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Christian 

Keuschnigg 
Michael Kogler   Hrsg.

Die Wirtschaft
im Wandel
Innovation, soziale Sicherheit, und
Wohlfahrt
Die Wirtschaft im Wandel
Christian Keuschnigg · Michael Kogler
(Hrsg.)

Die Wirtschaft im
Wandel
Innovation, soziale Sicherheit, und
Wohlfahrt
Hrsg.
Christian Keuschnigg Michael Kogler
Forschungsgemeinschaft für National- Forschungsgemeinschaft für National-
ökonomie (FGN-HSG) ökonomie (FGN-HSG)
Universität St. Gallen Universität St. Gallen
St. Gallen, Schweiz St. Gallen, Schweiz

ISBN 978-3-658-31734-8 ISBN 978-3-658-31735-5  (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-


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Planung/Lektorat: Carina Reibold


Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden
GmbH und ist ein Teil von Springer Nature.
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort

Prof. Dr. Bernhard Ehrenzeller, Rektor der Universität St.Gallen


„Wissen schafft Wirkung“ – So lautet unser Anspruch als Universität an
Forschung und Lehre. Das Projekt „Next Generation“ und das vorliegende Buch
sind ein bestes Beispiel dafür, wie bereits Studierende sich mit neuster Forschung
auseinandersetzen und dabei sogleich eine Brücke zur breiteren Öffentlichkeit
schlagen können. Unsere Studierenden der Volkswirtschaftslehre erschliessen
sich im Studium die modernen Methoden der empirischen sowie theoretischen
Forschung und erarbeiten sich den aktuellen Bestand des Wissens über
wirtschaftliche Zusammenhänge. Im Projekt „Next Generation“ lernen sie auch,
diese Erkenntnisse in ansprechender und prägnanter Form zugänglich zu machen,
wodurch sie auch zur wirtschaftspolitischen Entscheidfindung beitragen.
Im Stil eines „Reader’s Digest“ fassen die Studierenden die zentralen Kern-
aussagen und die wichtigsten quantitativen Ergebnisse ökonomischer Forschung
zusammen. Sie trainieren so ihre Fähigkeit, Forschungserkenntnisse verständ-
lich zu vermitteln und einzuordnen. Damit leisten die Studierenden selbst einen
wichtigen Beitrag zu einer Kernaufgabe der Universität, sprich zum Wissens-
transfer von der Grundlagenforschung in die wirtschaftspolitische Praxis.
Die Herausgeber wählen geeignete Forschungsarbeiten von hoher Aktuali-
tät und Relevanz aus. Ein kurzer Abstract ordnet das Thema in den wirtschafts-
und gesellschaftspolitischen Kontext ein und erklärt die Relevanz der Arbeit. Die
Texte sind sorgfältig editiert und richten sich an Leser*innen ohne ökonomisches
Hintergrundwissen.
Das Projekt „Next Generation“ ist eine gezielte Begabten- und Nachwuchs-
förderung, die talentierten St.Galler VWL-Studierenden nicht nur in der Wissen-
schaftskommunikation schult, sondern ihnen auch mehr Sichtbarkeit schenkt.
Durch die Verbreitung ihrer Texte in Newslettern, sozialen Medien und externen

V
VI Geleitwort

Wissensplattformen, kommen sie mit einer interessierten Öffentlichkeit in


Kontakt. Mit ihren Beiträgen können sich die angehenden Ökonom*innen den
Entscheidungsträger*innen in Politik und Wirtschaft vorstellen.
Ich danke den Initianten des Projekts, den Herausgebern und den engagierten
Studierenden für ihre Arbeit und wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
Vorwort

Prof. Dr. Christian Keuschnigg, Professor für Nationalökonomie, und


Michael Kogler, PhD, Herausgeber
Die Volkswirtschaftslehre hält eine fast unüberschaubar grosse Fülle empirischer
Forschungsergebnisse bereit, die es für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu
nutzen gilt. Die aktuelle Forschung erweitert laufend das Wissen über wirtschaft-
liche Zusammenhänge und über Auswirkungen von Politikmassnahmen. Damit
legt sie die Grundlage für eine sachliche, evidenzbasierte Politik.
Mit Publikationen in führenden Fachzeitschriften machen Wissenschaftler die
Erkenntnisse ihrer Forschung für die weitere Nutzung durch andere verfügbar.
Die universitäre Lehre vermittelt den Studierenden den Bestand des gesicherten
Wissens, um sie für ihre künftigen Aufgaben vorzubereiten. Wie können
jedoch Politik und Öffentlichkeit von den neuen Erkenntnissen und der Weiter-
entwicklung der Volkswirtschaftslehre profitieren?
Die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft haben in der Regel weder
Zugang zu den spezialisierten Fachzeitschriften noch haben sie das technische
Wissen, um die Ergebnisse direkt würdigen zu können. Auch die Medien und die
Öffentlichkeit brauchen für die demokratische Willensbildung ein unabhängiges
Bild von wirtschaftlichen Entwicklungen und Zusammenhängen. Durch die
Übersetzung der neuen Forschungsergebnisse in ein für ein breites Publikum ver-
ständliches Format kann die Wissenschaft letztlich einen grösseren praktischen
Nutzen für Politik und Öffentlichkeit stiften.
Mit den Forschungsnachrichten des Projekts Next Generation informieren die
besten St.Galler Studierenden der Volkswirtschaftslehre über neue Erkenntnisse
ökonomischer Spitzenforschung. Die Beiträge richten sich an Entscheidungs-
träger in Politik und Wirtschaft, Medien und die interessierte Öffentlichkeit. In
der Lehre ergänzen sie die Inhalte der spezialisierten Veranstaltungen mit ganz

VII
VIII Vorwort

neuen Forschungsergebnissen und ermöglichen den Studierenden, wichtige Quer-


bezüge zwischen den Teildisziplinen der Volkswirtschaftslehre zu erkennen.
Die Beiträge können Studierende anregen, den untersuchten Fragestellungen
im Rahmen von Masterarbeiten oder einer Dissertation auf den Grund zu gehen.
Sie sollen jüngere Studierende für ein vertieftes Studium der Volkswirtschafts-
lehre begeistern. Am wichtigsten scheint uns, dass die studentischen Autoren
mit allgemeinverständlichen Zusammenfassungen die Öffentlichkeit an ihrem
Studium teilhaben lassen und einen eigenständigen Beitrag zum Wissenstransfer
in die wirtschaftspolitische Praxis leisten.
Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Politik und Wirtschaft im Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Christian Keuschnigg und Michael Kogler

Wachstum durch Strukturwandel: Bildung, Innovation, und


wettbewerbsfähige Unternehmen
Eine Top-Uni für eine Top-Karriere: Wer profitiert?. . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Thomas Schiller
Mehr Bildungsrendite mit richtiger Studienwahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Valentine Huber
Wie hoch ist die Rendite privater Forschung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Flurina Mark
F&E-Steueranreize stärken Unternehmensgründungen . . . . . . . . . . . . . . 31
Gerald Gogola

Wachstum durch Strukturwandel: Kapitalmärkte, Banken und


Strukturwandel
Wettbewerbliche Banken fördern das Wachstum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Verena Maria Konzett
Wie Banken den Strukturwandel finanzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Christina Maier

IX
X Inhaltsverzeichnis

Bessere Steueranreize für Banken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49


Laurenz Grabher
Mehr Sicherheit mit zentraler Bankenaufsicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
David Gmür
Wie innovative Start-ups zu Kapital kommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Roberta Maria Koch
Seriengründer: Erfolg macht erfolgreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Korbinian Wester
Wagniskapital: Mit Erfahrung zum Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Margaret Green
Die Tücken der Dividendenbesteuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Laurenz Grabher
Nur gute Schuldner profitieren von niedrigen Zinsen. . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Benedikt Lennartz

Wachstum durch Strukturwandel: Globale Wertschöpfung


Ansteckung in der Wertschöpfungskette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Johannes Matt
Brexit: Unsicherheit ist Gift für die Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Till Nikolaus Folger
Wie verschleiert China den Protektionismus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Piotr Lukaszuk

Wirtschaftlicher Wandel und gesellschaftliche Teilhabe: Ein


handlungsfähiger Staat
Kann Demokratie das Wachstum fördern?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Till Nikolaus Folger
Ein korrektes Verhältnis zum Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Elisabeth Essbaumer
Wie Investoren mit hohen Staatsschulden umgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Julian Johs
Inhaltsverzeichnis XI

Kann Geldpolitik die Marktängste zerstreuen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129


Arthur Corazza
Schuldenerlass oder Schuldenerleichterung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Eric Offner

Wirtschaftlicher Wandel und gesellschaftliche Teilhabe: Ungleichheit


und soziale Mobilität
Die Superstars der Firmen und die Lohnquote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Adrian Jäggi
Innovation, Ungleichheit und sozialer Aufstieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Verena Maria Konzett
Mindern bessere Aufstiegschancen den Wunsch nach mehr Umver-
teilung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Elisabeth Essbaumer
Wenn Frauen mehr als ihre Männer verdienen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Roberta Maria Koch
Kleiner Kredit mit grosser Wirkung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Arnaud Schuele

Wirtschaftlicher Wandel und gesellschaftliche Teilhabe: Beschäftigung


und Arbeitsmarkt
Handel und Innovation: Chance oder Gefahr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Céline Diebold
Wie viel Training brauchen Arbeitslose?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Carina Steckenleiter
Wie die Arbeitslosenversicherung die Wirtschaft stabilisiert. . . . . . . . . . . 189
Isabella Maassen
Wie wirksam ist Regionalförderung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Céline Diebold
Schaden höhere Gewinnsteuern am Ende den Arbeitnehmern?. . . . . . . . 201
Korbinian Wester
XII Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftlicher Wandel und gesellschaftliche Teilhabe: Soziale


Sicherheit und Gesundheit
Macht die Pensionierung gesund oder krank?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Sabrina Stadelmann
Fördert ein Selbstbehalt Sparsamkeit in der Krankenversicherung?. . . . 215
Patrick Hasch
Senkt ein hoher Selbstbehalt die Gesundheitskosten? . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Immanuel Lampe
Herausgeber- und Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Einleitung
Politik und Wirtschaft im Wandel

Christian Keuschnigg und Michael Kogler

Globalisierung, Innovation und Alterung der Gesellschaft treiben den wirtschaft-


lichen Wandel voran. Der Aufstieg Chinas pflügt die Weltwirtschaft um, die
Digitalisierung verändert die Arbeitswelt. Welche neuen Herausforderungen
ergeben sich für die Wirtschaftspolitik? Wie kann die Politik die Voraussetzungen
für nachhaltiges Wachstum in einer sich rasch ändernden Wirtschaft verbessern?
Wer sind die Gewinner und Verlierer? Was kann die Politik tun, damit nicht nur
wenige, sondern möglichst viele vom wirtschaftlichen Wandel profitieren?

Forschung für eine bessere Wirtschaftspolitik


Wissenschaft ist kein Selbstzweck. Der Erkenntnisgewinn soll Nutzen stiften.
In Medizin und Pharmazie sind dies etwa neue Therapien und Medikamente.
Mathematik und Physik legen die Grundlagen dafür, spektakuläre Bauten zu
konzipieren und leistungsfähige Computer zu entwickeln.
Der praktische Nutzen der Volkswirtschaftslehre besteht darin, dass Familien,
Unternehmen und Staat zu besseren Entscheidungen finden, die mehr Wohlfahrt
ermöglichen. Das braucht Theorie und empirische Grundlagen. Einer Wirtschafts-
politik ohne Theorie fehlen Ziel und Plan sowie das Wissen über die zugrunde-
liegenden Wirkungsmechanismen. Eine Politik losgelöst von empirischen Grundlagen
wäre spekulativ. Evaluationsstudien können systematisch aufzeigen, wie wirksam

C. Keuschnigg · M. Kogler (*) 
Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie (FGN-HSG), Universität St. Gallen,
St. Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]
C. Keuschnigg
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 3


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_1
4 C. Keuschnigg und M. Kogler

frühere Massnahmen und Reformen waren. Sie informieren die Entscheidungsträger


darüber, welche Instrumente vielversprechend sind und welche nicht.
Wie kann die Wirtschaftspolitik diese Forschungsergebnisse nutzen? Ent-
scheidungsträgern fehlt oft die Zeit und manchmal auch das spezielle Fach-
wissen, die Entwicklungen in den Fachzeitschriften der Volkswirtschaftslehre zu
verfolgen. Zwar verfügen sie über erfahrene und kompetente Mitarbeiter, welche
das Wissen aus der Forschung in den Entscheidungsprozess einfliessen lassen
können. Sie sollten sich aber idealerweise selbst ein eigenständiges, informiertes
Urteil bilden. Ebenso sollte das breite Publikum ein Grundverständnis über die
wirtschaftlichen Zusammenhänge entwickeln, um wirtschaftspolitische Mass-
nahmen besser bewerten zu können.
Eine Schwierigkeit im Umgang mit der empirischen Forschung liegt darin,
dass viele Studien oft nur Einzelergebnisse liefern. Je nach untersuchter Politik-
änderung oder Reform, je nach Zeitpunkt und institutionellem Umfeld liefert die
empirische Forschung eine grosse Bandbreite von Ergebnissen. Trotzdem lässt
sich in vielen Fällen ein breiter Konsens ableiten.
Dieser Sammelband vermittelt einen Überblick über ausgewählte empirische
Forschungsarbeiten. Studierende der volkswirtschaftlichen Master- und
Doktoratsprogramme an der Universität St.Gallen haben zahlreiche neue
Forschungsergebnisse prägnant zusammengefasst. Sie leisten damit einen
wichtigen Beitrag zum Wissenstransfer von der volkswirtschaftlichen Forschung
in die wirtschaftspolitische Praxis und verbessern damit die Informationsgrund-
lagen für die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Debatte.
Neben der Relevanz der Forschungsarbeiten berücksichtigt die Auswahl der
Beiträge zwei weitere Kriterien. Erstens stammen die Arbeiten aus den führenden
Fachzeitschriften. Sie unterliegen damit einem harten Auswahlprozess mit
strenger Qualitätskontrolle. Die besten Fachzeitschriften akzeptieren wenige der
eingereichten Beiträge, die zudem in einem aufwendigen Begutachtungs- und
Überarbeitungsprozess noch weiter verbessert werden. Zweitens stellt die Aus-
wahl auf das Ansehen der Wissenschaftler in der Fachwelt ab. In den Spitzen-
zeitschriften vergehen oft mehrere Jahre bis zur tatsächlichen Publikation einer
Arbeit. Daher werden auch ganz neue Forschungsarbeiten führender Ökonomen,
die bereits als Diskussionspapiere renommierter Universitäten und Forschungs-
netzwerke zugänglich sind, berücksichtigt.
Der vorliegende Sammelband stellt neue Forschungsergebnisse zu unter-
schiedlichen Themen zusammen. Trotz der grossen Breite und der selektiven
Auswahl der Themen gibt es einen gemeinsamen Nenner, nämlich wirtschaft-
licher Fortschritt durch Wandel. Dieser findet in vielen Bereichen wie Techno-
logie, Industriestruktur und weltweite Arbeitsteilung, Alterung und Demographie
Politik und Wirtschaft im Wandel 5

statt. Er stellt die Wirtschaftspolitik vor neue Aufgaben, die von Bildung und
Forschung über stabile Banken bis zu Fragen der sozialen Sicherheit reichen.

Die Triebkräfte wirtschaftlichen Wandels


Wichtige Treiber des wirtschaftlichen Wandels sind Innovation, Globalisierung
und Demographie. Neue Produkte und Technologien verändern die Wirtschaft.
Sie bieten den Konsumenten grössere Auswahl zu meist niedrigeren Preisen und
führen zu Automatisierung von Produktion und Vertrieb. Die Digitalisierung,
die aufgrund grosser Fortschritte in der Informations- und Kommunikations-
technologie möglich wurde, verändert die Geschäftsmodelle der Unternehmen
und die Arbeitswelt fundamental. Triebkraft dieser Entwicklung ist letztlich die
Innovation. Dieser Prozess beginnt mit neuen, oft radikalen Ideen und führt im
Ergebnis zu besseren Produkten und effizienteren Technologien. Innovation
steigert die Produktivität und ermöglicht höheren Wohlstand. Dies gilt vor allem
für die entwickelten Länder, die ihre Produktivität kontinuierlich steigern.
Aber Innovation hat Gewinner und Verlierer. Im Prozess kreativer Zer-
störung verdrängen innovative Unternehmen mit besseren Produkten und
Dienstleistungen die etablierten Konkurrenten, die es versäumt haben, ihr
Geschäftsmodell anzupassen. Viele Arbeitnehmer können in den Wachstums-
branchen neue Chancen realisieren und an den Einkommensgewinnen teilhaben.
Traditionelle Qualifikationen verlieren jedoch ihren Wert, sodass Löhne und
Beschäftigung in Gefahr geraten.
Ähnliche Folgen hat die Globalisierung. Niedrigere Transportkosten, die Ver-
tiefung und Erweiterung des europäischen Binnenmarktes und die Integration
Chinas und anderer Schwellenländer in die Weltwirtschaft multiplizieren den
internationalen Handel. Dieser ermöglicht eine bessere Spezialisierung und
Arbeitsteilung, spart Kosten und ermöglicht niedrigere Preise. Der weltweite
Wettbewerb und der Zugang zu grossen Absatzmärkten fördern die Innovation.
Alle Länder gemeinsam profitieren von Handelsgewinnen durch niedrigere Preise
und grössere Produktvielfalt. Aber auch im Welthandel gibt es Gewinner und Ver-
lierer, und es braucht gleich lange Spiesse im internationalen Wettbewerb.
Der zunehmende Handel lässt Exporte und Importe gleichermassen wachsen.
Während innovative Exporteure und multinationale Unternehmen stärker
wachsen und mehr Beschäftigung schaffen, müssen andere Unternehmen der
Importkonkurrenz weichen und Arbeitsplätze abbauen. Die Wirtschaftspolitik
muss es schaffen, möglichst viel Beschäftigung auf die expandierenden Branchen
zu lenken und mögliche Verlierer sozial abzusichern. So können möglichst viele
an den Handelsgewinnen teilhaben, damit die Unterstützung für den Freihandel
erhalten bleibt.
6 C. Keuschnigg und M. Kogler

Schliesslich lassen Fortschritte in der Medizin und im Gesundheitswesen die


Lebenserwartung bei länger anhaltender Gesundheit zunehmen. Die zunehmende
Alterung der Gesellschaft verändert das Zusammenleben der jungen und alten
Generationen und stellt die Politik vor grosse Herausforderungen. Sowohl die
Pensionsversicherung als auch das Gesundheits- und Pflegesystem brauchen
erhebliche Anpassungen.

Aufgaben der Wirtschaftspolitik


Wenn die Wirtschaft sich stark wandelt, muss auch die Wirtschaftspolitik sich
ändern und neue Herausforderungen aufnehmen. Sie soll erstens die Voraus-
setzungen dafür schaffen, dass der wirtschaftliche Wandel tatsächlich zu nach-
haltigem Wachstum und höherem Wohlstand führt. Dies erfordert Investitionen in
Bildung und Forschung sowie flexible Arbeits- und Kapitalmärkte, sodass Arbeit-
nehmer und Kapital von schrumpfenden zu expandierenden Branchen wechseln.
Nur ein handlungsfähiger Staat ist dabei in der Lage, diese investiven Aufgaben
zu erfüllen.
Die Wirtschaftspolitik soll zweitens dafür sorgen, dass möglichst viele an den
Chancen des Wandels partizipieren können. Sie muss die Verlierer angemessen
entschädigen und auch den Benachteiligten eine Perspektive auf sozialen Auf-
stieg bieten, damit die Ungleichheit moderat und das Wachstum inklusiv bleibt.
Nach diesen beiden Prinzipien sind die zwei nachfolgenden Abschnitte des Buchs
organisiert.

Wachstum durch Strukturwandel


Bildung, Innovation und wettbewerbsfähige Unternehmen
Die meisten Innovationen wie neue Technologien und Produkte nutzen
Erkenntnisse der Grundlagenforschung. Gleichzeitig brauchen innovative Unter-
nehmen eine gut ausgebildete Belegschaft. Deshalb sind ein gut funktionierendes
Bildungssystem und insbesondere Universitäten mit ihren Standbeinen Forschung
und Lehre eine zentrale Voraussetzung für Innovation. Auch für jeden einzelnen
lohnt sich eine gute Ausbildung. Sie ist entscheidend für sichere Beschäftigung
und attraktive Karriereperspektiven.
Wie ist der Nutzen staatlicher Bildungsinvestitionen zu bewerten? Bildung hat
eine private Rendite wie höhere Einkommen und Lebenszufriedenheit. Doch sie
ist nicht für alle gleich hoch. Es kommt sehr darauf an, dass jeder nach seinen
Fähigkeiten und Interessen das passende Studium absolvieren kann. Zusätzliche
Studienplätze ermöglichen es mehr Studienwerbern, ihre erstbeste Wahl verwirk-
lichen. Weil sie von anderen Fachrichtungen in ihr bevorzugtes Fach wechseln,
Politik und Wirtschaft im Wandel 7

werden andernorts Studienplätze frei. Die gesamtwirtschaftliche Rendite von


Bildungsinvestitionen muss die Gewinne jener „Aufrücker“ berücksichtigen.
Wie kommen besonders hohe Bildungsrenditen zustande? Ist Talent ent-
scheidend, oder ein einflussreiches Elternhaus? Absolventen von Eliteuni-
versitäten haben eine gute Chance, Spitzeneinkommen zu erreichen. Die
empirische Forschung macht deutlich, dass die Bedeutung von Beziehungen
für die Karriere nicht in allen Fachrichtungen gleich wichtig ist. Gerade im
Management hängt der Karriereerfolg aber oft stark von Beziehungen ab. Umso
größer ist die Herausforderung der Politik, diesen Vorteil zu kompensieren und
auf Chancengleichheit hinzuwirken, und der Eliteuniversitäten, ihr Beziehungs-
netzwerk allen zu öffnen.
Neben Investitionen in Ausbildung und Grundlagenforschung fördert der
Staat die private Forschung und Entwicklung von Unternehmen. Damit ver-
bessern diese ihre Wettbewerbsfähigkeit am Weltmarkt und steigern Innovation
und Wachstum der Gesamtwirtschaft. Der Prozess verstärkt sich, da Unternehmen
von den Erkenntnissen ihrer Mitbewerber profitieren. Daher ist die Rendite von
Forschung und Entwicklung für die gesamte Wirtschaft viel höher als für ein
einzelnes Unternehmen. Die Gesellschaft kann viel gewinnen, wenn sie Unter-
nehmen bei Forschung und Entwicklung unterstützt.
Eine Möglichkeit sind Steueranreizen für forschende Unternehmen. Diese
helfen vor allem jungen, innovativen Unternehmen, Finanzierungsengpässe zu
überwinden und regen die Gründungsaktivitäten an. Die empirische Evidenz
zeigt, dass Regionen mit Steueranreizen mehr Unternehmensgründungen ver-
zeichnen als andere. Diese beschleunigen das innovationsgetriebene Wachstum
und stärken die internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Kapitalmärkte, Banken und Strukturwandel


Innovatives Wachstum bringt einen andauernden Strukturwandel mit sich. Dieser
erfordert, dass Arbeit und Kapital flexibel von schrumpfenden zu wachsenden
Branchen und Unternehmen, wo die Zukunftschancen gut sind, wandern können.
In der Realität erschwert eine Vielzahl von Friktionen diesen Wandel. Wenn
Ressourcen in ihren bisherigen Verwendungen blockiert sind, bremst dies den
Wandel und verringert das Produktivitätsgewinne. Deshalb kommt Banken und
Wagniskapitalgeber eine wichtige Bedeutung zu. Sie finanzieren den Struktur-
wandel, indem sie Kapital aus wenig produktiven Firmen abziehen und es dorthin
lenken, wo es produktiv eingesetzt wird und zum Wachstum beiträgt.
Allerdings können nur starke Banken mit ausreichend Eigenkapital diese Auf-
gabe erfüllen. Banken dürfen faule Kredite an wenig wettbewerbsfähige Unter-
nehmen nicht weiter verlängern, sondern müssen sie fällig stellen und teilweise
abschreiben, damit sie die Kredite zu den neuen Wachstumsunternehmen lenken
8 C. Keuschnigg und M. Kogler

können. Schwache Banken mit wenig Eigenkapital können den Strukturwandel


nicht finanzieren, weil die dabei auftretenden Verluste ihre Mindestkapitalaus-
stattung gefährden. Nicht nur die Finanzstabilität, sondern auch der Struktur-
wandel setzt einen starken Bankensektor mit robuster Kapitalausstattung voraus.
Eigenkapital ist jedoch teuer. Daher haben die Banken einen Anreiz, sich
stärker zu verschulden. Dies macht sie nicht nur krisenanfälliger, sondern trägt
auch dazu bei, dass sie faule Kredite nicht fällig stellen, weil ihr Eigenkapital die
Verluste nicht ausgleichen kann. Die Besteuerung fördert den Verschuldungs-
anreiz zusätzlich. Denn das Fremdkapital wird steuerlich entlastet, das Eigen-
kapital aber nicht. Die Bankenregulierung will mit höheren Kapitalstandards die
Eigenkapitalausstattung des Bankensektors stärken. Da macht es wenig Sinn,
wenn der Staat mit dem steuerlichen Schuldenanreiz das genaue Gegenteil tut.
Auch der Wettbewerb zwischen den Banken trägt dazu bei, dass sie den
Strukturwandel besser unterstützten können. Indem sie mehr Informationen über
ihre Kunden sammeln und ihre Prozesse bei der Auswahl und Überwachung
optimieren, gelingt es ihnen besser, die besonders vielversprechenden Unter-
nehmen zu identifizieren. Dadurch können sie die Kreditvergabe vor allem auf
die Unternehmen mit hohem Wachstumspotential lenken.
Bei der Finanzierung von Wachstum kommt es nicht allein auf die Banken an.
Denn gerade bei Start-ups sind diese meist zurückhaltend. In diesem Fall sind
Wagniskapitalgeber besonders wichtig. Sie können besser als andere die Erfolgs-
chancen beurteilen und sind eher bereit, sich zu engagieren. Auf ihre Expertise
können auch weitere Kreditgeber vertrauen. Wagniskapital hilft gleich zwei-
mal. Die Wagnisfinanziers stellen selbst Kapital bereit und geben auch anderen
Investoren das notwendige Vertrauen, sich zu beteiligen. Deshalb ist ein aktiver
Markt für Wagniskapital in einer innovativen Wirtschaft so wichtig.
Trotzdem bleibt das Risiko groß, denn nicht alle Start-ups haben das gleiche
Potenzial. Auch für Wagniskapitalgeber sind die Erfolgsaussichten oft schwer
einzuschätzen. Da das Neue ist auf dem Markt noch nicht getestet ist, zählt die
Erfahrung aus der Vergangenheit. Einem Unternehmensgründer, der bereits ein-
mal Erfolg hatte und Erfahrung sammeln konnte, wird stärker vertraut. Auch ein
Wagnisfinanzier, der auf einen erfolgreichen Leistungsausweis zurückblicken
kann, genießt bei den Gründern und Banken mehr Vertrauen.

Globale Wertschöpfung
Innovation und Globalisierung ermöglichen tiefere Spezialisierung nicht nur
von ganzen Volkswirtschaften, sondern auch von einzelnen Unternehmen. Der
Politik und Wirtschaft im Wandel 9

wirtschaftliche Wandel zeigt sich etwa an immer komplexeren Wertschöpfungs-


ketten, die neue Risiken mit sich bringen.
Je stärker die Arbeitsteilung und Spezialisierung ist, desto mehr sind die
Unternehmen in einem Netzwerk von Lieferbeziehungen eng verflochten und
voneinander abhängig. Fällt ein schwer ersetzbarer Lieferant aus, oder geht
einem wichtigen Kunden das Geld aus, kann es zu einem Unterbruch in der
Produktionskette kommen. Die Ansteckung in der Wertschöpfungskette kann
ganze Branchen erfassen und Konjunkturabschwünge verschärfen. Um die
Krisenrobustheit zu stärken, können die Unternehmen z. B. mit Lagerhaltung,
Diversifizierung der Lieferanten und ausreichenden Kapitalreserven vorsorgen.
Ein aktuelles Beispiel dafür, wie fragil globale Lieferketten sind, ist der
Brexit. Zwar ist Grossbritannien mittlerweile aus der Europäischen Union aus-
getreten, aber wie die künftigen Handelsbeziehungen aussehen, bleibt weiter
unklar. Müssen sich die Unternehmen auf neue Zölle, kostspielige Formalitäten,
Zeitverzögerungen an der Grenze, und teure Unterbrüche in der Wertschöpfungs-
kette einstellen? Die empirische Forschung macht schon jetzt klar, dass Unsicher-
heit Gift für die Wirtschaft ist. Die Unternehmen müssen für alle Eventualitäten
planen und Ressourcen einsetzen, und schieben wichtige Entscheidungen auf.
Bereits bevor der Brexit vollzogen wurde, bremste die Unsicherheit darüber die
britischen Unternehmen und beeinträchtigte Investitionen und Produktivitäts-
wachstum.

Wirtschaftlicher Wandel und gesellschaftliche Teilhabe


Ein handlungsfähiger Staat
Der Staat kann nur in Bildung und Forschung investieren und die Entwicklung
von Banken und Kapitalmärkte unterstützen, wenn er selbst stark und handlungs-
fähig ist. Dies setzt gut funktionierende staatliche Institutionen voraus, denen
die Bürgerinnen und Bürger vertrauen. Mindestens genauso wichtig sind solide
öffentliche Finanzen. Sonst muss der Staat viel Geld für den Schuldendienst
verwenden, weshalb nur wenig Mittel für Zukunftsinvestitionen zur Verfügung
stehen. Die Überschuldung kann zudem rasch zu einer Staatschuldenkrise führen,
die harte Einschnitte für den Staat und dessen Gläubiger verlangt.
Die empirische Forschung zeigt, dass demokratische Institutionen die
wirtschaftliche Entwicklung begünstigen. In einer Demokratie lenken die Bürger
die Politik zu ihrem Vorteil. Reformen werden wahrscheinlicher, die für eine
große Mehrheit und nicht nur für eine privilegierte Minderheit nützlich sind.
Demokratisierung verspricht langfristige Wohlstandsgewinne. Schätzungen
zeigen, dass nach 20 bis 25 Jahren, das Pro-Kopf Einkommen um rund ein Viertel
höher ist. Diese Wohlstandsgewinne sind umso stärker, je mehr Menschen gut
10 C. Keuschnigg und M. Kogler

ausgebildet sind und besser am öffentlichen Diskurs und der Demokratie teil-
nehmen können.
Wenn Bürgerinnen und Bürger den staatlichen Institutionen vertrauen, sind sie
stärker bereit, sich in der Politik und Zivilgesellschaft zu engagieren. Auch die
Steuermoral und der verantwortungsvolle Umgang mit Sozialleistungen nehmen
zu. Ein korrektes Verhältnis der Bürger zum Staat stärkt diesen und ermöglicht
es ihm, den wirtschaftlichen Wandel in grösserem Umfang zu unterstützen und
sozialverträglich zu gestalten.
Wie gross die Leistungsfähigkeit des Staates ist, hängt entscheidend von den
öffentlichen Finanzen ab. Es gibt viele Gründe, wichtige Staatsausgaben mit
Schulden zu finanzieren. Allerdings ist die Tragbarkeit der Staatsverschuldung
begrenzt. Wenn jedoch eine bereits hohe Verschuldung weiter rasch zunimmt, ver-
schwindet das Vertrauen der Investoren. Selbst überschuldete Länder können das
Vertrauen wieder zurückgewinnen, wenn sie eine Wende einleiten. Eine sinkende
Schuldenquote ist ein starkes Signal, dass die Finanzen unter Kontrolle sind.
Fallende Risikoprämien und Zinsen erleichtern eine nachhaltige Konsolidierung.
Geht das Vertrauen der Anleger jedoch verloren, dann setzt eine
unkoordinierte Kapitalflucht ein. Sie lässt die Zinsen schlagartig ansteigen und
verschärft die Krise erst recht. In diesem Fall kann die Geldpolitik kurzfristig
eingreifen, um die prekäre Lage zu stabilisieren. Die empirische Evidenz zu den
Aufkaufprogrammen der Europäischen Zentralbank 2012 zeigt, dass allein deren
Ankündigung die Zinsen rasch und signifikant verringern konnte. Der Zins-
rückgang betrug etwa für italienische Staatsanleihen rund 2 Prozentpunkte, für
spanische rund 2,5 Prozentpunkte.
In einer Staatsschuldenkrise können die Gläubiger mit einem Schulden-
schnitt ein Ende mit Schrecken setzen, damit wenigsten die restliche Staatsschuld
sicher zurückkommt. Oder sie einigen sich auf Schuldenerleichterungen und eine
Streckung der Rückzahlung, und riskieren damit eine verschleppte Insolvenz
anstatt nachhaltiger Gesundung. Forschungsergebnisse zeigen, dass ein Schulden-
schnitt eher Gewähr bietet, zu neuem Wachstum zurückzufinden und die Tragbar-
keit der Staatsschulden wiederherzustellen.

Ungleichheit und soziale Mobilität


Der wirtschaftliche Wandel beeinflusst die Einkommensverteilung und damit die
soziale Ungleichheit. Denn Innovation und Globalisierung schaffen Gewinner
und Verlierer. Erfolgreiche Unternehmer und ihre Beschäftigten profitieren davon,
die Produktion neuer und innovativer Güter und Dienste durch weltweiten Absatz
zu vervielfachen. Wer dagegen in Branchen engagiert ist, die mit zunehmender
Importkonkurrenz zu kämpfen haben, muss Einkommensverluste hinnehmen.
Politik und Wirtschaft im Wandel 11

Die Herausforderungen liegen darin, mehr Betroffenen eine neue Perspektive auf
Aufstiegschancen zu geben und eine übermässige Konzentration der Einkommen
mit starker Ungleichheit zu verhindern.
Die Superstars der Firmen sind überaus innovativ und erzielen überdurch-
schnittlich hohe Gewinne. Mit viel Knowhow und einer hoch qualifizierten, aber
sehr kleinen Belegschaft dominieren sie die Branchen und sichern ihren Gründern
und Eigentümern den Löwenanteil der Wertschöpfung. Der Anteil der Arbeit-
nehmer am Einkommen, die Lohnquote, sinkt, wenn sich die Wertschöpfung von
den übrigen Unternehmen zu den Superstars mit besonders geringer Lohnquote
verschiebt. Gerade in den innovativsten Branchen ist der Rückgang der Lohn-
quote am stärksten.
Die Wettbewerbspolitik ist daher neu gefordert, übermässige Gewinne durch
Ausnutzung von Marktmacht zulasten der Arbeitnehmer und Konsumenten zu
verhindern und den Zutritt neuer Anbieter zu erleichtern. Tatsächlich zeigt die
empirische Evidenz, dass die Konkurrenz durch neue, innovative Unternehmen
auf Dauer unverdiente Renteneinkommen verhindert. Die Beseitigung von Markt-
zutritts- und Wettbewerbsbarrieren kann daher inklusives Wachstum fördern und
der Ungleichheit entgegenwirken.
Zu starke Ungleichheit gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die
Politik kann darauf reagieren, indem sie mit Steuern und Transfers im Nach-
hinein umverteilt, oder indem Sie, z. B. durch besseren Zugang zu Bildung die
Aufstiegschancen verbessert. Wie diese wahrgenommen werden, beeinflusst die
Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zur Umverteilung. Wer in jungen Jahren
aus einfachen Verhältnissen startet, mag nach erfolgreicher Karriere zu den
Spitzenverdienern gehören. Und wer daran glaubt, bald selbst zu den Reichen
zu gehören, hat womöglich weniger Verlangen danach, den eigenen Aufstieg mit
progressiven Steuern und mehr Umverteilung zu erschweren.

Beschäftigung und Arbeitsmarkt


Handel und Innovation lösen einen Strukturwandel aus. Für den Arbeitsmarkt
sind sie Chance und Gefahr zugleich. Innovative Unternehmen erschliessen
neue Märkte und stellen neue Mitarbeiter ein, während andere unter starker
Konkurrenz leiden, sodass Arbeitsplätze verloren gehen. Besonders die Job-
verluste durch Importkonkurrenz etwa aus China führten in den vergangenen
Jahren dazu, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger in den westlichen
Industriestaaten den internationalen Handel kritischer betrachten.
Eine Studie aus den USA zeigt, dass die zunehmende Importkonkurrenz aus
China insgesamt zu Arbeitsplatzverlusten führte, technologischer Fortschritt
und Automatisierung jedoch kaum. So verringerten z. B. um 1000 US$ höhere
Importe aus China pro Arbeitnehmer die Beschäftigungsquote in den USA um
12 C. Keuschnigg und M. Kogler

0,7 Prozentpunkte in 10 Jahren. Besonders die wenig qualifizierten Arbeitnehmer


waren davon betroffen. Den Handel zu unterbinden und den Strukturwandel auf-
zuhalten würde den Fortschritt blockieren. Die Politik braucht aber ein gezieltes
Programm, das die betroffenen Arbeitnehmer absichert und aktiv unterstützt,
mit neuen Qualifikationen anderswo eine neue Beschäftigung mit besseren
Perspektiven zu finden.
Eine Möglichkeit dafür sind Qualifizierungsprogramme für Arbeitslose. Jähr-
lich wenden Industrienationen beträchtliche Summen für solche Programme auf,
in Frankreich beispielsweisen rund 1 % des BIP. Vor dem Hintergrund hoher
Kosten sind belastbare Auswertungen, welche die Wirkung der Programme
evaluieren, von grosser Bedeutung. Tatsächlich zeigen empirische Studien, dass
die Teilnahme an Qualifizierungsprogrammen die Beschäftigungschancen und
Einkommen steigern kann.
Schliesslich kann der Staat auch direkt strukturschwache Gebiete fördern.
Regionalpolitik kann dazu beitragen, die Beschäftigung zu sichern und die Ent-
wicklung mit neuen Investitionen anzustossen. Ist sie tatsächlich wirksam? Oder
führt sie bloss zu einer Verlagerung von Arbeitsplätzen von nicht geförderten zu
geförderten Regionen, ohne dass die Gesamtwirtschaft profitiert? Eine Studie
aus Grossbritannien zeigt durchaus vielversprechende Ergebnisse. Investitions-
zuschüsse können die Beschäftigung in einer Branche steigern, vor allem bei
kleineren Unternehmen. Der Beschäftigungsanstieg kommt meist dadurch
zustande, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden, und nicht, weil sie aus nicht
geförderten Regionen verlagert werden.

Soziale Sicherheit und Gesundheit


Der demographische Wandel und die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft
stellen Sozial- und Gesundheitspolitik vor schwierige Herausforderungen. Eine
Hauptaufgabe besteht darin, die finanzielle Stabilität der Pensionssysteme ange-
sichts steigender Lebenserwartung nachhaltig zu sichern und den Kostenanstieg
im Gesundheitssystem zu bremsen.
Deshalb heben viele Länder Europas das Rentenalter schrittweise an, um das
Pensionssystem zu entlasten. Allerdings darf man diesen Effekt nicht isoliert
betrachtet: So wirkt sich ein späterer Pensionsantritt auch auf die Gesundheit der
Betroffenen aus. Tatsächlich zeigt die empirische Evidenz, dass sich die Wahr-
nehmung der eigenen Gesundheit durch den Pensionsantritt verbessert. Der Anteil
der Befragten, die eine schlechte bis durchschnittliche Gesundheit angeben,
nimmt um bis zu 35 % ab. Gehen Menschen nun später in Pension, sind Folge-
kosten im Gesundheitswesen zu erwarten. Es wäre wichtig, mit begleitenden und
vorbeugenden Massnahmen solche Folgekosten möglichst zu vermeiden.
Politik und Wirtschaft im Wandel 13

Eine Möglichkeit, den Anstieg der Gesundheitskosten zu begrenzen, sind


Selbstbehalte. Die Krankenversicherung bietet Schutz vor hohen Kosten
und Einkommensverlusten bei Krankheit. Wenn die Versicherten einen Teil
der Behandlungskosten selbst zahlen müssen, gehen sie sparsamer mit den
Leistungen um. Empirische Schätzungen zeigen, dass die Versicherten die Selbst-
behalte durchaus berücksichtigen. Demnach reduzieren Selbstbehalte das Risiko
einer Übernutzung von Gesundheitsleistungen. Aber was wäre gewonnen, wenn
die Einsparungen auf Kosten der Qualität der Gesundheitsversorgung gingen?
Weitere Forschungsarbeiten zeigen, dass die Kosten unter anderem auch deshalb
sinken, weil Versicherte bei einem Selbstbehalt teilweise auf medizinisch sinn-
volle Leistungen verzichten.

Information als Grundlage der Politik


Die volkswirtschaftliche Forschung liefert wertvolle Grundlagen für eine
evidenzbasierte Wirtschaftspolitik. Sie gibt Aufschluss über Wirkungszusammen-
hänge und über die quantitativen Auswirkungen verschiedener Reformen und
Programme. Zwar kann auch sie keine absolute Sicherheit bieten. Denn einmal
ermittelte Zusammenhänge müssen unter sich wandelnden Rahmenbedingungen
stets neu überprüft und besser verstanden werden. Nur eines ist gewiss: ohne
empirische Forschung ist eine evidenzbasierte Politik unmöglich. Es bliebe
bloss die Spekulation über mögliche Auswirkungen wirtschaftspolitischer Mass-
nahmen. Die Wirksamkeit der Politik darf nicht dem Zufall überlassen bleiben.
Ebenso sollen die Erkenntnisse der Volkswirtschaftslehre den Wählerinnen
und Wählern dabei helfen, sich eine eigenständige und informierte Meinung über
die ökonomischen Zusammenhänge und die Folgen wirtschaftspolitischer Mass-
nahmen zu bilden. Deshalb ist es wichtig, dass komplexe Erkenntnisse auf das
Wesentliche vereinfacht und allgemein verständlich vermittelt werden. Das ist
der wichtige Beitrag der Studierenden im Projekt ‚Next Generation‘. Mit diesem
zweiten Sammelband, der eine kleine aber hoffentlich wichtige Auswahl neuer
Forschungsergebnisse bietet, lassen Nachwuchskräfte der Volkswirtschaftslehre
das interessierte Publikum an ihrem Wissen aus dem Studium teilhaben.
14 C. Keuschnigg und M. Kogler

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Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
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Wachstum durch Strukturwandel: Bildung,
Innovation, und wettbewerbsfähige
Unternehmen
Eine Top-Uni für eine Top-Karriere: Wer
profitiert?

Thomas Schiller

Relevanz
Das Renommee der Eliteuniversitäten ist enorm. Ihre Alumni schaffen es
in die Top 1 % der Einkommen und dominieren das Who is Who in Wirt-
schaft und Gesellschaft. Doch wer profitiert von der Eliteausbildung?
Ist Talent entscheidend, oder die Abstammung von einem einfluss-
reichen Elternhaus? Fördern die Eliteuniversitäten die Chancengleich-
heit und den sozialen Aufstieg, oder tragen sie gar zur Zementierung der
Ungleichheit bei? Es scheint, dass die Bedeutung von Beziehungen für die
Karriere nicht in allen Studiengängen gleich wichtig ist. Der Erfolg einer
Management-Karriere hängt scheinbar mehr von Beziehungen ab als in
anderen Studienrichtungen. Die Pflege des Beziehungsnetzes profitiert von
einem vorteilhaften sozialen Hintergrund und geht von ganz alleine. Umso
grösser ist die Herausforderung der Politik, diesen Vorteil zu kompensieren
und auf Chancengleichheit hinzuwirken, und der Eliteuniversitäten, ihr
Beziehungsnetzwerk allen zu öffnen.

Quelle
Zimmerman, Setz D. (2019), Elite Colleges and Upward Mobility to Top Jobs
and Top Incomes, American Economic Review 109, 1–47.

T. Schiller (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 17


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_2
18 T. Schiller

Eine gute Ausbildung verspricht sozialen Aufstieg. Ein Studienabschluss


von einer renommierten Universität steigert die Chance auf einen attraktiven
Arbeitsplatz sowie ein hohes Einkommen, nicht selten am obersten Ende der
Einkommensverteilung. Viele Universitäten werben mit der Karrierelaufbahn
ihrer Absolventen und mit den beruflichen Erfolgen ihrer Alumni um die neue
Studierendentalente.
Gibt es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zwischen der Alma Mater
und der späteren Position ihrer Alumni in der Einkommensverteilung? Wer
profitiert am meisten von einem Studium an einer Eliteuniversität? Kann ein
Studium Chancengleichheit und sozialen Aufstieg fördern oder zementiert es
bloß die bestehende Ungleichheit? Wie unterscheiden sich die Studiengänge einer
renommierten Universität in ihren Auswirkungen auf Karrieren und Einkommen?
Verspricht ein Wirtschaftsstudium mehr als eine andere Studienwahl?
Seth Zimmerman von der Universität Chicago untersuchte, wie sich die Aus-
bildung an einer Eliteuniversität auf Berufs- und Einkommenschancen aus-
wirkt. Dazu verwendete er Daten aus Chile, welche für diese Frage besonders
geeignet sind. In Chile müssen alle Bewerber an Spitzenuniversitäten einen
standardisierten Aufnahmetest ablegen, der über die Zulassung entscheidet.
Damit wird es möglich, Einkommen und Karrieren jener Bewerber, welche
die Aufnahme gerade noch schafften, mit dem beruflichen Erfolg der anderen
zu vergleichen, die knapp nicht zugelassen wurden und auf durchschnitt-
liche Universitäten ausweichen mussten. Da beide Bewerbergruppen nahe an
der Zulassungsgrenze landeten, ist es sehr plausibel, dass sich ihre Merkmale
nicht systematisch voneinander unterscheiden, außer eben durch die Zulassung.
Dieser Vergleich ermöglichte es dem Forscher, die Effekte des Studiums an
einer Spitzenuniversität unbeeinflusst von anderen Faktoren wie z. B. den
intellektuellen Fähigkeiten des Bewerbers zu quantifizieren.
In Chile verfügen die Absolventen eines rechts- und ingenieurwissenschaft-
lichen sowie eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums an einer Elite-
universität über die besten Karriere- und Einkommenschancen. Dies trifft im
Besonderen auf ein Wirtschaftsstudium zu, das auf eine Tätigkeit im Management
vorbereitet: Zwar bewerben sich nur rund 1,8 % aller Studieninteressierten für
einen solchen Studiengang, jedoch machen diese rund 27 % aller Top 1 %- und
gar 39 % aller Top 0,1 %-Einkommen aus. Die Wahrscheinlichkeit, ein Top
0,1 %-Einkommen zu erreichen und somit mehr zu verdienen als 99,9 % der
Bevölkerung, ist mit einem auf Management orientierten Studiengang rund 16mal
höher als beispielsweise bei einem Medizinstudium. Ähnliches zeigt sich bei der
Berufslaufbahn: Absolventen eines Wirtschaftsstudiums sind überproportional in
Führungspositionen vertreten.
Eine Top-Uni für eine Top-Karriere: Wer profitiert? 19

Die empirischen Schätzungen zeigen, dass die Zulassung zu einem


Management-Studium an einer Eliteuniversität die Chancen auf ein Höchstein-
kommen an der Spitze der Einkommensverteilung und auf eine Führungsposition
deutlich verbessert. Ein Bewerber, der knapp in einen solchen Studiengang
aufgenommen wurde, hat eine deutlich bessere Chance, zukünftig ein Top
0,1 %-Einkommen zu erzielen, als einer, der knapp abgelehnt wurde und auf die
nächst bessere Alternative ausweichen musste. Die Eliteausbildung erhöht die
Wahrscheinlichkeit eines Höchsteinkommens um rund 50 % im Vergleich zur
Ausbildung an einer durchschnittlichen Universität. Ebenso nimmt dadurch die
Wahrscheinlichkeit, im Laufe der Karriere eine Führungsposition zu erreichen,
um rund 44 % zu.

Absolventen einer Spitzenuniversität haben eine um 50 Prozent höhere Chance, ein


Top 0.1%-Einkommen zu erzielen, und eine um 44 Prozent höhere Chance auf eine
Führungsposition.

Allerdings sind die Vorteile einer Eliteausbildung sehr einseitig verteilt: Über-
wiegend profitieren männliche Bewerber, die vor dem Studium ein privates
Gymnasium besuchten und typischerweise aus wohlhabenden Familien stammen.
In dieser Gruppe steigert ein Wirtschaftsstudium an einer Spitzenuniversität die
Chance auf ein Top-0,1 % Einkommen um ganze 69 % und auf eine Führungs-
position um 54 %. Sowohl für Frauen als auch für Männer mit einem öffentlichen
Gymnasialabschluss findet der Forscher hingegen keine signifikanten Effekte.
Abb. 1 illustriert die Wahrscheinlichkeit eines Spitzeneinkommens abhängig vom

Abb. 1   Wahrscheinlichkeit eines Spitzeneinkommens (Top 0,1 %) und Zulassung zur


Eliteuniversität. (Quelle: Zimmerman 2019, S. 24)
20 T. Schiller

Ergebnis des Aufnahmetests abhängig vom Geschlecht (links) bzw. Schulbildung


(rechts, nur männliche Bewerber). Nur Bewerber mit Testergebnissen über der
Schwelle von null wurden zum Studium zugelassen.

Eine Spitzenausbildung begünstigt vorwiegend Männer aus wohlhabenden


Familien. In dieser Gruppe steigert das Studium die Wahrscheinlichkeit für ein
Höchsteinkommen um 69 Prozent.

Warum profitieren überwiegend Männer aus wohlhabenden Familien vom


Studium an einer Eliteuniversität? Seth Zimmerman betrachtet zuerst einige nahe-
liegende Faktoren, welche diese Entwicklung erklären könnten, wie Unterschiede
in der Ausbildungsqualität zwischen privaten und öffentlichen Schulen oder
Charakteristika des Arbeitsmarktes, welche bestimmte Gruppen begünstigen.
Jedoch haben die Absolventen öffentlicher und privater Gymnasien in Chile
nahezu identische Testergebnisse in Kernfächern wie Lesen und Mathematik.
Solche Faktoren können also die überproportionalen Einkommens- und Karriere-
vorteile von Männern mit hohem sozioökonomischem Status kaum erklären.
Dass nur bestimmte Gruppen mit hohem Status von der Spitzenausbildung
profitieren, scheint eine Besonderheit von Managementkarrieren zu sein.
Seth Zimmerman analysiert als Vergleich auch die Einkommenschancen von
Bewerbern medizinischer Studiengänge an Eliteuniversitäten, die ähnlich selektiv
sind. Dabei zeigt sich, dass die Zulassung zum Studium die Chance, zu den
Top 10 % oder Top 0,1 % der Einkommen aufzusteigen, für Absolventen von
Privatschulen nicht signifikant stärker erhöht als für Absolventen öffentlicher
­
Schulen. Die Vorteile einer Spitzenausbildung sind gleichmäßiger verteilt.
Weshalb verlaufen Karrieren im Management anders? Ein zentraler Unter-
schied zu anderen Tätigkeiten besteht in der Rolle persönlicher Beziehungen,
welche den Karriereverlauf oft entscheidend fördern. Solche Bindungen entstehen
oft bereits zwischen Kommilitonen an der Universität. Offenbar können in Chile
Männer mit einer Privatschulbildung leichter solche Bindungen zu Kommilitonen
mit ähnlichem Hintergrund entwickeln. Seth Zimmerman analysiert, wie
häufig Absolventen desselben Jahrgangs und derselben Universität gleichzeitig
Führungspositionen im selben Unternehmen innehaben. Die Wahrscheinlichkeit
dafür ist mehr als doppelt so hoch, wenn jemand zuvor ein privates Gymnasium
besucht hat.

Männer mit hohem sozioökonomischem Status formen persönliche Bindungen an


der Universität leichter und profitieren daher überproportional von einer Spitzenaus-
bildung in Wirtschaft und Management.
Eine Top-Uni für eine Top-Karriere: Wer profitiert? 21

Ein Studium an einer Eliteuniversität verbessert die Chancen auf Höchst-


einkommen und auf Führungspositionen besonders im Management. Davon
profitieren allerdings überwiegend Absolventen mit hohem sozioökonomischem
Status wie z. B. Männer aus wohlhabenden Familien. Frauen oder Männern aus
einfacheren Verhältnissen bringt hingegen eine Eliteausbildung kaum signifikant
bessere Karriere- und Einkommenschancen, im Vergleich zu einer ähnlichen
Ausbildung an anderen Universitäten. Die Studienergebnisse deuten darauf hin,
dass die an der Universität aufgebauten Beziehungen ein wesentlicher Grund für
einen besseren Karriereerfolg sind. Männern aus reichem Hause können solche
Beziehungen leichter entwickeln und profitieren daher überproportional stark von
der Eliteausbildung. Mögliche Lösungsansätze, um die Gewinne gleichmäßiger
zu verteilen und die Chancengleichheit zu verbessern, liegen in einer stärkeren
sozialen Integration aller Studierenden während der Ausbildung, beispielsweise
durch die zufällige Zuteilung von Mitbewohnern oder Lerngruppen.

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Mehr Bildungsrendite mit richtiger
Studienwahl

Valentine Huber

Relevanz
Damit staatliche Investitionen in die Hochschulbildung möglichst viel
Wirkung entfalten, kommt es sehr darauf an, dass jeder nach seinen Fähig-
keiten und Neigungen das passende Studium verwirklichen kann. Wenn
der Staat in höhere Kapazitäten investiert und mehr Studienplätze in einer
Fachrichtung mit hoher Bildungsrendite schafft, können mehr Studien-
werber ihre erstbeste Wahl in diesem Fach verwirklichen und so zu mehr
Einkommen und Lebenszufriedenheit kommen. Weil sie von anderen Fach-
richtungen in ihr bevorzugtes Fach wechseln, werden andernorts Studien-
plätze frei. Mindestens so wichtig für die gesamtwirtschaftliche Rendite
von Bildungsinvestitionen sind die Gewinne der «Aufrücker», welche
mit den frei werdenden Studienplätzen ihre nächst bessere Studienwahl
realisieren können. Auch ihre Einkommensgewinne sollten in einer gesamt-
wirtschaftlichen Beurteilung von Bildungsinvestitionen mitzählen.

Quelle
Kirkeboen, Lars J., Edwin Leuven und Magne Mogstad (2016), Field of Study,
Earnings and Self-selection, Quarterly Journal of Economics 131(3), 1057–1112.

Etwa 45 % der Schweizer Jugendlichen entscheiden sich für eine tertiäre Aus-
bildung wie z. B. an einer Fachhochschule oder Universität. Bildung hat eine
Rendite. Im Durchschnitt können sie später einen signifikant höheren Lohn

V. Huber (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 23


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_3
24 V. Huber

erwarten als ihre Mitbewerber ohne tertiäre Ausbildung. Allerdings kommt


es maßgeblich auf die Wahl der Fachrichtung und Bildungsinstitution an.
Diese bestimmen, wie hoch die Bildungsrendite letztendlich ausfallen wird.
Die Forscher Lars Kirkeboen, Edwin Leuven, und Magne Mogstad haben für
Norwegen die Bildungsrenditen einzelner Studiengänge untersucht, und wie die
späteren Einkommen von einer geschickten Studienwahl abhängen.
Um die Bildungsrenditen zu schätzen, nützen die Wissenschaftler eine Eigen-
heit im norwegischen Bildungssystem aus. Um sich an einer norwegischen
Universität einzuschreiben, müssen Maturitätsabgänger eine Wunschliste ein-
reichen, auf welcher sie bis zu 15 Präferenzen bestehend aus Studienrichtung
und Bildungsinstitution angeben. Danach werden die Studienplätze zentral ver-
geben, wobei jeweils diejenigen Maturanden mit den besten Abschlussnoten mit
der höchsten Priorität bedient werden. Wenn es z. B. an der Universität in Oslo
für ein Medizinstudium nur 200 Plätze gibt, werden die 200 besten Bewerber
zum Studium zugelassen, welche Medizin in Oslo als erste Präferenz angegeben
haben. Die restlichen Bewerber erhalten Studienplätze entsprechend ihren
weiteren Prioritäten. Im Durchschnitt können nur 40 % der Bewerber ihren meist
präferierten Studienplatz belegen. Immerhin werden fast 80 % der Studierenden
nach einer ihrer ersten drei Präferenzen eingeteilt.

Im Durchschnitt können nur 40% der Bewerber ihren meist präferierten Studien-
platz aufnehmen. Fast 80% erhalten einen Studienplatz nach ihren ersten drei
Präferenzen.

Welchen Einfluss hat die Studienwahl auf die Bildungsrendite? Zur Schätzung der
Bildungsrenditen benützen die Forscher administrative Informationen zu Familien-
hintergrund, Wohnort und Einkommen. Die Stichprobe umfasst alle Studierenden,
welche sich zwischen 1998 und 2004 für eine tertiäre Ausbildung beworben haben.
Die Einkommen werden jeweils 8 Jahre nach der Bewerbung betrachtet.
Um verzerrende Einflüsse von unbeobachteten Einflussfaktoren auf die Wahl
und Zuteilung verschiedener Studienrichtungen auszuschließen, vergleichen die
Forscher die Einkommen von Personen, welche dieselben Präferenzen angegeben
haben, und welche direkt an der Zulassungsgrenze zwischen zwei Fachrichtungen
liegen und mit etwas Glück ihre nächst bessere Wahl hätten realisieren können.
Ein solches Verfahren ermöglicht die Schätzung des kausalen Effekts der Studien-
wahl auf den späteren Berufserfolg, da die betrachteten Studierenden sich nur in
ihrer finalen Studienrichtung unterscheiden, nicht aber in ihren Präferenzen oder
anderen Charakteristika.
Man stelle sich vor, dass alle Studierenden, welche ein Medizinstudium in
Oslo als erste Wahl angegeben haben, anhand ihrer Noten gereiht werden. Die
Mehr Bildungsrendite mit richtiger Studienwahl 25

Abb. 1   Durchschnittliche Bildungsrendite im Vergleich zur nächstbesten Alternative


(gewichtet), in tausend US-Dollar

Forscher vergleichen nun das später erzielte Einkommen der Person auf Rang
200 mit dem Einkommen der Person auf Rang 201. Diese beiden Personen
sollten angesichts der fast identischen Reihung die gleichen „Qualitäten“
besitzen, jedoch kann nur die erste Person in Oslo Medizin studieren. Die zweite
Person muss ein anderes Studium oder eine andere Bildungsinstitution besuchen.
So kann man den Einfluss der Studienwahl auf das spätere Einkommen isolieren
und andere Einflüsse ausschalten.
Vergleicht man also zwei Studierende an der Zulassungsgrenze, kann man
den Effekt der Fachauswahl auf die Bildungsrenditen schätzen. Abb. 1 zeigt, dass
die geschätzten Renditen eindeutig und ganz erheblich unterschiedlich sind. So
verdient ein Absolvent der Geisteswissenschaften im Durchschnitt weniger, als
wenn dieselbe Person ihrer nächstbesten Studienwahl nachgegangen wäre. Hin-
gegen kann z. B. ein Absolvent eines Medizinstudiums mit einem Plus von knapp
60′000 US$ gegenüber seiner nächstbesten Alternative rechnen.
Die Forscher nutzen ihre Ergebnisse, um die möglichen Auswirkungen
verschiedener politischer Handlungsalternativen zu schätzen. Wie würde sich z. B.
eine höhere Zulassungsquote für das Studium der Naturwissenschaften auf den
späteren Arbeitsmarkterfolg auswirken? Eine Öffnung der Zulassungsbedingungen
26 V. Huber

hätte sowohl einen direkten wie auch einen indirekten Effekt auf die Bildungs-
rendite. Direkt wären jene Studierende betroffen, welche mit einer höheren
Zulassungsquote ihre erste Wahl des Studienplatzes realisieren könnten. Indirekt
würden aber auch weitere Gruppen profitieren, nämlich jene, welche durch die frei
gewordenen Plätze in ihren nächst besseren Studienplatz aufrücken könnten. Die
Forscher schätzen, dass es bei 100 zusätzlichen Studienplätzen in den Naturwissen-
schaften im Durchschnitt zu einer Einkommenserhöhung von 19′400 US$ (direkter
Effekt bei jenen, die neu ihre erste Wahl realisieren können) und 46′100 US$
kommen würde (indirekter Effekt bei jenen, die einen nächste besseren Studien-
platz erhalten). Der große indirekte Effekt erklärt sich dadurch, dass viele der 100
freiwerdenden Plätze in Studienfeldern mit hoher Bildungsrendite sind, so zum
Beispiel 19 Plätze im Bereich Lehre und 27 im Bereich Betriebswirtschaft.

Bei 100 zusätzlichen freien Studienplätzen in den Naturwissenschaften käme es im


Durchschnitt zu einer Einkommenserhöhung von 19’400 US Dollar bei jenen, die
neu ihre erste Wahl realisieren können, und 46’100 US Dollar bei jenen, die einen
freiwerdenden nächst besseren Studienplatz erhalten.

Reformen, welche die Zulassungsquoten zu einem Studienbereich verändern,


wie z. B. ein Numerus Clausus in der Medizin, sollten also stets auch die Aus-
wirkungen auf jene Studienwerber im Blick haben, die nicht ihren meist bevor-
zugten Studienplatz erhalten, sondern nur mit schwächerer Priorität bedient
werden. Diese Aufrücker, welche nunmehr ihre nächst bessere Studienwahl
realisieren können, erzielen damit ganz erhebliche Einkommensgewinne, die bei
einer gesamtwirtschaftlichen Beurteilung mitzählen müssen. Allerdings werden
diese in der heutigen Bildungspolitik oft außer Acht gelassen.

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Wie hoch ist die Rendite privater
Forschung?

Flurina Mark

Relevanz
Mit privater Forschung und Entwicklung bauen die Unternehmen ihre
Wettbewerbsfähigkeit aus und steigern Innovation und Wachstum der
Gesamtwirtschaft. Dabei lernen und profitieren sie von den F&E-Erfolgen
und Erkenntnissen ihrer Mitbewerber mit ähnlicher technologischer Aus-
richtung. Wenn dagegen die Konkurrenten auf den Absatzmärkten auf-
rüsten und Marktanteile besetzen, ist es für die Absatzchancen und den
eigenen F&E-Ertrag weniger gut bestellt. Die Forschung zeigt jedoch, dass
die Vorteile privater F&E für andere Unternehmen deutlich überwiegen.
Daher ist die F&E-Rendite für die gesamte Wirtschaft viel höher als die
private Rendite eines einzelnen Unternehmens. Wenn die Rendite gering
ist, investiert man weniger. Die Gesellschaft kann viel gewinnen, wenn sie
private F&E erleichtert und unterstützt.

Quelle
Brian Lucking, Nicholas Bloom und John Van Reenen (2018), Have R&D Spill-
overs Changed? NBER Working Paper No. 24622.

Viele Unternehmen betreiben Forschung und Entwicklung (F&E). Damit bringen


sie die Innovation und das Wachstum der Wirtschaft voran. Forschung und Ent-
wicklung nützen in erster Linie dem Unternehmen selbst, welches in diese Aktivi-
täten investiert. Zudem beeinflussen sie indirekt auch die anderen Unternehmen.

F. Mark (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 27


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_4
28 F. Mark

Einerseits kann F&E die Produktivität von Unternehmen steigern, welche ähn-
liche Technologien verwenden und daher über Prozessinnovationen und techno-
logische Verbesserungen lernen und davon profitieren. Andererseits leiden
Wettbewerber, die ähnliche Güter anbieten. Denn innovativere Produkte ver-
ringern typischerweise die Nachfrage nach Konkurrenzprodukten. Wie lassen sich
diese zwei gegenläufigen Effekte empirisch unterscheiden und quantifizieren?
Die Ökonomen Brian Lucking, Nicholas Bloom und John Van Reenen von den
Universitäten Stanford und MIT untersuchen, wie sich F&E auf andere Unter-
nehmen auswirkt („Spillover-Effekte“). Dazu verwenden sie Daten zu Patenten,
finanziellen Kennzahlen und Performance US-amerikanischer Unternehmen
zwischen 1980 und 2015. Im Vergleich zu früheren Studien erstreckt sich ihr
Datensatz über einen längeren Zeitraum und umfasst auch neuere Patente.
Wie kann man die positiven und negativen Spillover-Effekte in den Daten
erfassen? Dabei spielt die Nähe von Unternehmen entweder im Sinne ähnlicher
Technologien oder vergleichbarer Absatzmärkte ihrer Produkte eine wichtige Rolle.
So gelten zwei Unternehmen, welche über viele Patente in denselben Technologie-
bereichen verfügen oder hohe Umsätze in den gleichen Branchen erzielen, als nahe.
Im ersten Fall ist ein positiver, im zweiten Fall aber ein negativer Spillover-Effekt
der F&E plausibel. Die so beschriebene Nähe misst, wie stark ein Unternehmen
gegenüber den F&E-Aktivitäten anderer Unternehmen exponiert ist. Die Inter-
dependenzen hängen jedoch nicht allein von der Nähe ab, sondern auch vom Umfang
der Forschungsaktivitäten Dritter. Je näher und forschungsintensiver andere Unter-
nehmen sind, desto stärker fallen die positiven und negativen Spillover-Effekte aus.
Die Wissenschaftler analysieren die Auswirkungen von F&E auf verschieden
Unternehmenskennzahlen wie Marktwert, Anzahl Patente, und F&E-Ausgaben.
Die zentrale Hypothese ist, dass der Marktwert eines Unternehmens mit den
F&E-Aktivitäten anderer, technogisch vergleichbarer Unternehmen steigt.
Die Anzahl der Patente und die Produktivität sollten sich erhöhen. Intensivere
Forschungsanstrengungen der Konkurrenten, welche ihre Marktanteile ausbauen
wollen, werden sich dagegen eher negativ auf die betroffenen Unternehmen aus-
wirken. Wie sich positive oder negative Spillover-Effekte auf die F&E-Ausgaben
eines Unternehmens auswirken, ist also a priori nicht eindeutig.
Die empirischen Schätzungen zeigen, dass die Spillover-Effekte den Marktwert
signifikant beeinflussen. Nehmen die Forschungsaktivitäten naher Unternehmen mit
ähnlicher Technologie um 10 % zu, so erhöht sich der Marktwert eines Unternehmens
um 32,4 %. Ein vergleichbarer Anstieg der F&E bei den unmittelbaren Konkurrenten
auf den Absatzmärkten verringert dagegen den Marktwert um 8,6 %. Zudem schätzen
John Van Reenen und seine Ko-Autoren einen Anstieg der Patentzahlen, wenn Unter-
nehmen mit ähnlicher Technologie sehr forschungsintensiv sind. Weiter nimmt
die Produktivität um 23,1 % zu, wenn technologisch nahe Unternehmen ihre F&E-
Wie hoch ist die Rendite privater Forschung? 29

Aktivitäten um 10 % steigern. Ihre Ergebnisse zeigen aber auch, dass forschungs-
intensivere Konkurrenten, die um dieselben Marktanteile kämpfen, den Nutzen der
eigenen F&E tendenziell schmälern und die Zahl der Patente verringern.
Schliesslich erhöhen beide Spillover-Effekte die Forschungsausgaben eines
Unternehmens, zum einen, weil sie von den Erfahrungen und Erkenntnissen techno-
logisch naher Mitbewerber profitieren, zum anderen aber auch, um sich gegen die
Konkurrenten auf den Absatzmärkten zu wehren. F&E der anderen Unternehmen ver-
stärkt daher den Anreiz, selbst mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren.

Steigen die Forschungsanstrengungen anderer Unternehmen mit einer ähnlichen


Technologie um 10 %, vergrössert sich der Marktwert um 32.4 %. Nehmen die F&E-
Aktivitäten der Produktmarktkonkurrenten um 10 % zu, sinkt der Marktwert um 8.6 %.

In einem nächsten Schritt dokumentieren die Forscher, dass sich zwischen 1980
und 2015 die positiven und negativen Nebenwirkungen privater F&E insgesamt
nur wenig verändert haben. Während des Dotcom-Booms zwischen 1995 und 2005
waren die positiven Spillover-Effekte auf den Marktwert um 48 % grösser und die
negativen um 38 % niedriger. Dies spiegelt möglicherweise den Enthusiasmus der
Investoren für forschungsintensive Unternehmen zu jener Zeit wider.

Die soziale Ertragsrate zusätzlicher F&E ist rund viermal so hoch wie die private
Rendite. Weil die Unternehmen nicht alle gesellschaftlich relevanten Erträge der
Innovation berücksichtigen, fallen die privaten F&E-Investitionen zu gering aus.

Schliesslich schätzen die Wissenschaftler die sozialen und privaten Renditen


zusätzlicher F&E-Investitionen. Der private Ertrag misst die Veränderung der
eigenen Wertschöpfung aufgrund höherer F&E-Aktivität jenes Unternehmens. Hin-
gegen misst der soziale Ertrag die Veränderung der gesamten Wertschöpfung aller
Unternehmen gemeinsam und berücksichtigt damit die positiven und negativen
Spillover-Effekte der privaten F&E. John Van Reenen und seine Ko-Autoren
schätzen den sozialen Ertrag auf 57,7 % und den privaten auf 13,6 %. Die sozialen
Ertragsraten waren somit rund viermal so hoch wie private. Dieser Unterschied
fiel stärker aus als in früheren Studien mit einem kürzeren Beobachtungszeitraum.
Diese schätzten eine etwa dreimal höhere soziale Rendite. Der zunehmende Unter-
schied zwischen der sozialen und privaten Ertragsrate war überwiegend einem
kleineren privaten Grenzertrag der F&E zuzuschreiben. Dass der soziale Ertrag
den privaten übersteigt, weist auf ineffizient niedrige F&E-Aktivitäten von Unter-
nehmen hin. Sie berücksichtigen bei ihrer eigenen F&E-Entscheidung nicht, dass
auch andere Unternehmen davon profitieren würden. Aus gesellschaftlicher Sicht
wäre daher eine Ausdehnung privater F&E-Investitionen wünschenswert.
30 F. Mark

Abb. 1   Die soziale Ertragsrate von F&E-Investitionen. (Quelle: Lucking et al. 2018)

Abschliessend untersuchten die Forscher die Veränderung der sozialen


Ertragsrate über die gesamte Zeitperiode von 1985 bis 2015 (siehe Abb. 1).
Sie berechneten diese Grösse sowohl für die Unternehmen in der Stichprobe
(schwarze Linie) als auch für alle US-amerikanischen Unternehmen anhand
aggregierter Daten (blaue gestrichelte Linie). Letzteres sollte einer Verzerrung
vorbeugen. Denn die beobachteten Unternehmen waren vergleichsweise
forschungsintensiv und daher möglicherweise nicht repräsentativ für die gesamte
Unternehmenslandschaft der USA. Die Wissenschaftler stellen jedoch fest,
dass die soziale Rendite unabhängig davon keine massiven Schwankungen ver-
zeichnete und sich relativ stabil verhielt.

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F&E-Steueranreize stärken
Unternehmensgründungen

Gerald Gogola

Relevanz
Mit innovativen Ideen erlangen junge Unternehmen Wettbewerbsvorteile
und legen den Grundstein für weiteres Wachstum. Sie schaffen überdurch-
schnittlich viele Arbeitsplätze und tragen zur Erneuerung der Wirtschaft
bei. F&E-Steueranreize helfen, Finanzierungsengpässe zu überwinden
und regen die Gründungsaktivitäten an. Regionen mit F&E-Steueranreizen
können daher mehr Gründungen verzeichnen als andere. Damit können
Staaten und Regionen nicht nur das innovationsgetriebene Wachstum
beschleunigen, sondern auch ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit
stärken.

Quelle
Fazio, Catherine, Jorge Guzman und Scott Stern (2019), The Impact of State-
Level R&D Tax Credits on the Quantity and Quality of Entrepreneurship, NBER
WP 26099.

Junge Unternehmen spielen eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Ent-
wicklung. Mit Forschung und Innovation entwickeln sie neue Geschäftsmodelle,
bauen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit aus und legen den Grundstein
für ein starkes Unternehmenswachstum. Damit schaffen sie neue Arbeitsplätze,
tragen zur Erneuerung der Wirtschaft bei und treiben das Wirtschaftswachstum
voran. Viele Staaten versuchen, mit Steuergutschriften Forschung und Ent-

G. Gogola (*) 
WPZ Research, Wien, Österreich
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 31


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_5
32 G. Gogola

wicklung (F&E) nicht nur in den bestehenden Unternehmen anzuregen, sondern


auch die Zahl innovativer Gründungen zu steigern. Doch wie effektiv ist die
steuerliche F&E-Förderung, innovative Gründungen anzustoßen? Wie stark
können innovative Start-ups davon profitieren?
Catherine Fazio, Jorge Guzman und Scott Stern untersuchen solche Fragen
anhand der Entwicklungen in den USA. Dort haben neben der Bundesregierung
auch die Bundesstaaten und die Bezirke („counties“) steuerlichen Gestaltungs-
spielraum. So haben in den letzten Jahren viele Bezirke Steuergutschriften für
F&E-Ausgaben neu eingeführt bzw. auch wieder abgeschafft. Die Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler nutzen diese steuerlichen Unterschiede
für ihre Untersuchung. Konkret vergleichen sie Bezirke, die eine steuerliche
Forschungsförderung eingeführt haben, mit anderen, die keine steuerlichen
F&E-Abzüge anbieten, aber ansonsten ganz ähnlich sind. Die Forscherinnen und
Forscher verfügen zudem über umfassende Unternehmensdaten auf Bezirksebene
mit mehr als 30.000 Beobachtungen im Zeitraum von 1990 bis 2010.
Fazio, Guzman und Stern stellen eine positive Wirkung der steuerlichen
Forschungsförderung auf die Häufigkeit von Unternehmensgründungen fest.
In den Bezirken, die eine Steuergutschrift für F&E-Ausgaben eingeführt
haben, wurden im Durchschnitt um 7,5 % mehr junge, innovative Unternehmen
gegründet als in den Bezirken ohne Steuergutschrift.

Die Zahl junger, innovativer Unternehmensgründungen ist in den US-Bezirken mit


steuerlicher F&E-Förderung um 7,5 % höher als in anderen Bezirken ohne Steuer-
anreiz.

Die Wirkung der Steueranreize tritt nicht sofort, sondern nur allmählich ein. Abb. 1
zeigt die Entwicklung der Unternehmensgründungen vor und nach dem Jahr der
Einführung (veranschaulicht durch die rote Linie). In den ersten Jahren sind noch
kaum Änderungen im Gründungsgeschehen zu beobachten. Nach etwa drei Jahren
nimmt jedoch die Zahl innovativer Gründungen markant zu. Auch 14 Jahre nach
der Einführung setzen sich die positiven Effekte weiter fort. Über die gesamte
Beobachtungsdauer nehmen die Gründungen pro Jahr um durchschnittlich 2 % zu.
Nach zehn Jahren summiert sich das Wachstum bereits auf 20 %.
Auf die Struktur und Zusammensetzung der Unternehmen in den jeweiligen
Bezirken hat die Steuergutschrift keinen Einfluss. War ein Bezirk beispielsweise
speziell für seine IT-Unternehmen bekannt, so wurden auch nach der Einführung
der steuerlichen F&E-Förderung weiterhin vor allem IT-Unternehmen gegründet.
Auch die weitere Entwicklung der jungen Unternehmen nach ihrer Gründung
blieb von der steuerlichen F&E-Förderung weitgehend unberührt. So waren die
F&E-Steueranreize stärken Unternehmensgründungen 33

Abb. 1   Zunahme der Unternehmensgründungen nach Einführung der steuerlichen F&E-


Förderung

Unternehmen nicht in der Lage, schneller eine strategische Akquisition zu tätigen


oder eher einen Börsengang durchzuführen.

Die Wirkung steuerlicher F&E-Förderung auf die Gründungshäufigkeit tritt nur


langsam ein. Merkliche Auswirkungen sind erst nach etwa drei Jahren messbar.

Um die Effekte der steuerlichen Forschungsförderung besser einordnen zu


können, vergleichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Steuer-
anreize für F&E-Ausgaben mit jenen für Investitionen. Anders als die F&E-
Förderung haben Steueranreize für Investitionen keinen bedeutenden Effekt auf
Unternehmensgründungen. Das mag daran liegen, dass die Steuergutschriften für
Investitionen vor allem den großen, etablierten Unternehmen zu Gute kommen.
Junge, innovative Start-ups profitieren dagegen kaum. Es droht eher die Gefahr,
dass sie aus dem Markt gedrängt werden, wenn die großen Konkurrenten von
steuerlichen Investitionsanreizen profitieren. Das ist nachteilig für die Volkswirt-
schaft, da insbesondere junge Wachstumsunternehmen einen Großteil der neuen
Arbeitsplätze schaffen. Im Vergleich zur F&E-Förderung ist daher die steuerliche
Investitionsförderung für die Gründungshäufigkeit weniger relevant.
34 G. Gogola

Im Gegensatz zu steuerlichen F&E-Anreizen hat eine steuerliche Investitions-


förderung keine merklichen Auswirkungen auf das Gründungsgeschehen.

Aus ihren empirischen Ergebnissen ziehen Fazio, Guzman und Stern folgende
Schlussfolgerungen: Die steuerliche Forschungsförderung erhöht die Zahl der
Neugründungen, hat aber keine nennenswerten Auswirkungen auf die Unter-
nehmensentwicklung danach. Steuergutschriften für Investitionen haben dagegen
keinen merklichen Effekt auf die Gründungsrate, könnten aber das Wachstum
von bereits etablierten Unternehmen anregen. Zudem stellen die Forscherinnen
und Forscher fest, dass die positiven Auswirkungen der steuerlichen Forschungs-
förderung nur mit Verzögerung eintreten, aber über längere Zeit eine erheblichen
Gesamteffekt haben können.

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Wachstum durch Strukturwandel:
Kapitalmärkte, Banken und Strukturwandel
Wettbewerbliche Banken fördern das
Wachstum

Verena Maria Konzett

Relevanz
Was nützen die besten Ideen, wenn Investitionen und neue Jobs mangels
Zugang zu Bankkrediten nicht zustande kommen? Wachstum und
Innovation brauchen einen leistungsfähigen Finanzsektor. Wettbewerb regt
auch die Banken zu Höchstleistungen an. Indem sie mehr Informationen
über ihre Kunden sammeln und ihre Prozesse bei der Auswahl und
anschliessenden Überwachung optimieren, gelingt es ihnen besser, die
besonders vielversprechenden Unternehmen zu identifizieren. Dadurch,
dass die Banken die Kreditvergabe vor allem auf die innovativen und
profitablen Unternehmen mit hohem Wachstumspotential lenken, fördern
sie die Produktivitätssteigerungen und das Wachstum der Realwirtschaft.

Quelle
Bai, J., D. Carvalho, und G. M. Phillips (2018), The Impact of Bank Credit on
Labor Reallocation and Aggregate Industry Productivity, Journal of Finance
63(6), 2787–2836.

Ein gut funktionierender Finanzsektor stärkt das Wachstum. Leistungsfähige


Banken und liquide Kapitalmärkte können die wirtschaftliche Entwicklung über
viele Wege anstossen. Weniger klar ist, welche speziellen Mechanismen wichtig
sind und wie genau der Finanzsektor das Wirtschaftswachstum beeinflusst. John

V. M. Konzett (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 37


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_6
38 V. M. Konzett

Bai, Daniel Carvalho und Gordon Phillips untersuchen empirisch die Rolle von
Banken für Produktivität und Wachstum der Realwirtschaft. Können Banken
mit gezielter Vergabe von Krediten die Ressourcen zu den produktivsten Unter-
nehmen lenken? Wie stark ist ihr Beitrag zu Produktivität und Wachstum in der
Realwirtschaft? Wie können die regulatorischen Rahmenbedingungen die Quali-
tät der Kreditvergabe verbessern?
Die Wissenschaftler untersuchen die Kreditvergabe in den USA während
der 1980er Jahre. Der Bankensektor war bis zum Ende der 1970er Jahre von
starken staatlichen Eingriffen geprägt, welche die Entscheidungen der Banken
behinderten und den Wettbewerb auf den lokalen Kreditmärkten einschränkten.
So war die Geschäftstätigkeit einer Bank typischerweise auf einen bestimmten
Bundesstaat beschränkt. Der erschwerte Marktzutritt begünstigte monopol-
ähnliche Strukturen auf den lokalen Bankenmärkten. Dabei waren zwei Ein-
schränkungen besonders wichtig. Erstens war die Eröffnung neuer Filialen
innerhalb eines Bundesstaates beschränkt, wie der Intra-Deregulierungsindex in
Abb. 1 illustriert. Letzterer misst die Strenge der innerstaatlichen Regulierung auf
einer Skala zwischen 0 (starke Eingriffe) und 1 (schwache Eingriffe). Zweitens

Abb. 1   Deregulierung der Bankenmärkte in US-Bundesstaaten. (Quelle: Bai et al. 2018)


Wettbewerbliche Banken fördern das Wachstum 39

war es Banken und Holdinggesellschaften meist untersagt, eine andere Bank mit
Sitz ausserhalb des Bundesstaates zu erwerben. Solche Restriktionen fasst der
vergleichbare Inter-Deregulierungsindex in Abb. 1 zusammen. Zwischen 1977
und 1993 deregulierten die meisten Bundesstaaten ihre lokalen Bankenmärkte
und bauten zahlreiche Beschränkungen und Marktzutrittshürden ab. So wurden
etwa Übernahmen von Banken in anderen Bundesstaaten erlaubt.
Die Deregulierung der Bankenmärkte in den USA verschärfte den Wett-
bewerb zwischen den Banken und beeinflusste deren Kreditvergabe stark. Der
Wettbewerb zwang die Banken, ihre Prozesse bei Auswahl und Überwachung
(‚Monitoring‘) von Kreditnehmern zu verbessern. Indem sie mehr Informationen
über ihre Kunden sammelten, konnten sie produktive und vielversprechende
Unternehmen genauer identifizieren und besser überwachen. Dies senkt nicht nur
die Kreditausfälle, sondern trägt auch dazu bei, dass die Unternehmen mit den
erhaltenen Krediten höhere Erträge erwirtschaften und stärker wachsen. Speziell
führten die Veränderungen dazu, dass die Banken einen grösseren Anteil ihrer
Kredite gezielter an besonders produktive Unternehmen vergeben konnten. Bank-
kredite sind für kleine und junge Unternehmen von besonderer Bedeutung. Sie
sind oft geographisch an einen Bundesstaat gebunden und profitieren daher vom
Marktzutritt neuer Banken. Zudem spielen Unterschiede im Auswahl- und Über-
wachungsprozess für junge Unternehmen eine grössere Rolle, da sie meist noch
über keine Reputation als zuverlässige Schuldner verfügen.
Die Wissenschaftler verwenden einen Datensatz mit Informationen zu kleinen
Industrieunternehmen in den USA (1977–1993). Bei Ihnen stellen Bankkredite
eine besonders wichtige Finanzierungsquelle dar. Sie repräsentieren zwischen 50
und 60 % ihrer Verbindlichkeiten. Im Durchschnitt finanzieren die Banken rund
30 % des Firmenvermögens. Bei jungen Unternehmen, welche höchstens zehn
Jahre alt sind, beträgt dieser Anteil sogar 40 %.

Nach Deregulierung der Bankenmärkte nimmt der Anteil der Bankkredite an der
Gesamtverschuldung bei jungen Unternehmen acht Mal so stark zu wie bei älteren
Unternehmen.

Die Forscher argumentieren, dass produktive Unternehmen überproportional von


den Veränderungen des Kreditangebots profitieren. Ihr Potenzial wird von den
Banken besser erkannt. Sie erhalten daher leichter Kredite, sodass sie schneller
wachsen können. Die empirischen Ergebnisse zeigen zunächst, dass sich solche
Unternehmen aufgrund der Deregulierung stärker bei Banken finanzieren können.
Dabei nimmt der Anteil der Bankkredite an der Gesamtverschuldung bei hoch-
produktiven Unternehmen stärker zu. Dies deutet darauf hin, dass Banken die
40 V. M. Konzett

Kredite gezielter an solche Firmen vergeben. Zudem ist der Effekt bei jungen
Unternehmen rund acht Mal stärker ausgeprägt als bei Älteren.
Die empirischen Ergebnisse zeigen weiter, dass Deregulierung und stärkerer
Wettbewerb auf lokalen Bankenmärkten vor allem das Wachstum besonders
produktiver Unternehmen steigert. Solche Unternehmen vergrössern ihre Beleg-
schaft und erhöhen ihren Kapitaleinsatz in Folge des intensiveren Wettbewerbs im
Bankensektor stärker als weniger produktive Firmen. Allerdings ist dieser Effekt
nur bei jungen Unternehmen statistisch signifikant. In dieser Gruppe erhöht sich
beispielsweise das Beschäftigungswachstum, welches durchschnittlich 5,5 %
beträgt, bei hochproduktiven Firmen um 3 bis 4,5 Prozentpunkte.

Die Deregulierung der Bankenmärkte erhöht das Beschäftigungswachstum von


jungen, produktiven Unternehmen um 3 bis 4.5 Prozentpunkte mehr als jenes von
weniger produktiven Firmen.

Zuletzt quantifizieren die Forscher die Produktivitätsgewinne innerhalb einer


Branche. Produktiver Unternehmen wachsen Dank gezielter Finanzierung über-
proportional stark und ziehen damit die Produktivität der Branche nach oben.
Gemessen an der Wertschöpfung betragen die Produktivitätsgewinne im Durch-
schnitt aller Branchen zwischen 1,1 und 2,1 % während fünf Jahren. Die Forscher
schätzen, dass dieser Effekt vor allem von der stärkeren Expansion junger,
kleiner Firmen getrieben ist, deren Produktion im selben Zeitraum zwischen
3,3 und 6,2 % zunimmt. Zudem berechnen sie, dass die Deregulierung der
lokalen Bankenmärkte die Verzerrungen bei der Ressourcenzuteilung inner-
halb einer Branche um 24 % reduziert. Rund 85 % dieses Rückgangs ist auf
eine bessere Zuteilung von Arbeitnehmern zu Firmen zurückzuführen. Demnach
stellen produktive Firmen mehr Arbeitnehmer ein, wogegen die Belegschaft
unproduktiver Unternehmen schrumpft.

Die Produktivitätsgewinne innerhalb einer Branche betragen im Durchschnitt 1.1 bis


2.1 %. Die Produktion von kleinen, jungen Firmen nimmt dagegen um 3,3 bis 6.2 %
zu.

Banken tragen durch die gezielte Finanzierung vielversprechender Unternehmen


dazu bei, die Produktivität zu steigern. Der Abbau von Zutrittshürden und
Beschränkungen in Bankenmärkten intensiviert den Wettbewerb und führt zu
einer effizienteren Kreditvergabe. Davon profitieren vor allem hochproduktive,
junge Unternehmen, welche leichteren Zugang zu Krediten erhalten und daher
überproportional rasch wachsen können.
Wettbewerbliche Banken fördern das Wachstum 41

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Wie Banken den Strukturwandel
finanzieren

Christina Maier

Relevanz
Wenn die Produktivität hoch sein soll, müssen Arbeit und Kapital dorthin
wandern, wo die Erträge hoch und die Zukunftsperspektiven gut sind, und
dürfen nicht dort verharren, wo Beschäftigung und Einkommen unsicher
sind. Innovatives Wachstum löst einen andauernden Strukturwandel
kreativer Zerstörung aus. Dieses Wachstum kann sich erst entfalten, wenn
der Strukturwandel gelingt. Schwache Unternehmen dürfen nicht länger
Marktanteile besetzen und damit das Wachstum der produktiven Unter-
nehmen bremsen. Banken dürfen faule Kredite an wenig wettbewerbs-
fähige Unternehmen nicht weiter verlängern, sondern müssen sie fällig
stellen und teilweise abschreiben, damit sie die Kreditvergabe auf die
Wachstumsunternehmen lenken können. Schwache Banken mit wenig
Eigenkapital können den Strukturwandel nicht finanzieren, weil die dabei
auftretenden Verluste ihre Mindestkapitalausstattung gefährden. Nicht nur
die Finanzstabilität, sondern auch das Produktivitätswachstum setzt einen
starken Bankensektor mit robuster Kapitalausstattung voraus.

Quelle
Schivardi, Fabiano, Enrico Sette und Guido Tabellini (2017), Credit
Misallocation During the European Financial Crisis, CEPR DP 11901.

C. Maier (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 43


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_7
44 C. Maier

Nach der Finanzkrise nahm in zahlreichen europäischen Ländern die Sorge zu,
dass der geschwächte Bankensektor nicht mehr ausreichend in der Lage ist,
Kapital zu den vielversprechendsten Projekten zu lenken, und stattdessen wenig
produktive Problemfirmen weiterfinanziert und damit die Krise verlängert. Ein
zentrales Problem stellen die Anreize bei der Kreditvergabe durch schwach
kapitalisierte Banken dar. Sie neigen dazu, Kredite an schwache Unternehmen
mit geringen Erfolgschancen zu verlängern, obwohl diese den Kredit oft nicht
zurückzahlen können. So können Banken vermeiden, dass sie bei Kündigung
von Problemkrediten diese in ihrer Bilanz sofort abschreiben müssen, wodurch
sich ihr Eigenkapital verringert und das Einhalten der regulatorischen Kapitalvor-
schriften erschwert wird. Im Gegensatz dazu sind Banken mit solidem Kapital-
puffer eher bereit, faule Kredit abzuschreiben und neue Kredite an expandierende
Unternehmen zu vergeben, anstatt bestehende Kreditlinien zu verlängern.
Das Verhalten schwach kapitalisierter Banken fördert eine Fehlallokation von
Krediten. Wenig profitable Unternehmen erhalten zu viel, und gesunde zu wenig
Kapital, was ihre Investitionen und ihr Wachstum einschränkt. Da kaum überlebens-
fähige Firmen zu wenig oft aus dem Markt ausscheiden, sind Produkt- und Faktor-
märkte überlaufen. Die überlebenden Firmen besetzen Marktanteile und mindern
die Wachstumschancen der gesunden Unternehmen. Die Produktivität des Kapital-
einsatzes leidet. Das ‚Verlorene Jahrzehnt‘ Japans in den 1990er Jahren gilt als Bei-
spiel dafür, wie ein schwächelnder Bankensektor eine Krise verlängern kann.
Allerdings ist es schwer, unprofitable Unternehmen von solchen zu unter-
scheiden, die nur vorübergehend in Schwierigkeiten, aber grundsätzlich gut auf-
gestellt sind. Solchen Unternehmen hilft ein Aufrechterhalten von Kreditlinien
über eine Krise hinweg und verhindert vermeidbare Insolvenzen und damit ver-
bundene Arbeitsplatzverluste. Folglich sinken gesamtwirtschaftliche Nachfrage
und Beschäftigung weniger stark. Ein weiterer positiver Aspekt liegt in den engen
Lieferverflechtungen zwischen Unternehmen. Die Weiterführung von Krediten
kann Insolvenzen vermeiden, welche die Produktion in anderen gesunden Unter-
nehmen stören könnten, weil z. B. Lieferanten von schwer ersetzbaren Vor-
leistungen ausfallen. Diese beiden Effekte können zumindest kurzfristig den
negativen Auswirkungen einer Fehlallokation von Krediten entgegenwirken.
Fabiano Schivardi, Enrico Sette und Guido Tabellini untersuchen am Beispiel
Italiens im Zeitraum 2004 bis 2013 zwei Fragen: Welche Banken tragen zur Fehl-
allokation von Krediten bei? Welche Auswirkungen hat dieses Verhalten auf die
Realwirtschaft, insbesondere auf das Wachstum und den Erfolg gesunder Unter-
nehmen sowie auf das Produktivitätswachstum? Die Finanz- und Wirtschafts-
krise führte in Italien zu einer besonders langen Rezession mit einem kumulativen
Einkommensverlust von rund 10 %. Der Anteil notleidender Kredite in den
Bankbilanzen stieg von knapp 6 auf 16 % und die Kreditvergabe ging dauerhaft
Wie Banken den Strukturwandel finanzieren 45

zurück. Die Forscher nutzen einen umfangreicheren Datensatz mit Informationen


aus dem italienischen Firmenregister, dem Kreditregister und den Aufsichts-
berichten der italienischen Nationalbank. Dieser umfasst mehr als 240′000 Unter-
nehmen mit Kreditbeziehungen zu 163 italienischen Banken.
Die Wissenschaftler analysieren die Kreditvergabe von Banken an sogenannte
‚Zombie‘-Unternehmen. Als solche gelten Unternehmen, die entweder besonders
ertragsschwach oder hoch verschuldet sind. Für eine Bank steigt damit das
Kreditrisiko, während die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Rückzahlung
abnimmt. Bereits die beschreibende Datenanalyse weist auf einen Zusammenhang
zwischen der Kapitalisierung einer Bank und ihrer Kreditvergabe an schwache
Unternehmen hin. Abb. 1 verdeutlicht, dass Banken mit einer niedrigen Eigen-
kapitalquote (Banken in den ersten beiden Quartilen der Eigenkapitalausstattung)
über den gesamten beobachteten Zeitraum einen signifikant höheren Anteil von
Krediten an ‚Zombie‘-Unternehmen aufweisen als Banken mit überdurchschnitt-
lichen Eigenkapitalquoten (in den beiden oberen Quartilen des Datensatzes).

Während der Finanz- und Wirtschaftskrise war das jährliche Kreditwachstum an


‚Zombie‘-Unternehmen bei Banken mit einer Eigenkapitalquote unter dem Median
um ein Viertel höher als bei jenen mit einer Eigenkapitalquote über dem Median.

Die ökonometrischen Schätzungen zeigen, dass die Höhe der Eigenkapitalquote


einer Bank ihre Kreditvergabe an ‚Zombie‘-Unternehmen während der Finanz-

Abb. 1   Anteil der Kredite an ‚Zombie‘-Unternehmen an den Gesamtkrediten nach Quartil


der regulatorischen Eigenkapitalquote, 2004–2013. (Quelle: Schivardi et al. 2017, S. 46)
46 C. Maier

krise (2008–2013) signifikant beeinflusste. Das Kreditwachstum an diese Unter-


nehmen war während der Krise bei Banken mit einer niedrigen regulatorischen
Eigenkapitalquote von unter dem Median von 11 % um ein Viertel bzw. 2 Pro-
zentpunkte höher als bei Banken mit einer höheren Eigenkapitalquote. Vor der
Finanzkrise zeigten sich kaum Unterschiede bei der Kreditvergabe an ‚Zombie‘-
Unternehmen zwischen schwach und gut kapitalisierten Banken. Die Finanz-
krise verursachte bei vielen Banken erhebliche Abschreibungen und Verluste.
Banken mit niedriger Eigenkapitalbasis liefen dadurch Gefahr, näher an oder
sogar unter die regulatorische Mindestquote zu sinken. Gerade jene Banken
hielten daher Kredite an notleidende Unternehmen aufrecht in der Hoffnung, dass
sie sich erholen und den Kredit später wieder zurückzahlen würden. Dadurch
konnten sie Abschreibungen von Problemkrediten und einen weiteren Rückgang
ihrer Eigenkapitalquote vermeiden oder wenigstens aufschieben. Denn während
einer Finanzkrise ist es besonders schwierig, neues Eigenkapital aufzunehmen,
da die Investoren oft die Eigenkapitalaufnahme mit Problemen bei der Bank
in Verbindung bringen. Sie sind unter diesen Umständen meist nur bei hohen
Abschlägen bereit, weiteres Kapital zur Verfügung zu stellen.
Wie wirkt sich die verzerrte Kreditvergabe durch schwache Banken auf die
Realwirtschaft und die Dauer einer Rezession aus? Einerseits beeinträchtigt die
Fehlsteuerung der Kreditvergabe das Wachstum von gesunden Unternehmen,
weil sie insgesamt weniger Kredite bekommen. Gleichzeitig erhöht sich die
Überlebenswahrscheinlichkeit eines ‚Zombie‘-Unternehmens, dessen Kredite
weiterlaufen. Normalerweise lenken Banken die Kredite von wenig profitablen
Unternehmen zu den gesunden und tragen dazu bei, die Produktivitätsunter-
schiede abzubauen. Dieser produktivitätssteigernde Prozess blockiert jedoch,
wenn bestehende Kreditlinien an schwache Unternehmen weiterlaufen. In der
Folge lahmt das Produktivitätswachstum. Die empirischen Schätzungen deuten
allerdings darauf hin, dass die Kreditvergabe durch schwach kapitalisierte Banken
das Wachstum der gesunden Unternehmen kaum beeinträchtigt. Zwar schneiden
sie im Vergleich zu ‚Zombie‘-Unternehmen nicht mehr so gut ab, wenn diese
weiterhin Zugang zu Krediten haben und nicht so stark schrumpfen müssen.
Dennoch verringert das Überleben schwacher Firmen die Arbeitsnachfrage, den
Kapitaleinsatz und den Umsatz der gesunden Unternehmen insgesamt nicht.

Die Fehlsteuerung der Kreditvergabe wirkt sich absolut betrachtet kaum negativ auf
das Wachstum von gesunden Unternehmen aus. Relativ zu den ‚Zombie‘-Firmen
gehen jedoch Arbeitsnachfrage, Kapitaleinsatz und Umsatz zurück.

Auch auf die Produktivitätsunterschiede unter den Unternehmen wirkt sich die
verzerrte Kreditvergabe während der Finanzkrise nicht signifikant aus. Nur wenn
Wie Banken den Strukturwandel finanzieren 47

der Anteil der ‚Zombie‘-Unternehmen sehr hoch (über 21 %) liegt, nehmen die
Produktivitätsunterschiede zu.
Dagegen beeinflusst die Kreditvergabe eines schwachen Bankensektors das
Insolvenzrisiko der Unternehmen. ‚Zombie‘-Unternehmen erhalten weiter Kredite,
überleben öfter und nehmen den gesunden Unternehmen Marktanteile weg, sodass
am Ende gerade diese öfter insolvent werden. Als Folge sind letztlich zu wenig
gesunde Unternehmen und zu viele nicht überlebensfähige aktiv. Könnte man
die Eigenkapitalquote aller untersuchten Banken auf ein Niveau höher als der
Medianwert von 11 % anheben, stiege die Ausfallrate der ‚Zombie‘-Unternehmen
um 0,4 Prozentpunkte. Die Ausfallrate gesunder Unternehmen hingegen würde um
0,4 Prozentpunkte sinken. Letzteres entspricht einem Rückgang um ein Fünftel.

Hätten alle Banken in Italien eine Eigenkapitalquote mindestens in der Höhe des
Medianwerts von 11 Prozent, wäre die Ausfallrate gesunder Unternehmen um ein
Fünftel geringer.

Die Forscher zeigten, dass Italiens schwach kapitalisierte Banken während der
Finanzkrise zu viele Kredite an wenig aussichtsreiche, kaum überlebensfähige
Unternehmen vergeben haben. Die Fehlsteuerung der Kreditvergabe ermög-
lichte das Überleben vieler schwacher Unternehmen und verursachte zu viele
Insolvenzen von gesunden Firmen. In der Folge lahmte das BIP-Wachstum. Hätte
die italienische Regierung vier Milliarden Euro in schwach kapitalisierte Banken
investiert, um deren Eigenkapitalquote auf die Höhe des Medianwerts anzuheben,
wäre die jährliche Wachstumsrate von 2008 bis 2013 um etwa 0,2 bis 0,35 Prozent-
punkte höher gewesen. Dies entspricht einem Anstieg von rund einem Zehntel.

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Bessere Steueranreize für Banken

Laurenz Grabher

Relevanz
Eigenkapital ist teuer. Daher haben die Banken einen Anreiz, beim Eigen-
kapital zu sparen, und finanzieren sich lieber mit Spareinlagen und anderem
Fremdkapital. Mit geringeren Finanzierungskosten ist es leichter, den
Kunden im Wettbewerb bessere Konditionen anbieten zu können. Die
Besteuerung fördert die Verschuldung der Banken zusätzlich. Mit dem
Zinsabzug wird das Fremdkapital steuerlich entlastet, das risikotragende
Eigenkapital jedoch nicht. Das fördert die Verschuldung der Banken und
Unternehmen und trägt zur Krisenanfälligkeit bei. Die Bankenregulierung
will mit höheren Kapitalstandards die Eigenkapitalausstattung und damit die
Krisenrobustheit des Bankensektors stärken. Da macht es wenig Sinn, wenn
der Staat mit dem steuerlichen Schuldenanreiz das genaue Gegenteil tut.

Quelle
Martin-Flores, Jose und Christophe Moussu (2018), Is Bank Capital Sensitive
to a Tax Allowance on Marginal Equity? Erscheint in: European Financial
Management, doi:10.1111/eufm.12163.

Hohe Überschuldung und wenig Eigenkapital gelten nicht erst seit der Finanzkrise
2008 als einer der grössten Risikofaktoren im Bankensektor. Strengere Kapital-
vorschriften wie etwa die Reform der Bankenregulierung „Basel III“ zielen darauf

L. Grabher (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 49


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_8
50 L. Grabher

ab, die Eigenkapitalquote der Banken zu erhöhen und so ihre Krisenrobustheit zu


verbessern. Besonders strenge Kapitalvorschriften können aber auch zu einem
Problem werden, wenn Banken ihre Kreditvergabe verringern, um auf diesem Weg
die Eigenkapitalquote zu erhöhen. Das würde zu einer Kreditklemme führen und
könnte ganz besonders in Krisenzeiten eine Rezession verschärfen.
Die Politik kann jedoch auch einen zweiten Weg gehen, die Krisenrobustheit der
Banken zu stärken, ohne das Risiko einer Kreditklemme heraufzubeschwören. Sie
könnte steuerliche Anreize setzen, damit Banken mehr Eigenkapital aufnehmen,
anstatt sich hauptsächlich über Einlagen und anderes Fremdkapital zu refinanzieren.
Wie andere Unternehmen können auch die Banken die Zinszahlungen auf ihr
Fremdkapital von der Unternehmenssteuer abziehen. Gleichzeitig ist dies für die
Eigenkapitalkosten nicht möglich. Dieser Steuernachteil schafft einen Anreiz, dass
Banken ihre Eigenkapitalquote niedrig halten und sich lieber mit Fremdkapital
finanzieren. Dies widerspricht dem Ziel der Bankenregulierung und fördert die
Überschuldung. Ein gutes Anreizsystem dreht den Spiess um. Eigenkapital wird
steuerlich nicht mehr länger benachteiligt, damit es eine attraktivere Finanzierungs-
quelle wird. So könnte eine Steuerreform die Banken unterstützen, mehr Eigen-
kapital zu bilden, damit sie Kreditausfälle und Verluste besser verkraften,
Abschwünge abfedern und eine Krise leichter überstehen können.
Jose Martin-Flores und Christophe Moussu untersuchen, wie sich eine Steuer-
reform, welche die Diskriminierung des Eigenkapitals verringert, auf Eigenkapital
und Verschuldung der Banken auswirkt. Dazu betrachten sie zwei Steuerreformen
in Italien Ende der 1990er bzw. Anfang der 2000er Jahre. Sie zeigen, dass ein
Abbau steuerlicher Nachteile die Eigenkapitalquote der Banken erhöht.
Italien führte mit der Steuerreform von 1998 einen Steuerabzug für Eigenkapital
ein: Unternehmen und Banken zahlen eine reduzierte Gewinnsteuer auf das zusätz-
liche Eigenkapital, welches nach 1996 aufgenommen wurde, von 19 % anstelle der
vorher üblichen 37 %. Eigenkapital wurde steuerlich attraktiver. Wie wirkte sich
diese Reform auf die Eigenkapitalbildung italienischer Banken aus? Um diesen
Effekt zu schätzen, nutzen die Forscher die Tatsache, dass die anderen Mitglieder
der Eurozone Ende der 1990er Jahre keine solche Steuerreform durchführten.
Konkret suchen sie zu den italienischen Banken eine Kontrollgruppe ganz
ähnlicher Banken in den anderen Ländern. Was ähnlich ist, sollte auch ganz ähn-
lich auf wirtschaftliche Anreize reagieren. Wenn die Möglichkeit des Zinsabzugs
auf Eigenkapital der einzige Unterschied zwischen den beiden Gruppen wäre,
könnte man aus einer stärkeren Zunahme des Eigenkapitals italienischer Banken
im Vergleich zur Kontrollgruppe der Banken anderswo auf einen positiven Effekt
des Steueranreizes schliessen. Allerdings gibt es auch weitere Einflussgrössen auf
die Kapitalstruktur von Banken wie Zinsen, Inflation oder Wirtschaftswachstum,
die sich ebenfalls zwischen den Ländern unterscheiden. Indem sie auch diese Ein-
Bessere Steueranreize für Banken 51

Abb. 1   Veränderung der Eigenkapitalquoten italienischer Banken relativ zu anderen


Banken der Eurozone. (Quelle: Martin-Flores und Moussu 2018)

flüsse berücksichtigen und herausfiltern, können sie den Effekt des Steueranreizes
in Italien isolieren. Als zentrales Ergebnis halten sie fest:

Die Einführung der Steuererleichterung erhöhte die Eigenkapitalquote italienischer


Banken um 8.8 Prozent. Im Durchschnitt hatten somit italienische Banken im Ver-
gleich zur Kontrollgruppe eine um 0.5 Prozentpunkte höhere Eigenkapitalquote ein-
zig aufgrund der Steuerreform.

Die durchschnittliche Eigenkapitalquote italienischer Banken erhöhte sich um


8,8 % im Vergleich zur Entwicklung ähnlicher Banken in anderen Ländern, die
keine Steuerentlastung auf Eigenkapital einführten. Somit stieg die Eigenkapital-
quote von 8,90 auf 9,43 %. Der linke Teil in Abb. 1 zeigt die Auswirkung sehr
gut. Im Jahr nach der Einführung der Steuerentlastung im Jahr 1997 (vertikale,
rote Linie) folgte ein erheblicher Anstieg der Eigenkapitalquote im Vergleich zu
ähnlichen Banken in anderen Ländern. Die Forscher stellen fest, dass diese Ver-
änderung darauf zurückgeht, dass die Banken zusätzliches Eigenkapital auf-
nahmen und nicht ihr Fremdkapital oder gar die Kreditvergabe verringerten.
Allerdings schaffte Italien die Steuerentlastung des Eigenkapitals mit Wirkung
ab dem Jahr 2002 wieder ab. Martin-Flores und Moussu finden, dass der Effekt nun
genau umgekehrt war, wie der rechte Teil der Abb. 1 zeigt. Nach dem Wiederauf-
leben der steuerlichen Benachteiligung des Eigenkapitals fielen im Jahr 2002 die
Eigenkapitalquoten wieder um durchschnittlich 4,6 %, relativ zu den europäischen
Vergleichsbanken. Die Banken passen also ihre Kapitalstruktur laufend an, wenn
sich die (steuerlichen) Kosten des Fremd- und Eigenkapitals ändern. Ein Anstieg
Eigenkapitalquote nach einem vorübergehenden Steueranreiz ist nicht langlebig,
sondern verschwindet, wenn die Steuerbegünstigung wieder abgeschafft wird.
52 L. Grabher

Nach Abschaffung der Steuerbegünstigung des Eigenkapitals im Jahr 2001 sank in


Italien die durchschnittliche Eigenkapitalquote ab 2002 um 4.6 Prozent relativ zu
den europäischen Vergleichsbanken.

Kleine Banken mit einer Bilanzsumme unter 1 Mrd. EUR reagieren besonders stark
auf die steuerlichen Anreize. Die Forscher identifizieren zwei mögliche Gründe
dafür. Die erste Erklärung ist, dass grössere Banken international tätig sind und
über zahlreiche Möglichkeiten verfügen, die Steuerbelastung in der Bankengruppe
zu minimieren, z. B. durch Gewinnverschiebung in steuergünstige Länder. Eine
weitere Steuerentlastung auf Eigenkapital wirkt sich dann nicht mehr so stark aus.
Da kleinere Institute solche Möglichkeiten nicht haben, reagieren sie tendenziell
stärker auf nationale Steueränderungen. Ihr zweiter Erklärungsversuch geht dahin,
dass multinationale Banken als «too big to fail» bzw. systemrelevant gelten. Solche
Banken profitieren von einer implizierten Staatsgarantie und reagieren weniger stark
auf Unterschiede in nationalen Steuersystemen. Vielmehr spielen Faktoren wie z. B.
die Kosten einer möglichen Insolvenz oder Eigenkapitalvorschriften eine Rolle.
Die steuerliche Diskriminierung des Eigenkapitals ist einer der Haupttreiber für
die niedrige Kapitalausstattung und hohe Verschuldung von Banken und trägt so
zur Krisenanfälligkeit von Banken bei. Reformen, welche den steuerlichen Nachteil
des Eigenkapitals abbauen, können einen positiven Anreiz setzen und die Banken
darin unterstützen, ihre Eigenkapitalquote deutlich zu erhöhen, wie das Beispiel
Italiens Ende der 1990er Jahre zeigt. Wenn die Banken mehr Eigenkapital bilden,
können sie auch mehr Kredite vergeben, ohne sich dabei selber mehr verschulden
zu müssen. So kann die Steuerpolitik einen wachstumsfreundlichen Beitrag leisten,
dass Banken ihre Eigenkapitalpuffer aufbauen und damit das Risiko von Bank-
insolvenzen und Kreditklemmen in einem wirtschaftlichen Abschwung verringern.

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Mehr Sicherheit mit zentraler
Bankenaufsicht

David Gmür

Relevanz
Die Wirtschaft braucht Kredit, und die Gesellschaft mehr Sicherheit. Die
Banken müssen in der Kreditvergabe auf Ertrag und Risiko gleichzeitig
achten. Damit die Regulierung effektiven Schutz bieten kann, muss die
Bankenaufsicht die Einhaltung der Vorschriften überwachen und früh-
zeitig das Entstehen übermässiger Risiken aufdecken. In der Bankenunion
kann eine zentrale Aufsicht eher für gleich lange Spiesse im europaweiten
Wettbewerb der Banken sorgen, kann unabhängiger als nationale Auf-
sichtsbehörden agieren, und dank besserer Ressourcen auch komplexe
Grossbanken wirksam beaufsichtigen. So wird die Kreditvergabe sicherer,
indem die Banken angehalten sind, faule und riskante Kredite zügig abzu-
bauen und mehr Kredit auf die produktiveren Unternehmen mit besseren
Aussichten lenken.
Christian Keuschnigg und Michael Kogler, Herausgeber.

Quelle
Altavilla, Carlo, Miguel Boucinha, José-Luis Peydró, und Frank Smets (2020),
Banking Supervision, Monetary Policy and Risk-Taking: Big Data Evidence from
15 Credit Registers, CEPR Discussion Paper Nr. 14288.

D. Gmür (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 53


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_9
54 D. Gmür

Im November 2014 trat in der Eurozone der einheitliche Bankenaufsichts-


mechanismus in Kraft, der ein wesentlicher Pfeiler der Europäischen Banken-
union ist. Seither unterstehen grosse Banken der Eurozone einer einheitlichen
überstaatlichen Regulierung und Aufsicht durch die Europäische Zentralbank.
Die Regulierung von Banken ist eine komplexe Aufgabe. Wie die Finanzkrise
2008/2009 zeigte, konnte die Regulierung nicht verhindern, dass Banken über-
mässige Risiken eingingen. Welche organisatorischen und institutionellen
Reformen können dazu beitragen, die Stabilität des Finanzsystems zu erhöhen?
Wichtig ist, ob die Banken durch nationale oder überstaatliche Aufsichtsbehörden
überwacht werden.
Während nationale Aufsichtsbehörden besseren Zugang zu genaueren
Informationen über den lokalen Bankensektor haben, kann eine überstaatliche
Behörde über mehr Ressourcen wie beispielsweise qualifizierte MitarbeiterInnen
verfügen. Auch die Anreize können sich je nach Regulierungsebene unter-
scheiden. Angesichts des häufigen Personalwechsels zwischen lokalen Behörden
und Banken sowie starkem Lobbying sind nationale Behörden anfälliger für
Interessenkonflikte und tendenziell nachsichtiger in der Aufsicht. Dagegen kann
eine überstaatliche Behörde unabhängiger agieren.
Stimmt das? Welche Auswirkungen hatte konkret der Systemwechsel von
nationaler zu supranationaler Bankenaufsicht in der Eurozone auf die Kreditvergabe
der Banken und die Stabilität des Finanzsystems? Carlo Altavilla, Miguel Boucinha,
Jose-Luis Peydro und Frank Smets von der Europäischen Zentralbank sowie der
Universität Pompeu Fabra in Barcelona gehen dieser Frage nach. Sie untersuchen
Daten aus 15 Europäischen Kreditregistern mit rund 280 Mio. Beobachtungen im
Zeitraum von Juni 2012 bis Dezember 2017. In ihrer Analyse nutzen sie die Tat-
sache, dass nicht alle, sondern nur die bedeutenden Banken unter die neue supra-
nationale Aufsicht fallen. Zum Vergleich berücksichtigen sie auch das Verhalten
von Banken ausserhalb der Eurozone, welche nicht davon betroffen waren. Dadurch
können sie die geschätzten Effekte tatsächlich dem Systemwechsel zuordnen.
Ihre Schätzungen zeigen, dass die Banken bei überstaatlicher Aufsicht ihre
Kreditvergabe an Firmen mit hohem Kreditrisiko einschränken und stattdessen
die Kredite an weniger riskante Firmen ausweiten. Firmen gelten als riskant,
wenn sie mit einem grossen Teil ihrer Kredite in Verzug sind. Die zentralisierte
Aufsicht senkt demnach das Risiko im Kreditgeschäft der Banken. Die Banken
schichten von riskanteren zu weniger riskanten Firmen um, ohne dass das
gesamte Kreditvolumen leidet.
In ihrer Analyse unterscheiden die Forscher zwischen Banken in finanziell
stabilen und instabilen Mitgliedsstaaten der Eurozone. Italien, Portugal und
Spanien gelten als finanziell instabil. Österreich, Belgien, Frankreich, Deutsch-
land, Litauen und die Slowakei zählen als stabile Länder. Der Effekt des System-
Mehr Sicherheit mit zentraler Bankenaufsicht 55

wechsels ist für finanziell instabile Länder stärker ausgeprägt als für stabile. In
der instabilen Gruppe reduziert die zentrale Bankenaufsicht die Kreditvergabe
von Banken an Firmen mit dem höchsten Kreditrisiko um 43 %. In stabilen
Ländern beträgt dieser Rückgang immerhin noch 36 %. Steigt das Kreditrisiko
(um eine Standardabweichung) an, so geht die Kreditvergabe an diese Firmen
bei zentraler Aufsicht in den instabilen Ländern um rund acht Prozent und in den
stabilen Staaten um fünf Prozent zurück.

Der Systemwechsel zur überstaatlichen Bankenaufsicht der Eurozone reduziert


die Kreditvergabe an Firmen mit dem höchsten Kreditrisiko um 43% in finanziell
instabilen und um 36% in stabilen Mitgliedsstaaten.

Wie ist dieser Effekt zu bewerten? Problematisch wäre es, wenn die riskanteren
Firmen gleichzeitig in besonders produktiven Sektoren tätig wären und nun
weniger Kredite erhielten. Die Forscher stellen jedoch fest, dass dies nicht der
Fall ist. Dies gilt unabhängig davon, ob die Banken in finanziell stabilen oder
instabilen Ländern tätig sind. Die supranationale Bankenaufsicht scheint die
Kreditvergabe an produktivere Firmen sogar tendenziell zu erhöhen, allerdings
ist dieser Effekt nicht statistisch signifikant. Betrachtet man dagegen Kredite
gleicher Qualität, dann vergeben die Banken mehr Kredite an produktivere
Firmen. So erhalten Firmen in einem Sektor, dessen Arbeitsproduktivität um eine
Standardabweichung über dem Mittelwert liegt, bei gegebenem Risiko um fünf
Prozent mehr Kredite.

Bei gleichem Kreditrisiko vergeben Banken um 5% mehr Kredite an Firmen, deren


Produktivität um eine Standardabweichung über dem Durchschnitt liegt.

Die einheitliche Bankenaufsicht in der Eurozone trat im November 2014 in


Kraft. Dies war jedoch schon seit Oktober 2013 bekannt. Wann genau traten die
Änderungen im Risikoverhalten der Banken ein? Abb. 1 zeigt von Mitte 2013
bis 2015, wie die supranationale Aufsicht die Kreditvergabe an Firmen mit dem
höchsten Kreditrisiko in finanziell instabilen Mitgliedsstaaten beeinflusst. Es
zeigt sich, dass die Banken teilweise schon vorab ihr Verhalten änderten, d. h. der
effektive Systemwechsel könnte schon früher stattgefunden haben. Der Effekt ist
jedoch erst in der zweiten Jahreshälfte 2014 signifikant. Banken scheinen daher
ihr Risikoverhalten tatsächlich erst dann angepasst zu haben, als die neue Auf-
sicht im November 2014 ihren Betrieb aufnahm.
Die Forscher gingen noch einen Schritt weiter und analysierten das
Zusammenspiel des regulatorischen Systemwechsels mit der expansiven Geld-
politik der Europäischen Zentralbank. Ihre Schätzungen zeigen, dass eine
56 D. Gmür

Abb. 1   Effekt der einheitlichen Bankenaufsicht auf die Kreditvergabe an Firmen mit dem
höchsten Kreditrisiko. (Quelle: Altavilla et al. 2020)

Lockerung der Geldpolitik dazu beiträgt, dass Banken mehr Risiken eingehen
und zusätzliche Kredite an Firmen mit hohem Kreditrisiko vergeben. Der
Wechsel zur überstaatlichen Bankenaufsicht hebt diesen Effekt jedoch auf. Die
Kreditvergabe an weniger riskante Firmen wird dabei nicht beeinträchtigt.

Eine Lockerung der Geldpolitik führt dazu, dass Banken mehr Kredite an besonders
riskante Firmen vergeben. Die Zentralisierung der Bankenaufsicht in der Eurozone
kann diesen destabilisierenden Effekt jedoch aufheben.

Weshalb ist die Aufsicht durch eine überstaatliche Behörde die offenbar
effektivere? Das Forscherteam stellt dafür zwei Hypothesen auf. Die Anreizhypo-
these stellt auf die mögliche Veränderung der Anreize der Aufsichtsbehörden ab,
die bei zentraler Aufsicht unabhängiger agieren können, während die Kapazitäts-
hypothese die Bedeutung einer qualitativ und quantitativ besseren Ressourcenaus-
stattung der überstaatlichen Behörde betont.
Sie stellen fest, dass die zentralisierte Aufsicht vor allem das Risikoverhalten
von sehr grossen Banken mit einer Bilanzsumme von mehr als EUR 500 Mrd.
stark beeinflusst. Da die Komplexität der Regulierung für jene Banken über-
proportional zunimmt, ist dies ein Indiz für die Kapazitätshypothese. Für die
Mehr Sicherheit mit zentraler Bankenaufsicht 57

Anreizhypothese finden die Forscher hingegen kaum Hinweise. So ist beispiels-


weise bei sehr schwachen Banken, welche von einer lokalen Behörde stärker
geschützt werden könnten, keine Veränderung des Risikoverhaltens festzustellen.
Sie kommen daher zum Schluss, dass die effektivere Regulierung in erster Linie
darauf zurückzuführen ist, dass die supranationale Behörde über mehr Mittel und
Personal verfügt, um eine effiziente Kontrolle auch in sehr komplexen Fällen zu
gewährleisten.

Die effektivere Aufsicht ist vorwiegend darauf zurückzuführen, dass die supra-
nationale Behörde über mehr Mittel und spezialisiertes Personal verfügt.

Die Studie des Forscherteams um José-Luis Peydró zeigt, dass die Wahl der Auf-
sichtsebene einen wesentlichen Einfluss auf das Risikoverhalten der Banken und
somit auf die Stabilität des Finanzsystems haben kann. Im Fall der Eurozone hat
der Wechsel von nationaler zu supranationaler Regulierung dazu geführt, dass die
Banken ihre Risiken im Kreditgeschäft trotz der lockeren Geldpolitik verringert
haben.

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willigung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Wie innovative Start-ups zu Kapital
kommen

Roberta Maria Koch

Relevanz
Innovative Jungunternehmen brauchen dringend Risikokapital. Die Kredit-
geber sind zurückhaltend, verlangen Sicherheiten und wollen verlässliche
Hinweise auf gute Erfolgsaussichten sehen. Aber das Risiko ist hoch und
der Erfolg auf dem Markt ungewiss. Wie können innovative Start-ups zu
Kapital kommen? Verwertbare Patente dienen als Sicherheit and schaffen
Zugang zu Kredit. Erfahrene Wagnisfinanziers können besser als andere die
Erfolgschancen beurteilen und sind eher bereit, sich zu engagieren. Darauf
können auch andere Kreditgeber vertrauen. Wagniskapital hilft gleich zwei-
mal. Die Wagniskapitalisten geben selber Beteiligungskapital. Sie geben
auch anderen Kapitalgebern das notwendige Vertrauen, damit diese weitere
Finanzierung bereitstellen. Deshalb ist ein aktiver Markt für Wagniskapital
in einer innovativen Wirtschaft so wichtig.

Quelle
Hochberg, Yael, Carlos Serrano and Rosemarie H. Ziedonis (2018), Patent
Collateral, Investor Commitment, and the Market for Venture Lending, Journal of
Financial Economics 130, 74–94.

Innovatives Unternehmertum ist für technologischen Fortschritt und langfristiges


Wachstum von entscheidender Bedeutung. Dennoch mangelt es vielen Unter-

R. M. Koch (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 59


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_10
60 R. M. Koch

nehmensgründern am notwendigen Kapital. Die Finanzierung eines jungen


Unternehmens ist mit erheblichen Risiken verbunden. Denn nicht alle Start-ups
können am Markt bestehen. Der Wert eines Start-ups beruht oftmals auf einer
innovativen Idee und anderen immateriellen Vermögenswerten, welche im Vorfeld
schwer einzuschätzen und im Nachhinein manchmal kaum zu verwerten sind.
Daher ist es für die meisten Gründer schwierig, externe Finanzierung zu erhalten.
Es gibt verschiedene Instrumente, um das Risiko und die unvollkommene
Information potenzieller Investoren abzubauen. Kreditgeber können z. B. Sicher-
heiten verlangen, auf welche sie im Insolvenzfall zugreifen können. Alternativ
können Unternehmen Kapital von spezialisierten Finanzintermediären auf-
nehmen. Diese beobachten die unternehmerische Tätigkeit genau und können
die Erfolgschancen besonders gut einschätzen. Für Jungunternehmen spielen
solche Risiko- oder Wagniskapitalgeber eine wichtige Rolle. Bei Wagniskapital
(Venture Capital) handelt es sich um eine Finanzierungsform mit hohem Risiko.
Denn trotz gründlicher Kreditwürdigkeitsprüfung zu Beginn sind oft nur wenige
Start-ups tatsächlich profitabel, während viele scheitern. Als Gegenleistung dafür
verlangen Wagniskapitalgeber Einfluss auf die Geschäftspolitik und Anteile am
Unternehmen. Dadurch können sie im Erfolgsfall hohe Gewinne verbuchen und
die Verluste aus gescheiterten Projekten ausgleichen.

Wagniskapitalgeber investieren in Jungunternehmen und verlangen für das hohe


Risiko erhebliche Unternehmensanteile. Risikokreditgeber stellen Fremdkapital zur
Verfügung und verlangen hohe Zinsen und Sicherheiten.

Von Wagniskapital sind Risikokredite – Venture Debt – zu unterscheiden. Sie


verschaffen einem Start-up zusätzliches Fremdkapital, ohne dessen Eigentümer-
struktur zu verändern. Solche Kredite dienen oftmals als Überbrückung oder
Zusatzfinanzierung. Aufgrund des hohen Risikos verlangen Kreditgeber hohe
Zinsen, nicht selten mehr als das Doppelte des marktüblichen Zinses.
Wie können Start-ups ihren Zugang zu Fremdkapital in Form von Risiko-
krediten verbessern? Die Ökonomen Yael V. Hochberg, Carlos J. Serrano und
Rosemarie H. Ziedonis untersuchten über 3400 amerikanische Start-ups in den
Branchen Softwareentwicklung, Halbleiterbauelemente sowie medizinische
Geräte. Dabei analysierten sie die finanzielle Entwicklung von Unternehmen, die
zwischen 1987 und 1999 gegründet wurden, und beobachteten diese jeweils bis
ins Jahr 2008 bzw. bis zu ihrer Auflösung oder ihrem Börsengang.
Die Studie hebt zwei Mechanismen hervor, welche den Zugang zu Fremd-
kapital erleichtern. Erstens sind Patente von Start-ups wichtige Sicherheiten. Je
einfacher ein Patent verkauft werden kann, desto höher ist sein Wert als Sicherheit.
Dies steigert die zu erwartende Rückzahlung an die Kreditgeber und erleichtert den
Wie innovative Start-ups zu Kapital kommen 61

Zugang zu Risikokrediten. Zweitens dient das Engagement eines Wagniskapitalisten


als glaubwürdiges Signal für die Qualität und ein vergleichsweise niedrigeres Risiko
des Start-ups, was den Zugang zu Fremdkapital ebenfalls verbessert. Denn Wagnis-
kapitalgeber sind in der Lage, die Erfolgsaussichten von Jungunternehmen gut ein-
zuschätzen, und nehmen auch Einfluss auf deren Investitionen und Geschäftspolitik,
um die Erfolgschancen weiter zu steigern.
Im Beobachtungszeitraum haben gut 1500 aller berücksichtigten Start-ups
mindestens ein Patent angemeldet. Rund 36 % jener Start-ups erhielten Risiko-
kredite. Typischerweise haben Unternehmen über 90 % der Patentrechte an ihre
Fremdkapitalgeber übertragen. Für die Kreditgeber ist es wichtig, dass sie im
Insolvenzfall die übertragenen Sicherheiten rasch und ohne grosse Verluste ver-
äussern können. Dafür sind nicht nur die Qualität und der Verwendungszweck
eines Patents entscheidend, sondern auch die Liquidität und damit die Möglich-
keiten für einen Handel auf dem Sekundärmarkt. Je grösser die Zahl potenzieller
Käufer eines Patents ist, umso geringer fallen die Verluste der Kreditgeber aus.

Ein liquider Markt für Patente steigert die Kreditvergabe an Start-ups. Sind die
Patente jedoch sehr firmenspezifisch, so sinkt der potenzielle Veräusserungswert.
Dies erschwert den Zugang zu Risikokrediten.

Um die Marktliquidität zu quantifizieren, berechnen die Forscher ein Mass für


die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unternehmen bei Bedarf seine Patente verkaufen
kann. Die Ergebnisse zeigen, dass Start-ups mehr Fremdkapital aufnehmen, wenn
der Markt für Patente liquide ist. Wenn die Marktliquidität um einen Prozent-
punkt zunimmt, steigt die jährliche Verschuldungsrate eines Jungunternehmens,
das heisst, die Wahrscheinlichkeit, dass es einen Risikokredit erhält, um rund
1,1 Prozentpunkte oder rund 15 %. Allerdings tritt dieser Anstieg nur dann ein,
wenn die Patente nicht allzu firmenspezifisch und damit auch von anderen Unter-
nehmen gut nutzbar sind.
Das Engagement eines Wagniskapitalgebers signalisiert potenziellen
Investoren gute Erfolgschancen und erleichtert so den Zugang zu Risikokrediten.
Bereits die deskriptive Evidenz weist auf einen positiven Zusammenhang von
Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung von Start-ups hin. Die ökonometrischen
Schätzungen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Fremdfinanzierung signi-
fikant zunimmt, nachdem sich ein Wagniskapitalgeber engagiert. Dieser Anstieg
fällt umso stärker aus, je renommierter die Wagniskapitalisten sind, die sich am
Start-up beteiligen.
Abb. 1 zeigt die jährlichen Verschuldungsraten der untersuchten Jungunter-
nehmen. Diese sind deutlich höher, wenn ein Unternehmen zumindest teilweise
62 R. M. Koch

Abb. 1   Jährliche Verschuldungsrate von Start-ups und Wagniskapital. (Quelle: Hochberg


et al. 2018)

wagnisfinanziert ist. Im Durchschnitt nimmt die Verschuldungsrate dadurch von


drei auf 8,4 % zu. Höhere Verschuldungsraten bestehen während mindestens
neun Jahren nach dem Engagement eines Wagniskapitalgebers. Wenn jener zur
Spitzengruppe der renommiertesten Investoren zählt, liegt die durchschnittliche
Verschuldungsrate gar bei 9,1 %.

Start-ups mit Venture Capital können leichter Fremdkapital aufnehmen. Haben die
Wagniskapitalgeber eine besonders gute Reputation, ist die Verschuldungsrate sogar
dreimal so hoch.

Die Studie macht deutlich, dass der Zugang von Jungunternehmen zu Risiko-
krediten entscheidend davon abhängt, wie leicht Sicherheiten wie Patente ver-
wertbar sind, und ob ein Wagniskapitalgeber beteiligt ist oder nicht. Wenn wenig
Wagniskapital zur Verfügung steht, kann dies die Finanzierung von Start-ups in
zweifacher Weise erschweren. Zum einen fällt Venture Capital als Finanzierungs-
quelle weg und zum anderen sind auch externe Kreditgeber oft nicht mehr bereit,
das hohe Risiko einzugehen.
Wie innovative Start-ups zu Kapital kommen 63

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Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
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Seriengründer: Erfolg macht erfolgreich

Korbinian Wester

Relevanz
Innovative Unternehmensgründungen erneuern die Wirtschaft. Aber vielen
Gründern mangelt es an Kapital, an unternehmerischem Knowhow und
an Erfahrung. Das Risiko ist gross, nicht alle Start-ups haben das gleiche
Potenzial, und nicht jede Gründung lohnt für die Gesellschaft. Um die
neuen Start-ups mit den besten Aussichten herauszufiltern und auf Erfolg
zu trimmen, braucht es leistungsfähige Wagniskapitalgeber. Sie geben
Kapital erst nach sorgfältiger Auswahl und leisten Beratung und Über-
wachung. Aber das Neue ist auf dem Markt noch nicht getestet. Das
Potenzial der Start-ups ist schwer einzuschätzen. Da zählt die Erfahrung
in der Vergangenheit. Einem Seriengründer, der bereits einmal Erfolg hatte
und Erfahrung sammeln konnte, dem vertraut man eher. Auch ein Wagnis-
finanzier, der auf einen erfolgreichen Leistungsausweis zurückblicken
kann, geniesst bei den Gründern und ihren Kunden, Zulieferern und
Banken mehr Vertrauen. Erfolg macht erfolgreich.

Quelle
Gompers, Paul, Anna Kovner, Josh Lerner und David Scharfstein (2010), Per-
formance Persistence in Entrepreneurship, Journal of Financial Economics 96,
18–32.

K. Wester (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
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© Der/die Autor(en) 2021 65


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_11
66 K. Wester

Start-ups bringen die Wirtschaft in Schwung. Sie schaffen zusätzliche Arbeits-


plätze und bringen Innovationen und neue Produkte hervor. So steigern sie den
Wohlstand und vergrössern die Auswahlmöglichkeiten der Konsumenten. Gerade
bei grossen wirtschaftlichen Umbrüchen wie z. B. im Zeitalter der Digitalisierung
sind Innovationen notwendig, damit eine Volkswirtschaft erfolgreich bleibt.
Welche Start-ups sind besonders erfolgreich?
Die Gründung und Finanzierung eines neuen Unternehmens ist mit erheb-
lichen Risiken behaftet. Viele Start-Ups erweisen sich als nicht überlebens-
fähig und verschwinden nach kurzer Zeit wieder. Welche Neugründungen haben
die grössten Erfolgschancen und sollen Kapital erhalten? In einer 2010 ver-
öffentlichten Arbeit gehen Paul Gompers, Anna Kovner, Josh Lerner und David
Scharfstein dieser Frage nach. Sie stellen die unternehmerische Erfahrung des
Gründers in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Manche Unternehmer werden zu
Seriengründern, indem sie nach Gründung eines Start-ups ein weiteres Projekt
beginnen. Dies kann unabhängig davon geschehen, ob die erste Gründung erfolg-
reich war oder nicht. Die Forscher untersuchen, ob solche Seriengründer erfolg-
reicher sind als jene Unternehmer, die zum ersten Mal ein Start-up gründen.
Die Wissenschaftler untersuchen Neugründungen in den USA zwischen 1986
und 2000, welche mit Risikokapital finanziert wurden. Ihr Datensatz enthält
Informationen zu 3796 Unternehmen mit 8753 Gründern. Der Unternehmens-
erfolg wird daran gemessen, ob ein Start-Up bis Dezember 2007 an die Börse
gegangen ist bzw. die notwendigen Unterlagen bis zu diesem Zeitpunkt ein-
gereicht hat. Zudem zeigen die Daten, ob es sich bei einem Unternehmen um eine
Seriengründung handelt, das heisst, ob mindestens einer der Gründer schon vor-
her über Erfahrung mit einer risikokapitalfinanzierten Gründung verfügte.
Die Anzahl der Unternehmer ist von 1980 bis 1994 langsam aber stetig
angewachsen. Danach stieg sie rapide an, wobei sich die Zahl zwischen 1994
und 1995 fast verdoppelte. Die Wissenschaftler sehen darin die Auswirkungen
des Internet-Booms. Insgesamt hat sich zwischen 1980 und 1990 die Zahl der
Gründer, die Risikokapital erhalten haben, von 11 auf 1661 vervielfacht. Auch
der Anteil von Seriengründern hat über die Jahre leicht zugenommen. Waren
es im Jahr 1985 nur 7,1 %, so hatten im Jahr 1999 bereits 9,5 % aller Gründer
Erfahrung aus vorangegangenen Projekten.

Die Anzahl der erfassten Gründer hat sich zwischen 1980 und 1990 mehr als ver-
hundertfacht. Dabei stieg der Anteil von Seriengründern von 7.1 Prozent auf 9.5
Prozent an.

Die Erfolgschancen von Unternehmensgründungen streuen stark. Im Durch-


schnitt schafften 25,7 % aller Gründungen den Börsengang. Seriengründer waren
Seriengründer: Erfolg macht erfolgreich 67

dabei besonders erfolgreich. Ihre Erfolgswahrscheinlichkeit lag bei 36,7 % für


ihr erstes Start-up und bei 29,1 % für nachfolgende Gründungen. Die ökono-
metrischen Schätzungen, die auch eine Reihe anderer Einflussgrössen berück-
sichtigen, zeigen ähnliche Ergebnisse. Start-Ups von Seriengründern haben
eine um vier Prozentpunkte höhere Erfolgswahrscheinlichkeit als jene von Erst-
gründern, welche ihr Unternehmen in 20,9 % der Fälle an die Börse bringen.
Die höhere Erfolgswahrscheinlichkeit im Durchschnitt ist hauptsächlich auf jene
Serienunternehmer zurückzuführen, die bereits früher mit ihrem Start-up Erfolg
hatten. Bei ihnen liegt die Erfolgswahrscheinlichkeit einer weiteren Neugründung
bei 30,3 %. Dagegen haben Seriengründer, die in der Vergangenheit scheiterten,
nur eine 21,8 %ige Chance. Erstgründern gelingt es nur zu 20,9 %, ein Unter-
nehmen erfolgreich aufzubauen.

Seriengründer haben eine um 4 Prozentpunkte höhere Erfolgswahrscheinlichkeit


als der Durchschnitt der Gründungen. Seriengründer, die mit einem Unternehmen
bereits Erfolg hatten, führen spätere Gründungen zu 30.3 Prozent zu erneutem
Erfolg. Jenen, die bereits einmal scheiterten, gelingt dies nur zu 21.8 Prozent.

Die empirische Evidenz zeigt eine Beständigkeit bei erfolgreichen Unter-


nehmensgründungen auf. Als Ursache dafür sehen die Wissenschaftler zwei
Faktoren. Erfolg spiegelt zum einen die unternehmerischen Fähigkeiten wider.
Diese umfassen sowohl die Managementqualitäten als auch das richtige Gespür,
ein bestimmtes Produkt zur richtigen Zeit auf den Markt zu bringen. So waren
beispielsweise 52 % der Computerunternehmen, die 1983 gegründet wurden,
erfolgreich. Zwei Jahre später war der Zeitpunkt bereits nicht mehr so günstig.
Nur 18 % der im Jahre 1985 gegründeten Computerunternehmen hatten Erfolg.
Die unternehmerischen Fähigkeiten und das Gespür für den Markteintritt im
richtigen Zeitfenster sind entscheidend für die Erfolgschancen eines Start-Ups.
Früherer Erfolg erhöht zudem das Vertrauen potenzieller Investoren, Zulieferer
und Kunden. Da es für diese oft schwierig ist, die tatsächlichen Fähigkeiten
eines Gründers einzuschätzen, vertrauen sie auf die unternehmerische Erfahrung,
wie sie anhand vergangener Erfolge nachgewiesen ist. Seriengründern gelingt es
daher eher, zusätzliche Ressourcen für ihr Start-Up aufzutreiben, was ihre Erfolgs-
chancen neuerlich steigert. Während nur 46 % der Erstgründungen in einem frühen
Stadium Risikokapital aufnehmen können, sind es bei späteren Gründungen 62 %
der Unternehmen. Zudem erhalten Erstgründer die erste Finanzierung erst nach
37 Monaten, während erfahrene Gründer diese bereits nach 20 Monaten erhalten.

Erstgründer haben es schwerer, Risikokapital aufzutreiben. Sie warten fast doppelt


so lange auf eine Risikokapitalfinanzierung wie Seriengründer.
68 K. Wester

Eine vertrauensbildende Wirkung geht auch von der Erfahrung des Risiko-
kapitalgebers aus, welcher das Unternehmen (mit-)finanziert. Zulieferer, weitere
Investoren und Kunden vertrauen stärker auf das Urteil eines erfahrenen Risiko-
kapitalgebers und sind dann eher bereit, ein Unternehmen zu unterstützen.
Zählt der Risikokapitalgeber zu den 25 % der erfahrensten Investoren, so ist die
Erfolgswahrscheinlichkeit eines von ihm mitfinanzierten neuen Unternehmens
mit 21,7 % um ca. 5 Prozentpunkte höher als bei anderen Gründungen, deren
Risikokapitalgeber zu den 25 % der unerfahrensten Investoren gehört. Diese
höhere Erfolgswahrscheinlichkeit kommt vor allem zwei Gruppen zu Gute, näm-
lich Erstgründern und solchen Seriengründern, die bisher nicht erfolgreich waren.
Erstgründer mit einer Finanzierung von erfahrenen Risikokapitalgebern sind zu
20,9 % erfolgreich, während jene mit unerfahrenen Finanziers nur eine Chance
von 14,3 % haben, erfolgreich zu sein. Bei Seriengründern, bereits einmal
scheiterten, ist der Unterschied mit 25,9 gegenüber 17,7 % sogar noch grösser.

Wird ein Unternehmen von einem erfahrenen Risikokapitalgeber finanziert, so ist


das Unternehmen in 21.7 Prozent der Fälle erfolgreich. Bei Finanzierung durch
einen unerfahrenen Risikokapitalgeber nur in 16.5 Prozent der Fälle.

Schliesslich schätzen die Forscher, wie sich die „market timing“ Fähigkeiten
eines Unternehmers, also das Gespür für den Markteintritt zur richtigen Zeit,
auf die Erfolgschancen des Start-ups auswirken. Dazu messen sie den Erfolg
der gesamten Branche. Hat ein Gründer sein erstes Unternehmen in einem für
die Branche sehr guten Jahr gegründet, verfügt er demnach über gute „market
timing“ Fähigkeiten. In diesem Fall beträgt seine Erfolgswahrscheinlichkeit
bei der zweiten Gründung 30,5 %. Ein Unternehmer, der seine erste Gründung
in einem branchenweit eher erfolglosen Jahr auf den Weg brachte, ist hin-
gegen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 23,7 % erfolgreich. Abb. 1 fasst die
Erfolgschancen von Neugründungen unter den verschiedenen Voraussetzungen
zusammen.
Die Studie zeigt, dass es eine gewisse Beständigkeit in der erfolgreichen
Gründung von Unternehmen gibt. Nicht nur unternehmerische Fähigkeiten,
sondern auch der Erfolg in der Vergangenheit zählen. Erfolgreiche Gründer haben
bessere Chancen, später ein neues Start-Up zu gründen. Das liegt zum einen
daran, dass sie im Durchschnitt bessere Managementqualitäten, aber auch ein
besseres Gespür für den Markteintritt zum richtigen Zeitpunkt mitbringen. Zum
anderen liegt es auch daran, dass sie durch ihre Erfahrung und ihren bereits ein-
mal bewiesenen Erfolg besseren Zugang zu Finanzierung haben und auf mehr
Vertrauen bei Kunden und Zulieferern stossen.
Seriengründer: Erfolg macht erfolgreich 69

Erfolgswahrscheinlichkeiten bei Neugründungen

Erstgründer 20.9%
Seriengründer 25.0%

Erfolglose Seriengründer 21.8%


Erfolgreiche Seriengründer 30.3%

Unerfahrener Risikokapitalgeber 16.5%


Erfahrener Risikokapitalgeber 21.7%

Geringe "market ming" Qualitäten 23.7%


Hohe "market ming" Qualitäten 30.5%

0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35%

Abb. 1   Geschätzte Erfolgswahrscheinlichkeiten für Neugründungen. (Quelle: Selbst


erstellte Grafik aus Zahlen von Gompers et al. 2010)

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Wagniskapital: Mit Erfahrung zum
Erfolg

Margaret Green

Relevanz
Wagniskapital finanziert die innovativsten Unternehmen mit dem grössten
Risiko und trimmt diese mit Beratung und Kontrolle auf Erfolg. So
beschleunigt die Wagnisfinanzierung die Erneuerung der Wirtschaft. Damit
die positiven Wirkungen zustande kommen, braucht es Reputation und
einen Erfolgsausweis, damit sich die besten Start-ups anstellen und die
Wagniskapitalgesellschaften sich leichter refinanzieren können. Was könnte
mehr Reputation bringen als Erfolg? Auch die Wagnisfinanziers werden
aus Erfahrung klug. Eine erfolgreiche Investition ist der beste Beweis für
die eigene Leistungsfähigkeit. Gerade für junge Wagniskapitalfonds ist
es wichtig, mit einer Investition zur richtigen Zeit am richtigen Ort einen
ersten Erfolg zu landen, der das nachfolgende Geschäft erleichtert.

Quelle
Nanda, Ramana, Sampsa Samila und Olav Sorenson (2020), The Persistent
Effect of Initial Success: Evidence from Venture Capital, Journal of Financial
Economics, erscheint demnächst.

Risikokapitalgeber finanzieren Innovation und Wachstum in der Wirtschaft. Junge


und innovative Startups sind mangels Erfahrung und wegen fehlender Sicherheiten
für klassische Finanzierungsformen wie Bankkredite oftmals zu riskant. Sie sind

M. Green (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 71


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_12
72 M. Green

daher auf Wagniskapitalgeber angewiesen, die Beteiligungskapital geben, Risiko


übernehmen und ihre Unternehmen bei Innovation und Wachstum unterstützen.
Je erfolgreicher ein Start-up ist, desto rentabler ist die Investition der Finanziers.
Bei Erfolg steigt der Risikokapitalgeber durch Verkauf seiner Anteile an andere
Investoren und im besten Fall durch einen Börsengang aus dem Unternehmen
aus. Ihr Kapital und ihre Expertise wird bei den nächsten Startups benötigt. Der
Börsengang ist den besten Jungunternehmen vorbehalten. Die Wagniskapitalgeber
erzielen bei einem Börsengang in den USA durchschnittlich 400 % Bruttorendite,
bei Verkäufen an andere Investoren liegt diese noch bei rund 143 %. Bei Miss-
erfolg müssen sie allerdings ihre Investition meist ganz abschreiben.
Macht Erfolg erfolgreich? Wenn ein Wagniskapitalgeber einmal einen grossen
Erfolg landet, kann man auch bei der nächsten Investition mit Erfolg rechnen. Die
langanhaltende Erfolgsbeständigkeit ist eine Besonderheit des Wagniskapitals.
Woher kommt ein anhaltender Erfolg bei riskanten Unternehmensinvestitionen?
Die Wissenschaftler Ramana Nanda, Sampsa Samila und Olav Sorenson von den
Universitäten Harvard, Yale, und IESE (Barcelona) gehen dieser Frage nach. Sie
untersuchen, inwiefern der erste Erfolg eines Risikokapitalgebers den Erfolg ihrer
weiteren Investitionen vorprogrammiert.
Dazu analysieren die Forscher Investitionen von 895 US-amerikanischen
Wagniskapitalgebern zwischen 1961 und 2008. Eine Investition gilt dann als
erfolgreich, wenn es bis 2016 zu einem Börsengang oder einem Verkauf des
Jungunternehmens kam. Da Wagnisfinanziers typischerweise mit mehreren
Finanzierungsrunden in dasselbe Unternehmen investieren, beschränken sich die
Autoren auf die Erstinvestition in ein Unternehmen. Der Datensatz umfasst mehr
als 46′000 Investitionen.
Rund 51 % der Unternehmen, die durch Wagniskapital finanziert wurden, gingen
an die Börse oder wurden an andere Investoren verkauft. Die Wahrscheinlichkeit
eines Börsengangs betrug rund 20 %. Mit dem Ausstieg durch Verkauf ihrer Anteile
können die Finanziers den Ertrag auf ihre riskante Investition realisieren.

Im Schnitt ist jedes zweite wagnisfinanzierte Unternehmen erfolgreich und findet


einen Käufer. Rund jedes Fünfte schafft den Börsengang.

Bei der hohen Erfolgsquote von 51 % ist allerdings zu beachten, dass die Studie
kleine Wagniskapitalgeber, die weniger als elf Unternehmen finanzieren und
meist geringere Erfolgschancen haben, nicht berücksichtigt.
Wie wichtig ist der erzielte Erfolg für die künftigen Geschäfte? Über alle
Risikokapitalgeber hinweg zeigt die empirische Evidenz ein hohes Maß an
Erfolgsbeständigkeit. Schafft es ein Risikokapitalgeber, ein weiteres von zehn
finanzierten Unternehmen an die Börse bringen, erhöht sich die Wahrschein-
Wagniskapital: Mit Erfahrung zum Erfolg 73

lichkeit für einen Börsengang bei allen nachfolgenden Investitionen um acht


Prozent. Für das nächstbeste Erfolgsszenario, einem direkten Verkauf an andere
Investoren, schätzen die Forscher, dass bei zehn finanzierten Unternehmen
ein zusätzlicher Verkauf die Erfolgswahrscheinlichkeit für die nachfolgenden
Investitionen um vier Prozent steigert.

Mit einem zusätzlichen Börsengang unter den ersten zehn Investitionen kann ein
Wagniskapitalfonds die Wahrscheinlichkeit für weitere Börsengänge unter allen
seinen nachfolgenden Investitionen um 8 Prozent steigern.

Könnte der Erfolg nicht auch von anderen Einflussfaktoren als dem eigenen
Erfolgsausweis abhängen? Um dafür zu kontrollieren, berücksichtigen die
Forscher in ihren Schätzungen Faktoren wie Investitionsjahr, Bundesstaat,
Branche und Investitionsphase. Damit können sie ausschliessen, dass ihre Ergeb-
nisse von anderen Faktoren abhängen. Beispielsweise könnten erfolgreiche
Wagniskapitalgeber überproportional in besonders stark wachsenden Branchen
investieren, wo der Unternehmenserfolg quasi ein ‘Selbstläufer’ ist. Selbst unter
Berücksichtigung dieser Faktoren besteht weiterhin ein starker Zusammen-
hang zwischen dem Anteil der Börsengänge oder der erfolgreichen Verkäufe der
ersten zehn Investitionen und dem Erfolg bei den nachfolgenden Investitionen.
Allerdings halbiert sich der zuvor geschätzte achtprozentige Anstieg der Wahr-
scheinlichkeit für einen Börsengang auf vier Prozent.
Wie lange hält eine positive Wirkung des Anfangserfolgs an? Der Effekt wird
mit der Zeit immer schwächer. Mehr Erfolg bei den ersten zehn Investitionen
wirkt von der elften bis zur sechzigsten nachfolgenden Investition nach. Tatsäch-
lich nähern sich die Erfolgswahrscheinlichkeiten bei steigender Investitionsanzahl
den durchschnittlichen Erfolgsraten an.

Lernen durch Erfahrung spielt für jeden Wagniskapitalgeber eine grosse Rolle.
Anfänglicher Erfolg wird jedoch im Laufe der Zeit unwichtiger. Aber erst nach 60
weiteren Investitionen ist er nicht mehr relevant.

Die Bedeutung des Anfangserfolgs ist also besonders für kleine Wagniskapital-
gesellschaften wichtig, die erst wenige Investitionen getätigt haben. Die grossen
Gesellschaften mit einer Vielzahl getätigter Investitionen haben offensichtlich
schon ‚ausgelernt‘ und können nicht mehr viel an Erfahrung dazugewinnen. Mit
zunehmender Anzahl von Investitionen sollte sich also die Erfolgsquote dem
Branchendurchschnitt annähern. Abb. 1 illustriert diesen Zusammenhang. Jeder
Punkt repräsentiert dabei die gesamte Erfolgshistorie eines Risikokapitalgebers,
also die Anzahl der getätigten Investitionen und der Anteil der Börsengänge. Im
74 M. Green

Abb. 1   Erfahrung und Performance von Risikokapitalgebern. (Quelle: Nanda u. a., 2020,
Fig. 1)

Durchschnitt gelangen etwa 20 % der wagnisfinanzierten Unternehmen an die


Börse. Tatsächlich schwankt die Erfolgsquote der grossen Fonds mit mehr als 200
Investitionen nur wenig um diesen Durchschnittswert. Bei kleinen Wagnisgesell-
schaften mit weniger als 200 Investitionen streut die Erfolgsquote dagegen sehr viel
stärker. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass in dieser Gruppe die Bedeutung des
Anfangserfolgs sehr gross ist und die Erfolgsquoten der Gesellschaften stark streuen.
Worauf ist der unterschiedliche Erfolg zurückzuführen? Wagniskapital-
geber könnten sich beispielsweise in ihren Fähigkeiten unterscheiden, Start-
ups mit hohen Erfolgsaussichten zu entdecken, diese gut zu überwachen und
die Gründungsteams mit strategischer Beratung im Hinblick auf höhere Wert-
steigerung zu unterstützen. Weiter könnten besonders renommierte Wagnis-
finanziers bevorzugten Zugang zu den besten Neugründungen mit dem grössten
Wachstumspotenzial haben, was ihre Investitionen besonders rentabel macht.

Der anfängliche Erfolg einer Wagniskapitalgesellschaft hängt fast ausschliesslich


von der Investition zur richtigen Zeit am richtigen Ort ab.

Wären einige Risikokapitalgeber schlichtweg besser darin, vielversprechende


Unternehmen auszuwählen oder sie zum Erfolg zu führen, sollten sie unabhängig
von der vergangenen Erfolgsgeschichte höhere Erfolgsraten erzielen als ihre
Wagniskapital: Mit Erfahrung zum Erfolg 75

Konkurrenten, die in ähnliche Branchen investieren. Die Schätzungen zeigen


jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Ein Risikokapitalgeber, der seine ersten zehn
Investitionen in jenen Marktsegmenten tätigte, die besonders hohe Chancen auf
einen Börsengang versprachen, weist eine um vier Prozent höhere Chance auf einen
Börsengang bei seinen nachfolgenden Investitionen auf. Andere Einflussfaktoren
finden die Forscher nicht. Diese Erkenntnisse widersprechen der Ansicht, dass
manche Risikokapitalgeber von Natur aus besser geeignet wären, bestimmte Jung-
unternehmen auszuwählen und ihren Erfolg besser zu fördern. Vielmehr scheint der
Erfolg von der Investition zur richtigen Zeit am richtigen Ort abzuhängen.

Der anfängliche Erfolg der Wagniskapitalgeber hat nachhaltige Wirkung. Ein bevor-
zugter Zugang zu Deals in der Anfangsphase kann danach zwischen 57 und 74 Pro-
zent der längerfristigen Erfolgsbeständigkeit erklären.

Anfangserfolg verschafft Wagniskapitalgebern Zugang zu besseren Investitions-


möglichkeiten in späteren Finanzierungsrunden und zu größeren Konsortien,
welche bessere Erfolgsaussichten aufweisen. Typischerweise investiert weniger
als einer von acht Risikokapitalgebern allein in ein Start-up. Jeder weitere Erfolg
in den ersten Investitionsprojekten steigert die spätere Erfolgswahrscheinlich-
keit um sieben bis acht Prozent. Anfänglich erfolgreiche Wagnisfinanziers ziehen
grössere Investitionssummen in späteren Finanzierungsrunden an und spielen
eine zentralere Rolle im Investment-Netzwerk. Anfänglicher Erfolg macht sie
bei Partnern beliebt für gemeinsame Investitionen. Die Zahl der Ko-Investoren in
darauffolgenden Investitionsrunden steigt.
Besserer Zugang zu besonders attraktiven Transaktionen könnte erklären, wes-
halb anfänglicher Erfolg über längere Zeiträume bestehen bleibt. Sowohl Start-
ups als auch andere Investoren bevorzugen erfolgreiche Wagniskapitalgeber.
Dieser Umstand vermag auch zu erklären, weshalb die Erfolgsbeständigkeit
besonders für Wagniskapital charakteristisch ist und bei anderen Gesellschaften
wie Investment- und Hedgefonds kaum auftritt. Reputation spielt in der Wagnis-
finanzierung eine große Rolle. Unternehmen und Investoren versprechen sich
von einer Zusammenarbeit mit einem besonders renommierten Wagnisfinanzier
grösseren Erfolg und akzeptieren niedrigere Preise.
Zusammenfassend zeigt diese Studie, dass sich besonders bei kleineren
Wagniskapitalgebern ein anfänglicher Erfolg über längere Zeit fortsetzt. Die
ersten Investitionen zur richtigen Zeit am richtigen Ort erhöhen die länger-
fristigen Erfolgsaussichten. Diese Erfolgsbeständigkeit scheint weniger an unter-
schiedlichen Fähigkeiten zu liegen, sondern vielmehr am bevorzugten Zugang zu
vielversprechenden Unternehmen mit besonders hohem Potenzial.
76 M. Green

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Die Tücken der Dividendenbesteuerung

Laurenz Grabher

Relevanz
Ausgeschüttete Gewinne sollen nicht stärker belastet sein als andere Ein-
kommen. Deshalb soll eine Dividendensteuer geringer bleiben, um die
Vorbelastung mit Gewinn- bzw. Körperschaftssteuer zu berücksichtigen
und Doppelbelastung zu vermeiden. Eine zu hohe Dividendensteuer ist
volkswirtschaftlich schädlich. Sie bremst die Investitionen der jungen
Wachstumsunternehmen, die sich kaum selbst finanzieren können und
auf Risikokapital von aussen angewiesen sind. Die reifen Unternehmen
mit hohen Gewinnen können der Steuer leicht ausweichen, indem sie
ihre Gewinne nicht ausschütten, sondern zur Selbstfinanzierung ein-
behalten. Die Steuer bremst zwar kaum ihre Investitionen. Sie sperrt aber
die Gewinne bei den reifen Unternehmen ein, anstatt Ausschüttungen zu
ermöglichen, damit die Investoren das Kapital neu in andere Unternehmen
mit höheren Renditen und besseren Wachstumsaussichten investieren
können. Sie diskriminiert die jungen Wachstumsunternehmen zugunsten
ihrer etablierten Konkurrenten und behindert den produktivitätssteigernden
Neueinsatz des Kapitals.

Quelle
Becker, Bo, Marcus Jacob und Martin Jacob (2013), Payout Taxes and the
Allocation of Investment, Journal of Financial Economics 107, 1–24.

L. Grabher (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 77


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_13
78 L. Grabher

In zahlreichen Ländern wie z. B. Schweiz, Österreich, Deutschland und USA


werden Dividenden, Ausschüttungen und Rückkäufe von Aktien im Rahmen der
Einkommensteuer belastet. Um die vorherige Belastung durch Gewinn- bzw.
Körperschaftssteuer zu berücksichtigen und eine mögliche Doppelbelastung zu
entschärfen, wenden die meisten Staaten separate, reduzierte Sätze an. Solange
die Doppelbelastung nicht vollständig beseitigt ist, erhöhen Dividenden-
steuern die Finanzierungskosten und bremsen Investitionen. Dividendensteuern
benachteiligen vor allem jene Unternehmen, welche ihre Investitionen nicht mit
eigenen Gewinnen selbst finanzieren können und daher Risikokapital von aussen
brauchen. Oft sind es gerade die jungen und rasch wachsenden Unternehmen.
Während die Kosten der Kapitalaufnahme nicht steuermindernd sind, belastet
die Steuer zukünftige, ausgeschüttete Erträge. Das hemmt ihre Investitionen.
Grosse und gewinnstarke Unternehmen können dagegen ihre Investitionen
selbst finanzieren und haben wenig Probleme. Die Dividendensteuer besteuert
zwar ebenfalls zukünftige ausgeschüttete Erträge, aber die Verringerung der
Ausschüttungen zwecks Selbstfinanzierung spart Dividendensteuer. Bei ihnen
hat die Dividendensteuer keine negative Auswirkung auf die Investition, aber
sie verringert die Ausschüttungen. Die Steuer sperrt daher Kapital in grossen,
profitablen Unternehmen ein. Dieser „lock-in“ Effekt verzerrt die produktivi-
tätssteigernde Zuteilung von Kapital. Er begünstigt die etablierten Branchen
und benachteiligt vorwiegend junge und rasch wachsende Unternehmen, die zur
Finanzierung ihrer Investitionen auf den Kapitalmarkt angewiesen sind.

Höhere Dividendensteuern hemmen vorwiegend Investitionen von jungen und rasch


wachsenden Unternehmen, die Risikokapital brauchen. Sie sperren Gewinne bei
reifen Unternehmen ein, die ihre Investitionen selbst finanzieren und durch Ver-
ringerung der Ausschüttungen Dividendensteuer sparen können.

Bo Becker, Marcus Jacob und Martin Jacob untersuchen diesen Zusammenhang


genauer. Das Ziel ihrer Arbeit ist es, den Effekt von Dividendensteuern auf Unter-
nehmensinvestitionen zu quantifizieren. Solche Steuern verteuern die Finanzierung
mit neuem Eigenkapital und treiben einen Keil zwischen die Kosten von Innen- und
Aussenfinanzierung. Demnach hat die Dividendenbesteuerung unterschiedliche
Effekte auf die Investitionen abhängig vom Eigenfinanzierungsgrad: Jene Unter-
nehmen, die stark auf externe Finanzierung angewiesen sind, haben dadurch höhere
Kapitalkosten. Unternehmen, welche ihre Investitionen mit eigenen Ressourcen
(z. B. aus dem Cash-Flow) finanzieren können und kaum neues Eigenkapital auf-
nehmen müssen, reagieren hingegen weniger stark auf Steueränderungen.
In ihrer empirischen Analyse verwenden die Autoren einen Datensatz mit
Informationen zu Dividendenzahlungen und Investitionen von über 7′600
Die Tücken der Dividendenbesteuerung 79

Unternehmen aus 25 Ländern zwischen 1990 und 2009. In diesem Zeitraum


fanden insgesamt 15 substanzielle Steuerreformen sowie 67 Änderungen bei
der Besteuerung von Kapitalgewinnen und Dividendenausschüttungen statt.
Sie beschränken sich dabei auf Reformen, welche den Steuersatz um jeweils
mindestens drei Prozentpunkte veränderten.
Die Forscher vergleichen die Investitionsraten (das heisst, den Anteil der Neu-
investitionen an den gesamten Vermögenswerten) bei Unternehmen mit hohen
und niedrigem Cash-Flow als Mass für den Eigenfinanzierungsgrad. Wenn sie
über viel Cash-Flow verfügen, können sie ihre Investitionen überwiegend selbst
finanzieren, während die anderen mit wenig Cash-Flow auf die Finanzierung
mit neuem Eigenkapital angewiesen sind. Abb. 1 illustriert den Zusammenhang.
Die beiden Linien zeigen jeweils den Unterschied in den Investitionsraten von
Unternehmen mit hohem Selbstfinanzierungsgrad relativ zur anderen Gruppe
mit geringer Selbstfinanzierung. Ist die Selbstfinanzierung gering, reduziert
eine höhere Dividendensteuer die Investitionen, während Unternehmen mit
hoher Selbstfinanzierung kaum betroffen sind. Daher nimmt der Unterschied
im Investitionsverhalten zwischen den beiden Gruppen zu, wie der Anstieg der
dunklen Linie zeigt. Bei einer Senkung von Dividendensteuern investieren

Abb. 1   Effekt einer Steuerreform auf die Differenz in der Investitionstätigkeit von Unter-
nehmen mit einem hohen bzw. niedrigen Eigenfinanzierungsgrad. (Quelle Becker u. a.,
2013, Abb. 4)
80 L. Grabher

Unternehmen mit geringer Selbstfinanzierung mehr, sodass das Verhältnis der


Investitionsraten abnimmt, wie die helle Linie zeigt.
Die empirischen Schätzungen machen deutlich, dass Unternehmen mit
begrenzter Eigenfinanzierung stärker auf Dividendensteuern reagieren als jene
mit hohem Eigenfinanzierungsgrad. Eine Steuersenkung verringert die Unter-
schiede: Eine durchschnittliche Steuersenkung beträgt 9.8 Prozentpunkte. Sie
reduziert die Investitionsunterschiede von 7.3 auf 5.5 %. Dies entspricht einem
Rückgang um rund 31 %. Werden die Steuersätze auf Dividendenausschüttungen
hingegen erhöht, nehmen die Unterschiede zu: Eine durchschnittliche Steuer-
erhöhung von 8.4 % vergrössert den Unterschied in der Investitionstätigkeit um
42 %, das heisst, von 5.3 % auf 7.6 %.

Im Durchschnitt verringert eine Steuersenkung die Investitionsunterschiede


zwischen Unternehmen mit hoher und niedriger Eigenfinanzierung um 31 Prozent,
wogegen eine Steuererhöhung diesen Unterschied um 42 Prozent vergrössert.

Insgesamt tragen hohe Steuern auf Dividenden und Aktienrückkäufe dazu


bei, dass Investitionen immer stärker von Unternehmen mit hohem Eigen-
finanzierungsgrad getätigt werden. Steigt beispielsweise der Steuersatz von 15 %
(25. Perzentil) auf 32.2 % (75. Perzentil), so hat der Cash-Flow eines Unter-
nehmens einen um ein Drittel stärkeren Effekt auf dessen Investitionen. Die
Forscher kommen zu ähnlichen Ergebnissen, wenn sie die Eigenfinanzierungs-
kraft eines Unternehmens anhand anderer Grössen wie z. B. des Bruttoein-
kommens oder der liquiden Mittel messen.
Zwar wirken sich hohe Dividendensteuern nur wenig auf die Investitionen
von gewinnstarken Unternehmen aus. Sie sind nicht auf neues Eigenkapital
von aussen angewiesen, sondern finanzieren ihre Investitionen selber, indem sie
Gewinne einbehalten und nicht ausschütten. Weil die Steuer die Ausschüttungen
mindert, entfaltet sie jedoch einen anderen negativen Effekt, nämlich den
sogenannten „lock-in“ Effekt: Hohe Dividendensteuern sperren Kapital quasi
in selbstfinanzierten Unternehmen ein, anstatt Ausschüttungen zu ermöglichen,
damit die Investoren neu entscheiden können, wo sie das Kapital mit der höchsten
Rendite einsetzen können. Damit behindert die Steuer die Umlenkung von
Kapital und Investitionen von den reifen zu den jungen und rasch wachsenden
Unternehmen. Sie begünstigt vor allem etablierte Unternehmen und Branchen auf
Kosten expandierender Firmen mit hohem Bedarf an neuem Risikokapital. Die
Umlenkung von Kapital von reifen zu rasch wachsenden Unternehmen ist jedoch
eine wichtige Quelle für Produktivitätssteigerungen in der Volkswirtschaft.
Die Tücken der Dividendenbesteuerung 81

Eine zentrale Ursache dafür, dass Dividendensteuern die Investitionen von


Unternehmen mit niedrigem Selbstfinanzierungsgrad überproportional ver-
ringern, sind ansteigende Kapitalkosten. Diese beeinflussen allerdings nicht nur
die Investitionen eines Unternehmens, sondern schlagen sich auch auf dessen
externes Eigenkapital nieder. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass hohe
Dividendensteuern das Volumen von neu aufgenommenem Eigenkapital tatsäch-
lich signifikant verringern.

Steigt die Steuer auf Dividendenausschüttungen um 10 Prozentpunkte, nimmt ein


Unternehmen durchschnittlich um 9 Prozent weniger neues Eigenkapital auf.

Zusammengefasst zeigt das Forscherteam um Bo Becker, dass Steuern auf


Dividendenausschüttungen die Investitionen stark beeinflussen. Höhere Steuern
sperren zudem Kapital in etablierten Unternehmen mit hohen Gewinnen ein,
während sie die Investitionen jener Unternehmen wie z. B. Start-Ups, welche
stark wachsen und auf externe Finanzierung angewiesen sind, erheblich ver-
teuern. So behindert die Dividendensteuer auch einen produktivitätssteigernden
Neueinsatz des Kapitals zwischen Unternehmen mit hohen und geringen
Wachstumsmöglichkeiten.

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Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle
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ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen eben-
falls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende
nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
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Nur gute Schuldner profitieren von
niedrigen Zinsen

Benedikt Lennartz

Relevanz
Damit die Geldpolitik mit niedrigen Zinsen eine Rezession bekämpfen
kann, braucht es finanziellen Spielraum bei den Schuldnern. Nur wer beim
Kauf einer Immobilie einen hohen Anteil mit Eigenmitteln finanziert,
kann die Gunst niedriger Zinsen nützen. Nur gute Schuldner können den
Hypothekarkredit weiter aufstocken und Eigenmittel für den Konsum
mobilisieren. So können Zinssenkungen die Nachfrage stabilisieren und
die Rezession lindern. Wer von vornherein überschuldet ist, hat in der
Rezession keinen Spielraum mehr, um mit neuen Krediten den Konsum
zu steigern. Systematische Überschuldung nimmt den Zinssenkungen ihre
Wirkung und lähmt die Geldpolitik.

Quelle
Martin Beraja, Andreas Fuster, Erik Hurst und Joseph Vavra (2019), Regional
Heterogeneity and the Refinancing Channel of Monetary Policy, Quarterly
Journal of Economics, 109–183.

Kann eine klug eingesetzte Geldpolitik genügen, schwere Wirtschaftskrisen zu ver-


meiden? Die Erfahrung im Jahr 2001 nach dem Platzen der Dotcom-Blase scheint
die Wirksamkeit der Geldpolitik zu bestätigen. Die amerikanische Notenbank
hatte ihren Leitzins um 5 % abgesenkt und konnte damit die Wirtschaft erfolg-

B. Lennartz (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 83


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_14
84 B. Lennartz

reich stützen. In der Finanzkrise ab 2008 senkte sie erneut die Zinsen in ähnlichem
Masse. Zusätzliche kaufte sie Anleihen in grossem Umfang auf (Quantitative
Easing), um die langfristigen Zinsen zu verringern. Doch diesmal reichte das Ein-
greifen nicht aus, um eine tiefe Rezession zu vermeiden. Waren also die Zins-
senkungen während der Finanzkrise weniger effektiv als sieben Jahre zuvor?
Eine neue Studie der Ökonomen Martin Beraja, Andreas Fuster, Erik Hurst
und Joseph Vavra legt diesen Schluss nahe. Die Forscher analysieren einen
neuen Wirkungskanal expansiver Geldpolitik. Demnach stützen Zinssenkungen
den privaten Konsum auch dadurch, dass Haushalte ihre Immobilienkredite
günstiger refinanzieren, was vor allem in den USA weit verbreitet ist. Durch
Refinanzierung können verschuldete Haushalte ihre bestehenden Hypotheken mit
billigeren Krediten ersetzen und so von einer sinkenden Zinsbelastung profitieren.
Wenn die Hauspreise steigen, können sie zudem die Immobilie stärker belasten.
Mit steigenden Immobilienwerten können sie höhere Sicherheiten bieten und die
Kredite aufstocken. So können sie einen Teil der Eigenmittel, die sie ursprüng-
lich zum Kauf beigesteuert haben, entnehmen und für den Konsum verwenden.
Die Wissenschaftler argumentieren, dass dieser Wirkungskanal im Jahr 2001 gut
funktionierte, da die Hauspreise überall in den USA gleichmässig stiegen.
Im Jahr 2008 präsentierte sich die Krise jedoch in ganz anderer Art. Die
Hauspreise fielen überall und besonders stark in jenen Regionen, die auch den
grössten Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verkraften hatten. Viele Haushalte waren
stark verschuldet und ihr Vermögen, also ihr Haus, hatte stark an Wert ver-
loren. Angesichts schwindender Sicherheiten und hoher Verschuldung konnten
die betroffenen Haushalte ihre Kredite nicht mehr weiter aufstocken und hatten
keinen Spielraum mehr, um einen Teil der Eigenmittel für Konsumzwecke zu ent-
nehmen. Somit war der zuvor beschriebene Wirkungskanal der Geldpolitik im
Jahr 2008 weniger effektiv als sieben Jahre zuvor.
Um diese Argumentation empirisch zu belegen, betrachten die Wissenschaftler
zunächst die lokalen Refinanzierungsaktivitäten amerikanischer Haushalte.
Die deskriptive Evidenz zeigt, dass kurz nach der Verkündung des ersten geld-
politischen Lockerungsprogramms (QE1) Ende 2008 wesentlich mehr Hypo-
theken refinanziert wurden. Gleichzeitig sanken die Zinsen langfristiger Kredite.
Wo es möglich war, nutzten die Haushalte die günstigeren Kreditbedingungen,
um von niedrigeren Zinsen zu profitieren.
Die Forscher zeigen aber, dass es grosse regionale Unterschiede im Verhältnis
zwischen dem Kredit zum Wert der Immobilie, also der Beleihungsquote gab. In
Philadelphia und Seattle zum Beispiel betrug die Hypothekenschuld eines durch-
schnittlich verschuldeten Haushalts ca. 70–75 % des Immobilienwerts. In einigen
Regionen waren die Immobilienpreise hingegen so stark gesunken, dass sich
Nur gute Schuldner profitieren von niedrigen Zinsen 85

ein grosser Teil der Hauseigentümer in finanziellen Schwierigkeiten befand. So


waren z. B. in Las Vegas 70 % der Haushalte stark überschuldet mit Hypothekar-
schulden, die rund 17 % über dem Immobilienwert lagen.

In Regionen wie Philadelphia und Seattle betrugen die Hypothekarschulden der


Haushalte durchschnittlich 70–75% des Immobilienwertes. In Las Vegas hingegen
war bei 70% der verschuldeten Haushalte die Hypothekarschuld höher als der Wert
der Immobilie.

Welchen Einfluss haben diese Verhältnisse auf die Refinanzierungsaktivi-


täten der Haushalte? Die Forscher teilen hierfür die Regionen nach ihren
mittleren Beleihungsquoten in vier Gruppen rein. Dann vergleichen sie die
Refinanzierungsaktivitäten der beiden extremen Viertel, das heisst, derjenigen
Regionen mit den höchsten und niedrigsten Beleihungsquoten. In beiden Gruppen
stieg die Refinanzierungsrate kurz nach der geldpolitischen Lockerung an. In
den Regionen mit den geringsten Beleihungsquoten nahm sie besonders deutlich
zu. In dem Viertel der Regionen jedoch, in denen die Haushalte im Durchschnitt
besonders hoch verschuldet waren, stieg die Refinanzierungsquote deutlich
schwächer an. Die Haushalte mussten sich auf eine günstigere Refinanzierung
ihrer Hypotheken beschränkten, ohne die Hypothekarkredite aufzustocken und
dadurch mehr Geld für Konsum zu mobilisieren.
Nur wer beim Kauf einer Immobilie einen hohen Anteil von Eigenmitteln
einsetzt, hat bei sinkenden Immobilienpreisen noch Spielraum, den Hypothekar-
kredit aufzustocken, um von niedrigen Zinsen zu profitieren. Wenn dagegen
die Belehnungsquote schon von vornherein sehr hoch ist, gibt es angesichts
der Überschuldung keinen Spielraum mehr. Die Autoren können genau zeigen,
in welchem Umfang Haushalte die niedrigen Zinsen nutzen konnten, um mehr
Geld für Konsumausgaben zu mobilisieren. Wie zuvor lässt sich beobachten, dass
die Haushalte in den Regionen mit der niedrigsten Verschuldung deutlich mehr
Eigenmittel durch Refinanzierung herausnehmen konnten als die Haushalte in
den Regionen mit der höchsten Verschuldung. Ende 2009 hatten die Haushalte in
den Regionen mit geringen Beleihungsquoten rund 8 Mrd. $ mehr an Eigenmittel
aus der Refinanzierung ihrer Hypothekarschulden bezogen als die Haushalte in
stark verschuldeten Regionen.

In gering verschuldeten Regionen hatten Haushalte um 8 Mrd. Dollar mehr Eigen-


mittel bezogen als in hoch verschuldeten Regionen.

Um zu zeigen, inwieweit die Refinanzierung und Aufstockung von Hypothekar-


schulden bei niedrigen Zinsen die Konsumausgaben steigerten, vergleichen
86 B. Lennartz

die Wissenschaftler die Verkaufszahlen von Neuwagen zwischen den stark und
schwach verschuldeten Regionen. Autokäufe schwanken üblicherweise stärker
als allgemeine Konsumausgaben und nehmen daher bei einem Anstieg der ver-
fügbaren Einkommen besonders stark zu. Tatsächlich stiegen die Autokäufe
besonders in den weniger verschuldeten Regionen. Die Ergebnisse deuten also
daraufhin, dass die Lockerung der Geldpolitik den Konsum gerade in jenen
Regionen anregte, wo die Arbeitslosigkeit niedriger war und die Immobilien-
preise vergleichsweise weniger stark gefallen waren. In den Gegenden, welche
besonders stark von steigender Arbeitslosigkeit und fallenden Immobilienpreisen
betroffen waren und die Überschuldung zunahm, nahmen die Autokäufe hingegen
deutlich schwächer zu.
Die Wissenschaftler können nun den Vergleich zur Dotcom-Krise zu Beginn
der 2000-er Jahre ziehen. Zunächst dokumentieren sie die empirischen Fakten
zum makroökonomischen Umfeld. Während der Rezession 2001  stiegen
die Hauspreise im Durchschnitt, wogegen sie 2008 fielen. Zudem waren
die regionalen Unterschiede 2008 deutlich höher. Der Zusammenhang von
Immobilienpreisen und Arbeitslosigkeit in den verschiedenen Regionen war
2008 sehr viel stärker ausgeprägt als 2001. Mit diesen Erkenntnissen deckt sich,
dass die Refinanzierungsquoten im Jahr 2001 ein anderes regionales Muster
zeigten als sieben Jahre später. Damals waren es Haushalte in den Regionen mit
der höchsten Arbeitslosigkeit, die am häufigsten refinanzierten. Sie brauchten
am dringendsten mehr verfügbares Einkommen und konnten von den niedrigen
Zinsen profitieren, weil sie dank steigender Immobilienpreisen mehr Sicherheiten
bieten und ihre Hypothekarkredite aufstocken konnten. Somit wirkte 2001 der
geldpolitische Impuls gerade dort, wo er besonders notwendig war. Nach Abb. 1
waren es die Regionen mit der höchsten Arbeitslosigkeit, in denen die Haushalte
deutlich öfter refinanzierten, während es in der Krise 2007–2009 mit fallenden
Immobilienpreisen gerade umgekehrt war.
Um die gesamtwirtschaftlichen Effekte expansiver Geldpolitik während beider
Rezessionen zu vergleichen, entwickeln die Forscher ein quantitatives Modell
und passen es an die makroökonomischen Gegebenheiten vor der Finanzkrise
an. Dann simulieren sie, wie sich Zinssenkungen auf Kreditrefinanzierungen
und Konsum auswirken. Im Einklang mit der empirischen Evidenz steigen die
Refinanzierungsraten und der gesamtwirtschaftliche Konsum besonders in den
Regionen mit niedriger Verschuldung. Weil dort die Arbeitslosigkeit geringer
und die Haushalte wohlhabender sind, akzentuiert der geldpolitische Impuls
tendenziell auch die Ungleichheit des Konsums. Nun passen die Forscher das
Modell an die ökonomischen Gegebenheiten des Jahres 2001 an und simulieren
dieselbe Zinssenkung wie zuvor. Der Konsumanstieg ist nun knapp doppelt so
Nur gute Schuldner profitieren von niedrigen Zinsen 87

Abb. 1   Refinanzierungsquoten und regionale Arbeitslosigkeit während der Finanzkrise


und der Dotcom-Krise

gross wie zuvor. Dies bedeutet, dass die Geldpolitik während der Finanzkrise
einen viel stärkeren Effekt gehabt hätte, wenn die Verschuldung der Haushalte
ähnlich niedrig gewesen wäre wie 2001. Die Autoren führen im Wesentlichen
zwei Gründe an. Zunächst waren 2008 deutlich mehr Haushalte überschuldet.
Somit war es ihnen nicht möglich, ihre Schulden weiter zu erhöhen, um von den
niedrigen Zinsen zu profitieren. Zusätzlich hatten 2001 diejenigen Haushalte,
die nicht überschuldet waren, deutlich niedrigere Kredite. Sie hatten daher mehr
Spielraum, bei der Refinanzierung die Hypothekarkredite aufzustocken und mehr
Eigenmittel für den Konsum verfügbar zu machen.
Es stellt sich die Frage, welche wirtschaftspolitischen Massnahmen die Geld-
politik wieder effektiver machen könnten. Die Wissenschaftler betrachten in
ihrem Modell einen Schuldenschnitt für überschuldete Haushalte. Eine ähnliche
Massnahme hatten USA mit dem „Home Affordable Modification Program“ 2009
umgesetzt. Im Modell erhöht ein partieller Schuldenschnitt den Konsum. Es zeigt
sich also, dass Zinssenkungen alleine noch nicht ausreichen, um bei starker Über-
schuldung eine Rezession zu verhindern. Es braucht zusätzliche, gezielte Mass-
nahmen, um die Wirksamkeit der Geldpolitik zu unterstützen.
88 B. Lennartz

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Wachstum durch Strukturwandel:
Globale Wertschöpfung
Ansteckung in der
Wertschöpfungskette

Johannes Matt

Relevanz
Ob Sturm, Feuer, Streik, Managementversagen oder Handelskonflikte,
die Risiken der Unternehmen sind zahlreich. Gefahr droht auch, wenn es
den Lieferanten und Kunden schlecht geht. Fällt ein schwer ersetzbarer
Lieferant aus, oder geht einem wichtigen Kunden das Geld aus, dann
herrscht Krise. Je stärker die Arbeitsteilung und Spezialisierung in der
Produktion ist, desto mehr sind die Unternehmen in einem Netzwerk von
Lieferbeziehungen eng verflochten und voneinander abhängig. Umso ver-
hängnisvoller kann sich ein Unterbruch in der Produktionskette auswirken.
Die Ansteckung in der Wertschöpfungskette kann ganze Branchen erfassen
und Konjunkturabschwünge verschärfen. Um die Krisenrobustheit zu
stärken, können die Unternehmen z. B. mit Lagerhaltung, Diversifizierung
der Lieferanten und ausreichenden Kapitalreserven vorsorgen.

Quelle
Barrot, J.-N. und Sauvagnat, J. (2016), Input Specificity and the Propagation of
Idiosyncratic Shocks in Production Networks, Quarterly Journal of Economics
131, 1543–1592.

Unternehmen sind durch eine Vielzahl von Lieferbeziehungen eng miteinander


verflochten. Dadurch kann sich die finanzielle Schieflage eines Lieferanten
schnell zu einem Geschäftsrisiko für seine Kunden und sogar für eine ganze

J. Matt (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 91


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_15
92 J. Matt

Branche entwickeln. Die Schocks und ihre Auswirkungen können so stark sein,
dass sie ganze Industriesektoren beinträchtigen und damit die Konjunkturein-
brüche verschärfen. Die ökonomische Forschung hat sich bisher vor allem mit der
Verflechtung zwischen speziellen Branchen und ihrem Einfluss auf die Gesamt-
wirtschaft beschäftigt. Wie die komplexen Wertschöpfungsketten von den Ver-
flechtungen zwischen einzelnen Firmen abhängen, ist noch kaum bekannt.
Das analysieren die Ökonomen Jean-Noël Barrot (MIT) und Julien Sauvagnat
(Bocconi). Sie untersuchen, wie sich Schocks wie z. B. Produktionsausfälle bei
einem einzelnen Unternehmen auf andere Unternehmen in der Wertschöpfungs-
kette, die nicht direkt davon betroffen sind, ausweiten.
Jedes Unternehmen ist Teil eines mehr oder weniger komplexen Netzwerkes
von Lieferanten, Sublieferanten und Kunden. Unternehmen beliefern sich gegen-
seitig und vertreiben ihre Produkte auf einem gemeinsamen Markt. Wenn eines
dieser Unternehmen seine Produktion unterbrechen muss oder es aus anderen
Gründen zu Lieferengpässen kommt, müssen seine Kunden darauf reagieren.
Diese Reaktion wird von zwei Faktoren bestimmt.
Einerseits können Unternehmen einen Großteil solcher Schocks durch eigene
Vorkehrungen und Anpassungen in ihrer Produktion ausgleichen. Die Auf-
teilung der Einkäufe auf verschiedene Lieferanten sowie die Lagerhaltung sind
Beispiele dafür. Selbst bei einer starken Unterbrechung und bei Lieferengpässen
und Preissteigerungen sind viele Unternehmen flexibel genug, ihre Produktion
anzupassen oder auf andere Lieferanten auszuweichen. Andererseits können
langfristige Lieferverträge, die Exklusivität eines Lieferanten oder Patente
solche Anpassungen erschweren. In diesem Fall breiten sich Schocks in einem
speziellen Unternehmen schneller und stärker im Produktionsnetzwerk aus und
können sich gegenseitig aufschaukeln. Gerät ein Unternehmen in Schwierig-
keiten, dann bekommen das seine Kunden und Lieferanten stark zu spüren. Je
größer das betroffene Unternehmen, je rigider die Produktion, oder je verzweigter
das Netzwerk zu anderen Firmen ist, desto stärker breitet sich ein Schock aus,
und desto größer fallen die Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft aus.
Ein Beispiel für ein Firmennetzwerk ist in Abb. 1 zu sehen. Es zeigt die Ent-
wicklung von Beziehungen zwischen Lieferanten und Kunden im Zeitraum von
1995 bis 2000. Verbindungen, die zu Beginn und am Ende der Periode bestanden,
sind dunkel hinterlegt. Alle anderen Beziehungen sind entweder vor dem Jahr
2000 abgebrochen oder erst nach 1995 aufgenommen worden. Die Distanz
zwischen zwei Punkten zeigt die geographische Entfernung der Unternehmen
zueinander, die Dicke die Stärke der Beziehung.
Die Abbildung illustriert die Komplexität eines Lieferanten- und Kunden-
netzwerks und weist auf die Folgen eines Schocks hin. Dabei haben nicht alle
Unternehmen die gleiche Bedeutung in der Wertschöpfungskette. Ein Aus-
Ansteckung in der Wertschöpfungskette 93

Abb. 1   Exemplarisches Firmennetzwerk aus Kunden und Lieferanten, 1995–2000.


(Quelle: Barrot und Sauvagnat 2016)

fall der Produktion an einem der Knotenpunkte, also bei einem stark vernetzten
Leitbetrieb, beeinträchtigt eine große Zahl von Unternehmen im Netzwerk. In
der Abbildung lässt sich zudem erkennen, dass Verbindungen zu geographisch
nahegelegenen Unternehmen bevorzugt werden. Ein Produktionsschock wirkt
sich daher typischerweise vor allem auf die Kunden und Zulieferer in der nahen
Umgebung schwerwiegend aus.
Die Ökonomen haben es nicht immer einfach, solche Wirkungsketten festzu-
machen und empirisch eindeutig zu identifizieren. Eine Vielzahl von Einfluss-
faktoren macht es oft nahezu unmöglich, den direkten Effekt bei einem einzelnen
Unternehmen zu isolieren. Ereignisse, die ein Unternehmen ganz allein betreffen,
sind selten und schwierig auszumachen. Barrot und Sauvagnat wenden daher
einen speziellen Trick an. Sie untersuchen für die USA zwischen 1978 und 2013,
wie sich lokal begrenzte Naturkatastrophen wie z. B. Feuer, Sturm, Überflutung
94 J. Matt

oder starker Schneefall auf die betroffenen Unternehmen mit ihren vor- und nach-
gelagerten Partnern auswirken. Dann messen sie den Unterschied zum Geschäfts-
gang bei vergleichbaren Firmen, die nicht direkt unter der Katastrophe leiden, aber
durch ihr Netzwerk mit den betroffenen Unternehmen verflochten sind. Je stärker
der Schock und je bedeutsamer die Rolle eines Unternehmens im Netzwerk ist,
desto stärker sollten die Auswirkungen eines solchen Schocks für andere Unter-
nehmen zu spüren sein.

Bei einem lokal begrenzten Schock wie z.B. einer Naturkatastrophe geht das
Umsatzwachstum des betroffenen Unternehmens um durchschnittlich 5 Prozent-
punkte und bei den Kunden um 2–3 Prozentpunkte zurück.

Zuerst schätzen die Forscher, dass das Umsatzwachstum eines Unternehmens, das
von einer Naturkatastrophe getroffen wird, um durchschnittlich 5 Prozentpunkte
zurückgeht. Dies sollte einen direkten Einfluss auf den Umsatz der Kunden
haben. Tatsächlich schätzen Barrot und Sauvagnat, dass ein solcher Schock den
Umsatz der Kunden um 2 bis 3 Prozentpunkte reduziert. Dies entspricht einem
Rückgang von 25 % im Vergleich zur durchschnittlichen Wachstumsrate über drei
Quartale.
Zusätzlich zu den Auswirkungen auf das Umsatzwachstum untersuchen die
Wissenschaftler die Entwicklung der Eigenkapitalwerte von börsennotierten
Unternehmen. Abb. 2 verfolgt die Entwicklung der Börsenwerte gemessen am

Abb. 2:   Unternehmenswert eines betroffenen Lieferanten und seiner Kunden nach einem
Schock. (Quelle: Barrot und Sauvagnat 2016, S. 1578)
Ansteckung in der Wertschöpfungskette 95

Aktienkurs eines direkt betroffenen Lieferanten (untere, grüne Linie) und seiner
typischen Kunden (mittlere, blaue Linie) sowie eines nicht-betroffenen vergleich-
baren Mittbewerbers (obere, rote Linie) und verdeutlicht, wie sich die Börsen-
werte nach einem Schock auseinanderentwickeln.
Die vertikale Linie bezeichnet den Zeitpunkt der Naturkatastrophe und die
vertikale Achse den Verlust im Aktienwert in Prozent. Im ersten Monat nach dem
Schock reduziert sich der Börsenwert des betroffenen Lieferanten um durch-
schnittlich 3 %, während sich jener des Kunden um bis zu 1 % verringert, also
um ein Drittel davon.

Nach einem Produktionsstopp fällt der Börsenwert eines betroffenen Unternehmens


um durchschnittlich 3 Prozent. Das führt in einem Firmennetzwerk zu einem Wert-
verlust bei den Kunden von bis zu 1 Prozent des Börsenwerts.

Zudem breitet sich ein Schock auch horizontal auf andere Unternehmen aus,
die zwar selbst nicht direkt betroffen sind, aber Kunden beliefern, die auch bei
den direkt betroffenen Lieferanten einkaufen. Auch solche anderen, nicht direkt
betroffenen Firmen stecken sich an, indem sie auf dem Umweg über ihre Kunden
ein um bis zu vier Prozentpunkte geringeres Umsatzwachstum hinnehmen
müssen. Die Krise eines Unternehmens breitet sich also nicht nur vertikal entlang
einer Wertschöpfungskette aus, sondern auch horizontal zwischen Lieferanten auf
derselben Verarbeitungsstufe. So kann sich ein ganzes Netzwerk oder eine ganze
Branche anstecken.
Die Schätzungen von Barrot und Sauvagnat beschränken sich zwar nur auf
die Effekte von Naturkatastrophen. Mit ihrem Ansatz können sie aber Schocks
identifizieren, die zunächst nur auf einzelne Unternehmen beschränkt sind, und
können so die Fortpflanzungseffekte separat herausfiltern. Wie die Wissen-
schaftler betonen, lassen sich ihre Ergebnisse mit großer Wahrscheinlichkeit auch
auf andere Unterbrechungen der Wertschöpfungskette z. B. infolge von Streiks,
Management-Wechsel oder Handelskonflikte verallgemeinern. Es kommt nicht
auf die Ursache des Produktionsausfalls an, sondern auf die Bedeutung der Güter
und Dienstleistungen, welche ein Kunde von seinen Lieferanten bezieht. Je
schwieriger es für einen Kunden ist, einen ausfallenden Lieferanten zu ersetzen,
desto stärker wird er von einem Unterbruch in der vorausgehenden Verarbeitungs-
stufe betroffen sein. Dies betrifft insbesondere Branchen, die einer starken
Regulierung unterliegen, und in welchen Patente von wenigen Anbietern gehalten
werden. Dies kann die Ansteckungseffekte von unternehmensspezifischen
Schocks signifikant erhöhen.
96 J. Matt

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Brexit: Unsicherheit ist Gift für die
Wirtschaft

Till Nikolaus Folger

Relevanz
Kommt es zu einem harten Brexit? Müssen sich die Unternehmen auf neue
Zölle, kostspielige Zollformalitäten, Zeitverzögerungen an der Grenze,
teure Unterbrüche in der Wertschöpfungskette, erhöhten Kapitalbedarf
für die Lagerhaltung, unterschiedliche Produktstandards, abweichende
Rechtsvorschriften, und weiter zunehmende Kosten einstellen? Zahlen
sich für viele kleinere Unternehmen die Geschäfte mit der EU überhaupt
noch aus? Oder gibt es am Ende doch noch ein kooperatives Ergebnis mit
beidseitigem Marktzugang zu einem gemeinsamen, einheitlichen Binnen-
markt? Sie wissen es nicht, müssen für alle Eventualitäten planen, und
schieben ihre Entscheidungen hinaus. Unsicherheit ist Gift für die Wirt-
schaft. Bevor überhaupt eine Entscheidung gefallen ist, bremst die Brexit-
Unsicherheit die britischen Unternehmen und beeinträchtigt Investitionen
und Produktivitätswachstum.

Quelle
Bloom, Nicholas, Philip Bunn, Scarlet Chen, Paul Mizen, Pawel Smietanka, and
Gregory Thwaites (2019), The Impact of Brexit on UK Firms, NBER WP 26.218.

Kaum ein Thema hat die europäische Debatte in Politik und Wirtschaft in den
letzten Jahren so geprägt wie die Entscheidung der Briten vom Juni 2016, die
EU zu verlassen. Während viele Ereignisse in den vergangenen Jahrzehnten zeit-

T. N. Folger (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 97


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_16
98 T. N. Folger

weise für Unsicherheit in der Volkswirtschaft gesorgt haben – man denke an die
Golfkriege, die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder den Kollaps von
Lehman Brothers – war in den meisten Fällen ebenjene Unsicherheit mit dem
Aufkommen neuer Informationen schnell wieder verflogen. Anders verhält es
sich beim Brexit. Mehr als drei Jahre nach dem Referendum bleibt die Zukunft
des Vereinigten Königreichs und seiner Beziehung zur EU weiter völlig unklar.
Für die Unternehmen sind eine Reihe relevanter Fragestellungen bisher ungeklärt:
Wie sieht der Zugang zum EU-Binnenmarkt aus? Wie viele ausländische Fach-
kräfte können weiterhin angeworben werden? Wie werden britische Produkt-
vorschriften genau aussehen? Genauso wenig wie die zukünftige Position des
Vereinigten Königreichs ist der Übergang dahin bisher definiert.
Vor allem im Land selbst wird weiterhin erbittert diskutiert. Ökonomen ver-
suchen durch Analysen und Prognosen, Orientierung über die Zukunft zu geben.
Dabei werden aber oft die bereits jetzt sichtbaren wirtschaftlichen Auswirkungen
des Brexits seit dem Referendum übersehen. Während die künftigen wirtschaft-
lichen Rahmenbedingungen der britischen Wirtschaft höchst ungewiss bleiben,
kann man bereits jetzt die Auswirkungen der anhaltenden Unsicherheit in den
bestehenden Daten feststellen.
Wie sich die Ungewissheit wirtschaftlich ausgewirkt hat, haben sechs Volks-
wirte um Nicholas Bloom von der amerikanischen Universität Stanford in einer
im September erschienen Forschungsarbeit untersucht. Indem sie nicht über
verschiedene Zukunftsszenarien spekulieren, sondern die tatsächlich sicht-
baren Effekte der Unsicherheit der letzten drei Jahre untersuchen, rücken sie die
Debatte um den Brexit in ein neues Licht.
Als Basis ihrer Arbeit diente den Forschern das „Decision Maker Panel“
(DMP), mit welchem sie seit August 2016 monatlich Daten tausender Unter-
nehmen erheben. Von allen 42′000 britischen Unternehmen mit mindestens zehn
Mitarbeitern haben sie eine zufällige Auswahl von Unternehmen eingeladen, an
einer Online-Befragung teilzunehmen. Insgesamt haben 5′900 Unternehmen in
den drei untersuchten Jahren mindestens eine Frage zum Thema Brexit im DMP
beantwortet. Mit total rund 3.7 Mio. Beschäftigten repräsentieren diese etwa
14 % der britischen Arbeitsplätze im Privatsektor. Die Fragen wurden meist durch
die Spitzenmanager der jeweiligen Unternehmen beantwortet: Bei 70 % war dies
der Finanzvorstand, bei 15 % sogar der Vorstandsvorsitzende.
Eine Schlüsselfrage des DMP-Panels lautet: „Wie sehr hat das Ergebnis
des EU-Referendums den Grad an Unsicherheit in Ihrem Unternehmen beein-
flusst?“ Aus den vier Antwortmöglichkeiten leiteten die Autoren den Brexit-
Unsicherheits-Index (BUI) ab. Dieser zeigt den Anteil jener Unternehmen,
welche den Brexit als den wichtigsten oder einen der drei wichtigsten Unsicher-
heitsfaktoren bezeichnen. Betrachteten unmittelbar nach dem Referendum noch
Brexit: Unsicherheit ist Gift für die Wirtschaft 99

Abb. 1   Der Brexit-Unsicherheits-Index. (Quelle: Bloom u. a. 2019, Abb.1)

weniger als 40 % den Brexit als einen der wichtigsten Unsicherheitsfaktoren an,
waren es zweieinhalb Jahre später im Juli 2019 deutlich über die Hälfte. Abb. 1
zeigt, dass die Unsicherheit weiter anhält und jüngst stark zugenommen hat.
Viele verschiedene Faktoren zeichneten für die Unsicherheit durch den
Brexit verantwortlich. Die Unternehmen nannten hierbei vor allem Einflüsse auf
Arbeitsmarkt, Regulierung, Produktnachfrage, Zölle und Lieferketten. Während
der BUI seit dem Referendum gestiegen ist, gilt dies nicht für andere Indikatoren,
die üblicherweise zur Messung von Unsicherheit zu Rate gezogen werden. So
schlug zwar der britische Aktienmarkt als direkte Reaktion auf das Votum deut-
lich nach unten aus, normalisierte sich jedoch innerhalb weniger Wochen wieder.
Nicholas Bloom und seine Kollegen liefern somit erstmals ein Mass, welches die
Unsicherheit im britischen Geschäftsumfeld langfristig erfassen kann.

Der Brexit-Unsicherheits-Index BUI zeigt, dass die Unsicherheit auch drei Jahre
nach dem Referendum anhält und aktuell stark zugenommen hat. Mittlerweile
betrachten mehr Unternehmen den Brexit als einen der drei grössten Unsicherheits-
faktoren als noch 2016.

Im zweiten Teil der Studie gingen die Forscher der Frage nach, wie die Unsicher-
heit über den Brexit das Verhalten der betroffenen Unternehmen und damit
Investitionen und Produktivität beeinflusst. Ihre Analyse ergab, dass Unter-
nehmen mit engeren Verbindungen zur EU etwa durch grössere Exporte in den
100 T. N. Folger

Rest der EU oder einen höheren Anteil von Arbeitnehmern aus anderen EU-Mit-
gliedsstaaten die Unsicherheit aufgrund des Brexits signifikant höher einschätzen.
Die empirischen Schätzungen zeigen, dass das Investitionswachstum eines
Unternehmens seit dem Referendum um 2.8 Prozentpunkte geringer ausfiel, wenn
es die Unsicherheit durch den Brexit um einen Punkt auf der vierteiligen Skala
höher einschätzte. Auf Basis dieser Ergebnisse kamen die Autoren zum Schluss,
dass die gesamten Investitionen über drei Jahre rund 11 % niedriger waren als
sie es ohne den Brexit und die dadurch entstandene Unsicherheit gewesen wären.
Entgegen der Erwartung eines abrupten Investitionsstopps nach dem Referendum
und einer darauffolgenden Erholung kam es tatsächlich zu einem schleichenden,
aber anhaltenden Rückgang über den Gesamtzeitraum.

Durch den Brexit haben die britischen Unternehmen ihre Investitionen seit 2016
um total 11 Prozent zurückgefahren. Der stetige Rückgang unterstreicht die tief-
greifende Verunsicherung der britischen Wirtschaft.

Ausserdem zeigt das Forscherteam, dass der Brexit merkliche Produktivitäts-


einbussen verursacht. Eine Hauptursache liegt darin, dass die Planungen für den
Brexit wertvolle Ressourcen im Unternehmen in Anspruch nehmen. So gaben
beispielsweise rund 70 % der befragten Unternehmen an, dass ihre Manager
mehrere Stunden wöchentlich mit entsprechenden Planungen befasst waren.
Finanziell beliefen sich die Aufwendungen hierfür im Schnitt auf 0.4 % des
jeweiligen Umsatzes.
Das jährliche Produktivitätswachstum in einem Unternehmen fiel um bis zu
1.5 Prozentpunkte niedriger aus, wenn dieses die Brexit-Unsicherheit um einen
Punkt auf der vierteiligen Skala – also um ein Viertel – höher einschätzte. Daraus
berechnen die Forscher, dass das Produktivitätswachstum über die drei Jahre
um zwischen 1.8 und 4.5 Prozentpunkte geringer war als es ohne Brexit der Fall
gewesen wäre.
Zudem betrifft der Brexit produktive und wenig produktive Unternehmen
in unterschiedlicher Weise: Gerade besonders produktive Unternehmen waren
etwa durch Handel stark mit dem EU-Binnenmarkt verflochten und leiden stark
unter der derzeitigen Unsicherheit. Die Folge ist eine Umverteilung wirtschaft-
licher Aktivität von produktiven, international aufgestellten Unternehmen zu
weniger produktiven, lokalen Firmen, was das Produktivitätswachstum weiter
verlangsamt. Insgesamt schätzen die Forscher die gesamten Produktivitätsein-
bussen seit 2016 unter Berücksichtigung dieses Effekts auf zwischen 2 und
5 Prozentpunkte.
Brexit: Unsicherheit ist Gift für die Wirtschaft 101

Aufgrund der Unsicherheit ist seit dem Referendum die Produktivität im Vereinigten
Königreich um insgesamt 2 bis 5 Prozentpunkte zurückgegangen. Ein Teil dieses
Rückgangs ist auf den hohen Aufwand des Managements für Zukunftsplanung
zurückzuführen.

Wie der Brexit letzten Endes ausgehen wird, bleibt weiter unklar. Damit bleiben
die Konsequenzen für die britische Volkswirtschaft und ihre Beschäftigten eben-
falls unklar. Dank Bloom und seinem Forscherteam wissen wir allerdings, dass
die anhaltende Unsicherheit der letzten drei Jahre bereits jetzt für signifikant
geringere Investitionen und merkliche Produktivitätseinbussen gesorgt hat.

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Wie verschleiert China den
Protektionismus?

Piotr Lukaszuk

Relevanz
Wenn Freihandel und Wettbewerb zusammenspielen, können sich die
Länder am ehesten auf das spezialisieren, was sie am besten können. Alle
gewinnen. Doch die protektionistische Verlockung ist groß, die eigene
Wirtschaft auf Kosten anderer zu schützen. Dem soll die WTO einen Riegel
vorschieben, indem sie Importzölle und andere Handelsbeschränkungen
weltweit abbaut. Doch der Einfallsreichtum der Protektionisten kennt keine
Grenzen. Sie weichen unter anderem auf Exportbeschränkungen aus. Kann
es protektionistisch sein, den Export einzelner Branchen zu behindern und
damit den Markt anderen Ländern zu überlassen? Der Schachzug besteht
darin, mit Export- und Absatzbeschränkungen den Preis in dieser Branche
zu drücken und damit die heimischen Vorleistungen für die eigentlich
strategisch wichtigen Branchen zu verbilligen! Auch damit kann man den
Schlüsselbranchen auf dem Weltmarkt einen unfairen Wettbewerbsvorteil
verschaffen. Diese gelenkte Industriepolitik ist protektionistisch und welt-
weit im Vormarsch, in China und in anderen Ländern.

Quelle
Jason Garred (2018), The Persistence of Trade Policy in China after WTO
Accession, Journal of International Economics 114, S. 130–142.

P. Lukaszuk (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 103


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_17
104 P. Lukaszuk

In den letzten Jahrzehnten konnte die Welthandelspolitik Einfuhrzölle systematisch


und weltweit abbauen. Gemäß der Weltbank sank der durchschnittliche Einfuhrzoll
von rund 8.6 % 1994 auf 2.6 % 2017. Hinzu kommen über 300 Freihandelsverträge,
welche mittlerweile mehr als die Hälfte des Welthandels umfassen. Gleichzeitig
weisen immer mehr Studien darauf hin, dass der Protektionismus wieder zunimmt
und neue Handelsschranken entstehen – und dies schon lange vor Donald Trump.
Wie passt das zusammen?
Nachdem die traditionellen Instrumente wie Einfuhrzölle zunehmend ver-
pönt sind, haben sich die protektionistischen Tendenzen systematisch hin zu
nicht-tarifären Barrieren wie Steuern, Subventionen oder Exportbeschränkungen
verlagert. Letztere sind oft schwieriger festzumachen und gelten daher als „ver-
schleierter Protektionismus“. Gemäß dem Global Trade Alert, der weltweit
größten Datenbank zu Protektionismus, haben sich die nicht-tarifären Handels-
barrieren zwischen 2009 und 2017 fast verdoppelt.

Der durchschnittliche Einfuhrzoll ist von rund 8.6 Prozent 1994 auf 2.6 Prozent
2017 gefallen. Dagegen haben sich die nicht-tarifären Handelsbarrieren von 2009
bis 2017 fast verdoppelt.

Die Studie von Jason Garred von der Universität Ottawa untersucht am Bei-
spiel Chinas den Wandel von Einfuhrzöllen zu nicht-tarifären Barrieren
und ihre protektionistischen Auswirkungen. Der Forscher hat nicht bloß die
üblichen Handelszölle auf Importe und Exporte einbezogen, sondern weitere
Beschränkungen wie Exportlizenzen und -verbote und Mehrwertsteuerrabatte für
Exporte erfasst. Letztere spielen in Chinas Handelspolitik eine sehr wichtige Rolle.
Während die meisten Länder ihre Exporte von der Mehrwertsteuer befreien, ver-
steuert China grundsätzlich alle Exporte mit einem Steuersatz von 17 %. Seit 2004
wird aber die Ausfuhr mancher Produkte teilweise oder gänzlich von der Mehrwert-
steuer befreit, um bestimmte Branchen zu fördern. Der kanadische Wissenschaftler
kombiniert in seinem Aufsatz diese unterschiedlichen Exportbeschränkungen und
berechnet damit ein Maß der effektiven Ausfuhrzölle für jedes Produkt.
Nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 passte
China seine Schutzpolitik systematisch an, indem es Einfuhrzölle durch Ausfuhr-
hindernisse ersetzte. Die Ergebnisse wecken große Zweifel, dass die WTO-Mit-
gliedschaft tatsächlich Chinas Handelspolitik liberalisieren konnte. Abb. 1 zeigt,
dass China nach 1997 nicht nur seine Einfuhrzölle stark senkte, sondern auch die
Unterschiede der Zölle für verschiedene Produktkategorien halbierte. Dadurch
werden heute die meisten Importe mit einem ähnlich hohen Zoll belastet. Bei den
effektiven Ausfuhrzöllen zeigt sich jedoch gerade das Gegenteil: manche Produkte
weisen nach 2006 starke Exportbeschränkungen auf, andere hingegen nicht.
Wie verschleiert China den Protektionismus? 105

Abb. 1   Importzölle und Ausfuhrbeschränkungen in China (alle Produktkategorien ohne


Agrarprodukte). (Quelle: Garred 2018)

China betreibt eine gelenkte Industriepolitik und entscheidet vorab auf


höchster politischer Ebene, welche Branchen strategisch gefördert werden sollen.
China schützt also nicht alle Branchen in gleicher Weise vor ausländischem Wett-
bewerb, sondern behandelt einzelne Produkte und Sektoren sehr unterschiedlich.
Mit Importzöllen und anderen Barrieren kann es den Marktzugang für aus-
ländische Güter behindern, während Exportbeschränkungen gezielt den Welt-
marktzugang einzelner, lokal produzierter Güter erschweren. Um diese Strategie
nachzuweisen, sind zwei Fragen zu beantworten: Erstens, inwieweit werden Ein-
fuhrzölle durch Ausfuhrhürden ersetzt? Zweitens, welche Unterschiede gibt es
bei Exportbeschränkungen zwischen verschiedenen Sektoren der chinesischen
Wirtschaft?
Man kann eine Branche fördern, indem man sie entweder vor Importen schützt
oder von Exportbeschränkungen ausnimmt. Mit dem WTO-Beitritt 2001 musste
China Einfuhrzölle und nicht-tarifäre Handelsbeschränkungen abbauen. Jason
Garred untersucht nun, ob Produkte, welche vorher mit hohen Einfuhrzöllen vor
ausländischer Konkurrenz stark geschützt wurden, auch nach dem Beitritt eine
weitere Bevorzugung erhielten, z. B. mit einer Ausnahme von einer allgemeinen
106 P. Lukaszuk

Erhöhung von Ausfuhrzöllen. Seine Schätzungen zeigen, dass die effektiven Aus-
fuhrzölle zwischen 2002 und 2012 tatsächlich signifikant schwächer anstiegen,
wenn in dieser Branche der Einfuhrzoll vor dem WTO-Betritt hoch war.

War der Einfuhrzoll eines Produkts vor dem WTO-Beitritt um 1 Prozentpunkt


höher, fiel der Anstieg der Ausfuhrzölle um 0.5 Prozentpunkte geringer aus.

Eine strategisch wichtige Branche kann man auch fördern, indem man ihre Vor-
leistungen z. B. für die benötigten Rohmaterialien verbilligt. Ein Weg dazu ist,
die Branchen in der vorgelagerten Wertschöpfungskette mit hohen Ausfuhr-
zöllen zu belegen. Die empirische Analyse zeigt, dass China neue Ausfuhrzölle
vor allem auf Rohmaterialien und Halbfertigprodukte erhöhte. Die hohen Export-
kosten beschränken den Auslandsabsatz der Branche und drücken den Preis.
Die Produzenten von Rohmaterialien und Halbfertigprodukten müssen also ihre
Erzeugnisse günstiger auf dem chinesischen Heimmarkt verkaufen. Vor allem
bei Materialien, wo China signifikante Marktanteile besitzt und der Weltmarkt-
preis aufgrund des geringeren chinesischen Angebots steigt, entsteht dadurch eine
Preislücke zwischen dem chinesischen und dem Weltmarktpreis. Damit erhält die
nachgelagerte Schlüsselbranche in China gleich einen doppelten Wettbewerbsvor-
teil. Nicht nur kann sie im Inland billigere Vorleistungen beziehen. Gleichzeitig
verteuern sich dieselben Vorleistungen für die ausländischen Konkurrenten.
Um diese Zusammenhänge empirisch zu belegen, vergleicht Jason Garred
zunächst die Einfuhrzölle auf Fertigprodukte im Jahr 1999 mit den effektiven
Ausfuhrzöllen auf Rohmaterialien nach dem WTO-Beitritt 2001, welche für
die Herstellung genau jener Fertigprodukte notwendig sind. Seine Schätzungen
zeigen, dass die Absenkung der Einführzölle Eins-zu-Eins mit einem Anstieg
der effektiven Ausfuhrzölle einherging. Weiter zeigt er, wie der Einsatz von Aus-
fuhrzöllen die chinesischen Exporte beeinflusste. Steigt der effektive Ausfuhrzoll
auf Rohmaterialien um 1 Prozentpunkt, gehen die Exporte dieser Branche um
rund 5.1 % zurück. Das löst einen Preisverfall im Inland aus, welcher den nach-
gelagerten Verarbeitungsstufen zugutekommt. Die Verbilligung der Vorleistungen
steigert die Exporte der Fertigprodukte um bis zu 7 %.

Ein Anstieg der Ausfuhrzölle auf Rohmaterialien um 1 Prozentpunkt senkt die


Exporte dieser Branche um 5.1 Prozent. Der ausgelöste Preisverfall verbilligt die
Vorleistungen für die nachgelagerte Produktion und steigert die Exporte von End-
produkten um bis zu 7 Prozent.
Wie verschleiert China den Protektionismus? 107

Die chinesische Regierung lässt sich weniger von Partikularinteressen beein-


flussen, sondern betreibt offensichtlich eine zentral gelenkte Industriepolitik.
China identifiziert strategisch wichtige Schlüsselindustrien, die sie mit ver-
schiedenen Instrumenten gezielt subventioniert. China fördert diese Branchen,
indem die Regierung ausländische Direktinvestitionen hemmt und gleichzeitig
die Branche von Exportzöllen entlastet. Zusätzlich verbilligt sie die Vorleistungen
der heimischen Produzenten, indem sie höhere Exportzölle auf den vorgelagerten
Stufen erhebt. Indem diese Exportzölle tendenziell die Weltmarkpreise für die
Rohmaterialien steigen lassen, benachteiligen sie zudem die ausländischen
Konkurrenten. In anderen Branchen, die keine strategische Bevorzugung
genießen, lässt China ausländische Direktinvestitionen zu und verzichtet auf den
Einsatz von diskriminierenden Exportzöllen.
Diese Erkenntnisse werfen die Frage auf, ob die Politik, Einfuhrzölle durch
Ausfuhrzölle zu ersetzen, nicht gegen WTO Regeln verstößt. Die Vereinigten
Staaten riefen deshalb die WTO an, welche 2013 entschied, dass China Export-
rabatte für bestimmte Produkte zurückziehen muss. Dieser Fall macht die
Beschränkungen eines multilateralen Rahmens wie der WTO deutlich, welcher
die Schutzpolitik ihrer Mitglieder einschränken soll. Auch andere WTO-Mitglied-
staaten wie Brasilien oder Indonesien setzen gezielte Ausfuhrzölle ein, um aktive
Industriepolitik zu betreiben.
Die Gefahr solcher schutzpolitischen Maßnahmen, welche innerhalb der
WTO-Gespräche nicht vollständig verboten werden können, liegt in der Aus-
breitung. Wenn ein Land den Anfang macht, überlegen sich auch andere Länder,
ähnliche Maßnahmen einzuführen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für ihre
eigenen Firmen zu erhalten. Auch innerhalb der Europäischen Union werden die
Stimmen für eine eigene Industriepolitik lauter, um mit den chinesischen und
amerikanischen Unternehmen im Wettbewerb bestehen zu können. Am Ende ver-
lieren alle. Alle müssen teure Subventionen finanzieren, aber kein Land erzielt
einen Wettbewerbsvorteil, wenn die anderen nachziehen. Ein multilaterales Vor-
gehen im Rahmen der WTO wäre besser.
108 P. Lukaszuk

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Wirtschaftlicher Wandel und
gesellschaftliche Teilhabe: Ein
handlungsfähiger Staat
Kann Demokratie das Wachstum
fördern?

Till Nikolaus Folger

Relevanz
Der Staat sind wir. Mit Demokratie lenken wir die Politik zu unserem Vor-
teil. Breiter Zugang zu Bildung steigert nicht nur die Produktivität, sondern
fördert auch die demokratische Teilhabe und Kontrolle. Wirtschaftliche
Reformen werden wahrscheinlicher, die den Nutzen für eine große Mehr-
heit anstatt des Vorteiles einer privilegierten Minderheit fördern. Doch die
Demokratie ist nicht perfekt. Weltanschauliche Differenzen können den
Konsens erschweren und wichtige Entscheidungen verhindern. Braucht
es den aufgeklärten Autokraten, um nachhaltigen Wohlstand zu schaffen?
Oder ist die Demokratie der verlässlichere Weg zu inklusivem Wachstum?

Quelle
Acemoglu Acemoglu, Daron, Suresh Naidu, Pascual Restrepo, James A.
Robinson (2019), Democracy Does Cause Growth, Journal of Political Economy
127, 47–100.

Winston Churchill meinte einst, die Demokratie sei „die schlechteste aller
Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu
Zeit ausprobiert worden sind“. Ist die Demokratie tatsächlich das politische
Regime, das den Menschen den grössten Wohlstand beschert? China wird viel-
fach als undemokratisch gerügt, konnte jedoch über die letzten Jahrzehnte eine
nie zuvor gesehene Wachstumsgeschichte schreiben. Auch die zunehmenden

T. N. Folger (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 111


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_18
112 T. N. Folger

populistischen, antidemokratischen Tendenzen in Europa und den USA werfen


die Frage auf, ob Demokratie wirklich den besten Weg zu mehr Wachstum weist.
Die Ökonomen Daron Acemoglu, Suresh Naidu, Pascual Restrepo und James A.
Robinson von den Universitäten MIT, Columbia und Harvard untersuchen daher,
ob die Demokratisierung einem Land tatsächlich mehr Wohlstand beschert. Der
aktuelle Forschungsstand ist eher pessimistisch. Die Wissenschaftler meinen
jedoch, dass die existierende Forschung zum Thema methodische Unzulänglich-
keiten aufweist, z. B. im richtigen Messen der Demokratieniveaus.
Eine einfache Korrelation zwischen Demokratieniveau und Wachstum ist schnell
berechnet. Die Forscher zeigen jedoch, dass der Effekt tatsächlich von der Demo-
kratisierung ausgeht und das Wachstum ursächlich bedingt. Das Problem ist, dass
auch historische und kulturelle Unterschiede sowohl das politische Regime als
auch das Wachstum beeinflussen und somit den ursächlichen Einfluss verwaschen
können. Oft lösen Krisen mit einem starken Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens
eine Demokratisierung aus, die dann wieder auf die Einkommensentwicklung
zurückwirkt. Der Zusammenhang ist beidseitig und geht nicht nur in eine Richtung.
Für ihre Studie betrachten die Wissenschaftler 175 Länder über einen Zeit-
raum von 1960 bis 2010. Dabei unterscheiden sie zwischen „demokratischen“
und „nicht-demokratischen“ System. Die Daten zeigen eine deutliche Aus-
breitung der Demokratie.

Das Demokratieniveau auf der Welt hat eindeutig zugenommen. Wurden 1960
31.5 Prozent der Länder als demokratisch eingestuft, waren es 2010 mit 64.1 Pro-
zent mehr als doppelt so viele.

Die Forscher betrachten nicht nur permanente, sondern auch temporäre System-
wechsel. So hielt z. B. Argentinien 1973 erstmals seit zehn Jahren demokratische
Wahlen ab. Nach einem Putsch nur drei Jahre später sollte es jedoch bis 1983
dauern, ehe Argentinien endgültig zur Demokratie wurde. In der Analyse gilt
folglich nicht nur der Zeitraum ab 1983 als demokratisch, sondern auch jener
zwischen 1973 und 1976.
Ein erster Blick auf die Daten verrät, dass Demokratien im Durchschnitt ein
vierfach höheres Pro-Kopf-Einkommen haben und ihre Einwohner besser aus-
gebildet sind. Allerdings reicht eine solche Korrelation zwischen Demokratie und
Einkommen nicht aus, um die Demokratisierung klar auf das Wachstum zurück-
zuführen. Das Forscherteam bedient sich insgesamt dreier ökonometrischer Ana-
lysen, um den Effekt der Demokratisierung auf den Wohlstand festzumachen.
Alle drei Ansätze führen zu ähnlichen Erkenntnissen: Im Durchschnitt steigert
Demokratisierung das Pro-Kopf-Einkommen, während eine Abkehr von der
Demokratie einen Einkommensrückgang verursacht.
Kann Demokratie das Wachstum fördern? 113

Abb. 1   Demokratisierung und Wohlstand. (Quelle: Acemoglu u. a. 2019)

Abb. 1 stellt die Einkommensentwicklung vor und nach dem Jahr Null, dem
Zeitpunkt der Demokratisierung, dar. Die durchgezogene Linie zeigt die pro-
zentuale Veränderung des Pro-Kopf-Einkommens im Vergleich zum Jahr der
Demokratisierung und die gestrichelten Linien geben den Bereich an, in dem sich
95 % der tatsächlichen Beobachtungen befinden. Während die Wissenschaftler
vor dem Systemwechsel kaum Wachstum feststellen, schätzen sie das Pro-Kopf-
Einkommen nach 20 bis 25 Jahren um etwa 24 % höher als im Fall ohne Demo-
kratisierung.

Demokratisierung verspricht langfristige Wohlstandsgewinne. Nach 20–25 Jahren


erhöht sie das Pro-Kopf-Einkommen um rund ein Viertel.

Ein oft beobachtetes Phänomen im Demokratisierungsprozess sind regionalen


Wellen, in denen dieser auftritt. Man denke an den Arabischen Frühling ab
2010 oder den Zerfall der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten zu Beginn der
90er-Jahre. In den Daten zeigen sich solche „Ansteckungseffekte“ sehr deut-
lich. Sobald sich das erste Land in einer Region demokratisiert, dauert es meist
nur wenige Jahre, bis der Anteil demokratischer Länder in der gesamten Region
zum weltweiten Durchschnitt aufschliesst. Auch unter Berücksichtigung solcher
114 T. N. Folger

regionalen Einflüsse auf die Wahrscheinlichkeit der Demokratisierung eines


Landes schätzen die Forscher, dass Demokratie das Pro-Kopf-Einkommen lang-
fristig um rund 26 % steigert.
Welche spezifischen Mechanismen bestimmen, wie Demokratie das Wohl-
standsniveau erhöht? Die empirischen Ergebnisse deuten darauf hin, dass die
Demokratisierung eine Vielzahl von Faktoren fördert, welche Wachstum und
Lebensstandard nachhaltig erhöhen. Wirtschaftliche Reformen werden wahr-
scheinlicher, die den Nutzen für eine grosse Mehrheit anstatt des Vorteiles einer
privilegierten Minderheit fördern. Die Qualität des Bildungssystems verbessert
sich, was den Anteil gut ausgebildeter Bürger steigert. Da die Forscher jedoch
nicht gänzlich klären können, ob jene Kanäle tatsächlich Folgen des veränderten
politischen Systems oder des erhöhten Wohlstands sind, bleiben diese Erkennt-
nisse etwas weniger eindeutig als die im Hauptteil der Analyse.

Demokratisierung steigert den Wohlstand sowohl in Ländern mit hohem, als auch in
Ländern mit niedrigem Anfangseinkommen. Allerdings ist der Effekt auf das Wirt-
schaftswachstum stärker ausgeprägt, wenn ein grosser Teil der Bevölkerung weiter-
führende Schulen besucht hat.

Ein minimaler wirtschaftlicher Entwicklungsstand und eine gut ausgebildete


Bevölkerung gelten als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.
Eine weit verbreitete Ansicht ist daher, dass Demokratisierung in schwach ent-
wickelten Volkswirtschaften sogar nachteilig sein kann. Acemoglu und seine
Kollegen finden jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Wohlstandseffekte
der Demokratisierung systematisch vom Anfangsniveau des Einkommens
abhängen. Allerdings verspricht die Demokratisierung stärkere Wohlstands-
gewinne in Ländern mit einem hohen Bildungsstand.
Die Erkenntnisse dieser Arbeit zeigen, dass Demokratie nicht nur gesellschaft-
liche, sondern auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt. Damit relativiert sie
manche Zweifel an dieser Regierungsform. Trotz neuer und wichtiger Ergeb-
nisse bleibt aber noch Raum für weitere Forschung. Demokratie kann mehr oder
weniger weit gehen. Anstatt nur Demokratie und Nicht-Demokratie zu unter-
scheiden, könnte die Forschung z. B. auch den Einfluss eines unterschiedlichen
Demokratisierungsgrades in verschiedenen politischen Systemen untersuchen.
Kann Demokratie das Wachstum fördern? 115

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die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem
Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle
ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben,
ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen eben-
falls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende
nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
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Ein korrektes Verhältnis zum Staat

Elisabeth Essbaumer

Relevanz
Ein korrektes Verhältnis zum Staat zeichnet sich durch Gemeinsinn, Ehr-
lichkeit und gegenseitiges Vertrauen aus. Zivile Tugenden begünstigen
nicht nur eine hohe Steuermoral, sondern ermöglichen auch bessere
Politiklösungen anderswo. Die Arbeitslosenversicherung wird sehr teuer,
wenn ein wachsender Teil der Arbeitslosen lieber großzügiges Arbeits-
losengeld empfängt anstatt sich für die Beschäftigung zu rüsten und die
Mühen der Jobsuche einzugehen. Dann muss der Staat eher auf rigorosen
Kündigungsschutz setzen, um vor dem Arbeitslosenrisiko zu schützen und
die Kosten der Versicherung zu begrenzen. Das würde aber die existierende
Beschäftigung zementieren und verhindern, dass Arbeit von wenig
produktiven Jobs zu den aufstrebenden Branchen fließt, wo das Wachstum
und die zukunftsträchtige Beschäftigung stattfinden. Es lohnt sich also, die
zivilen Tugenden der Bürger zu pflegen, damit der Staat auf die Arbeits-
losensicherung anstatt den Kündigungsschutz setzen und die soziale
Sicherheit wachstumsverträglicher gestalten kann.

Quelle
Algan and Cahuc (2009), Civic Virtue and Labor Market Institutions, American
Economic Journal: Macroeconomics, 111–145.

E. Essbaumer (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 117


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_19
118 E. Essbaumer

Ein Staat entspricht dem Wesen seiner Bürger, kommentiert Platon in der Politeia,
einem seiner Hauptwerke über die Staatstheorie. Der Begriff „Bürgerliche
Tugend“ meint hier weniger die persönliche Sittsamkeit, als vielmehr das Ver-
antwortungsbewusstsein des Einzelnen für die Gemeinschaft und die Bereitschaft,
sich für das Allgemeinwohl einzusetzen. Dafür interessieren sich auch heute, mehr
als 2000 Jahre später, die beiden Ökonomen Yann Algan und Pierre Cahuc. Sie
untersuchen für den Zeitraum zwischen 1980 und 2000, inwiefern sich ein hoher
Gemeinsinn auf die Art der Institutionen zum Schutz vor Arbeitslosigkeit in ver-
schiedenen OECD Staaten und einigen postkommunistischen Ländern ausgewirkt
hat. Wie kann ein hoher Gemeinsinn darauf Einfluss haben, ob die Länder eher
auf die Arbeitslosenversicherung oder einen rigorosen Kündigungsschütz setzen?
Die Forscher erheben den Grad an Gemeinsinn aus einer Befragung über die Ein-
stellung gegenüber einem möglichen Ausnutzen des Sozialstaates. Sie messen
damit, in wieweit eine ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen
eher als Kavaliersdelikt oder als Betrug empfunden wird.
Die grundsätzliche Idee ist, dass es für den Staat umso teurer ist, ein Arbeits-
losengeld zu zahlen, je weniger Hemmungen seine Bürger besitzen, ihn auszu-
nutzen. In diesem Fall ist es für den Staat einfacher und kostengünstiger, den
Kündigungsschutz auszubauen, um auf diesem Weg die Arbeitnehmer vor der
Arbeitslosigkeit zu schützen. Das wäre für den Strukturwandel und für die
Umlenkung der Arbeit auf die Wachstumsbranchen negativ. Die Autoren decken
einen wesentlichen Zusammenhang auf: Scheuen sich Bürger, den Sozialstaat
zu betrügen, dann können die Staaten relativ großzügige Arbeitslosenleistungen
ausrichten. Ist der Gemeinsinn nur wenig ausgeprägt, setzen die Staaten eher auf
Kündigungsschutz, um den Arbeitgebern Entlassungen zu erschweren und so die
Kosten der Arbeitslosenversicherung zu begrenzen. Die empirische Analyse zeigt
deutliche Unterschiede zwischen den nordisch-skandinavischen Ländern mit
einem besser ausgeprägten Gemeinsinn auf der einen Seite und den kontinental-
und südeuropäischen Staaten auf der anderen Seite.

Es ist für den Staat umso teurer, ein Arbeitslosengeld zu zahlen, je eher seine Bürger
bereit sind, ihn finanziell auszunutzen.

Die Forscher belegen diesen Zusammenhang mit empirischer Evidenz. Dafür


untersuchen sie Daten des World Value Survey (WVS), einer Befragung mit drei
Erhebungswellen in den Jahren 1980, 1990 und 2000. Algan und Cahuc werten
die Antworten von 76 221 Personen aus 20 OECD Staaten sowie aus den drei
postkommunistischen Staaten Ungarn, Tschechien und Polen auf folgende Frage
aus: „Denken Sie, dass es gerechtfertigt ist, staatliche Leistungen in Anspruch
zu nehmen, auf die man keinen Anspruch hat?“ Die größte Ablehnung kommt
Ein korrektes Verhältnis zum Staat 119

aus Dänemark. Dort antworten durchschnittlich 88 % der Befragten, ein solcher
Anspruch sei nie gerechtfertigt. Dahinter folgen weitere nordische Staaten wie
Norwegen, Schweden und die Niederlande mit Werten um die 80 %. Auf der
anderen Seite stehen kontinentaleuropäische und mediterrane Staaten, wo durch-
schnittlich nur etwa 65 % der Teilnehmer die Frage mit „nie“ beantworten. Bei
den 2 491 Befragten aus der Schweiz liegt der Wert bei knapp unter 70 % etwas
darüber. Den geringsten Anteil an Teilnehmern, die einen nicht gerechtfertigten
Anspruch vollständig ablehnen, weist Griechenland mit etwas über 20 % auf.

Nur etwa 20 % der griechischen Befragten sprechen sich gegen das mögliche
Hintergehen des Sozialstaates aus. In Dänemark sind es 88 %.

Es ist natürlich davon auszugehen, dass neben der Herkunft auch andere Faktoren
sich auf die Einstellung einer Person gegenüber dem Sozialstaat auswirken.
Deswegen untersuchen die Forscher auch den Einfluss von sozioökonomischen
Aspekten, wie beispielsweise das Geschlecht der Befragten, deren Bildungsstand,
oder auch die Einkommensklasse. So erhöht beispielsweise ein zusätzliches Jahr
an Bildung die Wahrscheinlichkeit, einen Sozialstaatsbetrug abzulehnen, um 1 %.
Protestantisch zu sein erhöht die Wahrscheinlichkeit um durchschnittlich 3 % im
Vergleich zu nicht religiösen Personen. Die Einflussstärke solcher persönlichen
Faktoren ist jedoch deutlich geringer als der Einfluss des Herkunftslandes.
Da Dänemark den höchsten Wert an Gemeinsinn erreicht, gemessen an der
Häufigkeit der Ablehnung von Sozialbetrug, wird das Land als Referenzpunkt
angesehen. In die nachfolgende Analyse geht daher nicht der absolute Wert des
Anteils der Antworten ein, sondern nur der Unterschied zwischen Befragten aus
anderen Ländern zu denen aus Dänemark. Zum Beispiel ist in Spanien die Wahr-
scheinlichkeit einer Ablehnung bzw. der Anteil der Antworten, dass man den Bezug
von unrechtmäßigen Leistungen ablehnt, um 32 % niedriger als in Dänemark. In
Italien ist die Wahrscheinlichkeit um 25 % geringer. Diese Werte sind in Abb. 1 auf
der horizontalen Achse abgetragen. Dänemark als Referenzpunkt weist einen Wert
von null auf. Die Ergebnisse der Umfrage werden mit einem Indikator für die Aus-
gestaltung der Arbeitsmarktinstitutionen verglichen. Dieser ist auf der vertikalen
Achse abgebildet und zeigt die Zahlungen pro Arbeitslosen im Verhältnis zu einem
OECD Indikator für den Beschäftigungsschutz. Ein vergleichsweiser hoher Wert auf
dieser Achse sagt aus, dass der Staat einen Schwerpunkt auf Geldzahlungen legt. Bei
einem niedrigeren Wert ist der Kündigungsschutz verhältnismäßig stärker ausgebaut.

In Spanien ist die Wahrscheinlichkeit anzugeben, dass man den Bezug von
unrechtmäßigen Leistungen ablehnt, im Durchschnitt um 32 % niedriger als in
Dänemark.
120 E. Essbaumer

Abb. 1    Korrelation zwischen dem Grad an Gemeinsinn und den Arbeitsmarkt-


institutionen. (Quelle: Algan und Cahuc 2009, S. 124)

Es ist zu sehen, dass sich in nordischen Staaten, deren Bürger ein stärkeres
Bewusstsein für die Ehrlichkeit gegenüber dem Sozialstaat besitzen, auch ein
stärker an Zahlungen orientiertes System etabliert hat. Dementsprechend befinden
sich diese Staaten in der Abbildung eher auf der oberen, rechten Seite. Öster-
reich, Deutschland und die Schweiz unterscheiden sich bezüglich der Einstellung
nicht allzu sehr, jedoch gibt es beträchtliche Unterschiede in der Ausgestaltung
der Arbeitsmarktinstitutionen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Geld-
leistungen und Kündigungsschutz. Es wird hier mit Durchschnittswerten über
alle Erhebungsjahre gerechnet, aber das sich ergebende Muster ist auch im Zeit-
verlauf konsistent: Änderungen bei der Ausgestaltung des Arbeitslosenschutzes
zwischen 1980 und 2000 können zu 78 % mit Änderungen bei der Einstellung der
Befragten, also dem Gemeinsinn, assoziiert werden.
Zur Kontrolle werten die Ökonomen noch eine weitere Frage aus: „Würden
Sie im Allgemeinen sagen, dass den meisten Menschen vertraut werden kann,
oder sollte man eher vorsichtig im Umgang mit Anderen sein?“ Damit wird
berücksichtigt, dass die Bereitschaft der Bürger, staatliche Sozialversicherungen
zu unterstützen, auch davon abhängt, wieviel Vertrauen sie ihren Mitbürgern ent-
gegenbringen. Die Gruppierung nach Ländern spiegelt die vorherigen Ergebnisse:
Ein korrektes Verhältnis zum Staat 121

Befragte aus den nordisch-skandinavischen Staaten zeigen sich eher vertrauens-


voll, während man in kontinentaleuropäischen Ländern und in den Mittelmeer-
staaten skeptischer gegenüber seinen Landsleuten ist und bei diesen eine eher
höhere Bereitschaft zum Sozialbetrug vermutet.
Die Ergebnisse zeigen eher einen statistischen Zusammenhang als einen
wirklichen kausalen Effekt. Zur Überprüfung ihrer These nutzen die Forscher
einen besonderen Umstand. Sie können zeigen, dass Amerikaner mit fremden
ethnischen Wurzeln vorwiegend die Einstellung ihres Herkunftslandes mit-
nehmen, auch wenn sie innerhalb der USA geboren wurden. Handelt es sich zum
Beispiel bei den Vorfahren eines amerikanischen Befragten um Mexikaner, so ist
die Wahrscheinlichkeit, einen Sozialstaatsbetrug inakzeptabel zu finden, um 29 %
niedriger als bei einem Landsmann mit dänischen Vorfahren. Bei griechischer
Abstammung ist die Wahrscheinlichkeit um 21 % geringer.
Hätten Franzosen, Italiener und Griechen zwischen 1980 und 2000 die gleiche
Zivilmoral und damit die gleiche Einstellung gegenüber dem Sozialstaat geerbt
wie die Dänen, so hätten laut Studie die Arbeitslosenzahlungen in Frankreich um
8.6 % höher, in Italien um 9.8 % und im Fall von Griechenland sogar um 13.6 %
höher ausfallen können, und entsprechend weniger hätten diese Länder auf den
Kündigungsschutz setzen müssen. Es sei jedoch angemerkt, dass die Studie schon
im Jahr 2009 erschien, also bevor die Weltwirtschaftskrise eine Staatenkrise
hervorrief und zu massiven Einschnitten in die Arbeitslosenversicherungen der
betroffenen Länder zwang.

Hätten Franzosen, Italiener und Griechen die gleiche Einstellung gegenüber dem
Sozialstaat geerbt wie die Dänen, so hätten die Zahlungen an Arbeitslose in Frank-
reich um 8.6 %, in Italien um 9.8 % und in Griechenland sogar um 13.6 % höher
ausfallen können.

Die Studie zeigt, dass der Einfluss kultureller Werte auf die Ausgestaltung des
Wohlfahrtsstaates nicht unterschätzt werden darf. Zivile Tugenden und ein hoher
Gemeinsinn in der Bevölkerung erleichtern ein korrektes Verhältnis zum Staat
und ermöglichen bessere Politiklösungen, nicht nur für die Ausgestaltung des
Sozialstaates, sondern auch für die Finanzierung anderer Aufgaben z. B. Dank
hoher Steuermoral.
122 E. Essbaumer

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Wie Investoren mit hohen
Staatsschulden umgehen

Julian Johs

Relevanz
Die Tragbarkeit der Staatsverschuldung ist begrenzt. Sind die Schulden
hoch, ist nichts so wichtig wie die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik.
Selbst überschuldete Länder können das Vertrauen der Investoren
gewinnen, wenn sie eine Wende einleiten. Selbst bei hoher Verschuldung
sind sinkende Schuldenquoten ein starkes Signal, dass die Finanzen unter
Kontrolle sind und die Staaten ihre Schulden vollständig bedienen wollen.
Die Wahrscheinlichkeit für einen erwarteten Zahlungsausfall sinkt, und
damit die Risikoprämien. Fallende Zinsen erleichtern zudem eine nach-
haltige Konsolidierung. Wenn jedoch beim selben hohen Schuldenstand die
Verschuldung weiter zunimmt, ist das Vertrauen der Investoren schnell ver-
loren.

Quelle
Bassanetti, Antonio, Carlo Cottarelli und Andrea F. Presbitero (2019), Lost and
Found: Market Access and Public Debt Dynamics, Oxford Economic Papers 71,
445–471.

Fast alle Staaten haben Schulden. Viele haben große Probleme damit. Während
und nach der Wirtschaftskrise sind die Schuldenstände, gemessen am BIP,
stark angestiegen. Wenn die Investoren Zweifel an der Tragbarkeit der Staats-
schulden bekommen, steigen die Risikoprämien rasant an. Die steigenden Zinsen

J. Johs (*) 
WPZ Research, Wien, Österreich
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 123


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_20
124 J. Johs

können das Budget vollends in Schieflage bringen. Es droht ein Finanzierungs-


stopp. Einige hochverschuldete europäische Länder wie z. B. Griechenland und
Irland haben den Zugang zum Kapitalmarkt ganz verloren. Wie können hoch
verschuldete Staaten, die von einer Krise gebeutelt werden, den Zugang zum
Kapitalmarkt erhalten oder wiederherzustellen? Worauf kommt es an?
Um das herauszufinden, untersuchen die italienischen Forscher Antonio
Bassanetti, Carlo Cottarelli und Andrea Presbitero eine Vielzahl von Fällen mit
akuten Schuldenproblemen von Staaten. Ein Schuldenproblem umfasst alle
Formen von Zahlungsschwierigkeiten wie Verzüge bei Zins- und Tilgungs-
zahlungen, Umschuldungen und Stundungen. In ihrer Untersuchung verwenden
sie zwei Datensätze des Internationalen Währungsfonds für Industrie- als auch
Schwellenländer. Diese Daten beziehen sich auf die Jahre 1970 bis 2014 und
enthalten Schuldenstände, Budgetdefizite und Wachstumsraten sowie weitere
Informationen. Die empirische Untersuchung beschränkt sich allerdings nur auf
die Daten der Schwellenländer.
Der zweite Datensatz enthält Daten zum Verlust des Kapitalmarktzugangs.
Sie beziehen sich auf jene Fälle, in denen die betroffenen Staaten plötzlich
deutlich weniger Anleihen begeben oder Kredite aufnehmen können, oder
Restrukturierungen bzw. teilweise Nichtzahlung von Schulden ankündigen
müssen. Die Daten erfassen von 1990 bis 2013 über 44 Länder und enthalten ca.
50 Episoden, in denen Staaten keinen Marktzugang mehr hatten.
Ein Großteil der bisherigen Literatur erklärt das Entstehen von Schuldennot-
fällen hauptsächlich durch hohe Schuldenquoten. Die Autoren vermuten aber,
dass die Investoren nicht nur auf den aktuellen Schuldenstand, sondern auch
auf die Entwicklung in den vorangehenden Jahren schauen. Deutlich steigende
Schuldenquoten könnten potenzielle Geldgeber als Hinweis verstehen, dass die
betreffenden Staaten ihre Finanzen nicht mehr unter Kontrolle haben. Sinkende
Schuldenquoten schaffen dagegen Vertrauen, dass sich die Staaten zu einem
konsequenten Schuldenabbau verpflichtet haben und bereit sind, ihre Schulden
vollständig zu bedienen.

Stark steigende Schuldenquoten interpretieren die Investoren tendenziell als


fiskalischen Kontrollverlust. Sinkende Schuldenquoten schaffen hingegen Vertrauen,
dass der Staat seine Schulden vollständig bedienen wird.

Die Forscher stellen fest, dass Schuldenprobleme in den 80er und frühen
90er Jahren besonders häufig waren. Danach ging die Zahl der Staaten mit
Problemen zurück. Sie zählen 115 Episoden mit akuten Schuldenproblemen. In
mehr als 90 % der Fälle lagen hohe Auslandsschulden vor. In vier Fünftel der
Notfälle gingen zwei Jahre mit steigender Schuldenquote voraus.
Wie Investoren mit hohen Staatsschulden umgehen 125

Die Forscher gehen also davon aus, dass beim selben Schuldenstand die Wahr-
scheinlichkeit für den Eintritt eines Problemszenarios deutlich höher ausfällt,
wenn zuvor die Schuldenentwicklung stark zunehmend war. Tatsächlich ergeben
ihre Schätzungen: Eine Steigerung der Schuldenquote um zehn Prozentpunkte in
den zwei vorangehenden Jahren ist verbunden mit einer um 1.3 Prozentpunkte
höheren Wahrscheinlichkeit für ein Schuldenproblem. Dabei beträgt die durch-
schnittliche Wahrscheinlichkeit von akuten Schuldenproblemen 3.8 %.

Eine Steigerung der Schuldenquote um zehn Prozentpunkte in den zwei voran-


gehenden Jahren ist verbunden mit einer um 1.3 Prozentpunkte höheren Wahr-
scheinlichkeit für ein Schuldenproblem.

Die Forscher bestätigen auch die bisherigen Erkenntnisse, wonach die absolute
Höhe der Schuldenquote einen wichtigen Einfluss auf die Problemanfälligkeit
hat: Eine um 10 Prozentpunkte höhere Schuldenquote hängt mit einer durch-
schnittlich um 0.3 Prozentpunkte höheren Problemwahrscheinlichkeit zusammen.
Dabei fällt das Risiko umso höher aus, je höher die Schuldenquote bereits ist.
Abb. 1 zeigt das Zusammenspiel von Höhe und Entwicklung der Schuldenquote.
Die oberste Kurve zeigt, dass Staaten nach einem starken Anstieg der Schulden-
quote eine wesentlich höhere Ausfallswahrscheinlichkeit aufweisen, während
Wahrscheinlichkeit für Schuldenproblem

Schuldenquote
Schuldenrückgang Schuldenquote Schuldenzuwachs um
um 5 Prozentpunkte unverändert 5 Prozentpunkte

Abb. 1   Wahrscheinlichkeit für einen Zahlungsausfall auf Staatsschulden


126 J. Johs

Länder mit vorgängig fallenden Schuldenquoten (unterste Kurve) ein wesentlich


geringeres Risiko aufweisen.
Wie steht es mit den Chancen, nach einer bereits eingetretenen Staatsinsolvenz
wieder neues Vertrauen der Investoren und damit neuen Zugang zum Kapital-
markt zu erlangen? Frühere Studien konzentrieren sich auch hier auf die Höhe
der Schuldenquote. Die Wissenschaftler zeigen wiederum, dass nicht nur die
Schuldenhöhe zählt. In der Hälfte der Fälle erhalten auch Länder mit sehr hohen
Schuldenquoten wieder neuen Kapitalmarktzugang. Es ist also nicht zwingend
nötig, dass Staaten ihre Schulden bereits reduziert haben müssen, bevor sie
wieder am Markt teilnehmen können. Wiederum vermuten die italienischen Öko-
nomen, dass die Dynamik der Schulden eine wesentliche Rolle spielt. Selbst bei
hohem Ausgangsniveau sendet eine sinkende Schuldenquote ein starkes Signal
an den Markt, dass der Staat seine Finanzen unter Kontrolle gebracht und sich
einer vollständigen Rückzahlung verpflichtet hat. Für die potenziellen Käufer von
Staatsanleihen wirkt die Anlage daher sicherer. Steigt hingegen die Schulden-
quote weiter an, ist das Vertrauen verloren. Die Investoren befürchten erst recht
einen neuen Zahlungsausfall und verweigern neue Darlehen. Der Kapitalmarkt-
zugang bleibt versperrt.
Die empirische Untersuchung bestätigt die Vermutung: Eine Senkung der
Schuldenquote um zehn Prozentpunkte in den zwei vorangehenden Jahren ist ver-
bunden mit einer durchschnittlich um 5.6 Prozentpunkte höheren Wahrscheinlich-
keit, dass der Wiedereintritt in den Kapitalmarkt gelingt. Die durchschnittliche
Wahrscheinlichkeit für neuen Kapitalmarktzugang beträgt 13.8 %. Die absolute
Höhe der Schuldenquote selbst hängt nicht signifikant mit der Wahrscheinlichkeit
für den Wiedereintritt zusammen.

Eine Senkung der Schuldenquote um zehn Prozentpunkte in den zwei voran-


gehenden Jahren geht einher mit einer um 5.6 Prozentpunkte höheren Wahrschein-
lichkeit, dass der Wiedereintritt in den Kapitalmarkt gelingt.

Selbst ein hoher Schuldenstand muss nicht unbedingt eine Kapitalflucht aus-
lösen. Sinkende Schuldenstände sind ein starkes Signal, dass die Staatsfinanzen
unter Kontrolle sind. Indem überschuldete Staaten eine Wende einleiten,
können sie das Vertrauen der Finanzmärkte wiederherstellen. Die Investoren
revidieren die Ausfallswahrscheinlichkeit nach unten und fordern geringere
Risikoprämien. Niedrige Zinsen erleichtern die allmähliche Konsolidierung
des Staatshaushalts und reduzieren den Zwang zu abrupten Steuererhöhungen
und Ausgabenkürzungen. So können die Staaten einer Negativspirale von
zunehmenden Schulden, Vertrauensverlust, steigenden Zinsen und noch größerer
Schieflage der Staatsfinanzen entkommen.
Wie Investoren mit hohen Staatsschulden umgehen 127

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Kann Geldpolitik die Marktängste
zerstreuen?

Arthur Corazza

Relevanz
Die Krise der Eurozone hat es gezeigt: Die Tragbarkeit der Staatsschulden
ist begrenzt. Jedoch ist kaum etwas so unsicher wie die Erwartungen über
die künftige Fiskalpolitik eines Landes und so schwierig wie die Ein-
schätzung der staatlichen Kreditwürdigkeit. Die Risikoeinschätzungen
der Marktteilnehmer schwanken zwischen Vertrauen, harten Daten und
Angst. Geht das Vertrauen verloren und breiten sich Misstrauen und
Angst aus, dann setzt eine unkoordinierte Kapitalflucht ein. Sie lässt die
Zinsen schlagartig ansteigen, verschärft die Krise erst recht und kann im
schlimmsten Fall eine Insolvenz herbeizwingen. Kann die Zentralbank
mit ihrer Geldpolitik die Marktängste zerstreuen und eine prekäre Lage
stabilisieren?

Quelle
Krishnamurthy, Arvind, Stefan Nagel und Annette Vissing-Jorgensen (2018),
ECB Policies Involving Government Bond Purchases: Impact and Channels,
Review of Finance 22, 1–44.

Auf dem Höhepunkt der Eurokrise sahen sich mehrere Staaten der Eurozone mit
stark ansteigenden Zinsen auf ihre Staatsschulden konfrontiert. Der Vertrauens-
verlust in die Tragbarkeit der Schulden und die Flucht der Investoren wurden zum
Sinnbild für die Zuspitzung der Krise. Zwischen Herbst 2011 und dem Frühjahr
2012 erreichten die Zinssätze auf Staatsanleihen von Italien und Spanien 6–7 %

A. Corazza (*) 
Wirtschaftsuniversität Wien, Wien, Österreich

© Der/die Autor(en) 2021 129


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_21
130 A. Corazza

und jene von Portugal und Irland 20 %. Die Zinsen auf griechische Schuldtitel
vor dem Zahlungsausfall 2012 schnellten kurzzeitig auf über 200 % hoch. Zins-
sprünge wie diese reflektieren grundsätzlich eine plötzlich einsetzende Risiko-
scheu der Investoren bis hin zur Panik. Sie tragen wesentlich zur Verschärfung
der Staatsschuldenkrise bei und können im Extremfall zur selbsterfüllenden
Prophezeiung werden. Während der Krisenjahre kämpfte die Europäische
Zentralbank (EZB) darum, das Vertrauen der Märkte wiederherzustellen und
damit die Gemeinschaftswährung zu retten. Worauf war die Panik an den Finanz-
märkten genau zurückzuführen? Wie sehr konnte die EZB mit Ankündigungen
zu geldpolitischen Sondermaßnahmen die Wogen glätten und zur Senkung der
Zinsen und damit zur Eindämmung der Eurokrise beitragen?
In der kritischen Phase der Eurokrise 2010–2012 lassen sich mehrere Zeitpunkte
ausmachen, zu denen die EZB außergewöhnliche geldpolitische Maßnahmen
ankündigte und damit Einfluss auf die Märkte nahm. Mit dem Start des Securities
Market Programme (SMP, Programm für Wertpapierkäufe) am 10. Mai 2010
begann die EZB mit Ankäufen von Staatsobligationen Griechenlands, Irlands und
Portugals auf dem Sekundärmarkt, die sie ab 07. August 2011 auf italienische und
spanische Anleihen ausweitete. Als sie das Programm im September 2012 ein-
stellte, belief sich der Marktwert der aufgekauften Staatsanleihen zum Jahres-
ende auf 218 Mrd. € (davon Italien 47 %, Spanien 20 % und Griechenland 16 %).
Die durchschnittliche Restlaufzeit betrug etwa 4 Jahre. Per 06. September 2012
ersetzte die EZB das SMP-Programm durch das Outright Monetary Transactions-
Programm (OMT, geldpolitische Outright-Geschäfte). Bereits einige Wochen zuvor
kündigte sie mit einer Pressemitteilung und der oft zitierten Aussage „whatever-
it-takes“ von EZB-Präsident Mario Draghi ihre Maßnahmen zur Beruhigung der
Märkte an. Angesichts der Prominenz der Ankündigung ist es erstaunlich, dass
die EZB tatsächlich noch keinen Euro für das OMT-Ankaufprogramm ausgeben
musste. Sie sollte Anleihen erst nach Antrag und nur bei Erfüllung fiskalischer Auf-
lagen erwerben. Weil das bis heute noch nicht eingetreten ist, bleiben die Medien-
ankündigungen der einzige Einflussfaktor des Programmes.

2011–2012 erreichten die Zinsen von italienischen und spanischen Staatsanleihen


6–7 % und von portugiesischen und irischen 20 %. Bis Ende 2012 kaufte die EZB
218 Mrd. € an Staatsanleihen auf, davon entfielen auf Italien 47 %, Spanien 20 %
und Griechenland 16 %.

Während die EZB das erste Ankaufprogramm noch betrieb, kündigte sie bereits
parallel dazu im Dezember 2011 die Longer-Term Refinancing Operations
(LTROs, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte) an. Sie gewähren den Banken
ohne Mengenbeschränkung (full allotment), aber nur bei Nachweis von Sicher-
Kann Geldpolitik die Marktängste zerstreuen? 131

heiten, Zugang zu Refinanzierungsgeschäften mit einer Laufzeit von bis zu


3 Jahren. Die Zentralbank vergab im Zuge der Offenmarktaktivitäten im
Dezember 2011 und Februar 2012 finanzielle Mittel an den Bankensektor im
Umfang von insgesamt 1‘019 Mrd. €, das ist eine Nettoerhöhung von 521 Mrd.
Obwohl die Liquiditätszuschüsse primär die Kreditvergabe an die Privatwirt-
schaft anstoßen sollten, floss anstatt dessen ein erheblicher Teil der Liquidität
aus LTROs in den Erwerb von Staatsanleihen. Die Banken haben ihre Bestände
an heimischen Staatsanleihen stark aufgestockt, in Italien um 86 Mrd. und in
Spanien um 66 Mrd. €. Welche Auswirkungen hatten die EZB-Ankündigungen
auf die Zinsen der Staatsanleihen?
Sichere Wertpapiere werfen nur einen niedrigen Zins ab. Wenn die Gläubiger
mit einem Zahlungsausfall rechnen müssen, wollen sie sich das Risiko abgelten
lassen und fordern höhere Zinsen. Je wahrscheinlicher ein teilweiser oder voll-
ständiger Zahlungsausfall wird, desto höher muss auch die Risikoprämie sein.
Die Zinsen steigen also mit zunehmendem Risiko an. Das gilt auch für Staats-
anleihen von überschuldeten Ländern. In ihrem Artikel arbeiten Krishnamurthy,
Nagel und Vissing-Jorgensen mehrere unterschiedliche Risiken von Staatsan-
leihen heraus und analysieren ihren Einfluss auf die Zinsen. Erstens spiegeln die
Zinsen die Erwartungen über den künftigen Kurs der Geldpolitik wider. Eine
expansive Geldpolitik lässt niedrige Zinsen erwarten. Wegen der einheitlichen
Geldpolitik im Euroraum sollte dieses ‚geldpolitische Risiko‘ alle Mitglieds-
staaten ähnlich betreffen.
Andere Risiken unterscheiden sich je nach Land. Investoren müssen wie bei
jeder Art von Kredit ein länderweise unterschiedliches Insolvenzrisiko berück-
sichtigen. Fiskalisch starke Staaten sind ein ‚sicherer Hafen‘ und zahlen äußerst
niedrige Zinsen. Überschuldete Länder sind oft mit einem höheren Insolvenz-
risiko behaftet und müssen höhere Zinsen zahlen. Außerdem spielte während der
europäischen Staatsschuldenkrise die Angst der Investoren vor einem drohenden
Ausstieg einzelner Länder aus der Währungsunion eine große Rolle. Wenn
bestehende Schulden in eine neue nationale Währung, zum Beispiel die Lira,
umgewandelt werden und die Währung nach dem Austritt stark abwertet, dann
würden die Gläubiger einen hohen Abwertungsverlust hinnehmen müssen. Sie
würden die ursprüngliche Euroschuld nur mehr teilweise zurückerhalten. Dieses
‚Redenominierungsrisiko‘ lässt die Zinsen stark steigen. Schließlich weisen
Staatsschulden auch ein Liquiditätsrisiko auf. Wenn ein Markt illiquide wird,
müssen Investoren damit rechnen, dass sie künftig keine Käufer finden und
ihre Staatsanleihen nur mit hohen Abschlägen abstoßen können. Die Märkte
für Staatsanleihen segmentieren sich. Mangels Handel kommt ein Ausgleich
der Zinsen mittels Arbitrage nicht zustande. Auch für dieses Risiko fordern die
Gläubiger Zinszuschläge.
132 A. Corazza

Ziel der EZB-Maßnahmen war es, Marktängste über einen drohenden Aus-
stieg eines Staates aus dem Euroraum zu zerstreuen und durch die Bereitstellung
zusätzlicher Liquidität die Bildung separater Marktsegmente zu verhindern, damit
also das Liquiditätsrisiko abzubauen. War die EZB-Politik erfolgreich? Um diese
Frage zu untersuchen, zerlegen die Forscher die Zinsen italienischer, spanischer
und portugiesischer Staatsanleihen in ihre Risikokomponenten.

Mit höherem Ertragsrisiko steigen die Zinsen. Neben dem einheitlichen geld-
politischen Risiko spiegeln die Zinsen auf Staatsanleihen in der Eurozone ein
Insolvenzrisiko, ein Abwertungsrisiko bei einem möglichen Austritt aus der Euro-
zone und ein Liquiditätsrisiko wider.

Abb. 1 veranschaulicht die Entwicklung der Zinsspanne – die länderspezifische


Zinsrate – von italienischen Staatsanleihen mit ihren drei treibenden spezifischen
Risikofaktoren, nämlich dem staatlichen Zahlungsausfall, Italiens Austritt aus
dem Euro (Redenominierung), und dem Einfluss von Marktfriktionen (Illiquidi-
tät, Segmentierung). Die gesamte Zinsspanne der Staatsanleihen schwankte
im Beobachtungszeitraum zwischen 1 bis 6 % und erreichte Ende 2011 ihren
Höchststand. Nach den Schätzungen der Wissenschaftler war in Italien die

Abb. 1:   Die Zinsspanne italienischer Staatsanleihen mit ihren drei Komponenten und die
Zeitpunkte der EZB-Ankündigungen (vertikale Markierungen). (Quelle: Krishnamurthy
et al. 2018, Figure 3C)
Kann Geldpolitik die Marktängste zerstreuen? 133

Angst vor einem staatlichen Zahlungsausfall der treibende Faktor hinter dem
sprunghaften Anstieg der Zinsen im Herbst 2011. Die drohende Umwandlung
der Schulden in eine neue Lira (Redenominierung) war im damaligen Zeitraum
dagegen relativ unerheblich, so auch die Marktfriktionen. Das spanische Pendant
fluktuierte um 1–5 %, das portugiesische zwischen 3 und 17 %, wobei die
Forscher ähnliche Trends und Anteile der Zinskomponenten feststellen.
Die empirische Evidenz zeigt, dass die EZB mit ihren angekündigten und tat-
sächlichen Ankäufen vor allem die Zinsen auf Anleihen mittlerer Laufzeit kurz-
fristig senken konnte. Bei italienischen Staatsanleihen mit 2–5-jähriger Laufzeit
lösten Ankündigungen zu den Maßnahmen SMP und OMT jeweils eine Ver-
ringerung der Zinsen um 150–200 Basispunkte (BP, 100 BP sind 1 Prozentpunkt)
in den unmittelbar darauffolgenden Handelstagen aus. Für spanische Wertpapiere
betrug die Reduktion pro Programm rund 190–250 BP und für portugiesische
Schuldtitel bis zu 460–550 BP. Nachrichten zum Refinanzierungsprogramm LTRO
konnten hingegen keine weitere signifikante Senkung der Zinssätze bewirken.

Ankündigungen der EZB zu den Ankaufprogrammen lösten in den darauffolgenden


Tagen Zinssenkungen von bis zu 200 Basispunkten für italienische, 250 BP für
spanische und 550 BP für portugiesische Staatsanleihen aus.

Beruhigend wirkten die Nachrichten in erster Linie, indem sie die Ängste vor
einem staatlichen Zahlungsausfall und vor dem Liquiditätsrisiko mit einer
Segmentierung der Finanzmärkte abschwächten. Die drei EZB-Programme
scheinen unerhebliche Auswirkungen auf das gemeinsame, geldpolitische Zins-
risiko zu haben. In Italien hatten Ankündigungen zu den Ankaufprogrammen
SMP und OMT signifikante Reduktionen der Ausfallskomponente um 31–117 BP
und der Marktsegmentierung (Liquiditätsrisiko) um 79–133 BP zur Folge. Im
damaligen Zeitraum spielte die Angst vor Italiens Ausstieg aus dem Euro kaum
eine Rolle, sodass auch die Ankündigungen der EZB sich kaum auf diesen Teil
des Zinsrisikos auswirkten.
Auch in Spanien reduzierten die Ankündigungen die Befürchtungen der
Investoren bezüglich eines Zahlungsausfalls und senkten diese Zinskomponente
um 44–96 BP. Zudem verringerten die Maßnahmen die Marktsegmentierung und
senkten den Zuschlag für das Liquiditätsrisiko um 73–87 BP. Auch das geringere
wahrgenommene Risiko eines Euro-Ausstiegs trug mit 20–56 BP zur Zins-
senkung bei. In Portugal drückten Ankündigungen zu den Ankaufprogrammen die
Zinszuschläge für das Insolvenzrisiko um 116–128 BP, für das Liquiditätsrisiko
aufgrund von Marktsegmentierung um 167 BP und für das Abwertungsrisiko bei
einem Euroausstieg um 118 BP. LTRO-Ankündigungen bewirkten dagegen in
134 A. Corazza

Portugal keine Zinssenkung und reduzierten in Italien lediglich das Ausfallrisiko


geringfügig. Im Gegensatz dazu beförderte das LTRO-Programm in Spanien mit
69–83 BP eine nennenswerte Reduktion der Marktsegmentierungskomponente.
Zusammenfassend wird klar, dass die EZB-Kommunikation zu den Ankauf-
programmen SMP und OMT die Zinsen auf Staatsanleihen effektiv senken konnte,
vorwiegend über geringere wahrgenommene Ausfallsrisiken der Krisenstaaten und
über die Korrektur von Marktsegmentierung und Illiquidität. Mit teilweise erheb-
lichen Unterschieden machten im Durchschnitt der untersuchten Länder geringere
Risiken eines Zahlungsausfalls 37 %, einer Marktsegmentierung und Illiquidi-
tät 50 %, und eines Austritts mit Abwertungsverlusten (Redenominierung) 13 %
der Zinssenkung aus. Ankündigungen zum Refinanzierungsprogramm LTRO –
die Maßnahme mit dem im Endeffekt größten Volumen – hatten dagegen nur auf
spanische Staatsanleihen relevante Auswirkungen.

Die EZB Politik konnte die Risikoeinschätzungen und damit die Zinsen auf Staats-
schulden senken. Die geringeren Risiken eines Zahlungsausfalls, einer Markt-
segmentierung und Illiquidität, und eines Euro-Austritts machten im Durchschnitt
37, 50 und 13 % der Zinssenkung aus.

Abschließend untersuchen die Autoren die Nebeneffekte der EZB-Ankündigungen


auf die Bewertungen und Finanzierungsbedingungen von Unternehmen im
Euroraum. Während die beiden Ankaufprogramme SMP und OMT in 9 von
11 untersuchten Euro-Mitgliedsstaaten unmittelbare Kurssteigerungen an den
Aktienmärkten um 4 % bzw. 14 % auslösten, scheint das LTRO-Programm auf
die Aktienindizes keinen signifikanten Einfluss genommen zu haben. Ähnliches
schließen die Autoren über die Kurssteigerungen bei Aktien des Finanzsektors
(SMP + 9  %, OMT + 19  %) und Aktientitel der Realwirtschaft (SMP + 3  %,
OMT + 12 %). Die höchsten Wertzuwächse von 18–21 % verzeichneten dabei
Aktien von Finanzinstitutionen aus den Euro-Krisenstaaten infolge der OMT-
Ankündigungen im Sommer 2012. Der Gesamteffekt auf die Zinsen von Unter-
nehmensanleihen der hier untersuchten Länder blieb vergleichsweise gering. Nur
die Nachrichten zum OMT-Programm verbesserten die Finanzierungskonditionen
von italienischen (-40 BP) und spanischen Unternehmen (−91 BP). Die Autoren
beschreiben somit einen geschätzten Wertzuwachs der Euro-Finanzmärkteum
955 Mrd. € und um 275 Mrd. € ansteigende Marktwerte der Staatsschulden von
sich in der Krisen befindlichen Euroländer als Resultat von SMP und OMT der
Europäischen Zentralbank.
Kann Geldpolitik die Marktängste zerstreuen? 135

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Schuldenerlass oder
Schuldenerleichterung?

Eric Offner

Relevanz
Es gibt tausend gute Gründe, wichtige Staatsausgaben mit neuen Schulden
zu finanzieren, wenn die Steuern nicht reichen. Reserven aufzubauen
und sich auf nachhaltige Finanzpolitik zu verpflichten fällt der Politik
dagegen schwer. Ist der Staatshaushalt außer Kontrolle geraten, müssen die
Gläubiger entscheiden. Sie können mit einem deutlichen Schuldenschnitt
ein Ende mit Schrecken setzen und die Überschuldung kräftig korrigieren,
damit wenigsten die restliche Staatsschuld sicher zurückkommt. Wer vor-
her die Kreditwürdigkeit nicht sorgfältig prüft, muss es eben später nach-
holen und die Schulden auf ein Niveau reduzieren, das tragbar bleibt. Oder
sie einigen sich auf Schuldenerleichterungen und eine Streckung der Rück-
zahlung, und riskieren damit eine verschleppte Insolvenz anstatt nach-
haltiger Gesundung. Ein Schuldenschnitt bietet eher Gewähr, zu neuem
Wachstum zurückzufinden und die Tragbarkeit der Staatsschulden wieder-
herzustellen.

Quelle
Reinhart, C. M., und C. Trebesch (2016), Sovereign Debt Relief and its
Aftermath, Journal of the European Economic Association 14(1), 215–51.

E. Offner (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 137


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_22
138 E. Offner

Soll hochverschuldeten Staaten ein ein Schuldenerlass gewährt werden?


Die Frage ist nicht neu und nach wie vor höchst aktuell. Der Internationale
Währungsfonds forderte nachdrücklich einen Schuldenerlass für Griechenland.
Der frühere US-Finanzminister Larry Summers schlug einen Schuldenerlass für
die kriegszerrüttete Ukraine vor. Dennoch ist über die wirtschaftlichen Folgen
eines Schuldenerlasses überraschend wenig bekannt.
Die ökonomische Theorie liefert widersprüchliche Argumente. Einerseits
können sowohl Gläubiger als auch Schuldner von einem Teilerlass profitieren, da
ein überhöhter Schuldenstand und die Aussicht auf hohe zukünftige Schulden-
tilgungen inländische Investitionen hemmt. Deshalb sollte nach einem Schulden-
erlass das Wachstum zunehmen, was die Rückzahlung der verbleibenden
Schulden wahrscheinlicher macht. Andererseits beschädigt ein Zahlungsausfall
Reputation und Vertrauen und kann Sanktionen auslösen. Auch mag der Anreiz
für mutige Wirtschaftsreformen erlahmen.
Carmen M. Reinhart von der Universität Harvard und Christoph Trebesch von
der Universität München gehen der Frage nach, wie sich ein Schuldenerlass auf
die wirtschaftliche Entwicklung des betroffenen Landes auswirkt. Sie betrachten
zwei unterschiedliche Episoden während des 20. Jahrhunderts.
Zuerst konzentrieren sich die Autoren auf die Zwischenkriegszeit. Sie untersuchen
die Verschuldung von 18 entwickelten, überwiegend europäischen Staaten gegenüber
den USA und dem Vereinigten Königreich. Die Situation erinnert an die Länder in der
Peripherie der Eurozone, wo mittlerweile ebenfalls ein Grossteil der Schulden in den
Händen staatlicher Gläubiger liegt. Die Verschuldung der untersuchten Länder bestand
nur zum Teil aus Kriegsschulden. Viele Kredite wurden erst nach 1918 aufgenommen
etwa für den Wiederaufbau. Die Forscher untersuchen nun zwei Ereignisse, welche
alle Schuldner gleichzeitig betrafen: Im Jahr 1931 erliessen die USA mit dem
Hoover-Moratorium Zins- und Tilgungszahlungen aller interalliierten Kriegsschulden
sowie der deutschen Reparationszahlungen vorübergehend für ein Jahr. Im Sommer
1934 stellten dann 18 der 19 Kreditnehmer die Rückzahlung ihrer Kriegsschulden an
die USA und das Vereinigte Königreich trotz Protesten dauerhaft ein.
Zudem analysieren die Forscher die Schuldenerlässe und Umstrukturierungen
von 30 Schwellenländern gegenüber privaten Gläubigern (z. B. ausländische
Banken) zwischen 1978 und 2010. In den 80er und 90er Jahren koordinierten die
Finanzminister der USA, James Baker und Nicolas Brady, zwei Entschuldungs-
initiativen, die von den USA und dem IWF unterstützt wurden. Der Baker-Plan
1986 zielte darauf ab, freiwillige Kapitalzuflüsse und Strukturreformen in den
Krisenländern zu fördern. Neben zinsvergünstigten Darlehen gehörten dazu eine
Reihe von Umschuldungsvereinbarungen, welche die Laufzeit der Schulden
um bis zu 15 Jahre verlängerten. Dagegen sah die Brady Initiative 1990 einen
Schuldenerlass und damit eine unmittelbare Reduktion der Verschuldung vor.
Schuldenerlass oder Schuldenerleichterung? 139

Insgesamt wurden 46 Episoden von Schuldenerlässen zusammengefasst,


welche die Verschuldung teils erheblich verringerten: Im Durchschnitt betrugen
sie zwischen 16 bis 21 % des BIP bzw. zwischen 36 und 43 % der Auslands-
verschuldung.

Der durchschnittliche Schuldenerlass betrug in der Zwischenkriegszeit 20.6 Prozent


des BIP und bei Schwellenländern (1978–2010) 15.7 Prozent des BIP.

Die Forscher schätzen, wie sich die vier Schuldenerlässe (1931, 1934, 1986,
1990) auf die wirtschaftliche Entwicklung der betroffenen Staaten auswirkten.
Dazu betrachten sie das reale Pro-Kopf Einkommen, ein Mass für die Kredit-
würdigkeit (Länderkredit-Rating), sowie Schuldenstand und Schuldendienst. Sie
vergleichen den Verlauf jener Grössen zwischen Staaten, die von Entschuldungs-
massnahmen profitierten, mit jenen, die davon nicht betroffen waren, während
jeweils fünf Jahren vor und nach dem Schuldenerlass.
Die Schätzungen für die Zwischenkriegszeit zeigen erhebliche Unter-
schiede. Das Hoover Moratorium 1931 sah lediglich eine Schuldenerleichterung
vor und wirkte sich kaum signifikant auf die wirtschaftliche Entwicklung der
betroffenen Staaten aus. Nach dem Schuldenerlass in Folge der Zahlungsausfälle
von 18 Staaten im Sommer 1934 stieg hingegen das reale Wirtschaftswachstum
um 4.7 Prozentpunkte pro Jahr. Nach fünf Jahren war das BIP dadurch um rund
20 % höher. Schuldendienst und Verschuldungsquote gingen tendenziell zurück,
während sich die Kreditwürdigkeit gegenüber der Vergleichsgruppe verbesserte.
Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass nur eine Schuldentilgung wie
1934 Wachstum und Nachhaltigkeit der verbleibenden Staatsschulden verbessern
konnte. Ein vorübergehendes Moratorium, wodurch die Schuldenlast langfristig
bestehen blieb, veränderte hingegen die wirtschaftliche Situation kaum.

Nach dem Zahlungsausfall 1934 mit anschliessendem Schuldenerlass nahm das reale
Pro-Kopf-Wachstum in den betroffenen 18 Staaten um 4.7 Prozentpunkte pro Jahr zu.

Bei den Schwellenländern erkennen die Forscher ähnliche Trends, wie Abb. 1
illustriert. Sie zeigt die durchschnittliche Entwicklung des realen BIP von
Staaten, die Hilfe erhalten haben, und von einer Vergleichsgruppe vor und nach
den jeweiligen Initiativen. Das linke Diagramm deutet darauf hin, dass die
Schuldenerleichterungen des Baker Plans 1986 das Wachstum in den teils hoch
verschuldeten Krisenländern nicht erhöhen konnten. Die Staatsschuldenquote
nahm sogar weiter zu, obwohl sich die Bonität verbesserte und der Schulden-
dienst zurückging. Zwar führte der Baker Plan zu einer Entlastung des Budgets,
140 E. Offner

Abb. 1   Entwicklung des realen Pro-Kopfeinkommens jeweils 5 Jahre vor nach einer
Schuldenerleichterung. (Quelle: Reinhart und Trebesch 2016, Abb. 9)

brachte aber kaum darüber hinausführende Verbesserungen mit sich. Dagegen


macht das rechte Diagramm die Wirksamkeit der Brady Initiative 1990 deut-
lich, welche mit einem Schuldenerlass in den folgenden fünf Jahren mit einer
um drei Prozentpunkte höheren Wachstumsrate einherging. Die Kreditwürdig-
keit gemessen am Länderkredit-Rating verbesserte sich um 21 % nach zwei bzw.
40 % nach fünf Jahren.

Die Brady-Initiative 1990 sah Schuldenerlässe vor und steigerte in den betroffenen
Staaten die reale Wachstumsrate um 3 Prozentpunkte pro Jahr. Die Kreditwürdigkeit
verbesserte sich nach fünf Jahren um 40 Prozent.

Eine reine Umschuldung und Streckung der Zinslasten tragen wenig zur
wirtschaftlichen Erholung überschuldeter Länder bei. Das Wachstum nimmt
meist erst nach einem grossen Schuldenerlass wieder zu, wie z. B. in Folge der
Brady-Initiative. Jedoch legen diese Ergebnisse keinesfalls den Schluss nahe, dass
die Folgen anderer Formen von Schulderleichterungen quantitativ unwirksam
gewesen wären. Fiskalische Einschnitte, Strukturreformen, finanzielle Repression
und Inflation fanden in den betrachteten Fällen häufig gleichzeitig statt und haben
oft wesentlich zur Beseitigung eines hohen Schuldenüberhangs beigetragen.
Schuldenerlass oder Schuldenerleichterung? 141

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Wirtschaftlicher Wandel und
gesellschaftliche Teilhabe: Ungleichheit
und soziale Mobilität
Die Superstars der Firmen und die
Lohnquote

Adrian Jäggi

Relevanz
Die Superstars unter den Firmen dominieren die Wirtschaft. Sie sind
überaus innovativ, besetzen als Erste den Markt und erzielen überdurch-
schnittlich hohe Gewinnspannen. Mit viel Knowhow und einer hoch quali-
fizierten, aber sehr kleinen Belegschaft dominieren sie die Branchen und
erzielen den Löwenanteil der Wertschöpfung. Die gesamtwirtschaftliche
Lohnquote fällt, wenn sich die Wertschöpfung von den übrigen Unter-
nehmen mit höherer Lohnquote zu den Superstars mit geringem Lohnanteil
verschiebt. Gerade in den innovativsten Branchen sind die Konzentrations-
tendenzen und der Rückgang der Lohnquote am stärksten. Die Wett-
bewerbspolitik ist neu gefordert, um den richtigen Ertrag der Innovation
zu sichern, aber übermässige Gewinne durch Ausnutzung von Marktmacht
zulasten der Konsumenten zu verhindern und den Zutritt neuer Anbieter zu
erleichtern.

Quelle
David Autor, David Dorn, Lawrence F. Katz, Christina Patterson und John Van
Reenen (2017), The Fall of the Labor Share and the Rise of Superstar Firms,
NBER Working Paper No. 23396.

A. Jäggi (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 145


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_23
146 A. Jäggi

Der Anteil des Faktors Arbeit am Bruttoinlandprodukt, die Lohnquote, war lange
Zeit erstaunlich konstant. In den Industriestaaten erhielten die Arbeitnehmer
typischerweise zwischen 60 und 70 % des erwirtschafteten Gesamteinkommens.
Diese empirische Beobachtung galt denn auch lange als harte Konstante der
Makroökonomie. Jedoch scheint diese Regelmässigkeit seit den 1980er Jahren
nicht mehr zu halten. Vor allem in den USA ist ein Rückgang der Lohnquote gut
dokumentiert. Dessen mögliche Ursachen prägen die laufenden Debatten. David
Autor vom MIT und seine Koautoren (David Dorn, Lawrence F. Katz, Christina
Patterson und John Van Reenen) sind in ihrer Studie den Gründen auf der Spur.
Sie sehen die Ursache im Aufstieg von hoch produktiven „Superstar“-Firmen.
Durch Globalisierung und neue Technologien können Konsumenten aus einer
grösseren Zahl verschiedener Produkte auswählen und diese einfacher vergleichen.
Deshalb reagieren sie stärker auf Preis- und Qualitätsunterschiede. Der Wett-
bewerb wird schärfer. Nur mehr die Besten setzen sich durch. Hoch produktive
Unternehmen, die „Superstar“-Firmen, profitieren davon und können zusätz-
liche Marktanteile gewinnen. Dies führt zu stärker konzentrierten Märkten und
verschiebt Produktion und Wertschöpfung hin zu den „Superstar“-Firmen. Die
Sieger räumen den Löwenanteil ab. Ihre Lohnquote ist aber meist niedrig. Mit
innovativen Technologien und grossem Qualitätsvorsprung können sie weit über-
durchschnittliche Gewinnmargen durchsetzen. Zudem ist ein Teil der Arbeitskosten
typischerweise fix und nimmt im Verhältnis zu den Erlösen mit zunehmender
Unternehmensgrösse ab. Grosse und produktive Unternehmen sind deshalb über-
aus profitabel und haben vergleichsweise geringe Arbeitskosten und eine wesent-
lich niedrigere Lohnquote. Wenn diese dank Globalisierung und technologischem
Wandel ihre Marktanteile stark ausweiten und zunehmend die gesamte Wert-
schöpfung dominieren, geht die Lohnquote in den betroffenen Branchen zurück.
Aus diesen Überlegungen lassen sich empirisch überprüfbare Hypothesen
ableiten: Wenn der Wettbewerb auf den Produktmärkten schärfer wird, dann
steigt erstens die Marktkonzentration. Zweitens fällt die Lohnquote in jenen
Branchen am meisten, in welchen die Marktkonzentration am stärksten gestiegen
ist. Drittens geschieht der Rückgang der Lohnquote aufgrund der Verschiebung
von Absatz und Produktion von den übrigen Unternehmen mit höherer Lohn-
quote zu den Superstar-Firmen mit geringerer Lohnquote, und weniger durch
eine gleichmässige Abnahme der Lohnquote in allen Firmen. Und viertens ist die
Umlenkung der Wertschöpfung in jenen Branchen am grössten, in welchen die
Marktkonzentration am stärksten zunimmt.

Hoch produktive „Superstar“-Firmen dominieren zunehmend die Märkte und die


gesamte Wertschöpfung. Da sie typischerweise eine deutlich niedrigere Lohnquote
als andere Unternehmen haben, sinkt die gesamtwirtschaftliche Lohnquote.
Die Superstars der Firmen und die Lohnquote 147

Im Gegensatz zu früheren Studien nutzen die Wissenschaftler einen Datensatz mit


detaillierten Informationen zu einer Vielzahl von Firmen. So können sie schätzen,
inwieweit der branchenweite Rückgang der Lohnquote auf die Verschiebung
von Produktion und Erlösen zu Unternehmen mit geringer Lohnquote zurückzu-
führen ist, im Gegensatz zu Veränderungen der Lohnquote innerhalb jedes Unter-
nehmens. Dazu verwenden die Forscher hauptsächlich Daten aus den USA im
Zeitraum 1982 bis 2012 mit Informationen zu den sechs Sektoren Einzel- und
Grosshandel, Industrie, Dienstleistungen, Finanzdienstleistungen, sowie Energie
und Verkehr. Diese bilden gemeinsam ungefähr 80 % der privaten Angestellten
ab und umfassen 676 Branchen. Der Datensatz wird um Informationen aus
verschiedenen OECD-Staaten ergänzt, um die Relevanz der in den USA
beobachteten Entwicklungen für weitere Länder zu überprüfen.
Seit den 1970er Jahren ist die Lohnquote auf gesamtwirtschaftlicher Ebene in fast
allen beobachteten OECD-Staaten um rund 5 bis 10 Prozentpunkte zurückgegangen.
Für die USA ermöglichen die Daten zudem Rückschlüsse auf die Entwicklung in
den einzelnen Sektoren. Nur in der Finanzbranche stieg die Lohnquote, gemessen
am Anteil der Löhne an den Umsätzen. Alle anderen Sektoren verzeichnen spätestens
seit den 2000er Jahren einen Abwärtstrend. In der verarbeitenden Industrie ist der
Trend besonders ausgeprägt, wie Abb. 1 anhand verschiedener Masse illustriert.

Abb. 1   Lohnquote in der verarbeitenden Industrie gemessen an Wertschöpfung (linke


Achse) und Umsatz (rechte Achse). (Quelle: Autor u. a. 2017)
148 A. Jäggi

Zudem stellen die Autoren fest, dass sich die Marktanteile in vielen Branchen
zunehmend auf vergleichsweise wenige, grosse Unternehmen konzentrieren. In
der verarbeitenden Industrie ist die Marktkonzentration gemessen am Umsatz
seit 1980 eindeutig gestiegen. Die vier grössten Firmen konnten ihren Anteil
von 38 % auf fast 44 % steigern. Auch die zwanzig grössten Firmen haben ihren
Anteil um zirka 5 Prozentpunkte auf 73 % ausgedehnt. Entscheidend ist, dass
für die Konzentration anhand der Anzahl Mitarbeiter jedoch kein klarer Trend
ersichtlich ist. Dies bedeutet, dass einige Unternehmen grosse Marktanteile
gewinnen können, ohne dabei viele zusätzliche Arbeitskräfte anzustellen. Die
übrigen fünf Sektoren zeigen einen ähnlichen oder teils sogar stärkeren Trend.
Um diese beiden Entwicklungen miteinander zu verbinden, schätzen die
Forscher, wie sich eine Veränderung in der Marktkonzentration auf die Lohn-
quote in einer Branche auswirkt. Die Resultate sind eindeutig: Die Lohnquote fiel
in jenen Branchen am stärksten, in welchen die Marktkonzentration (gemessen
an Wertschöpfung oder Umsatz) am stärksten zugenommen hat. Sobald die
Berechnung der Marktkonzentration auf die Anzahl der Angestellten anstatt
den Umsatz abstellt, verschwindet der Effekt oder zeigt sogar in die entgegen-
gesetzte Richtung. Diese Resultate für die verarbeitende Industrie gelten auch
für die anderen fünf Sektoren. Dies zeigt, dass einige wenige Unternehmen mit
einer eher kleinen Belegschaft hohe Umsätze und Marktanteile erzielen und die
Branchen dominieren. Der Marktwert solcher „Superstar“-Firmen besteht meist
aus geistigem Eigentum sowie wenigen hochqualifizierten Mitarbeitern. Google
oder Facebook mögen als Beispiel dienen.
Um den Effekt zu quantifizieren, vergleichen die Forscher die tatsächliche
Entwicklung der Lohnquote mit einem hypothetischen Verlauf, welchen sie unter
der Annahme, dass die Marktkonzentration unverändert geblieben ist, schätzen.
Aus diesen Berechnungen folgt, dass die steigende Marktkonzentration rund
einen Drittel der Reduktion der Lohnquote in der Industrie seit 1997 erklärt. In
den anderen Sektoren ist dieser Effekt sogar noch grösser.

Die steigende Marktkonzentration ist für rund ein Drittel des Rückgangs der Lohn-
quote in der Industrie seit 1997 verantwortlich.

Damit ist der Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Lohnquote und der
zunehmenden Konzentration und Marktmacht hergestellt. Der genaue Mechanis-
mus dahinter ist jedoch noch nicht klar. Die Autoren vermuten, dass haupt-
sächlich die Verschiebung von Wertschöpfung und Produktion hin zu den
Die Superstars der Firmen und die Lohnquote 149

„Superstar“-Firmen mit niedriger Lohnquote den Rückgang der durchschnitt-


lichen Quote verursacht. Um diese Hypothese zu testen, zerlegen sie die Ver-
änderung der Lohnquote in einer Branche in vier Bestandteile: Veränderung
der Lohnquote innerhalb einer Firma (i), Veränderung durch Verschiebung zu
anderen Firmen (ii), Veränderung durch verschwindende Unternehmen (iii), bzw.
durch neu eintretende Firmen (iv). Die Forscher betrachten für die verarbeitende
Industrie die Zeiträume 1982–1997 und 1997–2012, in welchen die Lohnquote
um 10.35 respektive 6.15 Prozentpunkte zurückgegangen ist. In beiden Perioden
sind hauptsächlich die Verschiebungen zwischen den Firmen für den Trend ver-
antwortlich. Nach den Schätzungen sind 75 bis 80 % des beobachteten Rück-
gangs darauf zurückzuführen. Zwar verändert sich die Lohnquote auch innerhalb
eines Unternehmens, das Ausmass ist jedoch deutlich kleiner im Vergleich zum
Beitrag der Verschiebung zwischen den Firmen. Die beiden Komponenten für
ausscheidende respektive neu eintretende Firmen tragen deutlich weniger zur
Erklärung bei. Wird die Lohnquote anhand eines weiter gefassten Masses für die
Vergütung der Arbeitnehmer gemessen, erklären die Umschichtungen zwischen
den Unternehmen sogar 96 % des Rückgangs.

In Branchen mit zunehmender Marktkonzentration findet eine Umschichtung öko-


nomischer Aktivität hin zu Superstar-Firmen mit niedrigen Lohnquoten statt, welche
zwischen 75 und 80 Prozent des Rückgangs der Lohnquote erklärt.

Abschliessend fragen die Autoren nach den Ursachen für die höhere Markt-
konzentration. Sie verweisen auf die Rolle des technologischen Wandels und
darauf, dass „Superstar“-Firmen typisch für High-Tech Industrien sind. Die
innovativsten und schnellsten Unternehmen, die als Erste eine neue Innovation
auf den Markt bringen, können überdurchschnittlich hohe Marktanteile besetzen
und dominieren die Wertschöpfung der gesamten Branche. Tatsächlich stieg
die Marktkonzentration in den F&E-intensivsten und innovativsten Branchen
besonders deutlich an.
Zwar konzentriert sich die Studie auf die USA, wo die Datenlage am besten
ist. Die Forscher präsentieren allerdings auch deskriptive Evidenz für weitere
OECD-Staaten. Die dort beobachteten Entwicklungen sind ebenfalls konsistent
mit ihrer Hypothese, dass der Aufstieg von „Superstar-Firmen“ eine ent-
scheidende Rolle für die fallende Lohnquote spielte.
150 A. Jäggi

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Innovation, Ungleichheit und sozialer
Aufstieg

Verena Maria Konzett

Relevanz
Innovation treibt das Wachstum, aber wenige erfolgreiche Unternehmer,
Ingenieure und Forscher profitieren überdurchschnittlich stark. Gerade
die erfolgreichsten Innovationen schaffen ungeahnte Vermögen und
tragen zur Konzentration der Spitzeneinkommen bei. Gleichzeitig ist
innovatives Unternehmertum eine grosse Chance für sozialen Aufstieg
und verhindert eine Zementierung der Ungleichheit. Der Wettbewerb
durch neue innovative Unternehmen fordert die etablierten Konzerne
heraus und verhindert unverdiente Renteneinkommen. Innovative Unter-
nehmensgründungen und die Beseitigung von Marktzutritts- und Wett-
bewerbsbarrieren fördern inklusives Wachstum, indem sie unproduktiven
Vermögenskonzentrationen entgegenwirken.

Quelle
Aghion, Philippe, Ufuk Akcigit, Antonin Bergeaud, Richard Blundell und David
Hemous (2019), Innovation and Top Income Inequality, Review of Economic
Studies 86, 1–45.

Die Einkommensungleichheit hat während der letzten Jahrzehnte in den Industrie-


ländern stark zugenommen. Doch bis heute konnte noch kein Konsens darüber
erzielt werden, welche Faktoren hauptverantwortlich für diesen Anstieg sind. Ein
Grund könnte in der immer wichtiger werdenden Rolle von Innovation in ent-

V. M. Konzett (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 151


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_24
152 V. M. Konzett

wickelten Volkswirtschaften liegen. Denn die Erträge von Innovationen sind stark
konzentriert. Sie fallen zu einem grossen Teil wenigen Wissenschaftlern, Unter-
nehmern oder Ingenieuren zu und steigern dadurch die Spitzeneinkommen über-
proportional. Das kann letztlich zu einer grösseren Einkommensungleichheit führen.
Ein Forscherteam um Philippe Aghion und Richard Blundell untersucht den
Zusammenhang zwischen Innovation, Konzentration der Spitzeneinkommen und
sozialer Mobilität in den USA. Die beschreibende Evidenz in Abb. 1 deutet auf
einen positiven Zusammenhang zwischen der Innovationstätigkeit, gemessen
an der Anzahl zitierter Patente, und dem Anteil der Spitzeneinkommen in den
amerikanischen Bundesstaaten zwischen 1980 und 2005 hin. Zudem nahm die
Ungleichheit besonders in jenen Berufen zu, die eng mit der Innovationstätigkeit
zusammenhängen, wie Ingenieure, Unternehmer, Wissenschaftler und Manager.
Die Wissenschaftler entwickeln zuerst ein theoretisches Modell in der
Tradition Joseph Schumpeters und seiner Idee der kreativen Zerstörung, um
damit die wichtigsten Zusammenhänge zwischen Innovation, Ungleichheit und
sozialer Mobilität zu erklären. Der Ansatz betont qualitätssteigernde Innovationen
sowohl durch neu eintretende als auch durch bereits etablierte Unternehmen als
zentralen Treiber wirtschaftlichen Wachstums. Daraus leiten sie drei Hypothesen
ab, die sie empirisch überprüfen: Erstens erhöhen Innovationen die Spitzenein-

Abb. 1   Prozentuale Zunahme des Anteils der Top 1 % Einkommen in US-Bundesstaaten.
(Quelle: Aghion u. a. 2019)
Innovation, Ungleichheit und sozialer Aufstieg 153

kommen überdurchschnittlich stark, wodurch die Einkommensungleichheit


zunimmt. Zweitens verbessern Innovationen durch neu eintretende Unter-
nehmen die soziale Mobilität, d. h. mehr Innovationen fördern den sozialen Auf-
stieg erfolgreicher Persönlichkeiten und greifen die Besitzstände der Etablierten
an. Und drittens, eine Behinderung des Wettbewerbs durch Marktzutritts-
barrieren hemmt die soziale Mobilität und verringert damit auch den Einfluss von
Innovationen durch neue Unternehmen auf die Ungleichheit.
Die Wissenschaftler überprüfen und quantifizieren diese Hypothesen mit-
hilfe von Daten zur Einkommensverteilung und Innovationstätigkeit in den U.S.
Bundesstaaten zwischen 1976 und 2009. Neben anderen Massen für Ungleich-
heit betrachten sie vorwiegend den Anteil der Top 1 % Verdiener am Gesamt-
einkommen des jeweiligen Bundesstaats. Die Anzahl von Patenten pro Kopf
und Jahr misst den Umfang der Innovationstätigkeit. Dies ist lediglich ein
grobes Mass, da es grosse Qualitätsunterschiede zwischen Patenten gibt. Daher
berechnen sie Messgrössen für qualitätsangepasste Innovationen, indem sie bei-
spielsweise jene Patente, die oft von anderen zitiert werden, stärker gewichten.
Zudem berücksichtigen die Forscher weitere Faktoren, welche Innovationen und
Spitzeneinkommen ebenfalls beeinflussen können, wie etwa die Beschäftigung
im Finanzsektor, die Grösse des Staatssektors, die durchschnittlichen Einkommen
oder die Steuerbelastung.

Innovation und Einkommensanteil der Top 1 % Verdiener sind signifikant positiv
korreliert. Der Zusammenhang zwischen Innovation und Einkommensverteilung
über die gesamte Bevölkerung ist hingegen schwächer ausgeprägt.

Die empirischen Schätzungen deuten auf einen positiven Zusammenhang hin.


Mehr Innovationen steigern den Einkommensanteil der Top 1 % der Spitzenver-
diener unabhängig davon, wie genau Innovationen gemessen werden. Der Ein-
fluss der qualitätsangepassten Patentzahl ist tendenziell grösser. Öfter zitierte
Patente stellen eher jene echten Innovationen dar, welche besonders hohe
Erträge abwerfen. Der Zusammenhang zwischen der Innovationsintensität und
den umfassenderen Ungleichheitskennzahlen, wie z. B. dem oft verwendeten
Gini-Koeffizienten, ist hingegen kaum signifikant oder sogar leicht negativ. Eine
höhere Innovationsintensität verschärft die Ungleichheit vor allem dadurch, dass
der Anteil der Top 1 % der Spitzeneinkommen überproportional stark steigt.
Zudem weisen die Forscher darauf hin, dass Innovationen sowohl durch neu
eintretende als auch durch bereits etablierte Unternehmen positiv mit der Ein-
kommensungleichheit zusammenhängen. Wenn jedoch die etablierten Unter-
nehmen etwa durch Lobbying versuchen, den Zutritt neuer Konkurrenten
154 V. M. Konzett

zu erschweren, dann hat die Innovation durch neu eintretende Firmen eine
schwächere Auswirkung auf die Einkommensungleichheit.

Im Durchschnitt aller Staaten und im Zeitraum zwischen 1980 und 2005 erklärt die
Zunahme der Innovationen etwa 23 Prozent des Gesamtanstiegs im Einkommens-
anteil der Top 1 % Verdiener.

Die Forscher schätzen, dass ein Anstieg in der Anzahl der Patente pro Kopf um
1 % den Einkommensanteil der Top 1 % Verdiener um 0.22 % erhöht. Berück-
sichtigt man die Qualitätsunterschiede bei Patenten, ergibt sich ein ähnlicher
Effekt. Zum Beispiel hat sich in Kalifornien zwischen 1980 und 2005 der
Anteil der Spitzeneinkommen mehr als verdoppelt. Die empirischen Ergebnisse
bedeuten, dass die Zunahme der Einkommenskonzentration zu etwa 29 % auf
das Konto zunehmender Innovation geht. Im Durchschnitt aller Bundesstaaten
erklären steigende Innovationen etwa 23 % des Anstiegs der Einkommens-
ungleichheit. Dennoch unterschätzt die Analyse tendenziell die wahren Aus-
wirkungen von Innovationen auf die Ungleichheit unter den Spitzeneinkommen.
So können beispielsweise Erfinder in einen anderen Bundesstaat übersiedeln,
wodurch die Innovationen dem einen, die Erträge daraus aber einem anderen
Bundesstaat zugeordnet werden.

Innovation verbessert die Aufstiegschancen. Steigt die Anzahl der Patente um das
2.5-Fache, nimmt die Wahrscheinlichkeit, zu den 20 % der höchsten Einkommen
aufzusteigen, um über 10 % zu.

Wie wirken sich Innovationen auf die soziale Mobilität und damit auf die Auf-
stiegschancen in der Gesellschaft aus? Dazu betrachten die Forscher die Wahr-
scheinlichkeit, im Alter von 30 Jahren ein Einkommen zu erzielen, das zu den
höchsten 20 % zählt, wenn das Einkommen der Eltern zu den untersten 20 %
zählte. Diese Aufstiegswahrscheinlichkeit beträgt durchschnittlich 9.6  %.
Innovation kann die Aufstiegschancen signifikant verbessern. So steigt die Auf-
stiegswahrscheinlichkeit um 1.2 Prozentpunkte, wenn die Anzahl der Patente pro
Kopf um das 2.5-Fache zunimmt, das heisst, sich mehr als verdoppelt. Allerdings
haben nur Innovationen neu eintretender Unternehmen einen solchen Effekt,
während Innovationen bestehender Firmen die soziale Mobilität nicht signi-
fikant erhöhen. Im Gegenteil, wenn bestehende Firmen, z. B. mit Lobbying,
Marktzutrittsbarrieren errichten und den Wettbewerb durch neue Konkurrenten
behindern, dann verringern sie die Aufstiegschancen mittels innovativer Unter-
nehmensgründungen.
Innovation, Ungleichheit und sozialer Aufstieg 155

Die Erträge erfolgreicher Innovationen fallen überwiegend wenigen Haus-


halten und Personen zu. Dadurch steigt der Anteil der Spitzenverdiener am
Gesamteinkommen und die Ungleichheit nimmt zu. Gleichzeitig verbessern
innovative Unternehmensgründungen, welche die etablierten Unternehmen
herausfordern und bestehende Besitzstände im Sinne „kreativer Zerstörung“ nach
Schumpeter angreifen, die Aufstiegschancen in der Gesellschaft.

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ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
willigung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Mindern bessere Aufstiegschancen den
Wunsch nach mehr Umverteilung?

Elisabeth Essbaumer

Relevanz
Zu starke Ungleichheit gefährdet den Zusammenhalt in der Gesell-
schaft. Die Politik soll möglichst allen eine angemessene Teilhabe am
gemeinsamen Wohlstand sichern. Aber Ungleichheit unterliegt einem
steten Wandel. Wer in jungen Jahren aus knappen Verhältnissen startet,
mag nach erfolgreicher Karriere zu den Spitzenverdienern gehören. Und
wer daran glaubt, bald selbst zu den Reichen zu gehören, hat womöglich
weniger Verlangen danach, den eigenen Aufstieg mit progressiven Steuern
und mehr Umverteilung zu erschweren. Wie weit klaffen Wahrnehmung
und Wirklichkeit der Aufstiegschancen auseinander, und wie bestimmen
die wahrgenommenen Aufstiegschancen die politische Unterstützung für
mehr oder weniger Umverteilung?

Quelle
Alesina, Alberto, Stantcheva, Stefanie and Edoardo Teso (2018), Intergenerational
Mobility and Preferences for Redistribution, American Economic Review 108(2),
521–554.

Traditionell zeigen sich Amerikaner eher skeptisch, was staatliche Umverteilung


betrifft. Der Nobelpreisträger John Steinbeck begründete dies einst mit dem
ungebrochenen Glauben der armen Amerikaner, vielleicht bald selbst Millionär
zu sein. Die Ökonomen Alberto Alesina, Stefanie Stantcheva und Edoardo Teso

E. Essbaumer (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 157


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_25
158 E. Essbaumer

von der Universität Harvard gehen dieser Frage nach: Sind die Menschen bereit,
mehr Ungleichheit hinzunehmen, wenn sie an ihren eigenen sozialen Aufstieg
glauben? Und wie sehr unterscheiden sich die Amerikaner und ihre Kultur des
American Dream von den Europäern?
Die Forscher stützen sich auf eine Befragung von über 12‘000 Teilnehmern
aus den USA, Frankreich, Italien, Schweden und Großbritannien. Die Teilnehmer
wurden befragt, wie sie soziale Mobilität wahrnehmen und ihre Aufstiegschancen
in der Gesellschaft einschätzen. Besonderes Augenmerk richten die Forscher
auf die Aufstiegsmöglichkeiten von Kindern aus Familien mit niedrigem Ein-
kommen. Wie viele Kinder der ärmsten 20 % einer Gesellschaft schaffen es in
ihrem Erwachsenenleben, zu den reichsten 20 % ihrer Generation vorzustoßen?
Und wie viele können ihre Situation nicht verbessern und gehören auch später
zu den ärmsten Familien? Die Wissenschaftler vergleichen die individuell wahr-
genommenen Aufstiegschancen mit dem tatsächlich gemessenen Erfolg.
Die Amerikaner sind optimistisch. Abb. 1 zeigt, dass die Teilnehmer aus den
USA ihre Aufstiegschancen im Durchschnitt überschätzen, während jene aus
europäischen Staaten diese meist unterschätzen. Die linke Seite vergleicht die
wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, dass Kinder am unteren Ende der Ein-
kommensverteilung bleiben, mit der tatsächlichen Erfolgsrate. In Frankreich
glaubt man beispielsweise, dass 35 von 100 Kindern der ärmsten Familien auch
später selbst zu den ärmsten Familien zählen werden. Tatsächlich ist dies aber nur
bei 29 Kindern der Fall. Die Franzosen überschätzen also das Risiko, dass Kinder
aus der untersten Einkommensgruppe auch im Erwachsenalter dort verbleiben.
Sie schätzen ihre Aufstiegschancen pessimistisch ein.

Abb. 1   Soziale Mobilität – Wahrnehmung und Realität. (Eigene Darstellung nach Alesina
u. a. 2018)
Mindern bessere Aufstiegschancen … 159

Nur die Teilnehmer aus den USA zeigen sich optimistisch und schätzen ihre
Aufstiegschancen deutlich höher ein, als sie in Wirklichkeit sind. Die rechte Seite
von Abb. 1 vergleicht Wahrnehmung und Realität des American Dreams. Die
Befragten geben an, dass es in den USA etwa zwölf von 100 Kindern gelingt, im
Laufe ihres Lebens von den ärmsten zu den reichsten 20 % aufzusteigen. Tatsäch-
lich schaffen es nur acht Kinder, das ist um ein Drittel weniger. Die europäischen
Teilnehmer unterschätzen hingegen die Möglichkeiten.

Die U.S. Amerikaner überschätzen ihre Aufstiegschancen und glauben, dass es


zwölf von 100 Kindern aus den ärmsten Familien in die Top 20 % schaffen. Tatsäch-
lich sind es nur acht von 100. Die Europäer unterschätzen dagegen ihre Möglich-
keiten.

Die pessimistische Einschätzung sozialer Mobilität der Europäer im Vergleich


zu den Amerikanern könnte mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen
zusammenhängen. Europa war lange Zeit durch feudale Strukturen geprägt, in
denen gesellschaftliche Positionen schon bei Geburt unveränderlich bestimmt
waren. Die Vereinigten Staaten wurden hingegen von Einwanderern gegründet,
die ihre Heimat oft verließen, um sich wirtschaftlich zu verbessern. Dieses Bild
des American Dreams wird in den USA auch heute stark in Politik und Medien
kultiviert, während in den europäischen Staaten kein vergleichbares Leitmotiv
existiert.
In einem weiteren Schritt analysieren die Forscher, welche Gruppen die
Aufstiegschancen besonders optimistisch oder pessimistisch bewerten. Die
politische Einstellung der Befragten spielt dabei eine wichtige Rolle: Jemand,
der politisch links orientiert ist, schätzt die Aufstiegsmöglichkeiten nachweisbar
pessimistischer ein als jemand, der politisch rechts steht. Unabhängig von ihrer
politischen Überzeugung stimmen die Teilnehmer aber darin überein, dass harte
Arbeit und Anstrengung einen ökonomisch schwachen Familienhintergrund nicht
ganz ausgleichen können.
In den USA schätzen auch Frauen, Eltern, Teilnehmer mit niedrigem Ein-
kommen, Personen ohne höhere Schulbildung sowie Afroamerikaner ihre
Möglichkeiten tendenziell zu optimistisch ein. Selbst in den Bundesstaaten mit
vergleichsweise geringer sozialer Mobilität schätzen die Teilnehmer ihre Auf-
stiegschancen als besonders positiv ein.
Die Befragung ergibt auch ein Meinungsbild über die wahrgenommene Fairness
im jeweiligen Land. Beispielsweise stimmen insgesamt etwa 50 % der befragten
Amerikaner der Aussage zu, dass ihr Wirtschaftssystem fair sei. 53 % geben an,
dass jeder eine Chance auf Erfolg habe. Der Glauben an gute Aufstiegschancen
160 E. Essbaumer

geht mit einer günstigen Einschätzung der Fairness im Land einher. Die Schweden
sind bezüglich ihrer Aufstiegschancen pessimistischer, aber 65 % schätzen ihr
System als fair ein. Die Studie weist darauf hin, dass schwedische Teilnehmer diese
Fairness auch als Ergebnis ihres Wohlfahrtsstaates ansehen könnten, amerikanische
Teilnehmer eher als Ergebnis des Marktes. In Italien und Frankreich hingegen
bewerten nur 10 bzw. 19 % der Befragten das Wirtschaftssystem als fair. Generell
äußern sich politisch links orientierte Teilnehmer kritischer hinsichtlich der
empfundenen Fairness.

53 % der Amerikaner und 65 % der Schweden bewerten ihr Gesellschaftssystem als
fair. In Italien sind es nur 10 % der Befragten, in Frankreich 19 %.

Die Wahrnehmung sozialer Mobilität beeinflusst auch die Bewertung sozial-


und wirtschaftspolitischer Maßnahmen wie z. B. Ausgaben für Bildung und
Gesundheit, welche die Chancengleichheit erhöhen sollen, sowie staatliche
Umverteilung durch soziale Sicherungssysteme und Steuern. Letztere sollen die
Einkommensungleichheit der Haushalte verringern. Auf der Ausgabenseite fällt
die Zustimmung zu Politikmaßnahmen höher aus, wenn die Aufstiegschancen
als gering eingeschätzt werden. Der gewünschte Anteil der Ausgaben für Bildung
und Gesundheit am Staatshaushalt steigt im Vergleich zum tatsächlichen Aus-
gabenanteil um etwa 0,75 Prozentpunkte, wenn die Aufstiegschancen in der
untersten Einkommensgruppe sinken und um 25 Prozentpunkte mehr in ihrer
Situation verharren. Schlechte Aufstiegschancen gehen auch mit einer höheren
Wertschätzung der Ausgaben für soziale Sicherungssysteme einher. Wenn bei-
spielsweise in Frankreich von 100 Kindern nicht 8, sondern 33 (also um 25 mehr)
in der untersten Einkommensgruppe stecken bleiben, würde demnach der
gewünschte Anteil der Sozialausgaben im Staatshaushalt um 0,5 Prozentpunkte
steigen.

Geringere Aufstiegschancen steigern den Wunsch nach höheren Sozialausgaben.


Wenn in der untersten Einkommensgruppe um 25 Prozentpunkte mehr im Status
Quo verharren, steigt der bevorzugte Anteil der Sozialausgaben im Staatshaushalt
um 0,5 Prozentpunkte.

Konservative und politisch eher rechts orientierte Teilnehmer lehnen meist eine
stärkere Umverteilung über Steuern ab, unabhängig von den gegebenen Auf-
stiegsmöglichkeiten. Außerdem ist es für diese Gruppe besonders wichtig, ob
jemand durch eigene Anstrengung und harte Arbeit in eine höhere Einkommens-
klasse gelangen kann. Nur wenn unter großer eigener Anstrengung ein Aufstieg
Mindern bessere Aufstiegschancen … 161

nicht möglich wäre, würden konservative Befragungsteilnehmer auch höhere


Steuern unterstützen. Überraschenderweise sprechen sich Konservative in diesem
Fall nicht für eine höhere Besteuerung der Top 1 % der Einkommen aus, sondern
für eine höhere Besteuerung der unteren 50 % der Einkommen. Im Vergleich zum
aktuell geltenden durchschnittlichen Steuersatz befürworten nach den Ergeb-
nissen der Studie eine Anhebung um 1,9 Prozentpunkte.

Können Kinder trotz eigener Anstrengung nicht aufsteigen, unterstützen auch


Konservative eine Anhebung des Einkommensteuersatzes um etwa 1,9 Prozent-
punkte. Allerdings soll laut Befragung die Steuererhöhung nur die unteren 50% der
Einkommen treffen, nicht aber die Top 1 %.

Insgesamt wird soziale Mobilität über alle Ländergrenzen hinweg als ent-
scheidend für eine Gesellschaft angesehen. Werden die Aufstiegschancen als
gering wahrgenommen, verstärkt dies bei der politischen Linken die ohnehin
höhere Bereitschaft, staatliche Ausgaben für die Erhöhung der Chancengleich-
heit zu unterstützten. Bei konservativen und politisch eher rechts orientierten
Personen bleibt die Bereitschaft zu höheren Staatsausgaben gering, womöglich
weil sie den Staat tendenziell als Problem und nicht als Lösung betrachten.

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Wenn Frauen mehr als ihre Männer
verdienen

Roberta Maria Koch

Relevanz
Die Frauen haben aufgeholt. Die steigenden Löhne der Frauen und ihre
zunehmende Erwerbstätigkeit zeigen ihre wachsende Bedeutung in Wirt-
schaft und Gesellschaft. Der Trend setzt sich in den Familien fort. Die
Familien, in denen die Frauen sich im Beitrag zum Familieneinkommen
den Männern annähern, werden immer häufiger. Sobald jedoch die Frauen
mehr als ihre Männer verdienen, nimmt der Anteil dieser Haushalte in der
gesamten Bevölkerung schlagartig ab. Auch die Scheidungsraten nehmen
in dieser Konstellation zu. Hoch qualifizierte Frauen machen bisweilen
kostspielige Kompromisse, um Konflikten auszuweichen. Es scheint
schwierig, mit traditionellen Rollenbildern zu brechen. Diesen Prozess zu
beschleunigen, würde nicht nur der Qualität des Familienlebens nützen,
sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft zugutekommen.

Quelle
Marianne Bertrand, Emir Kamenica und Jessica Pan (2015), Gender Identity and
Relative Income Within Households, Quarterly Journal of Economics 130(2),
571–614.

Frauen verdienen im Durchschnitt deutlich weniger als Männer. Dies trifft nicht
nur auf die Schweiz zu, sondern zeigt sich in praktisch allen Ländern. Eine mög-
liche Erklärung für diese Ungleichheit sind soziale Normen hinsichtlich der

R. M. Koch (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 163


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_26
164 R. M. Koch

Geschlechterrollen. Diese teilen Frauen wie Männern bestimmte Verhaltensweisen,


Eigenschaften und Aufgaben zu. Der Mann geht zur Arbeit, die Frau sorgt für
Kinder und Haushalt. Diese klassische Rollenverteilung ist auch in Zeiten der Me-
Too-Debatte und weltweiten Frauenmärschen weitverbreitet. Doch was passiert,
wenn Frauen beruflich erfolgreicher sind als ihre Ehemänner und, entgegen ihrem
traditionellen Rollenbild, zur Hauptverdienerin der Familie aufsteigen?
Obwohl Frauen nach wie vor für die gleiche Arbeit oft weniger verdienen als
ihre männlichen Kollegen, ist die Lohndifferenz während der letzten Jahrzehnte
gesunken. Im selben Zeitfenster nahm jedoch auch die Heiratsquote deutlich ab.
Motiviert durch diese Entwicklung gingen Marianne Bertrand, Emir Kamenica
und Jessica Pan der Frage nach, welche Auswirkungen es haben kann, wenn die
Frau die Hauptverdienerin eines Haushalts ist. Zur Beantwortung dieser Frage
verwendeten die drei Ökonominnen und Ökonomen der University of Chicago
Daten aus den USA in den Jahren 1970–2000 und 2008–2011.
Abb. 1 illustriert die Ausganslage: Sie zeigt die Verteilung der Haushalte,
ansteigend nach dem Einkommensanteil der Frauen in der Familie, zwischen 1990
und 2011. Berücksichtigt wurden ausschliesslich Haushalte, in denen beide Ehe-
partner berufstätig sind. Die horizontale Achse reiht die Haushalte nach dem Anteil,
welchen die Ehefrau zum gesamten Haushaltseinkommen beisteuert. Die Punkte
zeigen den Anteil von Ehepaaren, welche den jeweiligen Einkommensanteil der
Frau aufweisen. Zum Beispiel sind es knapp 10 % der Haushalte, in denen die Frau
40 % des Familieneinkommens verdient.

Abb. 1   Verteilung des relativen Haushaltseinkommens. (Quelle: Bertrand u. a. 2015)


Wenn Frauen mehr als ihre Männer verdienen 165

Die vertikale Linie hebt den Anteil der Haushalte hervor, bei welchem beide
Partner gleich viel verdienen und somit jeweils die Hälfte zum Haushaltsein-
kommen beitragen. Deutlich erkennbar ist ein Bruch in der Verteilung, sobald die
Frauen die Schwelle von 50 % des Familieneinkommens übertreffen: Der Anteil
der Haushalte sinkt schlagartig, sobald die Ehefrau mehr verdient als der Mann.
Die Daten weisen beim Überschreiten dieser Schwelle einen Rückgang von 13.6 %
auf. Dieser ist in allen untersuchten Jahren sichtbar, doch das Ausmass des Rück-
gangs hat sich in den letzten Jahrzehnten verringert. So belief sich dieser Sprung in
den 80er-Jahren noch auf über ein Viertel. Im Zeitraum von 2008 bis 2011 fiel der
Anteil der Haushalte beim Überschreiten dieses Verdienstanteils nur noch um rund
10 %. Immer mehr Frauen werden zur Hauptverdienerin der Familie.

Der Anteil der Haushalte steigt, in denen die Frauen zu den Männern aufholen und
einen wachsenden Anteil des Familieneinkommens beisteuern. Sobald jedoch die
Frau besser verdient als ihr Ehemann, geht der Anteil dieser Haushalte stark zurück.
Über die Jahrzehnte hinweg hat sich das Ausmass des Rückgangs jedoch verringert.
Immer mehr Frauen werden zur Hauptverdienerin der Familie.

Der Bruch in der Verteilung besteht auch bei Paaren ohne Kinder, ist aber bei
Familien mit Kindern stärker ausgeprägt. Auch die Dauer der Ehe hat einen Einfluss
darauf, um wie viele Prozentpunkte der Anteil der Haushalte abnimmt, wenn die
Ehefrau mehr verdient als ihr Mann. Je frischer die Eheschliessung, umso schwächer
fällt der Sprung aus. Bei Paaren, welche nicht länger als ein Jahr verheiratet sind,
beträgt der Rückgang 8.4 %. Paare, welche seit 2 bis 5 Jahren verheiratet sind,
weisen einen Rückgang von 10.1 % auf. Unter allen Paaren, die zwischen 6 und
10 Jahren verheiratet sind, geht der Anteil der Paare um ganze 12.9 % auf, sobald
die Frau mehr als die Hälfte zum Familieneinkommen beisteuert.
In den letzten Jahrzehnten stiegen die Löhne der Frauen stetig an. Der Gehalts-
unterschied zu den Männern ging zurück. Gleichzeitig nahm die Heiratsquote ab.
Die Studienautoren vermuten einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Ent-
wicklungen. Im Beobachtungszeitraum stieg die Wahrscheinlichkeit, dass eine
zufällig ausgewählte Frau mehr verdient als ein zufällig ausgewählter Mann, von
17–20 % auf rund ein Drittel im Jahr 2010. Die Wahrscheinlichkeit ist wesentlich
grösser geworden, dass die Einkommensverteilung innerhalb eines Haushalts dem
traditionellen Rollenbild widerspricht, wonach der Ehemann Hauptverdiener ist.
Die Schätzungen der Wissenschaftler zeigen, dass dieser relative Lohnanstieg der
Frauen rund 29 % des Rückgangs der Heiratsrate von 1980 bis 2010 erklären kann.

Der Lohnanstieg der Frauen im Vergleich zu Männern kann rund 29 Prozent des
Rückgangs der Heiratsrate im Zeitraum von 1980 bis 2010 erklären.
166 R. M. Koch

Wie reagieren Ehefrauen darauf, dass ihr relativer Lohnzuwachs die traditionelle
Rollenverteilung infrage stellt? Die Frauenerwerbsquote in den USA, welche 1970
nur bei 43 % lag, hat deutlich zugenommen, jedoch stagniert sie seit Mitte der
1990er Jahre bei knapp 75 %. Die Studienautoren argumentieren, dass Geschlechter-
rollen zumindest teilweise für diese Stagnation verantwortlich sind. Manche Frauen,
deren potenzielles Einkommen jenes ihres Mannes übertrifft, entschliessen sich
sogar, ihre Erwerbstätigkeit zu verringern oder ganz aufzugeben. Steigt die Wahr-
scheinlichkeit, dass die Frau mehr verdient als ihr Ehemann, um zehn Prozent-
punkte, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie einer Erwerbstätigkeit nachgeht,
um rund 1.4 Prozentpunkte bzw. um zwei Prozent. Insgesamt schliessen Bertrand
und ihre Koautoren daraus, dass verheiratete Frauen teilweise bewusst nicht arbeiten,
um nicht zur Hauptverdienerin des Haushalts aufzusteigen. Dieses Verhalten ist
besonders bei Paaren mit niedriger Bildung zu beobachten. Einkommensverzicht
oder gar der Ausstieg der Frau aus dem Arbeitsmarkt sind äusserst kostspielige Ver-
haltensweisen, um die traditionelle Rollenverteilung zu bewahren.

Manche Frauen ziehen sich bewusst aus der Erwerbstätigkeit zurück, um nicht die
Haupternährerin der Familie zu sein. Eine um zehn Prozentpunkte höhere Wahr-
scheinlichkeit, dass die Frau mehr verdient als ihr Mann, reduziert die Wahrschein-
lichkeit ihrer Erwerbstätigkeit um rund zwei Prozent.

Dennoch kommt es immer öfter vor, dass Frauen mehr verdienen als ihre Ehe-
männer. Im Jahr 2010 traf dies auf 27 % der Ehepaare in den USA (18–
65 Jahre) zu. In diesem Fall könnten Frauen versucht sein, die „Verletzung“
der traditionellen Geschlechterrolle dadurch zu kompensieren, dass sie mehr
Hausarbeit leisten als ihre Ehemänner, selbst wenn letztere deutlich weniger
verdienen. Die empirischen Ergebnisse zeigen tatsächlich, dass das Geschlechter-
gefälle bei der Hausarbeit stärker zu Ungunsten der Frauen ausfällt, wenn sie ihre
Männer im Verdienst übertreffen.
Dies könnte nach Bertrand, Kamenica und Pan einer der Gründe sein, wes-
halb Paare mit der Frau als Hauptverdienerin öfter Eheprobleme aufweisen bzw.
sich öfter scheiden lassen. Wenn die Frau neben ihrer Erwerbstätigkeit auch noch
einen Grossteil der Hausarbeit auf sich nimmt, ist sie stärker belastet. Die Quali-
tät der Ehe leidet in dieser Situation. Die Schätzungen ergeben: Wenn die Frau
vor zwei Jahren mehr verdient hat als der Mann, liegt die Wahrscheinlichkeit
einer Scheidung um rund ein Viertel höher als in den klassischen Fällen mit den
Männern als Hauptverdiener.
Insgesamt zeigt die Studie, welchen nicht zu unterschätzenden Einfluss
soziale Geschlechternormen auf die Verteilung des Einkommens innerhalb eines
Wenn Frauen mehr als ihre Männer verdienen 167

Haushalts sowie auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und auf die Qualität des
Zusammenlebens haben können. Die Löhne für Frauen sind in den letzten Jahr-
zehnten deutlich angestiegen. Geschlechterrollen und Verhaltensweisen passen
sich dagegen nur langsam an. Die Starrheit der sozialen Normen ist schwierig
zu überwinden und bringt hohe Kosten sowohl für die Eheleute wie auch für die
Gesellschaft als Ganzes mit sich.

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Kleiner Kredit mit grosser Wirkung?

Arnaud Schuele

Relevanz
Wohlstand entsteht aus Arbeit, Investition und Unternehmertum. Aber
wo Armut herrscht, scheitert der Traum vom Aufstieg allzu oft an der
Finanzierung, gerade in den Entwicklungsländern. Kleine Kredite könnten
grosse Wirkung haben und eine nachhaltige Entwicklung anstossen. Die
Realität der Mikrofinanz ist allerdings weniger beeindruckend und lässt
zweifeln, dass es allein mit der Bereitstellung von Krediten getan ist.
Vielleicht braucht es vorher mehr Bildung, Unternehmergeist und eine
Änderung der Rollenbilder, damit nachher die Mikrofinanz bessere Ergeb-
nisse zeitigen kann?

Quelle
Banerjee, A., E. Duflo, R. Glennerster und C. Kinnan (2015), The Miracle of
Microfinance? Evidence from a Randomized Evaluation, American Economic
Journal: Applied Economics 7, pp.22–54.

Mikrokredite weckten grosse Hoffnungen auf eine schnelle Armutsbekämpfung


in Entwicklungsländern. Im Jahr 2006 wurde Mohammad Yunus, dem Pionier der
Mikrofinanz, der Friedensnobelpreis verliehen. Allerdings gibt es keine ungeteilte
Zustimmung. Kritiker bemängeln etwa, dass Banken auf Kosten der armen
Bevölkerung hohe Gewinne erwirtschaften, und verweisen beispielsweise auf

A. Schuele (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 169


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_27
170 A. Schuele

erhöhte Selbstmordraten aufgrund von Überschuldung in Indien. Die Diskussion,


welche Rolle Mikrokredite in der Armutsbekämpfung spielen können, leidet
jedoch unter einem Mangel wissenschaftlicher Evidenz. Denn oft werden Mikro-
kreditbanken nicht zufällig in einem Dorf oder Viertel tätig. Wenn sie vorwiegend
Gegenden mit vielen tatkräftigen Personen aussuchen, dann mag der Erfolg der
Mikrofinanz weniger mit der Bereitstellung von Krediten, sondern eher mit den
besseren unternehmerischen Talenten ihrer Kunden zusammenhängen. Blosse
Anekdoten über erfolgreiche Unternehmer oder hoch verschuldete Kreditnehmer
sagen noch wenig über die ursächlichen Folgen der Kreditvergabe aus.
Kann ein einfacherer Zugang zu Mikrokrediten tatsächlich die wirtschaftliche
und soziale Lage der kreditnehmenden Haushalte verbessern? Diese Frage unter-
sucht ein Forscherteam rund um die Entwicklungsökonomen Esther Duflo und
Abhijit Banerjee vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), welche 2019
für ihre Arbeiten zur globalen Armutsbekämpfung den Wirtschaftsnobelpreis
erhielten. Sie verwenden dazu einen experimentellen Ansatz, mit dem sie einen
weitgehend unverzerrten Effekt von Mikrokrediten herausfiltern können.
Zu diesem Zweck führten sie 2005 in Zusammenarbeit mit der indischen
Mikrokreditbank Spandana ein kontrolliertes Experiment durch. Jene Bank
eröffnete in 52 von 104 zufällig ausgewählten Armenvierteln von Hyderabad, der
fünftgrössten Stadt Indiens, neue Niederlassungen. Damit wurden Mikrokredite
in jenen Vierteln einfacher verfügbar. Sie wurden explizit an Frauen vergeben,
die sich dadurch selbstständig machen oder einen eigenen Betrieb aufbauen
konnten. Danach befragten die Forscher 6′850 Haushalte in einem Zeitraum
von drei Jahren, um die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen der Kreditver-
gabe auf wirtschaftliche (z. B. Konsum, Einkommen, unternehmerische Tätigkeit)
und soziale Indikatoren (z. B. Bildung, gesellschaftliche Stellung der Frau) zu
erfassen.
Wie wurden die Mikrokredite angenommen? Zunächst zeigen die Forscher,
dass die Kreditaufnahme signifikant anstieg. In jenen Vierteln, wo eine neue
Niederlassung eröffnet wurde, hatten 15 bis 18 Monate nach dem Start des
Experiments 26.7 % aller befragten Frauen einen Mikrokredit aufgenommen.
Obwohl nur knapp mehr als ein Viertel der Frauen einen Mikrokredit auf-
nahmen, war ihr Anteil um 8.4 Prozentpunkte oder 46 % höher als in Vierteln
ohne eigene Niederlassung der Bank (18.3 %). Der langfristige Effekt nach zwei
Jahren fiel jedoch geringer aus. Zudem zeigte sich, dass Mikrokredite in erster
Linie bestehende Finanzierungen z. B. aus informellen Quellen wie Familie oder
lokalen Geldverleihern ersetzten. Solche Finanzierungen nahmen um 5.2 Prozent-
punkte ab, sodass der verbesserte Zugang zu Mikrokrediten das gesamte Kredit-
volumen nicht signifikant erhöhte.
Kleiner Kredit mit grosser Wirkung? 171

15 bis 18 Monate nach Eröffnung einer neuen Niederlassung nahm die Aufnahme
von Mikrokrediten durch Frauen um 8.4 Prozentpunkte zu. Gleichzeitig ging das
Volumen anderer Finanzierungsformen zurück.

Mikrokredite sollen vor allem die selbstständige Erwerbstätigkeit sowie die


Gründung von Kleinunternehmen fördern. Tatsächlich beobachten Esther Duflo
und ihre Ko-Autoren einen Anstieg von Unternehmensgründungen, und zwar
fast nur bei Frauen. Im Vergleich zu den Vierteln ohne neue Bankniederlassung
nahm die Zahl von Unternehmensgründungen durch Frauen um rund 55 % zu.
Allerdings waren die Neugründungen im Durchschnitt kaum profitabel und hatten
weniger Mitarbeiter. So beschäftigte nur rund eines von neun der neuen, mit
Mikrokrediten finanzierten Unternehmen einen externen Mitarbeiter. Oft handelte
es sich um Kleinstbetriebe.

Der verbesserte Zugang zu Mikrokrediten steigerte die Unternehmensgründungen


durch Frauen um 55 Prozent. Allerdings beschäftigten die neuen Kleinstbetriebe
kaum externe Mitarbeiter.

Die Forscher untersuchen nicht nur, wie sich Mikrofinanzierungen auf Neu-
gründungen auswirken, sondern auch, inwieweit bereits bestehende Unternehmen
davon profitieren. Zwar zeigt sich ein Anstieg bei Investitionen und Betriebsein-
kommen. Im Durchschnitt verdoppelten sich die Gewinne sogar. Bei genauerer
Betrachtung wird jedoch deutlich, dass nur jene Unternehmen, die bereits zuvor
zu den profitabelsten zählten, ihre Gewinne steigern konnten. Bei allen anderen
nahmen die Gewinne hingegen nicht signifikant zu. Ebenso stieg die Mitarbeiter-
zahl bei bereits bestehenden Unternehmen nicht signifikant an. Abb. 1 illustriert
den Gewinnanstieg aufgrund des vereinfachten Zugangs zu Mikrokrediten
geordnet nach der Profitabilität der Unternehmen. Demnach erhöhen Mikro-
kredite nur dann die Gewinne von bestehenden Unternehmen, wenn diese bereits
zuvor besonders profitabel waren.

Nur jene fünf Prozent der bestehenden Unternehmen mit den höchsten Gewinnen
konnten durch den Zugang zu Mikrokrediten ihre Gewinne steigern.

Zwar dienen Mikrokredite in erster Linie der Finanzierung unternehmerischer


Tätigkeit. Ihr eigentlicher Zweck besteht aber darin, die wirtschaftliche und
soziale Lage der Haushalte zu verbessern und so letztlich zur Armutsbekämpfung
beizutragen. Die vorliegende Studie weckt aber Zweifel daran: So nimmt der
monatliche Pro-Kopf Konsum eines Haushalts durch den einfacheren Kredit-
172 A. Schuele

Abb. 1   Effekt der Mikrokredite auf Unternehmensgewinne (Quelle: Banerjee u. a. 2015)

zugang nicht signifikant zu. Es zeigt sich aber eine Verschiebung der Konsum-
struktur von einfachen Konsumgütern zu dauerhaften Gebrauchsgütern, welche
zuvor nicht leistbar waren. So steigen die Ausgaben für Gebrauchsgüter um rund
17 %. Dieser Anstieg wurde durch Mehrarbeit im eigenen Betrieb – die Forscher
schätzen mehr als drei zusätzliche Arbeitsstunden pro Woche – und geringere
Ausgaben für laufende Verbrauchsgüter finanziert.
Schliesslich kann die Studie kaum Evidenz dafür aufdecken, dass der Zugang
zur Mikrofinanz einen entscheidenden Einfluss auf die soziale Lage eines Haus-
halts hat. Obwohl Mikrokredite explizit an Frauen vergeben werden, verbessert
sich ihre gesellschaftliche Stellung dadurch nicht. Ebenso fanden die Forscher
keine signifikanten Auswirkungen auf den Anteil der Kinder und Jugendlichen,
die eine Schule besuchen, sowie auf die Kinderarbeit gemessen an den Arbeits-
stunden von 5- bis 15-Jährigen.

Mikrokredite tragen nicht entscheidend zu höherem Konsum sowie zu mehr


Geschlechtergerechtigkeit, besserer Bildung, und weniger Kinderarbeit bei.
Kleiner Kredit mit grosser Wirkung? 173

Die Ergebnisse der Studie regen zu einem Umdenken über die Rolle der Mikro-
finanz an. Die Nachfrage nach solchen Krediten bleibt vergleichsweise gering.
Nur gut ein Viertel der potenziellen Schuldner nimmt tatsächlich einen Kredit
auf. Diese niedrige Inanspruchnahme ist bemerkenswert, denn die informelle
Kreditaufnahme ist in Indien sehr hoch. Eine mögliche Erklärung liegt darin,
dass informellen Quellen eine grössere Flexibilität bieten und daher trotz höherer
Kosten bevorzugt werden.
Zudem macht die Studie deutlich, dass Mikrokredite zwar einige Haus-
halte unterstützen können, Betriebe zu gründen oder zu erweitern. Dennoch
schlägt sich dies kaum im Konsum nieder, welcher ein guter Indikator für ihren
Wohlstand ist. Dies liegt unter anderem daran, dass solche Betriebe oft winzig
und kaum profitabel sind. Mikrokredite helfen typischerweise nur den bereits
profitablen Unternehmen. Das wirft die Frage auf, ob sie tatsächlich ihren
ursprünglichen Zweck erfüllen.

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die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem
Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle
ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben,
ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen eben-
falls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende
nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
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Wirtschaftlicher Wandel und
gesellschaftliche Teilhabe: Beschäftigung
und Arbeitsmarkt
Handel und Innovation: Chance oder
Gefahr

Céline Diebold

Relevanz
Handel und Innovation lösen einen starken Strukturwandel aus. Sie sind
Chance und Gefahr zugleich. Innovative Unternehmen erschliessen
in China und anderswo neue Märkte, expandieren und schaffen mehr
Beschäftigung. Andere müssen der Importkonkurrenz weichen. Die
Konsumenten profitieren von günstigen Preisen und einer grösseren Aus-
wahl. Handel und Innovation ermöglichen grosse Wohlstandsgewinne,
aber nur, wenn Arbeit und Kapital erfolgreich von schrumpfenden zu
expandierenden Unternehmen wandern. Wie ist inklusives Wachstum mög-
lich, an dem möglichst alle teilhaben können? Den Strukturwandel aufzu-
halten würde den Fortschritt blockieren. Die Politik braucht ein Programm,
das die besonders betroffenen Arbeitenden absichert und darin aktiv unter-
stützt, mit neuen Qualifikationen anderswo eine neue Beschäftigung mit
besseren Perspektiven zu finden.

Quelle
Autor, David H., David Dorn und Gordon H. Hanson (2015), Untangling Trade
and Technology: Evidence from Local Labor Markets, Economic Journal 125,
621–646.

Globalisierung und technologischer Fortschritt verändern die Arbeit und


erfordern neue Qualifikationen. Technologische Neuerungen ermöglichen es

C. Diebold (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 177


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_28
178 C. Diebold

den Unternehmen, produktiver zu werden, etwa indem sie Routineaufgaben


computerbasiert automatisieren. Dies hat grosse Folgen für den Arbeitsmarkt:
Zum einen fallen die betroffenen Arbeitsplätze weg, zum anderen kann die Nach-
frage nach Fachkräften wie z. B. IT-Spezialisten steigen. Auch der zunehmende
internationale Handel löst einen Strukturwandel aus und verändert die
Beschäftigungsverhältnisse nachhaltig. Im Wettbewerb mit Niedriglohnländern
geraten Löhne und Arbeitsplätze in den Industriestaaten zunehmend unter Druck.
Wie technologischer Fortschritt und Welthandel die Beschäftigung beein-
flussen, erforschen die Ökonomen schon seit langem, aber meist getrennt
voneinander. David Autor, Gordon Hanson und David Dorn vergleichen die
Auswirkungen der beiden Trends miteinander. Sind die Umwälzungen auf dem
Arbeitsmarkt eher eine Folge des internationalen Handels oder des techno-
logischen Fortschritts? Wie unterscheiden sich Technologie und Handel im Hin-
blick auf verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern, Tätigkeiten und Branchen?
Die Forscher schätzen, wie sich Innovation und Handel auf die Beschäftigung
in den USA zwischen 1980 und 2007 ausgewirkt haben. Dabei definieren sie
722 regionale Arbeitsmärkte, welche sich in der Bedeutung verschiedener Wirt-
schaftszweige unterscheiden. Je nach Branchenstruktur sind sie also mit unter-
schiedlicher Intensität dem internationalen Wettbewerb und technologischen
Wandel ausgesetzt.
Die Folgen der Innovation für die Beschäftigung hängen sehr von der Routine-
intensität der Arbeitsplätze ab. Routineaufgaben sind besonders leicht zu auto-
matisieren. Dies trifft beispielsweise auf Produktionsvorgänge, Büroarbeiten oder
kontrollierende Tätigkeiten zu, jedoch weniger auf abstrakte (z. B. Mitarbeiter-
führung) oder handwerkliche Tätigkeiten. Dagegen hängt der internationale Wett-
bewerbsdruck auf die Beschäftigung in amerikanischen Unternehmen sehr mit dem
Aufstieg Chinas zusammen. Seine Bedeutung im weltweiten Handel hat massiv
zugenommen. China zählt heute zu den wichtigsten Handelspartnern der USA. Die
Forscher nutzen Daten über diese beiden Entwicklungen in jedem der über 700
regionalen Arbeitsmärkte und quantifizieren die Beschäftigungseffekte von Techno-
logie und Handel, indem sie auf die Routineintensität eines typischen Arbeitsplatzes
bzw. auf die Zunahme von US-Importe aus China pro Arbeitsplatz abstellen.
Wie beeinflussen Handel und technologischer Fortschritt die Beschäftigungs-
und Arbeitslosenzahlen? Werden heimische Beschäftigte verdrängt? Die
Schätzungen ergeben, dass die Automatisierung von Routineaufgaben ins-
gesamt zu keinem Rückgang der Beschäftigungsquote führte, aber der inter-
nationale Wettbewerbsdruck aufgrund steigender Importe aus China signifikante
Beschäftigungsverluste auslöste. Dabei gibt es grosse regionale Unterschiede in
der Importkonkurrenz. Die Importe waren im obersten Quartil der regionalen
Arbeitsmärkte mit der höchsten Importintensität um rund 1’100 US$ pro
Handel und Innovation: Chance oder Gefahr 179

Beschäftigten höher als im untersten Quartil der Regionen mit dem geringsten
Importanteil. Die Wissenschaftler schätzen, dass ein Anstieg der Importe aus
China um 1’000 US$ pro Arbeitnehmer über zehn Jahre mit einem Rückgang
der Beschäftigungsquote um 0,7 Prozentpunkte sowie mit einem Anstieg der
Arbeitslosen- und Nichterwerbsquote um 0,2 bzw. 0,5 Prozentpunkte einherging.
Der Beschäftigungsrückgang führte in rund drei von vier Fällen dazu, dass die
Betroffenen dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Nur wenige wechselten
in die (temporäre) Arbeitslosigkeit.

Um 1'000 US$ höhere Importe aus China pro Arbeitnehmer verringerten die
Beschäftigungsquote in den USA um 0.7 Prozentpunkte in 10 Jahren, wogegen die
Automatisierung weder zu Beschäftigungsgewinnen noch Verlusten führte.

Dabei sind verschiedene demographische Gruppen einem recht unterschiedlichen


Risiko ausgesetzt. Die Schätzungen zeigen, dass der technologische Fortschritt
die Beschäftigungsquote von Frauen und älteren Arbeitnehmern signifikant ver-
ringerte. Diese Gruppen waren überproportional in Berufen mit vielen leicht
automatisierbaren Routineaufgaben tätig. Die stärkere Konkurrenz aus China
betraf hingegen alle Bildungs-, Geschlechts- und Altersgruppen. Gering quali-
fizierte Arbeitnehmer mussten die stärksten Beschäftigungsverluste hinnehmen.
Ein Importanstieg von 1’000 US$ pro Arbeitnehmer führte zu einem Rück-
gang der Beschäftigungsquote um 1,2 Prozentpunkte bei niedrig qualifizierten
Arbeitnehmern, aber nur um 0,5 Prozentpunkte bei höher Qualifizierten. In
beiden Fällen schieden die betroffenen Arbeitnehmer oft ganz aus dem Arbeits-
markt aus. Die Forscher weisen jedoch darauf hin, dass dies an den verwendeten
Daten liegen könnte, welche alle sieben bzw. zehn Jahre erhoben wurden. So
werden nur mittelfristige Auswirkungen auf die Beschäftigungszahlen erfasst.
Es ist daher vorstellbar, dass Arbeitnehmer zunächst arbeitslos wurden, bevor sie
schliesslich den Arbeitsmarkt verliessen.

Die zunehmende Importkonkurrenz aus China traf niedrig qualifizierte Arbeit-


nehmer besonders stark. Die Beschäftigungsquote sank um 1.2 Prozentpunkte je
1'000 US$ Importe pro Arbeitnehmer, verglichen mit nur 0.5 Prozentpunkten bei
höher Qualifizierten.

Welche Berufsgruppen und Aufgabenfelder sind am stärksten von Technologie-


entwicklung und internationalem Wettbewerb betroffen? Die Forscher unter-
scheiden grob zwischen drei Kategorien: Tätigkeiten in Management und
Technik verlangen spezialisierte Fähigkeiten in Organisation und abstrakter
180 C. Diebold

Problemlösung. Sie werden meist von gutbezahlten Arbeitnehmern mit hohem


Bildungsstand ausgeführt. Tätigkeiten in Produktion, Administration und Ver-
trieb umfassen typischerweise zahlreiche Routineaufgaben, welche relativ leicht
durch Computer ersetzbar bzw. automatisierbar sind. Eine dritte Kategorie bilden
Berufe in Handwerk, Landwirtschaft und Dienstleistungen, welche oft körper-
liche Arbeit mit sich bringen und keine höhere Ausbildung voraussetzen. Sie
haben sich meist als nur schwer automatisierbar erwiesen.
Zunehmende Automatisierung betrifft vor allem die zweite Kategorie mit hoher
Routineintensität und führte dort zu signifikant niedrigeren Beschäftigungsquoten.
Dies geschah unabhängig von Alter, Geschlecht sowie Ausbildung der Arbeit-
nehmer. Im Gegensatz dazu veränderte sich die Beschäftigungsquote von hoch
bzw. niedrig qualifizierten Tätigkeiten (erste und dritte Kategorie) nicht signifikant.
Automatisierung und Computerisierung tragen also zu einer Polarisierung von
Berufen bei. So gehen zwar Arbeitsplätze etwa in Verwaltung und Büro verloren.
Es entstehen aber neue Arbeitsplätze sowohl in leitenden Tätigkeiten als auch in
handwerklichen Berufen, welche die entgegensetzten Enden des Einkommens-
spektrums besetzen. Diese Entwicklung erklärt zumindest teilweise die immer
größer werdende Einkommensungleichheit in den USA. Der zunehmende Wett-
bewerb mit China führte dagegen zu Beschäftigungsverlusten in allen Berufskate-
gorien, mit überdurchschnittlich starken Auswirkungen auf Arbeitnehmer mit nur
geringen Qualifikationen oder in routineintensiven Tätigkeiten.

Die Beschäftigungsquote in Produktion, Administration und Vertrieb sank um 1.8


Prozentpunkte stärker, wenn diese Tätigkeiten besonders routineintensiv und leicht
automatisierbar waren.

Schliesslich vergleichen die Forscher die Entwicklung in verschiedenen


Branchen. In der Industrie führte zunehmende Konkurrenz aus China zu deut-
lichen Arbeitsplatzverlusten: Die Beschäftigungsquote sank über zehn Jahre um
0,5 Prozentpunkte, wenn chinesische Importe um 1’000 US$ pro Beschäftigten
zunahmen. Von diesem Rückgang waren nicht nur Mitarbeiter in der Produktion
selbst, sondern auch leitende und technische Angestellte sowie Büromitarbeiter
betroffen. Dagegen verursachte der technologische Fortschritt im gesamten
Beobachtungszeitraum von 1980 bis 2007 insgesamt kaum signifikante Arbeits-
platzverluste in der Industrie. Aber die Verwendung von Computern, vor allem in
den 1980er und 1990er Jahren, veränderte Aufgabenfelder und Berufsbilder sehr
stark, führte zu Beschäftigungsverlusten bei routineintensiven Tätigkeiten, und
förderte eine Polarisierung der Arbeitswelt. Dieser Effekt nahm in den 2000er
Jahren deutlich ab. In anderen Branchen hingegen nahm die Automatisierung von
Routinetätigkeiten vor allem nach dem Jahr 2000 noch weiter zu.
Handel und Innovation: Chance oder Gefahr 181

Abb. 1   Beschäftigungseffekt unterschiedlich starker chinesischer Importkonkurrenz in 12


EU-Staaten. Bemerkung: Beschäftigungswachstum je nach Innovationsgrad der Firmen in
Branchen mit schwach und stark steigenden Importen aus China. Die IT-Intensität ist von
Quintil 1 zu 5 ansteigend. (Quelle: Nicholas Bloom, Mirko Draca und John Van Reenen,
Who’s Afraid of the Big Bad Dragon? How Chinese Trade Boosts European Innovation,
VOXeu, 3. Februar 2011)

In der Industrie stellt seit den 1990er Jahren die Importkonkurrenz aus China eine
immer grösser werdende Gefahr für die Beschäftigung dar. Der Trend zur Auto-
matisierung führt weniger in der Industrie, aber zunehmend im Dienstleistungs-
sektor zu Arbeitsplatzverlusten.

Die Auswirkungen des technologischen Fortschritts auf den amerikanischen


Arbeitsmarkt scheinen ihren Fokus zu verschieben: Während in der Vergangen-
heit Produktionsabläufe automatisiert und hierdurch Arbeitsplätze abgebaut
wurden, war zwei Jahrzehnte später der Dienstleistungssektor betroffen, z. B.
durch Neuerungen in der Daten- und Informationsverarbeitung.
In einer ähnlichen Studie untersuchen Nicholas Bloom und seine Co-Autoren1
die Folgen der chinesischen Importkonkurrenz für zwölf europäische Staaten im
Zeitraum von 1996 bis 2007. Abb. 1 veranschaulicht den Beschäftigungszuwachs
bzw. -rückgang europäischer Firmen in Sektoren, welche in einem schwachen

1NicholasBloom, Mirko Draca und John van Reenen (2016), Trade Induced Technical
Change? The Impact of Chinese Imports on Innovation, IT and Productivity, Review of
Economic Studies 83, 87–117.
182 C. Diebold

bzw. starken Ausmaß von chinesischer Importkonkurrenz betroffen waren, je


nach Technologieintensität der Unternehmen. Firmen mit geringer IT-Intensi-
tät schrumpften überall, aber besonders stark in Branchen und Regionen mit
hoher chinesischer Importkonkurrenz. Relativ IT-intensive Unternehmen konnten
jedoch offenbar unabhängig vom Ausmaß der chinesischen Importkonkurrenz
einen Zuwachs der Beschäftigungszahlen verzeichnen. Dies deutet darauf hin,
dass zwar wenige produktive Firmen im Zuge der chinesischen Importe ver-
drängt wurden. Innovative und technologieintensive Unternehmen konnten jedoch
erfolgreich reagieren und ihre Marktanteile, unbeeindruckt der chinesischen
Konkurrenz, sogar ausbauen.

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Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle
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ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Wie viel Training brauchen Arbeitslose?

Carina Steckenleiter

Relevanz
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist eines der wichtigsten Ziele
der Wirtschaftspolitik. Jährlich wenden Industrienationen beträchtliche
Summen an Geldern für Arbeitsmarktprogramme auf. Laut einer ver-
gleichenden Aufstellung der OECD entsprachen im Jahr 2015 die Aus-
gaben für aktive Arbeitsmarktprogramme in Deutschland beispielsweise
0,6 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und in Frankreich 1 % des BIPs.
Vor dem Hintergrund dieser hohen Kosten sind belastbare Auswertungen,
die die Wirkung der Programme evaluieren, von immenser Bedeutung. Die
Autoren der vorliegenden Studie evaluieren dabei insbesondere den Effekt
der Dauer eines Arbeitsmarktprogramms.

Quelle
Flores, Carlos A., Alfonso Flores-Lagunes, Arturo Gonzalez, und Todd C. Neu-
mann (2012), Estimating the Effects of Length of Exposure to Instruction in a
Training Program: The Case of Job Corps, Review of Economics and Statistics
94(1), 153–171.

Arbeitsmarktprogramme sind ein etabliertes Instrument zur Arbeitsmarkt-


integration von arbeitslosen Personen. Es erscheint plausibel, dass neben der
Tatsache, ob jemand an einem Programm teilgenommen hat, auch die Programm-
dauer und somit die Intensität den späteren Arbeitsmarkterfolg beeinflussen. So

C. Steckenleiter (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 183


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_29
184 C. Steckenleiter

ist es einerseits vorstellbar, dass sich der Nutzen eines Programms erst ab einer
bestimmten Dauer der Programmteilnahme materialisiert. Andererseits erscheint
es ebenso plausibel, dass ab einer bestimmten Programmdauer kein zusätzlicher
Nutzen für den Teilnehmer entsteht. Darüber hinaus könnte es sein, dass ver-
schiedene Gruppen wie zum Beispiel jüngere und ältere Teilnehmer unterschied-
lich reagieren. All diese Informationen sind für politische Entscheidungsträger
wichtig. Sie können dazu dienen, Programme besser auf die Bedürfnisse der Teil-
nehmer anzupassen und Steuergelder kosteneffizient einzusetzen. Die Arbeit von
Flores, Flores-Lagunes, Gonzalez, und Neumann ist eine der ersten Studien, die
den Wirkungszusammenhang zwischen Programmlänge und späterem Arbeits-
markterfolg erforscht.
Die Autoren analysieren am Beispiel des Job Corps Programms in den USA,
welchen Effekt die Länge der Programmteilnahme auf den Arbeitsmarkterfolg hat.
Das Job Corps Programm existiert seit 1964 und kann landesweit an mehr als 120
Zentren absolviert werden. Es bietet unter anderem Berufsausbildung, Kurse zur
Stärkung der Sozialkompetenz und verschiedene Komponenten von Schulbildung
wie zum Beispiel Mathematikkurse oder vorbereitende Kurse zum Absolvieren des
High-School Abschlusses an. 16- bis 24-jährige können bei Erfüllung verschiedener
Kriterien am Programm teilnehmen. Zu diesen zählen unter anderem Armutsstatus,
das Leben in einem schwierigen Umfeld, ein Schulabbrecher zu sein, oder das
Benötigen von weiterer Bildung/Ausbildung. Der typische Programm-Teilnehmer
gehört zu 70 % einer Minderheit an, ist 18 Jahre alt und hat in 75 % der Fälle die
High-School abgebrochen. Etwa 60.000 junge Erwachsene beginnen jedes Jahr
das Programm. Besonders am Job Corps Programm ist, dass teilnahmeberechtigte
Bewerber zufällig zur Teilnahme ausgewählt wurden. Dies erlaubt die Evaluation
der Programmeffekte mit gängigen ökonometrischen Methoden.

Der typische Programm-Teilnehmer gehört zu 70 % einer Minderheit an, ist


18 Jahre alt und hat zu 75 % die High-School abgebrochen.

Gemeinsam mit einem Berater entwickelt jeder Teilnehmer einen Programmplan,


welcher von den eigenen Bedürfnissen und Präferenzen und den Charakteristika
des jeweiligen Programmcenters abhängt. Die Teilnahmedauer einer Person setzt
sich somit aus institutionellen Gegebenheiten sowie persönlichen Entscheidungen
zusammen. Die durchschnittliche Teilnahmedauer entspricht 30,4 Wochen, somit
in etwa 7,5 Monate.
Die Autoren der Studie messen den Arbeitsmarkterfolg anhand von zwei
Indikatoren: Zum einen betrachten sie das durchschnittliche wöchentliche Ein-
kommen der Teilnehmer 48 Monate nach zufälliger Programmzuteilung, und zum
anderen das durchschnittliche wöchentliche Einkommen 1 Jahr nach Programm-
Wie viel Training brauchen Arbeitslose? 185

ende. Beide Indikatoren ermitteln sie sowohl absolut als auch in Differenz zum
Einkommen, welches die Individuen vor der Programmteilnahme verdient haben.
Abb. 1 zeigt die Ergebnisse der Studie zum Effekt der Programmdauer auf das
durchschnittliche wöchentliche Einkommen 1 Jahr nach Programmende für ver-
schiedene Gruppen. Die Ergebnisse werden einmal für die gesamte Stichprobe,
aber auch zusätzlich für die Teilstichproben Männer, Frauen, Afroamerikaner,
Weisse sowie Hispanics gezeigt. Die Abbildung beschreibt den marginalen Effekt
einer zusätzlichen Woche Programmteilnahme auf das durchschnittliche Wochen-
einkommen ein Jahr nach dem Ende der Teilnahme (in Differenzen). Punkte auf
der schwarzen Linie oberhalb der Null-Dollar-Grenze geben an, um wie viel das
Einkommen bei einer Verlängerung der Programmteilnahme um eine zusätz-
liche Woche steigen würde. Die Grafik zeigt, dass dies für alle Gruppen zumeist
der Fall ist. Jedoch ist auch klar zu erkennen, dass der Effekt einer zusätzlichen
Woche auf das Einkommen mit zunehmender Programmdauer kleiner wird.
Jede Schätzung weist eine Unsicherheit auf, welche in der Abbildung durch die
gestrichelten Linien (Konfidenzintervalle) dargestellt wird. Wenn ein geschätzter

Abb. 1   Effekt einer zusätzlichen Woche Programmteilnahme auf das durchschnittliche


wöchentliche Einkommen 1 Jahr nach Programmende in Differenz zum Einkommen vor
Programmteilnahme. (Quelle: Flores et al. 2012, S. 167)
186 C. Steckenleiter

Effekt positiv und statistisch signifikant von Null verschieden ist, befinden sich
alle Werte des Intervalls oberhalb der Nullgrenze. Dies ist z. B. für die gesamte
Stichprobe bis zu einer Programmdauer von ungefähr 31 Wochen der Fall.

Der durchschnittliche marginale Ertrag einer weiteren Woche Programmteil-


nahme wird auf 2,1 US-Dollar geschätzt, das sind 1,8 % des Einkommens vor der
Programmteilnahme. Bei einer Programmdauer von 10 Wochen würde eine Ver-
längerung um eine Woche das Wocheneinkommen um ca. 4 US-Dollar steigern. Der
marginale Ertrag einer verlängerten Teilnahme von 23 auf 24 Wochen entspricht in
etwa noch der Hälfte der Einkommenssteigerung von 10 auf 11 Wochen Teilnahme.

Vergleicht man die einzelnen Abbildungen miteinander, stellt man teilweise deut-
liche Unterschiede in den Einkommenszuwächsen fest, welche verschiedene
Gruppen bei einer Verlängerung des Programms um eine Woche erzielen könnten.
Wenn man beispielsweise Männer und Frauen über die Programmwochen
1–42 hinweg vergleicht, lassen sich interessante Unterschiede feststellen. Der durch-
schnittliche marginale Ertrag einer weiteren Woche Programmteilnahme beträgt für
Männer 3,1 US-Dollar pro Woche, für Frauen dagegen nur 1,3 US-Dollar.
Die Studie vergleicht zudem die Auswirkungen auf das durchschnittliche
Wocheneinkommen 48 Monate nach Programmzuteilung bzw. 1 Jahr nach Pro-
grammende. Die Forscher zeigen, dass der geschätzte Einkommenszuwachs von
einer Woche mehr Training 1 Jahr nach Programmende höher ist. So beträgt der
geschätzte durchschnittliche marginale Ertrag einer zusätzlichen Woche Programm-
teilnahme 1 Jahr nach Programmende 2,1 US-Dollar, während dieser 48 Monate
nach Programmzuteilung auf 0,8 US-Dollar geschätzt wird (beides in Differenz zu
vor Programmbeginn erzieltem Einkommen). Die Autoren schlussfolgern daraus,
dass sogenannte „Lock-in-Effekte“ im Job-Corps-Programm von Bedeutung
sind. Als „Lock-in-Effekte“ bezeichnen Arbeitsmarktökonomen negative
Beschäftigungseffekte unmittelbar nach Beginn des Arbeitsmarktprogramms,
welche dadurch entstehen, dass Teilnehmer weniger Zeit zur Stellensuche auf-
wenden können.

Über die gesamte Programmdauer betrachtet ist der durchschnittliche Einkommens-


zuwachs aus einer Verlängerung der Programmteilnahme um 1 Woche für Männer
zweimal so hoch wie für Frauen.

Insgesamt zeigt die Studie einen positiven Zusammenhang zwischen einer


längeren Partizipationsdauer und dem nachher erzielten wöchentlichen Ein-
Wie viel Training brauchen Arbeitslose? 187

kommen auf. Die Wirkung einer Verlängerung um eine Woche nimmt jedoch
mit der Dauer des Programms ab. Interessanterweise fällt der Nutzen sehr unter-
schiedlich für verschiedene Gruppen aus. Männer profitieren im Durchschnitt
doppelt so stark wie Frauen. Die Studie zeigt somit zum einen auf, dass die Dauer
der Programmteilnahme ein wichtiger Baustein für Arbeitsmarktprogramme ist,
und zum anderen, dass es beträchtliche Unterschiede zwischen verschiedenen
demographischen Gruppen gibt.

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Wie die Arbeitslosenversicherung die
Wirtschaft stabilisiert

Isabella Maassen

Relevanz
Die Arbeitslosenversicherung schützt die Arbeitenden vor grösseren Ein-
kommensausfällen in der Rezession und hilft, den Wohlstand über die Zeit
zu glätten. Sie ist auch ein wichtiger automatischer Stabilisator, der die
Konjunkturschwankungen dämpft. Gerade die Arbeitslosen haben häufig
eine hohe Konsumquote und geben in der Rezession jedes zusätzliche Ein-
kommen aus. Die Absicherung der Einkommen stützt zudem die Kredit-
fähigkeit der Haushalte. Eine solide finanzierte Arbeitslosenversicherung
stabilisiert die Konsumnachfrage und festigt die Widerstandskraft der Wirt-
schaft. Christian Keuschnigg und Michael Kogler, Herausgeber.

Quelle
Marco Di Maggio, Amir Kermani (2017), Unemployment Insurance as an
Automatic Stabilizer: The Financial Channel, Harvard Business School Finance
Working Paper.

In einer Rezession verlangsamt sich das Wachstum, die Nachfrage bricht ein, Unter-
nehmen entlassen Mitarbeiter und die Finanzmärkte stocken. Konjunkturpakete
sollen die negativen Auswirkungen mildern. Während der grossen Wirtschaftskrise
2008 setzten Regierungen weltweit auf zusätzliche öffentliche Investitionen, Steuer-
senkungen, oder Erleichterungen beim Kreditzugang von Unternehmen und Haus-
halten, nicht selten mit Kosten von über 2 % des Bruttoinlandsprodukts.

I. Maassen (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 189


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_30
190 I. Maassen

Dennoch traf die Krise einige Regionen stärker als andere. Unterschied-
lich grosse Konjunkturpakete sind dafür eher wenig relevant. Viel stärker von
Bedeutung ist die grundlegende Widerstandsfähigkeit einer Volkswirtschaft.
Diese hängt stark von der Wirksamkeit automatischer Stabilisatoren ab. Anders
als Konjunkturpakete müssen sie nicht erst im Krisenfall aktiviert werden. Sie
können automatisch und ohne Verzögerungen die wirtschaftlichen Schwankungen
deutlich verringern. Ein besonders wichtiger automatischer Stabilisator ist die
Arbeitslosenversicherung.
Mit steigender Arbeitslosigkeit erleiden mehr Haushalte Einkommensverluste.
Auch die Jobsuche dauert länger. Deshalb konsumieren sie weniger. Auch jene,
die ihren Arbeitsplatz nicht verlieren, leiden unter grösserer Unsicherheit und
sparen mehr. In allen Fällen hilft die Arbeitslosenversicherung, die Nachfrage
zu stützen: Zum einen erhöht sie das verfügbare Einkommen der Arbeitslosen.
Zudem verringert sich das Risiko derer, die Angst um ihren Job haben. Es gibt
jedoch auch kontraproduktive Effekte. So kann eine grosszügigere Arbeitslosen-
unterstützung langfristig auch zu höherer Arbeitslosigkeit führen, wenn sie bei
den Arbeitslosen die Intensität der Jobsuche und die Bereitschaft, eine neue Stelle
anzunehmen, mindert.
Solche gegenläufigen Auswirkungen erschweren die Überlegungen zur
günstigen Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung. Trotz einiger einfluss-
reicher Studien mangelt es nach wie vor an praktischen Orientierungshilfen
für politische Entscheidungsträger. Die Ökonomen Marco di Maggio und Amir
Kermani von den Universitäten Harvard und Berkeley wollen empirisch die
Frage klären, welche Mechanismen der Arbeitslosenversicherung die Stabilität
einer Volkswirtschaft verbessern können. Sie untersuchen vor allem den Einfluss
auf die Schwankungen der Beschäftigung und des Konsums. Die Arbeitslosen-
versicherung beeinflusst zudem die Fähigkeit von Haushalten, ihre finanziellen
Verpflichtungen zu erfüllen. Daher untersuchen sie auch den Effekt der Arbeits-
losenversicherung auf die Verfügbarkeit von Krediten, mit denen die Haushalte
ihren Konsum aufrechterhalten können.
Die Forscher nutzen eine Besonderheit der Arbeitslosenversicherung in den
USA aus. Die Bundesstaaten können weitgehend selbst bestimmen, wie gross-
zügig sie die Arbeitslosenunterstützung gestalten. Diese Unterschiede erlauben es
di Maggio und Kermani, die Auswirkungen wirtschaftlicher Einbrüche auf lokaler
Ebene zu vergleichen. Sie analysieren die Beschäftigungs- und Wirtschafts-
entwicklung in Bezirken (Counties), die sich hauptsächlich in ihren Leistungen
der Arbeitslosenversicherung unterscheiden, sonst aber sehr ähnlich sind.
Die Forscher verwenden Daten zu Beschäftigung und Arbeitslosenversicherung
im Zeitraum 1990 bis 2013. Sie messen die Grosszügigkeit der Arbeitslosen-
Wie die Arbeitslosenversicherung die Wirtschaft stabilisiert 191

versicherung anhand der Ersatzrate. Diese erfasst, welchen Anteil des früheren
Gehalts Arbeitslose nach dem Jobverlust erhalten. Dabei gibt es zwischen den
Bundesstaaten starke Unterschiede bei den Ersatzraten, von 190 bis 400 US$ pro
Woche. Die durchschnittliche Ersatzrate betrug 36,4 % mit einer Standardab-
weichung von 3,9 Prozentpunkten, das sind 11 % des Durchschnittswerts.
Wie kann man die Unterschiede in der lokalen Arbeitsnachfrage messen? Die
Forscher verwenden dafür das Konzept des „Bartik Schocks“. Sie betrachten
zunächst die Entwicklung des Arbeitsmarktes auf nationaler Ebene nach
Branchen. Dann gewichten sie die branchenspezifische Arbeitsnachfrage mit
dem Beschäftigungsanteil der Branche im jeweiligen Bezirk im Jahr 1998. So
erhalten sie am Ende ein Mass für die Unterschiede in der lokalen Arbeitsnach-
frage. Wenn z. B. landesweit die Beschäftigung in den Dienstleistungsbranchen
und in der Industrie um zwei bzw. vier Prozent zurückgeht und in einem Bezirk
je die Hälfte der Arbeitnehmer in diesen beiden Branchen tätig sind, dann ergibt
dies einen Bartik Schock von minus drei Prozent in diesem Bezirk. Der Vorteil
dieses Ansatzes liegt darin, dass die so ermittelte lokale Arbeitsnachfrage nicht
durch bezirksspezifische Veränderungen im Arbeitsangebot verfälscht wird. In
den Daten variieren die Schocks auf die lokale Arbeitsnachfrage zwischen −6,9
und +3,3  %.

Eine grosszügige Arbeitslosenversicherung kann den Beschäftigungseinbruch in


einem wirtschaftlichen Abschwung verringern. Erhöht sich die Ersatzrate von 36.4
auf 40.3 Prozent, sinkt der Einbruch des Beschäftigungswachstums um 9 Prozent.
Dies stützt besonders die Beschäftigung in den Dienstleistungsbranchen.

Die Arbeitslosenversicherung hilft, Beschäftigung und Konsum in der Krise


zu stützen. Die Wissenschaftler schätzen, dass z. B. ein Rückgang der lokalen
Arbeitsnachfrage (gemessen anhand des Bartik Schocks) das Beschäftigungs-
wachstum um 9 % weniger stark verringert, wenn die Ersatzrate der Arbeitslosen-
versicherung in einem Bezirk um eine Standardabweichung, konkret um 11 %,
höher ist. Dieser stützende Beschäftigungseffekt wirkt vor allem bei Dienst-
leistungen wie Handel und Gastronomie besonders stark, wo eine grosszügige
Arbeitslosenunterstützung den lokalen Beschäftigungsrückgang sogar um 16 bis
20 % reduziert. Wenn höhere Ersatzraten den Rückgang des verfügbaren Ein-
kommens abschwächen, müssen selbst Arbeitslose ihren Konsum nicht so stark
verringern. Dies stützt die Nachfrage in einem Abschwung und verringert so
den Beschäftigungseinbruch. Denn die Arbeitslosenunterstützung kommt gerade
jenen Haushalten mit einer hohen Konsumquote zu Gute, die jedes zusätzliche
Einkommen zum grössten Teil ausgeben und nicht ansparen.
192 I. Maassen

Ist die Ersatzrate der Arbeitslosenversicherung um 11 Prozent höher, schwächt sich


in einer Rezession der lokale Konsumrückgang bei langlebigen Gütern um 12 Pro-
zent ab, bei Verbrauchsgütern um 6 Prozent.

Die Studie zeigt weiter, dass eine grosszügigere Arbeitslosenunterstützung nach


einem lokalen Schock auch den Rückgang des Konsums um durchschnittlich
7 % abschwächt. Dabei fällt der Konsumrückgang bei langlebigen Gütern um
bis zu 12 % weniger stark aus, während die Nachfrage nach Verbrauchsgütern
um 6 % weniger stark fällt. Alltägliche Konsumausgaben wie z. B. Lebensmittel
schwanken also im Konjunkturverlauf nur schwach. Die Anschaffung langlebiger
Güter wie z. B. eines neuen Autos kann man hingegen in einer Krise leicht auf
einen späteren Zeitpunkt verschieben. Da die Konsumnachfrage solcher Güter
wesentlich stärker schwankt, kann eine grosszügigere Arbeitslosenunterstützung
gerade bei langlebigen Gütern stärker stabilisieren.
Abb. 1 veranschaulicht die Ergebnisse. Die horizontale Achse zeigt die
lokalen Schocks, wobei der Wert 0 einem normalen Wirtschaftsgang entspricht.
Vertikal sind die Wachstumsraten der Beschäftigung – getrennt für nicht handel-

Abb. 1   Lokale Auswirkungen von Schocks nach Grosszügigkeit der Arbeitslosen-


versicherung. (Quelle: Di Maggio und Kerami 2017)
Wie die Arbeitslosenversicherung die Wirtschaft stabilisiert 193

bare (vorwiegend lokale Dienstleistungen) und handelbare Sektoren – und der


Autoverkäufe abgetragen. Die rot schattierten Linien zeigen die Veränderungen
in den Top 25 % der Bezirke mit der höchsten Arbeitslosenversicherung (ALV),
die blauen nicht schattierten Linien zeigen die Entwicklung in den 25 % der
Bezirke mit der tiefsten Versicherung. Es wird deutlich, dass eine grosszügige
Arbeitslosenversicherung vor allem die negativen Schocks abfedert, während die
Unterschiede zwischen den Bezirken in den Boomphasen gering bleiben. Zudem
entfaltet sie die stärksten stabilisierenden Effekte vor allem in den lokalen, nicht
handelbaren Branchen und bei langlebigen Verbrauchsgütern wie Autos, während
die Unterschiede in den handelbaren Branchen nur schwach signifikant sind.
Welche Rolle spielt der Finanzsektor? Die Forscher stellen fest, dass sich Haus-
halte in einem wirtschaftlichen Abschwung oft stärker verschulden, z. B. durch
höhere Kreditkartenschulden. So können sie ihren Konsum über die Zeit glätten
und kurzfristig den Lebensstandard aufrechterhalten. Es zeigt sich aber, dass die
Arbeitslosenunterstützung das Verschuldungsverhalten nicht signifikant beein-
flusst. Dies deutet darauf hin, dass Haushalte zwar gerne mehr Kredite aufnehmen
würden, diese aber während einer Rezession kaum verfügbar sind. Damit fällt
der Rückgang des Konsums und der Nachfrage stärker aus, was den Abschwung
tendenziell verstärkt. Auch wenn eine Mehrverschuldung nicht möglich ist, kann
eine grosszügige Arbeitslosenversicherung zumindest den Rückgang der Kredit-
vergabe abfedern. Denn Haushalte erleiden trotz Arbeitslosigkeit einen geringeren
Einkommensverlust und können so ihren finanziellen Verpflichtungen besser nach-
kommen. Es fallen weniger Kredite aus. Das Risiko der Kreditgeber sinkt. Sie sind
daher eher bereit, die Kreditvergabe aufrecht zu erhalten.

Ein finanzieller Beschleuniger der Rezession entsteht, wenn Haushalte wegen


Arbeitslosigkeit Kredite nicht zurückzahlen können. Eine grosszügigere Unter-
stützung erlaubt ihnen, ihre Verpflichtungen dennoch zu erfüllen und verhindert so
hohe Kreditausfälle und einen starken Rückgang der Kreditvergabe.

Die empirische Evidenz macht deutlich, dass höhere Ersatzraten der Arbeits-
losenversicherung in einer Rezession eine stabilisierende Wirkung entfalten. Zwei
Mechanismen sind dabei zentral: Erstens stützen höhere Ersatzraten das verfügbare
Einkommen und damit Konsum und die Nachfrage. Zweitens können die betroffenen
Haushalte eher ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Dies senkt das
Kreditrisiko und verhindert eine Kreditklemme. Auf beiden Wegen schwächt eine
kräftigere Nachfrage den konjunkturbedingten Beschäftigungsrückgang ab.
194 I. Maassen

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falls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende
nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
willigung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Wie wirksam ist Regionalförderung?

Céline Diebold

Relevanz
Das Ziel der Regionalpolitik ist die Förderung strukturschwacher
Gebiete, damit sie zum nationalen Durchschnitt aufschliessen. Doch die
Steuermittel sind knapp und haben viele gute Verwendungen. Auch die
Regionalförderung muss sich mit ihrem Nutzen rechtfertigen. Ist sie tat-
sächlich wirksam, die Entwicklung benachteiligter Gebiete mit zusätz-
lichen Investitionen anzustossen? Oder erschöpft sie sich in reinen
Mitnahmeeffekten, indem sie Investitionen fördert, welche die Unter-
nehmen ohnehin getätigt hätten? Führt sie zu einer Verlagerung von
Investitionen und Beschäftigung von nicht geförderten zu geförderten
Gebieten, ohne dass die Gesamtwirtschaft profitiert? Kann die Regional-
förderung eine nachhaltige, selbsttragende Entwicklung anstossen, die
auch dann noch bestehen bleibt, wenn die Förderung wieder ausläuft?
Oder bleibt der neu geschaffene Wohlstand dauerhaft von Subventionen
abhängig?

Quelle
Criscuolo Chiara, Ralf Martin, Henry G. Overman und John Van Reenen (2019),
Some Causal Effects of an Industrial Policy, American Economic Review 109,
48–85.

C. Diebold (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 195


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_31
196 C. Diebold

Viele Staaten setzen seit langem Subventionen und Zuschüsse ein, um wirtschaft-
lich benachteiligte, strukturschwache Regionen zu fördern. Die Wirksam-
keit solcher Massnahmen ist allerdings umstritten. Kritiker mutmaßen, dass
solche Initiativen sich in Mitnahmeeffekten erschöpfen und lediglich private
Investitionen finanzieren, welche die Unternehmen ohnehin getätigt hätten.
Wie wirksam ist die Regionalförderung? Empirische Untersuchungen,
inwieweit staatliche Zuschüsse Investitionen und Beschäftigung steigern
können, sind rar. Ein Grund dafür liegt in der Schwierigkeit, tatsächlich den
kausalen Effekt einer solchen Förderung festzumachen. Ein blosser Vergleich
der wirtschaftlichen Entwicklung von Unternehmen mit und ohne staatlicher
Förderung genügt jedenfalls nicht. Schließlich liegen die geförderten Unter-
nehmen oft in strukturschwachen Regionen, was das Unternehmenswachstum im
Vergleich zu anderen Regionen verzerren kann.
Chiara Criscuolo, Ralf Martin, Henry G. Overman und John Van Reenen
untersuchen die Wirkungen der Regional- und Industriepolitik auf den Arbeits-
markt in Großbritannien. Sie analysieren das Förderprogramm „Regional
Selective Assistance“, welches seit den 1980er Jahren besteht und Arbeits-
plätze vor allem in der Industrie und im produzierenden Gewerbe schaffen und
sichern soll. Unternehmen in strukturschwachen Regionen können Zuschüsse für
Investitionen von bis zu 35 % der Gesamtkosten beantragen.
Um den kausalen Effekt der Regionalförderung festzumachen, nutzt das
Forscherteam eine Reform aus dem Jahr 2000. Da regionale Förderprogramme
den Wettbewerb verzerren können, unterliegen sie den Vorschriften der
Europäischen Union. Die EU erlaubt wirtschaftliche Förderprogramme nur, wenn
sie tatsächlich zur Unterstützung strukturschwacher Regionen beitragen. Solche
Regionen sind in mehrere Kategorien eingeteilt, welche Investitionszuschüsse in
unterschiedlicher Höhe zulassen. Diese Einteilung wird regelmäßig angepasst,
so auch im Jahr 2000. Dies veränderte die Förderbarkeit der britischen Regionen
sowie die zulässige Höhe der Investitionszuschüsse, welche ein lokal ansässiges
Unternehmen beantragen kann.
Die Karte in Abb. 1 veranschaulicht diese Veränderungen. Vor 2000 waren
gut 3400 der 10.737 Regionen Großbritanniens förderberechtigt. Der maximale
Investitionszuschuss lag meist bei 20 % der Gesamtkosten und bei 30 % in
besonders strukturschwachen Regionen. Im Zuge der Neueinstufung im Jahr
2000 verloren über 1000 Regionen die Berechtigung zu Förderungen. Dagegen
wurden knapp 500 Regionen neu als strukturschwach und somit förderfähig ein-
gestuft. Das Volumen des Förderprogrammes betrug im Beobachtungszeitraum
jährlich etwa 164 Mio. Pfund.
Wie wirksam ist Regionalförderung? 197

Abb. 1   Maximale regionale Investitionszuschüsse vor und nach 2000 (links vorher,
rechts nachher). Bemerkung: NGE Net Grant Equivalent (zulässige Förderhöhe). (Quelle:
Ciscuolo et al. 2019, S. 3)

Die Wissenschaftler untersuchen im Zeitraum von 1997 bis 2004 die Ent-
wicklung der Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in den verschiedenen Regionen
sowie den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen. Die Studie findet öko-
nomisch relevante Verbesserungen der Arbeitsmarktsituation. Wenn Unter-
nehmen in einer Region einen um 10 Prozentpunkte höheren Investitionszuschuss
beantragen können, erhöht dies die Zahl der Industriearbeitsplätze durchschnitt-
lich um 10 %. Die Anzahl der Arbeitslosen in jener Region geht dadurch um rund
4,2 % zurück. Dieses Ergebnis gilt auch unter Berücksichtigung anderer wirt-
schaftspolitischer Massnahmen, welche im selben Zeitraum umgesetzt wurden.
Wäre das Förderprogram im Jahr 2000 ausgelaufen, hätte dies einen hypo-
thetischen Verlust von nahezu 156.000 Arbeitsplätzen in Großbritannien bedeutet.
198 C. Diebold

Steigt der maximale Investitionszuschuss für Industrieunternehmen um 10 Prozent-


punkte, nimmt die Beschäftigung in diesem Sektor um 10 Prozent zu.

Der Beschäftigungsanstieg durch das Förderprogramm kommt in erster Linie


durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze und nicht durch die Verlagerung aus
anderen Regionen oder Branchen zustande. Die Forscher finden keine Evidenz,
dass die Investitionszuschüsse mit signifikanten Arbeitsplatzverlusten in anderen
Regionen oder Branchen, welche nicht davon profitieren, verbunden sind.

Die positiven Beschäftigungseffekte der regionalen Förderprogramme gehen nicht


mit einer Verlagerung von Arbeitsplätzen aus anderen Regionen einher.

Die Industriepolitik begünstigt in erster Linie bestehende Unternehmen. Dort


entstehen die meisten der neuen Arbeitsplätze. Es sind vor allem kleine Unter-
nehmen mit weniger als 50 Mitarbeitern, die durch Zuschüsse neue Arbeitsplätze
schaffen. Große Unternehmen stellen hingegen im Durchschnitt keine zusätz-
lichen Mitarbeiter ein. Eine mögliche Ursache besteht darin, dass sie über mehr
Spielraum verfügen, solche Programme auszunutzen. Zum Beispiel können sie
leichter vorgeben, neue Arbeitsplätze zu schaffen, während sie an anderer Stelle
abbauen.

Vor allem in kleineren Unternehmen führen Investitionszuschüsse zu mehr Arbeits-


plätzen.

Innovation und hohe Produktivität stärken nachhaltig das Unternehmens-


wachstum. Die Schätzungen zeigen jedoch, dass staatliche Zuschüsse zwar die
Investitionen und die Beschäftigung der Unternehmen in strukturschwachen
Regionen erhöhen, jedoch ihre Produktivität nicht signifikant steigern können.

Zuschüsse führen zu einem Anstieg der Investitionen. Jedoch haben sie darüber
hinaus keinen Einfluss auf die Produktivität der geförderten Unternehmen.

Die positiven Beschäftigungseffekte der Regionalförderung sind daher nicht


von Dauer. Nach dem Wegfall von Förderungen, z. B. wenn eine Region die
Förderbarkeit verliert, verschwinden die positiven Beschäftigungseffekte wieder.
Die Einführung und Beendigung eines regionalen Förderprogramms löst in
etwa gleich grosse Beschäftigungseffekte aus. Dies weist darauf hin, dass die
Regionalförderung zwar zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen bei-
trägt. Darüber hinaus kann sie jedoch kaum eine nachhaltig positive, selbst
tragende Regionalentwicklung anstoßen.
Wie wirksam ist Regionalförderung? 199

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Schaden höhere Gewinnsteuern am
Ende den Arbeitnehmern?

Korbinian Wester

Relevanz
Wer eine Steuer an das Finanzamt überweisen muss, ist noch längst nicht
derjenige, der die Steuer wirtschaftlich tragen muss. Die Betroffenen
wehren sich, wo sie nur können, und überwälzen die Steuern gern auf
andere. Die Unternehmen müssen Gewinnsteuern zahlen, aber fordern
von den Arbeitenden ihren Teil ein, indem sie bei den Lohnerhöhungen
sparen. Es passiert auch umgekehrt. Wenn die Lohnsteuern steigen, fordern
die Arbeitenden höhere Löhne, um sich wenigstens einen Teil abgelten zu
lassen. Dann tragen die Unternehmen und ihre Eigentümer einen Teil der
Lohnsteuern mit. Wenn der Staat zugreift und es weniger vom gemeinsam
erwirtschafteten Einkommen zu verteilen gibt, müssen eben beide Seiten
verzichten. Auch Kunden und Lieferanten müssen oft mitzahlen, wenn die
Unternehmen neue Preise durchsetzen, um die Steuerlast weiterzureichen.
Wer in diesem Spiel wenig Verhandlungsmacht hat und sich wenig gegen
die Überwälzung wehren kann, bei dem bleibt ein besonders hoher Teil der
Steuerlast hängen.

Quelle
Fuest, C., A. Peichl und S. Siegloch (2018), Do Higher Corporate Taxes Reduce
Wages? Micro Evidence from Germany, American Economic Review 2018, 393–
418.

K. Wester (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 201


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_32
202 K. Wester

Wer trägt die Last einer Steuer? Auch wenn beispielsweise Unternehmen gesetzlich
verpflichtet sind, eine Steuer zu bezahlen, bedeutet dies nicht, dass sie wirtschaftlich
die Steuerlast selbst tragen. Sie können diese ganz oder teilweise auf andere über-
wälzen, z. B. auf die Konsumenten mittels höherer Preise oder auf ihre Mitarbeiter,
indem sie niedrigere Löhne zahlen. Gerade bei der Besteuerung von Unternehmen
gehen die Ansichten dazu auseinander. Umfragen ergeben typischerweise, dass die
meisten Menschen der Meinung sind, eine höhere Gewinnsteuer (Körperschafts-
steuer, Gewerbesteuer) treffe vor allem die Unternehmen. Die Unternehmensver-
treter argumentieren hingegen gerne, dass eine Steuererhöhung die Investitionen
senke und dadurch zu Lohneinbussen führe. Dann ginge die Steuer zulasten der
Arbeitnehmer. Die meisten Ökonomen sind sich einig, dass eine zusätzliche Steuer-
belastung tatsächlich zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern aufgeteilt wird.
Eine kürzlich erschienene Studie von Clemens Fuest, Andreas Peichl und
Sebastian Siegloch geht der Frage nach, wie die Last von Unternehmenssteuern
zwischen den Unternehmen (d. h., seinen Eigentümern und Kapitalgebern)
und den Arbeitnehmern aufgeteilt wird und ob letztere sinkende Löhne in Kauf
nehmen müssen. Dazu betrachten die Forscher die Gewerbesteuer in Deutschland.
Diese wird von Unternehmen direkt an die Gemeinde bezahlt und soll einen Bei-
trag zur Finanzierung der lokalen, von der Gemeinde bereitgestellten Infrastruktur
darstellen. Jede Gemeinde entscheidet selbst über den Steuersatz, genauer gesagt,
über den sogenannten Hebelsatz, welcher mit der vom Bund festgelegten Steuer-
messzahl in Höhe von momentan 3,5 % multipliziert wird. Legt der Gemeinderat
den Hebelsatz beispielsweise auf 4 fest, so liegt der Gewerbesteuersatz bei 14 %.
Die Forscher betonen zunächst, dass die Aufteilung der zusätzlichen Steuer-
last von vielen Faktoren abhängt, z. B. von unternehmensspezifischen Eigen-
schaften wie Grösse, Intensität der Gehaltsverhandlungen, Profitabilität, ob das
Unternehmen in ausländischem Besitz ist, und ob es in verschiedenen Gemeinden
tätig ist oder nicht. Zum anderen hängt die Aufteilung aber auch von den Eigen-
schaften der Arbeitnehmer ab. Dabei spielen vor allem Fähigkeiten, Geschlecht
und Alter eine Rolle. Solche Eigenschaften können die Auswirkungen der
Gewerbesteuer auf die Löhne verstärken oder verringern und damit Einfluss
haben, welchen Anteil der Steuerlast die Arbeitenden tragen müssen.
Für die unternehmensspezifischen Eigenschaften gilt grundsätzlich: Je stärker
ein Unternehmen Gewinne an andere Orte verschieben und dadurch Gewerbe-
steuer sparen kann, und je grösser die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite
ist, desto schwächer wirkt sich eine höhere Gewerbesteuer auf die Löhne aus.
Bei den Eigenschaften der Arbeitnehmer stellt man fest, dass vor allem jene mit
niedrigeren Einkommen Lohneinbussen in Kauf nehmen müssen. Dies steht im
Gegensatz zur vorherrschenden Meinung, dass Unternehmenssteuern progressiv
wirken und somit vor allem höhere Einkommen mit einem hohen Anteil von
Schaden höhere Gewinnsteuern am Ende den Arbeitnehmern? 203

Kapitaleinkommen treffen. Die Überwälzung auf die Arbeitnehmer schwächt die


progressive Wirkung des Unternehmenssteuersystems signifikant ab.
Um festzustellen, wie Veränderungen des Gewerbesteuersatzes die Löhne
beeinflussen, verwenden die Wissenschaftler Daten von 1993 bis 2012 aus ins-
gesamt 3522 Gemeinden, für welche Lohndaten verfügbar sind. Sie untersuchen
rund 6800 Änderungen des Gewerbesteuersatzes. Der durchschnittliche Gewerbe-
steuersatz betrug 18,7 %. Eine typische Erhöhung machte rund 0,9 Prozentpunkte
aus, lediglich ein Viertel war grösser als 1,1 Prozentpunkte.

Bei einer Erhöhung der Gewerbesteuer tragen die Arbeitnehmer 51 Prozent der
zusätzlichen Steuerlast.

Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass bei einer Anhebung der Gewerbe-
steuer die Arbeitnehmer im Schnitt 51 % der zusätzlichen Steuerlast tragen
müssen. Ein Unternehmen, welches 100 € mehr Gewerbesteuer zahlen muss,
senkt also seine Lohnausgaben um durchschnittlich 51 €. Wirtschaftlich gesehen
belastet eine Gewerbesteuererhöhung die Arbeitnehmer ähnlich stark wie die
Unternehmen und ihre Eigentümer. Die empirische Evidenz weist also auf eine
erhebliche Steuerüberwälzung hin. Abb. 1 illustriert, wie der mittlere Reallohn
auf eine Erhöhung bzw. Senkung der Gewerbesteuer reagiert.

Abb. 1   Reallöhne und Änderungen der Gewerbesteuer. (Quelle: Fuest u. a. 2018, S. 405)
204 K. Wester

Die Schätzungen zeigen, dass die Überwälzung je nach Unternehmenstyp


stark unterschiedlich ausfällt. Demnach müssen Mitarbeiter von kleinen Unter-
nehmen mit weniger als 10 Beschäftigen Lohneinbussen von 124 € in Kauf
nehmen, wenn die Gewerbesteuerbelastung um 100 € steigt. Der Lohnrückgang
übersteigt sogar den zusätzlichen Steuerbetrag. Ganz anders fallen die Ergebnisse
für grössere Unternehmen aus. Jene mit 10 bis 99 Mitarbeitern überwälzen nur
noch 31 € auf die Arbeitnehmer. Bei noch grösseren Unternehmen wirkt sich eine
Gewerbesteuererhöhung überhaupt nicht mehr signifikant auf die Löhne aus. Die
Erhöhung der Gewerbesteuer in einer einzelnen Gemeinde beeinflusst die Kosten-
struktur eines grossen Unternehmens mit verschiedenen Standorten typischer-
weise nur wenig. Deshalb reagiert es meist kaum darauf. Investitionen und Löhne
bleiben weitgehend unverändert.

Hat ein Unternehmen weniger als 10 Mitarbeiter, werden 124 Prozent einer


Gewerbesteuererhöhung auf die Arbeitnehmer überwälzt. Bei 10-99 Mitarbeitern
sind es nur noch 31 Prozent. Bei größeren Unternehmen gibt es keine signifikante
Überwälzung.

Auch die Art und Weise, wie die Tarifverhandlungen organisiert sind, beeinflusst
die Überwälzung. Finden sie dezentral in jedem Unternehmen separat statt, so
tragen die Arbeitnehmer 73 % der zusätzlichen Steuerlast. Bei Verhandlungen
für eine ganze Branche sind es nur noch 42 %. In diesem Fall schwächt sich
der Effekt ab, da die Erhöhung in einer Gemeinde nur einzelne Unternehmen
der gesamten Branche betrifft, nämlich nur jene mit einem Standort in dieser
Gemeinde. Gibt es nur zentrale, gemeinsame Tarifverhandlungen für alle Arbeit-
nehmer und Branchen zusammen, dann werden nur 29 % der Steuer überwälzt.
Auch die Profitabilität des Unternehmens spielt eine wichtige Rolle. Während
sehr profitable Unternehmen 57 % an die Arbeitnehmer weitergeben, hat eine
Steuererhöhung bei sehr wenig profitablen Unternehmen keine Auswirkung auf
die Löhne. Ähnliches zeigt der Vergleich der Eigentümerstruktur. Arbeitnehmer,
die für ein Unternehmen in deutschem Besitz tätig sind, müssen im Schnitt 45 %
der Erhöhung tragen. Bei Unternehmen in ausländischem Besitz kommt es zu
keinen signifikanten Lohnrückgängen.
Aber auch innerhalb desselben Unternehmens sind die Mitarbeiter in unter-
schiedlichem Umfang von der Überwälzung betroffen. Grosse Unterschiede stellt
man zum Beispiel fest, wenn man die Angestellten nach ihren Qualifikationen
unterscheidet. Bei hochqualifizierten Mitarbeitern beeinflusst die Gewerbesteuer
den Lohn kaum. Jedoch sinkt der Lohn von geringer qualifizierten Arbeitnehmern
um 38 €, wenn ein Unternehmen um 100 mehr Steuer bezahlen muss. Auch
Schaden höhere Gewinnsteuern am Ende den Arbeitnehmern? 205

zwischen den Geschlechtern gibt es deutliche Unterschiede: Während Frauen


auf 53 € Gehalt verzichten müssen, sind es bei Männern nur 33 €. Ebenfalls
entscheidend ist das Alter. Die Lohnzahlungen an junge Angestellte sinken im
Schnitt um 51 €, während ältere Mitarbeiter lediglich auf 33 € verzichten müssen.

Angestellte mit hohen Qualifikationen müssen bei einer Gewerbesteuererhöhung


kaum Lohneinbussen befürchten, während schlecht ausgebildete Arbeitnehmer
38 Prozent der zusätzlichen Steuerlast tragen.

Die Studie zeigt, dass bei weitem nicht nur die Unternehmen eine Gewerbe-
steuererhöhung tragen müssen. Sie können die Steuerlast teilweise auf die
Arbeitnehmer überwälzen. Die Steuerlast wird zwischen Unternehmen und
Arbeitnehmern aufgeteilt. Eine höhere Gewerbesteuer ist also kein Mittel,
das lediglich auf Kosten der Unternehmen und ihrer Kapitalgeber Geld in die
öffentlichen Haushalte spült, sondern sie belastet auch Arbeitnehmer. Das Aus-
mass hängt stark von den Eigenschaften der betroffenen Unternehmen und Mit-
arbeiter ab. Gerade die gering qualifizierten Arbeitnehmer in kleinen Betrieben
leiden besonders stark unter der Überwälzung der Gewerbesteuer.

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Wirtschaftlicher Wandel und
gesellschaftliche Teilhabe: Soziale
Sicherheit und Gesundheit
Macht die Pensionierung gesund oder
krank?

Sabrina Stadelmann

Relevanz
Viele Länder Europas reformieren ihre Rentensysteme. Eines der Haupt-
ziele ist die Erhöhung des Rentenalters, um die finanzielle Stabilität der
Rentensysteme angesichts steigender Lebenserwartung zu sichern. So
wollen z. B. Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien und die Nieder-
lande das Rentenalter schrittweise von 65 auf 67 Jahre anheben. Was sind
die zu erwartenden Folgen einer Pensionierung für die Gesundheit? Wenn
die Pensionierung tatsächlich Auswirkungen auf den Gesundheitszustand
hat, sind weitere Folgen für die Kosten im Gesundheitswesen zu erwarten.

Quelle
Norma B. Coe und Gema Zamarro (2011), Retirement effects on health in
Europe, Journal of Health Economics 30, 77–86.

Die schwierige finanzielle Zukunft der Schweizer Altersvorsorge ist spätestens


seit der Abstimmung zur Rentenreform 2020 bekannt. Die steigende Lebens-
erwartung zusammen mit tiefen Zinserträgen auf das Alterskapital lassen die
Defizite wachsen. Mit der Ablehnung der Rentenform 2020 am 24. September
2017 dürfte die Diskussion, ob das Rentenalter in der Schweiz angehoben
werden muss, noch akuter werden. Kaum thematisiert sind dabei die Folgen der
Pensionierung für das Gesundheitswesen: Macht die Pensionierung die Menschen
gesünder oder kränker? Diese Frage untersuchen Norma B. Coe vom Boston

S. Stadelmann (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 209


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_33
210 S. Stadelmann

College und Gema Zamarro der RAND Corporation mit Querschnittsdaten aus
dem Jahr 2004 für elf europäische Länder.
Die Pensionierung ist ein bedeutender Einschnitt im Erwachsenenleben.
Während die einen sich auf das Ende von beruflichem Stress und körperlicher
Belastung freuen und die neue Freiheit positiv erleben, fällt anderen die Neu-
orientierung ohne vorgegebene Tagesstruktur und Einbindung in die aktive
Arbeitswelt schwer. In der bisherigen Forschung sind die Auswirkungen der
Pensionierung auf die Gesundheit noch nicht verlässlich geklärt. Es liegen Ergeb-
nisse mit positiven und negativen Auswirkungen vor. Coe und Zamarro (2011)
untersuchen daher erneut, wie sich die Pensionierung auf die subjektive und
objektive Gesundheit von Europäern auswirkt. Hierfür werten die Wissenschaftler
Umfrage-Daten aus dem Jahr 2004 aus und schätzen durchschnittliche Effekte
für die folgenden elf europäischen Länder: Belgien, Dänemark, Deutschland,
Frankreich, Griechenland, Holland, Italien, Österreich, Schweden, Schweiz und
Spanien.
Um Rückschlüsse auf die Gesundheitsfolgen der Pensionierung zu ziehen,
reicht es nicht, einfach den Gesundheitszustand der Pensionierten mit jenem
der noch aktiven Personen zu vergleichen. Auf der einen Seite kann die
Pensionierung die Gesundheit beeinflussen. Umgekehrt dürfte aber die Wahl des
Pensionierungszeitpunkts stark vom Gesundheitszustand abhängen. A priori ist
die Richtung dieses Zusammenhangs, also was Ursache und was Wirkung ist,
keinesfalls eindeutig. Eine Person mit schlechter Gesundheit lässt sich vermut-
lich aufgrund der grösseren Belastung durch die Arbeit eher früher pensionieren.
Andererseits setzt eine Frühpensionierung einen gewissen Wohlstand voraus.
Da ein höherer Wohlstand im Durchschnitt mit einer besseren Gesundheit ein-
hergeht, könnten sich gerade die gesünderen Menschen eher frühpensionieren
lassen. Coe und Zamarro (2011) lösen das Problem der beidseitigen Wechsel-
beziehung zwischen dem Pensionierungszeitpunkt und der Gesundheit, indem
sie den Gesundheitszustand nur von jenen Personen vergleichen, welche leicht
jünger bzw. leicht älter als das gesetzlich vorgegebene Rentenalter sind. Das
gesetzliche Rentenalter wird für das ganze Land bestimmt und kann daher weder
vom individuellen Gesundheitszustand noch von der persönlichen Ruhestands-
entscheidung beeinflusst werden. Auf diesem Weg können sie den tatsächlichen
kausalen Effekt der Pensionierung auf die Gesundheit isolieren.

Viele Schweizer arbeiten deutlich länger, als das Gesetz ihnen vorschreibt: lediglich
73 Prozent der Schweizer lassen sich zum Zeitpunkt des offiziellen Rentenalters von
65 Jahren pensionieren.
Macht die Pensionierung gesund oder krank? 211

Personen in der Nähe des offiziellen Rentenalters zu vergleichen macht


allerdings nur dann Sinn, wenn das gesetzlich vorgegebene Rentenalter die
Personen auch dazu veranlasst, wirklich in Pension zu gehen. Die Mehrheit aller
Personen richtet ihren Pensionierungszeitpunkt tatsächlich nach dem gesetz-
lichen Pensionsalter aus. In den meisten Ländern lassen sich mehr als 90 %
der Bevölkerung spätestens zum gesetzlich vorgegebenen Alter pensionieren.
Das gesetzliche Rentenalter liefert daher eine relativ genaue Vorhersage für
das Pensionierungsverhalten. Nur die Schweizer scheinen gerne deutlich
länger arbeiten zu wollen, als das Gesetz ihnen vorschreibt: lediglich 73 % der
Schweizer, die das vorgeschriebene Rentenalter von 65 Jahren überschritten
haben, sind pensioniert.
In ihrer Analyse kommen die Wissenschaftler zu dem zentralen Ergebnis, dass
die Pensionierung zu einer Steigerung der Gesundheit führt. Die Wahrschein-
lichkeit, eine unterdurchschnittliche, d. h., eine nur durchschnittliche, schlechte
oder sehr schlechte Gesundheit zu melden, reduziert sich nach der Pensionierung
um 35 %. Die Wissenschaftler messen die Gesundheit jedoch nicht nur nach
der befragten Selbsteinschätzung, sondern auch mit einem Gesundheitsindex,
der objektive Gesundheitskennzahlen wie z. B. Übergewichtigkeit (Body Mass
Index, BMI) oder Griffstärke einer Person beinhaltet. Die Pensionierung führt
auch zu einer signifikanten Verbesserung des Gesundheitsindexes. Allerdings
werden die Gesundheitsfolgen nur zum Zeitpunkt der Pensionierung gemessen.
Eine Pensionierung kann die Gesundheit aber nicht nur in der kurzen Frist,
sondern auch über längere Zeit hinweg beeinflussen. In diesem Fall unterschätzt
der gemessene Effekt die tatsächlichen langfristigen Gesundheitsfolgen einer
Pensionierung.

Die Wahrscheinlichkeit, eine nur durchschnittliche, schlechte oder sehr schlechte


Gesundheit zu melden, reduziert sich nach der Pensionierung um 35 Prozent.

Abb. 1 veranschaulicht den positiven Effekt der Pensionierung auf die Gesund-
heitswahrnehmung, in dem sie das Alter der untersuchten Personen deren Selbst-
einschätzung zur Gesundheit gegenüberstellt. Die durchgezogene Linie betrifft
Dänemark, welches kein gesetzliches Frühpensionierungsalter kennt. Die anderen
Länder sind nach ihrem gesetzlichen Frühpensionierungsalter (zum Zeitpunkt der
Untersuchung) gruppiert. In Schweden beispielsweise liegt diese Altersschwelle
212 S. Stadelmann

Abb. 1   Selbsteinschätzung von schlechter Gesundheit bei Erreichen des Früh-


pensionierungsalters. (Quelle: Coe und Zamarro 2011, S. 85)

bei 61 Jahren, während das normale Pensionierungsalter 65 Jahre beträgt. Mit


Überschreiten des Frühpensionierungsalters geht der Anteil schlechter Gesund-
heitsangaben gegenüber dem Vorjahr markant zurück. Diese Beobachtung
trifft zum Beispiel auch für die Italiener und Griechen zu, die sich bereits mit
57 Jahren vorzeitig pensionieren lassen können. Mit Erreichen dieser Alters-
grenze sind die schlechten Gesundheitsangaben deutlich geringer als im Jahr
zuvor. In Deutschland liegt das Frühpensionierungsalter bei 63, und auch dort
ist die Gesundheitswahrnehmung plötzlich signifikant besser als vorher. Mit
Erreichen der Altersschwelle für eine mögliche Frühpensionierung ist also eine
deutliche Verbesserung der Gesundheitswahrnehmung erkennbar.
Die Wissenschaftler schlagen in ihrer Untersuchung eine Wohlfahrtsanalyse
vor, welche die verschiedenen Kosten und Nutzen einer späteren oder vorzeitigen
Pensionierung gegenüberstellen sollten. Der Nutzen liegt vorwiegend bei den
Individuen, die sich nach einer Frühpensionierung merklich gesünder fühlen. Die
Kosten fallen eindeutig im Pensionssystem an, weil die vorzeitig Pensionierten
Macht die Pensionierung gesund oder krank? 213

Leistungen beziehen und keine Beiträge mehr entrichten, obwohl sie nach ihrem
Gesundheitszustand hätten länger arbeiten können. Das Ergebnis von Coe und
Zamarro (2011) legt jedoch nahe, dass Einsparungen im Gesundheitswesen mög-
lich sein könnten, wenn sich nach der Pensionierung der Gesundheitszustand tat-
sächlich verbessert. Solche Auswirkungen auf die Kosten im Gesundheitswesen
werden jedoch von Coe und Zamarro (2011) nicht untersucht. Auch ist nicht
klar, warum die Verbesserung des Gesundheitszustands eintritt. Es könnte sein,
dass nach der Pensionierung mehr Zeit für gesundheitsfördernde Aktivitäten
bleibt, wie z. B. Sport, gesellschaftliche Aktivitäten, bis hin zu einer bewussten
gesundheitsorientierten Ernährung. Auch mehr Schlaf und die Entlastung von
beruflichem Stress könnten der Gesundheit förderlich sein. Gegenteilige Effekte
wie z. B. Sinnentleerung, Verlust an Kontakten und Passivität sind jedoch auch
denkbar. Es bedarf weiterer Forschung, um die Beziehungen zwischen Arbeits-
marktaktivität, Gesundheitszustand und daraus entstehenden Folgen für die
Gesundheitsausgaben zu quantifizieren.

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Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
willigung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Fördert ein Selbstbehalt Sparsamkeit
in der Krankenversicherung?

Patrick Hasch

Relevanz
Zugang zu Gesundheitsleistungen stellt einen bedeutenden Schutz
vor Wohlstandsverlusten durch schwere Krankheit dar. Die Kranken-
versicherung bietet Schutz. Aber wenn die Versicherung alle
Behandlungskosten übernimmt, fehlt der Sparanreiz und es droht eine
Überbeanspruchung des Gesundheitswesens. Auch ausufernde Gesund-
heitskosten können unseren Wohlstand beeinträchtigen. Eine Möglichkeit,
den Anstieg der Prämien für die Krankenversicherung zu zähmen, ist der
Selbstbehalt. Wenn die Versicherten einen Teil der Behandlungskosten
selber zahlen müssen, gehen sie vielleicht sparsamer mit den Leistungen
des Gesundheitswesens um. Kann ein Selbstbehalt mehr Sparsamkeit in der
Krankenversicherung fördern?

Quelle
Aviva Aron-Dine, Liran Einav, Amy Finkelstein, Mark Cullen (2015), Moral
Hazard in Health Insurance: Do Dynamic Incentives Matter? Review of
Economics and Statistics 97, 725–741.

Versicherungen bieten Schutz. Der Schutz vor exorbitant hohen Kosten von
Krankheiten ist besonders wichtig. In den meisten Staaten wird die Krankenver-
sicherung gesetzlich geregelt. Wenn jedoch die Versicherung zahlt, nehmen die
Versicherten gerne grosszügig Leistungen in Anspruch, sodass die Kosten steigen.

P. Hasch (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 215


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_34
216 P. Hasch

Ein solches «moralisches Risiko» ist für alle Versicherungen typisch. Wie ist es
möglich, Sicherheit und Schutz zu bieten und dennoch die Kosten im Griff zu
behalten? Eine Möglichkeit ist der Selbstbehalt. Indem die Versicherten einen Teil
der Kosten selbst zahlen und damit einen Preis entrichten müssen, entscheiden sie
sorgfältiger, wie oft und wieviel sie Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen
wollen. Das hält die Kosten im Zaum, so die Überlegung.
Wie stark können Preise für Gesundheitsleistungen tatsächlich das Verhalten
der Versicherten und damit die Inanspruchnahme von Leistungen beeinflussen?
Ein Forscherteam um Liran Einav und Amy Finkelstein untersucht diese Frage
anhand der Krankenversicherung in den USA, welche oft durch den Arbeit-
geber angeboten wird. Die Versicherten zahlen eine feste monatliche Prämie und
eventuell einen Selbstbehalt, wodurch sie einen Teil der anfallenden Kosten selbst
tragen. Allerdings ist der Selbstbehalt meist bis zu einem jährlichen Maximum
begrenzt. Nach Erreichen dieser Selbstbehaltsgrenze übernimmt die Versicherung
alle weiteren Kosten, sodass die Versicherten weitere Leistungen gratis erhalten.
Dies bietet Schutz vor besonders hohen Kosten schwerwiegender Krankheiten.
Bei einer Neuanstellung kann ein Versicherungswechsel im laufenden Jahr
stattfinden. Wenn jemand später im Jahr, z. B. am ersten Oktober, eine neue
Stelle antritt, wird der maximale Selbstbehalt nicht angepasst und gilt für die
restlichen drei Monate. Er muss dann bis zur Höhe des Selbstbehalts alles
selbst zahlen und hat eine geringere Chance, dass die Versicherung die über-
steigenden Kosten übernimmt. Das macht den Arztbesuch teuer. Jemand, der ab
Jahresbeginn beim selben Arbeitgeber versichert ist, hat eine grössere Chance,
die Selbstbehaltsgrenze zu erreichen und die Versicherung für darüber hinaus
gehende Leistungen zahlen zu lassen als jemand, der gegen Jahresende Stelle und
Versicherung wechselt. Die monatlichen Prämien sind zwar für alle gleich, aber
der effektive Preis für Gesundheitsleistungen hängt wegen des fixen Selbstbehalts
vom Beitrittsmonat ab. Jemand, der ab Jahresbeginn durchgehend beim gleichen
Arbeitgeber versichert ist, hat einen geringeren Preis als jemand, der gegen
Jahresende wechselt. Die Autoren nutzen diese Variation, um die Auswirkung des
Selbstbehalts und damit des effektiven Preises für Gesundheitsleistungen auf das
Nutzungsverhalten zu untersuchen.

Der Beitrittsmonat entscheidet, wie schnell die Selbstbehaltsgrenze erreicht wird.


Ein Versicherungsabschluss im Januar ist günstiger als im Dezember. Ein späterer
Beitrittsmonat verteuert den persönlichen Preis für Gesundheitsleistungen.

Welche Folgen haben die Preisunterschiede? Konkret zeigen die Forscher, dass
bei einem frühen Eintritt in die Versicherung der Anreiz grösser ist, Leistungen
Fördert ein Selbstbehalt Sparsamkeit in der Krankenversicherung? 217

in Anspruch zu nehmen, weil der effektive Preis niedriger ist. Bei einem späten
Eintritt ist jedoch typischerweise ein höherer Teil der Leistungen selbst zu
finanzieren und damit ein höherer Preis zu bezahlen, sodass der Anreiz zum
Leistungsbezug sinkt. In diesem Fall würde der Eintritt im Januar dazu führen,
dass der Versicherte häufiger Behandlungen nachfragt, die vielleicht nicht not-
wendig sind. Bei Eintritt im Dezember müssten solche Behandlungen meist selbst
bezahlt werden, da die Selbstbehaltsgrenze noch nicht erreicht wäre.
Um das Verhalten der Versicherten zu analysieren, verwenden die Autoren
einen Datensatz von drei US-amerikanischen Unternehmen (1999–2007). Diese
Unternehmen haben zwischen 45.000 und 60.000 Mitarbeiter, welche sie ver-
sichern. Sie bieten zwei Vertragstypen an, nämlich jeweils einen Tarif mit und
ohne Selbstbehalt. Der maximale Selbstbehalt beträgt 150 bis 300 Dollar für
Einzelpersonen bzw. 300 bis 750 Dollar für Familien pro Jahr. Er ist unabhängig
davon, zu welchem Zeitpunkt die Versicherung abgeschlossen wurde. Dadurch
ergeben sich erhebliche Unterschiede im tatsächlichen Preis von bis zu 30 Pro-
zentpunkten oder rund 37 %: Ein Versicherter, der zwischen Februar und April
beitritt, zahlt am Jahresende im Durchschnitt gut 50 Cent pro Dollar zusätzlich
anfallender Gesundheitskosten selbst. Bei Vertragsabschluss zwischen August
und Oktober sind dies hingegen rund 80 Cent.

Bei einem Eintritt im Februar ist der effektive Preis von Gesundheitsleistungen
wegen des fixen Selbstbehalts in der Krankenversicherung um durchschnittlich rund
37 Prozent niedriger als bei einem Eintritt im Oktober.

58 % der Versicherten nehmen innerhalb der ersten drei Monate Leistungen
ihrer Versicherung in Anspruch. Die durchschnittlichen Kosten liegen bei 600
Dollar. Sowohl die Wahrscheinlichkeit, dass Leistungen in Anspruch genommen
werden, als auch die Kosten unterscheiden sich je nach Tarif und Beitrittsmonat.
Bei Tarifen mit Selbstbehalt ist ein früherer Beitrittsmonat mit einer höheren
Nutzungswahrscheinlichkeit und grösseren Gesamtkosten verbunden. Bei Tarifen
ohne Selbstbehalt werden generell mehr Leistungen bezogen, und es besteht auch
keine systematische Beziehung zwischen der Nutzung und dem Beitrittsmonat.
Ohne Selbstbehalt bezahlen die Versicherten immer die gleiche Prämie, während
die Nutzung von Gesundheitsleistungen kostenlos ist.
Um zu schätzen, wie sich der Beitrittsmonat auf den Leistungsbezug aus-
wirkt, vergleichen die Forscher Versicherte mit und ohne Selbstbehalte in dem-
selben Unternehmen. Dieser Ansatz ermöglicht es ihnen, verzerrende Faktoren
zu berücksichtigen, welche die Inanspruchnahme der Versicherung unabhängig
218 P. Hasch

vom Preis beeinflussen und gehäuft in einzelnen Monaten auftreten (z. B.


Erkältungswelle im Februar). Die empirischen Ergebnisse deuten darauf hin, dass
moralisches Risiko zur Übernutzung beiträgt. Ein späterer Beitrittsmonat ver-
ringert die Nutzungswahrscheinlichkeit sowie die Gesundheitskosten signifikant.
Wenn der Vertrag einen Monat später abgeschlossen wird, sinkt die Wahrschein-
lichkeit für einen Leistungsbezug in den ersten drei Monaten um 0,4 bis 1 Pro-
zentpunkte.

Ein späterer Eintritt in die Krankenversicherung verringert den Leistungsbezug bei


Selbstbehaltstarifen. Zudem sinken die Gesundheitskosten pro Monat zwischen 2
und 8 Prozent.

Zudem schätzen die Autoren den direkten Effekt einer Preiserhöhung auf die
Inanspruchnahme von Leistungen. Muss ein Versicherter am Jahresende um 10
Cent pro Dollar mehr von den zusätzlichen Gesundheitskosten selbst bezahlen,
sinkt die Wahrscheinlichkeit um 1,3 Prozentpunkte oder 2,2 %, dass während der
ersten drei Monate Leistungen bezogen werden. Die Gesundheitskosten fallen
im selben Zeitraum um 7,8 %. Ein höherer Selbstbehalt führt zu einem leichten
Rückgang der Nutzungswahrscheinlichkeit. Kommt es jedoch zu einer Inan-
spruchnahme der Versicherung, dann sind die Versicherten sparsamer im Umfang
der bezogenen Leistungen, sodass die Kosten deutlich sinken.

Steigt der Preis um 10 Cent pro Dollar der anfallenden Gesundheitskosten, gehen
die Nutzungswahrscheinlichkeit um 2.2 und die Kosten um 7.8 Prozent zurück.

Die Studie stützt sich auf die detaillierten Krankenversicherungsdaten dreier


Unternehmen. Um ihre Ergebnisse zu verallgemeinern, untersuchen die Forscher
auch die staatlich gestützte Krankenversicherung Medicare. Diese bietet Ver-
sicherungsleistungen für die Senioren an. Ihre Tarife und Selbstbehalte sind
ähnlich wie bei den drei vorherigen Beispielen. Anstatt des Eintrittsdatums
der Beschäftigten in die betriebliche Krankenversicherung ist im Medicare –
Programm jedoch das Datum des 65. Geburtstags ausschlaggebend. Dadurch
beeinflusst der Geburtstagsmonat den Preis der Versicherung im laufenden Jahr.
Für jene mit Geburtstagen am Jahresende erhöht sich bei einer Versicherung mit
Selbstbehalt der tatsächliche Preis von Gesundheitsleistungen.
Auch bei Medicare zeigen sich ähnliche Zusammenhänge, wie Abb. 1 zeigt.
Der tatsächliche Preis für Gesundheitsleistungen bei einer Versicherung mit
Selbstbehalt (obere Linie) steigt bei späterem Beitritt im Jahresverlauf, während
ohne Selbstbehalt der Preis eher abnimmt (untere Linie). Die dunklen Säulen
Fördert ein Selbstbehalt Sparsamkeit in der Krankenversicherung? 219

Abb. 1   Preisstrukturen bei Medicare. (Quelle: Finkelstein et al. (2015), Abb. 2)

zeigen bei Tarifen mit Selbstbehalt eine im Jahresverlauf abnehmende Wahr-


scheinlichkeit, Leistungen zu beziehen. Bei Tarifen ohne Selbstbehalt (helle
Säulen) hängt diese kaum vom Beitrittsmonat ab.
Welche Schlüsse lassen sich aus der Studie ziehen? Zunächst scheinen die
Versicherten im Durchschnitt die Effekte eines Selbstbehalts zu verstehen und
vorausschauend zu berücksichtigen. Die Inanspruchnahme der Krankenver-
sicherung hängt nicht nur vom Gesundheitszustand und auftretenden Krankheiten
ab, sondern auch vom Selbstbehalt. Die Versicherten wägen ab, ob bzw. wann
eine Behandlung notwendig ist. Sinkt der Selbstbehalt oder fehlt er gänzlich,
werden mehr Leistungen genutzt und die Kosten steigen. Da der Versicherte einen
Teil der anfallenden Kosten selbst trägt, reduzieren Selbstbehalte das Moralische
Risiko einer Übernutzung.
220 P. Hasch

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Senkt ein hoher Selbstbehalt die
Gesundheitskosten?

Immanuel Lampe

Relevanz
Die Gesundheitskosten in der Schweiz und damit auch die Prämien für
Krankenversicherungen steigen jährlich an. In der politischen Debatte
werden hohe Franchisen bisweilen als Allheilmittel betrachtet, um
die Versicherten zu mehr Kostenbewusstsein anzustossen. Dabei wird
immer wieder auf Evidenz zurückgegriffen, welche zeigt, dass eine
höhere Franchise tatsächlich die Gesundheitskosten senkt. Aber was
wäre gewonnen, wenn die Einsparungen auf Kosten der Qualität der
Gesundheitsversorgung geht? Eine neue Forschungsarbeit zeigt, dass die
Kosten insbesondere deshalb sinken, weil Versicherte auf durchaus sinn-
volle Leistungen verzichten, während sich die Preise für die in Anspruch
genommenen Leistungen kaum ändern.

Quelle
Brot-Goldberg, Zarek C., Amitabh Chandra, Benjamin R. Handel und Jonathan
T. Kolstad (2017), What does a Deductible Do? The Impact of Cost-Sharing on
Health Care Prices, Quantities, and Spending Dynamics, Quarterly Journal of
Economics 132(3), 1261–1318.

Die Ausgaben für die medizinische Versorgung steigen weltweit rasant an. Bei-
spielsweise betrugen 1995 die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Ein-
wohner der USA $320 im Monat. Bis 2015, innerhalb von lediglich 20 Jahren, ist

I. Lampe (*) 
Universität St.Gallen, St.Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en) 2021 221


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_35
222 I. Lampe

dieser Wert auf mehr als das Doppelte ($780) angewachsen. Diese Entwicklung ist
in anderen hoch entwickelten Ländern, beispielsweise Österreich, der Schweiz oder
Deutschland, ähnlich. Wachsen die Ausgaben in den nächsten Jahren weiterhin mit
derselben Geschwindigkeit, ist das Gesundheitssystem nur schwer finanzierbar.

Die Gesundheitsausgaben sind in den letzten Jahren explodiert. Im Jahr 2014


betrugen die Kosten für medizinische Versorgung der USA 17 Prozent des BIP.

Die politischen Entscheidungsträger befinden sich in einer Zwickmühle. Auf der


einen Seite müssen die Gesundheitsausgaben reduziert werden. Auf der anderen
Seite sollte dies nicht die Qualität der medizinischen Versorgung mindern. Das
Ziel kann natürlich nicht in der Reduzierung aller medizinischen Behandlungen
liegen. Stattdessen sollen der Bevölkerung die Gesundheitskosten stärker bewusst
gemacht werden. Ein möglicher Lösungsansatz in der Krankenversicherung ist
die verstärkte Verwendung von Franchisen, einer Selbstbeteiligung. Auf diese
Weise müssen Versicherte bis zu einer jährlichen Höchstgrenze selbst für alle
anfallenden Gesundheitskosten aufkommen. Daten aus den USA zeigen, dass
dieses Instrument immer häufiger eingesetzt wird. 2009 hatte nur ca. jeder fünfte
Versicherte eine jährliche Franchise von mehr als $1000. 2014 traf dies bereits
auf nahezu jeden zweiten Arbeiternehmer zu.
Ist eine hohe Franchise zielführend? Werden die Versicherten kostengünstigere
Ärzte aufsuchen oder nur auf nicht notwendige medizinische Behandlungen ver-
zichten, sodass die Qualität der medizinischen Versorgung unverändert bleibt?
Diesen Fragen geht ein Forscherteam um Amitabh Chandra von der Universität
Harvard nach. Mehrfach wurde schon nachgewiesen, dass nach Einführung einer
Franchise die Gesundheitsausgaben sinken. Allerdings konnte noch kein Forscher
die genaue Wirkungskette von Franchisen und ihre Folgen für die Nachfrage nach
medizinischen Leistungen festmachen.
Um die Auswirkung der Einführung einer hohen Franchise nachzuverfolgen,
verwenden die Wissenschaftler Daten eines grossen Arbeitgebers in den USA.
Wie in den Vereinigten Staaten üblich waren die Mitarbeiter über ihren Arbeit-
geber krankenversichert. Das Unternehmen beschäftigte zum Zeitpunkt der Aus-
wertung mehrere 10.000 Mitarbeiter. Die Arbeitnehmer erzielten ausserordentlich
hohe Einkommen. Lediglich 8 % verdienten weniger als $100.000 pro Jahr.
Zuerst sah die Krankenversicherung keine Franchise vor. Aufgrund steigender
Gesundheitskosten entschloss sich das Unternehmen allerdings, eine Franchise
in Höhe von $3000 bis $4000 einzuführen. Die Mitarbeiter wurden drei Jahre
vor der tatsächlichen Umsetzung darüber informiert. Das Forschungsteam nutzte
diese Anpassung, um zu untersuchen, wie die Versicherten auf die Einführung
Senkt ein hoher Selbstbehalt die Gesundheitskosten? 223

einer vergleichsweise hohen Selbstbeteiligung reagieren. Der Datensatz umfasst


Angaben zu Kosten und Diagnose jedes einzelnen Arztbesuches im Zeitraum von
vier Jahren vor und zwei Jahren nach Einführung der Franchise.
In den vier Jahren vor Einführung der Franchise stiegen die durchschnittlichen
jährlichen Gesundheitsausgaben pro Mitarbeiter von ca. $4000 auf $5200. Im
Jahr der Änderung sanken diese Ausgaben abrupt auf rund $4400. Bei einem Ver-
gleich dieser Werte muss man allerdings Inflation und Alterung der Mitarbeiter
während des sechsjährigen Beobachtungszeitraums berücksichtigen. Beides
erhöht die Gesundheitskosten. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren schätzen
die Wissenschaftler einen Anstieg der durchschnittlichen Gesundheitskosten
in den vier Jahren vor der Einführung der Franchise um ca. 8 %. Die Franchise
verringerte jene Kosten im Durchschnitt um 18 %. Abb. 1 illustriert diese Ent-
wicklung anhand der monatlichen Gesundheitskosten. Auf der horizontalen
Achse bezeichnen t−4 bis t−1 die Jahre vor sowie t0 und t1 die Jahre während bzw.
nach der Anpassung. Die dunkelblaue untere Linie zeigt den Kostenverlauf unter
Berücksichtigung von Inflation und Alterung. Die graue Linie zeigt die Ent-
wicklung der nominalen Kosten.

Abb. 1   Monatliche Gesundheitskosten bei Einführung einer Franchise (Quelle: Brot-


Goldberg u. a., 2017, S. 13)
224 I. Lampe

Wodurch wird der beschriebene Kostenrückgang verursacht? Die Wissen-


schaftler nennen drei mögliche Gründe. Erstens setzen sich Versicherte bewusster
mit der Wahl eines Arztes auseinander. Ihnen wurde beispielsweise ein Online-
Preisvergleichstool empfohlen, das auf kostengünstigere Ärzte hinweist. Zweitens
ersetzen Versicherte teure Behandlungsmethoden durch kostengünstigere.
Drittens nehmen Versicherte generell weniger Behandlungen in Anspruch. Das
Forscherteam kann zeigen, dass der einzige Grund für den Kostenrückgang in
der geringeren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen liegt. Letztere geht
ebenfalls um 18 % zurück. Eine solche Entwicklung wäre unproblematisch,
solange nur unwichtige Leistungen gekürzt wurden. Allerdings verzichten die
Versicherten auch auf vorbeugende Behandlungen wie etwa Vorsorgeunter-
suchungen.

Die jährlichen Kosten für die medizinische Versorgung der Mitarbeiter sinken nach
der Einführung der Franchise um 18 Prozent. Einzige Ursache hierfür ist der teil-
weise Verzicht auf medizinische Leistungen in der gesamten Bandbreite.

Selbst bei den Kränksten beobachten die Wissenschaftler einen deut-


lichen Kostenrückgang. Somit nahmen auch jene Menschen, für welche die
medizinische Versorgung am wichtigsten ist, weniger Leistungen in Anspruch.
Dies trat ein, obwohl die Gesundheitskosten dieser Gruppe den Selbstbehalt
ohnehin übersteigen und die Kosten weiterer Behandlungen von der Krankenver-
sicherung getragen werden. Ein Beispiel mag den Zusammenhang verdeutlichen:
Ein Diabetiker muss regelmässig zu Kontrolluntersuchungen und benötigt täglich
Medikamente. Die monatlichen Kosten dafür betragen $400. Bis zum Ende des
Jahres summieren sich diese Kosten auf $4800 und überschreiten die maximale
Franchise. Zu Beginn des Jahres erkrankt der Versicherte an einer starken Grippe.
Ein Arztbesuch würde zu Kosten von $200 führen. Nachdem der Selbstbehalt
bereits anderweitig überschritten ist, fallen die Kosten nicht beim Patienten,
sondern bei der Versicherung an, und sollten daher die Entscheidung zum Arzt-
besuch nicht mehr beeinflussen. Die Ergebnisse der Studie widersprechen dem
allerdings und zeigen, dass auch Kranke mit hohen Gesamtkosten ihre Arzt-
besuche verringern.
Solange die Versicherten damit rechnen, dass sie über das gesamte Jahr die
Franchise nicht überschreiten werden, müssen sie jede weitere Ausgabe voll-
ständig selber zahlen. Die Entscheidung, ob sie eine medizinische Leistung in
Senkt ein hoher Selbstbehalt die Gesundheitskosten? 225

Anspruch nehmen sollen, hängt damit vor allem von jenen Kosten ab, die sie
selbst zum Zeitpunkt der Behandlung bezahlen müssen. Ob mit einer aktuellen
Ausgabe am Ende des Jahres die Franchise ausgeschöpft wird, sodass diese
Kosten am Ende von der Versicherung übernommen und nicht selbst getragen
werden, beeinflusst die aktuelle Entscheidung nicht. Liegen die innerhalb des
Jahres bisher angefallenen Kosten unterhalb der Franchise, muss ein Versicherter
in seiner Wahrnehmung die zusätzlichen Behandlungskosten selbst tragen. Die
empirischen Ergebnisse zeigen, dass die medizinischen Behandlungen in diesem
Fall um nahezu die Hälfte zurückgingen. Dies bedeutet, dass im Vergleich zu den
Jahren vor Einführung der Franchise jeder zweite Arztbesuch ersatzlos gestrichen
wurde.
Wenn jedoch die bisher angefallenen Kosten bereits vorzeitig den Selbstbehalt
übersteigen, erkennen die Versicherten, dass sie ab diesem Zeitpunkt für weitere
Behandlungen nicht mehr selbst aufkommen müssen, sondern die Krankenver-
sicherung alle zusätzlichen Kosten übernimmt. Die Studie zeigt, dass sich die
Versicherten in diesen Fällen ähnlich verhielten wie vor Einführung der Selbst-
beteiligung. Sie verzichteten nicht mehr auf medizinische Behandlungen, nach-
dem die Höhe der Franchise erreicht wurde.

Wenn die Versicherten damit rechnen, dass sie über das Jahr den Betrag
der Franchise nicht überschreiten und damit die Kosten von medizinischen
Behandlungen selber tragen müssen, nehmen sie nur noch nahezu die Hälfte der
üblichen Leistungen in Anspruch.

Die Ergebnisse legen nahe, dass die Einführung einer hohen Franchise kein nach-
haltiger Ansatz ist, um die Gesundheitskosten zu verringern. Einzige Ursache für
die Reduzierung der Gesamtkosten ist der Verzicht auf medizinische Leistungen.
Dies betrifft die komplette Bandbreite des Angebots. Versicherte kürzen sowohl
unwichtige als auch wichtige Behandlungen. Es ist nicht auszuschliessen, dass
dieses Verhalten zu verspäteten Diagnosen und somit zu hohen Folgekosten führt.
Zudem sollte man berücksichtigen, dass es sich bei den betrachteten Personen um
Spitzenverdiener handelt. Der negative Einfluss einer hohen Franchise könnte bei
Normal- bzw. Geringverdienern noch stärker ausfallen.
226 I. Lampe

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber

Christian Keuschnigg ist Initiator des Projekts


Next Generation und Herausgeber der Forschungs-
nachrichten. Er ist Professor für Nationalökonomie
und leitete bis dato die Programme Master in
Economics und Master in Quantitative Economics
and Finance. Seine Forschungsinteressen umfassen
Besteuerung, soziale Sicherung, Unternehmen,
Banken und Finanzierung, und internationale Öko-
nomie. Er ist in der Politikberatung engagiert und
leitet des Wirtschaftspolitische Zentrum WPZ, ein
Kompetenzzentrum der Universität St. Gallen (FGN-
HSG).

Michael Kogler  ist Mitherausgeber der Forschungs-


nachrichten. Seit seiner Promotion zum Ph.D. in
Economics and Finance 2016 arbeitet er als Post-
doktorand an der Universität St. Gallen (FGN-
HSG). 2017–2018 war er Visiting Scholar an der
New York University, Stern School of Business.
Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen
Banken, insbesondere deren Regulierung und
Besteuerung, sowie Finanzmärkte und Wachstum.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en) 2021 227


C. Keuschnigg und M. Kogler (Hrsg.), Die Wirtschaft im Wandel,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5
228 Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis
Arthur Corazza  Wirtschaftsuniversität Wien
Institut für Makroökonomie

Céline Diebold  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Elisabeth Essbaumer  Universität St.Gallen


Studium: PhD in International Affairs and Political
Economy
[email protected]
Herausgeber- und Autorenverzeichnis 229

Till Nikolaus Folger  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Laurenz Grabher  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Margaret Green  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]
230 Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Gerald Gogola  WPZ Research


[email protected]

David Gmür  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Patrick Hasch  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]
Herausgeber- und Autorenverzeichnis 231

Valentine Huber  Universität St.Gallen


Studium: Bachelor in Economics
[email protected]

Adrian Jäggi  Universität St.Gallen


Studium: PhD in Economics and Finance
[email protected]

Julian Johs Wirtschaftsuniversität Wien & WPZ


Research
Studium: Master in Economics
[email protected]
232 Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Roberta Maria Koch  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Verena Maria Konzett  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Immanuel Lampe  Universität St.Gallen


Studium: PhD in Economics and Finance
[email protected]
Herausgeber- und Autorenverzeichnis 233

Benedikt Lennartz  Universität St.Gallen


Studium: PhD in Economics and Finance
[email protected]

Piotr Lukaszuk  Universität St.Gallen


Studium: PhD in Economics and Finance
[email protected]

Isabella Maassen  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]
234 Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Christina Maier  Universität St.Gallen


Studium: Master in Quantitative Economics and
Finance
[email protected]

Flurina Mark  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Johannes Matt  Universität St.Gallen & Stockholm


School of Economics
Studium: Master in Economics & Master in Inter-
national Economics
[email protected]
Herausgeber- und Autorenverzeichnis 235

Eric Offner  Universität St.Gallen


Studium: Master in Quantitative Economics and
Finance
[email protected]

Thomas Schiller  Universität St.Gallen


Studium: Master in Economics
[email protected]

Arnaud Schuele  Universität St.Gallen


Studium: Master in Quantitative Economics and
Finance
[email protected]
236 Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Sabrina Stadelmann  Universität St.Gallen


Studium: PhD in Economics and Finance
[email protected]

Carina Steckenleiter  Universität St.Gallen


Studium: PhD in Economics and Finance
[email protected]

Korbinian Wester  Universität St.Gallen


Studium: Master in Quantitative Economics and
Finance
[email protected]
Herausgeber- und Autorenverzeichnis 237

Volkswirtschaslehre an der Universität St. Gallen


Das Department für Volkswirtschaftslehre an der
Universität St. Gallen ist Teil der School of
Universität St. Gallen Economics and Political Science und bietet
Studienprogramme zur Volkswirtschaftslehre auf
allen Stufen der Lehre sowie in der Executive School an. Detaillierte Informationen zu den
Studienprogrammen sind auf folgenden Seiten zu inden:

• Bachelor Major VWL: www.vwl.unisg.ch


• Master in Economics: www.mecon.unisg.ch
• Master in Quantitative Economics and Finance (MiQEF): www.miqef.unisg.ch
• PhD in Economics and Finance (PEF): www.pef.unisg.ch

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