass es die Welt verändert, ist offen-
sichtlich.
• GCash inspiriert die besten Mitarbeiter von Globe dazu, Mobiltechnologie einzusetzen,
mit der das Leben von Menschen am Sockel der Wohlstandspyramide tatsächlich verän-
dert wird. Dieses Ziel setzt Energie und Stolz frei, die Globe wiederum selbst stärken.
416 J. Kemperman et al.

Wert durch Kunden

Frage: Würden sich Kunden heute wieder für uns entscheiden und uns anderen Kunden
empfehlen?

Lektion: Übergroße und bedingungslose Treue gegenüber den Kunden zahlt sich häufig aus,
weil diese im Gegenzug dem Unternehmen anschließend auch treu sind

Inspiration: Umpqua Bank, Centraal Beheer und Interpolis zeigen, wie sich ehrliches
Engagement für Kunden in Form von lebenslangen Fans und Botschaftern auszahlt

Wert für und durch Arbeitnehmer Wert für und durch Anteilseigner

Frage: Würden sich Frage: Würden sich Anteilseigner heute


Arbeitnehmer heute wieder für für uns entscheiden und uns anderen
uns entscheiden und uns Anteilseignern empfehlen?
anderen Arbeitnehmern
empfehlen? Lektion: Die Beziehung mit
Investoren kann durch Anteilseigner
Lektion: Arbeitnehmer intensiviert werden, indem
verschreiben sich einer Sache gern Anteilseigner gesucht werden, die
mit Leib und Seele sich auch als Kunde, Mitarbeiter
und/oder gesellschaftlicher Partner
Inspiration: Centraal Beheer, beteiligen
Google und GCash gelingt es,
Mitarbeiter an sich zu binden, die Inspiration: Die Rotterdamer
aufrichtig stolz auf ihr Unternehmen Ruderer, LeapFrog und Kickstarter
sind und zu 100 % dahinter stehen zeigen, wie die Rolle als Investor mit
Engagement in anderen Rollen
kombiniert werden kann

Wert für und durch die Gesellschaft


Frage: Würde die Gesellschaft uns unterstützen, wenn wir heute erneut unsere
geschäftlichen Aktivitäten aufnehmen würden, die wir derzeit ausüben?

Lektion: Banken und Versicherungen sind im Hinblick auf Genehmigungen und


Handlungsspielraum abhängig von der Akzeptanz des Staates, die über Kanäle wie die
öffentliche Meinung und die Medien von der Politik bestimmt wird

Inspiration: Mit Ghamr, Bank Rakyat Indonesia und SKS haben sowohl Hilfe als auch
Widerstand vom Staat erfahren, was verdeutlicht, wie wichtig die Akzeptanz für ihr
Fortbestehen ist

Abb. 11.3  Wertangebot für Kunden und Marktsegmente von Lektionen brillanter Businessmo-


delle im Finanzwesen
11  Lektionen für die Schaffung brillanter Businessmodelle … 417

Wert für und durch die Gesellschaft: Würde die Gesellschaft uns unterstützen,
wenn wir heute erneut unsere geschäftlichen Aktivitäten aufnehmen würden, die
wir derzeit ausüben?
Banken und Versicherungen sind häufig eng mit der Gesellschaft verbunden. Sie bieten
Produkte mit großer gesellschaftlicher Relevanz und ebenso großen Auswirkungen auf
die Gesellschaft. Das ist ein zweischneidiges Schwert: Wenn das Unternehmen erfolg-
reich ist, dient dieser Erfolg als Quelle für zusätzliche Unterstützung. Umgekehrt jedoch
kommt es zum Widerstand, wenn das Unternehmen seiner Verantwortung nicht gerecht
wird. Banken und Versicherungen sind in puncto Handlungsspielraum abhängig von der
Akzeptanz des Staates, die über Kanäle wie die öffentliche Meinung und die Medien von
der Politik bestimmt wird. Mit Ghamr, Bank Rakyat Indonesia und SKS haben allesamt
sowohl Hilfe als auch Widerstand vom Staat erfahren, was verdeutlicht, wie wichtig die
Akzeptanz für ihr Fortbestehen ist:

• Mit Ghamr bekam in Ägypten seinerzeit viel Freiraum ohne Einmischung durch die
Politik. Diese Freiheit war jedoch nur von kurzer Dauer. Trotz seines Erfolgs wurde
Mit Ghamr aufgelöst, als es nicht mehr im Einklang mit der neuen Gleichstellungspo-
litik der Regierung stand.
• Bank Rakyat Indonesia konnte nur fortbestehen, als es den Auftrag von der Regierung
annahm, sich als Bank für die arme Landbevölkerung zu etablieren. Durch die erfolg-
reiche Realisierung dieses Projekts wurde das Unternehmen zu einer großen Bank mit
breiter gesellschaftlicher Akzeptanz und Relevanz.
• SKS wurde von der Öffentlichkeit, den Medien und der Regierung beweihräuchert
wegen des enormen Wachstums, den das Unternehmen mit Mikrofinanzierung reali-
siert hat. Nach dem Börsengang war SKS in seiner Existenz bedroht, als mit Blick auf
eine Reihe von Produkten und Geschäftspraktiken das Interesse der Kunden aus dem
Fokus geriet. Das Unternehmen musste besser für seine Kunden sorgen, damit diese
umgekehrt auch besser für SKS sorgen würden!

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