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Kapitel 2.

Spielräume gestalten

Website Goethe-Institut e.V.

Kurs DLL 1 GFL7214 2020

Buch Kapitel 2. Spielräume gestalten

Gedruckt von Muhammad Reza

Datum Mittwoch, 3. Februar 2021, 12:30

2. Spielräume gestalten
In Kapitel 1 haben wir uns sehr intensiv mit Ihrer Lehrphilosophie beschäftigt. Sie wurden zu Ihren pädagogischen Vorbildern befragt und dazu
angeregt, sich Ihre grundlegenden Annahmen über erfolgreichen Deutschunterricht bewusst zu machen. Es ging uns in diesem Zusammenhang
auch um die Frage, wie der konkrete Kontext Ihre Sicht des Unterrichts und Ihr Handeln im Klassenraum beeinflusst. Vielleicht sehen Sie Ihre
Lehrphilosophie jetzt in einem ganz neuen Licht.

Auch die Kompetenzen, die für den Lehrberuf wichtig sind, wurden bereits thematisiert. Trotzdem endete Kapitel 1 ohne eine Beschreibung von
gutem oder effektivem Lehren. Aus unserer Argumentation sollte deutlich geworden sein, weshalb allgemein gültige Empfehlungen für das Handeln
von Lehrenden nur bedingt möglich sind. Der große Einfluss der Lehrerpersönlichkeit steht dem ebenso entgegen wie die Verschiedenartigkeit der
Kontexte von Unterricht.

Hinzu kommt - wie wir in diesem Kapitel sehen werden - die Dynamik des Geschehens. Sie entsteht aus der Interaktion zwischen Ihnen als
Lehrperson und den Lernenden sowie dem Austausch innerhalb der Lerngruppe. Durch das sprachliche und nichtsprachliche Handeln bauen alle
Beteiligten im Klassenraum Beziehungen zueinander auf und wirken gegenseitig aufeinander ein. Und wie jede zwischenmenschliche Begegnung
sind auch diese Beziehungen geprägt von individuellen Charaktereigenschaften, Vorstellungen und Wünschen - und damit nicht vorhersehbar.

Angesichts dieser Merkmale des Unterrichts kann es nicht eine bestimmte Methode geben, die unabhängig vom Kontext erfolgreiches
Deutschlernen garantiert. Jedes methodische Vorgehen führt bei einer Gruppe von Lernenden zu sehr unterschiedlichen individuellen Resultaten.
Und zugleich lässt sich jedes Lernziel auf verschiedenen Wegen erreichen. Das stellte für die Fachwissenschaft eine ernüchternde Erkenntnis dar.
Mit der Suche nach der einen idealen Unterrichtsmethode war sie lange einer nicht realisierbaren Vision gefolgt. Heute geht man davon aus, dass
generelle Handlungsempfehlungen nicht zu besserem Unterricht führen. Für Lehrende ist es sinnvoller, wenn sie sich mit solchen didaktisch-
methodischen Prinzipien vertraut machen, wie sie Ihnen bereits in Kapitel 1.5. begegnet sind.

Sie werden also auch am Ende dieses Kapitels kein Rezept für guten Unterricht in Händen halten. Vielleicht fühlen Sie sich dadurch in Ihren
Erwartungen enttäuscht? Wir sehen das eher positiv, denn dadurch wird letztlich Ihre Position als Expertin oder Experte gestärkt.

Handlungsspielräume von Lehrkräften

Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Lehrenden, das Potenzial von Unterrichtssituationen zu erkennen und es im Sinne der jeweiligen
Unterrichtsziele wirksam zu nutzen. Diese Arbeit kann Ihnen von keinem Curriculum, keinem Lehrwerk und auch keiner wissenschaftlichen
Beschreibung abgenommen werden. Flexibel und kreativ müssen Sie als Lehrkraft auf die Komplexität von Unterrichtssituationen reagieren. Sie
brauchen die Fähigkeit, die Beziehungen zwischen den einzelnen Unterrichtselementen so zu arrangieren, dass Lernprozesse ermöglicht,
angestoßen und unterstützt werden. Und dieses Kapitel soll Ihnen helfen, diese Kompetenz weiterzuentwickeln. Indem wir das Klassenzimmer aus
der Perspektive verschiedener Metaphern betrachten, werden wir gemeinsam mit Ihnen die Spielräume für das Handeln von Lehrenden im
Deutschunterricht ausleuchten.

Bevor wir damit beginnen, möchten wir eine für das Verständnis des gesamten Kapitels 2 grundlegende Annahme offenlegen. Bei unserer
Argumentation werden wir immer davon ausgehen, dass die Schülerinnen und Schüler durch den Deutschunterricht befähigt werden sollen, mit der
deutschen Sprache zu handeln. Das heißt, sie können andere verstehen und sich anderen gegenüber verständlich machen. Sie können eigene
Auffassungen ausdrücken und auf andere eingehen. Sie können deutsche Texte verstehen und Texte auf Deutsch verfassen. Sie können mit
Menschen anderer Kulturen sprachlich angemessen umgehen. Kurz, sie können selbstbewusst am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, denn sie
haben gelernt zu kommunizieren.

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Wir folgen damit einem didaktisch-methodischen Prinzip, das in der Fachwissenschaft als Handlungsorientierung bezeichnet wird. Diesen
Ausgangspunkt zu verdeutlichen, halten wir für sehr wichtig. Denn was in einem Unterricht als Lernpotenzial wahrgenommen wird und wie in einem
Unterricht Lerngelegenheiten gestaltet werden, das hängt untrennbar mit dessen Zielsetzung zusammen. Diese Beziehung wird unmittelbar
einsichtig, wenn wir uns beispielsweise einen Deutschunterricht vorstellen, der die Lernenden ausschließlich zum rezeptiven Verstehen technischer
Fachtexte führen möchte. Lehrende in diesem Unterricht sollten bestrebt sein, möglichst viele der Lernaktivitäten mit der Arbeit an den technischen
Fachtexten zu verknüpfen. Das Lernpotenzial eines handlungsorientierten Unterrichts dagegen liegt vor allem im aktiven Umgang mit der deutschen
Sprache im Klassenzimmer. Denn nur wenn Lernende sich im Unterrichtsgeschehen als sprachlich – das heißt in Wort und Schrift – Handelnde
erfahren, wenn sie geübt haben, Sprache in vielfältigen Situationen zu verwenden, wenn sie im Klassenzimmer kommuniziert haben, werden sie
auch jenseits des Klassenzimmers handlungsfähig sein.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten © Goethe-Institut

2.1 Zentrale Beziehungen im Unterricht

Unterricht ist das Zusammenspiel von absichtsvollem Lehren und Lernen. Lehrkraft und Lernende treten also in eine Beziehung zueinander, um das
Wissen und Können der Kursteilnehmenden zielgerichtet zu verbessern. Als ein drittes elementares Unterrichtselement kommen dazu die
Lernmöglichkeiten, zu denen Lernmaterialien ebenso zählen wie Aufgaben und Übungen, Medien oder Arbeitsformen. So entsteht im
Klassenzimmer ein Netz von Beziehungen. Indem Lehrende dieses Zusammenwirken der einzelnen Unterrichtselemente reflektieren, vertiefen sie
ihr Verständnis für das Geschehen im Klassenzimmer und können angemessener agieren und reagieren.

Deshalb möchten wir Sie mit diesem Kapitel dabei unterstützen, dass Sie

die verschiedenen Elemente des Klassenzimmers und ihre Beziehungen zueinander wahrnehmen,
besser verstehen, welche Spielräume sich Ihnen ergeben, wenn Sie die Beziehungen zwischen den Elementen verändern,
nachvollziehen können, wie sich mithilfe von Metaphern charakteristische Beziehungsmuster von Unterricht beschreiben lassen.

Dieses Kapitel möchten wir mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zum Zusammenwirken der drei wichtigsten Unterrichtselemente beginnen.
Das folgende Modell veranschaulicht Ihnen in vereinfachter Form das für den Unterricht konstitutive Beziehungsgeflecht. Die Pfeile zwischen den
drei Elementen Lehrerin/Lehrer, Lernerin/Lerner und Lernmöglichkeiten verdeutlichen, dass diese sich gegenseitig beeinflussen.

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Zentrale Beziehungen im Unterricht (nach: Wright 2005, S. 17)

Die Beziehungen zwischen den drei Elementen erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Deshalb möchten wir uns die Abbildung zunächst ein
Stück gemeinsam erschließen, bevor Sie sich dann in der darauf folgenden Aufgabe selbstständig mit ihr beschäftigen sollen.

Beziehung A: Dass es im Unterricht Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden gibt, ist ein grundlegendes Merkmal von Unterricht. Aber welche
konkreten Tätigkeiten passen zu den beiden Richtungen des Pfeils?

Beziehung B: Es ist normalerweise die Lehrperson, die eine Aufgabe stellt, einen Text auswählt oder den Medieneinsatz koordiniert. Aber wie wirken
diese Lernmöglichkeiten auf die Lehrenden zurück?

Beziehung C: Dass sich die Lernenden mit den Lernmöglichkeiten auseinandersetzen, also zum Beispiel einen Text lesen oder eine Aufgabe
bearbeiten, ist sicher eine für den Unterricht konstitutive Beziehung. Sehen Sie darüber hinaus noch andere Möglichkeiten, die Beziehung zwischen
den Lernenden und den Lernmöglichkeiten zu gestalten?

Beziehung D: Diese Beziehung verweist darauf, dass während des Unterrichts unter den Lernenden ein Austausch stattfindet. Wie lässt er sich
charakterisieren?

Mit der folgenden Aufgabe bitten wir Sie, die offen gebliebenen Fragen zu klären. Überlegen Sie sich dazu, mit welchen konkreten Tätigkeiten die
einzelnen Beziehungen charakterisiert werden können. Zum Beispiel ist ein Verb wie "fragen" offensichtlich gut geeignet, um die Tätigkeit der
Lehrkraft in Beziehung A zu beschreiben. Denn Untersuchungen von Unterrichtskommunikation haben gezeigt, dass 60 Prozent der Sprache von
Lehrenden im Klassenzimmer Fragen sind (Farrell 2007, S. 80). Ist das auch in Ihrem Fall so? Und passt dieses Verb genauso gut zu anderen
Beziehungen des Modells? Zu solchen Überlegungen möchten wir Sie mit der folgenden Aufgabe anregen.

Aufgabe 25a

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Beschreiben Sie, wie die Beziehungen A bis D in Ihrem Unterricht normalerweise gestaltet sind. Geben Sie je zwei typische Beispiele.

unterstützen/helfen - anleiten - kooperieren - fragen/antworten - kontrollieren - lernen - Ziele formulieren - korrigieren/verbessern - initiieren -
vorbereiten - erstellen/herstellen - beobachten - motivieren - bewerten - aufrufen - bearbeiten - … - …

Beziehung konkrete Beispiele


A - Die Lehrperson hilft den Lernenden bei der Bearbeitung einer Aufgabe.

B -

C -

D -

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 25a

Sicher fiel es Ihnen nicht schwer, geeignete Beispiele für die einzelnen Beziehungen zu finden. Denn viele der möglichen Kombinationen von
Unterrichtselementen und Verben gehören zu Ihrem Arbeitsalltag.

Wir möchten Ihnen einige Kombinationen vorstellen, die Ihnen vielleicht weniger vertraut sind, und Sie um Ihre Meinung bitten.

Aufgabe 25b

Schätzen Sie ein, wie oft es diese Beziehungen in Ihrem Unterricht gibt. Begründen Sie, warum das so ist. Finden Sie andere, weniger typische
Beispiele für die vier Beziehungen.

Beziehung Beispiele Das passiert in meinem Unterricht Begründung


nie oft
1 2 3 4 5
A Die Lernenden formulieren die Lernziele.

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B Die Lehrperson lernt bei der Gestaltung eigener
Unterrichtsmaterialien.

C Die Lernenden stellen die Unterrichtsmaterialien her.

D Die Lernenden bewerten sich gegenseitig.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 25b

Ist Ihnen durch diese Aufgabe bewusst geworden, dass einige Beziehungen in Ihrem Unterricht keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen,
während anderen eine dominante Rolle zukommt? Falls das so ist: Verstehen Sie die Gründe für diese Situation?

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.1 Das Beziehungsgeflecht des Unterrichts © Goethe-Institut

Wenn Lehrende Unterricht vorbereiten, denken sie nicht abstrakt darüber nach, wie sie die Elemente des Unterrichts in Beziehung setzen. Die
Darstellung der zentralen Beziehungen im Unterricht ist für die konkrete Planung von Unterrichtsphasen daher nur bedingt tauglich.

Wie nutze ich die räumlichen Gegebenheiten des Klassenraums (Größe, Ausstattung, Anordnung usw.)?
Wie nutze ich die mir zur Verfügung stehende Zeit?
Welche Anteile sollen die Muttersprache und die Fremdsprache im Unterricht haben?
Welche Unterrichtsmaterialien sind für meine Lerngruppe sinnvoll und effektiv?
Welche Aktivitäten im Klassenraum muss ich selbst als Lehrerin oder Lehrer übernehmen?
Welche Aktivitäten sollen die Lernenden ausführen?
Wie organisiere ich das Miteinander im Unterricht so, dass eine gute Lernatmosphäre entsteht? Und nicht zuletzt:
Welche Themen sind interessant für die Lernenden, welche fordern sie heraus? Welche eröffnen ihnen (neue) Perspektiven auf
deutschsprachige Kulturen?

Am Beispiel von zwei Unterrichtssequenzen möchten wir uns ansehen, wie unterschiedlich die Antworten auf solche Fragen in der Praxis ausfallen
können. Die Bedingungen in den beiden Klassenzimmern sind durchaus verschieden, weisen aber auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Es
handelt sich um schulischen Deutschunterricht für Kinder, und in beiden Szenen geht es den Lehrerinnen darum, in ein neues Thema einzuführen.

Schulart, Ort, Jahr Sekundarstufe 1,Toulouse, 1998


Zielgruppe Schüler, ca. 12 Jahre, A2
Lehrkraft Eliane Leduc
Material/ Medien Figur, Arbeitsblatt, Tafel
Globales Lernziel Arbeit mit Comics
Lehr-Lernaktivitäten Einstieg in Unterrichtssequenz, Sprung zur Aufgabe in Partnerarbeit, Arbeitsphase, Präsentation der
Ergebnisse

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Schulart, Ort, Jahr Sekundarstufe 1, Krakau, 1992
Zielgruppe Schüler, A1
Lehrkraft Ewa Krawczyk
Material/ Medien Deutsch konkret, OHP, Tafel
Globales Lernziel Arbeit mit Lehrwerkslektionen: Orientierung in der Stadt
Lehr- Lernaktivität die TN äußern, durch die Fragen der Lehrerin geleitet, ihre Vermutungen zu einem Bild: Personen in der
Stadt; in der Muttersprache werden eigene Erfahrungen einbezogen; Wortschatzsammlung

Aufgabe 26a

Sehen Sie Sequenz 1 von Schule Toulouse und Sequenz 1 von Schule Krakau. Notieren Sie Ihre Beobachtungen zu einzelnen Aspekten des
Unterrichts in der Tabelle in Stichpunkten.

Aspekte des Unterrichts Schule Toulouse Schule Krakau


Nutzung der Zeit Lehrerin drängt auf ein zügiges Vorankommen kein Zeitdruck, Lehrerin verwendet viel Zeit darauf, Details
zu klären
Nutzung des Raumes
Sprachgebrauch
Lernmaterialien
Aktivität der Lernenden
Aktivität der Lehrperson
Atmosphäre im Klassenraum

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 26a

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Natürlich können wir anhand dieses kurzen Besuchs in den Klassenräumen nur sehr wenig über die Arbeitsweise der beiden Lehrerinnen sagen. Vor
allem sollte es nicht darum gehen, ihre Vorgehensweise zu kritisieren.

Wenn wir die Spielräume bei der Gestaltung des Deutschunterrichts besser verstehen wollen, müssen wir zunächst die einzelnen Aspekte des
Unterrichts genauer betrachten. Sehen wir uns als Beispiel den Sprachgebrauch in den beiden Klassenzimmern an. Die Lehrerinnen haben sich für
unterschiedliche Möglichkeiten entschieden, die Beziehung zwischen sich und den Lernenden in dieser Hinsicht zu gestalten: Während Eliane Leduc
in Toulouse konsequent Deutsch verwendet, ist für Ewa Krawczyk eher die Mischung von Mutter- und Fremdsprache kennzeichnend. Was könnten
die Lehrerinnen damit beabsichtigt haben? Eliane Leduc betrachtet es wahrscheinlich als wichtig, den Lernenden ein Modell zu bieten. Sie möchte
die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, selbst auch Deutsch zu sprechen. Vielleicht hat sie auch die effektive Zeitnutzung im Blick: Die
Lernenden sollen in der gegeben Zeit möglichst viel Kontakt mit der deutschen Sprache haben. Sicher spielt bei ihrer Entscheidung auch der
Lernstand der Klasse eine Rolle.

Ewa Krawczyk hingegen legt offensichtlich mehr Wert darauf, dass alle Schülerinnen und Schüler genau verstehen, was gerade im Klassenraum
passiert und was von ihnen gefordert wird. Vielleicht möchte sie verhindern, die Lernenden zu überfordern.

Wir bitten Sie nun, eigene Überlegungen zu zwei weiteren Aspekten des Unterrichts in den beiden Sequenzen anzustellen.

Aufgabe 26b

Was glauben Sie? Warum haben sich die Lehrerinnen für die Sitzordnung und die Auswahl der Lernmaterialien entschieden?

Aspekte des Unterrichts Toulouse Krakau


Sitzordnung

Lernmaterialien

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 26b

Wir möchten nun gemeinsam mit Ihnen darüber nachdenken, was sich in den beiden Klassenzimmern verändern würde, wenn man einzelne
Aspekte des Unterrichts anders gestaltete. Nehmen wir zum Beispiel an, Ewa Krawczyk nähme sich vor, mehr Deutsch im Unterricht zu benutzen.
Das würde Veränderungen bei der Gestaltung notwendig machen, denn das Verständnis für die Situation müsste sie dann mithilfe anderer
Strategien sichern, etwa durch den Einsatz von nicht-sprachlichen Mitteln (Stadtplan, Pantomime, Fotos usw.). Eine mögliche Folge könnte sein,
dass die Schülerinnen und Schüler dadurch ermutigt würden, selbst auch im Klassenraum mehr Deutsch zu sprechen.

Aufgabe 26c

Überlegen Sie sich zwei alternative Möglichkeiten der Gestaltung des Unterrichts und ergänzen Sie die Tabelle.

Toulouse Krakau
Aspekt

Realisierung im Film

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Alternative Idee der Gestaltung

Konsequenzen für die Lehrerin

Konsequenzen für die


Lernenden

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 26c

Unser kurzer Besuch in den beiden Klassenzimmern hat uns vor Augen geführt, wie sich die unterschiedliche Gestaltung der Beziehungen im
Klassenraum unmittelbar auf das Unterrichtsgeschehen auswirkt.

Nach dem Modell der zentralen Beziehungen im Klassenzimmer und der Beschäftigung mit diesen beiden Beispielen aus der Praxis möchten wir am
Ende dieses Teilkapitels noch eine dritte Perspektive auf die Unterrichtselemente und ihr Zusammenwirken einnehmen.

Diese neue Perspektive ergibt sich aus der Überlegung, dass für einzelne Unterrichtsphasen ein bestimmtes Muster der Beziehungen im
Klassenzimmer charakteristisch ist. Wenn Lernende in Einzelarbeit eine Grammatikübung bearbeiten, sind die Unterrichtselemente offensichtlich
anders arrangiert, als wenn sie in Kleingruppen Rollenspiele vortragen.

In der Fachwissenschaft wurden eine Reihe von Metaphern vorgestellt, mit denen solche unterschiedlichen Konstellationen im Klassenzimmer
greifbar gemacht werden können. Die folgende Abbildung fasst einige dieser Metaphern zusammen:

Metaphern für verschiedene Phasen des Unterrichts (Legutke 2010)

Stellen Sie sich bitte das Klassenzimmer, in dem Sie Deutsch unterrichten, mithilfe dieser Metaphern vor. Wenn Sie das Klassenzimmer zum
Beispiel als einen Trainingsplatz sehen, was machen dann die Schülerinnen und Schüler? Was ist in diesem Fall Ihre Funktion?

Aufgabe 27a

Was bedeuten diese Metaphern für das Klassenzimmer?

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Wie leicht oder schwer fällt es Ihnen, sich eine konkrete Situation unter dieser Metapher vorzustellen?

(l=leicht, s=schwer, ? = keine Vorstellung)

Metapher Was machen die Schüler? Was macht die Wie schwer fällt es Ihnen,
den Unterricht so zu
Lehrkraft? sehen?
l s ?
Landschaft

Kultur

Kommunikationszentrum

Trainingsplatz

Bühne

Textwerkstatt

Labor

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 27a

Sie haben sicher gemerkt, dass Ihnen das metaphorische Sehen nicht immer gelingt. Vielleicht haben Sie auch Zweifel, ob die von uns gewählten
Metaphern überhaupt für Ihren Deutschunterricht passen. Diese Bedenken können Sie in der folgenden Aufgabe festhalten.

Aufgabe 27b

Welche Metapher/n treffen auf Ihren Unterricht am ehesten zu und warum?

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 27b

Die Beschäftigung mit den Metaphern stellt nicht nur einen Weg dar, die grundlegenden Beziehungen von Unterricht besser zu verstehen. Sie
bereitet zugleich auf die nun folgenden Kapitel vor. Denn wir möchten uns nun den einzelnen Metaphern ausführlich zuwenden und gemeinsam
untersuchen, welche Gestaltungsspielräume die betreffenden Unterrichtsphasen eröffnen.

Zusammenfassung

In diesem Kapitel haben wir uns mit einzelnen Elementen des Unterrichts befasst und aus verschiedenen Perspektiven untersucht, welche
Möglichkeiten es gibt, ihr Zusammenspiel im Unterricht auszugestalten. Natürlich hängt die konkrete Realisierung immer vom jeweiligen Umfeld und
den jeweiligen Lernzielen ab. Wenn aber einzelne dieser Möglichkeiten von vornherein vernachlässigt werden, bedeutet das: Lernpotenzial wird
verschenkt. Für die folgenden Kapitel ist es daher wichtig, dass Sie die Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten, die wir uns in diesem Kapitel
erschlossen haben, im Blick behalten. Die Kapitel 2.2, 2.3, 2.4 und 2.5 befassen sich nun genau mit diesen Metaphern.

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Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.1 Das Beziehungsgeflecht des Unterrichts © Goethe-Institut

2.2. Das Klassenzimmer als Landschaft

Möglicherweise war die Metapher Landschaft unter denen, die Ihnen besondere Schwierigkeiten bereitet haben. Dieser wollen wir uns zuerst
zuwenden. Wir haben bereits mehrfach betont, dass Sie als Lehrerin oder Lehrer in einem Spannungsfeld arbeiten: Da sind auf der einen Seite die
Anforderungen des Kontextes, denen Sie gerecht werden müssen. Beispielsweise sollen Sie sich nach einem nationalen Curriculum richten oder
Ihre Schule macht Ihnen bestimmte Vorgaben für Ihre Arbeit. Das engt Ihren Gestaltungsspielraum zum Teil erheblich ein.

Auf der anderen Seite möchten Sie aber einen Unterricht gestalten, der Ihrem Ideal möglichst nahekommt oder Ihren persönlichen Vorstellungen von
erfolgreichem Unterricht zumindest nicht deutlich widerspricht.

In der konkreten Unterrichtssituation stehen Sie deshalb fortwährend vor der Aufgabe, zwischen diesen beiden Einflussfaktoren einen Ausgleich zu
finden.

Das Ergebnis dieses Balanceaktes lässt sich dann im Klassenzimmer beobachten. In Kapitel 2.1 haben wir uns anhand der Unterrichtsmitschnitte
aus Krakau und Toulouse bereits einen ersten Überblick über die dabei wichtigen Aspekte verschafft. Im Folgenden werden wir uns auf einen dieser
Aspekte konzentrieren: die Ausgestaltung des Lernraums.

Wir möchten in diesem Kapitel mit Ihnen dahin kommen, dass Sie

die Gestaltung des Klassenraums bewusster wahrnehmen und die Folgen abschätzen können, die sich daraus für das Lernen ergeben,
besser verstehen, wie sich pädagogische Ziele und soziale Ziele in der Gestaltung des Lernraumes widerspiegeln,
die körperliche und geistige Dimension der Gestaltung von Klassenräumen verstehen,
selbst geeignete Unterrichtslandschaften für verschiedene Unterrichtsaktivitäten entwerfen können.

Jedes Klassenzimmer zeichnet sich durch ein bestimmtes Design aus. Es ergibt sich aus der Anordnung von Tischen und Stühlen, der Gestaltung
der Wandflächen, der Verteilung der Personen im Raum oder auch aus den Wegen, die Lehrende und Lernende während des Unterrichts durch das
Klassenzimmer nehmen. Vielleicht inspiriert Sie folgende Abbildung:

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Toni Wright spricht sehr treffend von der Geografie des Klassenraums (Wright 2005, S. 64): Unterricht lässt sich demnach als Landschaft denken.

Eine Landschaft mit Städten, Straßen, Feldern oder Wäldern transportiert viele Informationen über den Alltag der dort lebenden Menschen. Man
erkennt beispielsweise, wie wichtig Mobilität für sie ist, oder man kann vermuten, welche Rolle öffentliche Räume wie Parks oder Plätze spielen. In
gleicher Weise lässt sich viel über das Lernen in einem Klassenzimmer sagen, wenn man die Gestaltung des Raumes genau betrachtet.

Wir haben uns schon mehrere, sehr verschiedene Geografien von Klassenräumen angesehen, und Sie konnten sich über die Nähe und Ferne zu
den abgebildeten Situationen Gedanken machen. Wir möchten Sie bitten, diese Fotos nun unter der neuen Perspektive zu betrachten und eine
Skizze der Landschaften dieser Klassenzimmer anzufertigen.

Nicht immer wird Ihnen das einfach gelingen, weil die Fotos nur Ausschnitte der Unterrichtslandschaft zeigen. In diesen Fällen können Sie die
fehlenden Elemente so ergänzen, wie es Ihnen sinnvoll erscheint.

Aufgabe 28

Entwerfen Sie in einer Skizze die Geografie der Klassenräume. Markieren Sie dabei die möglichen Bewegungsspielräume der Lehrerin mit kleinen
Pfeilen.

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Klassenräume Skizze
1

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Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 28

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.2. Das Klassenzimmer als Landschaft © Goethe-Institut

Die pädagogischen und sozialen Aspekte des Lernraumes

Lehrende sollten sich bewusst darüber sein, dass sich jede Veränderung des Lernraumes gleich zweifach auswirkt: Zum einen werden
pädagogische Möglichkeiten eröffnet oder verschlossen. Beispielsweise werden bestimmte Interaktions- und Kooperationsformen wahrscheinlicher
oder bestimmte Lernaktivitäten bieten sich an, andere lassen sich kaum durchführen.

Zum anderen verändern sich die sozialen Prozesse im Klassenraum, etwa die Beziehung der Lernenden untereinander oder zur Lehrperson. Auch
die Atmosphäre insgesamt wird von diesen Veränderungen beeinflusst.

Diese Zusammenhänge möchten wir an den Situationen 1 bis 5 konkretisieren. Sehen wir uns dafür zunächst die Situation 5 etwas genauer an. Die
Lehrerin, Hanne Geist, hat sich sehr bewusst für ihre Raumgestaltung entschieden. Diese ermöglicht ihr eine besondere Form des Unterrichts, wie
die folgende Collage mit typischen Situationen aus einer Stunde von Hanne Geist zeigt.

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Szenen aus dem Unterricht der Lehrerin Hanne Geist

Aufgabe 29a

Ergänzen Sie Merkmale der Geografie des Klassenraumes von Hanne Geist.

Beispiel: Die Tische sind in U-Form angeordnet.


Die Lehrerin bewegt sich ...
Die Sitzordnung der Schülerinnen und Schüler ...
...

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 29a

Nachdem wir die Besonderheiten des Klassenraums von Hanne Geist gesehen haben, bitten wir Sie, zu überlegen, warum die Lehrerin das
Klassenzimmer so gestaltet hat. Wir können davon ausgehen, dass sie sowohl pädagogische als auch soziale Aspekte im Auge hatte.

Aufgabe 29b

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Welche pädagogischen und sozialen Ziele werden durch die Merkmale des Klassenraumes erreicht?

Merkmale pädagogische Ziele soziale Ziele


Die Tische sind in U-Form
angeordnet.

Die Lehrerin bewegt sich frei im


Raum.

Die Sitzordnung der Schülerinnen


und Schüler ist flexibel.

Während des Unterrichts können


Tische und Stühle zu neuen
Formationen verstellt werden.

Auch die Lernenden bewegen sich


während des Unterrichts im Raum.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 29b

Mit den Schülerinnen und Schülern auf der Collage wurden Interviews über den Unterricht von Hanne Geist geführt. Auch die Lehrerin selbst wurde
um Kommentare zu ihrem Lehrstil gebeten (siehe Schocker-von Ditfurth 2001, S. 31-34). Die Unterteilung in pädagogische und soziale Ziele gehörte
zwar nicht zu den Fragen, die dabei gestellt wurden. Dennoch liefern die Aussagen, die Sie in der folgenden Aufgabe finden, auch unter diesem
Blickwinkel viele interessante Informationen. Bitte nutzen Sie die Kommentare, um Ihre Überlegungen in oben stehender Teilaufgabe zu überprüfen
und zu ergänzen.

Aufgabe 29c

Lesen Sie die folgenden Ausschnitte aus Interviews mit der Lehrerin Hanne Geist und mit einigen ihrer Schülerinnen und Schüler. Markieren Sie,
über welche pädagogischen und sozialen Ziele gesprochen wird. Notieren Sie diese.

a) Hanne Geist

Ich finde es sehr wichtig, dass der Fremdsprachenunterricht kommunikativ ist. Aber mir ist auch sehr wichtig, dass die Kommunikation nicht nur als
Übung - z.B. von bestimmten sprachlichen Strukturen - da ist. Mir ist sehr wichtig, dass die Schüler sprechen, weil sie einen Grund haben, also weil
sie ein Bedürfnis haben, etwas auszudrücken. Und deswegen versuche ich, Übungen zu machen, in denen sie Gelegenheit bekommen, etwas zu
sagen, was entweder für sie interessant ist oder wichtig - oder etwas zu sagen, was der Gesprächspartner nicht weiß. Also so, dass es eine Art
echte Kommunikation wird.

b) Hanne Geist

Ich arbeite sehr viel mit Binnendifferenzierung. Das macht natürlich die Arbeit größer, aber ich glaube auch, dass sie dadurch etwas sinnvoller wird
für die Schüler.

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c) Hanne Geist

Ich bin eine Lehrerin, ein Lehrertyp, der sich gerne zurückzieht. Ich bin nicht gerne im Mittelpunkt. Zum Beispiel ist es oft so bei mir, dass die Schüler
mehr Fragen stellen als ich. Jedenfalls ist das mein Ziel.

d) Hanne Geist

Da habe ich die Klasse aufgeteilt in zwei Gruppen und die Schüler konnten dann so zusammenarbeiten, wie sie wollten, also zu zweit, zu dritt, zu
viert.

e) Hanne Geist

Die Denkfragen sind die wichtigen, also wirklichen Fragen. Ich glaube, da haben wir als Lehrer den Fehler begangen, wir haben lange diese
Kontrollfragen gestellt und damit die Schüler gelangweilt. Davon möchte ich abkommen.

f) Schülerin/Schüler

Wenn wir in der Klasse Deutsch reden, geht es uns eigentlich ganz gut dabei, wir finden das nicht schlimm. Wir haben keine Angst davor zu
sprechen. Natürlich ist man nervös, wenn man vor der Klasse etwas sagen soll. Aber innerhalb der Gruppe denkt man nicht so viel darüber nach.

g) Schülerin/Schüler

Den Deutschunterricht mögen wir, weil es mehr Gruppenarbeit und mehr Abwechslung gibt als in anderen Stunden.

h) Schülerin/Schüler:

Bei der Gruppenbildung gehen wir zu den Leuten, die wir kennen. Es kommt aber auch vor, dass unsere Lehrerin die Gruppen einteilt. Auf jeden Fall
würde in unserer Klasse jeder mit jedem zusammenarbeiten.

i) Schülerin/Schüler

Die Atmosphäre in unserer Klasse ist sehr gut - sozial, es ist gemütlich. Alle können sich mit allen unterhalten. Die Meinung des Einzelnen wird
respektiert. Während der Gruppenarbeit oder wenn jemand etwas präsentiert, hören wir auch alle einander zu. Man kann sich doch nicht leisten,
nicht zuzuhören. Das wäre unhöflich. Außerdem interessiert es uns ja auch, was die anderen zu sagen haben.

j) Schülerin/Schüler

Wir sprechen auch ziemlich konsequent Deutsch während der Gruppenarbeit. Das ist normal und ganz selbstverständlich. Natürlich redet man
Dänisch, wenn man nicht mehr weiter weiß. Oder man sagt es auf Dänisch, und die anderen helfen einem dann, das auf Deutsch zu übersetzen.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 29c

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Leider haben wir keine Interviews mit den Lehrerinnen und Lernenden aus den vier anderen abgebildeten Unterrichtsszenen. Wenn Sie sich im
Folgenden Gedanken über die pädagogischen und sozialen Ziele in diesen Situationen machen, sind Sie also wieder auf Vermutungen angewiesen.
Eine Herausforderung stellen bei der Bearbeitung der folgenden Aufgabe jene Fotos dar, zu denen Ihnen nicht sofort geeignete pädagogische oder
soziale Zielsetzungen einfallen. Versuchen Sie bitte dennoch auf mögliche Lösungen zu kommen.

Aufgabe 29d

Ergänzen Sie zu den folgenden Unterrichtslandschaften jeweils die pädagogischen und sozialen Ziele.

Situation pädagogische Ziele soziale Ziele


1

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Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 29d

Mit den sozialen und pädagogischen Zielsetzungen haben wir uns ein erstes Kriterium erarbeitet, mit dessen Hilfe die Geografie von Klassenräumen
beschrieben und gestaltet werden kann. Wir hoffen, dass Ihnen die sehr unterschiedlichen Unterrichtssituationen auf den Fotos das Verstehen
dieses Zugangs erleichtert haben. Eine andere Perspektive auf das Thema dieses Kapitels ergibt sich, wenn man den Begriff des Raumes nicht auf
seine greifbaren, gegenständlichen Aspekte beschränkt. Raum kann also mehr bedeuten als nur die Größe des Zimmers oder die Anordnung von
Tischen und Stühlen. Dieser Gedanke ist der Ausgangspunkt für den nun folgenden Abschnitt.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.2. Das Klassenzimmer als Landschaft © Goethe-Institut

Körperliche und geistige Bewegungsspielräume

Im Folgenden möchten wir Ihr Augenmerk darauf lenken, dass der Begriff Raum sowohl eine physische Dimension hat als auch eine psychisch-
geistige: Er kann sich also auf greifbare, gegenständliche Aspekte beziehen, wie wir sie an der Anordnung der Möbel oder der Bewegungen im
Klassenraum bereits analysiert haben. Zugleich kommt dem Begriff Raum im Zusammenhang mit Lehr- und Lernprozessen auch eine geistige
Dimension zu.

Was meinen wir konkret mit körperlichen und geistigen Bewegungsspielräumen? Als Lehrperson können Sie den Lernenden, sofern es die
Bedingungen zulassen, im wörtlichen Sinn Bewegungsspielräume geben. Wenn beispielsweise während des Unterrichts die Sitzordnungen
gewechselt werden, wenn die Lernenden ihre Position im Klassenzimmer verändern, wenn sie abwechselnd stehen, laufen oder sitzen, dann kommt
es zu einer körperlichen Dynamik. Es entstehen körperliche Bewegungsspielräume. Ganz unabhängig davon, was die Lernenden dabei konkret
machen, kann diese Bewegung an sich bereits sehr sinnvoll sein, denn sie bringt Abwechslung in das Geschehen und wirkt sich dadurch
möglicherweise positiv auf die Aufmerksamkeit aus.

Körperliche Dynamik ist aber nicht zwangsläufig ein Merkmal guten oder effektiven Unterrichts – ebenso wenig, wie ihr Fehlen einen Makel für den
betreffenden Unterricht darstellt.

Die für das Deutschlernen wichtige Frage lautet nicht: "Wie viel Bewegung passiert im Klassenraum?", sondern: "Wie groß sind die geistigen
Bewegungsspielräume und welchen Anteil am Unterricht haben sie?"

Die psychische Dimension von Raum bezieht sich also auf die Möglichkeiten der Lernenden, eigene Gedanken einzubringen, selbstständig Neues
zu entdecken, kreativ tätig zu werden oder persönliche Ansichten zu äußern. Das verstehen wir unter geistigen Bewegungsspielräumen.

Zieht man diese beiden Dimensionen des Begriffs in Betracht, dann bedeutet Unterrichten, fortwährend die Räume zu erweitern und zu verengen, in
denen sich die Lernenden körperlich und geistig bewegen. Was das konkret besagt, wollen wir uns an einem Beispiel ansehen.

Schulart, Ort, Jahr Goethe-Institut, New Delhi, 2010


Niveau Erwachsene, A1
Lehrkraft Poonam Saxena

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Globales Lernziel Persönliche Fragen stellen: Ja7Nein- und W-Fragen
Lehr-Lernaktivitäten Wortreihenfolge im Satz: TN stellen sich in einer Reihe auf, das Plenum dirigiert die Reihenfolge

In diesem kurzen Unterrichtsmitschnitt können wir verfolgen, wie die Lehrerin die Möglichkeiten der Raumgestaltung handhabt. Überlegen Sie bitte,
in welchen Situationen die Lernenden Freiräume erhalten, um sich körperlich zu bewegen oder eigene Gedanken zu entwickeln.

Aufgabe 30

Sehen Sie Sequenz 6 von Goethe-Institut New Delhi 1. An welchen Handlungen der Lehrerin und der Lernenden können Sie beobachten, dass
Bewegungsspielräume erweitert oder verengt werden? Ergänzen Sie die Tabelle.

körperlicher Bewegungsspielräume geistige Bewegungsspielräume


Sie erweitert die Spielräume, … … weil sie an den Rand geht und den Platz vor der … weil …
Tafel den Lernenden überlässt.
Sie verengt die Spielräume, … … weil … weil …

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 30

Ist Ihnen an diesem Video deutlich geworden, dass die Position im Raum nicht unbedingt einen Einfluss darauf hat, welche geistigen Spielräume es
gibt?

Indem sich die Lehrerin Poonam Saxena in Richtung Wand zurückzieht und einige Lernende nach vorne bittet, öffnet sie den Raum, sowohl für die
körperliche als auch für die geistige Bewegung der Lernenden. Das Klassenzimmer wird zu einer Landschaft, in der die Lernenden selbstständig
etwas entdecken können. Allerdings sind in diesem Fall die Wege für diese Entdeckungstour bereits relativ eng abgesteckt. Die Aufgabe für die
Lernenden besteht also darin, gemeinsam das zu finden, was die Lehrerin zuvor versteckt hat. Nachdem ihnen das gelungen ist, verengt die
Lehrerin wieder den Raum, ohne dabei ihre Position zu verändern. Warum sie so handelt, ergibt sich unseres Erachtens aus den Lernzielen in
dieser Situation. Ihr geht es in dieser Unterrichtssequenz vor allem darum, das grammatische Phänomen der W-Frage zu üben. Auch die richtige
Aussprache und die Satzmelodie in einem Fragesatz sind ihr wichtig. Um die Aufmerksamkeit der Lernenden auf ihre Fehler zu richten, muss sie
den Raum wieder verengen.

Man erkennt am Verhalten der Lernenden, dass hier auch ein anderes Vorgehen möglich gewesen wäre. Viele Lernende möchten sich zum Beispiel
zur Frage der Lehrerin äußern, was sie in ihrer Freizeit tun. Sie versuchen also, weiter in die eingeschlagene Richtung zu gehen und damit ihren
Spielraum zu vergrößern. Aber an diesem Punkt des Unterrichts hält die Lehrerin es für wichtiger, einzelne Äußerungen zu korrigieren. Das gelingt
ihr nur, indem sie den Lernenden Grenzen setzt. Damit führt uns dieser Unterrichtsmitschnitt auch zurück zu den didaktisch-methodischen
Prinzipien, die wir in Kapitel 1.5 mit Ihnen besprochen haben. Es ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine Lehrerin zwischen fremd- und
selbstgesteuertem Lernen eine eigene Position bestimmt, die ihrem Lernziel in dieser konkreten Unterrichtssituation angemessen ist.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.2. Das Klassenzimmer als Landschaft © Goethe-Institut

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Unterrichtslandschaften gestalten

Zum Abschluss dieses Kapitels möchten wir Sie bitten, selbst tätig zu werden.

Ihre Aufgabe wird darin bestehen, zu mehreren Lehrwerksbeispielen einen passenden Klassenraum zu gestalten. Sie haben dabei weitgehende
Entscheidungsfreiheit. Die einzige Vorgabe, die Sie beachten sollten, ist eine Klassengröße von 25 Lernenden.

Die Aufgabe ist nicht einfach. Denn es fehlen wichtige Informationen, die Sie normalerweise für Ihre Planung haben: Was sind die Lernziele in dem
betreffenden Unterricht? Was passierte im Unterricht vorher? Was ist für den weiteren Verlauf vorgesehen? Wie reagiert diese Klasse auf diese Art
von Übungen oder Aufgaben? Weil Sie also vieles nicht wissen, ist zu jedem Material eine Vielzahl von Arrangements denkbar und auch sinnvoll.
Deshalb werden wir Sie auch bitten, die Gründe für Ihre Entscheidung in Stichpunkten festzuhalten.

Zunächst sehen wir uns ein Beispiel gemeinsam an. Bei Material 5 gibt uns schon die Aufgabenstellung einen Hinweis darauf, wie der Klassenraum
gestaltet sein könnte. Denn Teilaufgabe 2b fordert einen Austausch mit anderen Lernenden. Die Anordnung der Tische sollte dies natürlich nicht
behindern. Entscheidender ist beim folgenden Lehrwerksausschnitt jedoch, dass es eine Reihe von Leerstellen lässt, die von den Lehrenden bei
ihrer Planung gefüllt werden müssen.

Material 5

Aspekte, Lehrbuch 1, S. 10.

Zunächst sollen die Lernenden anhand einer Auswahl von Wörtern ihre persönlichen Auffassungen von Glück reflektieren. Offen bleibt, ob dies in
Einzelarbeit geschehen soll oder bereits an dieser Stelle ein Austausch zwischen den Lernenden angestrebt wird. Beide Varianten sind denkbar.

Für die Gestaltung des Klassenraums ist die Entscheidung für eine Variante jedoch folgenreich. Konzentrieren wir uns also auf das kommunikative
Potenzial dieser Aufgabe und nehmen an, die Kursteilnehmenden erarbeiten sich bei 2a) in Kleingruppen eine Liste von fünf Begriffen, die alle
Gruppenmitglieder mit Glück assoziieren. In diesem Fall müssten die 25 Lernenden so im Raum verteilt werden, dass sie sich möglichst ungestört
austauschen können. Wir schlagen vor, sie auf fünf Gruppen zu verteilen.

Aufgabe 2b regt dann dazu an, die unterschiedlichen Lösungen von Aufgabe 2a zu vergleichen. Auch hier erscheinen wieder mehrere Aktivitäten
sinnvoll. Die Größe der Klasse legt es zum Beispiel nahe, die Lernenden zu fünf völlig neuen Gruppen zu ordnen (Gruppenpuzzle oder
Jigsaw-Methode).

Vorstellbar ist auch, dass die Gruppen aufgelöst werden und die Lernenden in Partnerarbeit kleine Gespräche über das Thema führen. In beiden
Fällen müssten die Gruppentische so platziert werden, dass ausreichend Raum für Bewegung in der Klasse bleibt.

Wir entscheiden uns aber für eine Variante, bei der die Ergebnisse der Gruppenarbeit im Plenum diskutiert werden. Dafür bleiben die Lernenden an
ihren Plätzen, sollten aber einen möglichst freien Blick zur Tafel haben. Dort werden die fünf Listen mit den Begriffen aus jeder Gruppe
angeschrieben. Die einzelnen Gruppen überlegen sich dann eine Frage zu jeder der vier anderen Listen. Wir verändern also an diesem Punkt die
originale Aufgabenstellung von 2b, um den Bedingungen dieser Klasse gerecht zu werden. Über diese Fragen kommen wir letztlich auch zu dem

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Ziel, dass in Material 5 angelegt ist: Die Lernenden begründen Ihre Auswahl. Dieser Austausch zwischen den Gruppen könnte bei entsprechender
Aktivität der Lernenden einen Großteil der restlichen Unterrichtsstunde in Anspruch nehmen.

Die folgende Abbildung stellt eine geeignete Klassenraumgestaltung für unsere Bearbeitungsvariante von Material 5 dar.

Nun bitten wir Sie, vier weitere Materialien auf ähnliche Art und Weise zu bearbeiten, wobei Ihre Begründungen nicht so umfangreich ausfallen
müssen. Es reichen jeweils einige Stichpunkte.

Aufgabe 31

Wie würden Sie den Klassenraum gestalten, um effektiv mit den Materialien 6 bis 9 zu arbeiten? Machen Sie eine Skizze und begründen Sie in
Stichpunkten Ihre Entscheidung.

Material 6

AusBlick, Kursbuch 1, S. 12.

Skizze Begründung

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Material 7

Begegnungen A1 plus, Integriertes Kurs- und Arbeitsbuch, S. 45.

Skizze Begründung

Material 8

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Themen aktuell, Kursbuch 3, S. 76.

Skizze Begründung

Material 9

Wir 1, Lehrbuch, S. 10.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 31

Ist es Ihnen gelungen, für jedes Material einen geeigneten Klassenraum zu skizzieren? Möglicherweise haben Sie – wie wir in unserem Entwurf für
Material 5 – die Arbeitsaufträge an die Lernenden etwas verändert. Wir würden das sehr begrüßen, denn in diesem gesamten Kapitel geht es
letztlich um die Frage, wie sich Lehrende eigene Handlungsspielräume erschließen können.

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Aufgabe 32

Und für welche Lehr- und Lernaktivitäten könnten sich wohl diese Unterrichtslandschaften eignen?

Situation mögliche Lehr- und Lernaktivitäten


A

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 32

Die gezeigten Unterrichtslandschaften sind vielleicht für Sie weniger vertraut oder in Ihrem Kontext nur schwer realisierbar. Dennoch halten wir es für
wichtig, dass Sie die Spannbreite der Möglichkeiten kennenlernen. Dass Lernende wie in Situation A manchmal selbst die Lehrerrolle übernehmen,
ist in jedem Klassenraum möglich.

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Situation A

Situation B wird häufig von unflexiblen Einrichtungen in den Klassenzimmern verhindert. Aber es lassen sich Alternativen vorstellen: Beispielsweise
könnte diese Form des Unterrichts auch auf einem Schulhof stattfinden.

Situation B

Bei Situation C denken wir zum Beispiel an einen Unterricht, in dem die Lernenden gemeinsam an Computern sitzen, um Informationen zu
recherchieren oder Texte zu verfassen. Oft ist das noch nicht möglich, weil die technische Ausstattung fehlt. Aber in den letzten Jahren hat sich
gerade diese Form des Lehrens und Lernens sprunghaft weiterentwickelt. Wir möchten deshalb abschließend auf diese Tendenz zu sprechen
kommen.

Situation C

virtuelle Unterrichtslandschaften

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Die Unterrichtslandschaft wird nicht unbedingt von den vier Wänden des Klassenzimmers begrenzt. Die digitalen Medien haben die Möglichkeit der
Vernetzung des Klassenzimmers mit den Welten der Zielsprache eröffnet. Auch in der Vergangenheit haben sich Lehrkräfte bemüht, direkte
Kontakte zu Deutsch Sprechenden in den Unterricht einzubeziehen, etwa durch Briefkontakte. Berichte aus der ganzen Welt dokumentieren
Projekte, in denen Lernende "Deutsch um die Ecke" erkunden: Deutsche Spuren in Kanada, in den USA, Japan, Italien oder Russland (Wicke 1993).
Die digitale Revolution im Bildungsbereich hat die Wände des traditionellen Klassenzimmers aber sehr viel durchlässiger gemacht. Das große
Angebot an multimedialen Texten, aber auch an Begegnungsmöglichkeiten durch Web 2.0-Technologien sind eine Chance und eine
Herausforderung zugleich. Wir kommen auf die Chancen zurück, wenn wir mit Ihnen die Metapher Kommunikationszentrum erörtern.

Im Detail können Sie das Potenzial der digitalen Medien in Einheit 5 bearbeiten. Wenn die bisherigen Aufgaben in diesem Kapitel Ihr Interesse an
der Gestaltung einer Unterrichtslandschaft geweckt haben, dann sollten Sie sich unbedingt auch mit Einheit 4 beschäftigen. Dort werden Sie die
verschiedenen Arbeits- und Sozialformen des Unterrichts genauer kennenlernen und sich systematisch mit ihrem Einsatz vertraut machen können.

Zusammenfassung

Die Geografie des Klassenraumes wurde zu Beginn des Kapitels vor allem anhand der Anordnung von Tischen und Stühlen oder der Bewegungen
der Personen betrachtet. Fraglos handelt es sich dabei um ganz zentrale Elemente der Raumgestaltung. Mit der Unterscheidung von körperlichen
und geistigen Bewegungsspielräumen haben wir dann verdeutlicht, dass die Gestaltung einer Unterrichtslandschaft nicht auf diese beiden Aspekte
beschränkt bleiben darf.

Tatsächlich lässt sich bei genauerer Betrachtung noch eine ganze Reihe von Elementen der Geografie eines Klassenraumes nennen, die eine
entscheidende Rolle spielen. Denken wir beispielsweise an die vielen architektonischen und innenarchitektonischen Merkmale, die das Befinden von
Lehrenden und Lernenden oder ihre Aktivitäten im Unterricht beeinflussen. Sie wissen sicher aus eigener Erfahrung, wie etwa die Größe der Räume,
die Farbe von Wänden und Mobiliar, die verwendeten Baumaterialien, die Belichtung, die klimatischen Raumverhältnisse, die Akustik und nicht
zuletzt die Ausstattung mit Medien oder eine das Lernen unterstützende Wandgestaltung auf das Unterrichtsgeschehen einwirken. Auf all diese
Punkte konnten wir in diesem Kapitel nicht im Detail eingehen. Wir möchten Sie deshalb bitten, in den Unterrichtsmitschnitten, denen Sie in diesem
und den anderen Einheiten begegnen, immer auch auf den Einfluss des Raumes zu achten und sich dazu Notizen zu machen.

Bereits die bisherigen Unterrichtsmitschnitte führten uns eindrücklich vor Augen, wie stark Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer Gestaltung der Geografie
des Klassenraumes einzelne Aspekte des Unterrichts steuern können. Sie ermöglichen und unterstützen dabei nicht nur die Lernprozesse der
Kursteilnehmenden. Sie schaffen auch die Grundlage für die sozialen Beziehungen in der Klasse.

In einer sinnvollen Gestaltung des Klassenraumes zeigen sich somit Ihre Planungs- und Managementkompetenz ebenso wie Ihre personale und
soziale Kompetenz, ihre methodische Kompetenz oder Ihre Beherrschung von Lehr- und Lernformen. Das Klassenzimmer als Landschaft zu
denken, bietet Ihnen als Lehrkraft daher einen wichtigen Ansatzpunkt, um Ihr berufliches Wissen und Können besser zu verstehen und auszubauen.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.2. Das Klassenzimmer als Landschaft © Goethe-Institut

2.3 Das Klassenzimmer als Kultur

Welche Assoziationen haben Sie, wenn Sie den Begriff Kultur im Zusammenhang mit dem Deutschunterricht hören?

Möglicherweise denken Sie zuerst an bestimmte Lehr- und Lerngewohnheiten, die für Ihr Land typisch sind. Der Einfluss solcher Traditionen gehört
für Lehrende zu den alltäglichen Erfahrungen ihrer Arbeit. Sie beeinflussen das Handeln aller Personen im Unterricht. Sie spiegeln sich in ihren
Erwartungen und Zielen wider. Sie zeigen sich aber auch in der Gestaltung von Klassenräumen und Unterrichtsmaterialien. Wenn wir in diesem
Kapitel das Klassenzimmer als eine Kultur betrachten wollen, sollten wir uns also unbedingt diesen Traditionen des Lehrens und Lernens zuwenden.
Allerdings meinen wir, dass sich die Metapher Kultur nicht in diesem Verständnis erschöpft. In diesem Kapitel zeigen wir, welche weitreichendere
Bedeutung mit ihr verknüpft ist.

Unterricht ist ein soziales Geschehen, bei dem Menschen für eine gewisse Zeit zusammenkommen und sich in der Gemeinschaft einer Aufgabe
widmen: in unserem Fall dem Erlernen der deutschen Sprache. Während dieser gemeinsamen Wochen, Monate oder vielleicht sogar Jahre bilden
sich persönliche Beziehungen heraus. Es werden Regeln für das Miteinander verabredet, es entstehen Rituale, und die Kommunikation folgt
bestimmten Mustern. Außenstehende, die für kurze Zeit einen Unterricht beobachten, verstehen deshalb nur bedingt, was sich dort gerade abspielt.
Oder sie nehmen einzelne Handlungen gar nicht wahr, weil sie deren Bedeutung nicht kennen. Wenn man Unterricht aus dieser Perspektive
betrachtet, weist er viele Merkmale auf, die wir normalerweise Kulturen zusprechen. Es ist deshalb sinnvoll, jede Lerngruppe als eine eigenständige,
wenn auch sehr kleine Kultur zu betrachten.

Mit diesen beiden Sichtweisen auf den Begriff Kultur ist das Gebiet umrissen, das wir in diesem Kapitel gemeinsam mit Ihnen bearbeiten möchten.

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Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.3 Das Klassenzimmer als Kultur © Goethe-Institut

2.3.1 Lehr- und Lernkulturen

In Kapitel 1.3 haben wir uns intensiv mit dem Zusammenspiel von Unterricht und den lokalen Kontexten beschäftigt, in denen er stattfindet. Wir
haben dabei festgestellt, dass sich einzelne Faktoren des Umfeldes darauf auswirken, wie der Deutschunterricht organisiert und durchgeführt wird.
Dieser Einfluss von sozialen, wirtschaftlichen, politischen, historischen oder religiösen Faktoren führt dazu, dass regional unterschiedliche Lehr- oder
Lernkulturen entstehen.

Mit diesem Kapitel möchten wir erreichen,

dass Sie den Einfluss von Lehr- und Lerntraditionen auf den Unterricht besser einschätzen können,
dass Sie innerhalb einer Lehr- und Lerntradition die Handlungsspielräume von Lehrenden erkennen.

Lehr- und Lernkulturen entstehen durch die jeweiligen Lehr- und Lerntraditionen. Man erkennt sie zum Beispiel daran, dass Lehrende in einem Land
ähnliche Lehrphilosophien entwickeln. Bestimmte Denkmuster werden innerhalb einer solchen Lehr- und Lernkultur von einer Generation auf die
nächste überliefert, sodass sich ein allgemein akzeptiertes Bild davon herausbildet, wie Unterricht aussehen sollte.

Diese tradierten Denkmuster enthalten gesichertes Wissen über den Unterricht und erleichtern deshalb Lehrenden die Arbeit erheblich. Sie als
Lehrkraft können sich also, wenn sie vor einer Klasse stehen, auf das beziehen, was bei vielen Kolleginnen und Kollegen als üblich, alltäglich und
bewährt gilt. Sie brauchen nicht jede Ihrer Handlungen zu hinterfragen. Gerade die Normalität ist es jedoch, die es uns erschwert, die eigenen
Denkmuster und deren blinde Flecken zu verstehen. Deutlich zu Tage treten sie vor allem dann, wenn sie auf Widerspruch stoßen, wenn also
beispielsweise eine andere Person das Normale in unserer Sichtweise gerade nicht erkennen kann.

Bei der Auseinandersetzungen mit den Lehrphilosophien von Kolleginnen und Kollegen in den bisherigen Aufgaben gab es für Sie vielleicht bereits
den einen oder anderen Moment, in dem Sie selbst das Gefühl hatten, dass Sie die Argumentation nicht gut nachvollziehen konnten. Wir sehen uns
in der nun folgenden Aufgabe eine Situation an, in der unterschiedliche Denkmuster aufeinander treffen. In dem kurzen Dialog unterhält sich ein
Lehrer aus den USA nach einem Englischkurs an einer chinesischen Universität mit einem chinesischen Studenten. Dieses Gespräch hätte sicher
auch am Ende eines Deutschkurses stattfinden können. Vielleicht haben Sie sogar selbst schon eine ähnliche Situation erlebt.

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Lerner
Lehrer

Der Unterricht hat mir wirklich Spaß gemacht, aber was habe ich gelernt?

Du hast jede Woche viel gesprochen.

Aber was habe ich gelernt?

Du hast zu sprechen gelernt.

Aber was kann ich mit nach Hause nehmen? Ich habe nichts in meinem Heft, keine Notizen, keine Grammatik.

Aber du kannst jetzt eine Fremdsprache sprechen!

Wird mir das bei meiner Prüfung helfen?

(Cortazzi/Jin 1996, S. 186, übersetzt.)

Aufgabe 33

Welche Vorstellungen vom Lehren und Lernen einer fremden Sprache treffen in diesem Dialog aufeinander?

a) In welchen Punkten stimmen Lehrer und Lerner überein?

b) Wo liegen die Unterschiede?

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 33

Der kurze Dialog des chinesischen Studenten mit seinem Englischlehrer verdeutlicht sehr anschaulich, dass das Aufeinandertreffen
unterschiedlicher Lehr-Lerntraditionen leicht zu Missverständnissen führt. Wenn Unterrichtsmethoden und -materialien unbedacht in einen
bestimmten Kontext importiert werden, sind deshalb häufig Unzufriedenheit, Abwehrhaltungen oder sogar offene Konflikte die Folge. Lehrende
sollten daher für die lokalen Lehr-Lerntraditionen sensibel sein. Sie sollten aber zugleich auch abschätzen können, inwieweit sich diese verändern
bzw. beeinflussen lassen.

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Was das konkret bedeutet, möchten wir exemplarisch an der ostasiatischen Lehr- und Lernkultur verdeutlichen, mit der wir in dem Gespräch in der
vorigen Aufgabe bereits in Kontakt gekommen sind.

ostasiatische Lehr-Lernkultur

Ländern wie China, Korea oder Japan werden aufgrund ihrer Prägung durch den Konfuzianismus und Kollektivismus häufig sehr ähnliche Lehr- und
Lerntraditionen zugeschrieben. Liest man Berichte über ostasiatische Lernende im Fremdsprachenunterricht, dann tauchen immer wieder Begriffe
wie Passivität und Zurückhaltung, Fixierung auf Schriftlichkeit, das Auswendiglernen oder mechanisches Üben auf. Der Unterricht in den
betreffenden Ländern wird als lehrerdominiert, grammatikzentriert und prüfungsorientiert dargestellt (siehe die Übersicht bei Cheng 2000, S. 436ff.,
Schart/Schütterle 2006, S. 83ff.). Als Ursachen für diese Lehr- und Lerntradition gelten sowohl historische und religiöse Aspekte als auch die
besonderen Bedingungen der Bildungssysteme der betreffenden Länder, etwa die wesentliche Rolle der Aufnahmeprüfungen für die Universitäten.

Es ist wichtig für Lehrende, solche Zusammenhänge zu erkennen. Sie bilden einen wichtigen Bestandteil ihrer Planungs- und
Managementkompetenz. Im ersten Kapitel haben wir uns deshalb am Beispiel konkreter Unterrichtssituationen schon mit dem Einfluss des
Kontextes beschäftigt. In diesem zweiten Kapitel steht jetzt die Frage im Mittelpunkt, wie Lehrende ihre Spielräume bei der Gestaltung des
Unterrichts erweitern können. An dieser Stelle ist also eher die Entwicklungskompetenz von Lehrenden angesprochen. Sie führt uns dazu, die
regionalen Lehr- und Lernkulturen nicht als eine stabile Einflussgröße zu verstehen, der sich Lehrerinnen und Lehrer anpassen müssen. Vielmehr
legt die Entwicklungskompetenz die Frage nahe, ob und in welcher Form gewohnte Denk- und Verhaltensweisen verändert werden können, wenn
sie der Entwicklung des Unterrichts entgegenstehen.

Diesen Punkt möchten wir kurz erklären, um Missverständnisse zu verhindern. Das sehr gute Abschneiden der ostasiatischen Schülerinnen und
Schüler in internationalen Vergleichsstudien wie PISA verdeutlichet, dass die dortigen Lehr- und Lernformen zu beachtlichen Erfolgen führen. Es soll
im Folgenden also nicht darum gehen, ein negatives Bild des Lernens in ostasiatischen Klassenräumen zu zeichnen. Mit weitaus größerer
Berechtigung könnte man untersuchen, welche Elemente dieser Lernkultur andernorts importiert werden sollten. Uns interessiert hier nur die Frage,
welche Möglichkeiten sich Lehrenden bieten, wenn sie aufgrund lokaler Lehr- und Lerngewohnheiten mit ihrer Konzeption des Unterrichts auf
Probleme stoßen. Wir möchten Lehrende, die sich in einer solchen Situation befinden, dazu anregen, sich nicht durch überlieferte Vorstellungen
bestimmen zu lassen, sondern aktiv an der Veränderung von Traditionen zu arbeiten.

Dass dies auch im Fall der ostasiatischen Lehr- und Lernkultur ein Erfolg versprechender Ansatz ist, lässt sich an den folgenden Zeichnungen
japanischer Studierender demonstrieren.

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Illustration gestaltet nach der Zeichnung einer japanischen Studentin zu Beginn ihres Studiums zum Thema: Meine negativen Erfahrungen mit dem
Fremdsprachenunterricht in der Schule (Original siehe Schart 2011)

Diese Abbildung ist Ihnen bereits aus Kapitel 1.1 bekannt. Die Studentin hält mit diesem Bild ihre negativen Erfahrungen mit dem Englischunterricht
in ihrer Oberschule fest. Die Zeichnung bestätigt auf den ersten Blick einige der oben genannten Merkmale der ostasiatischen Lehr- und Lernkultur.
So treten zum Beispiel die Dominanz des Lehrers und die Passivität der Lernenden deutlich hervor. Dass der hier abgebildete Frontalunterricht auch
sinnvoll sein kann, werden Sie in Einheit 4 der Reihe Deutsch Lehren Lernen noch ausführlicher besprechen. Dem Lehrer aus der Abbildung jedoch
misslingt es offensichtlich, die Mehrheit der Lernenden zu erreichen.

Interessant ist nun zu beobachten, welche Art von Zeichnungen japanische Studierende anfertigen, wenn sie nach ihrem Idealbild des
Fremdsprachenunterrichts gefragt werden. In diesem Fall erhält man keine Zeichnungen, die den Frontalunterricht in einem positiveren Licht zeigen.
Typisch sind vielmehr Bilder, die scheinbar nicht so recht zur ostasiatischen Lehr- und Lernkultur passen wollen. Die folgende Abbildung ist dafür ein
typisches Beispiel. Auf ihr sieht man einen sehr kommunikativ ausgerichteten Unterricht, in dem sich die Lernenden sprechend oder mitdenkend
aktiv beteiligen.

Illustration nach der Zeichnung eines japanischen Studenten zu Beginn seines Studiums zum Thema: Meine Vorstellung von gutem
Fremdsprachenunterricht (Original siehe Schart 2011), Bildunterschrift des Originals ins Deutsche übersetzt:

"Die Lernenden äußern ihre Meinung zur Frage des Lehrers. Die Lernenden tauschen auch untereinander ihre Meinungen aus."

Dass es sich bei den Zeichnungen nicht um die Wahrnehmung eines einzelnen Lernenden handelt, verdeutlichen wissenschaftliche Studien, die sich
mit diesem Thema beschäftigen. Sie zeigen einerseits, dass sich bei japanischen Studierenden tatsächlich die oben zitierten Merkmale der
ostasiatischen Lernkultur nachweisen lassen. So schätzen sie sich selbst als still, zögerlich und schüchtern ein. Sie bevorzugen Unterrichtsformen,
bei denen die Lehrperson das Geschehen anleitet (siehe Ellwood/Nakane 2009; Littlewood 2010). Andererseits wird aber bei genauerer
Untersuchung deutlich, dass die Ursachen für die Schweigsamkeit und Passivität von ostasiatischen Lernenden nicht in erster Linie bei den
Traditionen gesucht werden sollten, sondern bei den konkreten Bedingungen des Unterrichts. In den Studien zeigt sich, dass Schweigsamkeit und
Passivität auch die folgenden Ursachen haben können (Kikuchi 2009; Littlewood 2000; Cheng 2000):

ungeeignete Arbeitsformen

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sprachliche Überforderung
irrelevante und langweilige Inhalte
schwierige Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden
der Lehrstil
die fehlende Motivation zum Fremdsprachenlernen

Anders als beim relativ abstrakten Begriff der Lehr- und Lernkultur öffnet sich durch eine solche Liste der Blick auf einzelne Aspekte des
Lehrerhandelns, an denen eine Veränderung ansetzen kann. Das abstrakte und statische Konzept Lehr- und Lernkultur wandelt sich: Das
Besondere der Kultur wird fassbarer und handhabbarer. Betrachtet man die Kultur so konkret, erkennt man schnell, dass Lehrende sie beeinflussen
können. Kultur wird zu einer veränderbaren Variable des Kontextes von Unterricht. Dieser Perspektivenwechsel erweitert also den Spielraum
beträchtlich, den Lehrende für die Gestaltung ihres Unterrichts haben.

Das lässt sich an zahlreichen Beispielen aus der Forschung und der Unterrichtspraxis demonstrieren. So hat Klaus-Börge Boeckmann (2006) in
einer empirischen Studie überzeugend dargestellt, dass auch japanische Lernende entgegen der genannten Traditionen interaktiven Lernformen
gegenüber aufgeschlossen sind. Er zeigt beispielsweise, wie flexibel sie sich auf die Bedingungen eines Unterrichts einstellen können: Je nach
Lehrperson ändert sich ihr Kommunikationsverhalten abrupt. Auch auf Seiten der Lehrenden findet Boeckmann keine Anhaltspunkte dafür, dass
Lehr- und Lernkulturen unüberwindbar wären. Es sind vielmehr die individuellen Präferenzen der Lehrenden, die den Ausschlag für eine bestimmte
Form von Unterricht geben. Die Lehr- und Lernkultur hindert japanische Deutschlehrende beispielsweise nicht daran, kommunikativ orientierten
Unterricht zu gestalten, wenn sie entsprechende Qualifikationen oder Persönlichkeitsmerkmale haben oder eigene Lernerfahrungen mit dieser
Unterrichtsform sammeln konnten.

Kultur des Klassenraums

Die lokale Lehr- und Lernkultur, so lassen sich die bisherigen Überlegungen zusammenfassen, kann man auf der Ebene einzelner
Unterrichtsstunden nur bedingt feststellen. Was sich im Unterricht zeigt, ist eine Kultur des Klassenraums. Diese wird von den Beteiligten -
Lehrperson und Lernenden - gemeinsam geschaffen. Und weil die Lehrperson dabei eine wichtige Rolle spielt, müssen wir auf diesen
Zusammenhang in den folgenden Kapiteln 2.3.2 und 2.3.3 ausführlich zu sprechen kommen.

Davor bitten wir Sie, Ihre eigenen Erfahrungen mit Lehr- und Lerntraditionen festzuhalten. Haben Sie selbst vielleicht schon einmal bewusst oder
unbewusst entgegen einer solchen Tradition im Unterricht gehandelt? Falls Ihnen diese Erfahrung bisher fehlt, möchten wir Sie bitten, sich mögliche
Situationen vorzustellen. Bei den Videos und Fotos, die Ihnen in dieser Einheit bisher begegnet sind, finden sich dazu einige Anregungen.

Aufgabe 34

Beschreiben Sie in Stichpunkten zwei Unterrichtssituationen, die für die Lehr- und Lernkultur in Ihrem Arbeitsumfeld eher untypisch sind. Welche
positiven und/oder negativen Erfahrungen haben Sie gemacht bzw. würden Sie erwarten?

Unterrichtssituation 1:

positive Erfahrung negative Erfahrung

Unterrichtssituation 2:

positive Erfahrung negative Erfahrung

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Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 34

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.3 Das Klassenzimmer als Kultur © Goethe-Institut

2.3.2 Das Lernen als individueller und sozialer Prozess

Die Argumentation zur Kultur-Metapher führte uns zu der Konsequenz, dass Lehrende für die Lehr- und Lerntraditionen eines Landes zwar sensibel
sein sollten, diese aber nicht als unveränderlich betrachten dürfen. Um den Unterricht besser zu verstehen, ist es hilfreich, jedes Klassenzimmer als
eine Kultur wahrzunehmen. Diese entsteht aus dem Zusammenspiel von Lehrenden und Lernenden. Wie sich dieser Prozess konkret vollzieht,
möchten wir uns nun genauer ansehen.

Es geht uns in diesem Kapitel darum,

dass Sie den Unterschied zwischen individuellen und sozialen Lernprozessen nachvollziehen können,
dass Sie verstehen, wie sich soziales Lernen in der Interaktion von Lernenden zeigt.

Die Überlegung, dass Lehr- und Lernprozesse besser verstanden werden, wenn man den Unterricht als eine Form von Kultur betrachtet, gehört zu
den neueren Entwicklungen in der Fachwissenschaft. Sie stellt einen deutlichen Bruch zu traditionellen Vorstellungen dar. Aus der
sprachwissenschaftlichen Perspektive, die lange Zeit in der Fremdsprachendidaktik den größten Einfluss hatte, erscheint das Klassenzimmer eher
als ein Labor: Durch geschicktes Aufbereiten und Präsentieren von sprachlichem Input – so die wesentliche Annahme der Labor-Metapher – lässt
sich der sprachliche Output der Lernenden steuern. Bei einer solchen Auffassung rückt bei der Planung von Unterricht die Frage ins Zentrum, wie
sich der Input (z.B. grammatische Regeln, Wortschatz, Satzstrukturen) so anordnen und darbieten lässt, dass er von den Lernerinnen und Lernern
verstanden, in der vorgesehenen Reihenfolge erlernt und als Output wiedergegeben wird.

Dass von der Idee einer direkten Verbindung zwischen Erklären und Erlernen eine starke Anziehungskraft ausgeht, verwundert nicht. Sie erleichtert
die Planung des Unterrichts sehr, bietet eine überzeugende Grundlage für die Erstellung von Lernmaterialien und schafft damit Sicherheit in einer
unübersichtlichen Situation. Sie richtet die Aufmerksamkeit darauf, dass erfolgreiches Lernen auch davon abhängt, welches Deutsch zu welchem
Zeitpunkt und in welcher Form im Klassenraum auftaucht. Und dennoch hat die Labor-Metapher einen entscheidenden Schwachpunkt: Sie reduziert
das Lernen auf ein Input-Output-Schema. Es sind zwei wichtige Argumente, die gegen diese Sicht von Unterricht sprechen.

Lernen als individueller Prozess

Lernen muss als ein aktiver Prozess von Individuen gesehen werden, nicht als ein passives Aufnehmen von dargebotenen Inhalten. Auch im Lernen
spiegelt sich deshalb die Vielfalt der Menschen. Das wird deutlich, wenn man sich Lernverläufe einzelner Lernerinnen und Lerner ansieht. Diese
folgen zumeist sehr gewundenen Pfaden, wie Sie sicher aus den Erfahrungen Ihrer alltäglichen Praxis bestätigen können. Es gibt wohl keine
Lehrperson, die ihn nicht kennt, diesen verzweifelten Ausruf: "Aber das habe ich doch schon dreimal erklärt!"

Was die Lernenden aus dem Unterricht letztlich mitnehmen, lässt sich nicht genau vorhersagen und unterscheidet sich außerdem noch erheblich
von Person zu Person. Die Bedingungen des Kontextes, zum Beispiel große Klassen, bringen es mit sich, dass Lernende entgegen dieser
Erkenntnis nur in einer Art und Weise unterrichtet und geprüft werden. Das sollte Lehrende jedoch nicht zu der Annahme verführen, sie könnten eine
Gruppe von Individuen durch eine bestimmte Anordnung von Unterrichtsinhalten auf den gleichen Lernweg führen.

Lernen als sozialer Prozess

Gegen das Input-Output-Schema spricht auch der schon mehrfach erwähnte soziale Charakter des Unterrichts. Dass sich das Lernen ausschließlich
in den Köpfen von Individuen abspiele, ist eine traditionelle und sehr beharrliche Vorstellung über den Lernprozess. Nicht nur für Lehrende stellt sie
häufig die Grundlage ihrer Arbeit dar. Auch die meisten Forschungsprojekte rund um den Fremdsprachenunterricht setzen voraus, dass man Lernen
individuell deuten muss.

Diese Vorstellung hat zweifellos dann ihre Berechtigung, wenn man ausschließlich im Selbststudium lernt oder wenn ein Sprachlabor zum Einsatz

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kommt. Findet das Lernen jedoch zusammen mit anderen in einem Raum statt, darf der Anteil der Gruppe am Lernprozess nicht unterschätzt
werden. Das Lernen muss dann auch als ein Ergebnis der Interaktion im Klassenraum gesehen werden: Gemeinsam konstruieren Lernende Wissen
oder handeln gemeinsam Bedeutungen aus. Man spricht auch von Ko-Konstruktion.

Was das konkret bedeutet, möchten wir an einem Beispiel aus einem Unterricht für junge Erwachsene auf der Niveaustufe A1 verdeutlichen. Es
handelt sich um eine relativ kleine Klasse von nur zehn Studierenden, die an einer japanischen Universität Deutsch im Nebenfach belegt haben.

Die Gruppe beschäftigt sich in mehreren Unterrichtseinheiten mit Lebensformen in Deutschland. In dieser Stunde sprechen die Studierenden
anhand der folgenden Statistik über die verschiedenen Lebensformen in der deutschen Gesellschaft.

In kleinen Gruppen haben sich die Studierenden als Hausaufgabe einzelne Themen in der Statistik genauer angesehen und sich Gedanken über die
Fragen auf dem folgenden Arbeitsblatt gemacht. Im Unterricht entwickelt sich dann das Gespräch, das Sie hier in Auszügen in einem Transkript
verfolgen können.

Schulart, Ort, Jahr Universität Yokohama, 2009


Zielgruppe Erwachsene, A1 (nach 80 Unterrichtsstunden à 90 Minuten)
Material/ Medien Statistik über Lebensformen in Deutschland
Globales Lernziel soziale Struktur der deutschen Gesellschaft kennenlernen, Ursachen und Folgen klären, Situation mit der
japanischen Gesellschaft vergleichen
Lehr-Lernaktivitäten TN diskutieren über die Interpretation von Daten der Statistik

Material 10

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Auszug aus dem Arbeitsblatt zum Thema Lebensformen.

Material der Autoren.

Aufgabe 35a

Machen Sie sich mit Material 10 aus diesem Unterricht vertraut.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 35a

Erklärung zur Transkription:

S ein Student / eine Studentin spricht

SS mehrere Studierende sprechen gleichzeitig

L die Lehrperson spricht

nu- abgebrochene Äußerung

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(lachen) nonverbales Verhalten

Japanisch, Englisch (deutsche Übersetzung)

(unverständlich) unverständliche Äußerung

Ausschnitt 1

S1: Ich habe eine Frage für Nu- Nummer neun. Es gibt das Wort "keine Information" in neunzehnhundertundsechzig und
neunzehnhundertundachtzig. Denn warum die Frage neunzehnhundertundfünf- fünfundneunzig und zweitausendundfünf am-
aufnehmen?
SS: Eh? Mmh?
S1: Warum die Frage
S5: aufnehmen?
S1: Es gibt das Wort "keine Information" in neunhundert ah neunhundert- ah neunzehnhundertund-
S4: "und"
S1: neunzehnhundertsechzig und neunzehnhundertachtzig, aber- aber nein, denn warum die Frage in neunzehnhundertvierund- ah
fünfundneun- ach neunzig und zweitausendvier- fünf aufnehmen (Handbewegung zu „aufnehmen“)
S8: Was ist aufnehmen?
S5: abnehmen?
S1: abnehmen?
S4: zu- zunehmen (Fingerbewegung nach oben)
S9: ah ah aufnehmen (Handbewegung nach unten)
S5: auf- abneh- abnehmen
S9: abnehmen
SS: abnehmen, zunehmen (mehrere Stimmen durcheinander)
S4: abnehmen (Handbewegung nach unten) zunehmen (Handbewegung nach oben). Das ist zunehmen oder?
SS: abnehmen, zunehmen (mehrere Stimmen durcheinander)
S4: Du sprichst aufnehmen oder?
S1: Ja aufnehmen.
S4: Was ist aufnehmen?
S1: Es gibt- früher es gibt keine Information, aber heute es gibt Information.
S4: Das ist aufnehmen?
S1: Das ist aufnehmen.

Ausschnitt 2

S2: Was bedeutet "nichteheliche"?


S1: "Nichteheliche" ist nicht heiraten.
S4: Lebenspartnerschaften (liest leise vom Arbeitsblatt, eher zu sich selbst)
L: nicht heiraten aber?
S1: aber zusammen wohnen.
S9: Ah!

Ausschnitt 3

S4: Was ist "in Mio"? M I O?


SS: Millionen.
S4: Oh!
L: Also die Frage ist: Warum gibt es ab neunzehnhundertfünfundachtzig eh neunzig eine Statistik? Warum gibt es vorher keine
Statistik?
S1: Ja.
S4: Warum (leise)?
S5: Warum "keine Information"?
SS: Mhm.
S4: Das ist die Frage.
S5:
S4: Mhm?

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S6: Gibt es- gab es- es gab nicht
S4: Die Statistik?
S6: (unverständlich)
S5: West- und Ostdeutschland.
SS: Mhm?
S1: Noch einmal bitte.
S5:
SS: Ah!
S5: Bis neunhundertneunundachtzig
S4: neunzehn?
S5: neunzehnhundertneunundachtzig bis bis bis eh Deutsch- Deutschland ist nicht ein (Handbewegung beide Zeigefinger gehen
zusammen)
S6: Nicht West und Ost zusammen.
S5: War- Deutschland war zwei Ländern Länder. So gibt es keine Information.
S4: Vielleicht.
S5: Vielleicht.

Ausschnitt 4

S4: Aber aber das war keine Information, ob ob es gibt kein keine nichteheliche Lebenspartnerschaften. Das war null
(Handbewegung für "null")
S1: null ja ja
S7: aber mhm
S10: Ich denke, das ist nicht- das war nicht groß groß
S4: groß Problem?
S10: Thema These These in Gesellschaft.
SS: ja ja ja
S1: Ja, ich denke auch.
S4: Warum das ist sehr ? (Handbewegung verbunden)
S5: Bedeutet
S6: Bedeutung
S3: Verbinden
S5: Beziehung Beziehung
S4: mit Nummer 8: Ein-Eltern-Familien. So das ist ein Problem, ich denke.
S7: Eh, mhm (überlegt) (lacht)
SS: (lachen)
L/SS: Nein nein nein!

Aufgabe 35b

Lesen Sie die vier Ausschnitte aus dem erwähnten Unterrichtsgespräch an einer Universität in Japan. Was handeln die Studierenden aus? Notieren
Sie in Stichpunkten.

Ausschnitt 1:

Ausschnitt 2:

Ausschnitt 3:

Ausschnitt 4:

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Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 35b

Bei diesem Auszug aus dem Unterrichtsgespräch fällt sofort ins Auge, wie viel Zeit die Lernenden benötigen, um Missverständnisse aus dem Weg zu
räumen. Diese liegen in ihrer mangelnden Ausdrucksfähigkeit und ihrem sehr begrenzten Wortschatz begründet, was für Lernerinnen und Lerner der
Niveaustufe A1 typisch ist. Im ersten Abschnitt dreht sich beispielsweise die Interaktion vor allem um die Bedeutung des Verbes "aufnehmen", das
mehrere Kursteilnehmende nicht kennen oder mit den Verben "abnehmen" und "zunehmen" verwechseln.

Es sind genau diese Brüche in der Interaktion, die das Gespräch für uns interessant machen. Denn sie fordern die Lernenden dazu heraus,
gemeinsam nach Auswegen zu suchen. Bezeichnend für diese Klasse ist offensichtlich, dass sie diese Bemühungen sehr ernsthaft und beharrlich
betreibt. Wir möchten nun gemeinsam mit Ihnen untersuchen, wann genau dabei das gemeinsame Konstruieren eine Rolle spielt.

Aufgabe 35c

Welche Beispiele für Ko-Konstruktionen finden Sie in diesen Ausschnitten? Tragen Sie die Nummern der Ausschnitte in die Tabelle ein.

Lernaktivitäten Ausschnitte
Die Lernenden klären gemeinsam die Bedeutung eines Wortes/ einer Situation.
Die Lernenden erarbeiten sich gemeinsam neues Wissen.
Die Lernenden helfen sich gegenseitig beim Lernen.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 35c

Dieser Blick in den Unterricht an der japanischen Universität verdeutlicht, was wir zum Beginn dieses Kapitels gesagt haben: Die Lernenden
verhalten sich in keiner Weise passiv oder zurückhaltend, wie es für ihre Lerntradition typisch wäre. Auch wenn sie sich unterschiedlich aktiv an
diesem Gespräch beteiligen und einige von ihnen die Szene dominieren (vor allem S1, S4, S5), agieren sie als eine Gruppe und zeigen Interesse an
einem Austausch in der Fremdsprache. Natürlich dürfen wir zugleich nicht übersehen, dass es sich um eine ungewöhnlich kleine Klasse mit spürbar
gut motivierten Lernenden handelt. Und wir können auch davon ausgehen, dass sich der Lehrer nicht in jeder Unterrichtsstunde so weit zurücknimmt.
Insofern stellt dieser kurze Ausschnitt sicher weder ein typisches Beispiel für den Deutschunterricht in Japan dar noch für den Unterricht in dem
betreffenden Kurs.

Für die Metapher Klassenzimmer als Kultur ist diese Szene aber sehr aufschlussreich: Die besonderen Merkmale der Kultur des Klassenraumes
treten in einem relativ kurzen Ausschnitt des Unterrichts deutlich hervor. So erkennt man, dass die Kultur einer Klasse sehr stark von der Interaktion
der Beteiligten geprägt wird. Durch die Art und Weise, wie die Personen miteinander kommunizieren, bekommen wir auch einen Eindruck von den
zwischenmenschlichen Beziehungen in der Lerngruppe und der Atmosphäre im Klassenraum. Darüber hinaus werden bestimmte Werte und Regeln
deutlich, die für das Verhalten in diesem Unterricht gelten und sich unmittelbar auf die Lernprozesse auswirken.

Diese Kultur des Klassenraumes hat sich, wie man leicht vermuten kann, nicht von heute auf morgen gebildet. Hinter dem, was wir in der Szene
beobachten können, verbirgt sich also ein gewisser Zeitraum, in dem die Beteiligten gemeinsam zu dieser Form des Miteinanders gefunden haben. In
diesem Sinn stellt die Klassenraumkultur immer ein kooperatives Produkt der gesamten Lerngruppe mit einer ganz eigenen Geschichte dar.

Zusammenfassung

Mit diesem Kapitel wollten wir Ihre Aufmerksamkeit auf das Besondere der sozialen Situation Unterricht lenken. Im Klassenzimmer gestalten
Lehrende und Lernende gemeinsam eine eigene Kultur und bei diesem Prozess spielt die Lehrperson eine besondere Rolle. Denn selbst wenn sie
sich, wie im Fall des Unterrichtsausschnitts aus Japan, im Hintergrund hält, ist das Verhältnis zu den Lehrenden immer asymmetrisch. Sie trägt
letztlich die Verantwortung für die Gestaltung der Kultur des Klassenraumes. Mit ihrer Planung entscheidet sie beispielsweise darüber, wie
umfangreich die Möglichkeiten zur Interaktion im Klassenraum sind. Sie sorgt für verbindliche Strukturen und beeinflusst mit ihrem Verhalten
maßgeblich die Atmosphäre, in der Lehren und Lernen stattfinden.

Diesen Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Lehrenden und der Kultur des Klassenraumes möchten wir in den folgenden beiden Kapiteln
genauer betrachten.

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Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.3 Das Klassenzimmer als Kultur © Goethe-Institut

2.3.3 Regeln und Rituale im Unterricht

Jede Kultur zeichnet sich durch eine Vielzahl von Regeln und Ritualen aus, die für das konfliktfreie Zusammenleben in einer Gemeinschaft von
elementarer Bedeutung sind. In ihnen spiegeln sich die jeweils geltenden Werte der sozialen Gruppe. Und sie geben den Menschen für ihre
alltäglichen Handlungen Orientierung und Struktur.

Solche Regeln und Rituale findet man auch in jeder Lerngruppe und sie erfüllen dort ganz ähnliche Funktionen: Sie sind ein Ausdruck bestimmter
Werte, sie strukturieren den Ablauf und sie verleihen Sicherheit.

Dieses Kapitel möchte Sie dabei unterstützen,

dass Sie beurteilen können, wie Regeln und Rituale das Geschehen im Klassenraum beeinflussen,
dass Sie sich eigener Regeln und Rituale in Ihrem Unterricht bewusst werden.

Regeln sind ein wichtiges Mittel, um das Verhalten aller Beteiligten im Klassenraum so zu organisieren, dass die gesetzten Ziele möglichst
konfliktfrei und in der gegebenen Zeit erreicht werden können. Hinter Regeln sollte in diesem Sinne also immer eine rationale Begründung stehen,
die alle Beteiligten auch kennen.

Regeln können alle Aspekte des Unterrichtsgeschehens betreffen: den Umgang miteinander, das Verhalten während der Gruppenarbeit, die
Verwendung von Mutter- und Fremdsprache, die Konsequenzen bei verspätetem Erscheinen zum Unterricht und vieles andere mehr. Ihnen fallen
wahrscheinlich sofort eine Reihe weiterer Regeln ein, die in Ihrem Unterricht gelten.

Erinnern wir uns unter diesem Gesichtspunkt noch einmal an den Unterricht an der japanischen Universität zum Thema Lebensformen in
Deutschland. Sehen Sie sich noch einmal das Foto aus dem Unterricht an.

Aufgabe 36

Was denken Sie? Welche Regeln gelten in diesem Unterricht und welche möglichen Funktionen erfüllen sie? Nennen Sie zwei weitere Beispiele.

Regel Funktion

(z.B. Werte/Orientierung/Struktur)
Der Lehrer ruft die Lernenden nicht auf. Sie sollen selbstständig entscheiden, wann sie einen Beitrag leisten
möchten.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 36

Aus Ihrer eigenen Erfahrung wissen Sie sicher, dass eine Regel nur dann etabliert werden kann, wenn die Begründung für alle Beteiligten einsichtig
ist und von allen akzeptiert wird. Notwendig ist also ein Konsens in der Lerngruppe über den Sinn einer Regel. Deshalb sollten Regeln zur
Diskussion gestellt werden und auch für Modifikationen offen sein, wenn eine veränderte Situation es erfordert. Es empfiehlt sich, sie zu Beginn
eines Kurses zu besprechen und dann gemeinsam auf die konsequente Einhaltung zu achten. Dafür müssen natürlich von vornherein die
Sanktionen klar sein, die der Verstoß gegen eine Regel nach sich zieht.

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Regeln stellen – so lässt sich zusammenfassend sagen – ein gemeinsames Produkt der Lerngruppe dar, ob es sich nun um mündliche Absprachen
handelt oder die Regeln schriftlich festgehalten (und möglicherweise mit den Unterschriften aller Beteiligten versehen) werden.

Hinter dieser Überlegung steht allerdings ein sehr optimistisches Bild von den Lernenden. Nicht immer sind sie daran interessiert oder dazu fähig,
gemeinsam mit der Lehrperson Regeln zu verabreden. In diesen Fällen bleibt den Lehrenden zunächst nur, ihrer besonderen Stellung gerecht zu
werden und die für alle verbindlichen Regeln selbst zu setzen. Es sollte dennoch ein wichtiges Ziel bleiben, die Verantwortung für die Lehr- und
Lernprozesse mit den Lernenden zu verabreden, das heißt, die Regeln des Unterrichts zur Diskussion zu stellen. Denn es wäre ein Widerspruch,
von den Lernenden selbstbestimmtes Handeln mit der Fremdsprache zu erwarten und zugleich alle Bedingungen zu diktieren, unter denen dies
geschehen soll.

Aufgabe 37

Überlegen Sie, welche Regeln in Ihrem Unterricht gelten. Sind diese Regeln mit den Lernenden abgesprochen oder haben Sie diese aufgestellt?
Und was passiert, wenn diese Regeln verletzt werden? Ergänzen Sie die Tabelle.

meine Regeln Zweck Abgesprochen? Konsequenz bei Nichteinhalten


ja nein

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 37

Ebenso wie Regeln helfen auch Rituale dabei, eine bestimmte Kultur des Klassenraumes zu etablieren und die Lehr- und Lernprozesse effektiv und
effizient zu organisieren.

Das Besondere an Ritualen ist ihre symbolische Bedeutung. Der Zusammenhang zwischen der Handlung und dem erwünschten Ziel erschließt sich
häufig nur denjenigen, die mit der Situation vertraut sind und diese Symbole deshalb zu deuten wissen. Für die Mitglieder der Kultur ist die
Bedeutung natürlich klar. Sie sind Eingeweihte, und das Ritual stellt damit ein Element der Gruppenidentität dar.

Bei Ritualen handelt es sich häufig um Handlungen, die auf den ersten Blick nicht alltäglich wirken. Dieser Eindruck kann durch Gesten ebenso
erzeugt werden wie durch Sprache oder Gegenstände, die für den Unterricht außergewöhnlich sind oder in ungewöhnlicher Art und Weise
verwendet werden. Gerade durch diese Nichtalltäglichkeit ziehen sie die Aufmerksamkeit auf sich. Rituale eignen sich deshalb besonders für die
Gestaltung der Übergänge zwischen den verschiedenen Phasen des Unterrichts. Das Lied zu Beginn der Stunde, eine Konzentrationsübung in der
Mitte oder ein bestimmtes Ritual zum Abschluss jeder Stunde stellen dafür Beispiele dar.

Rituale erfüllen innerhalb der Gesamtstruktur des Unterrichts in einer Klasse eine wichtige Funktion, beispielsweise wenn die neue Woche mit einem
Morgenkreis begonnen wird oder die Geburtstage von Schülerinnen und Schülern nach einem wiederkehrenden Ablauf gefeiert werden. Rituale
können aber auch für einzelne Unterrichtsaktivitäten oder Unterrichtsphasen von großem Nutzen sein. Sie haben beispielsweise in Kapitel 1 schon
die Lehrerin kennengelernt, die in ihrer großen Klasse einen Ball zu einem der Schüler wirft.

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Es ist ein Ritual, mit dem das Recht oder auch die Pflicht zum Sprechen unter den Lernenden weitergereicht werden. Nimmt die Lehrerin den Ball,
wissen alle, was nun kommt. Diese Vorhersehbarkeit strukturiert das Geschehen im Raum und den zeitlichen Ablauf. Gerade in großen Klassen wie
in unserem Beispiel ist dieses Ritual bei kommunikativen Aktivitäten sehr sinnvoll. Der immer gleiche Ablauf dieser Handlungssequenz, das Wissen
um seine Wiederholbarkeit macht die Situation leichter handhabbar.

Betrachten wir noch ein weiteres Beispiel:

Ist Ihnen die Geste des Lehrers im Vordergrund links auf dem Foto in der japanischen Universität aufgefallen? Hier sehen Sie ein weiteres Foto aus
dem Unterricht dieser Klasse. Während einer Partnerarbeitsphase richtet sich eine Studentin mit einer Frage an den Lehrer.

Können Sie sich denken, welchen Zweck das Ritual erfüllt, das beide Fotos zeigen? Das aus dem Sport bekannte Zeichen für Auszeit, ein mit
beiden Händen gebildetes T, wird in dieser Situation vom Lehrer benutzt, um den Wechsel zwischen den Sprachen zu kennzeichnen. Das Ritual ist
aber nicht nur der Lehrperson vorbehalten. Alle Beteiligten – so lautete die Verabredung in dieser Klasse – sollten mit diesem Zeichen deutlich
anzeigen, wenn sie vom Deutschen ins Japanische wechseln möchten. In diesem Fall wurde das Ritual vom Lehrer vorgeschlagen und von den
Lernenden als sinnvoller Bestandteil der Unterrichtskultur akzeptiert. Es ist aber ebenso denkbar, dass sich solche Rituale im Laufe der Zeit in einer
Klasse entwickeln.

Aufgabe 38

Sind folgende Beispiele aus dem Unterricht Regeln oder Rituale?

Kreuzen Sie an.

Beispiele aus dem Unterricht Regel Ritual


1 Wer ein Wort in der Muttersprache sagt, muss als Hausaufgabe fünf deutsche Sätze aufschreiben, in denen das Wort
vorkommt.
2 Zu Beginn jedes Unterrichts singen alle gemeinsam ein deutsches Lied.

3 Der Reihe nach schreiben alle Kursteilnehmenden ein Protokoll zu einer Unterrichtsstunde, das später von allen
kommentiert und ergänzt wird.
4 Bei Gruppenarbeiten erhält jede Gruppe immer auch einen Würfel. Mit ihm wird bestimmt, wer die Ergebnisse später im
Plenum vortragen wird.
5 Bei Fragen wenden sich die Schülerinnen und Schüler prinzipiell zuerst an die gesamte Klasse. Erst wenn niemand die
Antwort weiß, spricht die Lehrkraft.
6 Wenn ein bestimmtes Musikstück erklingt, wissen die Lernenden, dass eine neue Unterrichtsphase oder eine neue

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Aktivität beginnt.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 38

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.3 Das Klassenzimmer als Kultur © Goethe-Institut

Sie werden nun anhand von drei kurzen Sequenzen aus dem Deutschunterricht an einer spanischen Grundschule beobachten können, welche
Funktion Rituale bei der Gestaltung des Unterrichts spielen können. Beim Betrachten der Unterrichtsmitschnitte wird Ihnen schnell auffallen, dass in
dieser Klasse besondere Rituale eine wichtige Rolle spielen. Das Foto unten hält beispielsweise das gemeinsame Spielen eines Fingertheaters fest,
dessen Dramaturgie den Lernenden gut vertraut ist. Wir als Zuschauer erwarten gespannt, wie sich das Geschehen im nächsten Moment entwickeln
wird. Die Schülerinnen und Schüler wissen aber sofort, was von ihnen erwartet wird. Wir möchten Sie bitten, sich zu überlegen, welche Funktion
solche Rituale im Unterricht von Michael Priesteroth erfüllen.

Ort, Jahr Deutsche Schule Sevilla, Sevilla 2011


Zielgruppe Primarstufe, A2
Lehrkraft Michael Priesteroth
Globales Lernziel Lied hören und verstehen, nachsingen und eigene Strophe verfassen, Wortschatzerweiterung zum Thema
Freizeit
Lehr-Lernaktivitäten Lied hören, nachsingen, eigene Strophe singen, aufnehmen und auf interaktiver Tafel abspielen.

Aufgabe 39

Sehen Sie den Zusammenschnitt Rituale im Unterricht und beschreiben Sie in Stichpunkten drei Rituale und ihre Funktionen.

Sequenz Ritual Funktion


1

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3

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 39

Dieser Lehrer hat in seiner Klasse Rituale etabliert, die ganz offensichtlich zu seinem individuellen Unterrichtsstil passen. Sie lassen sich nicht ohne
weiteres auf andere Kontexte übertragen. Das Video verdeutlicht somit noch einmal sehr anschaulich, was wir in Kapitel 1 mehrfach betont haben:
Die Individualität der Lehrperson, ihr Temperament oder auch – wie in diesem Fall – ihr schauspielerisches Talent sind entscheidend für das
Geschehen im Klassenraum.

bewusster Umgang mit Regeln und Ritualen

Bisher haben wir vor allem die positiven Effekte von Regeln und Ritualen für das Entstehen einer Klassenraumkultur betont. Doch die negativen
Effekte dürfen nicht unerwähnt bleiben. So geben Regeln und Rituale dem Unterricht zwar eine verständliche Struktur und verleihen dadurch
Sicherheit. Sie können aber auch die Gestaltungsspielräume und die Kreativität einengen. Sie erleichtern Lehrenden die Organisation des
Unterrichts, behindern aber dann dessen Weiterentwicklung, wenn sie zu Routinen erstarren, deren Sinn nicht mehr verstanden wird. Sie helfen den
Beteiligten dabei, ein Arbeitsbündnis zu schließen, und fördern das Bewusstsein für die Lerngemeinschaft, haben jedoch ebenso das Potenzial,
übermäßigen Anpassungsdruck zu erzeugen. Sie helfen dabei, die begrenzte Unterrichtszeit sinnvoll zu nutzen, können sich aber bei unreflektierter
Anwendung auch leicht ins Gegenteil verkehren. Deshalb ist es notwendig, Regeln und Rituale regelmäßig danach zu befragen, ob sie in den Augen
von Lehrenden und Lernenden noch die gewünschten Effekte erzielen oder angepasst werden sollten.

Und wie ist das in Ihrem Unterricht? Welche Regeln oder Rituale gelten bei Ihnen?

Aufgabe 40

Überlegen Sie, welche Rituale Sie in Ihrem Unterricht etabliert haben. Welche Funktion erfüllen Sie? Strukturieren Sie den gesamten Unterricht oder
nur einen Teil davon? Ergänzen Sie die Tabelle.

Ritual Funktion
Morgenkreis Begrüßung und Sammeln der Konzentration

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 40

Zusammenfassung

Wir haben in diesem Kapitel gesehen, dass Regeln und Rituale einen großen Einfluss auf die Kultur des Klassenraumes ausüben. Sie können dazu
beitragen, das Wir-Gefühl zu stärken und ein Lernklima zu etablieren, das den Unterricht für alle Beteiligten attraktiv macht. Weitere Möglichkeiten,
eine lernförderliche Atmosphäre zu gestalten, erarbeiten wir uns im nun folgenden Kapitel.

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Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.3 Das Klassenzimmer als Kultur © Goethe-Institut

2.3.4 Das Lernklima

Das Lernklima einer Klasse lässt sich an der Interaktion der Beteiligten untereinander und ihrem individuellen Verhalten im Klassenzimmer
erkennen: Arbeiten die Lernenden konzentriert an den Übungen und Aufgaben oder eher gelangweilt und desinteressiert? Kommt es während der
Gruppenarbeit zu einem intensiven Austausch oder sitzen die Lernenden einfach nur nebeneinander? Reagieren sie engagiert auf die Impulse der
Lehrperson oder wirken sie abwesend und lustlos? Wie gehen die Lernenden miteinander um? Wie ist ihr Verhältnis zur Lehrperson? All das sind
Aspekte, an denen sich die Atmosphäre eines Unterrichts ablesen lässt. Wie wir am Beispiel der Regeln und Rituale gesehen haben, können
Lehrende unmittelbar Einfluss auf dieses Lernklima nehmen. Aber aus Ihrer alltäglichen Praxis wissen Sie auch, dass jede Klasse ihre ganz eigene
Atmosphäre hervorbringt.

Lehrende wären überfordert, wenn sie glaubten, sie alleine seien verantwortlich für die Atmosphäre einer Klasse. Denn auch die interessanteste
Aufgabe kann zum Beispiel den Liebeskummer nicht vergessen machen, den eine Schülerin mit in den Unterricht bringt, oder die wichtige Prüfung,
die am selben Tag noch in einem anderen Fach ansteht, oder die Antipathien zwischen zwei Lernenden, die nun zufällig gemeinsam eine
Gruppenarbeit erledigen sollen. Für Lehrende ist es deshalb wichtig, ihre Einflussmöglichkeiten auf die Unterrichtsatmosphäre realistisch
einzuschätzen.

Dieses Kapitel will Ihnen dabei helfen,

besser zu verstehen, welche Rolle Ihr Verhalten als Lehrperson für das Lernklima spielt,
die Fähigkeiten weiterzuentwickeln, durch die Unterrichtsstruktur und die Gestaltung der Aufgaben das Lernklima positiv beeinflussen.

Aus der Schulforschung wissen wir, dass die Lernfreude und die Motivation der Lernenden steigen, wenn die Atmosphäre als entspannt
wahrgenommen wird und auch das gemeinsame Lachen zum Lernen gehört. Aber das bedeutet nicht, dass Unterricht immer nur Spaß machen
muss. Seine Effektivität bemisst sich nicht an der Zeit, die mit Lachen verbracht wird. Lernen darf vielmehr auch Mühe kosten. Und Ernsthaftigkeit ist
zuweilen sinnvoller als Humor. Forschungen weisen ebenso darauf hin, dass eine entspannte, von allen Beteiligten als angenehm empfundene
Unterrichtsatmosphäre gerade dann wahrscheinlich wird, wenn Extreme vermieden werden (siehe Helmke 2009, S. 225). Auch hier begegnen wir
also wieder einer paradoxen Situation: Lehrende sollten eine Balance finden zwischen einer humorfreien, angespannten oder gedrückten
Atmosphäre einerseits und einer ausgelassenen und exzessiv humorvollen Atmosphäre andererseits. Entscheidend dabei ist, dass sie von den
Lernenden als authentisch wahrgenommen werden. Ein Unterricht, wie wir ihn in der deutschen Schule Sevilla gesehen haben, lässt sich nicht
kopieren. Die Schülerinnen und Schüler würden sicher schnell die Begeisterung an dem Fingertheater verlieren, wenn ein Lehrer mit deutlich
weniger schauspielerischem Talent diese Technik einsetzen würde. Lehrerinnen und Lehrer müssen also einen Stil entwickeln, der tatsächlich zu
ihnen passt.

Die Präsentationen scheinbar perfekt gelungener Unterrichtsstunden anderer Lehrender sollten Sie demnach ebenso mit gewissen Abstand
betrachten wie Beschreibungen der vermeintlich idealen Lehrkraft. Das können wertvolle Quellen für Ihre persönliche Weiterentwicklung sein. Sie
ersetzen aber nicht die Mühe, sich Klarheit über den eigenen Stil zu verschaffen.

Ein realistischer Blick auf die Atmosphäre im Klassenraum führt deshalb zu der Frage, wie sich Lernumgebungen so gestalten lassen, dass
tatsächlich die Förderung des Lernens im Zentrum steht und nicht das Wohlgefühl. Als wir uns in Kapitel 2.2 mit der Geografie des Klassenraums
beschäftigten, sind wir bereits mehrfach auf dieses Thema gestoßen. Andere, für ein lernförderliches Klima wesentliche Aspekte werden in den
folgenden Kapiteln und in den anderen Einheiten dieses Fortbildungsprogramms aufgegriffen und vertieft. Dazu zählen beispielsweise die Motivation
der Lernenden, eine verständliche Struktur des Unterrichts, der sinnvolle Umgang mit Fehlern und andere mehr. Wir möchten deshalb das Kapitel
Klassenräume als Kultur beschließen, indem wir anhand einiger ausgewählter Faktoren mit Ihnen gemeinsam überlegen, was Sie für eine
lernförderliche Atmosphäre in Ihrem Unterricht tun können.

Die Lehrperson als Vorbild und Modell

Als Lehrperson stellen Sie für die Lernenden in vielerlei Hinsicht ein Modell dar. So stoßen Forschungen in unterschiedlichen regionalen und
institutionellen Kontexten immer wieder auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Lehrenden und ihrer Einstellungen zum
Unterricht einerseits und der Motivation der Lernenden andererseits (Dörney/Ushioda 2011). Das ist natürlich keine überraschende Erkenntnis. Aus
gutem Grund wurde der Selbstkompetenz von Lehrenden in Kapitel 1 eine so große Bedeutung beigemessen. Denn darf eine Lehrkraft Engagement
und Enthusiasmus von ihren Schülerinnen und Schülern erwarten, wenn sie/er selbst nur den notwendigsten Aufwand betreibt? Wie soll eine
Lehrkraft in ihrer Klasse Begeisterung für das Erlernen des Deutschen entfachen, wenn sie/er selbst eigentlich kein besonderes Interesse an der
deutschen Sprache und den deutschsprachigen Ländern hat und das auch im Unterricht fortwährend kommuniziert? Selbst wenn sie es nicht direkt

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sagt, merken die Schüler sofort das fehlende Engagement. Und ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich ein respektvoller Umgang im Klassenraum
entwickelt, wenn die Lehrperson im Grunde keinen Respekt vor ihrer Tätigkeit und auch sich selbst hat? Und nicht zuletzt: Kann von den Lernenden
erwartet werden, dass sie sich an Regeln halten, wenn die Lehrkraft offensichtlich selbst gegen sie verstößt?

Sie sehen, es geht hier vor allem um die Glaubwürdigkeit im Auftreten von Lehrenden. Wenn Sie die Kultur in Ihrem Klassenraum verstehen und
verbessern möchten, sollten Sie sich daher immer auch die Frage stellen, ob sich die Leitbilder und Ziele Ihres Unterrichts in Ihrem Verhalten und in
Ihren Einstellungen widerspiegeln.

Dazu soll Sie die folgende Aufgabe ermutigen.

Aufgabe 41

Wie können Sie mit Ihrem Verhalten und Ihren Einstellungen eine lernförderliche Atmosphäre schaffen?

a) Verhalten im Unterricht:

b) Einstellung zur deutschen Sprache und den deutschsprachigen Ländern:

c) Einstellung zum eigenen Beruf:

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 41

Neben der Selbstkompetenz haben wir in Kapitel 1.7 auch die personale und soziale Kompetenz betont. Es bietet sich an, diesen Punkt hier noch
einmal aufzugreifen, denn ob eine lernförderliche Atmosphäre entsteht, hängt entscheidend von den zwischenmenschlichen Beziehungen im
Klassenraum ab. Die Lehrerin Mohita Miglani, der wir bereits mehrfach begegnet sind, beschreibt diesen Zusammenhang in dem folgenden Video.

Institution, Ort, Jahr Sekundarschule New Delhi, 2010


Lehrkraft Mohita Miglani
Thema Schaffen eines lernförderlichen Klassenklimas

Im Video spricht Mohita Migliani über einige Aspekte, die sie für wichtig hält, um ein lernförderliches Klassenklima zu schaffen.

Aufgabe 42

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Sehen Sie das Gespräch über Lernatmosphäre in Großgruppen. Notieren Sie, wie Mohita Migliani ein gutes Klassenklima schafft.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 42

Die Schülerinnen und Schüler persönlich anzusprechen und ihre Redebeiträge nicht durch Korrekturen zu stören, sind für Mohita Miglani zwei
wichtige Strategien, um in ihrer großen Lerngruppe eine lernförderliche Atmosphäre zu schaffen. Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie? Die
nächste Aufgabe gibt Ihnen Gelegenheit, Ihre Perspektive auf dieses Thema darzustellen.

Aufgabe 43

Welche Vorstellungen haben Sie von einem lernförderlichen Miteinander im Klassenraum?

a) Kreuzen Sie an, wie wichtig das folgende Verhalten der Lehrkraft ist. Ergänzen Sie Aspekte, die Ihnen fehlen.

nicht kaum etwas wichtig sehr


wichtig wichtig wichtig wichtig
Die Lehrkraft begrüßt und verabschiedet die Lernenden persönlich.

Die Lehrkraft gibt persönliche Informationen über sich preis.

Die Lehrkraft spricht ihre Lernenden mit ihrem Namen an.

Die Lehrkraft lässt die Lernenden über die Inhalte des Unterrichts mitentscheiden.

Die Lehrkraft spricht mit den Lernenden über das Lernen (Ängste, Probleme usw.).

Die Lehrkraft lässt den Unterricht von den Lernenden bewerten.

Die Lehrkraft verabredet gemeinsam mit den Lernenden Regeln.

Die Lehrkraft erklärt die Kriterien für die Bewertung von Leistungen.

Die Lehrkraft bemüht sich, niemanden zu benachteiligen oder zu bevorzugen.

Die Lehrkraft geht auf Lernende mit Problemen oder Ängsten zu.

Die Anforderungen des Unterrichts (z.B. zu erreichende Kompetenzen) macht die


Lehrkraft transparent.
Die Lehrkraft ist selbstironisch.

Mit den Fehlern der Lernenden geht die Lehrkraft behutsam um.

...

...

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b) Finden Sie Beispiele für ein lernförderliches Klima im Klassenraum, die zu den Adjektiven in der linken Spalte passen.

Der Umgang ist ... Beispiele für die Beziehung zwischen der Lehrperson und Beispiel für den Umgang der Lernenden untereinander
den Lernenden
respektvoll. Die Lehrperson kennt die Namen der Lernenden. Die Lernenden hören sich (z.B. bei Präsentationen)
gegenseitig zu.
kooperativ.

vertrauensvoll.

fordernd.

rücksichtsvoll.

freundlich.

gerecht.

verlässlich.

persönlich.

humorvoll.

ernsthaft.

fürsorglich.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 43

der rote Faden im Unterricht

Eine lernförderliche Atmosphäre wird nicht nur von den Personen und ihrem Umgang miteinander beeinflusst, sondern ganz entscheidend auch von
den Inhalten des Unterrichts und von den Arbeitsformen. Da Sie dieses Thema in Kapitel 2.5 bearbeiten werden und Sie sich auch in den Einheiten
4 und 6 intensiv mit ihm beschäftigen können, werden wir an dieser Stelle nur einige grundlegende Prinzipien ansprechen.

Dass Lernende die Relevanz einer Aufgabe oder Übung verstehen müssen, um motiviert zu arbeiten, liegt auf der Hand. Wir wissen aber auch, dass
Lehrende in einem Kontext handeln. Sie sind durch das Curriculum oder das Lehrwerk an bestimmte Inhalte gebunden. Es kann also nicht prinzipiell
darum gehen, nur solche Themen in den Unterricht aufzunehmen, deren Bedeutung den Lernenden sofort einsichtig ist. Damit Lernende den Sinn
dessen verstehen, was sie gerade im Unterricht tun sollen, sind Erklärungen notwendig. Und es sind die Lehrenden, die diese Erklärungen anbieten
müssen. Sie dürfen also nicht davon ausgehen, dass sich das Lernziel einer Übung oder Aufgabe von selbst erschließt. Vielmehr gehört es zu ihren
Aufgaben, Lernziele transparent zu machen, den roten Faden im Unterrichtsablauf deutlich zu zeigen und damit für den notwendigen
Zusammenhang zwischen den einzelnen Unterrichtsphasen zu sorgen.

Dabei ist vor allem ihre fachliche und didaktische Kompetenz gefragt. Zur fachlichen Kompetenz von Deutschlehrenden gehört unter anderem, dass
sie das System der deutschen Sprache durchschauen. Aber Deutsch zu unterrichten ist vor allem deshalb eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, weil
sich aus diesem System keine Begründung für die Gestaltung des Unterrichts ableiten lässt. Die Entscheidung über eine bestimmte Anordnung von
Inhalten und Arbeitsformen kann nur auf der Grundlage didaktischer Überlegungen erfolgen. Nicht das System der deutschen Sprache, sondern
Lernstand und Lernziele sollten also darüber bestimmen, zu welchem Zeitpunkt des Unterrichts man das Perfekt behandelt, über Hobbys spricht
oder die Lernenden eine erste selbstständige Recherche im Internet machen lässt.

Die Gründe für Ihre Unterrichtsplanung nennen, beeinflusst das Lernklima positiv, denn nur so wissen die Lernenden, warum sie etwas tun (sollen).
Dabei spielt der Kontext wiederum eine wichtige Rolle, denn Schülerinnen und Schüler der Primarstufe müssen natürlich andere Erklärungen
bekommen als Studierende. Prinzipiell sollten Lehrerinnen und Lehrer jedoch immer bestrebt sein, die Idee hinter ihrer Unterrichtsplanung

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transparent zu machen. Wir werden Ihnen in Kapitel 2.5 eine Möglichkeit vorstellen, wie Sie Ihrem Unterricht eine nachvollziehbare Struktur geben
und wie Sie diese Kohärenz herstellen können.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.3 Das Klassenzimmer als Kultur © Goethe-Institut

offene Aufgabenstellungen

Ein letzter Punkt, den wir in diesem Zusammenhang thematisieren möchten, ist der Einfluss der Aufgabenstellung auf die Lernatmosphäre. Hier
kommen wir zurück auf den oben erwähnten Unterschied zwischen einer Betrachtung des Unterrichts als Labor und als Kultur. Gibt man die Idee der
Steuerbarkeit von Lernprozessen auf, öffnet sich der Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten, die offene Aufgabenstellungen mit sich bringen. Es kann
einen großen Gewinn für die Arbeitsatmosphäre in einem Klassenraum darstellen, wenn die Lernerinnen und Lerner zur Kreativität herausgefordert
werden und sie sich mit paradoxen, problematischen, unerwarteten oder kontroversen Fragestellungen auseinandersetzen dürfen. Wir möchten uns
das an zwei Beispielen aus Lehrbüchern ansehen. Was mit diesen beiden Aufgaben im Unterricht tatsächlich passiert, können wir natürlich nur
vermuten. Es geht also auch bei diesen Unterrichtsmaterialien vor allem darum, welches Potenzial sie zur Schaffung einer positiven Lernatmosphäre
besitzen.

Aufgabe 44

Sehen Sie sich die Materialien 11 und 12 an und versuchen Sie, die Unterschiede in den Aufgabenstellungen herauszuarbeiten.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 44

Material 11

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Wirtschaftsdeutsch für Anfänger, Aufbaustufe, S. 149.

Material 12

Die Suche 1, Lehrbuch, S 179.

Die Aufgabenstellungen in Material 11 und 12 regen die Lernenden jeweils dazu an, sich mit Grafiken auseinanderzusetzen. Im ersten Material wird

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dafür ein bewährtes Vorgehen gewählt: Die Lernenden sollen die Informationen in eine andere Textsorte umformen. Das setzt natürlich voraus, dass
sie sich zuvor erschlossen haben, was die Grafik ausdrückt. Ohne Zweifel kann dieses Arbeitsmaterial eine sinnvolle Aufgabe für Lernende auf
Anfängerniveau darstellen. Wir haben sie also keineswegs deshalb ausgewählt, weil sie uns als ein Negativbeispiel dienen soll. Uns ist hier wichtig
zu erkennen, dass ihre Bearbeitung keine besonders kreative Leistung erfordert. Die Lernenden müssen einem logischen, planmäßigen
Denkprozess folgen. Dieser steuert, wenn er erfolgreich verläuft, direkt auf die eine Lösung zu, die der Lückentext zulässt. Geübten Lernerinnen und
Lernern gelingt dies ohne größere Anstrengung, weil sie Strategien im Umgang mit solchen Aufgabentypen entwickelt haben. Sie können also auf
erprobte Muster zurückgreifen.

Im Vergleich dazu liegt das Besondere der beiden Aufgabenstellungen in Material 12 darin, dass sie nur mithilfe einer kreativen Eigenleistung
bewältigt werden können. Auch in diesem Fall müssen sich die Lernenden zunächst den Informationsgehalt der Grafik erschließen, um
weiterzukommen. Doch im nächsten Schritt sollen sie überlegen, was für sie persönlich an diesen Daten wichtig ist. Es geht also um eine subjektive
Bewertung der Informationen. Nicht weniger herausfordernd ist die anschließende Frage danach, was die Grafik nicht erklärt. Um hierauf eine
Antwort geben zu können, sind andere Denkprozesse notwendig als bei Material 11. Sie laufen nicht geradlinig auf ein Ziel zu, sondern streben in
unterschiedliche Richtungen und lassen auch Assoziationen zu, die vom Thema wegführen.

Durch die Art der Fragestellung schafft Material 12 nicht nur mehr Denkmöglichkeiten als Material 11, sondern öffnet auch den Raum für einen
intensiven Austausch über unterschiedliche Interpretationen und Ideen. Das kann zur Entwicklung eines lernförderlichen Klimas beitragen. Denn
dieser ergebnisoffene Ansatz spricht die Lernenden in ihrer Individualität an. Durch unterschiedliche individuelle Lösungen erhöht sich die Chance,
dass Lernende versuchen, miteinander zu kommunizieren. Wenn das gelingt, werden sie die deutsche Sprache im Sinne des Prinzips der
Handlungsorientierung aktiv im Unterricht gebrauchen.

Mit Material 11 lässt sich dieses Ziel schwieriger verwirklichen, denn es stellt ein Beispiel für die sogenannte Osterhasenpädagogik (siehe Wahl
2006, S. 9ff.) dar. Das ist die ironische Bezeichnung für eine Vorgehensweise im Unterricht, bei der die Lehrkraft das Wissen zunächst geschickt
versteckt und es die Lernenden dann suchen lässt.

Die grundlegende Idee von Material 12 hingegen ist es, die Kreativität der Lernenden zu wecken und Austausch anzustoßen. Auch jüngere
Lernende können mit solchen Aufgaben konfrontiert werden. Allerdings sind je nach Alter und Unterrichtskontext möglicherweise stützende
Maßnahmen notwendig. Wie Dubs (2009, S. 335ff.) ausführlich beschreibt, sind Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer Schulsozialisation häufig
auf ein Richtig-Falsch-Schema programmiert. Sie suchen bei jeder Aufgabenstellung nach der einen korrekten Antwort und sind verunsichert, wenn
sich unterschiedliche Lösungswege ergeben. Lehrende müssen daher die Arbeit mit offenen und kreativen Aufgabenstellungen intensiv begleiten.
Das erfordert eine gewisse Gewöhnungsphase und Anleitung. Zudem sollten im Unterricht prinzipiell originelle Ideen und herausfordernde Fragen
von Lernenden willkommen sein. Es muss also zu den festen Bestandteilen der Kultur im Klassenzimmer gehören, dass spontane Abweichungen
vom Unterrichtsprogramm möglich und wünschenswert sind (siehe dazu ausführlich Dubs 2009, S. 336f.). Wiederum stoßen wir also hier auf das
zentrale Paradox des Lehrberufs: planen zu müssen, ohne tatsächlich detailliert planen zu können.

Veranschaulichen wir uns die Wirkung der Aufgabenstellung abschließend an einem weiteren Beispiel.

Aufgabe 45

Sehen Sie sich das Material 13 an. Wie könnte man die Aufgaben so umgestalten, dass sie offener und kreativer werden?

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 45

Material 13

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sowieso 1, Kursbuch, S. 47.

Material 13 stammt aus einem Lehrwerk für jugendliche Lernende. Die Aufgaben 14 und 15 bilden eine Einheit und sind in eine Lektion zum Thema
Familie eingebunden. Wie auch im Fall von Material 11 und 12 betrachten wir die Aufgabe isoliert von ihrem Kontext. Das ist natürlich problematisch,
weil die Autorinnen und Autoren einem bestimmten Konzept folgten, als sie die Lehrwerke erstellten. Wir reißen die Materialien also aus einem
größeren Zusammenhang. Unsere Bemerkungen zu den einzelnen Übungen und Aufgaben dürfen deshalb nicht als eine Kritik des gesamten
Lehrwerks missverstanden werden. Die Materialien erfüllen in erster Linie den Zweck, unsere Argumentation mithilfe konkreter Beispiele aus der
Unterrichtspraxis anschaulich nachvollziehbar zu gestalten.

In Aufgabe 14 von Material 13 sollen die Lernenden Aussagen des Textes in ein Diagramm einordnen. Die Informationen werden also in eine andere
Darstellungsform überführt, was eine sehr sinnvolle Möglichkeit darstellt, das Textverständnis zu unterstützen. Die Anforderung an die Schülerinnen
und Schüler besteht hier jedoch vor allem darin, Informationen zusammenzutragen. Weiterführende Denk- und Handlungsmöglichkeiten werden
durch die Aufgabe nicht angestoßen. Das ließe sich relativ einfach ändern, wenn die individuelle Perspektive der Lernenden einbezogen würde.
Nachdem die Schülerinnen und Schüler die Informationen über Anja und ihre Eltern zusammengetragen haben, könnte man sie zum Beispiel dazu
auffordern, im Diagramm alles zu markieren, was ihnen an den Personen gefällt oder nicht gefällt. Das würde weiteren Denkprozessen einen Weg
bereiten. Zum anderen könnten sich die Chancen dafür erhöhen, dass ein Austausch innerhalb der Klasse in Gang kommt.

Noch drängender ruft die Aufgabe 15 von Material 13 nach einer anspruchsvolleren Umgestaltung. Interessant ist dort die Idee, dass die Lernenden
sich in Anja hineinversetzen sollen. Aber mit der dann erwarteten Aktivität wird unseres Erachtens viel Potenzial verschenkt. Alle Antworten auf die
Fragen der Liste ergeben sich unmittelbar aus dem Text und regen weder zum Nachdenken noch zum sprachlichen Handeln an. Als Alternative
wäre denkbar, dass die Lernenden in Partnerarbeit selbst kleine Interviews gestalten, bei denen jeweils eine Person die Rolle von Anja übernimmt.
Wichtig dabei wäre, dass die Fragen stellende Person auch Themen anspricht, die noch nicht im Text erwähnt werden. Dann müssen passende
Antworten auf der Grundlage des Textinhalts erstellt und möglicherweise auch vor der Klasse argumentativ verteidigt werden.

Zum Abschluss dieses Kapitels möchten wir nun Sie bitten, in Ihren Lehrwerken nach Übungen und Aufgaben zu suchen, die sich ergebnisoffener
und kreativer gestalten lassen.

Aufgabe 46

Verändern Sie zwei Aufgabenstellungen in Ihrem Unterrichtsmaterial, sodass diese offener und kreativer werden und dadurch die Lernenden zu
einem aktiven Gebrauch des Deutschen anregen.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 46

Zusammenfassung

In diesem Kapitel haben wir die Kultur des Klassenraums aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Wir wollten verdeutlichen, welch
entscheidenden Beitrag Lehrende zum Entstehen dieser Kultur leisten. In jeder Klasse werden sie zwar mit Bedingungen konfrontiert, die sie nicht
beeinflussen können, aber überall lassen sich auch Gestaltungsmöglichkeiten finden. Verstehen Lehrerinnen und Lehrer es, diese zu erkennen und
zu nutzen, so zeigt sich darin eine hohe Entwicklungskompetenz. Ihr Ziel sollte eine Lernatmosphäre sein, die von den Schülerinnen und Schülern
als motivierend und herausfordernd empfunden wird.

Wie sich ein solches lernförderliches Klima herausbilden kann, haben wir in diesem Kapitel an praktischen Beispielen demonstriert. Wir haben dabei
gesehen, welche Rolle ansprechende Aufgabenstellungen spielen können. Darüber hinaus sind wir aber auch immer wieder auf die Bedeutung der
Persönlichkeit von Lehrerinnen und Lehrern und ihrer Einstellung zum Lehrberuf gestoßen. Wenn sie sich Klarheit über den eigenen Lehrstil
verschaffen, sich für den Lernerfolg einer Klasse verantwortlich fühlen und den Lernenden mit Wertschätzung und Offenheit begegnen, dann sind
zugleich auch die Grundsteine für eine lernförderliche Unterrichtsatmosphäre gelegt.

Der Enthusiasmus von Lehrenden und ihr Engagement für ein erfolgreiches Lernen äußern sich unter anderem auch in ihrem kommunikativen
Verhalten im Klassenraum: Wie setzen sie zum Beispiel Lob und Anerkennung ein? Wie ermutigen sie die Lernenden? Wie korrigieren sie deren
Fehler? Wie formulieren sie verständliche Fragen und Arbeitsanweisungen? Und wie nutzen sie Mimik und Gestik, um die Lernprozesse zu
unterstützen? All das sind wichtige Themen, die uns unmittelbar zu einer weiteren Metapher führen. Wir möchten im Folgenden den Klassenraum
als ein Kommunikationszentrum betrachten und gemeinsam mit Ihnen danach fragen, wie sich aus dieser Perspektive die Tätigkeit von
Deutschlehrenden darstellt.

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Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.3 Das Klassenzimmer als Kultur © Goethe-Institut

2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum

Ein Kommunikationszentrum ist ein Ort für den Austausch zwischen Menschen. Sie treffen sich dort freiwillig, um auf gleichberechtigter Basis
Gedanken zu teilen, Diskussionen zu führen oder gemeinsam Probleme zu lösen.

Aber wie nah kann die Kommunikation im Klassenzimmer diesem Ideal überhaupt kommen? Wird nicht immer ein gewisses Maß an Künstlichkeit
bleiben, das sich nicht überwinden lässt?

Tatsächlich stößt die Metapher des Kommunikationszentrums an Grenzen, wenn es um Aspekte wie Freiwilligkeit und die Gleichberechtigung geht.
Viele Lernende kommen nicht unbedingt aus freiem Willen zum Deutschunterricht, und die besondere Stellung der Lehrperson lässt sich nicht
einfach ausblenden. Zugleich wissen wir aber auch, dass der Unterricht Möglichkeiten für eine realitätsnahe Kommunikation bieten muss, wenn es
zu seinen Zielen gehört, genau diese Kompetenz zu fördern. Das Gefühl der Künstlichkeit zu verringern, ohne es völlig aufheben zu können, gehört
somit zu den wichtigen Aufgaben von Lehrenden. Wie kann ihnen das gelingen?

Sie können beispielsweise Kommunikationssituationen schaffen, in denen es verwunderlich wäre, Deutsch nicht zu benutzen. Wenn sich zwei
Schulklassen aus Moskau und Athen in einem E-Mail-Projekt im Deutschunterricht über ihre unterschiedlichen Lebenswelten austauschen, dann
erscheint es als natürlich, das auf Deutsch zu tun. Oder wenn Studierende an einem germanistischen Institut einer Universität in Südafrika selbst ein
kleines Theaterstück schreiben, dann liegt es ebenfalls nahe, dass sie sich dafür des Deutschen bedienen. Und auch wenn im Geschichtsunterricht
eines zweisprachigen Zweigs an einem Gymnasium in Frankreich Deutsch gesprochen wird, wirkt das nur bedingt wie künstliche Kommunikation.

Diese drei Situationen sind Beispiele dafür, wie Lernende im Unterricht tatsächlich mit der Fremdsprache handeln. Sie spiegeln aber nur den Alltag
von wenigen Deutschlehrenden wider. Wie lässt sich also der Unterricht jenseits von solch günstigen Bedingungen so gestalten, dass er zumindest
phasenweise den Charakter eines Kommunikationszentrums annimmt? Diese Frage bildet den Dreh- und Angelpunkt unserer Überlegungen in
diesem Kapitel.

Dafür befassen wir uns eingehend damit,

wie wir als Lehrende eine gute, offene, realitätsnahe Kommunikation im Klassenzimmer anregen können,
welche Rolle die Wahl der Unterrichtssprache dabei spielt,
welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Mittel förderlich sind,
was gute und klare Arbeitsanweisungen ausmacht,
wie Impulse von Lehrenden kommunikationsfördernd wirken können,
wie Korrekturverhalten sein muss, um Kommunikation nicht zu gefährden,
wie Kommunikation ausgehend von Unterrichtsmaterial schrittweise aufgebaut werden kann und
wie wichtig es ist, den Lernenden im Unterricht auch wirklich Zeit und Gelegenheit zum Sprechen zu geben.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

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2.4.1 Das kommunikative Potenzial des Klassenraums

Eigentlich bietet der Deutschunterricht kein besonders gutes Umfeld, um die deutsche Sprache zu erlernen. Selbst wenn Sie in einem vorteilhaften
Kontext unterrichten und mehrmals in der Woche mit einer Lerngruppe arbeiten dürfen, bleibt der Zeitraum eng begrenzt, in dem Ihre Lernenden mit
dem Deutschen in Kontakt sind. Und auch wenn wir die Hausaufgaben und eigenständige Lernaktivitäten hinzurechnen, erscheint die jährliche
Lernzeit relativ gering – vor allem im Vergleich zu jener, die uns beim Erwerb der Muttersprache zur Verfügung steht.

Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diese ungünstige Situation zu reagieren. Die erste besteht darin, gar nicht erst zu versuchen, den aktiven Gebrauch
des Deutschen im Klassenzimmer zu fördern. Stattdessen können Lehrende die beschränkte Zeit beispielsweise dafür nutzen, um den Lernenden
das System der deutschen Sprache näherzubringen. Dieses Ziel lässt sich vor allem mit der Hoffnung darauf begründen, dass die Schülerinnen und
Schüler in einer zukünftigen Lebenssituation bessere Bedingungen für den aktiven Gebrauch des Deutschen vorfinden werden, beispielsweise
während eines längeren Aufenthaltes in einem deutschsprachigen Land.

Es gibt gewiss zahlreiche Menschen, die auf diesem Wege ein sehr hohes Sprachniveau erreichen konnten. Und vielleicht sehen Sie sich selbst
auch als ein Beispiel für das Gelingen dieses Konzepts. Aber ob das eine realistische Hoffnung für die Mehrheit der Deutschlernenden weltweit
darstellt, möchten wir infrage stellen.

Diese Zweifel führen uns zu der zweiten Möglichkeit, wie Lehrende mit der ungünstigen Ausgangslage für den Deutschunterricht umgehen können.
In diesem Fall wird der Lernerfolg – also die mündliche und schriftliche Kommunikation in der Fremdsprache – nicht auf später verschoben. Sie ist
vielmehr eine Aufgabe für das Hier und das Jetzt. Die Lehrenden schaffen im Klassenraum Möglichkeiten, Gedanken und Gefühle in der
Fremdsprache auszudrücken und auf Deutsch zu kommunizieren. Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass die deutsche Sprache in
realitätsnahen und komplexen Situationen benutzt wird. Und sie geben den Lernerinnen und Lernern zahlreiche Gelegenheiten, solche Situationen
selbst zu gestalten. Die Erfahrung, dass man auf Deutsch tatsächlich handeln kann, rückt somit ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens. Und um
dies zu ermöglichen, stellen sich Lehrende immer wieder die Frage, welches kommunikative Potenzial im Klassenraum selbst steckt und wie es
genutzt werden kann.

Wir möchten in diesem Kapitel erreichen, dass Sie

sich der Bedeutung des Handelns mit der Fremdsprache im Unterricht bewusster werden,
die Vor- und Nachteile des Handelns in der Fremdsprache im Unterricht besser einschätzen können.

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Deutsch als Lerngegenstand und Mittel

Ein Deutschunterricht, der darauf zielt, in der Fremdsprache zu handeln, unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von anderen Fächern: Die
fremde Sprache ist dann nicht nur der Gegenstand des Lernens, sondern zugleich auch das Mittel.

Hieraus ergibt sich eine besondere Schwierigkeit für Deutschlehrende, denn der Grat zwischen sprachlicher Überforderung der Lernenden und ihrer
intellektuellen Unterforderung ist schmal: Damit die Lernerinnen und Lerner bereits in einem frühen Stadium des Lernprozesses mit dem Deutschen
aktiv handeln können, dürfen der Wortschatz und die grammatischen Strukturen nicht zu anspruchsvoll sein. Gleichzeitig müssen aber die Inhalte so
gewählt werden, dass sie von Lernenden als altersgerecht bzw. ihrem geistigen Entwicklungsstand angemessen betrachtet werden. Nur dann
besteht die Chance, dass sie sich wirklich als Individuen in das Unterrichtsgeschehen einbringen und nicht nur als Lernende einer Sprache.

Dieses Einbringen als Individuum birgt allerdings ein neues Risiko, das Lehrende nicht außer Acht lassen dürfen: Wenn Lernende aufgrund ihrer
geringen Sprachkompetenzen ihre Gedanken oder Gefühle nicht so ausdrücken können, wie sie es von der Kommunikation in der Muttersprache
gewöhnt sind, dann erleben sie diese Situation leicht als bedrohlich für ihr Selbstwertgefühl. Der Deutschunterricht berührt dadurch die Identität der
Lernerinnen und Lerner viel stärker als Unterrichtsinhalte wie Mathematik oder Biologie. Eine lernförderliche Atmosphäre zu etablieren, wie wir sie in
Kapitel 2.3 beschrieben haben, ist auch unter diesem Gesichtspunkt eine der wesentlichen Aufgaben von Lehrenden.

Aufgabe 47

Welche Argumente für und gegen den aktiven Gebrauch des Deutschen im Klassenzimmer haben Sie bisher kennengelernt? Welche weiteren fallen
Ihnen ein? Sammeln Sie die Argumente in Stichpunkten.

pro kontra

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 47

über das "So-tun-als-ob"

Haben Sie bei Ihren Notizen auf die Widersprüchlichkeit dieses Modells von Unterricht verwiesen? Das wäre ein durchaus berechtigter Einwand. Der
Klassenraum kann, wie wir weiter oben erwähnt haben, die Bedingungen des Spracherwerbs in der Muttersprache nicht imitieren. Muss er nicht
zwangsläufig scheitern, wenn er die Lebenswelt in den deutschsprachigen Ländern nachzubilden versucht? Kommt es nicht unweigerlich zu einem
Widerspruch zwischen dem Ziel des realitätsnahen kommunikativen Handelns und der Künstlichkeit der Situation, in der dieses stattfinden soll?

Auf den ersten Blick scheint es wenig sinnvoll zu sein, dass sich beispielsweise eine ägyptische Lehrerin mit ihren ägyptischen Schülerinnen und
Schülern auf Deutsch austauscht. Tatsächlich funktioniert dieses Modell von Unterricht nur dann, wenn sich die Lehrkraft und die Lernenden auf eine
Art Rollenspiel einlassen. Ob dies nun durch eine stillschweigende Übereinkunft geschieht oder durch Regeln verabredet wird: Die Beteiligten
müssen sich darüber einig sein, dass es für den Lernprozess hilfreich ist, sich auf ein "So-tun-als-ob" einzulassen.

Bitte werfen Sie noch einmal einen Blick auf die Transkription des Unterrichts an der japanischen Universität zum Thema Lebensformen. Im
Abschnitt 4 sehen wir, dass die Studentin S7 große Mühe dabei hat, ihre Meinung in deutsche Wörter zu fassen. Genau solche Momente sind
gemeint, wenn wir von der tendenziellen Bedrohlichkeit des Deutschunterrichts für die Identität sprechen. Die Lernerin wünscht sich in diesem
Moment, Japanisch benutzen zu dürfen, weil sie ein echtes Mitteilungsbedürfnis hat. Genau besehen, wäre Japanisch zu sprechen auch das
rationalere Verhalten gewesen. Schließlich geht es den Studierenden darum, eine inhaltliche Frage zu klären. In der Muttersprache hätten sie das
Problem nicht nur viel schneller, sondern auch differenzierter besprechen können. Aber warum bleiben die Studierenden beim Deutschen? Diese
Klasse hat offensichtlich akzeptiert, dass nur das "So-tun-als-ob" ihnen die Möglichkeit gibt zu erfahren, wie sie selbst die Interaktion in der
Fremdsprache gestalten können. Und offensichtlich betreiben sie dieses Spiel mit Ernsthaftigkeit, großer Kooperationsbereitschaft und auch mit
Spaß an der Sache.

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sprachliches Wissen und sprachliches Können

So widersprüchlich dieses Unterrichtsmodell auf den ersten Blick auch sein mag, die Forschungen zu den Erwerbsprozessen von
Fremdsprachenlernenden zeigen, dass es für die Mehrheit der Lernenden keine Alternative gibt, wenn der aktive Gebrauch der Fremdsprache das
Ziel des Unterrichts darstellt. Das systematische und isolierte Erlernen von explizitem Regelwissen mündet jedenfalls nicht automatisch in aktive
Sprachfähigkeiten. Ein direkter Transfer vom Kennen einer grammatischen Regel zu ihrer korrekten Anwendung in einer komplexen
Kommunikationssituation ist eher unwahrscheinlich (Diehl u.a. 2000; Tschirner 2004).

Können Sie diesen Erkenntnissen der Forschung aufgrund Ihrer Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis zustimmen? Vielleicht reagieren Sie
zunächst mit Skepsis. Aber bestätigt sich hier nicht einfach nur ein Zusammenhang, den wir aus alltäglichen Situationen kennen? Man erlernt das
Schwimmen nicht, indem man ein Buch über Schwimmtechniken liest oder im Gras liegend die einzelnen Bewegungsabläufe isoliert voneinander
übt. Beides hat seine Berechtigung, doch es ist nur dann sinnvoll, wenn es auch Wasser gibt, in das man springen kann. Sicher fallen Ihnen
zahlreiche andere alltägliche Situationen ein, die diesen Zusammenhang bestätigen.

Zusammenfassung

Wenn die Lernenden dazu befähigt werden sollen, auf Deutsch sprachlich zu handeln, muss der Unterricht immer wieder den Charakter eines
Kommunikationszentrums annehmen. Dies gelingt, indem sich alle auf das "So tun als ob" einlassen und angeregt durch die Inhalte und
Aufgabenstellungen ihre Gefühle und Gedanken mitteilen oder gemeinsam Probleme lösen. Wie Lehrende diese Interaktion im Klassenraum
initiieren, unterstützen und anleiten können, wird uns im folgenden Kapitel beschäftigen.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

2.4.2 Die Qualität der Unterrichtskommunikation

In Kapitel 1.7 haben wir die kommunikative Kompetenz als grundlegend für alle anderen Kompetenzen von Lehrenden definiert. Ihre besondere
Bedeutung ergibt sich daraus, dass Lehrerinnen und Lehrer auf allen Tätigkeitsfeldern mehr oder weniger intensiv mithilfe kommunikativer Prozesse
auf das Unterrichtsgeschehen einwirken. Als wir zum Beispiel in Kapitel 2.3 untersucht haben, wie Lehrende zu einer lernförderlichen Atmosphäre im
Klassenraum beitragen können, sind wir immer wieder auf diesen Zusammenhang gestoßen.

Wir möchten erreichen, dass Sie am Ende dieses Kapitels

besser einschätzen können, wie sich die Unterrichtskommunikation positiv beeinflussen lässt,
besser verstehen, mit welchen Arbeitsanweisungen, Impulsen, Korrekturen und Aktivitäten Sie Kommunikation im Klassenzimmer initiieren
und fördern können.

Ob Lehrkräfte etwas erklären, eine Arbeitsanweisung geben, eine Leistung beurteilen oder sich einfach nur nach dem Befinden ihrer Schülerinnen
und Schüler erkundigen: Die Lernenden erleben ihre Lehrkräfte als Kommunikatoren. Der Unterricht ist gleichsam durchwebt von kommunikativen
Prozessen. Und deren Qualität wird von mehreren Faktoren beeinflusst, wie die folgende Abbildung verdeutlicht.

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Faktoren der Qualität von Unterrichtskommunikation (nach: Dubs 2009, S. 119f.)

Qualitätsfaktoren

Sehen wir uns nun die einzelnen Faktoren, die die Qualität der Unterrichtskommunikation bestimmen, näher an:

Individualität: Nimmt die Lehrkraft in der Kommunikation auf die Eigenarten der Lernenden Rücksicht und spricht sie als Individuen an?
Offenheit: Lässt die Lehrkraft eine offene Kommunikation zu, in die sich die Lernenden einbringen können?
Effizienz und Effektivität: Erfasst die Lehrkraft die Aktionen und Reaktionen der Lernenden und verknüpft sie mit den eigenen
Gedankengängen? Gibt sie den Lernenden effektive Hilfestellungen bei der Formulierung ihrer Gedanken?
Flexibilität: Gestaltet die Lehrkraft die Kommunikation variabel? Sieht sie das Verhalten der Lernenden und mögliche Missverständnisse
voraus und vermeidet somit Stockungen im Unterrichtsverlauf?
Spontaneität: Reagiert die Lehrkraft in der Kommunikation spontan und zugleich vernünftig abwägend?
Authentizität: Kommuniziert die Lehrkraft als sie selbst? Können die Lernenden ihre Äußerungen und die Reaktionen immer richtig
interpretieren?
Emotionalität und Persönliches: Versteht es die Lehrkraft, die Kommunikation im geeigneten Moment mit Persönlichem anzureichern? Lässt
sie auch Emotionen einfließen?

Die Abbildung ermöglicht einen Überblick über die Faktoren, die die Qualität der Kommunikation im Unterricht beeinflussen. Aus ihrer Auflistung
lassen sich nicht unmittelbar Handlungsanweisungen für Lehrende ableiten. Beispielsweise wird eine Lehrkraft in einer Klasse mit 50 Lernenden
anders Rücksicht auf die einzelnen Individuen nehmen können als in einer Klasse mit zehn Kursteilnehmenden. Offene Kommunikation bedeutet auf
der Primarstufe etwas anderes als im universitären Unterricht. Und Emotionalität wird in den einzelnen Kulturkreisen unterschiedlich wahrgenommen
und bewertet.

Sie haben beim Durchgehen der Liste also wahrscheinlich sehr individuelle Vorstellungen davon entwickelt, was die einzelnen Formulierungen
konkret für Ihr eigenes kommunikatives Verhalten bedeuten. In der folgenden Aufgabe möchten wir Sie bitten, diese Gedanken festzuhalten.

Aufgabe 48

Wie gestalten Sie die Kommunikation in Ihren Klassen? Nennen Sie konkrete Beispiele zu den einzelnen Faktoren.

Faktoren der Qualität der So gestalte ich die Kommunikation in meinem Unterricht.

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Unterrichtskommunikation
Individualität

Offenheit

Effizient/Effektivität

Flexibilität

Spontanität

Authentizität

Emotionalität/Persönliches

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 48

Wir können in diesem Kapitel nicht jeden einzelnen der Faktoren, die auf die Qualität von Unterrichtskommunikation einwirken, detailliert
besprechen. Zum Teil sind sie Ihnen auch bereits in den vorangegangenen Kapiteln begegnet. So haben wir etwa im Zusammenhang mit der
Gestaltung einer lernförderlichen Atmosphäre bereits die Bedeutung der Authentizität von Lernenden hervorgehoben. Lernende brauchen eine
gewisse Sicherheit darüber, wer die Person vor der Klasse ist und was ihr Verhalten oder ihre Reaktionen bedeuten. Passen beispielsweise die
Mimik und die Gestik eines Lehrers nicht zu seinen Aussagen, leidet seine Glaubwürdigkeit.

Auch von der Offenheit war bereits die Rede, als wir am Beispiel von Lernmaterialien die Gestaltung einer lernförderlichen Atmosphäre
thematisierten. Mit Blick auf die Kommunikationsprozesse müssen wir an dieser Stelle ergänzen, dass diese Offenheit bei den Lehrenden die
Fähigkeit voraussetzt, aktiv zuhören zu können. Dazu zählt in erster Linie, dass sie sich zurücknehmen können und die Kommunikation im
Klassenraum nicht fortwährend dominieren. Aktives Zuhören heißt auch, dass die Lehrenden nicht ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die formale
Gestaltung der Äußerungen ihrer Lernenden richten. Das führt nämlich häufig dazu, dass die Lernenden vorschnell unterbrochen und korrigiert
werden. Die inhaltlichen Botschaften der Lernenden sollten wahrgenommen und zugleich auch ernst genommen werden.

Im Folgenden sehen wir uns an konkreten Beispielen an, wie und auf welchen Ebenen Lehrende mit ihrem Verhalten die Qualität der
Unterrichtskommunikation positiv beeinflussen können.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

Die Wahl der Unterrichtssprache

Eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass es im Klassenraum zu einer echten Kommunikation auf Deutsch kommt, ist die Bereitschaft der
Lehrenden dazu. Dies wird oft dadurch beeinträchtigt, dass Lehrende glauben, selbst nicht ausreichend gut Deutsch zu sprechen. Der Druck, der in
dieser Hinsicht auf Lehrkräften lastet, ist sehr groß. Er entsteht aus der Annahme, Lehrende müssten selbst dem sprachlichen Niveau von
deutschen Muttersprachlern sehr nahe kommen, um Deutsch unterrichten zu können. Ein Blick auf das Kompetenzmodell zeigt jedoch, dass dieser
Erwartung ein zu schlichtes Bild des Lehrberufs zugrunde liegt: Die kommunikative Kompetenz besitzt zwar für alle anderen Kompetenzen große
Relevanz, sie darf aber nicht mit ihnen gleichgesetzt werden. Eine hohe fachdidaktische, methodische oder soziale Kompetenz kann Schwächen bei
der (fremdsprachlichen) kommunikativen Kompetenz ausgleichen. Dass Lehrende selbst zu einem gewissen Grad Deutsch beherrschen müssen,
sobald sie das kommunikative Handeln im Klassenraum als ihr Ziel betrachten, steht außer Frage. Welches Sprachniveau erforderlich ist, hängt aber
von der Niveaustufe der Lernenden und den Lernzielen ab.

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Didaktische Kompetenzen im Überblick (Hallet 2006, S. 36)

Weiter oben haben wir bereits gesehen, wie wichtig die Vorbildfunktion von Lehrenden ist. Diesen Aspekt möchten wir hier wieder aufgreifen, denn
eine Vorbildwirkung sollten Deutschlehrende gerade in der Kommunikation ausstrahlen. Indem sie selbst immer wieder das Deutsche benutzen,
zeigen sie ihren Lernenden nicht nur, wie groß ihr eigenes Interesse am Unterrichtsgegenstand ist. Sie bieten den Lernenden auch ein Modell für
ihren eigenen Lernprozess. Mit möglichen Wissenslücken und Fehlern machen Lehrende dabei vor allem deutlich, dass man eine fremde Sprache
ein Leben lang erlernt.

Wenn Lehrkräfte davor zurückschrecken, die eigenen Schwächen vor Schülerinnen und Schülern zu zeigen, so ist das ein durchaus verständliches
Verhalten. Sie schützen damit ihr Selbstwertgefühl, ihre Stellung innerhalb des Kollegiums und vielleicht sogar ihre Arbeitsstelle. Es gibt also
berechtigte Motive dafür, Deutsch nicht oder nur wenig als Unterrichtssprache zu verwenden. Und dennoch können Lehrkräfte von ihren
Schülerinnen und Schülern nicht erwarten, das Deutsche aktiv zu benutzen, wenn sie es selbst nicht tun.

Andererseits verlangen die oben erwähnte Effizienz und Effektivität der Kommunikation, dass Deutschlehrende auch gezielt auf die Muttersprache
der Lernenden oder eine Verkehrssprache – eine Sprache, die von allen Beteiligten verstanden wird - zurückgreifen. Denn die Lernenden kommen
nicht als unbeschriebene Blätter in den Unterricht, sondern verfügen bereits über vielfältiges sprachliches Wissen und Können, ob in der
Muttersprache oder in anderen Fremdsprachen. Diese Ressource nicht zu nutzen, wäre ebenso kurzsichtig, wie den gesamten Unterricht auf
Deutsch zu führen.

Aufgabe 49

In welchen Unterrichtssituationen ist es sinnvoll, die Muttersprache der Lernenden oder eine Verkehrssprache zu benutzen? Ergänzen Sie.

Als Lehrkraft sollte man die Muttersprache der Lernenden oder eine Verkehrssprache dann einsetzen, wenn…

1.

Page 60/96
2.

3.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 49

Mit unseren Lösungsvorschlägen für diese Aufgabe möchten wir zeigen, dass die begrenzte Unterrichtszeit teilweise verschwendet würde, wenn im
Unterricht ausschließlich Deutsch gesprochen werden dürfte. Für die Effizienz und Effektivität von Kommunikation wäre das von Nachteil. Die
Muttersprache der Lernenden oder eine Verkehrssprache erleichtert nicht nur die Organisation der Unterrichtsabläufe. Sie stellen eine wichtige Hilfe
dar, um grammatische Phänomene in der Fremdsprache zu verstehen. Und sie können auch benutzt werden, um Defizite in der Fremdsprache
auszugleichen und eine flüssige Kommunikation aufrechtzuerhalten. So werden beim sogenannten Code-Switching oder Code-Mixing die Fremd-
und die Muttersprache teilweise vermischt. Lehrende und Lernende benutzen also beispielsweise innerhalb einer fremdsprachlichen Äußerung ein
Wort oder eine Struktur aus der Muttersprache.

Mit der Sandwich-Technik schlägt Butzkamm (2007) eine interessante Möglichkeit vor: Bei dieser Technik wird ein in der Fremdsprache
gesprochener Satz zunächst in der Muttersprache der Lernenden oder in einer Verkehrssprache wiederholt und dann abermals in der
Fremdsprache.

Ein Beispiel aus einem Deutschunterricht für englischsprachige Kinder könnte also so aussehen:

Was denkst du darüber?


What do you think about that?
Was denkst du darüber?

Das Wichtige dabei ist, dass die Zielsprache, also das Deutsche, bestimmend bleibt. Das kurze Ausweichen in die Mutter- oder Verkehrssprache ist
nur eine Hilfe, die ermöglicht, dass man ohne Probleme in der Zielsprache fortfahren kann. Je nach dem Niveau der Lerngruppe kann die Lehrkraft
diese Sequenz unterschiedlich gestalten. Beispielsweise kann sie die Sprechgeschwindigkeit variieren (schnell - langsam - schnell) und auch die
Lautstärke (laut - leise - laut).

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

Verbale und nonverbale Kommunikation

Die Sandwich-Technik stellt einen Weg dar, den Anteil des Deutschen in der Unterrichtskommunikation zu erhöhen, ohne die Lernenden sprachlich
zu überfordern oder Missverständnisse zu erzeugen. Eine vergleichbare Wirkung können Lehrende erreichen, indem sie ihre Sprache an das Niveau
der Lerngruppe anpassen.

Im Folgenden möchten wir thematisieren, wie Lehrende durch Mimik und Gestik sowie durch den Einsatz von visuellen und auditiven Mitteln
(Bildern, Tönen oder Ähnlichem) ihre Äußerungen veranschaulichen können. Vielleicht gehören all diese Möglichkeiten bereits zu Ihrem Repertoire
an Lehrtechniken. In ihnen kommt die kommunikative Kompetenz von Lehrkräften ebenso zum Ausdruck wie die unterrichtsorganisatorische
Kompetenz.

Wir werden uns anhand kurzer Unterrichtsmitschnitte ansehen, wie Lehrende mithilfe von Gesten das Verständnis von Arbeitsanweisungen oder
Erklärungen auf Deutsch fördern.

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Davor möchten wir Sie bitten, den eigenen Gebrauch des Deutschen in Ihrem Unterricht zu reflektieren. Setzen Sie bewusst oder unbewusst
bestimmte Techniken ein, die es Ihren Schülerinnen und Schülern erleichtern sollen, die Kommunikation auf Deutsch zu verstehen? Falls Sie bisher
nur selten im Unterricht Deutsch sprechen, überlegen Sie bitte, wie sich die einzelnen Aspekte in Ihrem Kontext sinnvoll realisieren lassen könnten.

Aufgabe 50

Was macht gute Lehrersprache aus?

a) Ordnen Sie die Beispiele A bis F der Tabelle zu.

Beispiele für konkrete Techniken:

Die Lehrkraft …

A. spricht mit einer deutlich akzentuierten Intonation.

B. vermeidet es, zur Tafel oder zur Wand zu sprechen.

C. benutzt pantomimische Mittel, um Situationen zu erklären.

D. äußert ihre Gefühle, indem sie Sprache mit Mimik und Gestik verbindet.

E. benutzt für bestimmte Arbeitsanweisungen immer die gleichen Wendungen.

F. illustriert unbekannte Wörter mit Zeichnungen an der Tafel.

Merkmale verbaler und nonverbaler Kommunikation von Lehrenden Techniken A bis F


verständliche Aussprache (Deutlichkeit, Geschwindigkeit, Intonation) A
angemessene sprachliche Mittel (Wortschatz, Strukturen)
Einsatz nonverbaler Mittel (Mimik, Gestik, Visualisierung)

b) Ergänzen Sie konkrete Techniken, die Sie in Ihrem Unterricht einsetzen.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 50

Werfen wir nun wieder einen Blick in die Praxis des Deutschunterrichts. Sie werden einen Zusammenschnitt von mehreren Unterrichtsszenen aus
der Deutschen Schule Barcelona sehen, zunächst ohne Ton, dann mit Ton. Die Lehrenden unterstützen die Kommunikation mit verschiedenen
Gesten. Diese sind in ihrer Funktion der jeweiligen Lerngruppe vertraut. Sie können also als Routinen verstanden werden.

Aufgabe 51

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Sehen Sie sich den Zusammenschnitt Nonverbale Routinen im Unterricht ohne Ton an. Vermuten Sie, was die Lehrperson mit der Geste
ausdrücken möchte. Notieren Sie Ihre Ideen in der Tabelle. Sehen Sie dann den Zusammenschnitt mit Ton und ergänzen Sie die nächste Spalte der
Tabelle.

Nr. Geste Vermutung ohne Ton Vermutung mit Ton


1

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6

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 51

Haben Sie die Gesten der Lehrenden auch ohne Ton verstanden? In den meisten Fällen hatten Sie wahrscheinlich kaum Probleme damit, die
Intention der Lehrenden nachzuvollziehen. Das verdeutlicht die unterstützende Funktion von Gesten.

Wir möchten hier nicht diskutieren, ob es für einige der Situationen vielleicht bessere Gesten gibt. Entscheidend ist nur, ob sie in den jeweiligen
Klassenzimmern die beabsichtigte Wirkung erzielen, und das lässt sich anhand der kurzen Ausschnitte nicht beurteilen. Wir möchten Sie an dieser
Stelle wieder dazu anregen, auch bei allen weiteren Videos, die Sie in dieser Fortbildungsreihe sehen, auf die Gesten der Lehrenden zu achten und
sie zu analysieren.

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Arbeitsanweisungen

Im nächsten Schritt werden wir uns Arbeitsanweisungen zuwenden, die Lehrende im Unterricht mündlich erteilen. In Bezug auf Lehrersprache haben
wir bereits Kriterien kennengelernt, die auch für gute Arbeitsanweisungen maßgeblich sind. Diese sind:

Ist meine Aussprache verständlich? (Deutlichkeit, Geschwindigkeit, Intonation)


Ist meine Arbeitsanweisung für die Lernenden sprachlich verständlich? (Wortschatz, Strukturen)
Setze ich nonverbale Mittel zur Veranschaulichung ein? (Mimik, Gestik, Visualisierung)

Über diese hinaus sind folgende Fragen für die Qualität von Arbeitsanweisungen ausschlaggebend:

Ist meine Position im Raum geeignet für die Arbeitsanweisung?


Haben die Lernenden einen guten Blick auf das Lernmaterial?

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Konzentriere ich mich auf die wesentlichen Informationen?
Enthält die Arbeitsanweisung alle nötigen Instruktionen und Vorgaben?

Sehen Sie bitte den Zusammenschnitt Arbeitsanweisungen im Unterricht an und überlegen Sie, inwieweit die genannten Merkmale einer guten
Lehrersprache von den Lehrenden umgesetzt werden. Da es sich um sehr kurze Ausschnitte aus dem Unterricht handelt und uns viele
Kontextinformationen fehlen, lassen sich nicht zu allen Kriterien Aussagen treffen.

Aufgabe 52

Sehen Sie den Zusammenschnitt Arbeitsanweisungen im Unterricht und notieren Sie, wie die Lehrenden jeweils die Kriterien erfüllen.

Kriterien 1 2 3 4
verständliche
Aussprache

angemessene
sprachliche Mittel

Einsatz nonverbaler
Mittel

Position im Raum - L* bewegt sich in der Klasse;


spricht dadurch alle Lernenden
an; hat die gesamte Klasse im
Blick

Sichtbarkeit von
Lernmaterialien

Konzentration auf das


Wesentliche

ausreichende
Instruktionen und
Vorgaben

*Lehrkraft

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Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 52

Nun soll eine hypothetische Situation das Material für die nächste Aufgabenstellung liefern. In der folgenden Tabelle finden Sie die mündliche
Arbeitsanweisung eines Lehrers für eine Lerngruppe auf dem Niveau A2, die mehrere Probleme aufweist. Ihre Aufgabe wird darin bestehen, den
Text verständlicher zu gestalten.

Aufgabe 53

Analysieren und verbessern Sie die Arbeitsanweisung an eine Lerngruppe auf Anfängerniveau (A1/A2).

a) Lesen Sie die Arbeitsanweisung und notieren Sie, wo welche Kriterien für eine gute Arbeitsanweisung missachtet werden:

Verständliche Aussprache - Angemessene sprachliche Mittel - Einsatz nonverbaler Mittel - Position im Raum - Sichtbarkeit von Lernmaterialien -
Konzentration auf das Wesentliche - Ausreichende Instruktionen und Vorgaben

Arbeitsanweisung Probleme
(Der Lehrer steht drei Meter von der Tafel entfernt und spricht zur Klasse.) Position im Raum

Also, bitte hört jetzt mal genau zu. Ich möchte euch nun die nächste Aufgabe erklären. Hier vorne an
der Tafel habe ich ein paar Fotos aufgehängt. Oder sagen wir besser angeklebt. Das sind alles Fotos
von Gebäuden in deutschen Städten. Die habe ich übrigens alle selbst gemacht, als ich letztes Jahr im
Sommer für vier Wochen in Deutschland war. Ich habe mir dafür extra eine neue Kamera gekauft.
Gefallen sie euch? Also, was ihr machen sollt, ist Folgendes: Ich möchte euch erst mal bitten, diese
Gebäude in den Stadtplan einzutragen, den ihr in euren Büchern auf Seite 56 habt. Erinnert ihr euch an
die Namen der Gebäude? Wir haben das doch schon in Lektion 4 kurz behandelt. Na, kommt es
langsam wieder? Da gab es doch diese Wegbeschreibung: Die Frau hat das Rathaus gesucht, aber alle
Leute haben ihr einen anderen Weg empfohlen. Jetzt erinnert ihr euch, oder? Das war doch eine lustige
Geschichte. Und am Ende stand sie vor dem Bahnhof. Also, ihr seht euch jetzt die Fotos hier vorne an
(zeigt hinter sich an die Tafel) und dann schreibt ihr einfach die kleinen Nummern. Ach so, seht ihr die
kleinen Nummern rechts unten neben den Fotos? (zeigt wieder hinter sich) Also diese kleinen Nummern
sollt ihr irgendwie in den Stadtplan auf Seite 56 in eurem Buch eintragen. Dort gibt es zwar keine Fotos,
aber die Bezeichnungen der Gebäude sind vermerkt. Seht ihr das alle auf Seite 56? Da oben rechts
steht "Post". Ihr seht das sicher alle. Und nun stellt sich also die Frage, welches Foto von denen hier
vorne an der Tafel eine Post ist. Ist doch gar nicht kompliziert, oder? Also überlegt jetzt einfach mal, wie
das geht. Am besten, ihr macht das zu zweit oder zu dritt. Aber ihr könnt auch gerne alleine arbeiten.
Übrigens, diese Person hier vorne vor dem alten Gebäude, habt ihr schon eine Idee, was das sein
könnte? Diese Person hier vorne ist mein deutscher Freund. (Geht an die Tafel und zeigt die Person auf
dem Foto). Er hat wohnt in dieser Stadt und hat mir geholfen, die Fotos zu machen. Wisst ihr, wo das
ist? Ach, das machen wir später. Bitte fangt jetzt an.

b) Schreiben Sie nun eine bessere Version der Arbeitsanweisung.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 53

Wenn Ihnen die Aufgabe Schwierigkeiten bereitet, können Sie auch unsere alternative Version der Arbeitsanweisung im Lösungsschlüssel lesen.
Der Vergleich mit dem Original hilft Ihnen, die Probleme im Text zu finden.

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Sprechanteile

Ob ein Klassenzimmer den Charakter eines Kommunikationszentrums annimmt, hängt besonders davon ab, wieviel die Lehrperson selbst im
Unterricht spricht, also wie die Sprechanteile zwischen Lehrperson und Lernenden aufgeteilt sind. Die eben bearbeitete Arbeitsanweisung war in
diesem Zusammenhang sicher kein nachahmenswertes Beispiel. Um die Lernzeit effektiv zu nutzen, müssen Lehrende darüber nachdenken, wie sie
selbst das Deutsche im Unterricht sinnvoll einsetzen können. Zugleich sollten sie sich aber auch fragen, ob sie die Lernenden nicht sprachlich
dominieren. Forschungen zu diesem Thema verdeutlichen immer wieder, wie schwer es Lehrenden fällt, sich im Unterricht zurückzunehmen. Dazu
kommt, dass sie dieses Problem selbst nicht als Problem erkennen. Die folgende Abbildung bestätigt das sehr anschaulich. In einer Videostudie
wurden Englischlehrkräfte an deutschen Schulen nach einer Unterrichtsstunde danach gefragt, wie groß sie ihren Anteil an der Sprechzeit
einschätzen (DESI-Studie). Diese Angaben wurden dann mit der Auswertung des betreffenden Unterrichts verglichen. Das Ergebnis fällt
überraschend deutlich aus und beweist, dass Lehrende dazu neigen, ihre eigene Sprechzeit zu unterschätzen (Helmke 2009, S. 141): Nur ein Drittel
der befragten Personen meinen, mehr als 60 Prozent der Sprechzeit für sich in Anspruch zu nehmen. Tatsächlich trifft das aber auf den
überwiegenden Teil der beobachteten Lehrenden zu.

selbsteingeschätzter und tatsächlicher Sprechanteil von Lehrkräften im Englischunterricht

(http://www.dipf.de/de/projekte/pdf/biqua/desi-zentrale-befunde, S. 48)

Wir haben bereits wichtige Gründe dafür angesprochen, weshalb Lehrerinnen und Lehrer ihr Verhalten im Klassenzimmer oft nicht realistisch
einschätzen können: Zum einen sehen sie das Geschehen im Klassenraum durch die Brille ihrer Lehrphilosophie. Zum anderen ist es nur schwer
möglich, sich selbst zu beobachten, wenn man unter hohem Handlungsdruck steht.

In Kapitel 3.2 werden wir auf diese Problematik zurückkommen und Wege aufzeigen, wie Lehrende trotz dieser Widerstände ein besseres
Verständnis für ihr Verhalten im Klassenraum entwickeln können. Hier geht es uns jetzt um die Frage, mit welchen Mitteln sich der Sprechanteil der
Lernenden erhöhen lässt. Wir möchten das anhand einer Unterrichtssequenz untersuchen.

Schulart, Ort, Jahr Goethe-Institut Berlin, 2009


Zielgruppe A1, Erwachsene
Lehrkraft Martina Schäfer
Globales Lernziel Einführung Perfekt: Urlaub und Reise
Unterrichtsphase Abschluss der Stunde, Gespräch über Arbeitsprodukte der Lernenden
Lehr- Lernaktivitäten Plenum: Die Teilnehmer gehen herum von Plakat zu Plakat und lesen die Reisetagebücher der anderen
Gruppen, stellen sich in einen Kreis und sagen, was ihnen als Urlaubsziel am besten gefallen hat. Die
Kursleiterin gibt eine Hausaufgabe (einen kleinen Text zum Wochenende in der Vergangenheit).

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Aufgabe 54

Sehen Sie die Sequenz 14 von Goethe-Institut Berlin.

a) Mit welchen Mitteln versucht die Lehrerin in dieser Unterrichtssequenz den Sprechanteil der Lernenden zu erhöhen?

b) Sind die Maßnahmen erfolgreich?

c) Welche Alternativen wären denkbar?

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 54

Zuerst fällt in dieser Unterrichtssequenz auf, dass die Lehrerin die Möglichkeiten ihrer Unterrichtslandschaft nutzt, um den Sprechanteil der
Lernenden zu erhöhen: Die Kursteilnehmenden versammeln sich in einem Kreis, wodurch eine alltägliche Kommunikationssituation von Gruppen
entsteht. Die körperliche Nähe schafft gute Voraussetzungen für einen aktiven Austausch.

Als zweite Maßnahme fordert die Lehrerin die Lernenden dazu auf, sich gegenseitig zu befragen. Sie gibt somit Lehrfunktionen ab und erhöht
dadurch den Sprechanteil der Lernenden. Allerdings entsteht dadurch kein aktiver Austausch. Eine Möglichkeit, diesen in Gang zu bringen, wäre die
Frage nach den Gründen der Entscheidungen in den einzelnen Gruppen gewesen. Die Lehrerin gibt dafür auch ein Beispiel, das jedoch von den
Kursteilnehmenden nicht aufgegriffen wird.

Da wir nur diesen kleinen Ausschnitt einer Unterrichtsstunde vor Augen haben, müssen wir mit Bewertungen der Situation vorsichtig sein. Mehr als
vage Vermutungen lassen sich auf dieser Grundlage nicht anstellen. Unseres Erachtens ist es aber dennoch sinnvoll, Alternativen zu überlegen.

Vielleicht wäre der Austausch zwischen den Lernenden noch länger und intensiver gewesen, wenn die Lehrerin ihnen mehr Denkpausen gegeben
hätte. Dem stand möglicherweise aber das nahende Stundenende entgegen. Denkbar wäre in dieser Situation auch gewesen, die Aufmerksamkeit
weniger auf grammatische Probleme, sondern eher auf die inhaltlichen Botschaften der Lernenden zu richten.

Diese Überlegungen sind natürlich spekulativ, weil wir nicht wissen, ob es überhaupt die Absicht der Lehrerin war, mehr Kommunikation anzuregen,
als wir im Unterrichtsmitschnitt beobachtet haben. Auch als sie am Ende der Videos nach der möglichen Hausaufgabe fragt, handelt es sich
vielleicht nur um eine rhetorische Frage. Sie wartet jedenfalls nicht auf die Ideen der Lernenden, sondern übernimmt die Antwort selbst. Vielleicht hat
sie dadurch eine Möglichkeit verschenkt, von ihren Lernenden eine interessante Aufgabenstellung zu erfahren oder sogar in ein Gespräch über eine
sinnvolle Hausaufgabe zum Thema der Stunde zu kommen.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

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Korrektur mündlicher Lerneräußerungen

Die Videosequenz, die wir eben gesehen haben, verweist auf einen weiteren Aspekt des Lehrerverhaltens, der sich unmittelbar darauf auswirkt, ob
es zu einer flüssigen Interaktion im Klassenraum kommt: die Reaktion auf die Fehler der Lernenden. Vielleicht ist Ihnen beim ersten Betrachten des
Videos bereits aufgefallen, dass in dieser Sequenz auch das Korrekturverhalten eine Rolle spielt. Da die Einheit 4 von Deutsch Lehren Lernen die
Gelegenheit geben wird, sich mit dem Thema Fehler und Fehlerkorrektur intensiv auseinanderzusetzen, beschränken wir uns in diesem Kapitel auf
einige grundsätzliche Überlegungen.

Wir möchten Ihnen dazu wieder eine hypothetische Unterrichtssituation vorstellen: Nachdem das Präteritum geübt wurde, versucht ein Lehrer, mit
einer Schülerin ein Gespräch aufzubauen.

Aufgabe 55

Für wie angemessen halten Sie in der beschriebenen Situation die möglichen Reaktionen der Lehrkraft auf den Fehler der Schülerin? Welche
weiteren Reaktionen sind denkbar?

Lehrkraft: Wo warst du gestern?

Schülerin: Ich bin zu Hause.

mögliche Reaktionen des Lehrkraft sehr angemessen nicht so un- angemessen


angemessen angemessen
1 Das heißt nicht bin, sondern war.

2 Ich war zu Hause.

3 Gestern …

4 Bitte sage das im Präteritum.

5 Was ist das zweite Wort?

6 Was denkt ihr zu diesem Satz? (an die Lerngruppe)

7 Bitte sage das noch einmal.

8 (Die Lehrkraft schüttelt den Kopf.)

9 Was?

10 Noch einmal. Wo warst du gestern?

11 Wirklich? Es war doch so schönes Wetter.

12 Du warst also zu Hause. Was hast du dort gemacht?

(nach: Borg 2006, S. 177)

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 55

Wie sich an diesen Beispielen nachvollziehen lässt, nimmt die Lehrperson mit ihrem Korrekturverhalten unmittelbar Einfluss auf das Sprechverhalten
der Lernenden. Wenn sie eine Lerneräußerung als sprachlich nicht korrekt bewertet, kann sie die Schülerin oder den Schüler unterbrechen, um zu
korrigieren oder um den Fehler bewusst zu machen. Tut sie das zu oft, besteht die Gefahr, dass die Lernenden sich zurückziehen oder sogar
verstummen. Die Offenheit als ein Qualitätsmerkmal der Unterrichtskommunikation wird beeinträchtigt. Andererseits gehört es natürlich zu den
Aufgaben von Lehrenden, auf Fehler hinzuweisen.

Entscheidend für ein angemessenes Korrekturverhalten ist deshalb die jeweilige Situation. In einer Unterrichtssequenz, in der es um die
Leistungsbewertung der Lernenden geht, rücken die Fehler automatisch stärker ins Blickfeld. Geht es aber darum, Meinungen oder Gedanken zu

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einem Thema auszutauschen, sollte der Inhalt der Äußerung im Zentrum stehen und nicht ihre formale Richtigkeit. Letztlich können die Lehrenden
aufgrund ihrer Kenntnis des Kontextes und der Lerngruppe nur selbst entscheiden, welches Korrekturverhalten angemessen ist. Sie sollten dabei
jedoch die möglichen Folgen ihres Vorgehens reflektieren. Wenn durch die Fehlerkorrektur die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes grammatisches
Phänomen gerichtet werden soll, dann ist beispielsweise Reaktion 6 zielführender als die Reaktion 4. Denn das Einbinden der gesamten Lerngruppe
in die Fehlerkorrektur erhält den Charakter des Kommunikationszentrums, auch wenn sich dabei das Thema verändert.

Wenden wir uns nun nochmals dem Unterrichtsmitschnitt aus dem Goethe-Institut Berlin zu. Bitte achten Sie beim zweiten Ansehen des Videos vor
allem auf die Fehlerkorrektur der Lehrerin

Aufgabe 56

Sehen Sie sich Sequenz 14 von Goethe-Institut Berlin noch einmal an, diesmal mit Blick auf das Korrekturverhalten. Notieren Sie Ihre
Beobachtungen und Überlegungen in die Tabelle.

Fehler der Lernenden Korrektur der Lehrerin mögliche Intention der Lehrerin bei Ihre Meinung zu diesem
der Korrektur Korrekturverhalten
"Die schönste Reise ist unsere keine Reaktion, obwohl sie später diese
Reise." Formulierung korrigiert

"Paula, welche Reise ist…" unterbricht den Lerner: "war am


schönsten"

Geste, die auf die Vergangenheitsform


hinweist
"Ja, ich auch."

"Welche war schönste-"

"Welche Reise schönste-"

"Unsere Reise am schönsten, ich


denke."

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 56

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Sie sehen an diesem Unterrichtsmitschnitt, dass das Korrekturverhalten von Lehrenden keineswegs einheitlich ist. Lehrkräfte müssen in Bruchteilen
von Sekunden Entscheidungen treffen und dabei viele Faktoren bedenken. Deshalb kann man dieser Lehrerin auch keinen Vorwurf machen. Es ist
unmöglich, das eigene Korrekturverhalten zu analysieren, während man sich auf die Lernenden und ihre Äußerungen konzentriert.

Ebenso wenig kann man diese Lehrerin dafür verantwortlich machen, dass es den Lernenden am Ende der Stunde nicht gelingt, die
Vergangenheitsformen korrekt anzuwenden. Bitte erinnern Sie sich an das, was wir weiter oben über den schwierigen Transfer vom Wissen zum
Können besprochen haben. Dieses Video liefert dafür ein sehr gutes Anschauungsmaterial. Dass sich die Lernenden vor diesem
Unterrichtsmitschnitt sehr intensiv mit den Vergangenheitsformen beschäftigt haben, ist keine Garantie dafür, dass sie diese auch tatsächlich
anwenden.

Was wir in Kapitel 1 auf theoretischer Ebene mit Ihnen besprochen haben, lässt sich an diesem kurzen Video sehr anschaulich nachvollziehen:
Unterricht ist ein unvorhersehbarer und sehr komplexer Prozess, der zwar im Voraus geplant werden muss, aber oft einen überraschenden Verlauf
nimmt.

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Impulse

Die sprachliche Gestaltung von Arbeitsanweisungen haben wir uns bereits weiter oben angesehen. Nun möchten wir gemeinsam mit Ihnen
untersuchen, wie die Kommunikation im Klassenraum durch die Impulse der Lehrenden gesteuert werden.

Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten von Impulsen der Lehrenden. Sie alle haben das Ziel, Aktivitäten
der Lernenden auszulösen, sie zu motivieren oder den Unterricht zu strukturieren.

Impulse der Lehrenden (Mühlhausen/Wegner 2010, S. 169f.)

Drei Fragen entscheiden letztlich darüber, ob ein Impuls dazu beiträgt, dem Klassenzimmer den Charakter eines Kommunikationszentrums zu
geben:

Welchen Spielraum eröffnet ein Impuls?


Wie komplex sind die zu erwartenden Antworten oder Reaktionen?
Welche Intention steht hinter dem Impuls? (Besteht ein tatsächliches Interesse an der Antwort/Reaktion?)

Bitte sehen Sie sich vor diesem Hintergrund die folgenden beiden Unterrichtssequenzen aus Indien an.

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Schulart, Ort, Jahr Goethe-Institut Pune, 2008
Zielgruppe Erwachsene, B2
Lehrkraft Boddypaty Shubhada
Globales Lernziel Landeskunde: Feste und Bräuche
Unterrichtsphase Einstieg: Geburtstag feiern in Deutschland und in Indien
Lehr-/Lernaktivitäten Lerneraktivitäten Impulse der Lehrerin (Fragetechniken)

Schulart, Ort, Jahr Goethe-Institut New Delhi, 2010


Zielgruppe B2.2, Erwachsene, Berufsorientierung
Lehrkraft Manveen Kaur Anand
Globales Lernziel über einen Film/einen Beruf sprechen
Unterrichtsphase Abschluss der Stunde, Individualisierung, Diskussion
Lehr-/Lernaktivitäten Plenum: die TN tauschen sich zu einer Frage an der Tafel aus ("Welchen Beruf würden Sie nie ausüben?")

Aufgabe 57

Sehen Sie Sequenz 2 von Goethe-Institut Pune 1 und Sequenz 9 von Goethe-Institut New Delhi 2.

Beurteilen Sie die Impulse, die die Lehrerinnen durch ihre Fragen geben. Kreuzen Sie in der Tabelle an.

mögliche Spielräume bei der Antwort erwartete Komplexität der Antwort / Reaktion inhaltliches Interesse an der Antwort
sehr groß eher groß eher klein sehr klein sehr groß eher groß eher klein sehr klein sehr groß eher groß eher klein sehr klei
Goethe-Institut
Pune
Goethe-Institut
New Delhi

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 57

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Besonders interessant, aber aus der Beobachterposition auch sehr schwierig zu beurteilen, sind sicher die Intentionen der beiden Lehrerinnen, also
die Frage, inwieweit Interesse am Inhalt der Antworten besteht. Da wir nicht genau wissen, welche Rolle die jeweilige Sequenz innerhalb der
Unterrichtseinheit spielt, können wir auch hier wieder nur Vermutungen anstellen. Ein Unterschied zwischen den beiden Videos ergibt sich aus der
Position im Unterrichtsablauf. Während das Video Goethe-Institut Pune 1 den Beginn der Stunde markiert und auf das Thema hinführen soll,
markiert Video Goethe-Institut New Delhi 2 den Abschluss des Themas. Der Lehrerin in Pune geht es deshalb eher darum, für die verschiedenen
Aspekte des Themas "Geburtstage feiern in Deutschland und Indien" zu sensibilisieren. Hier liegt wahrscheinlich die zentrale Intention ihrer Fragen,
die sie bereits vor dem Unterricht formuliert hat und von ihren Notizen abliest. Dennoch reagiert sie an mehreren Stellen sehr flexibel und geht mit
neuen Fragen direkt auf die Inhalte der Antworten ein. In diesen Momenten ändert sich der Charakter der Kommunikation. Dadurch finden wir in dem
Video Goethe-Institut Pune 1 zwei unterschiedliche Muster von Unterrichtskommunikation, wie die folgenden beiden Auszüge verdeutlichen:

Transkription 1

Lehrerin: Wie feierst du Geburtstag?


Lernerin: Ich lade viele Freunde ein. Und danach feiern wir eine große Party. Ich lade auch meine Verwandten ein.
Lehrerin: Aha.
Lernerin: Wir haben viel Spaß.
Lehrerin: Ach so. Schön. Und noch eine Person …

Transkription 2

Lehrerin: Was macht Geburtstag so wichtig? Was ist am schönstem am Geburtstag?


Lernerin: Dass wir noch ein Jahr ah gele- (sucht nach passender Formulierung)
Lehrerin: älter werden?
Lernerin: älter werden, ja.
Lehrerin: Und das findest du schön?

Die Antwort der Lernerin in Transkription 2 kommt überraschend, und die Lehrerin nutzt diese Situation, um von ihrem Plan abzuweichen und eine
weitere Frage zu stellen. Diese zweite Frage entsteht, wie wir annehmen können, spontan und unmittelbar aus der Überraschung. Das Interesse
verdrängt die ursprüngliche Intention der Lehrerin und die Kommunikation wirkt dadurch natürlicher.

Transkription 1 dagegen ist ein Beispiel für eine Form der Kommunikation, wie man sie sehr häufig in Klassenräumen findet. Mercer (2001)
bezeichnet sie sogar als archetypisches Muster der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden. Sie folgt diesem Ablauf:

Die Lehrperson fragt.


Die Lernenden antworten.
Die Lehrperson kommentiert/korrigiert.

Am Beginn des Videos Schule Krakau konnten Sie bereits einen dazu passenden UNterrichtsmitschnitt verfolgen:

Transkription 3

Lehrerin: Wen siehst du?


Lernerin: Eine Mädchen und eine Junge.
Lehrerin: Und einen Jungen. Gut. Und sag mir jetzt bitte, wo kann das sein?
Lernerin: In Stadt.
Lehrerin: In der Stadt. Ja. Und was hat das Mädchen in der Hand?
Mehrere Lernende: Stadtplan
Lehrerin Einen Stadtplan.

Vielleicht setzen Sie selbst auch häufig dieses Muster ein, um die Lernenden zum aktiven Gebrauch des Deutschen zu bringen? Es stellt ein
mögliches und in vielen Kontexten unverzichtbares Element des "So-tun-als-ob" dar. Seine Nachteile sind aber nicht zu übersehen. Bei dieser Form
der Unterrichtskommunikation liegt die Initiative bei der Lehrperson. Sie entscheidet über den Beginn, den Umfang und das Ende der Interaktion. Die
Lernenden kommunizieren also unter einer mehr oder weniger strikten Führung durch die Lehrkraft. Ihre Spielräume sind klein. Das hat Folgen für
die Komplexität der Äußerungen.

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Die folgende Abbildung zeigt noch einmal Ergebnisse der oben erwähnten Videostudie im Englischunterricht an deutschen Schulen (DESI-Studie).
Im Verlauf dieser Studie wurde die Unterrichtskommunikation in über 100 Schulklassen der Jahrgangsstufe 9 im Fach Englisch analysiert. Dabei
ergab sich die Erkenntnis, dass der Sprechanteil der Lehrperson durchschnittlich etwas mehr als die Hälfte der gesamten Schulstunde beansprucht.
Die Schülerinnen und Schüler dagegen sprechen nur in etwa einem Viertel der Zeit. Von diesem Anteil wiederum fällt weniger als die Hälfte auf
Äußerungen in der Fremdsprache. Und am unteren Teil der Abbildung können Sie ablesen, dass ganze Sätze nur etwa ein Drittel aller
englischsprachigen Äußerungen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht ausmachen. Alles andere sind Satzfragmente, Ein-Wort-Sätze oder
Satzunterbrechungen.

Art und Länge von Schüleräußerungen im Englischunterricht.

(http://www.dipf.de/de/projekte/pdf/biqua/desi-zentrale-befunde, S. 48)

Bei einer kritischen Analyse des Frageverhaltens von Lehrenden in den drei Schritten Impuls - Reaktion - Kommentar kommen wir zu dem Schluss:

dass es tendenziell die Spielräume der Lernenden einengt,


dass es tendenziell wenig komplexe Äußerungen hervorruft,
dass es tendenziell unnatürlich wirkt, weil es eigentlich nicht um die Inhalte der Antwort geht.

Im Klassenraum ist diese Form der Kommunikation natürlich legitim, wenn sie in der betreffenden Situation zum gewünschten Ziel führt und von den

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Beteiligten akzeptiert wird. Lehrende dürfen aber nicht übersehen, dass sie auf diese Weise den kreativen Gebrauch der Fremdsprache behindern.

Wenn es Aufgabe des Deutschunterrichts ist, das sprachliche Handeln der Lernenden zu fördern, dann muss der Klassenraum Bedingungen für eine
realitätsnahe Interaktion bieten. Dazu gehört auch, dass die Lernenden den Austausch in die eigenen Hände nehmen und dabei möglicherweise in
eine Richtung führen, die von der Lehrkraft zuvor nicht geplant war. In solchen Situationen zeigt sich dann ganz konkret, dass unterrichtliche
Prozesse nicht immer vorhergesehen werden können.

Auch die beiden Videos aus Indien bieten dafür interessante Beispiele. Im Video Goethe-Institut Pune 1 bittet die erste Lernerin erneut um das
Rederecht, weil sie einen Geburtstagsbrauch in ihrer Familie erläutern möchte. Die Lehrerin akzeptiert das, obwohl sie schon die nächste Frage auf
den Lippen hat. Auch im Video Goethe-Institut New Delhi 2 begegnen wir einer solchen Situation.

Das Foto hält den Moment fest, als die Lernenden zeitweise die Regie über den Austausch selbst übernehmen. Der Kursteilnehmer wendet sich von
der Lehrerin ab und blickt zu der Lernerin, die ihm eine direkte Frage stellte. Ob das von der Lehrerin in dieser Form so geplant war, lässt sich
schwer sagen. Mit ihrem sprachlichen Impuls hat sie aber eine wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung geschaffen. Dieser Impuls war offen
genug formuliert, um die Kursteilnehmenden zu einem persönlichen Beitrag zu motivieren. Vor allem war in dem Satz an der Tafel "Als … würde ich
nie arbeiten." bereits die Frage nach dem Warum enthalten.

An diesem Beispiel lässt sich daher gut erkennen, wie sich eine inhaltlich offene Kommunikation in Gang setzen lässt, sobald die Impulse nach einer
kreativen Reaktion verlangen.

In Video Goethe-Institut New Delhi 2 reagiert die Lehrerin sehr schnell auf die Rückfrage einer Lernerin und nutzt diese Gelegenheit, die Führung
des Gesprächs abzugeben. Und die Lernenden wissen offensichtlich, dass es in diesem Unterricht möglich und erwünscht ist, sich in dieser Form
einzubringen. Es gehört also zu der bereits etablierten Kultur dieses Klassenraums, ihn gemeinsam als ein Kommunikationszentrum zu gestalten.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

Das Potenzial von Aufgaben und Übungen für eine realitätsnahe Unterrichtskommunikation

Nachdem wir uns in diesem Kapitel bisher vor allem mit dem Verhalten von Lehrenden beschäftigt haben, möchten wir abschließend einen Blick auf
Unterrichtsmaterialien werfen. Auch einzelne Übungen und Aufgaben besitzen nämlich ein unterschiedliches Potenzial für die Gestaltung des
Klassenzimmers zu einem Kommunikationszentrum.

Von Littlewood (2007) kommt der Vorschlag, die Integration des sprachlichen Handelns als ein Kontinuum zu denken. Der Anteil realitätsnaher
Kommunikation im Unterricht nimmt in seinem Modell Schritt für Schritt zu und führt von einer stark gelenkten Übung sprachlicher Strukturen hin zu
einem freien Austausch von Gedanken und Meinungen, wie er auch in alltäglichen Diskussionen oder Problemlösungsprozessen üblich ist.

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Fünf Stufen zu einer realitätsnahen Unterrichtskommunikation

(nach: Littlewood 2007, S. 247, übersetzt)

Das Modell stellt keinen starren Ablaufplan für die Gestaltung einer Unterrichtseinheit dar. Das Kriterium für die Anordnung der Elemente ist hier
allein die Frage, welches kommunikative Potenzial die einzelnen Formen von Übungen und Aufgaben besitzen.

Um dieses Modell verständlicher zu machen, beschreiben wir die einzelnen Stufen anhand von Unterrichtsmaterialien. Dabei stehen wir wieder
einmal vor dem Problem, dass wir von einer Übung oder einer Aufgabe aus einem Lehrwerk nicht unmittelbar darauf schließen können, was im
Klassenraum passiert. So kann sich eine Grammatikübung, die auf den ersten Blick in Einzelarbeit gelöst werden muss, sehr schnell zu einer
kommunikativen Aufgabenstellung verwandeln, wenn die Lernenden die Lösungen in einem mündlichen Austausch auf Deutsch gemeinsam
erarbeiten. Die grammatischen Phänomene bilden dann den Ausgangspunkt für eine inhaltsorientierte Kommunikation. Diese Einschränkungen
dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, wenn wir uns nun die einzelnen Stufen des Modells genauer ansehen.

Beginnen wir mit der ersten Stufe des Modells, der nicht-kommunikativen Übung. Es handelt sich dabei um eine Aktivität, die ausschließlich zum
isolierten Einüben sprachlicher Strukturen gedacht ist. Typisch ist das Fehlen einer kontextuellen Einbindung der zu übenden Phänomene. Ein
Beispiel dafür finden wir in der folgenden Ausspracheübung.

Material 14

Sprechen Hören Sprechen, S. 52.

Um Aussprache geht es auch im nächsten Beispiel. Anders als bei Material 14 erhalten die Wörter hier einen inhaltlichen Kontext. Neben der Form
kommt auch die Bedeutung ins Spiel. Dieses Material lässt sich also als vorkommunikative Übung auf der zweiten Stufe des Modells einordnen.

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Material 15

Lagune 2, Kursbuch, S. 94.

Zu dieser zweiten Stufe des Modells gehören beispielsweise auch Übungen, bei denen ein bestimmtes grammatisches Phänomen an Beispielsätzen
trainiert werden soll. Material 16 ist dafür typisch.

Material 16

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(http://www.grammatiktraining.de/dativakkusativ/diroderdich.html)

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

Material 17 geht einen weiteren Schritt in Richtung Kommunikation. Die Aufgabenstellung stößt einen kommunikativen Austausch zwischen

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Lernenden an, aber dieser erfolgt in sehr engen Grenzen. Die Übung besteht darin, Wörter in einer Äußerung zu variieren. Sie kann Stufe 3
zugeordnet werden, dem kommunikativen Üben.

Material 17

Wir, Lehrbuch, S. 15.

Die nächste Stufe, die strukturierte Kommunikation, zeichnet sich dadurch aus, dass sich – anders als beim kommunikativen Üben – der
Schwerpunkt auf die Bedeutung der verwendeten Sprache verschiebt. Um die fehlenden sprachlichen Mittel der Lernenden auszugleichen, erhalten
sie in der strukturierten Kommunikation verschiedene Hilfestellungen. Das können zum Beispiel Listen mit sprachlichen Wendungen sein, die
benutzt werden sollen. Manchmal ist auch die Kommunikationssituation schon strukturiert, und die Lernenden sollen nur einzelne Aspekte kreativ
verändern. Entscheidend ist, dass die Lösungen der Lernenden zumindest teilweise nicht vorherbestimmt sind. An diesem Punkt wird aus einer
Übung eine Aufgabe. Material 18 illustriert diese neue Stufe des Modells.

Material 18

Themen aktuell 3, Kursbuch, S. 82.

Realitätsnahe Kommunikation, also Stufe 5 in unserem Modell, ist schließlich erreicht, wenn alle sprachlichen Hilfestellungen wegfallen und die

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Lernenden auf der Grundlage ihrer bisher erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten eine Aufgabe kreativ bearbeiten müssen. Material 19 ist ein
Beispiel dafür.

Material 19

deutsch.com 2, Kursbuch, S. 18.

Wie an den Unterrichtsmaterialien deutlich werden sollte, markieren die einzelnen Stufen des oben genannten Modells das Potenzial von
Aufgabenstellungen für die Gestaltung des Klassenzimmers als Kommunikationszentrum.

Wir bitten Sie nun, selbst ein Unterrichtsmaterial aus diesem Blickwinkel zu analysieren.

Aufgabe 58

Sehen Sie sich die thematische Einheit "Wohnungssuche" aus dem Lehrwerk eurolingua an und ordnen Sie die einzelnen Übungen und Aufgaben
den "Fünf Stufen zu einer realitätsnahen Unterrichtskommunikation" zu.

Material 20

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eurolingua Deutsch 2, Kursbuch S. 53/54.

Art der Übung Nummer der Übungen bzw. Aufgaben


nicht-kommunikative Übung
vorkommunikative Übung
kommunikative Übung
strukturierte Aufgabe
realitätsnahe Aufgabe

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 58

Wenn man Übungen und Aufgaben in einem Lehrwerk anhand des Stufen-Modells untersucht, lässt sich voraussagen, ob sich in dem betreffenden
Unterrichtsabschnitt die Kursteilnehmenden eher als Lernende der deutschen Sprache angesprochen fühlen oder als Personen mit einem
individuellen Charakter und eigenen Vorstellungen, Gedanken und Meinungen.

Wir möchten dieses Kapitel jedoch nicht mit dem Eindruck beschließen, ein möglichst großer Anteil realitätsnaher Kommunikation sei ein
Qualitätsmerkmal für jeden Deutschunterricht. Die Erfahrung realitätsnaher Kommunikation ist zwingend notwendig, wenn wir diese Kompetenz als
Ziel des Lehrens anerkennen. Aber sie entsteht in den meisten Fällen nicht spontan, sondern nur durch die Einbindung in eine Vielzahl anderer
Aktivitäten. Alle fünf Stufen des Modells haben deshalb ihre Berechtigung, sofern sie im Unterrichtsgeschehen sinnvoll Anwendung finden. Deshalb
erscheint uns als besonders wichtig, das Zusammenspiel der einzelnen Übungen und Aufgaben zu verstehen. Unter anderem dieser Aufgabe
wenden wir uns in Kapitel 2.6 zu.

Zusammenfassung

Das Kapitel 2.4 hat einen weiten Bogen geschlagen. Da die Kommunikation in jedem einzelnen der vielen Tätigkeitsfelder von Deutschlehrenden
eine tragende Rolle spielt, mussten wir sie aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Dabei sollte deutlich werden, wie die Lehrkraft durch
die Auswahl und den Einsatz sprachlicher und nicht-sprachlicher Mittel dazu beitragen kann, das Klassenzimmer in ein Kommunikationszentrum zu
verwandeln.

Wir haben aber auch betont, dass der Deutschunterricht trotz aller Bemühungen um realitätsnahe Kommunikation seine Künstlichkeit nicht verliert.
Die Vereinbarung des "So-tun-als-ob" wird den Unterrichtsalltag immer mehr oder weniger bestimmen. Doch diese Bedingung muss nicht nachteilig
sein. Sie kann zu einem produktiven Nährboden für die Entfaltung von Kommunikation werden, wenn Lehrende durch die Gestaltung der Interaktion,
durch ihre Impulse oder ihr Korrekturverhalten ein förderliches Umfeld schaffen.

Dieses Kapitel hat verdeutlicht, wie fachdidaktische, fachliche und personale Kompetenzen dabei zusammenspielen.

Auch bei der Diskussion der folgenden Metaphern wird uns der zentrale Begriff der Kommunikation begleiten.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2.4 Das Klassenzimmer als Kommunikationszentrum © Goethe-Institut

2.5 Das Klassenzimmer als Trainingsplatz, Bühne, Textwerkstatt

Wir wollen die drei Metaphern Trainingsplatz, Bühne und Textwerkstatt zusammen behandeln, um erstens zu zeigen, dass das Klassenzimmer
ständig wechselnde Gestalten annehmen muss, damit die Lernenden im Deutschen kompetent werden, dass es also weder nur Trainingsplatz noch
nur Bühne sein kann und/oder soll. Zweitens wollen wir deutlich machen, dass der Wechsel von einer Gestalt oder Handlungsform in die andere
nicht willkürlich erfolgt und/oder erfolgen sollte, sondern geplant und gesteuert werden muss.

Um diese Zusammenhänge klar zu machen, wollen wir mit Ihnen ein Beispiel untersuchen. Der Blick durch die Brille der Metaphern gibt uns
außerdem die Möglichkeit, ein wichtiges Planungsprinzip von Unterricht einzuführen, die sogenannte Rückwärtsplanung. Dieses kann helfen, das
Klassenzimmer zu strukturieren, den Handlungsraum zu erweitern oder zu verengen, die Interaktionen zu intensivieren und die Lernaktivitäten zu
fokussieren.

Schließlich bieten uns die drei Metaphern in ihrem Zusammenhang die Möglichkeit, Sie mit dem Konzept des aufgabenbasierten Lernens im
Deutschunterricht vertraut zu machen, bei dem Übungsphasen in die Bearbeitung einer kommunikativ sinnvollen Aufgabe münden.

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In diesem Kapitel möchten wir erreichen, dass Sie

die Handlungsmöglichkeiten für Lernende und Lehrende einschätzen können, wenn das Klassenzimmer als Trainingsplatz, Bühne und
Textwerkstatt gedacht wird,
verstehen, wie die Handlungsformen sinnvoll miteinander verknüpft werden können/sollten,
das Prinzip der Rückwärtsplanung und das Konzept der Aufgabenbasierung kennenlernen.

Der Trainingsplatz

Üben und Trainieren sind für das Erlernen einer Fremdsprache unverzichtbare Aktivitäten. Wir können sie hier aber nicht umfassend behandeln,
denn das geschieht in der Einheit 4 von Deutsch Lehren Lernen. Im Folgenden werden wir uns deshalb auf die Rolle des Übens und Trainierens bei
der Gestaltung eines handlungsorientierten Unterrichts konzentrieren. Doch was ist gemeint, wenn wir uns das Klassenzimmer als Trainingsplatz
vorstellen? Vielleicht hilft Ihnen diese Zeichnung oder Sie sehen sich noch einmal das Modell der fünf Stufen zur realitätsnahen Kommunikation an.

Aufgabe 59

Ergänzen Sie das Mindmap für die Metapher Trainingsplatz.

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Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 59

Stellen Sie sich vor, Sie wollten eine gute Fußballspielerin / ein guter Fußballspieler werden. Sie werden viele Stunden auf dem Sportplatz
verbringen, Ihre Laufschnelligkeit und Sprungkraft trainieren, sie werden immer wieder Schuss- und Dribbeltrainings absolvieren, mit Ihrem Trainer
Videoaufzeichnung ansehen, sich Rat holen und Rat bekommen. Wenn Ihnen die Sportart Fußball fremd ist, wählen Sie eine andere
Mannschaftssportart und stellen sich vor, was und wie Sie trainieren werden. Auf jeden Fall werden Sie immer wieder versuchen, Ihre Leistungen
kontinuierlich zu verbessern oder zu halten.

So wie den Sportlern und Sportlerinnen geht es Ihren Schülern und Schülerinnen. Sie sind die Trainerin / der Trainer. Ohne wiederholtes und
gezieltes Üben werden Ihre Lernenden nicht das Hauptziel erreichen, die deutsche Sprache kompetent nutzen zu können. "Übung macht den
Meister", heißt das Sprichwort. So auch im Deutschunterricht! Er gleicht deshalb einem Trainingsplatz.

Auch wenn es um den Erwerb individueller Kompetenzen geht, dürfen wir nicht vergessen, dass Lernen in Schule und Universität immer in Gruppen
stattfindet. Die Metapher Klassenzimmer als Trainingsplatz fokussiert deshalb zugleich auch das Team, in dem und mit dem man übt: Als gute
Fußballerin / guter Fußballer sind Sie auf das Team angewiesen, sie profitieren von ihm und sie tragen dazu bei, dass es mit ihrer Hilfe erfolgreich
ist. Vor allem aber üben und trainieren Sie das Spiel, weil Sie den Ernstfall suchen.

Im Deutschunterricht müssen viele sprachliche Fertigkeiten geübt/trainiert werden: Aussprache, Satzmelodie, angemessene Redewendungen,
Verwendung von Strukturen, Beachtung von grammatischen Regeln – um nur einige Übungsbereiche für die Fertigkeit Sprechen zu nennen. Sie
können sicher weitere Fertigkeiten für die Bereiche Hören, Lesen und Schreiben nennen.

Geübt werden muss aber auch, wie die Zusammenarbeit im Klassenzimmer funktioniert, wie die Medien zu nutzen sind oder wie man sich
gegenseitig Rückmeldungen gibt.

Zwei große Herausforderungen stellen sich der Lehrkraft:

Üben ist mühsame, harte Arbeit und verlangt ständiges Wiederholen. Die Lehrkraft muss deshalb motivieren und stützen.
Unterschiedliche Lernende brauchen unterschiedliche Übungen.

Die Lehrkraft muss deshalb sorgfältig beobachten, individuell ermutigen und fördern. Die Lehrkraft ist gefordert. Sie handelt wie eine Trainerin / ein
Trainer. Sie muss die Übungsangebote an die einzelnen Lernenden anpassen, differenzieren.

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Aufgabe 60

Ordnen Sie die Aktivitäten und Beschreibungen aus der Liste in die Tabelle ein.

nicht verstehen, warum sie üben sollen - steuern - jeder kommt dran - wiederholen - Klasse in Partnergruppen oder an Gruppentischen - Beispiele
geben - probieren - zur Wiederholung auffordern - keine Lust haben, nicht üben wollen - mit zwei oder drei anderen Partnern üben - ein Lernender
nimmt den nächsten dran - gelangweilt sein - mit immer anderer Ausdrucksweise (laut, leise, geflüstert, nur mit den Lippen); wiederholen - loben und
verstärken - Lehrer im Zentrum - sich selbst ermutigen - Klassenzimmer erweitert (eine Gruppe übt vor der Tür, eine auf dem Hof, eine in der
Bibliothek) - Rückmeldung geben - andere ermutigen - Lösungen zuflüstern - korrigieren - beobachten - üben

Lehraktivitäten Lernaktivitäten Regeln/ Rituale räumliches Arrangement

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 60

In der Forschung unterscheidet man zwei grundlegend unterschiedliche Formen des Übens: Auf der einen Seite steht das repetitive/mechanische
Üben auf der anderen Seite das elaborierte/intelligente Üben. Ersteres geht auf die Vorstellung zurück, dass unser Gehirn durch Wiederholung das
Handeln automatisiert. Für bestimmte Fertigkeiten kann diese Form des Übens auch sehr sinnvoll sein (zum Beispiel für das Aussprachetraining).
Aber es besteht die Gefahr, dass die isoliert geübten Elemente in Kommunikationssituationen nicht abgerufen werden können. Es entsteht träges
Wissen (Wahl 2006), das nicht anwendungsfähig ist. Somit verfehlt das Üben seine Wirkung. Elaboriertes, intelligentes Üben dagegen ist immer auf
Transfer angelegt, es zeichnet sich durch Variation aus und vergrößert schrittweise die Anforderungen. Es fordert die Lernenden kognitiv und/oder
emotional. Elaboriertes Üben kann man immer daraufhin befragen, warum hier geübt wird oder geübt werden soll: Man übt, um etwas mit Sprache
zu tun. Genauso erträgt die Fußballerin / der Fußballer die Mühen des Trainings nur, weil sie sich auf das Spiel freut. Im Spiel wird es ernst, im Spiel
kann sie sich bewähren und die Früchte ihrer Mühen ernten. So muss es auch im Deutschunterricht sein: Die Übungen müssen mit einem "Ernstfall"
verbunden sein, mit Situationen, die den Lernenden einen sinnvollen Sprachgebrauch ermöglichen. Der Trainingsplatz ist zum einen eng verknüpft
mit dem Kommunikationszentrum, das wir in Kapitel 2.4 beschrieben haben, zum anderen aber auch mit der Bühne, auf die wir nun zu sprechen
kommen.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2. 5 Unterricht als Trainingsplatz, Bühne, Textwerkstatt © Goethe-Institut

Die Bühne

Der Gebrauch der deutschen Sprache im Klassenraum beruht auf der Vereinbarung des "So-tun-als-ob". Wir spielen ein gemeinsames Spiel. Und
seine wichtigste Regel heißt, dass wir das Miteinander im Klassenzimmer mithilfe der fremden Sprache gestalten. Schon aus diesem Grund ähnelt
das Klassenzimmer einer Bühne. Aber auch im engeren Sinn gleicht es immer wieder einer Bühne, dann nämlich, wenn die Lernenden einen
Ernstfall proben: ein Rollenspiel aufführen, ein selbst geschriebenes Gedicht vortragen, ein Umfrage in der Klasse durchführen, einen Besucher
interviewen oder eine Geschichte erzählen.

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Diesen Zusammenhang von Übung und Ernstfall, von Trainingsplatz und Bühne, wollen wir an einem Beispiel genauer untersuchen.

Beispiel: Eine Modenschau

Die folgende Szene ist fiktiv. Sie wurde auf der Basis eines Unterrichtsdokuments aus dem frühen Englischunterricht gestaltet:

Sie sind Zeuge in einem dritten Schuljahr in der Grundschule. Die Kinder haben seit etwa einem halben Jahr viermal die Woche Deutschunterricht.
Die 24 Kinder inszenieren eine Modenschau, welche die Zielaufgabe dieser 45-minütigen Stunde darstellt. Tische und Stühle wurden so arrangiert,
dass Platz für einen Laufsteg entsteht, der klar markiert ist. Ein Teil der Kinder bildet das Publikum und flankiert den Laufsteg. Musik im Hintergrund
verschafft dem Ereignis ein zusätzliches Flair von Ernsthaftigkeit. Die Kinder arbeiten in Partnerteams (ein Kind spielt das Model, das andere den
Showmaster). Ein Paar folgt dem anderen. Während das Model, mit fantasievollen Kostümen bekleidet, den Laufsteg entlang flaniert, wird es vom
Showmaster, der ein Mikrofon in der Hand hält, eingeführt und vorgestellt. Letztere sprechen ohne Spickzettel, sie produzieren ihre Texte aus dem
Gedächtnis. Ein begeisterter Applaus beschließt jede Präsentation. Dann tritt das nächste Paar in Aktion. Obwohl deutliche Unterschiede in der
mündlichen Kompetenz zwischen den einzelnen Kindern festzustellen sind (Aussprache, Intonation, Differenziertheit des Wortschatzes), bewältigen
alle Teams die Zielaufgabe. "Das ist Daniel. Er trägt ein rote Kappe, schwarze Jeans und Cowboystiefel. Er sieht klasse aus. Er ist cool." Die
Körpersprache der Kinder zeigt deutlich, dass alle Kinder begeistert und hoch konzentriert bei der Sache sind. Die Lehrerin hält sich im Hintergrund,
handelt gelegentlich als Souffleuse und gibt bei den ersten Paaren die Einsätze, bis die Show routiniert abläuft. Während der gesamten Präsentation
wird nur Deutsch gesprochen. Die Show wird mit einer Digitalkamera aufgezeichnet, damit sie später nochmals kritisch angesehen und auf dem
Elternabend vorgespielt werden kann. In der folgenden Stunde wird die Show wiederholt, Model und Showmaster wechseln dann die Rollen.

(nach: Grau/Legutke 2008, S. 19)

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Justus-Liebig-Universität Gießen

Dieses Foto zeigt eine Momentaufnahme der Modenschau. Das Klassenzimmer ist zu einer Bühne geworden. In der folgenden Aufgabe möchten wir
Sie dazu anregen, den Weg zurückzuverfolgen, den die Lerngruppe bis zu dieser Szene gehen musste.

Aufgabe 61a

Überlegen Sie, was die Kinder vorher geprobt haben, bevor sie auf die Bühne traten? Welche Kenntnisse und Fertigkeiten mussten sie vorher
erworben und geübt haben, um auf der Bühne erfolgreich zu sein? Um welche Art von Anforderung handelt es sich jeweils?

- sprachliche Anforderungen (Wortschatz und Redemittel, formelhafte Wendungen)

- soziale Anforderungen

- situative Anforderungen (mit Körperausdruck etwas darstellen, transportieren)

Kenntnisse und Fertigkeiten Anforderung Wie würden Sie das im Unterricht üben?
Wortfeld Kleidung sprachlich Bodenkreis, Koffer mit Kleidern in der Mitte, ein Kind zieht ein
Kleidungsstück aus dem Koffer, die anderen nennen die richtige
Bezeichnung auf Deutsch und den Artikel.
Wortschatz Farbadjektive

Kleidungsstücke und ihre Farbe


beschreiben

Anwendung von formelhaften Wendungen


aus dem Kontext Modenschau (das ist…,
hier ist…, er/sie trägt…, ein super Model…
usw.)

mit anderen Kooperieren

sich mit anderen abstimmen

vor der Klasse auftreten

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die anderen unterstützen

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 61a

Aufgabe 61b

Skizzieren Sie nun die Geografien des Klassenzimmers, die zu diesem Beispiel passen. Berücksichtigen Sie sowohl die Proben als auch die
Aufführung.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 61b

Im Lösungsschlüssel haben wir mögliche Proben und Geografien skizziert. Beides könnte auch anders gestaltet werden. Wichtig ist, dass die
Übungen konsequent auf die Anforderungen der Aufführung abgestimmt sind.

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Die Textwerkstatt

Bleiben wir noch einen Moment bei der Inszenierung der Modenschau. Die Moderation des Showmasters können wir als mündlichen Lernertext
bezeichnen, der aus einer kommunikativen Situation hervorgeht. Diese hat folgende Merkmale: ein Thema (Mode), eine soziale Situation (zwei
Kinder agieren in unterschiedlichen Rollen), ein Publikum (die Klasse und die Lehrkraft) und einen Kontext (den Klassenraum). Dazu kommt, dass
es sich nicht um eine wirkliche Modenschau handelt, sondern um ein Spiel (So-tun-als-ob). Der mündliche Lernertext ist Ergebnis einer
kommunikativen Aufgabe und beinhaltet mehr als nur eine Kette von Äußerungen, denn die Lernenden teilen sich den anderen mit, indem sie die
Situation mit ihren Möglichkeiten und ihrer ganzen Person gestalten. Die Lernenden sind mit Kopf, Herz, Hand und Fuß dabei. Sie sind aufgeregt,
sie benutzen mimische Ausdrucksmittel, sie setzen sich in Szene, indem sie diesen mündlichen Lernertext gestalten.

Mündliche und schriftliche Lernertexte können im Deutschunterricht viele Gestalten annehmen. Das Besondere an Lernertexten ist, dass sie in erster
Linie nicht für die Bewertung durch die Lehrkraft geschaffen werden, sondern um etwas mitzuteilen, etwas Sinnvolles auszudrücken. Lernertexte
sind immer Experimente im Sprachgebrauch. In jedem Fall werden sie durch Übungsphasen vorbereitet, wie das Beispiel zeigt: Trainingsplatz,
Bühne und Textwerkstatt gehören deshalb zusammen.

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Die Modenschau ist für die Schülerinnen und Schüler ein Ernstfall. Durch die Inszenierung des mündlichen Textes testen sie ihre Möglichkeiten, sich
sprachlich mitzuteilen. Ausgehend von dem Beispiel können wir Lernertexte wie folgt charakterisieren:

Sie bringen die Individualität des Einzelnen oder einer Gruppe zum Ausdruck.
Sie bieten den Produzentinnen und Produzenten die Möglichkeit zur Identifikation ("Das ist mein Text, das kann ich, darauf bin ich stolz.").
Sie haben Bedeutung, sie teilen etwas mit.
Sie sind auf ein Publikum gerichtet, d.h., sie haben Adressatenbezug.
Sie sind Sprachexperimente.
Sie bieten die Möglichkeit des kreativen Spiels mit Sinn und Form.
Sie sind auch Gegenstand individueller und gemeinsamer Reflexion, die den Lernenden ihre Grenzen und Möglichkeiten des Umgangs mit
sprachlichen und nicht sprachlichen Ausdrucksmitteln bewusst macht.
Lernertexte sind auch Anlass zur Bewertung durch die Lehrenden, aber auch durch Mitglieder der Lerngruppe. Außerdem bieten sie die
Chance zur Selbstbewertung für die Lernenden ("Das konnte ich schon gut, das gefällt mir, hier hatte ich Schwierigkeiten, das muss ich noch
mal versuchen.").

Lernertexte, so wie wir sie hier eingeführt haben, sind von großer Bedeutung für den Deutschunterricht. Sie sind oft direkt mit einem Ernstfall
verknüpft. Aus diesem Grund haben wir auch die Metapher Klassenzimmer als Textwerkstatt hier eingeführt. In der Einheit 5 der Fortbildungsreihe
Deutsch Lehren Lernen erhalten Sie eine detaillierte Einführung in die Bedeutung von Texten im Deutschunterricht. Dort können Sie Ihr Wissen zu
diesem Komplex weiter ausbauen. Für uns halten wir hier fest: Die didaktische Kompetenz einer Lehrkraft zeigt sich unter anderem darin, dass sie
den Lernenden immer wieder Ernstfälle bereitstellt, die Letztere dazu ermutigen, mündliche und schriftliche Lernertexte zu produzieren. Solche
Ernstfälle müssen immer, wie wir bei der Modenschau gezeigt haben, durch passende Übungen vorbereitet werden.

Die Metapher Klassenzimmer als Textwerkstatt ist nicht zuletzt deshalb passend, weil sie zwei Aspekte des Klassenzimmers deutlich macht:

Texte von Lernenden werden ernst genommen. Sie werden entworfen, bearbeitet und verändert.
Sie sind sowohl individuelle Produkte als auch Ergebnis gemeinsamen Arbeitens und Schaffens – und in diesem Sinn in einer Werkstatt
entstanden.

Das Beispiel der Modenschau erlaubt uns nicht nur, die Idee des "Ernstfalls" in den Vordergrund zu rücken und auf die Bedeutung von Lernertexten
hinzuweisen, sondern wir können auch auf ein zentrales Planungsprinzip für den Deutschunterricht aufmerksam machen: das Prinzip der
Rückwärtsplanung.

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Das Prinzip der Rückwärtsplanung

Die zentrale Aufgabe, nämlich die Inszenierung der Modenschau, stellt an die Kinder eine ganze Reihe von Anforderungen. Diese sind – wie wir
gesehen haben – sprachlicher Natur (Wortschatz, Aussprache, Benutzung angemessener Redemittel), sozialer Natur (die Kinder müssen in
Partnerteams zusammenarbeiten), emotionaler Natur (die Kinder brauchen Mut für ihren Auftritt) und nicht zuletzt auf die Inszenierung bezogen (die
Kinder müssen sich verkleiden und selbst darstellen). Man kann deshalb die Aufgabe eine Zielaufgabe nennen. Hat die Lehrkraft die Anforderungen
der Zielaufgabe bestimmt, greift die Rückwärtsplanung. Die Lehrkraft prüft (zusammen mit der Lerngruppe), welche Fertigkeiten die Schüler noch
erwerben müssen, damit sie den Anforderungen gewachsen sind, welche Fertigkeiten reaktiviert werden müssen und welche als vorhanden
angenommen werden können.

Eine weitere Frage ist: Müssen die Lernenden neben Fertigkeiten noch zusätzliches Wissen erwerben oder reicht ihr Vorwissen zur Bearbeitung der
Zielaufgabe aus?

Auf der Basis dieser Überlegungen werden Arbeitsschritte geplant, die auf die Zielaufgabe vorbereiten, und eine Auswahl von Hilfen und
Übungsangeboten getroffen: zum Beispiel gezielte Übungen aus dem Lehrwerk, Wiederholung von Wortschatz und Redemitteln, Fokussierung von
Modelltexten (zum Beispiel aus dem Lehrwerk). Die Zielaufgabe hat noch eine weitere wichtige Funktion, denn von ihr ausgehend lässt sich die
Frage beantworten, ob die verschiedenen Übungen wirklich auf die Zielaufgaben vorbereiten, also die Aufgaben kohärent miteinander verknüpft
sind.

Schematisch lässt sich die Rückwärtsplanung so darstellen:

Die Rückwärtsplanung hilft nicht nur, konkrete Lernsequenzen zu planen, sondern kann auch als kritische Lupe für die Bewertung der Angebote im
Lehrwerk dienen. Bevor wir uns dieser Möglichkeit zuwenden, wollen wir noch einen weiteren Aspekt ansehen, der sich aus dem Beispiel der
Modenschau ergibt.

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Aufgabenbasiertes Lehren und Lernen

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Wie das Beispiel der Modenschau verdeutlicht, stellen wir uns das Klassenzimmer als einen Raum vor, in dem Trainingsplatz, Bühne und
Textwerkstatt ineinandergreifen. Dieser Raum wird von einem Wechselverhältnis von Themen, Übungen und Aufgaben bestimmt. Dieses Verhältnis
wird in der Fremdsprachendidaktik von einem Ansatz thematisiert, der als aufgabenbasiertes Lehren und Lernen von Fremdsprachen bezeichnet
wird. Diesem wollen wir uns in der gebotenen Kürze zuwenden. Wieder dient uns die Modenschau als Bezugspunkt.

Übungen und Aufgaben spielen eine Schlüsselrolle im Deutschunterricht. Sie werden deshalb ausführlich in der Einheit 4 von Deutsch Lehren
Lernen behandelt. Da Übungen und Aufgaben wesentliche Mittel sind, mit denen Lehrkräfte die Spielräume in ihrem Klassenzimmer gestalten,
Interaktionen steuern und Kommunikation ermöglichen, müssen sie auch hier einen Platz erhalten.

Die Grundprinzipien aufgabenbasierten Lernens sind den Annahmen sehr ähnlich, die auch dieser Einheit zugrunde liegen. Ziel des
Deutschunterrichts ist es, so haben wir mehrfach betont, dass die Lernenden in der Sprache handlungsfähig werden. Sie können dann etwas mit
Sprache tun: Kontakte knüpfen, sich verständigen, andere verstehen, Texte lesen und Texte verfassen, mit denen sie eigene Vorstellungen
ausdrücken. Aus diesem Grund sind mündliche und schriftliche Lernertexte auch so wichtig. Letztlich geht es darum, dass die Lernenden im
Unterricht die Fähigkeit erwerben, sich in der Welt jenseits des Klassenzimmers mithilfe der Sprache erfolgreich zu bewegen und für ihr Leben
relevante Aufgaben zu lösen. Aufgaben im Unterricht helfen, diese Fähigkeiten für die Sprachverwendung draußen in der Welt zu entwickeln. Dabei
ist wichtig festzuhalten, dass Aufgaben im Klassenzimmer nicht mit Übungen gleichgesetzt werden dürfen, wie wir am Beispiel der Modenschau
betont haben. Übungen sind wichtig, sie bereiten vor, sie trainieren Fertigkeiten, die man braucht, um eine Aufgabe zu lösen. Aufgabenbasierter
Unterricht kann sein Potenzial nur entfalten, wenn die Übungen wirklich zu Aufgaben führen und deren Inhalte die Lernenden ansprechen, wenn die
Themen interessant sind und die Aufgaben als abwechslungsreich und herausfordernd empfunden werden.

Es gehört zur didaktischen Kompetenz von Lehrkräften, dass sie nicht nur Übungen von Aufgaben unterscheiden können und verschiedene Übungs-
und Aufgabenformate kennen, sondern dass sie Übungen und Aufgaben auch zu Sequenzen verknüpfen können. Dabei hilft das Prinzip der
Rückwärtsplanung, das wir oben eingeführt haben. Dieses ist deshalb auch für das aufgabenbasierte Lehren und Lernen zentral. Das Prinzip der
Rückwärtsplanung kann, wie schon gesagt, als kritische Lupe für die Lehrwerksanalyse dienen, indem Übungen und Aufgaben damit untersucht
werden können. Hier nun ein Beispiel aus einem Lehrwerk:

Material 21

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Wir, Lehrbuch 1, S. 17.

Nummer 26 ist eine Übung wie viele andere in Lehrwerken. Sie ist einfach da, aber wohin führt sie? Die Übung gehört auf den Trainingsplatz und
wird im Arbeitsbuch noch zusätzlich variiert. Doch wofür wird hier trainiert? Es fehlt ein Angebot für die Lernenden, das Geübte in einer
bedeutungsvollen kommunikativen Situation anzuwenden. Es fehlt eine Aufgabe. Wenn man sich eine ganze Sequenz vorstellt, dann fehlt die
Zielaufgabe, der Ernstfall, der die Übung legitimiert.

Bitte überlegen Sie deshalb, wie diese Übung mit einer interessanten Aufgabe verknüpft werden kann. Die Aufgabe soll den Lernenden die
Möglichkeit bieten, das Gelernte kommunikativ zu gebrauchen. Möglicherweise möchten Sie eine kurze Sequenz planen. Die Aufgabe, auf die die
Sequenz zuläuft, wäre dann die Zielaufgabe. Versuchen Sie nicht, die Modenschau zu wiederholen.

Aufgabe 62

Überlegen Sie sich eine Zielaufgabe, auf die die Übung 26 in Material 21 vorbereitet.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 62

Wenn Übungsangebote in den einzelnen Lektionen eines Lehrwerks mit kommunikativen Ernstfällen (Situationen) verknüpft sind, wenn auf das
Training auch die Möglichkeit der Verwendung des Geübten in einem sinnvollen, interessanten und herausfordernden Zusammenhang folgt, dann
kann man ein Lehrwerk als aufgabenbasiert bezeichnen. Sie können nun versuchen festzustellen, ob das Lehrwerk, mit dem Sie arbeiten,
aufgabenbasiert ist. Dabei hilft die folgende Aufgabe.

Aufgabe 63a

Stellen Sie Beispiele aus Ihrem Lehrwerk zusammen, bei denen Übungen und Aufgaben sinnvoll verknüpft werden. Sollte das nicht gelingen, weil
die Übungen ins Leere führen, weil die Verknüpfung mit einer Anwendung, einem Ernstfall fehlt, versuchen Sie das Lehrwerk an zwei Beispielen so
zu verändern oder zu ergänzen, dass die Übung auch kommunikativ sinnvoll ist. Bringen Sie Ihre Vorschläge in die Präsenzphase mit.

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 63a

Aufgabe 63b

Stellen Sie eine Liste möglicher Ernstfälle nach dem Modell der Modenschau für Ihren Unterricht zusammen. Durch welche Übungen sollten diese
vorbereitet werden? Welche mündlichen und schriftlichen Lernertexte könnten dabei entstehen?

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 63b

Zusammenfassung

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Wenn es Ziel des Deutschunterrichts ist, dass die Lernenden in der fremden Sprache handlungsfähig werden, dann spielen die Erfahrungen im
Umgang mit der deutschen Sprache im Hier und Jetzt des Unterrichts eine Schlüsselrolle. Denn nur wenn Lernende sich selbst als sprachlich (in
Wort und Schrift) Handelnde erfahren, wenn sie geübt haben, Sprache in kommunikativen Situationen zu verwenden, werden sie später auch
außerhalb des Klassenzimmers handlungsfähig sein. Das Klassenzimmer als dynamischer Lernort muss Wege zu dem Ziel anbieten. Es nimmt
dabei unterschiedliche Gestalten an, die wir mit den Metaphern ausgedrückt haben: Kommunikationszentrum, Trainingsplatz, Bühne und
Textwerkstatt, um nur einige zu nennen. Im Unterrichtsgeschehen sind diese Gestalten eng miteinander vernetzt. Kommunikatives Handeln im
Klassenzimmer setzt nicht nur interessante Inhalte voraus, über die sich zu kommunizieren lohnt, sondern auch systematisches Üben. Lebendige
Klassenzimmer bieten den für die Entstehung von Lernertexten notwendigen Raum. Ihr Produktionsprozess wird vorbereitet und begleitet. Wie wir
gesehen haben, spielen Übungen und Aufgaben dabei eine zentrale Rolle, die wir hier nur streifen konnten.

Deutsch lehren lernen - DLL Kapitel 2. Spielräume gestalten | 2. 5 Unterricht als Trainingsplatz, Bühne, Textwerkstatt © Goethe-Institut

Zwischenbilanz

Wir haben in diesem zweiten Kapitel mit Ihnen den Handlungsraum des Klassenzimmers erkundet. Unterricht ist immer von vielen Faktoren
beeinflusst. Wie wir in Kapitel 1 festgestellt haben, können Sie viele dieser Faktoren nur schwer oder gar nicht verändern. Anders verhält es sich mit
den zentralen Beziehungen im Unterricht, die wir in Kapitel 2 herausarbeiten konnten. Hier ergeben sich für Sie vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten,
denen wir uns mithilfe der folgenden Metaphern genähert haben:

Landschaft
Kultur
Kommunikationszentrum
Trainingsplatz
Bühne
Textwerkstatt.

Blickt man aus der Perspektive der einzelnen Metaphern auf den Deutschunterricht, so zeigt sich, dass Ihnen als Lehrperson zahlreiche Wege
offenstehen, das Lernen zu gestalten. Haben Sie beim Bearbeiten der Aufgaben Anregungen für Ihre Praxis bekommen? Der Zwischenbilanz am
Ende des Kapitels 1 entsprechend möchten wir Sie bitten, sich zu notieren, welche Gestaltungsspielräume für Ihren eigenen Unterricht Ihnen
bewusst geworden sind. Überfliegen Sie dazu noch einmal die Zusammenfassungen der Kapitel 2.1 bis 2.5 und bearbeiten Sie dann die folgende
Aufgabe:

Aufgabe 64a

Welche Ideen für die Gestaltung Ihres Unterrichts sind Ihnen bei der Bearbeitung von Kapitel 2 gekommen?

a) Ergänzen Sie die Tabelle:

Landschaft Kultur Kommunikations- Trainingsplatz Bühne Textwerkstatt


zentrum

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 64a

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Aufgabe 64b

Wobei brauchen Sie möglicherweise noch Unterstützung oder Austausch mit anderen?

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 64b

Aufgabe 64c

c) Welche Aspekte von Unterrichtsgestaltung sind Ihnen unklar geblieben? Wen werden Sie um Unterstützung bitten?

Bitte bearbeiten Sie jetzt Aufgabe 64c

Sie haben bei der Bearbeitung der Aufgabe sicher gemerkt: Die Fähigkeit, den Handlungsraum Unterricht zu gestalten, hängt in besonderem Maße
von Ihrer fachdidaktischen und Ihrer methodischen Kompetenz ab. Sie haben aber auch erfahren, in welcher Weise die anderen Kompetenzen
gefordert sind, wie zum Beispiel die personalen und sozialen Kompetenzen oder die Planungs- und Managementkompetenz.

Im letzten Kapitel möchten wir Sie ermutigen, Ihren eigenen Unterricht im Lichte dessen, was wir bisher mit Ihnen bearbeitet haben, kritisch zu
betrachten. Dabei wird es vor allem darum gehen, dass Sie Ihre persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten erkennen und nutzen.

Weiter zu Kapitel 3. Professionalität entwickeln

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