Deutschland, Russland, Komintern - Dokumente (1918-1943) - Nach Der Archivrevolution
Deutschland, Russland, Komintern - Dokumente (1918-1943) - Nach Der Archivrevolution
)
Deutschland, Russland, Komintern
II. Dokumente (1918–1943)
Archive des Kommunismus –
Pfade des XX. Jahrhunderts
Band 6/1
Hermann Weber, Jakov Drabkin,
Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.)
Deutschland, Russland,
Komintern
II. Dokumente
(1918–1943)
Nach der Archivrevolution:
Neuerschlossene Quellen zu der Geschichte der KPD und
den deutsch-russischen Beziehungen
Teilband 1
Gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums des Inneren für die „Gemeinsame Kommission für
die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“, Berlin-Moskau
(Vorsitz: Horst Möller und Aleksandr Čubarjan; Sekretariat: Eberhard Kuhrt).
Mit Unterstützung des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES), Universität
Mannheim, des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam, und des Instituts für soziale
Bewegungen (ISB) der Ruhr-Universität Bochum.
ISBN 978-3-11-033976-5
ISBN (SET) 978-3-11-034168-3 (ADK 5 und 6)
e-ISBN (PDF) 978-3-11-033978-9
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039554-9
ISSN 2197-6856
Bildnachweis Umschlag: Folke Hanfeld, Tatlin-Turm auf der Tempelhofer Freiheit (2012). Der Turm
wurde 1919 von Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin als Modell für die III. Internationale entworfen. Nach
der deutschen Wiedervereinigung gründete sich der Verein „Tatlinturm Berlin e. V.“, der die Idee ver-
folgte, den Turm als Manifest der kulturellen Avantgarde des 20. Jahrhunderts in Berlin zu errichten.
www.degruyter.com
Überblick über die Edition
II. Dokumente (1918–1943)
Die Edition „Deutschland, Russland, Komintern“
Eine Symbiose deutscher, russischer und westeuropäischer
Dokumentenüberlieferungen
Dokumente
Teil 1: 1919–1923
Teil 2: 1924–1929
Teil 3: 1929–1933
Teil 4: 1933–1939
Teil 5: 1939–1943
Abkürzungen
Archive
Literaturverzeichnis Bd. I und II
Orts- und Personenregister
Inhalt
Teilband 1
Dokumente
Verzeichnis der Dokumente 13
Teil 1: 1918–1923
Deutschland und Sowjetrussland als Protagonisten der europäischen
Revolution: Idee und Wirklichkeit.
Die ersten fünf Jahre der Komintern bis zum Scheitern des
„Deutschen Oktober“ 41
Teil 2: 1924–1929
Proklamierung des „Sozialismus in einem Lande“,
Machtkämpfe in der KPD und Stalinisierung 359
Teil 3: 1929–1933
„Sozialfaschismus“-Politik, letzte KPD-Fraktionskämpfe, Machtantritt Hitlers
und Reichstagsbrand 699
Teilband 2
Teil 4: 1933–1939
NS-Unterdrückung, Volksfront-Politik und Großer Terror 939
Teil 5: 1939–1943
Stalin-Hitler-Pakt, Angriff auf die Sowjetunion und Neuausrichtung von
Komintern und KPD im Zweiten Weltkrieg 1523
Abkürzungen 1725
Archive 1730
Literaturverzeichnis (Bd. I und II) 1732
Orts- und Personenregister 1802
Die Edition „Deutschland, Russland, Komintern“
Eine Symbiose deutscher, russischer und westeuropäischer
Dokumentenüberlieferungen
Die beiden Teilbände enthalten nun 544 Dokumente, die recht gleichmäßig auf die
fünf chronologischen Hauptteile der Edition verteilt werden konnten. Sie enthal-
1 Siehe: Gleb Albert: Rezension „I. A. Kondakova, Otkrytyj archiv–2. Spravočnik sbornikov dokumen-
tov, vyšedšich v svet v otečestvennych izdatelʼstvach v 1917–2000 gg., Moskva, 2005.“ In: International
Newsletter of Communist Studies Online XIII (2007), S. 115–116.
2 Siehe z.B.: N. N. Pokrovskij: O principach izdanija dokumentov XX veka. In: Voprosy istorii (1999),
Nr. 6, S. 32–45; Vladimir P. Kozlov: Osnovy teoretičeskoj i prikladnoj archeografii, Moskva, ROSSPEN,
2008.
2 Die Edition „Deutschland, Russland, Komintern“
3 Bislang sind folgende Bände in der Reihe erschienen: Lew Besymenski: Stalin und Hitler (Bd. 1,
2002); Hermann Weber, Bernhard H. Bayerlein: Der Thälmann-Skandal (Bd. 2, 2003); Bernhard H.
Bayerlein, Leonid Babicenko, Fred Firsov, Aleksandr Vatlin: Deutscher Oktober 1923 (Bd. 3, 2003);
Bernhard H. Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ (Bd. 4, 2008), Hermann Weber, Jakov Drabkin,
Bernhard H. Bayerlein, Aleksandr Galkin: Deutschland, Russland,Komintern, I. Überblicke, Analysen,
Diskussionen (Bd. 5, 2014). Die Bände 1 bis 4 sind im Aufbau Verlag erschienen, ab Bd. 5 erscheint die
Reihe im Verlag De Gruyter.
4 Siehe die Ausführungen in der Einleitung von Hermann Weber. Vgl. z. B. Jane Degras (Hrsg.): The
Communist International 1919–1943. Documents, 3 Bde., London, Oxford University Press, 1955–1965;
Theo Pirker: Utopie und Mythos der Weltrevolution. Zur Geschichte der Komintern 1920–1960, Mün-
chen, dtv, 1964; Id.: Komintern und Faschismus, Stuttgart, DVA, 1965; Hermann Weber: Die kommu-
nistische Internationale. Eine Dokumentation, Hannover, Dietz, 1966; Helmut Gruber (Hrsg.): Interna-
tional Communism in the Era of Lenin. A Documentary History, New York, 1972; John Riddell (Hrsg.):
Archivgrundlagen und Kooperationen 3
Der vor allem in den Moskauer und Berliner Archiven seit den 1990er Jahren erreichte
Quellenzugang bildete die Grundlage für die Realisierung des vorliegenden Projekts.
Dazu wurden nach der Sichtung der Fonds als Grundlagenrecherche Tausende von
Dokumenten auf ihre Aussagekraft für Triade KPD–VKP(b)–Komintern überprüft,
ausgewertet, übersetzt, kollationiert und – in einer notwendigerweise beschränkten
Auswahl – in den Band aufgenommen. Zwar gibt es vor allem in den ex-sowjetischen
Archiven noch eine breite, nicht ausgewertete und noch immer gesperrte Anzahl
von Dokumenten zur deutschen Zeitgeschichte und zu den russisch-deutschen
Beziehungen,5 doch lässt sich das Projekt durchaus als positives Beispiel für den im
Archivwesen erreichten Qualitätssprung anführen. Wenn auch noch längst nicht alle
The Communist International in Lenins Time. Founding the Communist International, New York,
Monad Press, 1987. Auch offizielle „parteilich“ verzerrte Darstellungen in kommunistisch regierten
Ländern konnten sich nur auf bereits veröffentlichtes Material stützen, nicht auf archivalischen Quel-
len. Vgl. z. B. IML des ZK der KPdSU (Hrsg.): Die Kommunistische Internationale. Kurzer Historischer
Abriß, Berlin (Ost), Dietz, 1970; Horst Schuhmacher: Die Kommunistische Internationale (1919–1943).
2. Aufl., Berlin (Ost), Dietz, 1989; Studien zur Geschichte der Kommunistischen Internationale (Sam-
melband), Berlin (Ost), Dietz, 1974. Ebenso konnten parteioffizielle Dokumentationen keine Quellen
bringen, vgl. Die Kommunistische Internationale (Auswahl von Dokumenten und Reden, 1928–1943),
Berlin (Ost), Dietz, 1956; Komintern und revolutionäre Partei. 1919–1943, Berlin (Ost), Dietz, 1986.
Eine Ausnahme bildete die umfangreiche Ostberliner Ausgabe: Dokumente und Materialien zur Ge-
schichte der deutschen Arbeiterbewegung (Berlin-Ost), in der auch Material aus dem IML abgedruckt
war, freilich kaum vertrauliche Protokolle o. ä., sondern Flugblätter, Rundschreiben usw. Vgl. etwa
Bd. VII, 1. und 2. Halbband, 1919–1923, Berlin (Ost), 1966. Bd. VIII, 1924–1929, Berlin (Ost), 1975. Zu
Quellenveröffentlichungen seit 1990 vgl. die Beiträge von Jakow Drabkin und von Bernhard H. Bayer-
lein in diesem Band. Bibliographien liegen vor von: Günter Herting: Bibliographie zur Geschichte der
kommunistischen Internationale (1919–1934), Berlin (Ost), IML beim ZK der SED, 1960; Witold S. Swo-
rakowski: The Communist International and its Front Organisations, Stanford (Cal.), Hoover Instituti-
on, 1965; Vilém Kahan: Bibliography of the Communist International (1919–1979), Leiden, Brill, 1990.
5 Siehe hierzu: Jochen Laufer: Quellenveröffentlichung als Instrument sowjetischer Politik und Pro-
blem der Forschung. In: Jochen P. Laufer, Georgij P. Kynin (Hrsg.): Die UdSSR und die deutsche Frage
1941–1948/49, 4 Bde., Bd. 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945, Berlin, Duncker & Humblot, 2012, S. XI–XXV,
hier S. XI–XVII.
4 Die Edition „Deutschland, Russland, Komintern“
6 Die INCOMKA-Datenbank „Comintern Online“ ist über die Nationallizenzen der Deutschen For-
schungsgemeinschaft für alle deutschen Universitätsangehörigen kostenlos abrufbar. Siehe: https://
www.nationallizenzen.de/.
Archivgrundlagen und Kooperationen 5
Weimarer Republik und später in den von der Wehrmacht besetzten Ländern, Haus-
haltsaufstellungen und Finanzabrechnungen von KPD und Komintern.
Aus dem historischen Archiv der KPD in Berlin (SAPMO-BArch, RY 1) wurden
neben Provenienzen wie den Politbürobeständen (RY 1/I 2/3) die Nachlässe Walter
Ulbrichts (NY 4182), Wilhelm Piecks (NY 4036) und Franz Dahlems (DY 30/9975) her-
angezogen. Auch die mikrofilmierten Kominternbestände (RY 5/I 6/3 und 5/I 6/10)
waren nützlich. Weitere zentrale Dokumente konnten in den Jules-Humbert-Droz-
Archiven in der Schweiz, dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München, dem
Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg im Breisgau, dem Politischen Archiv des Aus-
wärtigen Amtes, Berlin, dem Centre de documentation juive contemporaine, Paris,
der Maison des Sciences de l’homme der Université de Bourgogne in Dijon, dem Inter-
nationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, dem Russischen Staatsarchiv
für Literatur und Kunst, Moskau, dem Schweizerischen Bundesarchiv, Bern, und dem
Archiv der Akademie der Künste, Berlin gesichtet und für die Publikation vorbereitet
werden. Alle Archivquellen werden nach internationalem Standard in den Anmer-
kungen vollständig angegeben, einschließlich der Angabe, aus welcher Sprache das
betr. Dokument übersetzt wurde. Die Sprachkenntnisse der beiden Bearbeiter, die
einen großen Teil der west- und osteuropäischen Sprachen abdecken, waren für die
gesamte Aufgabe unverzichtbar.
Die Teilöffnung der Bestände der Sekretariate des Komintern-Generalsekretärs
Georgi Dimitrov (495/73–77) sowie der eminence grise der Konspiration in der Komin-
tern, Osip Pjatnitzki (495/19) erfolgte erst im November 2007. Die vorliegende Gene-
raledition war das erste Editionsprojekt, das diese Bestände in größerem Umfang
nutzen konnte.
Für jedes Dokument erfolgt ein genauer Nachweis über typologische Besonderheiten,
Sprache, Herkunft, Archivsignatur zusammen mit dem Vermerk, ob es sich um eine
Erstveröffentlichung, eine Erstveröffentlichung in deutscher Sprache oder eine Wie-
derpublikation handelt. Auch bei Erstveröffentlichungen in deutscher Sprache erfolgt
ein bibliographischer Nachweis der originären russischen bzw. anderssprachigen
Publikation. Pseudonyme und Akronyme werden im Text in Klammern aufgelöst und
im Register nochmals aufgeführt. Kyrillische Namen und Textpassagen werden in der
Dokumentation in der wissenschaftlichen Umschrift transkribiert, mit der Ausnahme
der gängigsten Personennamen Trotzki, Sinowjew, Manuilski und Pjatnitzki. Zusätze
der Herausgeber stehen immer in eckigen Klammern. Namen von Periodika werden
kursiviert, auch alle Hervorhebungen in den Originaltexten erscheinen kursiv. Aus-
lassungen innerhalb der Texte werden durch drei Punkte in eckigen Klammern kennt-
lich gemacht. Bestimmte Textdokumente wurden, um die Eigenart und Unmittelbar-
keit des oftmals lapidaren oder umgangssprachlichen Stils nicht zu verfälschen, trotz
Weitere Kooperationen und Danksagungen 7
falscher Syntax und lexikalischer Fehler in der Originalfassung belassen, worum sich
auch in der Übertragung durch die Übersetzungen bemüht wurde. Da, wo es möglich
war, wurden unverständliche Teile in den Dokumenten ergänzt, erkennbare offen-
sichtliche Schreibfehler stillschweigend korrigiert.
Die aus dem Russischen, in wenigen Fällen aus dem Englischen und Französi-
schen übersetzten Dokumente wurden in fünf chronologisch-systematische Haupt-
teile gruppiert. Bei den aufgenommenen chiffrierten Telegrammen wurden in den
Titeln die geographischen Destinationen der Adressaten und Empfänger – hier der
Funkstellen bzw. geheimen „Punkte“ der Internationalen Verbindungsabteilung bzw.
dem Verbindungsdienst der Komintern (OMS) – rekonstruiert (Beispiel: „Chiffrete-
legramm der Funkstelle Brüssel an die Funkstelle Moskau“), wie auch die jeweilige
institutionelle Destination (Beispiel: „für die KP Deutschlands, für die KP der Nie-
derlande“). Der betreffenden Nachricht wurden jeweils die persönlichen Adressaten
(Beispiel: „An: Direktion für Alfred“) vorangestellt.
Biographische Zusatzinformationen über Akteure und erwähnte Personen
werden zu einem gewissen Teil in den Fußnoten geliefert. Wiederholt zitierte Buch-
und Aufsatztitel erscheinen in Kurzform und können über das Literaturverzeichnis,
das alle Bände einschließt, erschlossen werden. Die Bezeichnungen der Archivinsti-
tutionen werden bei erstmaligem Vorkommen ausgeschrieben. Auch sie können in
einem Archivverzeichnis am Schluss nachgeschlagen werden.
Die Beschlüsse des Politbüros der RKP(b) bzw. VKP(b) stellen in den meisten
Fällen Wiedergaben dar, die sich streng an den Vorlagen orientieren. Der Kern der
oftmals verklausulierten Beschlüsse sollte weitgehend erhalten bleiben. Wenn der
Zusammenhang unklar blieb oder sich terminologische oder andere Verständnis-
schwierigkeiten ergaben, wurden Einfügungen seitens der Bearbeiter gestattet.
Kommentare, Deutungen und Interpretationen erfolgten für die in Kästen separiert
abgedruckten Beschlüsse nicht. Dies gilt nicht für die Beschlüsse des sowjetischen
Politbüros, die als kommentierte Dokumente in den Band aufgenommen wurden.
Neben dem von Prof. Dr. Jakov Drabkin und Kollegen edierten Band „Komintern i
mirovaja revoljucija“ konnte auf einen wichtigen Bestand von Dokumenten der Kom-
intern aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgegriffen werden, die unter der Verantwor-
tung von Prof. Aleksandr Čubarjan von den Projektmitarbeiter/innen Prof. Natal’ja
Lebedeva und Prof. Michail Narinskij in den 1990er Jahren herausgegeben wurden.7
7 Siehe Natal’ja Lebedeva, Michail Narinskij (Hrsg.): Komintern i Vtoraja mirovaja vojna. Bd. 1: Do 22
ijunja 1941 g. Bd. 2: Posle 22 ijunja 1941 g. Rossijskaja Akademija Nauk. Institut Vseobščej Istorii, Go-
sudarstvennaja archivnaja služba Rossii, Rossiskij centr chranenija i izučenija dokumentov novejšej
istorii, Moskva, Pamjatniki istoričeskoj mysli, Bd. 1: 1994; Bd. 2: 1998.
8 Die Edition „Deutschland, Russland, Komintern“
Ebenfalls konnten die Ergebnisse der Editionsarbeiten für einen 2003 in Paris pub-
lizierten Band mit chiffrierten Telegrammen der Komintern, die gegenwärtig in den
russischen Archiven wiederum unzugänglich sind, in den Dokumentenkorpus ein-
fließen.8
Ohne die editorischen Erfahrungen und Vorarbeiten der Herausgeber und aller
Beteiligten wäre die Verwirklichung eines so anspruchsvollen Vorhabens nicht
möglich gewesen. Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Weber hat neben etlichen frühen Editio-
nen, wie „Die Kommunistische Internationale“9 und „Der deutsche Kommunismus“10,
im Jahre 1981 einen umfangreichen Quellenband der Rundschreiben des ZK der KPD
veröffentlicht.11 Prof. Dr. Jakov Drabkin hat im Rahmen einer von ihm repräsentierten
russischen intellektuellen Tradition zwischen Rosa Luxemburg und Lev Kopelev eben-
falls maßgebliche Editionen, vor allem den Band unter dem Titel „Komintern i ideja
mirovoj revoljucii“ (Die Komintern und die Idee der Weltrevolution), publiziert.12 Dr.
habil. Bernhard H. Bayerlein hat an mehreren internationalen Editionen mitgewirkt
oder sie selbst herausgegeben, so etwa die mehrbändige Edition der Archive von Jules
Humbert-Droz13, oder die Tagebücher des Komintern-Generalsekretärs Georgi Dimi
trov14. Dr. des. Gleb Albert hat substantiell an dem Band „Der Verräter, Stalin, bist Du!
Vom Ende der linken Solidarität“ mitgearbeitet.15 Dr. Natal’ja Lebedeva, die als russi-
sche Historikerin für ihre Katyn-Dokumentation 2005 den Verdienstorden der Repu-
blik Polen erhalten hat, edierte gemeinsam mit Prof. Dr. Michail Narinskij die grund-
legende Arbeit über die Komintern im Zweiten Weltkrieg. Sie wirkte an zahlreichen
8 Siehe Bernhard H. Bayerlein, Mikhail Narinski, Brigitte Studer, Serge Wolikow (Hrsg.): Moscou-
Paris-Berlin, 1939–1941. Télégrammes chiffrés du Komintern, Paris, Tallandier, 2003. (Direction édi-
toriale: Denis Peschanski).
9 Hermann Weber (Hrsg.): Die Kommunistische Internationale. Eine Dokumentation, Hannover,
Dietz, 1966.
10 Hermann Weber (Hrsg.): Der deutsche Kommunismus. Dokumente 1915–1945, Köln, Kiepenheuer
& Witsch, 1963.
11 Hermann Weber: Die Generallinie. Rundschreiben des Zentralkomitees der KPD an die Bezir-
ke 1929–1933. Eingeleitet v. Hermann Weber, bearb. v. Hermann Weber unter Mitwirkung v. Johann
Wachtler, Düsseldorf, Droste, 1981. (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politi-
schen Parteien, 3. Reihe, Bd. 1).
12 Jakov S. Drabkin, Leonid G. Babičenko, Kirill K. Širinja (Hrsg.): Komintern i ideja mirovoj revol-
jucii. Dokumenty, Moskva, Nauka, 1998. (Dokumenty Kominterna).
13 Siehe: Casto del Amo, Siegfried Bahne, Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Archives de Jules Hum-
bert-Droz. III. Les Partis Communistes et l’Internationale Communiste dans les années 1928–1932,
Dordrecht/Boston/Londres, Kluwer Academic Publishers, 1988; Bernhard H. Bayerlein, André Las-
serre (Hrsg.): Engagements à travers le monde. Résistances, conciliations, diffamations. Archives de
Jules Humbert-Droz, Bd. IV, Zürich , Chronos, 2001.
14 Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Georgi Dimitroff. Tagebücher 1933–1943. Aus dem Russischen und
Bulgarischen v. Wladislaw Hedeler u. Birgit Schliewenz. 2 vols. II: Kommentare und Materialien zu
den Tagebüchern 1933–1943. Hrsg. v. Bernhard H. Bayerlein und Wladislaw Hedeler unter Mitarbeit v.
Birgit Schliewenz u. Maria Matschuk, Berlin, Aufbau, 2000.
15 Bayerlein: Der Verräter.
Weitere Kooperationen und Danksagungen 9
weiteren Quellenbänden mit, die in Regie des Instituts für allgemeine Geschichte
der Russischen Akademie der Wissenschaften publiziert wurden.16 Dr. Marianna
Korčagina, die das Erscheinen des vorliegenden Bandes leider nicht mehr erleben
durfte, war Mitherausgeberin einer Edition über die Komintern und den Faschismus.17
Eine Unterstützung des Vorhabens erfolgte durch Kollegen und Institutionen
in vielen Ländern, denen hier herzlich gedankt werden soll. Die Herausgabe dieses
Werks wurde durch die Projektunterstützung sowie einen Druckkostenzuschuss
seitens der „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte
der deutsch-russischen Beziehungen“ (Berlin/Moskau) ermöglicht, deren Sekretariat
seit 2014 bei der Staatsministerin für Kultur und Medien angesiedelt ist. Die Heraus-
geber und Autoren bedanken sich besonders bei den beiden Ko-Vorsitzenden, Prof.
Dr. Dr. h.c. Horst Möller und Prof. Dr. Dr. h.c. Aleksandr Čubar’jan, dem Sekretär der
Kommission beim Bundesminister des Innern, Herrn Eberhard Kuhrt und seinen Mit-
arbeitern. Für eine nicht immer einfach zu bewerkstelligende administrativ-finanzi-
elle Bewältigung auch der Teilprojekte über die Zeitspanne eines Jahrzehnts hinweg
sei Frau Karin Kuhrt im Bundesverwaltungsamt (Köln/Bonn) ganz herzlich gedankt.
Direktorat, Sekretariat und EDV-Abteilung des Mannheimer Zentrums für Europäi-
sche Sozialforschung der Universität Mannheim, an dem das längerfristige Komin-
tern-Forschungsprojekt der Kommission angesiedelt war und nicht zuletzt die Damen
und Herren der Universitätsverwaltung, standen stets hilfreich zu Seite. Für die orga-
nisatorischen Hilfen durch das Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam und
das Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum sei stellvertretend
den Direktoren Prof. Dr. Martin Sabrow und Prof. Dr. Stefan Berger. wie auch dem
Geschäftsführer Dr. habil. Hans-Christoph Seidel herzlich gedankt.
Ohne die Unterstützung der Archivare und Bibliothekare des RGASPI, Moskau,
des Bundesarchivs, Berlin, der Bibliothek der Stiftung Parteien und Massenorgani-
sationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, und der Bibliothek der Friedrich-Ebert-
Stiftung, Bonn-Bad Godesberg, wäre diese Veröffentlichung nicht möglich gewesen.
Der Dank gilt besonders Prof. Dr. Dr. h.c. Aleksandr Čubar’jan von der Akademie der
Wissenschaften in Moskau sowie dem Direktor des RGASPI, Dr. Andrej Sorokin. Von
russischer Seite wurde die Edition von Prof. Dr. Vladimir Kozlov, Dr. Oleg Naumov,
Prof. Viktor Iščenko, Prof. Dr. Kirill Anderson, Prof. Dr. Sergej Mironenko, Dr. Larisa
Rogovaja, Dr. Andrej Doronin, Jurij Tutočkin, Svetlana Rozental, Valerij Šepelev,
Irina Seležneva, Irina Kremen, Larisa Rešetilo und Dmitrij Moiseenko (†) maßgeblich
unterstützt. Dazu bedanken wir uns beim Archiv für Aussenpolitik der Russischen
Föderation (Archiv Vnesnej Politiki Rossijskoj Federacii/AVPRF) und seiner Direkto-
rin Nadežda Mozžuchina und dem Leiter der historisch-dokumentarischen Abteilung
des Außenministeriums, Botschafter Konstantin Provalov. Vielfach hilfreich zur Seite
standen der Edition Sylvia Gräfe und Grit Ulrich als Archivarinnen der Stiftung Archiv
der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (Berlin), die Präsi-
denten des Bundesarchivs Dr. Hartmut Weber und Dr. Michael Hollmann, die Histo-
riker Dr. Wilfriede Otto, Dr. Andreas Herbst, Ottokar Luban, Dr. Ronald Sassning, Dr.
Joern Schütrumpf, Dr. Ruth Stoljarowa und Dr. Bert Hoppe, ebenfalls in Berlin, Dr.
Freddy Litten aus der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Leiter des Archivs
des Deutschen Schiffahrtsmuseums in Bremerhaven, Klaus-Peter Kiedel, Frau Heike
Müller vom Johann Heinrich von Thünen-Institut, Hamburg, Prof. Dr. Serge Wolikow
und Dr. Sonia Combe in Dijon bzw. Paris, Prof. Dr. Dr. h.c. Mechthild Leutner von
der Freien Universität Berlin, Dr. Jan Foitzik und Dr. Jürgen Zarusky vom Institut für
Zeitgeschichte München/Berlin, Dr. Manfred Mugrauer von der Alfred-Klahr-Stiftung
in Wien, Dr. Rüdiger Zimmermann und Dr. Jacques Paparo als Leiter der Bibliothek
der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn-Bad Godesberg, der Leiterin des Archivs der
Sozialen Demokratie Dr. Anja Kruke und den Bibliothekarinnen und Magazinern,
Frau Jenny Gohr im Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssi-
cherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und die Bun-
desbeauftragte Marianne Birthler, sowie Prof. Dr. Fridrich Firsov in Boston. Letzterer
hat wie auch in den ersten Anfängen Prof. Dr. Pierre Broué, Grenoble (†) besonders
zur Entschlüsselung der Biographien und der Pseudonyme beigetragen. Dr. Kasper
Braskén (Åbo Academi University, Finnland) leistete wertvolle Unterstützung für die
Aufarbeitung der Münzenberg-Dokumente. Wertvolle Hilfe bei der Manuskripterstel-
lung und Korrektur kam von Julia Zogel in Köln, wichtige inhaltliche Hilfestellung
von Dr. Anne Hartmann vom Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur
in Bochum und Ottokar Luban aus Berlin, dem Sekretär der Internationalen Rosa-
Luxemburg-Gesellschaft, weitere, auch „logistische“ Unterstützung kam von Prof. Dr.
Serge Wolikow, Prof. Dr. Jean Vigreux, Dr. Romain Ducoulombier und der Mannschaft
der Maison des Sciences de l’homme der Université de Bourgogne in Dijon. Hinge-
wiesen sei noch auf die wichtige Mitarbeit von Basim Aawais in Mannheim und Dr.
Timur Muchamatulin in Moskau. Für das Zustandekommen der Edition sind wir im
De Gruyter-Verlag besonders Frau Dr. Anke Beck (President Publishing), Frau Dr. Julia
Brauch (Editor), Herrn Andreas Brandmair (Herstellung) und Herrn Michael Peschke
(Satz) zu großem Dank verpflichtet, Romina Becker (Berlin), und Dr. Kirill Levinson
(Moskau) haben die Bände lektoriert und dabei eine hervorragende Arbeit geleistet.
Trotz des Zeitdrucks trug vor allem Frau Dr. Brauch in allen Phasen zu einer produkti-
ven und angenehmen Arbeitsatmosphäre bei, die sich hoffentlich im Ergebnis wider-
spiegelt. Für alle verbliebenen Fehler sind natürlich die Bearbeiter verantwortlich.
Dokumente
Verzeichnis der Dokumente1
1a Moskau, 11.(24.)–12.1917 Erlass des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare (Lenin) 43
und des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten
(Trotzki) zur Unterstützung des linken, internationalistischen
Flügels der Arbeiterbewegung
1b Berlin, 5.9.1918 Brief des sowjetrussischen Vertreters in Deutschland, Adolʼf Ioffe, 44
an Lenin über die Unfähigkeit der deutschen Linkssozialisten
zur Revolution
2 [Berlin], 16.9.1918 Bericht des Emissärs Pēteris Stučka an Lenin über die Reichs- 47
konferenz der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands (USPD) und die schwierige Beziehung zu den
Bolschewiki
3 Moskau, 28.9.1918 Beschluss der KP Russlands² über die Schaffung eines zentralen 50
internationalen Büros im Ausland vor der Gründung der
Komintern
4 [Moskau], 1.10.1918 „Alle werden wir dafür sterben, um den deutschen Arbeitern zu 52
helfen“. Anweisungen Lenins an Trotzki und Generalsekretär der
KP Russlands, Jakov Sverdlov zur Novemberrevolution
5 [Berlin], 13.10.1918 Brief Adolʼf Ioffes an Lenin über die bevorstehende deutsche 55
Revolution, die Schwäche der Linken und das deutsch-russische
Verhältnis in der Bürgerkriegszeit
7 Moskau, 28.12.1918 Kritische Fragen des sowjetischen Außenkommissars Georgij 63
Čičerin an Lenin zur Gründung der Komintern und zu den
deutschen Spartakisten
1919
8 [Berlin], vor 14.12.1918 „Auf, Proletarier! Zum Kampf!“ Aus dem von Rosa Luxemburg 65
verfassten ersten Programm der KPD (Spartakusbund)
9 [Berlin], 9.1.1919 Brief Karl Radeks an die KPD-Zentrale zum Verzicht auf den 67
Januaraufstand 1919
10 [Berlin], 11.1.1919 Letzter Brief Rosa Luxemburgs an Clara Zetkin über die 70
Entwicklung der jungen KPD
11 Berlin, nicht vor Brief Karl Radeks an Lenin, Čičerin und Sverdlov über die Lage in 71
24.1.1919 Deutschland nach den Januarkämpfen
1 Aufgrund des komplexen editorischen Erstellungsprozesses sowie in Hinblick auf die bereits beste-
henden Querverweise in den Autorenbeiträgen von Band I konnten einige Dokumentennummern nicht
belegt werden. Andere, neu hinzugekommene Dokumentennummern wurden mit Buchstaben ergänzt.
2 Für den Zeitraum 1918–1924 wird die offizielle Bezeichnung „Kommunistische Partei Russlands“
benutzt, von 1925 an „Kommunistische Partei der Sowjetunion“ (eigentlich: „All-Unions Kommuni-
stische Partei“/VKP).
14 Verzeichnis der Dokumente
12 Berlin, 4.2.1919 Brief von Leo Jogiches (Ps. „Tyszka“) an Lenin über die Lage 77
der KPD nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl
Liebknechts
13 Vilʼno, 05.3.1919 Brief von Adolʼf Ioffe an Lenin über die Bayerische Räterepublik 80
und ihre Protagonisten
14 [29.2.1924] 6.3.1919 Die KPD und die Gründung der Kommunistischen Internationale. 84
Zeitzeugenbericht von Hugo Eberlein
15 [Berlin], 6.5.1919 Genosse Ludwig (Ps.), d.i. Eduard Alexander, an James (Ps.), d.i. 88
Jakov Rejch, über das Phlegma der Revolution und die Politik
der KPD-Führung
16 Moskau, 22.7.1919 Abkommandierung von Alfred Kurella zur Überbringung von 91
Gegenständen im Wert von 300.000 Rubel an die KPD und die
KP Österreichs
17 Moskau, 18.8.1919 Aus der Kostenaufstellung der Exekutive der Komintern für 92
die kommunistischen Parteien und sympathisierenden
Bewegungen in einzelnen Ländern von April bis August 1919
18 [Moskau], 18.8.1919 Brief des Komintern-Sekretärs Gustav Klinger an Elena Stasova 94
über den Schmuggel von Schmuck und Juwelen nach
Westeuropa
19 Moskau, 28.8.1919 Notiz von Jan Berzin an Sinowjew zur Finanzierung der kommunis- 95
tischen Parteien durch Sowjetrussland
20 Moskau, 29.10.1919 Empfangsbestätigung des Kuriers Leontij Osipov über Schmuck 97
und Juwelen für die KPD
1920
33 [Berlin], 26.9.1920 Die Parteibuchhandlung der KPD als „russische Filiale“: Bericht 135
des Genossen Thomas (Ps.), d.i. Jakov Rejch, über die Folgen
der Finanzpolitik der Komintern
1921
34 Berlin, 26.3.1921 Putschstimmung und Sabotage: Telegramm von „Spanier“ (Ps.), 139
d.i. Béla Kun, über den Beginn des mitteldeutschen Aufstands
(„Märzaktion“)
35 [Berlin], 27.3.1921 „Die Frucht eines zweijährigen Kampfes wird zerstört“: Paul Levis 140
Brief an Lenin zur Kritik der „Märzaktion“
36 Berlin, 28.[3.]1921 Das Osterfest benachteiligt den Aufstand: Aus der Fortsetzung 144
des Berichts von Béla Kun
37 [Berlin], 29.3.1921 „Tritt die Orgesch in den Kampf, so gehen sie sofort mit uns“: Die 145
Märzaktion und die „Levi-Gruppe“ aus der Sicht Béla Kuns
38 Berlin, 3.4.1921 Konflikte zwischen der Komintern und der russischen Vertretung 148
in Berlin: Bericht Béla Kuns
40 [Moskau], 16.4.1921 Gegen die „dumme Taktik“ des Vertreters der Komintern und den 149
Austritt Levis aus der Zentrale: Brief Lenins an Clara Zetkin und
Paul Levi
41 Berlin, 18.4.1921 Kabeltelegramm des „Turkestaners“ der Komintern aus Berlin zur 151
Denunziation Paul Levis als Verleumder und Verräter
42 Moskau, vor dem Thesen des Politbüros des ZK RKP(b) zur Abgrenzung der 152
4.5.1921 Tätigkeit der Komintern und der außenpolitischen Organe der
Sowjetunion
43 [Wien], 6.5.1921 Persönlicher Brief des „Spaniers“ (d.i. Béla Kun) an Lenin über 154
die gescheiterte Märzaktion in Deutschland
44 [Berlin], 10.5.1921 Über die Ankunft Elena Stasovas als russische Komintern- 156
Emissärin in Deutschland
45 Moskau, 26.5.1921 Rundschreiben der Komintern über die Einrichtung eines 157
deutschen Sprachgruppensekretariats in Moskau
46 Moskau, 1.6.1921 Antwort Ernst Reuters („Friesland“) auf die Umfrage Trotzkis zu 160
den revolutionären Bedingungen in Deutschland
47 [Moskau], 1.6.1921 Brief Karl Radeks an Lenin zur Bilanz der Märzaktion und der 165
taktischen Umstellung der Komintern
47a [Berlin], 2.6.1921 Brief Jakov Rejchs an Sinowjew über Literatur- und Finanzangele- 169
genheiten der KPD
47b [Moskau?], 10.6.1921 Stellungnahme Lenins zum Ausschluss Paul Levis und 171
der taktischen Veränderung der Komintern auf dem III.
Weltkongress
47c Moskau, [15.6.1921] Erklärung der Deutschen Delegation auf der Internationalen 176
Konferenz Kommunistischer Frauen
48 Moskau, 18.6.1921 Brandbrief Clara Zetkins an Lenin über die „verderblichen Folgen“ 177
der Märzaktion in Deutschland
49 [Berlin], 22.6.1921 Brief der Emissärin der Geheimabteilung des sowjetischen 180
Politbüros an Lenin über chaotische Zustände in der KPD
49a Moskau, 3.7.1921 Tätigkeitsbericht des Zentralbüros der deutschen Sektionen beim 183
ZK der RKP(b) für Juni 1921
49b Moskau, 3.7.1921 Brief Willi Münzenbergs an Sinowjew über seinen Einsatz für die 186
internationale Hungerhilfskampagne für Russland
16 Verzeichnis der Dokumente
1922
58 Berlin, 20.1.1922 Radek an Sinowjew über die Lage in der KPD und seine Audienz 212
bei Reichskanzler Wirth
59 Berlin, 11.2.1922 Geheimer Bericht Radeks über die Gespräche mit Außenminister 217
Rathenau und General von Seeckt zur militärischen
Zusammenarbeit mit Russland
60 Petrograd, 13.2.1922 Sowjetrussland als „begehrte Braut“: Brief Ioffes an Lenin im 220
Vorfeld der Konferenz von Genua
61 Berlin, 14.2.1922 Die Verbindung mit Russland als Rettung Deutschlands: Radek 223
über die Gespräche mit Außenminister Rathenau u. a.
62 [Moskau], 20.2.1922 Nicht nur von den Deutschen lernen, sondern auch Deutsche 227
als Lehrer in der Sowjetunion heranziehen! Note Lenins an Lev
Kamenev
63 Berlin, 3.4.1922 Brief des Sekretärs der Internationalen Arbeitsgemeinschaft 228
Sozialistischer Parteien, Friedrich Adler, an die Komintern für
Einheitsfrontverhandlungen
64 Berlin, nicht vor dem Von der GPU abgefangener Brief des Menschewiken Rafail 230
5.4.1922 Abramovič an die Genossen in Russland über die „Konferenz
der Drei Internationalen“
65 Berlin, 8.4.1922 Bericht Radeks und Nikolaj Bucharins an das russische Politbüro 236
über die Ergebnisse der Berliner „Konferenz der Drei Interna-
tionalen“
66 [Petrograd], 11.4.1922 Telephonogramm Grigorij Sinowjews an Lenin zur Verstärkung 239
des internationalen Drucks auf die Sozialdemokratie
67 Berlin, 28.4.1922 Brief Radeks an Grigorij Sinowjew über die Berliner „Konferenz 240
der Drei Internationalen“
68 Berlin, 24.5.1922 Bericht Karl Radeks über das Scheitern der Konferenz der drei 247
Internationalen: Jetzt den Frontalangriff gegen die sozialdemo-
kratischen Scheidemann-Leute!
Verzeichnis der Dokumente 17
69 [Moskau], 28.6.1922 „Arbeiterregierung“ statt Endkampf: Aus der Diskussion zur 250
Übergangsperiode im Programm der Komintern
70 Moskau, 2.8.1922 Protest der Kominternführung gegen den Nichtabdruck eines 256
Aufrufs für die Einheitsfront in der Roten Fahne
71 [Moskau], 28.8.1922 Mit Deutschland jetzt „klüger wie eine Schlange“ sein: Vorschlag 257
Lenins an Stalin, Radek und Trotzki die Verantwortung für die
Außenpolitik zu übertragen
72 Petrograd, 7.9.1922 Brief Grigorij Sinowjews für einen Gefangenenaustausch von 258
Max Hoelz als „einem der populärsten Menschen unter den
Arbeitern Deutschlands“ nach Russland
73 [Berlin], 14.9.1922 Bericht Karl Radeks an die Komintern über seinen Besuch bei Max 259
Hoelz im Gefängnis
74 Berlin, 3.10.1922 Bericht des jungen Komintern-Mitarbeiters Willi Mielenz über sein 262
Leben in Moskau
75 Berlin, 7.10.1922 „Das Zeitalter der Weltrevolution“: Aus dem Programmentwurf 264
der KP Deutschlands
75a O.O. [Berlin], o.D. „Die K.P.D. zwischen dem III. und IV. Weltkongress“: Tätigkeits- 266
[5.11.1922] bericht zum IV. Weltkongress der Komintern
75b [Moskau], 18.11.1922 Vorschlag Lenins an Trotzki zur Durchsetzung der Einheitsfront- 270
politik gegen die KPD-Linke
75c [Moskau], o.D. Das Präsidium des IV. Weltkongresses zur Frage der Programme 271
[20.11.1922] der kommunistischen Parteien
1923
76 Berlin, Mitte Januar 1923 Empfehlung des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik 273
(„Büro Varga“/Berlin) für die Einheitsfront als „Sammelparole
zur Verteidigung der Arbeiterrechte“
77 Moskau, 16.2.1923 Instruktion der Komintern an die KPD für ein gemeinsames 275
Vorgehen mit der KP Frankreichs im Sinne der Einheitsfront-
politik
78 [Moskau], 4.5.1923 Brief Stalins an Sinowjew zur Eroberung der politischen Macht 277
durch die kommunistischen Parteien
79 [Moskau], 26.5.1923 Tätigkeitsbericht der Komintern-Kommission für illegale Arbeit 278
von Januar bis Mai 1923
80 Moskau, 19.7.1923 Empfehlung Radeks an Heinrich Brandler zur Absage der Demons- 281
trationen am „antifaschistischen Tag“ in Deutschland
81 Moskau, 27.7.1923 Brief Stalins an Sinowjew mit dem Einverständnis zur Absage des 282
„antifaschistischen Tages“
82 Kislovodsk, 31.7.1923 Sinowjew an Stalin über die Krise in Deutschland, die 283
Bekämpfung Trotzkis und des „kleinen Schwätzers“ Radek
83 [Moskau], vor 1.8.1923 Arbeitsplan für die Vertreter der Internationalen Verbindungs- 287
abteilung (OMS) und der Budgetkommission der Komintern in
Deutschland
84 [Moskau], 7.8.1923 Brief Stalins an Sinowjew zum vorläufigen Verzicht auf den 290
Kampf um die Macht in Deutschland: „Die Faschisten zuerst
losschlagen lassen“
85 Berlin, 8.8.1923 Denkschrift des für Militärpolitik zuständigen KPD-Funktionärs 294
„Robert“ [d.i. Karl Volk] zum Stand der Vorbereitungen auf den
Bürgerkrieg
86 Paris, 20.9.1923 Beschwerde des Komintern-Sekretärs für die lateinischen Länder, 301
Jules Humbert-Droz über den „nationalistischen Schlageter-
Kurs“ der KPD im Namen der KP Frankreichs
18 Verzeichnis der Dokumente
87 Moskau, ca. Ende Das Schicksal Polens besiegeln und einen Korridor durch die 303
September 1923 Tschechoslowakei schlagen: Vorschläge Sergej Gusevs zur
deutschen Revolution und Replik Stalins
88 [In Deutschland], Brief Radeks an Trotzki über die Festlegung eines Zeitrahmens für 304
1.10.1923 den kommenden Aufstand in Deutschland
89 [Moskau], 5.10.1923 Plan des ZK-Sekretariats der KP Russlands zur Agitation und 307
Propaganda für die deutsche Revolution in der Sowjetunion
90 [Moskau], 9.10.1923 Zirkular des Sekretariats des ZK der KP Russlands (Molotov) über 310
die Vorbereitungen auf die deutsche Revolution
91 Moskau, 12.10.1923 Kritische Stellungnahme des Außenkommissars Čičerin zu einen 314
Brief Stalins an die KPD über die bevorstehende deutsche
Revolution
92 Berlin, 17.10.1923 Persönlicher Brief eines Vertrauten Molotovs in Berlin (Ivan 315
Majskij?) über die Lage in Sachsen und die Szenarien für ein
künftiges Sowjetdeutschland
93 Berlin, 18.10.1923 Bericht der MP-Abteilung („Abteilung Bibliothek“) der KPD 321
(„Robert“) über den Stand der militärpolitischen Vorbereitungen
in Deutschland.
94 [Berlin], 20.10.1923 Der Plan zum Aufstand in Berlin, vorgelegt von Otto Steinfest (Ps. 326
„Fuchs“)
95 Moskau, 22.10.1923 Geheime telegrafische Instruktionen des ZK der KP Russlands an 331
die nationalen ZK’s und die Gebiets- und Bezirkskomitees zum
Jahrestag der Oktoberrevolution
96 [Berlin], 29.10.1923 Brief Radeks und Jurij Pjatakovs zur Lage in Berlin und der 332
Untätigkeit der KPD vor dem Aufstand
96a Berlin, 30.10.1923 Bericht des Konsuls der UdSSR in Hamburg, Grigorij Šklovskij (Ps. 336
„Babuškin“) über den Hamburger Aufstand
97 [Moskau], 8.11.1923 Brief Stalins an Pjatakov und die „Viererguppe“ in Deutschland 338
für eine prinzipielle Frontstellung gegen die linke Sozialde-
mokratie
98 Berlin, 9.11.1923 Bericht des Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik in Berlin 342
zum Hitlerputsch in München
99 Poltava, Ukraine, Die deutsche Revolution und die Streiks im ukrainischen 343
10.11.1923 Kohlebecken Donbass. Brief des Gouvernementssekretärs Boris
Magidov an Stalin
100 [Berlin], 15.11.1923 Kritischer Bericht des militärischen Leiters des deutschen 348
Oktober an die Komintern über die Arbeit des illegalen Apparats
der KPD
101 [Moskau], 27.11.1923 Denkschrift des Leiters der Aufklärungsabteilung der Roten 350
Armee, Jan Berzin, zur Kritik Radeks an der unzureichenden
Konspiration in Deutschland
101a Berlin, 23.12.1923 Brief des militärischen Leiters beim ZK der KPD, Petr Skoblevskij, 354
d.i. Vol’demar Roze, zur Absage der deutschen Revolution und
den weiteren Aufgaben des Militärapparats
102 Moskau, 28.12.1923 Stellungnahme Aleksandr Lozovskijs an das Politbüro des ZK der 356
KP Russlands zum Verhältnis von sowjetischer Regierung und
Komintern
Verzeichnis der Dokumente 19
103 Moskau, 18.1.1924 Memorandum Radeks nach der Absage der deutschen Revolution 362
104 O.O., 4.2.1924 Begleitbrief Karl Friedbergs (Ps.), d.i. Karl Gröhl, später Retzlaw, 364
zum Militärprogramm der KPD
105 [Moskau], 11.2.1924 Bericht des sowjetischen Militärexperten beim ZK der KPD, 365
Aleksej Štrodach, an die Komintern über künftige revolutionäre
Perspektiven für Deutschland
105a Leningrad, 24.2.1924 Brief Sinowjews an Hermann Remmele und Ernst Thälmann gegen 368
den Parteiausschluss der „Rechten“
106 [Moskau], 2.3.1924 Bericht des früheren Leiters der operativen Abteilung der KPD 369
Gruppe West, V. Karpov, über die militärischen Strukturen und
die allgemeine Situation in der KPD
107 Moskau, 31.3.1924 Brief Sinowjews an Arkadi Maslow und Ruth Fischer zur Haltung 372
der Komintern gegenüber einer künftigen linken KPD-Führung
108 Berlin, 3.4.1924 Brief Eugen Vargas an Sinowjew zur Analyse der Oktoberer- 375
eignisse und der Situation in der KPD
108a [Moskau], 24.4.1924 Brief Grigorij Sinowjews an Dmitri Manuilski über die Lage in der 378
KPD
109 [Berlin], 13.5.1924 Bericht des Sekretärs der Militärkommission des ZK der KPD, 384
Wilhelm Kress, über die Terrorgruppe Felix Neumann
110 [Moskau], 15.5.1924 Bericht des stellvertretenden Vorsitzenden der GPU, Iosif 387
Unšlicht, an die Komintern-Exekutive über die Terrorgruppe
Felix Neumann
112 Moskau, 5.7.1924 Thesen von Erich Wollenberg über die militärischen Fehler in der 391
deutschen Revolution von 1923
113 [Moskau], 14.7.1924 Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands zur drastischen 395
Kürzung der Zuweisung von Geldmitteln an die KPD
114 Berlin, 4.11.1924 Bericht von „Franz“ über die Aufdeckung des Berliner 398
„Passbüros“ und die Fehler des illegalen Apparats der KPD
115 [Moskau], 27.11.1924 Brief Stalins an Sinowjew zu einem historischen Artikel Otto 403
Kuusinens über die deutsche Revolution
116 Hamburg, 17.12.1924 Aufforderung der Abteilung I der Hamburger KPD, die Veröffent- 404
lichung von Larissa Reissners „Hamburg auf den Barrikaden“
zurückzuhalten
117 [Moskau], 18.12.1924 Antwortentwurf der sowjetischen Regierung auf den Protest von 406
Reichsaußenminister Stresemann gegen einen Brief des ZK der
RKP(b) an die KPD zu den Reichstagswahlen
118 [Berlin], nach dem „Grundlegende Angaben über den Zustand der Wehrorganisation 407
20.12.1924 der KPD“: Aus der Denkschrift des Leiters der Wehrabteilung
des ZK
119 Moskau, 24.12.1924 Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands zur 411
Finanzierung der kommunistischen Parteien
1925
120 [Berlin], 17.1.1925 Protokollauszug des KPD-Politbüros zur Strategie gegen die 416
anstehenden KPD-Prozesse („Urbahns-Prozess“, „Tscheka-
Prozess“, „Zentrale-Prozess“)
20 Verzeichnis der Dokumente
121 Berlin, 12.2.1925 Kostenaufstellung an die Komintern für die antimilitaristische 420
Tätigkeit unter den französischen, englischen und belgischen
Besatzungstruppen in Deutschland
122 Moskau, 12.2.1925 Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands über die in der 423
Sowjetunion verhafteten deutschen Studenten
123 [Berlin], 20.2.1925 Brief des inhaftierten Arkadi Maslow an Stalin über die Situation 425
der KPD nach der Absetzung Brandlers
124 [Moskau], 20.2.1925 Informationen des Außenkommissars Čičerin an den 431
GPU-Vorsitzenden Feliks Dzeržinskij über das Gespräch mit dem
deutschen Botschafter Ulrich von Brockdorff-Rantzau
125 Moskau, 25.2.1925 Beschluss und Instruktionen des sowjetischen Politbüros über 434
die Einstellung der „aktiven Aufklärung“ in Mitteleuropa
126 [Moskau], 5.3.1925 Beschluss des Politbüros des ZK der RKP(b) über die Verhaftung 437
der deutschen Studenten und die Vorgaben für die KPD
126a Moskau, 18.3.1925 Brief Josef Eisenbergers an die Kontrollkommission der Komintern 440
über seine Auseinandersetzung mit August Thalheimer
127 Moskau, 17.4.1925 Bitte Elena Stasovas an Molotov, in Deutschland bleiben zu 442
können
127a Berlin, 7.5.1925 Brief Willi Münzenbergs an Sinowjew über die Tätigkeit der 445
Internationalen Arbeiterhilfe
127b Berlin, 29.6.1925 Brief von Iwan Katz an Sinowjew über die Zustände in der KPD 448
unter Ruth Fischer
128 [Moskau], 3.7.1925 Entwurf des Politbüros des ZK der KP Russlands (Čičerin) für einen 453
Vertrag mit Deutschland
129 Moskau, 22.7.1925 Aus einem Brief Nikolaj Bucharins an Stalin über die Situation in 454
der KPD-Führung
130 [Berlin], 22.7.1925 Brief Dmitrij Manuilskis an Stalin über Situation in der KPD 457
131 Soči, 23.7.1925 Chiffretelegramm von Stalin an das ZK der KP der Sowjetunion, 459
Nikolaj Bucharin und Dmitrij Manuilski zur Situation in der KPD
132 [Moskau], 24.7.1925 Brief Bucharins, Manuilskis, Pjatnitzkis und Kuusinens an Stalin 460
und Sinowjew über die Verhandlungen mit der KPD-Delegation
in Moskau
133 Soči, 25.7.1925 Brief Stalins an Bucharin für die Unterstützung Thälmanns gegen 462
Fischer und Maslow und eine schärfere Gangart gegenüber der
Regierung Stresemann
134 [Moskau], 30.7.1925 Chiffretelegramm Pjatnitzkis an Stalin und Sinowjew über den 464
Verlauf der Verhandlungen mit der KPD-Delegation in Moskau
135 Moskau, 16.9.1925 Mitteilung des Moskauer Parteichefs der RKP(b) Nikolaj Uglanov 467
an Stalin mit der Forderung der Absetzung Ruth Fischers
136 Düsseldorf, 29.9.1925 Brief der KPD-Anwälte zur Bilanz der Verteidigung im Prozess 468
gegen Maslow („Zentrale-Prozess“ u.a.)
137 [Moskau], 9.10.1925 Bitte Clara Zetkins an Stalin um Audienz für ein KPD-Mitglied 471
138 Moskau, 10.10.1925 Antwortbrief Stalins an Clara Zetkin über sein Interesse an den 472
Vorgängen in der KPD
139 Moskau, 19.10.1925 Referat eines sowjetischen Militärspezialisten über den Zustand 473
und die Aufgaben der kommunistischen Militärorganisation in
Deutschland
140 Berlin, 3.11.1925 Bericht an die Komintern über die innerparteilichen Ausein- 478
andersetzungen mit der „Linken“ und der „Rechten“ auf der
Parteikonferenz der KPD
140a Berlin, 27.11.1925 Brief der KPD-Führung an Sinowjew über den Verbleib von Ruth 481
Fischer in Moskau
Verzeichnis der Dokumente 21
1926
142 Moskau, 23.1.1926 Leitlinien der Komintern zur Unterstützung des KPD-Volksbe- 484
gehrens zur Enteignung der ehemaligen Fürstenhäuser und zur
Regierungskrise der Weimarer Republik
143 Moskau, 21.2.1926 Persönlicher Brief Ernst Thälmanns an Stalin zur Kritik am 490
Kominternvorsitzenden Sinowjew
144 [Moskau], 16.3.1926 Nachfragen Stalins an Pjatnitzki zur Personalpolitik, Säuberung 495
und Gelderverteilung in Komintern-Angelegenheiten
145 [Moskau], 20.3.1926 Antwort des Schatzmeisters der Komintern auf die Anfrage Stalins 496
zur Verteilung der Gelder an die kommunistischen Parteien
146 [Moskau], 30.3.1926 Brief Stalins an Clara Zetkin über die Abschiebung Ruth Fischers 498
147 Moskau, 5.4.1926 Brief Clara Zetkins an Stalin über den finanziellen Bankrott der 499
Internationalen Arbeiterhilfe
148 [Moskau], 13.4.1926 Brief Heinz Neumanns an Stalin über Hugo Urbahns und die 500
Verfolgung der linken Oppositionellen in Russland
149 Moskau, 29.4.1926 Beschluss der Internationalen Kontrollkommission der Komintern 502
über das Verhalten von Maslow vor dem deutschen Gericht
150 [Moskau], 8.5.1926 Brief Stalins zum Artikel Manuilskis über die „Ultra-Linken“ in 504
Deutschland
151 Moskau, 26.5.1926 Internes Rundschreiben der Komintern an die Zentralkomitees der 506
Kommunistischen Parteien gegen die antisowjetische Presse-
Kampagne
152 [Moskau], 1.6.1926 Anfrage des Schatzmeisters der Komintern zur Finanzierung der 508
Fürstenenteignungskampagne der KPD
153 [Moskau], ca. Juni 1926 Geheimer Beschluss der Komintern zur „parteilosen 509
Verlagstätigkeit“ und zum Vertrieb der Literatur im nichtkommu-
nistischen Umfeld
154 [Moskau], ca. 2.6.1926 Rundschreiben der Komintern über den Aufbau von 512
kommunistischen Fraktionen in den „sympathisierenden
Massenorganisationen“ sowie den nichtkommunistischen
Organisationen
155 Moskau, 2.6.1926 Interne Leitsätze der Komintern über pazifistische, antikolo- 514
nialistische und andere Massenorganisationen (Rote Hilfe,
Internationale Arbeiterhilfe, Freunde der Sowjetunion)
156 [Moskau], nach 3.6.1926 Brief Molotovs an Stalin mit Informationen über den Aufenthalt 524
Ernst Thälmanns in Moskau
157 [Moskau], 1.7.1926 Beschluss des Politbüros des ZK der VKP(b) über die Vorschläge 526
der Firma „Junkers“ zur Lieferung von Bombern an die
Sowjetunion
158 [Moskau], 20.8.1926 Brief Stalins an Heinz Neumann gegen eine Veröffentlichung der 528
Erklärung der russischen Linken Opposition in Deutschland
159 [Berlin], 1.9.1926 Erklärung von 700 KPD-Mitgliedern zur russischen Frage und 531
gegen die Verfolgung der Linken Opposition in der Sowjetunion
(„Brief der 700“)
160 Berlin, 14.9.1926 Mitteilung Neumanns an den Verbindungsdienst der Komintern 539
und sowjetische Stellen über den Transport von Materialien der
russischen Opposition nach Deutschland
161 [Berlin?], 14.9.1926 Persönlicher Brief Neumanns an Stalin über Aktivitäten und 541
innerparteiliche Kämpfe der KPD
162 O.O., 2.11.1926 Rüge Georgij Čičerins an Stalin betreffs seiner Wortwahl über das 543
Verhältnis zu anderen Staaten
22 Verzeichnis der Dokumente
163 [Moskau], Brief Kujbyševs an das Politbüro des ZK der VKP(b) über den 545
[um 25.11.1926] Vorschlag Thälmanns zur Entsendung deutscher Spezialisten
164 Moskau, 22.12.1926 Geheimbeschluss der russischen Delegation in der Komintern 546
über den Kurswechsel der KPD
1927
166 [Moskau], 24.1.1927 Vortrag Nikolaj Bucharins im Präsidium der Komintern über die 548
internationale Kriegsgefahr als Hauptgefahr
167 Moskau, 25.2.1927 Instruktionen des Politsekretariats der Komintern zur Kampagne 553
zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution
168 [Berlin], 27.3.1927 Brief des sowjetischen Emissärs in Deutschland „Albert“ 555
[d.i. Vissarion Lominadze] an Stalin über die bewaffneten
Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und
Rotfrontkämpfern in Berlin
169 [Berlin], 11.4.1927 Eindrücke des Emissärs Lominadze an Stalin von einer 559
Kundgebung der KPD im Berliner Sportpalast
170 [Moskau], 25.5.1927 Aus dem Geheimprotokoll der Sitzung der russischen und 563
deutschen Delegation des 8. EKKI-Plenums zur Festlegung der
KPD-Politik
171 Berlin, 26.5.1927 Brief Jacob Walchers an Bucharin über die Politikunfähigkeit der 566
KPD
172 Berlin, 31.7.1927 Brief Arthur Ewerts an Bucharin über die Krisenerscheinungen in 573
der KPD
173 Berlin, 11.9.1927 „Drecksbrief“ Clara Zetkins an Bucharin über die Cliquen- 578
wirtschaft in der KPD unter Thälmann
173a [Moskau], Mitte Vertrauliche Materialien der Informationsabteilung des EKKI über 583
September 1927 Oppositionsgruppen im Umkreis der KPD
174 [Berlin], 15.9.1927 Brief Dmitrij Manuilskis an Nikolaj Bucharin und Stalin über 590
seinen erfolgreichen Deutschland-Aufenthalt und die „äußerst
einmütige Arbeit unter Führung von Teddy“
175 Berlin, 19.9.1927 Schreiben des Sekretariats der KPD an die Komintern zum 591
Verhalten der Angeklagten im bevorstehenden „Zentrale-
Prozess“
176 Berlin, 23.10.1927 Brief Ernst Thälmanns an Stalin über die Lage in der KPD-Führung 594
176a [Kanton, 9.12.1927] Telegramm des Emissärs Heinz Neumann aus China, sofort mit 596
dem Aufstand in Kanton zu beginnen
1928
177 Moskau, 13.2.1928 Schreiben des Organisationssekretärs der Komintern Mauno 600
Heimo über die Schulden der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ)
178 Moskau, 29.2.1928 Geheime Vereinbarung („Geheimabkommen“) der russischen und 602
deutschen Delegationen im EKKI über die Zukunft der KPD
179 Moskau, 8.3.1928 Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über die in 604
Verbindung mit dem Šachty-Prozess zu treffenden Maßnahmen
180 Moskau, 24.3.1928 Brief Stalins an Nikolaj Bucharin, Aleksej Rykov und Molotov mit 606
kritischen Bemerkungen zum Programmentwurf der Komintern
181 Moskau, 5.4.1928 Beschwerde des ZK der KPD über die Informationspolitik der 608
Sowjetunion und der Komintern zum Šachty-Prozess
182 Moskau, 11.4.1928 Beschwerde Hermann Remmeles an die Komintern über 610
schikanöse Kontrollen im Hotel Lux
183 Moskau, 12.4.1928 Vorschlag Brandlers und August Thalheimers, sich im „Zentrale- 611
Prozess“ dem Gericht zu stellen
Verzeichnis der Dokumente 23
184 Moskau, 10.5.1928 Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion zur Öffent- 613
lichkeitsstrategie im Šachty-Prozess und einem Treffen mit
Botschafter Rantzau
185 [Moskau], 30.6.1928 Aus einem Brief Remmeles an Leo Flieg über die Lage in der KP 616
der Sowjetunion
186 Moskau, 5.7.1928 Aus dem Referat Bucharins auf dem Plenum des ZK der KP der 620
Sowjetunion über den Programmentwurf der Komintern und die
Kriegsabsichten der Sozialdemokratie
187 Moskau, 5.7.1928 Aus einer Rede Stalins über den russischen Charakter des 624
Programms der Komintern
188 Berlin, 16.7.1928 Vorschläge von Josef Gutsche, August Mayer und Gerhard Schott 626
zur Verbesserung der militärpolitischen Arbeit der KPD
189 [Moskau], 20.8.1928 Interne personelle Vorschläge Stalins zum VI. Kominternkongress, 629
zur KPD und der Person Thälmanns
190 Moskau, 15. September Telegrafische Bewilligung der Komintern zur Abhaltung der 632
1928 Reichsparteiarbeiterkonferenz der KPD
191 Tuapse (Südrussland), Chiffrierte telegraphische Stellungnahme Stalins an Molotov über 633
1.10.1928 den „Thälmann-Skandal“
192 Moskau, 2.10.1928 Protokoll der Kominternkommission zur Untersuchung der 634
Unterschlagungen im Hamburger KPD-Bezirk
193 Moskau, 2.10.1928 Anweisung der Komintern an die KPD, den ZK-Beschluss der KPD 636
zur Absetzung Thälmanns nicht bekanntzugeben
194 Moskau, 6.10.1928 Nicht zur Veröffentlichung bestimmter Teil des Präsidiumsbe- 637
schlusses der Komintern zur Rehabilitierung Thälmanns
195 Gagri [Gagra, Abchasien], Stellungnahme von Hans Günther zur Verwendung der Begriffe 638
20.10.1928 „Sowjets“ oder „Räte“ im Programm der Komintern
196 Moskau, 25.10.1928 Brief Stalins an Thälmann zu dessen Exkulpierung und der 640
kollektiven Führungsarbeit in der KPD
197 Moskau, 25.10.1928 Bericht des Sekretariats der KPD an die Komintern über die 641
Parteidiskussion in Deutschland
198 Moskau, 29.11.1928 Brief Gerhart Eislers an das Komintern-Sekretariat zur Auszahlung 645
von Trennungsgeld an seine Frau
199 Moskau, 1.12.1928 Brief von Walter Ulbricht im Namen der Deutschen Vertretung in 646
der Komintern an Ernst Meyer
200 Moskau, 1.12.1928 Telegramm Ernst Meyers und Arthur Ewerts gegen den Ausschluss 647
Jacob Walchers
201 Moskau, 6.12.1928 Erklärung Hugo Eberleins gegen die Rehabilitierung Thälmanns 647
durch die Komintern
202 Moskau, 17.12.1928 Telegrafische Bedingungen des Präsidiums der Komintern an die 649
„Rechten“ in der KPD
203 Moskau, 20.12.1928 Das Mitteleuropäische Ländersekretariat der Komintern zum 651
Umschwung in der Betriebspolitik der KPD nach dem Ruhrei-
senstreik
204 Moskau, 22.12. 1928 Brief Thälmanns an die Komintern zur Widerlegung der gegen ihn 653
geäußerten Kritik
205 Moskau, 22.12.1928 Brief Stalins an Manuilski über seine angebliche Einmischung in 659
die Angelegenheiten der KPD
1929
206 Berlin, 1.1.1929 Arbeitsprogramm der deutschen Ländergruppe der Interna- 662
tionalen Leninschule für das erste Halbjahr 1929
24 Verzeichnis der Dokumente
207 Moskau, 21.1.1929 Anweisungen der Kleinen Kommission der Komintern zur 664
ultimativen Veröffentlichung von Presseartikeln
208 Moskau, 7.3.1929 Telegraphische Bestätigung der Komintern über die Säuberungen 665
und Ausschlüsse in der Roten Hilfe Deutschlands (RHD)
209 Moskau, 9.3.1929 Schreiben Ulbrichts an Leo Flieg über Kürzungen der finanziellen 666
Zuschüsse der Komintern an die KPD
210 Saratov, 15.3.1929 Persönlicher Brief Voja Vujovićs aus der sowjetischen Verbannung 667
an Jules und Jenny Humbert-Droz über die Folgen der Thälmann-
Affäre
211 Berlin, 19.3.1929 Brief von Josef Schneider an Remmele gegen den „Maulhelden“ 669
Max Hoelz
212 Berlin, 22.3.1929 Brief Čičerins an Stalin zur Kritik am Kriegsgefahrsyndrom und 671
den außenpolitischen Vorgaben der Deutschlandpolitik der
Sowjetunion
213 Moskau, 25.3.1929 Instruktionen Ulbrichts im Namen der Komintern und der KPD zur 673
neuen Gewerkschaftstaktik
214 [Berlin], 28.3.1929 Anweisungen des Sekretariats der KPD an die Bezirksleitungen 674
zur Demonstration am 1. Mai und zum Kampf gegen das
Parteiverbot
215 Moskau, 2.4.1929 Anweisungen des Politsekretariats der Komintern zur 676
Vorbereitung des Internationalen Tages gegen den imperialis-
tischen Krieg
216 Berlin, 23.4.1929 Der Rote Frontkämpfer-Bund zur Übergabe eines „würdigen 680
Geschenks“ an das „proletarische Vaterland“ anlässlich des
10jährigen Jubiläums der Komintern
217 Moskau, 9.5.1929 Beschlüsse des Politbüros der KP der Sowjetunion zu den 682
Maiereignissen in Berlin
218 Berlin, 9.5.1929 Informationen über die Internationale Leninschule in Moskau aus 683
Anlass der Einführung von Neunmonatskursen
219 [Berlin], 12.6.1929 Brief des Parteibezirks Nordwest der KPD an Wilhelm Pieck über 686
die Affäre des verschwundenen Fischdampfers Scharnhorst
221 [Berlin], 12.6.1929 Richtlinien für die Presse der Kommunistischen Parteien über die 688
Durchführung der Antikriegskampagne
222 Berlin, 20.6.1929 Brief Čičerins an Stalin über die verfehlte Komintern- und 690
Außenpolitik, den Berliner Blutmai und den Unsinn der Sozial-
faschismusthese
224 [Berlin], 25.6.1929 Stellungnahme der deutschen Vertretung bei der Komintern über 693
die Verwendung der abzuschiebenden Ewert und Eberlein
225 Moskau, 28.6.1929 Brief der deutschen Vertretung bei der Komintern an das Partei- 695
sekretariat über den Kampf gegen den „Sozialfaschismus“ und
den deutschen Seemannsklub in Vladivostok
226 Berlin, 23.7.1929 Antrag der deutschen Vertretung bei der Komintern an das 697
sowjetische Außenkommissariat zur Aufklärung in der Affäre
Scharnhorst
229 [Wiesbaden], 18.10.1929 Brief Čičerins an Molotov über die Unsinnigkeit der Sozialfa- 706
schismus-These
229a Berlin, 24.10.1929 Telegramm des ZK der KPD an Stalin und Molotov mit der Bitte um 709
Mittelüberweisung zur Unterstützung des Berliner Rohrleger-
streiks
230 [Moskau], 25.10.1929 Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über ein 709
erweitertes Angebot von Militär- und Spezialkursen für
ausländische Kommunisten
231 [Berlin], 12.11.1929 Rundschreiben des Westeuropäischen Büros der Komintern zur 711
Beschränkung und Erfassung der politischen Emigration
232 [Berlin], 22.11.1929 Mitteilung des Kominternpräsidiums über die Wiederaufnahme 712
der Tätigkeit des Westeuropäischen Büros in Berlin
233 [Moskau], Ende 1929 – Brief Karl Gailisʼ an Tuure Lehén über die Aufgaben der 714
Anfang 1930 Militärarbeit der KPD
1930
234 [Moskau], 13.1.1930 Brief des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der Komintern 716
an das ZK-Sekretariat der KPD über den „Sozial-“ und den
„National-Faschismus“ in Deutschland
235 [Moskau], 15.2.1930 Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über die 722
Budgets der Komintern, der Roten Gewerkschaftsinternationale
und der Bauerninternationale
236 [Berlin], 19.2.1930 Aufzeichnung des sowjetischen Bevollmächtigten in Deutschland, 723
Nikolaj Krestinskij, über ein Gespräch mit Staatssekretär Carl
von Schubert bezüglich der SPD-Presse
237 Berlin, 25.2.1930 Erklärung von Eberlein zur Abschwörung von seinen „versöhnle- 724
rischen“ politischen Auffassungen
239 [Berlin], 4.3.1930 Instruktion des Westeuropäischen Büros der Komintern an alle 725
kommunistischen Parteien gegen die „religiöse antisowjetische
Kampagne“
240 [Moskau], 1.4.1930 Brief Pjatnitzkis an Stalin und Molotov zum Konflikt um Paul 726
Merker und Remmele in der KPD („Merkeriade“)
241 [Berlin], 16.4.1930 Ausschnitte aus dem Protokoll eines Gesprächs zwischen 728
Krestinskij und Reichsaußenminister Julius Curtius über die
politische Verfolgung der KPD
242 [Moskau], 26.4.1930 Geschlossener Brief des Politsekretariats der Komintern an das 730
ZK der KPD über die innerparteiliche Lage und die Angele-
genheit Paul Merker
243 Moskau, 6.5.1930 Aus einem Referat Rosenthals über „die rechten Renegaten in 734
Deutschland“ nach dem X. Plenum des EKKI im Informations-
büro der Komintern
244 [Moskau], 28.7.1930 Briefentwurf des Politsekretariats der Komintern an die 738
KPD-Führung über die nationale Befreiung der Werktätigen
gegen den „Nationalfaschismus“ als Perspektive zu den Reichs-
tagswahlen
245 Berlin, 24.8.1930 Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen 742
Befreiung des deutschen Volkes
246 Moskau, 18.9.1930 Glückwunschtelegramm der Komintern an die KPD zu ihrem 749
Ergebnis bei der Reichstagswahl
247 [Moskau], 1.10.1930 Schreiben K. Pervuchins an das Politsekretariat über die 750
Stellungnahmen der Komintern zum Wahlergebnis in
Deutschland
26 Verzeichnis der Dokumente
248 Moskau, 26.10.1930 Ablehnende Stellungnahme seitens der Komintern, über die KPD 752
den streikenden Metallarbeitern in Berlin sowjetisches Getreide
zur Verfügung zu stellen
249 Moskau, 28.10.1930 Rede Pjatnitzkis auf der Sitzung des Präsidiums des EKKI über die 753
Reichstagswahlen und den Erfolg der Nationalsozialisten
250 Moskau, 2.11.1930 Von der Komintern autorisierte Resolution über die Aufgaben des 756
illegalen Roten Frontkämpfer-Bundes und die Liquidierung der
Antifa in Deutschland
251 [Moskau], 21.11.1930 Zirkularbrief des Westeuropäischen Büros der Komintern an die 761
kommunistischen Parteien in Europa zum Prozess gegen die
„Industriepartei“ in der Sowjetunion
252 Berlin, 23.11.1930 Adresse des 2. Reichskongresses werktätiger Frauen 763
Deutschlands an die „Arbeiterschwestern und -Brüder der
Sowjetunion“
253 [Moskau], 10.12.1930 Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion gegen die 765
Auffassung der KPD, dass der Machtantritt des Faschismus in
Deutschland bereits erfolgt sei
254 [Moskau], 10.12.1930 Geheimes Zirkular des Politsekretariats der Komintern über den 766
oppositionellen „Rechts-Linksblock“ von Sergej Syrcov und
Lominadze und den Ausschluss der „Rechten“ aus der KP der
Sowjetunion
254a Berlin, 11.12.1930 Brief Stefan Bratman-Brodovskijs an Nikolaj Krestinskij über den 770
Prozess gegen die „Industriepartei“ und die Fehleinschätzung
der Brüning-Regierung durch die KPD
255 Berlin, 20.12.1930 Bericht der KPD an die Komintern über den Kampfbund gegen den 774
Faschismus in Deutschland
1931
256 [Moskau], 7.1.1931 Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über Angele- 777
genheiten der Komintern, u.a. zum Mandatsende Molotovs
257 [Berlin], 10.1.1931 Brief des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der Komintern, 778
über die Einschätzung des Faschismus in der Roten Fahne und
die antifaschistische Demonstration in Berlin
258 [Moskau], [vor dem] Nicht abgeschickte Instruktionen der Politkommission der 781
18.1.1931 Komintern zur antifaschistischen Ausrichtung der Betriebs-
rätewahlen in Deutschland
259 [Moskau], 4.3.1937 Denunziatorischer Bericht Remmeles über eine Begegnung mit 784
Bucharin im Frisiersalon des Hotels Metropol in Moskau
261 Moskau, 26.3.1931 Rede Manuilskis auf dem XI. EKKI-Plenum der Komintern zur 787
nicht-revolutionären Situation in Deutschland und für die
Zerschlagung der Sozialdemokratie als „Massenbasis“ des
Faschismus
262 [Moskau], 6.4.1931 Rede Manuilskis auf der Sitzung der Politkommission des 790
XI. EKKI-Plenums zum Konzept einer „Volksrevolution“ in
Deutschland
263 [Moskau], 15.7.1931 Beschlussprotokoll der Sitzung der Politkommission des EKKI 793
über die Lage in Deutschland und den verschärften Kampf
gegen die SPD-Linke
264 Berlin, 15.7.1931 „Sekretariatsbrief“ Neumanns an Pieck über die Teilnahme 795
der KPD am „roten Referendum“ für den Volksentscheid zur
Auflösung des Preußischen Landtags
Verzeichnis der Dokumente 27
265 [Moskau], 17.7.1931 Brief Piecks an Pjatnitzki über die Haltung der KPD zur linken 798
Sozialdemokratie
266 [Moskau], 20.7.1931 Brief Wilhelm Piecks an das ZK-Sekretariat der KPD zur 799
Übermittlung der Instruktion seitens führender russischer
Genossen zur unbedingten Teilnahme am preußischen
Volksentscheid
267 [Moskau], 2.8.1933 Aus einem Brief Remmeles (Ps. „Herzen“) an die Kommission 801
zur Untersuchung der Fraktionsarbeit in der KPD über die
Hintergründe des Volksentscheids gegen die preußische
Regierung
268 [Moskau], [28.7.1931] Geheimer Maßnahmenkatalog der Komintern über die 803
Konspiration und den Kampf „gegen Provokation und
Verrätertum“
269 Moskau, 16.9.1931 Resolution der Komintern zur Legitimierung des „Roten Volksent- 807
scheids“ in Deutschland
270 [Moskau], 25.9.1931 Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über die 811
Vorschläge des preußischen Innenministers Severing zur
Aufhebung des Verbots der KPD-Presse
271 [Moskau], 16.10.1931 Instruktionen des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der 813
Komintern an die KPD zur Verstärkung der Erwerbslosenarbeit
272 [Moskau], 28.10.1931 Bericht maßgeblicher Komintern-Funktionäre an Stalin und 817
Molotov über „Einmischungen“ in Angelegenheiten der KPD
seitens der sowjetischen Delegation in der Komintern im Jahre
1931
273 [Düsseldorf], 28.10.1931 Protestschreiben von KPD-Arbeitern an die Komintern, die aus 823
den Druckereibetrieben der Partei entlassen wurden
274 Moskau, 26.11.1931 Beschwerde an den Presseleiter der Komintern über den Umgang 827
mit dem deutschen Archiv beim Lenin-Institut, Moskau
275 [Moskau], 1.12.1931 Rede Manuilskis im Politsekretariat der Komintern über die 828
„Volksrevolution“ und den antifaschistischen Kampf
275a [Moskau], 12.12.1931 Niederschrift des sowjetischen Diplomaten Boris Štejn über eine 833
Unterredung mit dem deutschen Botschaftsmitarbeiter Fritz von
Twardowski
276 [Moskau], 14.12.1931 Entwurf eines Briefes der Politkommission der Komintern an alle 837
Sektionen zur Gedächtniskampagne für Lenin, Liebknecht und
Luxemburg
1932
279 [Moskau], 2.1.1932 Instruktion der Politkommission der Komintern an die KPD mit der 842
neuen Rosa Luxemburg-Interpretation Stalins
280 [Moskau], 3.1.1932 Notiz eines Referenten der Organisationsabteilung der Komintern 845
über die Darstellung der Militärpolitik in der KPD-Presse
281 [Moskau], 5.1.1932 Vorschlag Lozovskijs an die sowjetische Delegation im EKKI zur 848
Einrichtung einer westeuropäischen Vertretung der Komintern
angesichts der Kriegsgefahr
282 [Berlin, 20.2.1932– Resolution des ZK-Plenums der KPD: Kampf gegen den Hitlerfa- 850
23.2.1932] schismus und Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie
283 [Moskau], 13.3.1932 Brief Wilhelm Piecks an Ernst Thälmann mit der Aufforderung, in 853
der Roten Fahne den Kult um seine Person einzuschränken
284 [Moskau], 15.3.1932 Vertrauliche Stellungnahme Pjatnitzkis gegenüber der Komintern 855
zu den Ergebnissen des ersten Durchgangs der Reichspräsiden-
tenwahl
28 Verzeichnis der Dokumente
285 [Moskau], 25.3.1932 Rede Aleksandr Martynovs in der vorbereitenden Kommission des 858
XII. Plenums des EKKI zur Kritik des Antifaschismus der KPD
286 [im Deutschen Reich], Brief des Kominternemissärs Lajos Magyar an Kun über Hitlers 861
6.4.1932 Pläne zur Vernichtung des Bolschewismus und der Sowjetunion
287 Moskau, 10.4.1932 Heinz Neumann über den Personenkult Ernst Thälmanns und die 863
Auswirkungen auf den Kampf gegen den Faschismus
288 [Moskau], 17.4.1932 Rede Manuilskis zur Vorbereitung des XII. EKKI-Plenums: 866
Angesichts ihres Schematismus müsse die KPD dem
Faschismus unterliegen
289 [Berlin?], 9.5.1932 Brief „Ludwigs“ (Ps.), d.i. Lajos Magyar, über den Einbruch der 868
Nationalsozialisten in die Arbeiterklasse und die Perspektiven
eines deutschen Italien
290 [Moskau], 10.5.1932 Anschreiben Pjatnitzkis an Stalin zu den Informationsberichten 871
über die Lage in der KPD
293 Sotschi, 5.6.1932 Brief Stalins an Lazarʼ Kaganovič gegen die kritische Bericht- 878
erstattung der sowjetischen Presse über die neue deutsche
Papen-Regierung
294 Berlin, 18.6.1932 Brief Ernst Thälmanns an Wilhelm Florin über die Taktik zur 879
Verhinderung der Wahl eines NS-Präsidenten im Preußischen
Landtag
295 [Moskau], 20.6.1932 Brief Pjatnitzkis, Knorins, Gusevs und Lozovskijs zur Wahl des 883
preußischen Landtagspräsidenten (an Molotov und Kaganovič)
296 [Moskau], 10.7.1932 Anfrage von Knorin und Pjatnitzki für die Komintern zum Angebot 885
der sozialdemokratischen Reichsbannerführung im Sinne einer
gemeinsamen Abwehrstrategie (an Kaganovič und Stalin)
296a Moskau, 22.7.1932 Beschluss des Politsekretariats des Exekutivkomitees der 887
Komintern über den KPD-Aufruf zum politischen Massenstreik
gegen die Reichsexekutive zur Auflösung des preußischen
Landtags („Papenputsch“) vom 20.7.1932
297 Soči, 26.7.1932 Brief Heinz Neumanns an „den lieben Freund“ über seine 889
Gespräche mit Stalin zu den Perspektiven in Deutschland
298 [Moskau], 27.7.1932 Kritische Rede Knorins zur Einordnung Deutschlands als nachge- 890
ordnetes revolutionäres Land durch die Komintern
299 [Golovino bei Moskau], „Die Krise der Komintern“: Aus der oppositionellen Plattform des 892
21.8.1932 „Bundes der Marxisten-Leninisten“ der Sowjetunion (Rjutin-
Gruppe)
300 Moskau, 19.11.1932 Brief von Alfred (Ps.), d.i. Tuure Lehén, an M[ichael] (Ps.), d.i. Osip 896
Pjatnitzki (?) über die militärpolitische Arbeit in Deutschland
301 [Berlin], 25.12.1932 „Remmele-Memorandum“ an Pjatnitzki und den „Führer der 897
KPdSU“ Stalin über den Thälmann-Kurs in der KPD
1933
303 [Berlin-Weißensee], o.D. Flugblatt der „Versöhnlerfraktion“ über die KPD und den 910
[22.1.1933] Machtantritt des Nationalsozialismus in Deutschland
304 O.O., [4.2.1933] Notiz zur Selbstkritik auf der Sitzung der engeren KPD-Leitung 919
hinsichtlich der „Machtergreifung“
305 Ziegenhals bei Berlin, Rede Ernst Thälmanns auf der Reichskonferenz der Polsekretäre 920
7.2.1933 u.a. der KPD-Bezirke in Ziegenhals bei Zeuthen („Ziegenhalser
Rede“)
306 Moskau, 17.2.1933 Denkschrift des Referenten der Organisationsabteilung, Karolʼ 924
Sverčevskij, über die Wehrkurse der Komintern
Verzeichnis der Dokumente 29
307 [Berlin, 22.2.1933] „Moskau und der deutsche Faschismus“: Manuskript über das 928
Treffen der Sozialdemokraten Friedrich Stampfer und Victor
Schiff mit dem sowjetischen Botschaftssekretär Vinogradov in
Berlin kurz vor dem Reichstagsbrand
327 O.O., 1.6.1933 [ca. Juni Beschluss der Auslandsleitung der KPD zur verschärften Kontrolle 1019
1933] der Politemigration
328 [Moskau], 10.6.1933 Kommunisten und Faschisten als „Erben“ der zerschlagenen 1021
sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung: Aus einem
Referat Solomon Lozovskijs in der Roten Gewerkschafts-Interna-
tionale
329 [Berlin], 26.6.1933 Bericht an die Komintern über das Verhalten des ehemaligen 1022
Hauptkassierers der KPD Arthur Golke
330 [Paris], 20.7.1933 Brief Münzenbergs an Stalin über die Ursachen für die Niederlage 1024
des deutschen Kommunismus 1933
331 [Moskau], 22.7.1933 Bericht über die organisatorische Lage der KPD angesichts des 1033
existenzbedrohenden NS-Terrors
332 Moskau, 17.8.1933 Bericht des deutschen Botschafters in Moskau, Herbert von 1036
Dirksen, über Gespräche in Moskau zum Stand der sowjetisch-
deutschen Beziehungen nach dem Machtantritt Hitlers
333 Moskau, 11.8.1933 Resolutionsentwurf der Komintern zur Ablehnung eines interna- 1039
tionalen Boykotts gegen Hitler-Deutschland
334 Paris, 4.9.1933 Brief Willi Münzenbergs an die Komintern über die antifa- 1042
schistische Tätigkeit Albert Einsteins
335 [Moskau], 19.9.1933 Protokoll der geheimen Sitzungen des Komintern-Sekretariats mit 1044
der KPD-Führung zur Strategie in Deutschland
336 [Berlin], 20.9.1933 Brief von Jakov Rejch („James“) aus Berlin an Knorin und 1049
Pjatnitzki über den technischen Apparat der KPD
337 O.O., 28.9.1933 Bericht an die Komintern über die Umstellung der Parteiorga- 1052
nisation der KPD auf die Illegalität
338 [Moskau], 2.10.1933 Vermerk Molotovs an Stalin gegen eine Verschärfung der 1054
sowjetischen Haltung gegenüber Hitler-Deutschland
339 Moskau, 14.10.1933 Telegrammwechsel Stalins, Molotovs und Kaganovičs über einen 1055
Besuch Krestinskijs bei Hitler
340 [Moskau], 15.10.1933 Direktive des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der 1057
Komintern an die KPD zum Referendum über den Austritt
Deutschlands aus dem Völkerbund
341 Moskau, 22.10.1933 Chiffretelegramm Molotovs und Kaganovičs an Stalin über einen 1059
möglichen Besuch Litvinovs in Berlin
342 Moskau, 25.10.1933 Anfrage an Stalin zur Taktik der KPD gegenüber dem Referendum 1060
zum Völkerbundaustritt
343 Moskau, 26.10.1933 Antwort Stalins zur KPD-Taktik bei den Reichstagswahlen und 1062
dem Referendum der Hitler-Regierung
344 [Moskau], 17.12.1933 Rede Lozovskijs in der Roten Gewerkschafts-Internationale über 1063
die „riesige historische Bedeutung“ der Zerschlagung der
deutschen Sozialdemokratie
1934
344a Amsterdam, 14.1.1934 Erklärung Heinz Neumanns an die Komintern zu seinen 1065
politischen Fehlern
345 [Moskau], 8.5.1934 „Tatsachenmaterial“ zum Bericht der Internationalen Roten Hilfe 1069
über Aufnahme von Politemigranten in der UdSSR
346 O.O., 25.5.1934 Brief „Ludwigs“ (d.i. Lajos Magyar) an Pjatnitzki über seine 1071
Mission in Deutschland
347 [Moskau], 14.6.1934 Rede Manuilskis zur Vorbereitung des VII. Weltkongresses der 1072
Komintern über die falsche Einschätzung des Faschismus
Verzeichnis der Dokumente 31
348 [Zürich], 16.6.1934 Beschwerde Karl Volks an die Komintern über seinen Ausschluss 1074
aus der KPD als „Versöhnler“
349 [Moskau], 8.7.1934 Beschluss des Präsidiums der Komintern über die internationale 1077
Kampagne zur Befreiung Thälmanns aus NS-Haft
350 Moskau, 22.8.1934 Redebeitrag Béla Kuns zur Vorbereitung des VII. Weltkongresses 1080
der Komintern gegen ein Abrücken von der revolutionären
Strategie
351 Moskau, 28.8.1934 Brief des Schriftstellers Lothar Wolf an Wilhelm Pieck und Fritz 1082
Heckert
352 [Moskau], 29.8.[6.?]1934 Brief der Schriftstellerin Berta Lask an die KPD-Führung zur 1086
Situation in Moskau
353 Moskau, 29.8.1934 Rede Knorins zur Preisgabe der revolutionären Perspektive in den 1087
Thesen des VII. Kominternkongresses
354 [Gagra], 14.9.1934 Telegramm Stalins an das Politbüro des ZK der KP der 1089
Sowjetunion zum Abschluss des Handelsvertrags mit
Deutschland
355 [Moskau], [15.10.1934] Vorschläge Dimitrovs an Stalin zur Reorganisation des Leitungs- 1091
apparats der Komintern
357 [Moskau], 13.11.1934 Brief Béla Kuns an Dimitrov und Knorin über die Propagan- 1094
daarbeit im Saarland
1935
359 [Moskau], 19.1.1935 Beschluss der Komintern über die „sektiererischen Fehler“ der 1097
KPD, für die antifaschistische Volksfront und die Arbeit in den
faschistischen Massenorganisationen
359a [Moskau], 18.2.1935 Brief Wilhelm Piecks zu den Beschuldigungen gegen den Leiter 1101
des militärpolitischen Apparats der KPD, Hans Kippenberger
359b [Paris?], 7.3.1935 Brief Ulbrichts an den „lieben Freund“ zur Kritik am militärpoli- 1105
tischen Apparat der KPD
360 Moskau, 21.3.1935 Resolution der Komintern für die Neubelebung der interna- 1107
tionalen Kampagne zur Befreiung Thälmanns aus NS-Haft
361 Moskau, 8.4.1935 Hermann Schubert und Pieck im Mitteleuropäischen Länder- 1112
sekretariat über die KPD-Krise und die neuen Vorgaben der
Komintern
362 [in der UdSSR], 5.8.1935 Brief Stalins an Molotov zur Einführung eines Generalsekretariats 1119
der Komintern unter Dimitrov
363 Moskau, 7.8.1935 Für eine Volksregierung in Deutschland. Aus der Rede Ulbrichts 1120
auf dem VII. Weltkongress der Komintern
364 [Moskau?], 10.8.1935 Antwortbrief Molotovs an Stalin über die Einsetzung Georgi 1127
Dimitrovs als Generalsekretär der Komintern
366 Moskau, 20.8.1935 „Der Kampf um die Armee“: Aus den geheimen militärpolitischen 1128
Instruktionen des VII. Kongresses der Komintern
367 [Moskau], 15.9.1935 Chiffretelegramm von Molotov an Stalin über den Nürnberger 1130
Parteitag der NSDAP und die nationalsozialistische Hetze gegen
die Sowjetunion
368 [Sotschi], 15.9.1935 Antwort Stalins an Molotov und Kaganovič zur Beurteilung des 1131
Nürnberger NSDAP- Parteitags
369 Mariinsk, Siblag NKVD, Brief des Redakteurs Kurt Nixdorf an Molotov aus dem Gulag über 1132
24.9.1935 die Umstände seiner Verhaftung
370 [Moskau, 15.10.1935] Manifest der Brüsseler Parteikonferenz der KPD 1935 „an das 1134
werktätige deutsche Volk!“
32 Verzeichnis der Dokumente
370a Moskau, 20.10.1935 Brief Elena Stasovas an die deutsche Vertretung der Komintern 1140
über chauvinistische Auswüchse bei deutschen Politemigranten
371 [Moskau], Dezember 1935 Denkschrift des Komintern MP-Spezialisten Tuure Lehén zur 1141
Unterstützung der militärischen Arbeit der Komintern-Sektionen
372 [Moskau], 4.12.1935 Memorandum des Außenkommissars Litvinov an Stalin und das 1145
Politbüro, die antisowjetischen Ausfälle des Hitler-Regimes
nicht mehr hinzunehmen
373 Moskau?, 5.12.1935 Denkschrift des Komintern-Referenten Wilhelm Zaisser über 1149
die Antikriegsarbeit und die militärpolitischen Aufgaben der
Kommunistischen Parteien
1936
374 [Moskau], 3.1.1936 Brief von Manuilski an Nikolaj Ežov über Maßnahmen gegen das 1152
„Einsickern von Spionen und Diversanten“ aus dem Ausland
375 Moskau, 28.1.1936 Bericht von Grete Wilde für die Kaderabteilung des EKKI über die 1157
Fehler beim Befreiungsversuch Thälmanns aus der Haft
375a [Moskau?], 2.2.1936 Vertraulicher Bericht Hans Kippenbergers („Wolf“) über Struktur 1160
und Tätigkeit des militärpolitischen Apparates der KPD
376 Moskau, 3.2.1936 Bericht und Vorschläge des Kominternfunktionärs Grigorij 1178
Smoljanskij zur Situation der illegalen Parteikader in
Deutschland
376a [Moskau], 8.2.1936 Vertraulicher Bericht Kippenbergers über den Parteiselbstschutz 1182
(PSS) der KPD
376b [Moskau, 10.2.1936] Untersuchungsbericht der Kaderabteilung des EKKI (Grete Wilde) 1186
über den militärpolitischen Apparat der KPD und Leiter Hans
Kippenberger
377 Moskau, 19.2.1936 Tabellarische Aufstellung zur Überführung der Politemigranten 1201
aus den kommunistischen Parteien in die KP der Sowjetunion
(1920–1936)
378 Moskau, 25.2.1936 Referat Piecks über die Lage in Deutschland im zuständigen 1202
Kominternsekretariat Ercoli
379 Paris, 1.3.1936 [März Brief Bucharins an Stalin über seine Mission im Westen und die 1207
1936] unzureichende Bekämpfung des Nationalsozialismus
380 Moskau, 17.3.1936 Aus dem Beschluss des Kominternsekretariats zum Bericht des 1212
Politbüros der KPD über Lage und Aufgaben der Partei
381 Moskau, 1.4.1936 Ansprache Wilhelm Piecks im Kominternpräsidium über 1216
Einheitsfront und Krieg
383 1.6.1936 [Juni 1936?] Walter Ulbricht: Zur Taktik des trojanischen Pferdes 1220
384 [Moskau], 02.7.1936 Brief des Leiters der Kaderabteilung des EKKI, Moisej 1223
Černomordik, an Dimitrov mit angeblichen Beweisen gegen
Werner Hirsch
385 Moskau, 27.7.1936 Brief Piecks an die operative Leitung der KPD zur internationalen 1226
Lage und den Verhaftungen von deutschen Kommunisten in der
Sowjetunion
386 Moskau, 1.8.1936 Briefentwurf des Sekretariats der Komintern an die NKVD-Führung 1231
über eine „konterrevolutionär-terroristische Gruppe von
KPD-Mitgliedern“
387 Moskau, 23.8.1936 Brief Piecks an Wilhelm Florin zum Ergebnis des Moskauer 1234
Prozesses und der „verbrecherischen Tätigkeit“ von
KPD-Mitgliedern
388 Moskau, 25.8.1936 Beschluss des Kominternpräsidiums und der Internationalen 1238
Kontrollkommission zur Verschärfung der Parteidisziplin
Verzeichnis der Dokumente 33
389 [Moskau?], 31.8.1936 Brief Heinz Neumanns an Dimitrov zu offensichtlichen Falsch- 1240
meldungen in der französischen Presse
391 Moskau, 2.9.1936 Biographische Profile über „Trotzkisten und andere feindliche 1244
Elemente in der Emigrantengemeinschaft der deutschen KP“:
Memorandum der Kaderabteilung der Komintern
392 [Moskau], 18.9.1936 Alfred Kurella über die „literarische Tätigkeit“ nach seiner 1273
Entfernung aus der Kominternarbeit
393 Moskau, 29.9.1936 Beschluss des sowjetischen Politbüros zur Stigmatisierung 1277
ehemaliger Oppositioneller als „Spione, Diversanten und
Schädlinge der faschistischen Bourgeoisie“
394 Moskau, 1.10.1936 Vermerk Dimitrovs an Togliatti über „sofortige Maßnahmen“ 1278
für die bestmögliche Erkundung der tatsächlichen Lage in
Deutschland
395 [Moskau?], 1.10.1936 Instruktion Dimitrovs zur Propaganda für die neue stalinsche 1279
Verfassung der UdSSR
395a 15. Oktober 1936 „Reichen wir einander brüderlich die Hände zur Versöhnung 1281
zur Versöhnung des deutschen Volkes“ – Aufruf des Zentral-
komitees der KPD.
396 Paris, 17.12.1936 Bohumír Šmeral über seinen Komintern-Auftrag in Paris zur 1290
Abwicklung der Münzenberg-Verlage und Organisationen
1937
397 Moskau, 8.1.1937 Aus der Mitschrift des Gesprächs Stalins mit Lion Feuchtwanger 1292
über die Sowjetunion und die laufenden Schauprozesse
398 [Moskau], 9.1.1937 Brief von Johannes R. Becher und Sándor Barta an den Sekretär 1296
des sowjetischen Schriftstellerverbands über das drohende
Ende der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der
Sowjetunion
399 Saratov, 18.1.1937 Mitteilung des Gebietssekretärs von Saratov an Stalin über eine 1300
von Willy Leow geführte „konterrevolutionäre trotzkistische
Organisation“ von Russlanddeutschen und KPD-Emigranten
400 Moskau, 22.1.1937 Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion zur 1303
Planung des Zweiten Moskauer Schauprozesses gegen Pjatakov,
Radek, Sokolʼnikov, Serebrjakov u.a.
401 Moskau, 24.1.1937 Materialien der Kaderabteilung des EKKI (Mertens, Müller) über 1305
die Situation der deutschen Politemigration in der Sowjetunion
402 Moskau, 25.1.1937 Materialen des zuständigen Komintern-Sekretärs Togliatti zur 1315
deutschen Frage und zur neuen Versöhnungspolitik der KPD
403 [Beim Verlassen der Telegrafischer Gruß Lion Feuchtwangers an Stalin bei seiner 1324
Sowjetunion, 6.2.1937] Ausreise aus der Sowjetunion
403a Moskau, 8.–11.2.1937 „Ihr alle dort in der Komintern arbeitet dem Feind in die Hände...“ 1325
Stalins Drohung als Tagebuchnotiz Dimitrovs
403b Moskau, 9.2.1937 Stenographische Diskussionsbeiträge in der Kommission zur 1327
deutschen Frage des Komintern-Sekretariats
403c Moskau, 9.2.1937 Fragenkatalog von Komintern-Sekretär Togliatti zur Situation in 1328
der KPD
403d Moskau, 11.2.1937. Wilhelm Pieck über den Kampf gegen Hitler, den Charakter der 1329
deutschen Bourgeoisie und die Kader in Deutschland
403e Moskau, 11.2.1937 Aus den Stenogrammen der Kommission zur deutschen Frage: 1334
Redebeitrag Dimitrovs
403f Moskau, 20.2.1937 Redebeitrag Dimitrovs über den neuen Typus der Volksdemokratie 1344
für Deutschland
34 Verzeichnis der Dokumente
404 Moskau, vor dem Resolution des Komintern-Sekretariats zu den nächsten Aufgaben 1346
17.3.1937 der KPD, dem Kampf gegen Faschismus und Trotzkismus als
„Hauptkriegstreiber“
411 Moskau, 15.3.1937 Beschluss des Sekretariats zum Aufkauf der Pariser Tageszeitung 1353
durch die Komintern bzw. die KPD
412 Moskau, 24.4.1937 Brief Samuel Glesels („Gles“) an den Sekretär des Verbands der 1356
Sowjetschriftsteller zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen
413 Moskau, Anfang Instruktion des NKVD (Aleksandr Minaev) zur Verhaftung der 1358
Mai 1937 deutschen Kommunisten Max Richter, Heinrich Kurella, Fritz
Schulte, Hermann Remmele und Kurt Sauerland
414 Moskau, 15.[21.?]5.1937 Das Komintern-Präsidium zur Bekämpfung von Trotzkisten als 1361
„schuftiger, prinzipienloser Bande von Spionen, Diversanten,
Terroristen und Schädlingen“
414a Moskau, 23.5.1937 Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion über die 1366
Verbannung aller Oppositioneller in „nichtindustrielle“ Bezirke
415 Moskau, 1.6.1937 Einladungsliste und Bewertungen der zum Revolutionsjubiläum 1368
nach Moskau eingeladenen Schriftsteller
416 Moskau 5.7.1937 Beschluss des EKKI-Sekretariats zur erneuten Wiederbelebung 1378
der Befreiungskampagne für Ernst Thälmann
417 [Paris], 14.7.1937 Brief Wili Münzenbergs an Stalin über das verschwörerische 1381
Vorgehen Ulbrichts
418 Moskau, 25.7.1937 Operativer Befehl des sowjetischen Volkskommissars für innere 1386
Angelegenheiten über Spionage- und Diversionstätigkeit
seitens des deutschen Generalstabs und der Gestapo in der
Sowjetunion
419 [Paris?], 31.7.1937 Rundschreiben des Auslandssekretariats der KPD über die 1388
[Ende Juli 1937] „Wühlarbeit“ der „Banditen und Verräter“ in Deutschland,
Spanien ...
420 Moskau, 1.8.1937 Beschluss des Kominternsekretariats über die Aufbewahrung 1393
[August 1937] ausländischer Zeitungen im Kominterngebäude
422 [Moskau?], 21.8.1937 Brief Dimitrovs an Stalin über angeblich defätistische 1394
Stimmungen bei Thälmann im Gefängnis
423 Moskau, 23.8.1937 Protokoll der der Internationalen Kontrollkommission der 1396
Komintern zum leichtfertigen intimen Umgang von Leo Flieg u.a.
423a [Paris], September 1937 Erklärung der Berliner Opposition der KPD an die KPD-Führung 1398
424 O.O., September 1937 „Leidenschaftlicher Protest gegen die politischen und 1399
moralischen Auffassungen der Bürokratie“: Der Offene Brief der
„Berliner Opposition“ an die Mitglieder der KPD
425 O.O. [Paris], 8.10.1937 Telegramm Willi Münzenbergs an Dimitrov zu seiner geplanten 1405
Moskaureise
426 Moskau, 10.10.1937 Alarmbrief der Kominternführung an das ZK der VKP(b) über 1406
Handlungsunfähigkeit der Komintern infolge des Terrors
427 [Moskau], 10.10.1937 Ultimative Aufforderung Georgi Dimitrovs an Willi Münzenberg, 1407
sofort nach Moskau zu kommen
428 [Moskau], 11.10.1937 Anfrage Dimitrovs an den NKVD-Vorsitzenden Nikolaj Ežov zur 1408
Überlassung der Archive der zwischenzeitlich verurteilten
Sinowjew, Radek, Kun u.a.
429 O.O. [Paris], 29.10.1937 „Vielleicht ist alles entsetzliches Mißverständnis“: Brief Willi 1410
Münzenbergs an Dimitrov
430 Moskau, „Jeden werden wir erbarmungslos vernichten“: Trinkspruch 1414
Bolschoi-Theater, Stalins für die Auslöschung aller „Feinde des Staates“, ihrer
7.11.1937 Familien und Angehörigen
Verzeichnis der Dokumente 35
1938
431 Moskau, 31.1.1938 Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion zur 1416
Fortführung der blutigen Säuberungen unter nationalen
Gruppen, Ausländern wie auch Sowjetbürgern
432 Moskau, 31.1.1938 Memorandum des Sekretariats des ZK der KPD über die „partei-, 1418
einheits- und volksfrontfeindliche Tätigkeit“ Willi Münzenbergs
433 O.O., 4.3.1938 Meinungen und Stimmungen von KPD-Mitgliedern und antifa- 1424
schistischen Arbeitern. Aus dem Deutschen Reich
434 O.O.u.o.D., [nach dem Rechtfertigungsbericht von Jules Humbert-Droz über seine 1430
19.3.1938] Beziehungen zur „Gruppe der Rechten und der Versöhnler‘“
435 [Moskau], 20.3.1938 Anweisungen der Komintern an Bohumir Šmeral zur Liquidierung 1435
der antifaschistischen Münzenberg-Verlage und Netzwerke
436 [Moskau?], 28.3.1938 „Demoralisierung“ und „Gefühl völliger Hilflosigkeit“: Eugen 1440
Vargas Brief an Stalin über Massenverhaftungen von Politemi-
granten und den Ausländerhass in der Sowjetunion
437 Vor dem 23.4.1938 Bitte Piecks an Dimitrov, sich für die Freilassung von fünfzehn 1443
verhafteten deutschen Kommunisten einzusetzen
438 [Moskau], 26.4.1938 „Jeder im Ausland lebende Deutsche ein Gestapo-Agent“: Brief 1445
von Dimitrov an Andrej Ždanov gegen die ausländerfeindlichen
Hetze im Journal de Moscou
439 Moskau, 29.4.1938 Bericht von Paul Jäkel („Dietrich“) über die Verhaftungen der 1446
KPD-Emigranten in der Sowjetunion
440 [Moskau?], 17.5.1938 Brief Piecks an Dimitrov zur Kürzung der Finanzmittel für die KPD 1454
durch die Komintern
441 Moskau, 21.5.1938 Beschluss der Komintern zum Bericht der KPD und zur Kritik an 1455
der Arbeit der Parteiführung im Lande
442 Moskau, 1.7.1938 Brief Ulbrichts an Dimitrov über die Tätigkeit der Internationalen 1458
Roten Hilfe, nachdem „jetzt weniger deutsche Genossen in
Moskau zu betreuen sind“
442a O.O. [Paris?], 30.8.1938 Rekursbrief Münzenbergs an Dimitrov gegen seinen 1460
KPD-Ausschluss und die „Verschwörung“ Ulbrichts
443 [Paris], 15.12.1938 Telegramm Münzenbergs an Dimitrov: Für volle Einsicht in die 1475
gegen ihn gerichteten Anklagen und Diffamierungen
443a O.O. u. o.D. [Aus dem Grußbotschaft deutscher Spanienkämpfer an ihre Angehörigen in 1477
Internierungslager, der Sowjetunion zum Neujahrsfest
Ende 1938]
1939
444 Moskau, 8.1.1939 Der Sekretär der Internationalen Kontrollkommission an Dimitrov 1479
zum Schicksal von Anna Etterer und Franz Huber
446 [Moskau], 10.2.1939 Brief Ulbrichts an die Internationale Kontrollkommission der 1482
Komintern zum Parteiausschluss Willi Münzenbergs
447 [Moskau?], 11.4.1939 Schreiben Wilhelm Piecks an den Vorsitzenden des Schriftsteller- 1493
verbands, über den Verlag „10. Mai“ und den Wunsch Heinrich
Manns, in die Sowjetunion überzusiedeln
448 14.4.1939 Schreiben Bohumir Šmerals an Dimitrov über Briefe von Thälmann 1495
und Barbusse und weitere Archivmaterialien der Komintern
449 O.O. u. o.D. [Moskau, Stellungnahme der KPD-Vertretung in der Komintern an den 1497
nach dem 23.4.1939] sowjetischen Schriftstellerverband über eine Broschüre Emil
Ludwigs gegen den drohenden Krieg
36 Verzeichnis der Dokumente
450 Moskau, 16.6.1939. Urteil der Internationalen Kontrollkommission der Komintern über 1499
die Beschwerde des deutschen Schriftstellers Emil Ludwig
451 [Moskau], 15.6.1939 Vorschläge Ulbrichts an die Komintern gegen die NS-Propaganda 1501
über den angeblichen Terror gegen Deutsche in Polen
451b [Moskau, Juli 1939] Willi Bredel über die Einschränkungen der antifaschistischen 1502
Verlage im Westen und die Folgen für die deutsche Exilliteratur
452 Moskau, 2.7.1939 „Starrheit, bürokratische Tendenzen, Kommandeur-Methoden, 1510
krankhafter Ehrgeiz (...) bei Genossen Ulbricht“: Wilhelm Florins
Bemerkungen an die Kaderabteilung der Komintern
453 Moskau, 17.6.1939 Stellungnahme der Internationalen Kontrollkommission der 1515
Komintern zu den Anschuldigungen gegen Ulbricht
454 Nizza, 15.7.1939 Brief Heinrich Manns an den Sekretär des Schriftsteller- 1516
verbandes, Michail Apletin, zur Sympathiebekundung an die
Sowjetunion und seine Honorare
455 [Berlin], 2.8.1939 Aufzeichnungen des sowjetischen Gesandten in Berlin, Georgij 1519
Astachov, über seine Gespräche mit Ernst von Weizsäcker und
Außenminister Ribbentrop
471 [Moskau], 30.12.1939 Politische Plattform der KPD als Ergebnis der Beratungen der 1584
deutschen Kommission der Komintern in Moskau
1940
473 [Moskau], 17.2.1940 Schreiben der sowjetischen Militäraufklärung an Dimitrov über 1594
die Unterstützung von Rosa Thälmann und die Treue ihres
Mannes zur Sowjetunion
474 [Moskau], 28.2.1940 Beschluss der „Mitglieder des ZK der KPD“ zur Parteitätigkeit im 1596
(Datum des Ausland
Begleitbriefs)
475 [Moskau], 16.4.1940 Chiffretelegramm an die Komintern-Funkstelle Brüssel für die 1600
Kader der KPD und der KP Österreichs in Belgien und Frankreich
476 [Moskau], 6.6.1940 Deklaration der KPD zum Vormarsch Hitlers in Westeuropa 1601
477 Moskau, 10.6.1940 Fragen Dimitrovs und Manuilskis an Stalin zu den politischen 1605
Losungen der KPD
478 [Paris], 20.6.1940 Argumentationshilfe der Führung der KP Frankreichs zur Kontakt- 1606
aufnahme mit den deutschen Besatzungsbehörden in Paris
479 [Moskau], [23.6.1940] Vorschläge der Komintern zur Einrichtung einer Telegrafenagentur 1609
in den baltischen Ländern
480 [Stockholm], 22.8.1940 Chiffretelegramm von Sven Harald Linderot an Dimitrov über die 1612
Verhaftungswelle deutscher Emigranten in Dänemark
481 Moskau, 3.9.1940 Chiffretelegramm der Komintern an die Funkstelle Amsterdam für 1613
die KPD
482 Le Vernet, 25.9.1940 Brief von Franz Dahlem aus dem Internierungslager Le Vernet 1614
1941
483 [Moskau], 27.1.1941 Note Ulbrichts zur Lage der deutschen Politemigranten in der 1621
Sowjetunion
484 [Moskau], Ende Januar Beschluss des Sekretariats zum Budget der Komintern für das 1624
1941 Jahr 1941
485 [Moskau], 28.2.1941 Brief Ulbrichts an Dimitrov über angebliche antisowjetische 1626
Aktivitäten der Frauen verhafteter deutscher Kommunisten
486 [Moskau], 7.3.1941 Referat Dimitrovs im Sekretariat des EKKI über die italienisch- 1630
deutsche Frage und die Perspektiven einer europäischen
Revolution
487 [Moskau], [19.3.1941] Notizen Ulbrichts zur Diskussion im Kominternorgan Die Welt 1632
über „Arbeiterklasse und Nation“
488 [Moskau], 19.3.1941 Notizen Wilhelm Piecks über die Ankunft von Else und Friedrich 1635
Wolf und die mögliche Hilfe für die in Frankreich internierten
Kommunisten
489 Moskau, 10.4.1941 Brief von Johannes R. Becher, Willi Bredel, Erich Weinert und 1638
Georg Lukács an Dimitrov über den die Einschränkung der
Veröffentlichungsmöglichkeiten
489a [Moskau], 20.4.1941 Weisung Stalins zur Auflösung der Komintern 1639
490 [Moskau], 22.6.1941 Direktive Dimitrovs und Piecks an Wehner zum Angriff 1642
Deutschlands auf die Sowjetunion
491 [Moskau], 25.6.1941 Telegramm von Maurice Thorez und André Marty an Jacques 1643
Duclos über die Taktik der KP Frankreichs unter der deutschen
Besetzung
492 [Moskau], 1.7.1941 Anweisung Dimitrovs zur sofortigen Entsendung von KPD-Kadern 1645
nach Deutschland
38 Verzeichnis der Dokumente
493 [Moskau], 1.7.1941 Brief Dimitrovs an Molotov und Berija zum Einsatz hinter den 1646
feindlichen Linien und den nationalen Radioübertragungen
494 [Moskau], 11.7.1941 Brief Dimitrovs an Berija über die Bildung illegaler Partei- oder 1647
Partisanengruppen für Deutschland und andere Länder
495 O.O., Ende Juli 1941 Fingierter Brief der Komintern: „Offener Brief an die deutschen 1650
Offiziere“
496 [Moskau], 6.8.1941 Bitte Dimitrovs an Georgij Malenkov um Aufstockung der Mittel 1653
für die telegraphische Kommunikation der Komintern
497 [Moskau], 15.8.1941 Vorschläge Manuilskis an Berija und Lev Mechlis zur verschärften 1654
Behandlung deutscher Kriegsgefangener
498 [Ufa], 21.8.1941 Beschlüsse der Komintern zur Kriegsgefangenenarbeit 1657
499 [Moskau], 14.10.1941 Begleitschreiben Dimitrovs an Molotov zum Aufruf des ZK der KPD 1658
„An das deutsche Volk und die deutsche Armee“
500 [Ufa], 31.10.1941 Brief Dimitrovs an Stalin mit dem Vorschlag, die Komintern nicht 1659
mehr offen in Erscheinung treten zu lassen
501 Moskau, 30.12.1941 Brief des Leiters, des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes, 1660
Pavel Fitins, an Dimitrov über den erfolgreichen Vollzug des
Geldtransfers für die KPD in Stockholm
1942
502 [Ufa], 9.1.1942 Beschluss der Komintern für eine Kampagne gegen die 1662
Gräueltaten der Wehrmacht in der Sowjetunion
503 [Ufa], 10.1.1942 Beschluss der Komintern zur Ausrichtung der Radiopropaganda 1663
gegenüber Deutschland
504 [Moskau], 23.1.1942 Brief des Komintern-Verlagsleiters Konstantin Kasradze an 1666
Dimitrov über Flugblattpropaganda und antifaschistische
Literatur
505 [Moskau], 6.3.1942 Mitteilung Grigorij Sorkins an Dimitrov über die Verhaftung von 1669
Herbert Wehner
506 [Moskau], 18.4.1942 Beschluss der Komintern über die Kampagne zum 1 Mai 1942 1670
507 [Moskau], 1.5.1942 Beschluss der Komintern zur weiteren Anti-Hitler-Propaganda der 1675
KPD
508 [Moskau], 15.5.1942 Gesuch Walter Ulbrichts an die Kaderabteilung der Komintern zur 1676
Befreiung von KPD-Mitgliedern aus sowjetischen Arbeitslagern
509 [Moskau], 24.5.1942 Internes Bulletin des EKKI zur Information über die Lage der KPD 1678
in Deutschland
510 [Moskau], 5.6.1942 Beschluss der Komintern zur Situation in Deutschland aus Anlass 1680
der Bombardierungen deutscher Städte und zum tschechischen
Widerstand
511 [Ufa], 7.6.1942 Beschluss der Komintern zur Neuausrichtung der Propaganda 1683
nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive
512 [Moskau], 11.6.1942 Brief Manuilskis an Stalin zur nichtöffentlichen Würdigung des 1685
60. Geburtstags Dimitrovs
513 [Moskau], 15.6.1942 Brief Wilhelm Piecks an Dimitrov über Beanstandungen an den 1686
deutschen Sendungen des INO-Radios
514 [Moskau], 13.8.1942 Bericht über eine gemeinsame Sitzung des EKKI-Sekretariats mit 1688
den nationalen Radioredaktionen
515 [Moskau], 25.8.1942 Beschluss der Komintern über die Antifa-Schulen 1692
516 [Moskau], 1.9.1942 Schreiben Dimitrovs an Pantelejmon Ponomarenko über die 1695
Bestellung von Sprengstoff und Zubehör für die Komintern
Verzeichnis der Dokumente 39
517 [Moskau], 18.9.1942 Aus einem Bericht Bedřich Geminders an Dimitrov über 1696
die Behandlung der Sabotagethematik in den deutschen
Komintern-Sendern
518 [Moskau], 15.12.1942 Zur Kritik der Komintern an der Arbeit der verantwortlichen 1698
deutschen Kommunisten
1943
519 [Moskau], 13.1.1943 Brief von Wilhelm Pieck an „Willi Keller“ über Deutschlands 1701
Zukunft und die Aufgaben der KPD
520 [Moskau], 10.2.1943 Beschluss der Komintern über die Propagandaaufgaben nach der 1705
Schlacht von Stalingrad und zu den siegreichen Vorstößen der
Roten Armee
521 [Moskau], [18.2.1943] Beschwerde der Zeitschriftenabteilung an die Agtprop-Verwaltung 1709
des ZK der VKP(b) über das Zentralorgan der Kommunistischen
Internationale
522 [Moskau], 21.5.1943 Stalins Begründung für die Auflösung der Komintern nach den 1712
Aufzeichnungen Dimitrovs
522a Moskau, 22.5.1943 „Vorschlag“ des Komintern-Präsidiums zur Auflösung der 1714
Kommunistischen Internationale
523 Moskau, 24.5.1943 Brief des „Zentralkomitees der KPD“ (Wilhelm Pieck, Wilhelm 1718
Florin, Walter Ulbricht, Anton Ackermann und Elly Schmidt) an
das Präsidium des EKKI zur Auflösung der Komintern
524 Kasan, 26.5.1943 Brief Bruno Köhlers an Dimitrov über die Arbeit beim Propagan- 1722
darundfunk der Roten Armee
Teil 1: 1918–1923
Deutschland und Sowjetrussland als Protagonisten
der europäischen Revolution: Idee und Wirklichkeit
Die ersten fünf Jahre der Komintern — bis zum
Scheitern des „Deutschen Oktober“
1917/18
Dok. 1a
Erlass des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare (Lenin) und
des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten (Trotzki)
zur Unterstützung des linken, internationalistischen Flügels der
Arbeiterbewegung
Moskau, 11.(24.).12.1917
Typoskript in russischer Sprache, veröffentlicht u.a. in: Pravda, 12.12.1917. Ins Deutsche übertragen
von Ruth Stoljarowa in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1998), Nr. 4, S. 75, nach:
Dekrety Oktjabrʼskoj revoljucii, Bd. I, Moskva, 1933, S. 280f.
Erlaß1
Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Sowjetmacht auf dem Boden der Prin-
zipien der internationalen Solidarität des Proletariats und der Brüderlichkeit der
Werktätigen aller Länder steht, daß der Kampf gegen Krieg und Imperialismus nur im
internationalen Maßstab zum vollen Sieg führen kann, erachtet es der Rat der Volks-
kommissare für erforderlich, dem linken, internationalistischen Flügel der Arbeiter-
bewegung aller Länder mit allen notwendigen, darunter auch finanziellen, Mitteln zu
Hilfe zu kommen, völlig unabhängig davon, ob diese Länder mit Rußland im Krieg
stehen, ob sie mit ihm verbündet sind oder eine neutrale Stellung einnehmen.
Zu diesem Zweck beschließt der Rat der Volkskommissare den Auslandsvertretern
des Kommissariats für auswärtige Angelegenheiten zwei Millionen Rubel für die Erfor-
dernisse der internationalistischen revolutionären Bewegung zur Verfügung zu stellen.
Der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare V. Uľjanov (Lenin).
Der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten Trotzki.2
Der Leiter der Geschäftsstelle des Rats der Volkskommissare Vlad. Bonč-Brujevič
Der Sekretär des Rats N. Gorbunov
1 Das Dokument wurde, nachdem es in der Nacht vom 9. zum 10. (22. zum 23.) 12.1917 als Tagesordnungs-
punkt der Sitzung des Rats der Volkskommissare behandelt worden war (siehe V.I. Lenin. Biografičeskaja
chronika, Bd. 5, Moskva 1974, S. 121), am 11.(24.)12.1917 verabschiedet und am folgenden Tag in den Zeitun-
gen „Gazeta“, „Izvestija“ und „Pravda“ sowie kurze Zeit später in Nr. 8 der Gesetzessammlung „Sobranie
Uzakonenij“ veröffentlicht. Es trägt die Nr. 2525 des Archivs des Rats der Volkskommissare und enthält
folgende Randbemerkungen des Sekretärs des Rats der Volkskommissare N.P. Gorbunov: „Zum Protokoll
vom 9.XII.17. Original bei Genossen Trotzki. Diese Kopie an mich zurück. Zur Veröffentlichung. An die PTA
[Petrograder Telegrafenagentur].“ Am 12.(25.)12.1917 wurde es aus Carskoe Selo abgesandt und von der
deutschen Funkstation in Brest-Litovsk aufgefangen. Von dort wurde es am 26.12.1917 in deutschsprachi-
ger Fassung an den Reichskanzler Graf von Hertling weitergeleitet (siehe Bundesarchiv Berlin-Lichterfel-
de, 0901 Auswärtiges Amt, Bestand: Film, Nr. 939, Bl. 820343–820344). Die Übersetzung sowie die Anmer-
kung stammt von Ruth Stoljarowa und wird mit ihrer freundlichen Erlaubnis abgedruckt.
2 Die Veröffentlichung in der Zeitung Izvestija schließt an dieser Stelle ab.
44 1918–1923
Dok. 1b
Brief des sowjetrussischen Vertreters in Deutschland, Adolʼf Ioffe,
an Lenin über die Unfähigkeit der deutschen Linkssozialisten zur
Revolution
Berlin, 5.9.1918
Berlin 5/IX
Die Unruhen in den [deutschen] Streitkräften werden nicht durch Gewalt, sondern mit
Überzeugungskraft und Nachgiebigkeit unterdrückt.4 Das schlimme dabei ist, dass je
klüger und entschlossener die deutsche Regierung ist, umso zögerlicher und buchstäb-
lich dümmer die hiesigen „revolutionären“ (in Anführungszeichen) Parteien sind. Ein
charakteristisches Beispiel ist der Streik in den Kohlebergwerken.5 Sie wissen selbstver-
ständlich, dass es beinahe ein Generalstreik war und dabei ausschließlich wirtschaftliche
Forderungen aufgestellt wurden (die auch erfüllt wurden), jedoch hat niemand auch nur
versucht, diesem Streik eine politische Färbung zu verpassen. Sowohl von den Spartakus-
leuten6 als auch von den Unabhängigen7 wurde absolut nichts in diese Richtung getan,
3 Adolʼf A. Ioffe (1883–1927), russischer Arzt und Revolutionär, einer der Verhandlungsführer in
Brest-Litowsk, war von April bis November 1918 sowjetrussischer Vertreter in Deutschland. Im No-
vember 1918 wurde er u.a. wegen finanzieller Unterstützung der deutschen Linken von der Reichs-
regierung ausgewiesen. In den 1920er Jahren nahm er diverse diplomatische Tätigkeiten wahr. Als
Anhänger Trotzkis und Gegner Stalins beging er im November 1927 aus Protest gegen Trotzkis Verban-
nung Selbstmord. Siehe Dok. 5 mit weiteren Angaben.
4 Bereits im August 1918 ging das Große Hauptquartier davon aus, dass Deutschland und Österreich-
Ungarn den Krieg verlieren würden. Die Verbitterung über die hohe Anzahl der Toten und Kriegs-
versehrten (ca. 1,5 Millionen) bei 6 Millionen Soldaten und 800.000 Kriegsgefangenen führten im
Verbund mit den sozialen Missständen zu Protesten in den Streitkräften, begleitet von spontanen
Demonstrationen auch der Frauen vor den Kasernen.
5 Nach Unruhen in Sachsen und einer neuen Streikwelle im Ruhrgebiet mit Lebensmittelkrawal-
len riefen am 9.9.1918 die Militärbehörden den Belagerungszustand über das oberschlesische Revier
gegen Streiks und „bolschewistische Unruhen“ aus. Bis Oktober wurden ca. 1800 Personen durch
Militärgerichte abgeurteilt.
6 Bis zur Gründung der KPD wirkte der aus der Gruppe Internationale (1915) hervorgegangene Spar-
takusbund mit Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht als linker Parteiflügel innerhalb
der USPD.
7 Gemeint ist die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), gegründet in
Gotha am 6.4.1917 durch den pazifistischen linken SPD-Flügel um Hugo Haase gegen eine Verlänge-
rung des Weltkriegs, die annexionistische Kriegszielpolitik und die Burgfriedenspolitik der SPD. Zu
ihren bekannten Mitgliedern gehörten neben Haase Wilhelm Dittmann, Karl Kautsky, Wilhelm Barth,
Ernst Toller, Kurt Eisner und Franz Mehring.
Dok. 1b: Berlin, 5.9.1918 45
obwohl ich persönlich hundertfach mit den Genossen8 darüber geredet und ihnen alle
mögliche Hilfe angeboten habe. Jetzt haben wir beschlossen, in diesem Bezirk eine Abtei-
lung der P[etrograder]T[elegraphen-]A[gentur] (durch die wir hier die ganze Information
leiten)9 einzurichten und das dortige Unabhängigenblättchen zu unterstützen, sowie
zusätzlich eine Wochenzeitschrift herauszubringen. Sie liegen falsch, wenn Sie denken,
dass mir das Geld zu schade ist; ich gebe ihnen soviel, wie nötig ist, und bestehe ständig
darauf, dass sie mehr nehmen, aber was soll man machen, wenn die Deutschen so hoff-
nungslos sind: zur illegalen und im unseren Sinne revolutionären Arbeit sind sie einfach
unfähig, denn größtenteils sind sie politische Spießbürger, die sich einrichten, um dem
Militärdienst zu entgehen, sich an dieser Position festkrallen, der Revolution jedoch nur
mit dem Mundwerk bei einem Krug Bier frönen. Als revolutionäre Partei sind die Unab-
hängigen völlig hoffnungslos und untauglich; die Besten von ihnen, wie Ledebour,10
sind Parlamentarier par excellence, und wollen nichts anderes erkennen und verstehen;
die Spartakusleute fürchten Verhaftungen, sind hauptsächlich jung (wenn nicht unbe-
dingt an Jahren, so doch an revolutionärer Erfahrung), sie können nur unter Anleitung
arbeiten und haben auch tatsächlich gearbeitet, als Tyszka [d.i. Leo Jogiches]11 noch da
war, und sie bilden sich ein, dass wenn sie alle Schaltjahre einmal einen Proklamations-
wisch [proklamašku] herausbringen (den sie übrigens nicht einmal ordentlich verteilen
können), dass dies sogar schon ein Übermaß revolutionärer Umtriebe sei.
Dagegen verstehen Menschen wie Zetkin und Mehring12 vortrefflich den Sinn und die
Bedeutung der russischen Revolution und sind ganz bei uns, sie sind jedoch zu alt und
krank, und können nicht viel ausrichten, und sogar Genossen wie Rühle13 sind aufrichtig
davon überzeugt, dass man mit dem deutschen Arbeiter jetzt nichts ausrichten könnte
und man „abwarten“ müsse. – Ich habe Ihnen zwei Artikel von C. Zetkin geschickt, die
8 „den Genossen“: Im russischen Original „Genossʼami“, „Genoss“ in lateinischer Schrift. Bis zum
Ausbruch der Revolution im November appellierte die USPD ständig an die Arbeiter „ihre Interessen
selbst in die Hand zu nehmen“, doch sie hatte keine Theorie entwickelt, „aus der ein bestimmtes
Handeln abzuleiten gewesen wäre. Sie wusste nicht, wie die sozialistische Gesellschaft in der Praxis
zu erreichen war.“ (Hartfrid Krause: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands, Frankfurt am Main, 1975, S.113).
9 Russisch: pod firmoj kotorogo my zdesʼ vedem vedem [sic] vsju informaciju. PTA (Petrograder Telegra-
phen-Agentur): Russische staatliche Telegraphenagentur seit 1914, wurde 1918 in ROSTA umbenannt.
10 Der Journalist und Reichstagsabgeordnete Georg Ledebour (1850–1947) gehörte dem USPD-
Vorstand sowie seit 1918 den revolutionären Obleuten an.
11 Leo Jogiches (1867–1919), polnisch-litauischer Sozialist, engster Mitarbeiter und zeitweiser Le-
bensgefährte von Rosa Luxemburg, war Mitbegründer des Spartakusbundes und der KPD.
12 Clara Zetkin (1854–1933), seit 1874 in der Arbeiterbewegung und beste Freundin Rosa Luxemburgs,
spielte weiterhin noch eine wichtige Rolle als Frauenrechtlerin und Politikerin in KPD und Komintern.
Franz Mehring, geb. 1846, Publizist und herausragender marxistischer Historiker, u.a. der Sozialde-
mokratie und der Arbeiterbewegung. Verstarb am 28. Januar 1919.
13 Otto Rühle (1874–1943), sozialdemokratischer, später kommunistischer, rätekommunistischer
und anarchistischer Intellektueller. Seine psychologischen und pädagogischen Schriften standen wie
bei Manès Sperber und Wilhelm Reich für eine linke Symbiose von Marxismus und Psychologie.
46 1918–1923
leider nicht in der Presse erschienen sind. Nun schicke ich noch zwei, sowie ihr Brieflein
an mich. Ich nehme an, dass es notwendig wäre, sie wenigstens in Auszügen bei uns zu
veröffentlichen: 1) wäre es wichtig für unsere verantwortungsbewussteren Genossen, und
2) würde sich das Mütterchen [staruška] freuen, dass sie für uns nützlich sein kann. Sie ist
wirklich eine Prachtfrau [molodčina], und obwohl sie am schlechtesten von allen infor-
miert ist, versteht sie alles besser als all die anderen, denen hier jeder Bissen zerkaut und
in den Mund gelegt werden muss; sie hat sogar die Notwendigkeit unserer zeitweiligen
Annäherung an die deutsche Regierung von sich aus,14 ohne Erklärungen meinerseits,
verstanden, während die hiesigen revolutionären Spießbürger sich darüber „fürchter-
lich“ empören und überaus traurig über diese unsere „Annäherung“ sind.
Das ZK der Unabhängigen und vor allem die Elemente, die uns am nächsten stehen,
haben schon vor längerer Zeit beschlossen, eine Konferenz zu den russischen Angele-
genheiten unter Anwesenheit der Redakteure ihrer Zeitungen und anderer einflussreicher
Genossen abzuhalten. Diese Konferenz wurde auf den 11. Sept[ember] angesetzt, und sie
haben darum gebeten, zu diesem Anlass einen unserer Genossen herzuschicken, der
einen Vortrag über unsere Angelegenheiten halten soll. Die mit unseren Gegnern sympa-
thisierenden Kräfte haben daraufhin A. Štejn (Rubinštejn), einen [...] und dummen Mar-
tov-Anhänger,15 als Koreferenten aufgestellt;16 Sokolʼnikov hat zugesagt, dass zu diesem
Datum ein Vertreter unseres ZK hierhin kommen wird, doch anscheinend hat er nichts
getan, denn heute ist der 5., die Deutschen machen sich Sorgen, und ich weiß auch nicht,
ob jemand kommt, und falls ja, dann wer. Ich selbst werde dort nicht auftreten können,
denn dies würde meine Beziehungen zur Regierung verderben, und außer mir kann es
von unseren Leuten hier keiner mit Štejn aufnehmen. Es ist unerlässlich, jemanden zum
11. hierhin zu schicken. Ich hoffe, Sie erledigen das. [...]
14 Nach der beträchtlichen finanziellen Unterstützung der Oktoberrevolution durch die deutsche
Regierung war Lenins Politik auf eine „zielstrebige Verklammerung der Potenziale Deutschlands
und Russlands“ gerichtet. Lenins „kaltblütige Nutzung der maßlosen Ambitionen des preußisch-
deutschen Imperialismus für die Umwandlung des Weltkriegs in einen Weltbürgerkrieg ist – so der
Historiker Gerd Koenen – in ihrer herostratischen Kühnheit noch kaum wirklich gewürdigt worden“
(Gerd Koenen: Der deutsch-russische Nexus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 44, 29.10.2007).
15 Julij Martov (1873–1923) war Führer der Menschewiki. Wort nach „einen“ unleserlich.
16 Der menschewistische Publizist Aleksandr N. Rubinštejn (Ps. Alexander Stein, 1881–1948), floh,
aus Lettland stammend, 1906 mit seiner Familie nach Berlin. Er war 1917–1922 Mitglied der USPD. 1919
verfasste er die Broschüre: Das Problem der Internationale mit als Anhang den Resolutionen und
Richtlinien der zweiten und dritten Internationale, Berlin, Verlag „Freiheit“, 1919.
17 Am 30.8.1918 wurde Lenin bei einem Attentat durch Schüsse in Hals und Schulter verletzt. Die
ehemalige Anarchistin Fanni Kaplan, die von den sowjetischen Organen den Sozialrevolutionären
zugerechnet wurde, gilt als unmittelbare Ausführende des Attentats, das sie als Einzeltäterin gestand.
Kaplan wurde am 3.9.1918 nach einer internen Tscheka-Untersuchung ohne ordentliches Gerichtsver-
fahren im Kreml erschossen, ihre Leiche wurde verbrannt. An der Urheberschaft des Anschlags beste-
hen bis heute Zweifel, wobei die Versionen von einer Einzeltat über eine sozialrevolutionäre Verschwö-
Dok. 2: [Berlin], 16.9.1918 47
Dok. 2
Bericht des Emissärs Pēteris Stučka an Lenin über die
Reichskonferenz der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands (USPD) und die schwierige Beziehung zu den
Bolschewiki
[Berlin], 16.9.1918
Autograph in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 5/3/255, 1–3. Erstveröffentlichung (Vgl. Pravda,
24.11.1918)
Berlin, 16/IX-18.
Ich sende Ihnen einen Gruß aus Berlin und die heißesten Wünsche für Ihre schnellste
Genesung.18
Bei uns war man nicht ganz richtig über die kommende Konferenz der
„Unabhängige[n]“19 informiert. Es war eine inoffizielle Beratung der Fraktion mit
Teilnahme von Genossen aus der Provinz – alles in allem um die 60 Personen. Ange-
sichts dessen darf kein Bericht gedruckt werden. Ich habe im Voraus nicht gewusst,
dass sie ein Referat über unsere Angelegenheiten haben wollen, deswegen bin ich
ohne jegliches Material aufgetreten. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, sie in erster
Linie mit dem Ablauf unserer gesamten Revolution vertraut zu machen (ich habe am
ersten Tag 2 ½ Stunden gesprochen und noch dazu 1 ½).
Als Koreferent trat Štejn (ein Menschewik)20 auf, der, wie ich jetzt sehe, wörtlich
das wiedergab, was Kautsky in seinem Buch über die Diktatur schreibt (das es hier noch
nicht gab, ich habe erst im Anschluss von Kautsky ein Exemplar bekommen).21 Das Ela-
rung bis hin zu einem Komplott gegen Lenin innerhalb der Machtstrukturen reichen (siehe für einen
Überblick: Semion Lyandres: The 1918 Attempt on the Life of Lenin: A New Look at the Evidence. In:
Slavic Review 48 (1989), 3, S. 432–448; Konstantin Morozov: Pričastny li Ja.M.Sverdlov i F.E.Dzeržinskij
k pokušeniju na V.I.Lenina 30 avgusta 1918 goda?, http://socialist.memo.ru/discuss/d03/d0300.htm).
Lenin, dem die Täterschaft Kaplans bis zu ihrer Hinrichtung nicht mitgeteilt wurde (Lyandres: The 1918
Attempt, S. 441–442), erholte sich binnen weniger Wochen von seinen Verwundungen, hatte jedoch an
den Langzeitfolgen zu leiden.
18 Ein an diesen Brief angelehnter Artikel Stučkas wurde in der Pravda veröffentlicht. Vgl. „Ger-
manskie ‚nezavisimyeʼ revoljucionery“. In: Pravda, 24.11.1918, S. 1.
19 „Unabhängige“ im Original deutsch. Im vorliegenden Dokument informiert der lettischstämmige
Emissär der Bolschewiki in Deutschland, Pēteris Stučka, Lenin in nervöser Handschrift u.a. über eine
interne Konferenz der USPD, die vom 11.–12.9.1918 stattfand.
20 Siehe Dok. 1b.
21 Vermutlich die Broschüre: Karl Kautsky: Demokratie oder Diktatur, Berlin, Paul Cassirer, 1918,
in der der führende marxistische Theoretiker die ökonomischen und politischen Auswirkungen
auf Staat und Arbeiterklasse im Sinne des Sozialismus als notwendige Konsequenzen des Krieges
48 1918–1923
borat war sehr schwach. Im letzten Beitrag (nach den Debatten, die 2 Tage andauer-
ten) – ging ich in einer zweistündigen Rede zum Angriff über und versuchte ihnen zu
beweisen, dass nur wir den Beschlüssen von Stuttgart und Basel22 treu geblieben sind,
dass der Unterschied zwischen unserem Kampf und ihrem Verhalten dadurch charak-
teristisiert wird, dass bei uns vor der Revolution alle Anführer verhaftet oder verbannt
waren, sie hingegen fast alle auf freiem Fuß sind; schließlich erklärte ich, dass trotz des
Protests einiger von ihnen (Stroebel,23 Kautsky, Bernstein),24 auch bei ihnen die Revolu-
tion näher rückt und den Weg der „Sowjets“ beschreiten wird, usw.
Das Resultat dieser Beratung drückt sich in der Resolution von Ledebour aus, die
schon telegraphiert wurde, sie wurde von der Parteileitung25 mit einer Gegenstimme
angenommen (und Haase ist dafür). Natürlich umsorgt man uns unter dem Einfluss
der Umstände, ungeachtet der „Un[abhängigen]“. Ich war auch in einem Arbeiter-
„Wahlausschuss“26 dort ist die Stimmung auch bedeutend besser. Am Donners-
tag haben sie die 1. Wahlversammlung,27 und einige gehen davon aus, dass sie mit
einer Straßendemonstration enden wird. Wenn ich meine Angelegenheiten nicht bis
Donnerstag beendet habe, werde ich dort sein, um die Stimmung der Massen näher
kennenzulernen. Denn es gibt bei ihnen noch viel pures Geschwätz, und momentan
lässt sich noch nichts Bestimmtes über die nächste Zukunft sagen. Ich versuche, eine
Besuchsgenehmigung bei Liebknecht zu erwirken28 (anlässlich seines Akademie-
darlegte. In seiner Streitschrift Id.: Die Diktatur des Proletariats, Wien, 1918, grenzte er sich auch in
scharfer Form von der Oktoberrevolution und Sowjetrussland ab. Eine „kommunistische Wirtschaft“
müsse notwendigerweise in der Despotie enden. Lenins Replik folgte unmittelbar in seiner Schrift:
N. Lenin: Die Diktatur des Proletariats und der Renegat K. Kautsky, Leipzig, Vulkan-Verlag, 1919,
Kautskys Replik erfolgte wiederum in Karl Kautsky: Terrorismus und Kommunismus: ein Beitrag zur
Naturgeschichte der Revolution, Berlin, Verlag Neues Vaterland E. Berger, 1919. Schließlich erschien
unter dem gleichen Titel Trotzkis „Anti-Kautsky“, der im Verlag der Kommunistischen Internationale
herausgebracht wurde (Leo Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky, Hamburg, Verlag
der Kommunistischen Internationale, 1920; 2. Aufl. 1921 (Bibliothek der Kommunistischen Interna-
tionale. 4)).
22 Vom 18.–24. August 1907 fand in Stuttgart der 7. Kongress der Zweiten (Sozialistischen) Internatio-
nale, der die von Rosa Luxemburg, Lenin und Martov eingebrachte Antikriegsresolution einstimmig
verabschiedete, was auf dem internationalen Sozialistenkongress Basel 1912 noch kurz vor Ausbruch
des Weltkrieges bekräftigt wurde.
23 „Stroebel“ im Original deutsch.
24 Der politische Publizist Eduard Bernstein (1850–1932) war vor dem Weltkrieg wichtigster Vertreter
des Revisionismus der Sozialdemokratie, bevor er in die USPD ging. Heinrich Ströbel (1869–1944)
war ein pazifistisch orientierter sozialistischer Publizist und Politiker, zeitweise Ministerpräsident der
preußischen Revolutionsregierung 1919.
25 „Parteileitung“ im Original deutsch.
26 „Wahlausschuss“ im Original deutsch.
27 „Wahlversammlung“ im Original deutsch.
28 Karl Liebknecht, mit Rosa Luxemburg der Führer des Spartakusbunds, wurde am 23.8.1916 zu vier
Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt. Am 23.10.1918 infolge einer Amnestie entlassen, am
folgenden Tag fand in der sowjetischen Vertretung in Berlin ein Empfang zu seinen Ehren statt.
Dok. 2: [Berlin], 16.9.1918 49
Diploms),29 es wird jedoch wohl kaum gelingen, denn er wird unter sehr strengen
Bedingungen gehalten. Ich lege Ihnen das vorerst einzige Exemplar der Broschüre
Kautskys (sogar mit Widmung30) bei. Kautsky verabschiedete sich von mir mit dem
Wunsch, dass er Unrecht behalten möge. Ich antwortete ihm, dass ich mir dessen
völlig sicher sei.31
Im Allgemeinen fühlt man hier die Anfänge jener Desorganisation, wie [es sie]
bei uns [gab], doch natürlich ist es noch ein weiter Weg dorthin. Man sagt, dass es
in Berlin Zehntausende Deserteure gibt (den Worten eines Arbeiters zufolge), doch
die Arbeitermasse selbst in Berlin lebt zumeist in Angst vor der Front, oder, als
Halbinvaliden,32 vor der Kündigung. Der Buchmarkt ist leer; alles Alte ist ausverkauft,
und Neues gibt es wenig.
Genaueres werde ich mündlich berichten. Der Informationsdienst33 lässt viel zu
wünschen übrig. Nach hier [nach Deutschland] werden [nur] Bagatellen übermittelt
(z.B., dass die Außerordentliche Kommission34 irgendeine Geisel erschossen habe (für
den Anschlag auf Sie)35, aber weswegen: – wegen Trunksucht und anderer Verbrechen,
und im anderen Fall wegen Diebstahl). Und gleichzeitig gibt es weder eine Mitteilung
noch eine Gegendarstellung zu einer Meldung einer bürgerlichen Telegraphen[agentur],
Sie hätten sich angeblich für ein Bündnis mit einer imperialistischen Großmacht aus-
gesprochen.36 Die Deutschen erfahren darüber nur aus der Berichterstattung der Men-
schewiki. Das Buch Trotzkis ist noch nicht in großer Zahl eingetroffen.37 Jetzt ist sogar
29 Die vom marxistischen Historiker Nikolaj Pokrovskij geleitete, im Juni gegründete Sozialistische
Akademie der Gesellschaftswissenschaften (die wenig später in der Kommunistischen Akademie
aufging) sah ursprünglich vor, namhafte internationale Sozialisten als Mitglieder und Dozenten zu
gewinnen, darunter Karl Liebknecht und Karl Kautsky.
30 „Widmung“ im Original deutsch. Im Artikel der Pravda wird die Widmung als „Vom kritischen
Freund Kautsky“ zitiert.
31 Dem Pravda-Artikel zufolge traf Stučka Kautsky am Tag nach der Konferenz, um ihm ein Diplom
der Sozialistischen Akademie zu überreichen (Pravda, 24.11.1918).
32 „Halbinvaliden“ im Original deutsch.
33 russ. osvedomitelʼnaja služba, wörtlich „Zuträgerdienst“.
34 Als „Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sa-
botage“ wurde die Tscheka (ČK für Črezvyčajnaja komissija), die sowjetische politische Polizei ge-
gründet.
35 Das Attentat auf Lenin (siehe Dok. 1b) löste zusammen mit weiteren Attentaten den Beginn des
„Roten Terrors“ aus. In der Folge wurden mehrere hundert konservative wie auch sozialistische Geg-
ner der Bolschewiki hingerichtet.
36 Bei der „imperialistischen Großmacht“ konnte es sich nur um das Deutsche Reich handeln. Am
29.12.1918 hieß es bspw. in der New York Times: „Ludendorff aids Lenine? Said to be Chief Now of
Soviet Army in Russia.“
37 Von Trotzki erschienen 1918: Leo Trotzki: Die Sowjet-Macht und der internationale Imperialismus,
Belp-Bern, Promachos-Verlag, 1918, sowie Id.: Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische
Sowjetrepublik retten, Basel, 1918. Möglicherweise geht es hier jedoch um Trotzkis „Anti-Kautsky“.
50 1918–1923
Haase dafür, es hier nachzudrucken. Man müsste Ihre wichtigsten Artikel seit dem 4.
Apr.[il 1917] in deutscher Übersetzung zusammenstellen.38
P. Stučka
Dok. 3
Beschluss der KP Russlands über die Schaffung eines zentralen
internationalen Büros im Ausland vor der Gründung der Komintern
Moskau, 28.9.1918
Anwesend: Sverdlov, Radek, Bucharin, Baturin, Balabanova, Rozin [d.i. Roziņš] und
Kamenev.39
Vorsitz: Ja.M. SVERDLOV.
Tagesordnung:
1) Schaffung eines Büros der Russ[ischen] Komm[unistischen] Partei im Ausland.
38 Am 4. April 1917 hielt Lenin kurz nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil einen Vortrag,
auf Basis dessen er die berühmten „Aprilthesen“ ausarbeitete. Deutschland war bis zum Ausbruch
der Novemberrevolution Bestandteil der allgemeinen Überlegungen zur internationalen Revolution,
und zu den Vorbereitungen für eine Kommunistische Internationale. Die Weltrevolution sei zwar „un-
ausbleiblich“, meinte er auf einer Kundgebung am 23.8.1918. „Aber nur ein Dummkopf kann fragen,
wann die Revolution im Westen ausbrechen wird. Eine Revolution kann man nicht voraussagen, sie
kommt von allein. Und sie wächst heran und muß zum Ausbruch kommen.“ (in: Lenin: Werke XXVIII,
S. 66–71). Der Umschwung kommt in seinen Instruktionen zur Unterstützung der deutschen Revolu-
tion zum Ausdruck (siehe Dok. 4). Von Lenin waren seit 1917 bereits eine Vielzahl von Einzeltiteln in
deutscher Sprache erschienen, der erste Sammelband folgte erst 1921 (siehe: N. Lenin, G. Sinowjew:
Gegen den Strom. Aufsätze aus den Jahren 1914–1916, Hamburg, Verlag der Kommunistischen Inter-
nationale-Carl Hoym Nachf., 1921, vgl.: W. I. Lenin: Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewe-
gung. Aus Schriften, Reden, Briefen, 3. Auflage, Berlin, Dietz Verlag, 1960.
39 Jakov Sverdlov (1885–1919) war faktisch Parteisekretär der RKP(b). Im Gegensatz zu Karl Radek
(1885–1939) und Nikolaj Bucharin (1888–1938) war Lev Kamenev (1883–1936) später nicht mehr in
der Komintern tätig, ebenso wie der hier aufgeführte Parteihistoriker Nikolaj Baturin (1877–1927).
Anželika Balabanova (1878–1965) war bis zu ihrem Bruch mit den Bolschewiki eine der wichtigsten
und bekanntesten Netzwerkerinnen der sozialistischen und kommunistischen Bewegung in West
und Osteuropa und 1919 erste Sekretärin der Komintern. Der lettische marxistische Philosoph Fricis
Roziņš (1870–1919) unterzeichnete für die KP Lettlands die Einladung zum Gründungskongress der
Komintern.
Dok. 3: Moskau, 28.9.1918 51
----------------------
Angehört:
1) Schaffung eines Büros der Russ[ischen] Kommunistischen Partei im Ausland.40
Beschlossen:
Alle Fragen zu den ausländischen Beziehungen41 in einem Zentralen Büro zu kon-
zentrieren, zusammengesetzt aus: Balabanova, Rozin, Akselʼrod, Bucharin und Vor-
ovskij.42 Über alle Parteigenossen, die sich im Ausland befinden, muss Buch geführt
werden.
[Angehört:]
2) Einberufung eines Internationalen Kongresses in Russland.
[Beschlossen:]
Vorbereitungsarbeiten für die Einberufung eines internationalen Kongresses in Russ-
land zu beginnen, wofür das Büro unverzüglich mit allen großen ausländischen sozi-
alistischen Parteien in Verbindung treten soll, die auf unseren Positionen stehen, und
mit ihnen Verhandlungen aufzunehmen hat. Über die Verhandlungsergebnisse hat
das Büro dem ZK der Partei Bericht zu erstatten. Das ZK soll seinerseits vorläufige
Thesen zum internationalen Kongress ausarbeiten.43
40 Im Unterschied zu den unterschiedlich strukturierten und 1918 bei den ausländischen Missionen
angesiedelten Büros für revolutionäre Propaganda in Berlin (Pressebüro/Ioffe), Bern (Informations-
büro/Berzin), Stockholm (Vorovskij) und London (Litvinov/Rothstein) wurde die Existenz des neuen
zentralen Auslandsbüros bisher in der Literatur nicht nachgewiesen (siehe: František Svátek: The
Governing Organs of the Communist International. Their Growth and Composition, 1919–1943. In:
History of Socialism Year Book, Prague (1969), S. 179–266, hier 206f.) Nach Hedeler/Vatlin existierte
das Büro „vorerst nur auf dem Papier“ (Wladislaw Hedeler, Alexander Vatlin (Hrsg.): Die Weltpartei
aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und neue
Dokumente, Berlin, Akademie-Verlag, 2008, S. XX.
41 Im russischen „o zagraničnych snošenijach“.
42 Der Ex-Bundist Tovij Akselʼrod (1888–1938) war 1918 ROSTA-Vertreter in Berlin und in den frü-
hen 1920er Jahren für die Komintern in romanischen Ländern tätig. Der Verweis von Adibekov/
Šachnazarova/Širinja auf P. Akselʼʼrod, der als Pavel B. Akselʼrod, einer der Haupttheoretiker des
russischen Marxismus und Führer der Menschewiki, entschlüsselt wird, ist dubios (siehe: Aleksandr
Vatlin: Tovij Akselʼrod. In: Voprosy istorii (2010), Nr. 1, S. 33–49; Grant M. Adibekov, Eleonora N.
Šachnazarova, Kirill K. Širinja: Organizacionnaja struktura Kominterna, 1919–1943, Moskva, ROSS-
PEN, 1997, S. 24 u.a.). Der Ingenieur Vaclav Vorovskij (1871–1923) war anfänglich in der Komintern
aktiv; als sowjetischer Diplomat 1923 wurde er von dem anschließend freigesprochenen Russland-
schweizer Moritz Conradi in Lausanne erschossen.
43 Damit handelt es sich zweifelsfrei um das früheste Dokument zur Gründung der Komintern, die
schließlich auf dem I. Weltkongress (2.–6.3.1919) erfolgte. Im Laufe des Jahres 1918 sollen darüber
hinaus einige – vermutlich weniger repräsentative – „Internationale sozialistische Konferenzen“ in
Moskau und Petrograd stattgefunden haben (Svátek: Governing Organs, S. 205). Im Januar 1919 fand
52 1918–1923
[Angehört:]
3) Finanzmittel.
[Beschlossen:]
Es wird beschlossen, alle Finanzmittel, die den im Ausland tätigen Parteigenossen zu
Verfügung stehen, in den Händen des Auslandsbüros zu konzentrieren.
DER VORSITZENDE
Die Mitglieder
Dok. 4
„Alle werden wir dafür sterben, um den deutschen Arbeitern zu
helfen“. Anweisungen Lenins an Trotzki und Generalsekretär der
KP Russlands, Jakov Sverdlov zur Novemberrevolution
[Moskau], 1.10.1918
Publiziert in: V.I. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. L: Pisʼma. Oktjabrʼ 1917 – ijunʼ 1919, Moskva
1965, S. 185–186. Deutsche Neuübersetzung. Eine stellenweise „diplomatische“ Übersetzung siehe:
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): V.I. Lenin: Briefe. 10 Bde., Berlin, Dietz
Verlag, 1967–1976, hier Bd. V: 1917–1919, Berlin, 1968, S. 179–181.
1/X. 1918.
Die Dinge haben sich in Deutschland so „beschleunigt“, dass auch wir nicht zurück-
bleiben dürfen.44 Und wir liegen schon heute im Rückstand.
Es ist notwendig, morgen eine gemeinsame Versammlung
des Zentralexekutivkomitees
des Moskauer Sowjets
der Stadtbezirkssowjets
der Gewerkschaften usw. usw. einzuberufen.45
eine „internationale“ Konferenz in Moskau mit hauptsächlich lettischen und skandinavischen Teil-
nehmern statt (Pierre Broué (Hrsg.): Les Congrès de lʼInternationale Communiste. Textes intégraux
publiés sous la direction de Pierre Broué. Le Premier Congrès. 2–6 mars 1919, Paris, Etudes et Docu-
mentation Internationales, 1974, S. 32 (Documents pour lʼhistoire de la Troisième Internationale)).
44 Lenin sieht hier auch im Unterschied zum Bericht Ioffes aus Berlin (siehe Dok. 5) die revolutionäre
Entwicklung in Deutschland viel optimistischer und zugleich als zentrale strategische Perspektive,
nicht zuletzt im Hinblick auf die Gründung der Internationale In ihrer Dokumentation zur Komintern-
gründung bleiben Lenins diesbezügliche Briefe und Stellungnahmen bei Hedeler/Vatlin weitgehend
unberücksichtigt (siehe: Hedeler/Vatlin: Die Weltpartei, S. XXf.).
45 Die von Lenin vorgeschlagene gemeinsame Versammlung des Gesamtrussischen Zentralexekutiv
komitees, des Moskauer Sowjets, der Betriebskomitees und der Gewerkschaften wurde am 3.10.1918
Dok. 4: [Moskau], 1.10.1918 53
einberufen. Lenin selbst konnte aufgrund seiner Verwundung nicht teilnehmen, schrieb aber einen
Brief, der verlesen und am 4.10.1918 in der Pravda veröffentlicht wurde. Darin drückte Lenin seine
Zuversicht über die herannahende proletarische Revolution in Deutschland aus und rief die sowje-
tischen Organisationen zu konkreten Unterstützungsmaßnahmen für das deutsche Proletariat auf.
„Jetzt werden sogar die verblendetsten Arbeiter in den verschiedenen Ländern einsehen, wie sehr
die Bolschewiki im Recht waren, als sie ihre ganze Taktik auf die Unterstützung der internationalen
Arbeiterrevolution begründeten und sich nicht scheuten, die schwersten Opfer zu bringen.“ (Lenin:
Werke, XXVIII, S. 90–93).
46 Lenin sah fast einen Monat vor ihrem Ausbruch die deutsche Revolution voraus. Nach dem in
den letzten Oktobertagen beginnenden Matrosenaufstand erreichte die von den revolutionären Arbei-
ter- und Soldatenräten im ganzen Land angeführte Novemberrevolution am 9. November Berlin und
führte zur Abdankung des Kaisers.
47 Reichskanzer Max von Baden übergab am 9.11.1918 sein Amt dem Sozialdemokraten Friedrich
Ebert.
48 Diesen Gedanken hatte Lenin bereits am 18.10.1918 in einem Brief an Ioffe geäußert, so in einem
in den Lenin-Werken nicht publizierten Schlußsatz: „Also gibt es keine andere Wahl. Soyons fort(e)s
et accelerons la revolution en Allemagne [sic]. [Seien wir stark und beschleunigen die Revolution in
Deutschland]. Es gibt keine andere Wahl.“ (RGASPI, Moskau, 2/1/7265, 1; vgl.: Lenin: Polnoe sobranie
sočinenij, Bd. 50, S. 195). Trotzki überlieferte eine ähnliche Äußerung Lenins: „Wenn wir für den Sieg
der deutschen Revolution umkommen müßten, wir wären verpflichtet, es zu tun. Die deutsche Re-
volution ist unermeßlich wichtiger, als die unsrige. Aber wann wird sie kommen? Unbekannt.“ (Leo
Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuchverlag,
1974, S. 330).
49 In seinem Brief an die besagte gemeinsame Sitzung vom 3.10.1918 appellierte Lenin: „Beschlie-
ßen wir, daß in jedem großen Getreidespeicher eine Getreidereserve geschaffen wird, damit wir den
deutschen Arbeitern helfen können, wenn sie [...] in eine schwierige Lage geraten.“ (Lenin, Werke,
XXVIII, S. 92). Daraufhin sammelten die regionalen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen nach
einer Aufforderung des Volkskommissariats für Versorgung große Mengen Getreide (bzw. es wurde
54 1918–1923
2) Ein Zehnfaches der Meldungen zur Armee. Bis zum Frühling müssen wir eine
Armee von 3 Millionen zur Unterstützung der internationalen Arbeiterrevolution
besitzen.
Diese Resolution muss Mittwoch Nacht per Telegraph um die ganze Welt gehen.50
Setzen Sie die Versammlung für Mittwoch 2 Uhr an. Wir beginnen um 4, geben Sie
mir das Wort für einen viertelstündigen Auftritt, ich komme und fahre dann wieder
zurück. Schicken Sie morgen früh einen Wagen zu mir (und am Telefon sagen Sie nur:
einverstanden).
Gruß! Lenin
von der Bauernschaft requiriert). Das VCIK konnte bereits am 11. November das Vorhaben verkün-
den, zwei Güterzüge mit je 25 Waggons nach Deutschland zu schicken; ein erster Güterzug setzte
sich wenige Tage später in Bewegung. Allerdings lehnte Hugo Haase im Namen der deutschen Regie-
rung das Angebot höflich ab, der amerikanische Präsident Wilson habe versprochen, Deutschland
Lebensmittelhilfe zukommen zu lassen. Die Sowjetregierung ließ über Außenkommissar Čičerin die
Enttäuschung darüber verlauten, die deutsche Regierung würde kapitalistische Hilfe vorziehen, an-
statt „fest auf dem Boden der Arbeitersolidarität zu stehen“. In der sowjetischen Presse folgte eine
Welle der Empörung über das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie. Siehe: Isaak I. Minc: Sovets-
kaja Rossija i Nojabrʼskaja revoljucija v Germanii. In: Voprosy istorii (1974), Nr. 11, S. 3–22, hier 19–20;
V. A. Kondratʼev: Otkliki na nojabrʼskuju revoljuciju v Sovetskoj Rossii. In: V. D. Kulʼbakin (Hrsg.):
Nojabrʼskaja revoljucija v Germanii. Sbornik statej i materialov, Moskva, Izdatelʼstvo Akademii nauk
SSSR, 1960, S. 439–454; I. N. Zemskov u. a. (Hrsg.): Dokumenty vnešnej politiki SSSR, Bd. 1: 7 no-
jabrja 1917 g. – 31 dekabrja 1918 g., Moskva, Gosudarstvennoe izdatelʼstvo političeskoj literatury, 1959,
S. 564–565; Alexander Vatlin: Im zweiten Oktober, S. 190; Abraham Ascher: Russian Marxism and
the German Revolution, 1917–1920. In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. 6/7 (1967), S. 391–439, hier S.
407–408.
50 Die Resolution der Gemeinsamen Sitzung vom 3.10.1918, die besagte, Sowjetrussland werde „mit
all ihren Kräften und Mitteln die revolutionäre Macht in Deutschland gegen ihre imperialistischen
Feinde unterstützen“, wurde am 4.10.1920 in der Izvestija und der Pravda veröffentlicht (für den vol-
len Wortlaut siehe: Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS (Hrsg.): Dekrety sovetskoj vlasti, III: 11
ijulja – 9 nojabrja 1918 g., Moskva, Izdatelʼstvo političeskoj literatury, 1964, S. 393–395).
Dok. 5: [Berlin], 13.10.1918 55
Dok. 5
Brief Adolʼf Ioffes an Lenin über die bevorstehende deutsche
Revolution, die Schwäche der Linken und das deutsch-russische
Verhältnis in der Bürgerkriegszeit
[Berlin], 13.10.1918
13-X-1918
Ich habe mich sehr über Ihren Brief gefreut,52 vor allem als Beleg für Ihre Genesung.
[...]
Ich stimme mit Ihnen völlig darin überein, dass jetzt unsere Hauptarbeit revoluti-
onärer Art sein muss, und habe, noch bevor ich Ihren Beschluss erhielt,53 angefangen,
ihr viel mehr Aufmerksamkeit und Zeit zu widmen, doch mir scheint, dass Sie über-
treiben, wenn Sie sagen, dass es mit dem „Diplomatisieren“ ein Ende habe.54 So lange,
wie in Deutschland kein Rat der A[rbeiter] u[nd] S[oldaten-]D[eputierten] regiert,
sondern – selbst die jetzige – Regierung, ist leider das „Diplomatisieren“ immer noch
notwendig, denn diese Regierung wird uns noch vieles verderben können. Gen[osse]
Čičerin beweist dies anschaulich, indem er sich immer noch ständig zwecks Behe-
bung verschiedener Konflikte an mich wendet, und ich kann sie doch nur in dem
Maße beheben, in dem ich meine guten Beziehungen zum hiesigen Sumpf bewahre.
51 Der Historiker Ottokar Luban rekonstruiert Ioffes erste Zeit als russischer Botschafter in Berlin und
unterstreicht die Bedeutung der Ioffe-Lenin-Korrespondenz. Die zahlreichen Joffe-Briefe an Lenin im
September und Oktober 1918 sind durchweg informativ und zumeist sehr umfangreich; hier konn-
te nur eine kleine Auswahl getroffen werden. Der vorliegende Ioffe-Brief umfasst allein neun Seiten
(siehe: Ottokar Luban: Russische Bolschewiki und deutsche Linkssozialisten am Vorabend der deut-
schen Novemberrevolution. Beziehungen und Einflussnahme. In: Jahrbuch für historische Kommu-
nismusforschung (2009), S. 283–298; dazu auch die Studie: Alexander Vatlin: Im zweiten Oktober.
Lenin, die Niederlage des Deutschen Reiches und die außenpolitische Wende der Bolschewiki. In:
Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (2007), S. 180–200).
52 Vermutlich der Brief Lenins vom 20.9.1918, in dem er eindringlich eine Offensive gegen die „theo-
retische Verflachung des Marxismus durch Kautsky“ fordert (siehe: Lenin: Briefe V, S. 176–178).
53 Siehe Dok. 4
54 Am 3.8.1918 schrieb Lenin an Ioffe angesichts der Intervention der Entente: „Die ‚frühereʼ Politik
des Nichtbrechens mit der Entente [...] fortzusetzen ist lächerlich.“ (Lenin, Briefe, V, S. 129). Dem vor-
angegangen war ein Brief Ioffes an Lenin vom 28.7.1918, in dem er davor warnte, sich auf eine Seite zu
schlagen und auf ein Lavieren zwischen der Entente und Deutschland drängte (Dietmar Wulff (Hrsg.):
A.A. Joffe und die russische Außenpolitik. Unveröffentlichte Dokumente. Teil III. Juli 1918. In: Berliner
Jahrbuch für osteuropäische Geschichte (1996), 2, S. 267–304). Am 18.10.1918, nachdem er den vorlie-
genden Brief Ioffes bekommen hatte, schrieb Lenin nach Berlin zurück: „Ich habe nichts gegen eine
Fortsetzung des ‚Diplomatisierens‘. Aber es hat nicht mehr solche Bedeutung.“ (Lenin, Briefe, V, S. 189).
56 1918–1923
Ohne Zweifel überschätzen Sie das Herannahen der deutschen Revolution. Ein
ernstzunehmender Faktor der hiesigen Ereignisse ist, dass die Zersetzung an der
Front nicht das Resultat einer Revolution im Lande ist, sondern unabhängig vom
Anstieg revolutionärer Stimmungen im Land stattfindet. Im Gegenteil, selbst die
Stimmungslage, die von mir im letzen Brief beschrieben wurde, kommt nicht wirklich
voran, und sogar zum Zwecke der Bewaffnung wollen sie nicht mehr annehmen, als
sie schon genommen haben.55 Hier besteht eine ernsthafte Gefahr des Auseinander-
fallens der gesamten Bewegung, sobald der Friede wirklich in Sicht ist. Die Regierung
versteht dies hervorragend, und unternimmt ihre liberalen Schritte entsprechend im
Interesse der Zurückhaltung der Revolution und der Rettung von Krone und Monar-
chie.56 Im Ausw[ärtigen] Amt,57 wo man mich, wie auch generell in Regierungskrei-
sen, fast als „einen von ihnen“ ansieht, spricht man dies mir gegenüber offen aus.
Dort ist man sehr erbost über Ihre Resolution, und man erklärte mir mehrfach, dass
wir uns erneut irren würden, da nun nicht nur die erklärten Gegner der Revolution,
sondern auch die Sozialisten und das Proletariat gegen eine Revolution sein werden.
Für die kommende Periode ist dies zweifellos richtig, und deswegen sollten Sie in der
nächsten Zeit nicht auf die deutsche Revolution hoffen. Das Beste ist, dass die Schei-
demänner58 nun zweifellos als die entschiedenste konterrevolutionäre Kraft auftreten
werden. Ich nehme an, dass die augenblickliche Aufgabe darin besteht, die Herren
Scheidemänner zu diskreditieren, die heutzutage die Regierung als Ganzes stützen,
und das traurigste daran ist, dass die Partei, die dies bewerkstelligte würde, nämlich
die Unabhängigen, zwar gute Resolutionen verabschieden, jedoch ohne jeden Zweifel
im entscheidenden Moment das Handtuch werfen werden, denn die Mehrheit unter
ihnen, mit Ausnahme vielleicht von Ledebour, ist davon überzeugt, dass Wilsons
Friede eine reale Möglichkeit sei und verwirklicht werde.59 Sie sind Defätisten60 par
excellence und wollen, im Grunde genommen, nichts anderes als den Frieden, und
55 Zur ablehnenden Haltung der Unabhängigen Sozialisten zur Finanzierung durch die Bolschewiki,
siehe den Brief Ioffes vom 5.9.1918.
56 Am 5.10.1918 übermittelte Reichskanzler Max von Baden Woodrow Wilson das Angebot für einen
Waffenstillstand auf der Grundlage seines 14-Punkte Programms.
57 „Ausw. Amt“ in deutsch.
58 „Scheidemänner“ (russ. „šejdemanovcy“) war der seitens der linken Sozialisten wie Rosa Luxem-
burg genutzte abwertende Ausdruck für die Mehrheitssozialdemokraten, bezogen auf den SPD-Füh-
rer und kurzzeitigen Regierungschef Philipp Scheidemann (1865–1939), der 1918 der Überzeugung
war, der Bolschewismus sei ein „barbarisch-asiatisches Zerrbild des wissenschaftlichen Sozialismus“
(Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten, S. 293)
59 Der Versailler Friedensvertrag zerschlug 1919 die Hoffnung auf einen Hoffnung auf einen milden
Frieden für Deutschland. In einer Botschaft des Kongresses vom 8. Januar 1918 hatte der amerikani-
sche Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) ein 14-Punkte-Programm für eine neue Friedensordnung
in Europa vorgelegt, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Freiheit des Handels
basieren sollte. Insofern stellte die Komintern eine globale Antwort auf den überschätzten „Wilsonian
Moment“ dar.
60 „Defätisten“ hier gebraucht im Sinne eines verzagten Sich-Abfindens mit der Situation.
Dok. 5: [Berlin], 13.10.1918 57
da vertrauen sie mehr auf Wilson als auf die Revolution und die Selbständigkeit des
eigenen Proletariats. Über solche Leute wie Kautsky muss man gar nicht erst reden,
doch selbst Hilferding, der wahrscheinlich Redakteur ihrer großen Zeitung wird (sie
hoffen, eine solche in der nächsten Zeit zu bekommen),61 ist fast genauso wie Kautsky,
hält eine Einigung auf der Grundlage von Wilsons Punkte für durchaus möglich, und
geht davon aus, dass die Revolution erst nach einem Friedensschluss als Resultat der
Schwierigkeiten bei der Demobilisierung, bei der Umstellung der Industrie auf Frie-
densproduktion usw. beginnen werde. Ich selbst habe in entschiedener Weise mit den
Unabhängigen gesprochen, ihre Verpflichtungen gegenüber dem Internationalismus
und unserer Revolution unterstrichen, und habe erreicht, dass sie sich verpflichtet
haben, entschiedener aufzutreten, und ihren Aufruf herausgebracht haben, in dem
sie von der sozialistischen Republik reden.62 Nichtsdestotrotz hege ich keinerlei Hoff-
nungen ihnen gegenüber und bin der Meinung, dass sie sich unter gewissen Bedin-
gungen sogar in „revolutionäre Vaterlandsverteidiger“ verwandeln werden.
Was die „Spartakusleute“ angeht, so sind sie mit meiner Sichtweise völlig ein-
verstanden. Augenblicklich sind sie personell geschwächt, die Lage wird sich jedoch
bessern, sobald ihre besten Leute aus den Gefängnissen und von der Front zurück-
kehren. Nur mit großer Mühe konnte ich sie dazu bringen, den Aufruf zu unterzeich-
nen, den ich geschrieben habe und den ich Ihnen hiermit beilege.63 Gestern hatten sie
eine Konferenz, wo sie eine Reihe ziemlich revolutionärer Beschlüsse gefasst sowie
alle Vorschläge, die ich ihnen vorher gemacht hatte, angenommen haben (die Resolu-
61 Der Publizist und Ökonom Rudolf Hilferding war 1918–1923 Chefredakteur des Zentralorgans der
USPD Freiheit.
62 Ein Aufruf des Vorstands der USPD vom 12.11.1918 erklärte, dass die sozialistische Republik an die
Stelle der Monarchie getreten sei und die Arbeiter- und Soldatenräte Inhaber des Gewaltmonopols
seien (Franz Osterroth, Dieter Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie. II, Vom Beginn der
Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, 3. unveränderte Auflage, Berlin-Bonn-Bad
Godesberg, J.H.W. Dietz Nachf., 1980, S. 10; siehe auch: http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chro-
nik/band2/e235f4.html)
63 Die Konferenz (siehe nächste Anmerkung) hatte einen Aufruf an die Bevölkerung verabschiedet,
in dem neben einer Skizzierung der (für Deutschland verheerenden) Kriegslage das deutsche Pro-
letariat aufgefordert wurde, eine Reihe sozialer und politischer Forderungen zu erheben, von der
Befreiung politischer Gefangener und der Enteignung des Bankkapitals bis hin zur „Abschaffung
der Einzelstaaten und Dynastien“, eine klare Perspektive des politischen Systems bzw. der anzu-
strebenden Gesellschaftsordnung wurde jedoch nicht gegeben. Der von der „Gruppe Internationale
(Spartakus-Gruppe). Die Linksradikalen Deutschlands“ unterzeichnete Aufruf ist publiziert bei: Ernst
Drahn, Susanne Leonhard (Hrsg.): Unterirdische Literatur im revolutionären Deutschland während
des Weltkrieges, Berlin-Fichtenau, Verlag Gesellschaft und Erziehung, 1920, S. 115–117; Spartakusbrie-
fe, Berlin (Ost), 1958, S. 469–471. Zur Entstehungsgeschichte des Aufrufs und zu Ioffes Autorenschaft,
siehe: Ottokar Luban: Die Oktoberkonferenz 1918 der Spartakusgruppe. Neue Forschungsergebnisse.
In: Ulla Plener (Hrsg.): Die Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland. Für bürgerliche und sozia-
listische Demokratie. Allgemeine, regionale und biographische Aspekte. Beiträge zum 90. Jahrestag
der Revolution, Berlin, 2009, S. 68–78.
58 1918–1923
tion und die Thesen schicke ich Ihnen zu, sobald sie gedruckt sind).64 Was die Taktik
angeht, habe ich ihnen vorgeschlagen, jede günstige Gelegenheit zu nutzen, um die
Regierung zu Repressionsmaßnahmen gegen das Proletariat zu provozieren. Sie sind
damit einverstanden, am Mittwoch, dem Tage der Wiederaufnahme der Arbeit durch
den Reichstag, eine Straßendemonstration zu veranstalten. Mal sehen, was daraus
wird.65 Ein Unglück besteht darin, dass sie sehr schwach sind, und solange Lieb-
knecht nicht da ist, keinen einzigen populären Namen präsentieren können. Nichts-
destotrotz ruht die Hoffnung auf Revolution allein auf ihnen. Wenn man [direkt] in
die Massen vordringen könnte, wäre es zwar besser, doch ist dies für mich völlig
unmöglich. Man muss sich vor Augen führen, dass hier verstärkt gemunkelt wird,
dass sämtliche revolutionäre Agitation von der Botschaft und von Russland im Allge-
meinen ausgehe. Sie glauben, dass ich selbst nichts Unzulässiges tue, genauso wie sie
glauben, dass Rakovskij selbst nichts entsprechendes getan habe, behaupten jedoch,
dass um ihn herum revolutionäre Agitation in großen Stil geführt worden sei,66 und
sie sind davon überzeugt, dass es so etwas um mich herum gäbe. Neulich wurde einer
Person, die bei mir arbeitet und sich im Urlaub befindet, aus Polizeikreisen geraten,
nicht in die Botschaft zurückzukehren, denn mit der russischen Botschaft wird es zu
toll und sie muss bald liquidiert sein.67
Unmittelbar in den Massen können wir also nicht arbeiten, man kann jedoch
auch auf Andere einwirken, was ich nach Kräften auch tue. Meiner Meinung nach ist
es angebracht, nicht nur die Massen illegal zu organisieren, sondern sie auch durch
offene politische Aktionen zu revolutionieren, die aktuelle Regierung wo und wie es
64 Die im Nachhinein als „Erfurter Konferenz“ des Spartakusbundes und als deren offizielles Datum
der 7.10. kommuniziert wurde (siehe letzte Zeile dieses Dokuments), tagte in Wirklichkeit am 12. und
13.10.1918 in Berlin. Ioffe selbst war nicht auf der Konferenz anwesend; die Teilnehmer besuchten ihn
und Anželika Balabanova in der russischen Botschaft. Laut einem in der Moskauer Zeitschrift „Welt-
revolution“ veröffentlichten, in Deutschland illegal verbreiteten und bei Drahn/Leonhard abgedruck-
ten Konferenzbericht waren auf der Konferenz „Vertreter der Spartakusorganisationen aller wichtiger
Bezirke und Orte Deutschlands vertreten, ferner mehrere Ortsgruppen der sogenannten ‚linksradika-
len Bewegung‘“ (Drahn/Leonhard: Unterirdische Literatur, S. 113). Neben dem von Ioffe verfassten,
von Paul Levi eingebrachten, oben erwähnten Aufruf (ein Passus über die Massendesertion an der
Front als Beginn der Revolution traf auf den Widerstand Wolffheims und wurde gestrichen) wurden
Thesen über die weltpolitische Lage verabschiedet. Sie schlossen mit einer Aufforderung an das deut-
sche Proletariat, die „deutsche sozialistische Republik“ auszurufen (Drahn/Leonhard: Unterirdische
Literatur, S. 114; siehe auch: Luban: Die Oktoberkonferenz).
65 Die von Ioffe angeregte Demonstration der Spartakusgruppe fand am 16.10.1920 vor dem Reichs-
tagsgebäude und in der Berliner Innenstadt statt. Sie machte jedoch, da sich die USPD nicht der De-
monstration angeschlossen hatte, einen „kläglichen Eindruck“, wie Ioffe selbst in einem weiteren
Brief an Lenin eingestand (siehe: Luban: Die Oktoberkonferenz, S. 14).
66 Der bulgarischstämmige Revolutionär und sozialistische Internationalist Christian Rakovskij
(1871–1941) hielt sich im September 1918 zu Verhandlungen bezüglich der Ukraine in Deutschland auf,
wo er zusammen mit Bucharin und Ioffe ausgewiesen, zunächst verhaftet und schließlich im Zuge der
Novemberrevolution befreit wurde.
67 Kursivierte Passage im Original deutsch.
Dok. 5: [Berlin], 13.10.1918 59
nur geht aufgrund von Fakten zu diskreditieren, die Idee des wilsonianischen Frie-
dens in Verruf zu bringen. Und genau deswegen habe ich es für wichtig befunden,
dass wir in Friedensfragen offen als Regierung, und nicht als revolutionäre Partei,
auftreten. Über diesen Plan von mir wissen Sie Bescheid. Ich halte es nicht für not-
wendig, den Brester Frieden68 zu annullieren, doch ich halte es für äußerst förderlich,
in der ganzen Welt Krach zu schlagen über den imperialistischen Betrug, der sich
gegenwärtig hinter der Fassade von Wilsons demokratischem Frieden verbirgt. Und
dies können wir nur bewerkstelligen, indem wir uns auf unserem Recht bestehen, an
der Friedenskonferenz teilzunehmen,69 d.h. wir wenden uns, wie ich bereits schrieb,
an alle kämpfenden Parteien (darunter Deutschland) mit einer Note, in der wir darauf
hinweisen, dass der Brester Frieden Russland nicht das Recht nehmen konnte, am
Abschluss eines allgemeinen Friedens mitzuwirken; dass das Eingeständnis des
Kanzlers, dass der Brester Frieden kein Hindernis zum Abschluss eines allgemeinen
Friedens darstelle, dieses unser Recht umso stärker unterstreicht; dass wir es des-
wegen für notwendig halten, zu erklären, dass wir in dieser oder jenen Weise zu den
Punkten Wilsons stehen und deswegen eine Teilnahme an der Konferenz fordern, um
diesen unseren Standpunkt zu vertreten.70 Und in der Presse muss man das Revo-
lutionäre an unserem Standpunkt noch stärker betonen. Jetzt, wo die ganze Welt,
sogar das Proletariat und sogar die Longuet-Anhänger71 in Frankreich und die Unab-
hängigen in Deutschland im Bann Wilsons und seiner Forderungen stehen, wäre ein
solcher Auftritt unsererseits in seiner revolutionierenden Wirkung sehr wertvoll.
Dies ist insofern umso wichtiger, als dass wir keine Zeit haben, zu lange auf
die Weltrevolution zu warten. Ich hatte schon per Chiffre mitgeteilt, dass man hier
ernsthaft über einen Frieden mit England gegen uns nachdenkt, und es ist charak-
teristisch, dass während seinerzeit die Nationalliberalen und das Zentrum dagegen
auftraten, Scheidemann für ein „ja“ plädierte!72 Das Kalkül ist klar: Der Entente den
Mund zu stopfen, und von Deutschland zu retten, was zu retten ist. Meine national-
liberalen „Freunde“, die das Vermächtnis Bismarcks zur Freundschaft mit Russland
für heilig erachten73 und sich [damit] die Möglichkeit offenhalten wollen, es [d.h.
Russland] auszubeuten, entfalten eine große Energie, um diesem Plan entgegenzu-
wirken, und fragen mich, was Russland Deutschland geben könnte. Ich antworte
ihnen, dass ein Bündnis unmöglich sei, solange es eine imperialistische Regierung in
Deutschland gebe, dass sich Russland jedoch niemals auf die Seite der Entente schla-
gen werde und nach wie vor nach Gangbarkeit bereit ist, die Deutschen ein wenig
zu füttern.74 Es muss bedacht werden, dass man in rechten und Regierungskreisen
noch nicht die Hoffnung aufgegeben hat, dass wenn die Entente, wie ein sehr ein-
flussreicher Politiker es formulierte, zu unsinnige Forderung[en] aufstellen würde,
ein Stimmungsumschwung eintreten werde und dann schliessen wir die Bude zu (d.h.
alles innerhalb des Staates) und gehen alle an die Front.75 Natürlich wird aus diesen
Hoffnungen nichts werden, dafür gibt es jedoch keine Garantie dafür, dass sich die
72 Vermutlich handelte es sich um die Debatte über eine von SPD, Zentrum und Fortschrittlicher
Volkspartei am 19.7.1917 eingebrachte Friedensresolution, die der Reichstag mit Mehrheit verabschie-
det hatte. Die Perspektive eines Verständigungsfriedens wurde jedoch von der USPD, den Nationalli-
beralen und den Konservativen abgelehnt und die Initiative insgesamt verstrich ungenutzt (Helmut
Schmersal: Philipp Scheidemann 1865–1939. Ein vergessener Sozialdemokrat, Frankfurt am Main u.
a., Peter Lang, 1999, S. 116ff. (Europäische Hochschulschriften Reihe III, 844).
73 Die Bismarcksche Bündnispolitik zielte darauf ab, Deutschland im Rahmen eines europäischen
Gleichgewichts zu sichern. Dazu gehörte die Abwehr eines französisch-russischen Bündnisses und
die Anlehnung an das Zarenreich. Den Bund mit Russland bezeichnete er als „Bollwerk des Frie-
dens über lange Jahre hinaus. Populär bei allen Parteien, exklusive Nihilisten und Sozialisten“. Dazu
schloss er 1887 mit Russland ein geheimes Abkommen (Deutsch-russischer Rückversicherungsver-
trag), das wohlwollende Neutralität und in einem geheimen Zusatzprotokoll sogar Russlands frei-
en Zugang zum Mittelmeer sicherte. Bereits vorher hatte Bismarck Russland gegen den polnischen
Aufstand unterstützt. Göring erwähnte später in der Vorbereitungsphase des Stalin-Hitler-Paktes
Bismarcks „Vermächtnis“ als beispielhaft (siehe: Adibekov/Di B‘jadzo/Gori: Politbjuro CK RKP(b) -
VKP(b) i Evropa, S. 346–347; Volker Ullrich: Otto von Bismarck, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1998,
S. 98; vgl. für die DDR-Historiographie: Sigrid Wegner-Korfes: Otto von Bismarck und Rußland. Des
Reichskanzlers Rußlandpolitik und sein realpolitisches Erbe in der Interpretation bürgerlicher Politi-
ker (1918–1945), Berlin, Dietz, 1990.
74 „Ein wenig zu füttern“: Im russischen Original: „podkormitʼ“. Russland war zwar der eigentliche
Gewinner des Brest-Litowsker Vertrages, musste jedoch Lebensmittel und Rohstoffe an Deutschland
liefern (siehe: Winfried Baumgart: Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Er-
sten Weltkrieges, Wien-München, 1966, S. 370ff.). Die wirtschaftlichen Beziehungen wurden in den
Anlagen 2 bis 5 geregelt ergänzen. Der Vertragstext in: 100(0) Schlüsseldokumente zur Russischen
und Sowjetischen Geschichte (Einführung: Winfried Baumgart), http://www.1000dokumente.de/
index.html?c=dokument_ru&dokument=0011_bre&st=BREST&l=de. Dokumenty vnešnej politiki
SSSR , Мoskva, 1957. Т. 1. S. 47–51.
75 Die kursivierten Passagen innerhalb des Satzes im Original deutsch.
Dok. 5: [Berlin], 13.10.1918 61
Truppen, die im Westen nicht kämpfen wollen,76 genauso weigern würden, im Osten
vorzurücken bzw. zu plündern. Als ich diese Frage an die hiesigen Genossen77 stellte,
traute sich keiner von ihnen, sich dahingehend zu erklären, dass eine solche Garantie
gegeben werden könnte. Sie fügen zwar hinzu, dass sie in einem solchen Falle zum
Aufstand aufrufen würden, erklären jedoch im gleichen Atemzug, es sei nicht sicher,
ob die Massen ihrem Aufruf auch folgen würden. Ich nehme an, dass wenn es auch
noch keine Übereinkunft zwischen Deutschland und der Entente gibt, jedoch inner-
halb Russlands eine solche Übereinkunft de facto herangereift ist.78 [...] Und wenn
die Engländer eine Invasion starten und ins Schwarzmeer eindringen (was sehr bald
bevorstehe und möglicherweise schon eingetroffen ist, wenn Sie den Brief erhalten),
werden die Deutschen ihnen keinen Widerstand entgegensetzen.79 [...]
Die Lage ist sehr ernst, die einzige Rettung liegt in der Revolution: in der Ukraine
würde ein Krieg gegen uns einen Aufstand gegen die Deutschen und Skoropadskij
bedeuten,80 Die Ankunft der Engländer würde den Verfall im Kosakentum nicht
aufhalten,81 dennoch liegt es völlig im Dunkeln, ob wir bis zur Revolution im Westen
durchhalten können, und obwohl ich mit der Notwendigkeit eines streng revoluti-
onären Tons unsererseits völlig einverstanden bin, denke ich, dass man die Deut-
schen nicht zu sehr reizen darf, und dass das Ende des „Diplomatisierens“ noch nicht
gekommen ist, denn parallel zur Entfaltung der Revolution ist es zusätzlich notwen-
dig, den deutschen Ansturm gegen uns aufzuhalten.
Ich bitte Sie schließlich, verehrter Vladimir Ilʼič, mir wenigstens in einigen Worten
zu antworten, ob Sie mit den hier dargelegten Gedanken einverstanden sind, da ich
unbedingt wissen muss, ob ich meine Politik, die ich für die einzig richtige halte,
fortsetzen soll.82
76 1918 erfolgten akute Auflösungserscheinungen deutscher Truppen an der Westfront (siehe: Ben-
jamin Ziemann: Enttäuschte Erwartung und kollektive Erschöpfung. Die deutschen Soldaten an der
Westfront 1918 auf dem Weg zur Revolution. In: Jörg Duppler, Gerhard P. Groß: Kriegsende 1918. Er-
eignis. Wirkung. Nachwirkung, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, München,
1999, S. 165–182).
77 „Genossen“ im Original deutsch.
78 Ioffe spielt auf die Unterstützung antibolschewistischer Kräfte in Russland sowohl durch die
Mittelmächte als auch durch die Entente an.
79 Im Juni 1918 landeten britische Truppen in Murmansk am Arktischen Ozean, im August 1919 in
Archangelʼsk. Eine britische Landung im Schwarzmeer erfolgte allerdings nicht – es waren französi-
sche und griechische Truppen, die kurzzeitig Odessa besetzten.
80 Der ukrainische General Pavlo Skoropadʼskyj (1873–1945) war von April bis November 1918 Staats-
oberhaupt einer von den Mittelmächten eingesetzten Marionettenregierung in der Ukraine.
81 Nach der Niederschlagung der Erhebung der Don-Kosaken im Februar 1918 und dem Selbstmord
ihres Anführers Aleksej Kaledin kam der einheitliche kosakische Widerstand gegen die Bolschewiki
weitgehend zu einem Stillstand.
82 Am 18.10.1918 antwortete Lenin auf Ioffes Brief: „Werter Gen. Joffe! [...] Ich habe nichts gegen eine
Fortsetzung des ‚Diplomatisierens‘. Aber es hat nicht mehr solche Bedeutung. Jetzt geht es darum, ob
es der Entente gelingt, am Schwarzen Meer mit starken Kräften an Land zu gehen. Über diese Gefahr
rede ich seit langem zu allen und überall und habe das auch in meinem Brief an das ZEK deutlich ge-
62 1918–1923
Ihr A. Ioffe
P.S. Vor einiger Zeit habe ich eine kleine Notiz gegen den letzten Artikel Bernsteins
verfasst. Das Erscheinen in der Presse hat sich verzögert, da ich sie legal herausbrin-
gen wollte. Sobald sie erscheint, werde ich sie Ihnen zuschicken.83 Gegen Kautsky zu
schreiben ist viel schwieriger, da wissenschaftliches Material notwendig ist, und ich
habe sehr wenig Zeit. Ihr „Staat und Revolution“ wird illegal erscheinen. Es wird bald
herauskommen.84 A.I.
P.S. Gerade habe ich die Resolution und den Aufruf der Spartakusleute erhalten.85
Ich schicke Ihnen [beides]. Offiziell gilt, dass die Konferenz in Erfurt am 7. Oktober
stattfand.
sagt. Der grundlegende Unterschied zum Februar 1918 ist der, daß wir damals die Möglichkeit hatten,
Zeit zu gewinnen, indem wir Land abgaben. Jetzt besteht eine solche Möglichkeit nicht. Mit besten
Grüßen Ihr Lenin.“ (Lenin: Briefe, XXIIX, S. 189).
83 Der Historiker Ottokar Luban argumentiert diesbezüglich: „Weiterhin haben Joffe und weitere
Bolschewiki erheblich dazu beigetragen, dass die kritische Haltung prominenter Unabhängiger So-
zialdemokraten wie Kautsky und Bernstein zur bolschewistischen Politik in der USPD nicht die Ober-
hand gewann, sondern dass die von den Linken Franz Mehring und Ernst Däumig – trotz punktueller
Vorbehalte – repräsentierte Zustimmung, Sympathie und Solidarität überwog.“ (Ottokar Luban: Lu-
xemburg und die Beziehungen zwischen den deutschen Linkssozialisten und den russischen Bol-
schewiki, Mai 1918 – März 1919, Referat auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Woronesh, Russische
Föderation, am 21. Mai 2009, russ. publiziert: Ottokar Luban: Roza Ljuksemburg i vzaimootnošenija
meždu germanskimi levymi i bolʼsevikami v mae 1918 – marte 1919 g. In: Sergej V. Kretinin (Hrsg.):
Germanija i Rossija. Sobytija, obrazy, ljudi. Bd. 7: Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii
„Roza Ljuksemburg i sovremennaja Rossija“, Voronež 21–22 maja 2009 g., Voronež, Naučnaja kniga,
2009, S. 27–42, hier S. 36.
84 Lenins theoretische Begründung der Notwendigkeit einer gewaltsamen Zerschlagung des bürger-
lichen kapitalistischen Staates ershien zunächst 1917 im russischen Original. Am 20.9.1918 forderte
Lenin in einem Brief an Jan Berzin, Vorovskij und Ioffe, „möglichst bald meine Arbeit ‚Staat und
Revolutionʼ in deutscher Sprache herauszugeben“ (Lenin, Briefe, XXIIX, S. 177). Mitte Oktober 1918
schrieb Lenin an Berzin: „Wann kommt endlich mein ‚Staat und Revolutionʼ heraus?? Schicken Sie es
dann sofort.“ (Lenin, Briefe, XXIIX, S. 188). Noch im gleichen Jahr erschien Lenins „Staat und Revo-
lution“ mit dem Untertitel „Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in
der Revolution“ gleich zweimal in deutscher Sprache, im Berner Promachos-Verlag und im Berliner
Verlag „Die Aktion“.
85 Siehe Dok. 8.
Dok. 7: Moskau, 28.12.1918 63
Dok. 7
Kritische Fragen des sowjetischen Außenkommissars Georgij
Čičerin an Lenin zur Gründung der Komintern und zu den
deutschen Spartakisten
Moskau, 28.12.1918
28.XII [1]918
mir ist bei Ihnen [in Ihrem Brief] nicht alles klar.86 Haben Sie sich schon mit dem
„Spartakisten“ verständigt, oder muss man sich noch mit ihm verständigen, oder muss
man ihn vor die vollendete Tatsache der von uns ausgehenden Einladung stellen?87
Wird denn die Einladung von uns alleine ausgehen? Wird er den Text des Aufrufes
(inklusive der vorgeschlagenen Plattform), den man jetzt ausarbeiten muss, von uns
an die einzuladenden Organisationen überbringen?88
86 Lenin hatte am 27./28.12.1918 an Čičerin geschrieben: „Wir müssen schnellstens (noch vor der Ab-
reise des ‚Spartakistenʻ durch das ZK bestätigen lassen) die internationale sozialistische Konferenz
zur Gründung der III. Internationale vorbereiten. (in Berlin (legal) oder in Holland (illegal), sagen wir,
zum 1.II.1919 jedenfalls sehr bald [...].“ Dazu machte er entsprechende Vorschläge zu den inhaltli-
chen Grundsätzen, der organisatorischen Basis und der einzuladenden Organisationen und Parteien
(siehe: Lenin: Briefe, V, S. 221–224; in deutscher Sprache publ. in: Hedeler/Vatlin: Die Weltpartei, S.
7–8). Der Brief zeugt von einer starken Opposition Čičerins gegen Lenins Vorpreschen zur Gründung
der Komintern.
87 Čičerin argumentiert in seinem Brief ähnlich wie die Spartakusführer. Bei dem erwähnten Sparta-
kisten handelte es sich um den schwäbischen sozialdemokratischen Journalisten und Kunstsammler
Eduard Fuchs, einem Gründungs- und Leitungsmitglied des Spartakusbunds. Er traf am 25.12.1918
in der Sowjetunion ein und wenig später mit Lenin zusammen (siehe: Ulrich Weitz: Eduard Fuchs.
Sammler, Sittengeschichtler, Sozialist, Stuttgart, Stöffler & Schütz, 1991; Heiner Jestrabek: Eduard
Fuchs. Kunstsammler und Zeitkritiker. Eine biographisch-politische Skizze, Reutlingen, Verlag Frei-
heitsbaum, 2012, S. 112f.; Ottokar Luban: Die Finanzierung der illegalen Antikriegsflugschriften im
Ersten Weltkrieg: Spartkausgruppe und linksbürgeriche Pazifisten im Bund „Neues Vaterland“. In:
Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (2008), S. 32–45.
88 Der definitive Einladungsaufruf zur Gründung der III. Internationale wurde am 24.1.1919 in der
Pravda unter dem Titel „Zum Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale“ veröffent-
licht (später deutsch, siehe: Das Einladungsschreiben an die Kommunistische Partei Deutschlands
(Spartakusbund). Zum 1. Kongress der Kommunistischen Internationale. In: Die Kommunistische In-
ternationale (1919), Nr. 1 (August 1919). Entgegen der parteioffiziellen Überlieferung, nach der der
Text von Trotzki verfasst wurde, wofür u.a. die Aufnahme in seine (abgebrochenen) Gesammelten
Werke spricht (siehe: Lev Trockij: Sočinenija, XII, S. 33–37; als Mitverfasser wird er auch in: Drabkin/
Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 88, genannt), sehen Hedeler/Vatlin Bucharin als Autor, mit
zusätzlichen Korrekturen von Lenin (siehe: Hedeler/Vatlin: Die Weltpartei, S. XXVIII).
64 1918–1923
Wenn nicht Berlin (wo Überraschungen möglich sind), wieso dann Holland,
wohin wir nur über den Seeweg, an England vorbei, gelangen können (solange
Deutschland versperrt ist), und nicht Schweden oder Norwegen?
Sie unterscheiden unter a) die „Grundlagen“, d.h. ein positives Programm, und
b) eine „Basis“, d.h. das negatives Merkmal „mit S[ozial-]Patr[ioten] nichts gemein“.
Wieso diese zwei Rubriken? Die „organisatorische“ Basis ist etwas Anderes – es ist die
Frage nach dem einheitlichen Zentrum. Das Leben selbst stellt diese Frage. Muss man
sie stellen? Dies ist eine der schwierigsten Fragen. Die Berner Kommission von Bala-
banova war Fiktion. Muss es in den einzelnen Ländern eine vereinte Partei geben?
Was ist mit den linken S[ozial-]R[evolutionären]? Wie ist unser Verhältnis zu den Syn-
dikalisten, wenn wir das Parlament ablehnen?
Im Anhang „Wen rufen wir[?]“ vermischen Sie die „Grundlagen“ und die „Basis“. Sie
definieren S[ozial]-Patr[ioten] danach, wer 1914–1918 [die eigene Regierung] unterstützt hatte
usw. Aber einige Spartakisten haben 1914 auch für die Kredite gestimmt.89 Und die Österrei-
cher haben eine Evolution durchgemacht. Überhaupt gibt es jetzt einige Umdisponierungen.
Weiter, die Verpflichtung zur Spaltung – und an selber Stelle erwähnen Sie Loriot.90 Sogar die
Spartakisten haben noch nicht mit Haase gebrochen.91 Weiter, der verpflichtende Charakter
des Sowjet-Modells – das ist etwas Neues. Vielleicht werden die Engländer ja keine Räte,
sondern shop stewards92 einführen. Sollte man sich nicht auf die Pflicht des Kampfes für die
Diktatur des Proletariats beschränken? Ich konnte die Parteien nicht überall gleichermaßen
beobachten – haben die holländischen Tribunisten etwa das Sowjet-Modell anerkannt?93
Es wird noch weitere schwierige Fragen geben – wie ist es mit der B[ritischen]
S[ozialistischen] P[artei], und mit der S[ocialist] L[abor] P[arty] in England und
Amerika? Ich weiß überhaupt nicht, was sich bei ihnen tut. Wieso sind die Norweger
nicht auf einer Linie mit den schwedischen Linken?
Ich werde mich mit Bucharin in Verbindung setzen, bitte Sie jedoch, diese Fragen
zu beantworten.
Mit Genossengruß,
Čičerin
89 Čičerin bezieht sich hier auf das Auseinanderfallen der II. Internationale infolge der Zustimmung
zu den Kriegskrediten durch die SPD am 4. August 1914 und weiterer sozialdemokratischer Parteien
Europas. Bei der ersten Abstimmung hatte sich auch Karl Liebknecht noch der SPD-Fraktion unterge-
ordnet und für die Zustimmung zu den Krediten gestimmt.
90 „Loriot“ im Original in lateinischer Schrift.
91 Erst Ende Dezember 1918 erfolgte die Abspaltung von der USPD.
92 „Shop stewards“ im Original in lateinischer Schrift. Shop stewards waren die gewählten gewerk-
schaftlichen Vertreter der Betriebe oder Teilen der Betriebe.
93 Der um die Zeitung De Tribune gescharte marxistische Flügel der niederländischen Sozialdemo-
kratie wurde 1909 ausgeschlossen und gründeten die Sociaal-Democratische Partij (SDP) und 1919
die Communistische Partij Holland (CPH). Während des Weltkriegs verteidigten sie die Positionen des
Internationalismus. Siehe: Mathijs C. Wiessing: Die Holländische Schule des Marxismus. Die Tribuni-
sten. Erinnerungen und Dokumente, Hamburg, VSA, 1980.
1919
Dok. 8
„Auf, Proletarier! Zum Kampf!“ Aus dem von Rosa Luxemburg
verfassten ersten Programm der KPD (Spartakusbund)
[Berlin], vor 14.12.1918
Publ. in: Was will der Spartakusbund? In: Die Rote Fahne, 14.12.1918. Wieder abgedruckt in: Hermann
Weber: Der deutsche Kommunismus, S. 34–42, id.: Der Gründungsparteitag der KPD.
1 Das in der Roten Fahne veröffentlichte und von Rosa Luxemburg verfasste Programm wurde auf
dem Gründungsparteitag der KPD (30.12.1918–1.1.1919) angenommen.
2 „Baal“: Mythologische Figur für unterschiedliche Gottheiten im Raum Syrien-Levante-Ägypten, die
im Christentum zur dämonischen Figur wurde.
66 1918–1923
3 Noch bis in die dreißiger Jahre hinein verteidigte die KPD die grundsätzliche Ablehnung des indi-
viduellen Terrors. Ein Paradigmenwechsel erfolgte erst nach dem deutschen Angriff auf die Sowje-
tunion, als die Kommunisten seitens der Komintern auch zu Attentaten auf Soldaten oder andere
„feindliche Elemente“ aufgefordert wurden.
4 Die Redewendung „Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust“ wird in der Publizistik häufig als
Beleg für die diktatorischen Zielsetzungen Rosa Luxemburgs herangezogen. In der Geschichte der
Arbeiterbewegung wurde sie – so bei Lassalle – vor allem als Aufforderung gegen versöhnlerisches
Verhalten und Kompromisse mit dem Absolutismus und der Bourgeoisie benutzt. Siehe u.a.: Eckhard
Jesse: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust. Rosa Luxemburg verdient kein Denkmal. Der Geg-
nerin der parlamentarischen Demokratie war die Freiheit der Andersdenkenden nie ein Anliegen. In:
Die Welt, 1. März 2002.
Dok. 9: [Berlin], 9.1.1919 67
Dok. 9
Brief Karl Radeks an die KPD-Zentrale zum Verzicht auf den
Januaraufstand 1919
[Berlin], 9.1.1919
Erste vollständige deutsche Veröffentlichung, auszugsweise publ. in: Illustrierte Geschichte der
deutschen Revolution, Frankfurt am Main, Verlag Neue Kritik, 1970 (Nachdr. der Ausg. Berlin 1929),
S. 282. Komplett in russischer Sprache publ. in: Karl Radek: Germanskaja revoljucija, II, Moskva–
Leningrad, Gos. Izd., 1925, S. 93–95.
Liebe Genossen!5
Die Berliner Bewegung ist in die Sackgasse geraten, deswegen war ich gezwungen,
bereits am Montag6 einzelnen Mitgliedern des Zentralkomitees meine Meinung
darüber kundzutun, daß man den Kampf einstellen muß.7 Sie werden jetzt verstehen,
warum ich mich in letzter Minute an Sie als die Führer der Deutschen Kommunisti-
schen Partei mit der Bitte wende, allen Parteimitgliedern meine bescheidene Meinung
5 Der Historiker Luban bemerkt zu diesem Brief: „[...] Am interessantesten für den Historiker ist [...]
der 1929 in der parteioffiziösen Geschichte der Novemberrevolution 1918 veröffentlichte Brief Karl
Radeks an die KPD-Zentrale vom 9. Januar 1919, in dem er die Führung der deutschen Kommuni-
sten aufforderte, sich aus der aussichtslosen Aufstandsbewegung zurückzuziehen, zum Abbruch des
Kampfes und gleichzeitig zur sofortigen Neuwahl der Arbeiterräte aufzurufen. Bedauerlicherweise
wird nur ein Teil des Briefes wörtlich, auch noch mit einer Auslassung, zitiert, von einem weiteren
Briefteil wird nur der Inhalt referiert. In einer in Deutschland nur schwer zugänglichen russischspra-
chigen Publikation eines Radek-Aufsatzes soll der auf deutsch geschriebene Brief ungekürzt in russi-
scher Übersetzung enthalten sein. Im Original war der Brief den Historikern bisher nicht zugänglich.“
(Luban: Karl Radek im Januaraufstand, S. 377f.)
6 Gemeint ist der 6.1.1919. Der Brief wurde am darauf folgenden Donnerstag verfasst (vgl. Luban: Karl
Radek im Januaraufstand, S. 393).
7 Die Rede ist von den Januarkämpfen des Jahres 1919 (auch „Januaraufstand“ und „Spartakusauf-
stand“), die zunächst von der USPD und den revolutionären Obleuten als entscheidender Macht-
kampf gegen die in der Regierung verbliebene SPD Eberts und Scheidemanns ausgerufen wurden.
Die KPD schloss sich erst später an. Als Reaktion auf die Absetzung des USPD-Polizeipräsidenten
Emil Eichhorn durch die preußische SPD-Regierung am 4.1.1919 hatte sich eine breite Bewegung der
Berliner Arbeiter entwickelt, Berliner Truppen wurden für einen Aufstand bzw. die Festsetzung der
Regierung kontaktiert. In der KPD traten Liebknecht und Pieck für die Teilnahme am Aufstand ein,
während Rosa Luxemburg, Paul Levi sowie Hermann und Käte Duncker ihn in dieser Phase scharf ab-
lehnten. Radeks Vorschlag zum Abbruch der Kämpfe traf wiederum auf den Widerstand Luxemburgs
und großer Teile der revolutionären Linken, da ein gemeinsamer Aufruf der Linken für den Gene-
ralstreik und zum bewaffneten Kampf für den 10./11.1.1919 die Möglichkeit eines Erfolg suggerierte.
Mittels der Besetzung Berlins durch Regierungstruppen wurde die geschwächte Massenbewegung
niedergeworfen, für die KPD erfolgte der Abbruch erst am 13.1.1919, als Luxemburg schließlich auf
die Position Radeks einschwenkte. Sowohl die DDR-Legende vom vernünftigen Rückzug der KPD, als
auch die These vom „Spartakusaufstand“ wird neuerdings in Frage gestellt (siehe hierzu: Luban: Rosa
Luxemburgs Demokratiekonzept, S. 66–117; id.: Karl Radek im Januaraufstand, S. 380f.).
68 1918–1923
als Mitglied einer Bruderpartei, die an der deutschen Bewegung genauso wie an ihrer
eigenen interessiert ist, mitzuteilen.8 In Ihrer Programmbroschüre: „Was will der Spar-
takus-Bund?“9 erklären Sie, die Regierung erst dann übernehmen zu wollen, wenn Sie
die Mehrheit der Arbeiterklasse hinter sich haben. Dieser vollkommen richtige Stand-
punkt findet seine Begründung in der einfachen Tatsache, daß die Arbeiterregierung
ohne Massenorganisationen des Proletariats undenkbar ist. Nun sind diese einzig in
Betracht kommenden Massenorganisationen, die Arbeiterräte, fast nur nominell vor-
handen. Sie haben noch keine Kämpfe geführt, die Massenkräfte auslösen könnten. Und
dementsprechend hat in ihnen nicht die Partei des Kampfes die Oberhand, die Kom-
munistische Partei, sondern die Sozialpatrioten oder die Unabhängigen. In dieser Situ-
ation ist an die Machtergreifung des Proletariats gar nicht zu denken. Würde sie, die
Regierung, durch einen Putsch in eure Hände fallen, sie würde in ein paar Tagen von der
Provinz abgeschnürt und erdrosselt werden.
In dieser Situation durfte die Samstag von den revolutionären Obleuten10 beschlos-
sene Aktion wegen des Anschlags der sozialpatriotischen Regierung auf das Polizeiprä-
sidium nur den Charakter einer Protestaktion tragen.11 Die Vorderreihe des Proletariats,
erbittert durch die Politik der Regierung, mißleitet durch die revolutionären Obleute,
die ohne jede politische Erfahrung, nicht imstande sind, das Kräfteverhältnis im ganzen
Reich zu übersehen, haben in ihrem Elan die Bewegung aus einer Protestbewegung zu
einem Kampf um die Gewalt ausgestaltet. Das erlaubt den Ebert und Scheidemann,
der Berliner Bewegung einen Schlag zu versetzen, der die ganze Bewegung auf Monate
schwächen kann. Die einzig bremsende Kraft, die dieses Unglück verhindern kann,
seid ihr, die Kommunistische Partei. Ihr habt genug Einsicht, um zu wissen, daß der
Kampf aussichtslos ist; daß ihr es wißt, haben mir eure Mitglieder, die Genossen Levi
8 Der im Folgenden kursivierte Text ist der in der „Illustrierten Geschichte der deutschen Revolution“
publizierte deutsche Wortlaut.
9 Was will der Spartakusbund?, Berlin, Rote Fahne, 1919. 18 S.
10 Die Revolutionären Obleute entstanden während des Ersten Weltkrieges als radikaler, gegen den
Krieg und seine sozialen und politischen Folgen gerichteter Flügel in den Gewerkschaften und der
USPD, in geringerem Umfang auch im Spartakusbund. Mit den Berliner Metallarbeitern als stärkster
Bastion verstanden sie sich als Führung der Arbeiterschaft und Organisatoren der erwarteten bevor-
stehenden Revolution. Die Obleute waren an der Vorbereitung der Januarstreiks 1918 und des provi-
sorischen Arbeiter- und Soldatenrats (gegründet im September d. J.) wie auch an den Januarkämp-
fen 1919 maßgeblich beteiligt und übernahmen jeweils die Führung. Zu den bekanntesten Vertretern
gehörten Richard Müller, Emil Barth, Ernst Däumig und Georg Ledebour (Siehe: Broué: Révolution
en Allemagne, S. 53–256; Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution,
Berlin, Dietz, 2008 (Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus. 7)).
11 Es handelt sich um die Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn durch den Rat
der Volksbeauftragten unter der Führung von Friedrich Ebert, der Eichhorn der Unzuverlässigkeit
während der Weihnachtskämpfe 1918 bezichtigte, als der sozialdemokratische Stadtkommandant
Otto Wels, der Anfang Dezember das Feuer auf demonstrierende Spartakisten eröffnen ließ, von meu-
ternden Marinesoldaten als Geisel gefangengenommen wurde. (USPD)
Dok. 9: [Berlin], 9.1.1919 69
und Dunckers [d.i. Hermann Duncker] gesagt.12 Natürlich weiß ich, wie schwer es ist,
nach all den Opfern vor die Massen zu treten und sie zum Rückzug aufzufordern.
Ich weiß, daß dies zu einer moralischen Depression führen wird. Aber eine morali-
sche Depression ist nichts im Gegensatz zu dem, was die Massen nach dem Aderlass
sagen werden. Sie werden nämlich sagen, daß sie zu einem aussichtslosen Kampf
von blinden Führern angestachelt wurden, oder von solchen, die den Abgrund sehen,
sich jedoch aus revolutionärem Ehrgeiz nicht trauen, „Halt!“ zu rufen. Jeglicher revo-
lutionärer Ehrgeiz muß vor dem realen Verhältnis der Kräfte zurückweichen. Nichts
verbietet einem Schwächeren, sich vor der Übermacht zurückzuziehen. Wir haben im
Juli 1917, obwohl wir damals stärker waren als ihr jetzt, die Massen mit allen Kräften
zurückgehalten, und als dieses nicht gelang, sie durch rücksichtsloses Eingreifen aus
einer bevorstehenden aussichtslosen Schlacht herausgezogen.13 Und trotz eines vorü-
bergehenden Stimmungstiefs, trotz der Tatsache, daß unsere Genossen unter Tränen
und Verwünschungen ihre Waffen fallen ließen, haben sie in der Folgezeit uns um so
mehr Vertrauen geschenkt, da sie sahen, daß unsere Politik ihnen gegenüber völlig
aufrichtig war.
Folgendes ist jetzt, meiner Meinung nach, zu tun: 1. Von den Obleuten die Ein-
stellung des Kampfes zu verlangen, die Arbeiter und Soldaten, wenn möglich samt
Waffen, aus dem Kampf herauszuführen, oder ohne Waffen, falls ein langsamer und
geordneter Rückzug nicht möglich ist. In einem Manifest, das ein blutiges Massaker
als unabdingbar herausstellen soll, muß die Neuwahl des Zentralrats der Arbeiter-
und Soldatenräte14 gefordert werden. Durch den Verrat des Berliner Exekutivkomi-
tees15 ist es möglich, diesen Kampf im Sinne eines Kampfes um die Machtorgane der
Berliner Arbeiterklasse zu führen. 2. Wenn die Obleute euren Vorschlag ablehnen,
muß man mit ihnen brechen, den Massen die Wahrheit über ihre Lage sagen, und
eine wirkliche Vertretung der revolutionären Arbeiterklasse Berlins statt des Grüpp-
chens der Obleute anstreben. Diese Variante muß eure Bewegung im ganzen Land
zum Kampf für die Arbeiterräte, ohne die ihr an die Ergreifung der Macht nicht einmal
denken könnt, werden lassen.
Ich habe mir erlaubt, euch meine Meinung mitzuteilen, allerdings nicht kraft
meines Mandats – ich weiß selbstverständlich nicht, welche Meinung die RKP gegen-
wärtig zur Lage in Berlin vertritt, sondern kraft meiner Erfahrung, die ich mir in der
russischen Bewegung angeeignet habe, und meiner Kenntnis der Lage in Deutsch-
land.16
12 In dem bei Radek selbst publizierten Brieftext ist lediglich von „Genossen L. und D.“ die Rede.
13 Radek bezieht sich hier auf den gescheiterten Aufstandsversuch der Bolschewiki im Juli 1917.
14 Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte, auch „Zentralrat der deutschen sozialistischen Repu-
blik“. In der von Radek publizierten russischen Fassung „Sovet rabočich deputatov“ („Rat der Arbei-
terdeputierten“).
15 Gemeint ist der Rat der Volksbeauftragten als Regierungsorgan unter der Führung Eberts
16 Radek wurde selbst am 13.2.1919 verhaftet. Seine zentralen Ziele in Deutschland, die Verhinde-
rung einer zu wenig effektiven Parteigründung, den unverzüglichen Abbruch der Januarkämpfe sowie
70 1918–1923
Dok. 10
Letzter Brief Rosa Luxemburgs an Clara Zetkin über die
Entwicklung der jungen KPD
[Berlin], 11.1.1919
IML ZPA Moskau (ohne weitere Quellenangabe). Publ. in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, V,
Berlin (Ost), 1984, S. 426–427.
Liebste Klara, heute erhielt ich Deinen ausführlichen Brief, kam endlich dazu, ihn
in Ruhe zu lesen und, was noch unglaublicher: ihn zu beantworten.17 Es ist nämlich
nicht zu beschreiben, welche Lebensweise ich – wir alle – seit Wochen führen, den
Trubel, den ständigen Wohnungswechsel, die unaufhörlichen Alarmnachrichten,
dazwischen angestrengte Arbeit, Konferenzen etc. etc. [...] Meine Wohnung sehe ich
nur ab und zu für ein paar Nachtstunden. Heute wird es vielleicht doch mit dem Brief
gelingen. Nur weiß ich nicht recht, wo ich anfangen soll, so viel habe ich Dir zu sagen.
Also vor allem, was die Frage der Nichtbeteiligung an den Wahlen betrifft:18 Du
überschätzt enorm die Tragweite dieses Beschlusses. [...] Unsere „Niederlage“ war
nur der Triumph eines etwas kindischen, unausgegorenen, gradlinigen Radikalis-
mus. Aber das war eben nur der Anfang der Konferenz. In ihrem weiteren Verlauf
wurde die Fühlung zwischen uns (der Zentrale) und den Delegierten hergestellt, und
als ich während meines Referats auf die Frage der Wahlbeteiligung kurz zurückkam,
fühlte ich schon eine ganz andere Resonanz als im Anfang. Vergiß nicht, daß die
„Spartakisten“ zu einem großen Teil eine frische Generation sind, frei von den ver-
die Zustimmung der KPD zur Gründung der Kommunistischen Internationale hatte er – wie Luban
ausführt – nicht erreicht. Siehe: Luban: Radek im Januaraufstand, S.397.
17 Der Brief datiert vom 17.11.1918, Clara Zetkin analyiserte hierin den Charakter der Novemberrevo-
lution als „über die Grenzen der politischen Demokratie, einer bürgerlichen Revolution“ hinausgrei-
fende Bewegung der Arbeiter gegen „den katastrophalen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt“
und die Konstituierend Nationalversammlung als „der deckende Schild der bourgeoisen Gegenrevo-
lution“. Weiterhin ging es um die Frage, wie sich Clara Zetkin, die hohe Ämter in der USPD bekleidete,
angesichts der Gründung der KPD verhalten sollte. Sie blieb vorerst noch in der USPD, wurde jedoch
noch im Jahre 1919 Mitglied der Zentrale der KPD (siehe: Eine Welt von Fragen. Ein unbekannter Brief
von Clara Zetkin an Rosa Luxemburg. In: Vorwärts, 1.5.1969, S. 19f.; dazu: Hermann Weber: Dokument
der Zeitgeschichte, ibid., S. 21; id.: Zwischen kritischen und bürokratischen Kommunismus. Unbe-
kannte Briefe von Clara Zetkin. In: Archiv für Sozialgeschichte 11 (1971), S. 417–448; vgl. Luise Dorne-
mann: Clara Zetkin. Ein Lebensbild, Berlin (-Ost), Dietz, 1957, S. 287f.).
18 Mit 62 zu 23 Stimmen wurde auf dem Kongress ein von Otto Rühle eingebrachter Beschluss an-
genommen, die Beteiligung der KPD an den Wahlen zur Nationalversammlung abzulehnen. Clara
Zetkin kritisierte schärfer als Rosa Luxemburg den Parteibeschluß, sich nicht an den Wahlen zur Wei-
marer Nationalversammlung zu beteiligen.
Dok. 11: Berlin, nicht vor 24.01.1919 71
blödenden Traditionen der „alten bewährten“ Partei – und das muß mit Licht- und
Schattenseiten genommen werden. [...]
Im ganzen entwickelt sich unsere Bewegung prächtig und zwar im ganzen
Reich. Die Trennung von der USP war absolut unvermeidlich geworden aus politi-
schen Gründen, denn wenn auch die Menschen noch dieselben sind, wie sie in Gotha
waren,19 so ist doch die Situation eine total andere geworden. Die heftigen politischen
Krisen, die wir hier in Berlin alle zwei Wochen oder noch häufiger erleben, hemmen
stark den Gang der systematischen Schulungs- und Organisationsarbeit, sie sind
aber zugleich selbst eine großartige Schule für die Massen. Und schließlich muß man
die Geschichte so nehmen, wie sie laufen will. – Daß Du die ‚Rote Fahneʻ so selten
erhältst, ist geradezu fatal! Ich werde sehen, daß ich sie Dir täglich schicke. In diesem
Augenblick dauern in Berlin die Schlachten, viele unserer braven Jungen sind gefal-
len, Meyer, Ledebour und (wie wir befürchten) Leo [Jogiches] sind verhaftet.20
Für heute muß ich Schluß machen.
Dok. 11
Brief Karl Radeks an Lenin, Čičerin und Sverdlov über die Lage in
Deutschland nach den Januarkämpfen
Berlin, nicht vor 24.01.1919
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 2/2/143, 22–26. Russisch publ. in: Drabkin/
Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 90–97. In deutscher Sprache publ. in: Ottokar Luban: Karl
Radek im Januaraufstand. In: IWK (2000), 3, S. 377–397.
Verehrte Genossen.
Die Berliner Niederlage wirft ein helles Licht auf das Kräfteverhältnis und auf die Lage
der Kommunistischen Partei.21 Im Bericht, der für die Presse vorgesehen ist, zeichne
ich Ihnen ein Bild vom äußeren Ablauf der Ereignisse. Hier gebe ich ausschließlich
eine interne Ergänzung. Im gesamten Reich wächst die revolutionäre Arbeiterbewe-
gung. Überall geht die Arbeitsproduktivität zurück. Überall kommt es zu spontanen
ich in der nachdrücklichsten Weise den einzelnen Mitgliedern der Zentrale,25 dieser
Form der Demonstration ein Ende zu bereiten, da die politische Macht noch nicht
erobert werden könne. Wenn man die Scheidemann-Regierung noch erdulden müsse,
dann müsse man auch den sozialpatriotischen Polizeipräsidenten erdulden. Auch die
besetzten bürgerlichen Zeitungen waren nicht zu halten. Ich schlug vor, den Kampf
um die Zeitungen in den konkreten Kampf um die gerechte Papierverteilung umzu-
funktionieren und den Kampf um das Polizeipräsidium in den Kampf um die Neu-
wahlen eines Arbeiterrates, der letztendlich die Verhandlungen mit der Regierung
über die Ernennung des Polizeipräsidenten hätte führen sollen. Die Mitglieder der
Zentrale waren einverstanden, daß die Eroberung der politischen Macht noch nicht
möglich sei, aber sie hatten nicht genug Mut, daraus ohne Zögern alle Schlußfolge-
rungen zu ziehen. Sie versteckten sich hinter sentimentalen Phrasen und Hoffnun-
gen, ihr Prestige erlaube es nicht, die Sache zu beenden, es sei angeblich unmöglich,
mit der Regierung zu verhandeln, und schließlich: die zu den Unabhängigen gehö-
renden revolutionären Obleute könnten die Front wechseln, einen Kompromiß mit
der Regierung eingehen und die Verantwortung für das Scheitern auf sich nehmen.
Während sie diese Hoffnungen pflegten, veröffentlichte die ,Rote Fahneʻ einen wüten-
den Aufsatz gegen die Verhandlungen. Die Lage komplizierte sich noch dadurch, daß
Liebknecht, der im Laufe dieser Tage alle Angelegenheiten mit Ledebour und den
revolutionären Obleuten ohne Kontakt mit der Parteileitung verhandelte, durch sein
Temperament zu weit mitgerissen wurde und die Erklärung über den Sturz der Regie-
rung und die Bildung einer neuen – all das ohne Kenntnis der Zentrale – unterschrieb
und sich selbst durch diese Schritte die Hände band.26 Als die Zentrale endlich wieder
mit ihm in Kontakt kam, begannen die Auseinandersetzungen um Kompetenzfragen,
wobei Rosa [Luxemburg] und Leo [Jogiches] ihm nicht genügend festen Willen zur
Beendigung dieses hoffnungslosen Kampfes entgegensetzten. Inzwischen waren die
Massen auseinandergelaufen, und einige tausend Mann aus dem Roten Soldaten-
bund27 und der Spartakusorganisation waren in den Zeitungsgebäuden der Belage-
rung ausgesetzt und erwarteten Hilfe von außen, die jedoch nicht kam.
25 „Zentrale“: Bis 1925 die Bezeichnungs für das Führungsorgan, danach Zentralkomitee der KPD.
26 Nach der Besetzung der „Vorwärts“-Redaktion am 4.1.1919 hatte Liebknecht trotz der für den
19.1.1919 angesetzten freien Wahlen gegen die Auffassung Rosa Luxemburgs einen Aufruf des
Revolutionsausschusses für den Sturz des Rates der Volksbeauftragten und den Generalstreik
unterzeichnet, ohne Kenntnis der Zentrale. Ebert setzte Noske ein, um relativ problemlos die
Besetzer niederzuschlagen (siehe: Ottokar Luban: Die ratlose Rosa. Die KPD-Führung im Berliner
Januaraufstand 1919. Legende und Wirklichkeit, Hamburg, VSA, 2001 (Sozialismus 28, 2001,
Supplement 1)).
27 Der von Willi Budich organisierte Rote Soldatenbund wurd am 15.11.1918 als bewaffnete Selbst-
schutzorganisation gegründet und bereits im Frühjahr 1919 wieder aufgelöst. Als bewaffnete, in den
„Weihnachtskämpfen“ 1918 engagierte Kämpfer hoffte besonders Liebknecht auf die Mitwirkung der
am 11.11.1918 gegründeten Volksmarinedivision hauptsächlich in Berlin auch in den Januarkämpfen,
was sich jedoch als Trugschluss erwies (siehe: Ulrich Kluge: Soldatenräte und Revolution. Studien zur
74 1918–1923
Der Mord an Rosa und Karl, der im ganzen Land unter den Arbeitermassen eine
kolossale Erregung hervorrief,28 half, die Berliner Niederlage zu überwinden. Überall
in der Provinz erhob sich eine Welle des Kampfes. Und hier in Berlin belebte sich
die organisatorische Arbeit wieder. Gestern abend fand die erste öffentliche Ver-
sammlung der Kommunisten in Berlin mit großer Beteiligung statt, und die morgigen
Beisetzungsfeierlichkeiten [für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 25. Januar
1919] werden höchstwahrscheinlich zu einer mächtigen Demonstration werden.29
Nunmehr, da Karl und Rosa nicht mehr sind, wird der große Mangel an literarischen
und politischen Führungskräften noch spürbarer. Ich werde mit einer Reihe von Flug-
blättern gegen den Putschismus und für die Eroberung der Arbeiterräte als den Weg
zur Macht auftreten. Die Zentrale ist damit einverstanden. Bereits im Flugblatt aus
Anlaß der Ermordung habe ich diesen Ton angeschlagen. Er muß tagtäglich konkre-
tisiert werden. Andernfalls droht die Gefahr, daß die spontane Bewegung Stück für
Stück zerschlagen wird und ohne Führung bleibt.
Die bürgerliche Presse, versteht sich, stellt die Sache so dar, daß wir – sie nimmt
die Anwesenheit einer großen Masse von russischen Bolschewiki an – zu Putschen
drängen. Sie hetzen wild, besonders gegen mich, so daß ich sehr isoliert zu leben
gezwungen bin und organisatorisch nicht wirken kann.30 Ihr solltet normale Prak-
tiker schicken, die deutsch sprechen können. Es ist zum Lachen, aber wirklich so:
Wir müssen den Deutschen das Organisieren beibringen. Wenn die Kommunisten
Militärpolitik in Deutschland 1918/19, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1975, S. 179f.; Heinrich
August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, Berlin/Bonn, Dietz, 1984, S. 107ff.
28 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden am 15.1.1919 in einer Privatwohnung in Berlin-
Wilmersdorf festgenommen. Der Mordbefehl ging vom Kommandanten der Garde-Kavallerie-Schüt-
zendivision, Waldemar Pabst, aus, der sich seinen Memoiren zufolge mit dem sozialdemokratischen
Volksbeauftragten und späteren Wehrminister der Weimarer Republik, Gustav Noske, abgesprochen
hatte, ohne dass es – wie neuere Forschungen ergaben – einen direkten Befehl gegeben hatte. Nach-
dem sie bereits während des Verhörs im Hotel Eden misshandelt worden war, wurde Luxemburg be-
wusstlos geschlagen, in ein Fahrzeug geworfen, dort erschossen und in den Berliner Landwehrkanal
geworfen. (siehe: Klaus Gietinger: Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs,
Neu durchgesehene, überarbeitete Ausgabe, Hamburg, Edition Nautilus, 2009 (Nautilus Flugschrift);
Annelies Laschitza/Klaus Gietinger (Hrsg.): Rosa Luxemburgs Tod. Dokumente und Kommentare,
Leipzig, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, 2010 (Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, H. 7).
29 Die Beisetzung fand erst am 13.6.1919 auf dem Zentralfriedhof in Berlin Friedrichsfelde statt, nach-
dem eine am 1.6.1919 geborgene Leiche aus dem Kanal als Rosa Luxemburg identifiziert wurde. Die
Identität der am 13. Juni 1919 auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde beigesetzten Toten ist entge-
gen den Mutmaßungen eines Arztes der Charité gesichert. Die von Mies van der Rohe errichtete Grab-
stätte auf dem Zentralfriedhof wurde während der NS-Herrschaft eingeebnet (Laschitza/Gietinger:
Rosa Luxemburgs Tod, u.a. S. 31ff.).
30 Radek wurde kurz nach Abfassung des Briefes im Februar 1919 verhaftet und daraufhin nach Rus-
sland ausgewiesen, wo er 1920 zum Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern ernannt wurde.
Seine Analyse der deutschen Situation fasste er in einer Broschüre zusammen (siehe: Arnold Strut-
hahn (Ps.), d.i. Karl Radek: Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der Kommu-
nistischen Partei, Stuttgart-Degerloch, Spartakus, 1919).
Dok. 11: Berlin, nicht vor 24.01.1919 75
hier nicht allzu große Dummheiten anstellen, wird die Situation im Verlaufe einiger
Monate so weit heranreifen, daß man an die Eroberung der Macht denken kann.
4. Die Frage der [Gründung der] III. Internationale wird hier sehr skeptisch beur-
teilt, obwohl die Hiesigen prinzipiell mit uns einverstanden sind.31 Sie glauben nicht,
daß in nächster Zukunft organisatorisch irgend etwas erreicht werden kann. Sobald
ich sie dazu gebracht habe, den Aufruf zu unterschreiben, veröffentliche ich ihn in
allen westeuropäischen Sprachen.32 Ich bin nicht der Ansicht, daß die Konferenz am
vorgesehenen Ort und zur vorgesehenen Zeit möglich ist.33
5. Die hier lebenden Russen sind vogelfrei, sobald sie auch nur den leisesten Ver-
dacht auf sich lenken, dem Bolschewismus nahezustehen. Viele völlig unschuldige
Menschen sind verhaftet worden. Die Berliner ROSTA – obwohl sie völlig legal exis-
tierte, ist verboten worden.34 Ihre Unterlagen sind konfisziert worden. Markovskij und
[Tovʼja] Axelrod, die überhaupt nichts mit der Parteiarbeit zu tun hatten, sitzen [im
Gefängnis]. Das Büro wurde besetzt und ausgeraubt, sie haben alle Vorräte vernichtet
und verschleppt, sogar privates Eigentum. In der Presse erschienen die allerwildes-
ten Gerüchte über Russland. Ich bin völlig hilflos, gegen sie anzukämpfen, da unsere
Funktelegramme durch die [deutsche] Regierung zurückgehalten werden. Die Zeitun-
gen bis 1 Januar [1919] habe ich erst am 23. ausgehändigt erhalten. Wir hatten die
Absicht, eine deutsche Funkstation in die Hand zu nehmen, aber bisher ist daraus
nichts geworden. Eine Empfangsstation einzurichten ist unmöglich, weil sich dies
unter konspirativen Bedingungen verbietet: es sei denn, man entschließt sich, eine
eigene Villa in der Provinz anzukaufen. Unbedingt erforderlich ist es, täglich Kuriere
mit Zeitungen zu schicken und außerdem täglich aus Wilna an das nächstgelegene
deutsche Grenzpostamt ROSTA-Telegramme. Sparen Sie weder Mittel noch Anstren-
gungen, um das zustande zu bringen. Ein Kampf gegen diese [antibolschewistische]
Kampagne ist ohne Material von Ihnen nicht möglich. Ich arbeite hier als Mitglied der
deutschen kommunistischen Partei, kann jedoch nicht als Verbindungsglied wirken.
6. Unsere Lage hier ist folgende35: Um zu verhindern, daß von uns drei Mann36 hier
nicht jeder für sich arbeitet, haben wir uns als Troika organisiert. Momentan ist außer
mir noch [Sachs-]Gladnev hier, und wir werden uns bemühen, so zu helfen, daß wir
sowohl Kontakte mit dem Osten wie mit dem Westen unterhalten.37 Dazu brauchen
wir praxiserfahrene Leute. Ich kann übrigens diesen Bericht nicht chiffrieren, weil
ich niemanden dafür habe und die Arbeit Überhand nimmt. Wir brauchen drei Leute
für den Kurierdienst hier und Sie drei Mann in Moskau. Wir brauchen einige Prakti-
ker in Organisationsfragen die deutsch sprechen, und größere Geldsummen in Mark,
Pfund und Francs. Deutsche Mark können in Litauen und Kurland gekauft werden,
nur kein Ostgeld [schicken].38 Unterhaltung der Verbindungen und der Kurierdienste
im Westen. Das Leben hier, wo große Wohnungen angemietet werden müssen, wenn
wir uns irgendwie halten wollen, all das wird große Summen verschlingen. Es gibt
auch die Möglichkeit, sich mit bürgerlichen Zeitungen und Journalisten zu unserem
Nutz und Frommen zu arrangieren, damit sie unsere Nachrichten verbreiten.
Ich habe bereits von einem neutralen Punkt aus ein Funktelegramm an eine große
amerikanische Zeitung geschickt. Wenn Sie Nikolaj Ivanovič [Bucharin] entbehren
könnten, so schicken Sie ihn her. Meiner Ansicht nach braucht man hier unbedingt
eine reguläre Vertretung des ZK [der Bolschewiki] und der zentralen Sowjetexeku-
tive. Neun Zehntel oder mehr Eurer Erklärungen gehen infolge des Boykotts durch die
Presse verloren. Wir könnten erreichen, daß man uns hört, wenn Nikolaj [Bucharin]
und ich und noch jemand Drittes, vielleicht Rechter,39 illegal irgendwo in Zentral-
europa als offizielle Vertretung leben. Informieren Sie bitte auch Litvinov, damit er
Verbindung mit uns aufnehmen soll, es wäre sehr sinnvoll, wenn Sie von der Entente
verlangen würden, daß sie unserem Vertreter für die Konferenz in Konstantinopel die
Durchreise durch Deutschland und Österreich erlaubt. Dann könntet Ihr Kontakt mit
uns aufnehmen.
7. Keiner der von Ihnen kommenden Kuriere hat etwas von Osinskij [d.i. Vale-
rian Obolenskij] mitgebracht.40 Ich mache Čičerin darauf aufmerksam, daß ich ohne
regelmäßige Versorgung mit Literatur und Zeitungen nichts machen kann. Das muß
alles in den Händen Osinskijs konzentriert sein, sonst gibt es Chaos. Geben Sie bitte
eine Kopie dieses Briefes an Bucharin und Osinskij. Gleichzeitig schicke ich wichtige
Zeitungsmaterialien. Aber der Dummkopf von Kurier, den Sie geschickt haben, hat
Angst, daß er sie nicht durchbringt. Bestätigen Sie den Empfang des Briefes.
Ich grüße Sie alle herzlich und hoffe, daß der Teufel Sie noch nicht bald holt.
Dok. 12
Brief von Leo Jogiches (Ps. „Tyszka“) an Lenin über die Lage der
KPD nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts
Berlin, 4.2.1919
Autograph in russischer Sprache, RGASPI, Moskau, 5/3/267, 1–1b. In deutscher Sprache publiziert
in: Ruth Stoljarowa: Vor 80 Jahren wurde Leo Jogiches ermordet. Vier unbekannte oder vergessene
Dokumente aus den Jahren 1917–1919. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1998),
4, S. 65–82, hier: S. 72–74. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern
i ideja, S. 98–101; auszugsweise in russischer Sprache publ. in: C. Ganeckij: Leon Tyška. In: Pravda,
29.03.1919, ebenfalls in: K.F. Bogdanova, A.P. Jakušina (Hrsg.): Pisʼma V. I. Leninu iz-za rubeža,
Moskva, Myslʼ, 2 izd., 1969, S. 117.
4. Feb[ruar 1919]41
Lieber Gen[osse]! Einen Gruß Ihnen und allen alten Freunden und Genossen! Wir
danken für Ihre Grüße an uns alle. (K[arl Liebknecht] und R[osa Luxemburg] konnten
sie schon nicht mehr erhalten...) Zwei Tage vor der Rückkehr Ed[uard Fuchsʼ]42 haben
sie unserer gemeinsamen Sache ihren letzten Dienst erwiesen. Die Mörder, die direk-
ten sowie auch die wahren Schuldigen, die Organisatoren und Urheber des Dramas
sind entlarvt, laufen aber unbehelligt unter dem Schutz von Ebert-Scheidemann
herum. Die Leiche R[osas] wurde noch „nicht aufgefunden“.43
41 Die folgende Übersetzung stammt von Ruth Stoljarowa und wird – mit geringfügigen Veränderun-
gen – mit ihrer freundlichen Genehmigung abgedruckt.
42 Der 1870 geborene linke Sozialdemokrat und Gründungsmitglied des Spartakusbundes Eduard
Fuchs, Historiker, Kunstsammler und Freund Franz Mehrings, war später in internationalen Solida-
ritätsorganisationen wie der IAH (d.h. der Internationalen Arbeiterhilfe) aktiv und mit Walter Benja-
min befreundet. Er spielte eine bedeutsame Rolle als Verbindungsmann und „Kassierer“ zwischen
Moskau und Berlin. Ende Dezember 1918 reiste Fuchs (Ps.: „Djadja“ [Onkel]) aus Berlin nach Moskau,
um Lenin über die Lage in Deutschland zu informieren und einen Brief von Rosa Luxemburg an ihn
zu übergeben.
43 Der Leichnam Rosa Luxemburgs wurde erst am 1.6.1919 aus dem Landwehrkanal geborgen. Die
Beisetzung fand am 13.6.1919 auf dem Zentralfriedhof in Berlin Friedrichsfelde statt. Bevor er selbst
am 10.3.1919 ermordet wurde, setzte sich Jogiches für die Bestrafung der bekannten Mörder ein, die
78 1918–1923
Wir werden den Schlag beantworten, indem wir unsere Anstrengungen verzehn-
fachen. Seit gestern erscheint unsere Berliner Zeitung wieder.44 Der Organisations-
apparat in der Provinz ist überhaupt nicht in Mitleidenschaft gezogen, der zentrale
funktioniert bereits wieder, er wird in einer Woche auf erweiterter Basis funktionie-
ren. Der Kurs bleibt der alte – trotz alledem und alledem!45
Die Berliner Ereignisse (Katastrophe) haben den Charakter „eines Putsches“46
angenommen. Wir sind nicht daran beteiligt und werden verhindern, daß sich derar-
tige „Ausbrüche“ mit einem solchen Charakter wiederholen. Die objektive Situation ist
günstig, unsere Bewegung und die Partei wachsen rasch.47
Wir haben beschlossen – obgleich die Leute insbesondere in der Parteispitze
gebraucht werden –, zum 15. Februar zwei, im äußersten Falle einen Delegierten nach
Moskau zu entsenden. Ob es ihnen gelingen wird, sich durchzuschlagen, ist eine
andere Frage. Die Zeit ist zu kurz. Wenn es möglich ist, wäre es ratsam, die geplante
Versammlung (in Moskau) um etwa zwei Wochen zu verschieben.48
– Und jetzt etwas für uns sehr Wichtiges. Ich bitte darum, dem möglichst bald
nachzukommen. Da unsere Notizen vernichtet sind, bitte ich Sie, sich darum zu
kümmern, daß uns möglichst bald durch einen zuverlässigen Kurier und auf sicherem
Wege eine exakte Abrechnung über die Summen zugesandt wird, die Onkel Eduard
übergeben (bzw. übersandt) wurden, ab November in Stockholm, einschließlich des
Zeitraumes seit seinem Aufenthalt bei Ihnen. Ich bitte darum, die Abrechnung auf
der Grundlage der Quittungen zusammenzustellen, die vom Empfänger ausgestellt
wurden. Und zwar vor allem: a) Wieviel hat Ihr Finanzvertreter in Stockholm im
letzten November – Dezember Onkel Ed[uard] bei der persönlichen Begegnung mit
ihm in welcher Valuta, in Wechseln, Schecks oder in bar ausgezahlt und (wenn Geld
in Stockholm umgetauscht wurde) wie hoch war die Summe insgesamt bzw. in Teilen
nach dem Umtausch? b) Wieviel hat Ihr Bevollmächtigter in Stockholm in Schecks,
Wechseln sowie in bar – über den Schweden hierher zur Übergabe an Onkel Ed[uard]
geschickt und welchen Inhalts war der dem Geld beigefügte Brief Ihres Bevollmäch-
tigten (dieser Brief wurde vernichtet)? c) Wieviel wurde Onkel Ed[uard] während
seines persönlichen Aufenthalts bei Ihnen – in Moskau und auch in Petersburg, wo
jedoch mit geringen Haft- und Geldstrafen davonkamen, oder, wie Waldemar Pabst selbst, nicht an-
geklagt wurden.
44 Gemeint ist Die Rote Fahne.
45 Satz im Original auf deutsch. Unter dem Titel „Trotz alledem!“ erschien am 15.1.1919 in der „Roten
Fahne“ der letzte Artikel Liebknechts.
46 „Eines Putsches“ im Original deutsch.
47 Die Publikation in der Pravda bricht an dieser Stelle ab.
48 Bei der „Versammlung“ handelt sich um den 1. Kongress der Kommunistischen Internationale, der
vom 2.–6.3.1919 in Moskau stattfand. Das hier angegebene Datum ist fiktiv, das tatsächliche Datum
wurde nicht offiziell verlautbart, um den Delegierten eine sichere Anreise nach Moskau zu gewährlei-
sten. Neben Hugo Eberlein sollte auch Willi Münzenberg nach Moskau kommen, der jedoch im Januar
verhaftet wurde. Auch Eugen Leviné, der zusammen mit Hugo Eberlein nach Moskau losgefahren war,
konnte nicht am Kongress teilnehmen, da er unterwegs bei einer Passkontrolle festgenommen wurde.
Dok. 12: Berlin, 4.2.1919 79
ihm ebenfalls eine bedeutende Summe ausgehändigt wurde – in welcher Valuta und
Verpackung übergeben? Beim letzten Mal hatte Onkel Ed[uard] übrigens nicht nur für
seine nächsten Freunde Geld bekommen, sondern auch für andere Zwecke. Ich bitte
mitzuteilen, wieviel für welchen Zweck und wieviel für seine nächsten Freunde (die
Valuta nicht vergessen). Nach seiner Rückkehr haben wir von ihm erfahren, daß er die
Leitung der Betreuung der hiesigen russischen Kriegsgefangenen (wie auch der Zivi-
listen) übernommen hat. Die Regierungen der Entente49 haben der deutschen Regie-
rung dieser Tage jegliche Betreuung der russischen Kriegsgefangenen im Auftrage der
russischen Regierung sowohl durch Deutsche als auch durch dritte Personen unter-
sagt. Die Entente50 nimmt die Betreuung der Kriegsgefangenen selbst in die Hand. Die
Betreuung der (russischen) Zivilisten – sofern eine solche überhaupt erforderlich ist:
es wird auf eine Verteilung von Zuwendungen hinauslaufen – könnten Sie am besten
übernehmen, indem hier eine Kommission geschaffen wird – die möglichst aus Ihnen
nahestehenden Personen bestehen sollten, möglichst ebenfalls aus Russen (einige
Leute und eine richtige, ordentliche Organisation).51
Ich bitte Sie, keine Zeit zu verlieren und die Abrechnung über das Geld abzusen-
den und deswegen nicht auf unsere Delegierten zu warten. – Dieser Tage hat die deut-
sche Regierung den deutschen Banken verboten (ein absolutes Verbot), russisches
Geld umzutauschen. Wer welches hat, hat schließlich gar nichts, die Lage ist sehr
schwierig.
Wenn Sie ausländische (beliebige) Valuta haben, schicken Sie möglichst große
Summen. Man kann sie in Koffern verpacken und direkt hierherschicken, oder –
wenn es einen Weg gibt – über Schweden. In Schweden und Dänemark kann man
Geld umtauschen und über Banken nach hier überweisen. Tun Sie, was möglich ist.
Die Abrechnung und Briefe von Ihnen bitte ich hier – nur persönlich, direkt in die
Hand – entweder meinem Genossen M.52 (Sie kennen ihn aus Zimmerwald-Kienthal53)
oder mir zu übergeben.
– Sollten Sie beschließen, die internationale Konferenz um etwa zwei Wochen
zu verschieben, teilen Sie dies über den drahtlosen Telegraphen mit, die bürgerliche
Presse wird das bestimmt abdrucken. Wir haben (vorerst) nur eine Radiostation zu
unseren Diensten.54
Grüße an Zin[oviev], Vlasov [d.i. Aleksej Rykov] und die anderen von mir, Ihnen
allen einen Gruß von unserer Zentrale.
Ich drücke Ihnen fest die Hand.
Dok. 13
Brief von Adolʼf Ioffe an Lenin über die Bayerische Räterepublik
und ihre Protagonisten
Vilʼno, 05.03.1919
Der Überbringer dieses Schreibens ist von den Bayern geschickt worden.55 Die Notiz,
die er mich zu öffnen bat, obwohl sie an Sie adressiert war, stammt wirklich von
Leviné, dessen Handschrift ich kenne. Zur Lage in Bayern wird Ihnen der Überbringer
selbst ausführlich berichten. Sie meinen, dort eine „Sowjet“-Republik geschaffen zu
haben; die Mehrheit stellen bei ihnen die Spartakusleute, und ihr Anführer ist, so
scheint es, Levien, oder Leviné, wie er sich nennt,56 den ich gut kenne. Er ist Russe
(Jude), hat aber aus irgendeinem Grund die deutsche Staatsbürgerschaft; er bezeich-
net sich als (linker) S[ozial]-[Revolutionär],57 hat jedoch nach dem SR-Aufstand und
54 Mit „Radiostation“ ist eine Funkstation gemeint. Der Satz wurde in der Publikation von Ruth Stol-
jarowa nicht abgedruckt.
55 Der zu Lenin geschickte Kurier war vermutlich der spätere Psychologe und Unternehmensberater
Ludwig Kroeber-Keneth. Siehe: Erhard Scherner: Die Fronten gingen durcheinander... Ein Interview
zu den Auskünften Ludwig Kroeber-Keneths aus Kronberg über seine und Alfred Kurellas Reise 1919
nach Sowjetrußland. In: Utopie kreativ (2008), 7–8, S. 662–690.
56 Offensichtlich hält Ioffe die beiden Führer der Münchner Räterepublik, den deutschstämmigen
Russen Max Levien und den jüdischstämmigen Russen Eugen Leviné, für ein und dieselbe Person.
Beide waren Anfang des Jahrhunderts nach Deutschland emigriert, beide erlangten 1913 bzw. 1915 die
deutsche Staatsbürgerschaft, und beide fingen ihre revolutionäre Karriere bei den russischen Sozial-
revolutionären an, wobei Levien bereits um 1908 herum zu den Bolschewiki wechselte. Ioffe bezieht
sich im Folgenden wohl auf Eugen Leviné, zumal Levien bereits im November 1918 nach München
ging (siehe: Weber/Herbst, Deutsche Kommunisten, S. 544–546).
57 Die Sozialrevolutionäre (eigentlich: „Partei der Sozialisten-Revolutionäre“, Partija socialistov-
revolucionerov) waren eine nichtmarxistische revolutionäre Partei, die 1901 gegründet wurde und
aus der Volkstümler-Bewegung hervorging. Sie war treibende Kraft hinter der Revolutionierung der
russischen Gesellschaft, die zu den Revolutionen von 1905 und Februar 1917 führte. Die Oktober-
Dok. 13: Vilʼno, 05.03.1919 81
dem Anschlag auf Sie58 bei mir mit einer Erklärung vorgesprochen, wonach er diese
Positionen der SRs überhaupt nicht teile, und verblieb deswegen im Dienste der Bot-
schaft. Zuerst arbeitete er im Pressebüro der Botschaft, danach wechselte er in die
Berliner Abteilung der „Rosta“. Hier wie dort war er von geringem Nutzen. Überhaupt
ist er als Mensch mehr oder weniger nichtsnutzig, unbegabt und von geringem Ver-
stand. Er war die ganze Zeit bei den Spartakusleuten, doch selbst dort hat er, trotz
ihres Mangels an Kräften, keinerlei Rolle gespielt und gehörte nicht der Führungs-
gruppe an.
Laut den Zeitungsberichten trat er während der Revolution erstmals hervor und
wurde in den Rätekongress gewählt.59 Zur Zeit ist er anscheinend in München und
spielt dort die erste Geige. Zweifellos ist er nur deswegen nach vorne gerückt, weil
er in den Augen der Deutschen ein Russe ist. Die zweite Person, die in München eine
Rolle spielt, ist Mühsam (Erich Mühsam),60 den Sie wahrscheinlich aus der Literatur
kennen. Ich habe ihn noch in den 900er Jahren61 gekannt, ihn während der aktuellen
Reise jedoch nicht getroffen, da er keinerlei Beziehung zur Politik hatte. Er ist ein
Idealist, der als Anarchist gilt, ein Mensch nicht von dieser Welt, ein Phantast und
Psychopath. In der vormaligen deutschen Arbeiterbewegung spielte er die Rolle einer
lächerlichen Figur.
Wenn zwei derartige Figuren die bayrische Bewegung anführen, sollte man sich
nicht darüber wundern, wenn die Sache schief läuft. Den Mitteilungen des angereis-
ten Genossen nach zu urteilen, ist dies tatsächlich der Fall. Anscheinend haben sie
sich [dort] damit zufrieden gegeben, sich Sowjetrepublik zu nennen, und betreiben
vielleicht Sowjetaufbau, d.h. sie organisieren die Sowjets auch in der Provinz, eine
Sowjetmacht verwirklichen sie jedoch nicht.62 Jedenfalls haben die Mitteilungen des
revolution wurde von dem rechten Flügel der Partei abgelehnt, während der linke Flügel, die SR-
„Internationalisten“ unter Marija Spiridonova, sich von der Partei abspaltete und mit den Bolsche-
wiki koalierte, wobei sie sogar einige Volkskommissare stellten (zu den linken Sozialrevolutionären
siehe: Lutz Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre in der russischen Revolution von 1917/18,
Köln u.a., Böhlau, 1994).
58 Siehe hierzu Dok. 2.
59 Leviné war Delegierter der Essener Arbeiter auf den 1. Reichsrätekongress im Dezember 1918
(Weber/Herbst, Deutsche Kommunisten, S. 546).
60 „Erich Mühsam“ im Original deutsch.
61 „900er Jahre“: Gemeint sind die Jahre 1900–1910.
62 Ioffe bezieht sich hier auf die Vorgeschichte der (zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgerufenen)
Münchener Räterepublik, die seit Januar 1919 von Demonstrationen und bewaffneten Auseinander-
setzungen zwischen Militärs und linken Führern, darunter Eugen Leviné und Erich Mühsam, gekenn-
zeichnet war. Am 21.2.1919 wurde der USPD-Führer des Zentralrats der Bayerischen Republik Kurt
Eisner ermordet. Die Ausrufung der Ungarischen Räterepublik unter Béla Kun verlieh dem Zentralrat
und dem Revolutionären Arbeiterrat Auftrieb, die am 7.4. die Bayerische Räterepublik ausriefen. Die
gewaltsame Niederschlagung der in erster Linie von linken intellektuellen und anarchistischen Kräf-
ten und der USPD repräsentierte Räterepublik (Ernst Toller, Erich Mühsam, Gustav Landauer) erfolgte
mit der Einnahme Münchens infolge eines Beschlusses von Reichswehrminister Noske durch Reichs-
wehr und Freikorps. Während die Kommunisten in ihr eine Farce derjenigen sahen, die auch einmal
82 1918–1923
Überbringens dieses Schreibens so auf mich gewirkt. Er teilte unter anderem mit,
dass sie kein Geld haben und sich davor fürchten, die Banken zu nationalisieren, als
ich ihn jedoch fragte, ob sie die Staatsbank in Besitz genommen hätten, stellte sich
heraus, dass auch dies nicht gemacht wurde. Offensichtlich sind sie nicht nur feige
und fürchten sich davor, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, sondern wissen
auch gar nicht, was sie tun sollen. Sie bitten eindringlich um Hilfe durch Personen
und Literatur. Außerdem bitten sie uns, einen Emissär von uns zu ihnen zu schicken.
Allerdings ist es zweifelhaft, ob die Bayerische Sowjetrepublik unter solchen
Bedingungen lange Bestand haben wird. Es wäre jedoch sehr wichtig, dass sie zumin-
dest während ihrer kurzzeitigen Existenz den Deutschen anschaulich demonstrieren
würde, was Sowjetmacht ist. Dies hätte deutschlandweit eine größere agitatorische
und propagandistische Wirkung, als Tausende von Broschüren und Flugblättern.
Ich nehme an, dass ich, wenn ich dort wäre, das Eine oder Andere in diese Richtung
tun könnte. Abgesehen davon hätte allein schon das Faktum einer Anerkennung der
Bayerischen Sowjetrepublik durch uns und meine Ankunft dort als Bevollmächtigter
Vertreter der RSFSR eine riesige Bedeutung.
Ich hoffe, dass ich, durch eine Veränderung meines Äußeren, ungeachtet meiner
Popularität in Deutschland durch Preußen hindurchschlüpfen und offiziell in Bayern
auftauchen könnte. Natürlich bleibt ein gewisses Risiko, doch ohne das geht es bei
unserer Arbeit nicht. Ich könnte einen guten Pass auftreiben und überhaupt die
gesamte Technik für diese Reise hier vorbereiten. Lediglich Geld bräuchte man natür-
lich (Mark, denn mit Rubeln zu fahren ist unmöglich)...
Wenn Sie also mit mir einverstanden sind, schicken Sie mir schnellstens Ihren
„väterlichen Segen“, eine gewisse Summe Mark auf normalem Wege sowie einen
Koffer mit eingearbeiteter großer Summe Mark sowie den Beglaubigungsschreiben.
Die gesamte Technik für die Reise kann ich innerhalb einiger Tage vorbereiten.63
Was die hiesige Arbeit angeht, sollte ich noch eine Weile hierbleiben;64 [...]
Ich warte auf eine schnelle Antwort.
Volksbeauftragte spielen wollten, riefen sie jedoch in einer zweiten Phase, unter Führung des später
dafür hingerichteten Eugen Leviné, zu ihrer Verteidigung auf (siehe: Die bayerische Räterepublik. Tat-
sachen und Kritik, Petrograd, Verlag der Kommunistischen Internationale, 1920; Allan Mitchell: Re-
volution in Bavaria 1918/1919. Die Eisner-Regierung und die Räterepublik. Aus dem Amerikanischen
übertragen von Karl-Heinz Abshagen, München, C.H. Beck, 1967).
63 Am 16.3.1919 wurde der Vorschlag Ioffes auf der Sitzung des ZK der RKP(b) besprochen (siehe: V.I.
Lenin. Biografičeskaja chronika. VI, Moskva, 1975, S. 598). Er wurde nicht verwirklicht.
64 Im Februar und März 1919 hielt sich Ioffe in Vilnius auf, wo er an der Schaffung der nur kurz-
zeitig existierenden Litauisch-Weißrussischen Sowjetrepublik mitwirkte und vor allem Differenzen
zwischen der KP Litauens und der KP Weißrusslands schlichten musste, deren Vereinigungsparteitag
vom 4. bis 6.3.1919 stattfand.
Dok. 13: Vilʼno, 05.03.1919 83
P.S. [...] 6.III. Gerade habe ich deutsche Zeitungen erhalten. Meine Vorhersage, dass
diese Idioten nicht lange durchhalten werden, hat sich anscheinend bereits bewahr-
heitet. Wie den Zeitungen zu entnehmen, ist die „Sowjetrepublik“ Bayern schon
gefallen.65 Somit bin ich mit meinen obengenannten Vorschlägen offensichtlich
zu spät dran. Trotzdem übersende ich Ihnen diesen Brief, da sich die Ereignisse in
Deutschland schnell entwickeln, und es wichtig wäre, Ihre prinzipielle Einstellung zu
solchen und ähnlichen Plänen zu erfahren, und mit den Vorbereitungen zu beginnen
(Geld, Dokumente). Hier werde ich früher als Sie die Nachrichten aus Deutschland
bekommen. Im Falle Ihres prinzipiellen Wohlwollens diesem Plan (meiner Reise nach
Deutschland) gegenüber wäre es sehr wichtig, dass ich ihn äußerst schnell zu realisie-
ren in der Lage bin. Den Münchener Vertreter schicke ich auch zu Ihnen, machen Sie
mit ihm etwas aus. Ich weise erneut darauf hin, dass meine Grenzverbindung funkti-
oniert, sodass ich sowohl Personen, als auch Literatur nach Deutschland befördern
kann. Mit Königsberg gibt es eine feste und ständige Verbindung (soweit heutzutage
von „ständig“ die Rede sein kann). Ich drücke Ihre Hand. A. Ioffe.
P.S. Ich bitte auch, mir zu antworten, ob das ZK mir es erlaubt, zum Parteitag nach
Moskau zu kommen.66
P.S.: Abgesehen von Markwährung brauche ich generell Geld, da die 65 Tsd., die ich
von Gen. Sverdlov erhalten habe, schon zu Neige gehen.
65 Vermutlich eine Einschätzung Ioffes auf die Ermordung Kurt Eisners und die Verhängung des Be-
lagerungszustands über München nach der Ausrufung des Generalstreiks durch den Zentralrat der
Bayerischen Republik und Ernst Niekisch (SPD). Die definitive Niederschlagung der Bayerischen Rä-
terepublik erfolgte erst am 2.5.1919
66 Gemeint ist der VIII. Parteitag der RKP(b) (18.–23.3.1919).
84 1918–1923
Dok. 14
Die KPD und die Gründung der Kommunistischen Internationale.
Zeitzeugenbericht von Hugo Eberlein
[29.2.1924] 6.3.191967
Publiziert in: Hugo Eberlein: Spartakus und die Dritte Internationale. In: Internationale Pressekorre-
spondenz, 29.2.1924, S. 306–307. Siehe auch in: Weber: Der Deutsche Kommunismus, S. 198–201.
Eine Kurzfassung unter dem Titel: Im März 1919. Die Gründung der Kommunistischen Internationale.
In: Einheit. Jg. 43 (1988), H. 11/12, S. 1123–1127, mit einem Nachwort von Ruth Stoljarowa.
67 Als Datum wurde hier der 6. März 1919 eingesetzt, der Schlusstag des Gründungskongresses der
Komintern, der vom 2.-6.3.1919 in Moskau abgehalten wurde.
68 Im März 1919 gelang es Hugo Eberlein (Ps.: Max Albert) als einzigem deutschen Delegierten, nach
Moskau zu gelangen und am Erstem Kongress der Kommunistischen Internationale teilzunehmen.
Neben ihm war ursprünglich Eugen Leviné vorgesehen. Entsprechend dem Beschluss der KPD-Füh-
rung trat er dort gegen eine unmittelbare Gründung und für einen Aufschub ein, wie es vor allem die
inzwischen ermordete Rosa Luxemburg forderte, die eine Stärkung der westeuropäischen Parteien
für notwendig hielt und in diesem Sinne Zeit gewinnen wollte. Nach intensiven Gesprächen mit Lenin
und den führenden Bolschewiki enthielt sich Eberlein der Stimme und ermöglichte somit die Komin-
terngründung, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland offensiv vertrat. Siehe zur Problematik
der Kominterngründung Hedeler/Vatlin: Die Weltpartei; Alexander Vatlin: Die Komintern. Gründung,
Programmatik, Akteure, Berlin, Karl Dietz Verlag, 2009 (Geschichte des Kommunismus und Links-
sozialismus. 10); Hermann Weber: Anfänge der kommunistischen Weltbewegung. In: Deutschland-
Archiv (2009), H. 4, S. 729–732, sowie den Beitrag Jakov Drabkins Band 1.
Dok. 14: [29.2.1924] 6.3.1919 85
69 Siehe zur verworrenen Entstehungsgeschichte anhand neuer Dokumente aus den russischen Ar-
chiven: Hedeler/Vatlin: Die Weltpartei, S. XI-XCVI, bes. XXVff.
86 1918–1923
Genossen auseinanderzusetzen, daß wir im Prinzip mit der Gründung einer Kommu-
nistischen Internationale einverstanden sind, daß der Termin der Gründung aber ver-
schoben werden müsse, bis wir in den westeuropäischen Staaten wenigstens einen
Stamm revolutionärer Arbeiter gegen die Reformisten gesammelt hätten.
Wenige Tage später wurde Rosa Luxemburg ermordet.
In einer der ersten Sitzungen nach der Ermordung stand die Moskauer Konferenz
auf der Tagesordnung. Hier vertrat Jogiches eifrig die Auffassung Rosa Luxemburgs.
Auch er war der Auffassung, daß die Gründung einer revolutionären Internationale,
die den schärfsten Kampf gegen die Reformisten aufnehme, notwendig, daß aber der
Termin der Gründung in diesem Moment verfrüht sei. Die Zentrale schloß sich dieser
Auffassung an, wählte mich zu ihrem Vertreter; ein paar Tage später reiste ich ab. [...]
In Moskau begannen sofort die Vorbesprechungen. Aus den verschiedenen
Ländern waren Vertreter kleiner revolutionärer Gruppen gekommen. Aber eine Kom-
munistische Partei außer der russischen konnte nur ich vertreten. Aus 35 Ländern
waren Revolutionäre erschienen, um an der Konferenz teilzunehmen. In den Vor-
verhandlungen, die meist im Zimmer des Genossen Lenin stattfanden, wurde sofort
die Frage aufgerollt, ob auf dieser Konferenz bereits die Gründung der Internatio-
nale erfolgen solle. Ich war der einzige, der sich im Auftrag seiner Partei gegen die
sofortige Gründung wenden mußte. Besonders die Genossen der russischen Partei,
an ihrer Spitze Trotzki, Bucharin und Rakowski, versuchten mit größtem Eifer, mich
von der Notwendigkeit der sofortigen Gründung zu überzeugen; sie zerpflückten
alle Argumente der deutschen Partei bis ins kleinste. Bis Lenin entschied, daß von
der sofortigen Gründung abgesehen werden müsse, wenn die deutsche Partei ihre
Zustimmung nicht gäbe.
Wir traten in die Verhandlung der Konferenz ein. Die Konferenz nahm einen
begeisterten, glänzenden Verlauf. Über alle vorgelegten Resolutionen und Thesen
wurde Einmütigkeit erzielt.70 Die Richtlinien der Kommunistischen Internationale
wurden von Bucharin und mir ausgearbeitet und vom Kongreß einstimmig angenom-
men. Auch das Manifest der Kommunistischen Internationale „An das Proletariat der
ganzen Welt„“, dessen erster Entwurf von Trotzki angefertigt, dann von einer Kom-
mission, bestehend aus Trotzki, Lenin, Bucharin und mir, akzeptiert wurde, nahm
der Kongreß einstimmig an. Die Leitsätze Lenins über „Bürgerliche Demokratie und
proletarische Diktatur“ wurden dem Büro der Internationale zur Verbreitung in der
ganzen Welt überwiesen. Außerdem wurden angenommen die ebenfalls allen Genos-
sen bekannten Leitsätze über die „Internationale Lage und die Politik der Entente„“,
die Resolution über „die Stellung zu den sozialistischen Strömungen und der Berner
Konferenz“, desgleichen die Resolution über den weißen Terror.
Während der Verhandlungen, die vom 2. bis 6. März 1919 dauerten und die im
Kleinen Saale des Justizgebäudes im Kreml geführt wurden, kamen die Nachrichten
70 Siehe zu den im folgenden erwähnten Beschlüssen und Resolutionen des I. Weltkongresses: He-
deler/Vatlin: Die Weltpartei.
Dok. 14: [29.2.1924] 6.3.1919 87
von der Ausrufung der Räterepublik in Ungarn und der Räterepublik in Bayern. Diese
Nachrichten lösten auf der Konferenz ungeheure Begeisterung aus, und die Frage der
sofortigen Gründung der Kommunistischen Internationale wurde neu aufgerollt.
In einer begeisterten Rede forderte Rakowski die sofortige Gründung der Kom-
munistischen Internationale. Ich blieb wieder allein und versuchte, der Konferenz
die Argumente der deutschen Partei auseinanderzusetzen. Ich wies darauf hin, welch
ungeheure Aufgaben das revolutionäre Proletariat der Welt von der Kommunisti-
schen Internationale erwarten würde, Aufgaben, die wir im Moment, in dem sich in
den meisten Ländern der Welt nur kleine Gruppen revolutionärer Arbeiter zum Kom-
munismus bekennen, noch nicht erfüllen können würden, wodurch sehr leicht unter
den Arbeitern der Welt eine Enttäuschung hervorgerufen werden könne, insbeson-
dere auch deshalb, weil sich die Arbeiter von der II. Internationale so schmählich
betrogen wissen. Deshalb sei es unsere Aufgabe, zuerst in den wichtigsten Ländern
feste kommunistische Zellen zu bilden, die dann, vereint in der Kommunistischen
Internationale, den revolutionären Kampf aufnehmen können, die dann in der Kom-
munistischen Internationale die revolutionären Arbeiter um sich sammeln und die
verräterische II. Internationale vernichten können.
Ich befand mich in einer außerordentlich schwierigen Situation. Während ich
gefühlsmäßig mit den versammelten Delegierten, mit den russischen Genossen völlig
konform ging und während mir eine Anzahl ihrer Argumente stichhaltig erschien,
war ich an den strikten Auftrag meiner Parteileitung gebunden. Inzwischen war auch
Leo Jogiches ermordet.71 Ich enthielt mich bei der Abstimmung der Stimme und gab
dem Kongreß eine Erklärung ab, daß die deutsche Partei prinzipiell mit der Schaf-
fung einer Dritten Internationale einverstanden sei und daß die deutsche Partei nach
erfolgter Gründung der Kommunistischen Internationale sicher beitreten würde.
Sofort nach meiner Rückkehr nach Deutschland wurde der Beitritt zur Kommunistischen
Internationale beschlossen. [...]
71 Jogiches, der nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die KPD leitete,
wurde am 10.3.1919 verhaftet und am gleichen Tag im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit ermor-
det.
88 1918–1923
Dok. 15
Genosse Ludwig (Ps.), d.i. Eduard Alexander,72 an James (Ps.), d.i.
Jakov Rejch, über das Phlegma der Revolution und die Politik der
KPD-Führung
[Berlin], 6.5.1919
1. Mai 1919.
72 Eduard Ludwig Alexander (1881–1945) war ein Berliner Justitiar, Anwalt und Wirtschaftstheoreti-
ker, Gründungsmitglied der KPD und zeitweise mit der Kulturkritikerin Gertrud Alexander verheiratet.
73 James (Ps.), d.i. Jakov Rejch (1886–1956?), der einer der wichtigsten Verbindungsleute zwischen
Berlin und Moskau war, später Leiter des Westeuropäischen Sekretariats der Komintern (Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 710f.).)
74 Gestrichen: „Meine“.
75 Es handelt sich um die in Litauen geborene Frida Rubiner (1879–1952), die als Gründungsmitglied
der KPD am I. Weltkongress der Komintern teilnahm und sich im März/April 1919 aktiv an der Münch-
ner Räterepublik beteiligte. (PSEUDO)
76 Nach der Niederschlagung der Münchener Räterepublik wurden Eugen Leviné und Max Levien
verhaftet. Ersterer wurde im Juni 1919 zum Tode verurteilt und erschossen, letzterer konnte nach
Österreich und von dort aus nach Sowjetrussland fliehen.
77 Ernst Nobs (1886–1957) war als Schweizer Sozialdemokrat im Krieg Stadtpräsident in Zürich und
später Schweizer Bundesrat.
Dok. 15: [Berlin], 6.5.1919 89
aus seiner eigenen Erfahrung und aktenmässig nachwies. Von Spitzeln scheint es
dort gewimmelt zu haben.– Die Deutschen in der Münchener Räteregierung haben
offensichtlich unglaublich viel mit einem typischen Allerweltintellektualismus [ver-
schmiert] zu haben [sic]. Dagegen scheinen die „Russen“ dort bis zuletzt mit äussers-
ter, kühler Besonnenheit, mit wirklich proletarisch revolutionärem Bewusstsein und
mit heroischem Mut gearbeitet zu haben.78 – Nach allem, was ich nun weiss, hat das
furchtbare Gemetzel dort entsetzlich viel Kraft, Blut und Menschenleben gekostet,
aber zum ersten Male das Proletariat Süddeutschlands ganz bewusst gemacht und
ihm fabelhafte Lehren für den Moment der wirklichen Machtergreifung gegeben. In
Deutschland geht es langsamer als überall in der Welt. Mir scheint es fast, als stände
man hier nicht auf der Kerenski-Stufe, sondern in Wahrheit etwa da, wo Russland
1905.79 – Das Wolffsche Telegr[aphen-]Bureau verbreitete im neutralen Ausland /nur
dort[,] nicht in Deutschland/, z.B. in der Schweiz, dass Fritz [Platten] mit 25 Millionen
in Helsingfors von den Finnen verhaftet worden sei.80 Fritz ist, wie ihr wohl wisst, zu 6
Monaten verurteilt /im Generalstreikprozess/, sofortiges Haftbefehl.–81 Dr. Sannhau-
ser, St. Gallen bittet Fritz, ehe er einreist, ihn telegraphisch zu avesieren.– In Zürich
kam es in der letzten Aprilwoche im Anschluss an einen Generalstreik der Bankange-
stellten /ein solcher war in Berlin und einem grossen Teil Deutschlands „mit Erfolg“
vorhergegangen/ zu Strassenschlachten und Barrikadenkämpfen.
Ich erhielt Mitteilungen von Rosa Bl[och]82 sowie eine Karte aus Bern, nach denen
Ihre Frau,83 Frau Lub84 und Frau Schl. notwendig Geld brauchen. Da Frida in einem
Moment zurückgehalten wurde, der ihr offenbar in seiner [sic] völligen Isolierung
unerwartet kam, konnte sie offenbar einen Teil dieser Angelegenheiten nicht mehr
78 Eugen Leviné (1883–1919), Max Levien (1885–1937) und Tovij Aksel’rod (1887–1938) waren deut-
sche Revolutionäre russischer Herkunft, die in der Münchner Räterepublik eine herausragende und
kompromisslose Rolle spielten. Daneben bildeten ca. 80 russische Kriegsgefangene eine Einheit in
der Roten Armee der Räterepublik. Vgl. hierzu die gegenteiligen Schilderungen Ioffes im Dok. 13.
79 Gemeint ist die Russische Revolution von 1905–1907.
80 Fritz Platten (1883–1942) war sozialdemokratischer und später kommunistischer Nationalrat in
der Schweiz. Er organisierte 1917 die Rückreise Lenins in die Sowjetunion durch Deutschland („Rus-
senzug“) und wurde später in der Sowjetunion erschossen.
81 Gemeint ist der Schweizer „Landesstreik“ von November 1918, an dem sich über 250.000 Arbeiter
beteiligten. Der Gerichtsprozess nach dem Streik hatte u.a. die Ausweisung des russischen Botschafts-
personals zu Folge, die Organisatoren des Streiks, die im „Oltener Aktionskomitee“ organisiert waren,
darunter Fritz Platten, wurden zu Haftstrafen zwischen vier Wochen und sechs Monaten verurteilt
(siehe: Willi Gautschi: Der Landesstreik 1918, Zürich, 3., durchgesehene Auflage, Chronos, 1988).
82 Rosa Bloch-Bollag (1880–1922), Schweizer Sozialistin, war als einzige Frau Mitglied im Oltener
Aktionskomitee.
83 Reichs Frau Berta, geb. Brutzkus, (1887–1965) arbeitete u.a. als Ärztin in Österreich, der Schweiz,
Deutschland und der Sowjetunion.
84 Es könnte sich um die Frau des Theologieprofessors, Kunstsammlers und Slavisten Fritz Lieb,
Ruth Lieb-Stähelin (1900–1986) gehandelt haben, die bis an ihr Lebensende die Bibliothek Fritz Lieb
in der Universitätsbibliothek Basel betreute.
90 1918–1923
erledigen, wie sie wohl wünschte. Soviel ich jedoch weiss, hat sie einen anderen Teil
mit dem Genossen Schw[ab]85 erledigt.
Was ich von Ihnen brauche, sind vor allem Kulturdokumente; Bücher /auch
Romane, Dramen, Gedichte/, Bilder, illustrierte Zeitschriften, Reproduktionsmate-
rial; Kunstmaterial. /Möglichst viel von dem, was Lunatscharski macht!/86 Theoreti-
sche Abhandlungen, und am liebsten auch kleinere, neuere Aufsätze der Volkskom-
missare, Reden, kleinere oder auszugsweise veröffentlichte Artikel. Wie Sie wissen,
wirkt hier Lenin und Trotzki immer noch magisch – ja sogar täglich magischer!
Ich bitte Sie um die Freundlichkeit, den beiliegenden Brief an Chagall87 in
Vitebsk, wo er Volkskommissar ist, zu senden – und ihm ausführlich und ausdrück-
lich Ihre Adresse anzugeben, damit er an Sie Briefe, Material und Bilder für mich schi-
cken kann.- Alles, das Sie mir für Ihre Frau, Freunde und Genossen senden, wird nun
sofort erledigt werden, wie ich mit Else besprach. Ich hoffe /ja, ich hoffe/, dass Ihnen
demnächst auch Frida wird schreiben können. Ich grüsse Sie herzlichst und vielmals
P.S.
Könnt Ihr nicht der Zentrale einen gutgemeinten Rat geben? Mit alter Bureaukraten-
miene beginnt sie bei jedem kritischen Moment genau eine Woche vor irgendeiner
Katastrophe eine Polemik gegen die /heute ziemlich zahlreichen/ Syndikalisten –
genau entgegengesetzt zur Praxis in Russland wo man absplitternde /aber revolutio-
när zuverlässige/ Teile zur Partei hinüberzieht!
Diese preussische, hochmütige, vorkriegsmäßige Sonderbundspraxis hier, bringt
mit schicksalshafter Dummheit stets kurz vor dem wichtigsten Moment einen hoch-
anständigen und klassenbewussten Teil der Arbeiterschaft in Spaltung, anstatt ihn
heranzuziehen. Genau das Gegenteil zu den Beschlüssen der III. Internationale!
Theoretisch sehe ich es natürlich ein – aber wie es stets vor dem Hauptkampf im
unpassendsten Moment als kleiner Kampf geschieht, ist es unpraktisch, unbegabt,
und unpolitisch!
Ein guter Rat von Euch wäre ausgezeichnet!
Ihr Ludwig.
85 Möglicherweise Sepp Schwab (1897–1977), KPD-Mitglied seit 1919 und Mitglied der Räteregierung
in München.
86 Der Volkskommissar für Aufklärung, Anatolij Lunačarskij, betätigte sich auch als Verfasser von
Theaterstücken.
87 Der später weltbekannte Maler Marc Chagall bekleidete zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetunion
die Funktion eines Volkskommissars für die „Schönen Künste“ in Vitebsk.
Dok. 16: Moskau, 22.07.1919 91
sein betr. München, als Streik angeregt wurde, war er schnell niederdebattiert. Jetzt
greift die Bewegung an der Ostsee um sich, in Stettin, Stralsund und Umgegend.
Demnächst wird dagegen Leipzig /und wohl gleichzeitig Jena/ von Regierungstrup-
pen niedergehalten werden. Also Mächtiger Zug der Bewegung – aber keine Verbin-
dung untereinander, von Führung garnicht zu reden. Die Zentrale hat ihren Namen
zu Unrecht – doch ist dies natürlich nicht Schuld von Personen, sondern der breiten
Unaufgeklärtheit, und des deutschen Phlegmas.
Am 22.5.1919 beschloss das Organisationsbüro des ZK der KP Russlands auf Bitten der Komintern,
Gen. Ljubarskij aus Jaroslavlʻ ins Ausland abzukommandieren. Darüber hinaus sollte die Befugnis
zur Ernennung Berzins als Sekretär der Komintern dem ZK-Plenum übertragen werden. Aufgrund der
Verhaftung Radeks in Deutschland sollte weiterhin dem Genossen Zaks [d.i. Samuil Zaks-Gladnev] ein
Mandat des ZK ausgestellt werden.88
Dok. 16
Abkommandierung von Alfred Kurella zur Überbringung von
Gegenständen im Wert von 300.000 Rubel an die KPD und die KP
Österreichs
Moskau, 22.07.1919
ANGEHÖRT: [...]
3. Über die Abkommandierung von Gen. Kurella89 nach Österreich.
BESCHLOSSEN: [...]
3. Gen. Kurella abzukommandieren und ihm für die Deutsche Kommunistische
Partei in Österreich [d.i. die Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs] Wertgegen-
stände90 im Wert von 300.000 Rub. mitzugeben.91 Diese Wertsachen sollen nur unter
der Bedingung verteilt werden, dass die Partei gut arbeitet. Andernfalls sollen sie
James [d.i. Jakov Rejch] für die Deutsche [Kommunistische] Partei übergeben werden.
[...]
Dok. 17
Aus der Kostenaufstellung der Exekutive der Komintern für die
kommunistischen Parteien und sympathisierenden Bewegungen
in einzelnen Ländern von April bis August 1919
Moskau, 18.08.1919
92 Der erste Sekretär bzw. Geschäftsführer der Komintern-Exekutive war Gustav Klinger (1895–
1938/1943), ein wolgadeutscher Lehrer (das spätere Sterbedatum bei Hedeler/Vatlin: Die Weltpartei,
S. 349).
93 „Bargeld“ handschriftlich.
94 Jan Karlovič Berzin (lett. Bērziņš) (1889–1938), kurzzeitig erster Generalsekretär der Komintern
und späterer sowjetischer General lettischen Ursprungs.
Dok. 17: Moskau, 18.08.1919 93
Buchhalter N. Frisch
Aufstellung des Bargeldes und der Wertgegenstände, erhalten durch den Hauptkom-
missar der Staatsbank Gen. Ganeckij.95
26. Mai über Gen[ossen] 300.500 5.000 50.000 70.000 45.500 150.000
Reich96
27 „ „ „
Ljubarsk97 300.000 3.000 15.200 31.300
Kantarovič 1.000.000 40.000
18/VII
95 Es handelt sich um den polnischen Kommunisten Jakub Hanecki (Ps.), d.i. Fürstenberg (1879–
1937), einen Industriellensohn und Wirtschaftsfachmann, der u.a. in Berlin, Heidelberg und Zürich
studiert hatte.
96 D.i. Jakov Rejch.
97 Gemeint ist Nikolaj M. Ljubarskij (Ps.: Carlo; Nicolini, ursprüngl. Name: Nikolaj Markovič) (1887–
1938), der als Verbindungsmann vor allem in Richtung Frankreich und der Schweiz arbeitete.
94 1918–1923
Insgesamt wurden über das ZK der RKP(Bolschewiki) bis zum 15. Aug. 1919 sechs Mil-
lionen hundertvierzig Tausend Rubel und Wertgegenstände für eine Million dreihun-
dertfünf Tausend erhalten.
18/VIII 19
G[ustav] K[linger]
Dok. 18
Brief des Komintern-Sekretärs Gustav Klinger an Elena Stasova
über den Schmuggel von Schmuck und Juwelen nach Westeuropa
[Moskau], 18.08.1919
98 Dokument geschrieben auf einem Blankoformular mit Briefkopf des EKKI-Sekretariats. Über dem
Text befindet sich ein handschriftlicher Vermerk von E. Stasova: „Archiv des ZK.“
99 Elena Dmitrievna Stasova (Ps.: Absoljut, Delta, Ivanovna, Hélène, Hertha) (1873–1966) war
Sekretärin des ZK der RKP(b), bevor sie 1920 in Kominterndiensten nach Deutschland abkommandiert
wurde.
100 Zum Zweck der Unterstützung der kommunistischen Bewegungen in Westeuropa wurden u.a.
die Juwelen des Zaren herangezogen, die Brillianten sollten in Schuhsohlen eingearbeitet werden.
Dok. 19: Moskau, 28.08.1919 95
Ich bitte Sie sehr, einen entsprechenden Vermerk auf unserem Papier zu machen.
Mit Genossengruß
Sachverwalter Klinger
Dok. 19
Notiz von Jan Berzin an Sinowjew zur Finanzierung der
kommunistischen Parteien durch Sowjetrussland
Moskau, 28.08.1919
101 „Höglund“ hier und im Weiteren im Original auf deutsch. Carl Zeth Konstantin Höglund (1884–
1956) war ein schwedischer Sozialdemokrat und Mitbegründer der KP Schwedens.
102 „Einige Millionen“ handschriftlich oberhalb der Zeile eingefügt.
103 Im Russischen: „mjamli“.
96 1918–1923
In jedem Fall schreiben Sie einen Brief mit einer ganzen Reihe praktischer Anwei-
sungen an Höglund. Sie sind schließlich naive Menschen, man muss sie z.B. darüber
belehren, dass sie die Wertsachen in verschiedenen Ländern veräußern sollen und
nicht bloß in ihrer Hauptstadt, dass der Fonds an verschiedenen Orten bei vertrau-
enswürdigen Personen aufbewahrt werden soll, und nicht bei sich, usw. usf.
Ich bereue es sehr, dass ich nicht zu Ihnen fahren kann. Anhand des Berichts von
Klinger sehe ich, dass ihr eine ganze Reihe (praktischer) Fragen nicht behandelt habt.
Vielleicht kommen Sie bald hierher?
Ich persönlich bin dagegen, Ihnen B[alabanov]a aufzuzwingen, ich weiß, wie
schwer es ist, mit ihr zusammenzuarbeiten. Es scheint so, dass ein anderer Ausweg
gefunden wird. Sie selbst hat den Gedanken geäußert, ob sie nicht mit einem Agitati-
onszug durch Russland fahren sollte, das hat Ilʼič [Lenin] gefallen, wie auch Stasova.
Sagen Sie El[ena] Dm[itrievna Stasova], dass sie sich mit ihrer Kommandierung
beeilen soll, sonst entsteht eine unmögliche Lage...104
Ich weiß nicht, wie Gen. Bucharin und Klinger Ihnen unsere Konflikte geschil-
dert haben – ich habe nur demonstrativ „den Rücktritt eingereicht“, und zwar um
Nik[olaj] Ivanovič [Bucharin] aufzurütteln und das Verhältnis zum ZK in Ordnung zu
bringen. Sollte jedoch B[alabanova] hier bleiben, wäre ich gezwungen zu gehen.
Der Zirkularbrief ist gut, Ilʼič [Lenin] begrüßt ihn ebenfalls.105 Man müsste natür-
lich das EK[KI]-Plenum mit ihm befassen, aber angesichts der Eile muss man ihn
einfach so bringen. Wenn Sie es für notwendig erachten, können Sie auch meinen
Namen darunter setzen. (Sie wissen, dass ich jetzt auch formal „Sekretär“ bin, obwohl
Balabanova nun behauptet, dass sie „erster Sekretär“ sei!)
Nächste Woche fahre ich für circa zwei Wochen auf das Land,106 Erholung ist
unerlässlich.
Am 5.10.1919 berichtete Ganeckij im Organisationsbüro der KP Russlands, dass die Volksbank Sow-
jetrusslands bislang für kommunistische Arbeit im Ausland 5.432.500 Rubel an das Außenkomissari-
at und 7.163.765 Rubel an die Komintern ausgegeben habe.107
104 Balabanova wurde daraufhin von Sinowjew in die Ukraine entsandt, verließ später die
Sowjetunion und arbeitete vornehmlich im Umkreis der Sozialdemokratie.
105 Augenscheinlich der Brief „Parlamentarismus und der Kampf für die Räte“ der Komintern-Exe-
kutive. Siehe: Die Kommunistische Internationale (1919), 5 (September), S. 703–708. Am 5.8.1919 beriet
das Büro des EK in Anwesenheit Lenins über die Frage des Verhältnisses der kommunistischen Par-
teien zum Parlamentarismus. Es wurde beschlossen, Thesen auszuarbeiten, in denen auf die Notwen-
digkeit des parlamentarischen Kampfes als Vorbedingung zur „Errichtung der Sowjetmacht“ hinge-
wiesen werden sollte. Die Thesen wurden, von Sinowjew unterzeichnet, an alle kommunistischen
Parteien versandt.
106 Im russischen Original „v derevnju“.
107 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/112/9, 18.
Dok. 20: Moskau, 29.10.1919 97
Dok. 20
Empfangsbestätigung des Kuriers Leontij Osipov über Schmuck
und Juwelen für die KPD
Moskau, 29.10.1919
Von der III. Internationale habe ich für die Übergabe an Deu[tschland] Wertgegen-
stände in Empfang genommen,108 gemäß N°N° 1421 einen Brillianten für 10.000
R[ubel], N° 655 einen Brillianten für 105.000 R., N° 774 drei Brillianten für 135.000
R., N° 1623 zwei Brillianten für 80.000 R. Insgesamt sieben Brillianten im Wert von
einer Million vierhundertzwanzigtausend R. (1.420.000) sowie ein Perlencollier N°
757 bestehend aus 261 Perlen im Wert von 600.000 Rub. Insgesamt für zwei Millionen
zwanzigtausend (2.020.000). L. Osipov. Ebenso erhielt ich einen Goldring mit zwei
Brillianten und [...]109 im Wert von zweitausend vierhundert Rub. (2.400).
L. Osipov.110
108 Am 25–10.1919 beschloss das Büro der Komintern-Exekutive, an „James“ (Ps.), d.i. Jakov Rejch,
über den Kurier Osipov 2.000.000 Rubel zur Verwendung durch die KPD zu übermitteln. Auch wurde
„den beiden Piloten, die mit Osipov ankamen, jeweils 10.000 Rub., sowie jedem von ihnen und Osi-
pov einen Pelzmantel oder eine Lederjacke“ ausgehändigt (RGASPI, Moskau, 495/1/1, 81). So ergab
sich die genannte Summe von 2.020.000 Rubel.
109 Unleserliches Wort.
110 Allem Anschein nach Leon (Leontij) Aleksandrovič Osipov (geb. 1901), der im Juni vom ZK der
RKP(b) der Dritten Internationale zur Verfügung gestellt wurde und später u.a. in Deutschland,
Frankreich und den USA wirkte (Meschkat/Buckmiller: Biographisches Handbuch, Datenbank, Ein-
trag „Osipov, Leontij“).
1920
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 20.1.1920, dass die Antwort auf das Schreiben
der USPD an die Komintern und die KPR(b) durch das Büro der III. Internationale, nicht durch das
Politbüro der RKP(b), erfolgen sollte. Als Basis für die Antwort sollten entsprechende Thesen Lenins
dienen.1 Die am 5.2.1920 endgültig verfasste Antwort, in der die rechten USPD-Führer kritisiert wur-
den, jedoch eine USPD-Delegation nach Moskau zu Verhandlungen eingeladen wurde, wurde in der
Kommunistischen Internationale (1920, Nr. 9), publiziert.
Dok. 21
Telegramm Lenins an Stalin zur Unterstützung der deutschen
Arbeiter durch die Rote Armee
[Moskau], 17.03.1920
Gerade habe ich das Telegramm des Hauptkommandierenden gelesen,2 das gestern
Nacht unmittelbar nach Erhalt Ihrer Überlegungen und als Antwort auf diese Überle-
gungen an Sie geschickt wurde. Ich befinde, dass der Hauptkommandierende durch-
aus Recht hat, dass man die Operation auf der Krim nicht hinauszögern darf und dass
die polnische 52.3 an der Westfront unerlässlich ist. Gerade kam eine Mitteilung aus
Deutschland, dass es in Berlin zu Kämpfen gekommen ist und die Spartakisten einen
Teil der Stadt in Besitz genommen haben.4 Wer siegen wird, ist unklar, doch für uns
1 RGASPI, Moskau, 17/3/57, 2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 36–37.
2 Der kommandierende General S. S. Kamenev erließ am 15.3.1920 einen Befehl über die schnellst-
mögliche Eroberung der Krim. Die Bedeutung von Lenins Vorstoß in der deutschen Sache ermisst sich
daraus, dass der russische Bürgerkrieg im europäischen Teil erst durch den Sieg der Roten Armee
über die weißen Truppen unter Führung von General Wrangel auf der Krim im November 1920 endete.
3 Gemeint ist die 52. Schützendivision der Roten Armee, die für die polnische Front vorgesehen war.
Im Mai–Juni 1920 nahm sie an den Kampfhandlungen auf der Krim teil.
4 Unter Führung des rechtsgerichteten ostpreußischen Generallandschaftsdirektors Wolfgang Kapp
und des Reichswehrgenerals Walther von Lüttwitz besetzte die mehrheitlich völkisch orientierte Ma-
rinebrigade unter Hermann Ehrhardt das Berliner Regierungsviertel und ernannte Kapp zum Reichs-
kanzler. Als Reaktion auf den „Kapp-Putsch“ gegen die Weimarer Republik (10.–17.3.1920) wurde in
Dok. 22: Kopenhagen, 2.6.1920 99
ist es wichtig, die Einnahme der Krim maximal zu beschleunigen, um die Hände ent-
sprechend frei zu bekommen, denn der Bürgerkrieg in Deutschland könnte uns dazu
zwingen, nach Westen den Kommunisten zur Hilfe zu kommen.
Lenin.
Am 26.4.1920 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, dass zum bevorstehenden Kongress
der Komintern aus Deutschland u.a. Vertreter der „Hamburger Linken“ (Teile der KPD um Heinrich
Laufenberg, Fritz Wolffheim und Otto Rühle) eingeladen werden sollen.5
Dok. 22
Geheimer Bericht von Ernst Meyer an die Komintern über den
Streit in der KPD-Zentrale während des „Kapp-Putsches“
Kopenhagen, 2.6.1920
Werte Genossen,
Da Sie durch den „Spartakus“ gezeichneten Artikel aus der Feder von Bronski in N. 10
der Kommunistischen Internationale über taktische Differenzen innerhalb der K.P.D.
Centrale während der Kapp-Woche unterrichtet worden sind und da diese Differenzen
für ein gewisses Stadium der proletarischen Revolution in jedem Lande Bedeutung
haben, möchte ich ganz kurz über die Grundlagen der Diskussionen berichten.6 Es
ist richtig, dass die organisatorische Schwäche der Partei in Berlin einer der Gründe
dafür war, dass die Zentrale am 13. März in einem Flugblatt die Teilnahme an dem von
Deutschland der Generalstreik proklamiert und erfolgreich durchgeführt, wodurch der Putschver-
such ins Leere lief. Im Unterschied zu Teilen der KPD-Führung schätzte die Führung der RKP(b) die
Situation als revolutionär ein. Bucharin verkündete auf dem IX. Kongress der RKP(b) am 29.3.1920, die
deutschen Arbeiter hätten die Berliner Radiostation eingenommen. Das deutsche Proletariat schrei-
te „festen Schrittes zur Arbeiterdiktatur.“ (Devjatyj sʼezd RKP(b). Mart–aprelʼ 1920 goda. Protokoly,
Moskva, 1960, S. 9–10.) Zur Haltung der KPD gegenüber dem Kapp-Putsch siehe Dok. 22).
5 RGASPI, Moskau, 17/3/73, 2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a. Politbjuro i Komintern, S. 41–43.
6 Der Artikel stellte ausführlich den Kapp-Putsch, die Politik der KPD-Zentrale sowie die darauffol-
genden Differenzen in der KPD-Führung dar (Spartakus: Der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Brief aus Deutsch-
land. In: Die Kommunistische Internationale 2 (1920), 10, S. 147–171). Die Identität Bronskis wurde nicht
enthüllt, im Nachwort der Redaktion hieß es, der Artikel sei „verfasst von einem sehr einflussreichen
deutschen Kommunisten“. (Ibid., S. 171).
100 1918–1923
7 Statt die Arbeiter, wie es die Gewerkschaften und die SPD taten, zur Gegenwehr gegen den Putsch
aufzurufen, gab die allerdings nur zum Teil zusammengekommene Zentrale am 13.3.1920 ein Flug-
blatt heraus, in dem formuliert wurde: „Die Ebert-Bauer-Noske sind stumm und widerstandslos in die
Grube gefahren ... Im Augenblick des Versinkens ruft diese Gesellschaft von Bankrotteuren die Arbei-
terschaft zum Generalstreik auf zur ‚Rettung der Republikʻ [...] Das revolutionäre Proletariat weiß, daß
es gegen die Militärdiktatur auf Leben und Tod zu kämpfen haben wird. Aber es wird keinen Finger
rühren für die in Schmach und Schande untergegangene Regierung der Mörder Karl Liebknechts und
Rosa Luxemburgs. Es wird keinen Finger rühren für die demokratische Republik, die nur eine dürftige
Maske der Diktatur der Bourgeoisie war.“ (Aufruf der Zentrale der KPD zum Kampf gegen die Militär-
diktatur, Berlin, 13. März 1920. In: Die Rote Fahne, 14.3.1920). Unter dem Druck Levis korrigierte man
diese Haltung am nächsten Tag, dem 14.3.1920.
8 Die Abwehrmaßnahmen gegen den Kapp-Putsch führten im Ruhrgebiet zum Aufstand der Ruhr-
Arbeiter („Ruhr-Aufstand“) und der Bildung einer „Roten Ruhrarmee“ mit mehr als 80.000 Kämpfern,
die gegen Reichswehr und Freikorps kämpfte (siehe: Gerhard Colm: Beitrag zur Geschichte und Sozio-
logie des Ruhr-Aufstandes vom März/April 1920, Essen, Baedeker, 1921; Hans Manfred Bock: Die „Rote
Armee“ der Ruhr-Arbeiterschaft im Anschluß an den Kapp-Putsch März/April 1920. In: trend online
zeitung, 02/2000 (http://www.trend.infopartisan.net/trd0200/t200200.html).
Dok. 22: Kopenhagen, 2.6.1920 101
Flügel der U.S.P. wegen seines Widerspruchs gegen den Eintritt des rechten Flügels
in ein „reines sozialistisches“ Kabinett. Die Genossen behaupteten: 1/ es sei unmög-
lich, den Streik weiter fortzusetzen 2/ der Streik habe bereits das Kräfteverhältnis zwi-
schen Arbeiterschaft und Unternehmertum so weit verschoben, dass eine bürgerlich-
sozialistische Koalitionsregierung unmöglich und eine rein-sozialistische Regierung
der adäquate Ausdruck des neuen Kräfteverhältnisses sei 3/ das Zustandekommen
der rein-sozialistischen Regierung hinge nur davon ab, dass der linke Flügel der U.S.P.
seinen Widerspruch gegen den Eintritt des rechten Flügels ins Kabinett zurückziehe
und deshalb müsse die Zentrale der K.P.D. durch eine „Loyalitätserklärung“ auf die
U.S.P. einwirken.9 Alle 3 Behauptungen waren, wie die spätere Entwicklung beweist,
grundfalsch:
1/ Fortsetzung des Streiks in Berlin und Wiederaufnahme des Streiks in der
Provinz war möglich. In Berlin wurde fortgestreikt, bis am Dienstag der 2ten Streik-
woche die U.S.P.-Zentrale /Crispien/ den Streikenden in den Rücken fiel und auch
Däumig sich an dem Verrat beteiligte, in dem er – sentimental wie immer – ange-
sichts der Haltung Crispiens erklärte, man könne nicht weiter streiken. Daraufhin erst
fasste der Berliner sogenannte Arbeiterrat / Generalversammlung der revolutionären
Betriebräte; gewählt indirekt in Industriegruppen – Versammlungen der Betriebs-
räte/mit schwacher Majorität den Beschluss auf Abbruch des Streiks. – In der Provinz
war man, wie Kuriere uns berichteten, an einzelnen Orten bereit, den Streik zuguns-
ten der Ruhr-Arbeiter wieder aufzunehmen. Diese Orte hatten zumeist bisher nur 2 bis
3 Tage gestreikt, waren also nicht abgekämpft. In Erfurt hat man weitergestreikt /im
ganzen 2 Wochen/ trotz militärischer Niederlage.
2/ Gerade durch den Abbruch des Streiks blieb das Kräfteverhältnis noch zu
ungunsten der Arbeiterschaft. Die Bewaffnung der Arbeiter war nur in einzelnen
Gebieten durchgeführt. In Bayern hatte die Kapp-Reaktion /Ministerium Kahr/ völlig
gesiegt. In ganz Süddeutschland und Ostpreussen sammelte sich die Konterrevolu-
tion. Die Rechtssozialisten und Gewerkschaften wollten die Koalition mit Bürger-
lichen gar nicht aufgeben, sondern nur durch Ersetzung der alten Minister durch
Arbeitervertreter /Christliche, Hirsch-Dunckersche/10 verschleiern. Eine „reine
9 Dazu veröffentlichte die Zentrale der KPD eine Erklärung, in der es hieß: „Die KPD sieht in der Bil-
dung einer sozialistischen Regierung unter Ausschluß von bürgerlich-kapitalistischen Parteien einen
erwünschten Zustand für die Selbstbetätigung der proletarischen Massen und ihr Heranreifen zur
Ausübung der proletarischen Diktatur. Sie wird gegenüber der Regierung eine loyale Opposition trei-
ben, solange diese Regierung die Garantien für die politische Betätigung der Arbeiterschaft gewährt,
solange die bürgerliche Konterrevolution mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft und die
soziale und organisatorische Kräftigung der Arbeiterschaft nicht hemmen wird. Unter loyaler Opposi-
tion verstehen wir: Keine Vorbereitung zum gewaltsamen Umsturz, bei selbstverständlicher Freiheit
der politischen Agitation der Partei für ihre Ziele und Losungen.“ (Stellungnahme der Zentrale der
KPD zur Bildung einer Arbeiterregierung, Berlin, 23.3.1920. In: Die Rote Fahne, 26.3.1920).
10 Gemeint sind die sozialliberalen „Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaftsvereine“, in Konkurrenz
zu den sozialistisch und christlich orientierten Gewerkschaften, benannt nach den Gründern Max
Hirsch und Franz Duncker.
102 1918–1923
Auch die revolutionäre Arbeiterschaft einschliesslich eines grossen Teils der U.S.P. ist
von tiefem Misstrauen gegen eine Koalition mit S.P.D. erfüllt /daher die anfängliche
Weigerung Däumigs, der hier nur Sprachorgan der Massen war, die die Beteiligung an
einer rein-sozial[istischen] Regierung mit Austritt aus U.S.[P.] beantworten werden,
wenn nicht die K.P.D. vorher Absolution erteilt/. Die in der Loyalitätserklärung erwar-
tete Atempause für friedliche Arbeit der K.P.D. wird also nicht eintreten.
5/ Es ist nicht Aufgabe der K.P.D., die andern Arbeiterparteien zu veranlassen,
ihre historisch vergänglichen Aufgaben /Erprobung bürgerlich-demokratisch-par-
lamentarischer Illusionen/ zu erfüllen. Die K.P.D. muss vielmehr auf den über das
augenblickliche Stadium hinausgehenden Weg weisen. Die Parolen können zwar
Etappen-Parolen sein, dürfen aber nicht den Principien des Kommunismus wider-
sprechen /etwa rein-sozialist[ische] Regierung gegenüber Rätediktatur. Zulässig sind
dagegen Parolen wie: Freiheit für revolutionäre Presse; Bewaffnung der Arbeiter-
schaft; Auflösung aller militärischen Formationen der Bourgeoisie; Friede mit Sovjet-
Russland u. dgl./
Zentralausschuss11 und Parteitag haben fast einstimmig die Loyalitätserklärung
missbilligt. Auch in der Zentrale war – bei vollständiger Besetzung – keine Mehrheit
für diese Erklärung. Selbst Brandler, Heckert, Zetkin sprachen sich nachträglich
gegen sie aus.
Die Frage behält aber aktuelle Bedeutung, da die Wahlen in einzelnen Bundes-
staaten eine Mehrheit für U.S.P. und S.P.D. gebracht haben und für den Reichstag
wahrscheinlich bringen werden.12 Es wäre uns daher lieb, wenn wir Ihre Auffassung
hören könnten.13
11 Der Zentralausschuss vereinigte seit dem III. Parteitag der KPD im Februar 1920 die Vertreter der
regionalen Bezirke. Seit 1925 gab es nur noch das Zentralkomitee
12 Die Reichstagswahlen vom 6.6.1920 erbrachten 21,7% (113 Sitze) für die SPD und 18,8% (81 Sitze)
für die USPD. Die KPD kam auf 2,1% und erhielt 2 Sitze, die von Clara Zetkin und Paul Levi besetzt
wurden.
13 Die „traurigen Fehler“ der KPD-Zentrale im Kapp-Putsch wurden von Radek und der Komintern-
führung zum Anlass genommen, sich stärker in die Politik der Parteien einzubringen, die wie die KPD
„kein hemmendes Zentrum sein [dürfen].“ (siehe hierzu den Protokollauszug des Exekutivkomitees
vom 18.6.1920, Dok. 24).
104 1918–1923
Dok. 23
Sowjetdeutschland und Sowjetrussland als Konföderation
unabhängiger Staaten: Brief Stalins an Lenin zur nationalen und
kolonialen Frage
Kremenčug, Zentralukraine, 12.06.1920
Gen. Lenin,
Ihren Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage für den 2. Kongress
der Komintern habe ich am 11. Juni erhalten.14 Ich habe im Moment keine Möglich-
keit, mich zu den Thesen detailliert und ausführlich zu äußern (keine Zeit), doch über
eine Lücke in den Thesen kann ich mich kurz äußern. Ich spreche von dem Fehlen
einer Erwähnung der Konföderation als eine der Übergangformen zur Annäherung
der Werktätigen verschiedener Nationen in den Thesen.15
Für Nationen, die Bestandteil des alten Russlands waren, kann und muss unser
(sowjetischer) Typus der Föderation als zweckmäßig im Weg für die internationale
Einheit befunden werden. Die Motive sind bekannt: Diese Nationalitäten hatten ent-
weder in der Vergangenheit keine Staatlichkeit, oder sie verloren diese vor langer Zeit,
so dass der sowjetische (zentralisierte) Typus der Föderation ihnen ohne besondere
Reibungen anerzogen werden kann.
Dasselbe kann man nicht behaupten von den Nationalitäten, die nicht Bestandteil des
alten Russland waren, die als eigenständige Verbünde existierten, ihre eigene Staatlichkeit
entwickelten, und die, wenn sie sowjetisch werden, kraft der Tatsachen gezwungen sein
werden, in der einen oder anderen Form in staatliche Beziehungen (Verbindungen)16 zu
Sowjetrussland zu treten. Zum Beispiel das zukünftige Sowjetdeutschland, Polen, Ungarn,
Finnland. Diese Völkerschaften mit ihrer eigenen Staatlichkeit, mit einer eigenen Armee,
mit einem eigenen Finanzwesen, werden, sobald sie sowjetisch sind, kaum dazu bereit sein,
direkt eine föderative Verbindung mit Sowjetrussland entsprechend dem Typus17 der basch-
14 Die Rede ist von Lenins „Ursprünglichem Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen
Frage“, die am 5. Juni 1920 zur Begutachtung an die Mitglieder des Politbüros mit der Bitte um Kom-
mentierung verschickt wurden. Stalin war zu dieser Zeit Mitglied des Revolutionären Kriegsrates der
Süd-West-Front (siehe: Lenin: Werke, Bd. 31, S. 132–139).
15 Die rein formale Argumentation Stalins unterscheidet sich grundlegend von der in den Thesen
von Lenin vorgeschlagenen Verbindung einer Unterstützung der „bürgerlich-demokratischen Befrei-
ungsbewegung“ in den „zurückgebliebenen Ländern“. (Ibid., S. 138)
16 „Verbindungen“ handschriftlich von Stalin eingefügt.
17 „Typus“ handschriftlich umkreist und am Rand mit einem Fragezeichen versehen.
Dok. 23: Kremenčug, Zentralukraine, 12.06.1920 105
kirischen oder ukrainischen [Verbindung], einzugehen. (In Ihren Thesen machen Sie einen
Unterschied zwischen dem baschkirischen und dem ukrainischen Typus von föderativen
Verbindungen, doch in Wirklichkeit gibt es diesen Unterschied nicht oder er ist so gering,
dass er gleich Null ist); denn eine Föderation sowjetischen Typus würden sie als eine Form
der Verringerung ihrer nationalen Souveränität, als einen Angriff auf Letzteres, ansehen.
Ich habe keine Zweifel daran, dass für diese Nationalitäten die Form der Konfö-
deration (eines Bundes selbstständiger Staaten)18 eine am ehesten annehmbare Form
der Annäherung wäre. Ich spreche gar nicht erst von rückständigen Nationalitäten,
wie z.B. Persien und die Türkei, auf die der sowjetische Typus der Föderation und eine
Föderation überhaupt noch weniger anwendbar wäre.
Ausgehend von diesen Überlegungen, denke ich, dass es notwendig ist, in dem ent-
sprechenden Punkt Ihrer Thesen über die Übergangsformen der Annäherung der Werktä-
tigen unterschiedlicher Nationen19 die Konföderation20 (im gleichen Rang wie die Födera-
tion) aufzuführen. Eine solche Ergänzung würde den Thesen mehr Elastizität verleihen,
sie durch eine weitere Übergangsform der Annäherung der Werktätigen unterschiedlicher
Nationen bereichern, und den Nationalitäten, die früher nicht Bestandteil Russlands
waren, die staatliche Annäherung an Sowjetrussland erleichtern.21
I. Stalin
In einem Beschluss billigte das Politbüro des ZK der KP Russlands am 18.6.1920 das Vorgehen der Ko-
mintern gegenüber der USPD. Es entsprach dem Vorschlag des EKKI, sich mit einem Aufruf unmittel-
bar an die regionalen Organisationen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
zu wenden. Desweiteren beschloss das Politbüro, den Kongress der Völker des Ostens einzuberufen
(der vom 1. bis zum 7.9.1920 in Baku stattfand). Weiterhin wurden organisatorische Fragen des 2.
Weltkongresses der Komintern besprochen.22
Dok. 24
Die traurigen Fehler des ZK: Diskussionsbeitrag Karl Radeks über
die KPD während des „Kapp-Putschs“
Moskau, 18.6.1920
22 RGASPI, Moskau, 17/3/89, 1–2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 45–47.
Dok. 24: Moskau, 18.6.1920 107
massen und ihre Kräfte zum Kampf vereinigen.23 Dieser Aufruf war noch nicht bis in die
Massen vorgedrungen, als die gesamten Massen Deutschlands sich erhoben und nicht
nur durch einen Generalstreik, sondern auch in einem fieberhaften Kampf den Militär-
putsch der deutschen weißen Generäle unterdrückten. Im weiteren Verlauf machte das
Zent[ral-]Kom[itee] der Partei am 23. März einen erneuten, sehr entscheidenden und sehr
traurigen Fehler. Als es der Gewerkschaftsbürokratie gemeinsam mit den Unabhängigen
gelungen war, die kämpfenden deutschen Arbeiter zum Abbruch des Generalstreiks zu
überreden, obwohl sich die deutschen Bergleute im Ruhrgebiet im bewaffneten Kampf
gegen die Truppen des Generals Watern [d.i. Oskar von Watter]24 befanden, begannen die
Anführer der deutschen Gewerkschaftsbewegung mit Legien an der Spitze, um Zeit zu
gewinnen und eine Rückkehr in die Koalition mit der Bourgeoisie zu ermöglichen, damit,
ein Spiel mit den rechten Unabhängigen zu treiben, indem sie erklärten, sie seien zur
Kündigung einer Koalition mit der Bourgeoisie und zur gemeinsamen Errichtung einer
Arbeiterregierung bereit. Gegen diese Ersatzhandlung für den Kampf gegen die Sowjetre-
publik25 wurde von der Partei [der Unabhängigen], die in Bezug auf die deutschen Verhält-
nissen völlig in der Luft hing, die Frage nach der Schaffung einer neuen Regierung auf die
Tagesordnung gesetzt, und die linken Unabhängigen, die den Kampf für die Beseitigung
der Bedingungen für die alte Koalition fortgesetzt hatten, weigerten sich, in diese Regie-
rung einzutreten. Die rechten Unabhängigen wollten nicht ohne Däunin [d.i. Däumig] in
die Regierung eintreten. In dieser Situation erklärte das ZK der KPD entschieden, dass
eine solche Arbeiterregierung besser sei als eine Koalition, denn diese Regierung werde
keine Diktatur des Kapitals sein, und sie [d.h. die KPD] könne bei einer Garantie der freien
Agitation eine zu dieser Regierung loyale Opposition bilden und werde keine Versuche
unternehmen, diese gewaltsam zu stürzen.26
Wir halten diese Erklärung für einen riesigen Fehler, nicht nur einen Fehler im Sinne
eines Schreibfehlers, dass diese Arbeiterpartei eine Demokratie garantiere, die nicht eine
Diktatur des Kapitals sei, sondern auch für einen grundlegenden Fehler in der Einschät-
zung des Kräfteverhältnisses, denn als sich die Arbeiter aller Gewerkschaften und die
Unabhängigen-Partei vom Streik lossagten, wäre es Aufgabe der kommunistischen Partei
gewesen, auf eine Fortsetzung des Kampfes hinzuwirken und die Losungen der Bewaff-
nung der Arbeiter sowie der Entwaffnung der Weißen und der Bourgeoisie aufzustellen,
und für den Fall, dass die Gewerkschaftler und die Unabhängigen es geschafft hätten,
eine Sowjetregierung durch eine solche Arbeiterregierung ohne Sowjets zu ersetzen,
hätte die Partei nur eines sagen können: Wenn Ihr, meine Herren, die Weißen entwaffnet,
dem Proletariat zur Bewaffnung verhelft, die Schaffung von aus Arbeitern demokratisch
gewählter Sowjets garantiert, das Wirkungsfeld27 dieser Sowjets bestimmt und die Frage
nach der Regierungsform löst, dann werden wir dafür sorgen, Euch nicht zu stürzen,
solange die Mehrheit des Proletariats nicht hinter uns stehen wird. Die Erklärung zur
militärischen Opposition28 gegenüber der Scheidemann-Crispien-Regierung wiederholte
den Versuch mit der arbeitermordenden Regierung Haase, [und] konnte nur eine demo-
ralisierende Wirkung haben. Das Exekutivkom[itee] der Komintern muss die Tatsache
anführen, dass die Arbeitermassen in den Märztagen, die die Unmöglichkeit von Aktio-
nen missachteten, und zu ebendieser Aktion übergingen, wobei auch die Kommunisten
in dieser Aktion eine riesige Rolle spielten.
Wir begrüßen die Tatsache, dass die verantwortungsvollsten Mitglieder des ZK
des Spartakusbundes am 13. wie auch am 22. März gegen diese Taktik eingestellt
waren. Wir haben einen Brief von Gen. Levi, der sich am 13. März im Gefängnis befand
und von dort aus in Worten, die man gar nicht abdrucken kann, die Partei wegen
dieser Erklärung beschimpfte.29 Clara Zetkin äußerte sich ebenso in einem Brief, den
wir in der Kommunistischen Internationale abgedruckt haben.30 Meyer hielt sich in der
Provinz auf und nahm am bewaffneten Kampf teil.31 Unsere Genossen Reuter, Friesen
[d.i. Friesland] waren in den Kampfverbänden, daher nicht im ZK, Gen. Brandler
auch. Das heißt, die Verantwortung für den Fehler fällt nicht der gesamten Partei zu,
sondern nur dem betreffenden Teil. Wir begrüßen, dass die Partei das Abrutschen
ihres ZK verurteilte, und wir halten es für notwendig, die deutschen Genossen auf
diesen Fehler hinzuweisen, den wir darin sehen, dass sie den Vorschriften entspre-
chenden Kampf gegen die Taktik des Aufstandes zu weit getrieben haben.
Als im letzten Jahr die kommunistische Partei erst im Entstehen begriffen war,
standen die Massen in überwiegender Mehrheit auf der Seite der Regierung Scheide-
manns, und wir mussten Gruppen von Arbeitern, die es in den Kampf zog und die ihre
Fehler mit Tausenden von Opfern bezahlten, zurückhalten und auf die Notwendigkeit
eines konsequenten Kampfes, einer Organisation usw. hinweisen. Aber die Genos-
sen haben es im Kampf gegen die Putschisten letztendlich übertrieben. Der Fehler ist
nun durch die deutsche Partei korrigiert worden, ihr ZK hat den Fehler verstanden,
und nun liegt es an uns, darauf hinzuweisen, dass, erstens, wenn in Deutschland
die Ereignisse so heranreifen, dass eine Massen-Gegenaktion auf der Tagesordnung
steht, die Partei kein hemmendes Zentrum sein darf, sondern ein Zentrum sein muss,
das die Massen nach vorne führt, und zweitens, dass selbst in dem Moment, als es
schien, dass eine solche Aktion, ein sozialer Umbruch nicht im Bereich des Mögli-
chen lag, man die Partei wegen ihrer Tatenlosigkeit nicht hätte verurteilen dürfen,
sondern bestimmte Nahziele aufstellen musste und in ihrem Namen an die Massen
appellieren und handeln musste. Wir schlagen nach rechts, wir schlagen nach links,
und das sehr gnadenlos. Wir bekämpfen die Linke, indem wir die Linksabweichun-
gen als Kinderkrankheit verlachen, und müssen einer solch großen Organisation
gegenüber angesichts ihrer Fehler unsere Meinung sagen.
Aufgrund der Tatsache, dass sowohl der Parteirat als auch die Parteimassen den
Fehler korrigiert haben, ist es auch weiterhin zulässig, in der Kommunistischen Partei
Deutschland unseren Stoßtrupp zu sehen, was es mit einer gewissen Erleichterung
erlaubt, den Brief in den allerfreundlichsten Tönen zu formulieren. Ich schlage vor,
eine Kommission aus drei Genossen zu bestimmen, die bis zum morgigen Tag meinen
Vorschlag durchsieht und ihn an das Exe[kutiv-]Komitee zur Annahme übergibt, und
daraufhin werden wir dies unseren deutschen Genossen telegraphieren. Ich denke,
dass diese Tatsache die Tendenz hin zur Einheit in der deutschen Arbeiterbewegung
verstärken wird, sie wird den linken Elementen der deutschen Partei zeigen, dass wir
hier keine Gesellschaft von Freunden und Bekannten sind, sondern verantwortungs-
bewusste Vertreter der Internationale, die die volle Wahrheit ausdrücken können.
SINOWJEW. Ich schlage die Bildung einer Kommission vor, bestehend aus Radek,
Serrati und Rákosi. Gibt es andere Vorschläge? Wenn nicht, halte ich es für angenom-
men. Dann werden wir zur nächsten Frage bezüglich der Völker des Ostens übergehen.32
Neben einer Vielzahl weiterer, die Komintern, den II. Weltkongress und den Kongress der Völker des
Ostens betreffender Beschlüsse, billigte das Politbüro des ZK der KP Russlands am 29.6.1920 die Ein-
ladung der KAPD als „linke Opposition“ der KPD zum II. Weltkongress der Komintern. Am 29.6.1920
wurde der Beschluss bekräftigt: Es sollten rasch Maßnahmen ergriffen werden, damit die KAPD-Ver-
treter zur Teilnahme am Kongress der Komintern eintreffen könnten.33
32 Stärker noch als die Probleme der Taktik rückte in der Folgezeit, in Vorbereitung des II. Welt-
kongresses der Komintern (19.7.–7.8.1920), die Frage der Einheit des deutschen Kommunismus ins
Zentrum, sowohl gegenüber der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands auf der „linken“, als
auch der USPD auf der „rechten“ Flanke. Im Sommer 1920 setzte dann die Diskussion über die Ein-
heitsfrontpolitik als Hauptausrichtung der Internationale und der Parteien ein (siehe Dok. 27ff.).
33 RGASPI, Moskau, 17/3/92, 1–2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 49–51.
110 1918–1923
Dok. 25
Die Zuschüsse der Komintern als Haupteinnahmequelle:
Finanzbericht der Zentrale der KPD für den Zeitraum 1918–1920
[Berlin], 1. 7. 1920
E/R
Bericht der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) an die III. Inter-
nationale. […]
Finanzen.
Die Haupteinnahmen der K.P.D. bestanden in den Zuschüssen, die uns von Seiten der
III. Internationale gewährt wurden. Erst ganz allmählich wird es möglich sein, die
Partei finanziell auf eigene Füsse zu stellen. Die direkten Einnahmen aus Mitglieder-
beiträgen sind noch äusserst gering. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass unsere
Genossen ungeheure Mittel für die Unterstützung der Inhaftierten und die Angehöri-
gen der bei den Revolutionskämpfen Gefallenen aufbringen müssen.
Der Mitgliederbestand, der im Juli 1919 zirka 100 000 Mitglieder betrug, ist durch
die Spaltung und die Neugründung der K.A.P.D., zu der insgesamt zirka 20 000
Genossen übergegangen sind, und durch die verheerenden Auseinandersetzungen
mit der K.A.P.D. auf zirka 65 000 heruntergegangen. Durch die ausserordentlich leb-
hafte Wahlagitation wird die Mitgliederzahl um zirka 10 000 gestiegen sein. Authenti-
sche Zahlen können im Moment noch nicht gegeben werden, da die Resultate der jetzt
eingeleiteten statistischen Erhebungen noch nicht vorliegen. [...]
6.) Diverses.
Ausfälle, Anwaltskosten
Unterstützungen, Kranz-
spenden, Auslandsdienst,
Ehrungen etc., 34 810.70 Mark 16 233.58 Mark
__________________________________________
34 „Rote Hilfe“: Sammelbegriff für die Hilfe für die Opfer der kapitalistischen Repression und Vor-
läufer der „Rote Hilfe Deutschlands“ (RHD), der Landessektion der 1922 auf Inititative einer Gruppe
polnischer Parteiveteranen um Julian Marchlewski gegründeten Internationalen Roten Hilfe (IRH),
russ. MOPR (Meždunarodnaja organizacija pomošči borcam revoljucii/Internationale Organisation zur
Hilfe für die Kämpfer der Revolution), als „proletarisches Rotes Kreuz“, zunächst zur Unterstützung
der außerhalb der Sowjetunion eingekerkerten Revolutionäre. In Deutschland hatten sich im Gefolge
der „Märzaktion“ (siehe Dok. 34–47) bereits im April 1921 sog. „Rote-Hilfe-Komitees“ gebildet. Neben
der Internationalen Arbeiter-Hilfe wurde die IRH zur wichtigsten „Massenorganisation“. Durch Intel-
lektuelle (in Deutschland Heinrich Mann, Albert Einstein u.a.) unterstützt, konnte die IRH bis zu 76
nationale Sektionen aufbauen. Siehe: Nikolaus Brauns: Schafft rote Hilfe! Geschichte und Aktivitä-
ten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919–1938), Bonn,
Pahl-Rugenstein, 2003; Sabine Hering/Kurt Schilde (Hrsg.): Die Rote Hilfe – Die Geschichte der inter-
nationalen kommunistischen „Wohlfahrtsorganisation“ und ihre sozialen Aktivitäten in Deutschland
(1921–1941), Opladen, Leske + Budrich, 2003).
112 1918–1923
Die Buchforderungen setzen sich zusammen aus zum grössten Teil Vorschüssen an
die Druckereien für in Arbeit befindliche Broschüren, Flugblätter, Zeitschriften, Vor-
schüsse, für die noch keine Abrechnungen vorliegen.
Dok. 26
Telegramm Lenins an Stalin über die Revolution in Italien und die
Gefahren einer deutschen Lumpenproletarierarmee
Moskau, 23.07.1920
Die Lage in der Komintern ist hervorragend. Sinowjew, Bucharin und ich denken, dass
man in Italien sofort die Revolution unterstützen sollte.36 Meine persönliche Meinung
ist, dass man dafür Ungarn sowjetisieren müsste, und danach vielleicht Tschechien
und Rumänien. Man muss es sorgfältig überdenken. Teilen Sie Ihre ausführliche
Schlussfolgerung mit. Die deutschen Kommunisten denken, dass Deutschland dazu
in der Lage ist, gegen uns ein Heer aus dreihunderttausend Lumpenproletariern auf-
zustellen.
Lenin
Am 31.7.1920 stimmte das Politbüro des ZK der KP Russlands dem Vorschlag Čičerins zu, einer Frie-
denskonferenz mit Deutschland zur Wiederherstellung der Handelsbeziehungen anzuberaumen.37
Dok. 27
Der russische Einfluss im Kleinen Büro und die Opposition Paul
Levis: Aus der Diskussion in der Komintern
Moskau, 7.8.1920
Gedruckter Text in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/1/7, 34–35 ch. 2. Erstveröffentlichung.
Sitzung des Executivkomitees der 3. Internationale am 7. August 1920 [Aus dem steno-
graphischen Protokoll].38
B u c h a r i n : Das kleine Büro sollte nur ein technisches Büro sein mit einem politi-
schen Sekretär, einer technischen und einer konspirativen Gruppe.39 Fünf verschie-
dene Arten von Institutionen in unserer Exekutive, das ist etwas babylonisch.40 Ich
meine, wir müssen das vereinfachen. Vielleicht können wir, wenn wir ein halbes Jahr
oder etwas mehr mit ihnen arbeiten, reguläre Plenarsitzungen haben werden und
vollständiges Vertrauen zueinander gefaßt haben, unsere Organisation noch verein-
fachen, sodaß wir nur eine Sitzung in zwei bis drei Wochen abzuhalten brauchen.
Wir sind mit unseren Beschlüssen an die Beschlüsse des Zentralkomitees gebunden41
und dabei ist auch die Kandidatur des Genossen Kobezki [d.i. Michail Kobeckij]. Es ist
nicht wahr, daß er kein Mitglied unserer Partei ist.42 [...]
R a d e k : Ich glaube, daß es, abgesehen von der Frage, ob das Büro aus drei oder
sieben Mitgliedern, ob es nur aus russischen oder auch aus andren Genossen besteht,
unmöglich ist, zu behaupten, daß es sich nur um ein technisches Büro handelt. Das
kleine Büro hat die wichtigste politische Funktion, die Beziehungen zu den Parteien
aufrechtzuerhalten, ferner die vorbereitenden Arbeiten der Exekutive zu erledigen. [...]
S i n o w j e w : Für uns kommt der Antrag der deutschen Delegation unerwartet. Sie
werden sich erinnern, daß Genosse Lenin erklärt hat, daß kein einziger deutscher
Genosse herkommen kann und daß man alles den russischen Genossen übergeben
soll. (Levi: Macht Ihr uns zum Vorwurf, daß wir uns den Beschlüssen unterwerfen?)
Das ist kein Vorwurf, sondern nur eine Konstatierung der Tatsache. Der Antrag geht
dahin, die Exekutive als solche zu eliminieren, denn wenn man sieben Genossen mit
politischen Funktionen betraut, was werden dann die übrigen acht machen? Dann
kommt die Exekutive zu einer Parade zusammen. Es ist klar, daß dann alle übrigen nur
Assistenten sind und ja sagen werden. Wir sind dagegen. Wir sind dafür, daß wir jetzt
den Versuch machen, eine politische internationale Exekutive zu bilden. Der Versuch
ist schwierig, er wird uns vielleicht nicht gelingen, denn die Genossen sind sparsam
mit den Vertretern, aber den Versuch müssen wir machen. Die 15 Vertreter sollen das
politische Organ sein, alle technischen Vorbereitungen soll die russische Partei in
Händen haben, weil der Sitz der Exekutive in Rußland ist und weil das Zentralkomitee
auch die ganze Verantwortung übernimmt. Die Finanzfrage ist besser zu bearbeiten,
wenn das Plenum sie bereits vorbereitet vor sich liegen hat. Das gehört in das engere
Büro.43 Die Tendenz, das engere Büro weiter zu machen und ihm politische Aufga-
ben aufzuzwingen, ist eine Tendenz, die Exekutive als solche zu eliminieren. Darum
bestehen wir darauf, daß wir fünf Genossen haben. Das ist schon weitaus genug. Nun
die Frage der Zusammensetzung. Wir bitten Sie, in diesem engeren Büro die Mehr-
heit, d. h. drei Genossen unserem Zentralbüro zu überlassen.44 Da Gen. Meyer nicht
bleibt, der technische und illegale Erfahrungen hat, wollen wir drei Genossen haben.
Wir sind verantwortlich, wir werden das besser machen als andere. Wir bitten zwei
Genossen aus anderen Parteien zu nehmen und drei, die von unserem Zentralkomitee
beauftragt sind. Wenn sie das Büro beauftragen, Thesen auszuarbeiten und Aufrufe
zu machen, so ist das keine politische Arbeit, sondern nur eine praktische, vorberei-
41 Mit dieser Äußerung markierte Bucharin deutlich die von Anfang an bestehende Abhängigkeit der
Komintern von den Instanzen der RKP(b).
42 Michail Kobeckij (1881–1937) war seit 1903 Mitglied der RSDRP(b). Das Politbüro des ZK der KP
Russlands schlug am 6.8.1920 seine Kandidatur als Sekretär des Kleinen Büros vor (siehe: Adibekov/
Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 56).
43 „Engeres Büro“: Synonym für das Kleine Büro des EKKI.
44 Vermutlich meint Bucharin das Politbüro der RKP(b).
Dok. 27: Moskau, 7.8.1920 115
tende Arbeit. Alle politischen Fragen werden von der Exekutive beschlossen. Leider
ist es nicht möglich, die Kandidatur Gen. Radeks aufzustellen. Vom Standpunkt der
Internationale ist es besser, wenn er nach Polen geht, wo sich vieles entscheidet und
wo Radek berufener ist als andere.45 [...]
Wir haben deshalb im Namen der russischen Partei eine Anzahl Kandidaten auf-
gestellt, damit wir immer vollzählig vertreten sind. Wenn Gen. Sinowjew nicht anwe-
send ist, ist Gen. Lenin da.46 Wir garantieren, daß wir zu jeder Sitzung fünf Mitglieder
stellen. Wir haben die Namen angenommen und nicht dagegen protestiert. Auch Eure
Partei kann Mitglieder stellen; sollten sie da sein, so werden wir mit ihnen zusammen
arbeiten. Gen. Levi sagt, für konspirative Zwecke sind auch fünf noch zu viel. Nein,
das ist nicht zu viel. Wenn es darauf ankommt, etwas schnell zu erledigen, sind Geld,
Adresse und Ba[nknoten ... aufge]braucht. Es soll schnell klappen, daher müssen alle
drei wirkliche Erfahrung in illegalen Sachen haben. Die russische Partei hat mehr
Erfahrung, aber auch die deutsche und ungarische Partei stehen darin nicht weit
zurück. [...]
L e v i : Genosse Sinowjew wundert sich darüber, daß ich für diesen Vorschlag ein-
trete, wo ich doch gegen das Exekutivkomitee in der Zusammensetzung, in der es
jetzt besteht, gewesen bin. Ich bin gegen den Beschluß gewesen, die Exekutive so
zusammenzusetzen, wie sie besteht, ich bin auch heute noch der Meinung, daß der
Beschluß, der auf diesem Kongreß gefaßt wurde, nicht gerade der glücklichste ist,
aber er ist nicht der einzige, deshalb tröste ich mich.47 Der Beschluß ist da und muß
durchgeführt werden, und es ist wichtig, ihn vernünftig durchzuführen. Nach allem,
was gesagt worden ist, ergibt sich klar, ob man will oder nicht, daß das zu bildende
Büro ein politisches ist. Das kann man nicht aus der Luft greifen, das dekretiert man
nicht. Wenn 20 Mann einmal wöchentlich in politischer Beratung zusammensitzen
und 15, 18 oder 30 Fragen erledigen müssen, so ergibt sich die Notwendigkeit des
politischen Büros und die schönsten Beschlüsse helfen gar nichts. Bucharin sagte,
45 Das Politbüro beschloss am 6.8.1920 eine Zusammensetzung des Kleinen Büros mit Sinowjew,
Bucharin, Tomskij, Kobeckij und Rudnjanskij als Mitgliedern. Radek wurde „angesichts der Notwen-
digkeit seiner Reise nach Polen“ von einer Kandidatur ausgenommen (Adibekov/Anderson/Širinja
u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 57).
46 Es ging hierbei um die personelle Zusammensetzung der Delegation der RKP(b) im EKKI, die per
Politbüro-Beschluss vom 6.8.1920 folgendermaßen festgelegt wurde: Sinowjew, Bucharin, Radek,
Tomskij und Kobeckij als Mitglieder, Ciperovič als Vertreter Tomskijs, sowie Lenin, Trotzki, Kamenev,
Stalin, Berzin und „die übrigen Mitglieder des ZK“ als Kandidaten (Čičerin und Michail Velʼtman-
Pavlovič) (siehe: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 56).
47 Am 5. Sitzungstag beschloss der 1. Weltkongress der Komintern, die Leitung der Komintern einem
Exekutivkomitee, bestehend aus je einem Vertreter der KPs der „bedeutendsten Länder“ zu über-
tragen, nämlich Russlands, Deutschlands, Deutsch-Österreich, Ungarns, der Balkanföderation, der
Schweiz und Skandinaviens. Das Exekutivkomitee wiederum sollte „ein Bureau von fünf Personen“
wählen (Der I. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Protokoll der Verhandlungen in Moskau
vom 2. bis 19. März 1919, [Petrograd], Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921, S. 201).
116 1918–1923
erst wenn wir uns kennen gelernt haben, würden wir seltener im Plenum zusam-
menkommen. Sollen wir unser Büro darauf aufbauen, daß wir in drei Monaten als
Lumpen erkannt werden? Selbstverständlich werden die Genossen vertraut zu einan-
der. Selbstverständlich wird man es so machen, daß die 18 Punkte der Tagesordnung
vorbereitet und Entwürfe angefertigt werden.
Wenn Thesen auszuarbeiten sind, müssen sie zuerst im Entwurf vorgelegt
werden. Das sind Aufgaben von ungeheurer politischer Wichtigkeit. Selbstverständ-
lich werden dann die Plenarsitzungen seltener. Ich bin der Ueberzeugung, daß die
politische Tätigkeit das Büro viel mehr in Anspruch nehmen wird als die illegalen
Aufgaben. Die Zusammensetzung des Büros spricht dafür, daß die Russen keine
andere Basis ins Auge gefaßt haben. Wen die Russen delegieren, ist mir gleich. Die
einzige Frage, die für mich in Betracht kommt, ist die: Ist er als politischer Sekretär
geeignet? Eine politische Persönlichkeit scheint mir Kobetzki nicht zu sein. [...]
S i n o w j e w : [...] Ich lasse zunächst über den Antrag Vries [d.i. Alexander Salomon
de Leeuw], nur den russischen Genossen das kleine Büro zu überlassen, als weitge-
hendsten, zuerst abzustimmen. Dann kommt der Antrag des Zentralkomitees, dann
der Levis, dann der Serratis, falls kein Protest gegen den Modus der Abstimmung
erhoben wird.
Der Antrag Vries, daß nur die russischen Genossen das kleine Büro besetzen, wird
gegen zwei Stimmen abgelehnt.
Der Antrag der Russischen Kommunistischen Partei wird gegen zwei Stimmen ange-
nommen.
Der Antrag Levi wird gegen vier Stimmen abgelehnt.
Der Antrag des russischen Zentralkomitees, das kleine Büro durch vier russische
Genossen und den Sekretär zu besetzen, wird dahin abgefedert, daß Genosse Meyer
in das kleine Büro eintritt, da wir anfänglich nicht wußten, daß er hier bleibt. Wir
fassen den Antrag so auf, daß drei russische Genossen und der Gen. Meyer gewählt
sind. Damit ist die Sache erledigt.48 Drei russische Namen sind schon genannt, es
wurde vorgeschlagen, mich als Präsidenten, Kobezki als Sekretär und Bucharin zu
nennen. – Es ist ein Antrag eingegangen, daß die drei russischen Mitglieder endgültig
vom Zentralkomitee der russischen Partei gestellt werden.
48 Ernst Meyer konnte seine Funktion im Kleinen Büro nicht lange wahrnehmen: im April 1921 über-
nahm er nach der Verhaftung von Heinrich Brandler die kommissarische Leitung der KPD.
Dok. 28: Moskau, 8.8.1920 117
Dok. 28
Diskussion über die Verteilung von Komintern-Geldern: Aus den
Berichten der Komintern-Exekutive
Moskau, 8.8.1920
[...] S i n o w j e w : Die Finanzfrage muß behandelt werden und Sie müssen morgen
angeben, was Sie wünschen. Es muß gesagt werden, wofür Sie das Geld wünschen,
ob für illegale Arbeit, ob für Arbeit im Heere, ob für Hilfe für Gefangene, ob für das
Rote Kreuz49 und ob für Landagitation. Wir bitten Sie, bis morgen diese Antworten
[zu] uns gelangen zu lassen, damit wir untersuchen können, in welchem Maße wir
das durchführen können.
M e y e r : Sie sagten, Rotes Kreuz und Landagitation und ähnliches kämen nur in
Frage, dagegen nicht die Presse. Ist das der Wunsch der russischen Delegation?
S i n o w j e w : Das ist ein Beschluß der alten Exekutive der in dieser Weise allen Büros
mitgeteilt worden ist.
S u l t a n S a d e :50 Ich bin der Meinung, daß man eine spezielle Kommission wählen
soll, die alle technischen Anordnungen trifft.
49 Gemeint ist die „Rote Hilfe“ an die Opfer politischer Unterdrückung, die Verletzten und Gefan-
genen infolge des Generalsttreiks und der revolutionären Auseinandersetzungen (siehe hierzu Dok.
155).
50 Sultan Sade (Ps., urspr. Avetis Mikaelian, 1888–1938), Mitglied der RKP(b) persischer Herkunft,
1920 Organisator der KP Persiens; später ausgeschlossen, verhaftet und umgebracht.
118 1918–1923
B u c h a r i n : Wir haben mit dieser Geldfrage sehr viel Erfahrungen gemacht und
teilweise sehr schlechte, z. B. inbezug auf Oesterreich. Wir haben dahin viel Geld
gesandt, aber deswegen entstanden ganz ungesunde Zustände innerhalb der Partei.
Dieser Zeitpunkt ist schon vorüber. Aber es gab eine Zeit, wo dort die Kommunisti-
sche Partei vollständig demoralisiert wurde, das Geld korrumpiert[e] die Soldaten,
man wollte nichts als Parteimitglied machen, sondern für seine Parteipflichten das
Geld haben.51 Um einen Revolver von einem Ort zum andern zu tragen, brauchte man
einen Soldaten, und man nahm für die geringfügigsten Dinge eine Maschinistin,
eine Stenotypistin und einen Parteifunktionär. Russland konnte kaputt gehen. Wir
machen diese Vorschläge nicht deswegen, um hier als Geizhälse zu handeln, aber
gerade die besten Genossen haben uns gesagt: behalten Sie Ihr Geld selbst. Deshalb
meine ich, daß hier die strengste Kontrolle notwendig ist, um unsere eigenen Parteien
nicht zu demoralisieren. Das ist die Grundlage unserer strengen Forderungen.
M e y e r : Ich bin mit dem, was Bucharin gesagt hat, vollkommen einverstanden,
wenn hinzugefügt wird, daß Ausnahmen zulässig sind. Nämlich für Literatur und Zei-
tungen. In Deutschland haben wir z. B. – und ich weiß es auch von anderen Ländern
51 Bucharin spielt auf die sogenannte Bettelheim-Affäre in der KP Österreichs an. Der ungarische
Kommunist Ernst Bettelheim tauchte 1919, von der ungarischen Partei mit reichlichen Geldmittel aus-
gestattet, in Wien auf. Wie Karl Tomann am 19.9.1919 als Sekretär der Partei an Bucharin und Gustav
Klinger berichtete, habe Bettelheim, „der niemals irgendwo hervorgetreten“ war, in Wien erklärt, „er
sei vom Bureau der Dritten Internationale als Diktator ausersehen“; das ihm von den ungarischen
Genossen zur Verfügung gestellte Geld habe er nicht nur für Parteizwecke, sondern „zur Durchfüh-
rung seiner persönlichen Politik“ verwendet, um „die Bewegung zu korrumpieren“ (RGASPI, Moskau,
495/80/2, 25–26). Karl Steinhardt erinnerte sich 1920 an die Affäre: „Mit der Anwerbung von Arbeits-
losen und mit viel Geld hoffte er eine Bewegung auszulösen, die naturgemäss nicht in der Masse lag.
Damit bekam eine Periode der Korrumpierung der kommunistischen Partei. Mit viel Geld wurden
Menschen gekauft, die ihr Leben lang vom Kommunismus keine Ahnung hatten. Um die Partei sam-
melten sich wie um Honig Schmeissfliegen, die nur verdienen wollten, Abenteurer und politische
Wegelagerer, kurz alles andere, nur keine zielklaren disziplinierten Kommunisten.“ (SAPMO-BArch,
RY 6/I 6/4/7, 46–68). Zur Bettelheim-Affäre siehe: Hans Hautmann: Die verlorene Räterepublik. Am
Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, Wien u.a., Europa Verlag, 1971, S. 168–190;
Gerhard Botz: Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Öster-
reich 1918 bis 1938, München, Wilhelm Fink, 1983², S. 43–72. Die Herausgeber danken Manfred Mu-
grauer, Wien, für die Zurverfügungstellung der Quellenzitate.
Dok. 29: Moskau, 11.8.1920 119
– eine größere Zahl von Literatur, Broschüren und Bücher zum Selbstkostenpreis ver-
breitet, wie das kein bürgerlicher Verlag machen konnte. Zwei bürgerliche Verlage
haben dasselbe herausgegeben, sie haben aber wenig verlegt, während die Kom-
munistische Partei Millionen abgesetzt hat. In Ländern, die illegal arbeiten müssen,
ist das notwendig. Wo die Zeitungen sich durch fortwährende illegale Arbeit keinen
Inseratenteil sichern können, ist es notwendig.
Auf Vorschlag Trotzkis beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands am 10.8.1920, eine größere
Gruppe deutscher Kommunisten unter der Leitung von Willi Budich – dem Leiter der Militärarbeit in
der KPD-Zentrale und Anführer des Roten Soldatenbundes – an die Westfront zu schicken. Ihm soll-
ten „circa hundert deutsche Kommunisten, die zu einer sowjetischen und propagandistischen Arbeit
geeignet sind, zu seiner Verfügung“ überlassen werden. Mit der Ausführung des Beschlusses wurden
Sinowjew und Preobraženskij beauftragt.52 Willi Budich war von August 1920 bis Januar 1921 an der
Westfront eingesetzt.
Dok. 29
Beschluss der Komintern über die finanzielle Unterstützung der
deutschen Linken und der Hinterbliebenen von Karl Liebknecht
und Eugen Leviné durch die Komintern
Moskau, 11.8.1920
Kleines Büro der Exekutive der Komintern.53 Sitzung von 11. August. [...]
§ 9. [...] Der Familie von K. Liebknecht Wertsachen im Wert von 300 Tausend Rubel
zum alten Kurs und der Familie von Eugen Leviné54 Wertsachen im Wert von 100 Tsd.
zum alten Kurs zu übergeben.55 Die Gesamtheit der betreffenden Wertsachen sind
über die deutsche Delegation56 zu übermitteln.
Auf Vorschlag Trotzkis beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands am 13.8.1920, eine funktio-
nierende Eisenbahnverbindung mit Deutschland zum Zwecke der „Waffenbeschaffung aus Deutsch-
land“ aufzubauen.59 Die Hoffnung der Parteifühung, eine solche Beschaffung zu bewerkstelligen,
rührte daher, dass der deutsche Verbindungsoffizier Wilhelm Schubert im Auftrag des Auswärtigen
Amtes mit der Tuchačevskij-Armee, die sich im Polen-Krieg an der ostpreußischen Grenze befand,
Kontakt aufgenommen hatte. Am 12.8.1920 hatten die Versorgungschefs der sowjetischen Armee ihm
eine Liste der benötigten Nachschubgüter überliefert.60
55 Nach dem Tod seiner ersten Frau 1911 heirate Liebknecht 1912 die Kunsthistorikerin Sophie Ryss,
Wilhelm und Robert waren Kinder aus erster, Vera aus zweiter Ehe. Die drei Kinder sowie sein Bruder
Theodor und seine Frau Lucie mussten in den 1930er Jahren außerhalb Deutschlands leben. Sophie
Liebknecht arbeitete u.a. für die sowjetische Vertretung in Berlin. Sie ging 1934 in die Sowjetunion,
wo sie 1964 starb. Siehe: Annelies Laschitza: Die Liebknechts. Karl und Sophie. Politik und Familie,
Berlin, Aufbau, 2007, S.13ff. u.a.
56 Vermutlich die deutsche Delegation auf dem 2. Weltkongress der Komintern.
57 Die wichtigste Zeitung der USPD war die Leipziger Volkszeitung. Am 15.11.1918 erschein Die Frei-
heit als „Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands“, die unter Chefredakteur
Rudolf Hilferding zum inoffizielle neuen Zentralorgan wurde.
58 Unterschrift mit Bleistift.
59 RGASPI, Moskau, 17/3/102, 2; APRF [Archiv Prezidenta Rossijskoj Federacii, das Archiv des Prä-
sidenten der Russischen Föderation], 3/64/644, 8. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin, I, Dok. 5.
60 Die Niederlage der Roten Armee vor Warschau am 14.8.1920 vereitelte solche Pläne, die eine Auf-
hebung des polnischen Korridors bedingten. Auch ließ die Niederlage von deutscher Seite „(...) alle
Hoffnungen der Reichswehrführung auf die Wiederherstellung der alten Reichsgrenzen auf Kosten
eines besiegten Polens zerrinnen.“ (Manfred Zeidler: Reichswehr und Rote Armee, 1920–1933. Wege
und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München, Oldenbourg, 1993, S. 49).
Dok. 30: Minsk, 19.08.1920 121
Dok. 30
Chiffretelegramm von Iosif Unšlicht an Trotzki über Waffenankäufe
in Thüringen für Enver Pascha
Minsk, 19.08.1920
Minsk, 18. August 1920. Ein Handelsvertreter aus Thüringen (Deutschland) ist ange-
kommen und bietet an, sofort 50.000 deutsche Gewehre, 15.000 Brownings, 250
„Parabeol“63-Revolver, 10.000.000 Gewehrpatronen und anderes Kriegsgerät nach
Graevo64 zu liefern, wofür 27.000.000 Mark benötigt werden. Wenn Sie im Prinzip ein-
61 Das Telegramm des stellvertretenden Vorsitzenden der GPU und Stellvertreter Dzeržinskijs, Iosif
Unšlicht, wurde während der Schlacht bei Warschau geschickt (13.–25.8.1920), die mit der unerwar-
teten Niederlage der Roten Armee („Wunder an der Weichsel“) nicht nur den polnisch-sowjetischen
Krieg beendete, sondern auch die der Ausdehnung der europäischen Revolution einen Dämpfer ver-
setzte.
62 Die folgende Anfrage Unšlichts, erfolgte bezüglich des Kaufes deutscher Waffen für Enver Pascha,
der aus seinem Berliner Exil Kontakt zu den Bolschewiki aufgenommen hatte. „Enver Pascha“ (Ps.),
d.i. Ismail Enver, ehemaliger Kriegsminister des Osmanischen Reiches, wurde zu einem führenden
Jungtürken und Konkurrenten Mustafa Kemal Atatürks. Er war Vertrauter Hans von Seeckts und
wirkte als früher Vermittler zwischen der Reichswehr und der Roten Armee mit dem Hauptziel, eine
(schließlich gescheiterte) Allianz seiner „Islamischen Armee“ mit der Sowjetunion gegen Großbritan-
nien zu erreichen. In einem Brief informierte Enver Pascha Hans von Seeckt eine Woche später unter
Hinweis auf Trotzki über die sowjetische Bereitschaft zu Verhandlungen über eine geheime militä-
rische Zusammenarbeit mit Deutschland (John Erickson: The Soviet High Command. A Military-Po-
litical History, 1918–1941, Third Edition, London, Frank Cass, 2001, S. 149f.). Er nahm ebenfalls am
Kongress von Baku teil. Im Oktober 1920 fand dann unter Teilnahme Victor Kopps und einer Reihe von
Reichswehroffizieren ein von Enver vermitteltes Treffen in Berlin über die Möglichkeiten einer gehei-
men deutsch-sowjetischen militärischen Zusammenarbeit statt, die 1921 konkretisiert wurden (siehe:
Petra Kappert/Ruth Haerkötter/Ingeborg Böer (Hrsg.): Türken in Berlin 1871–1945. Eine Metropole in
den Erinnerungen osmanischer und türkischer Zeitungen, Berlin, De Gruyter, 2002, S. 10; Zeidler:
Reichswehr und Rote Armee, S. 49–50).
63 So im Text. Richtig: „Parabellum“.
64 Grajewo, Kleinstadt in Nordostpolen am Fluss Elk, nördlich von Białystok.
122 1918–1923
verstanden sind... Banknoten für Bezahlung über Kopp65 und Gukovskij.66 Erwarte
Ihre unverzügliche Antwort. Nr. 3838/U 930/III.
Am 19.8.1920 lehnte das Politbüro des ZK der KP Russlands den von Čičerin eingebrachten Vorschlag
Victor Kopps ab, der deutschen Regierung in einer behutsamen, mündlichen Form eine Entschuldi-
gung für die Ermordung des am 6.7.1918 in Moskau erschossenen deutschen Botschafters Wilhelm
Graf von Mirbach-Harff zu überbringen.71 Eine solche „Genugtuung“ wurde von deutscher Seite nicht
zuletzt wegen der laufenden Verhandlungen über eine Wiederherstellung der wirtschaftlichen und
politischen Beziehungen zwischen mit Russland erwartet. Das Problem wurde danach insgesamt
zweimal vom Politbüro behandelt: am 1.9.1920, als Kopp angewiesen wurde, die deutschen Forde-
rungen nach einer Entschuldigung für den Mord an Mirbach in der Presse „auszulachen“,72 und am
14.9.1920, als Kopp dafür gerügt wurde, dieser Direktive direkt zuwidergehandelt zu haben. Kopp
hatte laut Politbüro in einem Interview in der Freiheit vom 4.8.1920 exakt das Gegenteil getan.73 Das
Attentat wurde von Lenin, Trotzki und Sverdlov als eine Verschwörung der linken Sozialrevolutionäre
und Teilen der Tscheka u.a. zur Torpedierung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk verstanden. In
einem Interview des deutschen Außenministers Dr. Simons mit der Leipziger Volkszeitung sicherte
65 Victor Leontʼevič Kopp (1880–1930) (Ps. Tomskij) war 1920 Bevöllmächtigter der Sowjetischen Re-
gierung in Berlin zur Herstellung der militärischen Kontakte, er wirkte ebenfalls als Rotkreuzvertreter
in Berlin für die Verhandlungen über die Kriegsgefangenen sowie als Verbindungsmann zum Westeu-
ropäischen Sekretariat der Kommunistischen Internationale (WES) und zur KPD.
66 Isidor Emmanuilovič Gukovskij (1871–1921) war sowjetischer Volkskommissar für Finanzen.
67 RVS: Revoljucionnyj Voennyj Sovet (Revolutionärer Kriegsrat).
68 Handschriftlicher Eintrag: „Mit Orig[inal] abgeglichen: Leiter der Feld-Kanzlei des Vorsitzenden
des RVSR – Sermuns“ (richtig: Sermuks).
69 Enver Paschas Bestrebungen, mit Hilfe türkischer, deutscher und sowjetischer Militärs den Krieg
in Mittelasien gegen Großbritannien fortzusetzen, schlugen aufgrund unüberbrückbarer Interessen-
gegensätze fehl.
70 Im Text doppelt unterstrichen.
71 RGASPI, Moskau, 17/3/103, 2; APRF, 3/64/676, 1. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin, I, S. 27.
72 RGASPI, Moskau, 17/3/106, 2; APRF, 3/64/676, 4. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin, I, S. 27.
73 RGASPI, Moskau, 17/3/108, 1.
Dok. 31: [Berlin], 29.8.1920 123
der Minister die Wiederherstellung der deutsch-russischen diplomatischen Beziehungen zu „(...) so-
bald die durch die Ermordung des Grafen v. Mirbach verletzten Rechte der Exterritorialität eines deut-
schen Gesandten durch die russische Regierung wieder hergestellt sind.“ (Zur Wiederaufnahme der
deutsch-russischen Beziehungen. In: Freiheit, 8.8.1920). Was die „Form der Genugtuung“ anginge,
sollten der neuen Situation der beiden Länder Rechnung getragen und darüber hinaus die Wirtschaft-
beziehungen als Teil der „Gesundung Europas“ entsprechend gefördert werden. Bis November 1920
blieb dies ungelöst, 1922 erfolgte eine eher „stillschweigende und diskrete Genugtuung“ aus Anlass
der Einführung von Botschafter Brockdorff-Rantzau.
Dok. 31
Mitteilung des Genossen Thomas (Ps.), d.i. Jakov Rejch, über die
Auflösung der europäischen Sekretariate und Büros der Komintern
[Berlin], 29.8.1920
Werte Genossen!
Auf Grund einer Mitteilung der Exekutive der Kommunistischen Internationale,
gezeichnet durch Gen. G. Sinowjew, teile ich Euch folgendes, betreffs der organisato-
rischen Neuordnung [mit]:
„Das Westeuropäische Sekretariat der Kommunistischen Internationale, wie
auch alle bis jetzt bestehenden europäischen Bureaus hat die Exekutive aufgelöst.75
Am 1.9.1920 stimmte das Politbüro des ZK der KP Russlands dem Vorschlag des marxistischen His-
torikers Nikolaj Pokrovskij zu, eine Kommission zur Erforschung der Oktoberrevolution zu gründen.78
Ebenfalls am 1.9.1920 wurde der Vorschlag Krasins ins Politbüro des ZK der KP Russlands einge-
bracht, Boris Stomonjakov zum Handelsvertreter Sowjetrusslands in Skandinavien und Deutschland
zu ernennen. Dies wurde bewilligt, allerdings mit dem Vorbehalt, er werde sich nicht zu politischen
Angelegenheiten öffentlich äußern.79 Stomonjakov, seit 1900 Mitglieder der Partei und Experte in il-
legaler Waffenbeschaffung, trat 1910 vom revolutionären Kampf zurück und diente zeitweise in der
bulgarischen Armee.
76 Abram Gural’skij (Ps.), ursprünglicher Name Abram (oder Boris) Chejfec. Weitere Ps.: August
Kleine, Lepetit, Arnold (1885–1960). Ehemaliger Bundist jüdischer Herkunft, später Mitglied der KP
Russlands, Angehöriger des Leitungsapparats der Komintern und zugleich einflussreiches Mitglied
der KPD-Zentrale.
77 Entgegen Vermutungen in der Literatur (so bei Lazitch/Drachkovitch: Lenin and the Comintern,
S. 200f.) blieb das Westeuropäische Sekretariat als Berliner KI-Büro bestehen, allerdings mit einge-
schränkten, vornehmlich administrativen Aufgaben, u.a. auch als Netzwerkpunkt der Abteilung für
Internationale Verbindungen der Komintern (OMS). Siehe: Markus Wehner/ Aleksander Vatlin: „Ge-
nosse Thomas“ und die Geheimtätigkeit der Komintern in Deutschland 1919–1925. In: Internationale
Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung XXIX (1993), 1, S.
1–19, hier S. 7. Siehe auch Bayerlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution.
78 RGASPI, Moskau, 17/3/106, 3.
79 RGASPI, Moskau, 17/3/106, 4.
Dok. 32: Moskau, 22.9.1920 125
Das Politbüro des ZK der KP Russlands wurde über einen Beschluss des Kleinen Büros der Komintern-
Exekutive vom 15.9.1920 informiert, das eine Bitte Willi Münzenbergs abgelehnt hatte, ihm 100.000
Mark für die Versendung von Literatur nach Russland zu genehmigen. Zur Begründung hieß es, dass
die Mittel der Kommunistischen Jugendinternationale nur von „Gen. P[jatnitzki]“ verwaltet werden
dürften.80
Dok. 32
Bericht Lenins über die Revolutionserwartung in Deutschland, den
Versailler Vertrag und den sowjetisch-polnischen Krieg
Moskau, 22.9.1920
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 44/1/5, 9–36. In deutscher Sprache publ. in:
A.N. Artizov, R.A. Usikov (Hrsg.): „Ich bitte Sie, weniger aufzuschreiben: das darf nicht in die Presse
gelangen“. Reden W.I. Lenins auf der IX. Konferenz der KPR(B) am 22. September 1920. Übersetzung
von Erika Segendorf. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1997), 3, S. 43–67. In
russischer Sprache teilw. publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 59–66.
Genossen,81 es ist natürlich, daß der Bericht, der in einer solchen Zeit gegeben wird,
den Krieg mit Polen und alle die Peripetien, die wir in dieser Zeit durchlebt haben,
zum Schwerpunkt haben muß. Gestatten Sie mir, [mit] einigen [Bemerkungen] vom
Anfang der Periode zu beginnen, als dieser polnische Krieg noch nicht zur Tatsache
geworden war. [...]
Sie erinnern sich an den Beginn des Krieges, der für die Polen bis zur Erobe-
rung Kievs erfolgreich war. Sie beherrschten nach vorläufigen Berechnungen ein
Territorium mit einer Bevölkerung von rund 4 Millionen. Sie erinnern sich: Nach
diesem Erfolg [der Polen] führte eine [Um]gruppierung der Truppen zum Erfolg, und
nachdem unsere Truppen zur Offensive übergegangen waren, erreichten sie rasch die
polnische Hauptlinie. Hier beginnt der große Umschwung in der Geschichte des pol-
nischen Krieges, der sich in der Praxis als Wende der Welt [zum] Krieg erwies. Damit
muß man beginnen, um die weitere Geschichte zu klären und zum Wesentlichsten
überzugehen, das jetzt jedes Parteimitglied bewegt, zur brennendsten Frage – das ist
jene riesige Niederlage, die katastrophale Niederlage, die wir im Ergebnis der gesam-
ten Entwicklung der Operation erlitten haben.82
Am 12. Juli, als unsere Truppen in pausenloser Offensive bereits ein riesiges
Gebiet durchschritten hatten und sich der ethnographischen Grenze Polens näherten,
wandte sich die englische Regierung [in] der Person Curzons mit einer Note an uns, in
der sie forderte, daß wir unsere Truppen auf einer Linie 50 Werst vor der ethnographi
schen Grenze Polens zum Stehen bringen unter der Bedingung, auf der Grundlage
dieser Linie Frieden zu schließen.83 Diese Linie verlief entlang der Linie Bialystok-
Brest-Litovsk und überließ uns Ostgalizien. Diese Linie war also sehr vorteilhaft für
uns. Diese Linie erhielt den Namen Curzon-Linie. Und eben damals stellte sich uns
eine grundlegende Frage. Das ZK mußte eine höchst wichtige Entscheidung treffen.
Und diese [Entscheidung] ist der Ausgangspunkt, zu dem ich in meinem Bericht
zurückkehren muß, um die äußerst wichtige und grundlegende Frage einzuschätzen.
Wir standen vor der Frage: Sollte man diesen Vorschlag annehmen, der uns güns-
tige Grenzen gäbe, und somit, allgemein gesprochen, eine reine Verteidigungsposition
einnehmen, oder aber jenen Aufschwung in unserer Armee und das Übergewicht, das
vorhanden war, nutzen, um die Sowjetisierung Polens zu unterstützen. Hier stand die
grundlegende Frage nach Verteidigungs- und Angriffskrieg, und wir wußten im ZK,
daß dies eine neue prinzipielle Frage ist, daß wir an einem Wendepunkt der gesamten
Politik der Sowjetmacht stehen.
Bisher hatten wir gegen die Entente Krieg geführt, denn wir wußten sehr wohl,
daß hinter jedem Teilangriff Kolčaks und Judeničs die Entente steht,84 und wir waren
uns bewußt, daß wir einen Verteidigungskrieg führen und über die Entente Siege
erringen, daß wir aber die Entente nicht endgültig besiegen können, weil sie viele
Male stärker ist als wir. Und wir bemühten uns lediglich, die sich herausbilden-
den Risse zwischen den verschiedenen Staaten der Entente so weit wie möglich zu
nutzen, um uns rechtzeitig zu verteidigen. Die Geschichte mit Judenič und Denikin
hat vom Standpunkt des Kräfteverhältnisses etwas Unerhörtes, Unwahrscheinliches
gezeigt.85 Wir haben sie nacheinander geschlagen. [...] Und das geschah zu der Zeit,
als die gesamte Bourgeoisie rasend war vor Wut und Haß gegen den Bolschewismus.
Und es zeigte sich, daß wir stärker sind als sie. Sie haben den Gegner nacheinander
in Bewegung gesetzt, und während sie schrien, daß sie den Zaren nicht zurückholen
wollen, konnten sie die rein monarchistische Politik Judenitschs und Denikins nicht
verhindern, und damit stießen sie jenes Element von sich ab, das sie hätten hinter
sich haben müssen – die bäuerlichen und kulakischen Elemente.
In der Summe ergab sich also der Umstand, daß bei uns die Überzeugung heran-
reifte, daß die militärische Offensive der Entente gegen uns beendet ist, der Verteidi-
gungskrieg gegen den Imperialismus zu Ende gegangen ist, wir ihn gewonnen hatten.
Polen war der Einsatz. Und Polen dachte, daß es als Macht mit imperialistischen Tra-
83 Die Curzon-Note von 1920 (nach dem britischen Außenminister George Curzon (Lord Curzon of
Kedleston) sah eine neue Demarkationslinie zwischen Polen und der Sowjetunion vor, die jedoch von
Polen nicht akzeptiert und im Frieden von Riga (1921) weit nach Osten vorgeschoben wurde.
84 Admiral Aleksandr Vasilʼevič Kolčak (1874–1920) war Regierungschef und Oberbefehlshaber des
Weißen Heeres, General Nikolaj Nicolaevič Judenič (1862–1933) hatte 1919 erfolglos versucht, mit einer
weißen Armee von Estland aus St. Petersburg zu erobern.
85 General Anton Ivanovič Denikin (1872–1947) kommandierte die antibolschewistische Freiwilligen-
armee in Südrussland und versuchte 1919 erfolglos vom Kaukasus aus Moskau zu erobern.
Dok. 32: Moskau, 22.9.1920 127
ditionen imstande sei, den Charakter des Krieges zu ändern. Das heißt, die Einschät-
zung sah folgendermaßen aus: Die Periode des Verteidigungskrieges ist zu Ende. (Ich
bitte Sie, weniger aufzuschreiben: das darf nicht in die Presse gelangen.) [...]
Wir standen vor einer neuen Aufgabe. Die Verteidigungsperiode des Krieges
gegen den Weltimperialismus ist zu Ende, und wir können und müssen die militäri-
sche Lage für den Beginn des Angriffskrieges nutzen. Wir haben sie geschlagen, als
sie uns angriffen. Wir werden jetzt versuchen, sie anzugreifen, um die Sowjetisierung
Polens zu unterstützen. Wir werden die Sowjetisierung Litauens und Polens unter-
stützen – so hieß es in unserer Resolution.
Als diese Resolution im Zentralkomitee zur Abstimmung kam, gab es bei uns
keinen Mangel an Verständnis für den etwas plumpen Charakter dieser Resolution in
dem Sinne, daß man gegen sie wohl nicht stimmen konnte. Wie kann man gegen die
Unterstützung der Sowjetisierung stimmen?
Wenn wir aber unser Verhältnis zu Polen mit unserem Verhältnis zu Georgien und
Lettland vergleichen, dann wird der Unterschied völlig klar. Wir haben keine Resolu-
tion angenommen, daß wir auf militärischem Wege die Sowjetisierung Georgiens und
Estlands unterstützen. Wir haben eine entgegengesetzte Resolution angenommen,
daß wir nicht helfen.
Auf diesem Boden gab es eine Reihe von Konflikten mit den Revolutionären und
Kommunisten dieser Länder. Sie hielten Reden voller Bitterkeit gegen uns und sagten:
Wie könnt Ihr Frieden schließen mit den weißgardistischen lettischen Henkern, die
die besten lettischen Genossen, die ihr Blut für Sowjetrussland vergossen haben, an
den Galgen brachten und folterten? Wir hörten solche Reden auch von den Georgiern,
aber wir haben bei der Sowjetisierung Georgiens und Lettlands nicht geholfen. Und
wir können dies auch jetzt nicht tun, uns steht der Sinn nicht danach. Die Rettung
und Festigung der Republik ist die erdrückende Aufgabe. In bezug auf Polen haben
wir diese Politik geändert. Wir beschlossen, unsere militärischen Kräfte zu nutzen,
um die Sowjetisierung Polens zu unterstützen. Daraus ergab sich auch die weitere
allgemeine Politik.
Wir haben dies nicht in der offiziellen Resolution formuliert, die im Protokoll
des ZK steht und Gesetz für die Partei bis zum nächsten Parteitag ist. Aber unter uns
sagten wir, daß wir mit dem Bajonett erkunden müssen, ob die soziale Revolution
des Proletariats in Polen herangereift ist. Und hier stellten wir praktisch die Frage,
die, wie sich zeigte, für die besten kommunistischen Elemente der Internationalen
Assoziation,86 das heißt der Kommunistischen Internationale, theoretisch nicht ganz
klar ist.
Als der Kominternkongreß im Juli in Moskau tagte, war das zu der Zeit, als wir
diese Frage im ZK entschieden.87 Auf dem Kominternkongreß konnten wir diese Frage
nicht aufwerfen, weil dieser Kongreß offen vor sich gehen mußte. Darin bestand seine
große, revolutionäre, allgemeinpolitische Weltbedeutung, die um vieles größer sein
wird, als das bisher der Fall war. Auf diesem Kongreß gab es Elemente, zu denen die
deutschen Unabhängigen gehören, die jetzt die ekelhafteste Politik gegen die Sow-
jetmacht betreiben. Hinauswerfen konnte man sie zu jener Zeit nicht. Man mußte der
kommunistischen Weltpartei zeigen, daß wir sie nicht in unsere Reihen lassen wollen.
Also mußten wir auf dem Kongreß der Kommunistischen Internationale offen
sprechen. Daher wurde diese Frage auf dem Kongreß bewußt nicht berührt. Der Über-
gang zur Offensive gegen die Verbündeten der Entente konnte dort nicht zur Sprache
gebracht werden, weil dort nicht das Entwicklungsstadium vorhanden war, das für
die Diskussion dieser Frage notwendig ist. Wir mußten [sie] dulden.
Die „Rote Fahne“ und viele andere können nicht einmal den Gedanken zulas-
sen, daß wir mit unseren Händen die Sowjetisierung Polens unterstützen. Diese Leute
halten sich für Kommunisten, aber einige von ihnen sind Nationalisten und Pazifis-
ten geblieben. Natürlich haben Kommunisten, die mehr durchgemacht haben, [zu]
diesen gehören die finnischen Genossen, nicht die Spur solcher Vorurteile zurück-
behalten. Ich sage – nicht zurückbehalten, weil sie eine längere Kriegsperiode erlebt
haben. Als eine englische Arbeiterdelegation bei mir war und ich mit ihr darüber
sprach, „daß jeder anständige englische Arbeiter sich die Niederlage der englischen
Regierung wünschen muß“, haben sie mich absolut nicht verstanden.88 Sie zogen
solche Gesichter, die, glaube ich, selbst die beste Fotografie nicht zu erfassen vermag.
In ihre Köpfe ging absolut nicht die Wahrheit hinein, daß die englischen Arbeiter
im Interesse der internationalen Revolution die Niederlage ihrer eigenen Regierung
wünschen müssen.
Die Tatsachen, daß [in] Polen die proletarische Bevölkerung gut entwickelt und
das Landproletariat besser erzogen ist, diese Tatsachen sagen uns: du mußt ihnen
helfen, sich zu sowjetisieren.
Das ist das Stadium, in dem wir den Ereignissen begegneten, vor dem unsere
Partei stand. Das war der wichtigste Umschwung nicht nur in der Politik Sowjetruss-
lands, sondern auch in der Weltpolitik. Bisher traten wir als einzige Kraft gegen die
gesamte Welt auf und träumten nur davon, Risse zwischen ihnen wahrzunehmen,
damit der Gegner uns nicht zerschmettern kann. Jetzt aber sagten wir: Jetzt sind wir
stärker geworden, und auf jeden Angriffsversuch von Euch werden wir mit einem
Gegenangriff antworten, damit Ihr wißt, daß Ihr nicht nur riskiert, einige Millionen zu
vergeuden, wie Ihr sie für Judenič, Kolčak und Denikin vergeudet habt, sondern daß
Ihr riskiert, daß sich nach jeder Aktion eurerseits das Gebiet der Sowjetrepublik aus-
88 Am 26.5.1920 erhielt Lenin Besuch von einer Delegation englischer Gewerkschafter und Labour-
Mitglieder, die ihn u.a. zum Roten Terror und zum Krieg mit Polen befragte. Als Resultat dieses Tref-
fens verfasste Lenin den am 17.6.1920 in der Pravda und anschließend in diversen englischen Zei-
tungen veröffentlichten „Brief an die englischen Arbeiter“, in dem er auf die Fragen der Delegierten
einging (siehe: Lenin, Werke, XXXI, S. 127–131).
Dok. 32: Moskau, 22.9.1920 129
weiten wird. Russland war bisher nur Objekt, an dem man herummodelte und erwog,
wie es besser unter Judenič, Kolčak und Denikin aufgeteilt werden könnte. Jetzt aber
sagt Russland: Wir werden sehen, wer im Krieg stärker ist. So steht jetzt die Frage. Das
war eine Wende in der gesamten Politik, in der Weltpolitik. Hier wird der Historiker zu
vermerken haben, daß dies der Beginn einer neuen Periode ist.
Welches aber waren die Ergebnisse dieser Politik? Das Hauptergebnis war natür-
lich, daß wir jetzt eine gewaltige Niederlage erlitten haben. Um dazu überzugehen,
muß ich beschreiben, was dem vorausgegangen war.
Inwieweit ist es uns gelungen, mit dem Bajonett Polens Bereitschaft zur sozialen
Revolution zu erkunden? Wir müssen sagen, daß diese Bereitschaft gering ist. [...]
Es zeigte sich, daß all das die internationale Politik verändert. Als wir uns War-
schau näherten, kamen wir so nahe an das Zentrum der internationalen imperialis-
tischen Politik heran, daß wir sie zu machen begannen. Das klingt unverständlich,
aber die Geschichte des „Aktionskomitees“ in England hat mit absoluter Genauigkeit
bewiesen,89 daß sich irgendwo in der Nähe von Warschau nicht das Zentrum der pol-
nischen bürgerlichen Regierung und einer Republik des Kapitals befindet, sondern
daß irgendwo in der Nähe von Warschau das Zentrum des gesamten heutigen Systems
des internationalen Imperialismus liegt und daß wir Bedingungen haben, da wir
beginnen, dieses System ins Wanken zu bringen und Politik nicht in Polen machen,
sondern in Deutschland und England. So haben wir in Deutschland und England
eine völlig neue Strähne der proletarischen Revolution gegen den Weltimperialis-
mus geschaffen, weil Polen als Puffer zwischen Russland und Deutschland, Polen als
letzter Staat voll und ganz in den Händen des internationalen Imperialismus gegen
Russland bleibt. Es ist die Stütze des gesamten Versailler Vertrags. [...]
Das Vordringen unserer Truppen zu den Grenzen Ostpreußens, das durch den
Polnischen Korridor, der bis Danzig führt, abgetrennt ist, hat gezeigt, daß es in ganz
Deutschland zu brodeln begann. Es begannen Nachrichten einzugehen, daß Zehn-
tausende und Hunderttausende deutscher Kommunisten unsere Grenze überschrei-
ten. Es gingen Telegramme ein, es würden deutsche kommunistische Regimenter
[gebildet]. Es mußten Beschlüsse gefaßt werden, um zu helfen, [diese Nachrichten]
nicht zu veröffentlichen und weiterhin zu erklären, daß wir Krieg [mit Polen] führen.
Wenn jetzt Zeitungen, die die Auffassungen der Bolschewiki nicht teilen, kommen
und die Lage Ostpreußens beschreiben, zeigt sich ein höchst interessantes Bild, das
mich an einige Perioden der russischen Revolution von 1905 erinnert, da in Deutsch-
89 In der gleichen Rede sagte Lenin: „Als man uns ein Ultimatum stellte, antworteten die engli
schen Arbeiter, die zu neun Zehnteln eingefleischte Menschewiki sind, darauf mit der Bildung eines
„Aktionskomitees“. [...] Nichts von den Drohungen, die Lord Curzon gegen uns ausstieß, konnte ver-
wirklicht werden, und die Arbeiterbewegung Englands erhob sich auf eine unglaublich hohe Stufe.“
Gegen eine mögliche Kriegserklärung Großbritanniens gegen die Sowjetunion mobilisierten seit Au-
gust 1920 mehr als 350 „Councils of Action“ Streiks und Solidaritätsaktionen, zumeist ausgehend von
gewerkschaftlichen Strukturen.
130 1918–1923
che Sprache überträgt.92 Und in Deutschland hat man das damals auch so verstanden,
und es ergab sich ein widernatürlicher charakteristischer Block, ein Block, der nicht
auf Grund eines Vertrages gebildet, nicht irgendwo niedergeschrieben und verkündet
wurde, aber ein Block, in dem die Kapp- und die Kornilov-Leute, die gesamte Masse
des patriotisch eingestellten Elements mit den Bolschewiki war.
Das war das Problem, das damals stand, und dieses Problem konnten die deut-
schen Kommunisten zu dieser Zeit nicht lösen, sie konnten es deshalb nicht lösen,
weil sie zu dieser Zeit hier in Moskau saßen und die höchst primitive Frage zu lösen
versuchten, wie man Elemente einer wirklich kommunistischen Partei in Deutsch-
land schaffen kann, und die grundlegende Frage nach der Haltung zu den rechten
Unabhängigen, die Führer von der Art unseres Martov hatten, wo die Arbeiter aber
bolschewistisch gestimmt waren, zu lösen versuchten. Sie waren mit der Lösung
dieser Frage von Weltbedeutung, die in allen Ländern entsteht, beschäftigt. Und zu
dieser Zeit übersprangen die Ereignisse in Deutschland alle Lösungen dieser Fragen,
und es zeichnete sich ein Block konsequenter und extremer Patrioten und Kommu-
nisten ab, die bewußt einen Block [mit] Sowjetrussland anerkennen. Es ergab sich
ein solcher Block, daß in der Weltpolitik nur zwei Kräfte existieren, die eine – der
„Völkerbund“, der den Versailler Vertrag gab, und die andere – die Sowjetrepublik,
die diesen Vertrag eingerissen hat. Und der widernatürliche Block [in] Deutschland
war für uns. [...]
In Deutschland sind die Kommunisten bei ihren Losungen geblieben. Als sich
die deutschen Linken zu dem Unsinn verstiegen, daß ein Bürgerkrieg nicht notwen-
dig sei, sondern im Gegenteil ein Volkskrieg gegen Frankreich nötig sei, war dies
eine unerhörte Dummheit.93 Die Frage so zu stellen, das grenzte an Verrat. Ohne
Bürgerkrieg ist die Sowjetmacht in Deutschland nicht zu haben. Wenn Du mit den
deutschen Kornilowleuten einen Block schließt, werden sie Dich übers Ohr hauen.
In Deutschland gibt es eine schwache kleine kommunistische Partei und eine starke
Partei der Scheidemänner, der rechten Menschewiki, eine große proletarische Partei,
an deren Spitze unsere Martows stehen94 – eine Politik zwischen den Stühlen. Und
das erste Ergebnis war, daß zu den kleinen Staaten, die sich uns alle angeschlossen
haben, ungeachtet ihres ganzen Hasses gegen die Bolschewiki, gleichzeitig mit ihren
Repressalien gegenüber ihren eigenen Bolschewiki – den estnischen, finnischen,
lettischen – mußten sie mit uns Frieden schließen, und sie sagten, in internationa-
ler Hinsicht stehen wir, die kleinen Länder, dem bolschewistischen Sowjetrussland
näher. Wir haben in der Tat bewiesen, daß für Deutschland, wo die Stimmung der
92 Die sowjetische Seite lehnte auch den ersten Vorschlag Curzons zur Demarkationslinie ab, obwohl
sie weitaus günstiger lag als die von Polen 1921 durchgesetzte Revision. Siehe hierzu: Lenin: Fern-
spruch an J.W. Stalin, 12./13.7.1920. In: Lenin: Werke, XXXI, S. 191.
93 Hier umschreibt Lenin die Haltung der SPD im August 1914, die statt den Kampf gegen die eigene
Bourgeoisie zu führen, die Kredite für den Kampf gegen Frankreich bewilligte.
94 Julij Martov (1873–1923) war Führer des linken Flügels der Menschewiki.
132 1918–1923
Massen, der höchst unentwickelten und erzreaktionären, die imstande sind zu sagen
„besser Wilhelm“, daß es in internationaler Hinsicht keine andere Kraft für Deutsch-
land außer Sowjetrussland gibt.
Die nationalen Wünsche Deutschlands bestehen aus zwei Größen, die politisch
nicht zu unterscheiden ein riesiger Fehler wäre. Die eine Größe – den Versailler Vertrag
abwerfen, der sie erstickt. Andererseits sagten die deutschen Imperialisten, die sich
dem angeschlossen haben: Wir wollen nicht nur den Versailler Vertrag abwerfen, in
Wirklichkeit wollten sie die Wiederherstellung des imperialistischen Deutschlands.
Nicht nur gegenüber den kleinen Ländern, sondern auch in bezug auf Deutschland
haben wir die internationale Lage sondiert.
In meiner Rede bei der Eröffnung des Kominternkongresses, die ich in Petrograd
gehalten habe,95 hatte ich auch über die internationale Lage zu sprechen, und ich
sagte, daß die Erdbevölkerung jetzt etwa drei Milliarden beträgt und drei Viertel von
ihnen, den drei Milliarden, in Kolonien leben und eine Dreiviertelmilliarde in den
Ländern, die besiegt worden sind, das heißt in den Kolonien 70 Prozent. Ich sagte,
sogar bei einer so groben Sicht, wenn man die Weltpolitik nimmt, werden sieben
Zehntel der Bevölkerung bei richtiger Politik für Sowjetrussland eintreten. Hier kann
man fragen, wie sie für Sowjetrussland eintreten können, wenn sie keine Kommunis-
ten sind. Aber wie traten Estland und Georgien im Einvernehmen mit uns auf, obwohl
man dort Kommunisten erschießt? Durch unsere internationale Politik haben wir jetzt
bewiesen, daß wir ein Bündnis aller Länder haben, die unter dem Versailler Vertrag
leben. Das aber sind 70 Prozent der gesamten Erdbevölkerung. Wenn man sich in
Deutschland darauf beschränkte, zu zittern und zu warten, so gestaltete sich die Lage
in England anders. In England stellte uns Curzon ein Ultimatum: Entweder ihr zieht
euch zurück, oder wir führen Krieg. Sie haben sich daran gewöhnt zu glauben, daß
sie, nachdem sie den Versailler Frieden unterzeichnet haben, über die ganze Welt ver-
95 In der Rede, die in Moskau, nicht in Petrograd gehalten wurde, hatte Lenin ausgeführt: „Auf dieser
Grundlage entwickelte sich eine noch nie dagewesene Herrschaft einer verschwindenden Zahl von
Großbanken, Finanzkönigen, Finanzmagnaten, die sogar die freiesten Republiken faktisch in Finanz-
monarchien verwandelt haben. [...] Vor etwa 40 Jahren zählte man nicht viel mehr als eine viertel
Milliarde Kolonialbevölkerung Kolonialbevölkerung, die sechs kapitalistischen Mächten unterworfen
war. Vor dem Kriege von 1914 zählte man in den Kolonien bereits ungefähr 600 Millionen Menschen,
und nimmt man solche Länder wie Persien, die Türkei und China hinzu, die sich schon damals in der
Lage von Halbkolonien befanden, so erhalten wir die runde Zahl von einer Milliarde Menschen, die
durch ihre koloniale Abhängigkeit von den reichsten, zivilisiertesten und freiesten Ländern geknech-
tet wurden. [...] Das ist in den Grundzügen das Bild der Welt, wie es sich nach dem imperialistischen
Krieg gestaltet hat. Einundeinviertel Milliarde Unterdrückter in den Kolonien [...] Nicht mehr als eine
viertel Milliarde Menschen in den Ländern, die ihre alte Stellung behalten haben. [...] Und schließ-
lich nicht mehr als eine viertel Milliarde Einwohner in den Ländern, die – selbstverständlich nur
die Oberschicht, nur die Kapitalisten – von der Aufteilung der Erde profitieren. Zusammengerechnet
ergibt das etwa 1¾ Milliarde und somit die Gesamtbevölkerung des Erdballs.“ (Lenin: Referat über die
internationale Lage und die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale, 19.7.1920. In: Lenin,
Werke, XXXI, S. 203–222, hier S. 204, 206).
Dok. 32: Moskau, 22.9.1920 133
fügen können. Als wir darauf antworteten, daß wir den „Völkerbund“ nicht anerken-
nen, schrieben französische Zeitungen: „eine freche Antwort“, ein Ausdruck aus der
Terminologie der Schulstube, wo der Lehrer zu uns Kindern sagt, daß wir uns frech
benehmen. Aber in der Weltpolitik darf man solche Termini nicht benutzen. Tatsache
ist, daß sich der „Völkerbund“ als solcher nicht bewährt hat. [...]
Jetzt aber muß ich zur wichtigsten und traurigen [Schlußfolgerung] übergehen,
die sich jetzt aus diesem Fazit ergeben hat. Man hat uns an der Front so zurückge-
worfen, daß wir so weit zurückgeflogen sind, daß die Kämpfe bei Grodno stattfinden,
und die Polen nähern sich der Linie, bei der Pilsudski96 früher prahlte, daß er nach
Moskau komme und was nur Prahlerei geblieben ist. [...] Aber trotzdem haben wir
eine gewaltige Niederlage erlitten, eine riesige Armee von 100 000 Mann ist entwe-
der in Gefangenschaft oder in Deutschland. Mit einem Wort – eine riesige, unerhörte
Niederlage.
Was aber bedeutet das? Das bedeutet, daß zweifellos ein Fehler gemacht worden
ist. Wir hatten doch den Sieg in den Händen, und wir haben ihn vergeben. Das heißt,
es gab einen Fehler. Jedem stellte sich diese Frage, und wir im ZK haben die Antwort
zu finden versucht: Worin bestand der Fehler? Wo liegt er und muß man ihn finden?
[...] Möglich ist ein politischer Fehler, möglich ist auch ein strategischer. Ich
erhebe nicht im geringsten den Anspruch, die Kriegswissenschaft zu kennen, [für]
vieles bitte ich die Genossen im voraus um Entschuldigung, die diese Wissenschaft
theoretisch und praktisch beherrschen. Ich werde die Sache von dem Standpunkt aus
analysieren, wo ein möglicher politischer oder strategischer Fehler zu suchen ist.
Ich sage jetzt, daß das ZK diese Frage beraten und sie offengelassen hat. Um
diese Frage untersuchen zu lassen, um sie auf gebührende Weise zu lösen, müßten
wir dafür viele Kräfte einsetzen, die wir nicht haben, weil die Zukunft uns voll und
ganz fesselt. Und wir haben entschieden: Mögen die Historiker [die Rätsel] der Ver-
gangenheit lösen, möge man diese Frage später klären. Zu diesem Schluß sind wir
gekommen. [...]
Wir benennen große Zugeständnisse in kurzer Frist, um die Frage des Winterfeld-
zugs zu entscheiden. Einen Winterfeldzug wollen wir vermeiden. Daher schlagen wir
den Polen vor, sofort Frieden zu schließen.97 Wir setzen eine Linie östlich von Brest-
Litowsk. Wir gewinnen in militärischer Hinsicht, daß wir einen raschen Sieg über
Vrangeľ sichern.98 Dieser Gewinn genügt.
96 Józef Klemens Piłsudski (1867–1935), polnischer Marschall, ursprüngl. Sozialdemokrat, der Sieger
gegen Tuchačevskij bei Warschau, später zunehmend autoritärer Staatspräsident.
97 Erst am 12.10.1920 ruhten die Waffen, nachdem sich infolge der Schlacht an der Memel (20.9.1920)
die Rote Armee unter Tuchačevskij erneut zurückziehen musste. Im Vertrag von Riga akzeptierte die
Sowjetunion die weitgehenden territorialen Forderungen Polens.
98 Baron Petr Nikolaevič Vrangel’ (1878–1928), Russischer Erbadeliger und General der Zaren-Armee;
schloss sich 1918 während des Bürgerkriegs der Weißen Armee im Süden Russlands an, seit Frühjahr
1919 Befehlshaber der Kaukasus-Armee.
134 1918–1923
Wir müssen hinsichtlich der westeuropäischen Politik vom ersten Versuch einer
aktiven Politik zu den Folgen zurückkehren. Die Folgen sind nicht so schrecklich. Die
militärischen Folgen bedeuten keine Folgen [für] die Kommunistische Internationale.
Im Kriegslärm hat die Komintern ihre Waffe geschmiedet und sie so geschärft, daß
die Herren Imperialisten sie nicht zerbrechen werden. Die Entwicklung aller Parteien
verläuft einstweilen nach unserem Wunsche, so wie es die Komintern vorgeschrieben
hat. Ohne jede Übertreibung kann man sagen, daß wir in dieser Hinsicht beruhigt
sein können. Es geht jetzt um das Entwicklungstempo, die Entwicklungsbedingun-
gen. Wir waren nicht in der Lage, den entscheidenden militärischen Sieg zu erringen,
der den Versailler Frieden zerschlagen hätte. Wir hätten den zerrissenen Versailler
Vertrag des triumphierenden Weltimperialismus vor uns gehabt, aber wir waren
nicht imstande, dies zu tun. Unsere grundlegende Politik ist die gleiche geblieben.
Wir nutzen jede Möglichkeit, von der Verteidigung zum Angriff überzugehen. Wir
haben den Versailler Vertrag bereits etwas eingerissen und werden ihn bei der ersten
passenden Gelegenheit völlig zerreißen. Jetzt aber muß man zur Vermeidung eines
Winterfeldzugs auf Zugeständnisse eingehen. [...]
Wir sind bestrebt, Russland zu helfen, die kommunistische Ordnung zu verwirk-
lichen, aber oft können wir mit den russischen Kräften nicht auskommen. Wir sagen,
daß die Revolution nur durch die Anstrengungen der fortgeschrittenen Arbeiter der
fortgeschrittenen Länder zustande kommen kann. In dieser Hinsicht gab es niemals
den geringsten Zweifel bei keinem einzigen bewußten Kommunisten. Diese Über-
gangsperiode, da die eine schwache Seite sich gegen alle übrigen Seiten hält, diese
Periode wird eine Periode komplizierter verworrener Beziehungen sein. Wir können
beruhigt sein, daß wir uns nicht verheddern werden, verheddern werden sich die
anderen, denn wir haben unsere internationale Politik gegenüber den kleinen Staaten
bereits bewiesen. Dann werden wir natürlich als durch den imperialistischen Krieg
zerrüttete sozialistische Republik existieren, die unglaubliche Reichtümer besitzt, die
wir in 10–15 Jahren nicht ausbeuten können. Dazu das ausländische Kapital heranzie-
hen, nur dafür mit unseren Reichtümern bezahlen, daß wir sie [mit eigenen Kräften]
nicht einholen können, das bedeutet heute, die Grundlage friedlicher Beziehungen
sichern. [...] Angreifen könnt ihr uns nicht, denn jeder Versuch eines Angriffs bedeu-
tet ein „Aktionskomitee“ in einem beliebigen Land. Die Komintern hat Dutzende Ver-
bindungen und Agenten in jedem Land. Nach Moskau kommen Vertreter verschiede-
ner Länder. Wir stehen unabhängig von allen übrigen Entwicklungsbedingungen...
[...]
Bei der internationalen Lage müssen wir uns auf eine Verteidigungsposition
gegenüber der Entente beschränken, aber trotz des vollständigen Mißerfolgs des
ersten Falles, unserer ersten Niederlage, werden wir wieder und wieder von der Ver-
teidigungspolitik zur Angriffspolitik übergehen, bis wir sie alle endgültig zerschlagen
haben werden.
Dok. 33: [Berlin], 26.9.1920 135
Dok. 33
Die Parteibuchhandlung der KPD als „russische Filiale“: Bericht
des Genossen Thomas (Ps.), d.i. Jakov Rejch, über die Folgen der
Finanzpolitik der Komintern
[Berlin], 26.9.1920
Nr. 5
An das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale
Zu Händen des Genossen G. Sinowjew.
(es wäre erwünscht, die Copie dieses Schreibens den Gen. Radek, Abramowitsch [d.i.
Aleksandr Emelʼjanovič Abramovič], Mayer [d.i. Ernst Meyer?] und Zetkin zuzustellen).
In der ordentlichen Sitzung der Zentrale der KPD am 23. ds. Mts. fand eine ausführ-
liche Debatte über die Exekutive, wie auch über meine Tätigkeit und meine Bezie-
hungen zu[r] R[eichs]Z[entrale statt], bei Gelegenheit der Instruktionserteilung dem
Genossen Hugo [Eberlein], der im Auftrage der Zentrale demnächst zu Euch kommt,
um verschiedene Punkte aufzuklären und auch die finanzielle Angelegenheit zu
ordnen. Die Debatte, an der [sich] fast alle Mitglieder der Zentrale beteiligten (Paul
L[evi] war abwesend) ergab ungefähr folgendes (ich habe den Auszug aus dem Proto-
koll, eventuell offiziellen Bericht für die Exekutive verlangt):
Seit längerer Zeit besteht eine Unzufriedenheit mit mir. Wahrscheinlich bin ich
schuld daran, daß die Exekutive sichtlich in finanziellen Dingen zurückhaltend sich der
deutschen Zentrale gegenüber stellt. Mein, in dieser Sache wahrscheinlich ausschlag-
gebender Bericht wurde zufällig von Gen. Paul [d.i. Paul Levi?] in Moskau gelesen. In
diesem Berichte sollte ich angeblich über die verlotterte Führung der Finanzen der Zen-
trale berichten und warnen, der Partei Geld zu geben (als in einer der Sitzungen der
Zentrale mein Bericht zitiert wurde und ich daraufhin erklärte, dass, sollte ich nicht in
der Lage sein, die Copie des Berichtes zu verschaffen, ich von Moskau die Zustellung
des Originals verlangen werde, wurde von einem Mitglied der Zentrale bemerkt, ohne
das jemand Anstoß daran nahm, „Die Russen werden ihn schon nicht finden“ – ich
zitiere dies als charakteristischen Beitrag zu der Stimmung der Zentrale). Die Zentrale
kann sich nicht der Meinung verschließen, dass ihr gegenüber „bestimmte Sabotage“
getrieben wird, sie kann nicht umhin zu erwähnen, dass der Grund vermutlich in der
„Animosität gegen einzelne Personen“ liegt. Sie muss erwähnen, dass, wie ihr bekannt
136 1918–1923
sei, die anderen Parteien, z.B. die Linke,99 resp. Däumig, wie auch die KAPD über Geld
verfügen, dass hier offenbar die Anweisung liegt, absichtlich die KPD in dieser schwe-
ren Situation (finanzielle Schwierigkeiten) zu halten.
Es liegt offenbar die Absicht vor, die Linke USP und die KAPD aktiver zu machen.
Nicht technische Schwierigkeiten waren und sind die Ursachen der misslichen finanzi-
ellen Zustände, sondern die Absicht, oder die Sabotage meinerseits. Es muss Klarheit
geschaffen werden, auch bezüglich der politischen Gegensätze. Es muß auch die prin-
zipielle Frage gelöst werden, in der Sache der Rolle der Zentrale bei der Herausgabe
der Literatur in der deutschen Sprache von der Exekutive, resp. des Vertrauensmannes
der Exekutive.100 Es besteht heute ein Gegensatz zu dem Beschluss des Kongresses, der
besagt, dass die Arbeit der Vertrauensperson in engster Füllung [Tuchfühlung] mit der
Parteileitung des betreffenden Landes, stattfinden müsse. Die engste Mitarbeit existiert
nicht. Es besteht auch nicht das notwendige absolute Vertrauen. Sollten die berührten
Punkte nicht aufgeklärt werden, so muss man von der Exekutive andere Personen verlan-
gen. Es ist so geworden, dass die Parteibuchhandlung zu einer russischen Filiale wurde
und James [d.i. Jakov Rejch] zum Verlagsdirektor der russischen Publikationen. Es werden
überflüssig veraltete Sachen herausgegeben, z. B. alte Nummern der Komm[unistischen]
Internationale, zu gleicher Zeit, wo die Partei nichts publiziert.101 [...]
Die seitens einzelner Mitglieder der Zentrale ausgesprochene Meinung, dass eine
besondere Absicht in der Publikation der „gehässigen“ Kapp-Putsch Polemik vorliegt,
habe ich abgewiesen und der Zentrale erklärt, das in Anbetracht dessen, dass meine
Erklärungen zu den einzelnen Anschuldigungen, die Genossen nicht befriedigen, ja
sogar als Sabotage des Versuchs der Aufklärung gedeutet werden, dass weiter die ganze
Debatte, wie auch der Fall mit Nr. 12102 als sichtliches Misstrauen mir gegenüber aufge-
fasst werden muss, ich mich gezwungen sehe, meine Arbeit einzustellen, der Exekutive
meine Dimission einzureichen, mit dem Ersuchen, die seitens der Zentrale erhobenen
Anschuldigungen einer Untersuchung zu unterziehen. Gen. Gural[skij] hat mir beige-
stimmt und seinerseits die Erklärung abgelegt, dass auch er seine Dimission einreicht. [...]
103 Michel Borodin (Ps.), d.i. Michail Markovič Gruzenberg (1884–1951), ehemaliges Mitglied des Jü-
dischen Arbeiter-Bunds, war unter den Pseudonymen Alexandrescu, Brantwin, G. Brown, Ginzberg
in fast allen Erdteilen für die Komintern tätig, von Mexico bis China, von Spanien bis Deutschland
104 Zum Haushalt und den russischen Zuschüssen siehe auch Dok. 25.
138 1918–1923
behandelt werden, daran sind die Genossen der betreffenden Länder schuld. Die Zen-
trale oder die einzelnen Genossen der Zentrale, die dies bemängeln, wären anzufra-
gen, was sie für die Orientierung über die Deutsche Revolution, was sie zur Klärung
der Probleme der Kommunistischen Internationale getan haben. Sie wären anzufra-
gen, wieviel und wie oft sie über die deutsche Bewegung an die Exekutive berichtet
haben, wieviele Beiträge sie für die „Kommunistische Internationale“ lieferten. [...]
Wenn, ohne dass der Vorsitzende oder jemand von den Mitgliedern der Zentrale
es abweist, in der Sitzung der Zentrale die Behauptung aufgestellt wird, dass wir hier
über die deutsche Zentrale eine Art von Ausserordentlicher Kommission bilden und
dass die deutsche Zentrale ihre ähnlichen Massregeln treffen wird, wenn seitens der
führenden Genossen für die rein technischen Missstände besondere politische ver-
steckte Absicht unterschoben wird, wenn unzweideutig, in der Arbeit das persönliche
Misstrauen entgegengebracht wird, so ist es klar, dass der Zustand für beide Teile
unhaltbar ist. – Konkret schlage ich vor, nach dem restlichen Aufklären aller Punkte,
mein Mandat für Deutschland zu annulieren.105
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 11.10.1920, der Evakuierung deutscher Kriegs-
gefangener aus Turkestan, die vom dortigen Zentralexekutivkomitee beschlossen worden war, ent-
gegenzuwirken. Am 5.11.1920 wurde beschlossen, den entsprechenden Beschluss rückgängig zu
machen.106
Am 14.10.1920 bezeichnete es Bucharin im Politbüro als Notwendigkeit, den Status der deutschen
Truppen an der Westfront formell festzulegen, wofür eine Kommission einberufen wurde.107
Am 5.11.1920 fasste das Politbüro einen Beschluss über den Standort der neu einzurichtenden deut-
schen Kommandeurskurse „(„Kommando-Lehrgänge“) in der Sowjetunion, die wegen der Überlas-
tung Moskaus außerhalb der Stadt eröffnet werden sollten.108
Am 24.11.1920 beschäftigte es sich mit dem Antrag auf Mitgliedschaft in der Komintern, den die KAPD
an das EKKI gestellt hatte. Hierzu sollte eine große Diskussionsrunde unter Teilnahme von ZK- und
EKKI-Mitgliedern und Trotzki in Anwesenheit von „Gen. Gortens“ [d.i. Hermann Gorter] einzuberufen.
In die Komintern sollte die KAPD laut Beschluss allerdings vorerst nicht aufgenommen werden, die
Entscheidung darüber wurde bis zum VI. KPD-Parteitag im Dezember aufgeschoben.109
Auf Bitten der Komintern um einen Zuschuss von 5 Millionen Rubel in Gold wurden ihr qua Beschluss
des Organisationsbüro der RKP(b) vom 16.12.1920 Wertsachen im Wert von 15 Millionen Papierrubel
zugeteilt.110
105 Die Demission Rejchs wurde von der Komintern-Führung in Moskau nicht akzeptiert (Wehner/
Vatlin, „Genosse Thomas“, S. 8).
106 RGASPI, Moskau, 17/3/114, 2; 17/3/120, 3.
107 RGASPI, Moskau, 17/3/115, 1.
108 RGASPI, Moskau, 17/3/120, 3; APRF, 3/64/644, 9. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin, I, S. 29.
109 RGASPI, Moskau, 17/3/124, 3. Publ. in: Politbjuro i Komintern, S. 69.
110 RGASPI, Moskau, 17/112/103, 4. Publ. in: Politbjuro i Komintern, S. 71.
1921
Am 14.2.1921 behandelte das Politbüro des ZK der KP Russlands die Einrichtung eines „Büros für
ausländische Wissenschaft und Technik“ mit angeschlossenem Verlag bei der sowjetischen Handels-
vertretung in Deutschland. Die Frage wurde an den Rat der Volkskommissare übergeben.1
Dok. 34
Putschstimmung und Sabotage: Telegramm von „Spanier“ (Ps.),
d.i. Béla Kun, über den Beginn des mitteldeutschen Aufstands
(„Märzaktion“)
Berlin, 26.3.1921
teilkampfartige Aktionen. Beginn schwer mit Hoffnung auf Steigerung und Zusam-
menfassung nach Ostern.2 Zentrale proklamierte Generalstreikparole und folgende
Losungen: Entwaffnung der Konterrevolution, Bewaffnung und sofortige Bildung von
Ortswehren aus Kreisen organisierter Arbeiter, Angestellten und Beamten. Sichert die
Macht in den Betrieben. Organisiert die Produktion durch Betriebsräte und Gewerk-
schaften. Schafft Arbeit für Arbeitslose. Sichert Existenz der Kriegsopfer und Ren-
Dok. 35
„Die Frucht eines zweijährigen Kampfes wird zerstört„“: Paul Levis
Brief an Lenin zur Kritik der „Märzaktion“
[Berlin], 27.3.1921
Typoskript in deutscher Sprache. Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, Nachlass Paul Levi, Mappe
45, Nr. 43. Publ. in: Charlotte Beradt (Hrsg.): Paul Levi: Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie,
Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt-Wien, 1969, S. 37–44. Auch: Einde O’Callaghan für
das Marxists’ Internet Archive. http://www.marxists.org/deutsch/archiv/levi/1921/03/brief.html#n1.
7 Die nach blutigen Kämpfen niedergeschlagene März-Aktion führte zu einer schweren Krise in der
KPD. Vor allem Paul Levi wandte sich mit seiner Kritik dieser Aktion an die Öffentlichkeit und klagte
die „Turkestaner“ der Komintern an, den „größten Bakunisten-Putsch der bisherigen Geschichte“
vom Zaun gebrochen zu haben. Wegen seiner Kritik wurde Levi aus der KPD ausgeschlossen.
8 Es handelt sich um Béla Kun, dessen Telegramme und Briefe aus Deutschland hier veröffentlicht
werden (siehe Dok. 34, 36, 37, 38, 43). Bei Charlotte Beradt irrtümlich Mátyás Rákosi.
9 Die materielle und soziale Situation in Russland befand sich nach den im Osten immer noch andau-
ernden Kämpfen gegen die weißen Truppen auf einem Tiefpunkt.
142 1918–1923
über an der Auffassung fest, daß sofort Aktionen einzusetzen hätten, auch, wie er es
nannte, „Teilaktionen“, und auf seinen Rat und sein Drängen hin berief die Zentrale
die Zentralausschußsitzung vom 17. März ds. Js., in der „die Arbeiterschaft“ aufgefor-
dert wurde, sofort in Aktionen einzutreten für eine Reihe dort aufgetretener Forderun-
gen, an deren Spitze steht: Sturz der Regierung.
Die Ereignisse nahmen nun folgenden Verlauf: Am 17. März fand die Zentralaus-
schußsitzung statt, in der die Anregungen oder Weisungen des von dort gesandten
Genossen zur Richtlinie gemacht wurden. Am 18. März stellte sich die „Rote Fahne“
auf diesen neuen Beschluß um und forderte zum bewaffneten Kampf auf, ohne
zunächst zu sagen, für welche Ziele, und hielt diesen Ton einige Tage fest.10 Dieses
und die Anweisungen des Vertreters der Exekutive waren die einzige politische Vor-
bereitung für das, was nun kam. Wenige Tage danach ergriff Hörsing, der Oberpräsi-
dent der preußischen Provinz Sachsen, gewisse Maßregeln in den mitteldeutschen
Industriebecken, die teilweise wohl allgemein polizeilicher Natur, zum Teil aber
auch wohl gegen die dortige stark kommunistische Arbeiterschaft gerichtet waren.
Ich vermag nun nicht zu ermessen, ob die Streiks, in die die dortige Arbeiterschaft
eintrat, spontan waren oder nicht. Jedenfalls wurden diese spontanen Streiks von der
Partei sofort nicht nur unterstützt, was selbstverständlich ist, sondern zum Ausgangs-
punkt einer Aktion gemacht, die weit über den Rahmen der unmittelbar betroffenen
Arbeiterschaft hinausgriff. Hierbei zeigte sich nun, daß die Beurteilung der Situation,
wie Genossin Clara, ich und auch viele andere Genossen sie vertreten, die richtige
war: Die Situation in Deutschland ist nach meiner Auffassung folgende: Genau so,
wie die ganzen Beziehungen Deutschlands zu der Entente, der ganze „Nachkrieg“
in eine gewisse Stagnation getreten war, genau so waren auch die Beziehungen der
Klassen in Deutschland in eine gewisse Stagnation getreten, insofern als die beste-
henden Gegensätze augenblicklich nicht im offenen Kampf ausgetragen wurden. [...]
Und wir vertraten die Auffassung, daß gerade aus jenen Konflikten des Nachkrieges
heraus die Situation in allernächster Zeit entstehen würde, die die Klassengegensätze
in Deutschland aus der Stagnation wieder in die Flagranz führen würden. Aus diesem
Gedanken heraus war unsere Taktik die, daß wir momentan den Massen das Ziel zu
zeigen hätten, das sie aus der kommenden Nachkriegskrise herausführen könne, und
von diesem Gesichtspunkt gaben wir die Parole aus: „Bündnis mit Sowjetrußland“.
[...]
Mit dieser Aktion ist nicht nur die vielleicht wirklich vorhandene Teilaktion, im
besten Sinn des Wortes, in Mitteldeutschland zuschanden gemacht worden, sondern
es ist auch nach meiner Auffassung die Frucht eines zweijährigen Kampfes und einer
zweijährigen Arbeit der Kommunistischen Partei in Deutschland mit zerstört. Es war
eine zweijährige mühevolle Arbeit, den kommunistischen Gedanken nicht nur orga-
nisatorisch fest zu verankern, in den Massen, durch Schaffung einer zahlenmäßig
so großen kommunistischen Partei, daß sie rein zahlenmäßig neben den anderen
10 Rote Fahne, 18.3.1921 fordert zum bewaffneten Kampf auf: Siehe Dok. 34.
Dok. 35: [Berlin], 27.3.1921 143
großen Arbeiterorganisationen ihre Bedeutung hat, sondern auch – nach vielen Miß-
verständnissen – seelisch den Kommunismus und die kommunistische Partei in den
breiten proletarischen Massen so Wurzel fassen zu lassen, daß diese Massen in den
Kommunisten ihre Führer sahen. [...]
Ich will nicht ins Detail eingehen auf das zahlenmäßige Verhältnis der Kommu-
nisten innerhalb der proletarischen Klasse. Ich will nur betonen, daß, abgesehen von
Mitteldeutschland, in dem die Kommunistische Partei zahlenmäßig die Majorität hat,
nicht nur kein Bezirk in Deutschland ist, in dem die Kommunistische Partei die Majo-
rität hat, sondern vor allem kein Bezirk ist, der so lebenswichtig für den Staat ist,
daß dort durch eine Aktion der Kommunistischen Partei allein der bürgerliche Staat
beeinträchtigt, geschweige denn gestürzt werden könnte. So sind wir auf die Mitwir-
kung und auf das Zusammenarbeiten mit der proletarischen Klasse als solcher ange-
wiesen, können uns nur als Vortrupp betrachten, wenn die proletarische Klasse als
solche in Aktion kommt und müssen auch stimmungsmäßig in einem leidlichen Ver-
hältnis mit jenen Massen bleiben, wenn wir uns nicht auf lange Zeit die Möglichkeit
verschütten wollen, in jenen Massen immer weitergreifenden Einfluß zu gewinnen.
[...] Noch zwei oder drei solcher Aktionen wie die jetzige, Aktionen, die das Pro-
letariat als gegen sich gerichtet empfindet und die auch von der Kommunistischen
Partei unternommen werden, selbst auf die Gefahr hin, daß sie gegen das Proletariat
und die proletarische Klasse gerichtet seien: dann wird die Kommunistische Partei
zerbrochen am Boden liegen, und man wird unter viel schwereren Umständen begin-
nen müssen, das aufzubauen, was jetzt noch steht.
Von dem Schaden, der uns für den Augenblick zugefügt worden ist, will ich nur
eines noch erwähnen. Nicht nur haben wir die günstige Situation verscherzt, daß
wir für die kommende außenpolitische Krise und für die daraus folgenden Ausein-
andersetzungen der Bourgeoisie nach innen und außen (Besetzung weiterer Gebiete
durch die Entente,11 steigende Arbeitslosigkeit, Schließung der Betriebe, Stocken der
Ausfuhr, neue Steuern, Abbau der Löhne etc. etc.) in einem außerordentlich gespann-
ten Verhältnis zum Proletariat stehen und nicht mehr das Vertrauen der proletari-
schen Klasse genießen: darüber hinaus haben wir der Bourgeoisie geradezu das gelie-
fert, was sie brauchte, um ihre schwierige Lage sich zu erleichtern. [...]
Indem ich so die Lage der Kommunistischen Partei für nicht nur schwierig,
sondern unter Umständen für verhängnisvoll halte, und indem ich eine Lebensgefahr
für die Partei sehe, wende ich mich an Sie persönlich, von dem ich nicht weiß, inwie-
weit Sie mit Einzelheiten der Politik der Kommunistischen Internationale vertraut
sind, mit der Bitte, Ihrerseits die Situation zu überlegen und eventuell entsprechend
zu handeln. Ich persönlich denke nicht daran, mich dieser Politik der Kommunisti-
schen Internationale in Deutschland entgegenzustellen. [...]
11 Bereits seit 1918 hatten entsprechend den Bestimmungen des Versailler Vertrags französische und
belgische Truppen große Teile des Rheinlands links und rechts des Rheins und der Eifelregion be-
setzt.
144 1918–1923
Ich werde auch jetzt nicht weiter gehen als etwa eine Broschüre zu schreiben,12
in der ich meine Auffassung darlege, aber weder bei den in Betracht kommenden
Instanzen in Deutschland noch der Exekutive Vorstellungen erheben. Die Genossen,
die die Verantwortung tragen, sollen sich durch mich nicht gehemmt fühlen. Aber ich
möchte in diesen Tagen und Wochen, die für die deutsche Partei entscheidend sein
werden, auch nichts unterlassen haben, und das ist der Grund, weswegen ich mich
an Sie wende und Sie bitte, ev. falls Sie meinen Erwägungen zustimmen, auch nur
teilweise, das Ihnen geeignet Erscheinende zu unternehmen.13
Dok. 36
Das Osterfest benachteiligt den Aufstand: Aus der Fortsetzung
des Berichts von Béla Kun
Berlin, 28.[3.]1921
Berlin am 28.3.1921
Lieber Genosse!
Ich weiss, wie stark Sie in Anspruch genommen sind, so setze ich meinen letzten Brief
nur in Schlagworten fort.
Die Aktion geht weiter vor sich. Sie ist schwer von Statten gegangen, die Ostern-
feiertage haben ihre Entwicklung benachteiligt, wir hoffen aber, dass sie sich bis Don-
nerstag entwickeln wird. Beiliegend eine flüchtig entworfene Meldung, die sie auf
dem Plane verfolgen können. Die K.A.P. arbeitet mit uns zusammen, sie macht aber
viele Dummheiten; ich habe beigefügten Brief an Goldstein gerichtet.14 [...]
Die internationale Beratung hat gar keine Bedeutung. Ich habe zwar die Vor-
schläge vorbereitet, war aber auf der Conferenz selbst nicht anwesend. Von der Con-
ferenz und von ihren Beschlüssen referiert Stöcker, Brandler sendet Ihnen Bericht über
den Stand der Aktion.
12 Siehe die aufsehenerregende Broschüre: Paul Levi: Unser Weg. Wider den Putschismus, Berlin,
A. Seehof, 1921; eine 2. Aufl. erschien im gleichen Jahr mit einem neuem Vorwort und dem Text „Die
Lehren eines Putschversuchs“ von Karl Radek als Anhang.
13 Lenin antwortete Clara Zetkin und Paul Levi in einem bemerkenswert verständnisvollen Brief am
16.4.1921. (siehe: Dok XXX).
14 Der Brief ist nicht gleichzeitig überliefert. Arthur Goldstein gehörte als Rätekommunist der „Ess-
ener Richtung“ der KAPD an, während Max Hoelz und Karl Plättner als „Sozialrebellen“ bewaffnete
kommunistische Gruppen anführten.
Dok. 37: [Berlin], 29.3.1921 145
Ich sende Ihnen Lewys [d.i. Paul Levi] Erklärung ein.15 Der ganze rechte Flügel
hat sich zurückgezogen und sabotiert und harrt auf die erste Gelegenheit um uns
zu überrumpeln. Wenn eine Niederlage sich zeigt, werden wir den Angriff gegen sie
beginnen, wenn der Sieg käme, dann wären sie ja tot.
Dok. 37
„Tritt die Orgesch in den Kampf, so gehen sie sofort mit uns“: Die
Märzaktion und die „Levi-Gruppe“ aus der Sicht Béla Kuns
[Berlin], 29.3.1921
Die Erklärung schicke ich noch heute telegraphisch an Sie. Vorläufig ist sie noch nicht
erschienen. Ich habe den August [Thalheimer] gebeten, dass [er] die Erklärung mit
folgender kurzer Anmerkung publizieren soll:
„Der Umstand, dass Levi in der Zeit der Aktion der V.K.P.D. seine Erklärung durch
die Rosta in Wien16 publiziert, enthebt uns von der Pflicht, uns jetzt mit dieser Angele-
genheit zu beschäftigen, als die deutsche Arbeiterschaft hier in Deutschland im Feuer
steht.“
Ich betone noch einmal, dass gegen Levi der Kampf nur auf deutschem Boden
ausgekämpft werden kann. Schicken Sie aber auf die Erklärung sofort telegraphisch
eine Antwort.
Beiliegend ein Situationsbericht nur über die örtlichen Kampfhandlungen und
Streikbewegungen. Der Kampf war auch wegen der inneren Verhältnisse der Partei
nötig. Die Ereignisse zeigen die Richtigkeit unserer Schätzung der Partei. Karl [Radek]
hat vollkommen Recht gehabt in seinem Bericht, und auch Guralski, ausgenommen
die Beurteilung des „Offenen Briefes“.17 Jetzt kann ich dasselbe auch aus organisa-
15 Zur Erklärung Levis gegen die „Märzaktion“ siehe das folgende Dokument.
16 Die Erklärung Levis konnte nicht eruiert werden, schließlich führte jedoch die Veröffentlichung
von Levis Broschüre „Wider den Putschismus“, die am 12.4.1921 erfolgte, zu seinem Parteiausschluss
am 15.4.1921. Siehe: Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde, S. 341f. Die Auseinandersetzungen
sind im Bestand RY 1/I 2/3/61 des Bundesarchivs breit dokumentiert.
17 Offener Brief an den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (...), Die Rote Fahne, 8.1.1921;
abgedruckt in: Hermann Weber: Der deutsche Kommunismus, S. 168–170. Der ebenfalls an die SPD,
die USPD und die KAPD gerichtete „Offene Brief“ der Zentrale der KPD war eine erste Manifestation
der Einheitsfrontpolitik, er forderte im Rahmen eines Minimalprogramms den gemeinsamen Kampf
gegen die Auswirkungen des Kapitalismus, für die Erhöhung von Löhnen, Renten und Arbeitslosen-
bezüge, die Entwaffnung und Auflösung aller bürgerlichen Selbstschutzorganisationen, die Bildung
proletarischer Selbstschutzorganisationen sowie die „sofortige Aufnahme der Handels- und diplo-
146 1918–1923
matischen Beziehungen zu Sowjetrußland“. Am 21.2.1921 verwarf das kleine Büro der Exekutive der
Komintern die gerade erstmals zaghaft erprobte Einheitsfrontpolitik erneut als opportunistisch und
instruierte die nach Deutschland zu entsendenden Emissäre, eine offensivere Linie durchzusetzen
(siehe: Arnold Reisberg: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik. Der Kampf der KPD um die Aktions
einheit in Deutschland 1921–1922. Ein Beitrag zur Erforschung der Hilfe W. I. Lenins und der Komint-
ern für die KPD, 2 Bde., Berlin, Das Europäische Buch, 1971, S. 54ff.; Broué: Révolution en Allemagne,
S. 580ff.; Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde, S. 93ff)
18 „Mehrheitlicher“: Gemeint sind die Mehrheitssozialdemokraten.
Dok. 37: [Berlin], 29.3.1921 147
Wir können den Kampf nicht bis ins Aeusserste treiben, aber wenn uns nur eine
Steigerungsmöglichkeit vorhanden bleibt, und die bevorstehende Bergarbeiterbewe-
gung gibt dazu die Hoffnungen, so müssen wir die Regierung unbedingt stürzen. Ob
uns das gelingen wird, das weiss ich freilich nicht, aber ich hoffe mit Grund, dass es
gelingen wird.
[...] James [d.i. Jakov Rejch] arbeitet grossartig, er hat aber kein Geld. Kopp sabotiert
alles. Ich kann nicht mit Worten diese Schweinereien qualifizieren.19
Meine feste Ueberzeugung ist, dass ein paar führende Leute und ein Kadre guter
Parteifunktionäre nach dem Westen entsandt werden müssen. Auf dem dritten Kon-
gress wird unsere Richtung ganz sicher eine entscheidende Mehrheit haben, aber es
hilft nicht unserer „Matuschka“.20 Nach Beurteilung der Lage ist diese Hilfe sehr drin-
gend notwendig.
Ich habe die Absicht, vorläufig hier zu bleiben, und in zwei Wochen, wenn es die
Verhältnisse und Ereignisse in Deutschland erlauben, auf eine Woche in die Tsche-
cho-Slowakei zugehen.
Mit den deutschen Genossen lebe ich in bester Freundschaft. Wir arbeiten in
bestem Einvernehmen. Die Form des Zusammenarbeitens ist absolut nicht die Form
des Diktats, sondern der Zustimmung als Notwendigkeit aller gemeinsamen Beratun-
gen und Beschlüsse.
Schreiben Sie mir und beantworten Sie mir meine Telegramme.
Dok. 38
Konflikte zwischen der Komintern und der russischen Vertretung
in Berlin: Bericht Béla Kuns
Berlin, 3.4.1921
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau 495/293/15, 24–25. Erstveröffentlichung.
Werte Genossen!
Ich kann wieder nur flüchtig schreiben, da ich die Nachricht über die Abreise des
Kuriers wieder zu spät erhielt. Zwischen James [d.i. Jakov Rejch] und Kopp ist irgend
ein Konflikt ausgebrochen, in welchem wohl der erstere Recht haben wird. Auf das
von Kopp eingeführte System ist folgendes charakteristisch:
1./ Abramovics („Albrecht“) [d.i. Aleksandr E. Abramovič] steht im Dienste der Missi-
on.21 Damit die Sache nicht auffällt, erhält er die Arbeit von irgendeiner wissenschaft-
lich-technischen Commission und erledigt sie auf seiner Wohnung.
2./ James erhält kaum irgendwelche Litteratur, hingegen ist Spektator22 und sind alle
Menschevikis mit Zeitungen und Litteratur sehr gut versehen.
3./ Die Seehof’sche Buchhandlung23 erhält mehr Litteratur aus Russland, als die Ver-
tretung des K.I.
Ich betone: solange man bei der Mission keine Ordnung schafft, wird man nicht
erfolgreich arbeiten können.
Beiliegend eine Meldung von der deutschen Bewegung in 3 Exemplaren mit ver-
schiedenen Beilagen, die eine ist für Sie bestimmt, die zweite für Grigori [Sinowjew],
die dritte für Karl [Radek]. [...]24
21 Gemeint ist die sowjetrussische Botschaft in Berlin. Aleksandr Emel’janovič Abramovič (geb. 1888,
Ps. Zalewsky, Albrecht, Dr. Lewitzki, Grigorieff, Mariewitch, Alexandre) war einer der ersten Instruk-
teure der Komintern in Westeuropa und Leiter des Westeuropäischen Sekretariats der Komintern.
22 Spectator (Ps.), d.i. H.I. Nachimson.
23 Arthur Seehof, Journalist und Schriftsteller, leitete einen Verlag und die Buchhandlung „Der Kom-
munist“ in Berlin, später schrieb er u.a. in Die Weltbühne und Die Sozialistische Warte.
24 Die Anlagen sind in der Archivmappe nicht enthalten. Ein von Botschafter Kopp an Čičerin am Kabel
weitergeleiteter Kurzbericht von Béla Kun vom 29.3.1921 (Weiterleitung am 5.4.1921) über die Ereignisse
in Deutschland lautete folgendermaßen: „Aus Berlin, 5/4/21. Nr. 1127/3. Tschitscherin, Moskau, Sinow-
iew. Kopie an Radek und [Do?]lecki. Bewegung entwickelt sich. Vorlaeufig .........(kuehle beu[r]teilung).
Aktion geht nicht aufs ganze, aber ernste Kraftprobe [Unabhaen]gige ....[Fu]ehrer vollkommen in die
Konterrevolution gedraengt. Orgesch nicht vorlaeufig in Aktivitaet getreten. Lage am Donnerstag ueber-
sichtlich. Weitere Meldungen folgen. Spanier. 29. Maerz 1921.“ (RGASPI, Moskau 495/293/19, 16).
Dok. 40: [Moskau], 16.4.1921 149
Am 16.4.1921 erfolgte ein Beschluss des sowjetischen Politbüros über „den Vorschlag des Gen.
Kopp“. Das Politbüro legte den Text einer Instruktion an Kopp fest, wonach er in Einvernehmen mit
Stomonjakov handeln und keine Entscheidung ohne Absprache mit Moskau treffen solle. Offenbar
ging es um die Schaffung der Russisch-Deutschen Transportgesellschaft am 13.5.1921.25
Dok. 40
Gegen die „dumme Taktik“ des Vertreters der Komintern und den
Austritt Levis aus der Zentrale: Brief Lenins an Clara Zetkin und
Paul Levi
[Moskau], 16.4.1921
Typoskript, deutsch. „Abschrift von Abschrift“, Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung, Nachlaß Paul
Levi, II, Korrespondenz allgemeine, Mappe Nr. 43. Abschrift. Publ. u.a. in: Anita Ament Jones:
Paul Levi and the Comintern. A Postscript. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Jg. XI (1975), 4, S. 443. Mit unterschiedlicher Anrede
und leichten Varianten publ. in: Lenin: Briefe, VII, S. 150–151.26 Erstmals publiziert in: Probleme des
Friedens und des Sozialismus (1958), Nr. 2, S. 12–13.
Lenin 16.4.21
Liebe Freunde!
Besten Dank für Ihre Briefe. Ich war leider letzte Woche so beschäftigt und übermü-
det, dass ich fast absolut nichts aus der deutschen Presse habe lesen können. Nur den
offenen Brief gesehen und für ganz richtige Taktik gehalten (die gegenteilige Meinung
unserer „Linken“, die gegen diesen Brief waren, habe ich getadelt).28 Was die letzten
Streiks- und Aufstandsbewegungen in Deutschland betrifft, habe absolut nichts
gelesen. Dass ein Vertreter der Exekutive dumme Taktik vertrat, zu „linke“, sofortige
Aktion, „um den Russen zu helfen“, das glaube ich gerne: Dieser Vertreter ist oft zu
links. Sie müssen meines Erachtens in solchen Fällen nicht nachgeben, sondern pro-
testieren und die Frage sofort offiziell vor das Plenum des Exekutivkomitees bringen.
In bezug auf Serrati halte ich Ihre Taktik für einen Fehler. Irgendwelche Vertei-
digung oder sogar Halbverteidigung von Serrati war ein Fehler.29 Aber Austritt aus
25 APRF, Moskau, 03/64/644, 17. Publ. in: Sevost’janov: Moskva-Berlin, I, Dok. 16.
26 „Meine Antwort an Levi und Zetkin 16.4.1921“; „Im Archiv aufzubewahren. Noch 2–3 Abschriften
machen.“, „Zurückgeben.“, „Erhalten am 17.V.1921“ (Lenin: Briefe, Bd. 7, November 1920-Juni 1921, S. 150.
27 In der Lenin-Briefausgabe: „Genossen Zetkin und Levi“.
28 Gemeint sind Sinowjew, Bucharin und natürlich Béla Kun, sowie der Offene Brief der Zentrale der
KPD vom 8.1.1921, siehe Dok. 37.
29 Als KPD-Vertreter auf dem Kongress der Sozialistischen Partei Italiens in Livorno (21.1.1921) hatte
Levi das Konzept Serratis verteidigt, wonach ähnlich wie in der USPD dank einer Mehrheit der SPI die
150 1918–1923
der Zentrale!!?? Das jedenfalls der größte Fehler! Wenn wir solche Gepflogenheiten
dulden werden, dass verantwortliche Mitglieder der Zentrale austreten, wenn sie in
der Minderheit geblieben sind, dann wird die Entwicklung und Gesundung der Kom-
munistischen Parteien niemals glatt gehen. Statt auszutreten – die strittige Fragen
mehrere Male besser mit der Exekutive ventilieren. Jetzt will Gen. Levi eine Broschüre
schreiben – d.h. Vertiefen den Gegensatz! Wozu das alles?? Das ist nach meiner Über-
zeugung ein grosser Fehler.30
Warum nicht abwarten? Am 1. VI Kongress hier.31 Warum nicht eine private
Besprechung hier vor dem Kongress? Ohne öffentliche Polemik, ohne Austritte,
ohne Broschüren über die Differenzen. Wir haben so wenig erprobte Kräfte, dass ich
wirklich empört bin, dass Genossen Austritt erklären usw. Alles Mögliche und etwas
Unmögliches dazu tun – aber, es koste, was es wolle, Austritt vermeiden und Gegen-
sätze nicht verschärfen.
Unsere Lage war im Februar und März schwierig. Bauernland. Bauernwirtschaft
– enorme Mehrheit der Bevölkerung. Schwankt. Ruiniert, unzufrieden. Aber zu pessi-
mistisch dürfen wir nicht sein. Wir haben rechtzeitig Konzessionen gemacht. Und ich
bin sicher, dass wir siegen werden.
Kommunistische Partei als Massenpartei gegründet werden sollte. Vor allem auf Druck Radeks wurde
diese ursprünglich auch von der Komintern vertretene Linie geändert im Sinne der auf dem Parteitag
unter Druck der EKKI-Delegation vollzogenen Spaltung. Die Gründung der KP Italiens erfolgte somit
gegen die „Maximalisten“ in der SPI, maßgeblich durch die Linke um Bombacci und Bordiga.
30 Am 12.4.1921 hatte Paul Levi seine Broschüre „Unser Weg“ veröffentlicht, am 15.4.1921 wurde er aus
der Partei ausgeschlossen.
31 Die Rede ist vom III. Weltkongress der Komintern in Moskau, der jedoch verschoben wurde und
erst Ende Juni begann (22.6.–12.7.1921).
Dok. 41: Berlin, 18.4.1921 151
Dok. 41
Kabeltelegramm des „Turkestaners“ der Komintern aus Berlin zur
Denunziation Paul Levis als Verleumder und Verräter
Berlin, 18.4.1921
Tschitscherin, Moskau.
Fors. Nr. 243. Er hat nicht mitgekaempft, sondern waehrend des Kampfes eine Bro-
schüre geschrieben gegen den Kampf. Er verleumdete die Kaempfer und fiel ihnen
sofort nach Abbruch des Kampfes in den Rücken. Paul Levi hat damit nicht nur gegen
die revolutionaere Disziplin verstossen, er hat noch nicht einmal die politische Verant-
wortung eines einfachen Soldaten der Revolution geschweige denn die eines Führers
bewiesen weshalb auf seinen Ausschluss aus der Partei erkannt werden müsste. Mit
diesem Ausschluss Paul Levi wird nicht das Recht der Parteikritik unterbunden. Spal-
tung oder bedeutende Absplitterung ausgeschlossen.32 Bestaetigt endlich Empfang
meiner Telegramme. Koennen sofort kommen. Spanier [d.i. Béla Kun].
Am 28.4.1921 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands eine Reihe von Versorgungsmaßnah-
men und personellen Umstrukturierungen, um den III. Weltkongress der Komintern (22.6.–12.7.1921)
trotz des Bürgerkriegs und der desolaten wirtschaftlichen Lage in Russland stattfinden zu lassen.33
Auch am 31.5. und 6.6.1921 ging es im Politbüro um den Kongress.34
32 Andere wichtige KPD-Führer wie Ernst Däumig, Otto Brass, Kurt Geyer und Adolph Hoffmann,
erklärten sich mit Levi solidarisch und verließen die Partei. Gegen die in der KPD nun geltende „Offen-
sivtheorie“ gründete die Gruppe um Paul Levi am 20.11.1921 die Kommunistische Arbeitsgemeinschaft
(KAG), die sich 1922 der USPD anschloss. Nach der Abspaltung der KAPD 1920 war dies der zweite
massive Abgang wichtiger Funktionsträger aus der KPD (siehe hierzu den Text von Hermann Weber
in diesem Band).
33 RGASPI, Moskau, 17/3/156, 3–4. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 73–74.
34 Ibid., S. 77, 79–80.
152 1918–1923
Dok. 42
Thesen des Politbüros des ZK RKP(b) zur Abgrenzung der Tätigkeit
der Komintern und der außenpolitischen Organe der Sowjetunion
Moskau, vor dem 4.5.1921
1. Die Benutzung des Apparats des Kominotdel35 zur Erfüllung von Parteiaufgaben der
Komintern muss unter Beachtung aller Regeln der strengsten Konspiration sowie der
Interessen für eine vollständige Erhaltung des Apparats des Kominotdel geschehen.36
2. Bei der Benutzung von diplomatischen Kurieren ist es notwendig, das mit dem ent-
sprechenden Land vereinbarte Maximalgewicht für unantastbare diplomatische Post
im Auge zu behalten, und sie deswegen ausschließlich zur Übermittelung brieflicher
Mitteilungen und leichtern Päckchen zu nutzen.37
3. Zum Zweck der Kontrolle über die ausländischen Ein- und Ausgänge ist der Abtei-
lung für äußere Verbindung des NKID38 das Recht zu gewähren, alle ein- und ausge-
henden Pakete zu öffnen, mit Ausnahme derer, die an Mitglieder des ZK der RKP(b),
Kollegiumsmitglieder des NKID sowie Volkskommissare persönlich adressiert sind
oder von ihnen ausgehen.
35 „Kominotdel“: Hier und im Weiteren ist vermutlich das Volkskommissariat für auswärtige Ange-
legenheiten gemeint. Nicht zuletzt die hier ausgeführten Schwierigkeiten dürften zur Gründung eines
eigenständigen internationalen Verbindungsapparates der Komintern geführt haben, der Internatio-
nalen Verbindungsabteilung (OMS).
36 Auf der ersten Seite des Dokuments Stempel: „Prot[okoll] P[olit-]B[üro] Nr. 21 P[unkt] 8“, sowie ein
handschriftlicher Vermerk: „4. V. 21“. Das Dokument wurde auf der Politbüro-Sitzung vom 4.5.1921
besprochen (Protokoll Nr. 21, Punkt 8). Dort trägt das Dokument den Titel „Entwurf der Beziehungen
des Narkomindel zu den diplomatischen Kurieren“ (RGASPI, Moskau, 17/3/158, 1–2).
37 Eine Vereinbarung zwischen der RSFSR und Deutschland vom 18.2.1921 beschränkte das Gepäck
der diplomatischen Kuriere auf 15 kg. Dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes war jedoch selbst
diese Beschränkung nicht ausreichend – die Diplomatenpost der RSFSR enthalte „nichts anderes [...]
als Agitationsmaterial für die Weltrevolution, da Rußland nichts anderes für den Export finden wird.“
(siehe: MID SSSR (Hrsg.): Sovetsko-germanskie otnošenija. Ot peregovorov v Brest-Litovske do pod-
pisanija Rapall’skogo dogovora, Moskva, Izd. Pol. Lit., 1971, II, S. 298 u. 305).
38 NKID: Narodnyj kommissariat Inostrannych Del (Volkskommissariat für Auswärtige Angelegen-
heiten).
Dok. 42: Moskau, vor dem 4.5.1921 153
Beglaubigt: S. Cholina
154 1918–1923
Dok. 43
Persönlicher Brief des „Spaniers“ (d.i. Béla Kun) an Lenin über die
gescheiterte Märzaktion in Deutschland
[Wien], 6.5.1921
Ich wollte Sie nicht stören mit meinem Berichte.40 Ich glaube, dass Sie über die deut-
schen Ereignisse durch Karl [Radek],41 wenn auch mittelbar, informiert sind. Erlau-
ben Sie mir jedoch, dass ich mich mit einer scheinbar persönlichen Angelegenheit an
Sie wende.
In dem Kreise der deutschen Parteibürokraten zirkulieren jetzt solche Gerüchte,
als ob Sie gegen die Taktik der deutschen Zentrale und für Levi-Zetkin sich erklärt
hätten.42 Nach diesen Gerüchten sollen Sie weiter eine Erklärung gemacht haben,
dass ich von der deutschen Partei eine Solidarisierungsaktion gefordert hätte. Diese
Gerüchte besagen ferner, dass der Grund dieser Erklärungen ein Brief des Paul Levi
und der Clara Zetkin wäre, laut welchem ich gesagt habe: Sowjet-Russland braucht
Hilfe, also los mit der Aktion. Dank der zwei grössten Hysteriker43 Levi und Zetkin
sind in der deutschen Partei jetzt so viele Lügen verbreitet, dass niemand kontrollie-
ren kann, ob etwas wahres daran ist oder alles unwahr ist. Ich kann mir nicht vor-
stellen, dass Sie, sehr geehrter Genosse, auf Grund der Informationen eines solchen
gemeingefährlichen44 Führers, wie es der Levi ist, solche Erklärungen gegen mich tun
könnten, ohne mich vorher zu fragen. Das Desavouiert-Werden ist auf alle Fälle kein
Vergnügen für mich, aber ich bin ein solcher Revolutionär, dass ich im Interesse der
Revolution auch dieses ertragen kann. Ich bestreite aber, dass mein Desavouiert-Wer-
den in diesem Falle für die Revolution von Vorteil ist. Erstens deshalb, weil ich dem
Levi folgendes gesagt habe: Sowjet-Russland ist in einer sehr grossen Gefahr. Habt
keine Hoffnungen, darauf, dass Russland jahrzehntelang isoliert leben kann. Zwei
Jahr kann Sowjet-Russland vielleicht noch aushalten, ohne tatsächliche Hilfe des
west-europäischen Proletariats. Ihr wisst ganz gut, was für ein Faktor Sowjet-Russ-
land für die Welt-Revolution ist, und ferner, was der Fall dieses Sowjet-Staates bedeu-
tet. Wenn Ihr daran denkt, dass Sowjet-Russland in zwei Jahren ohne die Hilfe der
Weltrevolution fallen wird, dann müsst Ihr Eure Taktik so einstellen, dass die Front
der Konterrevolution durchbrochen wird. Wartet nicht in einer defensiven Stellung,
bis die Bourgeoisie mit der Restauration des Kapitalismus das Proletariat erwürgen
wird.
Dieses habe ich auch der Clara Zetkin gesagt. Ihr schilderte ich die Zustände in
Russland viel mehr, aufrichtiger als dem Levi, eben weil sie – ich muss gestehen, dass
ich geirrt habe – von mir als viel revolutionärer wie der Levi gehalten wurde. Wenn
diese meine Erklärungen eine Dummheit bedeuten, dann werde ich die Verantwor-
tung vor aller Welt tragen. Es ist aber meine feste Ueberzeugung, dass dies nicht nötig
sein wird. Ich will nicht, dass Sie mir ohne weiteres alles glauben sollen, doch muss
ich Sie bitten, mir ein wenig mehr Glauben zu schenken als dem Herrn Levi und der
Frau Zetkin.45 Wenn Sie der deutschen Parteigeschichte aufmerksam folgen könnten,
dann wüssten Sie, dass Levi im Serrati-Fall wie auch anlässlich der Heidelberger Kon-
ferenz46 seine Schweinereien und Dummheiten mit Radeks Namen decken wollte,
obschon Radek in beiden Fällen gegen die Auffassung Levis Stellung genommen hat.
Dies verhinderte ihn nicht, ganz gemein zu lügen, dass Radek seinen Standpunkt a
postori geändert hatte. [W]as die Behauptung der alten Genossin Zetkin [angeht], so
will ich darauf nur folgendes bemerken: die alte Frau leidet an „Dementia seniles“47
und ist ein lebender Beweis, dass der Lofargne [Lafargue] mit seiner Frau vollständig
richtig gehandelt hat.48 Sie ist vollkommen in den Händen Levis, und meine ganze
Sentimentalität den alten Kämpfern gegenüber kann mich nicht hindern, auch jede
solcher Behauptungen von Zetkin, nach welcher ich eine Solidaritäts-Aktion von der
deutschen Partei forderte, als eine ebenso gemeine Lüge49 zu qualifizieren.
Ich kenne sehr gut die Fehler der deutschen März-Aktion. Ich sage nicht, dass
wir ohne alle Fehler gehandelt haben. Wir haben aber jedenfalls ehrlich revolutio-
när50 gehandelt, und die sich auf Ihre Erklärung gegen mich berufen, Levi und Zetkin,
45 Die Passage „mir ... Zetkin“ ist von Lenin unterstrichen, mit drei Linien am Rand hervorgehoben
und mit der Anmerkung „So!“ versehen.
46 Gemeint ist der 2. Parteitag der KPD im Raum Heidelberg/Mannheim (20.–23.10.1919), der u.a. gegen
die „Linke“, die Leitsätze zur revolutionären Taktik verabschiedete. Die Ultralinke, die u.a. von der Wie-
deraufrichtung des Bonzentums sprach, verließ daraufhin die Partei oder wurde ausgeschlossen.
47 Richtig: „dementia senilis“ (lat.): Altersdemenz.
48 Paul Lafargue und seine Frau Laura, die Tochter von Karl Marx, hatten beschlossen, aus dem Leben
zu scheiden, bevor das Alter ihre Energien paralysieren würde. Sie begingen 1911 gemeinsam Selbstmord.
49 „Gemeine Lüge“ von Lenin mehrfach unterstrichen.
50 „Ehrlich revolutionär“ von Lenin mehrfach unterstrichen.
156 1918–1923
haben die Aktion auf konterrevolutionäre Art sabotiert. Dieser Umstand festigt mich
in der Hoffnung, dass Sie diese Erklärung an Levi und Zetkin nicht getan haben, und
dass diese sämtlichen Erklärungen nur einige von den ganzen Lügen Levis sind.
Ich glaube, schon in der nächsten Zeit die Möglichkeit zu haben, mündlich mit
Ihnen darüber zu sprechen. Es ist schon ganz sicher, dass die März-Aktion politisch
und organisatorisch grosse Erfolge gebracht hat und noch mehr bringen wird.51
Ich bitte Sie aber auch, bis zu meinem mündlichen Bericht diesen Lügen keinen
Glauben zu schenken, und bis zur Fertigstellung des ganzen Materials kein endgilti-
ges Urteil zu fällen.
6. V.1921
Dok. 44
Über die Ankunft Elena Stasovas als russische Komintern-
Emissärin in Deutschland
[Berlin], 10.5.1921
51 Sowohl für den inneren Zusammenhalt als auch die Mitgliederzahlen und den äußeren Einfluss
der KPD waren die Folgen der Märzaktion verheerend. Die Mitgliederzahl ging von ca. 375.000 Mitglie-
dern auf ca. 160.000 im August und ca. 140.000 im November zurück (siehe hierzu: Koch-Baumgarten:
Aufstand der Avantgarde, bes. S. 315–444; vgl. den Text von Hermann Weber im vorliegenden Band).
52 Die Unterschrift von Lenin doppelt unterstrichen und mit einem Fragezeichen versehen.
53 Die langjährige leitende Sekretärin des ZK der RKP(b), Elena D. Stasova, war von ihren Begegnun-
gen mit Béla Kun in Deutschland wenig angetan. So schrieb sie am 15.11.1924 an Rosa Radek, die Frau
Karl Radeks, unter dem Eindruck eines Gesprächs mit Kun: „Ich hatte nie eine hohe Meinung von
B[éla] K[un] und seinen Vorzügen, und jetzt habe ich zum wiederholten Mal eine klare Bestätigung
dafür erhalten, dass er ein Feigling, ein Speichellecker und ein Grobian ist, denn er kriecht vor den-
Dok. 45: Moskau, 26.5.1921 157
10.5.1921
Am 14.5.1921 war der Verhältnis zwischen Komintern-Apparat und dem Volkskommissariat für Aus-
wärtige Angelegenheiten wiederholt Thema des Politbüros des ZK der KP Russlands. Zusätzlich zu
den bereits aufgestellten Direktiven (siehe Dok. 42) wurde noch einmal kategorisch festgehalten,
dass sowohl Gesandten und verantwortlichen Personen der sowjetischen Vertretungen im Ausland,
als auch Kurieren und allen anderen Bediensteten jegliche illegale Tätigkeit strengstens untersagt
sei.54 Der Konflikt zwischen Außenkomissariat und Komintern war damit allerdings nicht gelöst. Allein
1921 musste das Politbüro noch zweimal intervenieren (25.8.1921 und 8.12.1921).55
Dok. 45
Rundschreiben der Komintern über die Einrichtung eines
deutschen Sprachgruppensekretariats in Moskau
Moskau, 26.5.1921
Rundschreiben.
an die zur deutschen Sprachgruppe gehörenden Sektionen der Kommunistischen
Internationale.
Werte Genossen!
Auf Beschluss der Exekutive der Komintern wurden die der Komintern angeschlos-
senen Sektionen zu Sprachgruppen vereinigt, für die 5 Sprachgruppensekretariate am
Sitze der Komintern eingerichtet wurden.56 Die Aufgabe dieses Sekretariats ist, die
Verbindung der Komintern mit den einzelnen Sektionen zu erleichtern und eine bessere
jenigen, die über ihm stehen, und wird handgreiflich gegen seine Untergebenen. Traurig ist die Lage
in der Komintern...“ (RGASPI, Moskau, 326/2/49, 131–132, zit. nach: Vladimir Genis: Nevernye slugi
režima. Pervye sovetskie nevozvraščency. 1920–1933. I: 1920–1929, Moskva, 2009, S. 555).
54 RGASPI, Moskau, 17/3/164, 2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 76.
55 RGASPI, Moskau, 17/3/194, 2; 17/3/242, 9.
56 Von einer besonders gefächerten Struktur der Leitungsgremien der Komintern nach geogra-
phischen Prinzipien kann erst von diesem Zeitpunkt an gesprochen werden. Bis dahin wurden im
Präsidium des EKKI (vormals Kleines Büro) alle wichtigen politischen Entscheidungen unabhängig
von der regionalen Zuordnung getroffen. Die Sprachgruppen bildeten die Protostrukturen für die 1926
eingeführten Ländersekretariate des EKKI (siehe hierzu Dok. 45). Bei den fünf Unterstrukturen han-
delte es sich vermutlich neben der von Hugo Eberlein geleiteten deutschen um eine anglo-amerikan-
ische Sprachgruppe, eine baltisch-balkanische Sprachgruppe (!) (geleitet von Henryk Walecki), eine
lateinamerikanische Sprachgruppe sowie eine Sprachgruppe der sog. Grenzstaaten (siehe: Bayerlein:
158 1918–1923
Bearbeitung der einzelnen Länder durch die Exekutive möglich zu machen. Die Aufgabe
des Sprachgruppensekretariats ist die Herbeischaffung des zur Orientierung über die
Verhältnisse in den einzelnen Ländern notwendigen Materials, sowie die Verarbei-
tung dieses Materials für die Mitglieder der Exekutive und für das Sekretariat.
Dem Sekretariat der Sprachgruppe gehören alle in Moskau anwesenden Delegier-
ten der Sektionen, die zur Sprachgruppe gehören, an. Diese wählen aus ihrer Mitte
einen Vorsitzenden, dem ein Sekretär zur Erledigung der Arbeiten zur Verfügung
steht.
Die deutsche Sprachgruppe hat sich konstituiert. Ihr gehören folgende Sektionen
an:
Deutschland, Tschechoslowakei, Oesterreich, Schweiz, Holland, Schweden, Nor-
wegen, Dänemark.
Zum Vorsitzenden dieser Sprachgruppe wurde der Genosse Eberlein (Deutsch-
land) gewählt. Augenblicklich sind folgende Delegierte aus dieser Sprachgruppe in
Moskau anwesend: Brandler (Deutschland), Eberlein (Deutschland), Kreibich (Tsche-
cho-Slowakei), Janson [richtig: Jansen (Ps.), d.i. Jan Proost] (Holland).
Für die übrigen Länder, von denen keine Delegierten in Moskau anwesend sind,
haben wir aus dem Stab der verantwortlichen Mitarbeiter Genossen, die über die Ver-
hältnisse in diesen Ländern orientiert sind, zur Mitarbeit herangezogen.
Indem wir Ihnen diesen Beschluss zur Kenntnis bringen, bitten wir Sie, die
Sprachgruppe bei der Erfüllung ihrer Aufgaben weitgehendst zu unterstützen, indem
Sie uns alles wichtige Material über die Kommunistische Partei ihres Landes, sowie
der gesamten Arbeiterbewegung laufend übersenden.
In erster Reihe wird für die Arbeit der Sprachgruppe folgendes von Ihnen erbeten:
1. Alle Mitteilungen über den Stand der Kommunistischen Bewegung ihres
Landes, die Zahl der Parteimitglieder des Landes und der einzelnen Bezirke, Bericht
über den organisatorischen Aufbau der Partei, sowie über die Art der Aufnahme
neuer Mitglieder.
Statistisches Material über Anzahl und Auflage der erscheinenden kommunisti-
schen Zeitungen,
regelmässige Zusendung des Zentralorgans und der wichtigsten Provinzzeitun-
gen, der kommunistischen Wochen – und Monatsschriften,
Berichte der Zentrale, Bezirksberichte, Zentral-Ausschuss – und Bezirksaus-
schuss, Protokolle der stattfindenden Sitzungen, alle wichtigen Resolutionen, Rund-
schreiben und Aufrufe der Zentralleitungen und der Bezirke,
Bericht über die Parteitage, Bezirksparteitage und Konferenzen.
2.) Bericht über die Gewerkschafts-, Frauen-, Jugend-, Landarbeiter-, Konsumge-
nossenschafts-, ArbeiterSport-Bewegung.
3.) Bericht über den Stand und die Bewegung anderer Parteien, insbesondere der
Arbeiterparteien.
4.) Bericht über Streikbewegungen und sonstige Aktionen der Arbeiter.
5.) Bericht über die parlamentarische Tätigkeit,
6.) Zeitungsausschnitte über wichtige, aktuelle Vorkommnisse,
7.) Bericht über die Finanzlage der Partei, die Hoehe der Beiträge, die Beitragsab-
rechnungen und über sonstige Sammlungen.
Des weiteren bitten wir Sie, uns möglichst umgehend eine Landkarte zu übersen-
den, auf welcher die Parteibezirke eingezeichnet sind, sodass wir einen Ueberblick
über die organisatorische Gliederung der Parteiarbeit haben.
Wir bitten gleichzeitig die vor kurzem vom Sekretariat der Komintern an die Sekti-
onen gesandten Fragebogen möglichst umgehend ausgefüllt einzusenden.
Das gesamte für die Sprachgruppe bestimmte Material bitten wir an das Sekreta-
riat der Komintern zu adressieren mit der Aufschrift: „Für die Sprachgruppe.“
Indem wir hoffen, dass diese neue Einrichtung eine gute Orientierung der Exeku-
tive über die der Komintern angeschlossenen Sektionen ermöglicht, bitten wir Sie um
Ihre weitgehendste Unterstützung und zeichnen
Dok. 46
Antwort Ernst Reuters („Friesland“) auf die Umfrage Trotzkis zu
den revolutionären Bedingungen in Deutschland
Moskau, 1.6.1921
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 490/1/225, 2–4. In russischer Sprache publ. in:
Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 278–282.
57 Das „Hotel Lux“ war das bekannteste, in der Moskauer Tverskaja-Straße 36 gelegene Hotel der Ko-
mintern. Nach einer Aufstockung 1933 gab es 300 Zimmer, oft mit Doppel- oder Dreifachbelegung. In
den 1950er Jahren als normales Hotel „Central’naja“ weitergeführt. In der Literatur ist es vornehmlich
als Zuflucht der antifaschistischen KPD-Emigranten eingegangen und zugleich als „Menschenfalle“
derjenigen, die von dort ab Mitte der dreißiger Jahre oftmals zu ihrem letzten Gang vom NKVD abge-
holt wurden. Das Lux unterstand der Geschäftsleitung des EKKI und wurde von einem Kommandan-
ten geleitet, im Zimmer Nr. 1 gab es einen Lesesaal, im Haus selbst war eine Bäckerei-Kooperative mit
Laden untergebracht. Seine Geschichte wurde vielfach filmisch verarbeitet (siehe: Heinrich Breloer:
Herbert Wehner. Die unerzählte Geschichte. II. Hotel Lux, Fernsehdokumentation, Deutschland, 1993;
Leander Haußmann: Hotel Lux, Spielfilm, Deutschland 2011; Ruth von Mayenburg: Hotel Lux. Das
Absteigequartier der Weltrevolution, München-Zürich, Piper, 1991). Zu den Zuständen im Lux in den
1930er Jahren siehe auch Dok. 182.
58 Am 29.4.1921 hatte Trotzki eine Reihe von Delegierten des III. Weltkongresses der Komintern an-
geschrieben: „Für einen Vortrag auf dem internationalen Kongress der Kommunistischen Interna-
tionale brauche ich unbedingt die nachstehenden Fakten und politischen Bewertungen bezüglich
Ihres Landes. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie, wenigstens in einigen Worten, Antwort auf
folgende Fragen geben könnten.“ Die nun folgenden Fragen sind im Dokument Ernst Reuters den
einzelnen Antworten vorangestellt (den Fragebogen Trotzkis siehe: RGASPI 490/1/223, 3–3b. In rus-
sischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 262–264).
59 Auf den Fragebogen erfolgten einige Dutzend Antworten, so seitens der VKPD auch von P. Neu-
mann, P. Scholze, B. Braunthal, der KAPD (J. Appel), der KP Österreichs (K. Steinhardt, F. Stumm),
der KP der Schweiz (J. Humbert-Droz, H. Itschner), der KP Schwedens (F. Stroem, Z. Höglund), der KP
Rumänien (N. Glotter), der KP der USA (W. Haywood, J. Crosby, E. Blur), der KP Großbritanniens (T.
Bell), der KP Norwegens (J. Friis) (siehe: RGASPI, Moskau, 490/1/223–224–225. Aufgrund des Zeitman-
gels, um die Antworten gesondert auszuwerten, gab Trotzki sie im Oktober 1921 an das EKKI-Sekretar-
iat weiter (siehe RGASPI, Moskau, 490/1/223, 2).
Dok. 46: Moskau, 1.6.1921 161
dingt gelöst werden müssen, aber nach meiner festen Ueberzeugung anders gelöst
werden müssen, als dies zum Teil bisher der Fall war, ohne dass es möglich sein wird,
alle Einzelheiten auf dem Plenum des Kongresses vorzutragen. Da Sie sich jedenfalls
meiner von meiner früheren Tätigkeit in Russland her noch erinnern werden,60 so hoffe
ich, dass Sie mir Gelegenheit zu einer mündlichen Aussprache geben werden. Zunächst
zu den einzelnen Punkten beantworte ich die Fragen der Reihe nach:
[Frage Trotzkis: 1. Welchen Zeitpunkt nach Kriegsende (Jahr, Monat) halten Sie
für den revolutionärsten Moment des Zustandes Ihres Landes, d.h. ein solcher Zeit-
punkt, an dem die Arbeiterbewegung den lebhaftesten Charakter angenommen hatte,
in der Bourgeoisie die größte Verwirrung herrschte etc.?]
1.) Der revolutionärste Moment seit der Beendigung des Krieges war in Deutsch-
land ohne Zweifel der Kapp-Putsch. In den Kapp-Putsch-Tagen war die revolutionäre
Spannung in Deutschland so gross, wie sie nie zuvor gewesen war und auch das Bür-
gertum eine Zeit lang im höchsten Maße verwirrt und ohne politische Direktive.
[Frage Trotzkis: 2. Finden Sie, daß danach eine gewisse Verfestigung des bürgerli-
chen Staates stattgefunden hatte? Worin manifestierte sich diese Verfestigung?]
2.) Nach dem Kapp-Putsch ist nach aussen hin eine relative scheinbare Befes-
tigung der bürgerlichen Herrschaft festzustellen. Allerdings ist auch diese äussere
Festigung der bürgerlichen demokratischen Regierung selbst nach aussen hin sehr
relativ. Der ständige und nicht aufhörende Streit um die Regierungsbildung, um die
Beteiligung der Deutschen Volkspartei auf der einen, der Sozialdemokratie auf der
anderen Seite, ist ein äusseres Symptom für die politisch zugespitzte Situation, unter
der wir in Deutschland leben.61
[Frage Trotzkis: 3. Finden Sie, daß wenn es im Moment der höchsten Krise in
Ihrem Land eine starke, gestählte kommunistische Partei gegeben hätte, das Proleta-
riat die Macht hätte ergreifen können?]
3.) Wäre während des Kapp-Putsches eine kräftig gefestigte kommunistische
Partei vorhanden gewesen, was immerhin bei der stark revolutionären Stimmung
grosser Teile der Arbeiterschaft an sich schon möglich gewesen wäre, so hätte das Pro-
letariat vielleicht noch nicht die Kraft zu einer kommunistischen Räterepublik unter
Führung dieser kommunistischen Partei gehabt. Es wäre aber ganz sicher möglich
gewesen, die Herrschaft des Bürgertums so schwer zu erschüttern, die Arbeiterräte
(selbst zum Teil mit menschewistischem Inhalt) neu zum Leben zu bringen, sodass
das Ende nur ein kommunistischer Umsturz hätte sein können. Durch die besondere
Parteikonstellation in Deutschland sind die revolutionären Kräfte des Proletariats
60 Ernst Reuter, der spätere regierende Bürgermeister von Berlin und Bruder des Daimler-Chefs Edzard,
hatte sich als pazifistisch orientierter russischer Kriegsgefangener den Bolschewki angenähert. Er war
1918 Volkskommissar in der Wolgadeutschen Republik, bevor er nach Ausbruch der Novemberrevolu-
tion nach Deutschland zurückkehrte (siehe: Weber/ Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 727–728.
61 Seit Mai 1921 bildete Joseph Wirth als Reichskanzler eine Koalitionsregierung mit dem Zentrum,
der SPD und der DDP.
162 1918–1923
nicht entfernt in dem Maße zum Ausdruck gekommen, wie es der damaligen Situation
entsprochen hätte.
[Frage Trotzkis: 4. Finden Sie, daß der Aufschwung von Handel und Industrie, der
sich 1919 und in der ersten Jahreshälfte 1920 zeigte, zur Verfestigung der Positionen
der Bourgeoisie und zum Anheben ihres Befindens beigetragen hatte?]
4.) Grosse Teile der deutschen Handels- und Industrie-Bourgeoisie haben es
offenbar verstanden, trotz der offenbar zunehmenden weiteren Zersetzung der deut-
schen Wirtschaft sich eine relativ starke Position zu verschaffen. Es ist aber charak-
teristisch, dass auch in diesen Kreisen das Gefühl einer absoluten Unsicherheit im
stärksten Maße vorhanden ist. Die Bourgeoisie, namentlich die Grossbourgeoisie, ver-
meidet, wo sie es irgend kann, jeden nach aussen hin sichtbaren Zusammenstoss mit
der Arbeiterschaft in der Gesamtheit. Bis in die reaktionären Kreise hinein herrscht
das Bewusstsein vor, dass die englischen Methoden der Beherrschung der Arbeiter-
massen bei den jetzigen schwankenden Verhältnissen auch in Deutschland ange-
wandt werden müssen. Scharfe Konflikte werden nach Möglichkeit vermieden. Selbst
den Kommunisten gegenüber ist die Taktik der Bourgeoisie elastisch, wie überhaupt
den unsicheren Verhältnissen eine ungewohnte Elastizität des politischen Auftretens
nach innen und aussen entspricht; ungewohnt wenigstens für die deutschen Verhält-
nisse. Dieses Verhalten der Grossbourgeoisie ist mindestens ebenso sehr Schwäche
und Unsicherheit, Angst vor dem Zusammenbruch, wie Klugheit und Überlegtheit.
[Frage Trotzkis: 5. Inwieweit hat sich die Handelskrise auf Ihr Land ausgewirkt
und welchen Einfluß hatte sie auf die Stimmung der Arbeiter und der Bourgeoisie?]
5.) Die ökonomische Krisis wirkt auf das Proletariat deprimierend. Noch depri-
mierender freilich die gänzliche Abwesenheit einer revolutionären Führung, die erst
in der allerletzten Zeit in der Kommunistischen Partei sich entwickelt.
[Frage Trotzkis: 6. Welches war die stärkste Bewegung oder [das stärkste] Auftre-
ten der werktätigen Massen in Ihrem Land nach dem Krieg (Streiks, Straßenkämpfe,
Fabrikbesetzungen usw. usf.)? Finden Sie, daß nach diesem Auftreten die Bewegung
mehr oder weniger abflaute?]
6.) Nach den Kapp-Tagen war die stärkste Bewegung die sogenannte „Märzak-
tion“. Sie hat keineswegs zu einer Verminderung der Kampfkraft der Arbeitermassen
geführt.
[Frage Trotzkis: 7. Welche einzelnen ökonomischen und politischen Forderungen
spielten in der Bewegung der werktätigen Massen nach dem Krieg die wichtigste Rolle?]
7.) Die wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Forderungen der deutschen
Arbeiterbewegung sind: Der Kampf um die Kontrolle der Produktion und die Rechte
der Betriebsräte und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
[Frage Trotzkis: 8. Welche dieser Forderungen hat die kommunistische Partei her-
vorgebracht oder unterstützt?]
8.) Diese Forderungen werden von der Kommunistischen Partei jederzeit mit
allem Nachdruck unterstützt.
Dok. 46: Moskau, 1.6.1921 163
ich, sondern viele meiner Freunde, die von Anfang an die Auffassung Levis bekämpft
haben, der Ansicht sind, dass die Führung der Kommunistischen Internationale nicht
auf der Höhe ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wo blieb die politische Führung
in der Frage der Wiedergutmachung?63 Durch die räumliche Entfernung der Exeku-
tive von den westeuropäischen Parteien allein kann dieser Mangel unserer Meinung
nach nicht erklärt werden. Das Schreiben der Exekutive an die Amsterdamer Gewerk-
schaftsinternationale halten wir seinem Tone nach für unsere Bewegung nicht für
geeignet und dem Inhalt nach zu wenig positiv.64 Wir können nicht übersehen,
worauf diese Mängel zurückzuführen sind. Aus dem Bericht des Genossen Radek auf
der russischen Parteikonferenz65 konnte man den Schluss ziehen, dass eine gewisse
vorsichtige Beurteilung der kapitalistischen Entwicklung die Ursache für die direkte
Zurückhaltung in der politischen Führung ist. Andere Beobachtungen lassen darauf
schliessen, dass auch die Organisation der Komintern selber mangelhaft ist. So sehr
wir verstehen, dass der Kampf in Russland für die russischen Genossen im Mittel-
punkt ihrer Interessen stehen, die europäische Gesamtentwicklung ist doch noch
wichtiger. Wir erwarten von dem Kongress nicht nur die Annahme neuer Bedingun-
gen und die Annahme neuer Aufrufe, sondern den konkreten und entschlossenen
Uebergang zur Schaffung einer tatsächlichen politischen Führung der Kommunisti-
schen Partei der Welt.
Sie werden verstehen, dass ich in einem Briefe, den ich als einzelner an Sie
schreibe, mich zunächst darauf beschränke. Ich hoffe, Ihnen mündlich eingehend
auseinandersetzen zu können, welche Beobachtungen mich und meine politischen
Freunde zu diesen Auffassungen veranlassen.
63 Gemeint ist das Ausbleiben einer internationalen Kampagne gegen die Deutschland aufgezwun-
genen Reparationszahlungen.
64 Als „Amsterdamer Internationale“ wird hier der Internationale Gewerkschaftsbund (1919–1945),
mit Sitz in Amsterdam bezeichnet. Politisch der Sozialistischen Arbeiter-Internationale nahe, die die
Mehrheit der Parteien der ehemaligen II. Internationale einschloss. Als Gewerkschaftsinternationale
vereinigte sie die große Mehrheit der organisierten Arbeiter in Europa (siehe: Edo Fimmen: Der In-
ternationale Gewerkschaftsbund, 1922. Zur kommunistischen Politik gegenüber dem IGB: Tosstorff,
Profintern, S. 184ff.).
65 In seinem Vortrag über die Tätigkeit der Komintern hatte Radek auf der X. Konferenz der RKP(b)
(26.–28.5.1921) entgegen den Schlussfolgerungen Lenins behauptet, die Weltsituation sei nach wie
vor revolutionär: „Wir stehen vor einer neuen Epoche noch größerer Kämpfe. [...] dieser Kampf ist
die Frage der allernächsten Zeit. [...] die deutschen Genossen [...] gehen im Moment weiter als das,
woran hier festgehalten wird, in Moskau, von dem man behauptet, dass es andere antreiben würde.“
(Pravda, 31.5.1921).
66 Handschriftliche Anmerkung: „In der Anlage Protokoll des letzten Bezirks[partei]tages der Berlin-
er Organisation mit Thesen zur Tagesordnung des Weltkongresses.“
Dok. 47: [Moskau], 1.6.1921 165
Dok. 47
Brief Karl Radeks an Lenin zur Bilanz der Märzaktion und der
taktischen Umstellung der Komintern
[Moskau], 1.6.1921
67 Das Kleine Büro der Exekutive war für alle organisatorischen Maßnahmen zuständig.
68 Der ursprüngliche Entwurf der Thesen Radeks (siehe: RGASPI, 5/3/10, 27–40) wurde von Lenin
grundsätzlich kritisiert, ebenso die 2. Fassung. Noch stark links geprägt, formulierte Radek hierin
die Position der Komintern zur Umwandlung der kommunistischen Parteien in revolutionäre Mas-
senorganisationen. Er akzeptierte zwar die Idee der Einheitsfront, drängte jedoch auf eine schnelle
Entwicklung der revolutionären Bewegung und ihres Kampfes um die Macht.
69 Die VKPD-Zentrale legte einen von August Thalheimer und Béla Kun ausgearbeiteten Thesenentwurf
zur Taktik vor, der eine neue Periode offensiver Aktionen forderte. Bereits am 10.6.1921 lehnte Lenin die
Thesen als „von Grund aus falsch“ und „linksradikale Spielerei“ ab (siehe Dok. 47b).
70 Nachdem in Italien die soziale Revolution im Rahmen der flächenhaften Betriebsbesetzungen
1920 bereits gescheitert war, erfolgte auf dem Kongress von Livorno im Januar 1921 die Spaltung der
Sozialistischen Partei Italiens. Der hier erfolgten Gründung der Kommunistischen Partei Italiens
schloss sich entgegen der Hoffnungen der Komintern nur eine Minderheit der linken Sozialisten an.
166 1918–1923
von Gorter und Company,71 die noch nicht überwunden sind, und entspricht den
Tatsachen nicht. In wie weit man nicht der Meinung war, dass durch Annahme der
21 Bedingungen72 Wunder geschehen, auf einmal, ohne Kampf, ohne Erfahrungen
der Revolution, gute kommunistische Parteien entstehen. Wir waren dieser Meinung
nicht, und deshalb können und sollen wir mit allem Nachdruck die opportunisti-
schen Tendenzen bekämpfen, wenn notwendig sogar durch Ausschlüsse. Aber wir
brauchen deshalb nicht den Bankerott der Kommunistischen Internationale festzu-
stellen. Diese Bemerkungen beziehen sich auf Seite 12, Punkt 14 der Thesen von K.B.
[Kun Béla] und Th[alheimer].
3) Zweiter Fehler ist die Behauptung, Punkt 13, Seite 11: Die Komm[unistische]
Internationale habe jetzt die propagandistische Periode der Sammlung der Kräfte
abgeschlossen. Es gab niemals eine Zeit, wo die Kommunistische Internationale nur
durch Propaganda gewirkt hätte. Sie hat immer gleichzeitig, wo nur die Massen in
Fluss waren, gekämpft. Siehe nicht nur Deutschland, Oesterreich, Ungarn. Zwei-
tens ist die Periode der Agitation und Propaganda nicht nur überhaupt nicht abge-
schlossen, sondern in den beiden wichtigsten kapitalistischen Ländern, in Amerika
und England, bildet die Propaganda und die Agitation in dem gegebenen Moment
die Hauptaufgabe der Komm. Intern. Was wir dort den Parteien zu sagen haben, ist
nicht, dass die Propaganda und Agitation aufgehört hat, ihre vornehmste Aufgabe
zu sein, sondern, dass diese Aufgabe nicht ausserhalb der Aktion des Proletariats,
sondern in dieser Aktion zu erfolgen hat. Die allgemeine Behauptung Kuns und Thal-
heimers bedeutet die Utrierung73 der Tatsache, dass wir in Deutschland jetzt durch
blosse Propaganda nicht weiterkommen können, dass auf uns dort die Verantwor-
tung liegt, durch selbstständige Aktionen, sei es defensiver, sei es offensiver Art, die
Gegensätze zu verschärfen, die Volksmassen zu mobilisieren. Die Möglichkeit einer
aktiven, selbständigen Politik ist in Deutschland grösser als in andern Ländern, sogar
solchen, die schon kommunistische Massenparteien besitzen (Tschecho-Slowakei,
Bulgarien). Denn in diesen Ländern fehlt die Erfahrung der dreijährigen Revolution,
usw. In Frankreich und Italien sind die Aktionsmöglichkeiten einstweilen noch gerin-
ger. Durch eine so schroffe und künstliche Gegenüberstellung der beiden Epochen
71 Der Niederländer Hermann Gorter gehörte mit Anton Pannekoek u.a. den ultralinken Rätekom-
munisten und der KAPD an, die sich 1920 vor allem in der Parlamentarismus- und der Gewerkschafts-
frage scharf von Lenin abgrenzten.
72 Die vom II. Weltkongress der Komintern 1920 angenommenen „Leitsätze über die Bedingungen
der Aufnahme in die Kommunistische Internationale“ beinhalteten „21 Bedingungen“, die vor allem
gegen die sozialreformerischen und zentristischen Kräfte (rechte USPD, französische und italien-
ische Mehrheitssozialisten u.a.m.) in- und außerhalb der Komintern gerichtet waren. Sie machte den
demokratischen Zentralismus und den Aufbau eines geheimen illegalen Apparats zur ultimativen
Leitlinie für alle kommunistischen Parteien, was in der Folge den bürokratischen Zentralismus ge-
genüber den Parteiführungen und seitens des EKKI selbst förderte (der Text ist abgedruckt in: Weber:
Die Kommunistische Internationale, S. 55–62).
73 „Utrierung“: Übertreibung.
Dok. 47: [Moskau], 1.6.1921 167
arbeiten wir nur in die Hand der zentristischen Elemente, die uns anklagen können
werden, dass wir ohne Rücksicht auf die Umstände, die Parteien in Zusammenstösse
hineintreiben, denen sie nicht gewachsen sind.
4) Die V.K.P.D. hat nach der Märzaktion mehrmals gesagt, es seien in dieser Aktion
grosse Fehler gemacht und aus denen die Partei lernen muss. Ich habe die Märzaktion
als einen Schritt vorwärts in der Geschichte der Partei verteidigt, der darin besteht,
dass sich eine leitende Gruppe herauskristallisierte, die gewillt ist, zu kämpfen und
dass die Partei im grossen und ganzen gezeigt hat, dass sie ihr folgen will. Aber es
unterliegt gar keinem Zweifel, dass in der Aktion Fehler gemacht worden sind, die in
den Resolutionen, wenn auch keine polemische, so jedoch die aufmerksamste posi-
tive Behandlung erfordern. Ich suchte sie in meinen Thesen zu geben, wo ich von den
Bedingungen der Offensive spreche. Diese Lehren werden in den Thesen der beiden
Genossen garnicht berücksichtigt. Es sei denn mit der nichtssagenden Forderung der
politischen und organisatorischen Vorbereitung. Nachdem ich jetzt das Buch gelesen
habe, das über die Märzaktion von der Partei herausgegeben worden ist74 und dessen
Korrektur ich Ihnen hier beilege, werde ich nicht nur den positiven Teil der Thesen in
diesem Punkte erweitern, sondern auch eine Aussprache mit der deutschen Delega-
tion über diese Angelegenheiten bei der Exekutive anregen.
5) Die Thesen begehen den taktischen Fehler, zu erklären, dass Deutschland den
Punkt des Durchbruches der konterrevolutionären Front darstellt. Diese Behauptung
ist in der absoluten Form unrichtig. Wir wissen nicht, ob dieser Durchbruch nicht
schneller im Südosten oder Italien stattfindet. Aber selbst wenn wir das wüssten,
dürfte diese Behauptung von uns nicht aufgestellt werden, 1) um nicht den andern
Parteien den Freipass für das Warten zu geben, 2) um der deutschen Regierung nicht
die Möglichkeit zu geben, jede Aktion in Deutschland als eine auf Geheiss der Exeku-
tive durchgeführte von vornherein zu denunzieren. Diese ganze Durchbruchs-Theorie
ist ein Resultat einerseits des tiefen Eindrucks, den die Märzaktion auf beide Genos-
sen gemacht hat. Zweitens der oberflächlichen militärischen Analogien, zu denen
sie durch die Anwendung der militärischen Terminologie gelangen. Wenn der Ober-
kommandierende durch Abklopfen der Front eine Durchbruchsstelle ausgewählt hat,
dann konzentriert er an dieser Stelle die Kräfte, beginnt Ablenkungsoffensiven an
verschiedenen Stellen, um den Feind zu täuschen, und an der ausgewählten Stelle
mit massierten Kräften den wirklichen Durchbruch zu versuchen. Wir verfügen nicht
über die Armeen, die wir auf den Durchbruchspunkt Deutschland richten könnten.
Diese Armeen werden sich rekrutieren und bilden in den Teilkämpfen und sie werden
sich desto schneller rekrutieren und bilden, je weniger die Arbeitermassen ihre
Kämpfe als unsere Manöver ansehen werden.
6) Die Thesen enthalten eine falsche Formulierung des Verhältnisses der Kom-
munistischen Internationale zu der auswärtigen Politik Sowjet-Russlands. Entweder
74 Gemeint ist die Broschüre des ZK der VKPD: Taktik und Organisation der Revolutionären Offen-
sive. Die Lehren der März-Aktion, Leipzig-Berlin, Frankes Verlag, 1921.
168 1918–1923
sind die Zugeständnisse, die wir machen, Notwendigkeiten der russischen Arbeiter-
schaft; dann sind sie auch Notwendigkeiten der Kommunistischen Internationale.
Sie trägt für sie die Verantwortung, wenn sie sie nicht als Opportunismus angreift.
In der Gegenüberstellung stecken zwei Kerne, die opportunistische Angst vor den
linken Angriffen auf die Politik der Sowjet-Regierung, und der revolutionäre Wille,
desto mehr die europäischen Proletarischen Westeuropas anzustrengen, je prekärer
die Lage Sowjet-Russlands wird. Die Rücksicht auf die Anklagen des Opportunismus
von seiten der Gorter und Company dürfen wir nicht nehmen; den revolutionären
richtigen Gedanken der Notwendigkeit der Verschärfung der Kämpfe in Westeuropa
müssen wir anders ausdrücken. Mein Gedankengang ist folgender:
Russlands Beziehungen zu den kapitalistischen Staaten sind nicht nur ein Zuge-
ständnis Sowjet-Russlands an diese Staaten, sondern auch der Beginn des Durch-
bruchs des kapitalistischen Staatensystems. Die Isolierung Russlands trägt aber in
sich wachsende Gefahren. In seinem ureigensten Interesse muss das westeuropäi-
sche Proletariat alles tun, um die Bresche, die Sowjet-Russland in dem System des
europäischen Kapitalismus geschlagen hat, zu erweitern.
7) Die Thesen sind wertvoll dadurch, dass sie in scharf auf zu scharf pointierte
Weise die Tendenzen eines Teiles unserer besten nach Aktion drängenden Genossen
zeigen. Dadurch signalisieren sie auch gewisse Gefahren. Ausserdem enthalten sie
eine Reihe ausgezeichneter Formulierungen. Siehe zum Beispiel die über die Arbeits-
losenfrage. Als Thesen der Exekutive sind sie zu einseitig aus der deutschen Situation
geboren, und dazu zu sehr zugespitzt übertrieben.75
Radek
1.6.1921.
75 Nachdem Lenin auch die Radekschen Thesen kritisiert und in persönlichen Gesprächen mit den
Delegierten der KPD seine Opposition gegen die Offensivtheorie deutlich gemacht hatte (siehe Dok.
40 u.a.), und zugleich Trotzki und Zetkin dezidiert dafür eintraten, wurden veränderte Thesen verab-
schiedet. Noch auf dem Kongress wurden sie jedoch von Trotzki einerseits und Radek andererseits
unterschiedlich interpretiert. Die Offensivtheorie wurde deutlich verurteilt, die „Eroberung des aus-
schlaggebenden Einflusses auf die Mehrheit der Arbeiterklasse, das Hineinführen ihrer entscheiden-
den Teile in den Kampf“ wurde als „gegenwärig die wichtigste Frage der Kommunistischen Interna
tionale“ festgehalten (Thesen über die Taktik. Angenommen in der 24. Sitzung des III. Weltkongresses
vom 12. Juli 1921. In: L. Trotzki: Die neue Etappe. Die Weltlage und unsere Aufgaben, Hamburg, Verlag
der Kommunistischen Internationale, Verlagsbuchhandlung Carl Hoym Nachf., 1921, S. 129–167, hier:
S. 135). Der wichtigste Fehler der Märzaktion sei der „Ruf nach der Offensive“ gewesen, der „den
gewissenlosen Feinden des Proletariats [...] der SPD und der USPD, Anlaß gab, die VKPD als Anzett-
lerin von Putschen dem Proletariat zu denunzieren.“ (S. 154f.). Daneben wurde auch die Radeksche
Formulierung tradiert, der zufolge die Märzaktion eine „heldenhafte(r) Kampf von Hunderttausenden
Proletariern gegen die Bourgeoisie“ war. Die KPD habe sich mit Recht an die Spitze der Bewegung
gestellt (ibid., S. 155).
Dok. 47a: [Berlin], 2.6.1921 169
Dok. 47a
Brief Jakov Rejchs an Sinowjew über Literatur- und
Finanzangelegenheiten der KPD
[Berlin], 2.6.1921
portiert wird,81 sind bereits drei Nummern „Sowjet“ erschienen.82 Radeks Broschüre
(Auflage 30.000) war sehr angebracht./83 Claras [d.i. Clara Zetkin] Aufforderung die
Broschüre anzuhalten (siehe Beilage, Copie des Briefes und Telegramms) konnte so
wie so nicht entsprochen werden, das [sic] die Broschüre bereits erschienen war.
Abgesehen davon, war die deutsche Zentrale mit der Broschüre einverstanden./ Das
gestern eingelaufene Telegramm vom 31.V. als Antwort auf Claras Beschwerde bezüg-
lich der Reise der Vertreter des rechten Flügels habe ich der Clara und der Zentrale
zugestellt./ [...]
4. Finanzen. Wie ich bereits in meinem letzten Briefe gemeldet habe, bin ich hier
ohne nennenswerte Gelder, so dass die letzten Orders nicht erledigt werden können.
Wie ich seinerzeit gemeldet habe, habe ich von den Wertsachen in Schätzung von 40
Mill[ionen], die hier[her] gebracht wurden, wie auch von der erfolgten Sendung von
10 Mill. nichts erhalten. Die einzige Sendung, die ich richtig erhalten habe, war die
von 10 Mill. durch Sokolski,84 die jedoch Eure Orders nur teilweise deckten. Ein Teil
der Wertsachen, die ich mitgebracht habe, wie auch die Sammlung der alten Münzen,
konnte bis jetzt nicht verwertet werden. Momentan sind wir in solcher Situation,
dass die Forderung der Deutschen auf 1 Mill. nur in der Höhe von 500 [Tausend?]
gedeckt werden kann und das auch auf Kosten der Nichtbezahlung der Druckerei-
Rechnungen./ Ich übersende gleichzeitig die Aufstellung der deutschen Partei und
mache darauf aufmerksam, dass wir an sie mindestens 7 Mill. in der nächsten Zeit zu
zahlen haben. Gleichzeitig übersende ich die dringende Forderung der österreichi-
schen Partei. [...]
81 Nach der Broschüre „Unser Weg – Wider den Putschismus“, die am 12. April aus der Druckerei
kam, veröffentlichte Levi ebenfalls seine Rede auf der Zentralausschusssitzung der KPD vom 4. Mai
1921. Siehe: Paul LevI: Was ist das Verbrechen? Die Märzaktion oder die Kritik daran? Rede auf der
Sitzung des Zentralausschusses der V.K.P.D. am 4. Mai 1921, Berlin, A. Seehof, 1921. (siehe hierzu:
Broué: La Révolution allemande, S. 491ff.).
82 Sowjet. Kommunistische Monatsschrift, Berlin, I(1919/1920) – III(1921); fortgesetzt als Unser Weg,
Halbmonatsschrift für sozialistische Politik, hrsg. von Paul Levi, Berlin, Internationale Verlagsanstalt,
III(1921) – IV(1922).
83 Siehe: Karl Radek: Die taktischen Differenzen in der V.K.P.D., Hamburg, Verlag der Kommunis-
tischen Internationale; id.: Soll die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands eine Massen-
partei der revolutionären Aktion oder eine zentristische Partei des Wartens sein?, Hamburg, Hoym
[u.a.], 2. Aufl., Hamburg, Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921.
84 Über die Identität Sokolskis konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Möglicherweise han-
delte es sich um Ivan Sokolin [d.i. Vladimir Ivanovič Šapiro], der 1918 in der russischen Handelsver-
tretung in Berlin und später als technischer Sekretär im Lateinischen Sekretariat der Komintern ar-
beitete.
Dok. 47b: [Moskau?], 10.6.1921 171
Am 8.6.1921 beriet das Politbüro des ZK der KP Russlands die kommenden Verhandlungen mit dem
„angereisten Deutschen“ – es handelte sich um Oskar von Niedermayer für die Sondergruppe R, der
sich über den Zustand der russischen Schwerindustrie informieren wollte. Trotzki sollte vorgeschla-
gen werden, die Verhandlungen zu führen, dabei jedoch eine „besondere Vorsicht“ walten zu lassen.
Der von Niedermayer gewonnene schlechte Eindruck führte allerdings dazu, dass der ursprüngliche
Plan, deutsche Geldmittel zur Instandsetzung der Rüstungsbetriebe und der Petrograder Werften ein-
zusetzen, verworfen wurde (siehe: Zeidler: Reichswehr und Rote Armee, 32). Am gleichen Tag gab
das Politbüro in einem Beschluss „über die Berliner Mission“ dem zeitweise suspendierten Leiter der
sowjetischen Mission in Berlin, Kopp (siehe Politbüro-Beschluss vom 25.6.1921), das Einverständnis,
sich „nur in der besonderen Angelegenheit“ wieder nach Deutschland zu begeben. Dabei ging es um
Militärverhandlungen mit Deutschland.85 Beide Beschlüsse betrafen vermutlich das bis dato einzig
greifbare Ergebnis der Militärverhandlungen, den Abschluss der Vereinbarungen mit den Dessauer
Junckers-Werken über einen vom Reichswehrministerium koordinierten Bau von Flugzeugen in der
Sowjetunion zur Umgehung der Versailler Restriktionen (siehe hierzu: Zeidler: Reichswehr und Rote
Armee, S. 53ff.).
Dok. 47b
Stellungnahme Lenins zum Ausschluss Paul Levis und der
taktischen Veränderung der Komintern auf dem III. Weltkongress
[Moskau?], 10.6.1921
Autograph, in russischer Sprache. In deutscher Sprache veröffentlicht in: Arnold Reisberg: Ein neuer
Brief W.I. Lenins über die Taktik der Kommunistischen Internationale. In: Beiträge zur Geschichte der
deutschen Arbeiterbewegung VII (1965), H. 4, S. 686–691; Lenin: Briefe, VII, S. 268–272.
Das Wesen der Sache besteht darin, daß Levi politisch in sehr vielem Recht hat. Leider
hat er eine Reihe von Handlungen begangen, die die Disziplin verletzen, wofür ihn
die Partei ausgeschlossen hat.86
Die Thesen Thalheimers und Béla Kuns sind politisch grundfalsch. Phrasen und
linksradikale Spielerei.87
Radek schwankt und hat seinen ursprünglichen Entwurf durch eine Reihe von
Zugeständnissen an die Kinderei der „Linken“ verdorben. Schon sein erstes „Zuge-
ständnis“ ist höchst charakteristisch: in § 1 seiner Thesen „Umgrenzung der Fragen“88
hieß es bei ihm früher: „Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse (für die Prinzipien
des Kommunismus)“ (wohlgemerkt). Korrigiert (verballhornt):89 „Eroberung der sozial
entscheidenden Teile der Arbeiterklasse“.
Eine Perle! Hier, in diesem Kontext, die Notwendigkeit, „für die Prinzipien des
Kommunismus“ gerade die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern, vorzunehmen,
abzuschwächen ist der Gipfel der Ungereimtheit.
Um die Macht zu erobern, ist unter bestimmten Bedingungen (darunter bei bereits
erfolgter Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse für die Prinzipien des Kommunis-
mus) am entscheidenden Ort ein Schlag der Mehrheit der sozial entscheidenden Teile
der Arbeiterklasse notwendig.
Diese Wahrheit so umzuändern, zu verballhornen,90 daß in § 1 der allgemeinen
Aufgaben der Kommunistischen Internationale über die Eroberung der Arbeiterklasse
für die Prinzipien des Kommunismus die These von der Notwendigkeit, die Mehrheit
der Arbeiterklasse zu erobern, abgeschwächt wird – das ist ein klassisches Beispiel
für die Borniertheit Béla Kuns und Thalheimers (er macht, der Teufel soll ihn holen,
einen soliden Eindruck, aber in Wirklichkeit ist er so, daß man ihn mit Ruten prügeln
müßte) und ... die eilfertige Nachgiebigkeit Radeks.
Radeks Thesen waren übermäßig lang, verschwommen, ohne politischen Angel-
punkt. Radek aber hat sie noch mehr verwässert, hat sie ganz und gar verdorben.
Was tun? Ich weiß es nicht. Es ist schrecklich viel versäumt worden – Zeit und
Arbeit.
Wenn Sie nicht wollen, daß es zu einem offenen Kampf auf dem Kongreß kommt,
schlage ich vor:
1. noch heute (da Bucharin versichert, daß Sie heute, nicht später, das Grund-
legende entscheiden müssen: aufschieben wäre besser) durch eine präzise Abstim-
mung die Thesen Thalheimers und B. Kuns als von Grund aus falsch gänzlich abzu-
lehnen. Das schriftlich festhalten. Sie verderben alles, wenn Sie das nicht tun und
hier nachgiebig sind.
2. als Grundlage den ersten Entwurf Radeks zu nehmen; der nicht „verbessert“ ist
durch Korrekturen, von denen ich ein Beispiel angeführt habe.
Leuten befreien ...“ (siehe: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Unvergeßli-
cher Lenin. Erinnerungen deutscher Genossen, Berlin (Ost), 1960, S. 140, zit. in: Koch-Baumgarten:
Aufstand der Avantgarde, S. 372).
88 „Umgrenzung der Fragen“ im Original deutsch.
89 „verballhornt“ im Original deutsch.
90 „verballhornen“ im Original deutsch.
Dok. 47b: [Moskau?], 10.6.1921 173
91 Der offene Brief vom Januar 1921 markierte den Beginn der allerdings in der Folge von der KPD-
Führung als „opportunistisch“ verworfenen Einheitsfrontpolitik (siehe Dok. XXX).
92 Im November 1920 nahm das EKKI nach entsprechenden Beschlüssen des russischen Politbüros
die ultralinke und antiparlamentarische, teilweise anarchistisch orientierte Kommunistische Arbei
terpartei Deutschlands (KAPD) mit H. Laufenberg, F. Wolffheim und O. Rühle als sympathisieren-
de Partei in die Kommunistische Internationale auf. Die selbst aus unterschiedlichen Strömungen
wie den holländischen „Tribunisten“, den „Nationalbolschewisten“ und diversen „Sozialrebellen“
gebildete Partei hatte sich von der KPD abgespalten und eine Mitgliederzahl von ca. 30 000 erreicht.
Da sich die KAPD jedoch hartnäckig weigerte, diese Bedingung zu erfüllen, wurde sie nach dem III.
Weltkongress wieder aus der Komintern ausgeschlossen (siehe u.a.: Beschluss des Politbüros vom
24.11.1920; vgl. den Text von Hermann Weber im vorliegenden Band).
174 1918–1923
Fassung: den gesamten Text anzuführen) und den Brief und seine Bedeutung als
Vorbild genauestens zu erläutern.
Und darauf würde ich die allgemeine Resolution über die Taktik beschränken.
Nur dann wird der Ton angegeben sein. Der zentrale Gedanke wird klar sein. Es
wird keine Verschwommenheit geben. Es wird keine Möglichkeit geben, daß jeder das
herausliest, was er will (wie bei Radek).
Dann würde vom ursprünglichen Entwurf Radeks nur etwa ein Viertel bleiben,
nicht mehr.
Wir sollten doch aufzuhören, Broschüren statt Thesen zu schreiben und zur
Abstimmung zu bringen. Selbst ohne Meinungsverschiedenheiten unter uns allen
sind bei einem solchen System einzelne Fehler unvermeidlich. Sobald aber der Leitge-
danke fehlt und Mißdeutungen nicht ausgeschlossen sind, können wir uns auf große
Fehler gefaßt machen, verderben wir die ganze Sache.
Und dann, wenn es Ihnen sehr in den Fingern juckt, kann man noch eine Ergän-
zung hinzufügen: Ausgehend von der dargelegten Taktik fügen wir im besonderen,
als Beispiel, nicht als Prinzip, sondern eben als Beispiel, noch das und das hinzu.
Weiter.
Serrati93 und Levi in einen „Opportunismus“ zu verallgemeinern,94 ist eine
Dummheit; Serrati ist schuldig; in welcher Frage? Man muß es klar und deutlich
sagen, in der italienischen Frage, nicht in der Frage der allgemeinen Taktik. Seine
Schuld besteht darin, daß er es zur Spaltung mit den Kommunisten hat kommen
lassen, daß er die Reformisten, Turati und Co., nicht ausgeschlossen hat. Solange ihr
das nicht tut, Genossen Italiener, steht ihr außerhalb der Kommunistischen Internati-
onale. Wir schließen Euch aus.
An die italienischen Kommunisten aber ein sehr ernster Rat und die Forderung:
Solange ihr nicht verstanden habt, beharrlich, geduldig, mit Geschick die Mehrheit
der auf Serratis Seite stehenden Arbeiter zu überzeugen und auf eure Seite zu ziehen,
seid nicht überheblich, laßt die linksradikalen Spielereien. Der „Fall Levi“95 entstand
nicht aus der allgemeinen Taktik, sondern aus der Einschätzung der Märzaktion,96
der deutschen Frage. Brandler sagt: es war eine Defensive. Die Regierung hat provo-
ziert.
Nehmen wir an, daß das stimmt, daß es tatsächlich so war.
Welche Schlußfolgerung ergibt sich daraus?
93 Unter der Führung von Serrati opponierte die Mehrheit der der Komintern angeschlossenen So-
zialistischen Partei Italiens gegen den Kurs auf eine Spaltung. Daraufin wurde sein Ausschluss vom
III. Weltkongress bestätigt. Im Herbst 1923 überzeugten sich Serrati mit einem Teil seiner Anhänger
von der Unrichtigkeit ihrer Linie und vereinigten sich im August 1924 mit der KP Italiens.
94 In den Radekschen Thesen hieß es: „Der Charakter dieser Gruppen ist ganz klar. Das sind zen
tristische Gruppen, die die Politik des passiven Abwartens der Revolution durch kommunistische
Phrasen und Theorien verhüllen.“
95 „Fall Levi“ im Original deutsch.
96 „Märzaktion“ hier und im Weiteren im Original deutsch.
Dok. 47b: [Moskau?], 10.6.1921 175
1. Daß das ganze Geschrei von einer Offensive – und es gab unmäßig viel Geschrei
darüber – falsch und unsinnig war;
2. daß die Taktik, zum Generalstreik aufzurufen, ein Fehler war, da man es hier
mit einer Provokation der Regierung zu tun hatte, die die kleine Festung des Kommu-
nismus (jenen Bezirk in Mitteldeutschland, wo die Kommunisten bereits die Mehrheit
hatten) in den Kampf hineinziehen wollte.
3. Solche Fehler muß man in Zukunft vermeiden, denn in Deutschland ist,
nachdem im Bürgerkrieg durch raffinierte Manöver der Rechten 20000 Arbeiter
ermordet worden sind, eine besondere Situation entstanden.
4. Die Defensive von Hunderttausenden Arbeitern (Brandler sagt: eine Million.
Stimmt das auch? Übertreibt er nicht? Warum gibt es keine Angaben nach Gebie-
ten, nach Städten???) als „Putsch“ und sogar als „Bakunistenputsch“ zu bezeichnen, ist
schlimmer als ein Fehler, ist eine Verletzung der revolutionären Disziplin. Da Levi dem
noch die und die Disziplinverstöße hinzugefügt hat (man muß sie exakt, sehr vorsichtig
aufzählen), hat er Strafe verdient und ist zu Recht mit Ausschluß bestraft worden.
Man muß den Ausschluß befristen, meinetwegen auf ein halbes Jahr. Dann gestattet
man ihm wieder, um Aufnahme in die Partei zu bitten, und die Kommunistische Inter-
nationale empfiehlt, ihn aufzunehmen, wenn er sich im Laufe dieser Frist loyal verhält.
Ich habe außer der Broschüre Brandlers noch nichts gelesen, und ich schreibe
dies nur auf der Grundlage der Broschüren von Levi und Brandler. Brandler hat –
wenn überhaupt – eins bewiesen: Die Märzaktion war kein „Bakunistenputsch“ (für
eine solche Schmähung mußte man Levi ausschließen), sondern eine heldenhafte
Verteidigung der revolutionären Arbeiter, Hunderttausender; aber wie heldenhaft
dies auch war, in Zukunft darf man einen solchen Kampf, provoziert von der Regie-
rung, die durch Provokationen von Januar 1919 an bereits 20 000 Arbeiter ermordet
hat, nicht aufnehmen, solange die Kommunisten nicht die Mehrheit im ganzen Lande,
sondern nur in einem kleinen Bezirk hinter sich haben.
((Die Julitage 1917 waren kein Bakunistenputsch. Für eine solche Einschätzung
hätten wir aus der Partei ausgeschlossen. Die Julitage waren eine heroische Offensive.
Und welche Schlußfolgerung haben wir gezogen? Den nächsten heroischen Angriff
werden wir nicht vorzeitig unternehmen. Die vorzeitige Aufnahme des allgemeinen
Kampfes – das ist das Wesen der Märzaktion. Kein Putsch, sondern ein Fehler, gemil-
dert durch den Heroismus der Defensive Hunderttausender.)) [...]
Einen der wichtigsten Punkte nicht vergessen: man muß unbedingt alles aus den
ersten Thesen Radeks entfernen, was sich auf die „Partei des Abwartens“ bezieht, auf
die Verurteilung dessen. Weg mit alldem. [...]
Wenn es darüber keine einheitliche Meinung gibt, schlage ich vor, das Politbüro
einzuberufen.97
Dok. 47c
Erklärung der Deutschen Delegation auf der Internationalen
Konferenz Kommunistischer Frauen
Moskau, [15.6.1921]98
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau 490/1/162, 67. Erstveröffentlichung. Ohne Datum,
handschriftlicher Eintrag: „No 4 u. 5. Zum Protokoll als Kopie“, mit unleserlicher Unterschrift.
Erklärung.
Zu dem von der Genossin Klara Zetkin auf dem Internationalen Frauenkongress99 zu
Protokoll eingereichten Protest100 erklärt die deutsche Delegation101 Folgendes:
1.) Die angeblichen Tatsachen und Ziffern, die beweisen sollen, dass die V.K.P.D.
aus der Märzaktion schwer geschädigt hervorging, haben dem Zentralausschuss der
V.K.P.D. zur Prüfung vorgelegen und sind einmütig als Fälschungen oder fantastische
Uebertreibungen bezeichnet worden.102
2.) Dieses angebliche Tatsachenmaterial ist zusammengestellt worden von dem
Führerklü[n]gel um Paul Levi, der die Märzaktion aktiv oder passiv sabotiert hat und
nach der Aktion zum Teil den Gegnern der Partei und dem Staatsanwalt direkte Hilfe
geleistet hat.
Die deutsche Delegation zur Frauenkonferenz muss daher der Protesterklärung
der Genossin Klara Zetkin aufs schärfste entgegentreten, wenn auch die endgültige
Entscheidung über die mit der Märzaktion verbundenen Fragen dem Weltkongress
vorbehalten bleiben muss.
Die deutsche Delegation ist schliesslich, entgegen der im Protest der Genossin
Zetkin ausgesprochenen Meinung, der Ansicht, dass die Frauenkonferenz an den tak-
tischen Fragen der Komm[unistischen] Internationale nicht vorübergehen kann und
das Recht hat, sie zu erörtern.
98 Datum annähernd.
99 Die vom Internationalen Frauensekretariat einberufene II. Internationale Konferenz kommu-
nistischer Frauen fand vom 9.–15.6.1921, kurz vor Beginn des III. Weltkongresses der Komintern, in
Moskau statt. Dem am 13.7.1921 neu gewählten, aus sechs Frauen bestehenden Sekretariat gehörte
Clara Zetkin erneut als Generalsekretärin an (siehe: Bayerlein: Zwischen Internationale und Gulag).
100 Möglicherweise handelt es sich um die Erklärung Zetkins, in der sie die Behauptung Heckerts
abstritt, dass sie bereits Ende März über die Absichten „Däumigs, Levis, Geyers usw.“ informiert
gewesen sei, ein Manifest gegen die Politik der Zentrale in der Märzaktion zu veröffentlichen; sie sei
bereits gegenüber der der KPD-Gründung „schwankend und unsicher“ gewesen (RGASPI, Moskau
490/1/38a, 67–68).
101 Gemeint ist die Deutsche Delegation auf dem III. Weltkongress der Komintern, die angesichts der
Strittigkeit der Wiederwahl Clara Zetkins zur Generalsekretärin beschlossen hatte, vollzählig auf dem
Frauenkongress zu erscheinen (RGASPI, Moskau, 490/1/162, 40).
102 Siehe zum steilen Mitgliederverlust Dok. 43.
Dok. 48: Moskau, 18.6.1921 177
Indem die deutsche Delegation diese Feststellung macht, spricht sie und nur sie
im Namen der Partei.
Deutsche Delegation.103
Dok. 48
Brandbrief Clara Zetkins an Lenin über die „verderblichen Folgen“
der Märzaktion in Deutschland
Moskau, 18.6.1921
Damit keine Missverständnisse aufkommen, die für beide Seiten peinliche Überra-
schungen zu sein pflegen und in dem vorliegenden Falle der Sache schaden würden,
um die es geht, fasse ich meine Auffassung wie folgt zusammen:
1) Der Kongress104 muss unbedingt eine unzweideutige grundsätzliche Ableh-
nung der Märzaktion aussprechen, und das sowohl wegen ihres putschistischen Cha-
rakters, wie wegen ihrer verderblichen Folgen. Die Form dafür kann eine milde sein.
Die grundsätzliche Ablehnung selbst ist unerlässlich, damit es keine Fortsetzung und
Wiederholung gibt.
In dem Sammelwerk der Zentrale: „Taktik und Organisation der Revolutionären-
Offensive. Die Lehren der Märzaktion“,105 wird offiziell wörtlich erklärt:
„So entscheidend die März-Aktion mit der Vergangenheit der revolutionären Par-
teien in Deutschland brach usw.
„ [...] Dringen diese Gedanken tief in das Bewusstsein der Massen ein, dann wird
die Märzaktion keine abgeschlossene Episode bleiben. Die Märzaktion als Einzel-
handlung der Partei wäre – soweit haben unsere Gegner recht – ein Verbrechen am
Proletariat. Die Märzoffensive als Einleitung einer Reihe von sich steigernden Aktio-
nen ist eine erlösende Tat.“
Ich wünsche, Sie hätten die Zeit, das Sammelwerk zu lesen oder sich darüber
ganz objektiv referieren zu lassen.106 Es ist ein Spiegel der grundsätzlichen Konfu-
sion und der politischen Unfähigkeit der Zentrale. Es ist begreiflich, dass sie es nicht
veröffentlichen will. Ich könnte keiner Resolution zustimmen und keine Erklärung
abgeben, dahingehend, dass ich mich von Genossen Levi politisch „desolidarisiere“
und ihn desavouiere.107
Ich kann nur erklären, was ich vor Zehntausenden von Arbeitern in öffentlichen
Versammlungen gesagt habe, die darauf in keiner einzigen einen Protest oder eine
Missbilligung gegen meine Stellungnahme beschlossen haben.
Ich bin solidarisch mit der grundsätzlichen politischen Einschätzung und Kritik
der Märzaktion durch Genossen Paul Levi, aber ich unterschreibe nicht jedes Wort
seiner Broschüre108 und teile nicht jedes einzelne Urteil.
Ich halte es nach wie vor für notwendig und nützlich, dass Gen. Levi’s Kritik
sofort nach Abschluss der Märzaktion einsetzte, weil die Fortsetzung der Aktion ange-
droht wurde.
Ich bin überzeugt, dass Gen. Levi von der leidenschaftlichen Sorge um die Gegen-
wart und Zukunft der Partei bestimmt wurde, seine Broschüre zu schreiben.
Eine Fortsetzung der Taktik der Märzaktion würde den völligen politischen,
moralischen und organisatorischen Zusammenbruch der Partei bedeuten und die
dauernde Abkehr der proletarischen Massen von ihr. Und das in einer Situation, die
wirklich nach Aktion, nach Tat „schreit“. Das ist für mich ja das grosse Verbrechen
der Zentrale, dass sie in einseitiger politischer Einstellung, die die wichtigsten Rea-
litäten übersah, nicht sehen wollte, aus theoretischen Spekulationen am Schreib-
tisch heraus, in Aktionsspielerei die Kraft zerrüttet und gelähmt hat, die in Aktionen
wirksam und vorwärtstreibend werden musste und auch konnte, wenn sie durch poli-
tische Mittel ausgelöst wurde und nicht durch terroristische Räuberromantik.
Gestern war Sinowjew bei mir. Leider konnte ich nicht alles mit ihm besprechen.
Er teilte mit, dass die russische K.P. eine Resolution vorschlagen werde in diesem
Sinne: die Märzaktion sei kein Putsch, sondern eine Defensive mit vielen Fehlern,
sie sei eine Einzelaktion und nicht der Ausgangspunkt einer neuen Ära revolutionä-
rer Taktik und Offensive. Für uns ist diese Resolution unannehmbar. Der Putsch cha-
rakterisiert sich nicht – wie S[inowjew] behauptet – durch seinen kleinen Umfang,
sondern durch sein Wesen: die Geschichte mit terroristischen Mitteln zwingen, die
Massen durch solche Mittel in den Kampf treiben zu wollen, was praktisch zum Kampf
einer Minderheit gegen die proletarischen Massen führt. Auch die Feststellung genügt
nicht, dass bei der Aktion viele Fehler vorgekommen sind. Worauf es ankommt, ist die
Erkenntnis davon, dass diese Fehler unvermeidliche Folgen der falschen politischen
Grundeinstellung und der falschen Führung des Kampfes waren. Uns kommt es nicht
107 Am 4.6. schrieb August Thalheimer aus Moskau an die Zentrale der KPD: „In der Frage der März
aktion stehen die russischen Genossen, soweit ich bis jetzt feststellen konnte, durchaus auf der Seite
der deutschen Partei. Man will noch einen Versuch machen, um Klara aus der Verbindung mit Levi
und Konsorten abzuziehen, aber ich bin überzeugt, dass wir die Unterstützung der Exekutive haben
werden, wenn es sich nötig erweisen sollte, auch gegen Klara schärfer vorzugehen, als das bisher der
Fall war.“ (RGASPI, Moskau, 490/1/162, 35).
108 Siehe: Paul Levi: Unser Weg. Wider dem Putschismus, Berlin, Seehof, 1921.
Dok. 48: Moskau, 18.6.1921 179
auf eine formelle Desavouierung der Zentrale an, diese ist durch die Ereignisse selbst
genug desavouiert und gestraft. Aber wir weisen jede Zweideutigkeit zurück, die diese
Zentrale der politischen Unfähigkeit und Frivolität als Rechtfertigung ihrer gefähr-
lichen Torheit ausnützen könnte und würde. Denn was ihr an politischer Fähigkeit
mangelt, ersetzt sie durch Eitelkeit, Rechthaberei und Gemeinheit.
Die russischen Genossen müssen beachten, dass das Auseinanderfallen der
Partei nur verhindert werden kann nicht etwa durch papierene Resolutionen – und
wären es die der 3. Internationale – sondern nur durch friedlich-schiedliches Zusam-
menarbeiten und Kämpfen. Das aber darf keinem Teil unmöglich gemacht werden
durch eine Formel, die der andere gegen sie kehren würde. Wir hätten dann Fortset-
zung des Streites, statt Ende. Die Zentrale wird durch die Feststellung durchaus nicht
gedemütigt, dass die Märzaktion keine revolutionäre Offensive war und nicht die Ein-
leitung einer „neuen Taktik“, nachdem der politisch einäugige König im Reiche dieser
Blinden das selbst anerkannt hat, die Aktion sei keine Offensive gewesen. Übrigens:
ich frage nach Brandlers Verteidigung vor Gericht,109 ob sie die Haltung und Auffas-
sung revolutionären Heldentums und revolutionärer Erkenntnis atmet. Juristische Sil-
benstecherei vulgärster Art, kein revolutionäres Bekenntnis von propagandistischer,
anfeuernder Gewalt. Ein gestern angekommener Genosse, der den Verhandlungen
beiwohnte, erklärte, die Darstellung der „Freiheit“ sei durchaus richtig. Die Sache
habe höchst deprimierend gewirkt. Ich möchte, Sie würden kurz mit dem Genossen
Neumann reden, Mitglied der Gewerkschaftszentrale und mit Genossen Franken,
dem Vertreter des Bezirks Rheinland-Westfalen, unseres grössten und wichtigsten
Industriegebiets.110 Er wurde trotz wütender Hetze der Zentrale und ihrer Angestell-
ten im Bezirk in Urwahl mit der höchsten Stimmenzahl gewählt. Ich muß Sie noch in
einer wichtigen Sache befragen, ehe der Kongreß beginnt. Bitte, teilen Sie mir mit,
wann und wo das geschehen kann.
Ich grüsse Sie und unsere teure Genossin Krupskaja
in treuen Gefühlen
[Sign.]: Clara Zetkin
109 Der VKPD-Vorsitzende Heinrich Brandler wurde im Juni 1921 für die Teilnahme an der Märzak-
tion zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, konnte aber im November in die Sowjetunion fliehen. Seine
allzu defensive Verteidigung vor dem Sondergericht wurde von weiten Parteikreisen missbilligt.
110 Paul Neumann und Paul Franken waren Delegierte der KPD auf dem III. Kongress der Komintern,
es kam vermutlich nicht zu einer Zusammenkunft mit Lenin.
180 1918–1923
Dok. 49
Brief der Emissärin der Geheimabteilung des sowjetischen
Politbüros an Lenin über chaotische Zustände in der KPD
[Berlin], 22.6.1921
111 Siehe zur Ankunft und der Funktion Stasovas in Deutschland Dok. 43.
112 „Reichsgewerkschaftszentrale“ im Original deutsch.
Dok. 49: [Berlin], 22.6.1921 181
beste unter den westlichen (großen) Parteien ist. Vielleicht irre ich mich ja, aber mir
scheint, dass man von hier aus kaum mit rascher Unterstützung rechnen kann. [...]
Man kann die Partei natürlich nicht ohne materielle Unterstützung lassen, doch
wenn sie sich selbständig ihren Weg bahnen müsste, würde sie sich eher zusammen-
schweißen. Ich habe versucht, die Frage aufzuwerfen, dass eine Partei im kapitalisti-
schen Staat einen Finanzapparat schaffen muss, der sie mit Mitteln versorgen würde,
die auf kapitalistischen Weg erwirtschaftet wurden (eine beliebige Handelsgesell-
schaft, Schmuggel, oder sonst irgendein Mittel zur Geldbeschaffung, einschließlich
der Spekulation). Einige Genossen haben die Bedeutung des Vorschlages verstanden,
sagen jedoch, dass sie keine passende Person hätten, die dies in die Hände nehmen
könnte; andere finden, dass dies undenkbar sei, denn man könne die Arbeiter nicht
ausbeuten, noch andere schließlich behaupten schlicht und einfach, dies sei „mora-
lisch“ unzulässig!! Anscheinend wird man auch hier etwas kämpfen müssen. [...]
Wie soll weiter verfahren werden? Es ist unerlässlich, Genossen hierher zu schi-
cken, die hier selbständig arbeiten und die Übrigen in der Arbeit unterweisen können.
Zuallererst ist jedoch die Herreise von Karl [Radek] unerlässlich.115 Schicken Sie uns
Leute, Leute und nochmals Leute. Ich bitte sehr darum, alles [von mir] Mitgeteilte zur
Kenntnis zu nehmen und uns Leute zuzuteilen.
Auf einer gemeinsamen Sitzung der deutschen Sektion der RKP(b) mit deutschsprachigen Delegierten
des III. Weltkongresses (KPD, KAPD, KP der Schweiz, KP der Tschechoslowakei) wurde am 24.6.1921
unter anderem beschlossen, die Rückkehr von Emigranten nach Deutschland zu unterstützen und
dafür ein zentrales Emigrationsbüro einzurichten.116 Am 29.6.1921 wurde das Thema weiter beraten,
unter Anwesenheit von Fritz Heckert und August Thalheimer.117
Am 25.6.1921 behandelte das Politbüro des ZK der KP Russlands wiederholt die Position Victor Kopps
als bevollmächtigten Leiter der sowjetischen Mission in Berlin, die durch Vorwürfe der Finanzspeku-
lation, die er gemeinsam mit Jakov Rejch betrieben haben soll, erschüttert war. Die entsprechenden
Anschuldigungen des Partei-Revisors Jurij Lutovinov gegen Kopp wurden vom Politbüro zunächst als
substanzlos eingeschätzt, Kopp blieb also Leiter der Mission. Lediglich der Handelsbereich wurde
Stomonjakov überantwortet.118 Desweiteren wurde am 26.6.1921 eine personelle Aufstockung der Re-
visionskommission für die Berliner Vertretung durch Krestinskij beschlossen.119
115 Radek kam vorerst nicht nach Deutschland. In einem Brief an den Jenaer Parteitag der KPD (22.–
26.8.1921) intrigierte er weiterhin gegen die Rechten und Levi, während Lenin ebenfalls in einem Brief
scharf gegen die Berliner Linke argumentierte (Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde, S.391f.;
Broué: Révolution en Allemagne. S. 543ff.).
116 RGASPI, Moskau, 17/84/166, 10–12.
117 RGASPI, Moskau, 17/84/166, 13.
118 RGASPI, Moskau, 17/3/197, 3.
119 RGASPI, Moskau, 17/3/192, 3.
Dok. 49a: Moskau, 3.7.1921 183
Am 2.7.1921 fasste das Politbüro des ZK der KP Russlands den Beschluss, dass Arkadi Maslow nicht
nach Deutschland (wo er wegen der Teilnahme an den Märzkämpfen gesucht wurde) zurückkehren
könne, bevor hierüber eine besondere Verfügung des Politbüros erlassen worden sei – Maslow war
zugleich KPD- und RKP-Mitglied.120
Dok. 49a
Tätigkeitsbericht des Zentralbüros der deutschen Sektionen beim
ZK der RKP(b) für Juni 1921
Moskau, 3.7.1921
BERICHT
ÜBER DIE TÄTIGKEIT DES ZENTRALBÜROS DER DEUTSCHEN SEKTIONEN BEIM ZK
DER RKP.121
FÜR JUNI 1921.122
Im Laufe des Monats Juni hat sich die Krise in der Tätigkeit des Zentralbüros der Deut-
schen Sektionen vertieft und ausgeweitet. [...]
120 RGASPI, Moskau, 17/3/183, 3–4. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komint-
ern, S. 88.
121 Das im April 1918 zunächst als deutsche Vertretung gegründete Zentralbüro der deutschen Sek-
tionen beim Zentralkomitee der RKP(b) vertrat seit dem Ende des Bürgerkriegs alle deutschen Sek-
tionen des ZK und war für die deutschsprachigen Zeitungen und den Ankauf der deutschsprachigen
Literatur zuständig. Entsprechend gab es auch ein Zentralbüro der deutschen Sektion des ZK des
Kommunistischen Jugendverbandes. Politisch bestimmt von den leitenden Partei- und Staatsfunk-
tionären der Russlanddeutschen war das Zentralbüro dem ZK der RKP(b)/ VKP(b), dem Zentralen
Exekutivkomitee sowie dem Rat der Volkskommissare untergeordnet. Die von ihnen ausgearbeiteten
Grundlinien wurden vom Volkskommissariat für nationale Angelegenheiten (Narkomnac) umgesetzt,
in dem eine deutsche Abteilung geschaffen wurde und „als dessen unablösbares Oberhaupt I.V. Stalin
bestimmt wurde“. (Siehe: Oleg Dehl: Verratene Ideale. Zur Geschichte deutscher Emigranten in der
Sowjetunion. Unter Mitarbeit von Natalja Mussienko. Mit einem Beitrag von Simone Barck über eine
unbekannte Bibliographie der Moskauer „Deutschen Zentral-Zeitung“. Mit einem Nachwort heraus-
gegeben von Ulla Plener, Berlin, trafo verlag, 2000 (Gesellschaft – Geschichte – Gegenwart. Schriften-
reihe des Vereins Gesellschaftswissenschaftliches Forum e. V., Berlin. 25); Sergej V. Žuravlev [Sergej
Shurawljow]: „Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion“. Das Schicksal deutscher Facharbeiter im
Moskau der 30er Jahre. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann. Redak-
tionelle Fachberatung Wladislaw Hedeler, Berlin, Christoph Links Verlag, 2003; Victor Dönninghaus:
Moskau und die Deutschen in der Sowjetunion 1917–1941. Die Politik der sowjetischen Zentralorgane
gegenüber der deutschen Minderheit. Forschungsbericht. In: Berichte und Forschungen. Bundesin-
stitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 11, München, 2003, S. 208–212).
122 Auf dem Dokument Eingangsstempel vom 4.7.1921, Aufschrift „An den Sekretär des ZK“ und wei
tere unlesbare handschriftliche Vermerke.
184 1918–1923
VERLAG.
Wie bereits in unserem Bericht für Mai geschildert wurde, beläuft sich die produktive
Tätigkeit unseres Verlags auf Null. Hier im Zentrum haben wir jegliche Möglichkeit
verloren, irgendetwas in deutscher Sprache herauszubringen. Im ganzen Monat ist
keine einzige Nummer unserer Zeitung „Die Rote Fahne“ erschienen. Alle Berichte
unserer Provinzsektionen zeichnen ein trauriges Bild völliger Uninformiertheit der
deutschen Bevölkerung als Folge der Einstellung unserer Zeitung. [...]
123 Rote Fahne, Moskau, Organ des Zentralbüros Deutscher Sektionen für Agitation und Propaganda
beim Z.K. der K.P.N., I (1919) – III (1922), halbwöchentlich, später wöchentlich. „KPN“ möglicherweise
ein Tippfehler, das Zentralbüro war beim ZK der KPR angesiedelt. Die Zeitung war zunächst für die
deutschsprachigen kommunistischen Gruppen bestimmt, die vornehmlich aus den einstigen Kriegs-
gefangenen bestanden, und warb für die Sache der Revolution in ihrer Ländern (Deutschland, Öster-
reich, Tschechoslowakei (Sudetendeutsche), deutschsprachige Ungarn usw.). Erst seit August 1920
wandte man sich gezielter den deutschen Kolonisten in Russland zu.
Dok. 49a: Moskau, 3.7.1921 185
Doch dieser Missstand wäre noch korrigierbar, wenn unsere Zeitung, wie uns
zugesagt wurde, innerhalb kurzer Frist wieder erscheinen könnte, doch wir haben
aus inoffiziellen Quellen in der Komintern erfahren, dass das gesamte Druckereiper-
sonal, das nach der Schließung unserer Zeitung von uns zeitweise der Komintern zur
Verfügung gestellt wurde, zur Erledigung von Arbeiten nach dem Kongress bis zum 1.
Januar 1922 mobilisiert bleiben soll.
OHNE SICH AUF EINE DISKUSSION ÜBER DEN WAHRHEITSGEHALT DIESER
MITTEILUNGEN EINZULASSEN, PROTESTIERT DAS ZENTRALBÜRO KATEGORISCH
GEGEN DIE WEITERE VERPFLICHTUNG UNSERER SETZER FÜR KOMINTERNARBEI-
TEN UND HÄLT DAS ERSCHEINEN UNSERER ZEITUNG ALLERSPÄTESTENS BIS ZUM
1. AUGUST FÜR ABSOLUT ERFORDERLICH.
Das Z[entral-]B[üro] setzt all seine Hoffnung auf das Z[entral-]K[omitee] und
hofft, dass das ZK das ZB in dieser Frage unterstützen wird, vor allem da dies zur
Begründung dafür gehörte, dass unser Organ gestoppt wurde und alle Mitarbeiter
unseres Verlages sowie unserer Druckerei der Komintern überlassen wurden. [...]
Im Laufe des Monats sind von uns 24.000 Exemplare der Zeitung „MOSKVA“, dem
Organ des III. Kongresses der Komintern, verteilt worden, vor allem an Immigranten
und ehem. Kriegsgefangene. [...]
ORGANISATIONSARBEIT IM ZENTRUM.
[...] Die deutsche Immigration und die Abteilung für deutsche Immigration beim
Volkskommissariat für Arbeit beanspruchen nach wie vor unsere besondere Auf-
merksamkeit. Im Zusammenhang mit dem Erhalt einer Reihe von Telegrammen aus
den Aufenthaltsorten deutscher Immigranten über die entstandenen Arbeits- und
Lebensbedingungen, die für Immigranten untragbar sind, war das ZB gezwungen,
einen prinzipiellen Beschluss zu fassen. In diesem Beschluss stellt das ZB fest, dass
die Aufnahme- und [regionale] Zuteilungsbedingungen für Immigranten keineswegs
besser geworden sind, dass sie nicht dazu in der Lage sind, sich rasch an die von uns
durchlebte Lage anzupassen, dass die Familien der Immigranten, und insbesondere
ihre Kinder schwer an mangelnder Ernährung leiden, und dass all das auf sie demo-
ralisierend wirkt, sodass sie zu einer produktiven Arbeit letztendlich nicht fähig sind,
geschweige denn zu einer bewussten Teilnahme am Aufbau des wirtschaftlichen und
industriellen Lebens in der RSFSR.
Von dem oben Aufgeführten ausgehend hat das ZB beschlossen, eine Reevakuie-
rung aller Immigranten, die einen weiteren Aufenthalt in Russland nicht wollen, für
erstrebenswert zu halten. Gleiches wird auf die Parteimitglieder ausgedehnt, die zu
einer aktiven Parteiarbeit nicht in der Lage sind, wobei diese verpflichtet sein sollen,
sich vor ihrer Abreise im ZB zu registrieren.
Die Immigration muss jedoch bis zur Schaffung besserer Bedingungen für eben
diese, und zuallererst bis zur Schaffung einer arbeitsfähigen Organisation zur deut-
schen Immigration beim Volkskommissariat für Arbeit, die in der Lage wäre, einen
Immigrationsplan auszuarbeiten und durchzuführen, ausgesetzt werden. [...]
186 1918–1923
Die Frage der hier eintreffenden politischen Immigranten muss mit den entspre-
chenden Delegationen [in] der Komintern geklärt werden, zur Frage der deutschspra-
chigen Politimmigranten sind von uns bereits Schritte zur Einberufung einer entspre-
chenden Beratung eingeleitet worden.
Mit den deutschen Delegationen in der Komintern hatten wir bereits eine Bera-
tung, die einen ausschließlich informativen Charakter hatte. [...]
Der Leiter des ZB der Deutschen Sektionen des ZK [Sign.:]: W[ilhelm] Kurz]124
Sekretär: [Sign.:] Gurko125
Dok. 49b
Brief Willi Münzenbergs an Sinowjew über seinen Einsatz für die
internationale Hungerhilfskampagne für Russland
Moskau, 3.7.1921
124 Wilhelm Kurz (1892–1938, erschossen) war Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und
damit Regierungschef der Wolgadeutschen Republik (ASSR der Wolgadeutschen), danach stellver-
tretender Bildungskommissar der RSFSR und später Vorsitzender der Aktiengesellschaft „Inturist“.
Siehe: Viktor Krieger: Der erste Geheimprozess gegen wolgadeutsche Intellektuelle. In: Jahrbuch für
Internationale Germanistik XXXVIII (2006), H. 2, S. 105–136.
125 Es handelt sich wohl um Rudolf Igantjevič Hurka (Schreibvarianten: Hurkan, Hurko, Gurko). In
den Jahren 1918–1919 Vorsitzender des Kriegsgefangenen-Komitees „III. Internationale“ in Simbirsk,
wurde Hurka im August 1920 zum Mitglied des Zentralbüros der deutschen Sektionen des ZK der
RKP(b) gewählt. Siehe: Inge Pardon, Waleri Shurawljow (Hrsg.): Lager, Front oder Heimat. Deutsche
Kriegsgefangene in Sowjetrussland 1917 bis 1920. Bd. I: Dokumente 1917 bis 1919. Vol. II: Dokumente
1920, Anhang, München-New Providence-London-Paris, Saur, 1994, S. 64, 616 u.a.
126 Der Brief Münzenbergs dokumentiert den Beginn der Internationalen Hungerhilfe für Sowjetruss-
land, die nach zwei Missernten in der Sowjetunion als kombinierte Folgen von Bürgerkrieg und Dürre
eine zentrale internationale Kampagnen durchführte. Die von Lenin und dem Politbüro der RKP(b)
sowie der Komintern nachdrücklich geförderte und von Willi Münzenberg unter der Präsidentschaft
von Clara Zetkin organisierte Kampagne wurde notwendig, als internationale Hilfsmaßnahmen nur
schleppend in Gang kamen oder mit unannehmbaren Bedingungen für die Bolschewiki verbunden
waren. In Berlin wurde ein „Auslandskomitee zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungern-
Dok. 49b: Moskau, 3.7.1921 187
Aber ich muss Ihnen kurz wegen der zeitlichen Durchführung der Aufgabe einiges
sagen.
Heute, am 3. erst kann ich Moskau verlassen. Am 5., 6. oder 7. von Reval wegfahren
und gegen den 10. in Berlin eintreffen. Hier brauche ich für die dringendsten Arbeiten
(Berichterstattung und Führungsnahme mit der Zentrale der Kommunistischen Partei
und anderer Organisationen, Organisierung unseres Büros, Gewinnung einer Reihe
literarischer Kräfte Wilhelm Herzog,127 Barthel128 etc. Verkehr mit einer Reihe bekann-
ter Persönlichkeiten etc. Einflussnahme auf die Kommunistische Presse, Sendung
von Leuten nach den einzelnen Ländern, Organisierung der Sonderausgabe der Zei-
tungen, des Sammelstages [sic] etc. zwei grosse Vorträge in Berlin, Beschaffung des
Passes etc.) doch mindestens eine Woche. Dann zwei Tage bis und in Prag, zwei Tage
bis und in Wien, drei Tage bis und in Rom und 5 Tage die Reise zurück, einige Tage in
Berlin und dann zurück. Abgerechnet der Reise Moskau-Berlin und zurück kann ich
kaum mit 14 Tagen auskommen, unmöglich aber die Reise eingerechnet. Ich werde
mich auf das grösste beeilen. Ich werde mich bei der Organisierung der Hungeraktion
auf das notwendigste beschränken und tüchtige deutsche Genossen Koennen [d.i.
Wilhelm Koenen]129 etc. einspannen, aber wenn ich trotzdem meh[r]ere Tage länger
brauchen [sollte], so zürnen Sie mir nicht. Seien Sie überzeugt, das[s] nicht mein
Wille, sondern lediglich einfache technische Unmöglichkeiten daran Schuld sind.
den in Russland“ gegründet, das vom 12.–15.9.1921 mit den in mehreren Ländern gegründeten lokalen
Komitees der Hungerhilfe eine internationale Konferenz in Berlin ab, aus der als „breite parteilose
Bewegung“ die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) hervorging (siehe Dok. 127a). An der Wiege dieser
neuartigen transnationalen kulturpolitischen Massenorganisation, die das Werk Münzenbergs war,
standen zunächst mehr Intellektuelle als Arbeiter (Zur Geschichte der IAH siehe u.a.: Willi Münzen-
berg: Solidarität. Zehn Jahre Internationale Arbeiterhilfe. 1921–1931, Berlin, Neuer Deutscher Verlag,
1931; Bayerlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution).
127 Der Schriftsteller Wilhelm Herzog (1884–1960) schloss sich 1919 der KPD an und wurde 1928 nach
Differenzen mit Münzenberg, den er als „den roten Hugenberg“ bezeichnet hatte, ausgeschlossen.
128 Max Barthel (1893–1975), Arbeiterdichter und Mitglied des Spartakusbundes, verließ 1923 die
KPD. Nach 1933 näherte er sich den Nationalsozialisten an.
129 Richtig: Wilhelm Koenen (1886–1963), einer der Hauptorganisatoren der Vereinigung des linken
Teils der USPD mit der KPD, seit Dezember 1920 Mitglied der KPD-Zentrale, leitete als Vorsitzender
den III. Weltkongress der Komintern.
188 1918–1923
Dok. 50
Anonymisiertes Schreiben [General Hans von Seeckts?] an
Außenkommissar Čičerin zur geheimen deutsch-sowjetischen
Rüstungszusammenarbeit
Berlin, 22.7.1921
Berlin, 22.7.21
130 Die Bedeutung des Briefes mag aus der Mitteilung Čičerins an Lenin vom 4.8.1921 hervorgehen,
der am gleichen Tag mit Niedermayer zusammenkam (und der deswegen nicht als Autor des Briefes
angesehen werden kann): „Einflussreichste Leute bis hin zum Kanzler waren gewonnen [die letzten
beiden Wörter in deutsch]“ (zit. in: Sergej A. Gorlow: Moskau-Berlin. Die militärpolitische Zusam-
menarbeit in der Rapallo-Periode. 1920–1933. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), 2,
S. 256–268, hier S. 260).
131 Nach ersten Kontakten Radeks bahnte der bevollmächtigte Vertreter der sowjetischen Regierung
in Berlin, Victor Kopp, zunächst über Maltzan, dann über Seeckt eine weitreichende militärische und
wirtschaftliche Anlehnung des Deutschen Reiches an Russland an, wozu auch antipolnische mi
litärische Vorbereitungen gehörten (siehe u.a.: Dok. 59 und Dok PB vom 25.6.1921; als frühe Veröffen-
tlichungen hierzu: George W. F. Hallgarten: General Hans von Seeckt and Russia, 1920–1922. In: The
Journal of Modern History XXI (1949), No. 1 (März 1949), S. 28–34).
132 Bei dem Autor dieses Briefes könnte es sich um den Chef der Heeresleitung der Reichswehr,
General Hans von Seeckt, handeln. Kurz zuvor, im Juni 1922, hatte dieser an einem Geheimgespräch
u.a. mit Reichskanzler Wirth und Reichswehrminister Geßler über die Perspektive einer verdeckten
militärischen Zusammenarbeit Deutschlands mit der Sowjetunion teilgenommen und bereits in die-
sem Sinne an Trotzki geschrieben, der auch durch Enver Pascha über die deutschen Absichten in-
Dok. 50: Berlin, 22.7.1921 189
formiert wurde (siehe Dok. 30). Für Lenin und Trotzki waren Sonderbeziehungen mit dem Deutschen
Reich zur Verhinderung einer Verständigung mit den Ententestaaten strategisch zentral, die deutsche
Seite sah vor allem ökonomische und militärischen Vorteile (Seeckt rechnete mit einem neuen Krieg
gegen Frankreich und Polen) im Sinne einer Umgehung des Versailler Vertrags, sodass beide in eine
gemeinsame längerfristige und geheime militärische Zusammenarbeit einwilligten. Zu diesem Kom-
plex siehe: Zeidler: Reichswehr und Rote Armee, S. 52 u.a.; Kai von Jena und Natalja E. Elisseeva
(Bearb.): Reichswehr und Rote Armee. Dokumente aus den Militärarchiven Deutschlands und Ruß-
lands 1925–1931. Herausgeben von Friedrich P. Kahlenberg, Rudolf G. Pichoja, Ljudmila V. Dvojnych.
Unter Mitarbeit von Hannsjörg F. Buck und Ivan V. Uspenskij, Koblenz, Bundesarchiv, Russischer
Staatlicher Archivdienst, 1995; Sergej Gorlov: Geheimsache Moskau-Berlin. Die militärpolitische Zu-
sammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich 1920–1933. In: Vierteljahreshefte
für Zeitgeschichte (1996), 1, S. 133–165; Olaf Groehler: Selbstmörderische Allianz. Deutsch-russische
Militärbeziehungen 1920–1941, Berlin, Vision Verlag, 1992).
133 Zu Krasins Pessimismus, der die Zusammenarbeit für beendet erklärte, bevor sie begann, siehe
Dok. 55.
190 1918–1923
Vernichten Sie bitte diese Zeilen, sobald Sie sie gelesen haben.135
Dok. 51
Sinowjew und Radek an das Politbüro des ZK der KP Russlands
gegen die Einmischungen des Außenkommissariats in
Komintern-Angelegenheiten
Moskau, 13.8.1921
Im Narkomindel136 stellt sich in letzter Zeit ein Verhältnis zur Komintern ein, das uns
der Möglichkeit beraubt, uns für die Arbeit verantworten zu können. Einige Beispiele.
1) Entgegen aller Beschlüsse und bar jeglicher Mandate erscheint Gen. Bronskij
auf dem III. Kongress [der Komintern] und fängt an, private Beratungen mit der Levi-
Gruppe abzuhalten.137
134 Unter der Koordination von Seeckts und seiner „Sondergruppe R[ussland]“ wurde Ende Sep-
tember 1921 Einverständnis mit der Politik und der Schwerindustrie (Albatros, Blohm&Voss, Krupp)
dahingehend erzielt, mit einer geheimen Produktion von Waffen in der Sowjetunion zu beginnen.
Hierzu sollten deutsch-sowjetische Aktiengesellschaften gegründet und sowjetische Konzessionen
vergeben werden.
135 Das Blatt ist unten abgeschnitten.
136 Narkomindel (NKI): russ. Narodnyj Komissariat Inostrannych del, das Volkskommissariat für aus-
wärtige Angelegenheiten.
137 Der mit Levi verbundene polnische linke Sozialist Mieczyslaw Genrikovič Brónski (Bronskij)
(Ps.), d.i. Mieczyslaw Warszawski (1882–1941) war zu dieser Zeit diplomatischer Vertreter der Sow-
jetunion in Wien, später Professor für Ökonomie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau.
Dok. 51: Moskau, 13.8.1921 191
2) Gen. Čičerin sendet zwei Depeschen an Gen. Cukerman (in der Partei seit 1918),
worin er ihn (ohne es uns mitzuteilen und uns zu fragen) in den allerreißerischsten
Termini beauftragt, die angeblichen Aventuren des Turkestan-Büros der Komintern
(Safarov, Rudzutak) zu überwachen.138 Das Resultat wird eine ungeheuere Zankerei
sein.
3) Der Botschafter in Tschechien, Gen. Mostovenko, schickt, nachdem er Beneš
Glauben geschenkt hatte, drei allerschändlichste Telegramme von höchst panischem
Inhalt. Ohne auch nur die geringsten Mandate erhalten zu haben, tritt er in Gespräche
mit den tschechischen Kommunistenführern, moniert lautstark die angebliche
Demoralisierung dieser Partei, obwohl er von der Partei nicht die geringste Ahnung
hat. Dies wird allergrößten Schaden verursachen.
4) Wir haben die Anweisung gegeben, von den Fonds, die uns noch nach dem II.
Kongress vom ZK assigniert wurden (und von uns entgegen aller Märchen nach wie
vor zusammengehalten werden), 75 Millionen Mark auszuzahlen.139 Das Geld wird
dringend gebraucht, sonst wird die Parteiarbeit stagnieren. Litvinov jedoch, ohne
jegliches Recht dazu zu haben, schreibt an seinen Agenten in Reval:140 Ich (Litvinov)
denke, dass man soviel nicht geben sollte.
Wir ersuchen das ZK, dem Narkomindel vernünftige Anweisungen zu erteilen.
Ansonsten werden wir die Verantwortung für die Arbeit niederlegen.141
138 Es handelt sich um das Nahost- oder auch Turkestaner Büro der Komintern in Taschkent bzw.
Buchara. Leiter in Taschkent war M. N. Roy, nach dem Umzug nach Buchara Ja. E. Rudzutak, der seine
diesbezüglichen Befugnisse jedoch an eine andere Person weitergeben konnte. Im Herbst 1922 wurde
ein einheitlicher „Ostsektor“ des EKKI gebildet, der über drei Abteilungen (Naher Osten, Mittlerer
Osten, Ferner Osten) verfügte. Zu dieser Zeit entstand der allgemein negativ besetzte Begriff „Turke-
staner“ für den Komintern-Delegierten, zuerst für die „Turkestani“ verwendet, die wie Heller, Broj-
do und Béla Kun (1920) auch nach Turkestan geschickt worden waren. Siehe: Lazitch/Drachkovitch:
Lenin and the Comintern, S. 488; Bayerlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution.
139 Litvinov sperrte sich gegen die Auszahlung der 75 Millionen. Die Überweisung einer Gesamt-
summe in Höhe von 75.000.000 Mark, darunter 50.000.000 aus dem sog. „Frankfurter Fonds“ zur Fi-
nanzierung der kommunistischen Parteien auf Veranlassung von Sinowjew wurde wenige Tage später
von Thomas (Ps.), d.i. Jakov Rejch, quittiert (siehe Dok. 52a).
140 Reval: Alte Bezeichnung der estnischen Hauptstadt Tallinn.
141 Den angeführten Brief von Sinowjew und Radek an das Politbüro vom 13.8. sowie den Brief Čičer-
ins an Molotov vom 14.8. (siehe folgendes Dokument) übergab Letzterer zur Kenntnisnahme an Lenin,
der auf Molotovs Begleitbrief folgende Randnotiz schrieb: „Meiner Meinung nach sollen Sinowjew
und Čičerin periodische Informationsberatungen abhalten und der Zwischenfall soll als ‚abgeschlos-
sen‘ betrachtet werden“ (weiter unten Vermerk Molotovs: „Auf die Tagesordnung des PB V.M. 23/
VIII.“ Siehe: RGASPI, Moskau, 2/2/824, 1).
192 1918–1923
Dok. 52
Brief Čičerins an Vjačeslav Molotov zu den Vorwürfen, die Arbeit
der Komintern zu behindern
Moskau, 14.8.1921
An Gen. Molotov
Verehrter Genosse,
Aus den von Gen. Sinowjew und Radek aufgeführten Fakten lässt sich keinerlei
[besondere] Linie des NKID gegenüber der Komintern ableiten. Von den Beratungen
des Gen. Bronskij mit der Levi-Gruppe höre ich zum ersten Mal, und irgendwelche
persönlichen Taktlosigkeiten seinerseits stehen in keinerlei Bezug zur Linie des NKID.
Die Valuta-Operationen von Gen. Litvinov sind dem NKID nicht untergeordnet; der
Rat der Volkskommissare hat ihn persönlich an die Spitze aller Valuta-Operationen
der Republik gestellt, ohne jegliche Verbindung zum NKID. Es ist vollkommen klar,
dass im gegebenen Falle das Litvinov zur Last gelegte Telegramm von wie auch immer
gearteten Valuta-technischen Überlegungen motiviert ist. Leider kann auch die Kom-
intern nicht unabhängig von den Bedingungen der Valuta-Technik agieren. Jedenfalls
hat es mit dem NKID nicht das Geringste zu tun. Gen. Mostovenko unterrichtet die
sowjetische Regierung in seinen von Sorge erfüllten Chiffretelegrammen über seine
Unterredung mit tschechischen Ministern, die seiner Meinung nach eine Gefahr für
die Sowjetrepublik entdeckt haben. Er mag geneigt sein, die Gefahr zu überschät-
zen – das ist seine persönliche Charaktereigenschaft. Wenn er um die Sicherheit der
Sowjetrepublik, der Zitadelle der Weltrevolution, besorgt ist, dann ist er verpflichtet,
dies der Sowjetregierung mitzuteilen. Ein Militärbündnis zwischen der Tschechoslo-
wakei und Polen wäre für uns eine ernsthafte Bedrohung. Der ständige Vertreter hat
die Pflicht, uns über jegliche Gefahr zu informieren. Die Sorge um die Sicherheit der
Sowjetrepublik, der Zitadelle der Weltrevolution, kann man nur dann schändlich
finden, wenn man von einer Anti-Brest-Position142 der Gleichgültigkeit gegenüber
dem Bestehen oder Nichtbestehen der Sowjetrepublik ausgeht. Es wäre ein Verbre-
chen gegenüber der Sicherheit der Sowjetrepublik, der Zitadelle der Weltrevolution,
den ständigen Vertretern, die eine wie auch immer geartete Gefahr für uns gesichtet
haben, den Mund verbieten zu wollen. Sollte jedoch Gen. Mostovenko irgendwelche
für die Komintern schädlichen Verhandlungen mit den Führern der tschechischen
kommunistischen Parteien geführt haben, so sollte das EK der Komintern dem NKID
142 Gemeint ist die Position Bucharins und des linken Flügels der RKP(b) im Zusammenhang mit
dem Brest-Litowsker Friedens zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland, der auf die Idee
des „revolutionären Krieges“ bestand.
Dok. 52: Moskau, 14.8.1921 193
143 Vermutlich bezieht sich Čičerin auf die bereits auf dem 1. Kongress der Völker des Ostens in Baku
(1.–7.9.1920) gescheiterten, rein rhetorischen Vorstellungen einer revolutionären Vereinigung mit
den Muslimen im Rahmen eines gemeinsamen, in erster Linie gegen den britischen Imperialismus
gerichteten, „heiligen Krieges“. Das Scheitern von Baku kann insofern seitens der russischen Diplo-
matie als Einschnitt im Sinne einer Rückkehr zur Realpolitik gesehen werden (siehe: Stephen Blank:
Soviet Politics and the Iranian Revolution of 1919–1921. In: Cahiers du monde russe et soviétique XXI
(1980), 2, S. 173–194). Für die Komintern war er Sinnbild der internationalistischen, revolutionären
Ausrichtung im Sinne der erweiterten Perspektive „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker,
194 1918–1923
bezeichnen – das ist wahrhaft schändlich. Falls die Komintern nicht eine Anti-Brest-
Positionen einnimmt, stimmen unsere Linien überein und es fehlt nur ein Kontakt
zwischen uns. Die Mitglieder des Kollegiums des NKID sind nicht mehr Mitglieder des
EK der Komintern und dürfen es nicht mehr sein, gleichzeitig jedoch ist der Kontakt
zwischen unseren Organisationen völlig zusammengebrochen. Meine Versuche der
Kontaktaufnahme zu Gen. Kobeckij waren ergebnislos. Es ist unverzichtbar, informelle
Treffen zwischen den Kollegiumsmitgliedern des NKID und den leitenden Mitgliedern
des EKKI zu veranstalten, auf denen Informationen, Beschwerden und Wünsche aus-
getauscht werden könnten, damit die internationale Politik der RSFSR und der Kom-
intern sich nicht mehr in einem antagonistischen gegenseitigen Verhältnis fortsetzen.
Dok. 52a
Schreiben von Rejch an Sinowjew über den Erhalt des „Frankfurter
Fonds“
[Berlin], 19.8.1921
Gen. Sinowjew.
W[erter] G[enosse.] In Beantwortung Ihrer telegraphischen Anfrage vom 16.8. bestä-
tige ich hiermit den richtigen Empfang folgender, laut moskauer Beschlüsse zur Ver-
fügung gestellter Summen:
50 Millionen deutsche Mark als Frankfurter Fonds mit alleinigem Verfügungs-
recht des Vorsitzenden der K.I. Gen. Sinowjew,144
vereinigt euch!“ (siehe: John Riddell (Hrsg.): To See the Dawn. Baku. 1920. First Congress of the Peo-
ples of the East, New York u. a., Pathfinder, 1993. (The Communist International in Lenin’s Time)).
144 Am 8.1.1921 beschloss das Kleine Büro der Komintern, „beim Gen. T[homas] einen interna-
tionalen Komintern-Fonds“ einzurichten, der der Verfügungsgewalt des Büros unterstehen sollte
(RGASPI, Moskau, 495/2/3, 1 Rücks.). In diesen Fonds wurden unter Einweihung von Elena Staso-
va 50.000.000 Reichsmark eingezahlt, über deren Verwendung Sinowjew in Übereinstimmung mit
den Entscheidungen des Kleinen Büros Auszahlungen verfügte. „Die Auszahlung der Fondsgelder
wurde vom Politbüro der russischen Partei, genauer durch eine aus Lenin, Trockij und Zinov’ev beste-
hende Kommission kontrolliert.“ (Wehner/Vatlin: „Genosse Thomas“, S. 11). Kernpunkt war die Fi-
nanzierung der kommunistischen Parteien Mittel- und Westeuropas (siehe: Genis: Nevernye slugi,
S. 534–535, mit Berufung auf den Beschluss des Kleinen Büros; Aleksandr Vatlin: Komintern. Idei,
rešenija, sud’by, Moskva, ROSSPEN, 2008, S. 292–293 (mit Berufung auf einen Politbüro-Beschluss
ohne Quellenangabe)).
Dok. 53: Berlin, 23.8.1921 195
folgende Beträge, die zusammen, abhängig vom Tageskurs eine Summe von 25
Millionen ergeben:
£ 15.750
£ 18.263, 12
Schwed. Kr. 296.251, 17
“ “ 378.984, 22
“ “ 224.764, 61
Die Realisation dieser Beträge ist im Gange und findet keine unerhebliche Schwierig-
keiten infolge des Umstandes, dass die von uns benützte Firma keinen Umsatz auf-
weist.
Dok. 53
„Clara Zetkin ist endgültig umgefallen!“: Brief Paul Levis an
Mathilde Jacob
Berlin, 23.8.1921
Typoskript in deutscher Sprache (Abschrift). Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, Fonds Levi,
Mappe Nr. 43. Veröffentlicht in: Ament-Jones: Paul Levi and the Comintern, S. 447.
Reichstag
Berlin NW, den 23.8.192[1]
Liebe Mathilde,
also Klara [Zetkin] ist endgültig umgefallen.145 Nicht nur uns hat sie verraten, sie hat
die Sache gleich konsequent gemacht und auch noch Trotzki verraten indem sie heute
eine Resolution angenommen hat, – von Maslow bis Clara [Zetkin] – in der die Trotz-
kische Auffassung vom Märzputsch zurückgewiesen wird. Das war selbst Malzahn
und Neumann zu bunt: sie haben sich wieder von Clara getrennt. Ich wünsche Dir
gute Reise und werde das noch öffentlich tun; wir werden morgen wieder ein Extra-
blatt herausgeben wie das beigefügte.
145 Auf dem Jenaer Kongress der KPD stimmte Clara Zetkin, nachdem sie zunächst ihren Protest
bekundet hatte, gleichwohl dem von der Linken vorgelegten Resolutionsentwurf zu, der die Kritik
an der Märzaktion zurückwies. In der neugewählten KPD-Zentrale blieb sie gleichwohl die einzige
Vertreterin der Opposition. Alle Verantwortlichen der Märzaktion wurden zu Mitgliedern der Zentrale
gewählt (siehe hierzu: Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde, S. 395f.).
196 1918–1923
Am 25.8.1921 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, Victor Kopp als „Hauptbevollmäch-
tigter des Roten Kreuzes für Berlin und umliegende Länder“ nach Deutschland zu entsenden, wohl im
Zusammenhang mit den geheimen Rüstungsverhandlungen mit Deutschland.146
Dok. 54
Hermann Schüller an die Komintern zur Situation und den
Perspektiven des Arbeitertheaters der Weimarer Republik
Berlin, 29.8.1921
AN DIE
GENOSSEN DES KLEINEN BUEROS DER EXEKUTIVE DER K.I.
BETR. PROLETARISCHES THEATER – BERLIN (KOMM.PROP.BUEHNE)147
BESTAETIGUNG.
Moskau, den 4.8.1921.
Hiermit bestaetige ich, dass ich das ausserordentliche interessante Material, dass die
Taetigkeit des deutschen pro[letarischen] Theaters charakterisiert, und mir von Gen.
Schüller zur Verfuegung gestellt wurde, durchgesehen habe. Die gesamte Arbeit, die
vom Genossen Schüller und seinen Freunden geleistet worden ist,148 erscheint mir
2) Warum an E.K.K.I.?
Lunatscharsky hebt int[ernationale] Bedeutung der Arbeit vor: literarische Produk-
tion, intern[ationaler] Spielplan, Prop[aganda] fuer Internationale, fuer Russland,
– kein Unternehmen der K.P.D. direkt, weil sie Arbeiterverein Mitglieder aus allen
rev[olutionären] Organisationen.
3) Zweck:
PROP[AGANDA] DURCH BUEHNENPropaganda zu besonderen Anlaessen: Jus-
tizschande, Inhaftierten-Unterstuetzung, russ[ische] Hungersnot, Einigkeit der
rev[olutionären] Arbeiter, Satire der U.S.P.D., der Revolutions-Romantiker, der Kor-
ruption der Bourgeoisie, der Verbuergerlichung mancher Arbeiter usw.
Gegen: Verseuchende Wirkung Vorstadtbuehne und fuer Propaganda proletari-
sche Diktatur.
Ueber Propaganda des Tages hinaus.
Ausbau zu einer kommunistischen Kunstbuehne, zur Gewinnung von Intellektu-
ellen (Rev[olutionäre] Literatur aller Laender, Gorki,149 Lunatscharski, Rarolland [d.i.
Romain Rolland],150 Shaw,151 Georg Kayser [d.i. Kaiser]152 u.a.).
Fähnders, Martin Rector: Literatur im Klassenkampf, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 1974,
S. 187.
149 Maksim Gor’kij (Ps.), d.i. Aleksej Maksimovič Peškov (1868–1936), kam aus den ärmsten Verhält-
nissen und wurde seit dem Ende der zwanziger Jahre zum berühmtesten Schriftsteller der Sowjet
union und zu literarischem Aushängeschild Stalins.
150 Der französische Schriftsteller Romain Rolland (1866–1944) wurde 1915 mit dem Literatur-Nobel-
preis ausgezeichnet und war als Pazifist ein früher intellektueller Weggenosse der kommunistischen
Bewegung.
151 George Bernard Shaw (1856–1950), Dramatiker, Kritiker und Nobelpreisträger für Literatur 1925,
war ein engagiertrer Sympathisant der Sowjetunion, auch während der dreißiger Jahre.
152 Georg Kaiser (1878–1945) war ein deutscher expressionistischer Dramatiker, dessen Schauspiele
bis 1933 äußerst populär waren.
198 1918–1923
153 „Rußlands Tag“ war ein frühes Theaterstück für die Komintern als Dritte Internationale (Pre-
miere vermutlich im Oktober 1920). Es zeigt den Werdegang eines deutschen Arbeiters, der in einer
kollektiven Aktion zur Durchbrechung der Isolation Deutschlands die Schlagbäume an den Grenzen
im Westen und im Osten und die Pläne einer Zerschlagung der Sowjetunion durchkreuzt. Von John
Heartfield stammte die Bühnendekoration in Form einer überdimensionalen Landkarte.
154 Die Wanderbühne war entschieidende Voraussetzung für die Verbreitung des Arbeitertheaters,
sie wurde in der in der späteren Agitprop-Theaterbewegung zur Regel.
Dok. 54: Berlin, 29.8.1921 199
Stuecke: „WIE LANGE NOCH“? – DIE KANAKER“155 (ins Russ. uebersetzt. „ROTE
SOLDATEN“) Upton Sinclair: Prinzhagen156 ins Russ. uebersetzt. DIE MASCHINEN
ERICH MUEHSAM „JUDAS“157 ins Russ. uebersetzt. GORKI „DIE FEINDE“ u.s.w.158
Aus dem russ. zu uebersetzen: LUNATSCHARSKY, GORKI u.s.w.
AUS DEM FRANZOESISCHEN: VERHAEREN: „MORGENROETHE“ (in Russland
aufgefuehrt).159
Propagandastuecke zu schreiben, und aus dem Russischen zu uebersetzen,
geuebte Schriftsteller vorhanden, konzentriert um den Malich-Verlag).160
8) Finanzielles: 100.000 Mark bei regelmaessigem Spiel, festen Raum. Unkosten, Ein-
nahme bei 700 Besuchern a 5 Mark 105.000 Mark
Zur Unterstuetzung noetig: Eine einmalige Summe zum Ausbau (Buero, Ange-
stellte, Propagandamaterial, Scheinwerfer, Lichtbildapparat, Fundus, Proben, Hono-
rare fuer Schriftsteller, Pacht) und Zusage der Deckung eines evtl. Defizits bei groes-
seren Veranstaltungen zu billigem Eintritt oder Frei.
155 Franz Jung: Wie lange noch? Zwei Schauspiele, Berlin, Malik-Verlag, 1921.
156 Es handelt sich um das Stück von Upton Sinclair (siehe: Upton Sinclair: Prinz Hagen. Phantas-
tisches Schauspiel in vier Aufzügen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hermynia zur Mühlen,
Berlin, Malik-Verlag, 1921 (Sammlung revolutionärer Bühnenwerke, 1)).
157 Erich Mühsam: Judas. Arbeiter-Drama in fünf Akten, Berlin, Malik-Verlag, 1921. Revolutionsdra-
ma, das u.a. die Novemberrevolution und die Münchner Räterepublik zum Gegenstand hat.
158 1906 entstandenes Stück Maksim Gorʼkijs. Hintergrund der Handlung ist die Russische Revolu-
tion von 1905 und die Hoffnung auf den erfolgreichen Klassenkampf der Arbeiter.
159 Es handelt sich um das Stück: Emile Verhaeren: Die Morgenröte. Drama in 4 Aufzügen. Einzig
berechtigte Übertragung in die deutsche Sprache von Eugen Gürster, Breslau, Süd-Ost-Deutscher Ver-
lag, 1925. Verhaeren (1855–1916) war ein belgischer Schriftsteller, Lyriker und Anwalt. Sein Stück (im
Original „Les Aubes“) erschien 1898. Der im 1. Weltkrieg engagiert pazifistische Schriftsteller war u.a.
von Gide, Rilke und Stefan Zweig hochgeachtet.
160 D.i. der Malik-Verlag.
161 Karl August Wittfogel: Rote Soldaten. Politische Tragödie in fünf Akten, Berlin, Malik-Verlag,
1921. Karl August Wittfogel (1896–1988) war Schriftsteller, Historiker, Sinologe und Feuilletonchef der
Roten Fahne.
200 1918–1923
[sign.]: H. Schüller.
Am 31.8.1921 beriet das Politbüro des ZK der KP Russlands Maßnahmen über die „spezielle Arbeit“ in
Berlin und verfasste entsprechende Instruktionen an Victor Kopp.163
Am 21.9.1921 erfolgte ein Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands über die „polnische Fra-
ge“. Dabei wurde zum Einen der Vorschlag Čičerins für eine (am nächsten Tag verschickte) Protest-
note an die polnische Regierung angenommen, die unter anderem gegen den Aufenthalt „weißer“
Streitkräfte auf polnischem Territorium gerichtet war. Im weiteren Punkt wurden Trotzki und Čičerin
damit beauftragt, die „diplomatischen Maßnahmen“ von Krasin in Berlin und Karachan in Polen
zu beschleunigen. Ersterer verhandelte gemeinsam mit Kopp mit deutschen Militärs über geheime
deutsch-sowjetische Rüstungskooperation, Letzterer verhandelte in Polen über die Umsetzungsmo-
dalitäten des Rigaer Friedens.164
162 Proletkult und Clarté waren die ersten künstlerisch-literarischen Organisationen im Umkreis der
Komintern. 1920 erfolgte die Bildung eines „Provisorischen Internationalen Büros für Proletkult“ für
die bereits 1918 gegründete Proletkult-Bewegung nach einem entsprechenden Beschluss des II. Welt-
kongresses der Komintern. Als Mitglieder bestimmt waren A. Lunačarskij, V. Poljanskij, W. Herzog,
M. Barthel, J. Reed und R. Lefèbvre. Der Proletkult wurde dann von Lenin und führenden Bolschewiki
aufgrund seiner sektiererischen Alleinvertretungsansprüchen als fortschrittliche Literatur und einer
gewissen antikulturellen Haltung (was die internationale kulturelle Tradition betrifft) nicht mehr
akzeptiert (Bayerlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution; vgl. Barck/Schlen
stedt/Bürgel: Lexikon der sozialistischen Literatur, S. 223f.).
163 RGASPI, Moskau, 17/3/195, 1.
164 APRF, Moskau, 03/64/644, 29. Publ. in: Sevost’janov: Moskva-Berlin, I, Dok. 21.
Dok. 55: Berlin, 26.9.1921 201
Dok. 55
Bericht Leonid Krasins an Lenin über die Verhandlungen mit
deutschen Industriellen und Financiers in Berlin zur geheimen
militärischen Zusammenarbeit
Berlin, 26.9.1921
Streng geheim.
(Es werden an niemanden Kopien verschickt).165
165 Auf der ersten Seite handschriftlicher Vermerk Lenins: „Streng geheim. Nur an Mitglieder des
Politbüros. An mich zurückgeben. Len[in].“ Auf der linken Seite Sichtvermerke von Trotzki, Molotov,
Kamenev, Stalin und Čičerin.
166 Am Tag zuvor sandte Leonid Krasin, der 1920–1924 sowjetischer Volkskommissar für Handel
war, einen ebenfalls streng geheimen Brief aus Berlin an Lenin, in dem er über die Verhandlungen
mit deutschen Industriellen zum Wiederaufbau ziviler Fabriken in Petrograd berichtete. Am 2.3.1921
machte der Vorsitzende des Rates für Außenhandel der Sowjetunion, Leonid Krasin, den Vorschlag
an das Auswärtige Amt, “daß Deutschland auf russischem Boden mit der Einrichtung einer Fabrik zur
Konstruktion von Flugapparaten beginne.“ Im Laufe des Jahres wurden daraufhin Pläne geschmiedet
und Kontakte zu deutschen Firmen wie Blohm & Voss, Albatroswerke, Krupp und Junkers geknüp-
ft, unter Beteiligung Neumanns alias Oskar Ritter von Niedermayer und von russischer Seite Victor
Kopp im Auftrag Trotzkis. Ein Geheimvertrag zur Aufnahme der Militärflugzeugproduktion in Fili bei
Moskau unter Beteiligung der Junkers-Werke kam am 15.3.1922 zustande (Olaf Gröhler: Selbstmörderi-
sche Allianz. Deutsch-russische Militärbeziehungen 1920–1941, Berlin, Vision Verlag, 1992, S. 31–34).
167 Krasin sah die Erfolgsaussichten grundsätzlich pessimistisch, das von ihm festgestellte Ende der
geplanten militärischen Kooperation mit deutschen Industriellen trat nicht ein, allerdings bezieht er
sich hier auf einen ersten Plan, der „die Heranziehung von Bankiers, Unternehmern u.a.“ beinhaltete
(s.u.). (siehe: Dok. 59; Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 310–312). In einem Brief an
Trotzki vom 30.11.1921 machte Lenin auch gegenüber Reserven von deutscher Seite deutlich, dass Kra-
sin nur aus taktischen Gründen gezwungen gewesen sei, nett zu den Engländern zu sein: „Man sollte
Hartwig (und die anderen Deutschen) klipp und klar fragen: Was wollen Sie von uns? einen Vertrag
ohne England? Mit Vergnügen! Legen Sie schnellstens einen Entwurf vor, und wir unterschreiben.
Bisher haben die Deutschen nur geredet.“ (Lenin: Briefe, Bd. 9, S. 44).
168 Oskar von Niedermayer (1885–1948, Ps.: „Neumann“), eine Art “deutscher Lawrence von Ara-
bien“ (Groehler), im Ersten Weltkrieg deutscher Spion in Asien, leitete im Sommer 1921 eine Erkund-
ungsmission deutscher Militärexperten betreffs des Aufbaus von Rüstungsfabriken in Petrograd mit
202 1918–1923
Mit den Erbsenzählern und Geizhälsen aus den Wirtschafts- und Finanzkrei-
sen, die von England eingeschüchtert werden und sich jetzt mit ihm gut stellen
wollen, werden wir in Militärangelegenheiten nichts ausrichten können. Wenn die
Militärspezialisten aus Deutschland und überhaupt alle, die ernsthaft an Revanche
denken, endlich zu dem auf der Hand liegenden Schluss gekommen sind, dass man
im Inneren Russlands unverzüglich Rüstungsfabriken und -betriebe aufbauen muss,
und wenn sie bereit sind, für diese Angelegenheit eine Menge Geld zu Verfügung zu
stellen, dann kann man sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt an die Organisierung
einer zwar nicht zu großen, aber gut aufgestellten Rüstungswirtschaft in Russland
nach einem von den Militärs streng umrissenen technischen Programm machen. Das
heißt beispielsweise: Die Ausstattung von so und so viel Hunderttausend Mann mit
den allermodernsten Geschützen, Waffen, Flugzeugen usw.
Der Plan muss völlig unabhängig von irgendwelchem Kommerz, von irgendwel-
chen Kalkülen, einen Gewinn zu erzielen, „zu verdienen“, die Wirtschaft anzukur-
beln usw. verwirklicht werden. Hier muss großzügig Geld ausgestreut werden, wobei
nach einem bestimmten Plan gearbeitet wird, nicht für den kommerziellen Gewinn,
sondern zur Erlangung nützlicher Güter – Pulver, Patronen, Geschosse, Geschütze,
Flugzeuge usw. Ein kommerzielles Gehirn kann eine solche Fragestellung nicht
bewältigen; die Militärs jedoch, die eine Befreiung vom Joch der Entente wünschen,
müssen eine solche Idee begrüßen und einen entsprechenden Goldfonds für ihre Ver-
wirklichung ausfindig machen, zum Beispiel indem sie eine bestimmte Summe von
den viele Milliarden umfassenden Reparationen an Frankreich abzweigen.169 Wie das
zu bewerkstelligen ist, ist Ihre Sache – sobald Sie jedoch das Geld und den Arbeitswil-
len besitzen, werden Sie einige Jahre später haben, was Sie brauchen.
Die Angelegenheit muss so organisiert werden, dass sie vor England völlig verbor-
gen bleibt. Der einzige Weg, dies zu bewerkstelligen, ist der, dass die gesamte Arbeit
von der Sowjetregierung selbst geleistet werden muss, und zwar so, als ginge es um
die vollkommen begreifliche und selbstverständliche Versorgung der Roten Armee,
die zumindest teilweise Wiederherstellung der russischen Rüstungswirtschaft, des
Munitionswesens, der Artillerie usw. Es ist mehr als selbstverständlich, dass die Sow-
jetregierung bestrebt ist, die Fabriken, die die Rote Armee versorgen, aus den Ruinen
wiederaufzurichten. Und selbst wenn die Entente über ihre Spione davon erfährt,
dass wir die Munitionsfabriken wiederaufbauen, den Flugzeugbau organisieren, die
Herstellung von Geschützen in Permʼ wiederaufnehmen usw., so liegt hierin nichts
Unbegreifliches, und die einzige Frage wird lediglich lauten, woher die Bolschewiki
das Geld nehmen. Aber auch hier gibt es nichts Geheimnisvolles – das Geld kommt
deutscher Hilfe. Im Dezember schied er offiziell aus der Reichswehr aus, um bis 1932 von Moskau aus
die geheime Rüstungszusammenarbeit der Reichswehr mit der Sowjetunion zu leiten.
169 Die in Paris im Januar 1921 erhobenen Forderungen der Entente beliefen sich auf 269 Milliarden
Goldmark, die aufgrund der kategorischen Ablehnung der Reichsregierung im Mai 1921 auf 132 Mil-
liarden reduziert wurden (nach heutigem Standard etwa 700 Milliarden EURO).
Dok. 55: Berlin, 26.9.1921 203
aus der Kürzung anderer Staatsausgaben, aus den Resten des Goldvorrats, aus den
Valuta, die durch den Verkauf von Wertgegenständen erworben wurden, aus dem
Export von Waren usw. usf.
Das Geld, das wir für die Verwirklichung dieses Programms erhalten werden,
wird von Volkskommissariat für Finanzen auf das Konto eines entsprechenden Mili-
tärtrusts (siehe weiter unten) überwiesen, und wird dann genauso wie alle anderen
sowjetischen Gold-Anweisungsscheine ausgegeben. Es wird hier keinerlei gesonderte
Verträge mit ausländischen Firmen geben, die das Misstrauen der Entente erregen
könnten, sondern lediglich die Heranziehung ausländischer Spezialisten für unsere
Fabriken, was mit der Zeit auch in anderen Bereichen unserer Industrie erfolgen
wird; außerdem wird es Bestellungen von Materialien im Ausland geben – wieder
eine völlig normale Erscheinung. Es wird keine direkte und aktive Beteiligung deut-
scher Firmen an dieser Angelegenheit geben, und außer im Falle eines unmittelba-
ren Verrats in unseren Reihen wird die Entente nichts beweisen oder klären können.
Unbestimmte Vermutungen werden hingegen weder für uns, noch für die Deutschen
eine Gefahr darstellen.
(Um Missverständnissen vorzubeugen, weise ich darauf hin, dass von deutscher
Seite nur die leitenden Personen im Generalstab von der neuen Sachlage wissen.)
Der oben dargelegte Plan hat Neumanns [d.i. Oskar von Niedermayer] völlige
Zustimmung, und er versprach, ihn unverzüglich der Leitung zu übermitteln sowie
ein Treffen von mir mit den leitenden Personen des Generalstabs anzuberaumen.
Gestern hat dieses Treffen stattgefunden. Es waren zwei Oberste und ein General
anwesend (deren Namen ich nicht nenne), die sich dem oben dargelegten Plan ange-
schlossen und ihm jede mögliche Unterstützung zusichert haben.170
Auf der gestrigen Sitzung haben wir für die weiteren Arbeiten den folgenden Plan
ausgearbeitet.
Die Deutschen müssen von ihrer Seite Folgendes in die Hand nehmen.
Die erste und wichtigste Aufgabe ist es, Geld ausfindig zu machen. Wir haben
erklärt, dass die Verwirklichung des Programms viele Millionen Gold[rubel] verlan-
gen würde, [...]. Russland kann keine Kopeke Gold beisteuern, und deswegen stehen
die Deutschen in der Pflicht, einen für die Verwirklichung des Programms notwendi-
gen Goldfonds aufzutreiben. Alle vier anwesenden Offiziere waren damit völlig ein-
verstanden und versprachen, sich sofort an die Arbeit zu machen. [...]
Weiter müssen die Deutschen den Umfang der Bestellung festzulegen, also
die Anzahl von Geschützen, Patronen, Flugzeugen, die für die Ausstattung einer
bestimmten Armee produziert werden müssen.
170 Gröhler zufolge trafen sich „unter strengster Geheimhaltung Niedermayer, Hauptmann Fritz
Tschunke, Oberst Otto Hasse, General Wilhelm Schubert, der später bei Junkers angestellt wird, und
General Kurt von Schleicher, später letzter deutscher Reichskanzler vor Hitler, in Berliner Privatwoh-
nungen mit Krasin und Kopp“ (Gröhler: Selbstmörderische Allianz, S. 32f.)
204 1918–1923
171 Der Rat für Arbeit und Verteidigung (russ. Sovet Truda i Oborony, STO) beim Rat der Volkskom-
missare (1920–1937) war unter anderem für die Rüstungsindustrie zuständig.
172 VSNCh (russ. Vysšij Sovet Narodnogo Chozjajstva), Allunions-Rat für Volkswirtschaft.
173 Die Schwierigkeiten der Bolschewiki, eine eigene Basis für die heimische militärische Produktion
aufzubauen und die Versorgung der 1920 auf über fünf Millionen angewachsenen Roten Armee zu sichern,
sind in den „Trotsky Papers“ dokumentiert. Siehe: Meijer: The Trotsky Papers, bes. Bd. II, S. 575ff. u.a.
174 Allrussische Außerordentliche Kommission (VČK), im Dezember 1917 gegründetes Staatssicher-
heitsorgan zur Bekämpfung „von Konterrevolution und Sabotage“, 1922 integriert in die „Staatliche
Politische Verwaltung“ (GPU) des Volkskommissariats des Inneren.
Dok. 55: Berlin, 26.9.1921 205
Keine deutsche Firma und nicht einmal das Auswärtige Amt darf von der Unter-
nehmung wissen. Die deutschen Generalstabsleute, mit denen wir gestern gespro-
chen haben, haben eine sehr negative Einstellung sowohl zu Financiers, als auch
zu Unternehmern sowie Vertretern der unterschiedlichen zivilen Behörden, und sie
selbst machen den Eindruck von sachkundigen Kerlen.
Der oben dargelegte Organisationsverlauf der ganzen Sache verspricht einen
viel größeren Erfolg, als der ursprüngliche Plan mit der Heranziehung von Bankiers,
Unternehmern u.a. [...] Wenn wir mit den ersten Fabriken erfolgreich starten, wird
sich die ganze Angelegenheit zu einer höchst soliden Unternehmung entwickeln,
sobald wir jedoch die Deutschen durch unsere Doktrinenreiterei, dem Unverständnis
für praktische Arbeit und das Hineintragen gewöhnlicher sowjetischer Unzulänglich-
keiten abstoßen, werden die Deutschen nach einigen Monaten Arbeit natürlich die
Geduld verlieren und, nachdem sie ein Paar Millionen ausgegeben haben werden,
dieses ganze Unternehmen wieder hinschmeißen. [...]
Telegraphieren Sie mir, wenigstens ganz kurz, den Erhalt der beiden Briefe etwa
mit dem Wortlaut: „Briefe Nr. 1–2 erhalten.“
Mit Genossengruß
Nikitič [d.i. Leonid Krasin]
26.9.21. Berlin.
Als Reaktion auf die Verhaftung eines gewissen Bartels, Filmvorführer im Kontingent der geheimen
Reichswehr-„Sondergruppe R“ (in Russland als „VOGRU“ bezeichnet) durch die VČK nahm das Polit-
büro des ZK der KP Russlands am 20.10.1921 einen Vorschlag Trotzkis an. Dieser besagte, die Tsche-
kisten, die an Außenkommissar Čičerin vorbei die Verhaftung Bartels’ vorgenommen haben, streng zu
bestrafen; desweiteren sollte den Reichswehr-Leuten eine Entschuldigung überbracht werden.175 Am
27.10.1921 wurde die Entscheidung allerdings abgeschwächt: Die Bestrafung der Tschekisten wurde
ausgesetzt, und Iosif Unšlicht wurde damit beauftragt, eine (restriktive) Richtlinie zur zukünftigen
Verhaftung von Ausländern auszuarbeiten.176
Am 3.11.1921 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands auf Vorschlag Sinowjews, die Resolu-
tion des Komintern „zur deutschen Frage“ zu genehmigen,177 mit der der endgültige Bruch mit Paul
Levi und seiner Gruppe vollzogen wurde.
Am 8.12.1921 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, das Außenkommissariat mit der Auf-
nahme von Verhandlungen zur Schaffung von deutsch-russischen Transitgesellschaften „zur Tätigkeit
in Persien und im Süd-Osten im Allgemeinen“ zu beauftragen.178
Dok. 56
Brief Heinrich Brandlers an Béla Kun über die negativen
Aussichten einer deutschen Arbeiteranleihe für die Sowjetunion
Moskau, 1.12.1921
Werter Genosse!
Zu Ihren sechs Anfragen wegen der Arbeiteranleihe teile ich Ihnen folgendes mit: Zur
Frage 1.:179 Ich halte es in Deutschland gegenwärtig und für die allernächste Zukunft
nicht für möglich, im nennenswerten Umfange Arbeiter-Anleihe-Obligationen unter-
zubringen. Nach meiner Auffassung gehen wir in Deutschland schweren Kämpfen
entgegen, die nur in dem Falle, wenn sie mit der Richtung einer revolutionären Arbei-
terregierung, d.h. mit dem Siege der Arbeiterklasse enden werden, einen günstigeren
Boden schaffen würde. Enden die Kämpfe mit einer Niederlage, so werden Arbeiter
und Arbeiterorganisationen so erschöpft sein, dass an eine finanzielle Hilfe für Russ-
land in nennenswerten Umfang nicht zu denken ist. Enden die Kämpfe mit der Errei-
chung des oben genannten Etappenziels, dann werden wirksamere Möglichkeiten
zur Unterstützung Russlands vorhanden sein, wie eine Arbeiteranleihe.
Zu 2.: Sollte es dennoch zu einer Kampagne für die Arbeiteranleihe kommen,180
so dürfte es bei angestrengtester Tätigkeit möglich sein, von einzelnen Arbeitern den
Betrag von vielleicht einer Million Mark, d. sind drei /3 Tausend Dollar, wenn sie es
dann noch sind, herauszuholen sein [sic].181 Zu B u. C ist zu sagen, dass die Gewerk-
schaften, in denen wir Einfluss haben, keine Mittel besitzen. Die anderen, die noch
179 Die IAH gab Arbeiteranleihen zur Finanzierung ihrer diversen Aktivitäten und Unterstützungs
kampagnen in der Sowjetunion aus. Im Juli 1922 wurde mit Unterstützung Lenins die „Industrie- und
Handelsaktiengesellschaft Internationale Arbeiterhilfe für Sowjetrussland“ (IHAG) gegründet. Die
Anleihen, die allerdings nicht den erwarteten Umfang erreichten, wurden nach der Gründung der
Russischen Handelsbank durch den schwedischen Bankier und Münzenberg-Freund Olof Aschberg
und der in ihrer Folge gegründeten Garantie- und Kreditbank für den Osten AG (Garkrebo) gesichert.
Siehe: Peter Schmalfuß: Die internationale Arbeiteranleihe für Sowjetrußland 1921–1923. In: Beiträge
zur Geschichte der Arbeiterbewegung XXIX (1987), Nr. 5, S. 607–620.
180 Der Aufruf zur Zeichnung der ersten Anleihe erfolgte in Deutschland am 29.7.1922 in der Roten
Fahne (Schmalfuß: Die internationale Arbeiteranleihe, S. 618).
181 Insgesamt brachte die Kampagne in Deutschland bis Mitte 1923 lediglich 18 Millionen Mark ein.
Münzenberg musste auf der Tagung der erweiterten IAH-Exekutive im Juni 1923 eingestehen, „dass es
uns unmöglich sein wird, große Kapitalien [...] aufzubringen“, betonte jedoch den großen Wert für die
prosowjetische Öffentlichkeitsarbeit (Ibid.).
Dok. 57: [Berlin], 28.12.1921 207
über grössere Kassenbestände verfügen, werden keine zur Verfügung stellen. Die
Konsumgenossenschaften haben bislang bei den Sammlungen für die Russenhilfe
nur 82.000 Mark aufgebracht.182 Sie dürften für Anleihezeichnen ebenfalls nicht in
Frage kommen. [...]
Zu 4.: Gegenwärtig dürfte die Regierung eine Anleihepropaganda wohl still
schweigend dulden, obgleich sie die Sammeltätigkeit für die Rote Hilfe verfolgt.183
Zu 5.: Emission und Organisation dieser Anleihe wäre nur durch die Par[tei]-
möglich.
Dok. 57
Plädoyer Arkadi Maslows für die KPD-Linke und seine
Enthüllungen über den Komintern-Emissär Abram Gural’skij
[Berlin], 28.12.1921
Autograph in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/293/13, 60–71 (der Brief bricht mit Blatt 71
ab). Erstveröffentlichung.
28.XII.21
Lieb[er] Radek! Da der Skandal in der Partei schneller und heftiger weitergeht, als ich es
neulich wusste,184 möchte ich Ihnen einige Ergänzungen geben. Ich lege Wert darauf,
dass Sie diese Informationen benutzen. Wie Sie aus der Unterschriftensammelei,185
182 Mit „Russenhilfe“ ist ist die von der Internationalen Arbeiterhilfe organisierte internationale
Hungerhilfe für Sowjetrussland gemeint (siehe hierzu Dok. 49b). Die Zusammenarbeit der IAH mit
Gewerkschaften und Konsumvereinen in der Anleihe-Kampagne scheiterte weitgehend; lediglich
einzelne Konsumgenossenschaften erklärten sich bereit, Zeichnungslisten auszulegen (Schmalfuß:
Die internationale Arbeiteranleihe, S. 618).
183 Das preußische Justizministerium leitete eine Untersuchung über die Anleihe ein, konnte jedoch
nichts Illegales daran finden (Ibid., S. 614).
184 Maslow beschreibt aus der Sicht der Berliner Linken die „Frieslandkrise“ in der KPD. Der ur-
sprünglich auf dem linken Flügel stehende Ernst Reuter (Ps.: Friesland) hatte sich auf der Sitzung des
Polbüros vom 12.12.1921 überraschend für die von der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (Paul
Levi u.a.) aufgestellten Forderungen einer Untersuchung der Märzaktion und der Bestrafung der Ver-
antwortlichen erklärt (siehe: Florian Wilde: „Diskussionsfreiheit ist innerhalb unserer Partei absolut
notwendig“.
Zum Verhältnis des KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer zur innerparteilichen Demokratie
1921/22. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, 2006, S. 168–184).
185 Als „Unterschriftensammelei“ bezeichnete Maslow eine am 22.12.1921 „(...) von 128 Genossen,
darunter fünf Mitgliedern der Reichstagsfraktion, unterzeichnete Erklärung (...), in der erneut der
Rücktritt der belasteten Zentrale-Mitglieder und die Einrichtung eines internen Untersuchungsaus
schusses zur Märzaktion gefordert wurde.“ (Wilde: Diskussionsfreiheit, S. 168–184, hier S. 176).
208 1918–1923
aus dem Aufruf der Drei Aufrechten186 und aus Frieslands [d.i. Ernst Reuter] Bro-
schüre187 sehen, steuern die Leute geradenwegs auf die Spaltung. Sie stellen sich
die Sache so vor, dass sie „die putschistische Linke“ in Gestalt einiger „Führer“ her-
auswerfen, einige „Verbrecher der Märzaktion erledigen“, und zwar, wo nötig, durch
ein gut preussisches Gericht und das dann die neue Herrlichkeit aufbricht mit den
Malzahn, Rich[ard] Müller und Konsorten an der Spitze, die, ebenso wie Levi und
Friesland nur durch die Intrigen der von Moskau dirigierten Maslow, Fischer und Kon-
sorten aus den ihnen vor Gott und der Welt gebührenden Positionen gedrängt worden
sind, woran die deutsche Revolution kaputtgegangen ist.188
Da das von Friesland veröffentlichte Protokoll der Polbüro-Sitzung zum Skandal
der Sitzung noch den Skandal des Inhalts selbst bringt, muss, besonders da Gural-
ski sich dort ausgetobt hat, allerlei festgestellt werden – ich will immer noch hoffen:
nicht öffentlich. Was von allerlei Leuten absichtlich verdreht wird, um eben jene
Absägereien zu vollführen.
186 Mit den „drei Aufrechten“ meinte Maslow Friesland (Ps.), d.i. Ernst Reuter, Otto Brass und Heinrich
Malzahn. Sie wurden auf der Sitzung der Zentrale vom 27.12.1921 von ihren Funktionen suspendiert.
187 Siehe: Ernst Friesland (Ps.), d.i. Ernst Reuter: Zur Krise unserer Partei Berlin, Als Ms. gedruckt,
1921.
188 Mit ihren mitgliederstarken Hochburgen in Berlin und Hamburg war die Bedeutung der
deutschen Linken (auch „linke Opposition“) unter Ruth Fischer und Arkadi Maslow trotz der formel-
len Festlegung der KPD auf die Einheitsfrontlinie besonders seit dem Jenaer Parteitag 1921 stark an-
gewachsen.
189 Siehe hierzu die Briefe Béla Kuns, Dok. 34 und folgende .
190 Der ungarische Kommunist Jószef Pogány (Ps. John Pepper) (1886–1939), war für seine bürokra-
tische Handlungsweise im Auftrag der Komintern bekannt. So formulierte der Schweizer Komintern-
Sekretär Jules Humbert-Droz das Kunstverb „Pepperisieren“.
Dok. 57: [Berlin], 28.12.1921 209
aber noch „begeistert“ werden müssen. Sie solle dort eine „Rote Armee“ bilden, sich
an deren Spitze setzen und nach Mitteldeutschland marschieren. Sie sagt ihm ziem-
lich unverblümt, dass er ein Esel ist und bleibt natürlich in Berlin. Derselbe Pogány
schreibt eine Theorie der „Weltoffensive“, vergnügt sich jetzt aber mit Kampf gegen
Maslowismus.
d) Guralski verfasst mit den Berliner „Putschisten“ die taktischen Thesen Berlins
zum Weltkongress.191
e) Ernst Meyer, Walcher, Guralski geben Maslow im März den Auftrag, nach Ober-
schlesien „mit unbegrenzten Vollmachten“ zu gehen, um dort „einen Putsch“ zu
machen. Derselbe Auftrag wird im Mai wiederholt. Maslow bleibt im März in Berlin
und lacht diese „Antiputschisten“ aus.
f) Die „antiputschistischen“ M[ilitär]P[olitischen]-Führer, welche die Partei
„säubern“ wollen, stehen in Verbindung mit der von Karl Plettner [d.i. Plättner] gelei-
teten Räuberbande192 und „arbeiten“ mit ihr.
g) Dieselben „Antiputschisten“ lassen im März in Berlin die „putschistischen Berliner
Führer“ „verhaften“, weil diese nicht den Befehl „zum Generalaufstand“ geben „wollen“.
h) Kurt Geyer und Levi erklären im Zentralausschuss vor dem Weltkongress die
Thalheimerschen Offensivtaktikthesen für „zu opportunistisch“.193
Dieselbe Gesellschaft erklärt im Verein mit Friesland (!) [d.i. Ernst Reuter] und
glaube ich, Walcher und Klara [Zetkin], dass die Berliner „Putschisten“ sind, weil
sie in der Berliner Betriebsrätevollversammlung, die aus Anlass der Lichtenburger
Hungerstreikaffäre194 zustande kam, einen einstündigen (!!) Protest(general)streik
vorschlagen wollten (!).
g) [sic] Ernst Meyer, der im März fast ebenso „feurig“ war wie Guralski, kämpft
jetzt (mehr hinter den Kulissen) gegen die Berliner, weil sie nicht mit ihm zusam-
men „den Fiskus sanieren“ wollen, – das seine Begründung der Notwendigkeit ‚von
Staatskapitalismus‘ bzw. durch ihre Formulierung Erfassung = Konfiskation durch
die Organe der Arbeiterschaft „die Arbeiter zum Raub auffordern“!
h) [sic] Guralski, der den Unsinn mit der Haller Produktivgenossenschaft195 aus-
geheckt hat – die jetzt Eberlein in die Schuhe geschoben werden soll – hat die Scham-
191 Siehe zu den Thesen zum III. Weltkongress der Komintern: Dok. 47.
192 Der „Sozialrebell“ Karl Plättner (1893–1945) war ab Mitte 1920 Führer der Kampforganisation der
KAPD. Er nahm aktiv an den Märzkämpfen teil und verübte anschließend mit seiner Truppe zwischen
April 1921 und seiner Verhaftung am 3.2.1922 mehrere Banküberfälle und andere „Bandenaktionen“
(Siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 679).
193 Zu den Thesen Thalheimers, die er zusammen mit Béla Kun verfasste, siehe Dok. 47.
194 Im Zuchthaus Lichtenburg bei Halle traten im November 1921 150 politische Gefangene in den
Hungerstreik. Seitens des Reichsjustizministeriums wurde der Entwurf eines Gesetzes zur Vermin-
derung der Strafen eingebracht.
195 Die KPD in Halle unterhielt von 1921 bis 1933 die Druckerei und Produktivgenossenschaft Hal-
le-Merseburg, deren Konzept eines demokratischen Wirtschaftsunternehmens ursprünglich auf Las-
salle zurückging (siehe: Fritz Kroh: Produktivgenossenschaft Halle-Merseburg, Halle, 1922).
210 1918–1923
Sie wissen doch sehr gut, wieviel der Nimbus der Exekutive und Russlands ver-
loren haben. [...]200
200 Im letzten, nur unvollständig überlieferten Teil seines Briefes konkretisiert Maslow im Punkt 3
den „Umfang der Krise“ und ihren „mutmasslichen Verlauf“: „Worin besteht die Krise? Äusserlich
in der ‚Palastrevolution‘ der Friesland [d.i. Ernst Reuter], Malzahn und Konsorten; in der Erklärung
der 128 und in der Schlappheit der Zentrale. Innerlich eine Schwächung durch fortwährende „Konz-
essionen an die Zentristen“. „Mit den Angestellten der Zentrale solle man – so Maslow weiter – kurzen
Prozess machen. Das ist eine üble Bande.“ (RGASPI, Moskau, 495/293/13, 69–70).
1922
Am 12.1.1922 bewilligte das Politbüro des ZK der KP Russlands den Plan Sinowjews, eine internatio-
nale Konferenz unter Teilnehme von Vertretern aller drei Internationalen einzuberufen.1
Dok. 58
Radek an Sinowjew über die Lage in der KPD und seine Audienz
bei Reichskanzler Wirth
Berlin, 20.1.1922
Typoskript mit handschriftlichen Ergänzungen in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 5/3/228, 6–9.
Deutsche Erstveröffentlichung. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern
i ideja, S. 328–333.
An Gen. Sinowjew.
Kopien an Gen. Lenin, Trotzki, Stalin, Bucharin.
Liebe Genossen,
1 RGASPI, Moskau, 17/3/251, 5. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 108.
2 Vermutlich ist die Rede von einer gemeinsamen Konferenz der KPD und der KPF, es könnte sich
jedoch auch um eine Sitzung des Zentralausschusses der KPD gehandelt haben. Er traf Maltzan und
am 17. Januar 1922 den Reichskanzler und Zentrumspolitiker Joseph Wirth (Fayet: Karl Radek, S. 408f.)
3 Die KAG (Kommunistische Arbeitsgemeinschaft) wurde im September 1921 von Paul Levi und wei
teren Kritikern der „Märzaktion“ und aus der VKPD Ausgeschlossenen bzw. Ausgetretenen gegrün-
det (Ernst Däumig, Adolph Hoffmann, Bernhard Düwell, Otto Brass, Richard Müller). Aufgrund ihrer
großen Anzahl von Abgeordneten erreichte sie im Reichstag Fraktionsstatus. 1922 schloss sie sich der
USPD an.
4 Gemeint ist die USPD.
Dok. 58: Berlin, 20.1.1922 213
Ausschluss, sie argumentierte damit, dass man die Menschen als gute Organisatoren
behalten müsse.5
Es gibt keinen Zweifel darüber, dass wir einige tausend Menschen verlieren
werden und dass es nicht die letzte Krise ist; der Grund der Krise ist die gedrückte
Stimmung, die Überzeugung, dass die Revolution zu Ende gegangen ist. In Moskau
ist uns das Brodeln innerhalb der Jugend aufgefallen, wo Levi Anklang gefunden
hatte. Ich habe von Moskau aus die Gründe dieser beunruhigenden Erscheinung
nicht verstanden, hier wurden sie mir aber klar. Die Jugendarbeit aller Parteien ist
in Auflösung begriffen, und dieser empfindsame Teil der Arbeiterklasse drückt am
eindringlichsten die bedrückte Stimmung aus, geht in die Wissenschaft oder beginnt,
Unfug zu treiben; die kommunistische Jugend, die sich der Wissenschaft zuwendet,
ergeht sich in statistischen Berechnungen über die Perspektiven der Revolution. In
dieser Lage braucht man einerseits Propaganda zur konkreten Hebung des Verständ-
nisses für die Aufgaben der Partei, andererseits muss man die Linie der Einheits-
front stärken, damit die Partei sich nicht in eine Sekte verwandelt.6 In der Zentrale
macht sich die völlige Abwesenheit arbeitsfähiger Leute bemerkbar, und als Resultat
bekommt Meyer nach all seinen unsäglichen Schwankungen die Rolle des Referenten
auf der Konferenz zugeteilt.7 Dafür gibt es keine Abhilfe, ein Führer der Partei ist nicht
vorhanden. In den Arbeitermassen ist die Stimmung faul, die Genossen denken, dass
selbst eine Verdopplung der Brotpreise und der Abgaben keine Bewegung hervorru-
fen werde. Die Stinnes-Regierung wird vorbereitet, sie ist in der Tat schon beschlos-
5 Rosi Wolfstein (1888–1987), Gründungsmitglied der KPD und spätere Lebensgefährtin von Paul
Frölich, war von 1921 bis 1923 Mitglied der Zentrale, bis sie sich mit der Fischer-Maslow-Führung
überwarf. 1929 wurde sie mit der rechten Fraktion aus der KPD ausgeschlossen (Siehe: Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 1044).
6 Mit dem „Offenen Brief“ der Zentrale der VKPD an alle Organisationen der Arbeiterschaft (SPD,
USPD, KAPD, Gewerkschaften usw.) begann die KPD, die neue politische Linie der Einheitsfront
umzusetzen, die im Zuge der Leninschen Kritik des Linken Radikalismus und des Abflauens der eu-
ropäischen Revolution seit Ende 1921 zur Leitlinie der Komintern wurde und auf ein einheitliches
Vorgehen der Arbeiterbewegung als Ganzes, trotz der politischen Differenzen mit der Sozialdemokratie
und anderen Strömungen abzielte. Die mit Begriffen wie „Minimalprogramm“, „Sachwerterfassung“,
„Arbeiterkontrolle“, „Arbeiterregierung“ verbundene Neuorientierung wurde bis zum IV. Weltkon-
gress der Komintern weiter ausgebaut, bildete jedoch weiterhin einen permanenten Streitpunkt auch
innerhalb der kommunistischen Parteien. Sowohl Sinowjew als Kominternführer als auch die Linke
in den Parteien opponierten gegen die Einheitsfront als strategische Linie zur Gewinnung der breiten
Massen der Arbeiterschaft und akzeptierten sie bestenfalls als taktisches Manöver (siehe: Reisberg:
An den Quellen; Erich Matthias, Hermann Weber: Die Stellung der Kommunistischen Internationale
und der Sozialistischen Arbeiter-Internationale zur Einheitsfront, in: Internationale Tagung der His-
toriker der Arbeiterbewegung (XI. Linzer Konferenz 1975). Wien, Europaverlag, 1978, S. 41–57; zur
Begriffsgeschichte von Einheits- und Volksfront siehe auch: Bernhard H. Bayerlein: Einheits- und
Volksfrontmythos als Ursprungslegenden des Antifaschismus. In: Claudia Keller (Hrsg.): Die Nacht
hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Antifaschismus, Geschichte und Neubewertung, Ber-
lin, Aufbau Taschenbuchverlag, 1996, S. 103–122.
7 Ernst Meyer verlas auf dem erweiterten Plenum des ZK der KPD den Abschlussbericht des ZK.
214 1918–1923
sene Sache; denn mit Erreichung des Kompromisses in der Abgabenfrage auf Basis
des Verzichts auf Sachwerte8 sind die Forderung von Stinnes im Grunde erfüllt. Doch
diese Politik der Sozialdemokraten wird ihren Einfluss in den Gewerkschaften schwä-
chen, und, sollten wir irgendwie agitieren können, werden wir unseren Einfuß in den
Massen stärken.
2. Internationale Konferenz.
Als ich ankam, fand ich den Aufruf der 2 1/2ten Internationale9 zur Einberufung
einer internationalen Konferenz aller drei Internationalen im Frühjahr10 sowie zur
Organisierung einer Konferenz aller Parteien der westlichen Länder vor dieser Konfe-
renz vor.11 Den Aufruf kennen Sie schon. Ich habe mich mit Ledebour und Rosenfeld
getroffen, die mir sagten, dass sie gegen diese Sonderkonferenz seien. Nachdem sie
von der Mehrheit überwältigt wurden, und der Aufruf publiziert war, schlugen sie
vor, dass auf dieser westlichen Konferenz alle drei Exekutiven vertreten sein sollten.
Die Konferenz soll in Paris stattfinden; wenn die französische Regierung sich weigern
wird, den Vertretern des EKKI Pässe nach Paris auszustellen, wird die Konferenz nach
Frankfurt verlegt. Damit glaubten sie, den Eindruck beseitigen zu können, sie wollten
uns von unseren westlichen Parteien abgrenzen; sie versprachen, mir ein offizielles
Dokument zu dieser Entscheidung zu geben. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß
allein schon das Faktum einer Sonderkonferenz zur Reparationsfrage eine Unterstüt-
zung des bürgerlichen deutschen Rechts [Reichs?] darstelle, während sie Sowjetruss-
land auf Druck von Genua12 keine Hilfe gewährt hätten. Dies hatte anscheinend eine
8 Reichskanzler Wirth hatte bereits unter Druck im Mai 1921 den Forderungen der Alliierten in Höhe
von 132 Milliarden Goldmark (was einem Wert von ungefähr 700 Milliarden Euro entspricht) nebst
26% des Wertes der deutschen Ausfuhr zugestimmt.
9 „2 1/2te Internationale“: Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien, auch als
2½-te oder „Wiener Internationale“ bekannt. Gegründet in Wien im Februar 1921, bestehend aus so-
zialistischen Parteien und Gruppen Europas und Amerikas, die mit der 2. Internationale gebrochen
hatten, sowie den russischen Menschewiki und Sozialrevolutionären. Sekretär war Friedrich Adler.
10 Am 15. Januar 1922 wandte sich das Exekutivkomitee der „Wiener Internationale“ mit einem Aufruf
„An die Arbeiterparteien aller Länder“ an die Öffentlichkeit. Darin wurde auf der Notwendigkeit be-
standen, eine Parteienkonferenz zur Lage der Arbeiterklasse in Europa einzuberufen. Zu ihrer Vorbe-
reitung wurde vorgeschlagen, ein Arbeitstreffen der drei Arbeiterinternationalen abzuhalten.
11 Im Aufruf der „Wiener Internationale“ wurde die Initiative der Sozialistischen Partei Frankreichs,
eine Regionalkonferenz einiger Arbeiterparteien abzuhalten, unterstützt. Diese Konferenz, an der
Delegationen aus Belgien, Großbritannien und Frankreich teilnahmen, wurde am 4. Februar 1922 in
Paris eröffnet. Als Beobachter war Friedrich Adler anwesend.
12 An der Konferenz von Genua, die vom 10.4. bis 19.5.1922 in Genua stattfand, nahmen außer den
USA sämtliche Teilnehmerstaaten des Ersten Weltkrieges teil. Es ging neben dem wirtschaftlichen
Wiederaufbau nach dem Krieg um die Gestaltung der Beziehungen der westlichen Demokratien zu
Sowjetrussland. Für die sowjetische Delegation, geleitet nominell von dem abwesenden Lenin, fak-
tisch von Georgij Čičerin, war dies eine entscheidende Gelegenheit, die international kaum anerkan-
nte RSFSR zu repräsentieren. Im Rahmen der Konferenz von Genua wurde der Vertrag von Rapallo mit
Deutschland geschlossen.
Dok. 58: Berlin, 20.1.1922 215
starke Wirkung auf Ledebour; nach einer Unterredung mit Rosenfeld fragte er an,
ob wir bereit seien, die Westkonferenz zu boykottieren, wenn sie sich verpflichteten,
erstens zu Beginn der Konferenz von Genua die allgemeine Konferenz einzuberu-
fen, und zweitens gleichzeitig zur Konferenz über die Reparationsfrage eine vorbe-
reitende Konferenz zur Unterstützung Sowjetrusslands zu veranstalten, mit unserer
Beteiligung. Ich antwortete ihnen, daß ich persönlich keinerlei Antwort geben kann
und mich mit dem Exekutivkomitee in Verbindung setzen werde, und bat sie, ihren
Beschluss offiziell einzureichen. Sie ordern telegraphisch Adler hierher.13 Mein Ein-
druck ist der, dass die linken „Unabhängigen“ sich sehr schlecht und isoliert fühlen,
in der Partei sind sie in der Minderheit, auf dem Parteitag14 wollten sie Ledebour zum
ZK-Mitglied machen, und ich glaube, sie werden versuchen, mit uns einen Block
gegen die rechten „Unabhängigen“ zu schließen. Hilferding musste auf dem Parteitag
auf seinen Vortrag über die Abgaben verzichten, da er Angst hatte, danach nicht ins
ZK gewählt zu werden, aber er wurde dennoch gewählt. Ledebour sagte mir, dass er
die Verantwortung für die Freiheit15 ablehnt. Rosenfeld teilte mir mit, dass die Partei
nur den Worten nach radikal sei, in Wahrheit jedoch besäßen die Rechten in ihr die
Macht.
3. Ich denke, dass die Möglichkeit der vollständigen Legalisierung unseres komplet-
ten Apparates in Deutschland nicht ausgeschlossen ist. Im Gespräch mit dem Reichs-
kanzler16 stellte ich ihm die Frage, ob er allen von uns bestimmten Personen Pässe
ausstellen würde, wenn die Notwendigkeit bestehe, nach Berlin zur Beratung für die
internationale Konferenz anzureisen; sie schätzen diese Konferenz hoch ein und sind
davon überzeugt, dass ihnen in nächster Zeit keinerlei Revolutionsgefahr drohe. Falls
der Reichskanzler damit einverstanden sein wird, würde ich stark befürworten, die
Erweiterte Sitzung des Exekutivkomitees hier abzuhalten.17 Ihr habt keine Ahnung,
wie wichtig dies für uns wäre. Selbst unter den Menschen, die uns am nächsten
stehen, gibt es eine starke Stimmung gegen Moskau. Es wäre unglaublich nützlich,
wenn die Arbeiter uns in Westeuropa sähen, aber zugleich auch, wenn Ihr unsere
Leute nicht in der Moskauer Atmosphäre sehen würdet. Diese Stimmungen sind
zweifellos das Resultat unseres Rückzugs. Die Menschen haben erwartet, dass wir
ein Wunder vollbringen können, doch dann stellte sich heraus, dass wir dazu nicht
in der Lage sind. Wenn die Menschen jedoch mit eigenen Augen sehen werden, dass
wir, wenn wir auch kein Wunder bewerkstelligen, ihnen trotzdem irgendwie helfen
können, würde das ihre Beziehung zu uns sehr verbessern. Sehr komisch war es,
Clara [Zetkin] zu sehen – es reichte schon, dass ich eine Stunde bei ihr war, und all
ihr Zorn gegen mich wegen Levi war verflogen, sie spricht bereits nicht mehr anders
von ihm als einem Lumpen. Vareckij18 ist zurückgekehrt, er hat Euch sicherlich schon
selbst geschrieben mit der Behauptung, unsere italienische Partei mache den aller-
besten Eindruck,19 Bordiga werde sehr geschätzt werden, aber die Lage der französi-
schen Partei sei besorgniserregend. Ker fährt morgen zu Euch. Cachin haben wir tele-
graphisch zur Tagung zu uns bestellt. Ich werde versuchen, mit ihm ausführlich zu
sprechen.20 Ker ist ein guter Kerl, doch sie sind alle unglaubliche Holzköpfe. Alles in
der Welt führen sie auf den Zank mit Longuet zurück. In einigen Tagen schicke ich die
Broschüre zur Weltlage, die vom ZK bestellt wurde;21 ich werde sie hier auf Deutsch,
Französisch und Englisch herausbringen, jedoch sehe ich erst jetzt, wie tierisch müde
ich bin. Hier kann man sich selbstverständlich nicht ausruhen. Nach dem Spektakel
mit den Deutschen und der internationalen Konferenz werde ich um Urlaub bitten.
18 „Vareckij“: So im Original. Richtig: Valeckij. Henryk Walecki war das Preudonym von Maksymili
an Horwitz (1877–1937), Gründungsmitglied der KP Polens und Komintern-Mitarbeiter. Horwitz ist im
Oktober 1921 im Auftrag des EKKI in Italien gewesen.
19 Gemeint ist die Kommunistische Partei Italiens. Radek teilte dem Präsidium des EKKI am 31. Jan-
uar mit: „Valeckij wird Ihnen Genaueres über das Verhältnis der italienischen und anderen Parteien
zur Losung der Einheitsfront berichten.“ (RGASPI, Moskau, 5/3/288, 12).
20 Radek hatte Marcel Cachin nicht nur als Verbindung zur französischen Regierung benutzt, um ein
russisch-französisches rapprochement zu lancieren, was die deutsche Seite wiederum mit Erstaunen
zur Kenntnis nahm, er teilte dem Präsidium des EKKI am 31. Januar 1922 auch mit: „Ich hatte eine
Sitzung mit der französischen Delegation in Anwesenheit von Cachin. Es gibt sehr große Differen-
zen in der Frage der Einheitsfront, deswegen habe ich von Cachin eine Reise nach Moskau verlangt.
Nach langen Diskussionen teilte ich ihm mit, dass eine Absage eine Krise unseres Vertrauens ihm
gegenüber auslösen wird. Cachin weigerte sich, zu fahren.“ (RGASPI, Moskau, 5/3/228, 12; vgl. auch:
Fayet: Karl Radek, S. 409).
21 Gemeint sind vermutlich die Thesen „Die internationale Lage und die Perspektiven unserer
Außenpolitik“, mit denen Radek am 13. Januar 1922 vom Orgbüro des ZK der RKP(b) beauftragt wurde.
Dok. 59: Berlin, 11.2.1922 217
Gegenüber dem Politbüro des ZK der KP Russlands gab der polnische Kommunist Mieczysław Bronski,
einer der ersten Emissäre der Komintern in Westeuropa, am 30.1.1922 eine Erklärung dahingehend
ab, dass er nichts mit Paul Levi zu tun gehabt habe, seit dieser aus der KPD ausgeschlossen worden
sei. Bei allen diesbezüglichen gegenteiligen Meldungen handele es sich um Lügen und Gerüchte.22
Dok. 59
Geheimer Bericht Radeks über die Gespräche mit Außenminister
Rathenau und General von Seeckt zur militärischen
Zusammenarbeit mit Russland
Berlin, 11.2.1922
Streng geheim.
Narkomindel: An Čičerin und Litvinov.
Politbüro: An Lenin, Trotzki, Sinowjew, Stalin, Kamenev.
Liebe Genossen!
Ich fahre ab, sobald Krasin ankommt, wahrscheinlich am Dienstag.23 Vom geschäft-
lichen Standpunkt aus werden die Gespräche heute formal beendet, faktisch gingen
sie gestern schon zu Ende. Ich hatte gestern zwei Verabredungen: eine mit Baron
Maltzan, die zweite mit General Seeckt.
Maltzan behauptete mir gegenüber, Rathenau werde sich wohl nicht lange an der
Macht halten,24 seine Amtszeit werde, sobald sich die Illusionen von Genua auflö-
sen, beendet sein; die Kräfte, die auf eine Annäherung mit Russland hinarbeiteten,
würden ihre Arbeit fortsetzen. Er [d.i. von Maltzan] flehte mich an, ein Politik des
Geplänkels während dieser vorübergehenden Schwierigkeiten zu vermeiden usw. usf.
Ich stellte ihm die Gegenfrage: Ob denn seine Vorschläge bezüglich der Wieder-
aufnahme diplomatischer Beziehungen etc.25 unabhängig von dem in der Kreditfrage
22 RGASPI, Moskau, 17/3/261, 11–13. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komint-
ern, S. 113–114.
23 Radek kam am 17. Januar 1922 in Berlin an. Er sollte zusammen mit Rakovskij und Krasin Verhand-
lungen mit dem deutschen Außenministerium führen (siehe allgemein: Stephen White: The Origins of
Detente. The Genoa Conference and Soviet-Western Relations, Cambridge u.a., Cambridge University
Press, 1985.) Die geheimen Verhandlungen über die militärische Zusammenarbeit liefen getrennt ab
(siehe hierzu auch der Brief von Krasin, Dok. 55).
24 Außenminister Rathenau wurde am 24.6.1922 ermordet (siehe Dok. 75a).
25 Die Wiederaufnahme der nach dem Mord an Mirbach (Juli 1918) im November 1918 unterbro-
chenen diplomatischen Beziehungen erfolgten im Rahmen des Vertrags von Rapallo während der
Konferenz von Genua am 16.4.1922.
218 1918–1923
gemachten Vorschlag in Kraft blieben. Er wurde etwas verlegen und sagte, er werde
bei Rathenau anfragen.
Ich werde Rathenau am Montag sehen und selbstverständlich über diese Fragen
in der allerformellsten Weise eine Klärung herbeiführen, um ihnen nicht die Mög-
lichkeit zu geben, zu behaupten, sie hätten die Wiederaufnahme der diplomatischen
Beziehungen gewollt, wir hätten dies jedoch abgelehnt. Selbstverständlich werde ich,
wenn ich diese Fragen stellen werde, in unserem Namen keinerlei Verpflichtungen
übernehmen, sondern lediglich für einen Bericht an Euch den Sachverhalt aufklären.
Nach dem Mittagessen war ich bei der Verabredung mit General Seeckt; dieser
Kerl ist sehr stark im Kopf, er plaudert kein einziges unnötiges Wort.
Seeckt behauptete folgendes: Die Lage sei momentan im Übergang begriffen, vor
allem Rathenau.
Das Bewusstsein, Deutschland könne sich nur durch Annäherung an Russland
aus seiner misslichen Lage befreien, wachse in allen Kreisen, unabhängig von der
Parteizugehörigkeit. Daran würden keine Zickzacks etwas ändern können, weder in
unserer, noch in der deutschen Politik, und deswegen werde die von der VOGRU26
begonnene Arbeit fortgesetzt.
Er wisse, dass wir mit dem geringen Umfang dieser Arbeit unzufrieden seien, er
verstehe unsere Beschwerden, doch er sagt offen, dass die Mittel der VOGRU sehr
beschränkt seien, und er könne, bis die Flugzeugindustrie ausgebaut werde, keine
neuen Kräfte in diese Angelegenheit investieren.
Was unsere Forderung nach Lieferung von 300.000 Uniformen für die Armee
angeht, so behauptete er, sie hätten keinerlei Vorräte, alles sei ausgeraubt worden,
und es könne nur um Bestellungen von Tuch gehen. Das ganze Gespräch verlief nach
seiner Initiative [po ego počinu]. Er war sehr gefasst, nur an einer Stelle verlor er die
Beherrschung, und zwar als von Polen die Rede war. Er begann damit, dass ihm zur
Verfügung stehenden Agenturmeldungen sowie seiner persönlichen Meinung zufolge
Polen sich in diesem Frühjahr absolut still verhalten werde, und es keine Zusammen-
stöße zwischen ihm [dem Land] und uns geben werde; an dieser Stelle erhob er sich,
seine Augen funkelten wie bei einem Tier, und er sagte: Es [Polen] muss zerschmettert
werden, und es wird zerschmettert, sobald Russland und Deutschland erstarkt sind.
Ich habe mir jegliche Reaktion auf diese menschenfreundliche Äußerung verkniffen.
Jedenfalls ist die Tuchfühlung in Deutschland abgeschlossen, die Schlüsse daraus
könnt Ihr selbst ziehen, meine werde ich bei Ankunft vorlegen.
26 VOGRU (russ. Voennaja gruppa – Militärische Gruppe) war die „im Schriftwechsel des Volkskom-
missariats für Auswärtige Angelegenheiten mit dem bevollmächtigten Vertreter in Deutschland“
benutzte Bezeichnung für den Geheimapparat der „Sondergruppe R“ im Reichswehrministerium,
die die geheime Rüstungszusammenarbeit koordinierte. 1923 wurde sie durch eine in der deutschen
Botschaft eingerichtete „Zentrale Moskau“ ergänzt (siehe Gorlov: Geheimsache Moskau-Berlin, S.
135).
Dok. 59: Berlin, 11.2.1922 219
Dok. 60
Sowjetrussland als „begehrte Braut“: Brief Ioffes an Lenin im
Vorfeld der Konferenz von Genua
Petrograd, 13.2.1922
29 Lenin litt zunehmend an den Folgen des Attentats von 1918. In einer Rede u.a. über die interna-
tionale Lage auf dem russischen Metallarbeitertag am 6.3.1922 sprach er auch über seine Krankheit,
die „mir seit mehreren Monaten keine Möglichkeit gibt, an den politischen Geschäften unmittelbar
teilzunehmen, und mir überhaupt nicht erlaubt, den Sowjetposten, auf den ich gestellt bin, auszufül-
len.“ (Lenin: Werke, XXXIII, S. 197–212, hier S. 202).
30 Handschriftliche Replik Lenins am Rand: „Ha-Ha!! [Das sieht ihm] ähnlich!!!“
31 Gemeint ist die Kommission des Rats der Volkskommissare für die Verhandlungen in Genua.
32 Gleb Kržižanovskij (1872–1959) war zu dem Zeitpunkt Vorsitzender der staatlichen Planungsbe-
hörde Gosplan.
Dok. 60: Petrograd, 13.2.1922 221
hingewiesen, dass das, was die Delegation vom Gosplan33 bekommen müsste, eine
Vorlage für unseren Plan des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Europas sein muss.
Ich habe keinerlei Zweifel, dass es in Genua, wie auch bei allen Verhandlungen,
zu einem Austausch von Programmdeklarationen kommen wird. Wo aber ist unser
Programm?
Bis jetzt war bei allen von uns geführten Verhandlungen unser Programm klar:
Neben der Bemühung um die für den jeweiligen Augenblick günstigsten Friedens-
bedingungen haben wir immer die Ziele der sogen. „Friedensoffensive“ angestrebt;
sogar nachdem wir von einer so offenen Revolutionierungspolitik, wie in Brest,34
Abstand genommen hatten, haben wir uns dennoch immer darum bemüht, bei Ver-
handlungen unser sowjetisches Wesen hervorzuheben und die Sympathien der unter-
drückten Klassen und Völker zu gewinnen, und für dieses Ziel haben wir (zumindest
ich selbst, und das kontinuierlich) sogar einige der „realen Interessen“ geopfert,
wenn dies erforderlich war.
Welche Politik müssen wir jedoch nun durchführen? Müssen wir denn im Zusam-
menhang mit der Neuen Ökonomischen Politik35 auch unsere, wenn man so will, poli-
tische Politik ändern? Im Zusammenhang mit dieser großen Frage taucht eine Reihe
kleinerer, dennoch nicht minder wichtiger Fragen auf: müssen und können wir auf
die „Kontinuität“ verzichten? Können wir beispielsweise die Sache so darstellen, als
ob die von uns unterzeichneten Friedensschlüsse erzwungen seien, und wir bestrebt
seien, diese zu revidieren, oder müssen wir auf dem alten Standpunkt verharren,
wonach wir immer und unter jeden Bedingungen den Prinzipien des Selbstbestim-
mungsrechts der Völker treu bleiben?
Jede diplomatische Kampagne muss sich aus der Analyse der allgemeinen inter-
nationalen Lage ergeben. Obwohl jetzt Pessimismus in Mode kommt, nehme ich an
und wage zu behaupten, dass wir uns dank des Zerfalls der bürgerlichen Welt noch
nie in einer günstigeren Lage befunden haben. Ich denke, dass Genua nur abgehal-
ten wird, um unsere Abkehr von unseren sowjetischen Prinzipien zu erzwingen und
uns gewaltsam in die Familie der bürgerlichen Völker hineinzuziehen. Genua soll zur
Illusion einer Verhinderung des Weltkriegs werden, den alle vorahnen und fürchten,
sowie als Mittel zur Schaffung verschiedener Bündnisse, kleiner Bünde und Koalitio-
nen dienen. In der bürgerlichen Welt findet im großen Maßstab ein Kampf zwischen
Europa und Amerika um die Hegemonie in der Welt, und im kleinen Maßstab ein
Kampf zwischen England und Frankreich um die Hegemonie in Europa statt. Unter
diesen Bedingungen werden wir zur wählerischen Braut, um deren Hand alle anhal-
ten. Und zu den wichtigsten Fragen zählt die, ob wir uns in Genua verheiraten, oder
weiter eine solche Braut bleiben.
Um Ihre Aufmerksamkeit nicht zu strapazieren, werfe ich explizit keine weiteren
Fragen auf, sondern beschränke mich nur auf diese, ohne deren Klärung es meiner
Meinung nach keinen Sinn macht, nach Genua zu fahren.
Ich denke, dass unsere erste Erklärung ernsthaft durchdacht und in Moskau ver-
fasst werden muss. Ich denke, dass diese Erklärung aus zwei Teilen – einem politi-
schen und einem wirtschaftlichen – bestehen muss. Im ersten Teil muss unser Frie-
densprogramm dargelegt werden, im zweiten – unser Programm des ökonomischen
Wiederaufbaus Europas. Ich denke, dass diese unsere Erklärung eine Kontinuität zu
unserer früheren Politik beibehalten muss; vielleicht insofern, als in der Erklärung
sowohl sozusagen unser maximales als auch unser minimales Programm dargelegt
wird; zunächst würde all das ausgeführt werden, was wir für die Erhaltung des Frie-
dens und den wirtschaftlichen Wiederaufbau für notwendig halten, und danach
würde darauf hingewiesen werden, dass wir, da die Bourgeoisie dies nicht verwirk-
lichen könne, auch zu Palliativmaßnahmen, zu einem Programm des bürgerlichen
Pazifismus und zu wirtschaftlichen Maßnahmen bereit seien, die im bürgerlichen
Rahmen möglichen sind. Mit etwas Taktgefühl kann ein solches „Zum Fenster hinaus
reden“36 unsere Gegner nicht verschrecken, denn die Kunstfertigkeit unserer Diplo-
matie besteht nicht darin, als Menschen aufzutreten, die aufgehört haben, Kommu-
nisten zu sein (das würde ja ohnehin sowieso niemand glauben), sondern darin, zu
beweisen, dass wir als das, was wir sind, als „Kommunisten, Phantasten und Doktri-
näre“ Realpolitiker genug sind, um die für die bürgerliche Welt günstigste russische
Regierung abzugeben.
Andererseits müssen in der Erklärung jedoch auch alle Vorzüge unserer Lage
ausgespielt werden, die nur solange vorzüglich bleibt, solange wir für alle begeh-
renswert sind, ohne uns jemandem hinzugeben. Sobald wir uns mit einem der sich
bekämpfenden Bündnisse verbinden, werden wir all unsere Vorzüge verlieren. Und
unser ganzes diplomatisches Geschick besteht hierbei darin, dass wir spielen, und
nicht mit uns gespielt wird, denn sollten wir bei diesen Intrigen hinter den Kulissen
Ungeschicklichkeit an den Tag legen, wird das gegnerische politische Bündnis unsere
Intrige selbst zur Erpressung seiner Gegner nutzen können, und wird dabei gewinnen,
und nicht wir. Genau hier bedarf es der allergrößten Vorsicht und eines sehr ausge-
klügelten Geschicks, und exakt hier entsteht die allerschwierigste Frage: müssen wir
sofort den Vorschlag eines allgemeinen Verzichts auf Kriegsschulden unterbreiten,
oder würde dieser Vorschlag Amerika sofort von uns abstoßen und uns auf den euro-
päische Standpunkt positionieren? Ich nehme an, dass man dies aus diplomatischen
Gründen besser nicht machen sollte, sondern nach dem Vorbild unseres Brester Vor-
schlags – die Schaffung eines internationalen Fonds für den Wiederaufbau der vom
Krieg zerstörten Territorien, da dies aus Kräften eines Staates nicht machbar ist – jetzt
mit einem Vorschlag aufwarten sollte, so etwas wie einen internationalen Fonds oder
eine Bank für die Vertretung der Interessen von Eigentümern internationaler Kriegs-
anleihen zu schaffen.37 Vielleicht ist diese Idee auch falsch, doch mein Hauptge-
danke, unsere günstige Lage dazu zu nutzen, uns mit niemandem zu verbünden und
dabei alle anzulocken, ist zweifellos richtig. Und das muss noch vor der Konferenz
getan werden, denn zur Zeit finden unterschiedliche Beratungen statt, unter anderem
die Baltische, wo wir uns vieles verderben können. [...]38
Dok. 61
Die Verbindung mit Russland als Rettung Deutschlands: Radek
über die Gespräche mit Außenminister Rathenau u. a.
Berlin, 14.2.1922
Liebe Genossen,
Alle möglichen phantastische Gerüchte über den Stand unserer Verhandlungen mit
Frankreich, das von mir und Rakovskij dem „Le Matin“39 gegebene Interview,40 die
Tatsache, dass die französische Regierungspresse es nicht nur unterlassen hat, auf
unsere Erklärung auf feindliche Weise zu reagieren, sondern die Diskussion mit uns
fortsetzt – all das zusammengenommen hat hier einen Ruck ausgelöst. Rathenau hatte
37 Auch das Deutsche Reich hatte den Krieg überwiegend mit Kriegsanleihen statt mit Steuerein-
nahmen finanziert und stellte deswegen in Brest-Litowsk hohe Forderungen an Sowjetrussland. Man
schätzt, dass Deutschlands Forderungen an die Alliierten im Falle eines deutschen Sieges genauso
hoch gewesen wären wie die nach der Niederlage Deutschland im Versailler Vertrag auferlegten Ko-
sten (siehe: Hans-Peter Philipp Anlauf: Vorgänger der Restschuldbefreiung nach heutigem Insolvenz-
recht. Von der landwirtschaftlichen Entschuldungsgesetzgebung der Weimarer Republik über die NS-
Schuldenbereinigung zur heutigen Restschuldbefreiung, Münster, Lit-Verlag, 2006, S. 22 (Augsburger
Schriften zur Rechtsgeschichte. 4)).
38 In einem weiteren, hier ausgelassenen Absatz kritisiert Ioffe die personelle Zusammensetzung der
sowjetischen Delegation für die Konferenz von Genua, und fordert eine strengere Rollenverteilung.
39 Le Matin: Pariser Tageszeitung, gegr. 1883, geschlossen 1944.
40 Radek gab Le Matin ein Interview, das am 9.2.1922 veröffentlicht wurde, in dem er es als wün-
schenswert erklärte, vor der Genua-Konferenz direkte Beziehungen zwischen der Sowjetunion und
Frankreich herzustellen (White: The Origins of Detente, S. 77).
224 1918–1923
sich bei Rakovskij beschwert, dass wir sie [die Deutschen] erpressen, doch bekunde-
ten sie in der darauffolgenden Sitzung die Bereitschaft, die Summe, ab der sie anfan-
gen würden, in Russland zu arbeiten, auf 5 Millionen Papiermark zu erhöhen, und
erklärten sich bereit, unmittelbar die Hälfte dieser Summe uns als staatliches Darle-
hen zu geben, wobei sie zugleich darauf hinwiesen, dass wenn sie damit anfingen,
sich zu engagieren, sie ohnehin noch weiter gehen müssten. Ich erklärte ihnen, dass
eine solche Kleinigkeit wie 50 oder 60 Millionen Goldmark unsere Handlungsfreiheit
gegenüber den Verbündeten nicht erweitern würde, und deswegen unsere politische
Position nicht beeinflussen könne; dass sie daran interessiert seien, uns ein Darlehen
zu geben, um sich etwas in Russland zu sichern, denn wenn die Kapitalisten anderer,
stärkerer Länder in Russland zu arbeiten anfingen, würde für die Deutschen nur noch
wenig Platz da sein; allerdings erklärte ich weiter, dass wir auch kleineren Geschäf-
ten gegenüber nicht abgeneigt seien, doch dass ich nicht bevollmächtigt sei, einen
entsprechenden Vertrag mit ihnen abzuschließen und alles nach Moskau weiterleiten
würde.
Nach dieser Sitzung mit den Industriellen erklärte ich Maltzan, dass sie selbst-
redend kein Darlehen geben könnten und wollten, doch dass sich dies mit ihrer jet-
zigen Armut erklären ließe, ich jedoch zur Bereinigung der Situation bereit sei, eine
Erklärung zu unterzeichnen, wonach wir auf [Artikel] 116 verzichten,41 und sie im
Gegenzug darauf verzichten würden, ohne vorherige Rücksprache mit uns in wie
auch immer geartete internationale Konsortien einzutreten. Es versteht sich von
selbst, dass ich nicht vorhatte, dergleichen zu tun, da ich dafür keine Vollmachten
von Euch hatte, doch ich war davon überzeugt, dass Rathenau sich in London persön-
lich [mit einem Konsortium] eingelassen habe, dass er nicht in der Lage gewesen sei,
eine solche Vereinbarung einzugehen, und dass er deswegen gezwungen sein würde,
seine Karten offenzulegen. Und tatsächlich lud mich Rathenau am Sonntag zu sich
ein, erklärte sich zunächst zum Zwischenfall bei unserer ersten Begegnung, der durch
sein Gespräch über die Kolonialisierung Russlands hervorgerufen wurde,42 erging
sich in Liebeserklärungen, gab uns Ratschläge, was wir in Genua zu tun hätten, und
sagte später, dass ich in der Annahme recht gehabt habe, er habe sich während seines
Aufenthalts in London als Privatperson auf Gespräche über ein Konsortium einge-
lassen. Er gebe dies offen zu, und sei nicht dazu in der Lage, eine Verpflichtungs-
erklärung zu unterschreiben, wonach Deutschland ohne vorheriges Einvernehmen
mit Russland nicht in ein Konsortium eintreten könne. Er könne dies umso offener
41 Gemeint ist Artikel 116 des Versailler Vertrags, wonach Sowjetrussland das Recht auf Reparations-
zahlungen deutscherseits eingeräumt wurde.
42 Als Repräsentant der AEG hatte Rathenau Radek 1919 im Moabiter Gefängnis besucht. Trotz all-
gemeiner Übereinstimmung über die Notwendigkeit einer engen deutsch-sowjetischen Zusammen-
arbeit gelang es Rathenau aufgrund des Einspruchs der Reichsregierung nicht, ein größeres Projekt
zu entwickeln. Radek zufolge wurde Rathenau zum „ersten Anwalt der Idee eines internationalen
Syndikats zur Ausbeutung Russlands“, wie er nach einem zweiten Treffen festhielt (Fayet: Karl Radek,
S. 295).
Dok. 61: Berlin, 14.2.1922 225
sagen, da er überzeugt sei, dass unsere Position mit unserer Unwissenheit darüber
zusammenhinge, was ein Konsortium bedeute. Das internationale Konsortium werde
ein kleines Kapital, etwa 20 Millionen Pfund, haben, denn Banken und Industrielle
stellten ungern große Summen einem solchen Konsortium zu Verfügung, da sie ihr
Geschäft selbst betreiben wollten. Das allgemeine Konsortium werde nicht nur nicht
die Arbeit in Russland monopolisieren, sondern den Weg für eine ganze Reihe neuer
Teilabmachungen freimachen. Sollte das Konsortium die Arbeit mit Russland aufneh-
men, würde dies die Anderen nur motivieren und Vorurteile gegen Abmachungen mit
Russland entkräften. Die Deutschen könnten nicht auf das Konsortium verzichten –
nicht weil sie es für ihre Arbeit in Russland benötigen würden, denn die Hauptarbeit
würden sie eigenständig machen, doch sie müssten in das Konsortium eintreten, da
sie die ganze Zeit danach gestrebt hätten, in die Familie der Industriestaaten aufge-
nommen zu werden, und wenn sie im Konsortium seien, würden sie uns nur behilf-
lich sein, sie würden sich mit uns beraten usw. usf. und dort die Interessen Russlands
verteidigen.43 Er [Rathenau] habe keine Angst vor unserer Vereinbarung mit Frank-
reich, denn er wisse, dass wir den Versailler Vertrag nicht unterzeichnen würden,
weil dies unser Verhältnis zu den deutschen Arbeitern und der internationalen öffent-
lichen Meinung nicht zulassen würde. Auf der Basis von Art. 116 könnten wir nichts
erhalten, da Frankreich, während es die Reparationsschulden Deutschlands verrin-
gert, sie nicht zugleich zugunsten Russlands erhöhen könne. In industrieller Hinsicht
werde Frankreich uns nichts geben, es könne sich nicht für ein Darlehen engagie-
ren, da es kein Geld habe, und außerdem sei er nicht nervös, [denn] die russisch-
deutschen Beziehungen würden sich unabhängig von den Zickzack-Bewegungen,
die wir machten, verbessern, denn wir würden uns davon überzeugen, dass er keine
antirussische Politik führe, sondern, im Gegenteil, dass er, wie jeder, der etwas von
den Perspektiven deutscher Politik verstehe, in Verbindung mit Russland die Rettung
Deutschlands sehe.
Am Montag waren wir abends bei Maltzan zu einem Bierabend eingeladen,
dessen Erfindung ein Resultat der Existenz der Sowjetmacht ist: mit der Entente trinkt
man Champagner, mit uns Bier, und der Abend war so demokratisch organisiert, dass
sogar der Chef der Wache daran teilnahm.44 An diesem Abend zeigte mir Rathenau
das Telegramm Wiedenfelds45 über dessen Gespräch mit Čičerin, ich bestätigte ihm
die Richtigkeit der Übermittlung und sagte ihm, dass Moskau dessen Politik als gegen
43 In der Ministerratssitzung am 2.4.1922 legte Rathenau Rechenschaft über sein Gespräch mit Radek
ab. Siehe: Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik Online, http://www.bundesarchiv.de/akten-
reichskanzlei/1919-1933/0011/wir/wir2p/kap1_1/kap2_5/para3_2.html
44 „Chef der Wache“: Im russischen Original „načal’nik ochranki“, d.h. Chef der Geheimpolizei.
Radek meint damit sicherlich nicht den Chef der deutschen Geheimpolizei (die westlichen Geheim-
polizeien wurden von den Bolschewiki in Anlehnung an die zaristische Geheimpolizei oft als „ochran-
ka“ bezeichnet), sondern den Chef der Wache („ochrana“).
45 Kurt Wiedenfeld (1871–1955) war seit September 1921 als Ministerialdirektor Handelsvertreter
Deutschlands in Sowjetrussland.
226 1918–1923
Russland gerichtet wahrgenommen habe, er berief sich [wiederum] auf Krasin, der
auf dem selben Standpunkt stünde, den wir jedoch kaum als unseren Feind auffas-
sen würden, und bat um ein gemeinsames Treffen mit mir und Krasin. Krasin kommt
heute an, wir werden mit ihm sprechen und [ich werde] gemeinsam mit ihm nach
Moskau aufbrechen. [...]46
Der „Matin“ bittet telegraphisch um ein neues Interview zur Note Poincarés. Wir
alle, d.h. Krestinskij, Michal’skij [d.i. Pavel Lapinskij],47 und ich, haben beschlossen,
über die Frist in Genua und das Einfordern unserer vorläufiger Erklärungen durch
Frankreich nichts zu antworten, darauf verweisend, dass dies nur durch das Narkom
indel beantwortet werden könne, dass wir jedoch [bereit seien], eine substantielle
Antwort über unsere Wirtschaftspolitik usw. zu geben. Die Kampagne des „Matin“
macht riesigen Eindruck. Das „Berliner Tageblatt“ spricht die Vermutung aus, „Matin“
sei gekauft worden. Kurz vor meiner Abreise werde ich dazu noch dem Vertreter des
„Manchester Guardian“48 ein Interview geben, um den antienglischen Eindruck, den
das erste Interview mit dem „Matin“ erweckt hatte, etwas abzumildern. Dies wird
auch für den Druck auf Frankreich gut sein. Das ist alles. Wir werden allerspätestens
am Samstag abfahren.
Wie auch immer die Ministerkrise hier enden mag, es wird uns gegenüber keine
Veränderungen geben.
46 In einem weiteren Absatz berichtet Radek von seinen Gesprächen mit polnischen Diplomaten
über die Konferenz von Genua.
47 Michal’skij (Ps., alias Pavel Lapinskij), d.i. Ja. Levenson, leitete das 1927 liquidierte Informations-
büro des NKID in Berlin seit seiner Gründung im Juli 1920.
48 Gegründet 1821, existierte der Manchester Guardian als linksliberales Blatt bis 1959; er wurde als
The Guardian weitergeführt.
Dok. 62: [Moskau], 20.2.1922 227
Dok. 62
Nicht nur von den Deutschen lernen, sondern auch Deutsche
als Lehrer in der Sowjetunion heranziehen! Note Lenins an Lev
Kamenev
[Moskau], 20.2.1922
Genosse Kamenev!
Meiner Meinung nach sollte man nicht nur predigen „Lernt von den Deutschen, ihr
lausigen russischen kommunistischen Faulenzer!“ sondern auch Deutsche als Lehrer
heranziehen.
Sonst ist alles nur Wortgeplänkel.
Warum nicht mit den Deutschen beginnen, die (wie Sie gesehen haben) ein
Modellprojekt in Moskau organisieren?49
Falls Sie nicht damit einverstanden sind, schreiben Sie mir eine Zeile. Sind Sie
einverstanden, senden Sie die Anlage an N. P. Gorbunov (weil Semaško da nicht mit-
machen wird).50
Lenin
Am 22.2.1922 wurden Sinowjew, Radek und Kamenev mit Gesprächen mit der deutschen Delegation
im EKKI beauftragt. Die Gespräche wurden von vornherein als nützlich antizipiert.51 Die deutsche De-
legation, die zum Erweiterten Plenum des EKKI anreiste – Zetkin, Thalheimer, Brandler und Walcher –
hatte am 19.2.1922 eine Erklärung an das ZK der RKP(b) eingereicht, wo es v.a. um eine Detailanalyse
der Märzkämpfe und einen engeren Kontakt zwischen KPD und RKP(b) ging.52
Am 7.3.1922 sandte Radek eine umfangreiche Denkschrift an Lenin, Trotzki, Stalin, Sinowjew, Ka-
menev, Georgij Čičerin, Maxim Litvinov, Leonid Krasin und Christian Rakovskij über den (seiner Mei-
nung nach nicht ausschlaggebenden) Stellenwert der Konferenz von Genua für den Wiederaufbau
Europas und die Unterstützung der Sowjetunion. Die Konferenz sollte nicht erst abgewartet werden,
es sei sofort mit Separatverhandlungen begonnen und dabei die Beziehungen zu Frankreich gepflegt
werden, da sich ansonsten eine Abhängigkeit von England und ein daraus resultierender stärkerer
49 Lenin bezieht sich auf das Bakteriologische Zentrallaboratorium des Deutschen Roten Kreuzes
in Moskau, das im Rahmen der Seuchenhilfsexpedition des DRK Ende 1921 gegründet wurde und
u.a. Impfstoffe herstellte (siehe: Wolfgang Eckart: Nach bestem Vermögen tatkräftige Hilfe leisten. In:
Forschungsmagazin Ruperto Carola (1999), 3, http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/ruca99_3/
eckart.html).
50 Nikolai Semaško war von 1918 bis 1930 Volkskommissar für öffentliche Gesundheit.
51 RGASPI, Moskau, 17/3/270, 2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 114–115.
52 RGASPI, Moskau, 495/293/25, 7–9.
228 1918–1923
Druck auf Deutschland ergeben würde. Ziel sei die Erarbeitung einer realistischen Plattform, einschl.
eines Programms zum Wiederaufbau Russlands. Sollte die kapitalistische Welt die fundamentalen
Rechte Sowjetrusslands anfechten, müsse die Konferenz abgebrochen werden.53
Auf Vorschlag Krestinskijs stimmte das Politbüro des ZK der KP Russlands am 13.3.1922 dafür, eine
„neue Berliner Zeitung“ mit 2 Millionen Reichsmark zu finanzieren.54
Am 15.3.1922 setzte das Politbüro des ZK der KP Russlands das Budget der Komintern für das Jahr
1922 auf 2,5 Millionen Rubel fest.55
Auf Vorschlag des Außenkommissariats beschloss das Politbüro am 16.3.1922, Radek von den Ver-
handlungen, die er in Deutschland im Vorfeld der Konferenz von Genua führte (siehe Dok. 61), zu
entbinden, damit er sich voll und ganz auf die Vorbereitung der Konferenz der Drei Internationalen
konzentrieren könne.56
Dok. 63
Brief des Sekretärs der Internationalen Arbeitsgemeinschaft
Sozialistischer Parteien, Friedrich Adler, an die Komintern für
Einheitsfrontverhandlungen
Berlin, 3.4.1922
Nr. 3357
Reichstag
Fernsprecher: Zentrum 9592–9600 Berlin NW 7, den 3. April 1922
Werte Genossen!
In Beantwortung Ihres heutigen Schreibens an unsere Exekutive58 stellen wir fest,
dass wir unverändert an dem Standpunkt unseres Aufrufes an die Arbeiterparteien
53 RGASPI, Moskau, 2/2/1162, 2–14. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Kom-
intern i ideja, S. 353–366.
54 RGASPI, Moskau, 17/3/280, 1.
55 RGASPI, Moskau, 17/3/281, 1–2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 125.
56 RGASPI, Moskau, 17/3/282, 2–3; APRF, 3/64/644, 50. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, S. 53–54.
57 Nr. 33 ...: Amtlicher Vordruck in Frakturschrift.
58 Das Schreiben beinhaltete den Vorschlag der Komintern, zunächst mit der Internationalen Ar-
beitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (IASP) getrennte Gespräche zu führen, bevor man sich in
Dok. 63: Berlin, 3.4.1922 229
aller Länder vom 15. Jänner festhalten,59 und alles daran setzen wollen, um die allge-
meine Konferenz zu ermöglichen. Die Erklärung, die Genosse Paul Faure im Namen
unserer Exekutive in der gestrigen Plenarsitzung der Konferenz abgegeben hat, steht
vollkommen auf dem Boden unseres obengenannten Aufrufes. Wir haben in unserem
Aufruf die schweren Bedenken gegenüber der 3. Internationale ebenso wie gegen-
über der 2. Internationale, die in unseren Reihen bestehen, mit aller Deutlichkeit zum
Ausdruck gebracht, aber ebenso klar ausgesprochen, dass wir trotz dieser Bedenken
uns in den Dienst der Herstellung der Einheitsfront des Proletariats stellen. Dieser
unser Standpunkt geht ganz unzweifelhaft aus dem Schlusspassus der Erklärung, die
Genosse Faure abgab, hervor. Er lautet:
„Die Exekutive der IASP60 spricht die Ueberzeugung aus, dass die Notwendigkei-
ten des proletarischen Klassenkampfes den Gedanken der Einheitsfront zum Siege
führen und damit die allgemeine Anerkennung dieser Erfordernisse der Einheit des
internationalen Proletariats durchsetzen werden. Im Vertrauen darauf betrachtet die
Exekutive der IASP es für unzweckmässig, auf dieser Zusammenkunft, die bloss der
Vorbereitung einer breiteren gemeinsamen Konferenz dienen soll, alle diese Streitfra-
gen zu erörtern und erklärt sich bereit, in die gemeinsame Beratung der Arbeit an der
Herstellung der proletarischen Einheitsfront einzutreten.“
Wir halten an dem Gedanken der allgemeinen Konferenz und ebenso an der von
uns vorgeschlagenen Tagesordnung fest.61
der Neuenerkommission mit den Vertretern der Zweiten Internationale trifft. Der Österreicher Fried-
rich Adler wurde 1923 nach der Vereinigung der beiden Internationalen (General)sekretär der Soziali-
stisceh Arbeiterinternationale (SAI).
59 Das von der Internationalen Arbeitsgemeinschaft sozialistischer und sozialdemokratischer Par-
teien am 15.1.1922 erlassene Manifest „an die Arbeiterparteien aller Länder“ (publ. in: Nachrichten
der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien II (1922), Nr. 2, S. 65f.) war der „erste
Versuch einer allgemeinen Konferenz“ der drei Internationalen (Braunthal: Geschichte der Inter-
nationale, S. 259), nachdem zuvor ein englischer Plan, der nur die sozialistischen und sozialdemo-
kratischen Parteien betraf, abgelehnt worden war. Zur Begründung wurde auf die „schmerzlichen
Erfahrungen aller Arbeiterparteien in den letzten Jahren“ rekurriert, „[...] die das Bewußtsein der
Verantwortung erzeugt (haben), daß dem heißesten Wunsche des gesamten Proletariats entsprochen
werden muß, dem Wunsche nach Konzentrierung der Kraft der Arbeiterklasse in solidarischer Aktion
zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.“ Die Komintern sagte daraufhin zu, an
Vorgesprächen teilzunehmen. Die III. Internationale – so im Aufruf – bildete den Zusammenschluss
der kommunistischen Parteien und „sie kann [auch] nichts anderes werden“, da sie bewußt „auf die
Zertrümmerung derjenigen sozialistischen Parteien hin(arbeite), die sich nicht widerstandslos ihrem
Diktat beugen.“
60 IASP: Internationale Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien.
61 Die IASP hatte bewusst die Tagesordnung auf die folgenden beiden defensiven Punkte beschränkt:
„1. Die ökonomische Lage Europas und die Aktionen der Arbeiterklasse. 2. Der Abwehrkampf des Pro-
letariats gegen die Reaktion.“ (ibid., S. 66)
230 1918–1923
Dok. 64
Von der GPU abgefangener Brief des Menschewiken Rafail
Abramovič an die Genossen in Russland über die „Konferenz der
Drei Internationalen“
Berlin, nicht vor dem 5.4.1922
Liebe Freunde. Aus den Zeitungsmeldungen kennt Ihr sicherlich schon die Fakten und
wahrscheinlich auch den Text der (allgemeinen) Resolution.62 Im „S[ocialističeskij]
v[estnik]“63 Nr. 7 findet Ihr auch den Text der Wiener „Erklärung“.64 Hier will ich
nur diejenigen Details mitteilen, die Ihr in den (russischen) Zeitungen nicht finden
werdet.65
Bereits am Anfang der Konferenz wurde deutlich, dass die 3. Internationale sehr
an einer gemeinsamen Konferenz interessiert ist, während die 2. [Internationale]
dagegen in einer sehr skeptischen Stimmung gekommen war und überhaupt nicht
betrübt sein würde, sollte diese Geschichte platzen. [...] Angesichts dieses Umstan-
des, sowie auch angesichts ihrer in der Frankfurter Erklärung (Februar 1917 [richtig
1922])66 niedergelegten allgemeinen Position, hat die Delegation der 2. Internationale
(für sich) den Weg des geringsten Widerstandes eingeschlagen, indem sie sich fest
hinter der Position des „Ultimatums“ verschanzte: Wenn unsere Vorbedingungen
nicht erfüllt werden, werden wir keine Zustimmung zu einer gemeinsamen Konferenz
62 Für den Text der „Gemeinsamen Erklärung der drei Exekutiven“ siehe: Protokoll der Internationa-
len Konferenz der drei internationalen Exekutivkomitees in Berlin vom 2. bis 5. April 1922. Herausge-
geben vom Neunerkomitee der Konferenz, Wien, Verlag des Neunerkomitees in Kommission bei der
Wiener Volksbuchhandlung, 1922 (Reprint: Berlin-Bonn, J.H.W.Dietz Nachf., 1980), S. 47.
63 Socialističeskij vestnik („Sozialistischer Bote“): Organ der Menschewiki in der Emigration, von Julij
Martov und Rafail Abramovič in Berlin im Februar 1921 gegründet. Erschien ab 1933 in Paris, von 1940
bis 1963 in New York.
64 Die „Wiener“ bzw. „2½. Internationale“, offiziell IASP (siehe vorheriges Dokument), nahm neben
der 2. Internationale und der Komintern an der Konferenz der drei Exekutivkomitees teil. Die Erklärung
der IASP zur Eröffnung der Konferenz wurde von Paul Faure auf der Abendsitzung des 2.4.1922 verlesen
und im Socialističeskij vestnik vom 3.4.1922 publiziert (siehe: Protokoll der Internationalen Konferenz,
S. 15–16).
65 Der 1920 nach Berlin emigrierte russische Sozialdemokrat Rafail Abramovič (1880–1963), einer
der Führer des Jüdischen Arbeiterbunds und Mitglied des ZK der Menschewiki, war bei der Konferenz
als Beobachter seitens des EK der „Wiener Internationale“ anwesend.
66 Beim Treffen der Führer der 2. und der 2½. Internationale in Frankfurt am Main vom 24. bis
26.2.1922 machte die 2. Internationale ihre Teilnahme an einer Drei-Internationalen-Konferenz von
der Besprechung der Fragen Georgiens und der sozialistischen politischen Gefangenen in Sowjetruss
land abhängig.
Dok. 64: Berlin, nicht vor dem 5.4.1922 231
geben. Und diese Bedingungen sind folgende: 1) Der Verzicht der III. [Internationale]
auf Gründung von Gewerkschaftszellen (besonders wichtig für die Deutschen),67 2)
Georgien,68 3) die russischen Sozialisten und der SR-Prozess.69 [...]
Aufgrund dieser Konstellation sah es auf der Konferenz so aus, dass die III. Inter-
nationale sich in der Rolle des Angeklagten wiederfand: Vandervelde, MacDo[nald]
und andere klagten an, Rad[ek] antwortete: „Wozu sollen wir uns mit der Vergangen-
67 In den Thesen des III. Weltkongresses hatte die Komintern nicht nur den Kampf gegen die sozial-
demokratische Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale, sondern auch den Aufbau von Betriebs-
und Gewerkschaftszellen seitens der kommunistischen Parteien beschlossen. Siehe: Leitsätze über
den organisatorischen Aufbau der Kommunistischen Parteien, über die Methoden und den Inhalt
ihrer Arbeit. Angenommen in der 24. Sitzung des III. Weltkongresses vom 12. Juli 1921, Hamburg,
Verlag der Kommunistischen Internationale, Auslieferungsstelle für Deutschland: Carl Hoym Nachf.
Louis Cahnbley, 1921 (Flugschriften der K.I. 5).
68 Trotz der Anerkennung der Unabhängigkeit Georgiens im Moskauer Friedensvertrag vom 7.5.1920
erfolgte Anfang 1921 der Einmarsch der Roten Armee und die Flucht der 1919 aus demokratischen
Wahlen hervorgegangenen sozialdemokratischen Regierung im März 1921). Georgien galt internatio-
nal als Nagelprobe für den Umgang der Sowjetmacht mit parlamentarisch-demokratischen Struktu-
ren und dem Verhältnis zur Sozialdemokratie (siehe Karl Kautsky: Georgien: Eine sozialdemokra-
tische Bauernrepublik. Eindrücke und Beobachtungen, Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1921. In
der Folge führte die maßgeblich von Stalin und Ordžonikidze gegen Lenin durchgeführte Politik in
Georgien zur brutalen Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegung, die im Aufstand zur Wieder-
herstellung der nationalen Souveränität Georgiens kulminierte (Beginn 28.8.1922). Dieser wurde bis
Mitte September niedergeschlagen, es folgten Massenexekutionen. Die Einverleibung Georgiens in
die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik erfolgte gegen die georgischen Kom-
munisten. Lenins letztes diktiertes Telegramm galt der Solidarität mit den georgischen Kommunis
ten, zur Verteidigung gegen den großrussischen Chauvinismus Stalins (siehe: Stephen F. Jones: The
Establishment of Soviet Power in Transcaucasia: The Case of Georgia 1921–1928. In: Soviet Studies, 40
(1988), No. 4, S. 616–639).
69 Die Sozialrevolutionäre wurden als wichtige soziale und politische Träger der russischen Revolu-
tionen von 1905 und 1917 sowie größte Partei in der konstituierenden Versammlung durch die Bolsche-
wiki zunehmend aus den Sowjets und anderen Strukturen verdrängt, worauf sie sich zeitweise durch
eine Koalitionspolitik mit bürgerlichen konterrevolutionären Kräften, den bewaffneten Aufstand im
Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki gemeinsam mit der tschechischen Legion (1918) sowie Attentaten
und individuellem Terror hervortaten. Im Juni-August 1922 fand in Moskau der ursprünglich früher ge-
plante, öffentliche „SR-Prozess“ statt, in dem sie als „volksfeindliche“ Partei abgeurteilt wurde. Trotz
massiver Erschwernisse für die Verteidigung und seiner propagandistischen Umrahmung war es noch
kein Schauprozess stalinistischer Prägung. In Vorbereitung der Konferenz der Drei Internationalen
hatten Sozialdemokraten und Linkssozialisten zur Bedingung für die Verhandlungen gemacht, dass
es keine Todesurteile geben dürfe und dass westliche Verteidiger aus dem sozialistischen Lager zu-
gelassen würden. Aus den Reihen der KPD und der Komintern gab es ähnliche Interventionen (bspw.
von Ernst Meyer). Im öffentlichen Prozess, an dem drei westliche Verteidiger teilnahmen (Emile Van-
dervelde für die II. Internationale, Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht (beide USPD) für die „2½
Internationale“) wurden zwar zwölf Todesurteile gefällt, die jedoch unter der Bedingung nicht voll-
streckt wurden, dass keine weiteren Attentate seitens der Sozialrevolutionäre aus dem Untergrund
erfolgen würden (siehe: Manfred Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei Rußlands; Marc Jansen:
A Show Trial under Lenin. The Trial of the Socialist Revolutionaries, The Hague u.a., 1982).
232 1918–1923
heit beschäftigen. Vergessen wir das Vergangene, lasst uns ein gemeinsames Einver-
nehmen finden.“
Natürlich versuchte er, sich mit Gegenbeschuldigungen herauszuwinden, und
befleißigte sich eines frechen Tons, doch im Grunde war seine Position die der Ver-
teidigung, und das war allen klar. Mein Gott, wie sehr unterschied sich dies von den
primitiven Bildern, die die offizielle Sowjetpresse von dem Treffen mit den Sozial-
verrätern und den „Gelben“70 zeichnete. Wo war bloß der gefürchtete „sozialistische
Ankläger“, der die Angeklagten vor das Tribunal zerrt, sie entlarvt, mit dem Flam-
menschwert straft... Rad[ek] wirkte auf dieser Konferenz wie ein gerupftes Küken,
das seine Scham mit Frechheit zu bedecken versucht. Es gibt nicht den geringsten
Zweifel, dass der Hauptgrund, der die Dritte Internationale zu ihrer „Nachgiebigkeit“
bewegt hat, die nationalen Interessen der russischen Sowjetregierung in Verbindung
mit [der Konferenz von] Genua liegt, doch auch das Bewusstsein der eigenen Schwä-
che in Europa spielte bei diesem Verhalten eine große Rolle. Unter den Anwesenden
im Saal war nicht ein Quäntchen Angst zu spüren, dieses ehrfürchtigen Zurückwei-
chens vor der Kommunistischen Internationale, wie es in den Tagen von Halle der
Fall gewesen ist.71 Es gab lediglich verächtliche Feindschaft oder schlichtweg kalte
Gleichgültigkeit. Niemand in Europa fürchtet die Kommunisten.
Als Symptom der Zeit ist dies äußerst charakteristisch, doch hiervon ausgehend
liegt die Schlussfolgerung natürlich noch in weiter Ferne, man könne der Komintern
in Berlin alle möglichen Forderungen stellen und dabei sicher sein, dass sie diese
annimmt. Im Gegenteil: In keiner der bestehenden Fragen konnten von den Bolsche-
wiki reale Kompromisse abgerungen werden, doch selbstverständlich erwartete dies
auch keiner der Konferenzteilnehmer. Der Fortschritt besteht jedoch in der Erkennt-
nis, dass ihre Widerstandskraft extrem abgenommen hat. Sie haben noch nicht nach-
gegeben, doch es ist erkennbar, dass sie mit letzter Kraft durchhalten. Unsere Posi-
tion, die von ganz Wien72 völlig geteilt wurde, beinhaltet Folgendes: Wir können in
keinem Fall zulassen, dass die Konferenz der 3 Exekutivkomitees an unseren bren-
nenden Fragen (Georgien, Terror gegen Sozialisten, SR-Prozess) vorbeigeht. [...]
Ich gehe nun über zur Darlegung des Ablaufs der Ereignisse, soweit es um die
geheime Seite der Erklärung der 3. Internationale geht. Die Verlautbarung der Zetkin
war äußerst zahnlos und friedfertig.73 Und auch die darauf folgende Rede von Vander-
velde war zwar recht blass im Inhalt, allerdings ziemlich scharf im Tonfall. Deswegen
70 Gemeint sind die sogenannten „Gelben Gewerkschaften“, die als Gegenmittel zu den „roten“ so-
zialistischen Gewerkschaften von den Unternehmen selbst gegründet und gefördert wurden.
71 Gemeint ist der außerordentliche Parteitag der USPD in Halle (12.–17.10.1920), auf dem die Mehr-
heit der Delegierten den Beitritt zur kommunistischen Internationale beschloss. Damit entstand aus
der USPD-Linken und der KPD(S) die VKPD erstmals als Massenpartei mit ca. 350.000 Mitgliedern
(siehe hierzu den Text von Hermann Weber in diesem Band).
72 Gemeint ist die „Wiener Internationale“ bzw. die IASP.
73 Im Gegensatz zu den polemischen und hitzigen Wortmeldungen Karl Radeks beschwor die von
Clara Zetkin vorgetragene Erklärung der Kommunistischen Internationale in sachlicher und beinahe
Dok. 64: Berlin, nicht vor dem 5.4.1922 233
war auch die Antwort Radeks heftig, und die Luft roch nach Schießpulver. Beson-
ders empört waren die Scheidemann-Leute, denen Radek den Mord an Rosa Luxem-
burg und Liebknecht unterschieben wollte. Allgemeine Empörung rief sein Satz über
den Austausch von Verurteilten – SRs gegen bayerische Kommunisten – hervor. Man
schrie ihm entgegen: „Wir handeln nicht mit Menschenfleisch.“74 Nach seiner Rede
konnten die Verhandlungen für diesen Tag nicht mehr fortgesetzt werden. Alle Frak-
tionen hatten sich zu fieberhaften Besprechungen zurückgezogen. [...]
Am [nächsten] Morgen tritt in der Konferenzsitzung in ihrem [der Zweiten Inter-
nationale] Namen MacDonald auf. Eine im rhetorischen Sinne herrliche Rede, aber
sehr englisch (viel Moral, wenig Marxismus). Abschließend liest er seine Forderungen
vor. Ein erneutes Ultimatum: aber wie sind die Forderungen formuliert? Von der geor-
gischen Frage ist fast nichts mehr übrig (eine Kommission der 3 Internationalen zur
„Untersuchung“ der Frage), über den Terror – kaum mehr als die Zulassung Vander-
veldes als Anwalt zum SR-Prozess. Und der einzige Punkt, der klar formuliert ist, ist
der Verzicht auf die [Gewerkschafts-]Zellen. Am Tisch der III. [Internationale] herrscht
Niedergeschlagenheit. Serrati erhebt sich. Mit voller Wucht stürzt er sich auf die II.,
nimmt die „historische Notwendigkeit des Terrors“ in Schutz (Applaus seitens der
III.).75 Doch nach Beendigung seiner Rede sagt Bucharin laut: „Der Fuchs!“ Auf uns
machte die Rede Serratis einen äußerst unangenehmen Eindruck, dann folgt auch
schon Bauer. Eine kluge, in der Form glänzende, sehr geschickt aufgebaute Rede. Die
Ohrfeigen werden mit der Präzision eines Apothekers und zu gleichen Teilen nach
links und nach rechts ausgeteilt, damit keiner sich benachteiligt fühlt. Da springt
Radek wieder auf. Er knirscht mit den Zähnen, beißt um sich, wie ein Wolfsjunge,
der an die Wand gedrückt wird. Man sieht, dass er in der Falle ist. Er kann es nicht,
er wagt es nicht, die Konferenz zu sprengen (ihm ist wohl befohlen worden, nicht
zu „reißen“), doch zurück kann er auch nicht. Er wirbt um Verständnis dafür, dass
keine Partei auf ihre Zellen verzichten könne, doch eine Spaltung der Gewerkschaf-
ten wollen sie nicht, sie haben dies kategorisch verboten, und dies gelte auch für die
Zukunft. Er appelliert an den Verstand der II. Internationale. Gut, selbst wer ihnen,
friedfertiger Art die Notwendigkeit der proletarischen Einigung (siehe: Protokoll der Internationalen
Konferenz, S. 7–10).
74 Das offizielle Stenogramm zitiert die Auseinandersetzung folgendermaßen: „[Radek:] Zeigt doch,
daß ihr bessere Menschen seid als wir, schlagt uns vor den Austausch der von euch heilig gespro-
chenen russischen Terroristen für die Kämpfer der bayerischen Räterepublik und für die Kämpfer
der Märzaktion. (Zuruf Tschernoffs: Chantage!) – Wer von Chantage spricht, das ist ein Mensch ohne
Stirn, ich werde Ihnen so antworten, daß Sie das Wort vergessen werden. (Unruhe.) Wir sagen: wollt
ihr die Konferenz sprengen – bitte schön, ihr werdet die Verantwortung tragen!“ (Protokoll der Inter-
nationalen Konferenz, S. 20).
75 Wörtlich sagte Serrati: „Eine Revolution bedient sich in jedem Fall der Mittel, über die sie verfügt.
Sie kann nicht wie ein elegantes Fräulein sein, das auf Blumen einherschreitet, sie tut, was sie tun
kann, was sie tun muß. Aber es ist auch ganz richtig, daß Lenin schon [...] in einer Rede erklärt hat,
daß die Methoden der Tscheka geändert werden müssen. (Zwischenruf Abramowitsch: Der Name der
Tscheka!) Vergiften Sie nicht die Situation!“ (Protokoll der Internationalen Konferenz, S. 28)
234 1918–1923
den Kommunisten, keinen Glauben schenke, und ihrem guten Willen nicht vertrauen
möge, solle der zwingenden Kraft der Umstände glauben, die die Kommunisten zu
einer Übereinkunft triebe. Und er richtete seine ganze Kraft gegen Georgien, doch
schon auf andere Art und Weise.
Es stellt sich heraus, dass es jetzt nicht mehr um den Aufstand georgischer Kom-
munisten gegen ihre menschewistische Regierung geht, wie früher behauptet wurde.
Ja, sie, die russischen Kommunisten, haben all dies getan. Doch warum? Eben darum,
weil England über Georgien an das Erdöl von Baku heran wollte, und Russland Geor-
gien besetzen musste, um den Zugang zum Öl zu sichern. Als ich (Abramovič) ihm
„Erdöl-Kommunismus!“ zurief, antwortete er mir frech: „Ach so, wenn Sie also die
Revolution machen werden, werden Sie die Kessel ohne Erdöl heizen. Nur womit bloß,
mit dem Feuer Ihrer Überzeugung?“76 Dieser Zynismus rief bei den Kommunisten
Gelächter hervor, jedoch große Empörung beim Rest. [...]
Nun wird die „Neuner“ zusammengerufen.77 [...] Doch hier war ein weiterer
Haken. Radek erklärte, dass die dritte Bedingung des Punktes über den Terror (die
Verpflichtung, die Befreiung der Gefangenen in allen Ländern anzustreben) für sie
unannehmbar sei. Dies würde zwar auch die Befreiung der verhafteten Kommunis-
ten in Deutschland usw. bedeuten, aber wegen Russland könne er nicht, und bittet
darum, Bucharin in die Kommission aufzunehmen. Man lässt Bucharin zu, doch als
Ausgleich lädt man auch mich (Abramovič) ein. Klare Sache. Radek hat auch nichts
dagegen, nachzugeben, doch entweder hat er Angst vor Bucharin oder er will sich
auf ihn stützen. Und nun entspannt sich vor dem Angesicht der „Neuner“ ein Disput
zwischen Radek, Bucharin und mir (Abramovič) über die Frage des russischen Terrors.
Angesichts des Interesses, das dieser Punkt für uns darstellt, gebe ich das Gespräch
protokollarisch wieder.78 Ich (Abramovič) weise (unter allgemeiner Zustimmung)
darauf hin, dass wir keine Erklärung unterzeichnen oder von unserer Internatio-
nale unterzeichnen lassen können, in der nicht auf die Notwendigkeit hingewiesen
wird, den Terror gegen Sozialisten einzustellen, dass diese Einstellung ein absoluter
Bestandteil der Einheitsfront sei, und dass es keine Einheitsfront in der Internatio-
76 Das offizielle Stenogramm der Konferenz gibt den Wortwechsel folgendermaßen wieder: „[Radek:]
Ihr wißt sehr gut, daß die Naphtafrage nicht nur für das kleine Georgien, sondern auch für das große
russische Volk und die russische Arbeiterklasse auch eine gewisse Bedeutung hat. Nun hat mir einer
der Genossen aus der Wiener Internationale zugerufen: Schöner Naphtakommunismus. (Zuruf Ab-
ramowitsch: Sehr richtig. Naphtakommunismus!) Wenn der Bürger Abramowitsch den Sozialismus
einführen wird, wird er ihn ohne Naphta einführen. (Große Heiterkeit.) Der Bürger Abramowitsch
wird wahrscheinlich den Vulkan seiner Entrüstung und seinen Enthusiasmus als Heizmittel und als
motorische Kraft benützen. (Große Heiterkeit.) Wir armen Teufel haben noch nicht einmal gelernt,
Naphta gut auszunutzen. (Zuruf Abramowitsch: So wirtschaftet ihr!)“ (Protokoll der internationalen
Konferenz, S. 39).
77 Das Organisationskomitee der Konferenz wurde, auch offiziell, „Neunerkomitee“ genannt, weil in
ihr jeweils drei Vertreter der Exekutivkomitees jeder Internationale vertreten waren.
78 Im offiziellen Stenogramm der Konferenz werden die geschlossenen Sitzungen der Neunerkom-
mission, wie auch dieses Gespräch, nicht wiedergegeben.
Dok. 64: Berlin, nicht vor dem 5.4.1922 235
nale geben könne, wenn es sie nicht auch in Russland gebe. Darüber hinaus sei der
Terror ein Unglück für Russland, und die einzige Rettung der russischen Revolution
liege in seiner Abschaffung sowie in der Verständigung aller Sozialisten.
Radek antwortet, dass man von ihnen solche Dinge nicht jetzt verlangen könne.
Die SR hätten eine Konferenz gehabt, auf der sie eine Resolution zur Kampforgani-
sation, zu Aufständen etc. angenommen haben. Und da solle man sich nicht wehren
dürfen? Ich (Abramovič) antworte, dass, erstens, die deutschen Kommunisten auch
eine Kampforganisation haben, und wir nichtsdestotrotz bereit sind (wozu sich auch
die Scheidemannleute verpflichten), sich für ihre Amnestierung einzusetzen. Zwei-
tens werde die Taktik der SR durch das Verhalten der Bolschewiki ihnen gegenüber
bestimmt, und sie wäre vielleicht friedlicher (ohne Aufstände), wenn sich die Bol-
schewiki vom systematischen Terror lösen würden; und drittens zetteln die Mensche-
wiki keine Aufstände an, und trotzdem werden sie terrorisiert [...].
Bucharin setzt an, dass die komm[unistischen] Deutschen gegen die Kapitula-
tion kämpfen, während wir gegen die Sozialisten kämpfen, deswegen sei dies Unter-
schied, doch Radek fällt ihm ins Wort und winkt verächtlich ab. Während er mich
(Abramovič) „bedeutungsvoll“ ansieht, sagt er, dass sie einen riesigen Unterschied
zwischen den S[ozial-]D[emokraten] und den SRs machen würden, dass einige von
ihnen die Taktik gegenüber den Menschewiki gerne ändern würden, doch dafür
bedürfe es Zeit. [...]
Also habe ich (Abramovič) darüber eine kurze Aufklärung gegeben und die
Auseinandersetzung fortgesetzt. Radek jedoch erklärte: „Macht was ihr wollt, doch
Bucharin und ich können dies als Mitglieder des ZK der RKP(b) nicht unterschreiben.
Wir erklären offen: ‚Non possumus‘.“79 [...]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wenn der Versuch nicht mit einem
Fiasko endete und auch einige Schritte hin zur Verwirklichung der „Einheitsfront“
im internationalen Maßstab gemacht wurden, dies das Verdienst Wiens ist, vor allem
Adlers und der russischen Delegation; unsere Position hat den Druck auf die II. Inter-
nationale ausgeübt, ohne den sie nicht einen Kompromisskurs eingeschlagen hätte.
Wir sind also im Großen und Ganzen mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Alles, was wir
sagen mussten, haben wir gesagt, und das klar und deutlich. Ich nehme an, dass man
dies in unserer Agitation vollends ausnutzen muss.
Gruß
(R. Abramovič)80
79 Non possumus (lat.): „Wir können nicht“ (Antwort des Papstes Clemens VII. auf die Bitte Henry
VIII. um Scheidung).
80 Am Schluss handschriftlich: „Für die Richtigkeit: Sverdlova“. Der Brief Abramovičs wurde bei
einer Hausdurchsuchung eines in Sowjetrussland gebliebenen Mitglieds des ZK der Menschewiki
gefunden und Lenin in Kopie zugeleitet. Eine entsprechende Notiz der GPU vom 6.5.1922 liegt vor
(RGASPI, Moskau, 2/1/26236, 1).
236 1918–1923
Dok. 65
Bericht Radeks und Nikolaj Bucharins an das russische
Politbüro über die Ergebnisse der Berliner „Konferenz der Drei
Internationalen“
Berlin, 8.4.1922
Streng geheim
An das Politbüro des ZK, den Gen. Lenin, Trotzki, Sinowjew, Stalin, Kamenev.
Liebe Genossen,
Die Protokolle der Konferenz, die Protokolle der Delegiertensitzungen und einen
umfangreichen vorläufigen Bericht werde ich an Sinowjew senden. Der vorliegende
Brief hat die Aufgabe, Euch einige Zusatzinformationen zu liefern und unsere Taktik
zu klären. [...]
1. Man muss versuchen, eine gewisse Spaltung in die II. Internationale hineinzu-
tragen, indem man Vandervelde nach Russland lässt, falls er dies verlangen wird, was
ich stark bezweifele. In Russland muss man ihn einerseits verurteilen, anderseits ihm
jedoch einen kleinen Finger reichen.81 Ramsay MacDonald kämpft gegen die trade-
unionistische Labour-Party82 und sucht nach Kontakten. Es wäre selbstverständlich
idiotisch, auch nur einen Augenblick zu glauben, er könne ein Linker sein, doch er ist
ein ehrlicher Pazifist und man könnte ihn gegen solche offensichtlichen Agenten der
Regierung wie Tom Shaw einsetzen.83 Die Front muss gegen die professionelle Büro-
kratie gerichtet sein, die in der Frage der Kapitaloffensive und der Abgaben geschla-
gen werden muss. Wir werden hier eine Auswahl von Materialien über den Lauf und
den Angriff der Kapitalisten in allen Ländern herausbringen.
2. Bezüglich der 2½. Internationale muss man in der Propaganda unversöhnlich
sein, doch zugleich bedenken, dass die sich zuspitzende Lage Hilferding zum Rück-
tritt gezwungen hat,84 und für Adler die Idee der proletarischen Einheit so zentral ist,
81 Als einer der Vorsitzenden der II. Internationale (neben Arthur Henderson und Louis de Brouckère)
wurde Emile Vandervelde zusammen mit Theodor Liebknecht und Kurt Rosenfeld am 25.5.1922 die
Einreise nach Russland gestattet, wo er und seine Kollegen einerseits sicheres Geleit erhielten, ande-
rerseits jedoch inszenierten Schmähkundgebungen u.ä. ausgesetzt wurden (siehe: Larisa V. Borisova:
Trudovye otnošenija v Sovetskoj Rossii. 1918–1924 gg., Moskva, Sobranie, 2006, S. 262–267).
82 Hier ist die Independent Labour Party gemeint.
83 Der Labour-Politiker Thomas „Tom“ Shaw (1872–1938) war u.a. Sekretär der Internationalen Föde-
ration der Textilarbeiter.
84 Im Sinne der Verteidigung der Republik gegen Rechts versuchte Hilferding, die USPD in Richtung
der SPD zu öffnen, trat dann jedoch Anfang 1922 aufgrund von verschärfter Kritik aus der Redaktion
Dok. 65: Berlin, 8.4.1922 237
dass wir dadurch, dass wir unser entschiedenes Streben zur Einheitsfront exponiert
vortragen, einen starken Einfluss auf ihn haben können.
3. Das Exekutivkomitee der Komintern muss unverzüglich einen Aufruf an alle
Arbeiter unabhängig von der Parteizugehörigkeit über die Ergebnisse der Konferenz
herausbringen, der als zentrale Losung den Kampf für die Einberufung eines interna-
tionalen Arbeiterkongresses haben soll.85 Der Aufruf muss ohne eine einzige Schmä-
hung verfasst werden.
4. Wenn unser Exekutivkomitee die Schaffung einer Organisationskommission
zulässt und Vertreter entsendet, muss man auf der ersten Sitzung an einer Resolu-
tion festhalten, die die Einberufung inoffizieller Beratungen der Amsterdamer und
der Unsrigen sanktioniert. Diese Beratungen soll dann die Profintern vorbereiten und
dabei Materialien sammeln über: a) die Existenz von Fraktionen in der S[P]D und
US[P]D, und die Independent Labour Party in der Gewerkschaftsbewegung, und b)
die Verfehlungen der Bürokratie in der Gewerkschaftsbewegung in den letzten Jahren.
5. Man muss eine gigantische Kampagne über die Rolle der SR während der Revo-
lution entfalten, dasselbe auch im Bezug auf die Menschewiki.86 Da Sosnovskij abge-
reist ist, setzt Vardin oder Bystrjanskij an die Arbeit; es werden zwei Broschüren à 32
Seiten benötigt, die Fakten liefern und kein soziologisches Wasser. Diese Broschüren
müssen bis 1922 gehen.87 Alles an Materialien, das hier erhältlich ist, werde ich als
Sondernummer der Russischen Korrespondenz88 herausbringen, und daraus werden
des Parteiorgans Freiheit zurück (William Smaldone: Rudolf Hilferding. The Tragedy of a German So-
cial Democrat, Dekalb, Northern Illinois University Press, 1998, S. 98).
85 Die von der Komintern verfolgte Kampagne, zur Konferenz von Genua eine „Weltarbeiterkonfe-
renz“ einzuberufen, scheiterte aufgrund der Kurzfristigkeit ihrer Einberufung und des Widerstands
seitens der Sozialdemokratie. Prinzipiell einigte man sich jedoch auf die Einberufung einer allge-
meinen Konferenz, was jedoch folgenlos blieb (siehe: Protokoll der Internationalen Konferenz, S. 47;
Zarusky: Die deutschen Sozialdemokraten, S. 153f.)
86 Mit „SR“ ist die Partei der Sozialrevolutionäre gemeint
87 Ein Ergebnis der lancierten Kampagne war u.a. die Broschüre: I. Wardin [d.i. Illarion Mgeladze]:
Die Partei der Menschewiki in der Russischen Revolution, Hamburg, Verlag der Kommunistischen
Internationale, 1922.
88 Die Russische Korrespondenz, hrsg. von der Kommunistischen Internationale, erschien als frühe
repräsentative Zeitschrift, illustriert, mit farbigen Plakatreproduktionen und Falttafeln, bei unter-
schiedlichen Verlagen in Deutschland in den Jahren 1920–1922 (siehe: Die Russische Korrespondenz,
Milano, Reprint Feltrinelli, 1967). Sie wurde überwiegend als eine sowjetische Zeitschrift angesehen.
Eine Reihe von Artikeln erschien in der Nr. 6, Juni 1922 und beinhaltete “die wichtigsten Aufsätze“
zum Prozeß gegen die Sozialrevoutionäre in Moskau, darunter „Der histoirsche Sinn des Prozesses
gegen die Sozialrevolutionäre“ (Radek, S. 405–408), „Verrat und revolutionäre Pflicht“ (Trotzki, S.
408–410), „Die erschrockenen Terroristen“ (Radek, S. 412–413), „Neue Enthüllungen über die Partei
der Sozialrevolutionäre (Das Pariser Geheimarchiv)“ (Radek, S. 418–422), sowie die Erklärung des
Exekutivkomitees der Komintern „An die Proletarier aller Länder! Ein gerechtes Urteil des Revolutio-
nären Tribunals über die Führer der S.R.“ (S. 436–438). Vgl.: Karl Radek in der „Russischen Korrespon-
denz“. Politische Zeitschrift aus Sowjetrussland (1921–1922), Köln, Bibliothek des Anderen Buchladen
Karlsruhe, 2000.
238 1918–1923
wir Material an die Presse weiterleiten. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, welcher
Schaden dadurch angerichtet wird, dass die ROSTA89 nicht einmal die simpelsten
Fakten wiedergeben kann; die Telegramme über den Parteitag90 waren so [schlecht],
dass man daraus absolut nicht schlau wird. Gerade erst habe ich einen Brief von
meiner Frau erhalten, dem ich entnehme, dass die Arbeiteropposition91 vollständig
in der Partei belassen wurde. Der ROSTA teilt hingegen mit, dass die komplette Arbei-
teropposition aus der Partei ausgeschlossen wurde, mit Ausnahme von Šljapnikov
und Kollontaj. Drei verschiedene Mitgliederlisten des neuen ZK wurden ins Ausland
gesandt, was die Möglichkeit zu Tausenden von Kommentaren ergab. Das Komintern-
Sekretariat sendet überhaupt keine Materialien. Wie man in einer solchen Lage den
Kampf führen soll, weiß ich nicht.
Für heute reicht es.
Dok. 66
Telephonogramm Grigorij Sinowjews an Lenin zur Verstärkung des
internationalen Drucks auf die Sozialdemokratie
[Petrograd], 11.4.1922
Heute gibt es bei mir in Piter [Petrograd] eine Sitzung des EKKI-Präsidiums. Ich habe
die Absicht, bis zum Erhalt von Materialien die Frage des Verstoßes gegen die Direk-
tiven durch Radek und Bucharin93 vorerst nicht aufzuwerfen. Ich würde jedoch vor-
schlagen, folgendes zu beschließen:
1) Die Kampagne gegen die Menschewiki und die SRs in der gesamten internatio-
nalen kommunistischen Presse zu verstärken.
2) Damit zu beginnen, die Materialien der Berliner Konferenz systematisch zu ver-
wenden, dabei jede Schwachstelle des Gegners attackierend.
3) Gemeinsame Aufrufe der Neunerkommission94 vorerst nicht zu publizieren.
4) Während der Demonstrationen am 20/IV95 bei der Agitation keine falsche
Scham an den Tag legen, sondern den Gegner kritisieren.
5) Einzelne Sektionen [der Komintern] handeln den konkreten Umständen ent-
sprechend.
6) Wie dem auch sei, neue Schritte der Delegation werden vertagt, bis die Frage
der Ratifizierung der Berliner Resultate geklärt ist.
Wenn Sie Anmerkungen haben, bitte ich darum, mich noch heute per Telephono-
gramm zu benachrichtigen.
Sinowjew
93 Bei den Verhandlungen in Berlin machte die Komintern-Delegation gegenüber der 21/2. und der II.
Internationale ein Zugeständnis, indem sie bekundete, die angeklagten Sozialrevolutionäre würden
nicht hingerichtet. Auch in der Diskussion über Georgien beschränkte man sich auf einige wenige
neutrale Aussagen. Vor allem Lenin war mit dieser Position höchst unzufrieden, seine Kritik formu-
lierte er in seinem Artikel „Wir haben zu teuer bezahlt“ (Pravda, 11.4.1922; siehe auch: Lenin: Werke,
XXXIII, S. 316–320).
94 Neunerkommission, auch „Neunerkomitee“, das Organisationskomitee der Konferenz, der u.a. O.
Wels, A. Crispien und Clara Zetkin angehörten. Nach Ablehnung der Perspektive eines Arbeiterwelt-
kongresses verließ die kommunistische Seite die Neunerkommission.
95 Die KPD hatte für den 20.4.1922 zu Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit, für den Achtstunden-
tag und die Offensive des Kapitals aufgerufen.
240 1918–1923
Am 10.4.1922 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, den Artikel Lenins „Wir haben zu
teuer bezahlt“, der die Zugeständnisse Bucharins und Radeks auf der Berliner Konferenz kritisierte,
in der Pravda und der Izvestija abzudrucken. Am 12.4.1922 wurde jedoch trotz der Verurteilung Bu-
charins und Radeks auf Anraten von Lenin beschlossen, sie nicht aus Deutschland abzuberufen.96
In einem Telegramm an Bucharin und Radek über die Verhandlungen in der Neunerkommission for-
derte das Politbüro des ZK der KP Russlands am 17.4.1922, die Verhandlungen der Konferenz von
Genua zum Thema zu machen. Wegen der Abrüstungsfrage drohe die Konferenz zu platzen. Dage-
gen solle deswegen die Arbeiterschaft mobilisiert werden. Seitens der französischen Kommunisten
müsse eine große Kampagne gegen den französischen Vertreter Louis Barthou und Ministerpräsident
Raymond Poincaré durchgeführt werden. Dem Sozialdemokraten Vandervelde solle „nicht ein Finger
gereicht werden.“97
Am 20.4.1922 wurde von Politbüro des ZK der KP Russlands das Budget der Komintern auf 3.150.600
Goldrubel festgelegt.98
Dok. 67
Brief Radeks an Grigorij Sinowjew über die Berliner „Konferenz
der Drei Internationalen“
Berlin, 28.4.1922
Typoskript in deutscher Sprache, mit handschriftlichen Korrekturen. RGASPI, Moskau, 2/2/1209, 1–7.
Deutsche Erstveröffentlichung. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern
i ideja, S. 390–398.
Lieber Grigori.
Ich schreibe heute deutsch, weil ich jetzt nicht ausgehen kann. Stalin möge entschul-
digen und sich an dem Briefe in seinen deutschen Studien üben. Ich schreibe so kurz,
weil ich über alles Wichtigere telegraphiere, das gedruckte Material von Varga gesandt
wird, sodass mir dann nur übrig bleibt, gewisse intimere Dinge oder taktische Winke
zu berichten. Dabei kommt noch in Betracht, dass die Briefe so langsam gehen, dass
gewöhnlich die Situation hier ganz anders ist, als in dem Augenblick, wo geschrieben
96 RGASPI, Moskau, 17/3/288, 3–5. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 129–130.
97 RGASPI, Moskau, 495/18/122, 22. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Ko-
mintern i ideja, S. 390–391.
98 RGASPI, Moskau, 17/3/289, 2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S.
131–132.
99 Datumsangabe handschriftlich.
Dok. 67: Berlin, 28.4.1922 241
wurde. Demnächst beginnt der Flugzeugverkehr, und da werdet Ihr jeden Brief in 48
Stunden in den Händen haben.100
Ihr Brief und Ihr Urteil über unser Auftreten auf der Konferenz hat mich sehr
gefreut. Als ich Lenins Artikel las,101 sagte ich mir im vorhinein, entweder Taktik oder
schlecht informiert. Wenn Sie sagen, dass – obwohl der Brief überholt ist – er auch gute
Seiten hat, so haben Sie Recht und Unrecht. Recht indem der Brief bei der 2 1/2. [Inter-
nationale] die Empfindung weckt, dass Moskau unter Umständen auf das Zusammen-
gehen pfeifen könnte, stärkt er taktisch unsere Position als Unterhändler. Aber gleich-
zeitig erweckt er den Eindruck irgendwelcher Unstimmigkeiten oder Unklarheiten in
unseren eigenen Reihen, bei unseren eigenen Anhängern und macht sie unsicher.
Angesichts der Widerstände, die die Taktik der Einheitsfront noch in einer Reihe der
Parteien auslöst, kann das gefährlich werden. Nun, man braucht darüber nicht mehr
bös zu werden. In der Frage des Artikels von Lenin gab es in Wirklichkeit zwischen
uns keine grösseren Differenzen. Diese Differenzen können noch entstehen, denn es
wäre lächerlich anzunehmen, dass ein so ausserordentlich schwieriges, nicht nur tak-
tisches, sondern auch strategisches Manöver durchgeführt werden könnte, ohne dass
Meinungsverschiedenheiten entstehen. Man muss auf sie gefasst sein und sie nur ruhig
durchdenken und bereinigen. Ich habe nach der Konferenz bei der Lekture der Pro-
tokolle, bei der Beobachtung des Echos, das die Konferenz ausgelöst hat, natürlich
versucht festzustellen, welche Fehler in der jetzt abgeschlossenen Operation gemacht
worden sind. Ich glaube, dass ein Fehler gemacht worden ist, und dass er darin besteht,
dass wir ein Makel auf uns nahmen, das gar nicht notwendig war. Wir haben bei der
Frage der Befreiung der politischen Gefangenen eine abstrakte Taktik getrieben, indem
wir erklärt haben: nein. Wir müssten ganz anders operieren. Es war notwendig, vorerst
die Frage zu stellen, ob sie der Meinung sind, dass wir Leute, die mit den Waffen in der
Hand für uns102 kämpfen, freizulassen haben, und ob die deutsche Sozialdemokratie
diese Verpflichtung übernimmt. Bei dieser ersten Frage würde die deutsche Sozialde-
mokratie sogar die Verpflichtung ablehnen, die Leute freizulassen, die vor drei Jahren
mit den Waffen in der Hand gekämpft haben. Sie wären dadurch ins Unrechte gesetzt,
nicht wir. Dann käme die Frage von der konkreten Stellungnahme der Menschewiki
zu den S.R.103 und zu der Sowjetregierung. Ohne uns irgendwie zu binden, hätten wir
die Möglichkeit gehabt, lange mit den Leuten zu verhandeln, die Dinge für die nächs-
ten Verhandlungen zu verschieben, und es wäre vielleicht möglich gewesen, auf diese
Weise ihnen die Ablehnung der Konferenz unmöglich zu machen. Ich konnte in dieser
Weise nicht operieren, weil mir die Instruktionen geboten, ein starres Nein entgegenzu-
setzen. Diese Instruktionen haben natürlich ihr Gutes: erstens bei einem [kla]ren Nein
kann man nicht nachgiebig werden, was Ihr – wie es scheint – fürchtet; zweitens tritt
viel schärfer unsere Lage [in] Russland ins Auge, aber sie tritt sehr abstrakt auf, und ich
unterstreiche noch einmal, überschätzen Sie nicht die Einsicht [der] westeuropäischen
Arbeiter in unsere Verhältnisse. Wenn wir [sa]gen, die S.R. sind Konterrevolutionäre,
so ist es sehr leicht, dies den Arbeitern zu beweisen; wenn wir dasselbe von den Men-
schewiki sagen, so ist es viel schwieriger, [dies] den Arbeitern hier klar zu machen. Die
Haltung der Menschewiki im Jahre 1917, 1918 ist kein Argument, denn die Leute antwor-
ten uns, ihr geht doch zur Einheitsfront mit der deutschen Sozialdemokratie. Als ich
über die Rolle der Menschewiki Koltschak gegenüber sprach,104 antwortete mir Adler:
Maiski ist doch jetzt bei Euch.105 Nun, man muss ihnen beweisen, dass die Mensche-
wiki jetzt – wo sie als Verteidiger des Achtstundentages, als Kämpfer für höhere Löhne
auftreten, ebenso objektiv der Bourgeoisie dienen, als während der Koalition mit Keren-
ski, dass bei ihnen nur äusserlich ein Funktionswechsel eingetreten ist. Aber das alles
erfordert eine ununterbrochene Propaganda, eine Erklärung der Zusammenhänge, eine
sorgfältige Registrierung der Tatsachen.
Solche grellen Fälle, wie Kronstadt,106 wo sich Miljukow die Losungen Dans zu
eigen machte, sind sehr selten und hier wird noch eine schwere Arbeit zu leisten
sein.107 Sie wissen, dass ich der Meinung bin, man müsste diese Arbeit erleichtern
104 Admiral Kolčak 1919 war Oberbefehlshaber der Weißen gegenrevolutionären Truppen. „Die
Partei der Menschewki schloß nicht einmal diejenigen ihrer Mitglieder aus, die mit den Generälen
sich verschworen hatten und für sie Spionagedienste leisteten. [...] Während der Koltschak-Offensive
gaben manche dieser Menschewiki, in voller Übereinstimmung mit den bürgerlichen Verschwörern,
die Losung aus, den Bürgerkrieg zu beenden (Menschewik Pleßkow).“ (N. Bucharin, E. Preobra-
schenskij: Das ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen
Partei Rußlands (Bolschewiki), Hamburg, Verlag der Kommunistischen Internationale, Carl Hoym
Nachf. Louis Cahnbley, 1921 (Bibliothek der Kommunistischen Internationale. 13)).
105 Ivan Majskij (1884–1975) war noch Ende 1917 Mitglied des ZK der Menschewiki. Nach seinem
Bruch mit den Menschewiki 1921 wurde er Mitglied der RKP(b) und später hoher sowjetischer Diplo-
mat (siehe seine Tagebücher: Aleksandr Čubar’jan (Hrsg.): Ivan Michailovič Majskij: Dnevnik diplo-
mata, Bd. 1, Moskva, Nauka, 2006 (Naučnoe nacledstvo. 33)).
106 Der spätere Marschall der Sowjetunion Michail N. Tuchačevskij wird nach einem Ultimatum
Trotzkis vom Moskauer Rat der Volkskommissare mit dem militärischen Sturm der Festung Kronstadt
beauftragt, wo sich Matrosen und Soldaten für freie Räte und gegen die Vorherrschaft der Bolsche-
wiki erhoben hatten. Ein erster Versuch misslang am 8.3.1921, nach vorherigem Artilleriebeschuss
erfolgte er dann unter Einsatz von 40.000–50.000 Mann gegen ca. 10.000 Kronstädter Matrosen am
17./18.3.1921, mit mehreren Tausend Toten. Kronstadt wurde zum „Symbol der Deformation des So-
wjetsystems“ (Manfred Hildermeyer).
107 Fedor Dan (1871–1947), führender russischer Menschewik, der 1896 zusammen mit Lenin und
Martov den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ gegründet hatte. Der Historiker Pavel Mil-
jukov (1859–1943) war Vorsitzender der rechtsstehenden konstitutionellen Demokraten und Unter-
stützer Kornilovs. Trotzki rechtfertigte auch später noch die Niederschlagung des Aufstands: „Genau
das war der Sinn der Kronstädter Losung: ‚Sowjets ohne Kommunisten‘, die sofort nicht nur von den
Sozialrevolutionären, sondern auch von den bürgerlichen Liberalen aufgegriffen wurde. So hat auch
ein relativ weitsichtiger Repräsentant des Kapitals, Professor Miljukow, verstanden, dass die Befreiung
der Sowjets von der Führung durch die Bolschewiki in kurzer Zeit die Zerstörung der Sowjets selbst
Dok. 67: Berlin, 28.4.1922 243
bedeutet haben würde. Die Erfahrung der russischen Sowjets unter menschewistischer und sozialre-
volutionärer Herrschaft und, noch deutlicher, die Erfahrung der deutschen und österreichischen Räte
unter den Sozialdemokraten bewies das. Sozialrevolutionäre – anarchistische Sowjets könnten nur
als eine Brücke von der proletarischen Diktatur zur kapitalistischen Restauration dienen. Sie konn-
ten keine andere Rolle spielen, ohne Rücksicht auf die ‚Ideenʼ der daran Beteiligten. Deshalb hatte
der Kronstädter Aufstand einen konterrevolutionären Charakter.“ (Leo Trotzki: Das Zetergeschrei um
Kronstadt (15.1.1938), http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/01/kronstadt.htm).
108 Hierbei handelt es sich nicht um den späteren Leiter des NKVD, Nikolaj Ežov, sondern um Sergej
Ežov (1879–1939), Bruder Julij Martovs und Mitglied des ZK der Menschewiki.
109 In einem Chiffretelegramm an Sinowjew vom 1.5.1922 teilte Radek mit, dass er ein Telegramm Ad-
lers erhalten habe mit einer Liste der Rechtsanwälte, die von der II. und 2½. Internationale für den SR-
Prozess zur Zulassung beantragt wurden. Darunter waren Vertreter westlicher sozialistischer Parteien
wie Emile Vandervelde, Jan Oudegeest, Joseph Paul-Boncour, Giuseppe Modigliani, Kurt Rosenfeld,
Theodor Liebknecht, sowie eine Reihe von SR-Emigranten: Suchomlin, Kobjakov, Gurevič. Radek ant-
wortete Adler, er werde die Liste nach Moskau schicken, wo man darüber entscheiden werde, ob man
„statt eines Vandervelde gleich ein ganzes Dutzend zum Gericht zulassen“ würde (RGASPI, Moskau,
495/18/122, 41).
244 1918–1923
den Verteidigern gegenüber sehr zurückhaltend benehmen. Was das Urteil anbetrifft
so glaube ich, es wäre der grösste Fehler, den wir machen könnten, ein Todesurteil
mit einer Amnestie. Eine solche Sache würde nur die ganze Frage der Einheitsfront
wieder um die S. R.-Geschichte konzentrieren, dem Boden, der am wenigsten der der
täglichen Bedürfnisse des westeuropäischen Proletariats ist. Ich denke mir die Sache
so: lange Gefängnisstrafen oder dauernde Internierung. In der Urteilsbegründung
soll gesagt werden, dass jedes bürgerliche Gericht für dies Verbrechen die Todes-
strafe verhängen würde, und ausdrücklich sagen, dass wir von dieser Todesstrafe nur
darum abgehen, weil es sich um Verbrechen handelt, die um paar Jahre zurücklie-
gen, dass wir aber in Zukunft, solange die S. R. auf bewaffneten Kampf gegen uns
nicht verzichten, alle Mittel der Gewalt gegen sie anwenden würden. Nach einem
solchen Urteil rate [ich] an dem selben Tage gleichzeitig mit der Nachricht von dem
Urteil der deutschen Sozialdemokratie vorzuschlagen, den Austausch der Verurteil-
ten für die Kämpfer der bayrischen Räterepublik und der Märzaktion.110 Das wird wie
eine Bombe einschlagen, und hier das Wasser jeder feindlichen Agitation gegen uns
abgraben. Wenn es mir irgendwie möglich sein wird, werde ich zum Prozess kommen,
denn es graut mich schon, wenn ich denke, wie die ROSTA wieder versagen wird. Es
ist ein Verbrechen, was diese Kretins111 tun. Man muss schliesslich einen Menschen
an die Spitze der Auslandsabteilung112 stellen, der die ausländische Presse verfolgt,
politischen Sinn hat und weiss, was wichtig ist.
Das alles, was Rakosy [Rákosi] und Kuusinen schreiben über die propagandisti-
schen Broschüren, die herausgegeben werden sollen, hat mich sehr gefreut. Aber, ich
höre die Kunde wohl, nur mir fehlt der Glaube. Hier fehlen die Komplete der Prawda,
der Iswestija; ich habe nur, das, was ich mitgebracht habe. Ilitsch [Lenin] nennt z. B.
eine wichtige Broschüre von St. Iwanowitsch.113 Ich kann sie hier nirgends auftreiben.
Die Broschüre Sawinkows habe ich nur deshalb, weil ich das Leninsche Exemplar bei
Unschlicht geklaut habe. Aber wir werden alles tun, was möglich ist, nur zappelt nicht;
man kann nicht auf einmal alles tun. In den nächsten Tagen erscheint die Nummer der
Russischen Korrespondenz mit der Materialsammlung, die wir zum Ausgangspunkt der
110 Während die Betreiber des Kapp-Putschs kaum strafrechtlich belangt wurden, erfolgte nach
der Märzaktion eine Verurteilungswelle im ganzen Reich; nach KPD-Quellen wurden 6000 Arbeiter
verhaftet, von diesen 4000 zu insgesamt 3000 Jahren Zuchthaus und Gefängnis verurteilt und vier
Todesurteile ausgesprochen. Eine von USPD und KPD geforderte Amnestie scheiterte 1921, im Juli 1922
wurden die meisten aufgrund einer Teilamnestie entlassen (Koch-Baumgarten: Aufstand der Avant-
garde, S. 316f.).
111 Kretin: Chrétin (frz.): Quatschkopf.
112 Die Auslandsabteilung der ROSTA. Leiter des Berliner Büros der ROSTA war Ludwig Magyar
(1925).
113 Es geht um die von Lenin in seinen Vorschlägen an das ZK der RKP(b), die zusammen mit dem
Artikel „Wir haben einen zu hohen Preis bezahlt“ versendet wurden, sowie in den „Bemerkungen und
Vorschlägen zum Entwurf des EKKI-Beschlusses zu der Beendung der Konferenz der Drei Internatio-
nalen“ erwähnten Broschüren: St. Ivanovič: Sumerki russkoj social-demokratii, Pariž, 1921 und Boris
V. Savinkov: Bor’ba s bolʼševikami, Varšava, 1920.
Dok. 67: Berlin, 28.4.1922 245
Propaganda machen. Sie schreiben, die kleinen Broschüren sollten bekannte auslän-
dische Genossen schreiben aufgrund des Materials, das man ihnen gibt. Nennen Sie
mir solche Genossen, wenn Sie sie kennen! Ich muss hier jetzt jeden Tag den Leitartikel
schreiben, weil das Blatt aussah, als ob es von Ziegen redigiert wäre. Das System der
Offenen Briefe wird gemacht. Ich persönlich kann so was nicht tun, solange die Neu-
nerkommission mich nicht legalisiert hat. Klara [Zetkin], die es tun könnte, ist nicht
da. Frossard kommt in den nächsten Tagen, und ihm ist es natürlich am schwierigs-
ten, als Einheitsfront-Apostel aufzutreten bei der Position seiner Partei. Die Geschichte
mit dem Buche Trotzkis114 ist folgend: wie Sie wissen, gab mir Rakosy [Rákosi] auf den
Weg ein Paket, das die Übersetzung des Buches enthalten sollte. Es enthielt aber die
Gebeine des Heiligen Antonius und nicht die Übersetzung.115 Ich telegraphierte Ihnen
darüber von Riga. Am 23. war ich hier. Ich konnte nicht sofort das Buch übersetzen
lassen, weil ich doch keine Antwort auf das Telegramm an Sie und Trotzki bekam. Ich
musste annehmen, es sei ein Irrtum gewesen, und die Übersetzung werde nachfolgen.
Ich veröffentlichte in der Presse die Auszüge aus dem Buche und kriegte erst am 5. oder
6. die Nachricht von Rakosy [Rákosi], dass der Übersetzer ein Schwindler sei und die
Übersetzung nicht existiere. In den drei Wochen konnten die zehn Bogen nicht über-
setzt, gesetzt und gedruckt werden. Thomas [d.i. Jakov Rejch] behauptet, er arbeite mit
dem grössten Druck und werde in den nächsten Tagen das Buch herausbringen.
Am 5. findet in Düsseldorf die Sitzung der Neunerkommission statt. Bevor sie statt-
findet, muss man im Verhältnis zur 2. [Internationale] noch vorsichtig sein. Auf der
Berliner Konferenz ist es der 2. nicht gelungen, abzuspringen. Die Zeit zwischen der
Konferenz und der Konstituierung der Neunerkommission bildet die grösste Gefahrs-
zone, denn sie stehen vor irgend einem Forum, sie sind nicht gebunden. Darum habe
ich auf den provokatorischen Brief von Wels garnicht reagiert.116 Haben wir sie in der
Neunerkommission, kann das Dreschen beginnen. In Düsseldorf werden wir natür-
lich nach den Instruktionen handeln, als die zwei wichtigsten Punkte, den Weltkon-
gress und die Konferenz der beiden Gewerkschaftsinternationalen stellen.117 Sobald
114 Gemeint ist die Broschüre: Lev Trockij: Meždu imperializmom i revoljuciej, Moskva, Gosizdat,
1922, die zur Übersetzung und Publizierung vorgeschlagen wurde. Im Brief geht es um die französi-
sche Übersetzung, die noch im gleichen Jahr erschien. Siehe: Léon Trotsky: Entre l’impérialisme et
la révolution. Les questions fondamentales de la révolution à la lumière de l’éxpérience géorgienne,
Paris, Librairie de l’Humanité, 1922 (Bibliothèque communiste).
115 Die Gebeine des in Portugal geborenen heiligen Antonius, des „Vaters des Mönchtums“, wurden
angeblich im Jahr 1070 nach Frankreich überführt, tatsächlich wurde das in seinem Sterbeort Padua
erhaltene Skelett als vollständig identifiziert.
116 Am 20. und 21.4. sandte Radek Telegramme an Friedrich Adler und Otto Wels mit dem Vorschlag,
innerhalb von 48 Stunden die Neunerkommission zusammenzurufen, um eine Reihe von Fragen zu
besprechen, die auf der EKKI-Sitzung vom 18.4. erörtert wurden, darunter ein gemeinsamer Auftritt
der drei Internationalen gegen einen möglichen Abbruch der Konferenz von Genua. Wels antwortete
Radek am 22.4. in dem Sinne, dass er keine Befugnisse dazu habe (RGASPI 495/18/86, 18–19).
117 Der Internationale Gewerkschaftsbund („Amsterdamer Internationale“) und die Rote Gewerk-
schaftsinternationale.
246 1918–1923
die Konferenz zu Ende ist, suche ich, nach Moskau zu kommen. Wir dürfen für keinen
Augenblick den Kontakt verlieren und es wird auch sehr wichtig sein, während des
Prozesses dort zu sein. Es wäre am besten, wenn er bis Ende Mai verschoben würde.118
Heute abend spreche ich in einer geschlossenen Versammlung von [...]119 Funktionä-
ren. Falls ich am 14. Mai da bin, spreche ich im Zentralausschuss [der KPD]. Bei all
dem muss ich immer bedenken, dass ich einen diplomatischen Pass habe. Ich werde
diese Haut abstreifen, sobald Wels genötigt ist, mich als Mitglied der Neunerkommis-
sion zu legalisieren.
Von den Genuesern habe ich jetzt erst das Memorandum120 erhalten und lass es
übersetzen und drucken. Die Leute haben es nicht für notwendig gehalten, in der
Arbeiterpresse es zu veröffentlichen. Meine Meinung über die Lage ist die gleiche
wie Lenins. Für nichts kriegt man nichts. Es hat sehr schwer berührt, dass sie in der
Deklaration mit keinem Worte über den Hunger [in der Sowjetunion] gesprochen
haben. Würden sie am Anfang in einem höflichen Briefe Facta benachrichtigt haben,
dass sie angesichts der Not im Lande bitten, sie zu verschonen mit den Paraden,
so wären sie um den Besuch bei dem Landesvater121 herumgekommen. Nun ist das
alles ein solcher Dreck, dass sich nur Dummköpfe deswegen ereifern können. Wenn
Tschitscherin mit dem König spricht, so ist der brave Umberto122 gekitzelt, nicht am
Ehrgeiz, sondern am Halse. Er muss doch denken an den russischen Vetter, der in
Gottes Umarmungen ruht.123 Nikolaus [d.i. Nikolaj Bucharin] fährt heute, sehr streit-
bar gesinnt, will allen Gegnern seines Buches den Kopf einschlagen;124 hoffentlich
haben Sie es nicht gelesen, und so wird Ihnen nichts passieren.
118 Noch am 21.4.1922 telegraphierte Sinowjew an Radek nach Berlin: „Das Datum des [SR-]Prozes-
ses steht noch nicht fest. Ihr könnt die unwahren Gerüchte dementieren. Das Datum wird selbstver-
ständlich so angesetzt, dass die Vereinbarung erfüllt werden kann.“ (RGASPI 495/18/122, 33).
119 Fehlende Textstelle im Original.
120 Gemeint ist das „Memorandum der sowjetischen Delegation auf der Konferenz von Genua“ vom
20.4.1922, in dem die Sowjetunion für sich die Ungültigkeit aller Verpflichtungen aus der vorangegan-
genen Epoche aufgrund der Schaffung einer völlig neuen Wirtschats-, Sozial- und politischer Ord-
nung erklärte (publ. in: Dokumenty vnešnej politiki SSSR, t. V, Moskva, 1961, S. 232–245).
121 Gemeint ist der italienische König Viktor Emanuel III.
122 Umberto II., Sohn von Viktor Emanuel II. und nach dem 2. Weltkrieg für 33 Tage letzter König
von Italien.
123 Gemeint ist Nikolaus II., der letzte Zar Russlands aus der Dynastie Romanov, der am 2.3.1917 ab-
gedankt hatte und in der Nacht vom 16. auf den 17.7.1918 in Ekaterinburg von den lokalen Bolschewiki
ermordet wurde.
124 Anscheinend bezieht sich Radek hier auf das Buch: Nikolaj Bucharin: Teorija istoričeskogo ma-
terializma. Obščedostupnyj učebnik marksistskoj sociologii. Moskva, 1921, das 1922 in zweiter Auflage
erschien.
Dok. 68: Berlin, 24.5.1922 247
Im Nachgang zum überraschenden Abschluss des Vertrags von Rapallo zwischen dem Deutschen
Reich und der Sowjetunion am Rande der Konferenz von Genua am 16.4.1922 beschloss das Politbü-
ro des ZK der KP Russlands am 20.4.1922, das Telegramm des stellvertretenden Außenkommissars
Litvinov über den erfolgreichen Abschluss des Abkommens in der Presse zu veröffentlichen – da Lit-
vinov es unverschlüsselt gesandt hatte, ging das Politbüro davon aus, dass es ohnehin dem Ausland
bekannt sei.125
Am 4.5.1922 fasste das Politbüro des ZK der KP Russlands einen Beschluss über die Konzessionsver-
handlungen mit Krupp. An Stomonjakov sollte ein Telegramm geschickt werden, er solle die mögli-
chen Maßnahmen zur Einwirkung auf Krupp mit Krestinskij und Lozovskij beratschlagen und nur im
Einvernehmen mit Beiden handeln.126
Dok. 68
Bericht Karl Radeks über das Scheitern der Konferenz der
drei Internationalen: Jetzt den Frontalangriff gegen die
sozialdemokratischen Scheidemann-Leute!
Berlin, 24.5.1922
S[treng] geheim
An Gen. Sinowjew.
Kopien an: Gen. Lenin, Trotzki, Stalin, Kamenev, Bucharin, Kuusinen.
Der Sitzung der Neun127 ging eine Konferenz der englischen Arbeitspartei, der belgi-
schen Partei und der französischen S[ozial]-D[emokraten] in Brüssel voraus,128 die das
Schicksal der Neuner[-Kommission] besiegelte. In dem Moment, als absolut klar war,
dass die 2. Internationale keinen Weltkongress will, zeigte eine der Hauptparteien der
2½. Internationale sich damit einverstanden, gemeinsam mit der II. Internationale für
einen gesonderten westeuropäischen Kongress in Den Haag zu wirken. Das gab der II.
[Internationale] natürlich die Möglichkeit, das Platzenlassen [der Neuner-Kommission]
125 RGASPI, Moskau, 17/3/284, 5; APRF, 3/64/644, 61. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, S. 56.
126 RGASPI, Moskau, 17/3/291, 5.
127 In einem Brief vom 29.4. teilte Adler Radek mit, dass die Sitzung der Neunerkonferenz am 7.5.
in Düsseldorf um 10 Uhr morgens stattfinden soll. Allerdings befand die Führung der II. Internatio-
nale dies für zu kurzfristig und schlug vor, sie auf den 21.–23.5. zu verschieben (RGASPI, Moskau,
495/18/121, 79). Die erste und einzige Sitzung der Neunerkommission fand am 23.5.1922 in Berlin statt.
Die Delegation der Komintern erklärte dort ihren Austritt aus der Kommission.
128 Gemeint ist die Brüsseler Konferenz der Zwei Internationalen vom 17.–18.5.1922.
248 1918–1923
zu wagen. Sie trafen mit einer höchst frechen Resolution ein, die zusammengefasst
besagt, dass solange wir den menschewistischen Aufstand in Georgien unterdrücken
und sie kritisieren, sie nicht zu einem Weltkongress kommen würden. Ein Exemplar
ihrer Resolution lege ich Sinowjew bei. Die Konferenz begann mit einem Kampf um
zwei Fragen, erstens lehnten sie den Empfang der Arbeiterdelegation ab, und zweitens
gab es einen Kampf rund um die Geheimpolizei-Methoden Severings in Bezug auf mich.
Die Angelegenheit wurde bis zur Einsicht in die Dokumente verschoben. Danach verlas
MacDonald die Resolution der 2. Internationale. Die 2½. [Internationale], die wir zu
einer Stellungnahme aufforderten, beharrte darauf, dass wir erklären sollten, ob der
Artikel Sinowjews nur seine persönliche Meinung widerspiegeln oder ob es sich um ein
Ultimatum des Exekutivkomitees der III. [Internationale] handeln würde.129 Daraufhin
beantragten wir eine Pause und reichten unsere Deklaration ein, die ich beilege. Für
mich war es offensichtlich, dass Sinowjews Forderung, seinen Artikel vor der Sitzung
der Neunerkommission zu veröffentlichen, ein taktischer Fehler war. Die Entscheidung,
ein Ultimatum zu stellen, war richtig, jedoch wurde dieser richtige und strategische
Entschluss taktisch schlecht ausgeführt. Das Ultimatum bedeutet einen Abbruch [der
Verhandlungen], bei Inkaufnahme eines Abbruchs von unserer Seite besteht jedoch die
taktische Aufgabe darin, diesen Abbruch zu den besten Konditionen für uns und zu
den ungünstigsten Konditionen für den Gegner vonstatten gehen zu lassen. Eine Dis-
kussion hätte stattfinden müssen über das Wesen aller Forderungen und lügenhaften
Erfindungen der Zweiten [Internationale], was auch die 2½. [Internationale] gezwun-
gen hätte, sich zu demaskieren, doch seit dem Zeitpunkt der Verlautbarung des Artikels
von Sinowjew war für diese Manöver kein Platz mehr. Das war mir klar. Clara [Zetkin]
nicht weniger. Wir konnten jedoch die Ausführung des Beschlusses von Sinowjew nicht
konterkarrieren, zumal wir nicht wussten, ob der Artikel nicht in der Pravda veröffent-
licht würde. Letztendlich sind das alles taktische Kleinigkeiten. Wichtig ist, dass unmit-
telbar nach der Verlautbarung unserer Deklaration Adler erklärte, alles sei vorbei, ohne
auch nur mit einem Wort auf die Zweite [Internationale] Druck auszuüben. Klar, er ist
der einzig Gerechte; die Zweite und die Dritte seien zu gleichen Teilen schuldig. Dabei
berief er sich auf den Artikel Lenins gegen Bucharin und mich, auf die Position der
französischen Partei130 als Beweis dafür, dass diese Meinungsverschiedenheiten der
Grund für unser Ultimatum seien. Auf meine Frage, wie sie denn zur Erklärung der
russischen Partei stünden,131 antwortete Adler, seine Organisation sei angeblich für die
129 Gemeint ist der Artikel Sinowjews „Wann wird der Arbeiter-Weltkongress stattfinden?“ in der
Pravda vom 17.5.1922, nachgedruckt in der Roten Fahne vom 23.5.1922. Darin warnte Sinowjew davor,
dass, falls die II. Internationale die Kommission weiterhin sabotieren sollte, die Komintern-Delegati-
on die Konferenz verlassen werde.
130 Die Rede ist von den Meinungsverschiedenheiten zwischen dem EKKI und der KP Frankreichs
über die Taktik der Einheitsfront. Aufgrund dessen erschien Frossard als Vertreter der KPF in der
EKKI-Delegation nicht zur Sitzung der Neunerkommission.
131 Gemeint ist der Brief des ZK der RKP(b) an das EKKI (siehe: Pravda, 19.5.1922, nachgedruckt
in der Roten Fahne am 23.5.), worin unter Berufung auf die Mitgliedschaft in der Komintern erklärt
Dok. 68: Berlin, 24.5.1922 249
Gruß.
K. Radek
wurde, dass man dazu bereit sei, im gemeinsamen Dokument der drei Internationalen auf die Losung
der Verteidigung der Sowjetunion zu verzichten, um die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.
132 Der Vorschlag, einen gesonderten westeuropäischen Kongress der Internationalen in Den Haag
abzuhalten.
133 Freiheit: Zentralorgan der USPD.
134 Siehe: Karl Radek: Nach Genua und Haag, Hamburg, Hoym, 1922.
135 „Berliner Roman“: Vermutlich die Arbeit an seinen Tagebuch-Erinnerungen, von denen erst 1926
ein Auszug über die Novemberrevolution in der Sowjetunion erschien (siehe: Karl Radek: Nojabr’. Iz
vospominanij. In: Krasnaja Nov’, Nr. 10, Oktober 1926; eine deutsche Übersetzung siehe: Karl Radek:
November. Eine kleine Seite aus meinen Erinnerungen. In: Otto-Ernst Schüddekopf: Karl Radek in
Berlin. Ein Kapitel deutsch-russischer Beziehungen im Jahre 1919. In: Archiv für Sozialgeschichte II
(1962), S. 87–166, hier: S. 119–166).
250 1918–1923
Am 8.6.1922 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands auf Vorschlag Trotzkis, den hohen
Finanzbeamten Arkadij Rosengol’c für einige Tage nach Berlin zu den sowjetisch-deutschen Verhand-
lungen zu schicken.136
Am 15.6.1922 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, diplomatische Anstrengungen dafür
aufzuwenden, dass der zunächst nur zwischen Deutschland und der RSFSR abgeschlossene Rapallo-
Vertrag auch auf die anderen Unionsrepubliken der Sowjetunion ausgedehnt werde. Zugleich jedoch
wurde beschlossen, mit dem NKID und einem Vertreter der Ukraine die Möglichkeit zu diskutieren,
auch im Falle einer Nichtausdehnung des Vertrags Deutschland zur Zahlung von 450.000.000 Reichs-
mark zu verpflichten. Der Vertrag wurde schließlich am 26.10.1922 auf die gesamte UdSSR ausge-
dehnt.137
Am 26.6.1922 billigte das Politbüro des ZK der KP Russlands die Unterzeichnung eines Vertrags zwi-
schen der sowjetischen Handelsvertretung in Deutschland und dem sowjetischen Vorzeigeschriftstel-
ler Maksim Gor’kij. Geplant war eine Herausgabe seiner gesammelten Werke in russischer Sprache,
für die die Handelsvertretung das weltweite Vertriebsrecht übernehmen sollte.138
Dok. 69
„Arbeiterregierung“ statt Endkampf: Aus der Diskussion zur
Übergangsperiode im Programm der Komintern
[Moskau], 28.6.1922
RADEK: Ein Programm erfordert eine gewisse Stabilisierung der Situation für eine
längere Zeitperiode. Wenn es sich um ein exaktes Programm handeln soll, ein System
konkreter obligatorischer Forderungen – ein solches Programm für die kommunisti-
sche Internationale können wir nicht schaffen. Erstens schon deswegen nicht, weil
wir keine Ursache haben, anzunehmen, dass die nächsten 20 Jahre der Existenz des
Kapitalismus sein werden [sic], an den wir Forderungen stellen; zweitens deshalb
nicht, weil die Verhältnisse in den verschiedenen Ländern zu verschieden sind, als
dass wir für Amerika und sagen wir Jugoslavien dieselben Forderungen aufstellen
könnten.
Aber ungeachtet dessen sehen wir, dass in allen Ländern die Kommunistischen
Parteien nicht imstande sind, ihre politische Arbeit zu leisten nur mit den Losungen
des Endkampfes: Sowjetregierung, Diktatur des Proletariats usw. Sie sind genötigt,
136 RGASPI, Moskau, 17/3/296, 5; APRF, 3/64/644, 65. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, S. 64,
137 APRF, Moskau, 03/64/671, 4. Publ. in: Sevost’janov: Moskva-Berlin, I, Dok. 39.
138 RGASPI, Moskau, 17/3/301, 1, 6–12.
Dok. 69: [Moskau], 28.6.1922 251
139 Gemeint ist der III. Weltkongress der Komintern. Siehe hierzu Dok. 47b und folgende.
140 Im Rahmen der Einheitsfrontkonzeption der Komintern bildete seit 1921 das Konzept der Arbei-
terregierung, die unter Umständen auch eine Koalition zwischen KPD und SPD sein konnte, einen
ständigen Stein des Anstoßes zwischen den unterschiedlichen Fraktionen in der KPD. Vor allem die
Linke widersetzte sich dieser als „opportunistisch“ verworfenen Losung. Mit dieser Taktik gab die
Komintern ihre „prinzipielle Negation“ gegenüber der SPD teilweise auf. In Sachsen sollte die Bil-
dung einer Arbeiterregierung das Signal für die Bewaffnung der Arbeiterschaft und die unmittelbare
Vorbereitung des proletarischen Aufstandes sein. Bereits am 15.3.1923 wurde zwischen der KPD und
einem Siebenerausschuss der SPD ein Einheitsfrontabkommen abgeschlossen, das u. a. die Bildung
gemeinsamer Proletarischer Hundertschaften vorsah.
141 Die Anmerkung bezieht sich auf den drei Monate andauernden britischen Bergarbeiterstreik im
Jahre 1921, als sich die Unternehmer weigerten, die bisher unter der Regierungskontrolle der Minen
bezahlten Löhne beizubehalten. Ein Hauptgrund für die Niederlage war die Weigerung der Transport-
und Eisenbahnergewerkschaften, den Streik zu unterstützen („Black Friday“).
252 1918–1923
BUCHARIN:
Genossen, ich meine, der Plan des Gen. Radek ist nicht ganz richtig. Solche Fragen,
wie die Frage der Arbeiterregierung sind überhaupt keine programmatischen Fragen,
das sind Fragen der taktischen Plattform.
Ich meine, im Programm darf man über solche Sachen überhaupt nicht spre-
chen, das sind Sachen, die vielleicht nur für sehr geringe Zeit Gültigkeit haben. Sie
als solche Programmfragen zu behandeln, ist meines Erachtens richtig.
Es gibt drei Arten von Fragen die im Programm behandelt werden sollen, die
meines Erachtens für jede kommunistische Partei gültig sind. 1. Die theoretische
Behandlung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die Charakterisierung des
Kapitalismus, Zerfall des Kapitalismus, Imperialismus u.a. 2. Das Maximalprogramm,
der Kommunismus. 3. Die Hauptforderungen der Periode der politischen Diktatur.
Und vielleicht noch eine vierte Kategorie der Fragen, sind die Fragen, die die Rolle
der Kommunistischen Partei als solche betreffen und ihr Verhältnis als Partei des Pro-
letariats zu anderen Parteien. Hier auch die Charakterisierung verschiedener Strö-
mungen im Sozialismus, Verhältnis zu der Sozialdemokratie. [...]
Klara Zetkin:
Genossen, ich bin der Ansicht wie Radek, dass es in dem gegenwärtigen Augen-
blick ausserordentlich schwer ist, ein einheitliches Programm aufzustellen im Hinblick
darauf, dass die Verhältnisse so im Fluss der Entwicklung begriffen sind und sich sehr
rasch und oft sehr durchgreifend ändern.
Selbstverständlich müssen wir aber eine feste grundsätzliche Richtschnur geben
für die praktische Tagesarbeit unserer Partei. Ich glaube bei der Aufstellung eines
solchen Programmes liegt eine Gefahr vor, der wir gerade wegen der Einheitsfront
mit aller Schärfe begegnen müssen, dass eine Verwirrung entsteht in der Meinung
der Massen zwischen dem Reformprogramm der alten sozialdemokratischen Partei
und unserem Aktions-Forderungen. Ich versteh den Unterschied so: Die Forderungen
können oft die gleichen sein und doch ganz anderen Wesens als die der alten Partei.
Ihr Aktions- und Minimumprogramm konzentrierte sich ausdrücklich auf die Aus-
besserung der bürgerlichen Gesellschaft, während unser Aktionsprogramm darauf
gerichtet sein muss, die Masse zu mobilisieren, zusammenzuführen und für den
Kampf zu schulen.
Der Ausgangspunkt, um die Massen zu sammeln, um sie zur Einheitsfront
zusammenzubringen, sind unzweifelhaft die verschiedenen Tagesbedürfnisse und
Tagesnöte des Proletariats. Nicht nur auf wirtschaftlichem, nicht nur auf politischem
Gebiete, auf allen Gebieten des sozialen Lebens überhaupt.
Alle diese Forderungen, die wir da aufzustellen haben, bekommen von unsrer
grundsätzlichen Einstellung eine ganz feste Orientierung in [eine] bestimmte Rich-
tung. Alles, was wir wirtschaftlich, sozialistisch fordern, muss liegen in der Richtung
der Einschränkung des kapitalistischen Privateigentums, und alles was wir politisch
Dok. 69: [Moskau], 28.6.1922 253
fordern, muss gerichtet sein auf die Expropriierung der Bourgeoisie aus der politi-
schen Macht und auf die Machtstärkung des Proletariats.
Ich meine, das Programm, das wir schaffen, müsste, soweit es sich um bestimmte,
einheitliche Forderungen handelt, die wir aufstellen müssen als Ausgangspunkt
des Kampfes, elastisch genug sein, um die einzelnen Forderungen, die der Tag gibt,
und auch die abweichenden Forderungen in sich aufzunehmen, die in den einzelnen
Ländern in einer gegebenen geänderten geschichtlichen Situation erhoben werden.
Der Kern muss immer derselbe sein, aber die taktischen Massregeln und die Form, in
der es geschieht, kann nach den einzelnen Ländern verschieden sein. Und es wird
sich darum handeln, dass unser Programm den einzelnen Ländern die Bewegungs-
freiheit lässt, immer das jeweilig Notwendige einzufügen. Ich schwöre weder darauf,
dass wir noch eine Uebergangszeit von 20 Jahren haben, aber auch nicht darauf, dass
wir morgen die Revolution haben. Und das macht eine grosse Elastizität unseres Pro-
gramms notwendig. [...]
Bei manchen Genossen herrscht jetzt über die jetzige Epoche der Weltrevolution
die Auffassung: Nun ja, Weltrevolution, man weiss nicht ob ja, ob nein. Wir haben
jetzt drei, vier Jahre der Entwicklung der Kommunistischen Internationale. Was
haben sie bewiesen? Was bedeuten all diese Ereignisse, an die wir uns jetzt schon
gewöhnt haben, z.B. die jetzt in Deutschland vorkommen, in Irland. Es gab eine Zeit,
wo man über die Bedeutung eines kleinen Streiks in Belgien, des ersten Streiks wegen
des Wahlrechts, 5 Jahre lang diskutiert hat.142 Damals herrschte eben keine Epoche
der Weltrevolution, jetzt gehen Ereignisse vor sich, die tausendmal wichtiger sind,
und die täglich vorkommen. Aber wir haben uns jetzt schon daran gewöhnt, dass wir
sagen: es soll schneller kommen.
In dem Programm sollen wir also auseinandersetzen, dass wir uns in der Epoche
der Weltrevolution befinden.
Denn 2.: Sowjetrussland im System der Staaten und in dieser Phase der Weltrevo-
lution, eine spezielle Etappe, die Sowjetrussland jetzt durchmacht, der Kampf Sow-
jetrusslands im allgemeinen. Man spricht davon so episodisch, man hat den Instinkt,
dass das das erste Kapitel der Weltrevolution ist, aber eine systematische Darstellung
haben wir [bis] jetzt nicht.
Dann sollen wir Gruppen von Ländern typisieren. Man muss die ganze Erdoberflä-
che, das ganze Territorium der Kommunistischen Internationale, d.h. die ganze Welt
grob in drei, vier Gruppen teilen, in mehr agrarische, mehr industrielle, in Kolonial-
länder einteilen und ganz allgemein unsere Auffassung geben, nun die Kolonialfrage,
die Kolonial-Revolution selbst, die Zugeständnisse, die der britische Imperialismus
den Kolonialländern doch machen musste, was Lenin einmal als eine Revolution von
142 Ein Bergarbeiterstreik löste im Jahre 1886 eine Kampagne für das allgemeine Wahlrecht aus, das
im April 1893 erstmals in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung durch einen politi-
schen Generalstreik mit ca. 250.000 Arbeitern erkämpft wurde. Siehe hierzu: Rosa Luxemburg: Ermat-
tung oder Kampf. In: Id.: Gesammelte Werke, II, S. 344–377.
254 1918–1923
oben charakterisiert hat.143 Es ist eine sehr wichtige Sache, das in der Perspektive zu
zeichnen. Ich glaube, es ist auch notwendig, das Programm als Weltanschauung dar-
zulegen, auszuführen, dass wir Materialisten sind, dass die Kommunistische Interna-
tionale auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung steht, worin diese
besteht, unsere Auffassung über die Religion usw.
Wir müssen das Hauptgewicht auf die Arbeit der Sektionen legen, ihnen ein gewis-
ses Examen auferlegen. Sie sollen uns einen Abriss aus ihren Ländern, bei ihren gege-
benen Kräfteverhältnissen geben.
Das ist es, was mir vorschwebt. [...]
Radek:
Der Standpunkt Bucharins ist sehr widerspruchsvoll. Er sagt, die Frage des Pro-
gramms ist nur die Frage des Weges vom Kapitalismus zum Kommunismus, zur Dikta-
tur des Proletariats; die Fragen, die jetzt durch die aktuelle Situation entstanden sind,
die Frage der Arbeiterregierung, die Steuerfrage, die Organisierung der Industrie, das
sind Fragen der taktischen Plattform. Und am Schluss kommt er und behandelt die
Nationalisierung der Banken, des Grund und Bodens als Programmfragen. Das ist
aus folgendem Grund widerspruchsvoll. Die Frage der Arbeiterregierung – ich sage
nicht der einzig möglichen Form des Korrelats der Diktatur, aber einer der Wege – ist
für ihn eine taktische Frage. Das hat bei ihm seine politischen Gründe. Er sagt sich,
die Nationalisierung kann man für jeden Teil fordern, dagegen die Arbeiterregierung
fordern, nein.
Sinowjew sucht den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, indem er sagt,
jedes Land soll das Programm schaffen, sogar in gemeinschaftlichen Fragen. Wir ver-
sammeln uns hier eben deshalb, weil jedes Land auf grosse theoretische Schwierig-
keiten in den gemeinsamen Fragen gestossen ist, die wir lösen sollen.
Worin sind wir einig? Natürlich darf das Programm nicht nur darin bestehen,
dass wir die taktische Plattform geben. Es muss zuerst der Weg visiert werden. Hier
werden wir zusammenfassen, was wir 10 Mal schon gesagt haben. Wir werden also
einen allgemeinen Teil geben. Der soll umfassen die Frage: Vom Kapitalismus zum
Kommunismus. Dann das, was Sinowjew sagte; Die Epoche der sozialen Revolution:
alle die Schwierigkeiten der langsamen äusseren Entwicklung charakterisieren und
nachweisen, dass die Revolution trotzdem vorwärts geht.
Dann legt man dar: das ist der allgemeine Weg vom Kapitalismus zum Kommunis-
mus, der schlängelt sich durch in der jetzigen Zeit in dieser Weise.
Dann der dritte Teil; was wir in dieser Zeit zu tun haben. Jetzt kommen die Ueber-
gangsforderungen. Hier muss behandelt werden die Frage unseres Verhältnisses zu
den Hauptproblemen des wirtschaftlichen Lebens, Staatskapitalismus usw. Aber was
143 Klara Zetkin äussert hier implizit Kritik an der fehlenden Berücksichtigung der Borderlands und
der Peripherie durch Lenin, die Bolschewki und die frühe Komintern, die die Bedeutung sowohl der
Frauenfrage als auch der antikolonialen und pan-islamischen Bewegungen unterschätzten.
Dok. 69: [Moskau], 28.6.1922 255
werden wir mit den politischen Forderungen tun? Bucharin sagt: Entwaffnen der
Bourgeoisie, und unsere französische Partei fordert die allgemeine Dienstpflicht; in
England haben wir eine Söldnertruppe. Die Frage: Wehrforderungen als Uebergangs-
forderungen in dieser Zeit ist eine allgemeine politische Frage.
Sinowjew hat mit Recht gesagt, er fände, die Frage der Arbeiterregierung sei ein
neues Element, das sich empirisch gestellt habe, es könne noch von Wichtigkeit sein.
Er sagt, es ist das Bindeglied zwischen der Diktatur und der heutigen Situation, ein
Ausweg aus ihr, sogar wenn wir zur Arbeiterregierung kommen, wird sie Kämpfe ent-
fesseln um die Diktatur des Proletariats.
Das zweite, was er sagte, war, sie ist ein Pseudonym der Diktatur des Proletariats.
Er hatte Recht und unrecht. In vielen Ländern werden wir zur Arbeiterregierung nicht
kommen. In anderen Ländern kann es wieder unrichtig sein. Es kommen Wahlen, die
Arbeiterparteien haben die Mehrheit, sie entscheiden sich, eine Arbeiterregierung zu
wählen auf parlamentarischem Wege. Das ist sehr möglich, in Deutschland oder bei
den Tschechoslowaken.
Nun ist die Frage, wollen wir diese allgemeine Brücke aus politischen Gründen als
Korrelat zu unseren wirtschaftlichen Uebergangsforderungen aufstellen oder nicht.
Natürlich brauchen wir nicht zu sagen, das soll in jedem Lande obligatorisch sein, man
dürfe nicht anders, als durch Kompromisse zur Diktatur kommen. Aber hier ist die Frage
zu untersuchen, was wir in dieser Losung sehen, eine politische Uebergangslosung, oder
klafft ein vollkommener Abgrund zwischen der Demokratie und der Periode der Dikta-
tur. Diese allgemeinen Fragen müssen im allgemeinen Programm gelöst werden, indem
wir die Methode dieser Uebergangsforderungen aufstellen, und dann kann für jedes
Land eine auswechselbare taktische Plattform geschaffen werden, die sich aus der kon-
kreten Situation ergibt. Aber wir können nicht dazu kommen ohne Lösung der Vorfrage
nach der Methode der Uebergangsforderungen.
Also wir sind einverstanden miteinander über die Notwendigkeit des ersten allge-
meinen Teils, über die Notwendigkeit der Schilderung des konkreten Ganges der Ent-
wicklung, wie sie Sinowjew vorschlug, über die Notwendigkeit der Charakteristik der
Uebergangsforderungen auf wirtschaftlichem Gebiet; und der Streitpunkt ist: Kommt
in diesem allgemeinen dritten methodischen Teil auch ein Versuch der allgemeinen
politischen Charakteristik, bei der wir natürlich nach Ländern gruppieren, aber gewiss
gemeinsame Dinge herausschlagen müssen.
Dann kommen die konkreten Forderungen für jedes Land, die jedes Land ausarbei-
ten muss. [...]
256 1918–1923
Nach der Ermordung des Außenministers der Weimarer Republik, Walter Rathenau, der den Rapallo-
Vertag unterzeichnet hatte, durch Soldaten der ultrarechten Organisation Consul (OC) wurde im Polit-
büro des ZK der KP Russlands Kritik an Außenkommissar Čičerin laut. In der Sitzung vom 6.7.1922 wur-
den auf Vorschlag Trotzkis die Form des von der Nachrichtenagentur Wolff übermittelten Telegramms
Čičerins an die deutsche Regierung als „völlig unzulässig“ abqualifiziert. Dies sei Čičerin nach seiner
Rückkehr nach Moskau mitzuteilen.144
Am 6.7.1922 befand das Politbüro des ZK der KP Russlands es für äußerst wichtig, in der Tagespresse
ein Interview mit Prof. Otfrid Foerster, dem deutschen Arzt Lenins, zu dessen Gesundheitszustand
abdrucken zu lassen.145 Nach seinem Schlaganfall im Mai war eine leichte Besserung eingetreten. In
einem Brief vom 3.6.1922 hatte Stalin Krestinskij unter Berufung auf einen Auftrag des ZK der RKP(b)
aufgetragen, mit der deutschen Regierung die Entsendung deutscher Mediziner, und zwar des Neu-
rochirurgen Foerster und des Chefarztes des Krankenhauses Moabit Georg Klemperer (Bruder des
Schriftstellers Victor Klemperer) nach Moskau zur Behandlung Lenins zu vereinbaren. Es sollten alle
Mittel eingesetzt werden, um die deutsche Regierung davon zu überzeugen, die beiden Ärzte für eine
längere Zeitdauer nach Russland ausreisen zu lassen. Foerster sollte unmittelbar 50.000 Goldrubel
als Vorschuss sowie alle Annehmlichkeiten in Russland erhalten; auch seine Familie könne mit ihm
reisen.146 Die linksliberale Emigrantenzeitung Golos Rossii meldete am 3.7.1922 aus Berlin, dass
Foerster bereits in Moskau eingetroffen sei (The New York Times, 4.7.1922).
Dok. 70
Protest der Kominternführung gegen den Nichtabdruck eines
Aufrufs für die Einheitsfront in der Roten Fahne
Moskau, 2.8.1922
Sinowjew
(Abgegangen am 2.8.22 nachts.)
Dok. 71
Mit Deutschland jetzt „klüger wie eine Schlange“ sein: Vorschlag
Lenins an Stalin, Radek und Trotzki die Verantwortung für die
Außenpolitik zu übertragen
[Moskau], 28.8.1922
Radek handelt übereilt; er reißt Karachan die Papiere aus der Hand.149 So geht es
nicht. Die Dinge heizen sich auf. Ich rate, sagen wir, eine Zweiergruppe zu bilden
(vielleicht Radek und Trotzki) und ohne das Einverständnis der beiden alle diploma-
tische Tätigkeit zwischen den Pol[it]büro[-Sitzungen] zu untersagen.
haltung der Unabhängigkeit der eigenen Agitation als conditio sine qua non plädiert (siehe: Broué:
Révolution en Allemagne, S. 593f.).
148 Sinowjew meinte hier wohl das gemeinsame Manifest nach der Ermordung Rathenaus.
149 Lev Karachan war stellvertretender Außenkommissar der Sowjetunion.
258 1918–1923
Mit Deutschland muss man jetzt „klüger wie eine Schlange“ sein. Kein unnötiges
Wort. Weder Frankreich, noch England unnötig „necken“. Keine leeren Drohgebärden
(wie am 27. August im Pravda-Leitartikel).150 Zunächst zehn- und hundertmal über
jedes Wort nachdenken. [...]
Am 31.8.1922 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, die bevollmächtigten Vertreter des
Landes in London, Berlin und Rom zu ermahnen, da sie die sowjetische Regierung nur ungenügend
über die gesellschaftlichen und politischen Vorgänge im Westen informieren würden. Sie sollten nun
verpflichtet werden, wöchentliche Informationsbriefe nach Moskau zu senden.151
Dok. 72
Brief Grigorij Sinowjews für einen Gefangenenaustausch von Max
Hoelz als „einem der populärsten Menschen unter den Arbeitern
Deutschlands“ nach Russland
Petrograd, 7.9.1922
7. Sept. 1922.
An Gen. Stalin
für das POLITBÜRO
Genosse Max Hoelz (Mitglied der Kompartei Deutschlands) hat zwei Hungerstreiks
im Gefängnis durchgestanden.152 Er ist todkrank. Es gibt Gründe zur Annahme, dass
die deutsche Regierung ihn nach Russland [ausreisen] ließe, wenn wir darum bitten
150 „Nur wenn die Arbeitermassen Deutschlands verstehen werden, dass man sich im Kampf gegen
den französischen Imperialismus wie im Kampf gegen das Kapital verteidigen muss, wenn man nicht
zerdrückt werden will, nur wenn sie ihre Regierung zwingen werden, dies zu verstehen, – nur dann
werden sie Hilfe verdienen, und sie werden sie finden.“ Die russischen Arbeiter – hieß es weiter –
„werden ihren deutschen Brüdern helfen, wenn letztere den Weg des Kampfes beschreiten.“ (Protiv
Versal’skogo iga. In: Pravda, 27.8.1922).
151 APRF, Moskau, 03/64/638, 13. Publ. in: Sevost’janov: Moskva-Berlin, I, Dok. 45.
152 Max Hoelz (1889–1933) leitete die „Roten Garden“ während der Märzaktion und wurde zu lebens-
langer Haft verurteilt (siehe das Folgedokument).
Dok. 73: [Berlin], 14.9.1922 259
würden. Max Hoelz ist jetzt einer der populärsten Menschen unter den Arbeitern
Deutschlands. Er war Mitglied der KAPD und wechselte erst vor 1½ Jahren offen zu
uns. Es ist höchst wichtig, ihn zu retten. Es wäre wünschenswert, damit auch Čičerin
zu beauftragen, falls er noch dort ist. Ich bitte darum, Krestinskij und Čičerin darauf
aufmerksam zu machen, dass das ZK dieser Angelegenheit einen sehr großen Wert
beimisst. Ich bitte darum, bei den Mitgliedern des P[olit]büros telephonisch anzufra-
gen, um Zeit zu gewinnen, denn Hoelz ist sehr krank.153
Sinowjew
Dok. 73
Bericht Karl Radeks an die Komintern über seinen Besuch bei Max
Hoelz im Gefängnis
[Berlin], 14.9.1922
Auf Grund des Kassibers von Max Hölz, der an die Exekutive und an die Vertretung
der Sowjetregierung in Berlin gerichtet war, und auf Grund des Berichtes, den der
Anwalt von Hölz, Hegewich, über Hölz gegeben hat, versuchte ich auf Anweisung der
Genossin Luise und Th. mit Hoelz persoenlich im Zuchthaus zu sprechen. Ich fuhr
in Begleitung Hegewichs nach Breslau und habe mir hier durch Vermittlung eines
Breslauer Genossen Zutritt zur Strafanstalt verschafft.154 Meine Ansicht ueber Hoelz
und Hegewich ist kurz gesagt folgende: Hoelz und Hegewich haben ein ganz widerli-
ches Theater aufgefuehrt, die Angriffe auf die Parteizentrale und die Exekutive sind
saemtlich unbegruendet.
Auf der Reise nach Breslau habe ich mich einige Stunden mit Hegewich unter-
halten koennen, und ich habe den Eindruck gewonnen, dass Hegwich die Haupt-
schuld daran trägt, dass Hoelz heute nicht ganz normal ist. Hegewich zeigte mir
einige Privatbriefe, die Hoelz an ihn geschrieben hatte, in denen er sich in einer ganz
153 Die Überstellung in die Sowjetunion gelang allerdings nicht: Max Hoelz kam erst im Juli 1928
im Rahmen einer Amnestie frei und konnte schließlich 1929 in die Sowjetunion übersiedeln, wo er
als revolutionärer Führer gefeiert, letztlich jedoch von der GPU umgebracht wurde (Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 383–384).
154 Der KPD-Jurist Ernst Hegewisch (1881–1963) wurde 1923 Hauptverteidiger der Teilnehmer des
Hamburger Aufstands; seit 1924 war er einer der Anwälte der Roten Hilfe Deutschlands.
260 1918–1923
unerhoerten Weise ueber die Parteizentrale und ueber die Exekutive auslässt. Hoelz
schreibt u.a. „Die Zentrale will ihn absichtlich im Gefängnis verkommen lassen, weil
sie fuerchtet, dass Hoelz ihr Schwierigkeiten machen koennte.“ Hegewich sagte:
„Hoelz und er habe den Eindruck, die Zentrale habe Angst, dass Hoelz sie absetzt.“
In einem anderen Brief schreibt er u. a. „Ich verzichte darauf, Ehrenmitglied des Mos-
kauer Sowjets zu sein, wenn er nichts fuer mich tut“ usw. Hegewich selbst, ein voellig
degenerierter, hysterischer Mensch, bestärkt ihn in seiner Meinung und erzählt den
bloedesten Quatsch ueber die Partei. Nach der Meinung Hegewich’s ist Hoelz der
groesste Revolutionär, den Deutschland je hervorgebracht hat und bringt dieses auch
bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck. Selbst bei der Unterredung mit der Genossin L.
sagte Hegewich u. a.: „Was soll aus der deutschen Revolution werden, wenn ein Hoelz
nicht da ist, und kann man sich ueberhaupt eine revolutionäre Bewegung vorstel-
len, ohne einen Hoelz?“ Hegewich beweihräuchert Hoelz in einer ganz widerlichen
sentimentalen Art. Hegewich redet z. B. Hoelz an, „Du gefangener Loewe“, oder „Du
Hoffnung der deutschen Revolution“ usw. Wenn Heg[e]wich kommt, fallen sich beide
in die Arme, weinen und halten groessenwahnsinnige [Reden].155 Hegewich hat auch
eine Reihe Artikel geschrieben, die ich beilege und die leider von einem Teil der Par-
teipresse abgedruckt worden sind. Diese Artikel sind zum Teil widerlich sentimental.
Nach meinen Unterredungen mit Hegewich habe ich den Eindruck, dass Hege-
wich ein sehr zweifelhafter Kommunist ist. Er äusserte sich z. B. „Max Hoelz und ich
haben schon lange ueberlegt, ob wir nicht der Partei den Ruecken kehren, die doch
nichts fuer uns tut.“
Hoelz selbst ist schon in Muenster koerperlich und geistig sehr heruntergekom-
men. Er hat sich auch den anderen Gefangenen gegenueber sehr schlecht benom-
men. Gefangene in Muenster haben sich bei der Partei sehr ueber Hoelz beschwert,
dass er auch ihnen gegenueber sehr hochmuetig und schroff aufgetreten sei, er habe
ihnen auch ins Essen gespuckt. Er isolierte sich im Gefängnis selbst von den anderen
Gefangenen. Diese Isolierung hat natuerlich auch dazu beigetragen, dass Hoelz heute
groessenwahnsinnig ist.
Als Hegewich nach der Ueberfuehrung Hoelz von Muenster nach Breslau nach
Berlin kam und hier berichtete, dass Hoelz wieder in den Hungerstreik treten wolle,
ersuchten Genossin L. und Th., denen berichtet worden war, den Anwalt, dass er
sofort Hoelz telegraphisch auffordert, er solle den Hungerstreik abbrechen. Das-
selbe verlangte die Zentrale. Hegewich telegraphierte daraufhin an Hoelz: „Vertreter
rät sofortigen Abbruch des Hungerstreiks“. Nach Empfang des Telegramms begann
Hoelz wieder Nahrung zu nehmen. Er hatte den Hungerstreik Donnerstag begonnen
und gab ihn Freitag also wieder auf.
In der Breslauer Strafanstalt habe ich ueber eine Stunde mit dem Arzt, der Hoelz
behandelt, gesprochen und dieser schilderte die Lage Hoelz’ folgendermassen. Hoelz
ist ohne ihr Wissen ihnen zugewiesen worden mit der Mitteilung, dass er nur vorue-
bergehend dort sein wird. Er ist in der Strafanstalt (kein Zuchthaus) in der Krankenab-
teilung untergebracht, und soll dort auf seinen koerperlichen und geistigen Zustand
untersucht werden. Hoelz wird in ein oder zwei Wochen nach einer anderen Strafan-
stalt ueberfuehrt. Den Hungerstreik hat er am zweiten Tage aufgegeben.
Ich habe festgestellt, dass Hoelz nicht schlechter behandelt wird als andere
Gefangenen. Selbst Hegewich sagte: „Hoelz uebertreibt“.
Am Montag abend fand in Breslau eine oeffentliche Versammlung statt, in der
ueber Hoelz und Klassenjustiz gesprochen werden sollte. Ich hatte der Bezirksleitung
Information gegeben, dass sie verhindert, dass Hegewich den Fall wieder ganz persoen-
lich aufzieht, sondern das Hauptgewicht muss darauf gelegt werden, dass gegen die
Klassenjustiz und fuer die Freilassung aller politischen Gefangenen demonstriert wird.
Auch die der Versammlung vorgelegte Resolution wurde dementsprechend aufgesetzt.
Den Versammlungsbericht in der „Schlesischen Arbeiterzeitung“156 lege ich bei.
In der Angelegenheit muss meiner Meinung nach folgendes getan werden, Hege-
wich als Anwalt wird entfernt. Ein anderer Anwalt muss zu Hoelz geschickt werden,
der seine Sache bearbeiten soll. Falls Hoelz protestiert, muss er ganz energisch
zurueckgewiesen werden. Ob ein Wiederaufnahmeverfahren politisch zu rechtferti-
gen ist, hat nicht Hoelz und Hegewich, sondern die Partei zu entscheiden. Ferner
muessen die Artikel, die Hegewich den Zeitungen zuschickt, die tatsächlich die Partei
blamieren koennen, kritischer gelesen werden und nicht ohne weiteres abgedruckt
werden.
Anlagen: Zeitungen.
Auf seiner Sitzung vom 21.9.1922 fasste das Politbüro des ZK der KP Russlands den Beschluss, einen
Austausch von Max Hoelz gegen Evgenij Timofeev, einen im SR-Prozess zum Tode verurteilten Füh-
rer der Rechten Sozialrevolutionäre, anzustreben: „Die russischen Vertreter in der Komintern werden
beauftragt, der deutschen s[ozial]-d[emokratischen] Partei vermittelt durch die deutsche kommunis-
tische Partei vorzuschlagen, Max Hoelz angesichts der schrecklichen Lage, in der er sich befindet,
gegen Timofeev aufzutauschen.“157 Der Austausch kam nicht zustande.
156 Siehe: Max Hoelz und die Klassenjustiz. Eine Riesenversammlung der Breslauer Arbeiter. In:
Schlesische Arbeiter-Zeitung, 14.9.1922. Der Bericht erwähnt Misshandlungen von Max Hoelz und
seine Untersuchung durch den „Irrenarzt“. „Hegewisch schloß seine von innerer Erregung getrage-
nen Ausführungen mit den Worten des Genossen Hoelz: ‚Das Wort kann uns nicht retten, das Wort
bricht keine Ketten, die Tat allein macht frei!‘ “ In den danach erschienenen Berichten wird allerdings
darauf aufmerksam gemacht, dass die KPD-Zentrale Hoelz aufgefordert habe, seinen Hungerstreik
abzubrechen. Schlesische Arbeiterzeitung. Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, Bezirk
Schlesien (Sektion der Kommunistischen Internationale), Breslau http://library.fes.de/breslau/schle-
sische-arbeiterzeitung/pdf/1922/1922–207.pdf.
157 RGASPI, Moskau, 17/3/313, 4.
262 1918–1923
Auf der gleichen Sitzung erfolgte ein Beschluss zur Vereinbarung mit der deutschen Telegraphen-Uni-
on, was nur dann für zweckmäßig befunden wurde, wenn die Interessen Sowjetrusslands vollständig
berücksichtigt seien.158
Dok. 74
Bericht des jungen Komintern-Mitarbeiters Willi Mielenz über sein
Leben in Moskau
Berlin, 3.10.1922
An die
Reichs Zentrale der K.P.D.
z. Hd. des Genossen W. Pieck, Berlin.
Werte Genossen!
Seit meinem letzten Bericht vom 17. Mai d.J. sind nun vier Monate vergangen, es ist
also wieder an der Zeit, einen persönlichen Bericht zu erstatten.
Bis Ende Juni hatte ich die Arbeiten zu erledigen, worüber ich in meinem letzten
Bericht schrieb, nämlich: redaktionelle Arbeiten an der K.I.,160 Bearbeitung der orga-
nisatorischen Berichte der Parteien und Mitarbeit an der Deutschen Sprachgruppe
bei der KI.
Anfangs Juli kam ich aus der Abteilung des Genossen Kuusinen161 heraus, Genosse
Eberlein hatte für mich eine andere, mir mehr zusagende Beschäftigung gefunden, in
der ich auch intensiver zu tun haben sollte.
Bin seit diesem Termin eine Art technisch-administrativer Sekretär im Sekretariat
des Präsidiums. Zu meinen hauptsächlichsten Aufgaben zählt die Vorbereitung der
Sitzungen des Präsidiums und der Exekutive (Sorge für Uebersetzung und Verteilung
der jeweiligen Unterlagen, Arrangierung der technischen Einzelheiten wie Anferti-
gung der Protokolle und ihre Verteilung usw.), die Kontrolle über die Ausführung
der gefassten Beschlüsse und ihre Registrierung und die Versorgung der grösseren
Parteien, der Presseorgane und gewisser einzelner Genossen mit Sitzungsberichten.
162 Zu den im Mai in der Komintern eingeführten Sprachgruppen siehe Dok. 45. Hier ist die Skandi-
navische Sprachgruppe der Exekutive gemeint.
163 Zum Moskauer Hotel Lux siehe Dok. 46.
264 1918–1923
Dok. 75
„Das Zeitalter der Weltrevolution“: Aus dem Programmentwurf der
KP Deutschlands
Berlin, 7.10.1922
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 5/3/23, 118–121. Die Rote Fahne, 7./8.10.1923.
Teilw. zit. in: Hermann Weber: Der deutsche Kommunismus, S. 43–45. In russischer Sprache publ. in:
Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 556–559.
12. Die Weltrevolution löst nicht nur den Weltkrieg ab, sie unterbricht ihn bereits
in seinem Lauf. Sie beginnt mit der Vollstreckung des Urteils, das der Kapitalismus
im imperialistischen Weltkrieg über sich selbst gefällt hat. Die Revolution folgt der
Linie des geringsten Widerstandes. Sie bricht zuerst aus in dem nicht entwickelten
kapitalistischen Grosstaat, sondern in dem wenigst entwickelten, in Russland, wo
einer jungen und schwachen Bourgeoisie ein modernes und kühnes Proletariat und,
mit ihm verbündet, eine millionenköpfige, verelendete, landhungrige Bauernschaft
entgegentritt. Mit einem kühnen Sprunge holt sie dort den Abstand ein, der sie von
den bürgerlichen Demokraten des Westens trennte und überholt bereits zu Beginn
den kapitalistischen Westen, indem sie neben die bürgerliche Demokratie bereits
die Organe der proletarischen Demokratie in Gestalt der Arbeiter- und Soldatenräte
setzt. Die bürgerliche Demokratie der anschwellenden, immer selbstbewusster auf-
tretenden proletarischen Demokratie gegenübergestellt, vermag sich aber nicht vom
Flecke zu rühren. Sie ist unfähig, irgend eine der von der revolutionären Bewegung
der breiten Arbeiter- und Bauernmassen aufgeworfenen grossen gesellschaftlichen
Fragen zu lösen – ausser in der Phrase. Gefesselt an die grosse Bourgeoisie und die
Grossgrundbesitzer des eigenen Landes und durch sie an die der Ententemächte, ist
sie weder fähig, den imperialistischen Krieg weiterzuführen, noch ihn zu beenden. Sie
ist unfähig, das zerrüttete Wirtschaftsleben des Landes neu zu ordnen. Sie schreckt
ängstlich davor zurück, den Bauern das Land zu geben, das sie begehren. Unfähig, die
soziale Neuordnung durchzuführen, ist sie ausserstande, den Zerfall des Heeres und
seiner Disziplin aufzuhalten, und das Heer auf neuer Klassengrundlage, auf Grund
umgewälzter sozialer Beziehungen neu zu schaffen. Gescheitert in allen ihren Bestre-
bungen gegenüber dem anschwellenden Misstrauen und der Empörung der Arbei-
terklasse und des Bauerntums, strebt sie zurück in die Arme der alten reaktionären
Gewalten: des Grossgrundbesitzes, des Grosskapitals, der zaristischen Bürokratie der
Generäle, der Pfaffen. Die neugeborene bürgerliche Demokratie schreitet Schritt für
Schritt fort in der Richtung der bürgerlichen Diktatur. Um die zur bürgerlichen Dik-
tatur sich entwickelnde bürgerliche Demokratie sammelt sich alles, was reaktionär,
schwankend, zweideutig ist: Von den zaristischen Generalen und den Popen bis zu
den ehemals kleinbürgerlich-revolutionären Sozialrevolutionären und den Vertretern
Dok. 75: Berlin, 7.10.1922 265
Die Weltbourgeoisie, nachdem sie im Westen den ersten Ansturm des Proletari-
ats siegreich überstanden, hat ihre politische Machtstellung auf Grund der von ihr
gemachten Erfahrungen mit neuen Stützen versehen, sie hat zu ihrer Befestigung aus
dem Kleinbürgertum und aus der Arbeiterklasse selbst immer neue Reserven heran-
gezogen. Aber sie hat in den Jahren nach Beendigung des Krieges sich völlig unfähig
gezeigt, die zerstörte kapitalistische Ordnung wiederherzustellen und ihren proletari-
schen Sklaven selbst innerhalb der kapitalistischen Sklaverei die Existenz zu sichern.
Dok. 75a
„Die K.P.D. zwischen dem III. und IV. Weltkongress“:
Tätigkeitsbericht zum IV. Weltkongress der Komintern
O.O. [Berlin], o.D. [5.11.1922]
[...] Der dritte Weltkongress hatte die deutsche Partei vor eine dreifache Aufgabe
gestellt:
1.) Die Liquidierung der in der Märzaktion praktizierten Theorie der „revolutio-
nären Offensive“
2.) die Durchführung des „Friedensvertrages“ mit der Opposition, die mit Paul
Levy [Levi] sympathisierte, und
3.) die Einleitung und Durchführung der Einheitsfronttaktik.164
Nach der Vereinigung mit der linken U.S.P. zu einer Massenpartei von angeblich
500.000 Mitgliedern, nach einer daraus folgenden Ueberschätzung der eigenen Kraft
und des Einflusses auf die Massen, nach der ungeheuren Niederlage in der Mittel-
deutschen Aktion gegen Hörsing und die von ihm eingesetzte Sipo165 zählte die KPD
auf ihrem Parteitag am 22.– 26. August 1921 doch noch gegen 300 000 Mitglieder.
Heute rechnet die Parteizentrale mit 240 000–260 000 Mitgliedern. Nach abgerech-
neten Mitgliedsbeiträgen gehören der Partei jedoch keinesfalls mehr als 180 000
Mitglieder an. Die Ursachen für diesen Rückgang liegen einmal in der allgemeinen
schleppenden Entwicklung der Revolution, zum andern in der Anziehungskraft, die
die Vereinigung der Sozialdemokraten im Augenblicke noch auf die Massen ausübt,
und zum dritten darin, dass bis vor einem Jahre die Mitgliederzahlen meist geschätzt
164 Siehe zum fundamentalen Politikwandel der Einheitsfront Dok. 63, 75b, 76, 77.
165 Sicherheitspolizei (SIPO). Gegründet vom Freistaat Preußen 1919 als paramilitärische kasernier-
te Polizei, eigentlich zum Schutz der verfassungsmäßigen Regierung. Ihre Kader rekrutierten sich u.a.
aus dem ehemaligen Freikorps „Garde-Kavallerie-Schützendivision“, das für die Ermordung von Lieb-
knecht und Luxemburg verantwortlich war.
Dok. 75a: O.O. [Berlin], o.D. [5.11.1922] 267
166 Der 2. (7.) Jenaer Parteitag (22.–26.8.1921) der KPD in Jena, auf dem Ernst Meyer und Ernst Reuter
zu Parteiführern gewählt wurden (siehe Dok. 57).
167 Der profilierte Demokrat, Zentrumspolitiker und Reichsfinanzminister Matthias Erzberger wurde
am 26.8.1921 von den ehemaligen Marineoffizieren Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz durch
mehrere Pistolenschüsse getötet. Beide waren ehemalige Freikorpsangehörige und Mitglieder der ult-
rarechten Marinebrigade Ehrhardt, die 1920 den Kapp-Putsch organisiert hatte.
168 Der Jenaer Parteitag forderte u.a. die Erfassung der Sachwerte unter Kontrolle der Kontroll-
ausschüsse, Erfassung und Beschlagnahme der Goldwerte für den Staat sowie die Beschlagnahme
der Gold-Werte in Verbindung mit Arbeitskontrolle, auch der ADGB forderte in seinem 10-Punkte-
Programm vom 21.11.1921 eine 25prozentige Besteuerung der Sachwerte. Am 4.7.1923 brachte die KPD
im Reichstag einen Antrag auf „Erfassung der Sachwerte durch eine zu bildende Arbeiterregierung“
ein. Gegen die ökonomische, währungspolitische und soziale Katastrophe wurde die Erfassung und
„Zwangssyndizierung“ aller Sachwerte einschließlich der Sachvermögen zu 51% durch den Staat vor-
geschlagen. Hierin wurde die Bedingung für eine „grundlegende Umgestaltung der gesamten Wirt-
schafts-, Finanz und Steuerpolitik“ gesehen (Bernhard H. Bayerlein: Der Deutsche Oktober 1923. Ma-
terialien zur Dokumentation des Aufbau-Verlags Berlin. In: The International Newsletter of Communist
Studies Online, Update 17/1, 10.1.2004).
268 1918–1923
169 Gegen den auf seinem Höhepunkt bis zu 800.000 Teilnehmer umfassenden Generalstreik der
Eisenbahner im Februar/März 1922 versuchte Reichspräsident Ebert, per Dekret ein Streikverbot für
Angehörige der Reichsbahn durchzusetzen. Der Streik wurde seitens des ADGB unter Hinweis auf eine
drohende Weiterführung durch die Kommunisten abgebrochen (siehe aus Sicht der KPD: Paul Frö-
lich: Das Verbrechen an den Eisenbahnern. Der Februarstreik und seine Lehren, Berlin, Vereinigung
Internationaler Verlagsanstalten, 1922),
170 Siehe hierzu Dok. 65.
171 Gemeint ist der offene Brief der KPD an alle Arbeiterorganisationen vom Januar 1921, der erst-
mals die Einheitsfrontpolitik manifestierte. Siehe hierzu Dok. 37.
Dok. 75a: O.O. [Berlin], o.D. [5.11.1922] 269
bestehender Rechte. In all den Kämpfen beider Art war sie aber zu schwach, die
Führung zu übernehmen. Besonders in den gewerkschaftlichen Kämpfen fehlt der
Partei noch jede „Routine“, obwohl sie ein grosses Gerüst von Gewerkschafts- und
Betriebsfraktionen aufgestellt hat.
Eine mit wenigen Ausnahmen kluge Taktik der Einheitsfront führte die Parteizen-
trale in der Bewegung gegen die Monarchistendemonstrationen (Regimentsfeiern)172
und nach dem Rathenaumord173 durch. Gegen den Widerstand der SPD und auf
Zureden der Führer des ADGB,174 (die eben in Leipzig auf dem Gewerkschaftskongress
ihre Stellung bedenklich erschüttert fanden), wurden im ganzen Reiche gemein-
schaftlich Aufrufe herausgegeben und gemeinsam zwei- bzw. dreimal demonst-
riert. Hier beschränkte sich die Partei zu Beginn der Aktion schon ohne Schwanken
(abgesehen von der Berliner Bezirksleitung, die wiederholt die Einheitsfronttaktik
offen oder indirekt sabotierte), lediglich auf die Forderungen der Verteidigung der
bestehenden Republik und die Sammlung aller Kräfte zum Kampfe gegen die Reak-
tion. Dabei wurden an einzelnen Orten einige unverzeihliche Fehler begangen, wo
die Partei sich mundtot machen liess, wie z.B. in Berlin bei der Demonstration am
4. Juli, oder wie in Düsseldorf, wo von uns Propaganda für die Zeitungen der SPD
und USPD gemacht wurde. usw. usw. Im allgemeinen war die politische Linie aber –
entsprechend der keineswegs revolutionären Lage, der Unbeweglichkeit der Massen,
dem immer noch ausserordentlich starken Einfluss der Amsterdamer, der infolge der
geringen Arbeitslosigkeit verschleierten Verelendung der Massen –, durchaus richtig.
172 Nach dem Mord an Außenminister Rathenau forderte auch Otto Wels als Parteivorsitzender der
SPD im Reichstag ein „rücksichtsloses Verbot all der Regimentsfeiern und -appelle, die doch lediglich
zum Gegenstand monarchistischer, antirepublikanischer Kundgebungen werden.“ (Aussprache des
Reichstags nach der Ermordung des Reichsaußenministers Rathenau, 25. Juni 1922. In: Verhandlun-
gen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 356, 8041–8074. Digitale Ressource).
173 Am 24.6.1922 wurde in Berlin-Grunewald auf der Fahrt ins Auswärtige Amt Außenminister
Rathenau von Angehörigen der ultrarechten Organisation Consul (OC) ermordet. ADGB, AfA, SPD,
USPD und KPD veröffentlichten einen gemeinsamen Aufruf zum Ausstand mit der Aufforderung zum
Schutz der Republik. Das daraufhin im Juli beschlossene Gesetz zum Schutz der Republik wurde al-
lerdings vornehmlich gegen die Linke umgesetzt.
174 Der im Juli 1919 gegründete Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) war mit acht Mil-
lionen Mitgliedern 1920 (3,5 Millionen 1932) der bei weitem größte Gewerkschaftsdachverband der
Weimarer Republik. Der sozialdemokratisch dominierte Verband mobilisierte unter seinem Vorsit-
zenden Carl Legien entschieden für den Generalstreik gegen Kapp 1920. Unter Theodor Leipart (1867–
1947) erklärte sich die ADGB-Führung 1933 für politisch neutral. Ihre „positive Mitarbeit“ verhinderte
nicht die im Mai 1933 erfolgende Zerschlagung und die Verfolgung der im Widerstand stehenden Ge-
werkschaftsmitglieder. Aufgrund ihrer Spaltungspolitik (siehe: Revolutionäre Gewerkschaftsopposi-
tion) gelang es der KPD nicht, diesen Prozess maßgeblich zu beeinflussen. Siehe: Gerard Braunthal:
Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund. Zur Politik der Arbeiterbewegung in der Weimarer Re-
publik, Aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Voss, Köln, Bund-Verlag, 1981 (Schriftenrei-
he der Otto-Brenner-Stiftung. 21); Detlev Brunner: Bürokratie und Politik des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes. 1918/19 bis 1933, Köln, Bund-Verlag, 1992 (Schriftenreihe der Otto-Brenner-
Stiftung. 55).
270 1918–1923
Dok. 75b
Vorschlag Lenins an Trotzki zur Durchsetzung der
Einheitsfrontpolitik gegen die KPD-Linke
[Moskau], 18.11.1922
Gen. Trotzki!
Anbei sende ich den Brief von Sin[owje]w.175
Sie wollen Meyer [aus der Parteiführung] herauskegeln und schreien deswegen
gegen den Ausschluss der „Linken“ an!!!176
Ich denke, wir müssen als Partei einen Brief schreiben, ich empfehle, einen der
Linken in das ZK zu nehmen, dann auf dem Parteitag [die Frage der] T[aktik] u[nd]
O[rganisation] abzuschließen177 und darüber hinaus auf dem Parteitag einen Brief
gegen Fraktionen und Stänkereien zu verabschieden.178
175 Der Brief ist den Herausgebern der russischen Ausgabe zufolge nicht überliefert.
176 Gemeint ist die gemeinsame Sitzung der Delegationen der RKP(b) und der KPD während des IV.
Weltkongresses am 16.11.1922, auf der die Frage der Arbeiterregierung besprochen wurde.
177 “T u O“ im Original deutsch. Die russischen Herausgeber der Lenin-Dokumente sind der Auffas-
sung, dass sich Lenin hier auf den bereits 1921 nach der Märzaktion erschienen Sammelband bezieht
(siehe: Taktik und Organisation der revolutionären Offensive. Die Lehren der Märzaktion. Hrsg. von
der Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen
Internationale), Leipzig, 1921). Eine plausiblere Erklärung bezieht sich auf ein „Organ der linken Op-
position“ (Firsov: Die Hilfe der Komintern, S. 45) unter dem Titel Taktik und Organisation, Organ der
KPD. Kommunistische Partei Deutschlands. Bezirk Berlin-Brandenburg, das tatsächlich seit Dezember
1921 erschien und im Dezember 1922 eingestellt wurde. Lenin ging es (gemeinsam mit Trotzki) seit
dem III. Weltkongress im Sinne einer durch die Linke gefährdeten Bestandsgarantie für die Komintern
darum, die Taktik der Einheitsfront in den kommunistischen Parteien – und besonders der KPD –
definitiv zu verankern. Für eine solche Interpretation spricht auch die von Lenin, Trotzki, Sinowjew,
Radek und Bucharin einige Tage später noch auf dem Weltkongress abgegebene Grundsatzerklä-
rung für die Einheitsfrontpolitik und die Übergangsforderungen: „Angesichts dessen, dass der Streit
darüber, welche Formulierung den Uebergangsforderungen gegeben werden soll, und in welchem
Teile des Programmes sie untergebracht werden sollen, vollkommen unrichtig den Anschein eines
prinzipiellen Gegensatzes erweckte, bestätigt die russische Delegation einstimmig, dass die Aufstel-
lung von Uebergangsforderungen in den Programmen der nationalen Sektionen und ihre allgemeine
Formulierung und theoretische Begründung in dem allgemeinen Teil des Programmes [der Komin-
tern] nicht als Opportunismus aufgefasst werden können.“ (Erklärung der russischen Delegation. In:
Lenin, Briefe, IX, S. 550, Anm. 555).
178 Der 8. Parteitag der KPD fand vom 28.1.–1.2.1923 in Leipzig statt. Einen Brief der russischen Partei
an die KPD hat es genauso wenig gegeben wie einen Brief des Kongresses gegen das offensichtlich
fraktionelle Vorgehensweise der Linken um Ruth Fischer und Arkadi Maslow, die sowohl die Ein-
heitsfront als auch die Arbeiterregierung ablehnten, wie es die von Radek und Brandler formulierten
Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung vorsahen. Die Kandidaten der Linken
Dok. 75c: [Moskau], o.D. [20.11.1922] 271
Man sagt, auch Zetkin sei gegen E. Meyer im ZK. Stimmt das?
Geben Sie mir den Brief Sin[owje]ws zurück. [...]
Ihr Lenin
Dok. 75c
Das Präsidium des IV. Weltkongresses zur Frage der Programme
der kommunistischen Parteien
[Moskau], o.D. [20.11.1922]
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 491/1/287, 5, 10. Veröffentlicht in: Lenin: Briefe,
Bd. IX, S. 355.
1. Alle Programmentwürfe werden der Exekutive der Komintern oder einer von ihr
bestimmten Kommission überwiesen zum Zweck des Studiums und der detaillierten
Bearbeitung. Die Exekutive der Komintern ist verpflichtet, in kürzester Frist alle Pro-
grammentwürfe, die bei ihr einlaufen, zu publizieren.
2. Der Kongress bestätigt, dass die nationalen Sektionen der Komintern, die noch
keine nationalen Programme besitzen, verpflichtet sind, sofort an ihre Ausarbeitung
zu gehen, um sie spätestens drei Monate vor dem V. Kongress der Exekutive zu unter-
breiten zwecks Bestätigung durch den nächsten Kongress.
3. In den Programmen der nationalen Sektionen muss die Notwendigkeit des Kampfes
für die Uebergangsforderungen mit aller Klarheit begründet werden, wobei die ent-
wurden zunächst nicht gewählt, dann jedoch auf Druck Radeks und Sinowjews doch kooptiert. Siehe:
Broué: Révolution en Allemagne, S. 641ff.; Mario Keßler: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kom-
munisten (1895–1961), Köln-Weimar-Wien, Böhlau, 2013, S. 119–123 (Zeithistorische Studien. 51). Von
einem offenen Brief des Kongresses spricht nur Reisberg (An den Quellen, S. 673).
179 Der Titel des (sprachlich leicht verbesserten) Dokuments in der Lenin-Briefedition lautet: „Ent-
wurf einer Resolution des IV. Kongresses der Komintern zur Frage des Programms der Kommunisti-
schen Internationale. Vorschläge, angenommen auf der Beratung der Fünfergruppe des ZK (Lenin,
Trotzki, Sinowjew, Radek, Bucharin), 20. November 1922.“ Nach dem Ausbruch scharfer Diskussionen
auf dem IV. Weltkongress der Komintern über die Programmfrage, in denen die Linken, darunter nicht
zuletzt Bucharin, die Übergangsforderungen als opportunistisch kritisierten, wurde beim Präsidium
eine Unterbrechung beantragt und eine Beratung des Büros der Delegation der KPR(b) im EKKI einbe-
rufen, auf der das vorliegende Dokument verabschiedet wurde. Es ist zugleich eines der letzten maß-
geblich von Lenin redigierten Leitdokumente der Komintern. Mit geringfügigen Änderungen wurde es
als Resolution des Weltkongresses angenommen (Lenin: Briefe, Bd. 9, S. 550f.; Protokoll des vierten
Kongresses der Kommunistischen Internationale. Petrograd-Moskau vom 5. November – 5. Dezember
1922, Hamburg, Hoym, 1923, S. 542–544 (Bibliothek der Kommunistischen Internationale. 38)).
272 1918–1923
sprechenden Vorbehalte über die Abhängigkeit dieser Forderungen von den konkre-
ten Bedingungen der Zeit und des Ortes gemacht werden müssen.180
180 Die Bedeutung der Programme für die einzelnen kommunistischen Parteien zielt besonders auf
Deutschland, wo man erneut die nächste Station der proletarischen Revolution in Europa sieht (siehe
hierzu u.a. Sinowjew in seiner Einführungsrede (Protokoll, S. 37). Die hier formulierte definitive Klä-
rung auf dem V. Kongress erfolgte nicht.
1923
Dok. 76
Empfehlung des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik
(„Büro Varga“/Berlin) für die Einheitsfront als „Sammelparole zur
Verteidigung der Arbeiterrechte“
Berlin, Mitte Januar 1923
Bericht No 31
ueber die politische Lage Deutschlands und die Arbeiterbewegung bis 14. Januar 1923.
In der innerpolitischen und sozialen Lage Deutschlands zeigt sich jetzt immer deut-
licher, dass fuer die Arbeiterbewegung mit dem 14. November 1922 eine neue Epoche
begonnen hat:
Der Regierungsantritt des Generaldirektors Cuno mit seinem rein bürgerlichen
Kabinett bedeutet den entschiedenen Beginn der politischen Alleinherrschaft des
Buergertums unter steigendem Verlust jedes politischen Einflusses der reformisti-
schen Arbeiterfuehrer. [...]
[...] 9. Die nahende Wirtschaftskrise, eine gewisse Erleichterung des reformis-
tischen Druckes auf die sozialdemokratischen Arbeiter, die soziale Gaehrung unter
den christlichen Arbeitern und Angestellten1 und die wachsende Empoerung der
kleinbuergerlichen Schichten, (Beamte, Geschaeftsleute, Handwerker, Rentner, Intel-
ligenz) gegen die Herabdrueckung ihrer Lebenslage unter das allgemeine Niveau
muessen schon fuer die allernaechste Zeit die Vorbedingungen schaffen fuer eine
Einheitsfront der breitesten Volksschichten: u[nd] zw[ar] entweder konterrevolutio-
naer unter Fuehrung des mehr oder weniger geeinten Buergertums in der nationa-
len Einheitsfront und unter der Parole: „Gegen das Versailler Schanddiktat, nieder
mit den Erbfeinden!“ Gelegentlich auch unter Hitlers Parole: „Nieder mit den
Novemberverbrechern!“2 Oder revolutionaer unter Fuehrung der K.P.D. und den
Parolen: “Gegen die kapitalistischen Schieber und Wucherer!“, „Fuer die Arbeiterre-
gierung“!
1 Christliche Arbeiter waren sowohl im ADGB, als auch in den christlichen Gewerkschaften organi-
siert.
2 Als „Novemberverbrecher“ wurden von nationalsozialistischer und ultrarechter bzw. nationali-
stischer Seite die Politiker diffamiert, die 1918 die Kapitulation und den Vertrag von Versailles un-
terzeichnet hatten und damit zu Verantwortlichen für die Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg
gemacht wurden.
274 1918–1923
10. Das Entstehen der konterrevolutionaeren Einheitsfront, die von einer starken
Massenbewegung der Nationalsozialisten begleitet werden koennte, und die zu einer
darauffolgenden restlosen Entrechtung der Arbeiterschaft, d.h. des endlichen Sieges
der kapitalistischen Offensive fuehren wuerde, ist in Deutschland zu verhindern nur
durch die Einheitsfronttaktik mit allen Konsequenzen, nicht allein als ein Mittel zur
Zertruemmerung der Sozialdemokratie, sondern in erster Linie als eine Sammelpa-
role zur Organisierung der Verteidigung der letzten Arbeiterrechte, von wo aus die
K.P. das Vertrauen der Massen gewinnen und zur Herrschaft gelangen kann.
Die Konkretisierung dieser Taktik durch die K.P.D. macht leider noch geringe
Fortschritte, wenn es auch scheint, als ob der bisher hemmende Einfluss einiger
Fuehrer der Berliner Bezirksleitung3 durch deren scheinbare Wandlung jetzt anspor-
nend wirkt.
Dass jetzt in der Partei – und zwar auf Anregung und Anordnung der Reichszen-
trale – der Uebergang zur Illegalitaet nicht nur diskutiert, sondern schon vorbereitet
wird, obwohl tausend Moeglichkeiten legalen Arbeitens noch nicht erschoepft sind,
im Gegenteil viele Moeglichkeiten einfach unausgenuetzt bleiben, laesst4 das Entste-
hen eines Fatalismus unter der Mitgliedschaft der ganzen Partei befuerchten, wie sie
sich bereits in der Berliner Organisation breit macht. (Ein deutlicher Ausdruck dafuer
ist die starke Stroemung fuer den Austritt aus den Gewerkschaften.)
Unter diesen Umstaenden koennen die Aussichten auf Herstellung der revolutio-
naeren Einheitsfront, dies setzt in Deutschland voraus die Verhinderung der konter-
revolutionaeren Einheitsfront, nicht guenstig genannt werden. [...]
Am 11.1.1923 stimmte das Politbüro des ZK der KP Russlands der vom Rat der Volkskommissare vorge-
schlagenen Unterzeichnung eines Konzessionsvertrags mit Krupp zu.5
Am 12.1.1923 erfolgte per Telefonumfrage ein Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands nach
dem „Vorschlag des Gen. Stalin über einen Aufruf des Gesamtrussischen Zentralen Exekutivkomitees
an die Völker Europas oder eine Note der Sowjetregierung an die Staaten Europas aus Anlass der ge-
waltsamen Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen und der dadurch über Europa heraufbe-
schworenen Gefahr eines neuen Krieges.“ Das Politbüro beauftragte das NKID, einen entsprechenden
Aufruf „an die Völker Europas“ bis zum 13.1. zu erarbeiten. Am 14.1. wurde der Aufruf in der Izvestija
publiziert.6
3 Tatsächlich hatten Ruth Fischer und Arkadi Maslow nur in Anwesenheit der politischen Führer der
Bolschewiki und der Komintern in Moskau in die Einheitsfrontpolitik eingewilligt; nach Deutschland
zurückgekehrt, gingen sie wieder in Opposition, oftmals unter Verunglimpfung von Parteiführern wie
Ernst Meyer oder Heinrich Brandler und unter Anwendung fraktioneller Methoden. Karl Radek ent-
schied sich erst während der Vorbereitungen des gescheiterten „Deutschen Oktober“ Ende des Jahres
dagegen vorzugehen, als es bereits zu spät war, auch für ihn selbst.
4 Als Fußnote im Original eingefügt: „so selbstverstaendlich diese Vorbereitungsarbeit auch ist,“
5 RGASPI, Moskau, 17/3/329, 1.
6 APRF, Moskau, 3/64/690, 1. Publ. in: Sevost’janov: Moskva-Berlin, I, Dok. 52.
Dok. 77: Moskau, 16.2.1923 275
Am 25.1.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, eine Kommission aus Skljanskij,
Rozengol’c und einem Militär (später ausgewählt: Boris Šapošnikov) für einige wenige Tage nach
Deutschland zu entsenden, um die „militärisch-politische Lage zu klären.“ Dabei ging die sowjeti-
sche Führung von einem Krieg aus, der sowohl der Sowjetunion als auch Deutschland aufgezwungen
werden könne, daher müsse man gemeinsame Vorkehrungen treffen für den Krisenfall, mit dem man
für den Sommer rechnete. Weder solle man sich dabei von deutschen Revanchestimmungen einneh-
men lassen noch konkrete militärstrategische Zusagen machen, sondern lediglich entsprechende
Rüstungsvorkehrungen treffen und entsprechend die Investitionsbereitschaft der Deutschen schü-
ren. Entsprechende Verhandlungsanweisungen wurden von Trotzki wenige Tage später entworfen. Die
Kommission verhandelte am 4. und 6. Februar in Deutschland mit von Seeckt und anderen Reichs-
wehrführern, man beschloss eine umfangreiche Rüstungskooperation.7
Am 27.1.1923 stimmte das Politbüro des ZK der KP Russlands für den Vorschlag Trotzkis, 100.000 Gol-
drubel für streikende Arbeiter in Deutschland bereitzustellen. Stalin bestand erfolgreich darauf, dass
die Summe, die von den sowjetischen Gewerkschaften bereitgestellt wurde, nicht über die russische
Handelsvertretung in Deutschland, sondern über das ZK der KPD übergeben wurde.8
Dok. 77
Instruktion der Komintern an die KPD für ein gemeinsames
Vorgehen mit der KP Frankreichs im Sinne der Einheitsfrontpolitik
Moskau, 16.2.1923
Werte Genossen!
Das Präsidium hat in seiner Sitzung vom 11. Februar beschlossen, der französischen
und deutschen Partei vorzuschlagen, einen gemeinsamen offenen Brief an die Sozial-
demokraten und die Gewerkschaften der beiden Länder zu richten, mit der Aufforde-
rung, eine Einheitsfront mit den Kommunisten zu bilden.9
7 APRF, Moskau, 03/64/644, 110. Publ. in: Sevost’janov: Moskva-Berlin, I, Dok. 57. Beirichte über Ver-
handlung der Kommission siehe: Ibid., Dok. 61.
8 RGASPI, Moskau, 17/3/334, 4. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 149.
9 Die KPD reagierte mit einem Beschluss der Zentrale zur verstärkten Propaganda der deutschen und
französischen Kommunisten unter den Besatzertruppen (siehe: Die Rote Fahne, 15.2.1923). Der ge-
meinsame Brief sollte gegen die Rheinlandbesetzung gerichtet sein, die das Krisenjahr 1923 einläute-
te. Gemeinsame, jedoch nicht immer einvernehmliche und von staatlicher Repression gegen die fran-
zösischen Kommunisten begleitete Initiativen seitens der KPF und der KPD führten nach der Essener
Konferenz (6.–7.1.1923) zur Abhaltung einer weiteren internationalen Konferenz in Frankfurt am Main
(17.–20. März). Französische Teilnehmer der durch ein Aktionsprogramm deutscher und französischer
Arbeiter untermauerten internationalistischen Solidaritätsaktionen wurden verhaftet und in den Me-
276 1918–1923
Das Präsidium ist der Meinung, dass trotz der bereits durch die Kommunisti-
schen Parteien in letzter Zeit getanen ähnlichen Schritte und trotz der ablehnenden
Antworten der Sozialdemokraten und Amsterdamer [Gewerkschaftsinternationale]
dennoch die jetzige Situation einen erneuten Versuch rechtfertigt. Die Kommunisti-
schen Parteien Frankreichs und Deutschlands haben vor den Augen der breitesten
Massen den Beweis erbracht, dass sie die einzigen Parteien sind, die einen ernsthaf-
ten Kampf gegen die imperialistische Kriegsgefahr führen können und führen wollen.
Die französischen Sozialdemokraten und Amsterdamer müssen auf die Dauer mit der
Tatsache rechnen, dass die Kommunistische Partei Frankreichs die stärkste politi-
sche Partei des französischen Proletariates ist und zusammen mit der C.G.T.U.10 wohl
imstande ist, die breiten Massen zu beeinflussen.
Die deutschen Sozialdemokraten und Amsterdamer haben es erleben müssen,
dass die Massen ihrer Mitglieder unter dem Druck der politischen und ökonomischen
Krise gegen ihre bisherigen Führer rebellieren und immer stürmischer den Bruch
mit der bisherigen Burgfriedens- und Arbeitsgemeinschaft fordern. Die Kommunis-
tische Partei Deutschlands hat in den letzten Wochen ganz zweifellos an politischem
Einfluss bei den Massen gewonnen und zwar weit über die Kreise des eigentlichen
Industrieproletariates hinaus. Das deutsche Proletariat hat gesehen, dass einzig die
Kommunistische Internationale imstande ist, beachtenswerte Kräfte in Frankreich
und anderen Ententeländern zu mobilisieren, die den Gewalttätigkeiten des franzö-
sischen Imperialismus sich entgegenstemmen. Ein gemeinsamer Schritt der beiden
grossen kommunistischen Parteien wird in dieser Situation zweifellos einen starken
Nachhall in den Massen finden, wird den Druck der sozialdemokratischen Arbeiter
auf ihre reformistischen Führer verstärken und falls diese ein Zusammengehen mit
den Kommunisten erneut ablehnen, die Krise in der Sozialdemokratie vergrössern.
Wir ersuchen Euch deshalb, sofort mit der Kommunistischen Partei Frankreichs
Form und Inhalt des offenen Briefes zu vereinbaren, und gleichzeitig mit dem offenen
Brief eine entsprechende Kampagne für die Einheitsfront auf breitester Grundlage zu
organisieren.11
Am 26.2.1923 benannte das Politbüro des ZK der KP Russlands eine Kommission, bestehend aus
Aleksandr Cjurupa, Leonid Krasin, Sokol’nikov und Litvinov, zur Erörterung der Frage des Verkaufs
von Getreide an die deutsche Regierung.12 Nach zahlreichen Interventionen des Politbüros wurde ein
entsprechender Vertrag, der den Export von 20 Millionen pud [1 pud = 16 kg] Getreide nach Deutsch-
land im Austausch gegen sowjetische Industriebestellungen festlegte, am 3.7.1923 abgeschlossen.13
Zeitgleich wurde in einem Aufruf der RGI an die „Arbeiter der ganzen Welt“ die Lieferung von ½ Milli-
on pud Brot angekündigt. Im Ruhrgebiet wurden 800 Waggons mit „Russenbrot“, die von Kontrollaus-
schüssen vor Ort verteilt werden sollten, der IAH übergeben.
Dok. 78
Brief Stalins an Sinowjew zur Eroberung der politischen Macht
durch die kommunistischen Parteien
[Moskau], 4.5.1923
Gen. Sinowjew!
Der Entwurf ist den Grundzügen annehmbar und notwendig.14 Man muss den Führern
der westlichen Komparteien einhämmern, dass diese Komparteien entschieden die
Perspektive einer führenden politischen Kraft in ihrem Land ins Zentrum rücken
müssen, dass es sonst keinen Sinn macht, von der „Eroberung“ der politischen Macht
zu faseln, dass sie zu einer solchen Kraft nur werden können, nachdem sie die Unter-
stützung der revolutionären Elemente auf dem Lande erobert haben, und dass man
dafür unter anderem die neue Losung einer Arbeiter-und-Bauern-Regierung aufstel-
len muss, oder, wenn Sie wollen, die Losung einer Arbeiterregierung, die sich auf die
Sympathie der revolutionär-demokratischen Schichten der Bauern stützt.15
Eine solche Herangehensweise würde die Komparteien des Westens sofort auf
ein neues Gleis stellen und sie auf den großen Pfad des politischen Kampfes um die
Mehrheit im Land führen.
I. Stalin16
Dok. 79
Tätigkeitsbericht der Komintern-Kommission für illegale Arbeit
von Januar bis Mai 1923
[Moskau], 26.5.1923
S[treng] geheim
(nur für Mitglieder des Präsidiums des EKKI).
Moskau, 12.–23. Juni 1923, Hamburg, Hoym, 1923, S. 278–285. (Bibliothek der Kommunistischen Inter-
nationale. 40).
16 Während vom schwerkranken Lenin seit November 1922 keine grundlegenden Stellungnahmen
und Texte zur Komintern mehr vorliegen, ist der Brief an Sinowjew ein früher Beleg für Stalins An-
spruch, sich leitend an den Kominternangelegenheiten zu beteiligen.
17 Wie auch die Kommission zur Arbeit in der Armee, mit der sie in ständigem Kontakt stand, arbei-
tete die „Ständige illegale Kommission“ mit enger Unterstützung der Tscheka (später GPU) und des
Revolutionären Militärrates Sowjetrusslands. 1926 wurde die „Ständige illegale Kommission“ ange-
sichts der festgestellten „relativen Stabilisierung des Kapitalismus“ und der „Pause im revolutionären
Kampf“ offenbar im Zuge der Liquidierung des für die Kommission zuständigen Orgbüros Ende 1926
aufgelöst. Fragen konspirativen Charakters wurden fortan in der Engeren oder Kleinen Kommission
des Politsekretariats besprochen, die Befugnisse gegenüber den Komintern-Sektionen gingen in den
Zuständigkeitsbereich der Ländersekretariate und der Organisationsabteilung des EKKI über (siehe:
Bayerlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution; Adibekov/Šachnazarova/
Širinja: Organizacionnaja struktura, S. 81, 129).
18 Der IV. Weltkongress nahm auf der Sitzung am 2.12.1922 die Resolution über die Reorganisierung
der Komintern an. In einem der Veröffentlichung nicht unterliegenden Punkt wurde das Präsidium
des EKKI beauftragt, sich verstärkt mit der Vorbereitung der Parteien auf die illegale Arbeit zu be-
schäftigen (RGASPI, Moskau, 491/1/243, 81–82).
Dok. 79: [Moskau], 26.5.1923 279
im Dienst, zunächst Gen. Próchniak (vor seiner Abreise aus Moskau), danach Gen.
Mickiewicz-Kapsukas.
Die Kommission beschäftigte sich mit der Anleitung zur illegalen Arbeit, vor
allem in Italien. Sie schrieb drei lange Briefe an das ZK der KPI mit Instruktionen
darüber, welche Organisationsformen und Arbeitsmethoden in der gegebenen ver-
änderten Lage am zweckmäßigsten seien. Die Fragen der Reorganisation der Partei,
der Verbindungen, der illegalen Technik und der Konspiration nahmen großen Stel-
lenwert ein. Die Kommission kann feststellen, dass die anfängliche Panik in der KPI
vorüber ist, und die Partei eine planmäßigere und systematischere Arbeit aufgenom-
men hat, indem sie sich mehr oder weniger an die neuen Bedingungen der faschisti-
schen Diktatur angepasst hat, obwohl in Zukunft noch die Überwindung zahlreicher
alter organisatorischer Gewohnheiten ansteht. [...]
Die Kommission befasste sich auch mit der Arbeit in Ungarn und der Tschecho-
slowakei. Was Ersteres angeht, so konnte die Kommission nur die Notwendigkeit fest-
stellen, erfahrene und erprobte Genossen dorthin zu entsenden, damit sie sich vor Ort
ein Bild des Zustandes der Arbeit machen können. In der Tschechoslowakei wurden
vorbereitende Maßnahmen zur Organisation von Untergrundarbeit bereits getroffen
und zeitigten einige Resultate.
Noch mehr wurde in Deutschland geleistet, wo das Anwachsen faschistischer
Organisationen unsere Partei dazu zwingt, ernsthafte Maßnahmen nicht nur in der
Organisation des Arbeiterselbstschutzes zu treffen,19 sondern auch im Sinne der
Organisierung von Untergrundarbeit, da diese notwendig geworden ist. Die Kommis-
sion für illegale Arbeit hat auf Deutschland wenig Zeit aufgewendet, da die Deutsche
Kompartei ohne fremdes Zutun mit dieser Arbeit zurechtkommt, und sich dabei im
Großen und Ganzen an die Direktiven der Kommission des IV. Kongresses für illegale
Arbeit hält. Die Kommission für illegale Arbeit bemüht sich nur darum, im Bezug auf
das auf dem Laufenden zu bleiben, was die KPD in diesem Gebiet bewerkstelligt.
Auch in Frankreich wurden im Sinne der Lieferung von Technik einige wenige
Aktivitäten entfaltet. [...]
Die Kommission kämpfte gegen die ungenügende Einhaltung der Konspiration,
sowohl was die Kommunikation einzelner Sektionen der Komintern, als auch die Ver-
treter einiger Sektionen in Moskau angeht.
Schließlich sammelte die Kommission Materialien über den Zustand der Unter-
grundarbeit in den verschiedenen Ländern, über ihre Organisation, ihren Verbin-
19 Der Selbstschutz wurde bisher hauptsächlich von den Roten Sport- und Jugendorganisationen ge-
leistet. Am 27.2.1923 beschloss das Polbüro den Aufbau eines Ordnerdienstes (OD), der vorerst defensi-
ve Aufgaben übernehmen und auch regelmäßig in Theorie und Praxis über den Bürgerkrieg berichten
sollte. Auf Veranlassung der Komintern wurden dann seit März 1923 sowohl auf Reichs-, als auch auf
Bezirksebene sogenannte „Dreierkommissionen“ der Ordnerdienste aufgebaut, denen als Keimform
der „Proletarischen Hundertschaften“ und Pendant zu der Roten Garde in Russland im „Deutschen
Oktober“ 1923 eine Schlüsselrolle zugedacht war. Von 1924 an übernahm der Rote Frontkämpferbund
Aufgaben des „Saal- und Selbstschutzes“ (Bayerlein: Der Deutsche Oktober 1923. Materialien).
280 1918–1923
dungsaufbau, über die Arbeit in der Armee, über die faschistischen Organisationen
usw. Leider teilen die einzelnen Sektionen der Komintern nur sehr dürftige Informati-
onen zu diesen höchst wichtigen Fragen mit.
Auch beschäftigte sich die Kommission mit der Rekrutierung erfahrener Instruk-
teure für die Untergrundarbeit, was bis jetzt leider nicht von Erfolg gekrönt war. Die
Kommission begann mit der Sammlung von Materialien aus der Untergrundarbeit
und dem revolutionären Kampf der RKP, die unseren westeuropäischen und amerika-
nischen Genossen als Anschauungsunterricht dienen könnten.
Alle wichtigsten Briefe der Kommission wurden durch den Vorsitzenden des
EKKI, Gen. Sinowjew, bestätigt.
Die Kommission arbeitet eng mit dem EKKI zusammen, gemeinsam wurde die
Instruktion über die Arbeit in Armee und Flotte erarbeitet.
Die Kommission begutachtete und bestätigte die Resolution der Konferenz zur
illegalen Arbeit der KJI.
Insgesamt hatte die Kommission vom 17.1. bis 22.V.23 12 Sitzungen, auf welchen 30
Fragen behandelt wurden.
Aus konspirativen Gründen kann die Kommission keinen detaillierteren Bericht
liefern.
23.V.23
Am 14.6.1923 wurde im Politbüro des ZK der KP Russlands beschlossen, die Übereinkunft über den
Verkauf von Getreide an die deutsche Regierung „in einem einzigen Vertrag, d.h. ohne Geheimabkom-
men“ zu besiegeln.20
Dok. 80
Empfehlung Radeks an Heinrich Brandler zur Absage der
Demonstrationen am „antifaschistischen Tag“ in Deutschland
Moskau, 19.7.1923
Karl Radek21
Moskau, den 19. Juli 1923
Besten Gruss
[Sign.] K. Radek
21 Name handschriftlich.
22 Radek verbalisiert hier eine besonders von Stalin und Otto Kuusinen verlangte Entscheidung des
EKKI-Präsidiums, die KPD zu instruieren, auf die Durchführung von Massendemonstrationen zum
„Antifaschistischen Tag“ am 29.7.1923 zu verzichten. Sinowjew und Bucharin dagegen forderten aus
ihrem Urlaubsort Kislovodsk Brandler zu einer härteren Gangart auf, ihr Telegramm wurde jedoch auf
Betreiben Kuusinens und Stalin, hier auch – was selten vorkam – im Zusammenwirken mit Radek,
nicht weitergeleitet. Angesichts des Regierungsverbots sollten Demonstrationen nur dort stattfinden
(oder nur in geschlossenen Räumen), wo die KPD selbst flankierend eingreifen konnte. Innerhalb
der KPD gab es darüber scharfe und wirkungsmächtige Auseinandersetzungen zwischen der Partei
führung um Brandler und der Linken um Ruth Fischer. Der „antifaschistische Tag“ selbst verlief ohne
Zwischenfälle. Rückblickend meinte Trotzki, dass der revolutionäre Sommer 1923 verpasst worden
sei.
23 Zur Absage des „antifaschistischen Tages“ und der Rolle Stalins siehe auch dessen Brief an Sino-
wjew vom 27.7.1923 (Dok. 81).
282 1918–1923
Dok. 81
Brief Stalins an Sinowjew mit dem Einverständnis zur Absage des
„antifaschistischen Tages“
Moskau, 27.7.1923
Brief Nr. 2.
Gen. SINOWJEW,
Heute erfuhr ich, dass die deutschen Genossen ihren alten Beschluss über die Demons-
tration widerrufen und sich mit der Einberufung von geschlossenen Versammlungen
begnügt haben. Ich denke, das ist ein richtiger Entschluss.24 Die Wirrköpfe [čudaki],
sie wollten mit der Demonstration bis außerhalb Berlins ziehen, zu den Kasernen;
in den Schlund [chajlo] der weißgardistischen Offiziere wollten sie herabsteigen. Die
Analogie zu den Julitagen25 hält einer Kritik nicht stand. In den Julitagen hatten wir
die Räte [sovety], hatten wir ganze Kampfverbände, die Garnison in Piter [Petrograd]
war demoralisiert. Die Deutschen haben nichts dergleichen, abgesehen von dem Sieg
bei den Wahlen der Metallarbeiterverbandes,26 der ihnen scheinbar zu Kopfe gestie-
gen ist. Gott sei dank, dass die Angelegenheit in einer guten Richtung ein Ende gefun-
den hat...27
Ich habe vergessen, Ihnen im ersten Brief zu schreiben, dass wir beschlossen
haben, die Konvention über die Meerengen28 zu unterzeichnen. Ich denke, dass dies
24 Es handelt sich um die Absage der Demonstrationen der KPD zum „Antifaschistischen Tag“ am
29.7.1923.
25 Gemeint ist der gescheiterte Aufstand der Bolschewiki gegen die Provisorische Regierung am 4.
Juli 1917.
26 Gemeint sind die Betriebsratwahlen zum Deutschen Metallarbeiterverband (DMV), gegründet
1891, der mit ca. 1.600.000 Mitgliedern größten Einzelgewerkschaft des ADGB. Nach Angaben von
Jacob Walcher konnte sich die KPD im Herbst 1923 allein auf 500 kommunistische Fraktionen stützen,
die KPD hatte u. a. in Stuttgart, Halle, Merseburg, Jena, Suhl, Remscheid die Gewerkschaftsführung
übernommen und ca. 260.000 Mitglieder auf ihre Seite ziehen können. Bei den Wahlen zum nationa-
len Kongress des DMV im Juli 1923 errangen KPD-freundliche Listen ein Drittel der Mandate und die
absolute Stimmenmehrheit in wichtigen industriellen Zentren (in Berlin 54.000 Stimmen gegenüber
22.000 für die sozialdemokratische Liste) (siehe: Rudolf Steinke: Der Deutsche Metallarbeiterverband
1914–1924. Studie zur Sozial und Organisatzionsgeschichte, Diss., Mikroform, Berlin, Technische Uni-
versität, 1991).
27 Dagegen Trotzki in seiner Bilanz des „deutschen Oktober“: „Wir haben dort [in Deutschland] in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahres [d.i. 1923] ein klassisches Beispiel vor Augen gehabt, wie man
eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpassen
kann.“ (Lew Trotzki: 1917. Die Lehren der Revolution, Berlin, E. Laub, 1925, S. 12f.).
28 Die Sowjetunion unterzeichnete am 1.8.1923 die Meerengenkonvention als Bestandteil des Frie-
densvertrags mit der Türkei
(Lausanner Vertrag) vom 24. Juli 1923. Die Türkei verpflichtete sich, die
Dok. 82: Kislovodsk, 31.7.1923 283
die einzige mögliche Entscheidung ist. Sie wurde im Politbüro einstimmig angenom-
men.
Heute haben wir beschlossen, Gen. Preobraženskij abzulehnen [otvesti],29 wir
haben eine nichtständige Kommission einberufen aus Radek, Bubnov, Ljadov, Popov,
und, ich glaube, Sol’c. Sie wird bis zur Rückkehr Bucharins tätig sein, danach werden
wir sehen.
Mit Gruß,
[I. Stalin]
Am 27.7.1923 brachte Radek seine Unzufriedenheit mit Sinowjew und Bucharin, die aus ihrem Urlaub
telegraphisch das ZK der KPD in seinem neuen Kurs auf die Forcierung entscheidender Kämpfe unter-
stützten, vor das Politbüro des ZK der KP Russlands. Diese empfahl Radek, sich direkt mit Sinowjew
und Bucharin in Verbindung zu setzen, um ihre Meinungsverschiedenheiten zu klären.30
Dok. 82
Sinowjew an Stalin über die Krise in Deutschland, die Bekämpfung
Trotzkis und des „kleinen Schwätzers“ Radek
Kislovodsk, 31.7.1923
freie Durchfahrt durch den Bosporus und die Dardanellen zu gewährleisten. Weitere Maßnahmen
betrafen die Entmilitarisierung der Meerengenzone.
29 Vermutlich wurde Preobraženskij abkommandiert, weil er sich – gemeinsam mit Trotzki – gegen
ein neues staatliches Wodkamonopol ausgesprochen hatte.
30 RGASPI, Moskau, 17/3/367, 9. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 155.
284 1918–1923
Sogar Molot[ov] hat hier scheinbar große Bedenken. Wir werden sehen. Große Vor-
sicht ist hier vonnöten.31
Dass ihr Karach[an] geschickt habt, ist sehr gut. Aber mit der Abberufung Ioffes
müsste man vorsichtiger sein.32
Was die deutschen Angelegenheiten angeht, so gibt es die Meinungsverschie-
denheiten natürlich nicht deswegen, weil wir die Gefahren des direkten Kampfes
nicht verstehen würden. Diese Gefahr hat es nicht gegeben – umsonst haben Sie dem
kleinen Schwätzer [boltuniška] Radek geglaubt. Die Meinungsverschiedenheiten
liegen darin, dass Rad[ek] über das ZK hergefallen ist wegen des wunderbaren und
richtigen Aufrufs vom 12. Juli.33 Radek glaubt nur an das Gefasel [boltologija] an die
Adresse der Faschisten.34
Brandler, als ernsthafter Mann der Tat, bereitet die Arbeiter auf den Kampf gegen
die Faschisten vor.
Die Krise in Deutschland reift sehr schnell. Es beginnt ein neues Kapitel der deut-
schen Revolution. Vor uns werden bald grandiose Aufgaben stehen. Die NÖP wird in
die neue Perspektive einfließen. Das Mindeste, was jetzt notwendig ist, ist die Frage
aufzuwerfen 1) nach der Versorgung der deutschen Kommunisten mit einer großen
Menge an Waffen, 2) nach sukzessive erfolgender Mobilisierung von ca. 50 unserer
besten Kämpfer, um sie nach Deutschland zu entsenden. Es naht die Zeit der grandi-
31 Das Politbüro des ZK der VKP(b) hatte vor, zur Aufbesserung der Staatskasse das 1919 außer Kraft
gesetzte staatliche Wodkamonopol wieder einzuführen, wogegen vor allem Trotzki Einspruch erhob.
Am 12.7.1923 setzte Stalin einen Politbürobeschluss durch, jegliche Diskussion darüber in der Pravda
zu verhindern. Trotzdem erschien am 15.7.1923 ein Artikel Preobraženskijs gegen das neu zu schaffen-
de Monopol, woraufhin Stalin die Redaktion der Pravda entlassen ließ (siehe: Jean-Jacques Marie:
Staline, Paris, Editions du Seuil, 1967, S. 274 (L’histoire immédiate)).
32 Nach seiner Teilnahme an der Konferenz von Genua und den Rapallo-Verhandlungen mit Deutsch-
land wurde Ioffe 1923 zunächst als Botschafter nach Peking abkommandiert, führte im Juni 1923 Ver-
handlungen mit Japan zur Herstellung sowjetisch-japanischer Beziehungen, die abgebrochen wur-
den, als Ioffe erkrankte und dann nach Moskau zurückbeordert wurde. Vor dem Ioffe-Besuch wurden
zahlreiche Mitglieder der 1922 gegründeten KP Japans inhaftiert.
33 In einem von Brandler redigierten Aufruf des ZK der KPD an die Mitglieder der KPD vom 12.7.1923,
wurde der 29.7. zum „antifaschistischen Demonstrations- und Kampftag“ erklärt. Für den Fall, dass
die Faschisten attackieren sollten, wurde zur Vorbereitung auf den Bürgerkrieg aufgerufen. In jedem
Fall bedeutete er eine Forcierung der Parteilinie gegen Faschismus, Regierung Cuno und wirtschaft-
liche Krise (Siehe: Die Rote Fahne, 12.7.1992; Broué: Révolution en Allemagne, S. 700f.; vgl. Werner T.
Angress: Stillborn Revolution. The Communist Bid for Power in Germany, 1921–1923, Princeton, N.J.,
Princeton University Press, 1963, S. 392f.).
34 Sinowjew meint damit die von Radek lautstark verfolgte Annäherung an die deutschen Natio-
nalrevolutionäre und Nationalisten („Schlageter-Kurs“). Siehe hierzu Dok. 86. Hier und im Weiteren
benutzt Sinowjew für „Faschisten“ die Schreibweise „fačisty“ (statt „fašisty“) als russische Transkrip-
tion der italienischen Bezeichnung „fascisti“.
Dok. 82: Kislovodsk, 31.7.1923 285
osen Ereignisse in Deutschland. Der Zeitpunkt ist nahe, an dem wir Entscheidungen
von welthistorischem Ausmaß werden fällen müssen.35
Vor ein Paar Tagen war Rakovs[kij] hier.36 Er war bei Trotzki, bei uns kam er nicht
vorbei. Die Ukraine muss man meiner Meinung nach ernsthaft durch neue Leute von
großem Format stärken. Das schließe ich aus dem Gespräch mit Frunze.
Von Foerster37 erhielt ich einen sehr optimistischen Brief. Es gibt große Fort-
schritte. In der Hirngegend geht es zurück, d.h. eine große Verbesserung. Er schreibt
direkt: ich garantiere etc.38 Hurra!
Herzlichen Gruß. Schreiben Sie wenigstens ab und zu. In wichtigen Angelegen-
heiten wäre es gut, wenn es nicht zu dringend ist, sich über Draht zu beratschlagen.
Auch Sie sollten später unbedingt in den Urlaub fahren. Wir kurieren uns hier gut aus.
Ich drücke Ihre Hand. Grüßen Sie Kamenjuga.39 Ihr G. Sin[owjew].
Ich erwarte mit Ungeduld Ihre Meinung bezüglich des Gesprächs mit Sergo
[Ordžonikidze].40 Fassen Sie es nicht von der falschen Seite auf. Denken Sie in Ruhe
darüber nach.
35 Siehe dagegen die Antwort Stalins zur deutschen Frage (Dok. 84), aus der Stalins Grundorientie-
rung gegen eine Revolution in Deutschland hervorgeht.
36 Der eng mit Trotzki verbundene Rakovskij wurde auf Betreiben Stalins und des Parteiapparats als
politischer Verantwortlicher aus der Ukraine abgezogen und als Botschafter der Sowjetunion nach
England abkommandiert. Am 18.7.1923 schrieb er in einem Brief an Stalin: „Meine Ernennung in Lon-
don bildet die Fortsetzung einer Taktik, die darauf abzielt, mich als Verantwortlichen der sowjeti-
schen Partei und des Staates zu beseitigen. Ich weiß nicht, ob es im Interesse der Partei liegt, ihr und
dem sowjetischen Staat einen Genossen zu entziehen, der mehr als 40 Jahre lang zur aktiven Avant-
garde der weltumfassenden Arbeiterbewegung gehörte.“ (Pierre Broué: Rakovsky ou la Révolution
dans tous les pays, Paris, Fayard, 1996, S. 216; Zitat übersetzt aus dem Französischen).
37 Der deutsche Neurochirurg Otfrid Foerster blieb fast ununterbrochen 1,5 Jahre in der Sowjetunion,
um Lenin am Krankenlager in Moskau und Gorki zu pflegen.
38 „etc.“ im Original mit lateinischen Buchstaben.
39 Kamenjuga (russ. „großer Stein“). In einer halb-freundschaftlichen, halb-verächtlichen Form
meint Sinowjew hier Kamenev.
40 Der Sommer 1923 war ein früher Wendepunkt für die Stalinisierung der sowjetischen Führungsspit-
ze. Am 29.7.1923 übermitteln Sinowjew und Bucharin Stalin über Ordžonikidze die (nicht nur ihrerseits)
vorhandene Notwendigkeit, das Orgbüro als Bastion Stalins aufzulösen und ihm zwei andere Sekre-
täre an die Seite zu stellen: Trotzki (den Sinowjew nicht benachrichtigte) und er selbst. Nach Auffas-
sung von Sinowjew teilten nicht nur Trotzki, Ioffe und andere, sondern auch Vorošilov, Frunze und
Ordžonikidze die Auffassung, dass man es nicht mehr mit einer Troika zu tun habe, sondern mit einer
„Diktatur Stalins“. Dieser habe anstelle ihres Vorsitzenden für die Komintern entschieden, und darü-
ber hinaus die Redaktion der Pravda abgesetzt, ohne den Chefredakteur zu informieren. Am 30.7.1923
schrieb Sinowjew an Kamenev: „Wenn es der Partei beschieden ist, eine (wahrscheinlich sehr kurze)
Periode der Alleinherrschaft Stalins durchzustehen, – so möge dies geschehen. Aber diese ganzen
Schweinereien zu decken, bin ich zumindest nicht bereit. In allen Plattformen ist von einer ‚Troika’
die Rede, wobei angenommen wird, dass ich in ihr eine nicht geringe Bedeutung habe. Tatsächlich
gibt es gar keine Troika, sondern es gibt eine Diktatur Stalins. Il’ič [Lenin] hatte tausendmal Recht.
Entweder es wird ein ernsthafter Ausweg gefunden, oder die Phase des Kampfes wird unausweichlich
sein.“ (RGASPI, Moskau, 324/2/71, 16–16).
286 1918–1923
Ich sehe in den Protokollen, dass Korotkov abgesetzt wurde. Ich empfehle sehr,
Zorin auf die Eignung für den Sekretärsposten zu überprüfen. Er wird sich entfalten.41
Aus den Protokollen entnehme ich, dass Emel’janov (aus Černovcy) zum Sekretär
der Universität in Sverdlovsk ernannt wurde. Das ist ein Fehler. Er ist ein Intrigant
und zweifellos ein Anhänger der Fraktion von Smirnov oder Safronov.42 In der Sverd
lovsker Universität wäre das nicht angebracht.43
41 Es geht um die Besetzung des Postens des Parteisekretärs der Textilindustrie-Hochburg Ivanovo-
Voznesensk. Ivan I. Korotkov (1885–1949) hatte den Posten bis Juli 1923 inne, danach wurde er abge-
löst von Sergej S. Zorin (urspr. Gomberg) (1890–1937). Zorin, der wie Sinowjew aus Elizavetgrad kam,
war dessen enger Mitstreiter in der Petrograder Parteiorganisation und zeitweise auch Referent im
EKKI. Als Oppositioneller wurde er auf dem 15. Parteitag der VKP(b) im Dezember 1927 aus der Partei
ausgeschlossen. Siehe http://www.knowbysight.info/KKK/05173.asp und http://www.knowbysight.
info/ZZZ/02762.asp.
42 Der auch als „Gewissen der Partei“ titulierte Sibirier Ivan Nikitič Smirnov war 1923 Volkskommis-
sar für das Post- und Telegraphenwesen und als einer der Anführer der Linken Opposition gegen Sta-
lin und den bürokratischen Zentralismus in der RKP(b). 1927 Unterzeichner der „Erklärung der 46“.
43 Es handelt sich offenbar um B. V. Emel’janov (Kalin), Bolschewik seit 1910. Von 1922 bis Juli 1923
war er Parteisekretär von Čerepovec (nicht Černovcy, wie Sinowjew fälschlich annahm). Ab Juli 1923
war Emel’janov Sekretär der Parteiorganisation an der Universität in Sverdlovsk (wie die Stadt Eka-
terinburg seit 1924 hieß). Als Oppositioneller wurde er auf dem 15. Parteitag der VKP(b) im Dezember
1927 aus der Partei ausgeschlossen. Siehe http://www.knowbysight.info/YeYY/13947.asp.
44 Vom 10.–16. Oktober 1923 tagte in Moskau gleichzeitig mit der Landwirtschaftsausstellung der
UdSSR der Internationale Bauernkongress, auf dem die Gründung der Bauerninternationale be-
schlossen wurde. Für Stalin war die Gründung ein Element im symbolischen Kampf gegen den der
Missachtung der Bauernschaft geziehenen Trotzki. Die Funktionalisierung im Rahmen der sowjeti-
schen Politik zeigte in der Folge tatsächlich die mangelnde Fähigkeit der Komintern, eine internatio-
nale Agrarpolitik zu entwickeln (siehe: George D. Jackson jr.: Comintern and Peasants in East Europe
1919–1930, New York, Columbia University Press 1966, S. 304).
45 N. Osinskij (Ps.), d.i. Valerian Valerianovič Obolenskij, war ein Linker Kommunist und 1920–1923
Sprecher der „Demokratischen Zentralisten“, bevor er sich 1923 der Linken Opposition Trotzkis an-
schloss. 1921 hatte er sich in seiner Eigenschaft als stellvertretender Volkskommissar für Landwirt-
schaft an Lenin mit der Idee gewandt, einen „Bauern-Verband“ als formell parteilose Massenorgani-
sation für Bauern zu gründen. Die Parteiführung beriet mehrfach über das Unterfangen und lehnte
es schließlich ab, da sie befürchtete, eine solche Organisation könnte der Partei Konkurrenz machen
(siehe: Irina N. Il’ina: Obščestvennye organizacii Rossii v 1920-e gody, Moskva, IRI RAN, 2000, S. 72).
46 Vasilij Jakovenko (1898–1937) war von 1922 bis 1923 Volkskommissar für Landwirtschaft.
Dok. 83: [Moskau], vor 1.8.1923 287
Dok. 83
Arbeitsplan für die Vertreter der Internationalen
Verbindungsabteilung (OMS) und der Budgetkommission der
Komintern in Deutschland
[Moskau], vor 1.8.1923
I.
1. In X wird ein Vertreter der OMS des EKKI bestimmt, der vor ihr verantwortlich ist.
47 Um 1923 überprüfte Bažanov zufolge eine Kommission des Zentralkomitees der KP der Sowjetu-
nion, deren Vorsitz Molotov innehatte, unter Anwesenheit Pjatnitzkis die Haushalte aller ausländi-
schen Kommunistischen Parteien. In der Komintern war für die Festlegung der Unterstützungsgelder,
ihre Verteilung sowie die generelle Kontrolle des Finanzgebarens der Kommunistischen Parteien die
erst zur Zeit des III. Weltkongresses, am 14.7.1921, gegründete Budgetkommission des EKKI zuständig,
die zusätzlich durch von den Kongressen bestimmte Kommissionen unterstützt wurde. Während der
„Stalinisierungsphase“ bestand darüber hinaus eine sog. Revisionskommission beim Westeuropä-
ischen Büro des EKKI (WEB) zur Überprüfung der Finanzen der Kommunistischen Parteien, der Eber-
lein vorstand (Siehe: B. Baschanow: Stalins Sekretär, S. 32; Adibekov/Šachnazarova/Širinja: Organi-
zacionnaja struktura, S. 50; Svátek: Gli Organi dirigenti, S. 302; Bayerlein: Transnationale Netzwerke
und internationale Revolution).
48 OMS des EKKI, russ. Otdel meždunarodnoj svjazi – die Abteilung für Internationale Verbindun-
gen ging 1921 aus der vom 1. Kongress geschaffenen Besonderen Kommission für Verbindungen des
EKKI sowie der Konspirativen Abteilung der Exekutive hervor. Als „Nervenzentrum“ der Komintern
war sie für die Herstellung und Sicherung der (zumeist konspirativen) Verbindungen mit den Kom-
munistischen Parteien sowie innerhalb des EKKI-Apparates zuständig. Ihr oblag die Versorgung mit
Literatur, Presse, Dokumenten und Instruktionen, die Sicherstellung der Finanzierung der Parteien
u.a., die Kommunikation sowie der Transport von Menschen, Gütern und Informationen zu Land, zu
Wasser und per Funk. Hierzu gehörten die Betreibung des Funkverkehrs, die Entwicklung von Codes,
Chiffrierung und Dechiffrierung, der Versand von Informationen, Dokumenten, Direktiven und Geld
sowie die Versetzung von KI-Funktionären von Land zu Land und in Verbindung mit den russischen
Innenbehörden und Geheimdiensten, die Herstellung von Pässen und Reisedokumenten u.a.m. Die
Verbindungspunkte des OMS (später: SS – Služba svjazi, Verbindungsdienst) in allen Teilen der Welt
waren bisweilen auch für die operative Abwicklung von Aufstands- und militärischen Plänen zustän-
dig. Siehe: Branko Lazitch: La Formation de la Section des liaisons internationales du Komintern
(OMS) 1921–1923. In: Communisme (1983), 4, S. 65–80; Peter Huber: The Cadre Department, the OMS
and the „Dimitrov“ and „Manuil’skij“ Secretariats during the Phase of Terror. In: Mikhail Narinsky,
Jürgen Rojahn (Hrsg.): Centre and Periphery. The History of the Comintern in the Light of New Docu-
ments, Amsterdam, International Institute of Social History, 1996, S. 122–152; Bayerlein: Transnatio
nale Netzwerke und internationale Revolution).
288 1918–1923
II.
1. Der Vertreter des Sekretariats der OMS des EKKI hat folgende Funktionen als Vertre-
ter der Budgetkommission.
a) Geld von der Budgetkommission zu erhalten und es den Komparteien nach
Anweisung der Budgetkommission zu übergeben.
b) Die Mittel der BK aufzubewahren und sie den Anweisungen der BK entspre-
chend auszugeben.
c) Als Übergabepunkt für Briefe zwischen der BK51 und den Parteien zu fungieren.
d) Als Vertreter der BK alle Unternehmungen des EKKI und des EKKJI52 in finan-
zieller Hinsicht zu kontrollieren (die Führung von korrekten und konspirativen Auf-
zeichnungen, Umtauschoperationen von Valuta und anderes).
2. Als Vertreter der OMS:
a) Verbindungen zu allen Parteien für Briefe, Telegramme und Literatur zu unter-
halten.
b) Treffs für illegale und legale Genossen, die in Angelegenheiten des EKKI nach
Berlin kommen und für Illegale, die aus Russland nach Berlin kommen, zu unterhal-
ten.
c) Die Seeverbindung mit Russland und mit anderen Staaten, in der Hauptsache
England und Amerika, zu unterhalten und zu erweitern.53
d) Illegale Grenzübergänge nach Tschechien, Österreich, in die Schweiz, nach
Holland und Frankreich (ohne große Ausgaben und mit einem Minimum an Personal)
in Reserve zu halten.
Als Vertreter des Sekretariats:
a) Die Aufträge des Sekretariats zu erfüllen.
3. Der Vertreter der BK, der OMS und des Sekretariats wird vom ORGBÜRO54 in Abstim-
mung mit der BK nominiert, vor dem er auch verantwortlich ist (vor der BK in der
Finanzfrage und vor dem Orgbüro in allen anderen Fragen).
III.
Über die Verbindungen mit Frankreich.
1. In Übereinstimmung mit der Vereinbarung der OMS des EKKI und der Franzö-
sischen Kompartei über die Organisierung des Verbindungsapparates zwischen dem
EKKI und der Französischen Kompartei wird ein Genosse zur Aufrechterhaltung der
Verbindung in Übereinstimmung zwischen der OMS und der Französischen Kompar-
tei nominiert. Diese Übereinkunft bleibt in Kraft bis zu einer neuen Übereinkunft zwi-
schen der OMS und der Französischen Kompartei.
2. Die Abänderung der Übereinkunft, von der in Punkt 1 die Rede ist, ist nur
insofern möglich, als dass der Genosse, der die Verbindung mit der Französischen
Kompartei unterhält, statt des ständigen Aufenthalts in B[erlin] zumindest zeitweilig
nach Paris transferiert werden kann, dabei allerdings muss es eine besondere Person
in Berlin geben, mit der sich der Verbindungsverantwortliche in der franz[ösischen]
Partei in Verbindung setzen kann.
3. Der Vertreter der OMS für die Verbindung mit Frankreich nutzt die Verbindun-
gen und den Apparat der OMS in Berlin (siehe Abschnitt II) in dem Maße, in dem dies
für die Erfüllung seiner Funktionen notwendig ist.
53 Die eigenen Seeverbindungen waren anfangs eher rudimentär. In den dreißiger Jahren verfügte
die Komintern dann über eigene Handelsschiffe („Compagnie France-Navigation“), mit denen u.a. der
Nachschub für den spanischen Bürgerkrieg abgewickelt wurde.
54 Das Ende 1922 gegründete Organisationsbüro des EKKI (Orgbüro) beschäftigte sich in erster Linie
in theoretischer und praktischer Hinsicht mit organisatorischen Fragen der einzelnen Sektionen, all-
gemein organisatorischen Fragen, Fragen der Struktur, besonders der Abteilungen des EKKI und der
Nebenorganisationen sowie Finanzfragen. In der „Bolschewisierungsphase“ spielte sie eine wichtige
Rolle als Schaltzentrale für die Schaffung und Zentralisierung sowohl des Kominternapparats (Abtei-
lungsleiter, Zentralleitungen, Kommunistische Jugend-Internationale, Internationales Frauensekre-
tariat) als auch der Parteiapparate in den verschiedenen Ländern, für die Überprüfung der Arbeits-
pläne und die Kaderfragen. Hier trafen sich die verantwortlichen Abteilungsleiter des EKKI. Ende 1926
wurde das Orgbüro liquidiert, anlässlich des VII. EKKI-Plenums Ende 1926 wurden seine Funktionen
zwischen dem Präsidium und dem neugeschaffenen Politsekretariat des EKKI aufgeteilt (siehe: Bay-
erlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution).
290 1918–1923
Anmerkung: Der Berliner Verbindungsapparat muss über die außerhalb des Ber-
liner Apparats zur Verwendung kommenden Verbindungsformen informiert werden.
4. Der Genosse, der die Verbindungen zu Frankreich unterhält, ist Teil des Berli-
ner Apparats der OMS und wird von ihm finanziert.
5. Der Leiter der Verbindung mit Frankreich hat das Recht, unmittelbar mit
Moskau verbunden zu werden, und nutzt dafür den Apparat des OMS in X in vollem
Umfang.
6. Der Leiter des Verbindungsapparates in Berlin kann seine Verbindungen zu
den romanischen Ländern dem Genossen übergeben, der die Verbindung zu Frank-
reich unterhält, in diesen Fall wird zwischen beiden geklärt, wie, in welcher Form
und Umfang der obengenannte Genosse den Berliner Verbindungsapparat nutzt.
Auf Antrag von Čičerin beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands am 2.8.1923, durch das
Außen- und das Transportkommissariat Maßnahmen zu entwickeln, um „angesichts der Lage in
Deutschland“ Wertsachen und Geheimdokumente zu beschützen.55
Dok. 84
Brief Stalins an Sinowjew zum vorläufigen Verzicht auf den Kampf
um die Macht in Deutschland: „Die Faschisten zuerst losschlagen
lassen“
[Moskau], 7.8.1923
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 558/11/734, 35–36. In russischer Sprache publ. in:
Kovaleva/Murin/Stepanov u.a.: „Il’ič byl tysjaču raz prav“, S. 203–204; Adibekov/Anderson/Širinja
u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 162–164. Teilpubliziert in deutscher Sprache in: Bernhard H. Bayerlein,
Leonid G. Babičenko, Fridrich I. Firsov (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923: ein Revolutionsplan und sein
Scheitern, Berlin, Aufbau-Verlag, 2003, S. 99–100; Lew Besymenski: Stalin und Hitler: das Pokerspiel
der Diktatoren, Berlin, Aufbau-Verlag, 2002, S. 42.
Gen. Sinowjew!
Ihren Brief vom 31.VII. habe ich erhalten.56 Ich beantworte die Fragen.
1. Sie schreiben: „Nehmen und fassen Sie das Gespräch mit Sergo [Ordžonikidze]
nicht von der falschen Seite auf.“57 Ich sage Ihnen geradeheraus, dass ich es exakt
„von der falschen Seite“ aufgefasst habe. Es kann um zweierlei gehen: entweder geht
es um einen sofortigen Austausch des [General-]Sekretärs [d.h. Stalins], oder es geht
darum, den [General-]Sekretär einer speziellen Politkommission zu unterstellen.
Anstatt die Frage klar aufzuwerfen, schleichen Sie beide um die Frage herum und ver-
suchen, auf Umwegen das Ziel zu erreichen, wobei Sie anscheinend auf die Dummheit
der Menschen spekulieren. Wofür braucht man diese Umwege, wenn es tatsächlich
eine Gruppe und eine minimale Dosis Vertrauen gibt? Wozu die Verweise auf einen
mir unbekannten Brief [Vladimir] Il’ič [Lenins] über den [General-]Sekretär?58 Als ob
es nicht genug Belege dafür gäbe, dass ich an meiner Position nicht festhalte und des-
wegen keine Angst vor Briefen habe. Wie soll man eine Gruppe nennen, dessen Mit-
glieder versuchen, einander Angst zu machen (um nicht mehr zu sagen)? Ich bin für
den Austausch des Sekretärs, aber ich bin dagegen, dass die Institution der Politkom-
mission geschaffen wird (Politkommissionen gibt es auch so zu Genüge: das Orgbüro,
das Politbüro, das Plenum).59
2. Sie haben Unrecht, wenn Sie sagen, dass der Sekretär die Fragen alleine ent-
scheidet. Keine einzige Entscheidung, keine einzige Instruktion wird ohne Hinterle-
gung entsprechender Kopien im Archiv des ZK gefällt. Ich würde mir sehr wünschen,
dass Sie im Archiv des ZK auch nur ein Telegramm fänden, das nicht von der einen
oder anderen Instanz des ZK sanktioniert wäre.
3. Sie haben Unrecht, wenn Sie behaupten, dass die Tagesordnungen der
Politbüro[-Sitzungen] von einer Person entworfen werden. Die Tagesordnung wird
erstellt auf Grundlage aller eingehenden Fragen auf der Sekretariatssitzung plus
Kamenev (der im P.B. den Vorsitz hat) plus Kujbyšev (Vors[itzender] der ZKK). Es wäre
absolut begrüßenswert, wenn alle Mitglieder der Gruppe oder des Politbüros bei der
58 Entgegen seiner hier getroffenen Aussage kannte Stalin das unter der Bezeichnung „Testament
Lenins“ bekannt gewordene Dokument natürlich. Den Brief an die Partei, den Lenin am 25. Dezember
1922 von seinem Krankenbett aus an die Partei diktiert hatte, versteckte er stattdessen und erklärte
ihn für nicht vorhanden. Im Brief warnte Lenin vor den Gefahren eines Zusammenbruchs der Partei
als Resultat einer politisch-personellen Spaltung und forderte die Absetzung Stalins als Generalse-
kretär: „Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommu-
nisten erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage
ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese
Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen Stalin nur durch einen Vorzug unterschei-
det, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer,
weniger launenhaft usw. ist. Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit.
Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichts-
punkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit
oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung gewinnen kann.“ Auch nach seiner Veröf-
fentlichung durch Max Eastman im Jahre 1925 (Max Eastman: Since Lenin died, New York, Boni and
Liveright Publishers, 1925) wurde die Bedeutung des Dokuments seitens des russischen Politbüros
heruntergespielt (Lenin: Werke, Band 36, S. 579 f.; vgl. Dok. PB 27.8.1925).
59 Stalin erklärt hier seine Bereitschaft zum Rücktritt, seine „Demissionskomödie“ (Jean-Jacques
Marie) entfaltete seinerzeit eine gewisse Wirkung.
292 1918–1923
Zusammenstellung [der Tagesordnung] dabei sein wollten. Keine einzige Frage kann
„unter den Teppich gekehrt“ werden, nicht nur, weil es dagegen eine Instruktion gibt,
sondern weil die obengenannten Personen eine Garantie dagegen darstellen.
4. Die Frage über die Meerengen wurde bei schwachem Protest Čičerins und auf
eindringliche Bitten Litvinovs hin, die Konvention zu unterzeichnen, einstimmig
beschlossen. Kein einziges Mitglied des Pol[it]büros hat die Frage nach einer Befra-
gung der Abwesenden aufgeworfen. Trotzki hat eine Notiz hinterlassen mit der Bitte,
ihm nicht einmal die Protokolle des Pol[it]b[üros] zu schicken. Auf meine Anfrage
nach der Zusammensetzung des R.V.S.R.60 hat er keine bestimmte Antwort gegeben.
Anscheinend will er sich ernsthaft erholen.61 Sie beide haben bei Ihrer Abreise nicht
einmal eine Anspielung auf eine Notwendigkeit gemacht, [bei Ihnen] anzufragen.
Außerdem ist eine Umfrage angesichts der Fülle der Dokumente nicht immer möglich.
Was die Frage selbst angeht, so konnten wir nicht anders handeln (wir brauchen die
Kontrolle über die Meeresengen, um rechtzeitig aufmucken zu können, wenn sie
anfangen, unseren Export von Getreide und anderen Lebensmitteln zu stören). Sogar
Čičerin löst sich jetzt von seiner Position.
5. Ioffe wurde in erster Linie auf Bitten seiner Frau hin freigestellt. Ich füge die
Dokumente hinzu (er ist ernsthaft krank).62
6. [Die] Putilov[-Fabrik] wird natürlich nicht geschlossen. Wir müssen jedoch die
Frage im P[olit]B[üro] aufwerfen, da das Präsidium des VSNCh, angeführt von Rykov,
auf der Behandlung der Frage besteht.
7. Zorin wurde schon vor langer Zeit zum Sekretär des Iv[anovo]-Voz[nesensker]
Gouvernementskomitees ernannt.63
8. Was Deutschland betrifft, so geht es natürlich nicht um Radek. Sollten die
Kommunisten (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) ohne die S[ozial]-D[emokraten] die
Machtergreifung anstreben, sind sie bereits reif dafür? – so steht, wie ich meine, die
Frage. Als wir die Macht übernahmen, hatten wir in Russland solche Reserven wie: a)
Frieden, b) das Land den Bauern, c) die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit
der Arb[eiter]klasse, d) die Sympathien der Bauernschaft. Nichts davon haben heute
die deutschen Kommunisten. Natürlich haben sie das Sowjetrussland in ihrer Nähe,
was wir nicht hatten, aber was können wir ihnen im Augenblick geben? Wenn heute
60 R.V.S.R. (Abk.) – Revoljucionnyj voennyj sovet respubliki, Revolutionärer Kriegsrat der Republik.
61 In der zweiten Jahreshälfte 1923 begab sich Trotzki wegen einer „mysteriösen Krankheit“, die ihn
schwächte, häufiger zur Kur. In der Rückschau hielt er eine Einwirkung Stalins nicht mehr für ausge-
schlossen, genau so wenig wie im Falle der Krankheit Lenins (siehe: Leo Trotzki: Stalin. Eine Biogra-
phie, Köln, 1952, S. 485f.).
62 Ioffe, der Freund und politische Gefolgsmann Trotzkis, erkrankte während der von ihm geführten
sowjetisch-japanischen Verhandlungen ernsthaft, vermutlich durch den Biss einer Tse-Tse-Fliege. Er
musste nach Moskau zurückgebracht und in ein Sanatorium eingeliefert werden (siehe: Nadeschda A.
Joffe: Rückblende. Mein Leben, mein Schicksal, meine Epoche. Die Memoiren von Nadeschda A. Joffe.
Aus dem Russischen übersetzt von Iva Srazil, Essen, Verlag Arbeiterpresse, 1997, S. 43f.).
63 Siehe Dok. 82.
Dok. 84: [Moskau], 7.8.1923 293
in Deutschland die Macht sozusagen hinfällt und die Kommunisten sie aufheben,
dann werden sie mit Pauken und Trompeten untergehen. Und dies im besten Fall.
Im schlimmsten Fall wird man sie in Stücke hauen und weit zurückwerfen. Es geht
nicht darum, dass Brandler „die Massen lehren“ will, – es geht darum, dass die Bour-
geoisie plus die rechten S[ozial]-D[emokraten] das Manöver in einen Generalangriff
umwandeln und sie am Boden zerstören würden (wofür sie vorläufig alle Chancen
besitzen).64 Die Faschisten schlafen natürlich nicht, für uns ist es jedoch von Vorteil,
wenn sie als erste angreifen65: das wird die gesamte Arbeiterklasse um die Kom-
munisten zusammenschließen (Deutschland ist nicht Bulgarien).66 Die Faschisten
sind jedoch, nach allen Informationen zu urteilen, in Deutschland schwach. Meiner
Meinung nach muss man die Deutschen zurückhalten und nicht ermuntern.
Am 15/VIII. fahre ich in den Urlaub.
Alles Gute.
I. Stalin67
64 Am 2.8.1923 schrieben Sinowjew und Bucharin aus ihrem Urlaub in Kislovodsk an Stalin im Zu-
sammenhang mit einem Brief an Brandler, in dem sie ihn zu einer härteren Gangart in Deutschland
aufforderten: „Wenn das P[olit]büro (auf Verlangen Radeks) beschließt, diese Frage jetzt zu bespre-
chen, bitten wir darum, uns rechtzeitig Bescheid zu geben, damit wir auf diese Sitzung anreisen
können. Schriftlich kann man eine solche Frage nicht klären. Wir hoffen, dass diese elementare
Forderung nicht als zu weitgehend angesehen wird.“ (RGASPI, Moskau, 558/11/734, 33; publ. in:
Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 161–162). Allem Anschein nach verhin-
derte Stalin im Zusammenwirken mit Kuusinen die Absendung eines entsprechenden Telegramms
nach Deutschland. Im Verbund mit Radek wandte er sich gegen die Durchführung von Straßende-
monstrationen, wie sie Sinowjew gefordert hatte (Siehe hierzu: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deut-
scher Oktober 1923, S. 92ff.).
65 Hier wird die unterschwellige Taktik deutlich, die Stalin später, von 1929 bis 1934 die KPD ver-
folgen ließ („Nach Hitler kommen wir!“). Im Gegensatz zu Stalin spricht Sinowjew in einem Brief an
Stalin vom 10.8.1923 von der Perspektive „von Entscheidungen mit welthistorischem Charakter, die
wir bald treffen müssen (maximal in eins bis zwei Jahren)“. (Kovaleva/Murin/Stepanov u.a.: „Il’ič byl
tysjaču raz prav“, S. 205–206, ebenfalls zit. In: Marie: Staline, S. 276).
66 Anspielung auf den Militärputsch in Bulgarien vom 9.6.1923 gegen die Regierung von Aleksandar
Stambolijski, der eine über zwanzigjährige Militärdiktatur einleitete. Radek zufolge sorgte die passive
Haltung der KP Bulgariens gegenüber dem Putsch für die bis dahin größte Niederlage einer kommuni-
stischen Partei überhaupt. Dagegen misslang im September 1923 ein von der KP Bulgariens nur unzu-
reichend organisierter Aufstand. Dieser neben dem „deutschen Oktober“ zweite große Versuch einer
Europäisierung der russischen Revolution forderte allein seitens der KP Bulgariens 2000–5000 Opfer
(siehe: Joseph Rothschild: The Communist Party of Bulgaria. Origins and Development 1883–1936,
New York, Columbia University Press, 1959, S.133–151).
67 Am 10.8.1923 beantworteten Sinowjew und Bucharin den Brief Stalins Punkt für Punkt. Zum von
Stalin geleugneten Lenin-Brief schrieben sie: „Jawohl, es gibt einen Brief von V[ladimir] I[l’ič Lenin],
in dem er (dem XII. Parteitag) rät, Sie nicht zum Sekretär zu wählen. Wir (Buch[arin], Kamen[ev]
und ich) hatten beschlossen, Ihnen vorerst nichts davon zu erzählen. Aus verständlichem Grund: Sie
fassen Ihre Meinungsverschiedenheiten zu V.I. ohnehin viel zu subjektiv auf, und wir wollten nicht
an Ihren Nerven rütteln.“ Weiter bestanden sie darauf, dass in Abwesenheit Lenins das ZK-Sekretariat
294 1918–1923
Eine Kopie schicke ich an Gen. Vorošilov, da Sergo sagte, dass dieser informiert sei
und sich für die Frage interessiere.
I.St.
Dok. 85
Denkschrift des für Militärpolitik zuständigen KPD-Funktionärs
„Robert“ [d.i. Karl Volk] zum Stand der Vorbereitungen auf den
Bürgerkrieg
Berlin, 8.8.1923
Beilage Nr. 1
Vorgelegt dem Pol- Büro zum Zentralausschuss.68
Berlin, den 8.8.23.
Denkschrift
Betr. Vorschläge zum sofortigen Ausbau der ideologischen Vorbereitung der Partei, spe-
ziell des O.D.69 und der Hundertschaftsbewegung70 auf den B ü r g e rk r i e g.
die entscheidende Machtfunktion ausüben müsse (siehe: Kovaleva/Murin/Stepanov u.a.: „Il’ič byl
tysjaču raz prav“, S. 205).
68 In Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja (Dok. S. 422–428), wird als Autor der Denkschrift
irrtümlich Gerhard Schott angegeben.
69 O.D. (Abk.) – Am 27.2.1923 hatte das Politbüro des ZK der KPD den Aufbau eines Ordnerdienstes
(OD) beschlossen, der vorerst defensive Aufgaben übernehmen sowie regelmäßig über den Bürger-
krieg in Theorie und Praxis berichten sollte. Als Grundstruktur der (militärpolitischen) MP-Arbeit
zur Vorbereitung des Aufstandes neben den Proletarischen Hundertschaften als Schattenarmee und
Arbeitermilizen (s.u.) sollte der OD als eine Art Offizierkorps der aus ihnen hervorgehenden Hun-
dertschaften wirken sowie die Partisanengruppen ausbilden. Im September/Oktober 1923 wurden die
OD-Bezirke zu insgesamt fünf (später sechs) Oberbezirken und drei Sonderbezirken zusammengelegt,
dem jeweils ein militärischer Leiter (OB-Leiter) vorstand (siehe: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.:
Der Nachrichtendienst der KPD, S. 74f.; Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S.141ff.
e.a.; The German October 1923. Materials Concerning the Documentation Published by Aufbau-Ver-
lag-Berlin. In: The International Newsletter of Communist Studies Online, update 17/1, 10.1.2004, http:/
newsletter.ICSAP.de/home/data/pdf/incs_17_update.PDF).
70 Die Proletarischen Hundertschaften (Hundertschaftsbewegung) waren Teil des M-Apparates der
KPD, in dem „einige tausend unbesoldete“ Mitarbeiter wirkten (in ca. 1331 Einheiten Ende Oktober
1923). Es waren vornehmlich aus den „Betriebshundertschaften“ (besonders in Berlin auch nach
Wohnbezirken) gebildete, illegale bewaffnete, im Idealfall von den Aktionsausschüssen organisierte
Verbände von KPD-, SPD- und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern als Kern künftiger Arbeiter-
milizen. Nach den Strukturen des alten Heeres (Kompanie = Hundertschaft – Zug – Gruppe) gebildet,
blieben Strukturierung und Zentralisierung hybride. Im Rahmen der „Abwehrbewegung“ wurde ihre
Dok. 85: Berlin, 8.8.1923 295
Für die bevorstehenden bewaffneten Kämpfe gibt es noch kein Reglement. Jeder
Versuch, die alten, durch Tradition und Erfahrung bis zur Vollendung ausgebildeten
Regeln und Grundsätze imperialistischer Kriegführung schematisch auf den Bürger-
krieg anwenden zu wollen, muss scheitern. Das Wesen des Bürgerkrieges ist grund-
verschieden in Führung, Waffengebrauch, Psychologischer und organisatorischer
Zusammensetzung der Kampfverbände, in der Situation der Kriegsschauplätze, vom
Wesen des imperialistischen Krieges.
Die einzigen grossen Paralellen [sic], die beide Arten gemeinsam haben, sind das
Ziel den Gegner vernichtend zu schlagen, und die Ausbildung in Handhabung und
wirksamen Einsatz der vorhandenen Waffen.
Die Taktik, das Reglement des Bürgerkrieges wird in Westeuropa dem revolutio-
nären Proletariat jedes einzelnen Landes nur durch die Erfahrungen im Lande selbst
bei bewaffneten Kampfhandlungen gegen die Konterrevolution und durch die für das
eigene Land ausgewerteten Lehren der Kämpfe der revolutionären Parteien anderer
Länder vorgeschrieben. Wenn wir darum jetzt lehren wollen, wie wir uns in den kom-
menden Kämpfen militärisch zu verhalten haben, dann müssen wir erst lernen, die
Lehren aus dem Vergangenen zu ziehen.
Wenn wir Kommunisten die kommenden Kampfen [sic] in der Hand behalten,
tatsächlich militärisch leiten wollen, dann ist es allerhöchste Zeit, dass wir mit dieser
theoretischen Arbeit ernsthaft beginnen. Wir werden in unseren Versuchen, die Füh-
rerkaders für die künftige Klassenarmee des deutschen Proletariats heranzuziehen,
sie zu schulen, in Wahrheit fähig zu machen zu führen, immer wieder stecken bleiben,
wenn wir diese Vorarbeit nicht vorher, mindestens aber gleichzeitig mit unseren orga-
nisatorischen Massnahmen zu lösen verstanden haben. Die Leitung der Partei hat das
auch dieses mal wieder nicht früh genug erkannt, wie die Praxis jetzt täglich zeigt.
Ehe ich positive Vorschläge mache, was unverzüglich unternommen werden
muss, will ich versuchen den Beweis anzutreten:
Bereits im Oktober 1922 wurden der Zentrale Vorschläge vorgelegt zur Durchfüh-
rung einer grossangelegten Propagandakampagne für militärische Vorbereitungsar-
beit, die wir als Thesen bezeichneten und die auch heute noch volle Geltung haben.71
Sie forderten vor jeder organisatorischen militär-politischen Massnahme die Samm-
lung, Auswertung und Druckreif-Bearbeitung der bisherigen Erfahrungen aller Par-
teien der Komintern im Kampfe mit der bewaffneten Konterrevolution unter spezi-
Aufgabe satzungsmäßig für den „deutschen Oktober“ (so in Berlin) als „Führung eines rücksichts-
losen offensiven Kampfes gegen die Reaktion“ mit dem Ziel der „Übernahme der politischen Macht“
definiert. Am stärksten waren sie in Sachsen verankert, dort auch als gemischte sozialdemokratisch-
kommunistische. Nach dem Scheitern des „Deutschen Oktober“ wurden sie 1924 in den Roten Front-
kämpfer-Bund (RFB) überführt. Ihre Rolle wird bis heute kontrovers gesehen, Wollenberg bspw. op-
ponierte seinerzeit gegen das Konzept der PH als zentrale militärische Kampforgane (zur Literatur
siehe vorherige Anmerkung).
71 Die Thesen zur militärischen Vorbereitung wurden an das EKKI weitergeleitet. Siehe RGASPI,
Moskau, 495/25/1365, 7–10.
296 1918–1923
eller Berücksichtigung der Phasen kurz vor der Ergreifung der Macht und während
der ersten Monate der Diktatur. Da die Durchführung dieser theoretischen Arbeit, die
gründliches militärisches Wissen vereint mit politischem Horizont und viel persönli-
cher Erfahrung auf dem Gebiete des bewaffneten Aufstandes, also hochqualifizierter
Mitarbeiter verlangt, der eigenen Initiative zweier Genossen in Moskau überlassen
wurde72 gelang es erst, da die wiederholt geforderte Stützung von Seiten der deutschen
Partei ausblieb, in der ersten Hälfte dieses Jahres und nur unter grossen Schwierigkei-
ten Anfänge zu produzieren, die auf unsere Anregung ihren Niederschlag in der deut-
schen Parteipresse fanden. Die von uns geplante systematische Durchführung war
durch den Mangel an Einsicht in die Wichtigkeit dieser Arbeit von Seiten der Zentrale
unmöglich gemacht. Inzwischen war durch die Ruhrbesetzung die militär-politische
Frage mehr in den Vordergrund getreten und es mussten auf den Druck der Massen
hin auch von der Partei schon umfassende organisatorische Massnahmen ergriffen
werden, die anfänglich ihren Ausdruck in der Hundertschaftsbewegung, später in der
Einrichtung des Partei-O.D. fanden. Durch den schnellen wirtschaftlichen und poli-
tischen Zerfall wuchs diese organisatorische Arbeit weit rascher, als vorausgesehen
werden konnte. Die ideelle theoretische Arbeit dagegen wurde weder nennenswert
gestützt, noch ihre absolute Notwendigkeit als Ergänzung zu den organisatorischen
Massnahmen klar erkannt. Jetzt stehen die Dinge so, dass ein Missverhältnis zwi-
schen beiden klafft. Es ist typisch, dass bisher stets bei allen politischen Aktionen der
Partei die Propaganda weit der Organisation vorauseilte, bei den wenig[en] militär-
politischen Aktionen dagegen, die sie stets den schwersten Erschütterungen ausge-
setzt hat und aussetzen wird, das gerade Gegenteil der Fall war. Auch jetzt wieder ist
der O.D. der Partei in den Hauptzentren des Reiches organisatorisch reif für gründli-
che Durchbildung, Führerkurse, für theoretische und praktische Ausbildung seiner
Mitglieder – der Stoff, der ideologische, durchgearbeitete Inhalt dagegen, das womit
die gesamte Arbeit angefangen werden musste und die Lehrkräfte die durch diesen
Anfang geschult worden wären, fehlen – und man muss sich bereits seit einiger Zeit
mit Kompromissen und Surrogaten behelfen.
Jedem einsichtigen Parteifunktionär ist klar, dass wir den Funktionären und
Mitgliedern der Ordnerdienstbewegung keine Vorträge halten können a la Kriegs-
akademie 1913 oder Lehrbattallon [sic] Potsdam73 – selbst dazu hätten wir nicht die
Lehrkräfte. Eine ganz kurze Orientierung im Kreise der denkenden Proletarier im O.D.
zeigt schon, dass die Leute längst von selbst auf das kommen, was ihnen not tut –
72 Die Rede ist von Gerhard Schott selbst, sowie vermutlich Otto Steinfest, der im August 1923 Stell-
vertreter Rozes und Chef des Kommandos (Befehlshaber) im Berliner OB wurde.
73 Die im Sinne Scharnhorsts als „militärische Universität“ gegründete Kriegsakademie in Berlin
bildete Offiziersanwärter für den Dienst im Generalstab aus. Das 1895 in Potsdam gegründete Lehr-
Infanterie-Bataillon in Potsdam war dem 1. Garde-Regiment zu Fuß angegliedert. Lehrbataillone dien-
ten der Einübung neuer Verfahren in der gesamten Armee.
Dok. 85: Berlin, 8.8.1923 297
74 Die für das deutsche Heer gültige Felddienstordnung regelte als Vorschrift für alle Waffengattun-
gen übergreifend den militärischen Dienste.
75 Mit seinem Traktat „Vom Kriege“ schrieb der preußische Generalmajor Carl Philipp Gottlieb von
Clausewitz (1780–1831) das maßgebliche Werk über Militärstrategie und Militärphilosophie des 19.
und des beginnenden 20. Jahrhunderts.
76 Eine theoretische und strategische Beschäftigung mit dem „Städtekampf“ erfolgte erst durch eine
Diversifizierung der klassischen Aufstandsstrategie der Komintern gegen Ende der zwanziger Jahre,
die Forcierung der militärpolitischen Abteilungen der kommunistischen Parteien (darunter der KPD
unter Kippenberger) sowie der Eröffnung der M-Schule (Militärschule) in Moskau 1930. Ein militärpo-
litisches Standardwerk wurde erst 1928 veröffentlicht (siehe: A. Neuberg (Ps.), i.e. Ju. Gailis (?), H. Kip-
penberger, M. N. Tuchačevskij, Ho Chi Minh (Ps.), i.e. Nguyen Ai Quoc: Der bewaffnete Aufstand. Ver-
such einer theoretischen Darstellung. Eingeleitet von Erich Wollenberg, Zürich, Meyer, 1928 [fingiert].
Reprint Frankfurt am Main, Europäische Verlagsanstalt, 1971 (Europäische Verlagsanstalt. Basis). Im
298 1918–1923
Die Dreierkommission des Pol-Büros77 veranlasst, bezw. erteilt Vollmacht zur soforti-
gen Durchführung:
1.) Druck einer Broschüre (besser einer Serie von kleinen Heften), die die besten
der bisher in Deutschland im Laufe der letzten Jahre erschienenen Artikel und
Abhandlungen revolutionärer Führer über Lehren, Erfahrungen und Erlebnisse im
Bürgerkriege, Theorie des revolutionären Krieges usw. zusammenfasst. (Billiger Son-
derdruck, Verbreitungsweise bestimmt die Dreierkommission.)
2.) Die Rote Fahne stellt grundsätzlich ihre 14-tägigen Diskussionsbeilagen aus-
serdem ihre Feuilleton-Spalten für militär-politische Themen zur Verfügung und
bevorzugt darin bis auf weiteres die Frage vor allen anderen. Die Provinzpresse wird
verpflichtet, alle in der Roten Fahne mit dieser Tendenz erschienenen Artikel in glei-
cher Reihenfolge und sofort zu bringen. Diskussionsartikel bezw. eigene Artikel aus
der Provinz mit ähnlichem Thema sind vor Abdruck prinzipiell der Dreierkommis-
sion vorzulegen. Die Behandlung des Thema: „Vom Bürgerkrieg“ muss in der Presse
garantiert vorheriger Kontrolle der Zentralleitung unterworfen werden.
3.) Die Partei fordert von der Exekutive nachdrücklichst eine aktive Beteiligung
prominenter Führer aller Parteien, die schon bewaffnete Kämpfe hinter sich haben,
an dieser Propagandakampagne. Die Partei ist sich bewusst, damit ein Stück wichti-
ger internationaler Arbeit für die Gesamtbewegung zu leisten. Sie unterstützt nach-
drücklichst mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, die Arbeit des bereits seit
Zuge der Stalinisierung wurde die Militärpolitik stärker in die antimilitaristische Tätigkeit sowie die
Nachrichten- bzw. Spionageaktivitäten für die Sowjetunion transformiert. Das Konzept eines revolu-
tionär motivierten Städtekampfs („Stadtguerilla“) wurde erst nach dem 2. Weltkrieg in Lateinamerika
(Uruguay, Brasilien, Peru) und der Türkei umfassender umgesetzt.
77 Im Herbst 1923 wurde aufgrund der besonderen Situation aus den Mitgliedern des Pol-Büros und
des Sekretariats eine operationale Führung mit Brandler, Gural’skij und Karl Gröhl gebildet.
Dok. 85: Berlin, 8.8.1923 299
Am 9.8.1923 behandelte das Politbüro des ZK der KP Russlands auf Anfrage des NKID deutsche Ange-
legenheiten. Dabei wurde auf Anregung Stalins beschlossen, Sinowjew, Bucharin und Trotzki telegra-
phisch aus dem Urlaub nach Moskau zu bestellen, um eine Politbüro-Sondersitzung „zur internatio-
nalen Frage“, de facto zur Deutschland, abzuhalten. Auf dieser Sitzung, die vier Tage später auf den
21.8. angesetzt wurde, sollte auch ein Brief Brandlers besprochen werden.80 Ebenfalls am 9.8.1922
nahm das Politbüro den Vorschlag Feliks Dzeržinskijs an, über die Arbeiter-Bauern-Inspektion die
Einladung deutscher Spezialisten nach Sowjetrussland zu verstärken. Sich auf GPU-Quellen in Berlin
berufend, wies Dzeržinskij darauf hin, dass es in Deutschland viele hochqualifizierte Ingenieure, Che-
miker u.a. gäbe, die „zu sehr bescheidenen Konditionen“ bereit seien, in Russland zu arbeiten – dies
gelte es sorgfältig und durchdacht auszunutzen.81
78 Der ehemalige ungarische Kaderoffizier in der kaiserlichen Armee, Otto Steinfest (Ps. Fuchs),
wurde seit August von Brandler aus der Sowjetunion nach Deutschland angefordert. Er wurde nach
Roze-Skoblevskij zum zweithöchsten russischen militärischen Funktionsträger in Deutschland. Siehe
hierzu: Bayerlein: Unser Apparat.
79 Vermutlich stützte sich dieses Dokument auf einen Bericht über die militärische Organisations-
arbeit in Deutschland, der u.a. die unterschiedlichen Konzepte innerhalb der Hundertschaftsbewe-
gung problematisierte, die am 12.5.1923 durch den sozialdemokratischen preußischen Innenminister
Severing verboten wurde (siehe: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD,
S. 74f.
80 RGASPI, Moskau, 17/3/370, 3; 17/3/372, 1. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i
Komintern, S. 164–165.
81 RGASPI, Moskau, 17/3/370, 12.
300 1918–1923
Am 18.8.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Russlands als Reaktion auf ein Telegramm
Nikolaj Krestinskijs vom 16.8.1923 die Summe von 1 Million Goldmark zur Hilfe an die deutschen Ar-
beiter zur Verfügung zu stellen (zur Abwicklung über die Profintern). Zugleich sollte mit einer zusätz-
lichen Geldsammlung zugunsten der Deutschen begonnen werden.82
Auf Vorschlag der Kommission des Politbüros zur Frage der internationalen Lage (Sinowjew, Radek,
Trotzki, Bucharin, Pjatakov) erfolgte am 22.08.1923 der Grundsatzbeschluss des Politbüros des ZK
der KP Russlands, sich auf die Revolution in Deutschland zu orientieren und hierzu erste konkrete
Maßnahmen einzuleiten. Das deutsche Proletariat stehe „unmittelbar vor den entscheidenden Macht-
kämpfen“. Die Tätigkeit, nicht nur der KPD und der RKP(b), sondern der gesamten Kommunistischen
Internationale sollte von nun an dieser grundlegenden Tatsache Rechnung tragen. Die Delegation der
KP Russlands in der Komintern wurde beauftragt, alle grundlegenden Schlussfolgerungen aus der
entstandenen internationalen Lage zu erarbeiten und sie dem Politbüro zur Bestätigung vorzulegen.
Als unmittelbar anstehend Aufgaben wurden definiert: Die „politische Vorbereitung der werktätigen
Massen der Union der [Sowjet-]Republiken auf die kommenden Ereignisse“, die „Mobilisierung der
Kampfkräfte der Republik“, die „ökonomische Hilfe an die deutschen Arbeiter“, sowie „entsprechen-
de diplomatische Vorbereitungen“. Zur Ausarbeitung dieser Fragen wurde eine Kommission gebildet,
der Sinowjew, Stalin, Trotzki, Radek und Čičerin angehörten.83
Am 29.8.1923 befasste sich das Politbüro des ZK der KP Russlands auf einen Vorschlag von Rozengol’c
hin mit einer personellen Reorganisierung der Kommission zur geheimen deutsch-sowjetischen Rüs-
tungszusammenarbeit. Dabei wurden die Vorstandsmitglieder der von sowjetischer Seite aufgesetz-
ten „Aktiengesellschaft für metallische und chemische Einzelteile“ („Metachim“) bestimmt, die we-
nig später mit der deutschen „GEFU“ die Firma „Bersol“ gründen sollten.84
Am 4.9.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands angesichts der geplanten Ankunft von
KPD-Vertretern in Moskau am 15.9., die Einberufung eines Plenums des ZK der RKP(b) zur Frage der
Durchführung der deutschen Revolution, die bereits am 21.8. beschlossen wurde, auf den 21.9.1923
festzulegen.85
Am 6.9.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands zu Fragen des Volkskommissariats für
auswärtige Angelegenheiten, in Bezug auf den möglichen Beitritt Deutschlands zum Völkerbund (der
erst 1926 erfolgte) die ablehnende Position beizubehalten, diese jedoch nicht der deutschen Regie-
rung aufzudrängen.86
Am 13.9.1923 beauftragte das Politbüro das Volkskommissariat für Außenhandel, auf der Erfüllung
des Getreidevertrags mit Deutschland zu bestehen (siehe Beschluss vom 26.2.1923). Deutsche Unter-
nehmen hatten sich geweigert, die Garantien seitens der Reichsregierung für Mittel zum Export in die
Sowjetunion zu akzeptieren.87
Ebenfalls am 13.9.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, dem Volkskommissariat
für Außenhandel „die Verpflichtung (zu) übertragen, auf schnellstem Wege zehn Millionen pud Ge-
treide (Weizen und Roggen) nach Deutschland zu schaffen.“ Die Operation sollte auf kommerzieller
Grundlage organisiert und dabei sollten die juristischen Rechte auf das Getreide gesichert werden. Zu
diesem Zweck sollte eine „Hilfsgesellschaft“ unter russischer Kontrolle geschaffen werden, die das
Getreide „von den Handelsorganen der UdSSR wie üblich zu den bestehenden Börsenpreisen erhält.“
Die Hilfsgesellschaft sollte über das Getreide verfügen, es lagern und transportieren, es mahlen las-
sen und im Land verteilen. „Die Direktiven in Sachen Verteilung des Mehles und seiner Ausgabe zum
Verbrauch erhält die Hilfsgesellschaft durch das Organ, dem die hauptsächliche Kommandogewalt
obliegt, mittels besonderer Vertrauenspersonen, und unter der Beachtung der Bedingungen, die eine
legale Durchführung der gesamten Tätigkeit garantieren.“ Die organisatorische Verantwortung wurde
dem „Genossen Jurgenson“ und als Helfer dem „Genossen Djuro“ auferlegt werden.88
Dok. 86
Beschwerde des Komintern-Sekretärs für die lateinischen Länder,
Jules Humbert-Droz über den „nationalistischen Schlageter-Kurs“
der KPD im Namen der KP Frankreichs
Paris, 20.9.1923
Vertraulich
Genossen Sinowjew Moskau
Lieber Genosse,
Sie werden in der reformistischen Presse gesehen haben, dass die Offensive gegen
die deutsche Partei weitergegangen ist und sich als noch heftiger herausgestellt hat.
Die Oppositionellen [résistants] haben sich in dieser Kampagne als noch weitaus ver-
abscheuenswürdiger erwiesen als die Sozialisten. Ich bestätige Ihnen diesbezüglich
meine Eindrücke aus dem letzten Bericht. Die Konferenz der Delegierten aus den
Regionen, die dieser Tage stattfindet und die die Meinung der Provinz widerspiegelt,
belegt, dass die Parteigenossen überall infolge der nationalistischen Erklärungen
unserer deutschen Genossen äußerst verwirrt sind und dies nicht verstehen.89 Umso
88 APRF, 3/20/89, 158. Publ. in: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 140f.
89 Am 8./9. Mai 1923 führten die französischen Besatzungsbehörden ein Kriegsgerichtsverfahren
gegen den Freikorpskämpfer Albert Schlageter durch, der sich im Widerstand gegen die Ruhrbeset-
zung einen Namen gemacht hatte. Der am 26. Mai 1923 Erschossene wurde einerseits zum Helden der
NS-Bewegung. Andererseits bezeichnete ihn Radek auf der Moskauer Junitagung des EKKI als „muti-
302 1918–1923
stärker in den Sympathisantenmilieus. Der Artikel der Roten Fahne vom 2. September,
der von einem Bündnis mit den Nationalisten von Reventlow90 spricht, wird kritisiert.
Man denkt nicht nur, dass solche Erklärungen der deutschen Revolution schaden,
man denkt auch, dass die deutschen Genossen diese Taktik übertrieben und unzu-
lässige Erklärungen abgegeben haben. Ich gestehe Ihnen ehrlich, dass wir angesichts
solcher Behauptungen zu betroffen waren, um die Taktik unserer Genossen zu ver-
teidigen.
Vuiouvitch [Vujović]91, der für einige Tage aus Berlin nach Paris gekommen
ist, hat uns bestätigt, dass die Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands
beschlossen hat, diese Taktik zu verändern und diese kriegerischen Erklärungen zu
mäßigen. Nachdem ich lange mit ihm diskutiert habe, habe ich mit einigen gegen die
Sozialisten gerichteten Artikeln begonnen unter der Losung „Die deutsche Revolu-
tion ist der Friede“ als einziges Mittel, das uns ermöglicht, die Strömung wieder zu
beleben. [...] Die letzten aus Berlin eingetroffenen Dokumente betreffend der Taktik
der Kommunistischen Partei Deutschlands zeigen, dass sich die Orientierung im
Sinne der von uns unternommenen Kampagne präzisiert hat und ich bestehe darauf,
dass diese Linie, die den Willen zum Frieden und zur Zahlung der Reparationen
gen Soldaten der Konterrevolution“ in der folgenden Weise: „Wir werden alles [dafür] tun, daß Män-
ner wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer
ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr
heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen um die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern
um die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre
Befreiung kämpfenden Völker.“ Die „Schlageter-Rede“ wird häufig ungerechtfertigterweise als grund-
sätzliche nationalbolschewistische Wendung der KPD-Politik gewertet. In der Komintern machte man
sich eher darüber lustig (siehe: Karl Radek: Leo Schlageter. Der Wanderer ins Nichts. Rede auf der
Sitzung der Erweiterten Exekutive der Komintern am 20. 6. 1923. In: Karl Radek, Paul Frölich, Graf
Ernst Reventlow, Arthur Möller van den Bruck: Schlageter. Kommunismus und nationale Bewegung,
Berlin, Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten, 3. erw. Aufl. 1923, hier S. 8).
90 Im Artikel der Roten Fahne vom 2.9.1923, „Der Schnittpunkt“, wurde ausgeführt, dass die Natio-
nalisten um Reventlow und die Kommunisten „sich in der nationalen Befreiung Deutschlands“ tref-
fen und in „in der Form eines Bündnisses“ „praktisch eine Strecke zusammenwirken“ können. In
der gleichen Ausgabe wurde unter dem Titel „Trennendes“ ein Artikel von Reventlow veröffentlicht.
Heinrich August Winkler schrieb in seiner Rezension „Der Pakt mit dem Osten. Gerd Koenen über
den ‚Russland-Komplex’ und das ambivalente Verhältnis der Deutschen zum Bolschewismus“: „Der
völkische Schriftsteller Graf Ernst von Reventlow, der seit 1924 erst deutschvölkischer, dann national-
sozialistischer Reichstagsabgeordneter war, propagierte ein antiwestliches Bündnis der beiden welt-
politischen Parias, des Deutschen Reichs und der Sowjetunion, konnte sich damit aber ebensowenig
gegen Hitler durchsetzen wie der junge Joseph Goebbels, der erst 1926 konsequent auf die antisowjeti-
sche Linie seines Führers einschwenkte.“ (Süddeutsche Zeitung, 13.12.2005). Die Beziehungen zur KPD
wurden in verdeckter Form aufrechterhalten.
91 Der junge serbische Revolutionär Vojislav Vujović (1897–1937?), der später (wie auch seine beiden
Brüder) unter Stalin ums Leben kam, leitete als Instrukteur der Kommunistischen Jugendinternatio-
nale den Widerstand unter den Besatzungstruppen gegen die französische und belgische Besatzungs-
politik im Ruhrgebiet.
Dok. 87: Moskau, ca. Ende September 1923 303
bekräftigt, wenn möglich verstärkt wird.92 Sie hätte hier einen sehr großen Einfluss
auf die öffentliche Meinung und wird das Vertrauen der Parteigenossen bestärken.
Am 23.9.1923 bestätigte das Plenum der KP Russlands die Thesen Sinowjews „Die kommende deut-
sche Revolution und die Aufgaben der RKP(b)“, die von einer „Unvermeidbarkeit und Nähe der deut-
schen Revolution“ ausgingen. Die Thesen basierten auf dem Vortrag Sinowjews im Plenum am 21.9.
und wurden durch eine Politbüro-Kommission umgearbeitet.93
Dok. 87
Das Schicksal Polens besiegeln und einen Korridor durch die
Tschechoslowakei schlagen: Vorschläge Sergej Gusevs zur
deutschen Revolution und Replik Stalins
Moskau, ca. Ende September 1923
Gen. Sinowjew! Kam es Ihnen nicht in den Sinn, dass es in der Situation einer deut-
schen Revolution und unseres Krieges mit Polen und Rumänien von entscheidender
Bedeutung wäre, gegen Ostgalizien vorzurücken (wo es nicht schwer wäre, einen
Aufstand hervorzurufen) und „zufällig“ in die Tschechoslowakei einzufallen, wo
bei einer starken KP eine Revolution durchaus möglich wäre (in „Anwesenheit“ von
zwei-drei unserer Divisionen). So könnten wir 1) ins tiefe Hinterland Polens gelangen
und sein Schicksal besiegeln, 2) einen Korridor nach Sowjet-Deutschland durch die
Tsch[echo]-S[lovakei] erhalten, 3) die Rote Armee in der Tsch[echo]-S[lovakei] haben.
Sollte man nicht bereits jetzt die politische Vorbereitung in der Tsch[echo]-S[lovakei]
in dieser Richtung durchführen?94
GUSEV
92 Im Namen der KP Frankreichs fordert Humbert-Droz hier von der Kominternführung, die KPD auf
eine Position der Erfüllungspolitik zu führen, letztlich auch die Besetzung Westdeutschlands zu ak-
zeptieren.
93 RGASPI, Moskau, 17/2/101, 4–13ob. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Kom-
intern, S. 185–203. In deutscher Sprache teilweise publ. in: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher
Oktober 1923, S. 151–162.
94 Gegenüber den simplistischen Modellen des später in der Komintern aktiven Stalin-Vertrauten
Gusev wurden neben einer geheimen Konferenz im EKKI mit den potenziell unmittelbar von einer
deutschen Revolution betroffenen kommunistischen Parteien Kontakt aufgenommen sowie strategi-
sche Planungsspiele zur Vorbereitung auf eine deutsche Revolution durchgeführt (siehe: Bayerlein/
Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 162ff.).
304 1918–1923
Diese Frage wird zu früh aufgeworfen, falls Gen. Gusev sie denn wirklich bereits auf-
werfen will. Der Plan an sich ist problematisch. Nicht diese Frage ist jetzt wichtig,
sondern eine andere, und zwar: unter welchem legalen Deckmantel kann man die
Soldaten mobilisieren und dabei den Anschein von Friedfertigkeit, oder zumindest
von Verteidigung wahren.
I. STALIN
5–st
Am 27.9.1923 setzte sich das Politbüro des ZK der KP Russlands mit dem „Fall Petrov“ auseinander.
Der Vorwärts hatte am 25. September die Aufdeckung zweier kommunistischer Waffenlager gemeldet,
an deren Aufstockung maßgeblich der sowjetische de facto-Militärattaché Michail Petrov beteiligt ge-
wesen sei. Das Politbüro beauftragte Čičerin, mehr Informationen einzuholen. Zugleich beschloss es,
„die gewisse Kommission des PB zu beauftragen, die Frage der besten Wege zur Überführung von Ge-
nossen zu erkunden“ – wobei hier möglicherweise die Kommission zur Vorbereitung des „Deutschen
Oktober“ gemeint ist.95 Die Rolle von Petrov war äußerst brisant – er war sowohl an den Aufstands-
vorbereitungen beteiligt als auch an geheimen Rüstungskontakten mit der Reichswehr. Erkundungen
Krestinskijs in Berliner Regierungs- wie auch Reichswehrkreisen schienen das Ergebnis zu haben,
dass die deutsche Regierung nicht hinter dem Alleingang der Vorwärts gestanden und kein Interesse
an der Öffentlichmachung dieser Affäre gehabt habe.96 Am 3.10.1923 beschloss das Politbüro, ein
Kommuniqué zu dem Fall zu veröffentlichen, in dem alle Vorwürfe abgeschmettert wurden.97
Dok. 88
Brief Radeks an Trotzki über die Festlegung eines Zeitrahmens für
den kommenden Aufstand in Deutschland
[In Deutschland], 1.10.1923
An Gen. Trotzki
Kopie an Gen. Sinowjew, Bucharin, Stalin
Ich sagte bereits auf der Sitzung, dass ich mit der Tendenz des Artikels des Genos-
sen Trotzki über die Festlegung der Termine der Revolution wie der Konterrevolution
95 APRF, Moskau, 03/64/645, 93 und 03/64/676, 23. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 101.
96 Berichte Krestinskijs siehe in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, Doks. 99, 105.
97 APRF, Moskau, 3/64/676, 33. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, Dok. 107. Zur Affäre siehe
auch Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten, S. 180–181; Francis Ludwig Carsten: Reichswehr und
Politik. 1918–1933, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1966³, S. 156–157.
Dok. 88: [In Deutschland], 1.10.1923 305
völlig einverstanden bin.98 Angesichts der Formlosigkeit der deutschen Partei ist diese
Tendenz durchaus gesund. Zugleich möchte ich jedoch einige Gedanken äußern, die
man meines Erachtens den deutschen Kommunisten mit nicht geringerem Nachdruck
einprägen muss, als es Gen. Trotzki in seinem Artikel getan hat.99
Der Unterschied zwischen der Lage in Russland [19]17 und in Deutschland heute
besteht darin, dass wir es in Russland mit einer kompletten Paralyse der Macht zu
tun hatten. Deswegen konnten wir, nachdem wir die Sympathien der Mehrheit der
Arbeiterklasse gesichert hatten, den Kampf um die Macht beginnen, wobei wir uns
auf verhältnismäßig geringe aktive Kräfte stützend. Trotzki sagte in seiner Rede im
Jahre [19]17, dass wir losschlugen, obwohl Petrograd seelenruhig schlief. Wenn unsere
Deutschen in die Offensive gehen, während die wichtigsten Zentren Deutschlands
seelenruhig schlafen, so werden sie vollständig zerschlagen werden, weil der Gegner
über größere organisierte Kräfte verfügt als sie. Unser Sieg kann nur gelingen, wenn
die spontane Bewegung des Proletariats mit einer organisierten Offensive der Kampf-
kräfte der Partei zusammenfällt. Deswegen halte ich es für notwendig, den deutschen
Genossen die Bedeutung der Frage nach dem richtigen Zeitpunkt zu einzuprägen,
weil diese Frage genauso wichtig ist wie die der Organisation. Wir werden zerschla-
gen, wenn wir organisiert zum falschen Zeitpunkt in die Offensive gehen, genauso,
als wenn wir es unorganisiert zum richtigen Zeitpunkt tun. Die Garantie des deut-
schen Sieges liegt in der Gleichzeitigkeit unserer organisierten Offensive mit der
spontanen Massenbewegung. Ich bitte Sie, auf dieser Frage in der heutigen Sitzung
zu fokussieren.100
1.X.23.
[Sign.:] Radek
98 Am 26.9.1923 wurde Trotzkis Artikel: “Kann man eine Konterrevolution oder eine Revolution auf
einen bestimmten Zeitpunkt festsetzen?“ als Sondernummer der Inprekorr (Nr. 152) veröffentlicht,
bereits am 23.9. in der Pravda: Lev Trockij: Možno li kontrrevoljuciju ili revoljuciju sdelatʼ v srok? In:
Pravda, 23.9.1923 Botschafter Brockdorff-Rantzau protestierte gegen den Artikel, den er als Anweisung
zum Umsturz auffasste. Trotzki musste sich daraufhin gegenüber dem Sekretär der Zentralen Kon-
trollkommission, Jaroslavskij, erklären und zeigte aufrichtiges Erstaunen darüber, dass „sogar mein
äsopischer Artikel über die ‚Festsetzung des Terminsʼ“ eine Intervention des deutschen Botschafters
ausgelöst habe (Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 179).
99 Als Orientierungsdatum für den Aufstand wurde der 9. November gewählt, mit dem folgenden
Vorbehalt: „Was den festgesetzten Termin anbelangt, so ist dieser nur zur Orientierung der Partei und
der Internationale angenommen [worden]. Die Sache muss selbstverständlich in Deutschland selbst
bestimmt werden.“ (Drei Sonderbeschlüsse. In: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923,
S. 215–216, hier S. 215; siehe auch Dok. PB vom 4.10.1923).
100 Drei Tage später, am 4.10.1923, erfolgte ein diesbezüglicher Beschluss des Politbüros des ZK der
RKP(b) (siehe Dok. PB 4.10.1923).
306 1918–1923
Am 4.10.1923 erfolgt der Beschluss des Politbüros des ZK der RKP(b) zur Festsetzung des Revolutions-
termins in Deutschland, für den sich besonders Trotzki eingesetzt hatte. Dazu wurde der 9. November
festgelegt, wobei auch ein früheres Losschlagen als Möglichkeit offen gelassen wurde. Als zentrales
Problem wurde die mangelnde Übereinstimmung der „revolutionären Orientierung der Führungsebe-
ne der deutschen Kompartei mit der objektiven Lage und den Stimmungen der Arbeitermassen“ fest-
gehalten. Die KPD-Führung solle sich gezielt mit der Vorbereitung des Aufstandes auseinandersetzen.
Die Entsendung von Trotzki und Sinowjew nach Deutschland (wobei Brandler um die Entsendung von
Trotzki, Radek und Pjatakov gebeten hatte) wurde als „absolut unmöglich“ abgelehnt. Die mögliche
Verhaftung der genannten Genossen in Deutschland würde der internationalen Politik der UdSSR und
der deutschen Revolution selbst unermesslichen Schaden zufügen. Stattdessen wurde eine Vierer-
gruppe aus Pjatakov, Radek, Jan Rudzutak und Valerian Kujbyšev nach Deutschland kommandiert.
Ein hierzu eingerichteter Sonderfonds wurde auf 500.000 Goldrubel erhöht.101 Die Vierergruppe solle
nach Ankunft in Berlin über eine Einbeziehung des sowjetischen Botschafters in Berlin, Krestinskij in
ihre Arbeit entscheiden. (Das im Band „Deutscher Oktober 1923“ abgedruckte Dokument enthält die
Beschlussvariante des normalen Protokolls sowie den Wortlaut des Beschlusses aus der Sondermap-
pe des Politbüros).
Dok. 89
Plan des ZK-Sekretariats der KP Russlands zur Agitation und
Propaganda für die deutsche Revolution in der Sowjetunion
[Moskau], 5.10.1923
102 Bereits am 22.8.1923 postulierte das Politbüro als zentrale Aufgabe, „die werktätigen Massen
der Union der [Sowjet-]Republiken […] auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten“ (Bayerlein/
Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 131). Das vorliegende Dokument wurde auf Beschluss
des Politbüros vom 4.10.1923 (RGASPI, 17/3/386, 1) ausgearbeitet, detailliertere Entwurffassungen fin-
den sich unter RGASPI, 17/112/485, 45–46 und 49–51. Zugrunde lag ein Bericht Trotzkis auf der Sitzung
des Politbüros vom 4.10.1923 „Über die Durchführung der Agitation in Verbindung mit der internatio-
nalen Lage“. Das Sekretariat des ZK wurde beauftragt, dem Politbüro einen Vorschlag vorzulegen und
am folgenden Tag wurde der Plan gebilligt. Zur „Deutscher-Oktober“-Kampagne in der Sowjetunion
siehe allgemein: Gleb J. Albert: „German October is Approaching“. Internationalism, Activists, and
the Soviet State in 1923. In: Revolutionary Russia 24 (2011), no. 2, S. 111–142.
103 Bereits am 28.8.1923 informierte das ZK-Sekretariat die regionalen Parteiorganisationen in gro-
ben Zügen über die kommenden Ereignisse in Deutschland („Naznačit’ revoljuciju v Germanii na 9
nojabrja“. In: Staraja ploščad’. Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii (1995), 5, S. 115–139,
hier S. 128). Am 26. September rief die Parteiführung eine geschlossene Versammlung regionaler Füh-
rungskader zusammen, in der diese auf die bevorstehende Kampagne eingeschworen wurden (Leonid
G. Babičenko: Politbjuro CK RKP(b), Komintern i sobytija v Germanii v 1923 g. Novye archivnye mate-
rialy. In: Novaja i novejšaja istorija (1994), 2, S. 125–157, hier S. 137). Das maßgebliche Rundschreiben
wurde schließlich am 9.10.1923 in Erfüllung dieses Beschlusses versandt (siehe folgendes Dokument).
104 Gemeint ist die 1920 gegründete Agitprop-Abteilung des ZK der RKP(b).
105 Zur Kommission für deutsche Angelegenheiten siehe den Politbüro-Beschluss vom 22.8.1923.
106 Zur Vorbereitung der regionalen Parteikräfte und der Bevölkerung auf den „deutschen Oktober“
sandte das Politbüro hochrangige Parteifunktionäre auf Vortragsreisen in die Provinz. Das auf diesen
Beschluss hin ausgearbeitete Referentenverzeichnis führte 15 führende Bolschewiki mitsamt Zielort
auf, darunter Nikolaj Bucharin, Anatolij Lunačarskij, Mieczyslaw Bronski, Feliks Kon, Aleksandr
Voronskij, Emel’jan Jaroslavskij und Nikolaj Krylenko (RGASPI, 17/112/485, 52). Die Referenten,
die Vorträge vor tausenden von Zuhörern halten konnten, schrieben nach Rückkehr detaillierte
308 1918–1923
4. Die genannte Kommission wird beauftragt, dringend die Höhe der zur Planerfül-
lung notwendigen Mittel und die Art und Weise ihrer Verteilung unter den verschiede-
nen Verlagen festzulegen. Die Verlage müssen verpflichtet werden, die Bestellungen
der Kommission mit Priorität zu erfüllen.109
5. Die Agitprop wird zusammen mit der Glavpolitprosvet110 beauftragt, dringend einen
Vorlesungszyklus zu Fragen der internationalen und inneren Lage, verbunden mit
der deutschen Revolution, auszuarbeiten, damit diese Vorlesungen in allen Institu-
tionen der kommunistischen Schulung (Kommunistische Universitäten, sowjetische
Reiseberichte an das ZK, in denen sie auch Stimmungen der Provinz zu den antizipierten Ereignissen
in Deutschland festhielten (Albert: „German October is Approaching“, S. 120–127).
107 Andrej Bubnov (1883–1940) war Leiter der Agitprop-Abteilung des Zentralkomitees, Vladimir
Antonov-Ovseenko (1883–1938) Leiter der PUR, der Politischen Verwaltung der Roten Arbeiter- und
Bauernarmee (s.u.).
108 Zur Anleitung der Provinzpresse veröffentlichte die Kommission in der Folge spezielle interne
Bulletins, in denen Redakteure von Provinz-Parteizeitungen fertige Artikelbeiträge über die Lage in
Deutschland zum Nachdruck finden konnten. Viele Provinzblätter verzichteten jedoch darauf und
versuchten, eigenständig die „deutschen Ereignisse“ ihrer Leserschaft nahezubringen, oft in stark
verzerrter und übertrieben optimistischer Form. Dies hatte auf der einen Seite übersteigerte Erwar-
tungen der Parteiaktivisten an der Basis, zum anderen Kriegsängste bei der „einfachen“ Bevölkerung
zur Folge (siehe: Albert: „German October is Approaching“, S. 118–120).
109 Eine neugegründete Subkommission für Publikationsfragen beschloss am 11.10.1923, anlässlich
der kommenden deutschen Revolution spezielle Landkarten, Plakate und Broschüren drucken zu las-
sen (RGASPI, 17/60/439, 1). Daraufhin überschwemmten die ansonsten von Material- und Geldman-
gel gehemmten Partei-, Komsomol- und Armeeverlage die Kommission mit ausufernden Plänen zur
Herausgabe von Büchern, Broschüren, Flugblättern und sogar russisch-deutschen und russisch-pol-
nischen Wörterbüchern (ibid., Bl. 102–131). Ein Großteil der geplanten Erzeugnisse wurde nicht reali-
siert, dennoch erschienen im Herbst 1923 tatsächlich zahlreiche deutschlandbezogene Druckwerke in
der Sowjetunion – von populären Broschüren Radeks und Jaroslavskijs über politikwissenschaftliche
Analysen bis hin zu einer Übersetzung der Ludendorff-Memoiren (vgl.: Dmitrij Lebedev: Literatura o
Germanii. In: Kommunističeskaja revoljucija (1923), Nr. 17–18, S. 76–79).
110 Glavpolitprosvet – von russ. Glavnyj politiko-prosvetitelʼnyj komitet Narkomprosa RSFSR (d.h.
Oberstes Komitee für politische Aufklärung des Volkskommissariats für Erziehung der RSFSR), ge-
gründet 1920 und geleitet von Lenins Ehefrau Nadežda Krupskaja.
Dok. 89: [Moskau], 5.10.1923 309
6. Es wird für notwendig gehalten, ein Rundschreiben über die Verstärkung der poli-
tischen und partei-organisatorischen Arbeit in der Roten Armee herauszugeben;
Agitprop und PUR114 werden beauftragt, im Laufe von zwei Tagen den Entwurf eines
solchen Rundschreibens dem ZK zur Bestätigung vorzulegen.
Dok. 90
Zirkular des Sekretariats des ZK der KP Russlands (Molotov) über
die Vorbereitungen auf die deutsche Revolution
[Moskau], 9.10.1923
Gedrucktes Dokument, russisch. RGASPI, Moskau, 17/84/467, 107–108v. In deutscher Sprache mit
abweichender Signatur auszugsweise publ. in: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober
1923, S. 211–214.
115 Hier folgen im Dokument Ausführungen über den zunehmenden Zuspruch der KPD unter den
kleinbürgerlichen Massen und über die Erstarkung der linken Sozialdemokratie.
Dok. 90: [Moskau], 9.10.1923 311
wir, wenn die Gefahr einer Zerstörung der UdSSR entsteht, einem Krieg, den uns die
ausländischen Imperialisten aufzwingen, ohne zu zögern begegnen werden. Dies
wird ein Verteidigungskrieg für die Existenz der Arbeiterklasse und für die schon
erreichten Errungenschaften der proletarischen Revolution sein.116 Die Perspektive
des naherückenden Krieges darf keineswegs die Energie in der Entfaltung der Kul-
turarbeit zügeln. Im Gegenteil muss diese Perspektive uns dazu zwingen, unsere
Anstrengungen für eine erfolgreichere Entwicklung der Landwirtschaft und der
Industrie zu verzehnfachen, denn ohne dies ist weder die Verstärkung der Wehrfähig
keit unserer eigenen [Sowjet-]Union, noch die Hilfe an das deutsche Proletariat zu
bewerkstelligen. Die naherückende Epoche verlangt von uns, dass wir es lernen,
gleichzeitig unsere Wirtschaft anzuheben, die kulturellen Errungenschaften zu festi-
gen und unser Land zu verteidigen.
Das Zentralkomitee hält es für notwendig:
1. Die Aufmerksamkeit der breitesten Arbeiter- und Bauernschaft auf die deutsche
Revolution zu konzentrieren.
2. Die Umtriebe unserer äußeren und inneren Feinde, die die Niederlage des revo-
lutionären Deutschlands mit einem neuen Feldzug gegen die Arbeiter und Bauern der
Sowjetrepubliken und mit einer vollständigen Zerschmetterung und Zergliederung
unseres Landes verbinden, vorzeitig zu entlarven.
3. Im Bewusstsein jedes Arbeiters, Bauern und Rotgardisten den unerschütterli-
chen Glauben daran zu festigen, dass der Krieg, den die ausländischen Imperialisten
und vor allem die regierenden Klassen Polens uns aufzwingen wollen, ein Verteidi-
gungskrieg für die Bewahrung des Bodens in den Händen der Bauern, der Fabriken
und Betriebe in den Händen der Arbeiter, für die Existenz der Arbeiter- und Bauern-
macht selbst sein wird.117
Das Zentralkomitee lenkt die Aufmerksamkeit der gesamten Partei darauf, dass
die Vorbereitung der öffentlichen Meinung der breitesten werktätigen Schichten der
116 Die Bolschewiki rechneten im Falle der deutschen Revolution (vor allem im Falle ihrer Nieder-
schlagung) fest mit einem Krieg der kapitalistischen Mächte gegen die Sowjetunion (vgl. Bayerlein/
Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 117). Neue archivgestützte Studien haben einschlägige
Vorbereitungen seitens der Roten Armee zutage gefördert, die allerdings vorrangig defensiver Natur
waren (vgl. David R. Stone: The Prospects of War? Lev Trotskii, the Soviet Army, and the German Revo-
lution in 1923. In: The International History Review 25 (2003), no. 4, S. 799–817). Neuere Forschungen,
die die sowjetischen Angriffsabsichten zu belegen versuchen, übergehen diese Erkenntnisse weitge-
hend (vgl. Musial: Kampfplatz Deutschland, S. 114–132).
117 Bereits die Politbüro-Thesen vom 22.9.1923 betonten, die wichtigste Aufgabe sei es, die breiten
Massen davon zu überzeugen, dass der bevorstehende Krieg ein Verteidigungskrieg sein werde und
keinesfalls ein Angriffskrieg, denn zu Kriegszeiten sei „das Volk […] besonders empfänglich für solche
Vorwürfe gegen die Regierung.“ (Naznačit’ revoljuciju v Germanii na 9 nojabrja, S. 135–136). Real je-
doch schürte die Deutschland-Kampagne, nicht zuletzt wegen einer unbeholfenen Berichterstattung
in der Provinzpresse, massive Kriegsängste unter der parteilosen, v.a. bäuerlichen Bevölkerung (siehe
Albert: „German October is Approaching“.).
312 1918–1923
gesamten Union auf die bevorstehenden Ereignisse für unsere Republik erstrangige
Bedeutung hat.118
Die Agitpropkampagne muss angesichts der internationalen Situation umfas-
send und systematisch durchgeführt werden.
Mit diesem Ziel schlägt das Zentralkomitee vor:
1. In die Tagesordnung aller Parteiversammlungen (allgemeine, Bezirks-, Partei-
zellen usw.) die Frage nach der internationalen Lage aufzunehmen, unter Beleuch-
tung einer jeden Etappe und jeder Wende in den Ereignissen, die non nun an im
Brennpunkt des internationalen Lebens stehen.
2. Regelmäßige Beratungen von verantwortlichen Mitarbeitern (Partei-, Sowjet-,
Militär- und Wirtschaftsfunktionäre) zur Information und Besprechung von Fragen
regelmäßig einzuberufen, die mit der internationalen Lage verbunden sind.119 [...]
7. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Beleuchtung der Probleme der internatio-
nalen Situation unter den Bauernmassen. Großen Bauernversammlungen über die
deutsche Revolution und über die Gefahr eines Krieges müssen überall Versammlun-
gen von Parteizellen vorausgehen, dort wo es solche gibt. In den Bauernversamm-
lungen muss die ganze Bedeutung unseres Bündnisses mit einem Räte-Deutschland
für die Hebung der Bauernwirtschaft und die Verbilligung der Produkte der städti-
schen Industrie sowie die reale Gefahr einer Rückkehr der gutsherrlichen Macht im
Falle einer Okkupation des Landes durch die Streitkräfte des polnischen Imperialis-
mus und des deutschen Faschismus unterstrichen werden. Dabei gilt es, Fakten und
Beispiele der Unterjochung ukrainischer und belorussischer Bauern durch polnische
Gutsherren auf den 1918–1920 eroberten Territorien zu Agitationszwecken zu nutzen.
[...]
In der bevorstehenden Agitations- und Propagandaarbeit müssen wir mit allen
Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, erreichen, dass nicht nur jeder Arbeiter und
jede Arbeiterin, sondern auch jeder Bauer und jede Bäuerin in unserer [Sowjet-]Union
verstehen kann, wie eng die Geschichte der Deutschen Revolution mit dem blutver-
wandten Interesse der werktätigen Massen der UdSSR verbunden ist. In unserer
Propaganda, besonders unter den Bauern, dürfen wir nicht nur die internationalisti-
schen Gefühle ansprechen.120 Wir müssen auch die ureigensten wirtschaftlichen und
118 Die Deutschland-Kampagne in der Sowjetunion hat tatsächlich so weit vom öffentlichen Raum
Besitz ergriffen, dass Heinrich Brandler, als er zu Geheimverhandlungen nach Moskau eintraf, dar-
über „zu Tode erschrocken“ gewesen sei, so die Erinnerungen Ruth Fischers (Ruth Fischer: Stalin und
der deutsche Kommunismus, I, Berlin, Dietz, 1990, S. 388–389).
119 In der Aufzählung folgen im Dokument die Punkte 3–12 mit weiteren konkreten Maßnahmen
wie Referaten durch die Gebietsfunktionäre, Agitation unter der Arbeiter- und Bauernjugend sowie
Vortrags- und Vorlesungszyklen. Zu organisatorischen Details der Kampagne siehe Albert: „German
October is Approaching“.
120 Dadurch, dass die Bolschewiki die Gefahr eines realen Krieges sahen, war es ihnen wichtig,
nicht nur ihre Anhänger, deren „internationalistische Gefühle“ sie als gegeben ansahen, für die
Deutschland-Kampagne zu mobilisieren, sondern sich auch im Kriegsfalle der Loyalität der partei-
Dok. 90: [Moskau], 9.10.1923 313
losen und v.a. bäuerlichen Bevölkerung sicher zu sein. Diesen Gedanken äußerte Sinowjew bereits
Ende September auf einer Versammlung lokaler Funktionäre: „Es geht nicht nur um internationa-
listische Gefühle. Wenn es um [diese] Gefühle ginge, dann würde selbstverständlich jeder Kommu-
nist seine Pflicht erfüllen. Aber wir reden nicht nur von den kommunistischen Massen, sondern von
den Massen des ganzen Landes [...].“ (Grigorij Sinowjew: Reč’ na sobranii členov i kandidatov RKP
Sokol’ničeskogo rajona. In: Kommunističeskaja revoljucija (1923), 17–18, S. 3–22, hier S. 21; vgl. Albert:
„German October is Approaching“, S. 114–117).
121 Das Problem der auf 30–200 Milliarden Dollar geschätzten, vom russischen Zarenreich ange-
häuften und 1918 von Sowjetrussland annullierten Auslandsschulden wurde nach 1991 wieder ak-
tuell. Forderungen seitens französischer Anteilseigner russischer Staatsanleihen aus der Zarenzeit
wurde in einem bilateralen Abkommen 1997 teilweise befriedigt.
122 Vor allem unter der enthusiastischen Jugend, aber auch in der Partei insgesamt war eine Ent-
täuschung über die 1921 eingeführte „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP, siehe Dok. 60) und die mit
ihre verbundene Teilrestauration privatwirtschaftlicher Verhältnisse weit verbreitet (siehe: Anne E.
Gorsuch: NEP Be Damned! Young Militants in the 1920s and the Culture of Civil War. In: Russian Re-
view 56 (1997), S. 563–580; zur NEP siehe: Helmut Altrichter: Staat und Revolution in Sowjetrussland.
1917–1922/23, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996 (Reihe Erträge der Forschung,
148). An diese Stimmungen appellierte das ZK mit der vorliegenden Passage (vgl. auch: Albert: „Ger-
man October is Approaching“, S. 117–118).
314 1918–1923
Momenten hervorgehen konnte, sind heute mehr denn je für die Partei und für die
entscheidenden Erfolge der proletarischen Revolution notwendig.123
9. Oktober 1923.
Sekretär des ZK der RKP(b)
V. Molotov
Dok. 91
Kritische Stellungnahme des Außenkommissars Čičerin zu
einen Brief Stalins an die KPD über die bevorstehende deutsche
Revolution
Moskau, 12.10.1923
An Gen. MOLOTOV.
Verehrter Genosse,
Das Radio von Nauen124 teilte am 10. Oktober mit, dass Stalin angeblich einen Brief
an die deutschen Kommunisten gerichtet habe mit der Aussage, dass der Triumph der
deutschen Revolution für das europäische und amerikanische Proletariat bedeuten-
der sein werde, als die Oktoberrevolution, da sie das Zentrum der Weltrevolution von
Moskau nach Berlin verlagern werde.
123 Im Zusammenhang mit der Industriekrise und dem Ausscheiden des todkranken Lenin aus der
politischen Entscheidungsfindung war der Zustand der Parteiführung im Jahre 1923 krisenhaft, be-
reits vor der Herauskristallisierung der Linken Opposition (siehe zuletzt: Clayton Black: Legitimacy,
Succession, and the Concentration of Industry. Trotsky and the Crises of 1923 Re-Examined. In: Rus-
sian History 27 (2000), no. 1–4, S. 397–416). Die Aussicht auf eine deutsche Revolution trug, so Pierre
Broué, zur zeitweisen Nivellierung dieser Gegensätze bei: „The differences which for months had
been poisoning the atmosphere in the Russian Party and the apathy which had been gaining ground
seemed to disappear in the exhilarating breeze of the newly-revived prospects of world revolution.“
(Pierre Broué: The German Revolution 1917–1923, Chicago, Haymarket Books, 2006, S. 759). Auch auf
regionaler Ebene konnten Parteifunktionäre die Naherwartung einer deutschen Revolution instru-
mentalisieren, um Dissens innerhalb ihrer Parteiorganisationen zu minimieren (siehe: Aleksandr
Reznik: Trockizm i Levaja Oppozicija v RKP(b) v 1923–1924 godu, Moskva, Svobodnoe marksistskoe
izdatel’stvo, 2010, S. 68).
124 Gemeint ist das Radioprogramm der Großfunkstelle Nauen, Brandenburg, der zunächst von Te-
lefunken und von 1918 bis 1932 von der Transradio AG betriebenen ältesten Sendeanlage der Welt.
Dok. 92: Berlin, 17.10.1923 315
Bitte teilen Sie mir mit, ob diese Mitteilung pure Erfindung ist oder sich dahinter
tatsächlich etwas verbirgt.125
Dok. 92
Persönlicher Brief eines Vertrauten Molotovs in Berlin (Ivan
Majskij?) über die Lage in Sachsen und die Szenarien für ein
künftiges Sowjetdeutschland
Berlin, 17.10.1923
Persönlich. Geheim.
Die deutsche Revolution kann zwei Wege einschlagen, und von ihnen werden
sowohl ihre ersten Erfolge und Misserfolge, als auch die Aufgaben Russlands abhän-
gen. Die erste, weitaus günstigere Möglichkeit besteht darin, dass es dem Proletariat
aufgrund der aktuellen Verschärfung der Klassenkonflikte gelingen wird, die Macht
in Berlin und in ganz Zentraldeutschland an sich zu nehmen. Dies bedeutet den Sturz
der Reichsregierung Stresemanns oder desjenigen, der ihn bis dahin auf seinem
Posten ablösen wird, und die Bildung einer gesamtdeutschen Arbeiterregierung nach
sowjetischem oder sächsischem Vorbild.127 In diesem Fall wird sich Bayern selbstver-
125 Ein entsprechender Brief Stalins an Thalheimer wurde in der Roten Fahne vom 10. Oktober 1923
abgedruckt (publiziert in: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 212). Hervorzuhe-
ben ist die seltsame Mutation Stalins, der nun die Sprache Sinowjews übernahm, während er bisher
jegliches offensives Vorgehen in Deutschland abgelehnt hatte (vgl. Dok. 81).
126 Am oberen linken Rand handschriftlich: „I. [?] Maj[skij?]“.
127 Mit dieser Taktik gab die Komintern ihre „prinzipielle Negation“ gegenüber der SPD teilweise auf.
In Sachsen regierte seit Frühjahr 1923 eine linke sozialdemokratische Regierung, bereits am 15.3.1923
316 1918–1923
ständlich abspalten, wenn sie es nicht vorher schon getan hat. Dasselbe passiert am
Rhein. In Ostpreußen entsteht wahrscheinlich eine weiße Vendée.128 Möglicherweise
wird selbiges in Schlesien passieren. Wenn sich in Ostpreußen und Schlesien keine
weißen Fronten bilden, so wird möglicherweise Polen, das Chaos in Deutschland aus-
nutzend, versuchen, Ostpreußen und Schlesien zu besetzen. Die Häfen, besonders die
an der Nordsee, werden sofort von den Engländern okkupiert. Somit wird Deutsch-
land in seinen Grenzen rigide beschnitten und blockiert. Die Arbeiterregierung wird
dennoch trotz allem das kompakte Hauptterritorium mit Zentrum Berlin besitzen,
und wird in der Lage sein, mit vollem Recht im Namen Deutschlands zu sprechen
und internationale Beziehungen zu führen. Dies wird ihr die Möglichkeit geben, sich
offiziell an die ihm freundschaftlich gesonnene Sowjetregierung zu wenden und um
materielle und militärische Hilfe zu bitten.
Die Lage Deutschlands wird viel schwerer sein als die Lage Russlands in den
Jahren 1917–1918. In Russland gab es ausreichende Lebensmittelressourcen. Deutsch-
land muss im großen Maße Lebensmittel einführen. Mit dem Wegfall Ostpreußens,
Bayerns und des Nordens jedoch wird es fast vollständig ohne Getreide bleiben. In
Russland hatten wir auf Kosten des Dorfes eine verhältnismäßig kleine Zahl an städ-
tischer werktätiger Bevölkerung zu ernähren. In Deutschland, vor allem in dem Teil,
der in den Händen der Arbeiterregierung verbleiben wird, werden Arbeiter und Stadt-
bewohner einen riesigen Anteil der werktätigen Bevölkerung stellen, die nur von dem
Brot leben können, welches sie von der Regierung erhalten werden. Die deutsche
Industrie wird von importierten Rohstoffen, in letzter Zeit auch von importiertem
Brennstoff [toplivo], angetrieben, und arbeitet für den ausländischen Markt. Mit dem
Anfang der Blockade wird es weder Rohstoffe, noch Brennstoffe, noch einen Absatz
fertiger Waren geben. Deswegen wird der Staat die gesamte werktätige Bevölkerung,
die mit Ausnahme einer kleinen Anzahl von Arbeitern in der Rüstungsindustrie
arbeitslos wird, ernähren müssen. Russland wird immense Kräfte und Mittel zur Hilfe
für die Arbeiterregierung Deutschlands aufwenden müssen. Diese Hilfe jedoch, die
wurde zwischen der KPD und einem Siebenerausschuss der SPD ein Einheitsfrontabkommen abge-
schlossen, das u. a. die Bildung gemeinsamer „Proletarischer Hundertschaften“ vorsah. SPD und KPD
zusammen bildeten am 10.10.1923 (am 16.10.1923) in Thüringen eine „Regierung der republikanischen
und proletarischen Verteidigung“. In Sachsen erhielt die KPD das Wirtschafts- und das Finanzmini-
sterium, der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler wurde Leiter der Staatskanzlei. Gegen Reichsgewalt
und Bayern sollte ein „mitteldeutscher Roter Block“ gebildet werden, oberstes Ziel war der Kampf
gegen den Faschismus und die Konterrevolution. Zugleich erwartete man einen entscheidenden Im-
puls für die Bewaffnung der Arbeiter.
128 Während der Französischen Revolution war die am Atlantik gelegene Provinz Vendée Ausgangs-
punkt für königstreue, bäuerlich-konterrevolutionäre Gegenangriffe. Der allgemeine Aufstand, der
nach der Ermordung Ludwig XVI. im Januar 1793 ausbrach, wurde von den republikanischen Trup-
pen niedergeschlagen. Aleksandr Solženicyn stellte die „Vendéens“ als historisches Vorbild für die
Freiheitskämpfer gegen den Bolschewismus heraus und weihte 1993 das „memorial de la Vendée“
in Les Lucs-sur-Boulogne ein (http://www.vendee-guide.co.uk/Memorial-de-la-Vendee-Alexander-
Solzhenitsyn.htm).
Dok. 92: Berlin, 17.10.1923 317
ihrer Erfahrung den unerfahrenen deutschen Genossen helfen können. Das massen-
hafte Auftauchen solcher Funktionäre [rabotniki] vor der Machtübernahme durch die
Arbeiterklasse [k rabočim] wird, wenn man die erstaunliche Geschwätzigkeit der Deut-
schen und ihre Unfähigkeit zur Konspiration sowie die Unangepasstheit der angereis-
ten Genossen an die deutschen Verhältnisse bedenkt, lediglich zu zahlreichen und
vorzeitigen Misserfolgen führen, die die sowjetische Regierung formal kompromittie-
ren werden, vielleicht sogar einen Abbruch der [diplomatischen] Beziehungen bewir-
ken, sowie der deutschen Bourgeoisie und den Versöhnlern [soglašateli] einen Anlass
dafür bieten, lautstark darüber zu klagen, dass die Revolution in Deutschland durch
fremde russische Hände und mit russischem Geld vorangetrieben werde.133
Die Sowjetregierung darf sich in keinem Fall auf eine überflüssige, unvorsichtige
Kompromittierung einlassen.
Mit den obigen Ausführungen ist auch die Frage über den Sitz des ZK der deut-
schen Partei verbunden. Soll sein zentraler Kern sich in Sachsen oder in Berlin befin-
den? Ich plädiere vehement für Berlin: Wenn das ZK in Sachsen eingeschlossen sein
Gorev), sein Stellvertreter der ehemalige Militärführer der KPD und Mitarbeiter der INO-GPU Otto
Steinfest (Ps. Fuchs). In der Literatur genannte Zahlen der nach Deutschland entsandten russischen
Militärspezialisten dürften überhöht sein. Bis Ende Oktober trafen nur sieben der von Brandler drin-
gend angeforderten 25(?) „Milspez“ ein. Im August war im Beschluss des russischen Politbüros noch
von einer Abordnung der „50 besten Kampfleiter“ die Rede, bis Anfang Dezember kamen jedoch nur
13 an. Noch am 4.12.1923 forderte Roze dringend weitere Militärspezialisten an (nebst einer Bestäti-
gung des Etats). Die Dokumente belegen die Anwesenheit hoher und mittlerer Komintern-, RKP(b)-
und OGPU-Vertreter in Deutschland (neben Radek waren dies, Unšlicht, Pjatakov, Lozovskij, Šackin,
Šmidt, sowie Voija Vujović als Instrukteur im Ruhrgebiet), sowie die aktive Rolle von Botschafter Kres
tinskij. Zu den bisher identifizierten russischen bzw. den aus Russland entsandten Militärspezialisten
gehörten Stein (d.i. Manfred Stern), Georg (d.i. Aleksej Steckij), Otto Steinbrück (bereits im Sommer
1923 in Deutschland), Pavel Vompe (wird von Unšlicht angefordert), Krivickij, Krause, Kangelari,
Štrodach, Rval und Kapitany. Für die Militäraufklärung waren Ludwig (d.i. N. Poreckij), Firin-Pubko,
Oskar, S. Zbikovskij (Ps. Alois) und Neuberg (d.i. wohl Gailis, in der Literatur finden sich ebenso Neu-
mann und Kippenberger) in Deutschland, sie werden als Nachfolger Rozes nach seiner Verhaftung
1924 genannt. Maßgeblichen Anteil an der M-Arbeit in Deutschland hatten Tuure Lehén (Ps. Alfred)
und Bronislaw Bortnowski (Ps. Bronkowski) (siehe Bayerlein: Unser Apparat).
133 Der Historiker Grant Adibekov (Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 207)
eruierte folgende Daten zur Finanzierung der KPD in diesem Zeitraum: Am 9.7.1923 wurde Wilhelm
Pieck und Georg Schumann brieflich mitgeteilt, dass der KPD für das 3. Quartal 1923 44.594 US-Dollar
zugewiesen werde (RGASPI, 495/19/502, 59). Als man Kurs auf die Vorbereitung eines bewaffneten
Aufstandes genommen hatte, wurde ein Sonderfonds in Höhe von 250.000 Dollar eingerichtet, der
später um zusätzliche 100.000 Dollar aufgestockt wurde; diese Zusatzsumme wurde wenig später
erneut aufgestockt. Pieck schrieb am 14.11.1923 an das EKKI, es sei völlig unklar, ob der Sonderfonds
für alle Tätigkeitsbereiche der KPD verwendet werden dürfe, oder nur für die Anschaffung von Waffen
(RGASPI, 495/19/504, 1–2). Nach Angaben vom 21.11.1923 wurden der KPD über einen Sonderfonds
250.000 plus 195.700 Dollar zugeteilt, insgesamt also 445.700 Dollar. Davon wurden 333.530 Dollar
ausgegeben, übrig blieben 112.170 (RGASPI, 495/19/504, 5). Gleichzeitig wurden auf Vorschlag Trotz-
kis, explizit auf die anstehende deutsche Revolution bezogen, die Subsidien an die KP Frankreichs
erhöht (RGASPI, 495/82/9a, 25v.).
320 1918–1923
sollte, so verlöre der restliche Teil Deutschlands eine kompetente politische Führung.
Außerdem würde das ZK, wenn es in Sachsen säße, von der lokalen sächsischen
Atmosphäre durchtränkt werden und einen provinziellen sächsischen Standpunkt
einnehmen. Es würde leichtfertiger und vorzeitiger den Kampf in Sachsen sanktionie-
ren, als es ein ZK tun würde, das sich in Berlin befindet oder zumindest die Interessen
Berlins und die Stimmungen Deutschlands als Ganzes vertritt. Der Hauptkern des ZK
muss sich in Berlin befinden, in Sachsen hingegen muss ein Reservebüro des ZK vor-
handen sein, welches anstelle des ZK in Aktion tritt, wenn dieses in Berlin scheitert,
oder für den Fall, dass es gewaltsam von Berlin getrennt wird, selbstständig ohne
Anweisungen des ZK handelt.
Dies sind meine ersten Überlegungen. Ich werde versuchen, in einigen Tagen
erneut zu schreiben.
Mit Genossengruß:
Am 18.10.1923 rügte das Politbüro des ZK der KP Russlands die sowjetische Handelsvertretung in
Deutschland für ihren mangelnden Einsatz in Sachen Brotlieferungen an die deutsche Bevölkerung.
Die Operation „Brot für Deutschland“ sollte ausgeweitet und durch Hinzuziehung eines weiteren Per-
sonenkreises verstärkt werden; involviert wurden u.a. Unšlicht sowie ein spezieller KPD-Vertreter.134
Die Verstärkung der Aktivitäten war anscheinend durch eine Beschwerde Brandlers gegen Stomon-
jakov vom 14.10.1923 bedingt. Stomonjakov wehrte sich am 17.10.1923 gegen die Vorwürfe.135 Nach
dem Scheitern des deutschen Oktober wurde der Beschluss am 1.11.1923 revidiert.136
Desweiteren setzte das Politbüro des ZK der KP Russlands am 18.10.1923 Sergej Aleksandrovskij als
sowjetischen Konsul in Leipzig ein.137
134 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 21–22. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 207–209.
135 RGASPI, Moskau, 326/2/21, 39–42.
136 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 23.
137 RGASPI, Moskau, 17/3/388, 1.
Dok. 93: Berlin, 18.10.1923 321
Dok. 93
Bericht der MP-Abteilung („Abteilung Bibliothek“) der KPD
(„Robert“) über den Stand der militärpolitischen Vorbereitungen
in Deutschland.
Berlin, 18.10.1923
Bericht
über die Arbeit der Abteilung „Bibliothek“ der Zentrale der K.P.D.140 bis 15.12.23.141
138 Vermutlich für die illegale Kommission des EKKI (siehe Dok. 79).
139 Seit Oktober 1923 wurde in Berlin unter der Leitung von Karl Retzlaw (Ps. Karl Friedberg) die
militärpolitische Zeitschrift der KPD Vom Bürgerkrieg, später Oktober, herausgegeben. Neben mehr
oder weniger deutlichen taktischen Anleitungen für den Bürgerkriegsfall enthielt die Zeitschrift hi-
storische bzw. militärpolitische Darstellungen, vor allem der einschlägigen russischen Erfahrungen.
140 Die hier als „Bibliothek“ firmierende Abteilung für ideologische militärpolitische Vorbereitung
wird bisher in der Spezialliteratur nicht erwähnt. Karl Retzlaw berichtete, dass auf Drängen von
Brandler und Roze (Ps. Skoblevskij) einerseits ein neuer Redakteur (ab Nr. 5) die Zeitschrift Vom Bür-
gerkrieg in schnellerer Folge herausbringen sollte, die M-P „abgezweigt und in Abteilung Zersetzung
(Z) umbenannt wurde, die Heinz Neumann übernahm“ (Retzlaw: Spartakus, S. 274). Die Zer-Abteilung
wird bei Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst, S. 82 erwähnt.
141 Im Begleitbrief handschriftliche Vermerke Sinowjews: „An Mickiewicz-Kapsukas“ und „erhal-
ten“ (RGASPI 495/25/1365, 34). Dem Bericht wurde eine halbseitige russische Zusammenfassung hin-
zugefügt und als Begleitbrief an die illegale Kommission des EKKI gesandt (RGASPI 425/25/1365, 11).
322 1918–1923
Ich übernahm die Abteilung nach meiner Rückkehr aus Moskau nach 14 tägiger
Orientierung in Berlin, Hamburg und Leipzig, gleichzeitig mit der von mir am 8.8.23.
dem Zentralausschuss vorgelegten Denkschrift. (Siehe Beilage Nr. 1).142
Ich ging mit enger Unterstützung des Genossen Karl [Radek] systematisch daran,
die von mir am Schluss dieser Denkschrift vorgeschlagenen 5 Punkte sofort selbst
durchzuführen.
Zu Punkt 2.
Auf Betreiben des Genossen O[tto] St[einfest] und Robert144 und mit enger Unterstüt-
zung des Genossen Karl [Radek] wurden vom März 1923 bis September 23 eine Anzahl
Artikel, die zum Teil von der Jstpart.145 herausgegebenen Broschüren entnommen
wurden, in die Parteipresse gebracht. Wir beabsichtigten damit eine systematische,
ideologische Vorbereitungskampagne der Partei auf den Bürgerkrieg einzuleiten und
hielten uns dabei an die bereits vom Genossen O[tto] St[einfest] und Robert am 15.
November 1922 vorgelegten Arbeitsthesen (Beilage 2).146
Um der Arbeit, die aus Mangel an Zeit und Unterstützung in Moskau nur neben-
bei von uns geleistet werden konnte, eine ihrer Wichtigkeit entsprechende Grundlage
zu geben, versuchten wir bereits auf dem IV. Kongress alles, um den vom Genossen
O[tto] St[einfest] und Robert dem Pol-Büro der K.P.D. im Mai 1923 und einem Vertre-
ter der Komintern am 15. November 1922 vorgelegten Entwurf II (Beilage 3),147 der
ein Arbeitsprogramm für eine bei der Komintern zu bildende illegale Kommission
enthielt, durchzudrücken. Dieser Versuch misslang unserer Kenntnis nach bis jetzt
und alles was erreicht wurde, war der Abdruck von 11 Artikeln in der Parteipresse, im
Zeitraum von März bis September 1923. Auf unsere Anregung hin wurden ausserdem
in der ersten Diskussionsbeilage der Roten Fahne ab eine Spalte für das Thema „Vom
Bürgerkriege“ freigehalten, die für theoretische Diskussionen über militär-politische
Probleme des revolutionären Krieges gedacht war und die Aufmerksamkeit und
Mitarbeit der Parteimitglieder auf diese Fragen lenken sollte. Es gelang dadurch, 5
Diskussionsartikel zu bringen, dann schlief der Gedanke aus Mangel an Beteiligung
und Unterstützung von Seiten der Partei wieder ein. Zur Durchführung von Punkt
2 wurde ausserdem auf Veranlassung des Genossen Robert seit 8.8.23 mehrmals im
„Pressedienst“, um sofortigen Abdruck aller in der „Roten Fahne“ mit dieser Tendenz
erscheinenden Artikel und Diskussionen, ersucht. Das betreffende Material wurde
jedoch nur von ca. 50 % der Provinzzeitungen gebracht. Auch ein Rundschreiben
in dieser Frage an die Parteiredaktionen im Reich hatte weiter keinen Erfolg. Artikel
aus der Provinz liefen nicht ein. Ab 15. September 1923 wurde zur Erleichterung den
militärischen Leitern von 5 Oberbezirken und 10 Bezirken ein Materialnachweis zuge-
stellt, der das notwendige Material zur ideologischen Vorbereitung der Partei auf den
Bürgerkrieg enthält. (Siehe Beilage 4)148
Zu Punkt 3.
Dieser Punkt wurde, soweit mir bekannt ist, von Seiten der politischen Zentrallei-
tung nicht wesentlich gefördert. Ohne unsere Arbeit hätten wir bis heute nicht das
geringste für die Vorbereitungsphase brauchbare Material in Händen.
Der Genosse O[tto] St[einfest] wurde Mitte September hierherberufen, seitdem ist
die Materialsendung eingestellt.
Zu Punkt 4.
Auch hier sind mir positive Schritte der politischen Zentralleitung nicht bekannt
geworden.
Zu Punkt 5.
Es wurden auf Veranlassung des Genossen Robert Ende August und am 15. Oktober
23 in dieser Frage Rundschreiben an die Bezirke gesandt, und ausserdem mit einer
Reihe in Frage kommender Genossen Fühlung genommen. Bis heute trafen aus etwa
4 Bezirken ca. 11 Berichte ein, von welchen bisher nur drei zum Abdruck brauchbar
sind. [...]
a) Tafeln: 1 Pistole 08
1 Mauserpistole
1 Maschinenpistole
1 Karabiner 98
1 Stielhandgranate Bz.
1 Pionierkampfmittel
1 M.G. 08 (oder M.G. 08/15)
b) Karten: 1 Dislokationskarte des Reichsheeres 1:1 000 000
1 Uebersichtskarte v. Deutschland 1:1 000 000
1 Netzkarte v. Deutschland 1:1 000 000
c) Broschüren: Bergmanns [Bergmann] Smilga Trotzki: Die Rote Armee
Antonow Owsejenko: Der Aufbau der roten Armee in der Revolution.
Cussew [Gussew]: Die Lehren des Bürgerkrieges
Dok. 93: Berlin, 18.10.1923 325
149 Die hier aufgeführten Broschüren wurden in den Jahren 1920–1923 veröffentlicht, siehe: H. Berg-
mann, J. Smilga, Leo Trotzki: Die russische sozialistische Rote Armee, Zürich, Internationaler Verlag,
1920; Vladimir A. Antonov-Ovseenko: Der Aufbau der Roten Armee in der Revolution, Hamburg, C.
Hoym, 1923; Sergej I. Gusev: Die Lehren des Bürgerkrieges, 2. Aufl. Hamburg, 1923; Paul Frölich: Die
Bayrische Räte-Republik. Tatsachen und Kritik, 2. Aufl., erweitert durch einen Anhang: Dekrete, Auf-
rufe, Erklärungen, Leipzig, Franke, 1920; Heinrich Brandler: Die Lehren des Kapp-Putsches, Leipzig,
Franke, 1920; Gerhard Colm: Beitrag zur Geschichte und Soziologie des Ruhraufstandes vom März-
April 1920, Essen, Baedeker, 1921; Otto Kilian: Die Enthüllungen zu den Märzkämpfen, Halle, Produk-
tiv-Genossenschaft f. d. Bez. Halle-Merseburg, 1922; Otto W. Kuusinen: Die Revolution in Finnland,
Hamburg, Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921; N. Nikitin, Al. Malyschkin, A. Sserafimo-
witsch: Russische Erzählungen, Hamburg, C. Hoym Nachf., 1923.
326 1918–1923
Die Arbeit der Abteilung Ausbildung beschränkt sich, solange bis sie praktisch
akut wird, auf laufende theoretische Vorarbeiten.
Robert.
Abteilung Organisation.
„Bibliothek“
[Sign:] R.
Dok. 94
Der Plan zum Aufstand in Berlin, vorgelegt von Otto Steinfest (Ps.
„Fuchs“)
[Berlin], 20.10.1923
Bericht – Berlin.
Noch im letzten Bericht, den wir gaben haben wir bis jetzt zu melden, dass unsere
Anordnung auf Verdreifachung der Partei – O.D. und der politischen bezw. Betriebs-
hundertschaften folgendes zu berichten:
Der Partei – O.D. hat sich bis jetzt um ca. 100 % erhöht, d. h. es bestehen insge-
samt 86 Hundertschaften mit insgesamt 8 000 Genossen. Wir haben in der Berichts-
zeit diese Genossen gut durchgearbeitet und vollständig auf den Kampf eingestellt.
Die Umformierung zu Achtergruppen ist vollzogen. Jeder Zug hat in seinem Bezirk
bestimmte Aufgaben übertragen bekommen, welche wir in persönlichen Instrukti-
onsstunden mit den operativen Leitern der Bezirke festgelegt haben. Wir sind dabei
ausgegangen von den Kräfteverhältnissen unseres O. D. mit Einrechnung, der im
Bezirk befindlichen Betriebshundertschaften und der gleichzeitigen Feststellung der
gegnerischen Kräfte und ihrer Stützpunkte. Die Stimmung, sowie der Geist unserer
Genossen ist ein äusserst guter und kampffreudiger, sodass wir zeitweise schon zum
bremsen genötigt waren. Die Bewaffnung beginnt jetzt ebenfalls grosse Fortschritte
zu machen, das tatsächliche Ergebnis der Arbeit dieses Resorts besteht in der Heran-
schaffung von 85 Gewehren, 30 Parabellons.150 Ausserdem sind unsere Genossen, in
einem Bezirk bereits darangegangen sich selbst primitive Handgranaten herzustellen.
Sie verwenden dazu Konservenbüchsen. Als Sprengstoff benützen sie Natriumnitrit
und Phosphor mit Wasser zusammen. Die auf diese Art hergestellten Granaten sind
geprobt worden und ihre Wirkung ist eine grössere als die wirklichen Stielhandgra-
naten. Von diesen sind bis jetzt ca. 120 Stück hergestellt worden. Wir sind jetzt dazu
150 Parabellons – vermutlich die Parabellum-Pistole, auch „Luger“, die seit 1900 hergestellt wurde.
Die Zahlen wurden handschriftlich umkringelt.
Dok. 94: [Berlin], 20.10.1923 327
propagandistische Arbeit für den Hundertschaftsgedanken. Man kann aber auch hier
an einigen Beispielen feststellen, dass all dieses von grossem Erfolg begleitet ist. So
ist z. B. die Zahl der Hundertschaften im Betriebe Borsig, Tegel, gewachsen von 2 auf
5, Kabelwerk Oberschöneweide von 3 auf 4. Im übrigen kann, wie bereits oben gesagt,
darüber noch nicht zusammenfassend berichtet werden.
Die Lausitz hat ebenfalls ein gutes Fortschreiten der Arbeit gemeldet. Nur wirkt
hier sehr hemmend, dass einige Funktionäre des O. D. und der Hundertschaften ver-
haftet worden sind, z. B. in Kottbus, andere hinter denen Haftbefehle erlassen worden
sind, flüchtig werden mussten. Trotzdem ist die Zahl der Betriebshundertschaften
gewachsen, obwohl auch hier aus obigem Grunde genaues Zahlenmaterial bis zur
Stunde fehlt.
Vom O. D. der Partei ist die Umformierung durchgeführt worden und ist eine Ver-
doppelung des Mannschaftsbestandes bis jetzt verzeichnen. Mit den Führern ist ein
Operationsplan für die Lausitz durchgesprochen worden. Stimmung und Geist beider
Arten ist ebenfalls wie in Berlin als sehr gut zu bezeichnen. Die Bewaffnungsfrage hat
auch hier einige, wenn auch nur kleine Fortschritte gemacht. Ebenfalls haben sämtli-
che Ressorts des Siebenerkopfes ihre Arbeit aufgenommen.
Brandenburg. Auch hier hat der Verfolgungsfeldzug der Polizei in die Reihen der
Funktionäre des O. D. ziemliche Lücken gerissen. So erfolgten z. B. Verhaftungen in
Landsberg, Küstrin, Schwiebus152 usw. Haftbefehle liegen ebenfalls ziemlich zahl-
reich vor, sodass 12 der besten Funktionäre flüchtig werden mussten. Dieselben leiten
aber die Arbeiten in der Provinz weiter. Auch hier ist die Umformierung des O. D.
vorgenommen worden. Es sind bis jetzt ca. 1.800 Genossen erfasst, die doch eben-
falls wie in der Lausitz in viele kleine Einheiten, bedingt durch Ortsgruppen, sich
gliedern. In einigen Orten, wo die SPD eine besonders gute Einstellung hat, wie z. B.
Rheinsberg, Alt-Ruppin, Neu-Ruppin, hat man mit ihr einen gemeinsamen Ordner-
dienst gebildet. Ebenfalls Aktionsausschüsse. Sogar Siebenerköpfe bestehen dort, in
denen die SPD die Hälfte der Mandate hat. Unsere Genossen erklären dazu, dass sie
in diesen Fällen für die ebenbürtige Qualität der SPD-Leute garantieren. Auch hier
haben wir, wie mit den Führern der Lausitz, ebenfalls einen genauen Operationsplan
festgelegt, sodass nach dieser Richtung hin unsere Genossen genau informiert sind,
in welcher Weise sie den Kampf durchzuführen haben. Die Bewaffnungsaktion zeitigt
auch hier gute Fortschritte, nur äussert sie sich mehr in der Anschaffung von einzel-
nen Stücken. Trotzdem werden auch in einigen Orten grössere Mengen beschafft, z.
B. Nowawes jetzt 25 Gewehre. Auch hier kann über Kampfgeist und Willen berichtet
werden, dass derselbe sehr gut ist, sogar so, dass wir in einzelnen Ortsgruppen Dro-
hungen anwenden mussten, um sie vom vorzeitigen Losschlagen zurückzuhalten,153
z.B. Fürstenwalde, Brandenburg a/H. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass
wir den Bezirk Berlin-Brandenburg-Lausitz für gerüstet halten, die ihm zugewiesenen
Kampf im westlichen Viertel ein. Die übrigen Kräfte sammeln sich in den Wohnbezir-
ken. Durchorganisierung, Auffüllung, Bewaffnung, Zusammenfassung zu regelrech-
ten militärischen Einheiten, Kasernierung, Einkleidung.
4. Phase. Verteidigung Berlins. Annahme, dass Gegner mit seiner Hauptkraft Berlin
zerniert. Schon bei erster Phase werden die festgelegten Verteidigungslinien der
Vorortbezirke mit der ersten Aufgabe der Sperrung der Zugangsstrassen mit schwa-
chen Kräften besetzt. Verstärkung des Nachrichten- und Patrouillendienstes ins
Vorgelände. Nach Beendigung des Kampfes im Innern der Stadt werden mit schwa-
chen Kräften die wichtigsten Verteidigungspositionen besetzt. Jeder Vorortbezirk
innerhalb der Verteidigungslinie bildet einen Verteidigungsabschnitt, der einen Teil
seiner im Bezirk aufgestellten Kräfte als Abschnittsreserve (aller Waffengattungen)
zur Verfügung hält. Die übrigen bewaffneten Verbände, regelrecht zu militärischen
Formationen zusammengefasst, bilden die Hauptreserve und werden auf verschiede-
nen zentralen und taktisch günstig gelegenen Punkten aufgestellt. Schwache Bezirke
bekommen von der Hauptreserve Kräfte zudatiert.
Kleine Kommandos der Verbände führen in den Bezirken die Aushebung und
Mobilisierung durch (politische und militärische instruktive Bearbeitung (Einklei-
dung, Kasernierung). Die Verteidigungsabschnitte führen mit schwächeren Kräften
forsierte Rekognoszierungen zwecks Fühlungnahme mit dem ausserhalb stehenden
Gegner durch.
Nach Feststellung der gegnerischen Hauptkräfte durch Einleitung von Schein-
angriffen, Gegner zum Kampf zwingen und den Aufmarsch diktieren. Sodann mit
der Hauptkraft der Hauptreserve Berlins durch Flanken- und Rückenoperation den
Gegner entscheidend schlagen.
III. Resumée.
Das Wichtigste beim Entschluss des bewaffneten Aufstandes ist: durch rasche Auf-
einanderfolge dieser offensiven Phasen die Initiative endgültig in unserer Hand zu
behalten und den Gegner zu überrennen. Vorbedingung ist die rasche Durchführung
der Bewaffnung Berlins.155
154 Der Finowkanal verband als erster künstlicher Wasserweg in Deutschland die Stromnetze von
Havel und Oder.
155 Zur „raschen Durchführung der Bewaffnung Berlins“ vgl. die vernichtende Kritik Radeks an der
militärischen und organisatorischen Vorbereitung, Dok. 96.
Dok. 95: Moskau, 22.10.1923 331
Dok. 95
Geheime telegrafische Instruktionen des ZK der KP Russlands an
die nationalen ZK’s und die Gebiets- und Bezirkskomitees zum
Jahrestag der Oktoberrevolution
Moskau, 22.10.1923
Geheim
Die Oktoberrevolution in Russland ist der erste Schlag gegen den Kapitalismus. Die
siegreiche proletarische Revolution in Deutschland ist ein noch mächtigerer Schlag
gegen diesen. Der Sieg des Faschismus in Deutschland bedroht hingegen, abgesehen
von anderen Folgen, die heute so notwendige friedliche Entwicklung der Sowjetre-
publiken. Die Arbeiter aller Länder müssen dem deutschen Proletariat helfen. Die
Union der Sowjetrepubliken ist ein treuer Freund der proletarischen Revolution in
Deutschland. Es ist notwendig, alle Seiten des inneren Aufbaus zu verstärken.157
Die Union der Sowjetrepubliken, nationale Politik der Sowjetmacht, Zusammen-
schluss von Stadt und Land, Wiederherstellung der Wirtschaft, Stärkung der UdSSR,
Aufmerksamkeit gegenüber der Sowjetarmee. Gebt kein Geld aus für äußerliche
Effekte, für Schmuck. Der 6. Jahrestag ist ein Kampftag. Sorgt für Organisiertheit,
Wirksamkeit und erleichtert die Bedingungen für die Teilnahme an der Demonstra-
tion.158
N60.159
Dok. 96
Brief Radeks und Jurij Pjatakovs zur Lage in Berlin und der
Untätigkeit der KPD vor dem Aufstand
[Berlin], 29.10.1923
Ich denke, dass ich bereits in der Lage bin, eine allgemeine Lageeinschätzung zu
geben, und werde versuchen, dies in der allerkonkretesten Weise zu tun. [...]
Die Partei durchlebt nun eine allerschärfste innere Krise. Die Gründe, wie Arvid
[d.i. Jurij Pjatakov] und ich auf den Sitzungen des ZK und der Berliner Organisation
festgestellt haben, liegen im Folgenden:
Die Vertretung der Zentrale präsentierte in Moskau ein völlig irreales Bild über die
Vorbereitung der Partei. Alles, was Brandler über den Stand der Bewaffnung erzählt
hatte, ist blanker Unsinn.161 Wenn wir gewusst hätten, dass in der Partei nichts für
den Aufstand vorbereitet ist, hätten wir hundertmal mehr über die Vorbereitung
gesprochen statt über den Termin. Wir alle haben den Termin als ein Mittel zur For-
cierung der Vorbereitung begriffen. Allerdings wurden die Informationen über unsere
Entscheidungen von Eberlein, dem leichtfertigsten Mitglied des ZK, überliefert, der
auf der Berliner Parteikonferenz erklärte, die Partei werde in den nächsten Tagen
zum Angriff übergehen, sie werde in die sächsische Regierung eintreten, um General
Miller [d.i. Müller] zu verhaften, und wenn die Zentralregierung dies mit einem
Feldzug gegen Sachsen beantworten würde, so würden wir unmittelbar mit dem Auf-
stand antworten. In demselben Geiste arbeitete Kleine [d.i. Abram Gural’skij], der den
Apparat zur Aktivierung der Hundertschaften in seinen Händen hatte. Ernsthafte Vor-
bereitungen gab es jedoch nicht und konnte es auch nicht geben. Nicht, weil es keine
Zeit gegeben hätte, sondern weil die beiden obengenannten Genossen und die Linke
den Sinn technischer Vorbereitungen nicht verstehen.
das Ausbleiben des „Deutschen Oktober“ deutlich abgezeichnet hatte, forderte ein weiteres Zirkular
des ZK die regionalen Organisationen kommentarlos auf, in der Sowjet-Kampagne das „nationale
Moment im Aufbau der UdSSR“ zu betonen (ibid., Bl. 70). Die Partei sah sich nicht in der Lage, das
Scheitern des „Deutschen Oktober“, das unter den durch die Kampagne aufgewühlten Enthusiasten
zu Frustration, Parteiaustritten und in einzelnen Fällen sogar zu Selbstmorden führte, öffentlich zu
diskutieren. Die Debatten um die Linke Opposition verstärkten die Krisenstimmung nur noch mehr.
Lediglich der Tod Lenins Ende Januar 1924 konnte die negativen Stimmungen kanalisieren (siehe:
Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 367f. u.a.; Albert: „German October is Ap-
proaching“, S. 127–133).
161 Was den „blanken Unsinn“ angeht, lässt der Bericht von Steinfest über Berlin vom 20.10.1923
(siehe Dok. 94) vermuten, dass Brandler falsch informiert wurde.
Dok. 96: [Berlin], 29.10.1923 333
Sie führen eine Politik „aufs Geratewohl“ und beschönigen dies mit der Feststel-
lung, Waffen seien nicht zu kaufen, sondern im Kampf zu erobern. In hysterischer
Erwartung dieses Kampfes hat die Partei für eine Woche jegliche politische Vorberei-
tung verworfen: es gibt weder eine Eisenbahnabteilung, noch eine für Agitierung von
Heer und Polizei. Das illegale Presseorgan, das von kleinen Jungs geleitet wird und
eine plärrende Agitation führt, geht nur in einer winzigen Auflage weg. Zwei Wochen
verbrachte die Partei so in hysterischer Erwartung eines Konfliktes um Sachsen. In
Sachsen sind wir die Dummen geblieben. Die Regierung stellte keine Kraft dar, sie
konnte niemanden mobilisieren. Sie nahm den Kampf nicht an.
Am Sonntag den 21. X. fand die entscheidende Chemnitzer Konferenz162 statt.
Am Vorabend waren sich die Unsrigen sicher, dass die Konferenz einen General-
streik beschließt, und verschickten Kuriere mit der Direktive: am Montag marschiert
Sachsen auf, am Dienstag Kiel und Mecklenburg, am Mittwoch Hamburg. Es wurde
der Befehl erteilt, mit dem Generalstreik zu beginnen und zum bewaffneten Kampf
überzugehen.
Am Sonntag lehnten die sächsischen Fabrikkomitees eine Aktion ab, Hamburg
jedoch, ohne Waffen zu besitzen, entschied, diese zu erobern, und stürmte, nicht
ahnend, dass Sachsen nicht in Aktion treten wird, in der Nacht von Montag auf Diens-
tag los, um die Waffenlager der Polizei einzunehmen.163 Die Bezirksleiter wachten am
Morgen von den Gewehrsalven auf. Kein einziges Flugblatt erklärte den Arbeitern,
was Sache ist. In den Vororten kämpften 400 Arbeiter auf heroische Weise, in der
Stadt war von dem nichts zu merken.
Am Dienstagabend entschloss sich das ZK, das die Partei an den Rand des
Abgrunds gebracht hatte, alles abzublasen, das Zirkular jedoch, das Brandler in der
Nacht von Dienstag auf Mittwoch verfasst hatte und das die Linie der Partei ziemlich
grob interpretierte, war am Samstag noch nicht in den Händen der Bezirksorgane der
Partei, die in dem, was geschehen war, Verrat sahen. Nicht nur in Berlin kam eine
mächtige Stimmung gegen das ZK auf. Hinzu kommt das völlige Fehlen einer Verbin-
dung des ZK mit den Regionen, das Fehlen konspirativer Wohnungen zur Arbeit des
ZK sowie eine völlig desorganisierte Führungsriege.
Zunächst mussten Arvid [d.i. Jurij Pjatakov] und ich uns orientieren, einrichten,
Verbindungen herstellen. Wir hatten das Gefühl, in einem Sumpf zu stecken. Es gab
keinen Punkt, auf den man sich stützen konnte. Samstag der 27.X. und Sonntag der
28.X. waren, zumindest in der Führung, Tage des Umbruchs.
162 Nach der Entsendung der Reichswehr nach Sachsen und der Absetzung der Landesregierung
scheiterte der Versuch, auf einer Betriebs- und Arbeiterkonferenz in Chemnitz am 21. Oktober einen
Generalstreik auszurufen. Brandler ließ daraufhin den geplanten Aufstand absagen.
163 Zur zeitgenössischen kritischen Sicht des „Hamburger Aufstands“ als eine Art Miniaturputsch
siehe den hier abgedruckten Zeitzeugenbericht des sowjetischen Konsuls in Hamburg, Grigorij
Šklovskij (Ps. „Babuškin“), Dok. 96a.
334 1918–1923
Samstag nacht hatten wir ein Treffen mit fünf Vertretern der Berliner Organisa-
tion. Wir erklärten ihnen, dass die politische und organisatorische Lage der Partei ein
Zurückhalten des Aufstandes erforderte, der mit einer völligen Vernichtung der Partei
enden würde. [Wie erklärten auch,] dass wir die volle Verantwortung für diese Ent-
scheidung übernehmen, und dass jeder, der gegen das ZK hetzen sollte, anstatt tag-
täglich die Vorbereitung der Partei auf die in nächster Zeit unumgänglichen Kämpfe
voranzubringen, aus der Partei ausgeschlossen wird, unabhängig davon wer es sein
mag. Sie verlangten den Rücktritt Brandlers aus dem ZK [und] die Klärung der Angele-
genheit Maslows innerhalb von 2 Wochen,164 denn er sei der wahre Führer der Partei.
Wir gaben ihnen eine entsprechende Abfuhr und erklärten, dass wir nicht garantie-
ren könnten, ob die Angelegenheit Maslows selbst in 2 Monaten geklärt werde, und
drohten mit dem Abdruck eines Faksimiles des Maslow-Dokumentes. Als unser ent-
schiedenes Auftreten Verwirrung in ihren Reihen hervorrief, appellierten wir an ihr
Pflichtbewusstsein.
Die gestrige Sitzung verlief stürmisch, [jedoch] ohne Spaltung. Gestern ver-
sammelten wir die leitende ZK-Siebenergruppe und boten ihr den Entwurf einer
Grundsatzresolution sowie einen Arbeitsplan an. Wir rufen eine Parteikonferenz zur
Klärung ihrer Ausrichtung zusammen. Unsere Resolution wurde angenommen mit
den Stimmen von: Brandler, Thalheimer, Walcher, Kleine [d.i. Abram Gural’skij] (der
wie ein Pendel alle Bewegungen vollführt hatte), und, was ich nicht erwartet hatte,
Ruth Fischer. Das Letztere beweist, dass all ihr Geschrei von der Notwendigkeit des
Aufstands ein Ausdruck ihrer Unfähigkeit gewesen ist, den Stimmungen der Organi-
sation eine Abfuhr zu erteilen. Mit dem Kopf begriff sie, dass wir im Recht sind. Gegen
die Resolution stimmten Pieck und Eberlein, die sich mit Geschwätz vor der Organi-
sation produzierten und die Unversöhnlichen spielen wollten. Die Resolution, von
der die Rede ist und die ich hiermit beifüge, stellt einen flüchtigen Entwurf dar, der
164 Am 22.11.1923 erfolgte ein Beschluss des russischen Politbüros, den Fall Maslow rasch zu lösen
(siehe Dok. PB 22.11.1923). Maslow wurde verdächtigt, während eines Polizeiverhörs im Berliner Po-
lizeipräsidium im Jahre 1921 Einzelheiten zur Vorbereitung des KPD-Aufstandes ausgesagt zu haben.
Qua Beschluss des Russischen Politbüros in Moskau festgehalten – er war zugleich KPD- und RKP(b)-
Mitglied – wurde sein Fall vom ZK der KPD und ab Sommer 1923 von einer EKKI-Kommission unter
Leitung Stalins behandelt (RGASPI 17/3/183, 3–4). Anfang Januar 1924 wurde er mit einem Votum von
nur einer Stimme Mehrheit von der Schuld freigesprochen und maßgeblich durch den Einfluss Sta-
lins und Sinowjews, die „(...) die volle Auslieferung der Leitung der Partei in die Hände der Linken“
(W. Pieck) anstrebten, trotz der fundierten Kritiken von Radek und Pieck nach Deutschland zurück-
geschickt. Gleichzeitig wurden Brandler und seine Anhänger aus der Führung der deutschen sowie
Trotzki, Radek und Pjatakov aus der russischen Partei bzw. der Komintern gedrängt (siehe: RGASPI
495/293/638, 17; Ruth Fischer: Autobiographical Notes, Houghton Library, Harvard University, 2696a,
S. 456f.; Edward Hallett Carr: The Interregnum 1923–1924, London-New York, Macmillan, 1954, S. 231f.
(A history of Soviet Russia. IV), S. 231–232; Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus.
Der Übergang zur Konterrevolution. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Dr. H. Langerhans,
Frankfurt am Main, Verlag der Frankfurter Hefte, 1949, S. 438–446; Weber: Die Wandlung, II, S. 213ff.;
RGASPI 495/293/638, 17).
Dok. 96: [Berlin], 29.10.1923 335
von mir während der Sitzung verfasst und im Vorfeld mit Arvid abgestimmt wurde.
Über sie wurde abgestimmt als Grundlage für eine Kommission aus Thalheimer, Ruth
[Fischer] und mir, die eine Resolution für die Parteikonferenz vorbereiten muss.165 Die
wichtigste Änderung, die in die Parteiarbeit eingebracht werden muss, ist folgende:
Die Partei hat vom Aufstand geschrien, ohne sich vorzubereiten. Diese Vorbereitung
muss mit Volldampf begonnen werden. Aus dem ZK lösen wir eine Fünfergruppe
heraus,166 in die sich außer den Fünf Arvid und ich einfügen werden. Alle anderen
ZK-Leute, die wie Schafe müßig umherwandern und der Zersetzung anheimfallen,
werden an die Spitze von Bezirksleitungen oder Arbeitsbereichen gestellt, und zwar
für: Eisenbahnen, Gewerkschaften, Fabrikkomitees, Landwirtschaft, Arbeit unter den
Beamten, Waffeneinkäufe, Militärleitung, Zersetzung des gegnerischen Heeres, Ver-
bindungen und Aufklärung, Agitation und Propaganda.
In Erwartung des Aufstands tat die Partei nichts. Wir werden nun versuchen, den
Kampf gegen die Aussperrungen sowie die Führung von Streiks in unsere Hand zu
nehmen, wir werden dazu übergehen, Demonstrationen und kurze Proteststreiks zu
organisieren, um die Stimmungen der Arbeiter und die Kräfteverhältnisse zu erfas-
sen. Die Hundertschaften werden wir nicht auf die lange Bank schieben, sondern sie
bei Notwendigkeit in den Kampf führen, sogar in Teilkämpfe. Die Partei kann nicht
untätig den Aufstand abwarten. Es gibt keine Aufstandsvorbereitung außerhalb der
aktiven Politik. Das bloße Abwarten wird den Feind stärken und die Partei durch
Unglauben zersetzen. Die Partei zentral in die Schlacht zu führen bedeutet bei ihrem
derzeitigen Zustand sowie dem Zustand der Arbeiterklasse [jedoch], sie auf Jahre zu
zerschlagen. [...]
Wir brauchen einen gründlichen Militärorganisator, der Tag und Nacht überprüft,
was geschieht. [...] Ich bitte zu bedenken, dass wir angesichts der Lage der Partei es
mit so vielen Leuten, die auf eine kindliche Weise unkonspirativ sind, zu tun haben,
dass wir jeden Tag auffliegen können. Deswegen besteht die Aufgabe darin, die Ange-
legenheit ans Laufen zu bringen. Beeilen Sie sich mit der Zusendung der Personen,
die wir erbitten. Beeilen Sie sich mit der Positionierung hinsichtlich unserer Linie, die
wir eingenommen haben und bereits durchführen.167
29/X-23.
Der Brief ist inhaltlich mit mir abgestimmt worden. Ich finde, dass die innerpartei-
liche Lage noch schwieriger ist, als Andrej sie darstellt. Die Krise spitzt sich zu. In
Berlin ist die Lage himmelschreiend schlecht.
Dok. 96a
Bericht des Konsuls der UdSSR in Hamburg, Grigorij Šklovskij (Ps.
„Babuškin“) über den Hamburger Aufstand
Berlin, 30.10.1923
Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 495/19/196, 190. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/
Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 213–214. In deutscher Sprache publ. in: Bayerlein/
Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 288–289.
168 Den ersten Brief sandte Babuškin (Ps.), d.i. G. Šklovskij, an Sinowjew, Stalin und Litvinov am
27.10.1923. Siehe das Dokument in: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 264–273.
Dok. 96a: Berlin, 30.10.1923 337
Strafmaßnahme gegen die linke Berliner Organisation gesehen. Ich wiederhole, falls
es die geringste Möglichkeit gibt, sollte man ihn nach Berlin zurückschicken.
Was die Perspektive unmittelbar bevorstehender entscheidender Ereignisse in
Berlin angeht, so sollte sie derzeit zu den Akten gelegt werden. Die Gelegenheit ist
verpaßt, der Zug ist abgefahren und er ist nicht mehr einzuholen. Obwohl Schreihälse
wie Gur[alʼskij] es noch bestreiten, gibt es in Berlin keine Stimmung mehr dafür. In
der vergangenen Woche gab es sie noch, heute nicht mehr, zwischen uns und den
Massen ist ein Riß entstanden.
Über den bewaffneten Aufstand, dem ein Generalstreik vorausgehen sollte: Im
vorigen Brief schrieb ich darüber wie über eine grundlegende Wahrheit. Zu meinem
Erstaunen habe ich jetzt erfahren, daß am Sonnabend, als die Zentrale in Sachsen
ihren Beschluß über den Aufstand gefaßt hatte, sie ihre Boten in alle Richtungen in
Marsch setzte (nicht nur nach Hamburg. Während die anderen Orte jedoch bald Rück-
zugsbefehle erhielten, war das für Hamburg aus irgendeinem Grunde nicht der Fall).
Diese Frage wurde dort lange diskutiert und dann genau in dem Sinne entschieden,
wie sie in Hamburg durchgeführt wurde. Das ist doch aber jene Karikatur des Bol-
schewismus, die die Menschewiki 1905 gezeichnet haben ... Soviel ich weiß, wurde
diese Frage auch in Moskau debattiert; Es ist doch nicht etwa wahr, daß Moskau
solche Methoden des „Machens einer Revolution“ gutheißt, irgendwo wird man es
wohl machen können. Na, und was dann? Wie werden Sie die Macht behalten, wenn
Sie nicht von Anfang an breiteste proletarische Kreise einbeziehen ... Das ist reinster
Putschismus!
Ich habe in meinem vorigen Bericht vergessen, Sie auf eine charakteristische
Besonderheit hinzuweisen: Die Sympathie seitens der Intelligenz ist sehr groß. Wir
erhalten eine Menge Hilfsangebote von Seiten der Ärzte und Angehörigen der Intelli-
genzberufe. Es gab Vorschläge, Spenden für die Opfer zu sammeln. Die Sympathie der
Intelligenz erinnert mich an die im Jahre 1905.
Am 1.11.1923 wurde vom Politbüro des ZK der KP Russlands beschlossen, das Volkskommissariat
für Verkehrswesen vom Auftrag freizustellen, 10 Millionen pud (etwa 160.000 Tonnen) Getreide an
Deutschland zu liefern. Über das bereits gelieferte Getreide erhielt es freie Verfügungsgewalt. Bei der
Kommission für internationale Angelegenheiten wurde ein besonderes Organ geschaffen, das „die
Bedienung Deutschlands und der anliegenden Staaten“ zur Aufgabe haben soll. Als Mitglieder wur-
den Molotov, Pjatnitzki und Unšlicht bestimmt. In der Kommission für internationale Fragen wurde
Kujbyšev durch Molotov ersetzt.169
Am 3.11.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands eine Reihe von Maßnahmen im Zu-
sammenhang mit den Entwicklungen in Deutschland. So wurde auf eine Reise Pjatakovs und der
Vierergruppe nach Moskau gedrängt, ein Beschluss, der eine Misstrauensbekundung gegenüber
der Delegation darstellte. Entsprechend nahm ihn letztere auf und sabotierte die Reise. Auf der Sit-
zung beauftragte das PB weiterhin eine eigene Kommission mit der Abfassung eines geschlossenen
Briefes an die KPD. Grundsätzlich wurde jedoch festgehalten, dass „eine mögliche Verzögerung der
Ereignisse in Deutschland keinesfalls zur Verringerung unserer kriegsindustriellen und militärischen
Vorbereitungen führen darf.“170
Dok. 97
Brief Stalins an Pjatakov und die „Viererguppe“ in Deutschland für
eine prinzipielle Frontstellung gegen die linke Sozialdemokratie
[Moskau], 8.11.1923
Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 326/2/21, 139–142. Erstveröffentlichung (Auszug zit. in:
Besymenski: Hitler und Stalin, S. 43).
8. November 1923
170 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 25. Publ. in: Ibid., S. 317–319; Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Polit
bjuro i Komintern, S. 216–217.
171 Gemeint ist der Brief Pjatakovs an Stalin, Trotzki und Bucharin vom 1.11.1923, in dem Pjatakov
seine äußerste Beunruhigung sowohl betreffs der Vorstöße Ruth Fischers und der Berliner Opposi-
tion, als auch der Zuspitzung des innerparteilichen Kampfes in der RKP(b) zum Ausdruck brachte
und auf die Situation in Deutschland projizierte (siehe: RGASPI, Moskau, 558/2e/6367, 1–5; publ. in:
Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 297–301).
172 Pjatakov erlaubte den Empfängern, den Brief mit einigen persönlichen Punkten ausnahmsweise
an Mitglieder des Politbüros weiterzuleiten (siehe: Ibid., S. 301).
173 Noch am 6.11.1923 schrieb Pjatakov an Stalin, er warte „ungeduldig auf Ihre Informationen. [...]
Wir senden Ihnen Berichte und Mitteilungen zu und erhalten von Ihnen absolut keine Instruktionen.
Wir handeln selbstständig, ohne zu wissen, ob unsere Linie Ihren Auffassungen über die Lage ent-
spricht.“ (Ibid., S. 342).
174 Trotz der von ihm beschriebenen Schwierigkeiten bestand Pjatakov im Brief an Stalin von
1.11.1923 darauf, in Deutschland zu verbleiben (Ibid., S. 298).
Dok. 97: [Moskau], 8.11.1923 339
Sie kennen meine Meinung zu [P.] Bogdanov. A[leksandr Cjurupa] kann nicht genug
Zeit aufbringen. Währenddessen spielen die Trusts und andere Wirtschaftsorgane mit
dem Feuer und zeigen immer wieder, dass es keine Kontrolle über sie gibt.175
2. Die Wahl der Sechsergruppe auf der Konferenz (Walcher, Thalheimer, Ruth
[Fischer] u.a.) zeugt augenscheinlich davon, dass sich die Krise in der Partei nicht
zuspitzt.176 Die Schwierigkeiten bei Ihrer Arbeit in Deutschland, die Sie im Brief
beschreiben, deuten meiner Meinung nach darauf hin, dass Ihre Kräfte in Deutsch-
land nicht in dem Umfang, in dem es in Russland möglich wäre, genutzt werden
können. All das spricht für meinen Vorschlag. Ich denke, dass Ihnen keine Argumente
mehr bleiben, außer Argumenten der Ehre (über die Sie in Ihrem Brief nicht sprachen,
die jedoch durch jede Zeile hindurch scheinen), Argumente der Ehre dürfen jedoch,
wie Sie selbst wissen, nicht entscheidend sein. Denken Sie noch einmal gut nach und
teilen Sie mir Ihre endgültige Meinung mit.
3. Was die deutschen Angelegenheiten angeht, so denke ich folgendes:
a) Die Kommunisten hatten und haben dort keine Mehrheit unter den Arbeitern
(es gab [solche] Zeitpunkte, als die Mehrheit der Arbeiter zum revolutionären Kampf
strebte, wenn jedoch diese Mehrheit gewusst hätte, dass sich nur die Kommunisten,
ohne die Sozialdemokraten, an die Spitze des Kampfes stellen würden, hätte sie sich
höchstwahrscheinlich gespalten, d.h. die Mehrheit hätte sich nicht für die Kommu-
nisten ausgesprochen, – die Mehrheit war in gewissen Momenten tatsächlich für den
revolutionären Kampf, nicht jedoch für die Kommunisten), – diese Mehrheit muss
noch erobert werden.
b) Die faktische Macht in Deutschland „liegt“ nicht [auf der Straße], wie einige
Genossen behauptet haben, sondern ist lebendig und verfügt über genügend Kräfte,
um den Kommunisten eine Abreibung zu verpassen. Das Großkapital, die Agrarier,
das Offiziersgesocks [oficer’e] und – am wichtigsten – die Sozialdemokraten sind
ebensolche Kräfte, die auf die eine oder andere Art und Weise die Regierung stützen.
Um die Bourgeoisie zu Fall zu bringen, muss man ernstzunehmende Kräfte, eine
Mehrheit unter den Arbeitern der Stadt, des Landes usw. zur Verfügung haben.
c) Wenn Il’ič [Lenin] in Deutschland wäre, würde er – so denke ich – sagen, dass
der Hauptfeind der Revolution die Sozialdemokraten seien, vor allem ihr linker Teil,
d.h. derjenige Teil, der noch nicht das Vertrauen der Arbeiter verloren hat und der
Zweifel, Schwankungen und Unsicherheit in die Reihen der Proletarier hineinträgt,
und damit die Möglichkeit eines geschlossenen Kampfes untergräbt. Man muss den
Linken geradeheraus sagen: entweder ihr kämpft für unsere Plattform und brecht mit
175 Pjatakov schlug vor seiner Abreise vor, als Vorsitzenden der VSNCh Aleksandr Cjurupa zu ernen-
nen (Ibid., S. 298). VSNCh-Vorsitzender blieb allerdings bis Anfang 1926 Petr A. Bogdanov (1882–1938).
176 Am 1.11.1923 schrieb Pjatakov an Stalin, die innerparteiliche Krise habe „eine unerhörte Schär-
fe erreicht“ (Ibid., S. 298). Am 2.11.1923, vermutlich auch am Folgetag, fand das Plenum des ZK der
KPD statt, auf dem eine sechsköpfige Spitze, bestehend aus Pieck, Thälmann, Ruth Fischer, Brandler,
Walcher, Koenen und Thalheimer gewählt wurde. Pjatakov berichtete darüber am 6.11.1923 an Stalin
(Ibid., S. 338–339).
340 1918–1923
dem rechten S[ozial-]D[emokraten], und dann haben wir eine Einheitsfront, oder ihr
macht es nicht und beschränkt euch auf verlogene Phrasen über den revolutionä-
ren Kampf – und dann könnt ihr euch zum Teufel scheren. So, und nur so, kann die
Zerstörung der Sozialdemokratie, die Entlarvung der Linken anhand konkreter Fra-
gestellungen und die Zusammenschluss der Arbeiter um die Kommunisten erreicht
werden. Andere Wege sehe ich nicht.
d) Eine so junge Partei, wie die Kommunisten Deutschlands, kann im gegenwär-
tigen Moment der sich verschärfenden Krise nicht auf solche breiten Organe des poli-
tischen Massenkampfes wie die Sowjets verzichten. Die Betriebsräte [fabzavkomy]
können bestenfalls Organe zur Produktionskontrolle und für politische Demonstra-
tionen sein – mehr nicht. Das Verschweigen der Frage der Sowjets, das von unseren
Kommunisten praktiziert wird, führt dazu, dass in der Zukunft, wenn es die entschie-
den revolutionäre Lage verlangen wird, keine Vorbereitungen zur Gründung von
Sowjets getroffen werden. Die Ausrufung des Aufstandes im Namen der Kompartei,
ob nur in einer Stadt, oder gar in ganz Deutschland, wird kaum die für den Aufstand
notwendigen Massen mobilisieren. Nur ein Aufstand unter der Flagge der Sowjets
könnte die notwendige Wirkung haben, denn – ich wiederhole – die deutsche Kom-
partei ist zu schwach, um auf solche Massenstützpunkte wie die Sowjets verzichten
zu können. Selbst wir, die wir stärker waren als die jetzige Kompartei Deutschlands,
konnten im Jahre 17, wie Sie wissen, nicht auf breit angelegte politische Massenorgane
verzichten.
Sie haben wahrscheinlich schon den geschlossenen Brief der Komintern erhal-
ten. Er wurde im PB besprochen, und ich bin im Grunde mit ihm einverstanden.177
4. Was unsere Parteiangelegenheiten in Russland angeht, so haben wir, nachdem
Sie ein gewisses Dokument „angerichtet“ haben178 und weggefahren sind, die Ple-
numssitzungen des ZK und der ZKK einberufen, wo eine Entscheidung gegen die
177 Am 5.11.1923 verfasste das EKKI einen sowohl von der KPD-Führung als auch von Trotzki und
Radek scharf kritisierten „Geschlossenen Brief an das ZK der KPD“, der vom russischen Politbüro
am 3.11.1923 in Auftrag gegeben wurde (siehe Politbürobeschluss), und einen Umschwung markierte.
Ohne die Rolle von Komintern und KP Russlands selbst einer Überprüfung zu unterziehen, wird die
KPD-Führung zum Sündenbock erklärt, u.a. wegen der „Überschätzung der Vorbereitungen“ und der
„Kapitulation vor der linken Sozialdemokratie“ bezüglich der sächsischen Arbeiterregierung (publ.
in: Ibid., S. 319–325).
178 Stalin bezieht sich hier auf die Mitunterzeichnung durch Pjatakov der „Erklärung der 46“ vom
15.10.1923, des ersten Manifests der linken Opposition in der KP Russlands, das die sofortige Rück-
nahme der im Bürgerkrieg erfolgten Einschränkungen der Parteidemokratie forderte. Unter den
herrschenden Bedingungen des Parteiregimes als „Fraktionsdiktatur“ – so wird in dem u.a. von
Preobraženskij, Pjatakov, Antonov-Ovseenko, Serebrjakov und Smirnov unterzeichneten Dokument
an das ZK geschlussfolgert – könne die kommende „weltumfassende Erschütterung“ nur mit einem
„Misserfolg auf der ganzen Front des proletarischen Kampfes“ enden. (siehe die deutsche Überset-
zung der Deklaration: An das Politbüro des Zentralkomitees der RKP (Erklärung der Sechsundvier-
zig). In: Frits Kool, Erwin Oberländer (Hrsg.): Dokumente der Weltrevolution. Arbeiterdemokratie
oder Parteidiktatur, Frankfurt am Main u.a., Büchergilde Gutenberg, 1967, S. 273–280.
Dok. 97: [Moskau], 8.11.1923 341
Dokumente [sic] von Ihnen und L.D. [Trotzki] gefällt wurde.179 Später gab es eine
private Unterredung mit L.D. [Trotzki], wo wir uns über die praktischen Fragen der
Verbesserung der VSNCh, des Gosplan u.a. geeinigt, oder zumindest fast geeinigt
haben. Ich denke, dass die Angelegenheit sich ohne Erschütterungen und Exzesse
weiterentwickeln wird. Es ist nur ärgerlich, dass L.D. [Trotzki] vor kurzem krank
geworden ist und es ihm bis heute leider nicht möglich ist, das Bett zu verlassen.180
Ich hätte Ihnen den Text der Resolution der Plenumssitzungen zugeschickt, wenn es
nicht ein Verbot gäbe, diese Resolutionen zu verschicken, selbst an ZK-Mitglieder.
Vorerst wäre dies alles.
PS. Die Entscheidung von Ihnen (der Troika) über Vas’ka [d.i. Vasilij Šmidt] verstehe
ich nicht.181 Vas’ka ist ehemaliges ZK-Mitglied zweier Legislaturperioden; zum jet-
zigen Zeitpunkt ist er zwar kein ZK-Mitglied (genauso wie Gen. Krest[inskij]), doch
wenn das ZK (das P.B.) Gen. Vas’ka zweimal das Vertrauen ausgesprochen hat, was
haben Sie (die Troika) für einen Grund, ihn nicht zu akzeptieren? Ich sehe darin nichts
179 Die gemeinsamen Plenartagung des ZK und der ZKK mit Vertretern von Parteiorganisationen
vom 25.–27.10.1923 „(...) brandmarkte die von Trotzki zusammengeflickte Plattform, die sich Erklärung
der 46 Oppositionellen nannte.“ In der vom Plenum verabschiedeten Resolution wurde Trotzki der
„fraktionellen Gruppenbildung“ bezichtigt, was „dem gesamten Leben der Partei für die nächsten
Monate den Stempel des innerparteilichen Kampfes aufzudrücken und so die Partei in einer für das
Schicksal der internationalen Revolution höchst verantwortungsschweren Zeit zu schwächen“ drohe.
(siehe auch: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 296f.).
180 Lenin hatte im März 1923 einen verheerenden Schlaganfall erlitten. Trotzki erkrankte am
18.11.1923 und bekam von den Ärzten strengste Bettruhe verordnet, sprach jedoch trotzdem auf dem
ZK-Plenum (siehe: Heinz Abosch: Trotzki-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München, Hanser, 1973,
S. 63 (Reihe Hanser. 130). In seiner Stalin-Biographie schrieb Trotzki: „In diesen Tagen muß Stalin
klar geworden sein, daß unverzügliches Handeln geboten war. Er hatte überall Komplizen, die auf
Gedeih und Verderb mit ihm verbunden waren. Der Apotheker Jagoda stand bereit. Ob Stalin Lenin
das Gift zukommen ließ, indem er darauf anspielte, daß die Ärzte alle Hoffnung aufgegeben hätten,
oder ob er mehr direkte Mittel anwandte, das weiß ich nicht. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß
Stalin da nicht untätiger Zuschauer bleiben konnte, wo sein Lebensschicksal auf dem Spiel stand und
die Entscheidung abhing von einer kleinen, sehr kleinen Bewegung seiner Hand. Kurz nach Mitte
Januar 1924 reiste ich nach Suchum im Kaukasus ab, um zu versuchen, dort von einer hartnäckigen,
mysteriösen Infektion geheilt zu werden, deren Natur meinen Ärzten bis heute ein Rätsel geblieben
ist. Die Nachricht von Lenins Tod erreichte mich auf der Fahrt.“ (Leo Trotzki: Stalin. Eine Biographie,
Köln, 1952, S. 485f.).
181 Die Dreiergruppe lehnte die Berufung des russischen Gewerkschaftsfunktionärs Vasilij Šmidt
(Ps. Vasja, Vasʼka) durch das russische Politbüro als Gruppenmitglied ab. Am 24.10.1923 hatte Sino-
wjew an die „lieben Freunde“ geschrieben, die Nominierung von K. (d.i. Kujbyšev) in die Troika des
Politbüros, die nach Berlin geschickt wird, sei ein Fehler. Der Posten sei mit höchster Verantwortung
verbunden, denn der Frieden mit den „Berlinern“ sei zu erhalten, koste es was es wolle. Sinowjew
schlug daraufhin vor, stattdessen Genossen V.Š. (d.i. Vasilij Šmidt) zu nominieren. Siehe: Bayerlein/
Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 326).
342 1918–1923
außer einem Gehabe von Parteiaristokraten. Ich bin nun gezwungen, seine Frage zum
dritten Mal aufzuwerfen, wobei es möglich ist, dass das P.B. die alte Entscheidung in
Kraft lässt, – glauben Sie etwa, dass das ZK, das Vas’ka bestens kennt, seine Meinung
aufgrund der Proteste des Gen. Andrej [d.i. Karl Radek] ändern wird? So kann man
nicht arbeiten. I.St.
Dok. 98
Bericht des Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik in Berlin
zum Hitlerputsch in München
Berlin, 9.11.1923
v. Kahr Reichsverweser
Ludendorff Chef d. Heeresleitung
Hitler Reichsinnenminister
v. Lossow Reichswehrminister
Poehner bayr. Ministerpräsident bezw. Innenminister,
Oberst v. Seiszer Reichspolizeiminister183
Die Einzelheiten dieses Putsches sind durch die Zeitungen bekannt; Wir wollen hier
nur auf folgendes hinweisen: es handelt sich bei der Proklamierungsversammlung
um eine der [in] letzter Zeit üblichen nationalistischen Kundgebungen, bei denen
meist Kahr, Knilling, Poehner und oft auch Hitler anwesend waren. [...] Es hängt, falls
die Bewegung in Bayern allgemein wird, alles davon ab, ob jetzt im übrigen Reiche
eine Welle explosiver Putsche auftritt. In diesem Falle würden zweifellos die Hitler-
leute freie Bahn nach Berlin bekommen.184 Die norddeutsche Reichswehr und Schupo
würden völlig ausserhalb Bayerns gebunden. Immerhin würden einige Generäle ihre
Truppen gegen die Putschisten schicken, und da ihre Kräfte dazu nicht genügend
wären, müssten sie über die Gewerkschaften die Arbeiter zur Teilnahme am Kampfe
auffordern lassen. Das würde den Beginn des Bürgerkrieges bedeuten.
Ohne die Welle nationalistischer Putsche in Norddeutschland die ganz wahr-
scheinlich jetzt ausbleiben wird – ist auch der bayerische Putsch missglückt, da eine
isolierte Ludendorff-Bewegung in Bayern ganz unmöglich Kraft genug für den Marsch
gegen Berlin finden kann. [...]
Aus alledem scheint sich zu ergeben, dass der Putsch insoweit gescheitert ist,
als die Errichtung einer Ludendorff-Regierung beabsichtigt war. In jedem Falle ist
durch die Niederschlagung des Hitlerputsches sowohl die Macht der bayerischen
Rupprechtgruppe gestärkt, wie die Stellung Stresemanns sowohl gegenüber den Sozi-
aldemokraten wie gegenüber Stinnes gefestigt.
Dok. 99
Die deutsche Revolution und die Streiks im ukrainischen
Kohlebecken Donbass. Brief des Gouvernementssekretärs Boris
Magidov an Stalin
Poltava, Ukraine, 10.11.1923
184 Grundsätzlich erwies sich die Prognose Radeks und der Komintern bezüglich eines bevorstehen-
den und zu verhindernden Marsches nach Berlin nicht als falsch. Zu weiteren Putschversuchen kam
es allerdings trotz weiterer vorhandener Sympathien mit den Putschisten nicht. Die NS-Bewegung
wurde verboten, Hitler in einem Hochverratsprozess im Februar 1924 zu (nur) fünf Jahren Festungs-
haft verurteilt.
344 1918–1923
Arbeiter,185 die auf dem letzten Plenum des ZK der KP(b)U (29.–31. Oktober)186 zur
Sprache kamen, drängen mich als Parteimitglied dazu, Ihnen zu schreiben.
Erstens ist eine Lage absolut unnormal, in der die Sekretäre der Gouvernements-
komitees in keiner Weise auf dem neuesten Stand gehalten werden und vom ZK nicht
über die aktuelle innerparteiliche Lage informiert werden, während zu unserer aller
großen Bestürzung überall darüber gesprochen wird, [sogar] in parteilosen Kreisen
tratscht man darüber.
Ich meine vor allem die letzte Meinungsverschiedenheit im ZK der RKP, die Erklä-
rung des Gen. Trotzki und die Plattform der 46. (Selbstverständlich habe ich weder
die Erklärung des Gen. Trotzki noch die Plattform der 46 zu lesen die Gelegenheit
gehabt).187 [...] Ein lebendiges Parteileben gibt es nicht, der Parteigedanke zuckt
nicht.188 Es dominiert und prävaliert die sogenannte Parteidisziplin (die schablonen-
haft angewandt wird). [...]
Wie lässt sich die Möglichkeit (manche denken sogar: die Zwangsläufigkeit) wie-
derholter Abweichungen seitens der Masse aus den unteren Parteirängen vermeiden?
Es gibt einen Weg: eine richtige, strikt durchgehaltene, deutliche kommunisti-
sche Linie, und zugleich müssen wir, als Leiter der Massen, selbst ein Stück beschei-
dener sein, und als Beispiel und Vorbild dienen.
Doch dies entspricht nicht der Wirklichkeit.
Die Mitglieder des Zentralen Exekutivkomitees der Unionssowjets sowie die Mit-
glieder des Exekutivkomitees des Ukrainischen Sowjets haben im September ein
Gehalt von 100 Goldrubeln erhalten, im Oktober – 150.
Wenn ein Mitglied einer Basiszelle, der an der Werkbank arbeitet, sieht, dass der
Sekretär des Gouvernementskomitees der Kommission zur Verbesserung der Lebens-
bedingungen der Kommunisten 35 Goldrubel zahlt und einen Partei-Mitgliedsbeitrag
von 5 Goldrubeln, während der gesamte Monatslohn eines einfachen Parteimitglieds
von der Werkbank maximal 25 bis 30 Rubel beträgt, beginnt er zwangsläufig an
„oben“ und „unten“ zu denken, an schreiende Ungerechtigkeit u.s.w.189
185 Nach der Oktoberrevolution bildete das Donez-Becken (Kurzform: Donbass von russ. „Doneckij
bassejn“) das Zentrum der russischen Kohleförderung. Siehe: Hiroaki Kuromiya: Freedom and Terror
in the Donbas. A Ukrainian-Russian Borderland. 1870s-1990s, Cambridge u.a., Cambridge University
Press, 1998, S. 119–150.
186 Das Plenum der Kommunistischen Partei der Ukraine (KP(b)U), das nach abweichenden Anga-
ben vom 23. bis 31.10.1923 stattfand, war eines der fünf Plena des ZK der KP(b)U im Jahre 1923, zwi-
schen der 7. und 8. Parteikonferenz. Ein publiziertes Stenogramm des Plenums konnte nicht ermittelt
werden. Vgl. http://www.knowbysight.info/1_UKRA/04994.asp.
187 Siehe hierzu Dok. 97.
188 Im Russischen „ne bʼetsja“, wörtl. „es schlägt nicht um sich“.
189 Nach dem Ende des Bürgerkriegs begannen zahlreiche bolschewistische Funktionäre, gerade in
den Regionen, damit, ihre privilegierte Stellung offen auszuleben, was innerhalb der Partei große Dis-
kussionen auslöste und ihr Ansehen bei der parteilosen Bevölkerung nachhaltig beschädigte (siehe
u.a.: Vladimir Brovkin: Russia after Lenin. Politics, Culture, and Society. 1921–1929, London u.a., Rout
ledge, 1998, S. 37ff.).
Dok. 99: Poltava, Ukraine, 10.11.1923 345
Wenn die (durchaus des Lesens mächtige) Masse der Arbeiter in den Zeitungen
lesen muss, dass sich beispielsweise im Oktober die Lohnhöhe eines Parteimitglieds,
auf die keine Abgaben zu entrichten sind, auf 80 Goldrubel beläuft, dann beginnt der
Arbeiter unvermeidlich darüber zu reden und artikuliert seine Unzufriedenheit mit
„denen da oben“.
Sie wissen augenscheinlich, dass es im September und im Oktober ständig Streiks
im Donbass gegeben hat, wobei im Oktober fast der gesamte Donbass gestreikt hat.190
Der wichtigste Grund dafür waren Verzögerungen bei der Lohnauszahlung. Aber
nicht nur das: die Lebensbedingungen der Bergleute des Donbass sind schlechter als
die von Vieh.
Zehntausende Donbass-Arbeiter fahren lieber täglich unter Tage und leben im
Gestein, im Inneren der Erde, in Tiefen von 200, 300, 500 Metern; denn dort fühlt sich
der Kumpel wohler als in seiner „Wohnung“.191
Sie wissen, dass im Kreis Šachty (Rayon Aleksandro-Gruševsk) alle Kumpel (etwa
30–35 Tausend) zehn Tage lang gestreikt und es einhellig abgelehnt haben, eine
Zahlung zu akzeptieren, die nur 40 Prozent des ihnen zustehenden Lohns ausmach-
te.192
Die Donbass-Arbeiter sagen: Was hindere sie daran, „mit den Leitern des Donbass
auf Bergmanns-Art abzurechnen, für ihre Frechheiten und ihre Verhöhnung der werk-
tätigen Kumpel, die seit fünf Jahren andauerten, für den systematischen Betrug und
Schwindel, für die Nichterfüllung fast jedes Versprechens, von denen es Hunderte
gab ...“
190 Der Donbass war im Jahre 1923 ein Streikzentrum, über 89.000 Arbeiter nahmen an den über das
ganze Jahr verteilten Streiks teil, die teilweise höchst militante Formen annahmen. Hauptauslöser
waren ausgesetzte und verzögerte Lohnauszahlungen sowie anmaßendes Verhalten der kommuni-
stischen Funktionäre und Fabrikverwalter. Erst Mitte 1924 nahmen die Streiks im Donbass ab (siehe
zuletzt: L.V. Borisova (Hrsg.): „Zabastovka pokazala... črezvyčajnoe uporstvo i ozloblenie rabočich“.
Dokumenty RGASPI o zabastovke gornjakov Donbassa v 1923 g. In: Otečestvennye Archivy (2008), 6, S.
77–83; auch: Kuromiya: Freedom and Terror, S. 128–132). Als allgemeiner Überblick zu den Streiks in
der Sowjetunion während der NÖP siehe zuletzt: Kevin Murphy: Strikes during the Early Soviet Peri-
od. 1922 to 1932. From Working-Class Militancy to Working-Class Passivity? In: Donald Filtzer, Wendy
Z. Goldman, Gijs Kessler u.a. (Hrsg.): A Dream Deferred. New Studies in Russian and Soviet Labour
History, Bern u.a., Peter Lang, 2008, S. 171–192.
191 Der führende Bolschewik Nikolaj Krylenko, der im November auf einer Vortragsreise im Donbass
unterwegs war, schilderte in seinem internen Reisebericht an das ZK ebenfalls katastrophale Zustän-
de. So seien 10% der Bergleute im Donbass obdachlos und müssten in Straßengräben oder in den
Schächten übernachten (RGASPI, 17/60/460, 153v).
192 Die Unruhen in Šachty im Oktober–November 1923 waren der Höhepunkt der Arbeiterproteste
im Donbass. Als der Streikführer, ein ehemaliges Parteimitglied namens Kapustin, verhaftet wurde,
zogen ca. 1000 Arbeiter mit Fahnen und Musik zum Gefängnis, um ihn zu befreien. Durch Schüsse in
die Luft und Einsatz von Wassersalven aus Schläuchen konnte die Miliz die Menge zerstreuen (Kuro-
miya: Freedom and Terror, S. 130–131).
346 1918–1923
„Wir hätten schon längst abgerechnet, davon könnt ihr ausgehen, – wiederholt der
Bergmann (womöglich von einer menschewistischen Provokation angestachelt),193 –
doch darf man schließlich kein Verräter der deutschen Revolution sein.“194
All dies berichtete ganz offiziell ein ZK-Mitglied, ein verantwortlicher Vertreter
des Donbass, auf dem Plenum des ZK der KP(b)U.
Uns ist nicht ganz klar, warum wir der zweihunderttausendköpfigen Armee der
Sowjetangestellten zweimal im Monat pünktlich Gehalt zahlen und [die Arbeiter des]
Donbass erhalten fortlaufend nichts.
Kann man denn nicht mit demselben Recht die Sowjetangestellten weniger ter-
mingerecht (nicht auf sowjetische Art pünktlich) auszahlen und so die Zahlungen an
die Kumpel im Donbass leisten?
Auch ein weiterer Umstand ist uns nicht ganz verständlich: sobald die Kumpel
einen Streik beginnen und ihre Arbeit für eine Woche liegen lassen, taucht auf einmal
Geld auf (und die Bergleute tragen diesem Umstand Rechnung).
Und warum sollte man diese Frage nicht mit äußerster Ernsthaftigkeit (auf Leninsche
Art) anpacken und ein paar verantwortliche und höchstverantwortliche Leiter vor ein
öffentliches Gericht stellen, wenn wir schon zu nichts Anderem fähig sind? [...]
Nach dem XII. Parteitag war uns völlig klar, dass uns die Abwesenheit von Ilʼič
[Lenin] eine kolossale kollektive Verantwortung auferlegt. Wir hatten sehr wohl ver-
standen, dass personell niemand Ilʼič ersetzen kann. [...]
Wir brauchen wahrheitsgemäße, zeitnahe, vorauseilende, durch nichts verdeckte
Informationen über alles, was im ZK geschieht. Möglichst selten, nur in außerordent-
lichen Fällen, sollte zu administrativen Maßnahmen gegriffen werden [...]. Es müssen
die Fälle vermieden werden, in denen eine Person (wie hoch auch der Posten sein
mag, den sie einnimmt) die Entscheidung eines gewählten Organs zunichte macht.
[...]
193 Laut geheimen Parteiberichten gab es im Oktober 1923 circa 160 „organisierte Menschewiki“ im
Donbass, die allerdings allesamt von der GPU überwacht wurden. Es ist zu bezweifeln, ob sie tatsäch-
lich einen Einfluss in der Arbeiterschaft ausübten oder gar Streiks anzettelten, wie ihnen seitens der
Partei vorgeworfen wurde. Erwiesen sind Stimmungen in der Arbeiterschaft, die in vielen Punkten
mit den Positionen der Menschewiki im Untergrund übereinstimmten (Kuromiya: Freedom and Ter-
ror, S. 135).
194 Die Aussage lässt sich entweder – so Jean-Jacques Marie – als Beleg einer proletarischen Solida-
rität gegenüber den „Klassenbrüdern“ im Ausland interpretieren, die stärker sei als die Feindseligkeit
gegenüber den Machthabern vor Ort (die deutsche Revolution somit als ein potentielles Gegenmittel
gegen die Sowjetbürokratie), oder aber als eine Klage des Arbeiters darüber, das Argument der na-
henden deutschen Revolution werde zu oft ins Feld geführt, um Proteststimmungen zu unterdrücken.
Weitere Untersuchungen lassen beide Interpretationen als gültig erscheinen: Zum einen gab es tat-
sächlich ein großes Interesse der Donbasser Arbeiterschaft an den Vorgängen in Deutschland, zum
anderen ist der Ernst der internationalen Lage von Parteifunktionären ins Feld geführt worden, um
Arbeiter vom Streiken abzubringen (siehe: Jean-Jacques Marie: Stalin und der Stalinismus. Rückkehr
zu den Ursprüngen. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2004), S. 11–31, hier S. 26;
Albert: „German October is Approaching“, S. 123–125).
Dok. 99: Poltava, Ukraine, 10.11.1923 347
Am 12.11.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, die zur Vorbereitung der Revolution
nach Deutschland entsandte Delegation nach Moskau zurückzurufen. Zugleich sollte dem ZK der KPD
deutlich gemacht werden, dass dieser Rückruf keine Abweichung von der gegenwärtigen Linie der
Vorbereitung der deutschen Revolution bedeute. Das Politbüro forderte darüber hinaus die Dokumen-
te zur Entwicklung in Sachsen, zu den linken Sozialdemokraten und zur Einheitsfrontpolitik durch die
Komintern umzuarbeiten, vermutlich im Sinne von Stalins Brief gegen die Sozialdemokratie (siehe
Dok. 97).197
195 Tatsächlich schrieb Stalin schon am 22.11.1923 eine Antwort an den „lieben Genossen Magidov“.
Er bedankte sich für die Informationen und verwies darauf, dass die Frage der Donbass-Arbeiter ge-
genwärtig durch eine Kommission behandelt werde. Der Kritik an der schlechten Informierung der
regionalen Parteifunktionäre durch das Zentrum stimmte Stalin zu, verwies jedoch auf notwendige
Konspiration: „Leider kann man nicht über alles schreiben.“ Die von Magidov thematisierten Zer-
würfnisse in der Parteispitze reduzierte Stalin auf „Missverständnisse“, die bereits geklärt seien.
Er bot Madigov ein persönliches Gespräch auf der bevorstehenden Parteikonferenz im Januar 1924
an und ermunterte ihn, öfter zu schreiben (RGASPI, 558/1/2565, 1, publ. in: Kvašonkin/Chlevnjuk/
Košeleva u.a.: Bolʼševistskoe rukovodstvo, S. 289). Die 13. Parteikonferenz der RKP(b) fand vom 16.
bis 18.1.1924 statt.
196 Boris I. Magidov, Bolschewik seit 1906 und zwischen 1922 und 1924 Sekretär des Partei-Gouver-
nementskomitees von Poltava, arbeitete in den folgenden Jahren auf hohen Posten in der Zentralen
Kontrollkommission der Partei sowie in den sowjetischen Gewerkschaften, überlebte den Stalinschen
Terror unbeschadet und starb 1972 eines natürlichen Todes im Alter von 86 Jahren.
197 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 26–27. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 218–220.
348 1918–1923
Dok. 100
Kritischer Bericht des militärischen Leiters des deutschen Oktober
an die Komintern über die Arbeit des illegalen Apparats der KPD
[Berlin], 15.11.1923
Die Vorbereitungen der Partei zum bewaffneten Aufstand sind in den letzten Tagen
stark gehemmt worden. Durch das mangelhafte Arbeiten des illegalen Apparates sind
in vielen Bezirken die leitenden Funktionäre verhaftet worden. Der illegale Apparat
der Zentrale versagt fast vollständig. Jetzt ist auch der Kopf der Berliner Kampflei-
tung verhaftet worden, und die Arbeit in Berlin-Brandenburg und Lausitz gelähmt.
Die Genossen waren nach der Lausitz gefahren, um dort die Organisation, die hoch-
geflogen war, neu aufzubauen. Bei dieser Gelegenheit wurden sie verhaftet. Die Orga-
nisation der Lausitz ist auch wesentlich durch Verschulden des Zentralapparates
aufgeflogen. Die Zentrale schickte einen Kurier mit Anweisungen, Plänen und Geld
dorthin. Der Kurier traf den Verbindungsmann, an den er die Sachen abgeben sollte,
nicht an. Er gab deshalb die Sachen dem Hauswirt. Der Hauswirt wusste, dass der
Genosse Funktionär der K.P.D. ist und brachte das Paket zur Polizei, die dann die
leitenden Funktionäre verhaftete.
Vorgestern wurde der gesamte Kurierapparat der Zentrale verhaftet. Die Kuriere
versammelten sich in einem Lokal, wo sie das Material, Anweisungen, Rundschrei-
ben, Geld usw. für die Bezirke erhielten. Während der Ausgabe wurde das Lokal
umstellt und sämtliche Genossen, auch der Leiter, verhaftet.
In München wurde schon vor zwei Wochen fast die gesamte Leitung der Orga-
nisation verhaftet. In München fand eine Sitzung der Leitungen der einzelnen Dist-
rikte statt. Einige Genossen hatten Pläne über Sprengungen, Karten, Geld und sogar
Sprengkapseln mitgebracht. Die Genossen tagten in einem Lokal, das wir schon seit
Jahren für Parteisitzungen benutzten. Durch die Verhaftung dieser Genossen ist die
Arbeit in Bayern völlig gelähmt. Die neueingesetzte Leitung hat ihren Sitz ausserhalb
Bayerns.
198 Das Dokument ist nicht unterzeichnet. Frühere an das EKKI gesandte Dokumente gleichen For-
mats, die vermutlich vom selben Autor stammen, wurden mit „X“ unterzeichnet. Dabei handelte es
vermutlich um den Leiter des illegalen Militärpolitischen Apparats zur Durchführung der deutschen
Revolution, Volʼdemar Rudolʼfovič Roze (Ps. Petr Aleksandrovič Skoblevskij). Bis 1926 lag die Leitung
des militärpolitischen Apparats der KPD in russischer Hand (RGASPI, Moskau, 495/19/67, 81–83).
Dok. 100: [Berlin], 15.11.1923 349
Die Münchener Organisation war schon seit einiger Zeit von Spitzeln durchsetzt,
sodass die Polizei fast über alle Vorgänge in der Partei unterrichtet war. Sogar der Ver-
bindungsmann in München war ein Spitzel, der vom Bund Oberland199 in die Partei
geschickt war. Man hatte diesem Spitzel den Posten gegeben, ohne genau zu prüfen,
woher der Mann kam. Man war zufrieden, dass jemand den Posten übernommen
hatte.
In Württemberg, Schlesien, Mecklenburg, Thüringen, Sachsen und in Hamburg
sind viele der besten Funktionäre verhaftet oder flüchtig, sodass in diesen Bezirken
die Arbeit fast völlig eingestellt ist. Selbst in Berlin ist nur selten eine Zeitung oder ein
Flugblatt von uns zu bekommen. Sehr gut wird in Berlin nur in der Waffenbeschaf-
fung gearbeitet. Der leitende Genosse A.,200 der lange mit Karl [Radek] zusammen-
gearbeitet hat, ist sehr tüchtig. Der Apparat dieser Genossen ist der einzige der gut
funktioniert, aber auch in dieser Arbeit wirtschaften zu viel[e] herum. Den Genos-
sen werden dadurch viel Schwierigkeiten gemacht und die Arbeit gefährdet. In den
anderen Bezirken ist die Beschaffung von Waffen sehr schlecht organisiert.
Als Folge des Scheiterns der Revolution in Deutschland fasste das Politbüro des ZK der KP Russlands
weitere Beschlüsse: Am 22.11.1923 wurde die Kommandierung von Pieck, Krestinskij sowie eines Ge-
werkschafters der KPD nach Moskau nochmals bestätigt. Des weiteren sollte an die Berliner Organi-
sation der KPD ein Telegramm folgenden Wortlauts geschickt werden: „Wir kommen Ihnen in Ihren
Bestrebungen, die Aufklärung der Angelegenheit Maslow zu beschleunigen, entgegen, und bitten
darum, schnellstmöglich zwei Ihrer Vertreter in die Kommission zur Aufklärung der Angelegenheit zu
schicken.“201
Am 24.11.1923 traf das Politbüro des ZK der KP Russlands die Entscheidung, den Volkskommissar
für Erziehung, Anatolij Lunačarskij, zur internationalen Konferenz für die Hilfe an die hungernden
Deutschen zu entsenden – vermutlich die am 9.12.1923 eröffnete Weltkonferenz der Internationalen
Arbeiterhilfe.202
199 Der Bund Oberland war eine ultrarechte süddeutsche Freikorps-Organisation, sie bildete den
Kern der SA in Bayern. Aus dem Bund Oberland stammte der Stellvertreter Skoblevskijs, Heller (Ps.),
bei dem es sich um Josef (Beppo) Römer oder auch Hans von Henting gehandelt haben könnte (siehe:
Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deutscher Oktober 1923, S. 89 u.a.).
200 Bei dem „leitenden Genossen A.“ könnte es sich um „Alfred“ (Ps.), d.i. Tuure Lehén handeln,
den finnischen Militärspezialisten, der später Gesamtverantwortlicher des EKKI für militärpolitische
Aktivitäten wurde, möglicherweise auch um „Alex“ (Ps.), d.i. Hans Kippenberger, den späteren Ge-
samtleiter des militärpolitischen Apparats der KPD.
201 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 30–31. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 221.
202 RGASPI, Moskau, 17/3/396, 3.
350 1918–1923
Dok. 101
Denkschrift des Leiters der Aufklärungsabteilung der Roten
Armee, Jan Berzin, zur Kritik Radeks an der unzureichenden
Konspiration in Deutschland
[Moskau], 27.11.1923
203 Artur Staševskij (Ps. Stepanov, 1890–1937) war von 1921 bis 1924 Leiter der gemeinsamen Resi-
dentur der Auslandsabteilung der GPU und der Aufklärungsverwaltung des Stabs der Roten Armee in
Berlin (siehe: Genis: Nevernye slugi režima, S. 686).
204 Am 20.11.1923 schrieb Karl Radek an Iosif Unšlicht, dass er vom heutigen Tag an „alle Bezie-
hungen zur Organisation Stepanovs abbrechen“ werde. „Nachdem ich in der fünften Wohnung fest-
gestellt habe, dass man mit diesen Leuten nicht zusammenarbeiten kann, [...] bleibt mir angesichts
der Verantwortungslosigkeit dieser Leute nichts anderes übrig, als die Angelegenheit der Sicherheit
in meine eigenen Hände zu nehmen.“ Radek kündigte an, einen ausführlicheren Bericht zu senden
und gegen Stepanov ein Parteiverfahren anzustrengen (RGASPI, Moskau, 326/2/21, 161). Allerdings
scheinen die Beschwerden Radeks schon früher eingesetzt zu haben.
205 Schneider hier als Berufsstand („portnych“).
Dok. 101: [Moskau], 27.11.1923 351
würde, und er verzichtete deswegen kategorisch auf die Nutzung der Wohnung. Über
Umwege erfuhr man später (nach den Worten des Gen. Stepanov), dass der Kompa-
gnon von Rejch den Gen. Andrej doch nicht kannte. Die zweite ihm vorgeschlagene
Wohnung wurde von ihm verworfen, weil die Besitzer – zwei jüdische Genossen, die
die Rolle von Schiebern spielen sollten –, seiner Meinung nach schlecht gekleidet
waren. [...] Die letzte Wohnung, die man als Ersatz für die aktuelle Wohnung fand,
wurde wieder von Gen. Andrej abgelehnt, mit der Begründung, dass sich die Haus-
wirtin, die ihm als alt, geistig zurückgeblieben und tagsüber nicht anwesend geschil-
dert wurde, als um einige Jahre jünger als ursprünglich von Gen. Andrej angenom-
men und seiner Meinung nach auch als durchaus geistig entwickelt entpuppte (und
nicht als Halbidiotin, wie ihm gesagt wurde). [...] Es muss festgehalten werden, dass
der Zustand des Gen. Andrej den Aussagen von Gen. Alex [d.i. Hans Kippenberger]
zufolge die gesamte Zeit über krankhaft nervös ist; er regt sich über Nichtigkeiten
furchtbar auf, weist die ihn betreuenden Genossen manchmal grob zurecht, und
moniert Kleinigkeiten. [...]
10. Natürlich gibt es Mängel in der Betreuung der Vierergruppe mit Wohnungen
und Verbindungen, doch hängen diese nicht vom guten oder bösen Willen des Gen.
Stepanov ab. [...] Für eine gute Betreuung der Vierergruppe werden mehrere den
Anforderungen der Konspiration entsprechende Wohnungen sowie eine Reihe von
Hilfspersonen (Hauswirtinnen, Verbindungspersonen usw.) benötigt. Gen. Stepanov,
der bis dato nur über einen kleinen Aufklärungsapparat verfügte, konnte natürlich
nicht auf einen Schlag dutzende Wohnungen und freie Leute zur Verfügung stellen.
Dies kann nur die Partei bewerkstelligen, doch die Partei hat ihm, entgegen allen
Bitten, bis jetzt weder Wohnungen noch Leute zur Verfügung gestellt. Abgesehen davon
hat sich Gen. Andrej kategorisch geweigert, in einer Wohnung zu bleiben, die von
deutschen Kommunisten betreut würde. [...]
11. Zusätzlich zu den obigen Ausführungen muss ich Ihnen mitteilen, dass die
Bemühungen des Gen. Stepanov zur Versorgung der Vierergruppe durch die Missach-
tung der Konspiration seitens des Gen. Andrej und seine unerfüllbaren Forderungen
äußerst erschwert werden. Um meine Worte zu untermauern, führe ich die mir sowohl
in Warschau als auch in Berlin übermittelten Informationen an.
In Warschau [...] hat Gen. Andrej bereits auf dem Bahnhof den ihn abholenden
Personen einen Skandal beschert. Er verdächtigte den Missionskurier, ein Spion zu
sein, und fing an, ihn öffentlich zu denunzieren, wodurch sich um ihn herum eine
große Menschenmenge ansammelte, und dabei natürlich auch die im Bahnhof anwe-
senden polnischen Spitzel. Die Warschauer Genossen wundern sich bis heute, warum
er nicht an Ort und Stelle von polnischen Spitzeln erkannt wurde. Um 8 Uhr morgens
in der Mission angekommen, veranstaltete er erneut einen Tumult darüber, warum
ihn denn nicht die verantwortlichen Mitarbeiter der Mission empfangen hätten; er war
auch mit dem ihm zu Verfügung gestellten Zimmer unzufrieden usw. All das rief die
Aufmerksamkeit der Mitarbeiter der Mission hervor, und selbstverständlich rätselte
das Kollektiv der Mission noch einige Tage später darüber, um was für ein hohes Tier
352 1918–1923
es sich bei diesem angereisten Genossen gehandelt habe. Am Abend seiner Ankunft
in Warschau hielt es Gen. Andrej für angebracht, zusammen mit Gen. Obolenskij206 in
die Oper aufzubrechen. Sein Erscheinen zusammen mit dem bevollmächtigten Vertre-
ter der UdSSR zog natürlich die neugierigen Blicke des Publikums an, und er musste
schnell wieder von dort verschwinden. [...]
In Berlin hielt er es für möglich, sich nicht nur mit den ZK-Mitgliedern, sondern
mit einer Reihe weiterer Parteigenossen zu treffen. Die Kunde über seine Anwesenheit
in Berlin verbreitete sich schnell in relativ weiten Kreisen deutscher Kommunisten,
und so forderte beispielsweise die Konferenz verantwortlicher [Partei-]Arbeiter der
Berliner Organisation (150 Personen) ein Auftreten von ihm. [...]
Zu seiner Enttarnung trägt im verstärkten Maße auch Gen. L[arissa] R[eissner]
bei, die als Izvestija-Korrespondentin die Sitzungen des Reichstags besucht, mit den
deutschen Sozialdemokraten verkehrt, auf den offiziellen Versammlungen der Berli-
ner kommunistischen Organisation erscheint, und gleichzeitig – ohne Zweifel unter
Beschattung stehend – zwei bis drei Mal täglich die Wohnung des Gen. Andrej auf-
sucht (wie Gen. Alex [d.i. Hans Kippenberger] mitteilt).207
Dem hinzuzufügen ist noch die Unmenge von Zeitungen, die täglich für den Gen.
Andrej in die Wohnung gebracht werden, und eine Reihe anderer Kleinigkeiten.
Die weiteren Mitglieder der Vierergruppe (die Gen. Arvid [d.i. Jurij Pjatakov], [und]
Nik[olaj] Nikolaevič [Krestinskij]) nehmen, soweit mir bekannt ist, auf die schwieri-
gen Bedingungen, unter denen Gen. Stepanov arbeiten muss, Rücksicht und erheben
keine besonderen Vorwürfe gegen ihn.
Abschließend will ich darauf hinweisen, dass, entgegen allen von Gen. Andrej
gegen Gen. Stepanov angeführten Beschuldigungen, es Gen. Stepanov schon seit ein-
einhalb Monaten gelungen ist, Gen. Andrej sowie die gesamte Vierergruppe vor dem
Auffliegen und vor den scharfen Augen des deutschen Geheimdienstes zu bewahren.
[...]
Abgesehen davon ist es notwendig, falls der Apparat des Gen. Stepanov weiter die
Vierergruppe betreuen soll, Gen. Stepanov seitens der Kompartei Deutschlands eine
maximale Kooperation zukommen zu lassen.
Berzin
206 Leonid Leonidovič Obolenskij war von 1922 bis 1924 Missionsleiter und Bevollmächtigter Vertre-
ter der UdSSR in Polen.
207 Larissa Reissner, die Lebensgefährtin von Radek war eine Journalistin und Reiseschriftstellerin
des Bürgerkriegs und der Weltrevolution, u.a. Autorin von: Hamburg auf den Barrikaden. Erlebtes
und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand 1923, Berlin, Neuer Deutscher Verlag, 1923. Zu ihrem frü-
hen Tod mit 30 Jahren schrieb Radek am 1.12.1926: „Geblieben sind von ihr ein paar schmale Bänd-
chen. (...) Sie werden verkünden, dass es eine internationale Revolution war, für Ost und West, für
Hamburg und Afghanistan nicht weniger als für Leningrad und den Ural.“ (Karl Radek: Portraits
and pamphlets, with an introduction by A.J. Cummings and notes by Alec Brown, New York: R.M.
McBride, 1935. Übersetzung aus dem Englischen).
Dok. 101: [Moskau], 27.11.1923 353
Am 29.11.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands Direktiven an das Volkskommissariat
für Verkehrswesen den Abschluss der Getreidelieferungen an Deutschland im Rahmen des im Juli
abgeschlossenen Vertrags, unter den Bedingungen, dass die russischen Finanzen keinen Nachteil
erleiden und die deutsche Regierung die Zahlung garantieren würde.208
Ebenfalls am 29.11.123 wurde auf Vorschlag Sinowjews beschlossen, daß die „Vierergruppe“ in
Deutschland die Aufforderung an Wilhelm Pieck, einen Gewerkschafter und zwei weitere KPD-Genos-
sen, zum Zwecke der Aufklärung der „Affäre Maslow“ nach Moskau zu kommen, bestätigen sollte. Das
Ziel sei es, die neue Lage zu besprechen und eventuelle Missverständnisse aufzuklären.209
Am 8.12.1923 erfolgte seitens des Politbüros des ZK der KP Russlands ein erneuter Beschluss zum
Rückruf der Delegation aus Deutschland. Darüber hinaus sollten nun außer den beiden bereits ange-
forderten Berliner KPD-Vertretern weitere vier Genossen aus dem Ruhrgebiet sowie einer aus Ham-
burg mitkommen. Ebenfalls sollten Brandler und Thalheimer nach Moskau kommen. Die Reise solle
unverzüglich angetreten werden.210
Nach der Vertagung vom 18.12.1923 befasste sich am 20.12.1923 das Politbüro des ZK der RKP(b) mit
der Bilanz des gescheiterten „Deutschen Oktober“. Hierzu wurde ein Grundsatzbeschluss „über die
Lehren der deutschen Ereignisse“ gefasst, der später von der Komintern übernommen wurde. Die
von Sinowjew formulierten Thesen sollten als Ausgangspunkt dienen, eine Kommision aus Sinowjew,
Stalin, Radek, Pjatakov, Bucharin und Trotzki sollte innerhalb von drei Tagen im Thesenentwurf die
notwendigen Korrekturen einfügen. Danach sollte Sinowjew die Thesen mit der Mehrheit im ZK der
KPD abstimmen.211
208 RGASPI, Moskau, 17/3/397, 2; APRF, 3/64/645, 110. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 113.
209 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 34. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 226–227.
210 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 35. Publ. in: Ibid., S. 227.
211 RGASPI, Moskau, 17/3/402, 1. Publ. in: Ibid., S. 228–229.
354 1918–1923
Dok. 101a
Brief des militärischen Leiters beim ZK der KPD, Petr Skoblevskij,
d.i. Vol’demar Roze, zur Absage der deutschen Revolution und den
weiteren Aufgaben des Militärapparats
Berlin, 23.12.1923
Werter Genosse!
Ich glaube, dass Sie meine Denkschrift vom 19. d. Mts. über die nächsten Aufgaben
des Militärapparates erhalten haben.212
Ich halte für die wichtigste Aufgabe die Schulung des Führerkaders aus den
besten deutschen Genossen. Dies kann in Deutschland nicht durchgeführt werden,
sondern nur in R[ussland]. – Es wäre sehr erwünscht, über diesen Vorschlag zunächst
im Prinzip zu entscheiden, ob der Kursus zusammengestellt werden soll oder nicht.
Alle anderen Fragen, die für den Kursus in Betracht kommen bezüglich der Leitung,
Lehrkräfte, Lehrplan etc. kommen nur in zweiter Linie in Betracht.
Was die Geldfragen betrifft, so habe ich hierüber keine Klarheit.
Die in der Denkschrift vom 6. d. Mts. vorgeschlagenen Etats werden wohl nicht
bestätigt, weil die Perspektiven für die Revolution auf längere Zeit eingestellt werden.
Die Grösse des Budgets hängt von der Aufgabe ab, die an uns gestellt wird.
Beiligend übersende ich ein Minimalbudget von 24.000 Dollar monatlich.213
Bitte zunächst dieses Budget auf drei Monate zu bewilligen und uns das Geld
schnell und zuverlässig zu senden. Der beigelegte Etat enthält im Vergleich zum Etat
vom 6. Dezember eine starke Restringierung des Apparates.214
212 Eine Denkschrift vom 19.12.1923 konnte nicht nachgewiesen werden. Eruiert wurde lediglich der
dazugehörige Begleitbrief vom 20.12. an Pjatnitzki mit der Erklärung, dass es sich bei den in der Denk-
schrift enthaltenen Vorschlägen über die Schaffung von Militärkursen der KPD in Moskau und die
Errichtung einer politischen Schule in Oberschlesien um Beschlüsse des ZK handele. Der Autor des
Briefes erinnerte ebenfalls an die Entsendung von „neun russischen Genossen“ nach Deutschland zur
agitatorischen Arbeit und zur Zersetzung der Armee (RGASPI, Moskau, 495/19/504, 4).
213 Der Satz ist handschriftlich eingefügt.
214 Die Beilage ist vermutlich nicht überliefert. Drei Tage später, am 27.12.1923 sandte der Leiter des
militärpolitischen Apparats der KPD einen Brief an Brandler in Moskau, in dem er ihn bat, sich für
weitere Mittelzuweisungen für die antimilitärische Arbeit einzusetzen, sowie die Schulfrage zu klären
(RGASPI, Moskau, 495/19/504, 7).
Dok. 101a: Berlin, 23.12.1923 355
Ich bitte auf meine Denkschriften, Berichte und Briefe, die ich an Sie sandte,
– wenn noch so kurz – mir Ihre Meinung mitzuteilen; für die Arbeit wäre dies von
enormer Wichtigkeit.
In einem Brief der KP Polens an das Präsidium des EKKI und das Politbüro des ZK der KP Russlands
wurde am 23.12.1923 die Handhabung der deutschen Ereignisse und der russischen Parteikrise durch
die Komintern scharf kommentiert. Das Plenum des ZK der KP Polens kritisierte in scharfer Form die
offizielle Behandlung der Oktoberniederlage in Deutschland und der Krise in der russischen Partei.
In dem Schreiben wurden Trotzki, Brandler und Thalheimer verteidigt und eine Diskussion der russi-
schen Parteikrise in der Komintern gefordert. Über die Verantwortung für die Oktoberniederlage hieß
es: „Wir lassen die Möglichkeit, dass Gen. Trotzki nicht zu den Führern der RKP(b) und der KI gehört,
nicht zu [...].“ Für die nächste EKKI-Sitzung wurde verlangt, die „Frage nach der Krise in der RKP(b)“
zu diskutieren.215
Am 27.12.1923 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, die Thesen Sinowjews über die „Leh-
ren des deutschen Oktobers“ endgültig anzunehmen. Desweiteren wurde Radek dafür verurteilt, dass
er auf die „rechte Minderheit im ZK der KPD“ gebaut habe, „während das Politbüro des ZK der RKP(b)
seine Politik an der überwältigenden Mehrheit im ZK der KPD und auf der Zusammenarbeit mit der Lin-
ken bei Kritik an ihren Fehlern und ihrer Unterstützung in allem, was in ihr richtig ist“ aufbaue. Radek
habe „die Klassenkräfte in Deutschland“ falsch eingeschätzt und die Gegensätze im faschistischen
Lager „opportunistisch“ überschätzt.216
Dok. 102
Stellungnahme Aleksandr Lozovskijs an das Politbüro des ZK der
KP Russlands zum Verhältnis von sowjetischer Regierung und
Komintern
Moskau, 28.12.1923
Die letzte „Enthüllung“ von Hughes217 beweist, dass wir uns ernsthaft der Frage nach
den formalen Wechselbeziehungen zwischen der Sowjetregierung und der Komintern
zuwenden müssen. Es geht nun um den Abschluss neuer Verträge mit neuen Staaten,
und diese Frage wird vor, während und nach den Verhandlungen immer wieder auf-
tauchen. Man müsste in einer Art formalem Akt, auf den man sich im weiteren immer
wieder berufen könnte, feierlich die „vollständige Unabhängigkeit“ der Sowjetmacht
von der Komintern und umgekehrt deklarieren. Die Motive dafür lege ich nicht dar,
denn sie sind völlig klar, dies würde meinen Vorschlag nur in die Länge ziehen. Die
ganze Frage geht darum, wie man es bewerkstelligen soll, dass sowohl die „Unab-
hängigkeit“ erreicht würde, als auch zugleich die Komintern und die Sowjetmacht
keinerlei politischen Schaden davontragen würden. Man könnte dies folgendermaßen
bewerkstelligen:
1) In der Fraktion des Allrussischen Sowjetkongresses die Notwendigkeit einer
solchen „Unabhängigkeit“ erklären.
2) Auf dem Sowjetkongress eine besondere Resolution im Zusammenhang mit der
Hughes-Kampagne verabschieden.
3) In dieser Resolution, um Hughes und allen anderen politischen Gaunern das
ihnen Gebührende zu verabreichen, ungefähr folgendes sagen: „Der Allrussische
Sowjetkongress der Arbeiter-, Bauern- und Rotarmistendeputierten erklärt feierlich,
dass die Kommunistische Internationale, wie auch die Rote Gewerkschaftsinternatio-
217 Charles Evan Hughes, Staatssekretär der USA, sprach sich am 18.12.1923 im Senat gegen die Wie-
deraufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion aus. Ein Hauptmotiv dafür sei
„die fortgesetzte Propaganda für die Niederwerfung unserer Ordnung“. Am 19.12. veröffentlichte das
State Department eine Pressemitteilung, in der der Inhalt einer angeblichen „Instruktion“ der Kom-
intern an die KP der USA zur Bildung von Kampfgruppen und zur militärischen Schulung wiederge-
geben wurde. In derselben Pressemitteilung hieß es, die Komintern und die Sowjetregierung seien
identisch. Außenkommissar Čičerin erklärte dazu, die von Hughes publizierten Dokumente seien
Fälschungen. Er schlug vor, die Dokumente einem Schiedsgericht vorzulegen, doch die Regierung der
USA lehnte dies ab (Dokumenty vnešnej politiki SSSR, IV, Moskva, 1962, S. 547–548, 552, 628–629).
Dok. 102: Moskau, 28.12.1923 357
nale, die sich auf dem Territorium der Sowjetrepubliken befinden, freiwillige interna-
tionale Zusammenschlüsse darstellen, die von der Sowjetmacht und ihren Organen
nicht kontrolliert werden können. Auf der anderen Seite können diese freiwilligen
Vereinigungen der revolutionären Arbeiter ihrerseits nicht die Tätigkeit der Sowjet-
macht kontrollieren, die ausschließlich dem Allrussischen Sowjetkongress Rechen-
schaft schuldig ist.“
Selbstverständlich handelt es sich um einen Beispieltext. Ich denke, dass eine
solche Erklärung im Namen des Allrussischen Sowjetkongresses notwendig ist, und
andererseits diese Erklärung für alle unsere Diplomaten als Schutz dienen soll. Um
unterschiedlichen Interpretationen vorzubeugen, muss sie möglichst kurz und klar
sein. Mein Vorschlag ist so kurz wie möglich, und inwieweit er dem anderen Kriterium
entspricht, wäre zu besprechen, falls das Politbüro die Proklamierung einer solchen
„Unabhängigkeit“ für zweckmäßig erachten sollte.
Mit Genossengruß
A. Lozovskij
Moskau, 28. Dezember 1923.
Am 29.12.1923 fasst das russische Politbüro einen Beschluss „über die Unterstützung deutscher Wis-
senschaftler“. Die von Gen. Tomskij vorgeschlagene Zuteilung von Lebensmitteln – in Russland war
zwischenzeitlich ein „Hilfskomitee für die Leidenden Deutschlands“ gegründet worden – sollte ver-
doppelt und in Geldform durchgeführt werden.218
Am 31.12.1923 verurteilte das Politbüro des ZK der KP Russlands eine Erklärung Trotzkis zur Bilanz der
deutschen Ereignisse. Er hatte sich grundsätzlich gegen die Politbüro- und Kominternresolution über
die deutschen Ereignisse ausgesprochen. Das Politbüro verurteilte seine Aussage, man habe die „die
deutsche Partei zur Annahme der Resolution des Politbüros“ gezwungen, die „ohne die Beteiligung
deutscher Genossen beschlossen wurde“. Trotzki, Radek und Pjatakov hätten den deutschen Genos-
sen einen Gegenentwurf zur Politbüro-Resolution gesandt. Ihr Verhalten sei jedoch als eine „offene
Verletzung der Parteidisziplin“ verurteilt worden.219
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 2.1.1924 nach einer Diskussion mit der KPD-
Mehrheitsdelegation „über die Lehren der deutschen Ereignisse“, die Diskussion sowohl mit der
Mehrheitsdelegation wie auch mit der Delegation der Linken fortzusetzen, um einen Konsens im EKKI
zu erreichen. Zugleich wurden Trotzki, Radek und Pjatakov wegen „Verletzung der Parteidisziplin“ ge-
rügt. Die Pravda hatte am 28.12.1923 einen Text Trotzkis veröffentlicht, in dem die Komintern-Führung
in die Verantwortung für die Niederlage der „deutschen Revolution“ einbezogen wurde.1
Als Zugeständnis an die „Berliner Linke“ beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands am
10.1.1924, Arkadi Maslow von der „Beschuldigung der politischen Unzuverlässigkeit“ aufgrund sei-
nes Auftretens vor Gericht freizusprechen und seine Rückkehr nach Deutschland zu veranlassen.
Gleichzeitig wurde Sinowjew beauftragt, die Verhandlungen mit den deutschen Delegationen fortzu-
setzen und sie spätestens am 12.1. abzuschließen.2
Am 10.1.1924 bestätigte das Politbüro des ZK der KP Russlands einen ersten, auf den 4.2.1924 vor-
datierten Entwurf eines Antwortbriefes an die KP Polens (siehe 23.12.1923). Der polnischen KP wird
darin vorgeworfen, die „rechte Minderheit“ des ZK der KPD zu unterstützen, während es kaum im
Interesse der polnischen Arbeiter sein könnte, mit den „linken Arbeitern Hamburgs und Berlins“ zu-
gunsten der „groben Fehler der rechten Minderheit im ZK“ zu brechen. In diesem Sinne wird auch hier
Karl Radeks Haltung desavouiert. Zur Parteinahme der KP Polens für Trotzki schrieb das Politbüro in
dem von Stalin, Rykov und Sinowjew redigierten Antwortentwurf, die polnischen Genossen würden
zwar mit ihrer Forderung nach der weiteren Teilhabe Trotzkis an Komintern- und Parteiarbeit „offene
Türen einrennen“, doch objektiv würden sie damit die „kleine opportunistische Fraktion in der RKP,
deren Politik von einer überwältigenden Mehrheit unserer Partei abgelehnt wurde“, unterstützen. Da-
mit wurde die KP Polens, so der russische Historiker Fridrich Firsov, als „trotzkistisch, fraktionell“
abgeurteilt – ein Vorwurf, den Stalin auf dem V. Weltkongress der Komintern als Leiter der polnischen
Kommission erhärtete.3
Dok. 103
Memorandum Radeks nach der Absage der deutschen Revolution
Moskau, 18.1.1924
Der Beschluss des Politbüros des ZK der RKP vom 27. Dezember 19224 und der
Beschluss des Plenums des ZK der RKP vom 15. Januar 19245 zwingen mich dazu, fol-
gendes zu erklären:
1. Diese Erklärungen belegen, dass die Genossen unrecht hatten, die annahmen,
dass meine Meinungsverschiedenheiten mit der Mehrheit im ZK über die deutschen
Angelegenheiten in der Frage nach der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Rückzugs
der Deutschen Kommunistischen Partei am 21. Oktober begründet sind. Das ZK der
RKP, wie auch das Exekutivkomitee der Komintern, haben unzweideutig anerkannt,
dass die Deutsche Kompartei Recht hatte, als sie angesichts der überlegenen bewaff-
neten Kräfte des Feindes und der Spaltung der Hauptkader der Arbeiterklasse dem
bewaffneten Kampf ausgewichen ist.
2. Die Behauptung des Politbüros, meine Ansicht über die Bedeutung der Mei-
nungsverschiedenheiten im Lager des deutschen Faschismus für die Entfaltung des
Kampfes der Arbeiterklasse um die Übernahme der Macht sei opportunistisch, stellt
eine Unfähigkeit dar, den Leninismus auf die deutsche Lage anzuwenden. In Lenins
„Kinderkrankheit“ heißt es:
„Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannung der Kräfte
und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs angelegentlichste, sorgsamste,
vorsichtigste, geschickteste sowohl jeden, selbst den kleinsten „Riß“ zwischen den
Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen
Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeoisie inner-
halb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglichkeit ausnutzt,
um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweili-
ger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein. Wer das
nicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissen-
schaftlichen, modernen, Sozialismus überhaupt begriffen. Wer nicht während einer
recht beträchtlichen Zeitspanne und in recht verschiedenartigen politischen Situa-
tionen praktisch bewiesen hat, daß er es versteht, diese Wahrheit in der Tat anzu-
wenden, der hat noch nicht gelernt, der revolutionären Klasse in ihrem Kampf um
die Befreiung der gesamten werktätigen Menschheit von den Ausbeutern zu helfen.
Und das Gesagte gilt in gleicher Weise für die Periode vor und nach der Eroberung der
politischen Macht durch das Proletariat.“6
Der einzige massenhafte Verbündete, den das Proletariat in Deutschland gewin-
nen kann, ist die Dorfarmut und die städtische Kleinbourgeoisie. Was letztere angeht,
musste Gen. Sinowjew anerkennen, dass sie in der deutschen Revolution in gewissem
Sinne die Rolle spielen wird, die die Bauernschaft in Russland spielte. Man kann die
Kleinbourgeoisie nicht anders gewinnen, als durch die energische, standhafte Aus-
nutzung der Gegensätze zwischen der grundbesitzerisch-kapitalistischen Führung
des Faschismus und der kleinbürgerlichen Masse, die vom Faschismus Rettung
erhofft, und in der Tat von ihm proletarisiert wird.
3. Die Behauptung des Politbüros, meine Organisationspolitik habe objektiv zur
Spaltung der deutschen Partei geführt, und dass ich mich auf den rechten Flügel
gestützt und den linken Flügel7 angegriffen hätte, widerspricht den Hauptfakten:
auf dem Leipziger Parteitag der Deutschen Kompartei im Januar 1923 zogen nur dank
meiner Einmischung Vertreter der Linken in das ZK ein. Im Sommer [19]23 habe ich
für die Stärkung der Linken im ZK der deutschen Kompartei gestimmt, und im Sep-
tember [19]23 stimmte ich im Exekutivkomitee gegen die Absetzung der linken Führer
der Berliner Organisation. Nur Dank meiner nachdrücklichen Forderungen wurden
zwei Vertreter der Linken in das führende Zentrum des deutschen ZK aufgenommen.
Das, wogegen ich auftrat und weiter auftreten werde, ist die ideelle Kapitulation vor
den Führern der scheinrevolutionären „Linken“, die Liquidation der Taktik der Ein-
heitsfront, wie sie gegen den Widerstand des Gen. Sinowjew und unter der Führung
von Vladimir Ilʼič [Lenin] im Jahre [19]21 begonnen wurde. Der Teil der Deutschen
Kompartei, den die Politbüro-Resolution als den rechten Flügel der K.P.D. bezeichnet,
ist in der Tat die Hauptgruppe der Partei, die sich in den Kämpfen gegen Kautsky 1911
gebildet hatte, die die ganze Last des illegalen Kampfes des Spartakusbundes gegen
den Krieg auf ihren Schultern trug, die 1918 die Kompartei gründete, die den Bür-
gerkrieg 1919–20 anführte. Mit dieser Gruppe, die von den engsten Mitstreitern Rosa
Luxemburgs und Liebknechts, wie den Genossen Brandler, Pieck und Thalheimer,
Walcher und Clara Zetkin geleitet wird, war und bin ich im allgemeinen solidarisch.
4. Die Warnung des ZK der RKP vor einer Anfachung des fraktionellen Kampfes
durch mich in den Reihen der Internationale ist unbegründet und unnötig. Ange-
sichts der Lage jedoch, die durch den Beschluss des ZK zur deutschen Frage geschaf-
fen wurde, begnüge ich mich – um den fraktionellen Kampf nicht in die Reihen des
deutschen Proletariats hineinzutragen, das im Moment tollwütige Attacken der Bour-
6 V. I. Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Zit. nach: Lenin:
Werke. XXXI: April-Dezember 1920, S. 56–57.
7 Gemeint ist die Gruppe um Ruth Fischer und Arkadi Maslow.
364 1924–1929
geoisie abwehren muss, – mit dieser Erklärung und weigere mich, meine Meinung
über die Gründe der Niederlage in Bulgarien8 und Deutschland, wie auch über weitere
heranreifende Fragen der Komintern vor der Konferenz darzulegen, die sich – da habe
ich keine Zweifel – klar umrissen vor der russischen wie auch den anderen Sektionen
der Komintern stellen werden.
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 4.2.1924, auf Basis einer Information von Sinow
jew, den Profintern-Sekretär Lozovskij, der grundsätzlich ein Gegner der Einheitsfrontpolitik war, als
Kandidat des EKKI zu nominieren, und „bat“ das EKKI, diese Entscheidung, die „eine gewisse Ver-
letzung der EKKI-Statuten beinhaltet“, zu sanktionieren. Infolge dessen nahm Lozovskij bereits im
Frühjahr 1924 als Kandidat an den EKKI-Sitzungen teil, obwohl er nach den Statuten erst auf dem V.
Weltkongress (Juni–Juli 1924) in dieser Funktion bestätigt werden konnte. Gleichzeitig beschloss das
Politbüro, Aleksandr Martynov (urspr. Saul Piker), Šackin und Manuilski in das EKKI abzukomman-
dieren.9
Dok. 104
Begleitbrief Karl Friedbergs (Ps.), d.i. Karl Gröhl, später Retzlaw,
zum Militärprogramm der KPD
O.O., 4.2.1924
Werter Genossel
Anbei ein Entwurf für ein Militärprogram der K.P.D.10 Obwohl die M[ilitärische] Arbeit
heute von der Partei anerkannt wird, muss sie doch meiner Meinung nach program-
matisch festgelegt werden. Die Zentrale der K.P.D. betrachtet heute noch die M.Arbeit
als eine „Saison“arbeit, eine Arbeit die man gelegentlich macht. Daraus ergaben sich
auch die Fehler, die bisher in dieser Arbeit gemacht worden sind und noch gemacht
werden. Die bisherigen Erfahrungen in den deutschen Kämpfen sind fast gar nicht
ausgenutzt worden. Nach den Aeusserungen verschiedener Zentralemitglieder zu
schliessen, ist diese Arbeit, deren Notwendigkeit auf der Hand liegt, heute noch nicht
in der ganzen Bedeutung begriffen worden, die ihr zukommt.
8 Hinweis auf den von der KP am 19.9.1923 angeleitete Aufstand in Bulgarien (bis 28.9.1923), der mit
einer blutigen Niederlage endete (siehe hierzu auch Dok. 84).
9 RGASPI, Moskau, 17/3/414, 6. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Po-
litbjuro i Komintern, S. 246.
10 De facto erfolgte eine grundsätzliche Umorientierung der M-Arbeit, auch personell. So wurden
Retzlaw und Brandler nach Moskau beordert und dort eine deutsche MP-Schule eröffnet. Siehe hierzu
auch in der Einleitung von Hermann Weber, in Bd. 1, S. 69ff.
Dok. 105: [Moskau], 11.2.1924 365
Die russischen Genossen, die als „Fach“leute von der Zentrale hinzugezogen
sind, (angeblich, weil in der deutschen Partei für diese Arbeit keine Kräfte vorhan-
den sind), haben bewiesen, dass sie der Arbeit in Deutschland nicht gewachsen sind.
Zum Teil stehen sie den Verhältnissen in Deutschland völlig verständnislos gegen-
über. Das Kapitel über das Verhältnis zum Ausland habe ich hineingebracht, weil
der Genosse Brandler in einer Sitzung der Zentrale, ohne Widerspruch zu finden,
erklärte: „Es ist selbstverständlich, dass im Falle einer proletarischen Revolution die
Nachbarstaaten, besonders Polen und die Tschechoslowakei in Deutschland einmar-
schieren werden.“11
Ich bitte, diesen Entwurf zur Diskussion zu stellen.
Anlage!
Dok. 105
Bericht des sowjetischen Militärexperten beim ZK der KPD,
Aleksej Štrodach, an die Komintern über künftige revolutionäre
Perspektiven für Deutschland
[Moskau], 11.2.1924
Nach einem viermonatigen Aufenthalt in Deutschland will ich in kurzer Form meine
Eindrücke mitteilen.12
Die Stimmung der Massen ist keine kämpferische und nicht so, wie sie für eine
Machtergreifung notwendig ist. Und dies ist keine zufällige oder vorübergehende
11 In den militär-strategischen Überlegungen während der Vorbereitungen des deutschen Oktober
war diese Perspektive durchaus eine realistischerweise ins Auge zu fassende Option. Diese und ähnli-
che Fragen wurden auch auf der geheimen Moskauer Konferenz der russischen Mitglieder der Exeku-
tive der Komintern mit der Delegation der KPD, der KP Frankreichs und der KP der Tschechoslowakei
Ende September 1923 besprochen, ausschnittsweise publiziert in: Bayerlein/Babičenko/Firsov: Deut-
scher Oktober 1923, S. 163–778.
12 Im Dokument fehlt eine Empfängerangabe. Bei Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja,
wird davon ausgegangen, dass der Bericht an das EKKI gerichtet war. Aleksej P. Štrodach (1894–1956),
Bolschewik seit 1912, vor dem 1. Weltkrieg Matrose. Seit 1918 in der Roten Armee, schloss 1922 die
Akademie des Generalstabs ab, 1924–1934 „Partei- und Wirtschaftsarbeit in Moskau und anderen
Städten“, 1934–1936 Lehrer an der Internationalen Leninschule (ibid., S. 450), nach dem 2. Weltkrieg
stellvertretender Leiter des Staatlichen Komitees für die Wirtschaftsplanung der Lettischen Sozialisti-
schen Sowjetrepublik, seit 1949 Rentner.
366 1924–1929
13 Zum Stand der militärpolitischen Literatur siehe auch den Bericht der „Bibliothek“, Dok. 93.
Dok. 105: [Moskau], 11.2.1924 367
die Aufmerksamkeit der Weißen abzulenken und an uns zu binden. Dafür muss
Polen sowjetisch sein. Die kommenden ersten Schritte zur Weltrevolution müssen mit
Polen beginnen, und sich dann erst mit Deutschland fortsetzen. Alle Kräfte müssen
zunächst auf Polen konzentriert werden. Polen muss rechtzeitig sowjetisch werden.
In Deutschland gibt es viel Material für eine Revolution. Es hat in der Vergangenheit
viele Anlässe für eine Revolution gegeben, und auch in der Zukunft wird es davon
nicht wenige geben, die Erfahrung der letzten Jahre hat jedoch gezeigt, dass eine
erfolgreiche Revolution dort ohne unsere unmittelbare Hilfe (und eine unmittelbare
Grenze) nicht gelingen kann.14
Zum jetzigen Zeitpunkt sind unsere Militärorganisationen in Deutschland ent-
wickelt und reich an Erfahrung. Überhaupt wäre es wünschenswert, die Erfahrung
der militärischen Arbeit in verschiedenen Ländern zusammenzufassen. Vorerst sind
dazu schriftliche Materialien ausreichend, und später sollte es eine kleine Beratung
der in den unterschiedlichen Ländern Tätigen stattfinden. (Oder man könnte viel-
leicht sogar eine kleine Militärische Abteilung bei der Komintern gründen.)
Štrodach
11/II 24
Arbat 35, W[ohnung] 80.
Nachdem eine entsprechende Anfrage Münzenbergs bereits am 5.1. behandelt worden war,15 beriet
das Politbüro des ZK der KP Russlands am 14.2.1924 über die Bitte Münzenbergs zur Übergabe von
3000 Tonnen Getreide an die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) zur Verteilung in Deutschland. Es wur-
de beschlossen, die Entscheidung den in Berlin anwesenden Genossen Krestinskij, Stomonjakov und
Münzenberg selbst zu überlassen.16
Ebenfalls am 14.2.1924 legte das Politbüro des ZK der KP Russlands das minimale Budget der Kom-
intern für das Jahr 1924 anhand der realen Auszahlungen des Jahres 1923 fest. Diesen Betrag über-
steigende Assignationen sollte eine Kommission entscheiden, der Molotov, Vajnštajn und Pjatnitzki
angehören sollten. Das Budget der Komintern für das Jahr 1924 wurde von der Budgetkommission des
EKKI auf 2.196.500 Goldrubel festgelegt.17
Am 21.2.1924 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, das fünfjährige Jubiläum der Komin-
tern am 5. März auf dem Territorium der Sowjetunion mit Massenversammlungen in den Betrieben zu
zelebrieren. Vorangegangen war ein Beschluss des EKKI-Präsidiums, das Jubiläum nicht zum Anlass
eines neuen arbeitsfreien Feiertags zu machen und die Feiern nur im eingeschränkten Rahmen durch-
zuführen. Entsprechendes wurde vom russischen ZK bewilligt.18
14 Auch hier verschwimmen die Vorstellungen von einer revolutionären Entwicklung in Polen einer-
seits und der Herstellung eines Korridors durch Polen andererseits.
15 RGASPI, Moskau, 17/3/408, 3.
16 RGASPI, Moskau, 17/3/418, 7.
17 RGASPI, Moskau, 17/3/418, 3. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Po-
litbjuro i Komintern, S. 246–247.
18 RGASPI, Moskau, RGASPI 17/3/420, 5 + 10.
368 1924–1929
Dok. 105a
Brief Sinowjews an Hermann Remmele und Ernst Thälmann gegen
den Parteiausschluss der „Rechten“
Leningrad, 24.2.1924
Liebe Freunde,19
Es wird mir aus Berlin mitgeteilt, dass dort von linker Seite Bestrebungen im gange
sind, die darauf abzielen, Brandler, Walcher und Thalheimer aus der Partei auszu-
schliessen.20 Man glaubt dabei meiner Zustimmung sicher zu sein, oder wenigstens
nicht auf meine Gegnerschaft zu stossen.
Ich halte es darum fuer meine Pflicht Ihnen, als den Vorsitzenden der Zentrale,
mitzuteilen, dass, falls solche Versuche gemacht werden, meinerseits (und wie ich
fast ueberzeugt bin auch seitens der ganzen Exekutive) auf das entschlossenste, auf
das heftigste dagegen angekämpft werden wird. Noch mehr. Solche Versuche waeren
ein Verbrechen gegen die Partei und die Internationale.
Wir bekaempfen und werden weiter bekaempfen die grossen Fehler der drei
obengenannten Genossen. Aber Versuche sie auszuschliessen werden wir mit der-
selben Entscheidenheit bekaempfen wie wir es frueher betreffs der linken Genossen
getan haben. Die Exekutive wird einfach einen solchen Beschluss aufheben.
Vorlaeufig ist durch nichts bewiesen, dass die genannten drei Genossen sich der
Partei oder der Internationale nicht fuegen. Das und nichts anderes ist momentan ent-
scheidend fuer jeden aufrichtigen Kommunisten, der in der Hitze des Fraktionskamp-
fes den Kopf nicht verloren hat.
Bruederliche Gruesse
Ihr
G. Zinowiew.
19 Remmele als Angehöriger der Mittelgruppe und Thälmann (für die Linke) bildeten das Modell
Sinowjews für die neue Parteiführung nach dem deutschen Oktober. Tatsächlich erfolgte jedoch eine
Umkehrung der Kräfteverhältnisse zugunsten der KPD-Linken um Fischer und Maslow (siehe hierzu
die Einleitung von Hermann Weber in Bd. 1, S. 54ff.).
20 In erster Linie wurden die Ausschlussbestrebungen von Ruth Fischer und Arkadi Maslow voran-
getrieben.
Dok. 106: [Moskau], 2.3.1924 369
Dok. 106
Bericht des früheren Leiters der operativen Abteilung der KPD
Gruppe West, V. Karpov, über die militärischen Strukturen und die
allgemeine Situation in der KPD
[Moskau], 2.3.1924
21 Über dem Text der ersten Seite handschriftlicher Vermerk in russischer Sprache: „Mil[itär-] ange-
legenheiten“. Rechts handschriftlicher Vermerk in deutscher Sprache: „Bericht des Gen[ossen] Kar-
poff über West-Deutschland. 2/III-24“.
22 Vom 23.11.1923 bis März 1924 war die KPD auf Reichsebene verboten, auf Länderebene auch länger,
in Bayern bis Februar 1926. Nach eigenen Zahlen wurden 1924 bis Ende April 1925 mehr als 7000 Mit-
glieder wegen Umsturzbeteiligungen verhaftet und mit Gerichtsverfahren überzogen. In 5768 Fällen
ergingen Strafen von insgesamt 969 Jahren Zuchthaus, 2255 Jahren Gefängnis und 233.260 Mark Geld-
strafe (Angaben in: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst, S. 112–113).
370 1924–1929
her gestählten Parteikern. Oft werden ihre Reihen von demokratischen Illusionen
heimgesucht – einer Erbschaft der Sozialdemokratie, manchmal auch von einer Stim-
mung des Wortradikalismus, der sich vor offenen Aktionen sehr kämpferisch gibt und
dann jedoch kapituliert. Die Neigung zu rein formalen, nur auf dem Papier bestehen-
den Beziehungen in der Partei schadet der Sache ebenfalls. Manchmal hört man von
der kommunistischen Basis, man habe es mit „keiner Partei, sondern lediglich einem
Funktionärsapparat“ zu tun. Und tatsächlich ist die Verbindung der Funktionäre mit
den Massen, die Arbeit mit ihnen in den Betriebszellen und Wohnbezirken23 unge-
nügend. Ungenügend ist auch die Verbindung der Partei zu den Parteilosen und vor
allem den Arbeitslosen.
Aus den Niederlagen werden jedoch Lehren gezogen. Die Partei geht zum Prinzip
der Arbeit mit den Betriebszellen über, was in erheblichem Maße zu ihrer Verbunden-
heit mit den Arbeitermassen beiträgt. [...]
Die lebhafte Diskussion, die gegenwärtig in der gesamten Partei stattfindet, klärt
die Position, kristallisiert die Parteimeinung, stellt den die Partei durchdringenden
Opportunismus bloß und unterstreicht, als ein Leitmotiv, dass es notwendig sei, eine
starke, disziplinierte, revolutionäre, „bolschewistische“ (wie die deutschen Genossen
gerne sagen) Partei zu schaffen. [...]
2. Die Militärorganisation der Partei, die aus Hunderten von Hundertschaften24
und Fünfergruppen besteht, verkleinerte sich in den Regionen, in denen der Mili-
tärapparat vor Oktober gegründet wurde, wie beispielsweise im Ruhr[gebiet],25 um
40%. Die Fünfergruppen – das sind die besten, ausgewählten, bewaffneten Genos-
sen, die für den aktiven Kampf in der heutigen Zeit, den Schutz der Demonstrationen,
die Angriffe auf die Polizei, manchmal für den individuellen Terror vorgesehen sind.
Der Rest sind die Hundertschaften. [...] Die Idee der Zusammenführung von Hundert-
schaften in Bataillone und Regimenter ist dort, wo diese Hundertschaften territorial
auf einem Flecken Land [eng] zusammen liegen, wie bspw. im Ruhr[gebiet] und in
Sachsen, lebenswichtig und notwendig. [...] Schließlich legt eine solche Organisie-
rung den Grundstein für Spezialeinheiten, [...] ohne die eine Armee, die zumindest
ansatzweise den modernen Anforderungen entspricht, wie es die zukünftige Rote
Armee eines Sowjetdeutschland sein soll, undenkbar ist. [...]
3. Das Arsenal des O.B. West26 besteht aus 22 schweren Maschinengewehren, 11
leichten Maschinengewehren, 9 Maschinenpistolen, 2.400 Gewehren, 1.500 Revol-
vern unterschiedlicher Modelle, 200.000 Patronen, 2.500 Handgranaten und einiger
Menge Sprengstoff (die Zahlen führe ich aus dem Gedächtnis an).27 [...]
Die Möglichkeiten des O.B. West für Waffenkäufe sind beträchtlich, hauptsächlich
von den Faschisten zu Marktpreisen und darunter, und unbeschränkt aus Holland zu
höheren Preisen.
4. Die Militärorganisation kämpft mit dem Problem des Mangels und des Fehlens
von Militärführern in den Reihen der KPD, die über ein gut diszipliniertes, gedrilltes
und durch die hervorragende Schule der alten deutschen Armee gegangenes Kontin-
gent an Unteroffizieren verfügt, denen jedoch der notwendige militärische Rundblick
und die Initiative fehlt, die für selbständige Organisations- und Operativarbeit uner-
lässlich ist. [...]
Der praktische Weg dorthin scheint mir der Folgende zu sein. In Moskau gibt
es eine Schule der Roten Kommunarden, die vor allem durch Polen beschickt wird.
Wenn man an dieser Schule eine deutsche Abteilung für 50 deutsche Genossen eröff-
nen würde, wäre die Frage teilweise gelöst.28 [...]
Außerdem gibt es in Deutschland Ansätze zu kommunistischen Militärschulen
für jeweils 10–20 Mann. Sie können jedoch selbstverständlich keineswegs die Militär-
schule ersetzen, auf die ich hingewiesen habe.
Auch ist es notwendig, dass der gesamte Militärapparat, vor allem die Komman-
deure der Hundertschaften, im Besitz von Militärbüchern sind, mit Hilfe derer sie sich
selbst wie auch ihre Kämpfer schrittweise weiterbilden könnten. Die sehr nützlichen
Hefte Vom Bürgerkrieg29 sind dafür nicht ausreichend, auch der Ankauf von Militärbü-
chern des alten deutschen Heeres und der Reichswehr in großer Stückzahl sowie die
russische Zusammenstellung und Übersetzung einer kleinen Serie zum Bürgerkrieg
sind unerlässlich. [...]
28 Tatsächlich wurde einen Monat später in Moskau auf Anregung der KPD eine deutsche Militär-
schule beim Generalstab der Roten Armee („1. M-Schule“) eingerichtet, die vom 1.4.1924 bis zum
15.6.1924 durchgeführt wurde (SAPMO-BArch, ZPA, I 2/3/81, 206f.). Unter den 12 Teilnehmern aus
Deutschland waren der spätere M-Leiter Hans Kippenberger, Erich Wollenberg, der spätere Histori-
ker Albert Schreiner, Wilhelm Zaisser und Karl Retzlaw (Leiter: Otto Steinbrück). Aus diesem Anlass
verfasste Karl Retzlaw ein Memorandum gegen die These einer punktuellen „Oktoberniederlage“ und
generell die extensive Berücksichtigung punktueller militärischer Ereignisse, in dem er die Analyse
der längerfristigen gesellschaftlichen Momente im Sinne einer militärischen und politischen Analyse
forderte. Auf sowjetisches Betreiben wurde er daraufhin von der Schule ferngehalten (Retzlaw: Spar-
takus, S. 288ff.; Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst, S. 101).
29 Über die von der MP-Abteilung der KPD herausgegebenen Hefte Vom Bürgerkrieg siehe Dok. 85
und 93.
30 Militärakademie der Roten Arbeiter- und Bauernarmee, gegründet 1918 als Akademie des General-
stabs der Roten Armee. Ab 1925 M.W. Frunse-Akademie.
31 Biographische Angaben über den Verfasser ließen sich nicht eruieren.
372 1924–1929
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 13.3.1924, Stalin, Kamenev und Sinowjew mit
den Verhandlungen mit den KPD-Delegierten zu beauftragen. Über die Ergebnisse sei das Politbüro
zu unterrichten, zu deren Sitzungen bei bedarf auch die deutschen Delegierten zu kommandieren
seien.32
Am 17.3.1924 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, das EKKI zu beauftragen, den Termin
des V. Weltkongresses der Komintern auf Anfang Juni anzusetzen.33
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 20.3.1924 über die personelle Vertretung der
Komintern auf dem KPD-Parteitag in Frankfurt am Main (7.–10.4.1924). Für diesen Zweck wurden Bu-
charin, Lozovskij, Tomskij und Sokolʼnikov ausgewählt, wobei die beiden letzteren sich auf Konsul-
tationen mit den „deutschen Genossen“ in Berlin beschränken sollten, ohne sich zum Tagungsort zu
begeben.34
Dok. 107
Brief Sinowjews an Arkadi Maslow und Ruth Fischer zur Haltung
der Komintern gegenüber einer künftigen linken KPD-Führung
Moskau, 31.3.1924
Teure Genossen!
Ihr werdet mit unseren Delegierten alle Dinge genügend gründlich besprechen
können. Ausserdem bat ich Gen. Thälmann, Euch mit unserem (meinem und des Gen.
Bucharin) an ihn gerichteten Brief bekanntzumachen.35
Diesmal nur noch ein paar Worte, um Missverständnissen vorzubeugen.
32 RGASPI, Moskau, 17/3/425, 5. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Po-
litbjuro i Komintern, S. 248–250.
33 RGASPI, Moskau, 17/3/426, 4.
34 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 40. In russischer Sprache publ. in: Ibid., S. 252.
35 Gleichzeitig mit dem Brief an Maslow und Fischer sandte Sinowjew einen auch von Bucharin unter-
schriebenen Brief an Thälmann und Schlecht. Entgegen der von Ruth Fischer geäußerten Auffassung
unterstrich Hermann Weber, dass mit den Briefen in erster Linie die Unterstützung Sinowjews und
Stalins gegen Trotzki intendiert worden sei, nicht die gegenseitige Absicherung im Kampf Sinowjews
und Stalins gegeneinander (siehe: Weber: Zu den Beziehungen, S. 189f.; id.: Einleitung in Bd. 1).
Dok. 107: Moskau, 31.3.1924 373
Aus einem Gespräch mit dem Gen. Max Levien, der mit Euch einen freundschaft-
lichen Briefwechsel unterhält, ist mir manches klar geworden, was ich bisher nicht
verstand.
Es scheint, dass bei Euch eine Stimmung entstanden ist, als hätten wir hier
den Klagen der „Mittelgruppe“ nachgegeben, als schwankten wir, ob wir mit Euch
gemeinsam die Verantwortung für die neue Führung der KPD teilen sollen, als bräch-
ten wir Euch nicht das nötige Vertrauen entgegen oder als hüllten wir uns in die Toga
unfehlbarer Schulmeister, die ihre Neulinge einem strengen Examen unterwürfen.
All das ist Unsinn. In Wirklichkeit gibt es nichts dergleichen. Wir sind vollauf bereit,
gemeinsam mit Euch die volle Verantwortung für den Gang der Dinge in der KPD
beim Vorhandensein einer linken Mehrheit zu tragen, sind bereit, der kommenden
linken Zentrale volle Unterstützung angedeihen zu lassen.36 [...] Wir sind keineswegs
begeistert von der „Mittelgruppe“ und beabsichtigen auch durchaus nicht, den Frak-
tionskampf innerhalb der KPD zu verewigen. Begreift doch, dass wenn sich unserer
eine gewisse Unruhe bemächtigte, das die Folge dessen war, dass hierfür eine Reihe
ernster Tatsachen vorlagen.
Ich will es Euch ganz offen sagen, dass ich mich „schämte“, dem Polit-Büro der
KPR zu erzählen, in einer so grundlegenden Frage, wie der Gewerkschaftsfrage seien
bei Euch kaum 5 bis 6 Wochen nachdem wir in dieser Frage in Moskau eine Resolu-
tion angenommen hatten, neue Beschlüsse gefasst worden. Das ist doch schon keine
Kleinigkeit mehr, sondern eine Kardinalfrage der Bewegung. Die Gewerkschaftsfrage
ist eine entscheidende Frage.37 Sollte jemand bei Euch glauben, man könne sich in
aller Eile einen „neuen Typus“ der proletarischen Massenorganisationen ausdenken,
so beginge er damit den grössten Fehler. Die Gewerkschaften sind keine Erfindung,
weder die Grassmanns, noch Dissmanns.38 Die Gewerkschaften sind die historisch
gegebene Form der proletarischen Massenorganisation für die Dauer einer ganzen
Epoche. Man muss unterscheiden zwischen der Rolle der Gewerkschaften vor der Revo-
lution, während der Revolution und nach der Revolution. In diesem Punkte darf man
sich nicht von KAPD-Stimmungen beeinflussen lassen, da das den Untergang der
Partei bedeuten würde. [...]
36 In seinem Brief an Arkadi Maslow und Ruth Fischer verfolgt Sinowjew die Strategie von „Zuc-
kerbrot und Peitsche“; wie es sein Brief an Martynov (Ps.), d.i. Piker, vom 24.5.1924, nach der Wahl
der linken Fischer-Maslow Führung, deutlich macht, war er sich dessen gar nicht mehr sicher und
avisierte eine Auswechslung der Führung auf dem V. Weltkongress.
37 Auf der Moskauer Beratung des EKKI-Präsidiums mit KPD-Vertretern im Januar 1924 wurde be-
schlossen, die Arbeit in den Gewerkschaften zu verstärken. Dagegen verlangten Teile der Linken, bei-
spielsweise auf dem Bezirksparteitag Westsachsen im März 1924, die Fokussierung auf ausgeschlosse-
ne und revolutionäre Gewerkschafter sowie die Umsetzung eines Konzepts der „Industrieverbände“
und „Einheitsorganisationen“ statt der traditionellen Funktionszuweisungen an Parteien und Ge-
werkschaften (nach Weber: Zu den Beziehungen, S. 190, Anm.33)
38 Gemeint sind Peter Graßmann (1873–1939), Funktionär der Buchdruckergewerkschaft, von 1919
bis 1933 stellvertretender Vorsitzender des ADGB; Robert Dissmann (1878–1926), linker sozialdemo-
kratischer Gewerkschaftsführer, später Mitbegründer der USPD und DMV-Funktionär .
374 1924–1929
Tröstet Euch nicht damit, die Ultra-„Linke“ repräsentiere zur Zeit keine ernst
zu nehmende Kraft, all das seien einfach Uebertreibungen nicht besonders ernster
Leute. Nein, so liegen die Dinge nicht. In der gegenwärtigen deutschen Situation sind
objektiv jene Gefahren enthalten, die Lenin als „linkes Liquidatorentum“ bezeich-
nete. Entschliesst Ihr Euch nicht, offen diesem linken Liquidatorentum entgegenzu-
treten, so werdet Ihr selbst zu dessen Gefangenen werden.
Das gerade war es, was uns Alarm schlagen liess.
Ihr habt uns sehr ausführlich über die kleinen Machinationen berichtet, die Euch
zufolge der eine oder andere Vertreter der Mittelgruppe begangen haben soll. All das
ist aber reinster Mumpitz verglichen mit der grundlegendsten prinzipiellen Frage,
ob Ihr dem „linken Liquidatorentum“ irgend welche ideelle Konzessionen machen
werdet. Wenn ja, so werden wir, ungeachtet all unseres Widerwillens gegen eine
Erschwerung Eurer Arbeit, dennoch genötigt sein, gegen Euch offen zu polemisie-
ren und zu kämpfen. Wenn nicht, wenn Eure prinzipielle Haltung sich sowohl gegen
rechtes wie „linkes“ (wie es bei Lenin in analoger Lage der Fall war) Liquidatorentum
richten wird, so gibt es unter uns keinerlei ernste Differenzen.
Wir alle harren hier mit Ungeduld der Entscheidungen Eures Parteitages. Eure
Gegner, wie Radek und Co., spekulieren zweifellos darauf, dass Ihr irgendwelche
ernste Fehler begeht, um sich dann vor allem vor der öffentlichen Meinung der rus-
sischen Kommunisten zu revanchieren.39 Wir hingegen sind fest überzeugt, dass es
unserer Delegation gelingen wird, in allen wichtigsten Fragen mit Euch zu einem Ein-
vernehmen zu gelangen und wir in Deutschland, wie in der gesamten K.I., durchaus
einmütig vorgehen werden.
Schreibt, was Ihr von all dem haltet.
PS. Ich bin mir nicht ganz klar darüber, inwieweit Rosenberg und Scholem auf ihren
ultra-„linken“ Fehlern beharren werden.40 Wir wünschten, sie täten es nicht. Dann
wäre auch mit ihnen ein kameradschaftliches Zusammenarbeiten durchaus möglich.
39 Sinowjews Hinweis auf „Radek und Co.“ belegt die Beweggründe, warum er sich letztlich mit der
linken Führung in Deutschland arrangierte. Der bei aller Kritik übergeordnete Schulterschluss betraf
den gemeinsamen fraktionellen Kampf gegen die sich formierende linke Opposition in der RKP(b) mit
Trotzki und Radek.
40 Der spätere Historiker Arthur Rosenberg (1889–1943) und der in Buchenwald ermordete Intellek-
tuelle Werner Scholem (1895–1940) gehörten mit ihren ultralinken Ansichten der neuen Parteifüh-
rung an.
Dok. 108: Berlin, 3.4.1924 375
Dok. 108
Brief Eugen Vargas an Sinowjew zur Analyse der
Oktoberereignisse und der Situation in der KPD
Berlin, 3.4.1924
Werter Genosse,
ich setze voraus, dass Sie ueber die Vorgaenge in der KPD durch die gegenwaertig hier
anwesenden (russischen) Genossen detailliert unterrichtet sind.41 Ich moechte hier
nur auf ein wichtiges Problem aufmerksam machen:
Die russischen Genossen zerbrechen sich hier den Kopf ueber ein schlecht aufge-
stelltes Problem. (Sie) stellen die Frage folgendermassen: In allen kommunistischen
Parteien war es immer so, dass nach einer Niederlage in der Partei die opportunisti-
sche Stroemung die Oberhand erhalten hat und die rechten Elemente die Fuehrung
an sich rissen. In der KPD scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Nach einer Nieder-
lage geht die Partei, sowohl die Mitgliedschaft, als die Fuehrung scharf nach links.42 Ich
glaube, dass diese Analogie ganz und gar unrichtig ist. Die KPD hat keine eigentli-
che Niederlage erlitten, da sie ueberhaupt nicht in den Kampf gegen die Bourgeoisie
gefuehrt wurde, wenigstens nicht als ganzes. Daher hat auch die breite Masse der
Mitgliedschaft nicht das Gefuehl, von der Bourgeoisie niedergeschlagen, sondern von
den rechten Fuehrern verraten worden zu sein. Diese Beurteilung der Situation wurde
genaehrt und bekraeftigt durch die Agitation der Linken. Es ist daher ganz natuerlich,
dass sich momentan in der Mitgliedschaft ein Ruck nach links bemerkbar macht und
ich sehe darin meinerseits absolut kein Problem.
Wichtiger erscheint mir folgendes: Der Ausfall der Wahlen, sowohl der politischen
in Sachsen, Thueringen, Mecklenburg usw. als auch die Betriebsratswahlen zeigen,43
dass die Partei ihren Einfluss durch den Oktoberrueckzug in den breiten Massen der
Arbeiterschaft ganz und gar nicht verloren hat. Es muss aber betont werden, dass die
41 Vermutlich meinte Varga die Ankunft der EKKI-Vertreter Kuusinen, Lozovskij und Manuilski auf
dem KPD-Parteitag in Frankfurt (7.–10.4.1924); darüber hinaus hielten sich weitere russische Emissäre
in Deutschland auf, darunter Alexandr Samojlovič Piker (Ps. Martynov).
42 Hier und im Weiteren vermutlich Unterstreichungen durch den Autor.
43 Auch bei den Reichstagswahlen vom 4.5.1924 erhielt die KPD immer noch 12,6% der Stimmen,
ein Einbruch erfolgte erst im weiteren Verlauf des Jahres 1924, der sich auch für die maßgeblich von
der KPD geführte Bergarbeitergewerkschaft der „Union der Hand- und Kopfarbeiter“ im Ruhrgebiet
fortsetzte, nachdem sie bei den Betriebsratswahlen im März 1924 noch alle anderen Strömungen do-
miniert hatte (siehe: Weber: Die Wandlung, S. 68).
376 1924–1929
Diskussion ueber die inneren Probleme der Partei erst jetzt beginnt auf die breiten
Massen der Mitgliedschaft überzugreifen. Es besteht die Gefahr, wenn diese Diskussi-
onen in aehnlich heftigen und persoenlichen Formen, wie [sie] in dem engeren Kreis
der Funktionaerversammlungen gegenwaertig gefuehrt wird, auf die breite Masse der
Mitgliedschaft uebertragen wird, dies eine ausserordentlich schlechte Wirkung auf
die Partei haben muss. Es scheint mir aus verlaesslichen Informationen ganz sicher
zu sein, dass die breite Masse der Parteimitgliedschaft von den inneren Parteidiskus-
sionen nichts wissen will. Die Arbeiter erscheinen in den Mitgliederversammlungen,
wenn von der Parteidiskussion das zweite Mal die Rede ist, in sehr verminderter Zahl
und verlassen oft zum Teil die Versammlungen, bevor dieselben geschlossen sind.
Praktisch ziehe ich hieraus folgenden Schluss:
Es muss mit allem Nachdruck darauf hingearbeitet werden, dass im Gegensatz zu
dem Betreiben der Linken ein starkes Gewicht auf die „ideologische Erneuerung“ der
Partei zu legen, (dass) die Parteidiskussion in moeglichst kurzer Zeit liquidiert und die
Aufmerksamkeit der Partei auf praktische Fragen der Arbeiterschaft gelenkt wird.44
Am 5.4.1924 nahm das Politbüro des ZK der KP Russlands den Vorschlag der Komintern für die Tages-
ordnung des V. Weltkongresses an. Allerdings sollte Stalin als Berichterstatter zur nationalen Frage
durch Bucharin ausgetauscht werden. Weiter beschloss das Politbüro wichtige Maßnahmen zur Stär-
kung der leitenden Kader der Komintern. Der zweigliedrige Beschluss lautet: „a) Das Sekretariat des
ZK zu beauftragen, zur nächsten Sitzung des Politbüros eine Liste von Mitarbeitern für die Komintern
vorzubereiten (zwei Stellvertreter des Komintern-Vorsitzenden, außer Gen. Bucharin, sieben bedeu-
tende Funktionäre – darunter einige ZK-Mitglieder – als Bevollmächtigte in den sieben wichtigsten
Ländern – England, Deutschland, Frankreich, Italien, Tschecho-Slowakei, Bulgarien, Polen –, sowie
sieben Mitarbeiter für die Agitprop- und Orgabteilung des EKKI, die Redaktion der Kommunistischen
Internationale, die Profintern und die drei Sekretäre des EKKI). b) Die Vertretung der RKP(b) im EKKI zu
beauftragen, in Übereinstimmung mit den größten kommunistischen Parteien (in erster Linie mit der
englischen und amerikanischen) eine Gruppe der herausragendsten Funktionäre für einen längeren
Aufenthalt in Moskau auszuwählen. Die Mitglieder des Politbüros zu verpflichten, zu ihrer Bekannt-
machung mit den Erfahrungen der RKP in der russischen Revolution entscheidend beizutragen.“45
44 Vargas Vorschläge und Erwartungen wurden kurz darauf durch die Beschlüsse des 9. Parteitags
der KPD in Frankfurt am Main obsolet. Mit Ruth Fischer und Arkadi Maslow an der Spitze gelangte
die „deutsche Linke“ (Pierre Broué) in die Parteiführung, die, zusammen mit Arthur Rosenberg und
Werner Scholem in Theorie und Praxis eine „ultralinke“ Taktik der gesellschaftlichen Abspaltung
umsetzte und damit nach innen die Parteidiskussion verstärkte (siehe hierzu in der Einleitung von
Hermann Weber. Grundlegend weiterhin: id.: Die Wandlung, S. 74ff.; vgl. Fischer: Stalin und der deut-
sche Kommunismus, S. 425ff., 471ff.; Broué: Histoire de l’Internationale, S. 367ff.).
45 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/3/431, 2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Po-
litbjuro i Komintern, S. 253–254.
Dok. 108: Berlin, 3.4.1924 377
Am 10.4.1924 setzt sich das Politbüro des ZK der KP Russlands mit dem Fall des deutschen Dampfers
„Galilei“ auseinander. Dieser war in Novorossijsk eingelaufen, als in der Mannschaft ein Streik ausge-
brochen war. Ein Teil der streikenden Matrosen wurde ausgesperrt, wonach das Schiff mit verringerter
Mannschaft in Odessa eingelaufen war. Dort hinderten die lokalen Behörden das Schiff am Auslaufen
unter der formalen Begründung, die Mannschaft sei zu klein, um das Schiff sicher zu führen. Dies
führte jedoch zu Protesten der deutschen Botschaft, die den sowjetischen Behörden vorwarf, die
Streikenden zu unterstützen. Auf Bitten des NKID beschloss das Politbüro, das Schiff auslaufen zu
lassen.46
Das Politbüro des ZK der KP Russlands behandelte am 5.5.1924 die „Affäre Botzenhardt“. Der KPD-
Basisfunktionär Johannes Botzenhardt war aus der Untersuchungshaft in die sowjetische Handels-
vertretung in Berlin geflüchtet, woraufhin die deutsche Polizei dort eine Razzia veranstaltete.47 Das
Politbüro beschloss daraufhin, die Handelsvertretung zeitweilig zu schließen und Botschafter Kres-
tinskij nach Russland abzuberufen. Christian Rakovskij, zu der Zeit sowjetischer Botschafter in Lon-
don, war telegraphisch über den Vorfall informiert, es sollte betont werden, dass die Affäre wohl mit
dem Wunsch deutscher und französischer Geschäftskreise zusammenhinge, die damit auf die eng-
lisch-sowjetischen Verhandlungen Einfluss nehmen wollten. Es wurde beschlossen, in diesem Sinn
eine Pressekampagne zu starten und auf die deutsche Regierung Druck auszuüben.48 Am 8.5.1924
beschloss das Politbüro, um dem Nachdruck zu verleihen, alle laufenden Verhandlungen mit Deutsch-
land auszusetzen und parallel Protestdemonstrationen in Moskau zu organisieren. Anschließend be-
schloss es am 2.5.1924, Forderungen nach einer Entschuldigung an die deutsche Regierung zu stellen
und eine Note aufzusetzen, jedoch einige von Čičerin angeregten Konzessionen zu machen, wie die
Reduzierung des deutschen kommunistischen Personals in der Handelsvertretung.49 Am 15.5.1924
beschloss das Politbüro schließlich eine einlenkende Note an Außenminister Stresemann und erklär-
te sich mit der Bildung einer gemischten Kommission zur Prüfung der Affäre einverstanden.50
46 APRF, Moskau, 03/64/676, 49 und 53. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 126 und 127.
Zum Hintergrund siehe ibid., Dok. 125.
47 Siehe hierzu: Jürgen Zaruski: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell.
Ideologische Auseinandersetzungen und außenpolitische Konzeptionen 1917–1933, München, Olden-
bourg, 1992 , S. 184ff. (Studien zur Zeitgeschichte. Bd. 39).
48 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 52. In russischer Sprache publ. in: G. Adibekov, A. Di Bʼjadžo, F. Gori
u.a. (Hrsg.): Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa. Rešenija „Osoboj Papki“ 1923–1939, Moskva,
ROSSPEN, 2001, S. 28–30.
49 APRF, Moskau, 03/64/679, 6, 15 und 16. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 133–135.
50 RGASPI, Moskau, 17/3/438, 2.
378 1924–1929
Dok. 108a
Brief Grigorij Sinowjews an Dmitri Manuilski über die Lage in der
KPD
[Moskau], 24.4.1924
[hdschr.:] Moskau
24/IV 1924
An Gen. MARTYNOV51
Lieber Freund,
Wir zerren sehr an Ihnen herum und werfen Sie von dem einen Ort an einen anderen,
weil die Lage, wie Sie selbst sehen, ziemlich ernst ist. In Frankreich ist die Sache
nicht zu Ende geführt,52 und die Lage in Deutschland ist außerordentlich schwierig.
Jedenfalls liegt, meiner Meinung nach, momentan der Schwerpunkt auf Deutschland.
Und ich bitte Sie, die noch zu Ihrer Verfügung stehende Zeit für die Regelung der
Angelegenheiten in Deutschland aufzuwenden. Träumen Sie indes nicht mehr von
der Reise nach Italien. Dort hat sich zwischenzeitlich die Lage verändert. Vor einigen
Tagen kam Terracini zu mir und teilte mir mit, dass sich bei ihnen eine neue Mehrheit
gebildet hat: an die zehn Mann Zekisten, Anhänger Bordigas, haben sich nun von
ihm entfernt und sind mit Tasca und seinen Freunden gegangen. Sie bilden eine kom-
pakte Mehrheit in unserem Sinne.53 Terracini behauptet, dass diese kompakte Mehr-
heit im ZK (im Gegensatz zu der, die es in Deutschland gegeben hat) tatsächlich die
51 „Martynov“ ist offensichtlich ein von der Forschung bislang nicht dokumentiertes Pseudonym von
Dmitri Manuilski. Die vom Sinowjew-Sekretariat angelegte Mappe in RGASPI, 324/1/551, beinhaltet
Sinowjews Korrespondenz mit Manuilski; in Bl. 61 wird die Signatur „Martynov“ vom Empfänger,
vermutlich Sinowjew selbst, als „Manuilski“ dechiffriert; darüber hinaus ergibt ein Schriftvergleich
von Bl. 39 (signiert mit „Martynov“) und Bl. 40–45 (signiert mit „Manuilski“) eine eindeutige
Übereinstimmung.
52 Manuilski kam Anfang 1924 zusammen mit Lozovskij nach Frankreich, wo er maßgeblich daran
mitwirkte, Boris Souvarine (urspr. Boris Lifšic), und die sog. „Rechte“ bzw. die Anhänger Trotzkis
aus der Parteiführung zu entfernen und auf dem Kongress der Fédération de la Seine als sein
Nachfolger Albert Treint einzusetzen (José Gotovitch, Claude Pennetier: Dictionnaire biographique
de l’Internationale, S. 399–403. 2. Auflage als CD. In: Wolikow: L’internationale Communiste.
53 Bordiga, Mitbegründer und erster Vorsitzender der KP Italiens, weigerte sich aufgrund seiner
linken Überzeugungen, der Aufforderung des EKKI zu folgen und seine Funktion im höchsten
Kominterngremium wahrzunehmen. Anfang 1924 gab er die Zeitschrift Prometeo heraus und konnte
auf dem Kongress in Como im März d.J. noch die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen. Bereits
auf dem V. Weltkongress der Komintern im Juli wurden seine Thesen zur Taktik abgelehnt. Wenig
später verteidigte er offen Trotzki und die Linke Opposition gegen den Kurs Stalins, Sinowjews und
Bucharins in der Sowjetunion und der Komintern. „Zekisten“: Mitglieder des ZK.
Dok. 108a: [Moskau], 24.4.1924 379
überwältigende Mehrheit der Partei repräsentiert. Gott gebe, dass es auch so ist. Ich
habe Bordiga zur Teilnahme an der Arbeit der Programmkommission nach Moskau
beordert. Er wird wahrscheinlich auf Durchreise in Berlin sein. Sondieren Sie ihn.
Wenn es klappt, beordern Sie noch irgendjemanden aus dem italienischen ZK.
Jetzt komme ich zum Wichtigsten – zu Deutschland. Ich muss offen gestehen,
dass ich mich zum ersten Mal in einer solchen Lage befinde: ich verstehe ganz und
gar nicht, was die Lage zu bedeuten hat, wohin sie führt, und mit wem wir es zu
tun haben – mit Freunden, die sich noch nicht zurechtfinden und nicht alles verste-
hen, oder mit Feinden, die auf Zeit spielen, um den Apparat in Besitz zu nehmen, die
Macht anzutreten und danach eine offene Meuterei zu starten.54
Wir hier sind der Auffassung, dass die Zeit, die bis zum Kongress verbleibt
(gerade einmal einige Wochen), dazu genutzt werden muss, um das neue ZK auf der
Stelle zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen und mit allen Formalitäten und aller
Diplomatie Schluss zu machen.55 Falls dafür die Lage verschärft werden muss, soll
auch davor nicht haltgemacht werden. Schließlich ist der fünfte Kongress unsere
einzige ernstzunehmende Waffe gegen sie.56 Und überhaupt muss die Lage unverzüg-
lich geklärt werden. Von allem anderen gar nicht zu reden: Wir werden doch keine
riesigen Summen Leuten zu Verfügung stellen, die sich vielleicht morgen gegen uns
wenden werden.57
Die Fragen, die in erster Linie geklärt werden müssen, sind folgende:
1. Ist die Linke wirklich einheitlich, oder gibt es in ihr zwei Unterfraktionen? Ist
die sogenannte Ultra-Linke organisiert oder nicht? Wie viele von diesen und jenen
gibt es im ZK und im Politbüro?58
2. Was hat der Einfall zu bedeuten, einen sogenannten Arbeiterkongress
einzuberufen?59 Es wurde Ihnen doch zugesagt, dass dies nicht vor dem V. Welt-
54 In seinem Antwortbrief an Sinowjew vom 4.5.1924 schrieb Manuilski, die Lage in der KPD sei nicht
so katastrophal, wie Sinowjew es annehme. Maslow und Ruth Fischer hätten zwar „noch viel von
einer kindischen Linken“, seien sich jedoch ihrer Verantwortung bewusst. Auch seien die „Versuche
einer theoretischen Revision des Bolschewismus“ eingestellt worden: „Diese ganze polnisch-jüdische
Bande der Samosch [d.i. Samoš Mušinskij] (...) und Konsorten ist zahm geworden und wird von Mas-
low nicht besonders freundlich behandelt.“ (RGASPI, Moskau, 324/1/551, 28–29).
55 Die Zusammensetzung des ZK siehe in: Weber: Die Wandlung, II, S. 12f..
56 Gemeint ist der V. Weltkongress der Komintern, der vom 17.6.1924 bis zum 8.7.1924 in Moskau stattfand.
57 Ruth Fischer gebrauchte diesbezüglich das Bild von der „Moskauer Wasserleitung“. Das Politbüro
der KP Russlands beschloss definitiv die Kürzungen am 14.7.1924.
58 Auf diese Frage Sinowjews antwortete Manuilski, es gebe zwar „einzelne KAPD-artige Stimmun-
gen“, die leicht auszulöschen seien –, viel gefährlicher sei jedoch der Linksschwenk der Parteifüh-
rung selbst, der sich auf dem V. Weltkongress zweifellos in der Ablehnung der „Einheitsfront-von-
oben“-Taktik und des Konzeptes der „Arbeiterregierung“ manifestieren werde. (RGASPI, Moskau,
324/1/551, 29).
59 Das gegen die traditionellen Gewerkschaften gerichtete Konzept des Arbeiterkongresses wurde
besonders von der Ultralinken gefördert. Am 29.6.1924 fand ein solcher, als Parteiversammlung ge-
tarnter regionaler Arbeiterkongress gegen den Dawes-Plan in Eisenach statt.
380 1924–1929
kongress geschehen sollte. Geschah dies nicht unter dem Druck der Ultra-Linken?
Steht dahinter nicht der Wunsch, entgegen der angenommenen Resolutionen den V.
Kongress vor die vollendete Tatsache der Gewerkschaftsspaltung zu stellen?60 Dieser
Frage muss besonders sorgfältig nachgegangen werden, ohne dabei auch nur ein
Wort für bare Münze zu nehmen, sondern alle Fakten zu überprüfen und jeden ihrer
Schritte bei ihren Manipulationen im Kontext mit der Einberufung des Arbeiterkon-
gresses zu überwachen.
3. Taugt die Mittelgruppe irgendetwas, oder ist sie zum Untergang verurteilt?
4. Sind Maslow & Co. ernsthaft gewillt, mit den wertvollsten und tatkräftigsten
Elementen des Zentrums [d.h. der Mittelgruppe] zusammenzuarbeiten, oder stehen
sie unter dem Bann der Ultra-Linken?61
Mir scheint, Sie müssen mit Maslow und anderen mehrere vollkommen offene
Gespräche führen. Sie persönlich genießen ihr Vertrauen, und werden es schaffen,
sich mit ihnen auf kameradschaftliche Weise zu unterhalten. Soweit die Lage der
Dinge von hier aus erkennbar ist, lässt sich sagen, dass die Situation einem Dreieck
gleicht. Die Hauptgruppe bilden Maslow und seine engsten Gesinnungsgenossen,
links die Opposition der Ultra-Linken, rechts ungefähr ein Drittel der ehemaligen Par-
teitagsdelegierten aus der Mittelgruppe. Sollte er (Maslow) dann auch noch die Kom-
intern gegen sich haben, so wird er die Macht nicht lange halten können. Der Partei
wird er natürlich für eine gewisse Zeit den Garaus machen können, doch auf keinen
Fall wird er in der Lage sein, etwas Ernstzunehmendes aufzubauen. Er wird sich ent-
scheiden müssen, er muss uns die wirkliche Bereitschaft demonstrieren, Hand in
Hand mit der Komintern zu gehen und dafür eine wirkliche ernsthafte Schlacht gegen
die ultra-linken Liquidatoren zu eröffnen sowie sich auf eine aufrichtige Zusammen-
arbeit mit den besten Elementen der Zentrumsgruppe einzulassen.
Den Vorschlag des ZK der KPD zur Einberufung einer kleinen Konferenz mit-
teleuropäischer [kommunistischer] Parteien im Zusammenhang mit der Frage der
Reparationen haben wir angenommen.62 Mit der Angelegenheit der Vorbereitung und
Leitung betrauen wir Sie persönlich. Diese Sache ist von höchster Bedeutung. Sehen
60 Manuilski schrieb in seiner Antwort, das neue ZK habe vorgeschlagen, dass alle Strömungen in-
nerhalb der KPD (das ZK, die Mittelgruppe und die Ultralinken) im Zusammenhang mit dem geplan-
ten Kongress eine Absichtserklärung zur Erhaltung der Gewerkschaftseinheit unterschreiben sollten.
Abgesehen davon hinge eine Spaltung nicht nur vom Willen des ZK ab, sondern auch von den Ge-
werkschaften selbst (RGASPI, Moskau, 324/1/551, 28).
61 Manuilski schrieb daraufhin zurück, dass Maslow gegenüber der Mittelgruppe „eine ziemlich ge-
schickte Politik“ verfolge: Einen Teil von ihnen, wie Remmele, Eberlein, Schneller und den „Alten
Pieck“ habe er ins ZK kooptiert, den Rest versuche er zu neutralisieren, indem er die einzelnen Funk-
tionäre an verschiedene Orte kommandiere. Manuilski bescheinigte der Mittelgruppe das Fehlen eines
Kampfeswillens, und empfahl Sinowjew, nicht auf diese zu zählen (RGASPI, Moskau, 324/1/551, 30).
62 Am 1.5.1924 fand in Berlin eine Konferenz der kommunistischen Parteien Belgiens, Deutschlands,
Frankreichs und Italien und der kommunistischen Jugendorganisationen aus Deutschland und
Frankreich statt, die gemeinsame Aktionen und Kundgebungen gegen den Dawes-Plan beschloss.
Dok. 108a: [Moskau], 24.4.1924 381
Sie zu, dass Maslow und Kumpanei nicht auch noch diese Konferenz gegen die Kom-
intern ausspielen können.
Das Wichtigste ist jedoch zweifellos die Frage des Arbeiterkongresses. Sollten Sie
sich vor Ort davon überzeugen, dass dieser zur Spaltung der Gewerkschaften betrie-
ben wird, telegraphieren Sie sofort und wir werden diesem Vorhaben im Namen der
Komintern demonstrativ und kategorisch eine Absage erteilen.
Das Maslowsche ZK besaß die Unverfrorenheit, uns zu telegrafieren, dass man,
ihrer Meinung nach, die Briefe der Exekutive und meinen Artikel in der Roten Fahne
nicht abzudrucken brauche. Wir haben ihnen geantwortet, dass sie aufgrund der Sta-
tuten verpflichtet seien, die ersten beiden Dokumente abzudrucken, und dass wir sie
bitten auch das dritte Dokument zu drucken. Wenn dies bis jetzt nicht erfolgt ist, so
muss man es auf Biegen und Brechen darauf ankommen lassen.63
Des weiteren macht das Maslowsche ZK einen Heidenkrach wegen des Anliegens
der Mittelgruppe, ihren Delegierten (Klein[e] [d.i. Abram Gural’skij]) als Koreferen-
ten zur Frage des Parteitags [hierher] zu kommandieren. Sie selbst haben noch vor
kurzem von einem solchen Privileg systematisch Gebrauch gemacht. Wie können sie
dies nun der Minderheit verweigern? Das bedeutet doch noch nicht die Verewigung
der Fraktionen. In jeder Organisation hat jede Minderheit das Recht, an die Komin-
tern zu appellieren, und erst nach Fällen einer definitiven Entscheidung sind alle ver-
pflichtet, dieser Folge zu leisten.64
Sagen Sie Maslow und den anderen, dass sich unsere russische Opposition vor
Freude darüber die Hände reibt und es gar nicht abwarten kann, dass wenn nicht
heute, dann morgen zwischen uns und ihnen (dem Maslowschen ZK) ein offener
Konflikt ausbricht. Sagen Sie ihnen weiter, dass sie selbstverständlich nicht mit einer
wie auch immer gearteten ernstzunehmenden politischen Vereinbarung mit dem
russischen ZK rechnen können, wenn bei ihnen keine vollständige ideelle Klarheit
herrscht.
Ich habe ihnen bereits an Ihre Adresse einen langen Brief geschickt, und räumte
Ihnen das Recht ein, ihnen diesen Brief zu übergeben oder nicht zu übergeben. Der
Brief hat Sie offensichtlich in Berlin nicht mehr erreicht. Nun werden Sie ihn erhalten,
63 Mit „Artikel“ wurde der Brief Sinowjews vom 31.3.1924 bezeichnet (siehe Dok. 107). Die EKKI-Do-
kumente überschatteten den 9. Parteitag der KPD (7.–10.4.1924 in Frankfurt am Main), vor allem, da
hierin „zwei Strömungen“ innerhalb der deutschen Linken unterschieden wurden und auch die EKKI-
Delegation unter Leitung von Manuilski scharf vor der Diskreditierung der linken Mehrheit und sogar
einem Zerfall der KPD warnte. Ruth Fischer verhinderte zwar den Nachdruck der EKKI-Dokumente in
der Parteipresse, konnte jedoch die Veröffentlichung in der Inprekorr nicht verhindern (Weber: Die
Wandlung, I, 66f.)
64 Zur Zusammensetzung der KPD-Delegation zum V. Weltkongress der Komintern schrieb Manuils
ki, die Deutschen wollten „40 Leute schicken, davon 30 Arbeiter und 2–3 Ultra-Linke. Ich denke, das
kann man ihnen erlauben.“ Gerade auf die Arbeiter könne man auf dem V. Weltkongress einwirken.
Zum „Fall Kleine“ [d.i. Abram Gural’skij] meinte Manuilski, Maslow wolle ihn „ganz aus Deutschland
vertreiben“, da dieser das Vertrauen des EKKI genieße, Maslow und Ruth Fischer hingegen stünden
der Komintern mit Misstrauen gegenüber (RGASPI, Moskau, 324/1/551, 29–30).
382 1924–1929
und ich denke, dass Sie die Frage in dem Sinne lösen, dass Sie den Brief übergeben
werden.65
Ich hatte mein erstes Gespräch mit Rosenberg (Thälmann ist noch nicht ange-
kommen). Ich bin offengestanden verwundert: Womit haben wir es zu tun? Mit einer
wie weit auch immer ausgeprägten ultra-linken Richtung otsowistischer Prägung,66
oder eher mit simplem Unverständnis und Naivität? Diese Frage stellt sich mir ständig
in Bezug auf die gesamte Linke, wenn ich ihre unglaublich verworrenen Thesen lese
und ihre ungeheuerlich widersprüchlichen Schritte beobachte.
Was halten Sie von der Möglichkeit, die Zusammensetzung des ZK der KPD einer
Revision durch die Komintern unterziehen zu lassen? Ich persönlich denke noch mit
größter Vorsicht über diese Idee nach. Ich bin der Meinung, dass man nur im äußer
sten Notfall dazu greifen sollte.
Mir scheint, dass jetzt die einzige Lösung folgende ist: die aktivste Teilnahme
unseres ständigen Vertreters (am besten Sie) an der Arbeit des ZK und des Politbüros
des ZK der KPD zu erreichen. Darüber hinaus drei bis vier der wichtigsten russischen
Parteiarbeiter in die größten [Partei-]Organisationen (Berlin, Halle, Hamburg usw.) zu
entsenden, damit diese russischen Genossen in die Verfügungsgewalt der deutschen
Kompartei übergehen und in Übereinstimmung mit dem deutschen ZK eingesetzt
werden. Sondieren Sie diese Frage und teilen Sie Ihre Meinung mit.67
Bei Ihrer so vorzüglichen Arbeit im Ausland gibt es ein Manko: Sie geizen zu sehr
mit Briefen und Telegrammen. Doch die Lage ist schwierig, und ohne häufigen Mei-
nungsaustausch wird die Arbeit erschwert. Die Kommunikation mit Berlin ist sehr
einfach. Schreiben Sie so oft wie möglich, und wenn es notwendig ist, telegrafieren
Sie, ohne auf den Umfang zu achten.
P.S. Gen. Lozovskij schlägt vor, dass an der mitteleuropäischen Konferenz auch die
Vertreter der Unitären Konföderation der Arbeit [d.i. CGTU], die tschechoslowaki-
schen roten Gewerkschaftler usw. teilnehmen sollten. Ich denke, er hat vollkommen
65 Manuilski überbrachte dem Parteitag ein längeres, von Sinowjew unterzeichnetes Schreiben des
EKKI, das besonders auf die linken Fehler in der Gewerkschaftstaktik einging, in der Einheitsfrage
jedoch weiterhin nur die „Einheitsfront von unten“ gelten ließ und alle Verhandlungen mit der Sozi-
aldemokratie ablehnte. Seine Verlesung auf dem Kongress „löste unter den Anwesenden Unruhe aus“
(Weber: Die Wandlung, I, S. 65f.).
66 Die Otsowisten (dt. etwa „Abberufler“) waren eine radikale Minderheit innerhalb der Bolschewiki
nach der Revolution von 1905, die, angeführt von Aleksandr Bogdanov, jegliche Massenarbeit der
Partei einstellen und die bolschewistischen Abgeordneten aus der Duma abberufen wollte, da ihrer
Meinung nach die bürgerliche Revolution bereits eingetreten sei und nun nur noch die proletarische
Revolution bevorstünde.
67 Manuilski wurde als ständiger Vertreter beim ZK bestimmt, darüber hinaus weitere drei bis vier
russische Vertreter für einzelne Parteibezirke.
Dok. 108a: [Moskau], 24.4.1924 383
recht. Ohne Gewerkschaftsvertreter wäre die Bedeutung der Konferenz nicht groß
genug.
Noch etwas. Anscheinend sind die Anhänger Maslows höchst betrübt über meinen
Artikel „Die Lage der Dinge in der deutschen Kompartei“. Er war jedoch absolut not-
wendig. Am Horizont zeichneten sich riesige Gefahren ab, und ich konnte dazu nicht
schweigen. Um sich mit ihnen zu versöhnen, könnte ich nun jedoch einen neuen
resümierenden Artikel schreiben, der den Parteitag und die gesamte Lage in einem
für sie optimistischeren Ton zeichnet. Ich werde es allerdings nur dann tun, wenn wir
aus Ihren Unterredungen mit ihnen den Eindruck gewinnen, dass tatsächlich einiger
Anlass zu größerem Optimismus gegeben ist. In jedem Fall schadet es nicht, ihnen
meine Bereitschaft zu übermitteln, einen solchen Artikel zu veröffentlichen.
Es ist notwendig, dass Sie 1–2 Artikel über die Ergebnisse des Parteitags für die
Pravda schreiben. Von allen unseren Delegierten sind Sie, wie mir scheint, der dafür
am besten geeignete. Sie werden am ehesten den richtigen Ton treffen.
Als Konsequenz aus der „Affäre Botzenhardt“ beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands am
30.5.1924, der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin nahezulegen, alle deutschen Mitarbeiter
ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit zu entlassen. Das ZK der KPD sollte dabei gebeten werden, der
Handelsvertretung mit einer Delegation oder einem einzelnen Genossen bei der Durchführung dieser
Entscheidung zur Hand zu gehen.68
Am 5.6.1924 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, Victor Kopp zu beauftragen, den Zwi-
schenfall infolge der „Affäre Botzenhardt“ und der Durchsuchung der russischen Handelsvertretung
in Deutschland auf Basis der Vorschläge Čičerins zu lösen. Trotzki und Kamenev sprachen sich dabei
für den Vorschlag von Sinowjew gegen die Korrekturen Čičerins aus.69
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 12.6.1924 eine systematische Annäherung zwi-
schen den russischen und den englischen Gewerkschaften als Antwort auf die Schaffung der sozial-
demokratischen „Amsterdamer“ Gewerkschaftsinternationale.70
Ebenfalls beriet man an dem Tag weiter über den Konflikt mit dem Deutschen Reich um die von der
sowjetischen Seite eingeforderte Exterritorialität der Handelsvertretung in Berlin, der sich nach er-
neuter Behandlung am 27.6.1924 und am 11.7.1924 nach einem Ultimatum der deutschen Seite erst
gegen Ende Juli einer Lösung annähert.71
Am gleichen Tag, dem 12.6.1924 erfolgte durch einen Beschluss des Politbüros „die Aufnahme des
Gen. Unšlicht in die Kommission für Sonderbestellungen“, zu denen auch militärische Güter gehör-
ten.72
Zwischen dem 13. und dem 19.6.1924 beriet das Politbüro des ZK der KP Russlands über die zum V.
Weltkongress der Komintern zu entsendenden Vertreter der russischen Partei. Des weiteren referierte
Molotov über die Grußbotschaften des ZK und des Rats der Volkskommissare für den Kongress.73
Dok. 109
Bericht des Sekretärs der Militärkommission des ZK der KPD,
Wilhelm Kress, über die Terrorgruppe Felix Neumann
[Berlin], 13.5.1924
Die terroristische Gruppe der DKP74 wurde von Felix Neumann im November oder
Anfang Dezember [1923] gegründet.75 Bezüglich der Entscheidung, die zu der For-
mierung führte, bin ich nicht ganz informiert, da sie Mitte Dezember, als ich das
Sekretariat der Militärkommission angetreten hatte, bereits aktiv war und ich mich
nicht mit ihr befasst hatte, da ich annahm, dass sie nicht Teil der Militärorganisation
gewesen sei. Doch bald erfuhr ich durch verschiedene an der Angelegenheit nicht
beteiligte Genossen von den Aufgaben, die Felix Neumann auferlegt worden waren,
und kurz darauf weihte er mich selbst in seine Arbeit ein, obwohl ich ihn in keiner
Weise danach gefragt hatte. Meiner Meinung nach erfolgte die Gründung der terro-
ristischen Gruppe ohne Wissen des ZK, und die Genossen Brandler und Helmut [d.i.
Roze] waren lediglich Personen, die mit ihr konkrete Aufgaben im Einverständnis mit
dem ZK berieten und vergaben. Diese Meinung stützt sich hauptsächlich darauf, dass
auch nach der Entfernung des Gen. Brandler vom Vorsitz, bei den Beratungen mit
den damals leitenden Gen. Ulbricht und Stoecker Fragen bezüglich der terroristischen
Gruppe erörtert wurden, und in der Angelegenheit Seeckt76 meinen Informationen
zufolge das gesamte ZK-Plenum für oder gegen die Durchführung des Plans gestimmt
hatte. Als weiteren Beweis für das Einverständnis der Partei werde ich eine Direk-
tive des militärischen Zentrums anführen, die erst nach Einsicht und Gutheißung
durch das ZK versandt wurde; darin wurde den regionalen militärischen [KPD-]Ver-
waltungen mitgeteilt, dass entlarvte Spitzel durch uns zu beseitigen seien, und dass
es den Bezirken verboten sei, selbständig Maßnahmen gegen solche Elemente ohne
eine zuvor von uns erteilte Erlaubnis zu treffen. Unter den Sitzungen, auf denen die
Angelegenheiten der terroristischen Gruppe und der Beseitigung von Spitzeln bespro-
chen wurden, kann ich mich definitiv an eine erinnern: Im Restaurant „Tucher“ am
Bahnhof Uhlandstraße unter Teilnahme von Stoecker, Ulbricht und Dietrich [d.i. Paul
Dietrich].77 Eine andere – in der Wohnung in der Solmstraße unter Teilnahme von
Stoecker und Ulbricht, und eine dritte – in der Wohnung in der Lichenerstraße, an
der Ulbricht, Stoecker und Gen. Felix Wolf teilnahmen und auf der eindeutig bestätigt
wurde, dass die Beseitigung von Spitzeln die Aufgabe der Militärorganisation sei, bei
der ein entsprechendes Organ geschaffen wurde, und dass die Aufklärungsabteilung
zu dieser Sache in keinem Verhältnis stehe.
Was die Terrorgruppe selbst und vor allem ihren Leiter, Felix Neumann, angeht,
so wurde er, wie ich herausfinden konnte, von Gen. Brandler aus der Reichsdruckerei
rekrutiert, wo er vorher gearbeitet hatte,78 und dann auf den Posten eines ZK-Sekre-
tärs gesetzt. Bald wurde er der Sekretär von Kleine [d.i. Abram Gural’skji] und darauf-
hin Sekretär des Revkom.79 In der letzteren Funktion holte er Erich Pöge aus Leipzig
in den zentralen Militärapparat auf Grundlage einer alten Bekanntschaft. (Überhaupt
zu einem Prozess wegen einer rechten, deutsch-völkischen Attentatsverschwörung gegen Seeckt, der
jedoch im Sande verlief. Insgesamt gingen von 1919 bis zum Rathenaumord im Juni 1922 350 Morde
auf das Konto rechtsgerichteter Täter, und „nur“ 22 auf das der Linken. Seitens der Justiz verurteilt
wurden hingegen 38 Angeklagte der Linken und nur wenige, an einer Hand abzuzählende, der Rech-
ten (E.J. Gumbel: Vom Fememord zur Reichskanzlei, Heidelberg, 1962, S. 46, zit. in: S. Brewster Cham-
berlin: Der Attentatsplan gegen Seeckt 1924. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), H. 4, S.
425–440, hier S. 440).
77 Vermutlich Paul Reinhold Dietrich, ZK-Mitglied, Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft und
Sekretär Ernst Thälmanns, und nicht der ehemalige Anarchist und spätere Mitarbeiter des AM-Ap-
parats der KPD, Stefan Heymann (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 374). Heymann
wurde aufgrund seines Engagements während des Deutschen Oktober im Dezember 1923 verhaftet.
78 Anmerkung im Dokument: „Neumann war technischer Sekretär der Fraktion und leitete 9 Monate
lang den 13. Kreis der Militärorganisation in Berlin. Seine Berufung ins ZK war dem Berliner Komitee
bekannt.“
79 Revkom: Die gesamte M-Organisation des „Deutschen Oktober“ unterstand unterschiedlichen
Strukturen, ihre konkrete, vor allem aktive Rolle wird nicht immer deutlich. Im Rahmen der Reichs-
zentrale (RZ) wurde ein Revolutionäres Komitee (RK, Revko, Revkom) mit Guralʼskij als Leiter gebil-
det, unter Hinzuziehung der Bezirke. Weitere Organe des Revkom waren die Zersetzungsabteilung
(ehemals Propagandaabteilung, auch MP-Abteilung) zur Demoralisierung von Reichswehr und Poli-
zei (Leiter anfänglich Felix Neumann, später Eberlein), die Verkehrs- und Verbindungsabteilung für
Energieversorgung, Absicherung der Verkehrsverbindungen und Verhinderung von Sabotage (Ver-
kehrsleiter war Heckert, später Erick Melcher (Ps. Erich Martin), die Abteilung für Waffenbeschaffung
386 1924–1929
(Pieck, später Nikolaus Pfaff (Ps. Dr. Winkler), die Ernährungsabteilung (Ernährungsleiter war Iwan
Katz) sowie ein Komitee für Kassenführung.
80 In einer Erklärung vom 14.5.1924 machte Manfred Stern Angaben über die Gruppe von Felix Neu-
mann, die scheinbar Roze (Ps. Skoblevskij) und Teile der Partei in der Hand hatte oder dies zumin-
dest vorgab: „Zur Persönlichkeit Felix Neumanns: Unmittelbare Zweifel an seiner Verwendbarkeit
und Zuverlässigkeit tauchten bei keinem der Genossen auf, zumindest hat niemand Entsprechendes
geäußert. Allerdings hat das ‚auf großem Fuß‘ geführte Leben von Felix Neumann und seiner Kumpa-
nen die Genossen aus Mariendorf und Tempelhof mehrmals zu negativen Reaktionen ihm gegenüber
bewegt. Der Umstand, daß er in höchst heftiger Weise auf den Versuch Helmuts [d.i. Skoblevskij-Roze]
reagiert hat, ihn von seiner Verantwortung zu entbinden, wobei es zu Handgreiflichkeiten gekommen
ist, kann als Beweis dafür dienen, daß er [d.h. Neumann] schon damals ein bewußter Provokateur
gewesen ist und daß er den Apparat nicht eher verlassen wollte, bis es ihm gelungen wäre, die DKP
zu kompromittieren. Um auf Helmut einzuwirken, soll er sogar Wendungen benutzt haben wie ‚Wir
haben euch in der Hand‘. Genauso belegt der Brief, den er an Gen. Trotzki schrieb, das Vorhandensein
einer bewußten Provokation, denn Felix Neumann hätte damals wissen müssen, daß Gen. Trotzki in
keinster Weise mit unserer Arbeit in Deutschland verbunden war.“ (RGASPI, Moskau, 495/25/1367,
26–27. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 482–484).
81 Rausch sollte als Polizeispitzel im Parteiauftrag getötet werden, wurde jedoch nur verwundet,
zumindest nach Unšlicht (siehe: Dok. 110) (Hinweise auf seine Rolle im Tscheka-Prozess siehe in:
Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst, S. 113; Weber: Einleitung in Bd. 1, S. 68f.).
Dok. 110: [Moskau], 15.5.1924 387
tatsächlich eine Reihe von Genossen ausgehändigt hat. Abschließend möchte ich fest-
stellen, dass meiner Meinung nach die terroristische Gruppe auf Initiative von Helmut
und Brandler gegründet wurde, das ZK mit ihrer Gründung einverstanden war, und
dass, nachdem von der ersten Aufgabe Abstand genommen wurde,82 Gen. Helmut
den Entschluss fasste, die terroristische Gruppe aufzulösen, wovon die schriftliche
Mitteilung an Felix Neumann zeugt, die von mir im Auftrag Helmuts diktiert wurde
und der zufolge Neumann von allen Aufgaben und von der Arbeit als solcher befreit
wurde. Entsprechend lautet auch die Erklärung, die Felix Neumann dargelegt wurde,
wonach er im Weiteren über keine Mittel zur Aufrechterhaltung des Apparats verfü-
gen könne. Diese Entscheidung wurde nur nach einer Beratung mit Gen. Brandler
zurückgenommen, bei der, soweit ich weiß, Felix Neumann zufällig anwesend war,
und während der es zu einem Angriff Neumanns mit den Fäusten gegen Helmut kam.
Wilhelm Kress
13. Mai 1924.
Dok. 110
Bericht des stellvertretenden Vorsitzenden der GPU, Iosif
Unšlicht, an die Komintern-Exekutive über die Terrorgruppe Felix
Neumann
[Moskau], 15.5.1924
Die Frage über die Abberufung und Absetzung des Leiters des M[ilitär]-Apparats in
Deutschland Gen. „Volodʼka“ (Wolf) [d.i. Volʼdemar Roze] wurde von der Internatio-
nalen Kommission83 bereits Mitte Februar dieses Jahres entschieden.84 Gleichzeitig
wurde von mir ein entsprechender schriftlicher Befehl vom 16.II. an den Genossen
gesandt, der die Verbindung zum ZK der DKP aufrecht erhält. Am 20.II. wurden aus
diesem Anlass von mir offizielle Schreiben an Gen. Klein[e] [d.i. Abram Gural’skij]
und Volodʼka selbst verschickt. Da sich die Ankunft von Volodʼka aus mir unbekann-
82 Die „erste Aufgabe“ sollte das Attentat auf von Seeckt sein (s.o., Anmerkung 76).
83 Möglicherweise handelte es sich um eine Kommission der internationalen Abteilung der GPU. Es
ist zweifelhaft, ob die zwecks Durchführung des deutschen Oktober geschaffene „Kommission des
Politbüro des ZK der RKP(b) zur internationalen Lage“ zu dieser Zeit noch bestand. Roze-Skoblevskij
wurde im März 1924 verhaftet.
84 Auf der ersten Seite handschriftlicher Vermerk Unšlichts in deutscher Sprache: „Bericht an Gen.
Pjatnitzki über die Militärarbeit in Deutschland. 15/V – 1924.“ Und weiter in russischer Sprache: „Per-
sönlich. S[treng] geheim. An Gen. Pjatnitzki“.
388 1924–1929
ten Gründen verzögerte, mahnte ich am 11.III. erneut telegraphisch die Notwendig-
keit der sofortigen Absetzung von Gen. Volodʼka und seiner Abkommandierung nach
Moskau an. Darüber hinaus forderte ich über Gen. Bronek [d.i. Bronisław Bortnow-
ski] am 19.III., 25.III. und 26.III. in kategorischer Weise die Abkommandierung von
Volodʼka nach Moskau auf. Alle meine oben genannten Anordnungen wurden nicht
umgesetzt, obwohl es zur Anreise von Volodʼka (vor seinem Auffliegen) genug Zeit
gegeben hätte (fast 2 Monate).85
Gen. Bronek, über den ich den Briefwechsel zu den Angelegenheiten des Mili-
tärbüros führte, schrieb mir, dass die Kommandierung von Volodʼka nach Moskau
vom ZK der DKP verzögert wird, das, obwohl es sich der Entscheidung zur Absetzung
unterwirft, Volodʼka dennoch als guten Arbeiter für eine andere Tätigkeit in Deutsch-
land belassen will. Aufgrund dieser hartnäckigen Weigerung des ZK der DKP, Volodʼka
nach Moskau zurückzuführen, kam es zu seinem Auffliegen, wofür die alleinige Ver-
antwortung dem ZK der DKP auferlegt werden muss.86
Was die unmittelbare Angelegenheit betrifft, die zur Verhaftung Volodʼkas führte,
so beläuft sie sich auf Folgendes:
Neben der existierenden Partisanenorganisation, die über ihre eigenen Stoß-
kampftruppen verfügt,87 wurde von Gen. Volodʼka ohne Wissen und Einwilligung des
ZK der DKP eine eigene terroristische Gruppe organisiert.88 Wie sich später heraus-
stellte, war das Ziel dieser Gruppe die Vernichtung einiger parteifeindlicher Politi-
ker (General Seeckt, Zenfundt,89 Wetzel90 u.a.) sowie Provokateure. Die vorbereiteten
Anschläge auf Seeckt und einige andere liefen, dem Briefwechsel zufolge, ins Leere.
Von der Gruppe wurde nur ein einziges Attentat auf einen vermeintlichen Provoka-
teur – einen gewissen Rausch – durchgeführt, welcher verwundet, aber nicht getötet
wurde. Danach wurde der Gruppe ein neuer Auftrag gegeben, und sie wurde aus uner-
findlichen Gründen mit einem Parteiauto, welches zweifellos der Polizei bekannt war,
nach Stuttgart geschickt, wo ein Mitglied der Gruppe betrunken in einem Restaurant
verhaftet wurde, und daraufhin auch, nach seinen Hinweisen, die anderen. Nach dem
Auffliegen dieser Gruppe und anderer Ausfälle, die Volodʼka bekannt waren, wurden
85 Skoblevskij wurde am 24.3.1924 in Berlin verhaftet, als er sich als Durchreisender von Paris nach
Moskau ausgab. Siehe: Jacques Mayer: Skoblewsky-Rose. Anmerkungen zur Biographie (5.6.2009).
http://edoc.hu-berlin.de/oa/reports/rebBnmspNN6k/PDF/281sQAZQ1y2.pdf.
86 Zwei Tage vorher, am 13.5., sandte August Mayer einen Brief an das EKKI, in dem er die Schuld an
der Neumann-Affäre komplett dem ZK der KPD zuweist, das von Arkadi Maslow usurpiert worden sei
und nun dazu instrumentalisiert werde, mit dessen Feinden abzurechnen. Mayer fordert Moskau auf,
einen „Genossen mit halbdiktatorischen Vollmachten“ nach Deutschland zu entsenden (siehe: RGAS-
PI, Moskau, 495/25/1367, 28–31. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern
i ideja,S. 477–481).
87 Typisch ist hier die begriffliche Dominanz des Russischen, wie im Fall der „Sowjets“ (siehe hierzu
Dok. 195). Gemeint sind vermutlich die proletarischen Hundertschaften und die Kampfgruppen.
88 Die Aussage steht im Widerspruch zum Bericht von Kress, siehe Dok. 109.
89 Zenfundt: Nicht identifizierter, falsch geschriebener Zentrumspolitiker.
90 Wetzel: Wetzel war laut Wilhelm Kress ein Provokateur, kein Politiker. Siehe Dok. 109.
Dok. 110: [Moskau], 15.5.1924 389
die Treffpunkte, obwohl sie einzelnen Mitgliedern der Gruppe bekannt waren, nicht
abgesagt, und bei einem solchen Treffen wurde Volodʼka verhaftet.
Die Vorbereitung terroristischer Akte gegen Seeckt und andere, wie auch der
Anschlag auf Rausch, wurden mit Wissen wenn auch nicht des gesamten ZK der DKP,
jedoch zumindest mit Wissen einzelner Mitglieder durchgeführt. Dies belegen die
Aussagen des Gen. Fred (Stern).91
Aus Angst vor einem zu großen Enthusiasmus des ZK der DKP für Terrorakte
habe ich diese seinerzeit bei der Schaffung der Parteiorganisation keinem Militärlei-
ter untergeordnet, und angeordnet, keinerlei Akte ohne mein Wissen durchzuführen.
Gen. Stepanov,92 dem die Partisanenorganisation unterstellt war, war terroristischen
Akten gegenüber stets negativ eingestellt und weigerte sich, sie auszuführen. Als
Genosse P.93 in Moskau war, habe ich ihn in kategorischer Form auf die Unzulässig-
keit terroristischer Akte hingewiesen und ihn gebeten, solche Sachen nicht zu sankti-
onieren, wenn die Frage von wem auch immer aufgeworfen werden sollte. Deswegen
hat Volodʼka wohl die Vorbereitung terroristischer Akte Moskau gegenüber geheim
gehalten. In keinem der Berichte von Gen. Volodʼka wurde eine terroristische Gruppe
erwähnt. Genauso wenig wusste der Leiter der Partisanenorganisation, Gen. Stepa-
nov, von ihrer Gründung. Die Auswahl der Mitglieder dieser Gruppe war, wie sich jetzt
herausstellt, nicht seriös genug, und einzelne Mitglieder wurden nicht hinreichend
überprüft.
Zur Zeit gibt es Hinweise darauf, dass ein Mitglied der Gruppe seit ihrer Gründung
gleichzeitig Mitglied in einer nat[ional]-faschistischen Gruppe war.
Wie sich der beigefügten Materialsammlung entnehmen lässt,94 erzählen die ver-
hafteten Gruppenmitglieder Neumann, Pöge, König95 und Sohn alles, was sie über die
91 Es handelt sich um das Mitglied der Oberleitung Wasserkante, Moses, später Manfred Stern (1896–
1954), einen ehemaligen Offizier der österreichisch-ungarischen Armee, der 1936 im spanischen Bür-
gerkrieg als „General Kleber“ erfolgreich Madrid vor den Franco-Truppen verteidigte („Held von Ma-
drid“). Siehe: Valerij Brun-Zechowoj: Manfred Stern – General Kleber. Die tragische Biographie eines
Berufsrevolutionärs 1896–1954. Vorwort von Hans Landauer, Ulla Plener, Berlin, trafo Verlag, 2000
(Biographien europäischer Antifaschisten).
92 Es handelt sich möglicherweise um den Stellvertreter Rozes, den Mitarbeiter der INO-GPU Otto
Steinfest. Die militärische Leitung befand sich bis in das Jahr 1926 hinein komplett in russischer Hand.
93 Genosse P.: Paul (?), d.i. Ulbricht, der für die organisatorischen Vorbereitungen zuständig war.
94 Als Anlage zum Bericht finden sich unter dem Titel „Zusammenfassung der Ermittlungsmaterialien
in der Angelegenheit Volodʼka“ (RGASPI 495/25/1367, 5–23, 32–54) eine russische Übersetzung der Ver-
hörprotokolle der verhafteten Mitglieder der Terrorgruppe samt Anmerkungen Unšlichts, sowie Polizei-
berichte über die Gruppe. Pjatnitzki sandte das Material am 16.5.1924 an Radek mit dem Vermerk: „Das
beiliegende Militärmaterial bitten wir, nach Benutzung unbedingt zurückzugeben.“
95 Es handelt sich um Gustav König, Kursant des zweiten Militärkurses in Moskau, und im Kippen-
berger-Apparat später kurzzeitig Leiter der C-Arbeit (Anti-Arbeit). Zusammen mit seiner Ehefrau Alma
König 1933 in Berlin zur Betreuung („Sonderauftrag“) Ernst Thälmanns eingesetzt; dann gingen beide
in die Sowjetunion, wo er 1937 erschossen wurde. Frau und Kind sind seitdem vermißt (Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 472f.). (Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst, S. 323,
396 u.a.).
390 1924–1929
Tätigkeit und die Verbindungen der Militärorganisation wissen, und liefern alle ihnen
bekannten Funktionäre aus. Aus ihren Aussagen ergibt sich eine Verbindung der Mili-
tärorganisation mit der [Sowjetischen Handels-]Mission sowie finanzielle Zuwendun-
gen durch letztere, obwohl konkrete Angaben darüber in der Akte nicht vorhanden
sind. Aus dem gesamten Material ist ersichtlich, dass in der Arbeit des militärischen
Zentrums fast keine Konspiration herrschte und dass die Leiter der Militärorganisa-
tion, darunter auch der Vertreter des ZK der DKP, die Sache sehr leichtfertig behandelt
haben.
Durch meinen Bericht hierüber will ich unterstreichen, dass die Schaffung einer
terroristischen Gruppe und der Versuch, terroristische Akte gegen Seeckt und andere
zu organisieren, auf Initiative von „Volodʼka“ mit Wissen und Einverständnis des ZK
der DKP erfolgte, ungeachtet der diametral entgegengesetzten Anweisungen unserer-
seits.
2) dass Gen. „Volodʼka“ mir nichts über die Existenz der Gruppe und ihre Ziele,
sowie über die organisierten terroristischen Akte, mitteilte, und ich davon erst nach
dem Hochgehen erfuhr;
3) dass, ungeachtet meiner zahlreichen und kategorischen Aufforderungen,
Volodʼka nach Russland abzukommandieren, dies durch Zutun des ZK der DKP nicht
umgesetzt wurde;
4) dass die Verantwortung für die Schaffung der terroristischen Gruppe, die
Organisation einzelner Akte, und schließlich für das Auffliegen der Gruppe wie auch
Volodʼkas, komplett dem ZK der DKP zufällt, da „Volodʼka“ und sein Apparat unter
der unmittelbaren Anleitung und Überwachung eines seiner Mitglieder tätig war.96
96 Es dürfte sich hierbei um Gural’skij als Vorsitzenden des Revkom gehandelt haben.
Dok. 112: Moskau, 5.7.1924 391
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beschloss am 15.5.1924, nachdem darüber unter Beteiligung
von Pjatnitzki, Brjuchanov und Unšlicht debattiert worden war, das Budget des EKKI um 112.000 Rubel
zu erhöhen.97
Am 22.5.1924 beauftragte das Politbüro des ZK der KP Russlands Nikolaj Bucharin damit, die Gruß-
adressen der KPs Frankreichs und Deutschland an den XIII. Parteitag der RKP(b) telegraphisch zu
beantworten.98
Dok. 112
Thesen von Erich Wollenberg über die militärischen Fehler in der
deutschen Revolution von 1923
Moskau, 5.7.1924
Thesen über die Ursache der militärischen Fehler der K.P.D. im Oktober 1923, über die
Militärschule und über Leninismus und Militärarbeit.
97 RGASPI, Moskau, 17/162/1, 55. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Po-
litbjuro i Komintern, S. 255.
98 RGASPI, Moskau, 17/3/439, 1.
99 Bis zu seinem Parteiausschluss 1933 war der im 1. Weltkrieg fünfmal verwundete Leutnant Erich
Wollenberg vor allem als militärischer Führer in der Arbeiterbewegung, MP-Oberleiter Südwest im
deutschen Oktober, sowie als Militärfachmann in der Sowjetunion tätig. Von der KPD und der Gestapo
verfolgt, lieferte er bis zu seinem Tod 1973 als Autor und Journalist zentrale, auf eigener Lebenspra-
xis fußende Arbeiten über den Stalinismus, die Militärpolitik der Sowjetunion und Ernst Thälmann.
Siehe: Erich Wollenberg: Der Apparat. Stalins Fünfte Kolonne, Bonn, Bundesministerium für Gesamt-
deutsche Fragen, 1951; id.: The Red Army, London, New Park, 1978; id.: Thälmann. Film und Wirklich-
keit (1954). In: Peter Monteath (Hrsg.): Ernst Thälmann. Mensch und Mythos, Amsterdam u.a., 2000,
S. 109–118 (German monitor. 52).
392 1924–1929
sondern in erster Linie das gewissermassen notwendige Ergebnis einer falschen poli-
tischen Grundeinstellung.
3.) Diese falsche politische Grundeinstellung der deutschen Parteileitung im
Herbst 1923 wirkte sich in militärischer Hinsicht hauptsächlich in folgenden Richtun-
gen aus:
a) Der Militärapparat wurde in falscher Fronteinstellung organisiert als Folge
einer falschen politischen Fronteinstellung (gegen den „Faschismus an sich“, anstatt
gegen die Staatsorgane der deutschen Bourgeoisie; der Militärapparat bereitete sich
auf einen Kampf mit allen möglichen illegalen Faschistenverbänden vor und vergass
da[bei] Reichswehr und Schupo).
b) Die Partei verwässerte die Rolle des Militärapparates als Folge einer verwäs-
serten Auffassung von der Rolle der Partei (anstatt den Militärapparat der Partei als
Kadres zur Erfassung und Führung der (zu bewaffnenden) Massen sowie als selbstän-
dige Kampfformation auszubauen, wurden entsprechend der Koalitionspolitik zwi-
schen KPD und „linker“ SPD auf Grund von papierenen Resolutionen und Vereinba-
rungen mit „linken“ SPD-Führern sogenannte Betriebshundertschaften gebildet und
mechanisch zu Bataillonen, Regimentern und Divisionen – als selbständige fertige
Kampfformationen zusammengezählt.)
4.) Zu diesen grundsätzlichen Fehlern bei der militärischen Vorbereitung im
Herbst 1923 kam noch die starre mechanische Uebertragung der Organisationsform,
der Taktik und Strategie des Feldkriegs auf die Organisierung des bewaffneten Auf-
standes (die für die Militärarbeit nach Deutschland gesandten Genossen übertrugen
zum grössten Teil ihre in den Bürgerkriegskämpfen gegen Wrangel, Denikin usw.100
gemachten Erfahrungen auf die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, ohne zu
bedenken, dass die Kämpfe gegen Wrangel usw. militärisch sich unter ähnlichen
Formen und Bedingungen wie die Feldschlachten der imperialistischen Kriege mit
ihren fertigen Verbänden abspielten, während das Proletariat seine Massenverbände
erst im Kampf und durch den Kampf organisiert).
5.) Eine ungenügende taktische und strategische Ausbildung der verantwort-
lichen Militärarbeiter machte sich bei den relativ hohen militärischen Qualitäten
des deutschen Feldsoldaten nur wenig bemerkbar, zumal die Partei über zahlreiche
Chargierte (Offiziere und Unteroffiziere) verfügte. Es ist aber wahrscheinlich, dass bei
grösseren Kämpfen das deutsche Proletariat auch Mangel an militärisch geschulten
Führern haben wird.
6.) Infolge der falschen militär-politischen Grundeinstellung der Partei sowie der
unter 4.) und 5.) aufgezählten Schwächen organisierte sich die deutsche Partei im
Oktober in militärischer Hinsicht in falscher Richtung. Der gesunde revolutionäre
Instinkt breiter Mitgliederkreise und die Erfahrungen der vergangenen Bürgerkriegs-
kämpfe bewirkten, dass viele untere Einheiten der Partei sowie einzelne Bezirke im
100 General Pjotr Vrangel’ war als Anführer der konterrevolutionären „weissen“ Armee in der Sowjet
union der Nachfolger Anton Denikins.
Dok. 112: Moskau, 5.7.1924 393
Gegensatz zur zentralen Leitung ernste reale Vorbereitungen zum bewaffneten Auf-
stand betrieben. Das konnte nicht verhindern, dass die politische Parteileitung, die
nicht wusste, wo die wirkliche Kraft der Partei und des Proletariats liegt, nur auf die
militärischen Illusionsverbände schauten, die selbstverständlich vor dem ersten
konkreten Reichswehrsoldaten sich als Wolkengebilde erweisen mussten. Die Folge
davon war die „Begründung“ der Oktoberkatastrophe – neben politischen Scheinar-
gumenten – mit der angeblich versagenden militärischen Vorbereitung.
101 Gemeint ist die deutsche Militärschule beim Generalstab der Roten Armee in Moskau („1. M-
Schule“). Siehe hierzu: Dok. 106.
102 Nicht zu entschlüsselndes Pseudonym.
103 Die Kritik Wollenbergs am Fehlen jeder militärpolitischen Analyse traf sich mit der Karl Retzlaws:
„Wir müssten davon ausgehen [...] dass revolutionäres Handeln politisch bestimmt werde, dass es
demnach ohne Politik kein revolutionäres Handeln geben könne. Ich erinnerte daran, dass es bei
Lenin ebenso wie bei Clausewitz eindeutig heisst, dass ihre Lehren ‚kein Dogma‘, sondern ‚Anweisun-
gen zum Handeln‘ seien.“ (Karl Retzlaw: Spartakus, S. 290)
394 1924–1929
10.) Das Ergebnis dieser ersten Militärschule ist folglich nicht ein neuer104 Anfang
der „militärpolitischen Ueberwindung des Oktobers“, sondern es besteht vielmehr
die Gefahr, dass die im Oktober dilettantisch begangenen Fehler sich bei einer neuen
revolutionären Krise noch systematischer, gewissermassen auf einer militärwissen-
schaftlichen Grundlage wiederholen werden.
11.) Die völlig unzulängliche erste Militärschule ist aber durchaus kein Argument
gegen Militärschulen überhaupt, im Gegenteil hat sie gerade die Notwendigkeit einer
gründlichen militärpolitischen und militärtechnischen Schulung der deutschen Mili-
tärarbeiter aufgewiesen.
12.) Die Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung einer neuen Militär-
schule sind:
a) gründliche technische Organisation der Schule;
b) der Schule muss ein politischer Kommissar beigegeben werden, sowie ein mili-
tärpolitischer deutscher Referent;
c) sorgfältige Auswahl der Schüler (nur solche Genossen dürfen delegiert werden,
die wirklich als Militärorganisatoren oder als militärische Führer in Frage kommen);
d) sorgfältige Auswahl und genügende Bereitstellung von Lehrern, sodass nicht
nur die militärisch-technische und -taktische, sondern auch die politische und mili-
tär-politische Seite behandelt werden kann. Notwendigkeit einer Differenzierung des
Unterrichts bei einer (wahrscheinlichen) Differenzierung der Schüler.
Einsetzung einer Kommission vor, die eventuell zugleich die Vorbereitungen für eine
neue Militärschule zu treffen hat.105
Am 14.7.1924 drückte das Politbüro des ZK der KP Russlands sein „größtes Erstaunen“ angesichts der
Tatsache aus, dass der sowjetische Vertreter in Italien, Konstantin Jurenev (urspr. Krotovskij), ein Din-
ner zu Ehren Benito Mussolinis veranstaltet hatte. Das Politbüro forderte von Jurenev eine Erklärung
ein und beauftragte das NKID damit, eine Instruktion für die sowjetischen Auslandsvertreter zu ihrem
„Verhältnis zum bourgeoisen Etikett“ auszuarbeiten.106
Dok. 113
Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands zur drastischen
Kürzung der Zuweisung von Geldmitteln an die KPD
[Moskau], 14.7.1924
PROTOKOLL Nr. 10
(Sonder-Nr. 5)
DER SITZUNG DES POLITBÜRO DES ZK DER RKP(b) 14. JULI 1924.
Angehört:
3. Erklärung von Gen. Andreev, (Gen. Andreev, Sinowjew, Pjatnitzki).
Beschlossen:
3.a) Den Beschluss der Kommission zu bestätigen (siehe Beilage).
105 Vorerst wurde die „deutsche Militärschule“ nach 1924 (20 Teilnehmer) im Rahmen des 2. Lehr-
gangs 1925 mit 35 Teilnehmern fortgesetzt. Unter ihrem Leiter Karol Świerczewski (Ps. General Walter)
fungierte später die Militärschule der Komintern, zu der die KPD-Genossen weiter delegiert wurden.
Auch im Rahmen der Internationalen Leninschule wurde die militärische Ausbildung verstärkt (so
nach RGASPI 495/25/1349, 73, zit. in: Viktor Gilensen: Die Komintern und die „Organisation M.“ in
Deutschland in den Jahren 1923–1925; id.: Die Komintern und die „paramilitärischen Formationen“
der Kommunistischen Partei Deutschlands. In: Forum für osteuropäische Zeit- und Ideengeschichte
3(1999), Nr. 1, S. 31–80; 5(2001), Nr. 1, S. 9–50, bes. S. 37f., 44f.; vgl. Bert Hoppe: In Stalins Gefolg-
schaft: Moskau und die KPD 1928–1933, München, Oldenbourg, 2007, S. 152f.).
106 RGASPI, Moskau, 17/3/450, 3–4.
396 1924–1929
a) Die regulären Sonderzuweisungen für die nächsten sechs Monate bis zum 1.
Januar von 41.500 Dollar auf 23 Tausend Dollar pro Monat zu kürzen.107
b) Die monatlichen Zuweisungen laut der allgemeinen Kostenaufstellung folgen-
dermaßen festzulegen: Für Juli – 50 Tausend Dollar, für August – 47 Tausend, für
September – 44 [Tausend] und für Oktober und die weiteren Monate – 40 Tausend.
Darüber hinaus weitere 4.000 Dollar zuzuweisen, die im Juli für unvorhergese-
hene Ausgaben und zur Schuldentilgung ausgegeben werden.
Falls kleinere Abweichungen sich als unvermeidlich erweisen sollten, sind diese
aus den Reservemitteln der Komintern zu begleichen.
c) Ausgaben zum Erwerb von Gebäuden und Druckereien gegenwärtig als
unzweckmäßig anzuerkennen.
---
b) Den Vorschlag von Gen. Sinowjew betr. des Gen. Trilisser anzunehmen.108
Am 17.7.1924 sanktionierte das Politbüro des ZK der KP Russlands eine Resolution des Kongresses der
Profintern „über die Einheitsfront“. Darin wird die Schaffung einer einheitlichen Gewerkschaftsinter-
nationale gefordert, wozu Verhandlungen mit der Amsterdamer Internationale bzw. den britischen
Gewerkschaften initiiert werden sollen.109
107 Die Kürzungen der Sonderzuweisungen auf ca. die Hälfte sowie der regulären monatlichen
Zuweisungen um erhebliche Beträge lassen auf einen Gesamtumfang der finanziellen Unterstüt-
zung von bis zu einer halben Million Dollar schließen, zumindest für die Periode ab Juli 1923. Nach
einem nicht weiter spezifizierten Dokument im RGASPI soll die Kominternsubvention an die KPD auf
180.000 Dollar für das Jahr 1924 gekürzt worden sein (Gilensen: Die Komintern und die Organisation
M, S. 68). Damit wurden nicht nur die „militärischen“ Kürzungen, sondern auch die von Sinowjew als
Druckmittel gegen die Fischer/Maslow-Führung ins Spiel gebrachten „politischen“ Mittelkürzungen
an die KPD umgesetzt (siehe: Dok. 107).
108 Vermutlich ging es um die Überstellung von Mejer Abramovič Trilisser (Ps. Michail Abramovič
Moskvin) in die Dienste der Komintern. Trilisser war stellvertretender GPU-Vorsitzender. Zu seiner
weiteren „Karriere“ – er wurde Mitglied des Präsidiums und Sekretariats des EKKI – siehe: Dimitrov:
Tagebücher, I, S. 115f. u.a.
109 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 2–5. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.:
Politbjuro i Komintern, S. 262–264.
Dok. 113: [Moskau], 14.7.1924 397
Am 21.8.1924 beriet das Politbüro des ZK der KP Russlands über kommerzielle Beziehungen zu „op-
positionellen Genossenschaftsorganisationen in Deutschland“. Dabei handelte es sich größtenteils
um kommunistische Fraktionen (Komfraktionen) innerhalb der Genossenschaftsbewegung.110 Ein
entsprechender Vorschlag wurde von Smirnov am 30.10.1924 nachgereicht. Daraufhin wurde be-
schlossen, einige Eisenbahnwaggons Pferdefutter an die deutsche Sektion der Bauerninternationale
zu expedieren.111
Am 4.9.1924 befand es das Politbüro des ZK der KP Russlands nach einem Vorschlag des NKID für
„wünschenswert“, eine „sowjetische Wochenzeitung in Berlin“ herauszubringen. Die Presseabtei-
lung der Partei wurde beauftragt, eine Redaktion zusammenzustellen, „die eine kommunistische
Ausrichtung der Zeitung ohne die offizielle Proklamierung ihrer Parteilichkeit garantieren würde“.112
Am 2.10.1924 fasste das sowjetische Politbüro einen militärpolitischen Beschluss zum „Vorschlag
des Gen. Rozengolʼc“, der Mitglied des Revolutionären Militärrates (RVRS) – des höchsten Führungs-
organs der Roten Armee – war, „über Metachim“. Dabei ging es um Verträge mit dem Oberkommando
der Reichswehr über den gemeinsamen Bau eines Werkes für die Herstellung von Granaten und die
Produktion von chemischen Kampfstoffen – die Aktiengesellschaften Wiko, Metachim und Bersol.
Hierzu wurde konkret beschlossen, die Metachim aufzulösen und sie in die Moskust-Fabrik zu inkor-
porieren.113
Das Politbüro des ZK der KP Russlands behandelte am 9.10.1924 die Perspektiven eines Beitritts
Deutschlands zum Völkerbund. Das NKID wurde beauftragt, dem Politbüro eine entsprechende Er-
klärung zukommen zu lassen. Ebenfalls wurde über die Zusammensetzung einer Delegation für die
Verhandlungen mit Deutschland über den Handelsvertrag entschieden, die Jakov Ganeckij anführen
sollte.114
Am 16.10.1924 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands eine mündliche Formel als Antwort
auf die Erklärung der deutschen Regierung betr. Perspektive einer formellen Übereinkunft über den
(Nicht-)Beitritt zum Völkerbund einer Partei ohne das Einverständnis des anderen.115
Dok. 114
Bericht von „Franz“ über die Aufdeckung des Berliner „Passbüros“
und die Fehler des illegalen Apparats der KPD
Berlin, 4.11.1924
116 Auf der ersten Seite oben links ein handschriftlicher Vermerk von Mickiewicz-Kapsukas: „Gen.
Ejdukin. Nur im Stahlschrank aufbewahren.“ Oben rechts: „S[treng] geheim“. Der Verfasser ist mögli-
cherweise Franz Ferdinand Schindler, das Pseudonym von Albert Gromulat (1882–1950) 1924 Organi-
sator und Instrukteur für illegale Arbeit in Berlin.
117 Beschlagnahme der Passstelle: Der Passfälscherapparat der KPD, der zu Beginn der zwanzi-
ger Jahre mit dem Apparat der Verbindungsabteilung der Komintern (OMS) zusammenarbeitete,
war wiederholt von der Polizei ausgehoben worden. Über den hier dargestellten Fall findet sich bei
Grundmann folgendes: „Am 7. Oktober 1924 wurde eine Werkstatt in der Neuköllner Thomasstrasse
33 geschlossen. Der Polizei fielen eine große Anzahl von Dokumenten für Kommunisten, die in die
Illegalität gehen sollten (darunter Ernst Thälmann und Hugo Eberlein), sowie Mittel zur Dokumen-
tenausstellung (deutsche und Danziger Paßblankoformulare, 1300 Stempel, Chemikalien usw.) in die
Hände. Am 25. Februar 1925 gelang es der Polizei abermals, eine Werkstatt in Berlin-Treptow zu ent-
decken. [...] Trotz dieser schweren Verluste wurde der Schaden kompensiert, zumal die zahlreichen
anderen Werkstätten nicht entdeckt wurden. Die Arbeit wurde nicht nur fortgesetzt, sondern perfek-
tioniert.“ (Grundmann: Kommunistische Passfälscher, S. 431).
118 Nach den Recherchen von Grundmann war dies in der Hauptsache die Graphische Kunstanstalt
Schultz und Großkopf, später Berliner Klischee-Werkstätten, in Berlin-Charlottenburg, Grolmannstr.
Nr. 59/60 (Grundmann: Kommunistische Passfälscher, S. 429).
119 Der Druckereifachmann war vermutlich der Chemigraph Bruno Schultz, der Inhaber der Berliner
Klischee-Werkstätten war (Grundmann: Kommunistische Passfälscher, S. 429).
Dok. 114: Berlin, 4.11.1924 399
Alle Mitarbeiter waren aus der Ortsorganisation der Partei ausgetreten und gehör-
ten einer Parteigruppe für sich an, die Bücher enthielten Decknahmen und waren
nicht in Händen der Genossen.120
Das Passbureau lag in einem Miethause im II Stock, und hatte seine Fenster dem
Hof zu, gegenüber einer Giebelwand. Es war ungefähr seit einem Jahr von älteren
Leuten, Sympatisierenden, abgemietet [sic] unter dem Mantel eines Ingenieurbu-
reaus, ohne aber angemeldet zu sein, und ohne sich, nach aussen, irgendwie als
Bureau kenntlich zu machen. Erwin, der vor mir und Conrad dort gearbeitet hatte,
war zufällig mit dem Verwalter des Hauses bekannt, so wusste mit einem Male unsere
Wirtin seinen richtigen Namen, den sie sicher auch der Polizei übermittelt haben
wird.
Durch Ueberlastung des Apparates durch laufende Arbeit hatte sich die organi-
satorische Arbeit so angehäuft, dass ich, als zweiter Mann, fast nur mit dieser zu tun
hatte.121 Zuletzt hatte ich sie soweit aufgearbeitet, dass wir gemeinsam die laufende
und die org[anisatorische] Arbeit machten. Zu dieser letzteren gehörte die Organisa-
tion eines Reserveapparates in Bezug auf Vorlagen, Copien usw. Diese Arbeit wurde
von allen als wichtiger angesehen, als die Arbeit der Chiffrierung der Registratur,
die unmittelbar darauf in Angriff genommen werden sollte. Diese Arbeit war Erwin
schon vorher einmal übertragen worden. Er kam aber infolge der laufenden Arbeit
über den Anfang nicht hinaus. Als ich in den Apparat hineinkam, und die Registra-
tur sah, machte ich sofort auf die grosse Gefahr Ernst, sowie auch Conrad, aufmerk-
sam; ich musste dann aber auch feststellen, dass bei dem vorhandenen Arbeitsmo-
dus dieselbe dauernd zu Auskünften bei Verhaftungen, Zusätzen und Streichungen
gebraucht wurde, oft liefen Nachbestellungen so unvollständig abgefasst ein, dass
man nur mit Hilfe der Registratur dieselbe ausführen konnte. So war es erklärlich,
dass dieselbe da war, wo sie am meisten gebraucht wurde. In der Registr[atur] war
enthalten der orig[inal] Name, meistens mit Geburtsdaten und Berufsangabe, sowie
der Besteller, wie Sekretariat = Sekt. oder Reichszentrale Rote Hilfe = R.Z.14 usw, wei-
terhin der neue Name mit allen nötigen Angaben, wobei das, was geliefert wurde, in
Zahlen, wie Berliner Pass vom 5. Bezirk = 7,5 Bln, ausgedruckt wurde. Bei den bekann-
ten Genossen stand im Orig. Abschnitt meist nur ein Name wie: Ruth [Fischer] oder
Thälmann. Da wir bald zur Chiffrierung schreiten wollten, war auch die 2. Registra-
tur vom Arbeitszeugbureau im Passbureau, in der sich ungefähr 300 Angaben über
Arbeitszeuge, ebenso abgefasst, befanden.
120 Grundmann zufolge, der Informationen von August Meyer heranzieht, war seit 1923 Richard
Großkopf technischer Leiter der Passfälscherzentrale. Ab 1924 unterstand die Mitarbeitergruppe Leo
Flieg als Leiter des Sekretariats des ZK und dem diesem untergeordneten Leiter der Abteilung für
technische Sicherung der Auslandsbeziehungen und Leiter des illegalen Bereichs des Sekretariats,
Willi Mielenz (Grundmann: Kommunistische Passfälscher, S. 428).
121 Nach Richard Großkopf wird als zweiter Mann für die technische Durchführung der Passfäl-
scherzentrale bei Grundmann Karl Wiehn (Ps.: Karl und Schilling) genannt.
400 1924–1929
123 Die unter dem sozialdemokratischen Berliner Polizeipräsidenten Eugen Ernst geschaffene Ab-
teilung 1A des Polizeipräsidiums Berlin und später in allen staatlichen Polizeipräsidien, bildete die
preußische politische Polizei, aus der 1933 die Gestapo hervorging.
124 In Verbindung mit diesem Bericht bereitete das EKKI Ende 1924 den Entwurf eines Zirkularbrie-
fes an die KPD vor, in dem die unbedingte Einhaltung der Konspiration gefordert wurde (RGASPI,
Moskau, 495/27/12, 39–41).
402 1924–1929
Franz.
4.XI.1924.
Am 13.11.1924 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, den Entwurf für die Wirtschaftsge-
spräche mit dem Deutschen Reich genauestens und im Geheimen zu studieren, bevor man sich dies-
bezüglich mit den Deutschen in Verbindung setzte. Auf der gleichen Sitzung des Politbüros wurden
Stalin, Bucharin und Sinowjew beauftragt, einen Brief an die KPD zum Wahlkampf in Deutschland
aufzusetzen.125
Das Politbüro des ZK der KP Russlands ließ am 25.11.1924 Krestinskij mitteilen, dass man auf die
„Ergreifung sämtlicher nur möglicher Maßnahmen“ bestehe, um die Freilassung von Arkadi Maslow
„auf diplomatischem Wege“ zu erwirken.126 Der als Kopf der Partei geltende Maslow war bereits am
20.5.1924 bei der Fahndung nach einem Handtaschendieb im Berliner Lunapark festgenommen wor-
den. In seinem am 1.9.1925 beginnenden Prozess wurde er zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, dann
jedoch aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands im Juli 1926 freigelassen, kurz bevor er zu-
sammen mit Ruth Fischer aus der Partei ausgeschlossen wurde.
Dok. 115
Brief Stalins an Sinowjew zu einem historischen Artikel Otto
Kuusinens über die deutsche Revolution
[Moskau], 27.11.1924
27.XI.1924
Gen. Sinowjew!
Ich kann nicht für die Veröffentlichung des Artikels von Gen. Kuusinen stimmen.128
In dem Artikel wird direkt darauf hingewiesen, dass der Aufstand in Deutschl. von
Moskau gegen den Willen des deutschen ZK angeregt und geplant worden sei. Zum jet-
zigen Zeitpunkt, wo die Propaganda- und Aufstandsarbeit der Komintern im Zentrum
der Angriffe aus dem Westen steht, ist es gefährlich und schädlich, über solche Dinge
zu schreiben.129 Falls Sie nicht einverstanden sind, lassen Sie uns morgen auf der
Siebener-Sitzung [v 7–ke] darüber sprechen.
(Stalin)
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beriet am 27.11.1924 über das Budget der Komintern. Die
Entscheidung wurde einer Kommission überantwortet, die aus Sokolʼnikov, Pjatnitzki und Molotov
zusammengesetzt war. Es wurde ebenfalls über den Handelsvertrag mit Deutschland gesprochen.130
128 Gemeint ist der Artikel: Otto Kuusinen: Eine mißglückte Schilderung des „deutschen Oktober“.
In: Inprekorr (1924), Nr. 161 (12.12.1924), der explizit zur Verteidigung des Kominternvorsitzenden
Sinowjew, implizit zur Verteidigung Stalins geschrieben wurde. Der Autor setzt sich mit dem Vor-
wort von Trotzkis Broschüre „Die Lehren des Oktober“ auseinander, in dem der deutsche Oktober
als „klassisches Beispiel“ bezeichnet wird, „wie man eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Si-
tuation von welthistorischer Bedeutung verpassen kann.“ (siehe: Lew Trotzki: 1917. Die Lehren der
Revolution, Berlin, E. Laub, 1925, S. 12f.). Kuusinen wirft Trotzki „rechte Tendenzen“ vor und spricht
von einem „ungeheuerlichen Versuch“, „den Vorsitzenden der Komintern (…) an den Pranger zu stel-
len“ (S. 2204f.). Er argumentiert zentral gegen die These Trotzkis, im Deutschen Oktober habe es als
fundamentalen Unterschied zur russischen Oktoberrevolution ein Führungsversagen als wichtigsten
Grund für das Scheitern des Aufstands gegeben.
129 In der publizierten Fassung ist abgeschwächt nur noch von dem „Druck“ die Rede, den die Exe-
kutive seinerzeit auf die KPD-Führung hätte ausüben müssen. Darüber hinaus legitimierte Kuusinen
noch einmal die nach Trotzkis Auffassung ungerechtfertigte Absage von Massenkämpfen im Som-
mer 1923. Als „äußerst seltsam und unbegründet“ bezeichnete er Trotzkis Diktum: „Unser Fehler liegt
darin, daß ‚wir‘ wochenlang die alten Abgeschmacktheiten darüber wiederholten, daß ‚die Revoluti-
on nicht zu einem bestimmten Termin angesetzt werden könne‘ und dadurch alle Termine verpasst
haben.“ (ibid., S. 2202).
130 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 45. Teilweise in russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/
Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 281–282.
404 1924–1929
Am 11.12.1924 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, eine Kommission, bestehend aus
Litvinov, Frumkin und Rykov, zu bilden, die die sowjetische Delegation bei den Verhandlungen über
einen Handelsvertrag mit Deutschland anleiten sollte.131
Am 15.12.1924 bewilligte das Politbüro des ZK der KP Russlands – vermutlich nach einem Vorschlag
von Čičerin vom 11.12.1924 – ein Antwortschreiben an Reichsaußenminister Stresemann anlässlich
eines Briefes des ZK der KP Russlands an die KPD, in dem die Wahlen als „Zuchthauswahlen“ be-
zeichnet wurden. Die deutsche Regierung hatte daraufhin gegen den Brief Protest eingelegt (siehe
nachstehendes Dok. 117).132
Dok. 116
Aufforderung der Abteilung I der Hamburger KPD, die
Veröffentlichung von Larissa Reissners „Hamburg auf den
Barrikaden“ zurückzuhalten
Hamburg, 17.12.1924
Werte Genossen! In unserer Parteipresse kündigt Ihr in einer Annonce zum 20.
Dezember die Broschüre „Hamburg auf den Barrikaden“ von der Genossin Larissa
Reissner, an.134
Wir ersuchen Euch dringend, diese Broschüre unter allen Umständen zurückzu-
halten und kein einziges Exemplar an die Öffentlichkeit zu geben.
Die Gründe dazu sind folgende:
Vor einiger Zeit hat das „Hamburger Echo“ einen Auszug aus der „Prawda“,
die einen Teilabdruck aus der Broschüre abgedruckt hatte, zur Veröffentlichung
gebracht.135 Auf Grund dieser Veröffentlichung des „Hamburger Echo’s“ wurde sofort
von der Staatsanwaltschaft gegen 10 Genossen ein Verfahren wegen Hochverrats ein-
131 APRF, Moskau, 03/64/646, 141 und 144. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 205.
132 RGASPI, Moskau, 17/3/481, 4.
133 Eintrag über die ersten zwei Zeilen: „für Berger“. Unterschrift unleserlich. Über der Unterschrift
ovaler Stempel mit mittigem Abdruck: „Abtg. I“. Rechteckiger Eingangsstempel: 18. DEZ. 1924.
134 In der deutschen (Erst-)ausgabe der Erzählung (Larissa Reissner: Hamburg auf den Barrikaden.
Erlebtes und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand 1923, Berlin, Neuer Deutscher Verlag [1924]) wur-
den nur Initialen verwendet.
135 Das Hamburger Echo, Hamburg-Altonaer Volksblatt, Tages- und Abendzeitung der SPD.
Dok. 116: Hamburg, 17.12.1924 405
geleitet.136 Nach Rücksprache mit dem Verteidiger, unserem Genossen Schmidt steht
fest, dass schon jetzt die Oberstaatsanwaltschaft auf Euer Inserat hin, grosses Inte-
resse für die Broschüre hat. Es sind in der Broschüre eine ganze Menge Genossen
namentlich benannt, gegen die die Staatsanwaltschaft bisher noch nicht genügend
Material zur Erhebung der Anklage des Hochverrats hatte. U.a. gegen die Genossen
[Karl] Köppen, [Erich?] Hoffmann, [Walter] Rühl und andere. Sollte dem Staatsanwalt
die Broschüre in die Hände fallen, ist klar dass gegen alle Genossen, die in der Bro-
schüre namentlich benannt sind, sofort Anklage erhoben wird.
Wir ersuchen Euch deshalb nochmals dringend, die Broschüren mindestens
solange zurückzuhalten, bis alle Prozesse erledigt sind oder aber alle Namen aus dem
Manuskript der Broschüre zu streichen.137
Mit komm[unistischem] Gruss
Am 15.12.1924 bewilligte das Politbüro des ZK der KP Russlands ein Antwortschreiben an Reichsau-
ßenminister Stresemann anlässlich eines abgefangenen Briefs des ZK der KP Russlands an die KPD
(siehe nachstehendes Dokument).138
Das Politbüro des ZK der KP Russlands beriet am 18.12.1924 über die Verhandlungen zum Handelsab-
kommen mit Deutschland, die nach der von dem „Handelsvertretungs-Zwischenfall“ bedingten Pause
wiederaufgenommen werden sollten. Es wurde beschlossen, sich vom NKID und von der Berliner Ver-
tretung Materialien und Meinungen zukommen zu lassen. Für die Planung der Verhandlungen sollte
zwecks Ausarbeitung der Forderungen der sowjetischen Seite eine Kommission gebildet werden.139
136 Die Publikation wurde mehrfach konfisziert. In einer Rezension schrieb Kurt Tucholsky unter
dem Titel „Larissa Reissner“: „Die ist in ihrem eignen Saft gekocht. Wir haben so viel alte Weiber unter
den Journalisten – eine so kluge, eine so kräftige war noch nicht dabei. Ihre ausgewählten Schriften
liegen nun unter dem Titel ‚Oktober‘ im Neuen Deutschen Verlag zu Berlin vor. Im Inhaltsverzeichnis
fehlt zunächst ‚Hamburg auf den Barrikaden‘, das ein ungerechtfertigtes und politisches Edikt der
Republik unter Zuhilfenahme einer sogenannten Justiz dem legalen Verkauf entzogen hat. Ich besitze
das Buch und schätze es als eins der besten Revolutionsdokumente, das so ganz nebenbei eine Mei-
sterschilderung Hamburgs enthält, das Paradigma eines Städtebildes, etwas ganz und gar Einzigar-
tiges. Die Konfiskation dieser Broschüre nützt natürlich, wie alle derartigen Kindereien, zum Glück
wenig. Und im ‚Oktober‘ bleibt noch reichlich genug Schönes“ (Ignaz Wrobel (Ps.), d.i Kurt Tucholsky:
Larissa Reissner, in: Die Weltbühne, 22.2.1927 (siehe auch: http://www.textlog.de/tucholsky-larissa-
reissner.html).
137 In der 1925 erschienenen Ausgabe (Larissa Reissner: Hamburg auf den Barrikaden, Berlin, Neuer
Deutscher Verlag, [1925],) wurden nur Initialen benutzt.
138 RGASPI, Moskau, 17/3/481, 4.
139 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 50. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.:
Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 56.
406 1924–1929
Dok. 117
Antwortentwurf der sowjetischen Regierung auf den Protest von
Reichsaußenminister Stresemann gegen einen Brief des ZK der
RKP(b) an die KPD zu den Reichstagswahlen
[Moskau], 18.12.1924
ANLAGE ZUM P. 17 DES PROTOKOLLS NR. 41 DER SITZUNG DES PB DES ZK VOM 18/XII-24.
Ihrem Wunsche nachkommend, habe ich nochmals die Ehre, Ihnen zu versi-
chern, dass der Regierung der UdSSR jeder Gedanke einer wie auch immer gearteten
Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands fern liegt.
Nehmen Sie die Zusicherungen entgegen etc.143
Dok. 118
„Grundlegende Angaben über den Zustand der Wehrorganisation der
KPD“:144 Aus der Denkschrift des Leiters der Wehrabteilung des ZK
[Berlin], nach dem 20.12.1924
1. Bis zu diesem Punkt wurden die vorliegende Notiz und alle von mir gemachten Vor-
schläge ausgehend von unserem alten Budget, d.s. 15 Tsd. Dollar im Monat, verfasst.
[...] Nun jedoch, nachdem ich Ihr völlig unerwartetes Schreiben erhielt (ich hatte
gedacht, dass es Kürzungen geben wird, jedoch nicht derart drastische), verändert
sich die Lage bedeutend. [...]145
Ich führe lediglich die Liste unserer Arbeitsausgaben für Dezember an. Daraus
wird ersichtlich, dass ein Teil der Ausgaben auf einer nicht ganz rationalen Grundlage
durchgeführt und eine zu große Zahl bezahlter Mitarbeiter unterhalten wurde.146 [...]
Aufbaus und der Organisation des Sowjetstaates und namentlich angesichts der für die Entscheidun-
gen der Regierung maßgebenden Rolle, die im russischen Sowjetstaate die genannten beiden Persön-
lichkeiten spielen [d.s. Stalin und Sinowjew], kann die deutsche Regierung für die scharfe Unterschei-
dung, die von Ihnen zwischen der Regierung und derartigen Organisationen gemacht wird, ebenso
wenig Verständnis aufbringen wie für die Erklärung, dass es der Regierung der UdSSR unmöglich sei,
diese Organisationen zu überwachen.“ (Ibid., S. 662).
143 In der Antwort schrieb Stresemann: „Abgesehen von den [...] fortgesetzten weitgehenden Ein-
mischungen von Herrn Sinowjew hat, wie seinerzeit ausgeführt, auch Herr Stalin keine Bedenken
getragen, seinen Namen unter einen derartigen Aufruf zu setzen. In Ihrer Antwort gehen Sie, Herr
Botschafter, auf diese Fragen nicht ein, insbesondere haben Sie mir bezüglich Herrn Stalins über-
haupt keine Aufklärung zukommen lassen.“ (Der Reichsminister des Auswärtigen Stresemann an den
sowjetischen Botschafter Krestinski, Berlin 31.1.1924, abgesendet 2.1.1925; Ibid., S. 661–662).
144 Im Original „DKP“.
145 Es ging um Kürzungen der Zuweisungen aus Moskau, vermutlich noch weitere nach dem Be-
schluss des sowjetischen Politbüros vom 14.7.1924 (siehe Dok. 113).
146 Aus einem weiteren Dokument geht hervor, dass der Militärapparat der KPD zu dieser Zeit noch
aus 83 bezahlten Mitarbeitern bestand (RGASPI 495/25/1365, 308).
408 1924–1929
B) Aufklärung
1. Geh[alt] des zentr[alen] Appar[ats] (11 Pers.) 4270 M.
2. Org.–Ausgaben des Z[entral]-Apparats 2308 M.
3. Org.–Ausgaben der Aufklärungslei[ter| der Bezirke 1300 M.
4. Gehalt von Residenten – 3 Pers. 955 M.
5. Agenturausgaben 2700 M.
INSGESAMT: 11533 M.
147 Nach Gilensen: Die Komintern und die Organisation M, S. 68, handelte es sich bei „Oskar“ um
den nicht eindeutig identifizierten russischen Nachfolger von Skoblevskij bzw. Firin-Pupko. „Oskar
Schumann“ war eines der Pseudonyme von Otto Braun, der 1924/1925 Abwehrleiter des zentralen M-
Apparates der KPD in Berlin war, bevor er 1925/26 Mitarbeiter der Auslandsabteilung des sowjetischen
Nachrichtendienstes GRU in Berlin wurde („Spezialaufträge“), zu der auch seine Freundin Olga Bena-
rio stieß (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 145ff.). Hans Kippenberger übernahm erst
später die Leitung des M-Apparats, nicht bereits 1925 (ibid.).
148 Hierbei handelte es sich um die Botschaft der Sowjetunion Unter den Linden in Berlin.
149 Hier und im Weiteren ist mit „BK“ die Zeitschrift Vom Bürgerkrieg, das Organ der Militärorganisa-
tion der KPD, gemeint (siehe Dok. 85 und 93).
Dok. 118: [Berlin], nach dem 20.12.1924 409
E) Bewaffnung
1. Geh[alt] für 4 Pers. 1684 M.
2. Organisat.–Ausgaben 1378 M.
INSGESAMT: 3062 M.
F) Jugend
1. Geh[alt] für 7 Pers. 1560 M.
2. Org.–Ausgaben 1389 M.
INSGESAMT: 2949 M.
Insgesamt wurden für Dezember 59331 Mark ausgegeben. Von dieser Summe entfielen
26 Tausend 840 Mark auf den Gehalt von bezahlten Mitarbeitern (55 Personen – 16152
M. im Zentrum, 28 Pers. – 10688 M. in den Bezirken). Somit wurde die gesamte für
Dezember bewilligte Summe (15 Tsd. Doll.) vollständig ausgegeben (die verbliebenen
Groschen sind nicht der Rede wert). [...]
Die Durchführung der Kürzungen schlagen wir in der folgenden Weise vor:
Alois [d.i. Stefan Vladimirovič Žbikovskij] – Vertreter des M[ilitär-]B[üros] 150 D[ollar]
(Anscheinend wird einer von uns weggehen, dann bleiben
4 Pers., was völlig ausreicht.)
Neuberg [d.i. Tuure Lehén]– Stellvertreter 150 D.
Viktor [d.i. Leo Roth?]– Kanzlei, für Aufträge 150 D.
Ludwig [d.i. Ignacy Porecki]150 – für Verbindungen 150 D.
Übersetzerin 75 D.
Stenotypistin 75 D.
Organis[ation] u. a. Ausgaben 600 D.
INSGESAMT: 1350 D.
B. M[ilitär]-Apparat
150 Angenommene Namen bzw. Pseudonyme des Ignacy Markovič Porecki (1899 Podwołoczyska,
Österreich-Ungarn – 4.9.1937 ermordet bei Lausanne) waren Ignatij Stanislavovič Rejss, Ignaz Reiss,
Ludwig, Hans Eberhard u.a.
410 1924–1929
C. Bewaffnung
D. Jugend
G. Aufklärung
4. Wie aus der Kostenaufstellung ersichtlich wird, sehen wir keinerlei Ausgaben für
die Unterstützung von Verhafteten und ihren Familien vor [...]. Was die Hilfe an die
Verhafteten angeht, so bitten wir Sie, eine gewisse Summe dafür in Moskau bei der
MOPR152 aufzutreiben [...].
Dok. 119
Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands zur
Finanzierung der kommunistischen Parteien
Moskau, 24.12.1924
Angehört:
8. Über den Kostenvoranschlag (PB vom 8.XII., Pr. Nr. 41, P. K) (Molotov, Pjatnitzki).
Beschlossen:
Der Vorschlag der Kommission zur Assignierung von 4180450 Rubel für das Jahr 1925
wird bestätigt.
Auszüge verschickt an: Genn. Sokolʼnikov, Pjatnitzki.153
152 Zur MOPR (russische Bezeichnung der Internationalen Roten Hilfe) siehe u.a. Dok. 25. Zum Tä-
tigkeitsumfang der MOPR kamen später Kinderheime und Emigrantenheime hinzu. Die sowjetische
Sektion der Roten Hilfe (MOPR), war aufgrund der hohen Mitgliederzahl (1930 ca. 8 Millionen) Haupt-
einnahmequelle für ihre internationalen Aktivitäten. Siehe die Instruktionen zur Festlegung der Auf-
gaben dieser Massenorganisation, Dok. 155.
153 An dieser Stelle folgt die Zusammenfassung des Kostenplans, der von der Budgetkommission
am 6.1.1925 beschlossen wurde. Zit. nach RGASPI 495/82/12, 4–7, in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.:
Politbjuro i Komintern, S. 286f.
412 1924–1929
154 Dabei handelt es sich um die „monatlichen Zuweisungen“, nicht die „regulären Sonderzuwei-
sungen“ (siehe Dok. 113), die möglicherweise auch noch gezahlt wurden. Die Kürzungen sind nicht so
umfassend wie in der Beschlussvorlage an das Politbüro vom 14.7.1924.
155 Hier handelt es sich offenbar um die Sonderzuweisungen an den von sowjetischem Personal
geführten, bei der KPD eingerichteten Militärapparat unter den Nachfolgern von Skoblevskij-Roze,
Firin-Pupko und „Oscar“.
156 Sportintern: Die Rote Sportinternationale (RSI, 1921–1937).
157 Die Skandinavische Kommunistische Förderation (1924–1928).
158 Das Internationale Frauensekretariat (1920–1926), siehe auch Dok. 47c.
159 Die Kommunistische Balkanförderation (KBF, 1920–1934).
Dok. 119: Moskau, 24.12.1924 413
47) Verschiedenes – aus den Budgets der Komparteien, denen mindestens 15000 Gol-
drubel assigniert wurden, soll eine Sammlung von 3 bis 5% zur Verfügung der Bud-
getkommission gestellt werden.
Nachdem ein Kollegium des NKID eine neue Taktik gegenüber Deutschland ausgearbeitet hatte, wur-
de diese vom Politbüro des ZK der KP Russlands am 24.12.1924 gebilligt. Zentrale Bestandteile waren
die Koordinierung des Verhaltens beider Staaten gegenüber dem Völkerbund, die gemeinsame Zu-
rückdrängung Polens sowie das grundsätzliche Einverständnis der Sowjetunion mit der Sicherheits-
politik Stresemanns im Westen (siehe hierzu die folgenden Politbürobeschlüsse).165
165 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 52. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Po-
litbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 56–58.
1925
Am 3.1.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, Dmitrij Manuilski als Vertreter des ZK
der VKP(b) ein weiteres Mal, diesmal zum ZK-Plenum der KPD (11.–12.1.1925) nach Deutschland zu
entsenden. Bezüglich des in Deutschland verhafteten und als militärischen Leiter des „Deutschen
Oktober“ des Hochverrats angeklagten Volʼdemar Roze (Ps. Petr Skoblevskij) wurde eine Kommission
gebildet, der neben Unšlicht, Pjatnitzki auch Čičerin angehörte. Sie sollte seine Aussagen gegenüber
den deutschen Ermittlern koordinieren. Außerdem wurde den estnischen Kommunisten der Befehl zur
Evakuierung von Verhaftung bedrohter Personen erteilt.1 Die KP Estlands startete in Überschätzung
der eigenen Kräfte am 1. Dezember 1924 einen Aufstand in der Hauptstadt Tallinn, wobei bewaffnete
Kommunisten unter der Leitung des späteren EKKI-Funktionärs Jaan Anvelt die Kathedrale, eine Mili-
tärakademie und das Regierungsgebäude angriffen. Es gelang jedoch nicht, größere Menschenmen-
gen hinter sich zu bringen, und der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. Allem Anschein nach
wurde diese Aktion, trotz der Aufteilung der Verantwortung durch Bildung einer Politbüro-Kommissi-
on mit Stalin, Sinowjew, Čičerin, Frunze, Trotzki und Unšlicht, v.a. unter der Verantwortung Sinowjews
geplant und von der heimlichen Entsendung kommunistischer estnischer Offiziere nach Estland so-
wie der Mobilisierung von größeren russisch-estnischen Soldatenverbänden an der russisch-estni-
schen Grenze begleitet.2
Am 8.1.1925 beschäftigte sich das Politbüro des ZK der KP Russlands zum Thema „Über Deutschland“
mit dem Handelsvertrag. Es wurde beschlossen, Deutschland zunächst vorzuschlagen, vor Wiederauf-
nahme der offiziellen Verhandlungen inoffizielle Gespräche zu führen.3
Nachdem die Fischer-Maslow-Führung erwogen hatte, August Thalheimer und Heinrich Brandler aus
der KPD auszuschließen, drückte das Politbüro des ZK der KP Russlands am 15.1.1925 in einem Be-
schluss sein Erstaunen darüber aus, dass das ZK der KPD ohne vorherige Abstimmung eine Entschei-
dung darüber gefällt habe. Die „Verhandlungen zu diesem Anlass“ sollten bis zum nächsten erwei-
terten EKKI-Plenum verschoben werden.4 Da Brandler und Thalheimer in die KP Russlands überführt
worden waren, sah das russische Politbüro sich in seiner Kompetenzsphäre beeinträchtigt. Brandler
und Thalheimer wurden tatsächlich erst 1929 aus der VKP(b) und der KPD ausgeschlossen.
1 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 55. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S.
288–289.
2 Ibid., S. 279; siehe hierzu: Broué, Histoire, S. 398–399.
3 APRF, Moskau, 03/64/679, 647, 8. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 218.
4 RGASPI, Moskau, 17/3/485, 3–5. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 294–295.
416 1924–1929
Dok. 120
Protokollauszug des KPD-Politbüros zur Strategie gegen die
anstehenden KPD-Prozesse („Urbahns-Prozess“, „Tscheka-
Prozess“, „Zentrale-Prozess“)
[Berlin], 17.1.1925
Auszug aus dem Protokoll des Pol[it]-Büros vom 17. Januar 1925.
Ranke6 zur Führung der wichtigen politischen Prozesse der nächsten Zeit, Urbahn
prozeß,7 Tschekaprozess8 und Prozeß gegen die frühere Zentrale.9
Das erste ist die allgemeine politische Führung des Prozesses, das zweite die politische
Führung des Urbahnsprozesses und welche persönliche Darstellung Urbahn[s] geben
soll, ferner das Verhalten zu Neumann und Pöge.10 Die Prozesse sollen politisch ein-
heitlich geführt werden: der falsche strategische Plan der damaligen Parteiführung,
ohne Verschleiern aussprechen, daß aber die Politik der damaligen Zentralmehrheit
davon ausging, durch verfassungsmäßige Regierungen, gestützt auf die Arbeiter-
schaft, die faschistische Reaktion, die von Bayern her drohte, abzuwehren. Ähnlich
wie im Kapputsch sich die Arbeiter auf Befehl der Regierung erhoben, erhoben sich
auch die Arbeiter Hamburgs. Das zeigen ihre Bemühungen, mit dem Gewerkschafts-
kartell Hamburg bis zur letzten Stunde zu verhandeln. Die Reichsregierung brach
die Verfassung. Die Minister der Sozialdemokratie waren auch bereit zu dieser Ver-
teidigung, wie sie wenigstens unseren Genossen gegenüber in den Verhandlungen
betonten. Bruch der Verfassung durch Ebert, durch den Belagerungswinter. Ganz
kraß sagen, daß dieser Plan wirklich bestand. Sächsischer-thüringischer Verfas-
sungsbruch.11 Die taktische Frage klar vor Gericht stellen. Dieser Plan war falsch, man
kann diesen Kampf nicht mit der SPD führen (Ebertprozeß).12 Durch verfassungsmä-
ßige Regierungen kommt das Proletariat nicht zur Macht. Legale Abwehrmaßnahmen
des Proletariats hindern nicht die Diktatur der Bourgeoisie. Das Verhalten Brandlers
im Oktober kritisch brandmarken.13 Aber uns dabei nicht in eine Erklärung gegen
Putsche etc. hineindrängen lassen, wie es im Prozeß nach der Märzaktion geschah.14
Politische Darstellung der Brandlerpolitik und Gegenüberstellung unserer Taktik.
Urbahns ist [zu zwingen?] das genau zu formulieren. Er hat bereits in seinem Prozeß
diese Linie zu beziehen. Die Formulierung Hegewischs in den früheren Hambur-
ger Prozessen, dass die Hamburger militärische Leitung losgeschlagen habe ohne
Zustimmung der Pol.-Leitung, ist nicht richtig und darf nicht wiederholt werden.15 Die
10 Felix Neumann und Ernst Pöge machten als ehemalige Angehörige der T-Gruppe des M-Apparats
im Vorfeld des Prozesses umfangreiche Angaben. Sie wurden zu Kronzeugen der Anklage gegen Roze
(Ps. Skoblevskij) und Genossen.
11 Der Verfassungsbruch aufgrund des Einsatzes der Reichswehr gegen die demokratisch legitimier-
ten Landesregierungen in Sachsen und Thüringen. Siehe: Bayerlein/Babičenko/Firsov u.a.: Deut-
scher Oktober 1923.
12 Im Dezember 1924 fand ein von Reichspräsident Friedrich Ebert selbst angestrengter Beleidi-
gungsprozess vor einem Magdeburger Schöffengericht statt. Ebert habe aufgrund seiner Beteiligung
am Massenstreik der Berliner Munitionsarbeiter im Januar 1918 Landesverrat begangen, der jedoch,
was auch dem Gericht bekannt war, nur erfolgreich versucht hatte, den Streik zu beenden um die Ver-
sorgung der Front mit Waffen und Munition zu sichern. Nach dem Skandalurteil erklärte sich sogar
die bürgerliche Reichsregierung mit Ebert solidarisch.
13 Verhalten Brandlers im Oktober 1923: Brandler wurde als Sündenbock für die Niederlage nun auch
gegenüber den bürgerlichen Gerichten herangezogen.
14 Auch Brandler selbst wurde in einem Prozess in der Folge der Märzaktion zu fünf Jahren Festungs-
haft verurteilt.
15 Tatsächlich wurde die Verantwortung Thälmanns, auch gegen die Parteientscheidung loszu-
schlagen, in der Folge nicht mehr in Frage gestellt, worauf sich der Mythos des Hamburger Aufstands
aufbaute, der wiederum Grundlage für den Thälmann-Mythos war. Das Losschlagen in Hamburg er-
folgte eigenmächtig und gegen die Instruktionen der Zentrale. Dr. Ernst Hegewisch war einer der KPD-
Anwälte. Siehe: Bernhard H. Bayerlein: Geschichtsmythos Hamburger Aufstand. Thälmann und das
418 1924–1929
Hamburger Arbeiter schlugen los, weil sie nach dem verfassungswidrigen Einmarsch
der Reichswehr dazu berechtigt waren. Der Hamburger Aufstand ist eine spontane
Aktion der Massen zur Entlastung der Reichswehroffensive. Urbahns muß das ins-
gesamt vertreten. Er ist nicht da gewesen, das soll er juristisch zu seiner Entlastung
anführen. Wir haben keine Ursachen, es der Klassenjustiz bequem zu machen. Aber
er soll dazu scharf erklären, er hätte die politische Verantwortung getragen, wäre er
da gewesen. Urbahns soll taktisch die Frage stellen, er hat diesen Plan der Brandler-
politik mitgemacht, aus Disziplin, wenn er auch eine andere politische Meinung dazu
damals bereits hatte.16 Diese andere politische Stellung klar herausarbeiten. Den Plan
der sächsischen SPD aufdecken, brandmarken (Ebertprozeß).
Zum Tschekaprozeß. Unter keinen Umständen abdrängen lassen auf eine falsche
Antiputschistische Linie wie nach dem Märzkampf.17 Es sind aber Dinge dabei, die
wir nicht decken können, unsere Stellung zum individuellen Terror richtig herausar-
beiten (Brief Sinowjews in „Gegen den Strom“ zum Attentat Max Adlers [recte Fried-
rich Adler]).18 Sind nur gefühlsmäßige Momente dafür da, daß Neumann ein Spitzel
ist, soll er als Abenteurer gebrandmarkt werden. Stellen wir ihn als Spitzel hin und er
ist es nicht, setzen wir uns ins Unrecht. Frage Pöge kenne ich nicht. Tschekaprozeß
ist in die Partei von der Polizei hineingetragen worden. Eine unvermeidliche Folge der
Seecktdiktatur, wie alle schroffe Diktatur die Arbeiterschaft zu solchen Abenteuern
bringen muß. Wir billigen das nicht, aber wir verstehen es. Das dritte ist das Verhal-
ten von Brandler und Thalheimer, auf die direkt hingedeutet wird. Man wird versu-
chen, den Prozeß so persönlich zu stellen und zu führen. Muß man diese Genossen
decken? Will man zu diesen Fragen eine präzise Stellung einnehmen? Der Prozeß ist
der Prozeß gegen die Sächsische Sozialdemokratie.
Ende einer Ursprungslegende. In: The International Newsletter of Communist Studies Online (2004),
Nr. 17, S. 45–48; zu Hegewisch siehe Dok. 136.
16 Urbahns übernahm nicht nur aus taktischen Gesichtspunkten im Prozess die alleinige Verantwor-
tung für den Hamburger Aufstand.
17 „Märzkampf“: Gemeint ist die Märzaktion der KPD 1921.
18 Gemeint ist der Artikel Sinowjews zum Attentat von Friedrich Adler, der am 21.10. 1916 den öster-
reichischen Ministerpräsidenten Karl Graf von Stürgkh getötet hatte. Darin bescheinigte Sinowjew
dem Attentat zwar einen revolutionären Impetus, wies jedoch auf die „Ohnmacht vereinzelter Terror-
akte“ hin. Mit Hinweis auf die Geschichte der russischen Sozialdemokratie schrieb er: „Wir setzten der
Taktik des Terrors nicht die Parole des legalen Kampfes, nicht die christliche Predigt über das Thema
‚Du sollst nicht töten‘ entgegen. Nein, wir setzen dem Terrorismus die Taktik der revolutionären Mas-
sengewalt entgegen, und wenn der jetzige Krieg etwas mit absoluter Sicherheit bewiesen hat, so ist
es die richtige Auffassung der revolutionären Marxisten in dieser Frage.“ (G. Sinowjew: Adlers Schuß
und die Krise des Sozialismus (Oktober 1916). In: N. Lenin, G. Sinowjew: Gegen den Strom. Aufsätze
aus den Jahren 1914–1916, Hamburg, Verlag der Kommunistischen Internationale-Carl Hoym Nachf.,
1921, S. 522–529, hier S. 527). Zur Frage des Terrors siehe auch im einleitenden Essay von Bernhard H.
Bayerlein, S. 306–307, 393–394.
Dok. 120: [Berlin], 17.1.1925 419
Fuß.19 Der Urbahnsprozeß spielt vor dem Oktober, die Tschekageschichten spielen
also dabei keine Rolle. Man muß keine Kosten scheuen, sondern alle führenden SPD-
Größen, die damals eine Rolle spielten, als Zeugen herbeiziehen: Graupe, Zeigner
etc., Korsch usw.20 Der Prozeß muß aus dem Rahmen eines Putsches heraus. Unsere
Beschlüsse von Leipzig vom Parteitag, die auf diese Politik hinzielten: demokratische
Arbeiterregierungen, Sachwerterfassung etc. müssen zitiert werden. Urbahns war
Gegner dieser Politik, hat sich aber gefügt. Er soll nicht sagen, der Aufstand sei zu
früh los gegangen. Das ist falsch.
Zum Tschekaprozeß. Die Partei war stark mit Spitzeln durchsetzt, musste sich
gegen die Spitzel wehren. Bei dieser Abwehr fiel sie wieder Spitzeln in die Hände.
Neumann hat der Polizei Material rekonstruiert, Dinge angegeben, die er gar nicht
wissen konnte.
Am 27.1.1925 beauftragte das Politbüro des ZK der KP Russlands Sinowjew sowie einen der ZK-Se-
kretäre, Verhandlungen mit den Vertretern des ZK der KPD über Brandler und Thalheimer zu führen.
Die neue KPD-Führung hatte wiederholt den Parteiausschluss der beiden historischen Exponenten
der KPD gefordert.21 Gleichzeitig wurde beschlossen, die Verhandlungen Krestinskijs mit General von
Seeckt zur Affäre der „deutschen Tscheka“ zu forcieren.22
Ebenfalls am 27.1.1925 behandelte das Politbüro des ZK der KP Russlands den mit dem faschistischen
Regime Mussolinis vorbereiteten russisch-italienischen Freundschaftspakt. Ein vom sowjetischen
Außenkommissariat vorgeschlagener Vertragstext wurde bewilligt, nach dem sich beide Seiten ver-
pflichteten, sich an keinerlei feindlicher gegen den Vertragspartner gerichteten Handlungen jeglicher
Art zu beteiligen. Die „Führer der italienischen [Anti-Mussolini-]Opposition“ sollten mit dem Text be-
kanntgemacht werden, „falls dies dem Abschluss des Vertrags nicht im Wege steht“. Bucharin wurde
beauftragt, die italienischen Kommunisten (die auf die sowjetischen Maßnahmen zur „Normalisie-
rung“ der Beziehungen zum faschistischen Italien bereits des öfteren sehr empfindlich reagiert hat-
ten) entsprechend „vorzubereiten“.23 Wenn auch die Initiative zu einem „Freundschaftpakt“ zunächst
von Mussolini ausging (der nach dem faschistischen Mord an dem sozialistischen Abgeordneten
Giacomo Matteotti einen Popularitätsverlust erlitt und zunächst vorhatte, durch eine demonstrative
Annäherung an die Sowjetunion diesen wettzumachen), lehnte der Diktator am 9.2.1925 im Gespräch
mit dem sowjetischen Botschafter den Vertragsvorschlag ab, so dass das Thema zurückgestellt wurde.
Am 7.2.1925 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf Vorschlag des Volkskommissa-
riats für auswärtige Angelegenheiten über die bereits am 26.10.1924 durch die OGPU verhafteten
deutschen Studenten Karl Kindermann, Theodor Wolscht und Max von Dittmar. Zu dieser Angelegen-
heit sollte eine Kommission gebildet werden. Auch ging es um die Frage, ob Vertreter der deutschen
Botschaft zu den Verhafteten vorgelassen werden sollten (siehe hierzu Dok. 122).24
Dok. 121
Kostenaufstellung an die Komintern für die antimilitaristische
Tätigkeit unter den französischen, englischen und belgischen
Besatzungstruppen in Deutschland
Berlin, 12.2.1925
Zur Durchführung der Arbeit unter den französischen, englischen und belgischen
Besatzungstruppen im gesamten besetzten Gebiet25 werden für folgende Posten
monatlich folgende Summen benötigt:
III. Verschiedenes.
a) Büromiete M 40. –
b) Lagerraum “ 40. –
c) Zeitungen, Zeitschriften, einschl. Literatur “ 50. –
M 130. –
im Monat M 6470. –
im Quartal M 19410. –
Begründungen:
Zu I. a): Von den 5 deutschen Genossen sind zwei Genossen für die zentralen, politi-
schen, organisatorischen und Kontrollaufgaben bestimmt.
Die übrigen 3 Genossen arbeiten in den 3 Arbeitsgebieten des besetzten Gebietes
(Ruhr und Niederrhein, Mittel- und Oberrhein, Pfalz und Saargebiet).
Zu I. e): Von den 4 ausländischen Mitarbeitern soll der französische Verband 3 und
der englische Verband 1 Genossen stellen.
Besonders diese Erweiterung des Apparates macht sich notwendig. Ohne diese ist
keine erfolgbringende und ausdauernde Zellenarbeit möglich. Desgleichen kann nur
bei öfterer Verbindung mit den in der Armee befindlichen und mit uns in Verbindung
stehenden Soldaten die notwendige Information über die Lage in der Armee und die
Wirksamkeit der Arbeiten beschafft und für die Verbände nutzbar gemacht werden.
Mit der Arbeit in der englischen Armee ist jetzt begonnen worden. Auch hier ist
die Aufnahme der Verbindung mit den Soldaten notwendig wie die evtl. Zellenbil-
dung. Von deutschen Genossen ist diese Arbeit nicht zu leisten. Aus diesem Grunde
benötigt sich die Mitarbeit eines englischen Genossen direkt im besetzten Gebiet.
Für die übrigen Posten erübrigt sich eine Begründung.
422 1924–1929
Nachtrag:
Die schleunige Erledigung der Angelegenheit ist dringend geboten.27 Wir erhielten für
die drei ersten Monate 1925 insgesamt 1 800 [$?] der französischen Partei überwiesen.
Die von der deutschen Partei zu zahlenden Gelder konnten wir nicht erlangen. Aus
diesem Grunde bitten wir Eurerseits um die baldige Übersendung der ausstehenden
Summe. Wir machen dringend darauf aufmerksam, dass unsere Mittel in den nächs-
ten Tagen zu Ende gehen und dann die Existenz und die Tätigkeit des Apparates
gefährdet ist.
Die Eintreibung des Geldes unsererseits bei den Parteien ist ein ungünstiger
Weg. Unseres Erachtens muss die ständige Ami-Kommission28 für die Eintreibung des
Geldes Sorge tragen und seitens dieser die Übersendung an uns garantiert sein. Alle
anderen Wege sind für uns zu unsicher.
Roze (Ps. Skoblevskij) wurde als Hauptangeklagter im „Tscheka-Prozess“ in seiner Funktion als Lei-
ter des geplanten Aufstands in Deutschland zum Tode verurteilt. Das russische Politbüro zog dar-
aufhin in Erwägung, mit dem rechtskonservativen General von Seeckt in Verbindung zu treten, um
Roze zu retten. Der entsprechende Beschluss vom 27.1.1925 lautete: „Das Sekretariat zu beauftragen,
die notwendigen Schritte zu entsprechenden Verhandlungen mit Seeckt in die Wege zu leiten.“30 Am
12.2.1925 erfolgte ein Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands über den „Tscheka-Prozess“,
der stipulierte, dass die Option von Geheimverhandlungen mit General von Seeckt zur Erlangung
eines günstigen Ausgangs des Prozesses nur als letzte Möglichkeit wahrgenommen werden sollte.
Zunächst einmal sollte Krestinskij „den Lauf der Dinge verfolgen“. Der Beschlusstext lautete: „Folgen-
des Chiffretelegramm an Gen. Krestinskij senden: ‚Ohne besondere Notwendigkeit sich nicht an den
besagten General wenden; verfolgen Sie den Lauf der Dinge und tun Sie alles Notwendige.‘ Auszug
an: Gen. Krestinskij – chiffriert.“31 Auf der gleichen Politbürositzung wurden auch eine Reihe konkre-
terer deutschlandbezogener Maßnahmen beschlossen (siehe Dok. 122).
27 Die geheimen Aktivitäten zur Zersetzung der Besatzungstruppen in der zweiten Phase der alliier-
ten Rheinlandbesetzung, die 1930 zugunsten des Young-Plans beendet wurde, sind noch nicht auf-
gearbeitet. Nach dem weitgehenden Scheitern in der ersten Phase wurden die Aktivitäten auf diesem
Sektor und die dazugehörigen Apparate nach der Niederlage des „Deutschen Oktober“ herunterge-
fahren (zur negativen Gesamtbilanz siehe: Schröder: Internationalismus, S. 401ff.).
28 „Ami-Kommission“: Im Komintern-Leitungsapparat gab es zwei Kommissionen für antimilitäri-
sche Aktivitäten. Wie auch die Ständige Kommission zur Arbeit in der Armee, mit der sie in ständigem
Kontakt stand, arbeitete die Ständige illegale Kommission mit enger Unterstützung durch die entspre-
chenden Mitarbeiter der Tscheka (später GPU) und des Revolutionären Militärrates der Sowjetunion
(siehe: Adibekov/ Sachnazarova/Sirinja: Organizacionnaja struktura Kominterna, S. 69, 81).
29 Offenbar war das Pseudonym „Helmut“ an den Führer der M-Organisation der KPD gebunden,
wobei sich mehrere Personen unter ihm verbergen können. In den Jahren 1923–1924 war es ein Pseu
donym Skoblevskij-Rozes.
30 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 62.
31 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/162/2, 72. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Di
Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 69–70.
Dok. 122: Moskau, 12.2.1925 423
Dok. 122
Beschluss des Politbüros des ZK der KP Russlands über die in der
Sowjetunion verhafteten deutschen Studenten
Moskau, 12.2.1925
Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/162/2, 70, 74. Deutsche Erstveröffentlichung. In russischer
Sprache publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 66–68.
Angehört:
p. 1. Fragen des NKID.32
C) Resolution der Kommission des Gen. Pjatnitzki zum Vorschlag des NKID (PB vom
7.II.25, Pr. Nr. 48, P. Umfr. 5) (Gen. Čičerin, Litvinov, Menžinskij).
Beschlossen:
a) Den Beschluss des Pb vom 7/2 d. J. über die Bestätigung des Vorschlages der Mehr-
heit der Kommission des Gen. Pjatnitzki zu bestätigen (siehe Anhang).
b) Die Publikation von Auszügen aus den Aussagen der Verhafteten [deutschen Stu-
denten] in der vom NKID und der OGPU gebilligten Fassung als notwendig anzuer-
kennen.33
c) Die OGPU und das NKID zu beauftragen, über die Frage zu beratschlagen, in
welcher Form ausländische Korrespondenten sich von einer normalen Unterbringung
der Verhafteten überzeugen könnten.
Anlage
PROTOKOLL
DER SITZUNG DER KOMMISSION DES POLITBÜROS
In Übereinstimmung mit Protokoll Nr. 48 vom 7/2–25.
Angehört: Über die Zweckmäßigkeit des Treffens eines Vertreters der deutschen Bot-
schaft mit den drei verhafteten deutschen Terroristen-„Studenten“ sowie über die
32 Das hier abgedruckte, im Anhang beigefügte Protokoll der Politbüro-Kommission vom 7.2.1925
lässt an Klarheit daran nichts zu wünschen übrig, dass die Absicht bestand, die Verhaftung von drei
deutschen Studenten durch sowjetische Behörden für die laufenden Verhandlungen mit Deutschland
im Sinne eines positiven Ausgangs des „Tscheka-Prozesses“, der vom 10.2.1925 bis zum 22.4.1925 vor
dem Staatsgerichtshof in Leipzig stattfand, zu nutzen. In der Forschung wird gegen die These eines
Freipressens auch die einer Zuarbeit der Sowjetunion geäußert, da „Skoblewsky freigelassen werden
musste.“ (Jacques Mayer: Skoblewsky-Rose. Anmerkungen zur Biographie. Berichtigte und erweiter-
te Fassung, http://edoc.hu-berlin.de/oa/reports/reLjQyD7bgY/PDF/288y29XxhU9f6.pdf. Siehe auch:
Karl Kindermann: Zwei Jahre in Moskaus Totenhäusern. Der Moskauer Studentenprozeß und die Ar-
beitsmethoden der OGPU. Berlin, 1931. Zum gesamten Fall nach den Akten des Auswärtigen Amtes
siehe: L. Cecil: The Kindermann–Wolscht Incident, an Impasse in Russo-German Relations 1924–1926.
In: Journal of Central European Affairs 21 (1961), No. 2, S. 188–199.
33 Der Beschluss ist als Reaktion auf das grosse Interesse zu verstehen, das die Verhaftungen in der
deutschen Öffentlichkeit hervorgerufen haben.
424 1924–1929
Pjatnitzki, Jagoda
In seiner Sitzung vom 12.2.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands des weiteren, eine
Erklärung von Brandler, Radek und Thalheimer an das EKKI, die auf dem Erweiterten EKKI-Plenum am
25.3.1925 besprochen werden sollte, zur Kenntnisnahme der deutschen Delegation weiterzuleiten
(siehe auch Politbüro-Beschluss vom 2.4.1925).38
34 Der „Tscheka-Prozess“ endete mit einem Todesurteil gegen Skoblevskij, Neumann und Poege
wegen Anstiftung zum Mord und Hochverrat, doch im Rahmen des diplomatischen Deals, zu dem die
Verhaftung der deutschen Studenten gehörte, wurde Skoblevskij schliesslich im Herbst 1926 im Rah-
men eines Gefangenenaustauschs gegen die deutschen Studenten ausgetauscht, von denen jedoch
nur zwei den Rückweg antraten. 1938 wurde er vom NKWD verhaftet und 1939 erschossen. Siehe:
Jacques Mayer: Skoblewsky-Rose; Cecil: The Kindermann–Wolscht incident.
35 Kindermann berichtete u.a. in seinen Memoiren, dass er während der Voruntersuchung unter An-
drohung der Ermordung seiner Eltern in Deutschland (!) schließlich einen vorgefertigten Brief an den
“Rektor der Berliner Universität“ und den Chefredakteur des Berliner Tageblatts unterschrieben habe
(Kindermann: Zwei Jahre, S. 93).
36 An der Presseschlacht beteiligten sich u.a. Propagandisten und Literaten wie Egon Erwin Kisch,
Hans Fallada und Willi Münzenberg (siehe entsprechende Artikel gegen den Tscheka-Prozess in:
Brandt: Der Tscheka-Prozess, S. 113–132. Münzenberg titelte: „Ein dreifacher Justizmord, um eine Par-
teizentrale vor den Staatsgerichtshof zu bringen“.
37 Gemeint ist der Tscheka-Prozess.
38 RGASPI, Moskau, 17/3/488, 4, 6.
Dok. 123: [Berlin], 20.2.1925 425
Am 19.2.1925 befasste sich das Politbüro des ZK der KP Russlands mit einer „Resolution des ZK der
KP Deutschlands“, womit der Beschluss des ZK der KPD vom 11.2.1925 gemeint war, das ZK der RKP(b)
zu bitten, Thalheimer und Brandler aus der russischen Partei auszuschließen – was zunächst jedoch
nicht erfolgte. Der parallelen Forderung des ZK der KPD jedoch, die KPD-Mitglieder Möller, Felix Wolff,
Stucke und Gerhart [d.i. Gerhart Eisler], denen fraktionelle Tätigkeit vorgeworfen wurde, von der Ar-
beit in sowjetischen Einrichtungen auszuschließen, wurde vom russischen Politbüro stattgegeben.
Am 2.3.1925 beschloss man, den Fall an die Zentrale Kontrollkommission der RKP(b) und die Interna-
tionale Kontroll-Kommission der Komintern zu übertragen.39
Am gleichen Tag fasste das Politbüro des ZK der KP Russlands den Beschluss, dem Vorschlag der
OGPU, den deutschen Staatsbürger Wenzel zu verhaften, zuzustimmen.40 Des Weiteren wurde die
Einfuhr der konservativen österreichischen Neuen Freien Presse sowie der Deutschen Allgemeinen
Zeitung in die Sowjetunion zugestimmt.41
Dok. 123
Brief des inhaftierten Arkadi Maslow an Stalin über die Situation
der KPD nach der Absetzung Brandlers
[Berlin], 20.2.1925
20/II-25.
43 Stalin antwortete Maslow in einem Brief vom 28.2.1925, der als „Brief an den Genossen Me-rt“ in
die Stalin-Werke eingegangen ist, an dessen korrekter Überlieferung jedoch Zweifel anzumelden sind.
So wurde der Name Maslows getilgt, vermutlich, da er als Unperson nicht mehr beim Namen genannt
werden durfte. Stalin legitimierte darin die „Verjagung“ Brandlers und Thalheimers unter Hinweis auf
eine ähnliche Entwicklung in Russland: „Sie haben vollkommen recht, wenn Sie behaupten, daß die
deutsche Kommunistische Partei gewaltige Erfolge erzielt hat. Zweifelsohne gehören Brandler und
Thalheimer zur Kategorie des alten Typus von Führern, deren Zeit vorbei ist und die von den Führern
des neuen Typus in den Hintergrund gedrängt werden.“ (J. W. Stalin: Brief an Genossen Me-rt. In:
Stalin, Werke, VII, S. 36–40).
44 SDler (Abk.): Sozialdemokrat(en).
Dok. 123: [Berlin], 20.2.1925 427
und dann auch noch die Linken (und früher die „unabhängigen“ SDler), und ohne
sie können wir, „ein Häuflein Kommunisten“, sowieso keinen Deut erreichen; das
ist unser Schicksal, und wenn es so ist, dann muss es folgendermaßen laufen: ver-
stecken wir doch das kommunistische Programm in der Tasche, und alle taktischen
Prinzipien gleich mit, um uns an den Rockschoß der SD zu hängen; um jedoch unsere
Leute nicht zu verscheuchen, sagen wir dann und wann auf harmlosen Parteiver-
sammlungen ein solch blutrünstiges Ding, dass jeder aufmerkt: Na so was, das ist ja
glatt ein kommunistischer Dschingis-Khan!
Drittens: Bevor man die B[randler]s verjagt hatte, ist in der Partei niemals der
Kampf gegen die allerdümmsten bürgerlichen „Traditionen“ der alten S[ozial]
d[emokrat]ie geführt worden, denn die ganze Führung war von diesem sauren Bürger-
geist durchtränkt. Die guten SD-Traditionen hat man zum Fenster hinausgeworfen,
die bürgerlichen hingegen bewahrt. Und wie schwer ist es, damit, auch nur teilweise,
fertig zu werden!
Viertens: Vor der Vertreibung der B[randler]s hat es in der Partei kein Vertrauen
in das ZK gegeben und konnte es auch nicht geben: [...] Die Beziehung der Organisati-
onen zum ZK war früher folgende: Wir leben vor uns hin, und Gott sei Dank; nur soll
uns das ZK bloß nicht das Leben schwer machen. [...]
Fünftens: Vor der Vertreibung der B[randler]s war es unmöglich, die Partei vor die
Aufgabe zu stellen, eine Linie durchzuführen, und es ist klar, warum: wenn die eine
Organisation in den Wald zieht, und die andere ins Gestrüpp, dann wird selbst der
Teufel nicht schlau draus. [...]
Innerhalb eines Jahres hat sich viel verändert. Radikal verändert, im Kern.
Die Partei ist einig; es gibt keinen einzigen „oppositionellen“ Bezirk, keine einzige
oppositionelle Organisation, nicht mal eine Gruppe oder ein Grüppchen.45
Denken Sie etwa, es war einfach, dies zu erreichen? [...] Wer die Partei nicht aus
den arabischen Märchen der Möchtegern-Reisenden und „Beobachter“ aus dem ZK-
Kabinett, sondern von innen kennt, der wird offen erklären müssen: die Partei ist nicht
wiederzuerkennen, es ist eine andere, eine völlig andere Partei als im Jahre 1923.46
[...] (Übrigens wird die Verfolgung [der KPD] von den russischen Genossen meiner
Meinung nach ebenfalls unterschätzt. Sie vergleichen diese deutsche Reaktion mit
der zaristischen. Der Punkt ist jedoch, dass der „kultivierte“ deutsche Bourgeois auf
viel feinere Art agiert als die russische Ochranka47; es gibt hier ein ganzes System der
45 Eine Behauptung, die der Wirklichkeit nicht standhält. Tatsächlich wandten sich fast alle anderen
Strömungen und Fraktionen gegen Maslow/Fischer.
46 In seiner Antwort bestätigte Stalin diesen Eindruck: „Ich spreche schon gar nicht von jenen un-
zweifelhaften Erfolgen der KPD, über die Sie vollkommen richtig in ihrem Briefe schreiben. Jetzt zu
meinen, es gäbe im ZK der KPR(B) Leute, die planten, das Rad der Entwicklung der deutschen Kom-
munistischen Partei zurückzudrehen, bedeutet, eine zu schlechte Meinung vom ZK der KPR(B) zu
haben. Vorsichtiger, Genosse Me–rt ...“ (Stalin: Brief an Genossen Me-rt, S. 37).
47 Umgangssprachliche Bezeichnung (Verkleinerungsform) von Ochrannoje otdelenie, der politi-
schen Polizei im Russischen Reich.
428 1924–1929
tung der KAPD-Leute51 kommt nicht drum herum, U[rbahns] zu loben). Und dies ist
keine Ausnahme.
Ob dies ein Erfolg ist? Ein Riesen-Erfolg ist das! Wir hatten eine sozialdemokrati-
sche Partei mit roten Fähnchen, und jetzt beginnt sie (und das erfolgreich, und nicht
zu langsam), eine kämpferische, revolutionäre, proletarische, bolschewistische Partei
zu werden.
Ich erinnere mich an eine Unterredung mit Gen. Sinowjew Anfang November
1923. Es war klar, dass wir eine Niederlage eingesteckt hatten. Gen. Sinowjew war
wie immer geneigt, die Niederlage als nicht so schwer zu sehen. Wahrlich, eine gute
Eigenschaft hat er, dass er ein Optimist ist. [...] Na, und da kam die Frage auf: wie viel
Zeit wird vergehen, bis die Partei sich eine tatsächliche Führung schaffen wird? Ich
hatte angenommen – an die 10 Jahre. [...] Und ich kann nicht verstehen, wieso nun
Gen. Sinowjew einen sauren Beigeschmack zu verspüren scheint (und diesen Ein-
druck bekomme ich aus seinen Artikeln und Reden). Wieso ausgerechnet jetzt? Ich
begreife es nicht. [...]
Oder entsteht dieser saure Beigeschmack aus den Mängeln, sagen wir, in der
Gewerkschaftsarbeit? Nun erlauben Sie mal: die Arbeit ist in der Tat noch ziemlich
miserabel. Richtig. Doch als wir sie begannen, so im März-April 1924, wie war sie
da? Ein einziger Alptraum! Und wer war damals schuld? Nicht nur die „objektiven“
Gründe. Die Linie war Ende 1923 absolut idiotisch, so wie sie ja auch davor genauso
gewesen ist, und zwar: heute so, morgen anders [...].
Was hat die Partei erreicht? Zumindest, dass die 6 Jahre alte (das darf man nicht
vergessen!) „Gewerkschaftsfrage“ aufgehört hat zu existieren, die aus irgendeiner
afrikanischen Formulierung bestanden hatte („Muss man in den reformistischen
Gewerkschaften arbeiten?“) Natürlich. Darüber wird nicht mehr gesprochen. Ist das ein
Erfolg? Ein Riesenerfolg! Denn man darf nicht vergessen, dass die deutschen Gewerk-
schaften tatsächlich Institutionen unglaublicher Niedertracht sind, und die Partei hat
sich 6 Jahre lang selbst veräppelt, ohne die Frage entschieden zu klären (wie bspw.
wir es, die damaligen Linken, vor allem das Berliner Komitee, gefordert hatten, allen
voran in allerschärfster Art ich selbst, wofür ich von allen Seiten beschimpft wurde,
begonnen mit dem „Schlaukopf Lozovskij“, der die ganze Zeit mal dahin, mal dorthin
ruderte, zugunsten „seiner“, d.h. „unabhängigen“ „Profintern-“Gewerkschaften,
genauer gesagt jedoch Sauställe, die man schon 1920, im besten Falle 1922 hätte aus-
misten müssen). [...]52
51 Gemeint ist wohl die Kommunistische Arbeiter-Zeitung, das Zentralorgan der KAPD.
52 Hier scheint Maslow mit der „Rechten“ einverstanden zu sein, die sich gegen die Verselbständi-
gungstendenzen der roten Gewerkschaften und gegen die ultimativ vorgebrachte Alternative „Mos-
kau oder Amsterdam“ und insgesamt gegen entsprechende Vorstöße Lozovskijs zur Wehr setzte. Siehe
hierzu: Tosstorff: Profintern, S. 384f. u.a.
430 1924–1929
Sie sehen, ich schreibe durchaus freimütig. Ich schreibe, weil ich diesen Eindruck
habe, über den ich bereits schrieb. Wenn ich Unrecht habe – umso besser.53 [...]
Ich komme zum Schluss. Ich habe diesen Brief geschrieben, weil ich Anzeichen
völlig überflüssiger Schatten zwischen den russischen Genossen und der KPD sehe
(oder zu sehen glaube). Dies jedoch muss vermieden werden. Sie wissen gar nicht,
wie schwer es war, der Partei Vertrauen in das ZK der RKP einzupflanzen. Warum?
Weil die B[randler]s es ständig und vorsätzlich untergruben; weil die RKP trotz allem
4 Jahre lang diese B[randler]s (fast ohne Vorbehalte) unterstützt hatte; weil allerhand
unnütze Missverständnisse entstanden (z.B. zeitweise die Beziehungen zwischen
dem EKKI und der Berliner Organisation).54 Das alles ist vollkommen überwunden. In
der Partei weht der Geist einer vollkommenen Solidarität mit der RKP, einer großen
Liebe zu ihr, Gott sei dank. [...]
Ich bitte darum, auch Gen. Sinowjew zu grüßen. (Ich schreibe Ihnen, und nicht
ihm, weil er auch Briefe in Deutsch lesen kann).
53 In seiner Antwort an Maslow war Stalin hier überaus kategorisch: „Daraus erklärt sich denn auch,
daß der direkte Kampf, den die ‚Ultralinken‘ gegen die heutigen Gewerkschaften von außen her füh-
ren, von den breiten Arbeitermassen als Kampf gegen ihre Hauptfestungen gewertet wird, an denen
sie jahrzehntelang gebaut haben und die die „Kommunisten“ jetzt zerstören wollen. Dieser Beson-
derheit keine Rechnung tragen heißt die ganze Sache der kommunistischen Bewegung im Westen
zugrunde zu richten.“ (Stalin: Brief an Genossen Me-rt, S. 40).
54 Seit dem Offenen Brief intervenierte die Kominternführung mehrmals direkt gegen die linke Berli-
ner Bezirksleitung der KPD, die Hausmacht von Fischer/Maslow, insgesamt gesehen jedoch umsonst.
Sowohl das Scheitern des „deutschen Oktober“, als auch die gesamte Organisationstätigkeit der Berli-
ner Linken war nach Pjatakov „himmelschreiend schlecht“, im Verbund mit der weiteren Entfachung
der innerparteilichen Auseinandersetzungen führte dies zum „Zusammenbruch“ der Fischer/Mas-
low/Scholem-Führung bis Ende des Jahres (siehe hierzu: Dok. 140). Nach ihrem Ausschluss änderte
sich dies fundamental (vgl. zum Phänomen der deutschen Linken: Pierre Broué: Gauche allemande et
Opposition russe de 1926 à 1928. In: Cahiers Léon Trotsky (1985), Nr. 22, S. 4–25).
Dok. 124: [Moskau], 20.2.1925 431
Dok. 124
Informationen des Außenkommissars Čičerin an den GPU-
Vorsitzenden Feliks Dzeržinskij über das Gespräch mit dem
deutschen Botschafter Ulrich von Brockdorff-Rantzau
[Moskau], 20.2.1925
AUS DEM GESPRÄCH MIT DEM DEUTSCHEN BOTSCHAFTER vom 20. FEBRUAR 1925.
Rantzau teilte zunächst mit, dass er nach dem vor kurzem erfolgten Gespräch mit mir
in energischen Tönen an seine Regierung telegraphiert und alle Hinweise durchge-
geben habe, die ich ihm zur Frage des Prozesses der deutschen „Tscheka“ gegeben
hatte. Als Antwort habe er ein Telegramm des Staatssekretärs Schubert erhalten, der
ihm erklärt habe, dass er im Grunde mit ihm einer Meinung sei und seinerseits alle
Anstrengungen unternehmen werde, um unsere Wünsche in dieser Frage zufrieden-
zustellen; bis jetzt sei jedoch im Laufe des Prozesses nichts zu Tage befördert worden,
was die sowjetische Regierung und den Botschafter kompromittieren würde; die
deutsche Regierung beobachte aufmerksam und gespannt diese Angelegenheit; sie
verfüge jedoch nicht über die Macht, mehr zu tun.
Der Bruder von Rantzau, mit dem er in ständigem Briefkontakt steht, habe Strese-
mann getroffen, der ihm gesagt habe, er sei ziemlich besorgt angesichts des Leipziger
Prozesses55 und seines Einflusses auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen. In der
gegebenen politischen Situation könne die deutsche Regierung, so Stresemann, über
das bereits Unternommene hinaus nichts bewirken, sie werde jedoch unter ernsteren
Umständen Maßnahmen ergreifen.
Rantzau seinerseits sagte mir, dass, sollte im Laufe des Prozesses irgendetwas
publik werden, was unsere Beziehungen ernsthaft gefährden könnte, die deutsche
Regierung allen Widerständen zum Trotz die weitere Durchführung der Verhandlun-
gen hinter verschlossenen Türen erreichen werde.
An dieser Stelle fing Rantzau an, sich in einem elegischen Tonfall über die doch
zahlreichen Schwierigkeiten in unseren Beziehungen, die ständig zu überwinden
seien, zu beklagen. Am meisten Angst habe er davor, dass während der Verhandlun-
gen der Fall Petrov plötzlich an die Oberfläche kommen würde.56 Er habe sich dabei
55 Gemeint ist der „Tscheka-Prozess“, in der Historiographie wird der Begriff „Leipziger Prozess“ für
den Reichtagsbrandprozess im Jahre 1933 verwendet.
56 Zum „Fall Petrov“ siehe den Politbüro-Beschluß vom 27.9.1923. Über den Militärattaché Michail Pe-
trov kursierten in der deutschen Führung Gerüchte, er spreche besser Französisch als Russisch, was
Ängste darüber auslöste, dass er ein französischer Agent sein könnte. Krestinskij erklärte gegenüber
den besorgten Deutschen, Petrov sei zur Zarenzeit im französischen und schweizer Exil gewesen und
habe daher das Russische verlernt. Petrov wurde im Januar 1924 nach Moskau zurückberufen, doch
432 1924–1929
an die Worte erinnert, die Gen. Trotzki an ihn bei seiner Audienz anlässlich des Falls
Petrov gerichtet habe, nämlich dass wir Realpolitiker seien und die Worte Strese-
manns, wonach seine Regierung die letzte bürgerliche Regierung sei, ernst nehmen
würden. Rantzau selbst gab mir vorsichtig zu verstehen, dass, „Verschwörung“ hin
oder her, viele der Fakten, die jetzt bei den Verhandlungen an die Oberfläche gelang-
ten, nicht unbedingt erfunden seien. Ständig müsse man Schwierigkeiten überwin-
den, um die Linie von Rapallo aufrechtzuerhalten. Trotzdem ist Rantzau der Meinung,
dass gerade unsere Regierung für Deutschland am vorteilhaftesten sei.
Mit großem Pathos hob Rantzau an, er und die weitsichtigeren deutschen Politiker
verstünden, dass jede andere Regierung in Russland Entente-freundlich [antantofilʼnoe]
wäre und an der Unterdrückung Deutschlands mitwirken würde. Aufgrund dieses Ver-
ständnisses bringe er so viel Kraft auf, um die täglich entstehenden Schwierigkeiten zu
meistern. Schwierigkeiten gäbe es vielerlei. Hier führte er mir gegenüber den bereits
unlängst erwähnten Scherz an, der im diplomatischen Corps in Moskau kursiert: für
das diplomatische Corps sei es besser, wenn er bei der GPU akkreditiert wäre. In vor-
sichtigen Anspielungen gab Rantzau zu verstehen, der Urheber dieses Scherzes wolle
damit sagen, dass für die GPU alles möglich sei.57 Im Fall der deutschen Studenten hin-
gegen strebe Rantzau ihre vollständige Überführung an. Das Negative am Fall der deut-
schen Studenten sei doch, dass sie nicht überzeugend genug überführt seien.58 Rantzau
habe uns sogar geholfen und werde, wenn sich die Möglichkeit biete, uns noch stärker
helfen, um diese jungen Männer, über die er in kräftigster Weise schimpfte, tatsächlich
und wirklich zu überführen. Ein sehr unglücklicher Schritt sei laut Rantzau gewesen,
Schäfer aus der Gruppe der Journalisten, die das Gefängnis besuchten, auszuschlie-
ßen.59 Rantzau wisse, dass Theodor Wolff schon geschrieben habe, Schäfer aus Moskau
abberufen zu wollen. Er sei der seriöseste und ehrlichste von allen hiesigen deutschen
Journalisten. Sein Fehlen werde schmerzhaft zu spüren sein. Rantzau versteht nicht,
wofür dies notwendig gewesen sei. Rantzau ließe sich jedoch von all diesen ständigen
Hindernissen nicht abbringen, und er werde die Tätigkeit, die er bereits seit zwei Jahren
Brockdorff-Rantzau beschäftigte die Affäre noch in den Folgejahren. So erwähnte er sie in einem Brief
an das Auswärtige Amt im Januar 1926, wobei er behauptete, Petrovs richtiger Name sei „Geoumé“
oder „Gomenet“ gewesen. (Carsten: Reichswehr and Politics, S. 156–157). Weitere Informationen über
Petrovs wahre Identität ließen sich bislang nicht eruieren.
57 Die Passage „dass für die GPU alles möglich sei“ wurde von einem Leser des Dokuments (höchst-
wahrscheinlich Dzeržinskij) unterstrichen. Die vorhergehenden zwei Zeilen wurden durch doppelte
Unterstreichung am Rand hervorgehoben.
58 „daß sie nicht handfest genug überführt seien“: Passage vom Leser unterstrichen. Hier wird die
bereits erwähnte taktische „Zuarbeit“ der deutschen Seite deutlich.
59 Höchstwahrscheinlich Paul Scheffer, der seit 1921 Moskaukorrespondent des Berliner Tageblatts
war, später Nachfolger von Theodor Wolff als Chefredakteur wurde und vor allem durch seine stalin-
kritischen Berichte der Sowjetunion ein Dorn im Auge war. Siehe: Paul Scheffer: Augenzeuge im Staate
Lenins. Ein Korrespondent berichtet aus Moskau. 1921–1930. Mit einer Einleitung von Margret Boveri,
München, Piper, 1972; Wolfgang Müller: Russlandberichterstattung und Rapallopolitik. Deutsch-sowje-
tische Beziehungen 1924–1933 im Spiegel der deutschen Presse, Phil. Diss., Saarbrücken, 1983, S. 53–62.
Dok. 124: [Moskau], 20.2.1925 433
ausübe, weiterführen, nämlich die Durchsetzung der Linie von Rapallo, die er ohne
Unterlass vor allen Gefahren bewahre.
Da er die ganze Zeit über sprach, habe ich lediglich an einigen wenigen Stellen
kurze Repliken einwerfen können.
ČIČERIN
Am 18.2.1925 wurde dem Politbüro des ZK der KP Russlands ein von Feliks Dzeržinskij unterzeichne-
ter Beschlussentwurf zur Auflösung der aktiven Kampfgruppierungen der Sowjetunion für bewaffnete
Aktionen im Ausland vorgelegt. Die RKP(b) und die Komintern sollten von nun an für die Zwecke der
„aktiven Aufklärung“ nicht mehr über eigene, spezielle Organe verfügen. Die kommunistischen Par-
teien sollten in Zukunft nur noch über ein Organ zur Erkundung der Kampfkräfte in den betreffenden
Ländern ohne operative Funktionen verfügen. Verbindungen mit Kampf- und operativen Aktionen in
anderen Ländern dürfe es nicht mehr geben, die für die KP Russlands nicht mehr notwendig seien.
Der Text lautete: „Entwurf des Beschlusses der Kommission des Genossen Kujbyšev zur Frage der
aktiven Aufklärung. a) Die aktive Aufklärung in ihrer gegenwärtigen Form (Organisation der Verbin-
dung, der Versorgung und der Führung von Diversionseinheiten auf dem Territorium der Polnischen
Republik) ist zu liquidieren. b) In keinem einzigen Land soll es unsererseits aktive Kampfgruppen
geben, die bewaffnete Aktionen durchführen und unmittelbar von uns Mittel, Instruktionen und Füh-
rung bekommen. Alle Kampf- und Aufstandstätigkeiten wie auch die Gruppen, die sie durchführen,
solange sie existieren und zweckmäßig sind (was ausschließlich seitens der Parteien festgelegt wird),
müssen ausschließlich von den im betreffenden Land jeweils tätigen nationalen Parteien geführt und
diesen vollständig untergeordnet sein. Diese Gruppierungen sollen ausschließlich im Namen ihres
revolutionären Kampfes auftreten, und nicht im Namen der UdSSR. [...] Diese Gruppen dürfen nicht
das Ziel verfolgen [...], Aufklärungs- und andere Aufgaben zugunsten der Militärbehörden der UdSSR
durchzuführen. [...] Aufgabe der RKP und der Komintern ist es, den nationalen Parteien bei der Orga-
nisierung der Arbeit in der Armee sowie beim Aufbau eigener Kampfkader zu helfen – dort, wo es die
Lage erfordert. Dennoch sollen die RKP und die Komintern für diesen Zweck keine Hilfe in Form der
Anleitung durch ein Spezialorgan oder eine Behörde beanspruchen. Die RKP darf nur über ein Organ
verfügen, das die Kampfkraft der Revolution in allen Ländern lediglich zu Informationszwecken unter-
sucht. Über Operativfunktionen oder unmittelbare Verbindungen zur Militärarbeit in anderen Ländern
ist die RKP nicht weisungsbefugt. [...] 18.2.25. F. Dzeržinskij“60 Am 25.2.1925 erfolgte der in einigen
zentralen Punkten konkretisierte definitive Beschluss des Politbüros (siehe folgendes Dokument).
Am 14.2.1925 tagte die Politbüro-Kommission „für Sonderbestellungen“ und legte die eigenen Aufga-
benbereiche fest. Diese umfassten „a) die Heranziehung ausländischen Kapitals und ausländischer
technischer Hilfe zum Aufbau der Militärindustrie in der [Sowjet-]Union, und b) die Eroberung des
östlichen Marktes für die einheimische Militärindustrie und die Verbreiterung unseres Einflusses in
den Armeen der östlichen Staaten.“ Am 19.2.1925 beschloss dann das Politbüro personelle Umstruk-
turierungen in der Kommission. Rozengol’c sollte als Vorsitzender von Unšlicht abgelöst werden, al-
lerdings solle man damit warten, bis alle Schwierigkeiten beigelegt seien, die zwischen der sowjeti-
schen und deutschen Regierung im Zusammenhang mit dem „Prozess der deutschen Kommunisten“
entstehen könnten. Als weitere Mitglieder der Kommission wurden Čičerin, Pjatakov, Jagoda sowie
Josel’ Gamburg (RKKA) nominiert. Es wurde festgehalten, dass „die weitere Entfaltung der Zusammen-
arbeit mit den Deutschen“ wünschenswert sei.61
Dok. 125
Beschluss und Instruktionen des sowjetischen Politbüros über die
Einstellung der „aktiven Aufklärung“ in Mitteleuropa
Moskau, 25.2.1925
Anlage
Zum p. 26, Prot. N° 50 des PB des ZK vom 25.II.25.
(Bestätigt vom PB des ZK am 25.II.25).
Absolut geheim
Beschlussentwurf der Kommission des Politbüros
Zur Frage der aktiven Aufklärung
1. Die aktive Aufklärung (Gruppen für Diversion, militärische Zersetzung u.a.) war
in der ersten Phase ihres Bestehens eine notwendige Ergänzung unserer militärischen
Maßnahmen und erfüllte die ihr vom Zentrum auferlegten Kampfaufgaben.62
Mit der Herstellung mehr oder weniger normaler diplomatischer Beziehungen
zu den an die UdSSR angrenzenden Staaten hat die Aufklärungsverwaltung mehrere
Direktiven über die Einstellung der aktiven Aktionen ausgegeben, doch die während
der vergangenen Periode erworbenen Traditionen der im Ausland organisierten
Gruppen, wie auch die Leitungsschwäche seitens der kommunistischen Parteien
gegenüber der spontan wachsenden Bewegung der Bauernschaft im Ausland, aus der
die Kader der Diversionsgruppen der aktiven Aufklärung gebildet wurden, haben es
nicht erlaubt, diese Gruppen planmäßig anzuleiten, die die ihnen erteilten Direkti-
ven oftmals nicht befolgten. Hieraus ergab sich eine ganze Reihe von Aktionen, die
unsere diplomatische Arbeit gefährdeten und die Arbeit der betreffenden kommunis-
tischen Parteien erschwerten.63
62 Angeleitet durch die Aufklärungsverwaltung des Generalstabs der Roten Armee, bestand die „ak-
tive Aufklärung“ (aktivnaja razvedka) im Aufbau und der Unterstützung von Diversionstruppen und
der Ausbildung von Guerilla- bzw. Partisanengruppen besonders in Polen, Rumänien und Bulgarien,
nach dem Friedensschluss von Riga 1921 speziell auch in den polnisch kontrollierten Gebieten der
Westukraine und Westweißrusslands.
63 Rekrutiert wurden Diversionstruppen (russisch auch Partisanentruppen) aus Teilen der Mili-
tärapparate der Kommunistischen Parteien, der Komintern und der Aufklärungsverwaltungen der
Dok. 125: Moskau, 25.2.1925 435
GRU und der GPU. Beispielsweise ging der gescheiterte Putschversuch in Estland 1924 auf ihr Konto,
vermutlich auch das Attentat auf die Kathedrale in Sofia am 16.4.1925, mit Hunderten von Toten der
schwerste Terroranschlag im Europa der Zwischenkriegszeit (siehe hierzu: Krivitsky: Ich war Stalins
Agent, S. 48ff.).
64 Hier wird der generelle Übergang der betreffenden Organe zum Aufbau von Spionagenetzen for-
muliert, woran die Komintern selbst nicht mehr zentral beteiligt war. Unter der Leitung von GRU-Ge-
neral Jan Karlovič Berzin wurde u.a. aus dem „brauchbaren Restpersonal der deutschen Komintern“
ein „glänzende(r) Geheimdienst“ mit zahlreichen internationalen Netzen, Unternehmen, Scheinfir-
men etc. aufgebaut“ (Krivitsky: Ich war Stalins Agent, S. 17f. u.a.). In Deutschland erfolgte neben
dem Aufbau des Kippenberger-Apparats mit russischer Unterstützung auch der eines Apparats für
Betriebsspionage („BB-Ressort“) (siehe: Siegfried Grundmann: Der Geheimapparat der KPD im Visier
der Gestapo. Das BB-Ressort. Funktionäre. Beamte. Spitzel. Spione, Berlin, Dietz, 2008; vgl. Wollen-
berg: Der Apparat, S. 12ff.).
436 1924–1929
Die Leiter der zentralen Aufklärungsapparate bei uns sowie im Ausland stehen
ausschließlich mit den Bevollmächtigten der ZKs der entsprechenden Komparteien
in Verbindung.
5. Die an der Grenze entkonspirierten Anführer und Leiter der ehemaligen Aktiven
Aufklärung sind unmittelbar zu ersetzen, ohne die generelle Liquidierung abzuwar-
ten, die einen längeren Zeitraum und einen höchst vorsichtigen Zugang erfordert.
6. In unserer Zone werden streng konspirative kleine Kampfgruppen mit der not-
wendigen Bewaffnung organisiert. Im Falle der Besetzung unseres Territoriums durch
den Gegner ist ihre Aufgabe die Desorganisation des feindlichen Hinterlandes und
die Partisanenkriegsführung.
7. Das Grenzgebiet auf unserer Seite soll von aktiven Partisanen gesäubert werden,
die, wie bereits festgestellt, [bisher zuweilen] selbständig die Grenze zwecks Kampf-
tätigkeit überschreiten. Ohne sie zu verbittern, sollten sie ins Landesinnere evaku-
iert werden, wobei sie zwecks Verwendung im Kriegsfall in Registrierung belassen
werden.
8. Um alle angeführten Maßnahmen schmerzfrei durchzuführen und Unzufrie-
denheit, Abdriften oder Zersetzung einzelner Gruppen und Personen zu vermeiden,
ist die Assignierung entsprechender Summen notwendig. Auch ist für die zukünftige
Arbeit die Aufstellung und Bewilligung eines festen Budgets in einer Höhe notwendig,
die eine organisierte und disziplinierte Arbeit aller Mitarbeiter garantieren würde.
9. Die Durchführung der oben dargelegten Maßnahmen ist dem RVSR65 mit
Bericht an das PB zur Pflicht zu machen.
10. Die Verantwortung für die Lage an den Grenzen und für den Grenztransfer der
Partisanen ist in Gänze den Organen der OGPU zu übertragen.
11. Eine Änderung der dargelegten Arbeitsmethoden, die aufgrund besonderer
Umstände erforderlich wird (beispielsweise [in] Bessarabien), kann nur durch einen
besonderen Beschluss des Politbüros erfolgen.66
12. Die Durchführung der hier dargestellten Linie hängt nicht zuletzt von ihrer
diplomatischen Umsetzung ab. Die Gesamtheit der geplanten Maßnahmen kann sich
als lediglich schädlich erweisen, wenn die harte und klare Politik gegenüber Polen,
die vom PB bereits vorgegeben wurde,67 nicht verwirklicht wird. Es ist hervorzuhe-
ben, dass der polnischen Regierung in dieser Frage keine direkten Indizien gegen uns
zur Verfügung stehen, sondern sie sich ausschließlich auf Vermutungen stützt. Aus
diesem Grund muss allen Ausfällen seitens Polens eine entschiedene Abfuhr erteilt
werden.
13. Die Komparteien der östlichen Regionen Polens sind noch einmal auf die
Notwendigkeit hinzuweisen, die Bauernbewegung in den Grenzregionen zu durch-
dringen und anzuleiten, dem Bauerntum in seinem Kampf Hilfe zu leisten, wobei der
Bewegung ein organisierter Charakter verliehen werden muss und die Gesamtheit
ihrer möglichen Formen, wie etwa parteilose Bauernkomitees, Verteidigungskomi-
tees und andere, ausgenutzt werden müssen. [...]
V. Kujbyšev.
Dok. 126
Beschluss des Politbüros des ZK der RKP(b) über die Verhaftung
der deutschen Studenten und die Vorgaben für die KPD
[Moskau], 5.3.1925
Angehört:
I. Fragen des NKID. [...]
B. Über die Studenten68 (Gen. Litvinov, Menžinskij, Pjatnitzki).
Beschlossen:
I. Folgenden Beschluss der von der Delegation der RKP im Präsidium des EKKI einge-
setzten Kommission nach Korrektur zu bestätigen:
a) Gen. Katz damit zu beauftragen, das ZK der KPD mit dem Fall Kindermann
bekanntzumachen und [ihm] die Angaben Kindermanns mitzuteilen darüber, wie
er in die Durlacher KPD-Parteiorganisation eingetreten ist, sowie darüber, dass die
68 Die am 26.10.1924 durch die OGPU verhafteten deutschen Studenten Karl Kindermann, Theodor
Wolscht und Max von Dittmar wurden als angebliche Mitglieder deutscher ultrarechter Organisatio-
nen in Moskau am 3.7.1925 zum Tode verurteilt. Zum Hintergrund siehe Dok. 122.
438 1924–1929
Personen, die sowohl sein Parteibuch wie auch die Einreiseerlaubnis nach Russland
unterzeichnet haben, im Vermittlungskontor von Kindermanns Vater arbeiten.69
Die Aufmerksamkeit der KPD auf den Umstand zu lenken, dass sich eine Kopie
des Dokuments, das von der Durlacher Parteiorganisation ausgestellt wurde, in den
Händen des deutschen Botschafters in Moskau befindet.
Über Gen. Katz der KPD vorzuschlagen, Maßnahmen gegen das Eindringen
fremder und ihr feindlich gesinnter Elemente in die Reihen der KPD zu ergreifen.
b) Dem ZK der KPD über Gen. Katz vorzuschlagen, sowohl die Parteimitglieder als
auch die Arbeiter überhaupt darüber in Kenntnis zu setzen, auf welche Weise Kinder-
mann in die KPD eingetreten ist, – da sich unter den KPD-Mitgliedern Unzufrieden-
heit darüber bemerkbar macht, dass angeblich ein deutscher Kommunist verhaftet
worden sei.
c) Die Vertreter der Sektionen der KI sowie die Vertreter der ausländischen (falls
politisch notwendig) und russischen Presse mit den Verhörmaterialien (solchen,
die in Übereinstimmung mit dem weiteren Ermittlungsinteresse präsentiert werden
können) bekanntzumachen, um damit eine Pressekampagne -– mit der Veröffentli-
chung entsprechender Dokumente – gleichzeitig in der UdSSR und im Ausland zu
eröffnen.70
All das im Eiltempo durchzuführen.
II. Aufgrund der Tatsache, dass eine Beschleunigung der Voruntersuchung sowie die
Übergabe des Falles an das Gericht als wünschenswert erachtet wird, die OGPU zu
verpflichten, auf der nächsten Politbüro-Sitzung ihre Überlegungen zu dieser Frage
vorzutragen.
III. Die unverzügliche Veröffentlichung eines Artikels oder eines Interviews mit Gen.
Katz zum Fall Kindermann als unerlässlich zu erachten.71 Die Gen. Pjatnitzki und
Dzeržinskij mit der Durchführung dieses Beschlusses zu beauftragen.
69 Der Vater Karl Kindermanns, Hermann Kindermann, war für eine gewisse Zeit aktives SPD- und
KPD-Mitglied. 1925 betrieb er, nachdem er sich aus der Politik verabschiedet hatte, ein Inkassounter-
nehmen in Durlach. Dort beschäftigte er den örtlichen KPD-Vorsitzenden, den er aus seiner Zeit als
Kommunist kannte, und den wiederum Karl Kindermann zwecks beschleunigten Erhalts des Sowjet-
visums um Aufnahme in die KPD bat. Dabei entrichtete er seine Mitgliedsbeiträge gleich für mehrere
Jahre, wodurch Kindermann eine KPD-Mitgliedschaft seit 1920 angerechnet wurde, jedoch in seinem
Mitgliedsausweis ausschließlich Beitragsmarken von 1924 klebten. Das machte das Dokument wiede-
rum bei der GPU verdächtig (siehe: Viktor I. Isaev: „Oni hoteli ubitʼ Stalina“. OGPU protiv nemeckich
studentov v pokazatelʼnom sudebnom processe 1925 g., Novosibirsk, SO RAN, 2005, S. 19).
70 Eine Pressekampagne der KPD schien umso notwendiger, als dass die Verhaftung der deutschen
Studenten und der Prozess gegen sie von der deutschen Presse über die politischen Lager hinweg
extensiv und äußerst sowjetkritisch beleuchtet wurde (siehe Müller: Russlandberichterstattung und
Rapallopolitik, S. 127–130).
71 Zur weiteren Entwicklung des Falles und zum Austausch Kindermanns und Wolschts gegen Roze
(Ps. Skoblevskij) und „Laursen“ siehe die weiteren Politbürobeschlüsse, u.a. vom 1.10.1925. Der dritte
„faschistische Student“, von Dittmar, soll in OGPU-Haft an Herzversagen gestorben sein.
Dok. 126: [Moskau], 5.3.1925 439
SEKRETÄR DES ZK
[Sign.:] I. Stalin
Am 9.3.1925 nahm die EKKI-Kommission zur Frage der Militärarbeit eine Resolution an, in der die
Schaffung eines „Militärbüros“ (Voennoe Bjuro) in Moskau gefordert wurde. Diese Institution sollte
nach den Vorstellungen der Kommissionsmitglieder Pjatnitzki, Unšlicht und Kuusinen die bis dahin
große Schwächen aufweisende militärische Arbeit der kommunistischen Parteien koordinieren und
unterstützen. Unter anderem sollte „die Unterstützung der Vorbereitung revolutionärer Aktionen im
richtigen Augenblick“ bewerkstelligt werden. Das Büro sollte einer Kommission aus Vertretern des
EKKI, des ZK der russischen Partei und des Revolutionären Kriegsrats der UdSSR unterstellt sein.72
Auf seiner Sitzung vom 13.3.1925 verwarf das Politbüro des ZK der KP Russlands jedoch diesen Ansatz
als „unzweckmäßig“.73
Am 13.3.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands die „formelle Übertragung“ der Ange-
legenheit der verhafteten deutschen Studenten an das Oberste Gericht der UdSSR. Als Gerichtsvor-
sitzender wurde Vasilij Ulʼrich bestimmt, der später bei den Schauprozessen der 1930er Jahre eine
große Rolle spielte. Das Politbüro legte auch den Ankläger sowie den Kommunikationsmodus mit den
Vertretern Deutschlands fest. Die Übergabe des Falles an das Gericht sollte in der Presse bekanntge-
geben werden.74
Ebenfalls am 13.3.1925 fasste das Politbüro des ZK der KP Russlands einen Beschluss über die per-
sonelle Zusammensetzung der sowjetischen Delegation auf dem V. Erweiterten EKKI-Plenum (21.3.–
6.4.1925). Es wurde ebenfalls die Zusammensetzung einer speziellen Delegation (Tomskij, Bucharin,
Sinowjew, Stalin und Manuilski) zur Verhandlung mit der deutschen Delegation auf dem Plenum be-
stimmt.75
72 RGASPI, Moskau, 508/2/5, 3–4. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 306–307.
73 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 87. Publ. in: Ibid., S. 306.
74 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 86–87. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadzžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 73.
75 RGASPI, Moskau, 17/3/492, 2. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S.
307–308.
440 1924–1929
Dok. 126a
Brief Josef Eisenbergers an die Kontrollkommission der Komintern
über seine Auseinandersetzung mit August Thalheimer
Moskau, 18.3.1925
An die Kontrollkommission
z.Hd. des Genossen Stirner76
76 Am gleichen Tag sandte Eisenberger eine Kopie des Schreibens an Sinowjew (RGASPI, Moskau,
324/1/548). Ebenfalls an Sinowjew sandte er die Kopie eines Schreibens an Clara Zetkin, in dem er sie
warnte, sich von „der Gruppe Radek-Brandler missbrauchen“ zu lassen (RGASPI, Moskau, 324/1/548,
12). Zetkin schrieb ihm daraufhin einen wütenden Antwortbrief, in dem sie ankündigte, jegliche Be-
ziehungen zu ihm abzubrechen (RGASPI, Moskau, 324/1/555, 70).
77 Josef Eisenberger (1891–1938), der in den KPD-internen Auseinandersetzungen 1923–1924 zu-
nächst Anhänger Brandlers war, sagte sich in einem „Reuebrief“ im Dezember 1924 von diesem los
und denunzierte ihn mehrmals und ausführlich bei der Komintern. Er wurde daraufhin zum Kron-
zeugen im Parteiverfahren gegen Brandler, Thalheimer und Radek gemacht (siehe: Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 218).
78 Der sudetendeutsche ehemalige Sozialdemokrat Karel Kreibich war als Mitglied der KP der Tsche-
choslowakei auch Mitglied des EKKI-Präsidiums.
Dok. 126a: Moskau, 18.3.1925 441
J. Eisenberger
Mitgl. B. No. 687181
P.S. Als Zeuge des Vorfalles benenne ich den Delegierten der Zentrale der KPD beim
EKKI, den Genossen Iwan Katz.79
Im Rahmen eines Beschlusses des Politbüros des ZK der KP Russlands vom 2.4.1925 zu den am
15.11.1924 wiederaufgenommenen deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen wurden die
am 31.3. zugesicherten Zugeständnisse an die deutsche Seite als maximal definiert. An der Sitzung
nahmen Ganeckij, Rykov, Frumkin, Cjurupa, Litvinov, Varga, Stomonjakov und Sviderskij teil. Die Be-
schlüsse der zu diesem Zweck eingesetzten Kommission über den Vertrag wurden übernommen.80 In
den folgenden Monaten und bis zum Abschluss des „Berliner Vertrags“ am 24.4.1926 bildeten die
Vorbereitungen einen Schwerpunkt des Interesses im russischen Politbüro.
Ebenfalls am 2.4.1925 nahm Karl Radek im Politbüro des ZK der KP Russlands zu seiner Erklärung
Stellung, die er gemeinsam mit Brandler und Thalheimer am 25.3.1925 auf dem EKKI-Plenum abgege-
ben hatte. Darin hatten die Autoren ihren Konflikt mit dem EKKI über den „Deutschen Oktober“ und
die „Arbeiterregierung“ als „erschöpft“ erklärt. Sie bestanden jedoch weiterhin auf der Notwendig-
keit einer Zusammenarbeit mit „linken sozialdemokratischen Elementen“ im Falle einer Verschärfung
der revolutionären Situation. Das Politbüro beschloss, sich nicht nachträglich gegen diesen Auftritt
auszusprechen, sondern die VKP-Delegation im EKKI damit zu beauftragen, eine schriftliche Stel-
lungnahme abzugeben. Im Politbüro wurde ebenfalls die Affäre angeblich gefälschter Briefbögen der
Komintern besprochen.81
Am 9.4.1925 gewährte das Politbüro des ZK der KP Russlands eine Konzession an den Krupp-Konzern
für den Bau und Betrieb der Eisenbahnstrecke Alexandrov-Gai-Tschardshuj (Zentralasien).82
79 Noch 1924 hatte Eisenberger Iwan Katz und Werner Scholem als „freche Judenbengel“ beschimpft,
die bald „abwirtschaften“ würden (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 218).
80 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 100 + 105. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadzžo/Gori u.a.: Politbjuro CK
RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 73–75.
81 RGASPI, Moskau, 17/3/495, 3. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S.
308–310.
82 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 107.
442 1924–1929
Dok. 127
Bitte Elena Stasovas an Molotov, in Deutschland bleiben zu
können
Moskau, 17.4.1925
1925 17/IV
oft Vorträge halte, an Diskussionen teilnehme und indirekt dadurch auf meine Gruppe
Einfluss nehme, dass ich an allen Versammlungen, der alltäglichen minderwertigen
Arbeit usw. teilnehme. Darüber hinaus habe ich im letzten Jahr eine Reise als Rednerin
auf internationalen Versammlungen gemacht, habe Vorträge vor jungen Leuten über
die Geschichte der RKP. gehalten und bin auf MOPR-Versammlungen aufgetreten. All
dies zusammengenommen verschafft mir vollkommene Befriedigung, demnach sind
Sie von Ihrem oder Ihren Informanten in die Irre geführt worden.
Angesichts der instabilen allgemeinen politischen Lage, und der Möglichkeit einer
illegalen Existenz der Partei (augenblicklich leben wir annähernd unter solchen Bedin-
gungen wie 1917, als unser ZK „unter den Kreuzen“ in der Furštatskaja 19 angesiedelt
war)85 bin ich der Auffassung, dass meine Anwesenheit hier höchst notwendig ist, da
meine Untergrunderfahrungen den deutschen Genossen zweifellos zunutze kommen
werden. All dies zwingt mich dazu, die Frage dahingehend zu beantworten, dass ich auch
weiterhin hier bleiben werde. Ich habe mich in der hiesigen Partei eingelebt, habe die
Psychologie des deutschen Arbeiters erkundet, und weiß, welche Anforderungen ich an
ihn stellen kann, also können meine Kräfte unmittelbar für die Sache eingesetzt werden.
Doch mir scheint, dass Ihr Brief durch irgendwelche dienstlichen Überlegungen
hervorgerufen wurde, und dass vielleicht meine Kräfte jetzt in Moskau gebraucht
werden, und Sie mich deswegen fragten, ob ich nicht den Wunsch verspüren würde,
nach Moskau zu kommen. Sie wissen, dass ich schon immer eine disziplinierte Genos-
sin der alten Schule war und dass ich infolge dessen bereit bin, die Verpflichtungen
auf mich zu nehmen, die das ZK der RKP(b) mir auferlegt.
Jedenfalls erwarte ich Ihre Antwort und eine Erklärung darüber, was nun die
Ursache Ihres Briefes gewesen ist. Natürlich wird sich für einen Parteiarbeiter immer
Arbeit finden, wo immer er sich auch aufhalten mag, und was das Vaterland angeht,
so hat der Proletarier keins.86
und gehörte einer Zelle in Berlin-Moabit an, der gleichen wie der Dichter Johannes R. Becher. Wir
trugen des öfteren gemeinsam Flugblätter in die Arbeiterwohnungen des Stadtbezirks.“ (Jelena Stas-
sowa: Genossin „Absolut“. Erinnerungen, Berlin-Ost), Dietz, 1978, S. 192–193). Stasova war bereits
anfangs der zwanziger Jahre in der KPD tätig, siehe u.a. Dok. 49
85 Kresty (dt.: „Kreuze“) war der Name eines bekannten Gefängnisses in der Furštatskaja-Straße 19
in Petrograd, in dem nach dem Juliaufstand 1917 führende Bolschewiki wie Lunačarskij und Trotzki
inhaftiert waren.
86 Nachdem Stasova eine wichtige Rolle in der Bekämpfung der Linken Opposition und später der Ver-
einigten Opposition in der KPD gespielt hatte, arbeitete sie seit Februar 1926 in Moskau als Leiterin des
Informationsbüros des ZK der RKP(b) (nach noch ungesicherten Aussagen handelte es sich um das Pri-
vatsekretariat Stalins), dort zuständig für die Komintern und die internationale Arbeiterbewegung. 1927
wurde sie auch Sekretärin des ZK der Internationalen Roten Hilfe (MOPR). 1935–1943 war sie als Mitglied
der Internationalen Kontrollkommission mitverantwortlich für die Säuberungen, die sie überlebte.
87 Nach „Elena“ mit anderer Handschrift: „Stasova“(?)
444 1924–1929
Nachdem das V. Erweiterte Plenum des EKKI (21.3.–6.4.1925) die Thesen zur „Bolschewisierung“ der
Komintern-Sektionen verabschiedet hatte, die die kommunistischen Parteien noch stärker an Moskau
banden, bereitete Sinowjew zur XIV. Parteikonferenz der RKP(b) Thesen zu den Aufgaben der russi-
schen Partei im Zusammenhang mit den Beschlüssen des EKKI-Plenums vor, die er am 22.4.1925 dem
Politbüro des ZK der KP Russlands vorstellte. Das Politbüro hielt es für notwendig, einige Korrekturen
an diesen Thesen anbringen zu lassen, wozu eine Kommission aus Sinowjew, Stalin, Bucharin, Ka-
menev und Rykov gebildet wurde.88
Am 23.4.1925 fasste das Politbüro des ZK der KP Russlands einen Beschluss zum „Tscheka-Prozess“
in Deutschland, der am 22.4.1925 beendet wurde. Dabei ging es vermutlich um die Reaktion auf die
ausgesprochenen Todesurteile. Krestinskij wurde aufgefordert, einen offiziellen Protest zu verlaut-
baren und sich auf legalen und illegalen Wegen um den Hauptangeklagten Petr Skoblevskij, d.i.
Volʼdemar Roze, zu kümmern. Zugleich sollte die sowjetische Handelsvertretung in Deutschland per-
sonell verstärkt werden.89
Am 25.4.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands angesichts diverser Fälle von Perso-
nalausfall in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, diese mit neuen Funktionären zu verstär-
ken.90
Am 29.4.1925 wies das Politbüro des ZK der KP Russlands einen Vorschlag des ZK der KPD zur Entsen-
dung eines Delegierten zum deutschen ZK-Plenum zurück.91
Am 7.5.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands nach Ablauf des „Tscheka-Prozess“,
die Vorschläge des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten aufzugreifen, die auf eine
Abwendung des endgültigen Todesurteils gegen Roze u.a. im Leipziger Prozess unter Beteiligung der
sowjetischen Botschaft abzielten.93
88 RGASPI 17/3/499, 2–3. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 311–312.
89 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 114. Publ. in: Ibid. , S. 313; Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro
CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 79–80. Deutschen Quellen zufolge soll Krestinskij versucht haben,
Stresemann im Gespräch dazu zu bewegen, in den Tscheka-Prozess geheim einzugreifen, was dieser
jedoch abgelehnt habe (ADAP, Serie A, Bd. XII, Dok. 272, S. 721–723).
90 APRF, Moskau, 03/64/639, 56. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 234.
91 RGASPI, Moskau, 17/3/501, 2.
92 APRF, Moskau, 03/64/647, 104–106. Publ. in: Ibid., Dok. 235.
93 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 115. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Po-
litbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 80.
Dok. 127a: Berlin, 7.5.1925 445
Dok. 127a
Brief Willi Münzenbergs an Sinowjew über die Tätigkeit der
Internationalen Arbeiterhilfe
Berlin, 7.5.1925
Genossen
Sinowjew
Moskau
94 Hier und weiter im Dokument sind handschriftlich unterstrichene Passagen kursiviert wiederge-
geben.
95 Eduard (Edo) Fimmen (1891–1942), der Sekretär der Internationalen Transportarbeiterföderation
(ITF) war ein Freund Willi Münzenbergs.
96 Das Anglo-Russische (Gewerkschafts-)Komitee wurde im Rahmen der organisatorischen Annähe-
rung der sowjetischen Gewerkschaften und der Führung des Trade Union Committee ab ca. Mitte 1925
im Rahmen der Kampagne für die internationale Gewerkschaftseinheit, und der von Sinowjew erwar-
teten Verschiebung des revolutionären Zentrums Europas nach England durch einen Beschluss der
TUC-Konferenz vom 6. bis zum 8. April 1925 in London konstituiert. Insofern war es paradox, dass das
Komitee den Abbruch des englischen Generalstreiks zur Unterstützung der Bergarbeiter im Mai 1926
kritiklos mitverfolgte, was von der linken Vereinigten Opposition zu einem Hauptkritikpunkt gegen
die Komintern bzw. die sowjetischerseits bestimmte Politik gemacht wurde (siehe genauer: Tosstorff:
Profintern, S. 621f., 626f.).
97 Nach dem Tode von Friedrich Ebert am 28.2.1925 fand am 29.3.1925 die erste Direktwahl des Staats-
präsidenten der Weimarer Republik statt. Der erklärte Monarchist Hindenburg wurde gegen Wilhelm
Marx als Kandidat des Zentrums, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der SPD knapp
gewählt, nicht zuletzt infolge der Haltung der Bayerischen Volkspartei, die Hindenburg unterstütz-
te, sowie der KPD, die Ernst Thälmann als eigenen Kandidaten aufgestellt hatte. Trotz Zunahme der
Spannungen ergaben sich für die Deutsch-sowjetischen Beziehungen keine fundamentalen Verände-
rungen. Das sowjetische Poltibüro lehnte zweimal den Vorschlag Čičerins ab, Hindenburg zu seiner
Wahl ein Glückwunschschreiben zu übermitteln (siehe Politbürobeschluss vom 15.5.1925).
446 1924–1929
ich die Sache reiflich besprochen und schlage Ihnen heute vor, dass ausser anderen
Organisationen und ausser den Fimmen-Gruppen unsere Organisation, d.h. die Inter-
nationale Arbeiterhilfe, eine solche spezielle, grosse internationale Aktion gegen die
Russland-Hetze98 vorbereitet und vielleicht im Juli oder August durchführt. Der Inhalt
der Kampagne soll sein, in denjenigen Ländern, die noch nicht Russland anerkannt
haben, Amerika, Tschechoslowakei usw. die Anerkennung von Sowjet-Russland; in
denjenigen Ländern, die Russland bereits anerkannt haben, die Parole gegen die
[anti-]russische Hetze, für Sowjet-Russland, für die Erweiterung der Handels- und
wirtschaftlichen Beziehungen. Wir denken daran, dass wir die Kampagne einleiten
können 1) durch eine Massenauflage unserer illustrierten Zeitungen, die das neueste
und aktuellste Material über Russland bringen können.
2) durch eine planmässige Bearbeitung der gesamten Presse, der kommunisti-
schen Presse, der sympathisierenden Organe, Zeitschriften usw.
3) Vertrieb in Massen von dem englischen Bericht der Gewerkschaftsdelegation
über Russland,99
4) Vertrieb von einigen kleineren populären Abhandlungen über Russland, viel-
leicht Auszüge aus dem englischen Bericht und ähnlich geartete Schriften.
5) Neuausgabe von Bilderserien, Postkartenserien, Bilderalben etc.
6) Massenverbreitung von prorussischen Meinungsäusserungen führender Poli-
tiker, Wirtschaftler, Gewinnung von solchen Aeusserungen, Mobilisierung der Klubs
der Freunde des neuen Russland usw.100
7) Organisierung russischer Filmabende für Massen-Meetings,
8) Organisierung von grossen Volks- und öffentlichen Versammlungen über das
russische Problem,
9) Vorträge und Meetings in Betrieben, Gewerkschaften usw. für Sowjetrussland.
Und zwar denken wir, dass wir von vornherein die ganze Kampagne aufziehen auf
breitester Grundlage, getragen von den stark erweiterten Komitees von uns, die ver-
stärkt werden sollen durch Gewerkschaftsdelegierte und andere intellektuelle Mitglie-
der. Ich begnüge mich heute nur mit der Andeutung über das Aktionsprogramm und
wäre bereit, wenn Sie es für notwendig erachten, wegen der detaillierten Programme
und wegen der ganzen Führung, Einleitung und Durchführung dieser Kampagne zu
einer persönlichen Rücksprache nach dort [d.h. in die Sowjetunion] für einige Tage zu
98 Die kursivierte Passage ist handschriftlich unterstrichen sowie am Rand mit zwei senkrechten
Strichen markiert.
99 Der nicht unkritische, in zahlreiche Sprachen übersetzte Bericht fiel insgesamt positiv aus und
eröffnete insofern ein neues Kapitel in den sowjetischen Bemühungen, die internationale Isolation
zu durchbrechen. Siehe: Rußland. Offizieller Bericht der englischen Gewerkschaftsdelegation nach
Rußland und dem Kaukasus im November und Dezember 1924, Berlin, Neuer Deutscher Verlag, 1925.
100 Die sog. Klubs der Freunde des neuen Russland, mit deren Aufbau Münzenberg betraut wurde,
sollten im Gegensatz zu den eher auf Intellektuelle fokussierten Gesellschaften der Freunde des neuen
Russland vor allem Arbeiter als Mitglieder rekrutieren. Siehe: Bayerlein: Transnationale Netzwerke.
Dok. 127a: Berlin, 7.5.1925 447
kommen. Nach der ganzen Entwicklung im Westen und der sich zeigenden Tendenz
glaube ich, dass tatsächlich eine derartige Kampagne im Interesse Russlands und
unserer Gesamtbewegung liegt.
Ich erwarte mit Spannung Ihre Antwort und halte mich wie immer ganz zu Ihrer
Verfügung
[sign.:] Ihr
Willi Münzenberg
Am 15.5.1925 lehnte das Politbüro des ZK der KP Russlands es explizit zum zweiten Mal ab, den Vor-
schlag Čičerins anzunehmen, ein Glückwunschschreiben an Hindenburg anlässlich seiner Wahl zum
Reichspräsidenten zu senden.101
Am 21.5.1925 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss über die Handels-
verhandlungen mit Deutschland; dabei ging es um Importquoten deutscher Güter in die UdSSR und
die Gründung einer gemeinsamen Transithandelsgesellschaft.102 Auf Vorschlag von Stalin sollte die
Delegation für die Verhandlungen mit Deutschland durch Stomonjakov und Pjatakov ergänzt werden,
wogegen Frumkin am 27.5.1925 erfolglos Einspruch erhob.103
Am 4.6.1925 nahm das Politbüro des ZK der KP Russlands den Vorschlag des führenden Propagan-
disten Emel’jan Jaroslavskij an, einen „Schauprozess“ gegen die deutschen Studenten zu veranstal-
ten.104 Darüber hinaus wurde beschlossen, 20 „ausgewählte“ Arbeiterdelegierte aus Deutschland in
die Sowjetunion einzuladen. Die Initiative zur Einladung habe von den Arbeitern der Putilov-Werke
auszugehen: „Es für wünschenswert zu befinden, in der im Namen der Putilov-Arbeiter verfassten Er-
klärung festzuhalten, dass […] deutsche Arbeiter an der Werkbank unabhängig von ihren politischen
Überzeugungen eingeladen werden, mit Ausnahme von Personen, die am Kampf gegen die Sowjet-
macht beteiligt sind.“105
Am 5.6.1925 bestimmte das Politbüro des ZK der KP Russlands Nikolaj Krylenko zum Chefankläger für
den Schauprozess gegen die deutschen Studenten.106 Am 11.6.1925 erfolgten Beschlüsse des Politbü-
ros über die Konzessionsvergabe an Junkers. Diese sollten nur unter der Bedingung gewährt werden,
dass die bereits im November 1922 an Junkers verpachtete Flugzeugfabrik in Fili zur selbständigen
Produktion ausgebaut würde, anstatt lediglich ein auf die Dessauer Stammfabrik angewiesener Mon-
tagebetrieb zu sein. Die Verantwortung für die Verhandlungen obliege Trotzki.107 In diesem Zusam-
menhang sollten auch die Verantwortlichkeiten für die bisherige schlechte Qualität der Lieferungen
eruiert werden.108
101 RGASPI, Moskau, 17/3/503, 1; APRF, 3/64/676, 76, Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, Dok. 239.
102 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 119. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 80–81.
103 APRF, 3/64/646, 123–124. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, Dok. 240 und 244.
104 RGASPI, Moskau, 17/3/505, 2.
105 RGASPI, Moskau, 17/3/505, 4.
106 RGASPI, Moskau, 17/3/506, 5.
107 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 124,125. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 81–82
108 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 124,125. Publ. in: Ibid., S. 81–82. Zur Rüstungszusammenarbeit mit
Junkers siehe auch: Dʼjakov/Bušueva: Fašistskij meč, S. 152–155.
448 1924–1929
Zu den Verhandlungen um den Handelsvertrag mit Deutschland beschloss das Politbüro des ZK der KP
Russlands am 11.6.1925, eine Paraphierung des Vertrags abzulehnen und auf ein möglichst schnelles
Ende der Verhandlungen in Moskau hinzuarbeiten. Am gleichen Tag wurde Karl Begge, eine ehemali-
ger GPU-Funktionär, zum neuen Handelsvertreter in Deutschland ernannt.109
Am 18.6.1925 genehmigte das Politbüro des ZK der KP Russlands die Vorschläge einer entsprechen-
den Kommission der russischen Delegation in der Kominternführung über die Entsendung, den Auf-
enthalt und die Finanzierung der auf 60 Teilnehmer aufgestockten internationalen Arbeiterdelegatio-
nen in der Sowjetunion, die letztendlich im Juli-August 1925 in die Sowjetunion kam.110
Am 25.6.1925 erfolgte auf Vorschlag Jaroslavskijs ein weiterer Beschluss des Politbüros des ZK der KP
Russlands zu den verhafteten „faschistischen“ deutschen Studenten. Dabei ging es um die Rechtfer-
tigung der Inhaftierung gegenüber der deutschen Regierung sowie die Ausweisung der zum Prozess
angereisten deutschen Zeugen.111
Dok. 127b
Brief von Iwan Katz an Sinowjew über die Zustände in der KPD
unter Ruth Fischer
Berlin, 29.6.1925
Hochverehrter Genosse!!
Wie mir die Zentrale der KPD mitteilt, haben Sie den mir bei meiner Abreise aus
Moskau abgeforderten Bericht über meine persönliche Auffassung zum Fall Maslow
der Genossin Ruth Fischer zugestellt, auf deren Veranlassung eine Kommission ein-
gesetzt wurde, mit der Aufgabe, wegen dieses Berichtes gegen mich die schärfsten
disziplinarischen Strafen zu verhängen.113
Als ich mich von Ihnen verabschiedete, nahmen Sie mir das Versprechen ab, über
die Angelegenheit in Deutschland sorgfältige Ermittlungen anzustellen, Ihnen von
109 APRF, Moskau, 03/64/647, 145 und 60. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 247 und 246.
110 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 129 + 133. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Kom-
intern, S. 316–317.
111 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 136–137.
112 Am oberen rechten Rand handschriftliche Resolution in russischer Sprache: „An Gen. Bucharin.
16.7.25.“, gefolgt von einer Paraphe.
113 Als Exponent der Linken war der Jurist, Volkswirtschaftler und Arzt Iwan Katz (1899–1956) bis
Mitte 1925 Vertreter der KPD beim EKKI in Moskau und wurde dann als Vertreter der „Ultralinken“
abgewählt. Er gründete 1926 zusammen mit Franz Pfemfert den „Spartakusbund der linkskommuni-
stischen Organisationen.“ (siehe: Weber, Die Wandlung, 1, S. 141f.).
Dok. 127b: Berlin, 29.6.1925 449
deren Ergebnis genau und fortlaufend Mitteilung zu machen und mit niemandem
– wie Sie ausdrücklich wünschten, auch nicht mit Scholem und Rosenberg – über
die Angelegenheit zu reden. Ich habe das Versprechen gehalten. Ich habe peinlich
geschwiegen. Jetzt, nachdem die Angelegenheit durch Sie vor die deutsche Partei
gekommen ist, werde ich nicht länger schweigen können. Wird die Kommission der
hemmungslosen Rachsucht Ruth Fischers sich willfährig erweisen, so werde ich an
die Mitgliedschaft appellieren.
Auch die Möglichkeit, in Deutschland Ermittlungen anzustellen, wurde mir
dadurch genommen, dass ich nach meiner Rückkehr – in vollem Einvernehmen mit
Ihrem Vertreter Manuilski – sogleich wieder ins Ausland verbannt wurde, weil ich in
der Frage meiner Festhaltung in Russland an die Exekutive appelliert hatte.
War für mich persönlich dadurch die Möglichkeit von Nachprüfungen, wie Sie sie
wünschten, fürs erste beseitigt, so ist diese Möglichkeit selbstverständlich überhaupt
und wohl für alle absehbare Zeit dadurch entfallen, dass Sie meinen Bericht Ruth
Fischer und damit Maslow übersandt haben. Was Sie zu diesem Schritte veranlasst
hat, ist mir nicht erkennbar. Jedenfalls bin ich durch ihn der Verantwortung für die
Erschwerung oder gar Unmöglichkeit weiterer Aufklärung ledig und muss die Verant-
wortung für die weitere Undurchsichtigkeit der Angelegenheit Ihnen zuweisen.
Wie weit es bereits mit der Einbeziehung des Sozialdemokraten Rosenfeld in die
gesamten vertraulichen Angelegenheiten der Partei gediehen ist,114 zeigt folgendes:
als ich mich nach Rückkehr aus Moskau zum ersten Mal im Reichstag zeigte und dabei
am Platze Rosenfelds vorüberkam, rief Rosenfeld ganz laut: „Nanu, wie kommen Sie
denn hierher? Wie sind Sie denn über die russische Grenze gekommen? Das ist ja aller-
hand!“ Mindestens die neben ihm sitzende sozialdemokratische Abgeordnete Wurm
hat diesen Ausruf gehört und, wie ihr Verhalten erkennen liess, auch um seinen Sinn
gewusst. Als ich Rosenfeld anderntags wegen des Ausrufs stellte und ihn nach seiner
Bedeutung fragte, erklärte er: „Aber, Katz, machen wir uns doch nichts vor. Ich bin
doch von allen Ihren Parteiangelegenheiten genau unterrichtet.“ „Wer hat Sie unter-
richtet?“ „Die Stelle kennen Sie doch genau so gut wie ich. Wenn Sie es nicht wüssten,
würde ich es Ihnen nicht sagen. Da Sie es wissen, brauche ich es nicht zu sagen.“ Ich
habe diese Worte sofort aufnotiert. Ich habe weiter festgestellt, dass Rosenfeld die
überwiegende Mehrzahl des vertraulichen Briefwechsels zwischen Maslow und den
führenden deutschen Parteigenossen vermittelt.115
Rosenfeld, der so von allem genau unterrichtet ist, der so die Geheimnisse der
KPD hütet, war der Anwalt sowjetfeindlicher Gruppen gegen Russland, war von der
früheren Zentrale deshalb des Rechtes enthoben, für die KPD jemals wieder vertei-
digen zu dürfen, hat seither im Rechtsausschuss des Reichstages die einzige reale
114 Dr. Kurt Rosenfeld (1877–1943) war ein deutscher Linkssozialist, der zur stalintreuen Vertrauens-
person avancierte und zahlreiche Positionen der KPD übernahm.
115 Eine Notiz von Osip Pjatnitzki (RGASPI, Moskau, 324/1/549, 82) besagt, Katz habe bei ihm vorge-
sprochen und das Problem der Konspiration bei der Maslow-Korrespondenz ebenfalls thematisiert.
450 1924–1929
Möglichkeit einer Amnestie – selbst gegen Löbe und Dittmann – durch seinen Wider-
spruch vereitelt und ist Abgeordneter einer Partei, die immerhin noch zu den erbit-
tertsten Feinden der KPD und Sowjetrusslands zählt. Dazu ist Rosenfeld ein überaus
empfindsamer, reizbarer und daher unberechenbarer Charakter, der jederzeit, durch
irgendetwas „gekränkt“, sich von der bisherigen Partie [sic] trennen oder zu trennen
drohen kann, wobei er von seinen „Kenntnissen“ Gebrauch macht. [...]
Ich benutze die heutige Gelegenheit, um Ihnen, wie Sie bei meinem Abschied von
Ihnen ja ebenfalls wünschten, meine Auffassung von der Lage in der KPD mitzuteilen.
Nun: meine Freunde halten mich für einen unverbesserlichen Optimisten und
instinktiv wie auch bewusst sehe ich immer eher rot als schwarz. Aber in diesem Falle
muss ich sagen: die Lage der KPD ist trostlos.
Nicht objektiv. Im Gegenteil. Der ungeheuere Raubzug des Agrar- und Industrie-
kapitals durch die neuen Zölle, [...] die revolutionären Signale aus dem Osten: das
alles gäbe eine glänzende objektive Basis für kommunistische Arbeit in Deutschland.
Aber die Partei – lies Ruth Fischer – verrannt in die Doktrin von der „„nicht-revoluti-
onären“ „Epoche“, weiss mit diesen Fakten, die in ihre Doktrin nicht passen wollen,
nichts anzufangen. [...]
Kritik an solchen Unsinnigkeiten aber ist nicht erlaubt. Wer Bedenken äussert,
„hat vom Bolschewismus nichts begriffen“ oder ist gar „Antibolschewist“. Diskus-
sion, Ueberzeugung und Mehrheitsbeschluss sind durch Redeverbot und disziplina-
rische Massnahmen ersetzt. Die Opposition vom Zentralausschuss116 wird, obschon
sie sich den Beschlüssen fügt und sich durchaus loyal verhält, mit Verleumdung
beschmutzt, gemassregelt und ins Ausland „verbannt“. Den „unruhigen Elementen“
wird der Ausschluss angedroht. Die Vereinbarungen der deutschen Delegation in
Moskau über die Berichterstattung in Deutschland sind frech gebrochen, die Berichte
über die Verhandlungen in Moskau und auf dem Zentralausschuss einseitig verstüm-
melt und gefälscht.117 Dass [der] Ausgangspunkt der Differenzen Ruth Fischers These
vom Wegfall revolutionärer Möglichkeiten in Deutschland war, dass Maslow vorge-
schlagen hatte, mit den demokratischen Parteien ein „reelles“ Geschäft zu machen,
dass fest beschlossen war, der preussischen Mörderregierung Braun-Severing ohne
jede Bedingung den Etat zu bewilligen, d.h. Schupo, Teno,118 Pfaffen, Staatsgerichthof
und Zuchthäuser, und dass sich vornehmlich dagegen die Opposition wandte, wird
den Mitgliedern verschwiegen und der Opposition durch ausdrücklichen Beschluss
116 Auch hier ergeben sich Widersprüche zu Maslows Darstellung an Sinowjew, siehe Dok. 123.
117 Die sich augenscheinlich ohne Einwirkung des EKKI herauskristallisierende ultralinke Opposi-
tion um Katz, Scholem und Rosenberg wandte sich gegen die These de monarchistischen Gefahr im
Zusammenhang mit der Wahl Hindenburgs, die Ruth Fischer gemeinsam mit Sinowjew als Ausgangs-
punkt einer „realisitischeren“ Parteilinie auffasste (Weber: Die Wandlung, I, S. 107f. Zur Sitzung des
Zentralausschusses ibid., S. 109f).
118 Teno: Technische Nothilfe, Freiwilligenorganisation in der Weimarer Republik, Hauptaufgabe
war die Verrichtung von Notarbeiten in bestreikten Betrieben, weswegen sie besonders von der KPD
als Streikbrecher-Organisation angefeindet wurde.
Dok. 127b: Berlin, 29.6.1925 451
verboten, den Mitgliedern zur Kenntnis zu bringen. Man tut jetzt vielmehr so, die
Blamage der „neuen Taktik“ langsam erkennend, als ob es sich nur um die Einheits-
fronttaktik zur Gewinnung der sozialdemokratischen Arbeiter gehandelt habe, eine
Taktik, die von niemandem umstritten war. Trotz dieser Blamage und des blamablen
Rückzugs darf niemand Delegierter zum Parteitag, ja schon zum Bezirksparteitag, der
diese Delegierten wählt, werden, der nicht rückhaltlos billigt, was die „Mehrheit“ der
Zentrale tat, tut und tun wird. [...]
Ein politisches Gesicht sucht man bei der KPD jetzt vergebens. Statt klare Linie
mit Suggestivkraft ein eklektisches Gestammel zusammenhangsloser Parolen. [...]
Nur zwei Tendenzen heben sich aus dem Parolenwirrwarr heraus, die aber beide
verderblich sind: [...] 2. Kampf gegen Luxemburgismus. Luxemburgismus ist alles,
was vor Ruth Fischer da war, die Partei August Bebels, die Unabhängige Partei, der
Spartakusbund und die Komintern vor dem Auftreten Ruth Fischers. Nachdem der
Kampf gegen die Linke durch disziplinarische Massnahmen siegreich gewonnen ist,
wird (Internationale, Hefte 5 und 6)119 der Kampf gegen Spartakusbund, Tradition
und Rosa Luxemburg fröhlich wieder aufgenommen. Alles, was dem Regierungsan-
tritt Ruth Fischers vorangeht, ist einfältiges Gestammel von Sozialdemokraten. Erst
mit ihrem Regierungsantritt beginnt der Kommunismus. Wer von Übertreibungen
abmahnt, ist selber Luxemburgist.
Und was sagt die Parteimitgliedschaft zu solchem Unfug? Und vor allem die
verantwortliche Parteiarbeiterschaft, die doch zu den geschultesten, gebildetsten,
erfahrensten der Komintern zählt? Macht sie das mit? Nein. Aber sie knirscht mit den
Zähnen und schweigt. Denn wer redet, wird gefehmt, verbannt, seiner Funktionen
enthoben, entlassen. Alle Rechtsgarantien in der Partei sind beseitigt. Es herrscht
Ausnahmezustand. Ruth Fischer regiert als absolute Monarchin, hemmungsloser als
eine dynastische Despotin, und ihre Regierungsmittel sind Lüge, Intrigue und Terror.
„Le parti cʼest moi.“ Die Partei ist ihr Privateigentum geworden. [...]
Das einzige erfreuliche Ergebnis ist die lebhafte Kampagne für die Arbeiterdele-
gation nach Sowjetrussland in Verfolg[ung] der Einladung der Putilow-Belegschaft.120
119 In Heft 5a der Internationale (Ende Mai 1925) griff Ruth Fischer in einem Leitartikel sowohl den
„Brandlerismus“ als auch die Ultralinken an, wobei letzteren explizit ihr „Luxemburgismus“ zum
Vorwurf gemacht wurde: „Diese Plattform ist die Plattform der Luxemburgischen Akkumulations-
theorie als Theorie des Imperialismus, von der sich die Vertreter dieser Gruppe niemals in der Öffent-
lichkeit losgesagt haben.“ (Ruth Fischer: Die Opposition auf dem Zentralausschuß. In: Die Internatio-
nale 8 (1925), 5a, S. 281–284, hier S. 283).
120 Im Juni 1925 begann mit der Einladung von 60 „ausgewählten“ Arbeiterdelegierten aus Deutsch-
land in die Sowjetunion der Startschuß zur propagandistisch effektiven Kampagne der Arbeiterde-
legationen in die Sowjetunion, die 1928 mit der Jubiläumskampagne zur Oktoberrevolution ihren
Höhepunkt erreichte. Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion hatte am 4.6.1925 beschlossen,
dass eine solche Initiative zur Einladung von den Arbeitern der Putilov-Werke ausgehen sollte, es
stockte später die Anzahl auf 60 auf (siehe: Dok. 4.6.1925 PB und Dok. 18.6.1925 PB). Die erste von
drei deutschen Arbeiterdelegationen in die Sowjetunion, die auch weiterhin direkt vom sowjetischen
Politbüro kontrolliert wurden (siehe Dok 22.8.1925 PB) fand vom 14.7.1925 bis zum 28.8.1925 statt. Zur
452 1924–1929
Aber daran ist Ruth Fischer und die neue Taktik völlig unschuldig. Gerade diese Kam-
pagne ist von Kun und mir in Moskau eingeleitet und hier von Scholem organisiert.
Der Erfolg ist im wesentlichen Ausfluss der Aufrüttelung des deutschen Proletariats
durch die neue Wirtschaftskrise und von Sowjetrusslands unerschütterlicher Macht
und Wirkung.
Ich sehe mithin wenig hoffnungsvoll in die nächste Zukunft der deutschen Partei.
Wird die Politik Ruth Fischers fortgesetzt, so kann eine völlige Katastrophe eintreten.
Viel hängt von Ihnen ab. Die absolute Diktatur Ruth Fischers ist nur möglich,
weil jeder Genosse sie von Russland gewünscht glaubt. Wird dieser Nimbus behoben,
so zerflattert das Selbstherrschertum Ruth Fischers wie ein Schemen [sic]. Beim
Abschiede im Andrejew-Saal121 erklärten Sie von sich aus sich bei Differenzen in der
KPD zu freundschaftlicher Vermittlung bereit. Ihr Vertreter aber hat nicht vermittelt,
sondern verschärft. Er hat zu den politischen Monstrositäten Ruth Fischers geschwie-
gen, aber jede administrative Massnahme gegen die Linke gutgeheissen. Ja, als Ruth
Fischer ihm einen Zettel schrieb „Katz muss ins Ausland“, stellte er sogar von sich
aus den Antrag auf Verschickung. So sollte die Exekutive in Deutschland nicht wei-
terarbeiten. Ich habe Manuilski gewarnt und warne auch Sie jetzt noch einmal. Das
Schicksal der deutschen Partei darf nicht der Laune und Willkür einer hemmungs-
losen Frau preisgegeben werden. Lassen Sie ihren politischen Einfällen, ihrer Rach-
und Verfolgungssucht, ihren Massregelungen und Verbannungen weiterhin freien
Lauf, so legt sich die Verantwortung für die deutschen Misserfolge mehr und mehr auf
die Exekutive, auf Russland, was das Vertrauen zu drüben mindern, was der Gesamt-
bewegung Abtrag tun und was jeden mit tiefstem Schmerze erfüllen muss, dem die
kommunistische Revolution Lebensinhalt und stündliches Gebot ist und der, wie ich,
Sowjetrussland mit eigenen Augen und Ohren erleben durfte.
Genehmigen Sie meine – trotz allem mir persönlich angetanen Unrecht – stets
gleichbleibende Hochachtung und Verehrung
Ihr ergebener
[Sign.:] Iwan Katz
Nachdem die drei deutschen Studenten Kindermann, Wolscht und von Dittmar Anfang Juli 1925 zum
Tode verurteilt worden waren, tagte das Politbüro des ZK der KP Russlands am 6.7.1925 erneut in
der Angelegenheit. Beschlossen wurde, eine Kommission zur Veröffentlichung der Gnadengesuche
der „faschistischen Studenten“ zu bilden, mit Jaroslavskij, Kalinin, Krylenko und Čičerin als Mitglie-
dern.122 Ein weiterer Beschluss betraf die sich in Vorbereitung befindlichen Schritte für einen deutsch-
russischen Vertrag; hierzu wurde ein Vertrags-Gegenentwurf Čičerins an den deutschen Botschafter
genehmigt (siehe das untenstehende Dokument).
Dok. 128
Entwurf des Politbüros des ZK der KP Russlands (Čičerin) für einen
Vertrag mit Deutschland123
[Moskau], 3.7.1925
Kopie.
3. Juli 1925.
Beide Regierungen, die von dem Bewusstsein durchdrungen sind, dass die Lebens-
interessen der Völker Deutschlands wie der UdSSR eine ständige freundschaftliche
Kooperation beider Staaten verlangen, sind fest entschlossen, ihre gegenseitigen
Beziehungen im Geiste des Vertrags von Rapallo weiterzuentwickeln, und in allen
Fragen, die die eine oder andere Vertragsseite betreffen, einen ständigen freund-
schaftlichen Kontakt und ein gegenseitiges Einverständnis anzustreben, dabei von
den Überlegungen über die Unerlässlichkeit eines allgemeinen Friedens ausgehend.
Die Regierungen Deutschlands und [der] Sowjet[union] verpflichten sich, von diesen
Überlegungen ausgehend, keine direkten Angriffe sowie keine wie auch immer gear-
teten feindseligen Handlungen gegeneinander zu unternehmen, sowie in keine politi-
schen oder ökonomischen Blöcke, Verträge, Vereinbarungen und Kombinationen mit
122 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 152. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 84.
123 Aus dem Protokoll Nr. 70 (Sonder-Nr. 53) der Sitzung des Politbüro des ZK der RKP(b), 6. Juli 1925.
124 Der laut Politbürobeschluss genehmigte Vertragstext wurde als Antwort auf den Vorschlag der
deutschen Seite für einen Ausführungsvertrag zum Rapallo-Vertrag vom 16.4.1922 an den deutschen
Botschafter gesehen, der besonders die Handelsbeziehungen regeln sollte. Am 12.10.1925 wurde dann
ein Handelsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion (Moskauer Vertrag) ge-
schlossen. Eine weitergehende Vereinbarung erfolgte am 24.4.1926 im Berliner Vertrag.
454 1924–1929
Dok. 129
Aus einem Brief Nikolaj Bucharins an Stalin über die Situation in
der KPD-Führung
Moskau, 22.7.1925
Lieber Koba [d.i. Iosif Stalin]! Ich schreibe dir in aller Eile. Sehr wichtig ist das, was
Manuilski erzählt, der aus Deutschland angekommen ist. Ich berichte kurz:
Der Parteitag125 hatte ein sehr niedriges Niveau; kaum jemand hat gesprochen.
Ruth [Fischer] hat alle ziemlich terrorisiert. Kein einziger unserer Beschlüsse wurde
durchgesetzt, unter anderem die über die Gewerkschaftskommission. Die Vertreter
der Komintern wurden schlecht behandelt und auf allerschäbigste Weise angelogen:
zum Beispiel wurde behauptet, dass das Gebäude von der Polizei umstellt sei (damit
unsere Leute weggehen), während nichts dergleichen der Fall war; sie wurden, was
die Termine der Sitzungen anging, angelogen; man schnauzte alle mit „Schufte!“
an, die es wagten, sich mit den Vorschlägen des EKKI zu solidarisieren, usw. Mit
einem Wort, die Situation ist absolut außerordentlich. Weitere Geldverschwendun-
gen wurden offenbar. Außerdem ist haargenau bewiesen, dass Ruth und Co. separate
Fonds angelegt haben. Die Stimmung [geht in die Richtung,] – eine leitende Kraft
innerhalb der KI zu formen, ohne die RKP und gegen die RKP.
Der Parteitag schickt Maslow einen „ehrfürchtigen Gruß“ für eine „Lektion in
Marxismus“, usw. usf. Gerade fährt eine volle Delegation hierhin, und fragt nach uns.
125 Bucharin ergänzt auf seine Art die Angaben im Bericht Manuilskis über den X. Parteitag der
KPD (siehe Dok. 83). Die Vorschläge Bucharins laufen auf eine Unterwanderung der KPD im Sinne
der russischen Delegation durch Ernst Thälmann hinaus. Bucharin kann insofern als Urheber des
Thälmannschen ZK gelten, das Ende des Jahres die Parteiführung übernahm.
Dok. 129: Moskau, 22.7.1925 455
Gleichzeitig schicken wir telegraphisch Dir und Grig[orij Sinowjew] eine Anfrage
bezüglich Eurer Meinung. Bei mir fügen sich [im Kopf] folgender Beschluss und fol-
gende Linie zusammen:
1) gegen die Delegation nichts einzuwenden;
2) in ihr müssen Ruth [Fischer], Geschke und Thälmann (der gegen Ruth meutert)
vertreten sein;
3) auf der Beratung müssen Ruth und andere zurechtgewiesen werden. Mit der
Analyse ihrer Reden auf dem Parteitag, ihrer Beziehungen zur KI, ihrer Organisations-
linie und ihrer Geldangelegenheiten muss man ihnen aufzeigen, dass sie Abschaum
sind. (Natürlich sollte man nicht übertreiben, aber man muss es so machen, dass es
klar wird);
4) die Annäherung an die „Arbeitergruppe“ zu suchen;
5) auf unseren Beschlüssen zu bestehen;
6) in ihrem ZK eine treue Gruppe um Thälmann zu haben;
7) die Arbeit zu beginnen, um neue Leute zu suchen;
8) in allernächster Zeit in ihre Presse einzugreifen;126
9) ohne ihnen dies mitzuteilen, es für machbar zu halten, nach einiger Zeit eine
außerordentliche [Partei-]Konferenz einzuberufen,127 wobei ein Kurs auf die neuen
Leute im ZK und ihre Vorbereitung, Auswahl, Überprüfung zu halten ist.
Ruth und Co. kann man zwar nicht absetzen, doch es ist erforderlich, dass es in
Zukunft eine Gruppe unserer Leute gibt. Dieses Pack führt uns an der Nase herum,
und nun offenbaren sich klar und deutlich die Scheinheiligkeit, das politische Elend
und der Karrierismus dieses Grüppchens.
Ich sage dies mit aller Ernsthaftigkeit. Natürlich werde ich keinen Schritt tun,
ohne mich beraten zu haben usw. Ich schreibe Dir jedoch unmittelbar unter dem Ein-
druck des gestrigen Gesprächs mit M[anuilski]...
126 Höhepunkt der nun folgenden medialen Offensive aus Moskau war der „Offene Brief der Exe-
kutive der Kommunistischen Internationale an alle Organisationen und Mitglieder der KPD“, der am
1.9.1925 in der Roten Fahne erschien.
127 Auch dieser Vorschlag Bucharins wurde später umgesetzt. Die 1. Reichsparteikonferenz, deren
Delegierte erstmals auf der Basis der Betriebszellen gewählt wurden, fand vom 31.10.1925 bis 1.11.1925
statt. Kurz darauf wurden das neue Politbüro mit Thälmann, Dengel, Blenkle, Ewert, Geschke, He-
ckert, Remmele, Schneller und Schwan inthronisiert und am 11.11.1925 Ruth Fischer und Arkadi
Maslow aus dem Politbüro entfernt.
456 1924–1929
128 Anfang 1925 erschien im Westen das Buch von Max Eastman über den inneren Parteienkampf in
der RKP(b) (Max Eastman: Since Lenin Died, London, Labour Publishing Co., 1925). Hierin wurden
erstmals Teile des Testaments Lenins veröffentlicht. Am 4.1.1923 hatte Lenin an den XII. Parteitag
der RKP(b) geschrieben: „Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr
zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht
geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen
könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen [...].“ Lenin: Brief an den Parteitag und Ergän-
zungen zum Brief vom 24. Dezember 1922. In: Id.: Werke, Bd. 36, S. 577–582. Am 18.7.1925 verpflichtete
das Politbüro Trotzki, sich öffentlich von Eastman zu distanzieren, der ihn in seinem Buch positiv
von den anderen sowjetischen Führern abgesetzt hatte. Trotzki schrieb daraufhin einen Artikel, den
das Politbüro jedoch nicht für ausreichend befand. Diese Erstfassung brachte Manuilski zur Sitzung
des ZK der KP Frankreich nach Paris zur Kenntnisnahme mit, wobei er auf ihren vorläufigen Charak-
ter hinwies. Gleichwohl wurde diese Fassung im Zentralorgan der KP Frankreichs LʼHumanité abge-
druckt. In der Folge sorgte Stalin weiter für die Unterdrückung des Testaments (siehe Dok. 133). Zur
Rekonstruktion und Kontextualisierung der Auseinandersetzungen um das Testament Lenins siehe:
Leon Trotsky: On the Suppressed Testament of Lenin (December 1932). In: New International Juli/
August 1934. http://www.marxists.org/archive/trotsky/1932/12/lenin.htm
129 Dr. M-i: Dmitrij Manuilski.
Dok. 130: [Berlin], 22.7.1925 457
Am 8.7.1925 reagierte das Politbüro des ZK der KP Russlands höchst empfindlich auf die offizielle
Note der deutschen Regierung zum Todesurteil gegen die deutschen Studenten, in der u.a. mit der
Beendigung der Wirtschaftsverhandlungen gedroht wurde. Eine Antwort wurde aufgesetzt, in der
es hieß, dass sich die deutsche Note, wäre sie vor der Begnadigung der Verurteilten durch Kalinin
eingetroffen, höchst belastend auf ihr Schicksal hätte auswirken können. Die Einstellung der Wirt-
schaftsverhandlungen deutscherseits würde notwendigerweise die Aufklärung der Weltöffentlichkeit
über die Hintergründe dieser Einstellung mit sich bringen, außerdem sollten Stresemann und Rant-
zau auf „die Dokumente“ hingewiesen werden (womit vermutlich die geheime deutsch-sowjetische
Rüstungszusammenarbeit gemeint war).130 Am gleichen Tag wurde im Politbüro beschlossen, das
Unternehmen Junkers mit der Serienproduktion von Bombern in der Sowjetunion zu beauftragen.131
Am 18.7.1925 beschäftigte sich das sowjetische Politbüro mit dem „Entwurf des Interviews des Gen.
Ganeckij – vom gleichen Tag – über die Verhandlungen mit Deutschland“. Der Entwurf wurde mit Kor-
rekturen angenommen. Darin beschuldigte Ganeckij die deutsche Delegation zu den Verhandlungen
um den Handelsvertrag, die Verhandlungen hinzuziehen.132
Dok. 130
Brief Dmitrij Manuilskis an Stalin über Situation in der KPD
[Berlin], 22.7.1925
AN GEN. STALIN133
Nach der Ablehnung des Vorschlages der Delegation, Ewert und Schumann in das ZK
hineinzunehmen, trat die Delegation im Senioren-Konvent134 mit einer Deklaration
auf, welche die Gefährlichkeit einer solchen Organisationspolitik unterstrich. Die ein-
130 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 148. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 86–87.
131 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 150–151. Publ. in: Ibid., S. 88.
132 APRF, 3/64/648, 29–32. Pub. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, Dok. 273.
133 Der Bericht Manuilskis war an Stalin gerichtet, nicht den eigentlich zuständigen Sinowjew als
Generalsekretär der Komintern. Das Dokument kann im Zusammenhang mit der folgenden Vermu-
tung Hermann Webers gesehen werden: „Es ist zwar bisher nicht bewiesen, aber doch sehr wahr-
scheinlich, dass Manuilski die Reibungen mit der Fischer-Führung aufbauschte, um Stalin und Bu-
charin Material gegen Sinowjew zu liefern.“ (Weber: Die Wandlung, I, S. 121).
134 Gemeint ist die russische Delegation (der RKP(b). Der Seniorenkonvent fungierte als ein für die
Beachtung der Statuten und die Wahlgänge verantwortliches Gremium auf dem X. Parteitag der KPD,
der vom 12.7.1925 bis 17.6.1925 im Preußischen Landtag in Berlin stattfand. Organisationsarbeit und
Fortführung der Bolschewisierung waren zentrale Thema; per neuem Statut sollten die sozialdemo-
kratische Tradition und „westeuropäische“ Kommunismen (Fischer) endgültig überwunden werden.
Trotz scharfen Auftretens der russischen Delegation unter Führung von Manuilski konnte sie sich auf
dem Kongress nicht gegen Ruth Fischer und die Mehrheit mit der Forderung durchsetzen, zwei Ange-
hörige der Ultralinken und zwei der „Mittelgruppe“ in das ZK aufzunehmen. Gegen Manuilski wurden
Zwischenrufe wie „Hau ab! Geh nach Moskau!“ laut (Weber: Die Wandlung, I, 112–119).
458 1924–1929
hellige Meinung der Delegation ist die, dass die Partei bedroht ist durch die persönli-
che Diktatur Ruth Fischers, die sich ein solches ZK auswählt, mit Hilfe dessen sie über
die Partei ohne jegliche Kontrolle der Komintern, der RKP und der Parteibasis herr-
schen könnte. Der Parteitag zeigte die Hinfälligkeit einer weiteren Diplomatisierung
Ruth Fischers mit der Komintern und der RKP und der mechanischen Angleichung der
deutschen Partei an Fischer. Jegliche Initiative innerhalb der Partei wird unterdrückt,
es gab so gut wie keine Diskussion auf dem Parteitag, der Vortrag Ruths ohne Analyse
und Perspektive – eine gewöhnliche Agitationsrede auf einer Massenversammlung –
zeigte mit aller Deutlichkeit, dass das Unterpfand für eine normale Entwicklung der
Partei nur in einer kollektiven Führung liegen kann. Die Jugend, die mit den Vorschlä-
gen der RKP-Delegation solidarisiert, wird von Anhängern Ruth Fischers genauso
einer Hetze unterzogen, wie all die Elemente mit einer solchen überzogen werden,
die für eine engere organisatorische Bindung an Moskau stehen. Mit unserer Erklä-
rung wollen wir die Behandlung der „deutschen Frage“ vor dem Exekutivkomitee der
Komintern erreichen. Wenn wir jetzt, angesichts des finanziellen Bankrotts der KPD
und unserer tragischen Verluste in den Gewerkschaften und in den Betrieben, durch
entschlossenen Druck die Veränderung der Positionen der deutschen Partei sowie die
vollständige Liquidierung der Überreste der KAPD-Tendenzen nicht erreichen, wird
man dies in Zukunft nur schwer bewerkstelligen können.
Als Maßnahmen schlägt die Delegation vor: 1) Unterbindung des Regimes der per-
sönlichen Diktatur Ruth Fischers im ZK und Positionierung der von Thälmann gelei-
teten Arbeitergruppe in den Vordergrund. 2) Aufstellung einer autoritativen Kommis-
sion des Exekutivkomitees der Komintern für die Reise nach Deutschland, mit dem
Recht auf unverzügliche Maßnahmen zur Normalisierung der innerparteilichen Lage.
3) Entsendung einer Gruppe von Instrukteuren zur Verfügung der Kommission zwecks
Erforschung der Lage in einzelnen Parteiorganisationen.135 4) Ständige Leitung und
Kontrolle der Arbeit in den Gewerkschaften durch die Profintern, mit Bindung von ZK-
Mitgliedern an die größten Gewerkschaften und Auferlegung persönlicher Verantwor-
tung. 5) Revision aller Ausschlussverfahren aus der KPD in den letzten Jahren durch
die internationale ZKK [d.i. die Internationale Kontrollkommission der Komintern].
6) Ernsthafte innerparteiliche Diskussion über einen neuen Kurs der politischen Linie
und über die Methoden der organisatorischen Bolschewisierung.
Nur eine stärkere Abhängigkeit der KPD von der Komintern und eine wachsame
Kontrolle können der Partei helfen, die heranreifende Krise zu eliminieren. Ein aus-
führlicher Bericht folgt schriftlich. Manuilski
135 Zu den nach Deutschland entsandten Delegierten und Instrukteuren gehörten höchste Komin-
tern-Funktionäre wie Manuilski und Kuusinen. Nicht zuletzt aufgrund der Vorfälle auf dem X. KPD-
Parteitag sandte die Kominternspitze wenig später einen „Offenen Brief an die KPD“, der das Ende der
Ruth-Fischer-Führung bedeutete (hierzu: Weber: Die Wandlung, I, 120f.).
Dok. 131: Soči, 23.7.1925 459
Am 23.7.1925 behandelte das Politbüro des ZK der KP Russlands auf Vorschlag Pjatnitzkis und unter
Beteiligung von Brjuchanov die Zuteilung von Krediten für die Komintern zwecks der Rekrutierung der
Studenten für die Kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens (ab 1925 „Stalin-Universi-
tät“, russ. Abk. KUTV). Der Komintern wurden zusätzlich 80.000 Rubel bewilligt, die übrigen Ausga-
ben sollte sie selbst übernehmen. Zum Budget der OGPU erfolgte eine zusätzliche Bewilligung von
250.000 Rubel.136
Am gleichen Tag wurde im Politbüro des ZK der KP Russlands ein Interview des Beauftragten des russi-
schen Volkskommissariats für Außenhandel, Jakov Ganeckij über die Verhandlungen mit Deutschland
besprochen. Darin hieß es, die Ersetzung Kerners [d.i. Geheimrat Paul von Körner] durch Brockdorf-
Rantzau werde keine Auswirkungen auf die laufenden Verhandlungen haben.137
Dok. 131
Chiffretelegramm von Stalin an das ZK der KP der Sowjetunion,
Nikolaj Bucharin und Dmitrij Manuilski zur Situation in der KPD
Soči, 23.7.1925
RKP entschieden gegen die Grüppchen-Politik Ruth Fischers eingestellt sind. Dies
muss man nicht nur im Privatgespräch sagen, sondern auch im Präsidium des EKKI,
das über alles in Kenntnis gesetzt werden muss. In dieser Minute weiterzugehen und
einen offenen Kampf auf [dem Rücken von?] Ewert und Schumann auszutragen, ist, so
scheint mir, nicht vernünftig.140 Viertens. Eine Konferenz zur Revision der Beschlüsse
des [KPD-]Parteitags ist nicht zweckmäßig. Wenn es tatsächlich eine Arbeitergruppe
um Thälmann gibt, muss man sie fest anpacken und Kurs auf sie halten. Fünftens.
Man muss sich endlich unmittelbar um die Geldangelegenheiten der deutschen Kom-
partei kümmern, man muss alle kleinen Diebe und Parteikassen-Verschwender verja-
gen und bestrafen, sowie die strengste Finanzkontrolle seitens des EKKI und der RKP
herstellen, man muss die Zahlungen an die Deutschen maximal begrenzen, und dem
Präsidium des EKKI darüber berichten. Keinerlei Nachsicht in dieser Frage. Sechs-
tens. Da Ruth Fischer die deutsche Kompartei zugrunde richtet und zersetzt, hat das
EKKI kein Recht, sie zu schonen, es muss sich als Mittel zur Gesundung der Partei
die Aufgabe stellen, sie völlig zu entlarven, und sich diesem Ziel ohne Eile, aber auch
ohne verfaulte Diplomatie annähern. Das wird die einzige richtige und ehrliche Politik
sein. Als Resultat einer solchen Politik wird sich Ruth Fischer entweder bessern, oder
sie wird gezwungen sein, zurückzutreten und den besseren Leuten unter den deut-
schen Kommunisten den Vortritt zu geben.
[Sign.:] Stalin
Dok. 132
Brief Bucharins, Manuilskis, Pjatnitzkis und Kuusinens an Stalin
und Sinowjew über die Verhandlungen mit der KPD-Delegation in
Moskau
[Moskau], 24.7.1925
Geheim.
An Gen. SINOWJEW, STALIN
Heute gab es eine längere Sitzung mit der deutschen Delegation: Geschke, Schnel-
ler, Neumann, Kühne (Berlin). Sie sind angereist mit dem Plan, die Desavouierung
Manuilskis zu verlangen. Nach einem Gespräch mit Bucharin und Rykov holten wir
140 Nach Erhalt weiterer Informationen über die Moskauer Verhandlungen verschärfte Stalin seine
Position und forderte (wie bereits Bucharin) Thälmann gegen Ruth Fischer aufzubauen, auch mit
verdeckten Mitteln (siehe Dok. 133).
Dok. 132: [Moskau], 24.7.1925 461
zu einem mächtigen Gegenangriff auf der ganzen Front aus. Die Reservefonds,141 die
separate Politik, die Nichtwahl der Gewerkschaftskommission,142 die Ablehnung der
empfohlenen Zusammensetzung des ZK, eine empörende Behandlung der EKKI-Dele-
gation, die Sache mit den Subsidien, Ruths Diktatur – all das wurde ausgebreitet.
Wir drohten mit Enthüllungen und einem Aufruf an die Arbeiter, falls es nötig sein
sollte. Daraufhin gingen sie zur Verteidigung über und fingen an zu stammeln. Es
endete vorerst mit einer Erklärung, sie würden zusammen mit uns die Partei ausku-
rieren. Sie schlagen vor, Ruth [Fischer] und Teddy [d.i. Ernst Thälmann] hierher zu
kommandieren, und auch Euch beide.143 Wir zeigten uns einverstanden und unter-
stützen diesen Vorschlag. Nach Deutschland haben wir bereits telegraphiert. Am ein-
dringlichsten bitten wir darum, ihnen keine unkoordinierten separaten Direktiven zu
geben, sondern nur über uns zu kommunizieren, da sie auf Meinungsverschiedenhei-
ten spekulieren. Wir sind der Meinung, dass fest zu allen unseren Beanstandungen
gestanden werden muss, sonst werden sie noch völlig verdorben. Manuilski hat auf
dem Parteitag zu ihren Vorschlägen interveniert. Wir erhalten keine Antworten auf
Anfragen. Antwortet sorgfältiger und schneller. Haben Sie vor, hierher zu kommen,
oder was schlagen Sie stattdessen vor. Bucharin. Manuilski. Pjatnitzki. Kuusinen.
Am 24.7.1925 ließ Stalin das folgende Telegramm an Bucharin senden, in dem er eine verstärkte Ein-
flussnahme auf die KPD forderte: „MOSKAU ZKRKP an Gen. BUCHARIN.– Nr. 7495/S erhalten. Macht
ordentlich Druck, strebt das Maximum an, sichert nicht nur die Zusammensetzung des Politbüros,
sondern auch die des Orgbüros und der Redaktion der Roten Fahne. Nr. 33. STALIN.“144
141 Reservefonds waren die für die militärischen u.a. Aufgaben in unmittelbar revolutionären Situa-
tionen zugewiesenen Geldmittel. Scheinbar gab es von deutscher Seite auch noch 1926 Widerstände
dagegen, Mittel aus dem Reserevefonds für die Alltagsarbeit abzuzweigen. Siehe u.a. Dok. 145, Dok.
152.
142 Die Wahl einer grossen und alle Strömungen umfassenden Gewerkschaftskommission war eine
der später im „Offenen Brief“ aufgeführten Bedingungen der Komintern an die KPD-Führung, die
Ruth Fischer seinerzeit den Parteitagsdelegierten verschwieg (Weber: Die Wandlung, S. 118).
143 Nach dem X. Parteitag kam zunächst eine von Schlecht geleitete Delegation nach Moskau. Das
EKKI drohte, die Subventionen einzustellen und verlangte ultimativ die Entsendung einer repräsen-
tativen Delegation, sodass in den ersten Augusttagen neben Dengel, Schwan, Schneller, Schehr und
Strötzel auch Ruth Fischer und Thälmann nach Moskau kamen. Hier stellten sich Dengel und Thäl-
mann erstmals gegen Ruth Fischer, sodass der Bruch vollzogen war (Weber: Die Wandlung, I, 121).
144 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 558/2/59, 7.
462 1924–1929
Dok. 133
Brief Stalins an Bucharin für die Unterstützung Thälmanns gegen
Fischer und Maslow und eine schärfere Gangart gegenüber der
Regierung Stresemann
Soči, 25.7.1925
Lieber Freund!
Aus dem beiliegenden Chiffretelegramm145 wirst Du sehen, dass ich, ohne alle
Umstände der Angelegenheit zu kennen, mich gleichwohl im Großen und Ganzen an
den selben Plan halte, den Du in Deinem Brief ausgeführt hast. Jetzt, nach Deinem
Brief, in dem neue Umstände ausgeführt werden („separate Reservefonds“, „Schmä-
hungen der EKKI-Delegation“, die Forderung ihrer „Desavouierung“ usw.), schließe
ich mich vollständig Deinem Plan an. Man muss Thälmann entschieden in seinem
Kampf gegen Ruth [Fischer] unterstützen und seinen Sieg sicherstellen. Die Existenz
der Gruppe um Thälmann (worin Du anscheinend ziemlich sicher bist) legitimiert
vollständig Deinen Plan einer Konferenz.146 Man muss es nur so einrichten, dass die
Initiative der Einberufung einer Konferenz von diesen oder jenen Organisationen
oder Gruppen der DKP ausgeht.
Du schreibst nichts über eine Informierung des EKKI-Präsidiums über die
Machenschaften Ruths. Dabei ist es völlig klar, dass es an der Zeit ist, den Teufels-
kreis der privaten Verhandlungen mit den Ruth-Fischer-Leuten zu durchbrechen, es
ist an der Zeit, das Präsidium des EKKI über alles (inklusive Geldangelegenheiten) zu
informieren. Sonst werden wir mit den Ruth-Fischer-Leuten noch die Verantwortung
für betrügerische und schlicht und einfach räuberische Machenschaften der Leute
aus der Gruppe Ruths teilen. Denk darüber nach.147
Manuilski hat uns mit dem Dokument Tr[otzkis] einen Bärendienst erwiesen.
Wieso wird in England nicht das Dokument in seiner letzten Fassung gedruckt?
Um Gottes Willen, sag es mir. Was ist außerdem aus dem Artikel von Nadežda
Kon[stantinov]na [Krupskaja] zu Eastman geworden? Halt mich auf dem Laufenden,
wenn es keine Mühe macht.
Dzeržinskij ist einfach nur nervös – er ist erschöpft. Das wird vorbeigehen...148
Es wäre besser, die Frage des Außenhandels auf zwei oder mehrere Monate zu
vertagen. Sie sollen zunächst Export-Import-Operationen durchführen.
Stresemann hat anscheinend Angst bekommen. Unser Druck hat sein Ziel erreicht.
Čičerin ist zum Erbrechen schwach, er ist verliebt in [Brockdorff-]Rantzau und vergisst
darüber nicht selten die Interessen des eigenen Staates. Er, der Wirrkopf,149 denkt,
dass Rantzau (oder jeder andere Botschafter) eine eigene (uns gegenüber „freundli-
che“!) Politik durchführen könne, die von der Politik der deutschen Regierung abwei-
che. Was für ein Kind...
In (unserer) Kampagne gegen die englischen Konservativen stellt unsere Presse
die Frage nach der Pacht von Ösel [d.i. Saaremaa] und Dagö [d.i. Hiiumaa] nicht genü-
gend in den Vordergrund. Dabei ist dies jetzt die Grundfrage. Man muss in der Presse
sagen (man muss es herausschreien!), dass es nicht um eine erdachte sowjetische
Propaganda in China geht (denk an den Fall Dosser), sondern darum, dass die Kon-
servativen nun schon seit einem Jahr den Krieg gegen die UdSSR vorbereiten, indem
sie Militärbasen auf Ösel und Dagö aufbauen.150 Es wäre gut, im [britischen] Unter-
haus eine Anfrage zu initiieren: Mit welchen Handels-Zielen wird diese Basis errich-
tet? Die Konservativen muss man angreifen und sie der Kriegsvorbereitung beschuldi-
gen. Sollen sie sich doch rechtfertigen.
Unsere Kampagne mit der deutschen Arbeiterdelegation läuft gut.151 Es war gut,
dass Du und Rykov auf der Versammlung aufgetreten seid. Warum hat man für sie
nicht eine Militärparade veranstaltet?
148 Man erkennt hier die Sorge Stalins, als Nachfolger Lenins desavouiert zu werden. Krupskaja,
Lenins Witwe, schrieb einen Artikel, in dem sie vermutlich aus taktischen Gründen – sie war bis 1927
selbst Mitglied der Linken Opposition und stellte sich noch auf dem XIII. Parteikongress der VKP (b)
gegen den Beschluß, das Testament nur intern zu publizieren – den zentralen Inhalt von Lenins po-
litischem „Testament“, Stalin als Generalsekretär abzusetzen, unerwähnt ließ bzw. abstritt. Bis zum
20. Parteikongress 1956 wurde das Testament verheimlicht, die sowjetische Historiographie leugnete
seine Existenz und diffamierte jeden Hinweis darauf als antisowjetisch. Dzeržinskij starb ein Jahr
später. Zum Hintergrund siehe Dok. 129.
149 Im russischen Original: „čudak“. Tatsächlich war Brockdorff-Rantzau für seine russlandfreund-
liche Haltung bekannt, die ihn in zahlreichen Fällen zum Vermittler machte. Čičerin war ein grund-
sätzlicher und offener Kritiker der Deutschlandpolitik Stalins, siehe hierzu die beiden hier veröffent-
lichten Čičerin-Briefe, Dok. 222 und 162.
150 Ösel und Dagö sind die schwedischen Bezeichnungen für die Estland vorgelagerten größten bal-
tischen (estnischen) Inseln Saaremaa und Hiiumaa, die bis 1917 Bestandteil des Zarenreiches waren.
151 Siehe hierzu Dok. 127b
464 1924–1929
Man sagt, Du willst nach Soči. Ist es so? Komm unbedingt. Ich werde auf Dich
warten.152
Gruß an Nadežda Michajlovna [Lukina].
Dir viele Grüße von Nadja [d.i. Nadežda Allilueva].
Dein STALIN
Am 30.7.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, den Konflikt mit Deutschland un-
verzüglich zu liquidieren und die Weiterführung der Verhandlungen ohne Unterbrechung zu sichern.
Čičerin wurde hiermit beauftragt.153
Am gleichen Tag berichtete Bucharin im Politbüro des ZK der KP Russlands über die Situation in der
KPD und die Tätigkeit der russischen Delegation auf dem Parteitag der KPD. Nach dem Vortrag be-
grüßte das Politbüro ausdrücklich die Tätigkeit der Delegation.154
Dok. 134
Chiffretelegramm Pjatnitzkis an Stalin und Sinowjew über den
Verlauf der Verhandlungen mit der KPD-Delegation in Moskau
[Moskau], 30.7.1925
RGASPI, Moskau, 558/11/734, 142. Erstveröffentlichung. Russisch. Auszüge publ. in: Adibekov/
Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 327, Fn. 1.
Auf der gestrigen Sitzung des Präsidiums hat die deutsche Delegation nach zweitä-
giger Diskussion eine Erklärung verfasst, unterschrieben von Geschke, Schneller,
Kühne und Neumann, worin sie all ihre Fehler eingestehen und sich verpflichten,
in entschiedener Weise gegen eine persönliche Diktatur im ZK, für die Korrektur
der Fehler und die Verwirklichung einer kollektiven Parteiführung zu kämpfen.155
Gleichzeitig stimmten das Präsidium und die deutsche Delegation einstimmig für die
volle Solidarisierung mit der Tätigkeit und dem Auftritt der EKKI-Delegation auf dem
[KPD]-Parteitag. Es wurde eine große Kommission zur deutschen Frage einberufen,
die sich mit der Ausarbeitung organisatorischer Garantien beschäftigen wird, die die
Durchführung der EKKI-Linie gewährleisten sollen. In diese Kommission wurden
152 Nicht nur die Grüße an die Frauen machen die Umgarnungsstrategie Stalins gegenüber Bucharin
deutlich. Letzterer opponierte nicht zuletzt aufgrund seiner Mitverantwortung für die Machenschaf-
ten in der Komintern und im Umgang mit der KPD, die Thälmann an die Parteispitze bringen, kaum
mehr gegen Stalin. Nach Ausbruch des Thälmann-Skandals im September 1928 ordnete er sich durch
sein Schweigen vollständig Stalin unter (siehe Dok. 191 u.a.).
153 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 161.
154 RGASPI, Moskau, 17/3/513, 5. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 326–327.
155 Damit war der Kampf gegen die „persönliche Diktatur“ Ruth Fischers entschieden.
Dok. 134: [Moskau], 30.7.1925 465
Vertreter der größten Bruderparteien, unter anderem der tschechischen und italieni-
schen, berufen, die nach Moskau bestellt wurden. Die entschiedene Taktik Bucharins
hat erste Resultate erbracht. Ruth [Fischer], Thälmann, und andere Bezirksdelegierte
sind noch nicht eingetroffen, auf einige von uns an sie gerichteten Telegramme gibt
es keine Antwort. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man in Deutschland nicht auf
einen ernsten Kampf für die Durchführung der EKKI-Beschlüsse verzichten können.
Obwohl Schneller eine scharfe Erklärung mit dem Eingeständnis der Fehler unter-
zeichnet hat, kann man nicht auf ihn zählen. Doch im ZK selbst werden wir wahr-
scheinlich eine von Thälmann und Geschke angeführte Mehrheit haben.156
Am 20.8.1925 erfolgte durch das Politbüro des ZK der KP Russlands ein neuer Beschluss über die
Zusammensetzung der Delegation für die Handelsgespräche mit Deutschland, der unter anderem Pja-
takov und Varga angehören sollten. Die Kommission für Sonderbestellungen tagte derweil weiter.157
Am 22.8.1925 intervenierte das Politbüro des ZK der KP Russlands, um eine politische Panne in der
Angelegenheit der deutschen Arbeiterdelegation auszubügeln. Im Protokoll Nr. 76 (Sonder-Nr. 59)
wurde festgehalten, dass eine Kommission mit Sinowjew, Tomskij, Figatner und Mel’ničanskij alles
Notwendige veranlassen soll, um die zunächst angenommene Resolution der deutschen Arbeiterde-
legation zu annullieren und ihren Brief zurückzunehmen. Dabei solle mit den Teilen der Delegation,
„die uns am nächsten stehen“, zusammengearbeitet werden. Dabei ginge es auch um den Austausch
von Gefangenen und eine Entscheidung des MOPR von Oktober 1924, die gültig bliebe.158
In einem weiteren Beschluss (auf Befragung vom 20.8.1925) sollten Tomskij für „geheime Ausgaben“
für England und für Deutschland jeweils 3000 bzw. 5000 Rubel übergeben werden – vermutlich Gel-
der zur Unterstützung bestimmter Gewerkschaftskreise.159
156 Folgende Antwort Stalins auf dieses Telegramm ist überliefert: „Euer [Telegramm] vom 30. habe
ich erhalten. Gratuliere, der Erfolg ist eindeutig, doch dies ist nur der erste Schritt, denn ohne orga-
nisatorische Absicherung wird der Erfolg auf Null reduziert. Deswegen muss man die Sache zu Ende
führen und alle organisatorischen Konsequenzen ziehen. 31.VII.25.“ (RGASPI, Moskau, 558/11/734,
143).
157 APRF, Moskau, 03/64/648, 94. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 285.
158 Es geht um einen Brief der ersten (von drei) deutschen Arbeiterdelegation, die bis 1927 die UdSSR
besuchten. Von der IAH organisiert, lieferte sie das Grundmuster und die Grundstruktur für die Ge-
sellschaften der „Freunde der Sowjetunion“. Sie bestand aus 58 Personen, davon 29 SPD, 17 KPD und
12 parteilos, angeführt vom Sozialdemokraten Xaver Freiberger. In der Ursprungsfassung (die nach
Recherchen des Historikers Grant Adibekov nicht in den russischen Archiven erhalten ist) wurde u.a.
ein Gefangenenaustausch angeregt. Zum weiteren Schicksal des veränderten Briefes, der am 27.8.1925
vom russischen Politbüro „freigegeben“ wurde, siehe Dok. PB 27.8.1925 (RGASPI, Moskau, 17/162/2,
167–168. Auf Russisch publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 330–331),
vgl. zusammenfassend: Remer: Die drei großen Arbeiterdelegationen.
159 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 167–168. Auf Russisch publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Po-
litbjuro i Komintern, S. 331.
466 1924–1929
Am 27.8.1925 befasste sich das Politbüro des ZK der KP Russlands mit einem Vorschlag des EKKI-
Präsidiums, gegen die Veröffentlichung des Buches von Max Eastman „Since Lenin died“ vorzugehen,
in dem erstmals das „Testament“ Lenins publiziert wurde. Es erfolgte ein Beschluss, den auch Trotzki
und die Linke Opposition mit der Begründung unterzeichneten, dass zu diesem Zeitpunkt der offene
Kampf gegen die Politbüromehrheit um Stalin unbedingt zu vermeiden sei. Der Beschluss hielt fest,
gegen die Veröffentlichung entsprechende Materialien zu publizieren. U.a. sollte eine Stellungnahme
Bucharins an alle kommunistischen Parteien und Mitglieder des ZK etc. gerichtet werden, Trotzki soll-
te einen Brief an lʼHumanité richten.160
Am gleichen Tag beauftragte das Politbüro des ZK der KP Russlands das Organisationsbüro der KP
Russlands damit, die „Genossen aus der Republik der [Wolga-]Deutschen“ ausführlicher über das Le-
ben in Westeuropa und die Arbeit der deutschen Sektionen der Komintern und der Roten Bauerninter-
nationale zu informieren, um die wolgadeutschen Kommunisten stärker für die revolutionäre Arbeit in
Deutschland heranziehen zu können.161
Ebenfalls am 27.8.1925 gab das Politbüro des ZK der KP Russlands den Brief der deutschen Arbeiter-
delegation zum Druck frei, der schließlich am nächsten Tag in der Pravda veröffentlicht wurde. Unter-
schrieben von drei Repräsentanten der mehrheitlich aus SPD-Arbeitern bestehenden Delegation, wur-
den in dem Dokument die Lebens- und Arbeitsbedingungen der sowjetischen Arbeiter angepriesen.162
Am 3.9.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands bezüglich der Wirtschaftsverhandlun-
gen mit Deutschland zur Vermittlung zwischen beiden Delegationen ein von Litvinov aufzusetzendes
Schreiben an Brockdorf-Rantzau zu richten.163 Auf der gleichen Sitzung machte Sinowjew eine Mittei-
lung zur innerparteilichen Lage in der KPD, die „zur Kenntnis genommen“ wurde.164
Dok. 135
Mitteilung des Moskauer Parteichefs der RKP(b) Nikolaj Uglanov
an Stalin mit der Forderung der Absetzung Ruth Fischers
Moskau, 16.9.1925
Autograph, russisch, mit Briefkopf des Sekretariats des Moskauer Komitees der RKP(b). RGASPI,
Moskau, 558/11/139, 61–63. Erstveröffentlichung.
An Gen. Stalin.
Gestern um 1500 war ich nicht auf der Siebener-Sitzung anwesend, auf der die Ent-
fernung von Gen. Ruth Fischer und Maslow aus dem ZK der Deu[tschen] Kom.-Partei
beschlossen wurde.165 Ich habe jedoch erfahren, dass in Bezug auf Ruth Fischer keine
ultimative Entscheidung gefällt wurde. Ich sehe meine Verpflichtung darin, das ZK
über das Folgende in Kenntnis zu setzen:
1) Die Genossen in der Moskauer Organisation verstehen nicht, warum eine
Unterschrift Ruth Fischers unter dem Komintern-Brief steht.166 Alle halten dies für
sehr, sehr schlecht. Einen noch schlechteren Eindruck wird es hervorrufen, sollte Ruth
Fischer im Politbüro bleiben.
2) Über eine Mitarbeiterin des M[oskauer] K[omitees der RKP(b)], die [in Deutsch-
land] auf Kur gewesen ist, habe ich Informationen über die Lage in der deutschen
Partei erhalten. Sie war auf dem Parteitag der Deu[tschen] Kompartei und kennt die
Stimmungen der Arbeiter. Nach dem Brief des EKKI gibt es seitens der Parteileute kei-
nerlei Vertrauen in Ruth Fischer.167 Darüber hinaus wissen die Arbeiter auch über die
165 Siebener-Sitzung: Der Begriff „Siebenersitzung“ lässt darauf schließen, dass nicht einmal das
EKKI-Präsidium als oberstes Entscheidungsorgan zwischen den Kongressen die Entscheidung traf,
sondern eine spezielle russische Zusammenkunft.
166 Das Dokument, das der Beleg dafür war, dass sich in den Moskauer Verhandlungen die von Sta-
lin, Bucharin und Manuilski geforderte Linie gegen die KPD-Führung durchgesetzt hatte, war der sog.
„Offene Brief“ der Komintern, der am 1.9.1925 in der Roten Fahne veröffentlicht wurde und in der KPD
„wie eine unerwartete Bombe einschlug.“ (siehe: Brief der Exekutive der Kommunistischen Interna-
tionale an alle Organisationen und die Mitglieder der KPD. In: H. Weber: Der deutsche Kommunis-
mus, S. 218–242). Dass Ruth Fischer selbst den Brief unterzeichnete, rechtfertigte sie damit, dass,
wenn die „Linke“ geschlossen dafür stimmte, die „Rechte“ keinen Einfluss auf die Partei erhalten
würde. Der Brief habe außerdem das ausgesprochen, ‚was wir zwei Jahre nicht geschafft‘ aber ver-
sucht hatten (Protokoll des Erweiterten EKKI, März 1926, S. 172, zit. in: Weber: Die Wandlung, I, S. 123).
167 Die im „Offenen Brief“ geäußerten Hauptvorwürfe gegen die Fischer-Maslow-Führung beinhal-
teten ganz offen sog. „antimoskowitische“ Tendenzen, gegen die die KPD-Führung nicht entschieden
genug gekämpft habe, sowie die insgesamt problematischen Beziehungen zur Komintern. Besonders
Maslow habe dem „Leninismus“ einen ‚reinen‘ ‚linken‘, spezifisch ‚westeuropäischen‘ Kommunis-
mus“ entgegengestellt. Die Führung Ruth Fischers habe durch Ultra-Zentrismus und administrative
Maßnahmen, das Fehlen von Propaganda und Überzeugungsmethoden die Diskussionsfreiheit an-
nulliert und die KPD innerlich erstarren lassen. Gefordert wurden eine Reform im Sinne von Nor-
malisierung und Demokratisierung, die verstärkte Reorganisation der Partei auf der Grundlage der
468 1924–1929
„Gelder“ Bescheid. Deswegen erschwert ihr Verbleiben die Lage ungemein und wird
der Partei unnötige Schwierigkeiten bereiten. Ich finde, man müsste schlussendlich
entscheiden. Man sieht sofort, dass von solchen Führungspersonen nichts als Ärger
zu erwarten ist. Deswegen bestehe ich auf einer Revision der Frage und einer ent-
schiedenen Direktive.
Am 17.9.1925 besprach das Politbüro des ZK der KP Russlands die laufenden Wirtschaftsverhand-
lungen mit Deutschland. Dabei ging es im Detail um Begünstigungen beim Transit, die die deutsche
Seite einforderte, wobei sie auf ähnliche Vergünstigungen verwies, die Persien, China und andere
Staaten erhielten. Das Politbüro beauftragte daraufhin das NKID, ein offizielles Dokument herauszu-
geben, wonach die UdSSR derartige Vergünstigungen den östlichen und kolonialen Ländern gewähre,
nicht jedoch dem Westen.168 Der Handelsvertrag wurde schließlich qua Beschluss des Politbüros vom
7.10.1925 unterzeichnet.169 Am 24.9.1925 erfolgte ein Beschluss, einen Vertrag mit der Deutschen
Bank für einen 100-Millionen-Mark-Kredit abzuschließen.170
Dok. 136
Brief der KPD-Anwälte zur Bilanz der Verteidigung im Prozess
gegen Maslow („Zentrale-Prozess“ u.a.)
Düsseldorf, 29.9.1925
Abschrift:
Duesseldorf, den 29. September 1925
schliesslich der Prozessakten archivisch breit dokumentiert (siehe SAPMO BArch RY 1/I 2/711), es feh-
len jedoch Analysen und Untersuchungen zu den KPD-Prozessen und den Parteianwälten der KPD.
172 Im Tscheka-Prozess wurde die auf die gesamte Partei bezogene Terrorismusanklage abgewehrt
und damit ein Parteiverbot abgewendet. Dr. Ernst Hegewisch gehörte zur etwa 50 Personen umfas-
senden Gruppe der KPD-Anwälte bzw. – nach ihrer Gründung 1924 – der Roten Hilfe Deutschlands,
deren prominentester Vertreter Dr. Felix Halle war. Da ein hoher Prozentsatz von ihnen Opfer des
NS-Terrors und des Stalinismus wurde ergibt sich, wie Carola Tischler feststellte die „(...) traurige Bi-
lanz“, dass von den meisten kaum Überlieferungen vorhanden sind und sie so nicht mehr identifiziert
werden können (Carola Tischler: „Die Gerichtssäle müssen zu Tribunalen gegen die Klassenrichter
gemacht werden.“ Die Rechtsberatungspraxis der Roten Hilfe Deutschlands. In: Hering/Schilde: Die
Rote Hilfe, S. 105–130. Siehe auch: Heinz-Jürgen Schneider, Erika Schwarz, Josef Schwarz: Die Rechts-
anwälte der Roten Hilfe Deutschlands, Bonn, Pahl-Rugenstein, 2002, S. 149–154).
173 Am 1.9.1925 begann vor dem Reichsgericht in Leipzig der Prozess gegen Maslow, Paul Schlecht,
Anton Grylewicz und Wilhelm Schumacher. In der KPD herrschte großes Durcheinander, weil am glei-
chen Tag der „Offene Brief“ der Komintern gegen Fischer/Maslow veröffentlich wurde. Die deutschen
Kommunisten mussten Maslow politisch verdammen während sie zugleich seine Freilassung forderten.
Er wurde zu vier Jahren Haft mit nachfolgender Ausweisung verurteilt, wegen seines schlechten Ge-
sundheitszustands jedoch im Juli 1926 beurlaubt; auch die Ausweisung wurde aufgehoben, kurz bevor
er im August zusammen mit Ruth Fischer aus der Partei ausgeschlossen wurde. Der Prozess gegen die
KPD-Zentrale als Ganzes ist jedoch in der gesamten Weimarer Zeit nicht zustande gekommen.
174 Dr. Ernst Hegewisch (1881–1952) hatte als Hauptverteidiger der Verfolgten des Hamburger Auf-
stands Hugo Urbahns verteidigt, der die Verantwortung übernommen hatte. Seine Linie, es habe sich
nicht um einen geplanten Aufstand, sondern um die Abwehr einer faschistischen Drohung gehan-
delt, war erfolgreich (Schneider/Schwarz/Schwarz: Die Rechtsanwälte, S. 151).
470 1924–1929
z[ei]t fuer den Tscheka-Prozess gegeben hatte, auch die Verteidigung im Zentralepro-
zess fuehren sollte. Ein definitiver Beschluss ist jedoch nicht gefasst worden.
3. Vor dem Maslow-Prozess hat am 31. 8. 25 eine Konferenz zwischen den Verteidi-
gern Dr. Rosenfeld,175 Wolff176 und den angeklagten Genossen Grylewicz und Schlecht
einerseits, sowie den Mitgliedern der Zentrale, Dengel, Ruth Fischer andererseits
stattgefunden. Bei dieser Konferenz handelte es sich hauptsächlich um die Frage, ob
die Veroeffentlichung des Briefes des Exekutivkomitees fuer die Fuehrung des Prozes-
ses und fuer die Angeklagten selbst ein erschwerender Umstand sei.177 Die Konferenz
war damals einstimmig dieser Ansicht und auch der Genosse Dengel hat persoen-
lich zugesagt, sich fuer die Hinausschiebung dieses Briefes einzusetzen. Im uebrigen
wurden nebenher auch die allgemeinen politischen Richtlinien besprochen, die fuer
die Fuehrung des Maslowprozesses massgebend sein sollten. Fuer die Haltung und
Verteidigung des Genossen Maslow sollten bestimmt sein ein Brief, den der Genosse
Dengel an Maslow gerichtet hatte und dessen Inhalt Maslow zur Kenntnis gelangt
ist. Auf den Inhalt dieses Briefes, von dem der Genosse Dengel eine Abschrift besitzt,
verweise ich.178 Im uebrigen wurde betont, dass man in diesem Prozess hervorheben
sollte, dass zwar die Zentrale der K.P.D. im Jahre 1923 und 1924 einen gewaltsamen
Angriff auf die Verfassung nicht beabsichtigt habe, dass die Berliner Leitung und
die Angeklagten aber stets fuer die Diktatur des Proletariats eingetreten seien und
danach auch gehandelt hatten.
Nach diesen gegebenen Richtlinien hat sich dann auch die Verteidigung der
Angeklagten und ihrer Vertreter gerichtet.
Der Genosse Schlecht hat mir nun weiter mitgeteilt, dass es Maslow und den
uebrigen angeklagten Genossen zum Vorwurf gemacht wird, dass sie auf die damals
bestehenden Parteidifferenzen eingegangen sind. Es war aber nach dem Inhalt der
Akten und insbesondere den beschlagnahmten Urkunden (Brief Maslow an die
Bezirksleitung Berlin, Scholem und Ruth Fischer, Brief Lewins [d.i. Max Levien?] an
Maslow, Brief Brandlers an Koenen etc.) ganz unmoeglich, einer Eroerterung dieser
Dinge auszuweichen, da dieser Brief auf Antrag des Oberreichsanwalts verlesen
und dem Vorsitzenden des Staatsgerichtshofes zum Gegenstand einer Befragung
der Angeklagten gemacht wurden. Die Angeklagten und insbesondere Maslow sind
in moeglichst ausweichender schonender Weise ueber diese Differenzen hinwegge-
175 Dr. Kurt Rosenfeld (1877 Marienwerder – 1943 New York), war Verteidiger Im Tscheka-Prozess
und später u.a. Verteidiger von Carl von Ossietzky, bevor er zwangsausgebürgert wurde (Schneider/
Schwarz/Schwarz: Die Rechtsanwälte, 243).
176 Es handelt sich um Dr. Arthur Wolf (1888 Köln – 1962 Düsseldorf), einer der Verteidiger im Tsche-
ka-Prozeß, der später aus der KPD austrat und SPD-Mitglied wurde (Schneider/Schwarz/Schwarz: Die
Rechtsanwälte, S. 303f.)
177 Gemeint ist der „Offene Brief“ der Exekutive an die KPD zur Abstrafung von Maslow und Fischer.
Der Brief wurde am Tag der Prozesseröffnung gegen Maslow u.a. von der KPD veröffentlicht.
178 Am 11.9.1925 hatte das ZK der KPD eine Resolution zum Maslow-Prozess verabschiedet, auf die
sich das vorliegende Schreiben vermutlich bezieht (SAPMO-BArch, RY 1/I 2/1/30).
Dok. 137: [Moskau], 9.10.1925 471
gangen. Maslow hat stets betont, dass er es bedauern muesse, ueberhaupt auf diese
Dinge einzugehen und dass er es abgelehnt haette, das zu tun, wenn ihm nicht vom
Vorsitzenden darüber Vorhaltungen gemacht worden wären.
Ich bin auf Wunsch zu einer muendlichen Ruecksprache bereit. Der Prozess ist
auf jeden Fall so gefuehrt worden, dass die Stellung der Angeklagten im Zentral[e]-
Prozess nicht verschlechtert worden ist, im Gegenteil, sie ist auch durch diesen
Prozess in jeder Hinsicht erleichtert worden.
Am 1.10.1925 nahm das Politbüro des ZK der KP Russlands einen nicht weiter ausgeführten Vorschlag
Maksim Litvinovs bezüglich der verurteilten deutschen Studenten an.179 Vermutlich handelte es sich
um den Vorschlag, Kindermann und Wolscht zu begnadigen. Bis zur Überstellung dauerte es jedoch
noch ein Jahr. Von Dittmar soll nach offizieller Auskunft des Außenkommissariats am 23.3.1926 in OG-
PU-Haft an Herzversagen gestorben sein. Ein von Grigorij Sinowjew eingebrachte Diskussionspunkt
zur Lage in den kommunistischen Parteien im Ausland wurde hingegen „verschoben“.180
Am 7.10.1925, als die Verhandlungen mit den Deutschen um den Handelsvertrag endlich vor einem
Ende standen, beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, den Vertrag auf Grundlage der vor-
her erfolgten Beschlüsse unterzeichnen zu lassen. Die letzte Streitfrage, nämlich die Besteuerung der
Berliner Handelsvertretung, wurde dahingehend entschieden, daß man bereit sei, „höchstens eine
halbe Million Rubel“ Steuern zu zahlen. Am 13.10.1925 schließlich billigte der Rat der Volkskommis-
sare den Text des Vertrags.181
Dok. 137
Bitte Clara Zetkins an Stalin um Audienz für ein KPD-Mitglied
[Moskau], 9.10.1925
Beste Gruesse
[Sign.:] Klara Zetkin
Dok. 138
Antwortbrief Stalins an Clara Zetkin über sein Interesse an den
Vorgängen in der KPD
Moskau, 10.10.1925
Ihren Brief habe ich erhalten. Ich bin in der Tat an objektiver Information über die
Lage in der Deutschen Kompartei interessiert, vielleicht nicht weniger, als an den
lebenswichtigsten Fragen des Aufbaus in unserem Land. Ich kann jedoch zu meinem
großen Bedauern vor Montag nicht mit dem aus Deutschland angereisten Genossen
über die Angelegenheiten der Deutschen Kommunistischen Partei sprechen. Deswe-
gen bitte ich Sie, diesen Genossen zu überreden, Informationen über die Fragen, über
die er am besten Bescheid weiß, mir schriftlich dazulassen.
Am 15.10.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, der Einberufung des VI. erweiterten
Plenums des Exekutivkomitees der Komintern für Ende November zuzustimmen.183 Auf Antrag Sinow-
jews vom 2.11.1925 wurde die Einberufung dann auf Januar 1926 verschoben.184 Die Plenumssitzung
des EKKI fand letztendlich vom 17.2 bis 15.3.1926 statt.
im Oktober-November 1923 handelte. Tenner wurde als „Rechter“ 1925 aus der KPD ausgeschlossen,
dann wieder aufgenommen. 1929 endgültig ausgeschlossen, schloss er sich der SAP an.
183 RGASPI, Moskau, 17/3/523, 6.
184 RGASPI, Moskau, 17/3/527, 3.
Dok. 139: Moskau, 19.10.1925 473
Dok. 139
Referat eines sowjetischen Militärspezialisten über den Zustand
und die Aufgaben der kommunistischen Militärorganisation in
Deutschland
Moskau, 19.10.1925
Streng geheim
1
Die Periode zwischen der Niederlage der Revolution im Jahre 1923 und (ungefähr)
Anfang 1925 war im allgemeinpolitischen Sinne eine Periode, in der es noch keine defi-
nitive Klarheit über das Tempo der Ereignisse in Deutschland gab. Bekanntlich ging
man von zwei Möglichkeiten aus: eine neue revolutionäre Welle bricht in Deutschland
in nächster Zeit aus, oder die andere – die Revolution in Deutschland verzögert sich
um weitere Jahre. Diese Unbestimmtheit der gesamtpolitischen Situation spiegelte
sich in der Organisationsstruktur, in den Aufgaben und im Charakter der Arbeit der
Militärorganisation. Zwar wurden im Laufe des Jahres 1924 in ihr große organisatori-
sche Veränderungen vorgenommen (Hundertschaften, Partisanenverbände wurden
abgeschafft, Fünfergruppen u.a. wurden geschaffen) und der Arbeitsumfang wurde
verringert. Doch andererseits war die Arbeit der Organisation in dieser Zeitspanne
und selbst Anfang 1925 mit dem Stempel der Arbeit der Organisation im Jahre 1923
versehen, wenn auch in verringertem und verändertem Umfang. Sie besaß Massen-
charakter (bis zu 30.000 Pers.), es wurden große Geldmittel – 15.000 Dollar monat-
lich – ausgegeben, der Charakter der Arbeit war vor allem militärisch – nämlich die
Herstellung und (durch ihre Erbeutung von den Faschisten) Beschaffung von Waffen,
regelmäßige militärische Ausbildung usw. Die Arbeit in Armee und Polizei wie auch
in faschistischen Verbänden, [sowie] die Arbeit im RFB185 wurde zwar durchgeführt,
doch nicht in genügender Breite.
Jedoch machte die Stabilisierung des deutschen Kapitalismus sowie die Erkennt-
nis, dass sich die Entwicklung der Revolution in Deutschland verzögerte (Anfang 1925),
und dass die KPD zugleich vor anderen unmittelbaren Aufgaben stand, eine Verände-
rung des Umfangs und der Aufgaben der Militärorganisation entsprechend der heuti-
gen politischen Situation und der Aufgaben der Partei notwendig. Die Veränderungen,
die die Organisation im Jahre 1925 über sich ergehen lassen musste, sind folgende:
a) das Monatsbudget wurde von 15.000 auf 8.000 Dollar (März), und anschlie-
ßend auf 6.000 Dol. (Oktober) gekürzt;
b) der personelle Bestand der bezahlten Mitarbeiter wurde von 90 Pers. Anfang
des Jahres auf 23 im Oktober gekürzt; die Kürzungen betrafen sowohl das Zentrum als
auch die Regionen – es wurden 28 bezahlte Leiter der Organisation in den Bezirken
gestrichen;
c) die Waffenherstellung wurde eingestellt, die Aktivität zu ihrer Beschaffung ein-
geschränkt, Waffenübungen eingestellt;
d) die Auflage der Zeitschrift der Militärorganisation, Vom Bürgerkrieg, wurde von
15.000 Ex. monatlich auf 5.000 Ex. zweimonatlich reduziert.
Diese Veränderungen wurden selbstverständlich nicht alle auf einmal, sondern nach
und nach durchgeführt. Zeitgleich wurden von der Leitung der Organisation Überle-
gungen zu den Aufgaben der Organisation in der Periode des verlangsamten Tempos
der Entfaltung der Revolution angestellt, die vom Politbüro des ZK bestätigt wurden.
Diese Aufgaben sind:
a) Zersetzung (Arbeit in der Armee, Polizei, Reichsbanner186 und den freiwilligen
Militärverbänden der Bourgeoisie);
b) Aufklärung und Gegenaufklärung;
c) Rotfrontkämpferbund;
d) Vorbereitungsarbeit O[rdner-]D[ienst].187
186 Reichsbanner: Die SPD verfügte 1923 noch nicht über eine reichsweite militärische Selbstschutz-
organisation. Im Regierungsbezirk Magdeburg und Anhalt entstand 1923 unter Leitung des Redak-
teurs Karl Höltermann die ca. 25.000 Mann umfassende Republikanische Notwehr. Im Frühjahr 1924
wurde dann im Einvernehmen mit dem SPD-Parteivorstand das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold ge-
gründet. In entscheidenden Cäsuren, wie dem „Papenschlag“ 1932 oder der „Machteroberung“ Hit-
lers verzichtete die Führung unter Druck der SPD-Spitze darauf, die Hunderttausende Mitglieder zu
mobilisieren. Siehe: Karl Rohe: Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und
Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf, Droste, 1966;
Richard Saage (Hrsg.): Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Politische Konzeptionen der Sozial-
demokratie zwischen den Weltkriegen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1986; Helga Gottschlich: Zwi-
schen Kampf und Kapitulation. Zur Geschichte des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Berlin(-Ost),
Dietz, 1987.
187 Zum Ordnerdienst (OD), siehe u.a. Dok. 85.
Dok. 139: Moskau, 19.10.1925 475
2
a. Zersetzung
[...] Praktische Arbeit wird geleistet betr.:
a) Verbreitung von Literatur unter Soldaten und Polizisten;
b) Aufbau von Verbindungen mit einzelnen Soldaten und Polizisten, Organisie-
rung von Kommunisten- und Sympathisantenzellen in Armee- und Polizeieinheiten;
c) Versorgung der Redaktionen von Parteipresseorganen sowie der Komfraktio-
nen des Reichstags und der Landtage mit Materialien zur Zersetzung zwecks ihrer
Einbringung in die Sitzungen von letzteren. [...]
Was die Ergebnisse der Zersetzungsarbeit angeht, so muss man erstens darauf hin-
weisen, dass man in der heutigen politischen Situation keine effektiven äußeren
Erscheinungsformen dieser Arbeit erwarten kann, was vor allem die Reichswehr
betrifft. Doch nichtsdestoweniger gibt es eine ganze Reihe von Anzeichen, die auf
eine positive Wirkung der Zersetzungsarbeit hinweisen.
[...] Gegenwärtig (Oktober) wird in Berlin eine Delegation von Polizeibeamten zur
Erkundung der Lebensbedingungen der Polizei in der UdSSR organisiert. Die Reise
der Delegation soll offenbar von der Regierung verboten werden, doch allein schon
die Tatsache ist bemerkenswert.
Die Solidarität der Polizei mit der Kompartei kommt auch darin zum Ausdruck,
dass einzelne Polizisten in verschiedenen Städten im Vorhinein (anonym) über bevor-
stehende Verhaftungen, Durchsuchungen und überhaupt Maßnahmen der Polizeior-
gane gegen die Kompartei Mitteilung erstatten. Mancherorts lässt sich oft eine durch-
aus loyale Haltung der Polizei zu Demonstrationen und Versammlungen feststellen,
die von der Kompartei veranstaltet werden. [...]
Was die Armee angeht, so ist, wie gesagt, eine Wirkung der Zersetzungsarbeit
angesichts ihrer Abgeschlossenheit und Abschottung vom gesellschaftlichen Leben
nur schwer feststellbar. Dort ist die Arbeit selbst auch schwieriger als in der Polizei.
Doch auch da machen in letzter Zeit Fälle von Verbrüderung zwischen Soldaten und
Arbeitern auf Versammlungen und Demonstrationen der letzteren auf sich aufmerk-
sam. Es gibt keine Kommunistenzellen in der Armee, doch es gibt Verbindungen zu
einzelnen Soldaten, die unsere Aufgaben zur Verbreitung von Literatur umsetzen. [...]
Die Zersetzungsarbeit unter den französischen Truppen wurde im Mai dieses
Jahres an die Militärorganisation übergeben. Von dem Oktober an sind zu ihrer Durch-
führung 3 bezahlte Genossen tätig: ein Franzose und zwei Deutsche; vor Oktober gab
es 7 Personen (ein organisatorischer Lapsus).188 [...]
Die Leitung der Zersetzung besorgt ebenfalls die Aufklärung; erste (für die Rote
Armee) durchaus wertvolle Materialien über die französische Armee, die von ihr
besorgt wurden, sind ein Zeichen dafür, dass diese Arbeit erfolgversprechend ist.
188 Siehe zur Zersetzungsarbeit unter den französischen, belgischen und englischen Soldaten Dok. 121.
476 1924–1929
c. Rotfrontkämpferbund
Eines der wirkungsvollsten Mittel zur Zersetzung des sozialdemokratischen Reichs-
banners, wie auch der Militärverbände der Bourgeoisie, ist bzw. wäre der [Rot]Front-
kämpferbund. Zur Zeit zählt er über 100.000 Personen, von denen annähernd 50%
Kommunisten sind. Bisher schenkte die Partei dem Bund nur ungenügend Aufmerk-
samkeit, woraus sich seine vergleichsweise geringe zahlenmäßige Stärke erklärt. [...]
d. Vorbereitungsarbeit (OD)
Noch in der ersten Jahreshälfte wurde in fast allen Bezirken die militärische Schulung
der Mitglieder der Organisation mehr oder weniger regelmäßig durchgeführt, doch als
sich in den Parteimassen das Bewusstsein verfestigte, dass man in der nächsten Zeit
nicht mit dem Näherrücken einer neuen revolutionären Welle rechnen dürfe, sank
unter den Mitgliedern der Organisation das Interesse an Militärkunde (eine analoge
Erscheinung [gab es] bei uns in der Militärorganisation in den Jahren 1907–8).190 Doch
es sank nicht nur das Interesse an der [militärischen] Vorbereitung, sondern es ver-
ringerte sich auch beträchtlich die Mitgliederzahl der Organisation. Aktuell werden in
ganz Deutschland um die 3–5000 Pers[onen] gezählt, die in Gruppen organisiert sind.
All diese Personen sind bis zum letzten Mann in den Frontkämpferbund eingetreten
189 Sowohl die Militäraufklärung GRU als auch die Auslandsabteilung der GPU besaßen Residen-
turen in Berlin. Nach Wollenberg war in der KPD für den Apparat der Roten Armee der Deckname
„Klara“ – von Krasnaja Armija – und „Grete“ für den Apparat der GPU geläufig. Siehe: Wollenberg:
Der Apparat: S. 14.
190 D.h. nach dem Scheitern der russischen Revolution von 1905.
Dok. 139: Moskau, 19.10.1925 477
und führen dort ihre Arbeit durch, doch damit hat die Militärorganisation (OD) zu
einem gewissen Grad ihr Profil als illegale Organisation verloren. Wir sehen dieses
Phänomen nicht als negativ an, denn statt einer kleinen, illegalen Organisation, die
gegenwärtig keine politische Bedeutung hat, gibt es eine große, legale Organisation –
den [Roten] Frontkämpferbund. Neben seiner Hauptaufgabe hat letzterer eine gewisse
Zahl von Aufgaben vom OD übernommen: Die Bewachung von Kundgebungen, Ver-
sammlungen, Verbreitung von Literatur (während der Wahlkämpfe) usw. Wir sind der
Meinung, dass man gegenwärtig die illegale Organisation insoweit bewahren muss,
als dies zur Durchführung der wirklichen illegalen Arbeit – Zersetzung, Aufklärung,
Aufbewahrung von Parteieigentum (Waffen) u.a. – notwendig ist, doch besteht zu
diesem Zweck nicht die Notwendigkeit, eine große Organisation zu besitzen, sondern
ein kleines Kader zuverlässiger Genossen.191 [...]
3
Somit ist die gegenwärtige Militärorganisation mit derjenigen von 1924 bei weitem nicht
vergleichbar. Mit der Veränderung der politischen Situation haben sich die Aufgaben
und damit auch die Struktur der Organisation verändert. Wir sind jedoch der Auffas-
sung, dass die Organisation, wie sie zur Zeit beschaffen ist, das einzig richtige ist und
ihre Daseinsberechtigung daraus bezieht, dass sie nicht nur nicht von der Partei iso-
liert ist (sie wäre isoliert, wenn sie gegenwärtig hermetisch konspirativ wäre und nur
Militärkunde betreiben würde), sondern im Gegenteil die allgemeine Arbeit der Partei
bereichert und ergänzt. Auch werden über diese Arbeit Militärkader ausgebildet.
Im Großen und Ganzen muss die Arbeit in Zukunft in die gleiche Richtung geführt
werden, jedoch mit einer Verlagerung des Schwerpunkts auf die Arbeit des Rotfront-
kämpferbunds. Für ihn müssen größere Geldsummen und Personalkräfte zu Verfü-
gung gestellt werden, als dies bisher der Fall gewesen ist.
Am 29.10.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, eine Delegation der “Arbeiterju-
gend“ Deutschlands, Frankreichs, Englands, Belgiens und der Tschechoslowakei (insgesamt 52 Per-
sonen) in die Sowjetunion einzuladen.192
Am 5.11.1925 behandelte das Politbüro des ZK der KP Russlands einen nicht näher definierten „Auf-
trag der deutschen [Rot-]Frontkämpfer an Tomskij“. Zu dieser Zeit fanden Fahnenübergaben sowje-
tischer Arbeiter und andere propagandistische und symbolische Solidaritätshandlungen zur Unter-
mauerung des „Schutz- und Trutzbündnisses“ mit der Sowjetunion statt.193
Dok. 140
Bericht an die Komintern über die innerparteilichen
Auseinandersetzungen mit der „Linken“ und der „Rechten“ auf
der Parteikonferenz der KPD
Berlin, 3.11.1925
194 Quer verlaufender Stempel (russ.): „Sekretariat des Vorsitzenden des EKKI. Eingang vom
6.11.1925. Eingangsnr. 262/s 1925.“
195 Förster: Der Bericht ist handschriftlich von „Förster“ gezeichnet, dabei handelte es sich zweifels-
frei um einen leitenden Funktionär aus der unmittelbaren Umgebung Thälmanns, wie bspw. Philipp
Dengel oder auch Thälmann selbst. Im ca. 20.000 Pseudonyme enthaltenden Verzeichnis von Pierre
Broué wird eines der Pseudonyme von Thälmann mit „Försterling“ angegeben (Broué: Histoire de
l’Internationale Communiste).
196 Die 1. Reichsparteiarbeiterkonferenz fand vom 31.10.1925 bis zum 1.11.1925 statt; sie beendete de-
finitiv die von der Komintern als „persönliche Diktatur“ bezeichnete Ruth-Fischer-Ära, ohne jedoch
den Linkskurs selbst abzulösen. Von den 249 erstmals auf Grundlage der Betriebszellen gewählten
Delegierten gehörten nur noch ca. 33 der als Hauptfeind dargestellten „kominternfeindlichen Ul-
tralinken“ (Scholem, Rosenberg, Katz u.a.) an. Die neue leitende Gruppe wurde von den Hauptre-
ferenten Thälmann und Dengel gebildet, unter Anwesenheit von Manuilski (Ps. „Robert“) als Emis-
sär der Komintern. Dieser forderte einen Umbau der Parteispitze, die fortan nicht mehr von „halb
künstlerische(n), halb literarischen Bohémiens“, sondern von „linke(n) Arbeiter(n) (Zwischenrufe:
sehr wahr!)“ gebildet werden sollte. Unmittelbar nach der Konferenz beschloss ein ZK-Plenum am
11.11.1925, Ruth Fischer und Maslow aus dem Politbüro auszuschließen (siehe ausführlich: Weber: Die
Wandlung, I, S. 133–137).
Dok. 140: Berlin, 3.11.1925 479
3.) Katastrophaler und vollständiger Bankerott von Ruth Fischer. Die Verlesung
von Ruths Brief wurde mit minutenlangem höhnischem Gelächter, sowohl seitens
unserer Leute, als auch der Ultralinken aufgenommen. Das war die einzige Frage,
in der auf der Konferenz sozusagen Einmütigkeit bestand. Noch niemals hat bei uns
eine Führung binnen zwei Monaten – vom 1. September bis zum 1. November einen so
furchtbaren Zusammenbruch vor der ganzen Partei erlebt.
4.) Die Ultralinken sind natürlich noch etwas stärker, als ihre Delegiertenzahl
auf der Konferenz zeigt. Sie haben außer Wedding vor allem Leipzig-Stadt und Han-
nover-Stadt (nicht die Bezirke!) in den Händen. Unser scharfes Vorgehen hat aber
nicht geschadet, sondern im Gegenteil einzelne ultralinke Arbeiterelemente zur
Annäherung an uns veranlaßt. Es gibt jetzt, abgesehen von der Scheidung zwischen
Arbeitern und Intellektuellen, zwei Strömungen in der Ultralinken: 1. die Richtung
Scholem, die entschlossen den Kampf gegen die Komintern fortsetzen wird und dabei
die Maslow-Gruppe als das kleinere Übel betrachtet; 2. mehrere Ultralinke aus der
Provinz, die immerhin die neue Führung für besser als die Maslow-Gruppe halten und
sich gegen die demagogischen Methoden Scholems wenden.
5.) Es kam auch zu einer sehr richtigen Abgrenzung von den Rechten. Meyer hielt
eine höchst diplomatische Rede, kühl bis ans Herz, in der er auf Teddys [d.i. Thäl-
manns] Aufforderung, er möge seine Fehler anerkennen, mit der Gegenfrage antwor-
tete: „Worin bestehen eigentlich unsere Fehler?“ Teddy beantwortete das in seinem
Schlusswort klar, aber kameradschaftlich. Gleichzeitig gab Siewert, einer der treusten
Brandler-Anhänger, eine Erklärung zu Gunsten Brandlers und Thalheimers ab, wobei
er sich auf den Offenen Brief des EKKI.’s berief. Darauf antwortete sowohl Robert
(der EKKI.-Vertreter) [d.i. Manuilski], als auch Teddy mit der Erklärung, daß sie jeden
Vorstoß der Brandleristen schonungslos bekämpfen würden. Diese Stellungnahme
gegen die Rechten stärkte das Vertrauen unserer linken Delegierten.
6.) Der Ausschluss Scholems aus dem Z.K. war erst nach einem gewissen Kampf
möglich. Er ist aber absolut notwendig, um zu demonstrieren, daß wir die skrupellose
Fraktionsarbeit der Linken nicht weiter dulden werden.
7.) In der Maslow-Kommission haben wir noch keine organisatorischen Maßnah-
men beschlossen, sondern nur sein Verhalten scharf missbilligt, es als unwürdig
eines revolutionären Führers bezeichnet und im übrigen die ganze Sache der IKK.197
übergeben. Über diesen Beschluß wurde ein Schweigegebot erlassen. Wir schwäch-
197 Während Maslow während des Prozesses von Parteiseite noch für sein Verhalten gelobt wurde,
rügte die Internationale Kontrollkommission sein Verhalten als „unkommunistisch“. Am 10.2.1926
wurde sogar – noch während seiner Haftzeit – eine Broschüre gegen Maslows Verhalten vor Gericht
veröffentlicht; aus fraktionellen Gründen ging es Stalin, Thälmann und der avisieren neuen Partei-
führung offenbar um die Auslöschung seiner historischen Rolle im kollektiven Gedächtnis der Partei,
nicht zuletzt als einem der letzten noch verbliebenen theoretischen Köpfe im deutschen Kommunis-
mus. Die „Entscheidung“ der IKK über den nun von der Komintern Beschuldigten siehe Dok. 149. Zum
Fall Maslow gab die neue Parteiführung auch „Informationsmaterial für Parteiarbeiter“ heraus (Hrg.
vom ZK der KPD, Berlin 1926). Siehe: Weber: Die Wandlung, S. 160f.
480 1924–1929
ten unseren anfangs schärferen Resolutionsentwurf erheblich ab, was den großen
Vorteil hatte, daß der Beschluß von der Berliner Delegation einstimmig angenommen
wurde. Er wurde dann auch im Plenum einstimmig, auch von allen ehemaligen Ruth-
Maslow-Anhängern, gegen die Stimmenthaltung der 30 Ultralinken, angenommen.
[...]
Zur Behebung der Finanzkrise veröffentlichen wir heute den Aufruf der Parteikonfe-
renz mit folgenden drei Maßnahmen:
1. Parteinotopfer. Jeder Kommunist soll der Partei vom November bis zum Januar
mindestens 10,- M zur Verfügung stellen, was bei 100.000 Mitgliedern 1 Millionen
Mark bringen würde. (Natürlich nur eine „Orientierungsziffer“). Auch Sympathisie-
rende sollen Parteinotmarken im Werte von 50 Pfg. kaufen.
2. Umfassende Werbearbeit mit der Losung: Verdoppelung der Zahl der Parteimit-
glieder und Zeitungsabonnenten. Es soll ein „Kominternaufgebot“ geworben werden.
3. In jedem einzelnen Betrieb soll eine Betriebszelle gegründet werden.
198 1925 wurde der Berliner Rundfunk gegründet. Seinen Sitz hatte er in der Lützowstraße im Bezirk
Tiergarten.
Dok. 140a: Berlin, 27.11.1925 481
Nach außen hin wird dieser Appell nicht schädlich wirken, da infolge der vielen
Wahlen auch alle bürgerlichen Parteien in größter Finanzkrise sind. (Das ist auch ein
Grund, warum der Reichstag nicht aufgelöst wird).
Zum Schluß gab die Parteikonferenz die Losung heraus:
„Die Diskussion ist beendet. Jetzt mit allen Kräften an die praktische Arbeit“.
Am 12.11.1925 beschloss das Politbüro des ZK der KP Russlands, die Konzessionsverhandlungen mit
der Firma Junkers zur Flugzeugproduktion nicht weiterzuverfolgen und den Bruch zu avisieren. Statt-
dessen sollte der Kurs auf die Verstärkung der autonomen Flugzeugproduktion in der Sowjetunion,
die Sicherung der notwendigen Rohstoffe sowie die Rekrutierung von Spezialisten im Ausland gerich-
tet werden.199
Dok. 140a
Brief der KPD-Führung an Sinowjew über den Verbleib von Ruth
Fischer in Moskau
Berlin, 27.11.1925
Typoskript mit Briefkopf der KPD-Zentrale, deutsch. RGASPI, Moskau, 324/1/554, 15–15v. Erstveröf-
fentlichung.
199 RGASPI, Moskau, 17/162/2, 194–195. Publ. In: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 93–94.
482 1924–1929
che in Gestalt einer ganzen Reihe fraktioneller Briefe Ruth Fischers an Grylewitz
[d.i. Anton Grylewicz], Schlecht, Golke, Torgler und Kögler [d.i. Theodor Koegler]. In
diesen Briefen macht Ruth Fischer nicht nur Mitteilungen über die internen Präsidi-
umssitzungen, denen sie in Moskau beiwohnt, sondern sie gibt ihren Leuten auch
Anweisungen für die Opposition gegen das Z.K. Wir führen das geschickte Doppel-
spiel der Ruth-Anhänger bei den Sekretärswahlen auf dem Berliner Bezirksparteitag
u.a. hierauf zurück.
Das zeigt: Ruth Fischer wird den Kampf mit allen Mitteln der Sabotage und Resis-
tenz fortsetzen, sobald sie hier ist. Sie kann das in Berlin selbst zehnmal mehr, als
wenn sie in Moskau bleibt.
2. Falls Ruth Fischer jetzt herkäme, würde sie eine ganze Reihe noch schwanken-
der Genossen nicht nur im Z.K., sondern auch in den wichtigsten Bezirken beeinflus-
sen und teilweise zu sich herüberreissen. In einigen Monaten wird das bereits ganz
anders sein; denn wir sind gerade jetzt im Begriff, viele dieser noch schwankenden
Genossen fest für uns zu gewinnen.
4. Es besteht keineswegs irgendwelche Unzufriedenheit der Mitgliedschaft, auch
nicht der oppositionell gestimmten, und zwar in Berlin ebensowenig wie in einem
beliebigen anderen Bezirk, über die Abwesenheit Ruth Fischers. Weder auf der
Reichskonferenz, noch auf dem Berliner Bezirksparteitag, noch in den Organisatio-
nen selbst hat sich auch nur die leiseste Schwierigkeit in dieser Frage ergeben. Wir
selbst waren überrascht, dass die Abreise ohne jedes Echo blieb. Das erklärt sich wohl
daraus, dass Ruth Fischer sich während der Diskussion nicht, wie z.B. Scholem, offen
zum Kampf stellte, sondern nur „diplomatisch“ hinter den Kulissen blieb. Jetzt aller-
dings hat Ruth Anweisungen an ihre Anhänger gegeben, die Frage ihrer Rückkehr
aufzustellen.
Selbstverständlich denken wir nicht daran, etwa eine endgültige Lösung des
Kampfes durch die mechanische Fernhaltung Ruth Fischers zu erwarten. Wir sind
uns vollkommen bewusst, dass man sie nach einiger Zeit zurückkehren lassen muss.
Nur halten wir den jetzigen Moment für so ungünstig wie nur möglich.
Aus diesem Grunde schlagen wir mit grösster Dringlichkeit vor, Ruth Fischer
noch in Moskau zu lassen.200
Mit kommunistischem Gruss
[Sign.:] E. Thälmann
Dengel
A. Ewert
200 Ruth Fischer wurde tatsächlich in Moskau festgehalten, ihr gelang es jedoch, unerlaubt am
5.6.1926 nach Deutschland zurückzureisen. Aufgrund des Disziplinbruchs wurde sie daraufhin aus
dem EKKI entfernt und zusammen mit Maslow am 20.8.1926 aus der KPD ausgeschlossen.
Dok. 140a: Berlin, 27.11.1925 483
Am 3.12.1925 fällte das Politbüro des ZK der KP Russlands den Beschluss, die Partei in „Kommunisti-
sche Partei (Bolschewiki) der UdSSR“ umzubenennen. Auf dem XIV. Parteitag jedoch (18.–31.12.1925)
wurde die Partei in „Kommunistische Allunions-Partei (Bolschewiki)“– VKP(b) – umbenannt, bevor sie
schließlich 1952 den bereits vorher gebräuchlichen Namen „Kommunistische Partei der Sowjetunion“
(KPdSU) erhielt.201
Am 10.12.1925 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion im Zusammenhang mit den „ver-
hafteten Deutschen“ den Beschluss, die geltende Regelung, wonach die OGPU alle die Verhaftung
von Ausländern betreffenden Angelegenheiten mit dem Außenkommissariat zu koordinieren hatte,
zu bekräftigen. Die OGPU wurde verpflichtet, unter Wahrung strengster Konspirativität alle diesbe-
züglichen Informationen dem Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten selbst oder seinem
Stellvertreter weiterzugeben.202 Innerhalb einer Frist von 24 Stunden sollte dann seitens des Außen-
kommissariats eine Antwort gegeben werden.
Am 25.12.1925 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf Vorschlag von Litvinov und
Jagoda ein Beschluss zu den verhafteten Deutschen. Der Bitte um Rücksendung der Archive sowie
des Pakets sollte stattgegeben werden. In der Antwort an die deutsche Seite sollte zum Ausdruck
gebracht werden, dass man zwar formell im Recht sei, im Grunde jedoch sein Bedauern ausdrücke.203
201 RGASPI, Moskau, 17/3/533; KPSS v rezoljucijach i rešenijach sʼʼezdov, konferencij i plenumov CK.
II: 1924–1930, Moskva, Gosudarstvennoe izdatelʼstvo političeskoj literatury, 1954, S. 192ff. Zugunsten
der Lesbarkeit wird hier und im Folgenden die Partei als „KP der Sowjetunion“ bezeichnet.
202 RGASPI, Moskau,17/162/2, 206.
203 RGASPI, Moskau, 17/3/536, 1.
1926
Die Sonderkommission des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion für „spezielle Bestellungen“
stellte am 9.1.1926 fest, dass die gemeinsame Arbeit mit der Reichswehr keinerlei Resultat gebracht
habe. In Zukunft solle sie daher nicht mehr gefördert werden, stattdessen sollte die technische Zu-
sammenarbeit mit dem Ausland in den Fokus gerückt werden.1 Am 11.1.1926 beriet das Politbüro
über einen „Bericht des Volkskommissariats für Finanzen über den Zustand und die Perspektiven un-
serer Devisenreserven und Möglichkeiten“. Dabei wurde es dem Volkskommissariat erlaubt, Gold im
Wert von 30 Millionen Rubel ins Ausland auszuführen, um die Zahlungen der sowjetischen Außenhan-
delskäufe sicherzustellen.2 Der allgemeine Beschluss wurde vom Politbüro am 14.1.1926 bestätigt,
zugleich sollte mit „verantwortlichen Vertretern Deutschlands“ ein Treffen vereinbart werden, um die
künftige Zusammenarbeit zu planen.3
Eine spezielle Kommission des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion legte am 9.1.1926 das Bud-
get der Komintern in Höhe von 4.800.000 (Rubel) für die Außenposten (kommunistische Parteien
usw.) sowie für das Moskauer Zentrum nebst Apparat in Höhe von über 1 Million Rubel fest. Dieses
Budget wurde am 14.1.1926 vom Politbüro bestätigt.4
Dok. 142
Leitlinien der Komintern zur Unterstützung des KPD-
Volksbegehrens zur Enteignung der ehemaligen Fürstenhäuser
und zur Regierungskrise der Weimarer Republik
Moskau, 23.1.1926
No. 2.
Moskau, 23. Januar 1926.
6 Im Januar 1926 wurde seitens der KPD und der SPD-Fraktion im Reichstag ein Antrag auf entschädi-
gungslose Enteignung der deutschen Fürstenhäuser eingebracht, wozu daraufhin im März ein Volks-
begehren für einen Volksentscheid (mit 12 Millionen Stimmen dafür) und am 20.6.1926 ein Volksent-
scheid durchgeführt wurde, der mit 14 Millionen Stimmen dafür aufgrund des Quorums scheiterte.
Eine Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und Intellektuellenkreise erfolgte, als 1925 auch
juristisch die Forderungen des deutschen Adels, dessen Besitztümer in der Novemberrevolution be-
schlagnahmt, jedoch nicht enteignet wurden, nach finanziellen Abfindungen, Entschädigungen und
Restitutionen lauter wurden. Man berief sich dabei auf den Artikel 153 der Weimarer Verfassung, der
das Privateigentum sichert. Nach dem von Reichspräsident, Kirchen und den konservativen Partei-
en abgelehnten Volksentscheid erfolgten finanzielle Kompromisse seitens der Landesregierungen
mit dem Adel, beispielsweise mit dem Haus Hohenzollern. Vgl. Otmar Jung: Direkte Demokratie in
der Weimarer Republik. Die Fälle „Aufwertung“, „Fürstenenteignung“, „Panzerkreuzerverbot“ und
„Youngplan“, Frankfurt am Main – New York, Campus, 1989, S. 49–65.
7 Die Kominternführung unterstützte die Kampagne nach Kräften. Aus einer Protokollnotiz des
Komintern-Präsidiums vom 14.5.1926 geht die Zusage über die finanzielle und logistische Unterstüt-
zung des KPD-Volksentscheids zur entschädigungslosen Fürstenenteignung hervor: „Protokoll Nr.
59. Sitzung des Präsidiums [des EKKI], 14.05.1926. streng vertraulich. Behandelt: 5. Informatorischer
Bericht über Deutschland. Beschlossen: 5. Den Bericht des Gen. Remmele zur Kenntnis zu nehmen.
Prinzipiell zu beschließen, die KPD bei der Durchführung des Volksentscheides zur entschädigungs-
losen Enteignung der Fürsten in aehnlicher Weise zu unterstützen, wie dies beim Volksbegehren der
Fall war. Die Frage soll in den nächsten Tagen durch die entsprechenden Organe des EKKI behandelt
werden. Zur Behandlung der Differenzen zwischen dem ZK der KPD und der Profintern zur Frage der
Ausschlüsse im deutschen Bergarbeiterverband eine Kommission aus den Gen. Remmele, Pjatnitzki,
Lozovskij, Nin, Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti], Manuilski und Kuusinen einzusetzen. Die Kommission
soll sich mit Gen. Sinowjew in Verbindung setzen. Frist 6 Tage. Verantwortlich: Ercoli. Falls noch
Differenzen bestehen bleiben, soll die Frage im Präsidium behandelt werden.“ (Schweizerisches Bun-
desarchiv, Bern, J II 94).
8 Die Kampagne zum Volksentscheid zeigte trotz ihres Scheiterns nicht nur das Potential eines ge-
meinsamen Vorgehens von SPD und KPD auf, sondern auch den Beginn eines moderateren Kurses der
KPD in der Periode 1926–1928. Siehe hierzu: Weber: Die Wandlung, I, 335f.
486 1924–1929
9 Hierzu diente u.a. ein „Offener Brief des ZK der KPD an die Vorstände der SPD, der Gewerkschaften
und des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes, die Bundesleitungen des Reichsbanners und des
RFB zum Kampf um einen Volksentscheid für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten“, vom
2.12.1925. Hierin hiess es: „Wir entnehmen einer Mitteilung des ‚Vorwärts’ vom 1. Dezember, daß auch
in den Kreisen der Sozialdemokratischen Partei die Frage der Herbeiführung eines Volksentscheides
für die Enteignung der fürstlichen Besitztümer eifrig erörtert wird.“ (Publ. in: Institut für Marxismus-
Leninismus: Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, S. 441–444).
10 Etwa ein Jahr später bildete die SPD (am 28.6.1928) mit dem Kabinett Hermann Müller die zweite
Große Koalition der Weimarer Republik mit der DDP, dem Zentrum, der BVP und der DVP. Die letzte
auf parlamentarischen Mehrheiten beruhende Regierung der Weimarer Republik hielt sich bis zum
Dok. 142: Moskau, 23.1.1926 487
3. Bei den ständigen Regierungskrisen, die eine fortlaufende Kette bilden, muss
die Partei eine Massenagitation führen, um die Arbeiter mehr und mehr zu überzeu-
gen, dass die Lösung der Krise auf der Grundlage des bürgerlichen Parlamentarismus
nicht möglich ist, dass der Ausweg aus den Schwierigkeiten Deutschlands im Kampf
der Massen um ein Sowjetdeutschland, um die Bildung einer Arbeiter- und Bauern-
regierung besteht. Die immer stärker werdenden Drohungen der Bourgeoisie mit der
offenen Diktatur ohne Parlament, mit der „Wirtschaftsdiktatur“, mit der „Regierung
mit dem Paragraph 48“,11 muss die Partei ausnützen, um den Massen den Bankrott
des Parlamentarismus klar zu machen und das Fortbestehen und Fortschreiten der
grossen sozialen Krise, deren Ausdruck die Regierungskrisen sind, die ihre Losung
erst mit der Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat finden kann.
4. Es ist die Aufgabe der Partei, die Politik der Sozialdemokratie zu durchkreu-
zen, wodurch sie die Frage der Regierungsbildung in den Vordergrund schieben will.
Die Partei muss klar zeigen, dass die Sozialdemokratie, ebenso wie die bürgerlichen
Parteien des Parlaments nur für die störungslose Fortsetzung der Regierungsmaschi-
nerie des bürgerlichen Staates Sorge trägt, und nicht die unerträgliche Not der Volks-
massen lindern will. Dem Kampfe der Sozialdemokratie um Ministerportfeuilles in
der bürgerlichen Regierung muss die Komm. Partei als die andere klare Linie den
Kampf um die elementarsten Interessen und sofortigen Minderung der Notlage der
Massen entgegensetzen.
5. Zu diesem Zwecke soll die Partei neben der Propaganda für die proletarische
Revolution, für die Arbeiter- und Bauernregierung folgende Taktik anwenden:
a) Agitation für die Forderung der sofortigen Auflösung des Reichstages und Aus-
schreibung von Neuwahlen.
b) Aufstellung von konkreten Parolen, die einerseits sofort zu verwirklichen sind
und deren Verwirklichung den notleidenden Massen mindestens die elementarste
Hilfe leisten kann, andererseits geeignet sind, die breitesten Massen zum Kampf zu
mobilisieren und zu organisieren. Die Lage erfordert sofortige Durchführung folgen-
der Notmassnahmen:
1. Sofortige ausserordentliche Winterhilfe aus Reichsmitteln für die Erwerbslo-
sen, Kriegsopfer, Sozialrentner.12
2. Rücksichtslose Massnahmen gegen weitere Betriebsstillegungen; sofortige
grossangelegte Notstandsarbeiten;
März 1930, sie brach wegen unüberbrückbarer Dissenzen über die Arbeitslosenunterstützung ausein-
ander.
11 Nach dem Kabinett Müller regierten alle weiteren Exekutiven bis 1933 nur noch als Präsidialkabi-
nette auf der Grundlage der Notverordnungen nach §48 der Weimarer Verfassung.
12 Winterhilfe: Ursprünglich von der Arbeiterwohlfahrt in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und
SPD aufgebautes Hilfswerk, das später durch das NS-Regime staatlich ausgebaut wurde. Das „Win-
terhilfswerk des Deutschen Volkes“, gegründet am 13.9.1933, war eine staatliche, in Berlin ansässige
Stiftung unter Leitung des Reichspropagandaministeriums, es unterstand der NS-Volkswohlfahrt. Fi-
nanziert wurde es durch mehr oder weniger freiwillige Spenden sowie eine Lotterie.
488 1924–1929
Um (Rück-)Zahlungen an die Deutsche Bank vornehmen zu können, beschloss das Politbüro des ZK
der KP der Sowjetunion am 25.1.1926, es der Staatsbank der UdSSR zu gestatten, Gold im Wert von 10
Millionen Rubel in Berlin zu verkaufen.15
Ein neuer „deutscher Konflikt“ wurde am 28.1.1926 im Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion disku-
tiert, dabei ging es um von der OGPU in Tiflis unrechtmäßig geöffnete deutsche Diplomatenpost. Das
NKID sollte eine Entschuldigung an die deutsche Regierung überbringen, die Schuldigen innerhalb
der OGPU sollten bestraft werden.16
Am 4.2.1926 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über die Zusammensetzung der
VKP(b)-Delegation auf dem VI. Erweiterten EKKI-Plenum, auf dem neben anderen aktuellen Fragen der
kommunistischen Bewegung auch die endgültige Zerschlagung der „Fischer-Maslow-Gruppe“ forciert
werden sollte. Das Poiltbüro beschloss, die Kominterndelegation durch Tomskij, Andreev, Molotov,
Uglanov, Vorošilov und Kujbyšev zu ergänzen, sowie Varga eine beratende Stimme zu übertragen.17
Am 11.2.1926 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, es dem VKP(b)-Emissär in
Deutschland, Vissarion Lominadze, zu untersagen, weiterhin in Auftritten und Artikeln im Ausland
über die Bekämpfung der Opposition in der russischen Partei zu berichten. Obwohl die VKP(b) be-
schlossen hatte, den inneren Machtkampf in der Partei nicht in die Komintern zu tragen, hatte Lo-
minadze Vorträge gegen die russische „Vereinigte Opposition“ in Deutschland und Italien gehalten.
Vermutlich auf Druck Sinowjews, der dies scharf kritisierte, wurde er nun nach Moskau zurückbe-
ordert.18 Am gleichen Tag erfolgte ein Beschluss des Politbüros „Bezüglich der Verhandlungen mit
Deutschland über langfristige Kredite“, worin der Vorschlag von Stomonjakov aufgegriffen wurde,
man solle, ein neues Reichsgesetz zur Förderung des Exports in die UdSSR ausnutzend, einzelne Ver-
träge mit deutschen Industriellen anstreben.19
Am 18.2.1926 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die von Sinowjew vorgelegten
Thesen zum VI. Erweiterten EKKI-Plenum anzunehmen, und zwar in der Form, wie sie von der VKP(b)-
Delegation im EKKI bestätigt wurden. Die Delegation hatte eine Reihe von Korrekturen und Punkte
eingebracht, die gegen die Opposition in der KP der Sowjetunion gerichtet waren.20 Am gleichen Tag
erfolgte ein Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion, worin ein Bestellplan des Rates
für Arbeit und Verteidigung (STO) in Deutschland bewilligt wurde.21
Dok. 143
Persönlicher Brief Ernst Thälmanns an Stalin zur Kritik am
Kominternvorsitzenden Sinowjew
Moskau, 21.2.1926
Geheim
Moskau, 21. Februar 26.
An Gen. Stalin, persönlich
Lieber Genosse!
Hierbei senden wir Ihnen unsere vorläufige, auf unserem Gespräch von heute morgen
basierende, Meinung über den politischen Bericht des EKKI.22 Dabei besitzen wir
weder eine korrigierte noch eine unkorrigierte Fassung des Protokolls des Berichts
(der Rede); die unten aufgeführten Punkte rekonstruierten wir aus dem Gedächtnis.
Kraft dessen sind einige Ungenauigkeiten möglich.
23 Der polnische Kommunist Henryk Stein (Ps. Domski) war Mitunterzeichner der linksoppositionel-
len „Erklärung der 83“, Amadeo Bordiga war der linkskommunistische Mitbegründer der KP Italiens,
der später wegen seiner Opposition gegen Stalin von Togliatti ausgeschlossen wurde. Arvid Gilbert
Hansen war ein Pionier der kommunistischen Bewegung in Norwegen und Anhänger Sinowjews.
24 Gemeint ist der 2. KPD-Parteitag in Heidelberg im Oktober 1919, bei dem sich der linke Flügel ab-
spaltete und die KAPD gründete.
25 Der „ultralinke“ Katz hatte gegen das ZK die Mehrheit der Partei in Hannover hinter sich gebracht
(siehe Dok. 140).
26 Aus dem folgenden Protokollauszug des Präsidiums der Komintern vom 13.1.1926 geht die öffent-
lich bekundete, feindliche Haltung der Komintern gegenüber dem in Deutschland vor Gericht stehen-
den Arkadi Maslow hervor, die auf Druck von Stalin und Bucharin zustande gekommen sein dürfte:
„Protokoll Nr. 42. Sitzung des Präsidiums, 13.01.1926. streng vertraulich. Behandelt: 9. Deutsche Frage
b) Angelegenheit Maslow. [Beschlossen:] 9b) Folgendem Vorschlag des Gen. Sinowjew zuzustimmen:
Das Präsidium ist prinzipiell solidarisch mit der IKK in ihrer Einschätzungen des Auftretens des Gen.
Maslow in seinem Gerichtsprozess. Das Präsidium stimmt zugleich dem Antrag des Gen. Stutschka
zu, ergänzend noch einige Genossen in der IKK zu vernehmen und bittet die IKK, zu einer der näch-
sten Sitzungen des Präsidiums, eine ausführliche motivierte Resolution zu beantragen. Den Antrag
der Gen. Fischer auf Entsendung eines Telegramms an die KPD zwecks Einstellung der Kampagne in
492 1924–1929
tei wurde nicht aufgeworfen. Die Gruppe Ruth Fischer–Maslow wurde in keiner Weise
charakterisiert, ihre Fehler nicht benannt).
Unsere Vorschläge: Hinweis auf die doppelte Buchführung und, nach dem Brief
des EKKI,27 auf die Ablehnung der Kampagne gegen die Erfüllung der „fürstlichen“
Forderungen durch Ruth Fischer („parlamentarischer Kretinismus“), Verweis auf den
Maslow-Prozess, eine Erklärung, dass Maslow und Ruth Fischer für die Leitung der
kommunistischen Partei verloren sind.28
4. Gleichzeitig mit der völligen Vernachlässigung des Kampfes gegen die Ultra-
linke wurden zweitrangige Fälle rechter Abweichung in Deutschland übertrieben, so
dass insgesamt eine völlige Umdrehung der Proportionen herauskam, eine falsche
Kampflinie. Wir fügen hinzu, dass die Kritik an den Rechten völlig angemessen
wäre, wenn gleichzeitig entschieden im internationalen Maßstab, und in Bezug auf
Deutschland noch entschiedener, die Linke verurteilt worden wäre (Beispiele: in
Bezug auf die deutsche Kompartei wurde nur die opportunistische Abweichung der
unbedeutenden Ortsgruppe Zeitz und der Brief Karl Beckers erwähnt).
Unsere Vorschläge: Nichterwähnung des Briefs von Karl Becker, da wir ihn unse-
rerseits nicht in der Presse bekanntmachen werden.29
der Presse und Organisation in Sachen Maslow abzulehnen. Sekr. Kuusinen.“ (Typoskript, deutsch.
RGASPI, Moskau, Auszüge Komintern (ohne Signatur, Karteischrank, Bl. 30).
27 Gemeint ist der „Offene Brief“ des EKKI an die KPD vom 1.9.1925, Hermann Weber zufolge „die
dritte entscheidende Wende in der Geschichte der KPD“ nach der Vereinigung mit der USPD 1921 und
der Niederlage des deutschen Oktober und ihren personellen Konsequenzen und als „völliger Bruch
mit dem bisherigen System“ bezeichnet (Weber: Die Wandlung, I, S. 120).
28 Der Protokollauszug des Komintern-Präsidiums vom 22.1.1926 enthält die folgende Formulierung Sta-
lins zur Verurteilung Ruth Fischers, Arkadi Maslows und Werner Scholems: „Protokoll Nr. 44. Sitzung des
Präsidiums, 22.01.1926. streng vertraulich. Behandelt: Bestätigung der Resolutionen zur deutschen Frage
[...] 2. Resolution zur Frage der deutschen Ultralinken. 1. Den Antrag der Gen. Fischer, die Beschlussfas-
sung dieser Resolution zu verschieben bis zur Erweiterten Executive und vorläufig nur die Linie des ZK im
innerparteilichen Kurs zu bestätigen, abzulehnen. Auf Antrag des Gen. Stalin den ersten Satz im letzen
Absatz der Resolution ‚gegen die rechten und ultralinken Elemente‘ zu streichen (und ins Protokoll einen
besonderen Beschluss aufzunehmen, der folgendermaßen lautet: ‚entsprechend der Auffassung, daß in
der KPD gegenwärtig die Ultralinke Gefahr die größte Gefahr darstellt und folglich die Parteilage jetzt in
erster Linie die schärfste Kritik gegen die Ultralinken motivierte (sowohl gegen die Gruppen Scholem, wie
auch gegen die Gruppe Maslow-Ruth Fischer die tatsächlich die Gruppe Scholem politisch deckt), hält das
Präsidium es für unzweckmässig, die Kritik gegen die Ultralinken dadurch abzuschwächen, daß in der
gegebenen Resolution gleichzeitig zum ähnlichen Kampf gegen die Rechten aufgefordert werden sollte,
wenn auch [der Kampf] gegen die Rechten als eine der notwendigen Aufgaben der Partei betrachtet [wird].
In diesem Falle verfährt das Präsidium in einer analogen Weise, wie unlängst bei der Annahme einer Reso-
lution zur französischen Frage, welche Resolution sich gegen die Gefahr seitens der Rechten richtete ohne
einen Vorbehalt über die Notwendigkeit des gleichzeitigen Kampfes gegen die Ultralinken in der franzö-
sischen Partei zu enthalten, obgleich der Kampf gegen die Ultralinken eine der Aufgaben dieser Partei
ist.‘ Dieser Beschluss ist durch einen Protokollauszug des ZK der KPD zur Kenntnis zu bringen.“ RGASPI,
Moskau, Auszüge Komintern, ohne Signatur, Karteischrank, Bl. 36–38).
29 Karl Albin Becker (1894–1942) gehörte allerdings ab 1927 dem ZK an, er wurde 1928/1929 als „Ver-
söhnler“ aus den Parteiämtern gedrängt.
Dok. 143: Moskau, 21.2.1926 493
5. Die Nichtverwendung von Erfahrungen und Erfolgen, die von der KPD während
der letzten Monate in der praktischen Arbeit erzielt wurden. Vor allem Nichtberück-
sichtigung dieser Erfolge auf allgemeinpolitischer Ebene seit dem Wechsel in der
Führung und dem richtigen innerparteilichen Kurs der KPD (Beispiele: Im allgemein-
politischen Bereich ungenügende Hinweise auf Erfahrungen der Anti-Fürsten-Kam-
pagne, das Fehlen der Hinweise auf die Ergebnisse der gewerkschaftlichen Arbeit
und der neuen Bauernpolitik. Im innerparteilichen Bereich das Fehlen der Hinweise
auf die Schaffung einer einheitlichen Führung, auf die Richtigkeit ihrer allgemeinen
Linie, auf die Übereinstimmung mit der Partei, auf die Assimilation breiter Schichten
all der arbeitsfähigen Elemente, die vorher abseits standen).
Unsere Vorschläge: Verweis auf den Erfolg der Anti-Fürsten-Kampagne, auf die Tat-
sache, dass in dieser Kampagne die Kompartei eine Führung erhielt, Verweis auf die
Erfolge in der Schaffung der proletarischen Einheitskomitees, auf die (internationale)
innerparteiliche Übereinstimmung infolge des richtigen Kurses der neuen Führung.
6. Das Verschweigen der Notwendigkeit und der politischen Unterstützung des
ZK, stattdessen sogar ein versteckter Schlag gegen das ZK (Beispiele: Fehlen der Soli-
darisierung mit dem ZK, die Entdeckung eines Unterschieds zwischen dem ZK [der
KP] Frankreichs, welches „ihren offenen Brief in Paris selbst verfasst“ habe, wäh-
renddessen „der offene Brief für das deutsche ZK in Moskau geschrieben wurde.“ Das
bedeutet einen Hinweis auf die Unselbständigkeit des ZK [der KP] Deutschlands in
Bezug auf Moskau, im Bezug auf die VKP).
Unsere Vorschläge: Die Passage über den offenen Brief streichen und durch eine
positive Formulierung ersetzen.
7. Bezüglich der Sowjetunion ein Verschweigen des sozialistischen Aufbaus. (Bei-
spiele: Während über den sozialistischen Aufbau nichts gesagt wurde, wurde die Frie-
denspolitik der Sowjetunion erwähnt, die angeblich am attraktivsten für das west-
liche Proletariat sei). Unserer Meinung nach ist genau der sozialistische Aufbau das
anziehende Moment.
Ergänzung. Wir würden gerne zu unseren praktischen Vorschlägen von heute
Morgen noch zwei Vorschläge hinzufügen: Wir hielten es für zweckmäßig, wenn Gen.
Sinowjew in einem Pravda-Artikel die ungenügend beleuchteten Punkte seiner Rede
(vergleichen Sie die oben aufgeführten Fragen) kompensieren würde und wenn die
von uns vorgeschlagenen Streichungen (Ergänzungen) nicht nur in die politischen
Rechenschaftsberichte, sondern auch in die stenographischen Berichte der Pravda
und in die internationale Parteipresse einfließen würden.
Im Auftrag
[Sign.:] Thälmann
494 1924–1929
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion nahm am 25.2.1926 die Thesen Lozovskijs „Über die
nächsten Aufgaben der Kommunisten in der Gewerkschaftsbewegung“ an. Darin wurde ein Einheits-
frontkurs gegenüber der „Amsterdamer“ Gewerkschaftsinternationale proklamiert.30
Am 4.3.1926 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über den weitreichenden mit
Deutschland abzuschließenden Neutralitätsvertrag (siehe Politbüro-Beschluss vom 15.4.1926). Da-
bei wurde beschlossen, es „als zweckmäßig anzuerkennen, dem Wunsch der deutschen Regierung
nach Unterzeichnung eines Vertrages vor dem offiziellen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund ent-
gegenzukommen.“ Weiter ging es um Detailformulierungen, wie etwa die Einfügung einer Passage
„über friedliche Mittel zur Lösung von zwischen beiden Verhandlungspartnern entstehenden Konflik-
ten, darunter sowohl über den Weg eines Schiedsgerichtes, als auch mit Mitteln der gegenseitigen
Verständigung“.31
Ebenfalls am 6.3.1926 befasste sich das Politbüro mit einer unbedachten Äußerung von Kliment
Vorošilov. Dieser hatte in einer in der Izvestija abgedruckten Rede Deutschland vorgeworfen, heimli-
che Aufrüstung zu betreiben. Brockdorff-Rantzau hatte sich wegen der Publikation entsetzt an Čičerin
gewandt, dies sei eine Denunziation Deutschlands vor der Entente. Čičerin ermahnte Vorošilov, künf-
tig alle seine außenpolitischen Auftritte vom NKID gegenlesen zu lassen, und schlug dem Politbüro
vor, in der Izvestija eine Richtigstellung zu publizieren, was auch angenommen wurde.32
Im Zusammenhang mit dem Bruch der Zusammenarbeit mit Junkers (siehe PB-Beschluss 12.11.1925)
beschloss das Politbüro am 11.3.1926 ebenfalls, eine Reise von Iosif Unšlicht nach Deutschland sei
unabdingbar, um mit dem Reichswehrministerium zu verhandeln.33
Auf Vorschlag Stalins wurden am 13.3.1926 im Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Diszipli-
nierung und der Führungswechsel in der KPD vorangetrieben, unter Einsatz illegitimer Mittel. Hierbei
wurde durch Ruth Fischers mehrmonatiges Festhalten in Moskau beschlossen. Der Protest Sinowjews
gegen diese Art der Entfernung von Genossen aus ihren Positionen wurde abgelehnt.34
Dok. 144
Nachfragen Stalins an Pjatnitzki zur Personalpolitik, Säuberung
und Gelderverteilung in Komintern-Angelegenheiten
[Moskau], 16.3.1926
An Gen. PJATNITZKI
Gen. Stalin bittet Sie um folgende Auskünfte:
1) Wie werden die Gelder unter den [kommunistischen] Parteien aufgeteilt? Wem
wird wie viel gegeben? Er bittet darum, diese Frage nicht ohne Wissen der russischen
Mitglieder des Präsidiums des EKKI zu entscheiden.35
2) Was macht Gen. Zaks-Gladnev in der Komintern?36 Welcher russische Funk-
tionär wird wohin kommandiert? Ebenfalls darf keine Versetzung ohne Wissen der
russischen Mitglieder des Präsidiums des EKKI beschlossen werden.
3) Es liegt eine Entscheidung über eine Säuberung des EKKI-Apparats vor. Wären
Sie so freundlich, Gen. Stalin mit Ihrem Säuberungsplan bekanntzumachen?37
35 Zur Aufteilung der Gelder auf die Kommunistischen Parteien siehe den Verteilungsschlüssel, Dok.
119.
36 Zaks-Gladnev war Kanzleileiter im Volkskommissariat für Finanzen unter Lenin, dann im Gosiz-
dat etc. In der Komintern hat er tatsächlich nicht gearbeitet. Er war jedoch ein Schwager Sinowjews.
37 Während die Antwort Pjatnitzkis (siehe Dok. 145) noch relativ unbestimmt ist, bezeichnen andere
Quellen die Zielsetzung deutlicher: Wie Elena Stasova berichtete, wurde nun intensiv daran gearbei-
tet, Sinowjews Einfluss in Deutschland zu unterminieren, um eine gemeinsame Front mit der linken
Opposition in der KPD gegen Stalin zu vereiteln. Am 3.4.1926 teilt „Helene“ (Stasova) Einzelheiten
ihrer geheimen Mission vertraulich an den „Lieben alten Freund Wilhelm (Pieck)“ mit: „Erstens
mußte ich sofort nach meiner Ankunft eine neue Tätigkeit anfangen und dabei auch noch der Erwei-
terten [Exekutive] beiwohnen, um doch im Bilde zu sein, wie die Sachen sich gestalten werden und
auch mit allen Leuten Fühlung zu nehmen. Das Letzte ist auch gut gelungen und die Verhältnisse
gestalten sich günstig für die Arbeit. Es war desto notwendiger, da Gr[igorij Sinowjew] seine Oppo-
sition nicht aufgegeben hat, wie Du es Dir vorstellen kannst und versucht, auch im internationalen
Maßstabe die Lage für sich zu gewinnen. Ich teile es dir persönlich mit, da ich vermute, daß auch
in Deutschland er versuchen wird, Boden für sich zu gewinnen und mit einzelnen Genossen sicher
Fühlung suchen wird. Ich hoffe, daß Du mir auch ganz aufrichtig schreiben wirst, damit ich von hier
das Nötige bewirke. Da ich bis jetzt keine passenden Mitarbeiter gefunden habe, so muß ich die ganze
Last allein tragen und Du kannst Dir vorstellen, daß es ziemlich viel ist.“ (SAPMO-BArch, Berlin, NL
36/600 V, 3–4).
38 Ivan Tovstucha (1889–1935) war von 1922 bis zu seinem Tod Stalins Sekretär.
496 1924–1929
Dok. 145
Antwort des Schatzmeisters der Komintern auf die Anfrage Stalins
zur Verteilung der Gelder an die kommunistischen Parteien
[Moskau], 20.3.1926
GEHEIM.39
An Gen. STALIN.
Auf den Brief von Gen. Tovstucha vom 16.III-26, der in Ihrem Auftrag an mich adres-
siert war, antworte ich erst heute, da ich bisher beschäftigt war.40
1) Zur ersten Frage: Wie das Geld auf die [kommunistischen] Parteien verteilt
wird.
Die Kommission, die vom Politbüro am 22.X-25 zur Behandlung unseres Budgets
ernannt wurde, legte sowohl die Gesamtsumme für 1926 fest, wie auch ihre Verteilung
auf Einzelposten, unter anderem [kommunistische] Parteien.
Der Beschluss der Kommission wurde am 14.I.-26 vom Politbüro bestätigt,
nachdem die Delegation der VKP beschlossen hatte, diese Frage dem Politbüro zu
übertragen.41
Die Budgetkommission des EKKI,42 die aus den Vertretern der größten Parteien
besteht, bestätigte die Aufteilung der Gesamtsumme, die von mir vorgeschlagen
wurde (und faktisch von der Kommission des Politbüros bestätigt wurde), mit der
Änderung, dass sie das Budget der KP Polens um 20.000 vergrößerte (statt 260.000
legte sie 280.000 fest), womit der Reservefonds von 400.000 auf 380.000 verkleinert
wurde.
Die von der Budgetkommission festgelegten Summen werden automatisch für
drei Monate im Voraus an die Parteien übermittelt.
Der Beschluss des Politbüros, von dem weiter oben die Rede ist, müsste bei Ihnen
sein (er wurde am 13.I.-26 von uns an Sie versandt).
Die Bitten der Komparteien um größere Zusatzzahlungen für außerordentliche
Ausgaben (Zusatzzahlungen für die Durchführung einer Kampagne in Deutschland
zur Beschlagnahmung des Eigentums ehemaliger Herrscherhäuser – siehe Protokoll
der Sitzung der Delegation der VKP im EKKI – N° 2 vom 12.I-26 P. 5.d) habe ich auf den
[Sitzungen der] Delegation [der VKP(b) im EKKI] vorgetragen und werde weiterhin so
verfahren, und erst nach einer Entscheidung der Delegation werden diese Zahlungen
über die Budgetkommission ausgeführt.
2) Zweite Frage: „Was macht Gen. Zaks-Gladnev in der Komintern, wer von den
russischen Mitarbeitern wird wohin zugeteilt?“
Zaks-Gladnev hat weder im EKKI gearbeitet, noch arbeitet er gegenwärtig dort.
Ich habe ihn [lediglich] einige Male auf dem EKKI-Plenum gesehen.
Sind mit der zweiten Frage russische Mitarbeiter gemeint, die aus dem Ausland
zurückkehren, oder russische Mitarbeiter des EKKI-Apparats?
Über diejenigen, die aus dem Ausland zurückgekommen sind (Michajlov, Strau-
jan), gibt es noch keine Entscheidung.43 Die Instrukteure der Orgabteilung (Russen),
die im Ausland gewesen sind, sind noch nicht erneut abkommandiert worden.
In den Abteilungen [des EKKI] wurden ebenfalls keine Veränderungen durchge-
führt.
Die Frage über die Zuteilung von Mitarbeitern wird selbstverständlich auf der
[Sitzung des] Büros der Delegation [der VKP(b) im EKKI] aufgeworfen.
3) Über die Säuberung des Apparats.
Meiner Meinung nach muss man die Mitarbeiter des Apparats im Hinblick auf den
Plenumsbeschluss über den Kampf gegen die Rechten in Frankreich und die Ultralin-
ken in Deutschland überprüfen. Ich nehme an, dass beide Strömungen Anhänger in
unserem Apparat haben (genaue Angaben habe ich noch nicht). Wenn solche [Mit-
arbeiter] entdeckt werden, muss man sie entfernen, denn sie könnten diese beiden
Strömungen mit Informationen und Materialien versorgen, die den Kampf gegen die-
selben erschweren würden.
Was die russischen Genossen angeht, so muss bei der Durchführung der Reorga-
nisierung des Apparats überprüft werden, ob die russischen Genossen richtig verwen-
det werden und ob sie für die jeweilige Arbeit tauglich sind.
Um all dies zu klären, müssen noch einige Wochen vergehen.
Ich wollte ursprünglich noch einige Zeilen über die Notwendigkeit der Freistel-
lung des Gen. B. Kun von der Arbeit im EKKI schreiben, jedoch erklärte dieser gestern
Abend, dass Sie mit seiner Abreise aus Moskau einverstanden seien – somit entfällt
die Frage.44
[Sign.:] Pjatnitzki
Am 25.3.1926 beschloss das Politbüro, Čičerin möge mit einem Presseinterview zum Völkerbund und
seiner Krise in die Öffentlichkeit treten, den Entwurf dazu habe er den Politbüro-Mitgliedern zu zir-
kulieren.45
43 Michajlov ist höchstwahrscheinlich der unter dem Pseudonym „Williams“ in den USA arbeitende
Boris Michajlov. Jan Straujan (1884–1937?) arbeitete in der Sachverwaltung des EKKI.
44 Der Anführer der ungarischen Räterepublik 1918, Béla Kun, war bis dahin ein wichtiger Unterstüt-
zer Sinowjews.
45 APRF, Moskau, 03/64/671, 57. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 402.
498 1924–1929
Es erfolgte ebenfalls ein Beschluss über den „Vorschlag Harrimans zu den deutschen Krediten“ vom
3.4.1926.46 Der US-Bankier William Harriman hatte die Zeichnung einer Anleihe an der New Yorker
Börse vorgeschlagen, was weitere Ankäufe der Sowjetunion in Deutschland ermöglichen würde, da
diese Kredite deutscherseits nicht aufzubringen seien. Dabei ging es um Beträge über 300 Millionen
Mark.
Dok. 146
Brief Stalins an Clara Zetkin über die Abschiebung Ruth Fischers
[Moskau], 30.3.1926
(C. Zetkin)
30.III.1926.
Dok. 147
Brief Clara Zetkins an Stalin über den finanziellen Bankrott der
Internationalen Arbeiterhilfe
Moskau, 5.4.1926
48 Zetkin war bis zu ihrem Lebensende Ehrenvorsitzende der Internationalen Arbeiter-Hilfe (IAH),
ihr eigentlicher Leiter war Willi Münzenberg. Die Krise der IAH betraf ihre Produktionsunternehmun-
gen in der UdSSR. 1925 lag ein Vorschlag zu ihrer Auflösung vor. Der IAH-Konzern: Die Internatio-
nale Arbeiterhilfe (IAH, russisch: Obščestvo meždunarodnoj rabočej pomošči, Abk. Mežrabpom),
gegründet am 12.9.1921, ging aus den zugunsten der Internationalen Hungerhilfe für Sowjetrussland
(Präsidentin: Clara Zetkin, Sekretär: Willi Münzenberg) nach zwei Missernten in der Sowjetunion
durchgeführten internationalen Kampagnen hervor, gegen die kombinierten Folgen von Bürgerkrieg
und Dürre 1921/1922. Die zunehmend weltumspannende Organisation wurde de facto von Berlin aus
gelenkt, aus ihr entstand, von Willi Münzenberg und (als Verlagsleiter) von Otto Katz vorangetrieben,
eine neuartige, mit innovativen Methoden der Massenpropaganda arbeitende sozial- und kulturpoli-
tische Massenorganisation der Komintern – zwischen Gewerkschaften und Konumgenossenschaften
(Rolf Surman). Allein die deutsche Sektion zählte 1931 über 100.000 Mitglieder mit einer großen An-
zahl teilweise kommerziell organisierter Unternehmungen, als Kultur- und „Proviantkolonne“ der Ar-
beiterschaft (Rolf Surmann: Die Münzenberg-Legende. Zur Publizistik der revolutionären deutschen
Arbeiterbewegung 1921–1933, Köln, Prometh-Verlag, 1983; Kasper Braskén: Mot hunger, krig och fa-
scism! Internationella arbetarhjälpen, Willi Münzenberg och kampen för internationell solidaritet i
Weimartyskland 1921–1935. In: Historisk Tidskrift för Finland (2009), 2, S. 170–197; siehe demnächst:
id.: The Revival of International Solidarity. The Internationale Arbeiterhilfe, Willi Münzenberg and
the Comintern in Weimar Germany, 1921–1933, PhD, Abo Akademi University, Turku, 2014).
49 Der italienische Kommunist Francesco Misiano (1884–1936) war Stellvertreter Münzenbergs in
Moskau und u.a. für die Mežrabpom-Filmgesellschaft zuständig. Der Schweizer Fritz Platten (1883–
1942), der 1917 den „Russenzug“ mit Lenin und führenden Bolschewki nach Russland organisierte,
arbeitete seit 1921 für die IAH.
500 1924–1929
geben. Eile tut not, ich bitte Sie daher, den Genossen moeglichst noch heute eine
kurze Unterredung zu gewaehren. Natuerlich bin ich jederzeit bereit, ueber die poli-
tische Seite der Sache Auskunft zugeben. Am besten lassen Sie die Genossen direkt
benachrichtigen, wann Sie zu sprechen sein werden. Telefon: 47735.
Ich hoffe, geehrter Genosse Stalin, dass Sie um der Kom[munistischen] Interna-
tionale willen Ihren Rat und Beistand nicht versagen werden. Mit bestem Dank im
Voraus gruesst Sie herzlich
Dok. 148
Brief Heinz Neumanns an Stalin über Hugo Urbahns und die
Verfolgung der linken Oppositionellen in Russland
[Moskau], 13.4.1926
Autograph auf Briefkopf des ZK der RKP(b), in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 558/11/776,
4–4v. Erstveröffentlichung.
13.IV.1926
Persönlich
50 Der Brief ist in fehlerhaftem Russisch geschrieben. Im Folgenden eine alternative Übersetzung, in
der die grammatikalische Unbedarftheit Neumanns ansatzweise wiedergegeben wird: „Verehr. Gen.
Stalin! Bei uns gibt es zwei Frage: 1°) Urbahns verbraitet in Deutschland, dass ihm Gen. Sinowjew
in private Gesprech erzählte, daß in Leningrad 7000 Kommunisten entlasst, geschickt nach China,
in Sanatorie des Kaukasus u.s.w. und daß Gen. Sin. ihm Erlaubnis gegeben hat, diese „Fakten“ zu
„verbraiteren und benuzen“ in der KPD. Es häte kategorischen Widerlegung bedurft dieser Märchens.
2°) Es häte bedurft einer entschiedene Aussag der Komintern zu neusten Auftritt unserer Ultralinken.
Dann noch hat es gegeben einigen unrichtigen Wiedergabe unseren Informationsmaterials über den
XVI. Partaitag der V.K.P., die ich gerne erleutern würde. Im Falle daß für Sie möglich ist, noch vor dem
Sitzung des Büro der Russichen Delegation im EKKI mit mir sprechen über diese Anlaß, würde ich
bitten, solches Gespräch entweder Donnerstag oder Freitag veanstalten. Mit komm. Gr. H. Neumann.“
51 Sinowjew opponierte vor allem innenpolitisch gegen den Stalin-Bucharinschen Kurs, die Ver-
schärfung der NEP und das Wachstum der Bürokratie im Laufe des Jahrs 1925. Nach dem XIV. Kon-
Dok. 148: [Moskau], 13.4.1926 501
gress der VKP(b) (18.12.1925–31.12.1925) verlor er auch die Verantwortung als Parteisekretär in Lenin-
grad. Im März 1926 vereinigte er sich mit der von Trotzki angeführten Linken (alten) Opposition zur
(neuen) „Vereinigten Opposition“. Im Mai spitzten sich die Auseinandersetzungen vor allem um die
Haltung zum Generalrat der britischen Gewerkschaften zu. In der Komintern wurde Sinowjew dann
von Stalin, der einen Präsidiumsbeschluss herbeiführte, kurzerhand abgesetzt. Siehe ausführlich:
Broué: Histoire de l’Internationale Communiste, S. 469ff.
52 Hierzu liegt ein etwas verwirrender Beschluss der Delegation der VKP(b) im EKKI vom 16.4.1926
über die Diskussion der russischen Frage in der KPD vor, der offensichtlich der Vorbereitung zur Ab-
setzung des Kominternpräsidenten Sinowjew galt. (Arbeitszusammenfassung): „Beschluss der Dele-
gation der VKP(b) im EKKI gegen die Veröffentlichung einer Broschüre über den XIV. Kongress der
VKP(b) durch die KPD am 16.4.1926 (RGASPI 508/1/21, 1–2). Sinowjew erklärt am selben Tag: „Ich stelle
fest, dass ich weder dem Genossen Urbahns noch irgendeinem anderen oppositionellen Genossen ir-
gendwelche Vollmacht gegeben habe, die Fragen der russischen Diskussion auszutragen und irgend-
welche Behauptungen in meinem Auftrage oder mit meiner Erlaubnis zu machen. Ich stehe auf dem
Standpunkte des Beschlusses der Erweiterten Exekutive, dass eine ‚russische‘ Diskussion in den Sek-
tionen der Komintern nicht entfacht werden soll. Dieser Beschluss ist bindend für die ganze KI, also
auch für alle deutschen Genossen. Meine Auffassungen zur allgemeinen und deutschen Lage sind
in meinen Reden und dem Beschluss der Erw[eiterten] EKKI wiedergegeben. G. Sinowjew“ (RGASPI
508/1/21, 18). Stalin schreibt am selben Tag an Pjatnitzki, er könne sich an keinen Beschluss gegen die
Veröffentlichung erinnern. Er habe sich mit der Broschüre bekanntgemacht und habe nichts gegen
die Veröffentlichung einzuwenden (RGASPI 508/1/21, 16).
53 Zumindest nach dem Besucherbuch nahm Stalin Neumanns Gesprächsangebot nicht wahr. Laut
Stalins Besucherliste wurde Neumann von ihm zwar am 17.2., 19.2. und 19.3.1926 empfangen, danach
allerdings erst wieder am 7.2.1928. Siehe: Anatolij Černobaev (Hrsg.): Posetiteli kremlevskogo kabi-
neta I. V. Stalina. Žurnal (tetradi) zapisi lic, prinjatych pervym gensekom. 1924–1953 gg. Alfavitnyj
ukazatelʼ. In: Istoričeskij archiv (1998), Nr. 4, S. 131.
502 1924–1929
Am 15.4.1926 legte der stellvertretende GPU-Vorsitzende Unšlicht über seine Reise nach Deutsch-
land im Politbüro Bericht ab. In seiner Verhandlung mit Hessler – wahrscheinlich Reichswehrminister
Otto Gessler – und von Seeckt sei eine Einigung dahingehend erfolgt, die Kooperation ausschließlich
zwischen den Ministerien weiterzuführen und alle Drittorganisationen auszuschließen. In einzelnen
Punkten konnte die sowjetische Seite Erfolge erzielen, dennoch resümierte Unšlicht, die Reichswehr
sei momentan weniger an einer gemeinsamen Produktion als am Austausch von Know-How inter-
essiert. Man solle die Verbindung zur Reichswehr aufrechterhalten, sich jedoch nicht zu viel davon
versprechen.54
Ebenfalls am 15.4.1926 drängte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion darauf, den „Berliner
Vertrag“ mit dem Deutschen Reich spätestens in zwei Wochen zu unterzeichnen. Zugleich sollte Kres-
tinskij darauf bestehen, jeglichen Hinweis auf „Provokationen“ im Vertragsentwurf zu entfernen.55
Für die sowjetische Seite wurde als entscheidender Aspekt des Vertrags die seitens Deutschlands
zugesicherte Neutralität im Falle eines militärischen Konflikts der Sowjetunion mit einem Drittstaat
angesehen (wohl mit einem Augenmerk auf Polen). Nach einer erneuten Beschäftigung des Politbüros
mit dem Thema am 22.4.192656 wurde der deutsch-sowjetische Freundschaftsvertrag schließlich am
24.4.1926 unterzeichnet, der außenpolitisch das französisch-polnische Bündnis entwertete.
Dok. 149
Beschluss der Internationalen Kontrollkommission der Komintern
über das Verhalten von Maslow vor dem deutschen Gericht
Moskau, 29.4.1926
Zum „Fall Maslow“ und der Linken Opposition in der KP Deutschlands. In: Bericht über die Aktivität
der Exekutive der Komintern und des Präsidiums des EKKI von der erweiterten Tagung des EKKI im
März 1926 bis April 1926. Typoskript, deutsch RGASPI, Moskau, 495/33/187, 47–51. Erstveröffent-
lichung.
54 APRF, Moskau, 3/64/651, 47–54. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 414.
55 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 47. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 114–115.
56 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 53. In russischer Sprache publ. in: Ibid., S. 114–115.
57 Es handelt sich vermutlich um einen Informationsbrief des EKKI an die ZK’s der Kommunistischen
Parteien.
Dok. 149: Moskau, 29.4.1926 503
12. X. 1925 voll und ganz aufrecht. Maslows Verhalten war und bleibt unwürdig aus
folgenden Gründen:58
1. Er bemühte sich um die Gunst des Klassengerichtes oder sogar der ganzen bür-
gerlichen Gesellschaft;
2. Er berief sich auf seine Opposition gegen das Z.K. und die K.I., um dadurch die
eigene Schuld zu verneinen oder zu verringern.
3. Er berief sich zum Zwecke der Entlastung von der Anklage auf Hochverrat auf
seine lange Perspektive für die Revolution.
4. Er berichtete vor dem bürgerlichen Klassengericht über Sitzungen der Exe-
kutive und vertrauliche Kommissionen [der Komintern] mit dem offenbaren Zweck,
seine eigenen Haut zu schützen.
5. Er erkannte Fakta an (z.B. Protokolle in Maschinenschrift), die nicht ihn selbst,
sondern andere Genossen und die ganze Partei betreffen, um dadurch das Gericht zu
seinen Gunsten zu stimmen. Er provozierte das Gericht zum Vorgehen gegen noch in
Freiheit befindliche Genossen.
6. Er entstellte vor dem bürgerlichen Gericht die revolutionären Prinzipien der
K.I. (z. B. über die Arbeiterregierung).
7. Er brüstete sich vor dem bürgerlichen Gericht mit Differenzen mit der K.I.
8. Er spielte vor dem bürgerlichen Gericht mit Vorschlägen, wie z.B. zweimal
damit, dass ja „dann auch die KPD verboten werden müsse.“ Diese Haltung Maslows
vor Gericht hat die Partei und ihr Ansehen ausserordentlich geschädigt. Ueber die
Stellung Maslows in der Partei wird die I.K.K. urteilen, nachdem sie Maslow selbst
verhört haben wird.59
II. Wegen wiederholter Klagen über unzulässiges Verhalten einzelner Kommunis-
ten in Prozessen macht die IKK. dem EKKI den Vorschlag, den Sektionen die Aus-
arbeitung allgemeiner Regeln für das Verhalten ihrer Parteimitglieder in politischen
Prozessen und in Gefängnissen aufzugeben. Diese Regeln sollen dem Präsidium des
EKKI mit Heranziehung der IKK. zur Bestätigung vorgelegt werden.
58 Das folgende tendenzielle „Urteil“ der IKK eröffnet, noch viel direkter als zum Brandler-Prozess
1921, eine Skandalchronik von Parteiverfahren, oftmals gegen die ehedem besten und engagiertesten
Kommunisten, wegen „unproletarischen Verhaltens“ u.ä., die schließlich im physischen Terror mün-
den. Bemerkenswerterweise erfolgte die Kritik am Verhalten Maslows im Prozess gegen ihn, Anton
Grylewicz, Paul Schlecht und Wilhelm Schumacher, der im Herbst 1925 stattfand, öffentlich erst im
Sommer 1926, im Zusammenhang mit seinem Ausschluss.
59 Die von Moskau und vermutlich von Stalin selbst mitgesteuerte Kampagne – u.a. seitens der rus-
sischen Presseagentur TASS und interessierter KPD-Kreise – gegen Maslow endete mit seinem Aus-
schluss am 20.8.1926.
504 1924–1929
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 4.5.1926 eine Reihe von groß angeleg-
ten Maßnahmen zur Unterstützung des Streiks der englischen Bergarbeiter. Unterstützungskampag-
nen in der Sowjetunion und im Ausland sollten in Gang gebracht werden. Zugleich sollte der Ton der
sowjetischen Presseberichterstattung sowie eines zu verfassenden Komintern-Aufrufes „ruhig und
aufklärend“ gehalten sein. Die KP Großbritanniens sollte angewiesen werden, „den Streik auf ein
politisches Gleis zu überführen“.60
Zwei Tage später, am 6.5.1926, behandelte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion erneut – und
daraufhin wiederholt – die „englische Frage“. Unter anderem wurde die Einberufung einer Sitzung
des EKKI in Berlin gefordert, deren Durchführung Thälmann und dem Generalsekretär der KPF Pierre
Sémard obliegen sollte. Eine Reise von Sinowjew nach Berlin wurde hingegen für „unzweckmäßig“
befunden. Die in Moskau anwesenden Führer der westlichen kommunistischen Parteien wurden auf-
gefordert, schleunigst Artikel über die englischen Vorgänge für die Pravda zu verfassen. Den Politbü-
ro-Mitgliedern wurde dabei nahegelegt, ihre Presseartikel nicht zu signieren.61
Dok. 150
Brief Stalins zum Artikel Manuilskis über die „Ultra-Linken“ in
Deutschland
[Moskau], 8.5.1926
Ich habe heute den Artikel von Gen. Manuilski über die Ultra-Linken in Deutschland
gelesen.62 Mir sind die Einwände von Gen. Sinowjew gegen diesen Artikel nicht ganz
verständlich, die er auf der Sitzung des Büros der Delegation am 7. Mai geäußert hat.
Will Gen. Sinowjew etwa, und sei es auch indirekt, Katz, Korsch und Co. verteidigen?
Ist es etwa nicht klar, dass die Verteidigung von Ruth Fischer und Urbahns, die Katz und
Korsch verteidigen, eine indirekte Verteidigung von Katz, Korsch und Co. darstellt?
Für mich steht es fest, dass Katz, Korsch und Co. den Herrn Eastman übertrof-
fen haben, den wir alle als Werkzeug der Konterrevolution ansehen.63 Es gibt keinen
60 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 57–58. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadzžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 115–115; Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 360–362.
61 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 60–63. Publ. in: Ibid., S. 362–366.
62 Siehe: D. Manuilski: Ueber Sozialfaschismus und Defaitismus. In: Internationale Presse-
Korrespondenz 6 (1926), Nr. 72, S. 1148–1152, tatsächlich ein Rundumschlag gegen Linke und Ultralinke.
63 Max Eastman hatte 1925 das Testament Lenins veröffentlicht, in dem die Absetzung Stalins gefor-
dert wurde. Zu den Vorwürfen gegen Eastman schrieb Trotzki später: „This is a shameless lie. Com-
rade Eastman is an American revolutionist of the John Reed type, a devoted friend of the October revo
lution. He is a poet, writer and journalist. (...)“ (Trotzki an Muralov, 11.9.1928. In: New International I
(1934), No. 4, S. 125–126).
Dok. 150: [Moskau], 8.5.1926 505
Grund mehr, daran zu zweifeln, dass Katz und Korsch Liquidatoren sind, und als
solche Wasser auf die Mühlen der Konterrevolution gießen. Wie kann man also ruhig
zusehen, wie Ruth Fischer, Urbahns und andere versuchen, diese Konterrevolutionäre
zu decken und diplomatisch zu verteidigen. Gen. Manuilski hat völlig recht, wenn
er in diesem Artikel feststellt, dass Ruth Fischer, Urbahns und andere sich endlich
zwischen der Gruppe Korsch und der KPD entscheiden müssen, wenn sie nicht mit
beiden Füßen im Sumpf der ultra-linken konterrevolutionären Klatschmäuler ver-
sinken wollen. Gen. Manuilski hat recht, wenn er die Ultra-Linken in den anderen
Parteien vor der Gefahr warnt, die sich vor ihnen im Zusammenhang mit ihrer diplo-
matischen Verteidigung der deutschen Ultra-Linken aufbaut. Es stimmt nicht, dass
Gen. Manuilskij keinen Unterschied zwischen der Gruppe Katz-Korsch und den Ultra-
Linken in Polen, Italien oder der Gruppe Ruth Fischer-Urbahns macht. Gen. Manu-
ilski versteht diesen Unterschied durchaus, wie man anhand seines Artikels sehen
kann. Genau deswegen legt er ihnen nahe, eine Wahl zwischen der frech gewordenen
ultra-linken Bande Katz-Korsch und der Linie der Komintern zu treffen. Ich befinde
den Artikel des Gen. Manuilski für richtig. Wenn es um Korrekturen geht, so kann es
sich meiner Meinung nach nur um einige unbedeutende Details im Artikel handeln.
I. STALIN
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion besprach am 13.5.1926 die Angelegenheit der deutschen
Kredite im Umfang von mehreren 100 Millionen Mark, die die deutsche Regierung der Sowjetunion bei
vorausgegangenen Verhandlungen in Aussicht gestellt hatte. Zugleich wurden gemeinsame Thesen
des Handelskommissariats, des Volkshaushaltsrates und der Staatsbank zu den Modalitäten der Kre-
ditaufnahme angenommen. Der Vorschlag des amerikanischen Bankiers Harriman, der der Sowjetuni-
on über inoffizielle Wege US-Kredite angeboten hatte, sollte zunächst ignoriert werden.64
Die Vorgänge in England beschäftigten auch am 14.5.1926 das Politbüro des ZK der KP der Sowjetuni-
on. Eine Resolution Sinowjews, worin er das Verhalten des seinerseits von den sowjetischen Gewerk-
schaften unterstützten Generalrats der englischen Gewerkschaften als einen „nie zuvor dagewese-
nen Verrat in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung“ brandmarkte und die englische
KP aufforderte, diesen nicht zu unterstützen, wurde von Politbüro kommentarlos abgelehnt. Zugleich
wurde jedoch beschlossen, an die Pariser Tomskij-Kommission ein Telegramm Stalins zu verschicken,
welches in der Argumentation mit Sinowjews Resolution weitgehend identisch sein sollte.65
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 20.5.1926, die Linie der KP Polens zu
kritisieren, die sich zu Solidaritätsbekundungen mit dem polnischen Militärmachthaber Piłsudski
hatte hinreißen lassen. Auf Drängen der Komintern soll die KPP Pilsudskis Putsch vom 12./15.5.1926
unterstützt haben. Die Losung der KP Polens von den „revolutionären Heeren unter dem Kommando
Piłsudskis“ sei, so das Politbüro, ein grober politischer Fehler.66
64 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 65–70. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 120–123.
65 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 71–73. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 367–368.
66 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 75–76. Publ. in: Ibid., S. 369–370.
506 1924–1929
Dok. 151
Internes Rundschreiben der Komintern an die Zentralkomitees
der Kommunistischen Parteien gegen die antisowjetische
Presse-Kampagne
Moskau, 26.5.1926
Typoskript in deutscher Sprache. Schweizerisches Bundesarchiv Bern J.II 94, nach 470. Erstveröf-
fentlichung.
4778/Mel/10 Ex.
Moskau, den 26. Mai 1926.
Werte Genossen!
Die gesteigerte antisowjetische Kampagne der sozialdemokratischen und kapita-
listischen Presse, die in mehreren Ländern bereits im vorigen Jahr mit aller Wucht
betrieben wurde, ist von den Sektionen der Komintern nicht durch eine mit genügen-
der Energie entfaltete Gegenkampagne beantwortet worden. Noch weniger aktiv hat
unsere Parteipresse in diesem Jahr auf die Ausnützung der letzten russischen Partei-
diskussion zum Zwecke der sowjetfeindlichen Kampagne reagiert.67
In dieser Form wird in der letzten Zeit eine Verleumdungshetze gegen die Sozi-
alistische Sowjet-Union und die Kommunistische Partei der Sowjetunion nicht nur
durch die sozialdemokratischen und kapitalistischen Parteien betrieben, sondern
auch von einigen antisowjetischen Elementen von der Art von Katz und Korsch, die
leider von einer Reihe ultralinker Parteigenossen (z.B. Genossen Urbahns) in Schutz
genommen werden.68
67 Ein Hauptziel des Stalinismus bildete die Einhegung der Parteidiskussion auf den russischen
Rahmen, ein Hauptaugenmerk wurde auf die Abschottung der Komintern und die kommunisti-
schen Parteien gelegt. Vor allem durch die Diskussion über den englischen Generalstreik und die
Kuomindang-Politik in China gelang es der Opposition, die Diskussion in der Komintern 1925/1926
zwar aufzubrechen und den Nachweis zu führen, dass der Kurs der leninschen Komintern defini-
tiv verlassen worden sei. Durch die hier illustrierten Gegenmaßnahmen blieb jedoch die Diskussion
„deformiert und einseitig“ (Broué). Trotzdem bildete sich in der Sowjetunion durch den Beitritt der
„Dezisten“ (Smirnov), der Arbeiteropposition und der georgischen Opposition zur Vereinigten Oppo-
sition Trotzkis und Sinowjews 1926/1927 ein „Oppositionskartell“ heraus. Im internationalen Rahmen
vollzog sich dieser vor allem von sowjetischen politischen und diplomatischen Vertretern im Ausland
(Šljapnikov, Preobraženskij, Rakovskij u.a.) unterstützte Differenzierungsprozess allerdings langsa-
mer, so dass sich eine Phasenverschiebung in der Entwicklung der internationalen Linken Opoosition
ergab (siehe: Broué: Histoire de l’Internationale, S. 450–468).
68 Tatsächlich bildete sich der erste Zusammenschluss der Linken Opposition in Deutschland um
Urbahns, Fischer, Maslow und Scholem, die anfänglich dem Konzept Sinowjews, nicht dem Trotzkis
folgten. Erster Höhepunkt der Vereinigten „deutschen“ Opposition war der „Brief der 700“ im Septem-
ber 1926, in dem die Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ verurteilt und die Veröffentlichung
aller Dokumente der russischen Opposition gefordert wurde (siehe u.a. Dok. 174)
Dok. 151: Moskau, 26.5.1926 507
Der Beschluss des Erweitern Plenums, die russische Diskussion sei nicht in andere
Sektionen zu tragen, bleibt selbstverständlich in Kraft. Nur ein weiteres Erw[eitertes]
Plenum könnte diesen Beschluss aufheben. Doch wurde und wird ein solches Verlan-
gen von keiner Sektion gestellt.
Die Frage der Abwehr der Verleumder der USSR, der KP d. USSR, sowie der Feinde
des Bolschewismus hat selbstverständlich nichts zu tun mit den Streitfragen des XIV.
Parteitages der KP der USSR.69 Um die Konterrevolutionären zu widerlegen, braucht
man gar nicht an die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der KP. d. USSR. zu
appellieren.
Aufklärung zur Verteidigung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
und der KP der UdSSR aufgrund objektiver Informationen konnte selbstverständ-
lich niemals von der Komintern als unerwünscht betrachtet werden. Im Gegenteil,
diese Aufklärung ist – wie sie bisher immer war und auch sein wird – die elementare
Aufgabe jeder Kompartei, jedes Parteiorgans und jedes einzelnen Parteimitgliedes.
Indem das Präsidium der Exekutive hiermit an die Wichtigkeit dieser Aufgabe erin-
nert, legt das Präsidium besonders Gewicht darauf, dass Ihre Parteileitung tatsäch-
lich auch dafür sorgen wird, die Bedeutung dieser Aufgabe in ihrer ganzen Wichtig-
keit allen Parteiorganisationen und Mitgliedern vollkommen klarzustellen. In der Tat
wird sie noch nicht von allen Kommunisten klar eingesehen. Manche Genossen, die
ohne jeden Zweifel von der tiefsten Solidarität mit der Sozialistischen Sowjet-Union
durchdrungen und nötigenfalls bereit sind, zu ihrer Verteidigung sogar die schwers-
ten Opfer zu tragen, denken wohl gegenwärtig ungefähr so: „Die Lage der Sowjet-
union ist jetzt so sicher und fast – alles Geschrei der Sowjetfeinde kann für sie keine
Gefahr bedeuten; es lohnt sich darum nicht, viel Mühe auf die Widerlegung ihrer
Lügen zu vergeuden.“ Bei einem solchen oberflächlichen Gedankengang wird das
Wichtigste vollständig übersehen: die internationale Bedeutung und Auswirkung der
russischen Revolution.[...]
Genossen, das Präsidium erwartet, dass alle Organisationen und Organe Eurer
Partei von jetzt an zu einer systematischen Arbeit auf dem Gebiete der obengeschil-
derten Aufgabe, entsprechend den konkreten Erfordernissen der politischen Umge-
bung in Eurem Lande, herangehen. Das Präsidium hat bereits die Agitpropabteilung
des EKKI beauftragt, dafür zu sorgen, dass zu diesem Zwecke notwendiges, zuverläs-
siges Informationsmaterial Ihnen regelmässig zugesandt wird.
Wir ersuchen Sie, bis zur nächsten Plenarsitzung der Exekutive sowohl einen
kurzen Bericht über die von Eurer Partei auf diesem Gebiete bereits geleistete Arbeit,
als auch einen Arbeitsplan für die nächstfolgende Zeit vorzubereiten.
69 Auf dem XIV. Parteitag der VKP(b) (18.12.1925–31.12.1925) wurde die Opposition verurteilt und der
Beschluss bekräftigt, die Diskussion nicht in die Komintern zu tragen.
508 1924–1929
Dok. 152
Anfrage des Schatzmeisters der Komintern zur Finanzierung der
Fürstenenteignungskampagne der KPD
[Moskau], 1.6.1926
Streng geheim.
Zum Protokoll N° 14 4.6–26.p.2–c.71
Gen. Sinowjew,72
Die VKP(b)-Delegation im Präsidium des EKKI hat mich in ihrer Sitzung vom 14.5.26,
Protokoll N° 10, damit beauftragt, die Höhe des Betrags der materiellen Hilfe an das
ZK der KPD für die Durchführung der Kampagne zur Volksabstimmung über die
Beschlagnahmung des Besitzes ehem[als] wohlhabender Herrscherhäuser zu ermit-
teln.73
Gen. Thälmann legte eine Kostenaufstellung für Ausgaben in Verbindung mit
dieser Kampagne in Höhe von 224.338,90 d[eutsche] Mark vor, was 104.180 Goldrubel
oder 53.426 Doll[ar] entspricht. Gen. Thälmann nimmt an, dass die KPD selbst für
diesen Zweck 15.476 Doll. sammeln könnte. Deswegen bittet er uns, die Summe von
37.950 zu übernehmen.
Ich würde es für nicht möglich halten, die erbetene Summe zu kürzen, so dass
die KPD im Falle eines Scheiterns der Kampagne sich nicht darauf berufen könnte,
sie hätte keine finanziellen Möglichkeiten zur Durchführung einer Kampagne im not-
wendigen Umfang gehabt.
Zwischen mir und der deutschen Delegation gibt es Meinungsverschiedenheiten,
was die Frage angeht, welchen Teil dieser Summe wir beizutragen hätten. Die deut-
schen Genossen wollen, dass wir die volle Summe von 37.950 Doll. einbringen. Ich
dagegen schlage vor, 12.950 Doll. aus dem Reservefonds der KP Deutschlands, den
sie bei uns hat (18.000 R[ubel] wurden aus dem Budget der KP Deutschlands für Son-
derausgaben zurückgehalten, 6.000 R. steht ihnen noch für Juni zu), einzubringen,
und 25.000 Doll. würden aus unserem Reservefonds zugeschossen werden. Meinen
Vorschlag begründe ich damit, dass das ZK der KPD sich ohnehin dann an uns um
Hilfe wenden wird, wenn Sonderausgaben anfallen. Was die 6.000 R. für Juni angeht,
so geben sie doch jeden Monat eine große Summe aus ihrem Budget für Agitation und
70 Schlecht lesbares Kürzel als Unterschrift, vermutlich Pjatnitzki, der Schatzmeister der Komintern.
71 Unterhalb: Stempel „14758*-1.IV.1926“.
72 „Sinowjew“ handschriftlich.
73 Siehe zur Volksabstimmungskampagne Dok. 142.
Dok. 153: [Moskau], ca. Juni 1926 509
Flugblätter aus, und im Juni muss die gesamte Agitation, müssen die gesamten Flug-
blätter mit dieser Kampagne verbunden werden. Die deutschen Genossen hingegen
erklären, sie könnten jetzt nicht ihre ganze Reserve ausgeben und somit nicht darauf
zurückgreifen für den Fall, dass sie ausnahmsweise Geld brauchen.
Da die Frage keinen Aufschub duldet, bitte ich Sie, mir am Telefon mitzuteilen:
Sind Sie damit einverstanden, die gesamte Summe auszuzahlen, worum die Deut-
schen bitten – 37.950 Doll., oder sind Sie dafür, nur 25.000 D[ollar] auszugeben und
den Rest auf Kosten der KPD zu begleichen, oder hätten Sie mir andere Vorschläge
mitzuteilen?74
Entsprechend der erhaltenen Antwort werde ich die Frage an die Budgetkommis-
sion des EKKI weiterleiten.
[Sign.: Pjatnitzki?]75
Dok. 153
Geheimer Beschluss der Komintern zur „parteilosen
Verlagstätigkeit“ und zum Vertrieb der Literatur im
nichtkommunistischen Umfeld
[Moskau], ca. Juni 1926
Typoskript, deutsch. Schweizerisches Bundesarchiv, Bern J.II 94/484. Undatiert, ein Anschreiben
des Leiters der Organisationsabteilung ist auf den 2.6.1926 datiert. Erstveröffentlichung.
4891/Mel/
Verbot kommunistischer Verlage ist eine klug geleitete parteilose Verlagstätigkeit ein
zweckmässiges Mittel.
2.) Solche parteilosen Verlage werden vor allem solche Literatur herausgeben,
die, ohne Parteischriften zu sein, doch geeignet sind, die Leser mit der kommunis-
tischen Weltanschauung und ihren Ideen bekannt zu machen, mindestens sie auf
solche Ideen hinzuleiten. In Betracht kommen unter anderem Bücher und Broschü-
ren über das wirtschaftliche, kulturelle, künstlerische und andere Leben in Russland,
über die Kämpfe in den Kolonien, gegen die Religion, historische Bücher, geeignete
Romane, ein gut redigierter Arbeiter- und Bauernkalender in Buchform etc. etc.
3.) Bei allen diesen Schriften und Büchern muss das Bild in einem stärkeren
Masse wie bisher verwendet werden, was besonders auch bei der für Bauernkreise
bestimmten Literatur zu beachten ist. Eine Spezialaufgabe solcher parteiloser Verlage
muss sein, in ihrem Lande gegen die Menge bürgerlicher Illustrierter Zeitungen eine
proletarische illustrierte Zeitung zu schaffen, wie das in Deutschland mit der Zeitung
Arbeiter Illustrierte erfolgreich gelungen ist.76
[...] 5.) Eine wichtige Aufgabe, an deren Verwirklichung die parteilosen Verlage
mitwirken können, ist die Schaffung eines Vertriebsapparates, um die Literatur in
den Massen der parteilosen, gewerkschaftlich und sozialdemokratisch Organisier-
ten bis tief hinein in bäuerliche und städtische kleinbürgerliche Kreise vertreiben zu
können.
Es muss uns gelingen, Verbindungen mit den an vielen Orten bestehenden Litera-
turvertriebsstellen der Gewerkschaften und Sozialdemokratie, Arbeiterbildungsver-
einen, Volkshäuser etc. zu bekommen und Eingang in den bürgerlichen Buchhandel
zu finden. (Kommissionäre, Zeitungskioske etc. etc.) In einzelnen Ländern können
besondere Vertriebskomitees gebildet werden, die sich über das ganze Land erstre-
cken und den Vertrieb in den Häusern, Betrieben, Versammlungen, auf der Strasse,
nach dem Dorfe etc. etc. organisieren. In grösseren Orten können besondere Kolporta-
76 Willi Münzenberg war es gelungen, bekannte intellektuelle und kulturelle Persönlichkeiten für
Projekte der IAH zu gewinnen, zu denen neben den beiden Tageszeitungen mit hohen Auflagen Welt
am Abend und Berlin am Morgen die Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ) gehörte. Als Vorgängerorgan
wurde seitens der IAH seit 1921 im Rahmen der Internationalen Hungerhilfe für Russland Sowjet-
russland im Bild publiziert. Die im Neuen Deutschen Verlag herausgegebene AIZ (ab 1925) erschien
ab November 1926 wöchentlich, ihre Auflage stieg auf 200.000, bis 1933 auf 500.000 Exemplare. Die
AIZ schrieb mit den auch aus der Arbeiterfotographie stammenden Illustrationen und Fotomonta-
gen u.a von John Heartfield, Collagen des ebenfalls aus der Dada-Bewegung stammenden George
Grosz und ihrem Layout Pressegeschichte und wurde zur sozialistischen Illustrierten. Als Mitarbeiter
wirkte u.a. Walter Reuter, der den neuen Fotojournalismus prägte; die Zeitung druckte auch literari-
sche Texte, Romane und Gedichte (u.a von Anna Seghers, Maksim Gorʼkij, Erich Kästner (siehe: Willi
Münzenberg: Solidarität. Zehn Jahre Internationale Arbeiter-Hilfe, Berlin, Neuer Deutscher Verlag,
1931; Heinz Willmann: Geschichte der Arbeiter-Illustrierten (AIZ). 1921–1938, Berlin (Ost), Dietz, 1974;
Gabriele Ricke: Die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung. Gegenmodell zur bürgerlichen Illustrierten. Vorwort
von Peter Brückner, Hannover, Internationalismus-Verlag, 1974).
Dok. 153: [Moskau], ca. Juni 1926 511
gekolonnen gebildet werden, deren Mitglieder von dem Vertrieb der Schriften leben,
also mit ihrer Existenz an einem Massenumsatz interessiert sind.
Ein wirksames Mittel des Literaturvertriebes ist auch die Bildung von Arbeiter-
lesevereinen, deren Mitglieder gegen feste Wochenbeiträge kostenlos jeden Monat
ein Buch erhalten etc. etc.77 Alle diese Vertriebsmöglichkeiten sind entweder – je
nach den Verhältnissen von den parteilosen Verlagen allein oder in Gemeinschaft mit
den sympathisierenden Massenorganisationen, dem Parteivertreib und der Partei zu
schaffen.
[...] 9.) Bei der Organisierung parteiloser Verlage sind die allgemeinen politischen
Verhältnisse des betr. Landes wie die besonderen Verhältnisse in der Arbeiterbewe-
gung, Partei- und Massenorganisation etc. zu berücksichtigen. Die erste Aufgabe auf
diesem Gebiet wird sein, die schon bestehenden parteilosen Verlage in verschiedenen
Ländern auszubauen und ihre Tätigkeit zu erweitern.
In anderen Ländern, wo bisher die Parteiverlage neben der Parteiliteratur auch
allgemeine Literatur herstellen, müssen die Parteiverlage gerade diesem Teil ihrer
Arbeit besondere Aufmerksamkeit schenken und untersuchen, ob es nicht zweck-
mässig ist, wenigstens nach aussen hin die parteilose Literatur unter einer anderen
Firma erscheinen zu lassen. In einzelnen Ländern, besonders in England, wo mit
einer baldigen Steigerung der polizeilichen Verfolgungen gerechnet werden muss, ist
die sofortige Schaffung eines parteilosen Verlages mit Vertriebsapparat eine politi-
sche Notwendigkeit für die Partei.
In mehreren Ländern, in denen die Kommunistischen Parteien heute illegal
leben, können parteilose Bauernverlage die ersten erfolgreichen Schritte auf diesem
Gebiete sein. Unabhängig von Parteien haben sich in einzelnen Ländern teilweise
im Zusammenhang mit den Klubs „Freunde für das neue Russland“78 bürgerliche
Verlage gebildet, die linksgerichtete Autoren verlegen; es muss versucht werden, mit
diesen Verlagen in Verbindung zu kommen und sie für uns auszunützen.79
77 Arbeiter-Lesevereine der KPD sind nicht bekannt, sie wurden besonders von der sozialdemokrati-
schen und Freidenkerbewegung im 19. Jahrhundert gepflegt.
78 Zu den „Klubs der Freunde des neuen Russland“ siehe Dok. 127a.
79 Zu den Initiativen parteiloser Verlage gehörten in Deutschland beispielsweise der Malik-Verlag von
Wieland Herzfelde sowie der Neue Deutsche Verlag oder die Universum-Bibliothek unter der Ägide
von Willi Münzenberg. Weitere Initiativen wie linke Buchklubs waren in vielen Ländern erfolgreich.
512 1924–1929
Dok. 154
Rundschreiben der Komintern über den Aufbau von
kommunistischen Fraktionen in den „sympathisierenden
Massenorganisationen“ sowie den nichtkommunistischen
Organisationen
[Moskau], ca. 2.6.1926
Typoskript, deutsch. Schweizerisches Bundesarchiv, Bern, J.II 94/484. Mit Stempel: 2.6.1926.
Erstveröffentlichung.
4320/Mel/10 Ex./
Werte Genossen!
Anbei senden wir Euch die Resolutionen über die Arbeit in den mit uns sympathisie-
renden Massenorganisationen.80 Diese Resolutionen, die Euch als Richtlinien dienen
müssen, wurden von einer speziellen Kommission des 6. Erweiterten Plenums des
EKKI ausgearbeitet81 und am 24.IV. vom Orgbüro des EKKI bestätigt. Die Resolutionen
enthalten keine Hinweise über Fraktionsarbeit. Es versteht sich von selbst, dass auch
in den von den Resolutionen aufgezählten Organisationen Fraktionen aufgebaut
werden müssen, und zwar auf Grund der zu dieser Frage bereits erteilten Direktiven
der KI und speziell auf Grund der Beschlüsse der 1. und 2. Orgberatung.82
Wir machen Euch darauf aufmerksam, dass in diesem Falle, d.h. in Bezug auf die
in den Resolutionen erwähnten Organisationen, bei der Anleitung derselben durch
die Fraktionen sehr vorsichtig zu Werke gegangen werden muss: besonders aufmerk-
sam ist darüber zu wachen, dass die Anleitung äusserst elastisch bleibt und keine
Formen des Befehlstons annimmt, denn es sind in der Hauptsache solche Elemente,
die nur anzuleiten haben, für die in erster Linie die gegebene Organisation als solche
eine Rolle spielt, der Klassenkampf und Kommunismus dagegen in ihrer Mentalität
eine untergeordnete Stelle einnimmt. Entsprechend dieser Situation muss die Arbeit
unserer Fraktionen in diesen Organisationen einen verhüllten, maskierten Charakter
tragen und keinesfalls nach aussen hin zu Tage treten, müssen unsere Fraktionen
angesichts der Mentalität der Mitgliedschaft solcher breiter Organisationen und der
unvermeidlichen numerischen relativen Schwäche unserer Fraktionen, innerlich
fest geschlossen zu sein, und in engster Verbindung mit den betr. Parteileitungen
stehen. Wie in allen parteilosen Organisationen müssen die Fraktionen bereits bei
einer minimalen Zahl von Mitgliedern der Partei organisiert werden. Eine der wich-
tigsten organisatorischen Aufgaben dieser Fraktionen ist in erster Linie die Schaf-
fung einer bestimmten, stetig wachsenden Gruppe von Sympathisierenden, auf die
die Fraktionen sich bei der Durchführung ihrer Beschlüsse zu stützen haben. Man
muss versuchen, in amtlichen aufgezählten Organisationen die sympathisierenden
Elemente organisatorisch zusammenzufassen, z.B. in der Gestalt eines linken Flügels,
einer Arbeiter- oder einer Arbeiter- und Bauerngruppe, einer Gruppe der Anhänger
des revolutionären Kampfes gegen die Gewalttaten der Imperialisten in den Kolonien
usw. In ihrer Arbeit haben sich die kommunistischen Fraktionen auf die Sympathisie-
renden zu stützen.
Unsere Fraktionen werden die Arbeit solcher Massenorganisationen unter der
Bedingung tatsächlich leiten können, wenn sie in den wichtigsten Fragen des Lebens
dieser Organisationen von den entsprechenden Parteikomitees Direktiven erhalten,
in ihrer täglichen Arbeit aber grösste Initiative an den Tag legen werden.
Es versteht sich von selbst, dass die entsprechenden Parteikomitees die richtige
und systematische Anleitung der Tätigkeit dieser kommunistischen Fraktionen nur
in dem Falle werden sichern können, wenn diese letzteren engste Fühlung mit den
Parteileitungen aufrecht erhalten und sie auf dem Laufenden ihrer ganzen Tätigkeit
halten werden.
Die Orgabteilung83 bittet, in den Informationsbriefen stets über die auf die Durch-
führung der beiliegenden Resolutionen gerichtete Tätigkeit zu berichten.
83 Die Gesamtheit der Maßnahmen zur „Bolschewisierung“ der Komintern und der kommunisti-
schen Parteien wurden in der von Boris Vasil’ev geleiteten Organisationsabteilung des EKKI zentrali-
siert. Die offensichtliche Krisenentwicklung der Komintern, in der die meisten Sektionen personelle
Säuberungen und Mitgliederverluste erlitten, wurde in den Kommuniqués der Organisationsabtei-
lung als „das Fehlen der organisatorischen Verankerung des politischen Einflusses“ diagnostiziert
(hierzu ausführlich: LaPorte/Morgan/Worley: Bolshevism, Stalinism and the Comintern; Bayerlein:
Transnationale Netzwerke).
514 1924–1929
Dok. 155
Interne Leitsätze der Komintern über pazifistische,
antikolonialistische und andere Massenorganisationen (Rote
Hilfe, Internationale Arbeiterhilfe, Freunde der Sowjetunion)
Moskau, 2.6.1926
Typoskript in deutscher Sprache. Schweizerisches Bundesarchiv, Bern J.II 94/484. Undatiert, das
Anschreiben des Leiters der Organisationsabteilung ist auf den 2.6.1926 datiert. Erstveröffentlichung.
4892/Mel/
1. Allgemeines.
Eine wichtige Rolle in der Agitation unter den breiten parteilosen Massen und bei
ihrer organisatorischen Erfassung kommt den sympathisierenden Massenorganisati-
onen zu.
Zur Organisierung und Mitarbeit in diesen Organisationen bestimmen die Partei-
leitungen verantwortliche Genossen. Diese Arbeit gilt als Parteiarbeit. Die in solchen
Organisationen von den kommunistischen Mitgliedern geleistete Arbeit muss so
durchgeführt werden, dass auch nichtkommunistische Mitglieder zu einer aktiven
Tätigkeit herangezogen werden.
Die Leitung der parteilosen Massenorganisationen darf in keiner Weise mecha-
nisch geübt werden. In Ländern mit starken sozialdemokratischen Parteien oder
aktiven linksbürgerlichen Gruppen kann man anfänglich die kommunistischen Ver-
trauensleute noch mehr im Hintergrund halten, wenn die Gesamtorganisation die
Gewähr bietet, dass der geistige und politische Einfluss der Kommunisten garantiert
ist. Die Taktik der Kommunisten in diesen Massenorganisationen muss von den Par-
teileitungen ständig unter Würdigung aller Verhältnisse nach den jeweiligen Verän-
derungen überprüft und bestimmt werden.
Die Aufgaben solcher Massenorganisationen sind, in ihren Reihen und Gruppen
breite Massen der indifferenten parteilosen Arbeiter zu sammeln, aber auch Gruppen
sozialdemokratischer, syndikalistischer Arbeiter, Intellektuelle und kleinbürgerliche
Kreise an sich zu binden. Wichtig ist die Beteiligung der proletarischen Frauen in
diesen Organisationen.
Diese Massenorganisationen dürfen nicht den Parteifunktionärapparat übermäs-
sig in Anspruch nehmen, sondern müssen es verstehen, auch nicht-kommunistische
Mitglieder in den Funktionärkörper hineinzuziehen. Durch die in den Massenorgani-
sationen zu leistenden Aufklärungs- und Bildungsarbeiten müssen die darin verei-
nigten Arbeiter nach und nach mit der Ideologie der Kommunistischen Internationale
vertraut gemacht und für die kommunistischen Parteien gewonnen werden. Kleine
Dok. 155: Moskau, 2.6.1926 515
und schwache kommunistische Parteien, die selbst noch mit dem Aufbau der eigenen
Partei stark beschäftigt sind, können den Aufbau der Massenorganisationen nach
Massgabe ihrer Kräfte nach und nach durchführen. Der organisatorische Aufbau und
die allgemeinen Richtlinien der Arbeit in diesen Massenorganisationen werden mit
den kommunistischen Parteien und der Leitung der Komintern vereinbart.
Zur Durchführung allgemeiner Aktionen gegen den Terror und zur Gewinnung der
breitesten Massen kann und muss die IRH auch mit anderen Organisationen gemein-
same Organe mit verschiedenen Arbeiter- und Bauernorganisationen, mit der linken
Frauenbewegung, wie auch mit der sog. pazifistisch-humanitären Intelligenz (Ligen
für Menschenrechte, Freidenkervereine, Schriftsteller, Journalisten- und Advokaten-
vereinigungen usw.) für dauernde wie auch vorübergehende Zwecke bilden. Solche
gemeinsamen Organe können vorübergehend auch international gebildet werden.
Die Aufgaben der IRH bilden ein geeignetes Feld zur Ausübung praktischer Klas-
sensolidarität auch für die Massen der meist politisch rückständigen, unorganisierten
werktätigen Frauen, die hierdurch in grossem Umfange planmässig in die proletari-
sche Klassenfront eingegliedert werden können.
Die IRH ist eine Elementarschule politischer Erziehung und dient zur Gewinnung
neuer Elemente aus den Reihen der parteilosen und anderen Parteien angehörenden
Massen für den proletarischen Klassenkampf. Die IRH baut ihre Organisationen nach
dem Prinzip der individuellen und Kollektivmitgliedschaft auf und kann sich nach
Betriebs- und Strassenorganisationen gliedern.
c) Die bisherige Arbeit der IAH zeigt, dass ihr eine besondere Bedeutung
zukommt in den Ueberseeländern, in denen noch keine oder nur schwache kommu-
nistische Parteien bestehen. Die IAH muss deshalb ihre Aufmerksamkeit lenken auf
den Ausbau ihrer bereits begonnenen Organisation in China, Indien, Japan etc. ohne
ihre Arbeit in den europäischen Ländern zu vernachlässigen.
d) Die IAH muss in Zukunft ihre gut entwickelten Agitationsmittel, Film, Verlag,
Illustrierte Zeitung etc. noch mehr ausbauen und diese Tätigkeit der gesamten revolu-
tionären Bewegung nutzbar machen.
Die IAH ist eine wichtige Hilfsorganisation von grossem Wert, und Sektionen der
IAH sollen in möglichst vielen Ländern geschaffen werden.
Es kann nur zweckmässig sein, wenn die ersten Gruppen in der Provinz gebildet
und an ihre Spitzen Parteilose, sozialdemokratische oder linksbürgerliche Männer
gestellt werden. Der Mitgliedsbeitrag muss ein minimaler sein. Die Haupttätigkeit
besteht darin, Aufklärung in den breitesten Kreisen über Russland zu verbreiten und
dadurch Sympathien für Russland zu erwecken. Das kann geschehen durch Veran-
staltung von Vorträgen, Lichtbildervorstellungen russischer Filme, Kunst und The-
aterabende. In den Hauptstädten können Klubs eingerichtet werden, wo russische
Zeitschriften, Bücher, Bilder etc. ausliegen. Es können Tournees von russischen Artis-
ten, Arbeitersportgruppen, russischer Arbeiter etc. organisiert werden. Die Vereine
sollen mit russischen Schulen, Arbeiteruniversitäten, Betriebsräten usw. in Brief-
wechsel treten. Wichtig ist die Organisierung russischer Plakatkunst und Kleinkunst-
ausstellung.
87 Die Antikriegsaktivitäten der Komintern wurden seit 1927 teilweise künstlich verstärkt, ohne dass
die zahlreichen Initiativen jedoch in einer internationalen Massenorganisation zusammengefasst
wurden. Im Zuge der Kampagne gegen die verschärfte Kriegsgefahr gegen die Sowjetunion wurde
1927 aus fraktionellen Überlegungen unter Druck der KP der Sowjetunion die Friedenslosung beiseite
geschoben. Das Juliplenum des ZK der VKP(b) (29.7.–9.8.1927) wandte sich in einer Resolution über
die internationale Lage und die Komintern scharf gegen die „pazifistischen“ Losungen Trotzkis. Das
EKKI sollte jede ausschließliche Propagierung einer „abstrakten Losung des Friedens“ ablehnen. Die
Vereinigte Opposition hatte die Organisierung eines konsequenten Friedenskampfes in jedem Land
gefordert, dagegen wurde nun die Verteidigung der Sowjetunion und der chinesischen Revolution
gestellt. Trotz Initiativen wie des Kontinentalen Komitees gegen den Krieg in Montevideo und des
Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus unter Barbusse wurde noch bis 1933/1934 eine Verschmel-
zung der antifaschistischen und der Antikriegsbewegung abgelehnt. Eine breitere Erfassung der
“Weltfriedensbewegung“ erfolgte erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre im Rahmen des Rassem-
blement universel pour la paix. Siehe: Über die internationale Lage. In: Die Kommunistische Partei
der Sowjetunion in Resolutionen, VI, 228 ff.; eine Auswahl der parteioffiziellen Dokumente siehe:
Elfriede Lewerenz, H. Geisler (Hrsg.): Die Kommunistische Internationale über die Aufgaben der Kom-
munisten im Friedenskampf. Auswahl von Dokumenten und Materialien. 1917–1939. Hrsg. Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost), Dietz, 1985, 304 pp.; vgl. zusammenfassend:
Bayerlein: Transnationale Netzwerke.
Dok. 155: Moskau, 2.6.1926 519
Eine derartige Organisation kann unter günstigen Umständen eine Reihe linksge-
richteter Vereine und Organisationen unter unseren Einfluss bringen. Die zu gewin-
nenden Kollektivmitglieder könnten auch die Mittel aufbringen, die zu einer grossen
Aufklärungskampagne gegen die imperialistischen Kriegsrüstungen notwendig
sind. Die Initiative zur Schaffung einer derartigen Vereinigung kann mit einer grös-
seren Kundgebung, oder Antikriegsdemonstration (z. B. am 4. August oder 1. Mai)
verbunden werden. Die Form und die Taktik dieser Vereinigung muss unter ernster
Berücksichtigung der Verhältnisse in den einzelnen Ländern gewählt werden. In ver-
schiedenen Ländern, wo, wie z. B. in Schweden breite bürgerliche pazifistische Orga-
nisationen bestehen, die eine kommunistische Arbeit innerhalb der bürgerlichen
Vereinigung ermöglichen, muss diesen Organisationen gegenüber die Taktik der Ein-
heitsfront angewendet werden.
In anderen Ländern wieder, wie in Deutschland, wo neben rechtsbürgerlichen
Friedensgesellschaften, linksorientierte mit uns sympathisierende pazifistische
Gruppen bestehen, kann eine Blockbildung zwischen den mit uns sympathisieren-
den Organisationen und solchen linksgerichteten Organisationen einen Linksblock
gegen den Krieg bilden und dadurch auch auf andere weiter abseits stehende Organi-
sationen einen grossen Einfluss gewinnen. In verschiedenen Ländern, in denen die
Komparteien illegal sind, kann eine solche Friedensorganisation, zumal wenn die
betreffenden Länder stark unter Militarismus und Kriegsrüstungen leiden, den Kom-
parteien die Sammlung breiter Massen in einer legalen Organisation ermöglichen.
Wie bei allen ähnlichen Organisationen darf auch hier die Gründung und Bildung
derartiger Friedensorganisationen nicht starr nach einem Schema erfolgen, sondern
muss geschickt den besonderen Verhältnissen in den einzelnen Ländern angepasst
sein.
88 Gegen die französische und spanische Ausdehnung ihrer unmittelbaren Machtzonen in Marok-
ko entspann sich, angeführt von Abd el-Krim, dem Führer der Rifkabylen, ein mehrjähriger Krieg
(Rifkrieg). Während er gegen Spanien trotz des massenhaften Einsatzes von Senfgas siegreich verlief
und 1923 zur Proklamierung der Rif-Republik führte, folgte der Besetzung Marokkos durch 250.000
Truppen Pétains und dem massiven Einsatz von Chemiewaffen die Niederlage. Im April 1925 wurde in
Paris unter dem Vorsitz von Maurice Thorez ein Aktionskomitee gegen den Krieg im Er-Rif gebildet.
520 1924–1929
Hauptlosungen waren der „sofortig(e) Frieden mit dem Rif, die sofortig(e) Evakuierung Marokkos“,
und die „Verbrüderung der französischen Soldaten mit den Rifkabylen“. Französische KP-Führer,
unterstützt von zahlreichen Intellektuellen, darunter die Surrealisten, wurden für diese Kampagne
inhaftiert (siehe u.a.: Dirk Sasse: Franzosen, Briten und Deutsche im Rifkrieg 1921–1926. Spekulan-
ten und Sympathisanten, Deserteure und Hasardeure im Dienste Abdelkrims, München, Oldenbourg,
2006, S. 262 (Pariser Historische Studien).
89 Bereits im Dezember 1924 wurde auf Initiative der Komintern in der mexikanischen Hauptstadt die
Liga Antiimperialista Panamericana konstituiert, im Februar 1926 wurde auf Initiative der Internatio-
nalen Arbeiterhilfe die Liga gegen koloniale Unterdrückung gegründet. (siehe Dok. 167 u.a.). Auf dem
Brüsseler Kongress (10.–15.2.1927) erfolgte dann die Gründung der Liga gegen den Imperialismus und
für nationale Unabhängigkeit als internationale Peripherorganisation der Komintern (Hans Piazza
(Hrsg.): Die Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit. 1927–1937. Zur Geschichte
und Aktualität einer wenig bekannten antikolonialen Weltorganisation. Protokoll einer wissenschaft-
lichen Konferenz am 9. und 10. Februar 1987 an der Karl Marx-Universität in Leipzig, Leipzig, 1987;
neuerdings: Fredrik Petersson: Willi Münzenberg. Siehe Dok. 251 mit weiterer Literatur).
90 Gemeint ist das 1922 abgeschlossene Abkommen zur Begrenzung und Abrüstung der Seestreit-
kräfte im pazifischen Raum, wodurch sich die USA, Großbritannien, Frankreich und Japan ihren re-
gionalen Einfluss sicherten. Deutschland war nicht beteiligt, wurde jedoch in der Folge nach dem
Verlust der Kolonien zu einem der wichtigsten Handelspartner Chinas, zum zentralren Faktor für die
Militarisierung und Industrialisierung Chinas und bekleidete eine führende Rolle in der chinesischen
Außenpolitik.
Dok. 155: Moskau, 2.6.1926 521
7. Proletarische Selbstschutzorganisationen.
In verschiedenen kapitalistischen Ländern, in denen der proletarische Klassenkampf
sich wiederholt bis zu revolutionären Kämpfen steigerte, und in anderen Ländern, in
denen besonders starke faschistische und terroristische Massenorganisationen der
Bourgeoisie entstanden sind, entwickelten sich proletarische Selbstschutzorganisa-
tionen zum Zwecke des Kampfes gegen den bürgerlichen Terror und den Faschismus.
Solche Organisationen entstanden in Oesterreich im Jahre 1918–1920 im proletari-
schen Ordner-Dienst, in Italien, in den Jahren 1920–1922, in der Tschechoslowakei
in Böhmen im proletarischen Selbstschutz und ganz besonders in einer grossen
Massenbewegung in Deutschland, in den proletarischen Hundertschaften im Jahre
1922–1923 und ferner im Roten Frontkämpferbund und im Roten Jungsturm im Jahre
1924–1926.91
In diesen proletarischen Selbstschutzorganisationen fanden sich zeitweise
die Arbeiter der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften und der Kommunisten zum
gemeinsamen Kampfe gegen den kapitalistischen Terror und den Faschismus zusam-
men, oder aber wie im Roten Frontkämpferbund die Kommunisten mit den parteilo-
sen Massen des deutschen Proletariats gegen die bürgerlichen Selbstschutzorganisa-
tionen des Reichsbanners (Sozialdemokraten, Zentrum und Demokraten).92
Es ist die Aufgabe der Kommunistischen Parteien, wo solche proletarischen Mas-
senorganisationen bestehen, diese zu fördern und durch systematische Fraktionstä-
tigkeit der Kommunisten zu unterstützen, sie mit den politischen Aufgaben der Kom-
munistischen Partei vertraut zu machen und sie zur engsten Mitarbeit als Hilfstruppen
bei allen Aufgaben der Partei heranzuziehen. In den Ländern, wo solche Massenor-
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion verurteilte am 27.5.1926 erneut die Haltung der polni-
schen Kommunisten, die anlässlich seines „Maiputsches“ eine kritische Unterstützung Piłsudskis
als Losung ausgegeben hatte. In diesem Zusammenhang wurde auch Die Rote Fahne gerügt, weil sie
am 23.5. Materialien der KP Polens in dieser Frage abgedruckt hatte.95 Am 31.5.1926 wurde die Kritik
noch ausgeprägter: Ein von Bucharin und Molotov formuliertes Telegramm an die KP Polens wurde
beschlossen, in dem es unter anderem hieß: „Wir befinden, dass die Korrespondenz, die von Euch an
Die Rote Fahne verschickt wurde, nichts mit dem Bolschewismus gemein hat.“96
93 Im Bildungsbereich unterschied man, wie es seit 1925 in der Komintern Brauch war, zwischen der
sog. „Selbstbildung“ der Parteimitglieder und der „Elementarbildung“, die vor allem die einfachen
Mitglieder betraf. Als weitere Bildungstypen galten die „politische Schulung der Funktionäre“, die
„Zentralschulen“ auf Parteiebene sowie die allgemeinen Probleme der „Arbeiterbildung“ und die sog.
„Schulpolitik der Parteien“.
94 Auch hier übernahm die Komintern die Vielzahl der häufig milieubestimmten und „kultursozia-
listischen“ Elemente aus der Geschichte der Vorkriegssozialdemokratie. Siehe u.a.: Dietmar Klenke:
Die SPD-Linke in der Weimarer Republik. Eine Untersuchung zu den regionalen organisatorischen
Grundlagen und zur politischen Praxis und Theoriebildung des linken Flügels der SPD in den Jahren
1922–1932, 2 Bde., Münster, Lit-Verlag, 1983.
95 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 77. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 371.
96 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 83–84. Publ. in: Ibid., S. 375–376.
524 1924–1929
Dok. 156
Brief Molotovs an Stalin mit Informationen über den Aufenthalt
Ernst Thälmanns in Moskau
[Moskau], nach 3.6.1926
Gen. Stalin!
Zusätzlich zu meinem Telegramm vom 3/VI. berichte ich Dir über die gestrige PB[-
Sitzung]. [...]
2. Thälmann ist hier gewesen. Wir (Buch[arin] und ich) haben uns lange mit ihm
unterhalten. Er brachte die Thesen des deutschen ZK über die politische Lage mit,
zeigte sie aber nicht Sin[owjew], da die Thesen sich als schwach herausstellten (es
gibt keine genügende Kritik der „Linken“ [...]97, schlecht betreffs Piłsudski98 – er sagt,
die Artikel der Pravda hätten ihn verwirrt usw.).99 Thälmann fuhr zurück, nachdem
er mit Sin[owjew] gesprochen hatte, ohne jedoch einen Vortrag im EKKI-Präsidium
zu halten. Auch hier veranstaltet Sin[owjew] ein Gezänke: Wer hat Thälmann hierher
kommandiert? (Ich weiß es auch nicht!) Wohin sind die Thesen des deutschen ZK
verschwunden? Usw. [...]100
In einem Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion vom 19.6.1926 über Ruth Fischer
wurde ihre „Flucht nach Deutschland“ – am 5.6.1926 war sie trotz ausdrücklichen Verbots aus Mos-
kau abgereist – als schweres disziplinarisches Vergehen verurteilt. Jegliche Tätigkeit für die Komin-
tern wurde ihr bis zum nächsten erweiterten Plenum des EKKI verboten. Die KPD wurde aufgefordert,
die Maßnahmen zu ergreifen, die sie für nötig hielte. Ruth Fischer wurde gewarnt, beim nächsten
disziplinarischen Verstoß würden härtere Maßnahmen ergriffen. Im Geheimen wurde ihr Parteiaus-
schluss vorbereitet.101
In einem Beschluss des Politbüros zu den Geheimverhandlungen mit der Bersol AG und der Firma Jun-
kers zur Herstellung von Giftgasgranaten und Bomberflugzeugen vom 1.7.1926 hielt das Politbüro des
ZK der KP der Sowjetunion, was die deutsch-sowjetische (Tarn-)Aktiengesellschaft Bersol AG zur Her-
stellung von Giftgasgranaten anging, den Bruch mit den Deutschen und eine vollständige Umorientie-
rung der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit für notwendig. (Als Gründe für die von Reichswehr
wie russischer Seite festgestellte negative Bilanz werden in der Literatur die ökonomische Schwäche
und Fehlkalkulationen der beteiligten, zumeist mittelständischen Firmen, die mangelnde staatliche
Subventionierung sowie die Unwägbarkeiten der ökonomischen Situation in der UdSSR angegeben).
Die genaueren Modalitäten des Bruchs mit den Deutschen in der Angelegenheit Bersol sollten vom
Politbüro am 5.7.1926 erarbeitet werden.102
Thälmann nach Moskau und dass die von letzterem mitgebrachten Thesen zum Plenum des ZK der
KPD entgegen der Zusage von Gen. Thälmann, ihm diese zuzuschicken, von ihm nicht erhalten wur-
den.“ Die Russische Delegation beschloss dazu „2. a) Dem Präsidium heute vorzuschlagen, die Reso-
lution, die von der Russischen Delegation in dieser Frage bestätigt wurde, anzunehmen. b) Mit der
Abfassung einer Resolution über die Arbeitslosen, angesichts der Bitte der deutschen Genossen um
eine gemeinsame [...] Sitzung der Russischen und Deutschen Delegation, Gen. Sinowjew, Bucharin,
Manuilski und Lozovskij zu beauftragen [...]. Bei einstimmigem Beschluss der Vertreter der VKP in der
gemeinsamen Sitzung die Resolution als verabschiedet zu befinden. [...] d) Über das Sekretariat des
EKKI beim ZK der KPD die Thesen anzufordern, die von letzterem zum Plenum des ZK zusammenge-
stellt wurden.“ (RGASPI, Moskau, 508/1/23, 1).
101 RGASPI, Moskau, 17/3/569, 6–7. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 385–387.
102 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 94–95. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 127–130; APRF, Moskau, 03/64/651, 126. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin,
I. Dok. 428.
526 1924–1929
Dok. 157
Beschluss des Politbüros des ZK der VKP(b) über die Vorschläge
der Firma „Junkers“ zur Lieferung von Bombern an die
Sowjetunion
[Moskau], 1.7.1926
Anlage Nr. 1
Zum P. 1–G, Pr. Nr. 37.
BESCHLÜSSE
DER KOMMISSION ZUR FRAGE DER NEUEN VORSCHLÄGE DER FIRMA „JUNKERS“
vom 28. Juni 1926.
(angenommen vom Politbüro des ZK der VKP(b), 1.VII.1926
1.– Es für nötig zu befinden, den Beschluss des Politbüros vom 4. März 1926 über
die Liquidierung des Konzessionsvertrags mit „Junkers“ in Kraft zu lassen. Angesichts
des großen Interesses der Firma daran, dass die Liquidierung des Vertrags nicht mit
der Entlarvung von für die Firma kompromittierenden politischen und finanziellen
Einzelheiten einhergeht, es als möglich zu befinden, der Firma in dieser Hinsicht ent-
gegenzukommen, falls die Firma ihre materiellen Ansprüche zurückstellt.
2.– Unter dieser Bedingung es als möglich zu erachten, von der Firma zwölf Bom-
benflugzeuge anzunehmen, bei entsprechenden Bedingungen bezüglich des Preises
und zur notwendigen Umrüstung.
3.– Angesichts des Interesses der Firma daran, dass die Liquidierung des alten
Vertrags nicht den Charakter eines völligen Bruchs erhält, es als möglich zu erachten,
– unter Einhaltung der oben aufgeführten Bedingungen – mit der Firma „Junkers“
zwecks Abschlusses eines Konzessionsvertrags über technische Hilfe in Verhandlun-
gen zu treten.103
103 Aufgrund des Verbots der Produktion in Deutschland arbeitete seit 1923 u.a. in Fili bei Moskau
mit geheimer Unterstützung durch die Reichsregierung ein Zweigwerk von Junkers zur Flugzeugher-
stellung. Junkers-Flugzeuge wurden in den 1920er Jahren Hauptbestandteil der zivilen Luftflotte der
Sowjetunion. Nachdem zunächst am 12.11.1925 die Konzessionsverhandlungen mit Junkers zur wei-
teren Produktion in der Sowjetunion nicht weiterverfolgt werden sollten (siehe Dok PB 12.11.1925),
wurde dies seitens des Politbüros modifiziert zugunsten der Lieferung von Junkers Bombenflugzeu-
gen und weiterer technischer Hilfe. Nicht zuletzt als Folge der „Granaten-Affäre“ (siehe Dok. 166) wur-
den die Verträge mit Junkers, die sich 1926 aus Fili zurückgezogen hatte, zum Flugzeugbau in der So-
wjetunion endgültig aufgelöst. Für eine gewisse Zeit erhielt man allerdings weiterhin aus Schweden
Flugzeuge, die in Fili zu Bombern umgebaut wurden. In der Literatur wird u.a. angeführt, dass die
Dok. 157: [Moskau], 1.7.1926 527
Im Verlauf des gesamten Sommers 1926 beschäftigte die revolutionäre Situation in England, der eng-
lische Bergarbeiterstreik, der dem Generalstreik folgte, weiterhin das Politbüro des ZK der KP der
Sowjetunion. Am 8.7.1926 wurde beschlossen, den Kampf gegen die „sogen. Linke“ in der englischen
KP zu forcieren, die die Haltung der Sowjetunion und der Kominternführung zur Unterstützung des
vom Generalrat der britischen Gewerkschaften und dem Zentralrat der Gewerkschaften der UdSSR
beschickten „Anglo-Russischen Komitees“ scharf kritisierte. Statt den Bruch zu vollziehen, wurde
letztere selbst dann noch als freundschaftlicher Partner behandelt, als der englische Generalrat der
Gewerkschaften den Generalstreik beendet und damit auch die Bergarbeiter in ihrem Streik allein
gelassen hatte.106 Am 8.8.1926 wurden Direktiven verabschiedet, worin u.a. die weitere Kritik des
Generalrats der britischen Gewerkschaften sowie die Festigung der prosowjetischen Haltung des
Bergarbeiterführers Cook gefordert wurde.107 Als Teilantwort an die Kritiker nahm das Politbüro am
12.8.1926 eine Resolution des Zentralrats der Gewerkschaften der UdSSR an, in der das Verhalten der
englischen Delegation im Anglo-Russischen Komitee in Paris kritisiert wurde, die sich der Diskussion
über die Unterstützung der streikenden Bergarbeiter verweigert habe.108 Am 26.8.1926 wurde auf
Vorschlag Molotovs beschlossen, die englische KP solle u.a. Neuwahlen fordern.109
Am 2.8.1926 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den Deutschen den Abtrans-
port von 400.000 Geschossen (wohl derjenigen, die in den von Deutschland und der Sowjetunion
betriebenen Rüstungsbetrieben produziert wurden) zu erlauben. Unšlicht und GPU-Leiter Vjačeslav
Menžinskij wurden damit beauftragt, die Angelegenheit so konspirativ wie möglich durchzuführen.110
Junkers-Flugzeuge für den militärischen Einsatz nicht geeignet seien (siehe: Dok. 166; vgl. Dimitri Ale-
xejewitsch Sobolew: Deutsche Spuren in der sowjetischen Luftfahrtgeschichte, Bonn, Mittler, 2000).
104 Das Hauptkonzessionskomitee war beim Rat der Volkskommissare der UdSSR angesiedelt. Im
November 1922 hatte Junkers eine Konzession zum Bau von 300 Flugzeugen in der Sowjetunion pro
Jahr erhalten, von denen die Hälfte an die Rote Armee gehen sollte.
105 VSNCh (Vsesojuznyj Sovet Narodnogo Chozjajstva): Der oberste Volkswirtschaftsrat der Sowjet
union, der die gesamte Wirtschaft bestimmen sollte.
106 RGASPI, Moskau, 17/3/573, 2–3. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 388–389.
107 RGASPI, Moskau, 17/3/576, 1–2. Publ. in: Ibid., S. 398–391.
108 RGASPI, Moskau, 17/3/580, 3, 6, 8, 17–20. Publ. in: Ibid., S. 394–398.
109 RGASPI, Moskau, 17/162/3, 109. Publ. in: Ibid., S. 400–401.
110 APRF, Moskau, 03/64/651, 129. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, I, Dok. 430.
528 1924–1929
Am 12.8.1926 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, das eher theoretisch orientierte
Zentralorgan der Komintern, die Kommunistische Internationale, in ein „wöchentliches Kampforgan
der Komintern“ umzuwandeln. Mit der Umsetzung wurde die VKP(b)-Delegation im EKKI betraut.111
Dok. 158
Brief Stalins an Heinz Neumann gegen eine Veröffentlichung der
Erklärung der russischen Linken Opposition in Deutschland
[Moskau], 20.8.1926
Ihren Brief habe ich erhalten. Ich entschuldige mich für die verspätete Antwort. Ich
schicke Ihnen die Erklärung der Opposition zur Kenntnisnahme.113 Ich kann mich
jedoch nicht mit einer Veröffentlichung bei Euch einverstanden erklären. Ich bin
ebenfalls dagegen, dass auch nur ein Zitat aus der Erklärung in eurer Presse auftaucht.
Sie kennen den Grund: Das Juliplenum des ZK zog diese Erklärung als spalterisch
aus dem Verkehr, und wir dürfen dem Beschluss des ZK nicht zuwiderhandeln.114 Ich
denke jedoch, dass die Sie besonders interessierende Passage in der Erklärung (der
bekannte Absatz der Erklärung darüber, dass die Opposition von 1923 Recht gehabt
habe),115 – diese Passage der Erklärung vollständig in der Rede des Gen. Sinowjew
zum Tagespunkt über den Fall Laševič auftaucht.116 Ich denke, Sie könnten sich in
der Presse auf diese Stelle in der Rede des Gen. Sinowjew berufen, sie als Zitat in
eurer Presse anführen und dabei sagen, dass Gen. Sinowjew beim Plenum des ZK und
der ZKK117 das und das gesagt habe. Vergleichen sie diese Stelle in der Erklärung der
115 Der Widerstand Stalins dürfte nicht nur auf die politischen Stellungnahmen Sinowjews im Sinne
der Opposition Trotzkis für einen „Neuen Kurs“ gegen die Bürokratisierung der Partei zurückzufüh-
ren gewesen sein. Trotzki kontextualisierte später die Rede Sinowjews: „Und zum Schluß war der letz-
te Brief, den Lenin in seinem Leben schrieb, oder vielmehr diktierte, ein Brief an Stalin, in dem er alle
parteigenössischen Beziehungen zu ihm abbrach. [...] Indem Genosse Sinowjew auf dem Juliplenum
des Jahres 1926 die ‚Warnungen’ aufzählte, die Lenin Stalin gab, sagte er: ‚Die dritte Warnung aber be-
stand darin, daß zu Beginn des Jahres 1923 Wladimir Iljitsch in einem persönlichen Brief an Genossen
Stalin alle parteigenössischen Beziehungen mit ihm abbrach.’ M. Ulianowa [die Schwester Lenins, d.
Hrsg.] suchte die Angelegenheit so darzustellen, als sei der Abbruch aller genossenschaftlichen Be-
ziehungen, den Lenin Stalin in seinem letzten Brief vor seinem Tode ankündigte, durch persönliche
und nicht durch politische Ursachen herbeigeführt. Ist es nötig, daran zu erinnern, daß bei Lenin
persönliche Motive immer aus politischen, revolutionären und parteilichen Gründen herrührten?’ [...]
Eifrige Versuche sind seitdem gemacht worden, das moralische Gewicht des letzten Briefes Lenins
herabzusetzen. Die Partei hat ein Recht, diesen Brief kennenzulernen! So stehen die Tatsachen. So
betrügt Stalin die Partei.“ Leo Trotzki: Die wirkliche Lage in Rußland, S. 246f.
116 Die „Laševič-Belen’kij-Affäre“ wurde zur Diskreditierung Sinowjews und seiner leitenden Rolle
in der Komintern und zur Reorganisierung des Politbüros im Sinne Stalins eingesetzt. Der Brief an
Neumann macht deutlich, wie Stalin es erreichte, dem Kominternapparat und der Kominternspitze
unmittelbar „fraktionelles Vorgehen“ vorzuwerfen, und damit die Handhabe zu schaffen, um Sino-
wjew aus dem Politbüro der VKP(b) – und später aus der Komintern – auzuschliessen. Michail Laševič
war stellvertretender Kriegskommissar, Grigorij Belen’kij arbeitete in der Agitpropabteilung der Kom-
intern, beide nahmen am 6.6.1926 an einer „illegalen fraktionellen Versammlung“ der neuen Oppo-
sition „im Walde bei Moskau“ teil. Nach dem Ausschluss Sinowjews konzentrierte sich die Stalin-
fraktion auf den Ausschluss Trotzkis. Siehe: Beschluß der ZKK der KPSU in der Sache der Genossen
Bjelenki, Tschernyschew und anderer Genossen vom 12.7.1926 [richtig: 12.6.]. In: Inprekorr, 30.7.1926,
S. 1603f.; Catherine Merridale: Moscow Politics and the Rise of Stalin. The Communist Party in the
Capital, 1925–32, Basingstoke, Macmillan, 1990, S. 38; Dahmer/Feikert/Lauscher u.a.: Leo Trotzki.
Schriften, 3, S. 504f., 524f.).
117 ZKK – Zentrale Kontrollkommission der KP der Sowjetunion. Am 18.2.1927 ließ die Komintern
die Einrichtung von Kontrollkommissionen in den kommunistischen Parteien der kapitalistischen
Länder nach dem Vorbild der Sowjetunion unter dem Vorwand untersagen, dass diese Parteien noch
nicht die notwendige Entwicklungsstufe erreicht hätten. Der tatsächliche Grund dürfte eher die Be-
fürchtung gewesen sein, dass solche Kommissionen gegen die jeweiligen Parteiführungen ausgespielt
werden könnten: „Das politische Sekretariat des EKKI hat zur Frage der Einführung bezw. des Beste-
hens von Kontrollkommissionen der Parteien Stellung genommen, und hat sich gegen die Einsetzung
von solchen Kommissionen ausgesprochen, weil es diese Einrichtungen in den Parteien der kapita-
listischen Länder für unzweckmässig hält. Eine vom Parteitag gewählte Kommission, wie sie in der
K.P.S.U. existiert, entspricht noch nicht der heutigen Entwicklungsstufe dieser Parteien. Solch ein
Organ, das nicht dem Zentralkomitee, sondern unmittelbar dem Parteitag gegenüber verantwortlich
wäre, könnte sich unter gewissen Umständen zum Konkurrenzorgan des Z.K. verwandeln, und sogar
530 1924–1929
Opposition (siehe S. 15) mit der bekannten Passage aus der Rede des Gen. Sinowjew
über den Fall Laševič (siehe Stenogramm des ZK-Plenums, 4. Auflage, S. 32),118 – und
Sie werden sich überzeugen, dass der Sie interessierende Absatz der Erklärung der
Opposition vollständig, ohne jegliche Änderung, in der Rede des Gen. Sinowjew auf
dem ZK-Plenum zum Fall Laševič wiedergegeben wird. Ich denke, dass es besser ist,
so zu verfahren, und dies wird Sie völlig zufrieden stellen.
Es wäre ebenfalls nicht verkehrt, die Aussage Sinowjews in seiner Rede auf dem
Plenum darüber, dass die Opposition des Jahres 23 Recht gehabt habe, seiner Erklä-
rung im Januar 25 in der Rede „Über die Notwendigkeit dreifacher Absicherung“
gegenüberzustellen, wo er wörtlich sagt, dass „wer die Partei im Bunde mit Trotzki
und in Kooperation mit jenem Trotzkismus, der offen gegen den Bolschewismus auf-
tritt, aufbauen will, der weicht von den Grundlagen des Leninismus ab“ (siehe Bro-
schüre Sinowjews „Über die Notwendigkeit dreifacher Absicherung“, S. 40).119 Dies
ist der klare Beleg dafür, wie prinzipienlos Sinowjew ist und wie tief er gefallen ist.
Diese Broschüre schicke ich Ihnen als Material. Ich schicke Ihnen ebenfalls das Ste-
nogramm des ZK-Plenums zum Tagespunkt über den Fall Laševič, wo die von mir
oben erwähnte Rede Sinowjews vorhanden ist.
Meiner Meinung nach haben Sie gut daran getan, Maslow und Ruth Fischer aus-
zuschließen. Feinde des Bolschewismus dürfen in einer bolschewistischen Partei
keinen Platz haben.
Gruß an Thälmann, Braun [d.i. Arthur Ewert], Dengel.
Ich drücke Ihre Hand.
Wohl im Zusammenhang mit der Verdrängung von Sinowjew aus der Komintern beschließt das Polit-
büro des ZK der KP der Sowjetunion am 2.9.1926, Bucharin an zwei Wochentagen, „nach Möglichkeit
Mittwochs und Freitags“, für die Komintern-Arbeit freizustellen.120
eventuell gegen das letztere ausgenutzt werden. Daher hält es das Politsekretariat für angebracht,
dass die Zentralkomitees sich auf die Ernennung von Beschwerdekommissionen beschränken, die
sich aus der Partei längere Zeit angehörenden Genossen zusammensetzt, die keine Z.K.-Mitglieder
sind. Die Beschwerdekommissionen sollen den betr. Z.K.’s unterstehen. Mit Kommunistischem Gruss.
Für den Leiter der Orgabt[eilung] des EKKI.“ (Typoskript, deutsch. Schweizerisches Bundesarchiv,
Bern, J.II 94/558).
118 Weder die „Erklärung der Dreizehn“, noch das Stenogramm der Rede Sinowjews wurden seiner-
zeit publiziert.
119 Es handelt sich vermutlich um die Rede Sinowjews auf dem sowjetischen Lehrerkongress zum
Thema „Die Lehrerschaft und die Diktatur des Proletariats im Januar 1925. Siehe: G. Sinowjew: Le
corps enseignant et la dictature du prolétariat. Discours prononcé au Congrès des Instituteurs de
lʼU.R.S.S., janvier 1925, Paris, lʼInternationale des Travailleurs de lʼEnseignement, 1925 (russisch: G.
Zinov’ev; Učitel’stvo i diktatura proletariata. Reč’, Moskva, Rabotnik prosveščenija, 1925).
120 RGASPI, Moskau, 17/3/584, 6. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 402–403.
Dok. 159: [Berlin], 1.9.1926 531
Dok. 159
Erklärung von 700 KPD-Mitgliedern zur russischen Frage und
gegen die Verfolgung der Linken Opposition in der Sowjetunion
(„Brief der 700“)
[Berlin], 1.9.1926
Flugblatt/Plakat, 4 S., deutsch. Bundesarchiv, Berlin. Links oben Stempel: „Oberkommissar für
Überwachung der öffentlichen Ordnung“. Erstmals vollständig publiziert in: Georg Jungclas: Von der
proletarischen Freidenkerjugend im Ersten Weltkrieg zur Linken der siebziger Jahre. Eine politische
Dokumentation. 1902–1975, Hamburg, 1980, S. 39–47. Später als Erklärung der KPD-Linken zur
russischen Frage in: Helmut Dahmer, Wolfgang Feikert, Horst Lauscher u.a. (Hrsg.): Leo Trotzki:
Schriften, 3 Bde., Hamburg, Rasch und Röhring, 1997, Bd. 3.1, Linke Opposition und IV. Internationale
(1923–1926), S. 671–680.
121 Unterzeichner des Dokuments, das als Solidaritätserklärung mit der Leningrader Opposition
konzipiert war und eine Grundlage für die Vereinigung der Linksopposition in Deutschland war,
waren neben bekannten Repräsentanten der Parteilinken wie Urbahns und Hans Weber als ZK-
Mitglieder sowie Scholem eine Vielzahl mittlerer und unterer Funktionäre. Nachdem vorher bereits
Korsch, Katz, Maslow und Fischer verdrängt wurden, erfolgte als Reaktion der Parteiführung, die
den Ruf „Zurück zu Lenin!“ und den Widerstand gegen die Stalinisierung als Provokation und „anti-
bolschewistische Schmähschrift“ abqualifizierte, der Ausschluss weiterer bekannterer Mitglieder wie
Urbahns, Scholem, und Grylewicz und bis zum Essener Parteitag 1927 der Ausschluss ganzer Orts-
gruppen mit insgesamt ca. 1300 Funktionären (Weber: Die Wandlung, I, S. 178–185).
122 Aus Moskau sandte der Parteiapparat unter der Leitung von M.N. Rjutin starke Kräfte zu den Par-
teiversammlungen und Zellen, um die Arbeiter einzuschüchtern und von einer Stellungsnahme abzu-
halten. Sinowjew selbst wurde so auf der großen Versammlung der Putilov-Arbeiter in Leningrad eine
Niederlage beigebracht. Aufgrund der massierten Interventionen des Apparats wurde am 16.10.1926
ein prekäres Friedensabkommen mit dem Führungsapparat der Partei abgeschlossen. Es kam zwar
weiterhin zu Parteiausschlüssen, jedoch auch zu Wiederaufnahmen, darunter auch Unterwerfungs-
erklärungen wie seitens Krupskajas, Šljapnikov und Klavdija Nikolaeva aus Leningrad. Siehe: Broué:
Histoire de l’Internationale, S. 456f.
532 1924–1929
und die Revolution läßt sich nicht durch künstlich herbeigeführte „Mehrheitsbe-
schlüsse“ betrügen!
Erklärung.
An die Exekutive der Komintern! An das ZK der KPdSU! An das ZK der KPD!
Werte Genossen!
Mit den letzen Beschlüssen des ZK und der ZKK der KPdSU sind die Streifragen des 14.
Parteitages der KPdSU123 mit unerhörter Schärfe erneut vor den Kommunisten aller
Länder aufgerollt.
Die neuen organisatorischen Maßnahmen gegen die verschiedenen Oppositi-
onsführer, die die bedeutendste Sektion der Komintern, die KPdSU, an den Rand der
Spaltung gebracht haben, müssen auch dem letzten Genossen die ungeheure Verant-
wortung zum Bewusstsein bringen, die auf ihm lastet, wenn er gezwungen ist, sein
Urteil in der russischen Frage zu fällen.
Es stehen sich in Rußland zwei Meinungen gegenüber. Die Leningrader Opposi-
tion, die schon auf dem 14. Parteitag der KPdSU durch die prominentesten alten Bol-
schewiki wie Sinowjew, Krupskaja, Kamenew usw. vertreten wurde, tritt jetzt erneut
mit einem Programm auf, das der Partei und der Komintern bis heute vorenthalten
wird.
123 Auf dem XIV. Parteitag der VKP(b) (18.–31.12.1925) wurde der Kurs auf die Industrialisierung
der Sowjetunion aufgenommen. Scharfe Auseinandersetzungen mit der geschlossen auftretenden,
jedoch abgeschmetterten „Vereinigten Opposition“ betrafen das diesem Kurs zugrunde liegende Kon-
zept des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, die Notwendigkeit der Beschleunigung der Indu-
strialisierung bei gleichzeitiger Unterstützung der Bauern durch den Aufbau von Genossenschaften,
sowie den Kampf gegen Bürokratisierung.
Dok. 159: [Berlin], 1.9.1926 533
Schon nach dem 14. Parteitag der KPdSU erklärte sich die deutsche Linke mit den
Leningrader Arbeitern solidarisch und forderte die Aufhebung des Diskussionsverbo-
tes. Wir lassen auch heute keinen Zweifel daran, daß wir den politischen Standpunkt
der Opposition in der KPdSU teilen.
Infolgedessen hat auch heute die deutsche Linke ihren Standpunkt nochmals in
folgender Resolution dargelegt, die sie in der B[ezirks-] L[eitung]-Berlin-Brandenburg
am 1.8.26. und im ZK der KPD am 6.8.26. eingebracht hat:
124 Weddinger Opposition: Eine der stärksten Oppositionsgruppen der KPD mit Hochburgen in der
Pfalz und im Berliner Stadtteil Wedding, entstanden 1924 und seit Anfang 1926 als Fraktion gegen die
Stalinisierung aktiv (Max Frenzel, Max Weber), mit starker Verankerung in der Arbeiterschaft im Un-
terschied zur ultralinken Opposition (Korsch, Schwarz, Katz), die sich anfangs gleichwohl ebenfalls
zu ihr zählte. Im Unterschied zu anderen Strömungen hielt sie sich bis 1927/1928 in der Partei und
besaß mit Adolf Betz und Max Gerbig zwei ZK-Mitglieder. Politisch näherte sie sich der Linken Op-
position Trotzkis an und bildete später (1930) gemeinsam mit dem Leninbund (Anton Grylewicz) die
„Vereinigte Linke Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten)“ (VLO). Siehe: Weber: Die Wandlung,
I, S. 149–184; Rüdiger Zimmermann: Der Leninbund. Linke Kommunisten in der Weimarer Republik.
Düsseldorf, Droste, 1978, S. 62–102 u.a.; Marcel Bois: Vergessene Kommunisten. Weddinger Oppositi-
on der KPD. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008, S. 58–67.
125 Bucharin hatte im Juni 1925 in der Zunahme der dörflichen Nachfrage die Grundlage für eine
erfolgreiche Industrialisierung gesehen und dazu die von Guizot entlehnte Losung „Bereichert Euch,
akkumuliert, entwickelt Eure Wirtschaft“ aufgestellt, was von der Vereinigten Opposition scharf als
Rechtskurs kritisiert wurde (siehe: Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Ent-
stehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München, Beck, 1998, S. 247).
534 1924–1929
In diesem Kampfe wendet sich die Leningrader Opposition gegen die Bejahung
der Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande,126 für die unverminderte Vorwärts-
treibung der revolutionären Bewegung in den übrigen Ländern, in engster Verbin-
dung mit dem sozialistischen Aufbau in Rußland bis zum Triumph des Sozialismus
durch den Sieg der Weltrevolution,
gegen die Idealisierung des gegenwärtigen Zustandes der russischen Staatsindus-
trie als konsequente sozialistische Industrie,
für eine illusionsfreie Charakterisierung der russischen Staatsindustrie als zwar
konsequent sozialistischen Typus (Art), aber noch nicht rein sozialistisch,
gegen die Uebertreibung der Nep,127 wie sie besonders kraß durch das geflügelte
Wort „Bereichert Euch!“ signalisiert wurde und in der Praxis z. B. durch die neue
Landgesetzgebung, im Warenaustausch und Freihandel usw. ihren Ausdruck findet,
für die Beschränkung der Nep auf die ihr von Lenin gestellten Aufgaben,
gegen jegliche Lockerung der Diktatur des Proletariats gegenüber der Stadt- und
Dorfbourgeoisie durch Ausdehnung der Sowjetdemokratie usw.,
für die Aufrechterhaltung bzw. Ausbau der privilegierten Stellung des Industrie-
Proletariats und der Dorfarmut im proletarischen Staat,
gegen die Ueberwucherung nichtproletarischer Elemente in der KPdSU,
für die schleunigste Auffüllung der russischen Parteikaders mit Industrie-Arbei-
tern und Dorfarmen als die natürlichen Feinde der kapitalistischen Offensivkräfte in
Stadt und Land,
gegen den falschen innerparteilichen Kurs, durch Anwendung mechanischer
Unterdrückungsmaßnahmen (Beschränkung der Diskussionsfreiheit, Maßregelun-
gen usw.)
für die Ausgestaltung der innerparteilichen Demokratie und die Heranziehung
aller Genossen ohne Unterschied ihrer parteitaktischen Stellung zur verantwortli-
chen Mitarbeit,
für die Aufhebung aller Diskussionsverbote, usw.
Die Weddinger Linke wird jede Strömung unterstützen, die auf der Grundlage der
Opposition des 14. Parteitages der KPdSU den Kampf gegen den Stalinismus führt.
Die Weddinger Opposition, die sowohl den Kampf gegen den Opportunismus der
KPD mit aller Heftigkeit führt als auch die absolute Schädlichkeit der künstlichen
und mechanischen Majorisierung durch den Parteiapparat aus eigener Erfahrung zur
Genüge kennt, appelliert an die Gesamtmitgliedschaft der KPdSU, den verhängnisvol-
126 Frühe Formulierungen zum Konzept des „Sozialismus in einem Lande“, in dem die russische
Symbiose von Nationalismus und Sozialismus ihren theoretischen Ausgang nahm, finden sich bei
Stalin Ende 1924. Er entwickelte seit 1925, gestützt auf Bucharin und gegen Trotzkis und Sinowjews
Opposition (seit 1925) die These, dass das sowjetische Volk, durch Lenin „gestählt“, „aus eigener
Kraft“ den Sozialismus meistern könnte, auch ohne „Hilfe aus dem Westen“ (Hildermeier: Geschichte
der Sowjetunion, S. 182ff.).
127 Zur Instrumentalisierung der NEP im Rahmen der erwarteten deutschen Revolution siehe Dok. 90.
Dok. 159: [Berlin], 1.9.1926 535
len politischen und innerparteilichen Kurs schleunigst zu ändern und so die Gefahr
der Parteispaltung zu bannen.
Die Weddinger Linke der KPD protestiert aufs schärfste gegen das Billigungste-
legramm128 des Polbüros der KPD, das sowohl gegenüber [dem] Plenum des ZK als
auch gegenüber der Gesamtmitgliedschaft eine Ueberrumpelung und Bevormundung
darstellt. Die Mitgliedschaft muß endlich diesen Unfug, der mit ihrem Vertrauen und
dem Disziplinbegriff getrieben wird, energischen Einhalt gebieten und anstelle des
Meinungsmonopols des Parteiapparates wieder ihr eigenes proletarisches Urteil
treten lassen.
Die Fragen der KPdSU sind für die gesamte Komintern von größter Bedeutung.
Deshalb muß das ZK endlich für eine genau und objektive Information der Mitglied-
schaft sorgen und die gründliche Diskussion über die russischen Probleme (mit Kor-
referaten russischer oppositioneller Genossen) in der KPD sofort eröffnen.
Wir wissen, daß die Nep unvermeidlich ist, aber wir lehnen es ab, sie zu idea-
lisieren. Wir weisen auf die großen Gefahren der Nep hin. Wir vertuschen nicht die
Schwierigkeiten, welche der Kommunistischen Partei aus den eigentümlichen Klas-
senkampfbedingungen unter der Nep entstehen. Wir weisen mit Nachdruck auf die
große Kulakengefahr hin,129 deren Vorhandensein die letzten Wahlen zu den Sowjets
bestätigt haben. Wir halten es für verhängnisvoll, die Gefahren zu vertuschen mit
Redensarten über den Optimismus der Stalinschen Mehrheit und den Pessimismus
der Opposition. So behandelt man die Grundfragen in einer ernsten Situation nicht.
Wir haben das Vertrauen und die Zuversicht, das die russische und die internati-
onale Arbeiterklasse, gerade wenn sie die ungeschminkte Wahrheit kennt, mit ihren
gigantischen Kräften die Schwierigkeiten überwindet. Wenn man dagegen die in
Sowjetrußland vorhandenen Elemente des sozialistischen Aufbaues idealisiert und
schönfärbt, wenn man verschweigt, daß das verlangsamte Tempo der außerrussi-
schen revolutionären Bewegung die Entfaltung des Sozialismus in der Sowjetunion
gehemmt hat, demoralisiert man die Arbeiterklasse der ganzen Welt.
Die Beschlüsse der letzten Sitzung des ZK und ZKK der KPdSU sind so schwerwie-
gender Natur, daß sie uns zum lauten Reden zwingen. Schon die Tatsache der orga-
nisatorischen Maßnahmen allein zwingt jeden ehrlichen kommunistischen Arbeiter
instinktiv zur Ablehnung der organisatorischen Beschlüsse des ZK der KPdSU. Die
Komintern wird durch diese Beschlüsse sch[unleserlich] diskreditiert.
Wenn der Vorsitzende des Präsidiums des EKKI als „Spalter“ der bedeutendsten
Sektion der Komintern beschuldigt wird, wenn derselbe Sinowjew, der von der Grün-
128 Vermutlich die Einverständniserklärung der KPD-Führung mit der Absetzung Sinowjews und der
Leningrader Parteiführer.
129 Anfang 1928 griff Stalin seinerseits diese Forderung der Opposition auf, indem er auf seine Weise
repressiv gegen Großbauern („Kulaken“) vorgehen ließ, um die Getreideversorgung zu gewährleisten.
Dies mündete in der Zwangskollektivierung (siehe: Moshe Lewin: Who was the Soviet Kulak? In: So-
viet Studies 18 (1966/67), No. 2, S. 189–212).
536 1924–1929
dung der Komintern an ihr Präsident ist, angeblich an der Spitze einer illegalen Frak-
tion stehen soll, so müssen diesen Anschuldigungen Dinge von weittragender Bedeu-
tung vorausgegangen sein. Wenn der Präsident der Komintern und eine Reihe anderer
alter und bewährter Bolschewicken aus dem Politbüro bezw. ZK usw. der wichtigsten
Partei der Komintern gejagt, vor den Augen einer entzückten Bourgeoisie unter dem
Jubelgeheul aller Menschewisten in und außerhalb der Komintern durch die Gosse
geschleift und durch die Presse sämtlicher kommunistischer Parteien mit Schmutz
kübeln überschüttet werden, dann kann das nicht ohne die ernstesten Folgen für die
Kommunisten sein.
Wir unterzeichneten Parteiarbeiter sind der Meinung daß Vorgänge von solch
weltgeschichtlicher Bedeutung nicht mit formalen Methoden und Vorwänden erle-
digt werden können.
Wenn in der KPdSU eine Opposition, die durch Genossen, wie Sinowjew, Krups-
kaja, Kamenew, Laschewitsch usw. vertreten wird, gegen die offizielle Linie der Partei
auftritt und deren Plattform sich ein Genosse wie Trotzki anschließt, der erst vor
kurzer Zeit noch von Gen. Sinowjew scharf bekämpft wurde und den zu gewinnen,
sich die von Stalin geführte Gruppe die erdenklichste Mühe gab, und wenn dabei alte,
erfahrene, der Revolution treu ergebene, in den Schlachten der Revolution erprobte
Genossen angeblich zu konspirativen Methoden greifen, so ist es unwürdig und ver-
hängnisvoll, die hinter einem solchen Auftreten stehenden politischen Fragen durch
mechanische Anwendung der Formel von Disziplinbruch erledigen zu wollen.
Wir alle und jeder denkende Arbeiter versteht, wie verderblich es ist, wenn den
kommunistischen Parteien einfach alles vorenthalten wird, was die Opposition
in unserer russischen Bruderpartei zu sagen hat, während gleichzeitig die ZKs der
Sektionen der Komintern wie auch das ZK der KPD vorbehaltslos den Beschlüssen
des Stalinschen ZK der KPdSU zustimmen und behaupten, die Mitglieder täten das
Gleiche. Wir halten es nach wie vor für unerträglich, daß man die ernste und sachliche
Diskussion der russischen Fragen d. h. der Grundfragen der Revolution verbot und
daß man jeden als Antibolschewisten, Verräter, Sozialfaschisten usw. beschimpft,
wenn er Meinungen äußert, die sich mit den Ansichten der russischen Opposition
mehr oder weniger decken.
Wir sind der Meinung, daß die Atmosphäre in der Komintern vergiftet ist. Man
verurteilt politische Richtungen, Gruppen und Genossen ohne ihre politischen
Anschauungen bekannt zu geben. Man gibt deren politische Auffassungen falsch
und entstellt wieder und hütet sich, die von der Opposition gehaltenen Reden, vor-
gelegten Resolutionen, Artikel und Plattformen der Mitgliederschaft zur objektiven
Beurteilung zugänglich zu machen.
Man betreibt im Gegenteil eine unverantwortliche Geheimdiplomatie und bedient
sich zur „Erledigung“ der führenden Genossen der Opposition der schmutzigsten
Mittel und Methoden, die uns bis jetzt als die Methoden der deutschen Gewerkschafts-
bürokratie zur Bekämpfung ihrer kommunistischen Todfeinde nur allzubekannt sind.
Dok. 159: [Berlin], 1.9.1926 537
Durch derartige Methoden kann man die Komintern nur ruinieren! Die Bedeu-
tung dieser Vorgänge für die Komintern liegt auf der Hand. Die Hetze, die bis jetzt
gegen die Sinowjew usw. entfaltet wird, versteht jeder politisch denkende Arbeiter
als den Versuch, die Komintern als revolutionäre Organisation des Weltproletariats
zu liquidieren. Es ist kein Zufall, daß nach 14. Parteitag der KPdSU und auch heute
wieder die Weltbourgeoisie mitsamt den Menschewisten und russischen Weißgardis-
ten die Niederlage der russischen Opposition und den Sieg Stalins als den Sieg einer
„national beschränkten“, „gemäßigten“, „vernünftigen“ und „realpolitischen“ Rich-
tung über die „agitatorische“ Richtung bewerten und begrüßen.
Man redet über Prinzipienlosigkeit der russischen Opposition, weil unter gänz-
lich neuen Umständen verschiedene frühere oppositionelle Gruppierungen sich
gegen die Linie der Stalinschen Mehrheit zusammengeschlossen haben. Gleichzeitig
aber betreibt man den Zusammenschluß der rechtesten Gruppierungen in der Kom-
intern mit pseudolinken Gruppen, die das gegenwärtige ZK unterstützen. Besonders
katastrophal muß sich diese Methode in unserer Partei, der KPD, auswirken.
Man darf nicht vergessen, daß der EKKI-Brief vor einem Jahre angeblich die Partei
„normalisieren“ sollte. Seine Folgen waren eine vollkommene Desorganisation und
Atomisierung der KPD und eine restlose Restaurierung der Rechten.
Das gegenwärtige ZK der KPD, welches sich als „Sinowjewsches“ ZK gegen die
sogenannten Ultralinken einsetzte, besteht z. T. aus Leuten, die bis 1923 bedingungs-
los mit Brandler gingen, ihn 1924 skrupellos verrieten, dann bedingungslos mit den
Linken gingen, die damalige Führung aus Anlaß des Offenen Briefes ebenso skrupel-
los im Stiche ließen und sich selbst als eine Art verführter Kinder darzustellen belieb-
ten. Sie lassen jetzt den Genossen Sinowjew ebenso schmählich im Stich. In Wirk-
lichkeit aber wird die politische Arbeit des ZK geleitet von Menschen vom Schlage
eines Heinz Neumann, Leuten, die bei jedem Konjunkturwechsel auf die Seite der
ertragreichen jeweiligen Mehrheit fallen.130
Und diese Leute wagen es von Prinzipienlosigkeit zu reden!
Wir können auf Grund solcher Tatsachen nicht schweigen. Wir fordern, daß die
Diskussion auf ein politisches Geleise gerückt wird.
Wir fordern die sofortige Veröffentlichung des stenographischen Protokolls der
letzten Sitzung des ZK und ZKK der KPdSU sowie des 14. Parteitages.
Wir wissen sehr wohl, daß die Opposition dort gesprochen hat, daß sie Resoluti-
onen vorgelegt, Vorschläge gemacht hat. Wir wollen uns nicht mit Märchenerzählun-
gen über die Opposition abspeisen lassen. Wir wollen wissen, was diese oppositionel-
len Genossen selber sagen. Darum: heraus mit allen von der Opposition vorgelegten
Resolutionen, Plattformen, Artikeln usw.
Wir fordern, daß das vom ZK eingenommene Monopol der einseitigen Berichter-
stattung gebrochen wird.
130 Neumanns Rolle als Denunziant seiner Genossen bei Stalin wird in einigen hier veröffentlichten
Dokumenten deutlich (siehe u.a.: Dok. 160 und 161).
538 1924–1929
131 Aus Opposition gegen Lenin trat Bucharin 1917 auch als Herausgeber der Pravda zurück und
bildete die „Linken Kommunisten“. Seine Theorie der Notwendigkeit einer „Elektrisierung“ des euro-
päischen Proletariats bezeichnete Trotzki als „scholastische Karikatur von der marxistischen Auffas-
sung (von) der Revolution in Permanenz“ (Leo Trotzki: Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen,
Mehring Verlag, 1997, S. 100).
132 Auf dem Parteitag von Halle 1921 erfolgte nach einer fulminanten Rede von Sinowjew die Spal-
tung der USPD, deren linker Flügel sich mit der KPD vereinigte und damit die Grundlage für eine
kommunistische deutsche Massenpartei schuf (siehe auch Dok. 64).
Dok. 160: Berlin, 14.9.1926 539
Dok. 160
Mitteilung Neumanns an den Verbindungsdienst der Komintern
und sowjetische Stellen über den Transport von Materialien der
russischen Opposition nach Deutschland
Berlin, 14.9.1926
STRENG GEHEIM133
Berlin, 14.IX.1926
Verehrte Genossen!
Im Auftrag und auf der Basis einer Quelle, die Gen. Thälmann bekannt ist, teile ich
Ihnen folgendes mit:
Bereits seit geraumer Zeit bestand beim Spezialapparat unserer Hamburger Orga-
nisation der Verdacht, dass der sowjetische Dampfer „Garibaldi“ Materialien der
russischen Opposition für die deutsche Opposition transportiert.136 Urbahns reist bei
Ankunft des Dampfers regelmäßig nach Hamburg. Wir haben folgendes herausge-
funden: der Name des Dampferkapitäns ist MODZALEVSKIJ; er verkehrt in Hamburg
mit einer gewissen LIMANSKAJA, deren Mann offiziell Mitglied der Wrangel-Armee
137 Zum „weißen“ General Pjotr Nikolaevič Vrangelʼ siehe u.a. Dok. 32.
138 Walter (Charly) Munter (1902–?) gehörte nach 1933 der Illegalen Leitung der Internationalen
Kommunisten Deutschlands (IKD) an und war zusammen mit Heinz Leidersdorf als Trotzkist im Ham-
burger Widerstand aktiv, wo er die Verbreitung illegaler Literatur und u.a. die Verbindungen zu trotz-
kistischen Gruppen in Dänemark organisierte. 1935 verhaftet. Siehe hierzu: Peter Berens: Trotzkisten
gegen Hitler, Köln, Neuer ISP-Verlag, 2007, S. 202.
139 Gavriil I. Mjasnikov (1889–1945) war ein bolschewikischer Arbeiterführer aus Motovilicha bei
Perm’ (Uralgebirge). Er war ein besonders militantes Mitglied der „Arbeiteropposition“ und wurde,
nachdem er 1922 aus der Partei ausgeschlossen wurde, 1923 von der Parteiführung heimlich nach
Deutschland abgeschoben. Nachdem er wenig später selbständig in die Sowjetunion zurückkehrte,
wurde er verhaftet. 1928 gelang ihm die Flucht aus sowjetischer Haft über Persien und die Türkei nach
Frankreich. Unter Vorspiegelung einer bevorstehenden Amnestie wurde er 1945 nach Moskau gelockt
und dort erschossen. Siehe: Nadežda A. Alikina: Don Kichot proletarskoj revoljucii. Dokumental’naja
povest’ o tom, kak motovilichinskij rabočij Gavriil Mjasnikov borolsja c CK RKP(b) za svobodu slova i
pečati, Perm’, Puška, 2006.
Dok. 161: [Berlin?], 14.9.1926 541
Dok. 161
Persönlicher Brief Neumanns an Stalin über Aktivitäten und
innerparteiliche Kämpfe der KPD
[Berlin?], 14.9.1926
den Staatsapparat unter Ausschaltung der bisher regierenden, wenn auch nicht herr-
schenden Junker, die sich als “APPARATschiki“ eines modernen Industriesstattes auf
die Dauer für untauglich erweisen. Daher ein Rückgang der Deutschnationalen, eine
Stärkung der früher fast zerriebenen demokratisch-republikanischen Mittelparteien.
Auf der anderen Seite erstrebt die Bourgeoisie die Abspaltung der linken oppositio-
nellen Arbeiterelemente, die Ausschaltung der dauernd die Rationalisierung stören-
den “Politik der Straße“ aus der SPD.
Für unsere praktische Arbeit steht die Frage der Organisierung des Kampfes gegen
die Auswirkungen der kapitalistische Rationalisierung im Vordergrund. Die Analyse,
die Sie in Gesprächen mit uns öfter zum Ausdruck brachten, daß sich die Bourgeoisie
als Hauptaufgabe jetzt die Wiederherstellung und Verschärfung der Vorkriegsdiszi-
plin in den Fabriken stellt, und daß wir vor allem eine Neubelebung der Betriebs-
räte auslösen müssen, habe ich in der Praxis vollkommen bestätigt gefunden. Das
ist jetzt in der Tat neben und zusammen mit der Organisierung der Erwerbslosen das
wichtigste Kettenglied für uns. Der Reichskongreß der Werktätigen, den wir zum 7.
November einberufen wollen, wird zwar keinen sensationellen Erfolg bedeuten, aber
wir hoffen immerhin, daß dort anderthalb bis zweitausend Vertreter verschiedener
proletarischer und anderer werktätiger Organisationen anwesend sein werden, die
anderthalb Millionen Arbeiter und Erwerbslose repräsentieren werden.143 Drei Tage
vorher veranstalten wir eine besondere Reichskonferenz der Erwerbslosen, die dann
korporativ auf den Werktätigenkongreß übergeht.
Innerparteilich ist der Kampf noch in vollem Gange. Niemand von uns hatte die
Illusion, daß die Heranbildung einer überwältigenden bolschewistischen Parteimehr-
heit und einer Führung mit eiserner allseitiger Autorität nach der ganzen fehler- und
mühreichen Vergangenheit unserer Partei, nach all den Brandler- und Ruth[-Fischer]
jahren das Werk von kurzer Zeit sein wird. Die Ultralinken bekommen offensichtlich
Instruktionen und Material von Moskau. Auch der neue Aufruf von 700 Funktionären
für die russische Opposition stammt zweifellos von drüben, wenigstens die Idee.144
Wir machen in der Überwindung der Ultralinken langsame, aber fortgesetzt wach-
sende Fortschritte. Am schlimmsten ist es in Berlin wo wir gegen uns noch die ganze
jahrelang eingewurzelte Maslow- und Ruth-Fischer-Bürokratie haben, die seit 1920
an der SPITZE der Organisation stand. Die anderen bisherigen Burgen der Ultralinken
haben wir dagegen sämtlich erobert. Im Ruhrgebiet haben wir jetzt 3/4 bis 4/5. In
Leipzig, das sie bisher in der Hand hatten, haben wir jetzt eine feste und offensive
143 Der Reichskongress der Werktätigen fand am 3.5.1926 in Berlin statt. Gemeinsam mit ähnlichen
Initiativen wie der Gründung des Reichsbauernbundes lief er auf eine eher eigenständige KPD-Aktivi-
tät hinaus, die die Einheitsfrontpolitik mit den übrigen linken Strömungen und der SPD nur noch als
propagandistische Losung benutzte.
144 Siehe den „Brief der 700“ zur Unterstützung der russischen Opposition, Dok. 159. In Neumanns
Sprachgebrauch wird die Opposition pauschal mit der „Ultralinken“ gleichgesetzt. Die unterschied-
lichen Strömungen wie auch die aus mindestens drei Strömungen bestehende Vereinigte russische
Opposition werden nicht differenziert.
Dok. 162: O.O., 2.11.1926 543
Mehrheit. Charakteristisch ist, daß unsere Mehrheit überall beginnt, von der Vertei-
digung zur Offensive überzugehen, während sich die Opposition lediglich auf anti-
moskowitische Agitation und Geschrei über die schlechte Behandlung, insbesondere
über die Ausschlüsse konzentriert.
Wir sind überzeugt, daß von der russischen Opposition aus gewisse Anweisun-
gen für die Eventualität einer neuen Parteibildung in Deutschland ergangen sind. Die
Opposition bei uns bereitet in verschiedenen Bezirken die Beitragssperre vor, gibt in
Berlin bereits besondere Stempel heraus und erwägt die Herausgabe besonderer Mit-
gliedsbücher.
Wir werden den Kampf ohne jede Sentimentalität bis zu Ende durchführen und
zwar taktisch vorsichtig sein, aber gegen jeden Versuch der Parteispaltung mit den
äussersten, auch organisatorischen Mitteln vorgehen, weil wir in dieser Frage die
gesamte Parteimitgliedschaft hinter uns haben.
Ich werde wahrscheinlich zur russischen Parteikonferenz nach Moskau kommen.
Dok. 162
Rüge Georgij Čičerins an Stalin betreffs seiner Wortwahl über das
Verhältnis zu anderen Staaten
O.O., 2.11.1926
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 558/11/824, 50. Das handschriftliche Original des
Briefs in APRF 45/1/824/51 wurde in russischer Sprache veröffentlicht in: Vasilij Sojma: Zapreščennyj
Stalin. Moskva, OLMA-Press, 2005, S. 9. Erstveröffentlichung in deutscher Sprache.
Kopie
Der Volkskommissar
Für Auswärtige Angelegenheiten
G.V. ČIČERIN
2.XI.26.
An Gen. Stalin.
Verehrter Genosse,
Ihnen wurde meine gestrige Notiz nicht zugestellt, in der ich Sie darauf aufmerk-
sam machte, dass das gesamte Ausland und die Presse Sie als den führenden Kopf
der UdSSR ansieht, und dass jedes Ihrer Worte als eine Manifestation der Regierung
wahrgenommen wird; deswegen ist es höchst unschicklich, aus Ihrem Munde solche
544 1924–1929
Redewendungen wie „entweder wir verprügeln sie, oder sie werden uns verprügeln“
im Bezug auf andere Staaten zu hören.145 Oder bereiten wir etwa einen Krieg vor! Wo
bleibt unsere Friedenspolitik?
Mit Genossengruß
ČIČERIN
(3SO)
Am 15.11.1926 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die von der deutschen Regie-
rung angebotene Hilfe für die Erdbebenopfer in Armenien zu akzeptieren unter der Bedingung, dass
die Hilfe nur durch sowjetische Organisationen oder den Roten Halbmond geleistet werde, ohne dass
spezielle ausländische Delegationen entsendet werden.146
Am 18.11.1926 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mehrere Maßnahmen zur
Verwendung der deutschen Kredite.147 Darüber hinaus entschied es auch über das Schicksal des
Kominternvorsitzenden Sinowjew: Der Vorsitzende des EKKI sei „als aus der VKP(b)-Delegation im
Exekutivkomitee der Komintern ausgeschieden“ zu betrachten. Er sollte stattdessen der staatlichen
Planungsbehörde zugewiesen werden. Seine formelle Absetzung erfolgt wenig später, auf dem VII.
Erweiterten Plenum des EKKI (22.11.–16.12.1926). Ebenfalls am 18.11.1926 beschloss das Politbüro
die Freistellung von Vissarion Lominadze aus seiner Tätigkeit in der Kommunistischen Jugendinterna-
tionale, der nun dem EKKI-Präsidium zu Verfügung gestellt wurde. Wenig später wurde er als Emissär
in China und Deutschland eingesetzt.148
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 24.11.1926, die „Vorschläge“ Trotzkis zu
den Thesen Bucharins auf dem Erweiterten EKKI-Plenum als „unannehmbar“ abzulehnen. Trotzki hat-
te in einem Brief vom 22.11.1926 sowohl die Thesen Bucharins kritisiert, als auch in scharfer Weise
gegen die Unterordnung der Komintern unter die auf Konzessionen ausgerichtete sowjetische Diplo-
matie protestiert.149 Auf dem Plenum selbst sprachen Trotzki und Sinowjew in kritischer Weise über
das Verhalten der Komintern in China und England.
Am 25.11.1926 ging das sowjetische Politbüro auf einen Vorschlag Thälmanns über die Entsendung
deutscher Facharbeiter in die UdSSR ein (siehe das Folgedokument). Beschlossen wurde, eine Kom-
mission zu bilden, die die Notwendigkeit der einzelnen Industriezweige an Facharbeitern eruieren
sollte.150 Ein konkreter Vorschlag wurde bis zum 16.12.1926 abgeschlossen.151
145 Čičerin bemühte sich auch zukünftig darum, solche Meldungen zu filtrieren bzw. nicht in die
Presse kommen zu lassen. Siehe: Thomas: Georgij Čičerin. Neue Dokumente, S. 211ff.
146 APRF, Moskau, 3/64/676, 113. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, Dok. 437.
147 AP RF, Moskau, 3/64/652, 11–11v. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, I, Dok. 440.
148 RGASPI, Moskau, 17/3/602, 2, 7, 10. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komint-
ern, S. 414–415.
149 RGASPI, Moskau, 17/3/603, 2. Publ. in: Ibid., S. 416–417.
150 RGASPI, Moskau, 17/3/604, P. 8.
151 RGASPI, Moskau, 17/3/606, P. 6.
Dok. 163: [Moskau], [um 25.11.1926] 545
Dok. 163
Brief Kujbyševs an das Politbüro des ZK der VKP(b) über den
Vorschlag Thälmanns zur Entsendung deutscher Spezialisten
[Moskau], [um 25.11.1926]
Auf die Anfrage des Gen. Stalin antwortete das Mitglied des ZK der KPD, Gen. Thäl-
mann, dass die Kommun[istische] Partei Deutschlands in der Lage sein wird, eine
Verschickung von hochqualifizierten Spezialisten, die über die neuesten Errungen-
schaften der Technik in unterschiedlichen wirtschaftlichen Bereichen im Bilde sind,
in die [Sowjet-]Union zu organisieren. Ich denke, dass es notwendig ist, angesichts
der bekannten technischen Rückständigkeit unserer Ingenieure diesen Vorschlag
des Gen. Thälmann zu nutzen. Zusätzlich zur Reise unserer Ingenieure ins Ausland
könnte diese Maßnahme eine große Bedeutung für den technischen Umbau unserer
Industrie haben. Abgesehen davon wird diese Unternehmung, in organisierter Form
und ohne Pannen durchgeführt, eine große politische Bedeutung haben – dies
werden die ersten Schritte der technischen Hilfe von Seiten der Arbeiter der indus-
triell fortgeschrittenen Länder für den sich im Aufbau befindenden Sozialismus in
unserem Land sein. Wenn das PB dieser Unternehmung grundsätzlich nicht wider-
spricht, schlage ich vor, sofort eine Kommission zu benennen, die bestimmen würde,
in welchen Industriesektoren und mit welcher Qualifikation wir Spezialisten benöti-
gen (konkret [für welche] Trusts, Betriebe), und die Bedingungen ihrer Arbeit bei uns
sowie die gegenseitigen Verpflichtungen ausarbeiten würde.152
Es ist notwendig, dass die Kommission ihre Arbeit bis zum Abschluss [des VI.
Erweiterten Plenums] der Komintern-Exekutive beendet, um die Resultate ihrer Arbeit
mit Gen. Thälmann zu besprechen und anschließend dem Politbüro zur Bewilligung
vorzulegen. […]153
152 Mit dieser Initiative kann der Beginn eines weitreichenden und spannenden „Technologietrans-
fers“ von der Glühbirne bis zur Atombombe und zugleich ein Paradigmenwechsel zugunsten der
Herausbildung von „Stalins deutscher Elite“ gesehen werden. Ab 1945 erfolgte dann die Phase der
Abwerbung und gewaltsamen Verschleppung (siehe: Christoph Mick: Forschen für Stalin. Deutsche
Fachleute in der sowjetischen Rüstungsindustrie 1945–1958, München, Wien, Oldenbourg, 2000 (Ab-
handlungen und Berichte. Deutsches Museum; N.F., Bd. 14).
153 Im Dokument folgt als Vorschlag für die Zusammensetzung der Kommission eine Liste von Ver-
tretern der einzelnen industriellen Sektoren der Sowjetunion. Die Arbeitsfrist der Kommission sollte
zwei Wochen betragen.
546 1924–1929
Am 16.12.1926 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, einen Brief Sinowjews vom
2.12. über Urbahns und andere deutsche Oppositionelle einer speziellen Kommission des EKKI wei-
terzuleiten.154
Dok. 164
Geheimbeschluss der russischen Delegation in der Komintern
über den Kurswechsel der KPD
Moskau, 22.12.1926
Anwesend: von der VKP(b): Gen. Bucharin, Stalin, Manuilski, Lozovskij und Pjatnitzki,
von der deutschen Delegation: Gen. Thälmann, Remmele, Geschke, Eberlein und
Neumann.
Tagesordnung: 1. Der Kampf mit der Ultralinken und die deutsche Resolution.
2. Der KPD-Parteitag.155
3. Die Zusammensetzung des ZK.
BESCHLOSSEN: 1. Die Resolution zur deutschen Frage muss so verfasst werden, dass
das Hauptaugenmerk auf diejenigen Ultralinken gerichtet ist, die sich noch innerhalb
der Partei befinden. In der Resolution müssen die vor der KPD stehenden Aufgaben
aufgezeigt werden.156
Gen. Manuilski, Kuusinen, Neumann157 und Šackin mit der Endredaktion der Resolu-
tion zu beauftragen.
154 RGASPI, Moskau, 17/3/606, 6–8. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 423–424.
155 Die Rede ist vom XI. Parteitag der KPD, der vom 2. bis zum 7. März 1927 in Essen stattfand.
156 In einem Protokollauszug der Erweiterten Exekutive der Komintern vom 8.12.1926 zum Aus-
schluss der Linken hieß es: „Protokoll Nr. 3. Sitzung des Präsidiums der Erw. Ex., 08.12.1926. streng
vertraulich. Behandelt: 3. Antrag der ausgeschlossenen Ultralinken, ihnen eine Einlaßkarte für das
Plenum der KI zu geben. Beschlossen: 3. Das Präsidium beschliesst, daß Ausgeschlossene an den
Tagungen des Plenums der KI nicht teilnehmen können und daher auch keine Einlaßkarte erhalten
können. Ihre Angelegenheit wird in einer speziellen Kommission verhandelt (einstimmig angenom-
men).“ (RGASPI, Moskau. Auszug Mitschrift).
157 „Neumann“ handschriftlich eingefügt.
Dok. 164: Moskau, 22.12.1926 547
Kandidaten: Strötzel, Lenz [d.i. Joseph Winternitz], Neumann, Kurt [d.i. Münzenberg
oder Dahlem], Witto[rf], Leow, Gerhart [d.i. Gerhart Eisler] und drei Arbeiter.159
158 Der ursprünglich auf November 1926 terminierte Kongress wurde auf März 1927 verschoben,
um die Opposition vorher auszuschalten, er fand vom 2.3.1927 bis zum 7.3.1927 in Essen statt (siehe:
Weber: Die Wandlung, I, 170f.).
159 Die von Thälmann vorgeschlagene ZK-Zusammensetzung wurde mit einigen Änderungen auf
dem XI. Parteitag umgesetzt. Die endgültige Zusammensetzung des ZK siehe in: Weber/Herbst: Deut-
sche Kommunisten, S. 914.
1927
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 13.1.1927, den Vertrag mit den Deutschen
betr. der Bersol AG, einem deutsch-sowjetischen Joint Venture zur heimlichen Produktion von Giftgas,
aufzulösen. Das Unternehmen soll nun in den Besitz der UdSSR übergehen. Die Zusammenarbeit mit
der Reichswehr wurde als „absolut unglücklich“ charakterisiert, v.a. weil die Deutschen keine ein-
zige Verpflichtung erfüllt hätten. Die Zusammenarbeit mit der Reichswehr sollte in Zukunft „einen
Charakter guter Nachbarschaftsbeziehungen“ tragen, alle gemeinsamen Unternehmungen hingegen
sollten schnellstmöglich liquidiert werden,1 eine Maßnahme, die nicht zuletzt als Antwort auf die
„Granatenkampagne“ gesehen werden kann (siehe folgendes Dokument).
Dok. 166
Vortrag Nikolaj Bucharins im Präsidium der Komintern über die
internationale Kriegsgefahr als Hauptgefahr
[Moskau], 24.1.1927
Genosse Bucharin:
Genossen, ich moechte Sie bitten, kein Referat von mir zu fordern, sondern nur
einige einleitende Worte. Die erste grosse politische Frage, die vor uns steht, ist allen
Genossen aus den Zeitungen bekannt. Wir haben fast einen Krieg gegen China,2 eine
grosszuegige Propaganda gegen uns in Verbindung mit einer Propaganda gegen die
Sowjetunion und verschiedene diplomatische, teilweise auch militaerische Aktionen.
Falls wir dieses Problem ueber den moeglichen Krieg diskutieren, so koennen wir
die Frage nicht panikartig stellen, so z.B. dass wir sagen, im Fruehling kommt es zu
1 RGASPI, Moskau, 17/162/4, 45. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Polit-
bjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 132–133.
2 Seit den letzten Monaten des Jahres 1926 war die „revolutionäre Armee“ des Kuomintang-Führers
Tschiang Kai-Shek erfolgreich nach Norden vorgedrungen und stand am 19.2.1927 kurz vor Schanghai,
wo die KP-dominierten Gewerkschaften einen Generalstreik proklamieren, der von General Li genau-
so blutig unterdrückt wurde, wie 1926 anlässlich des Massakers an hunderten von Kommunisten in-
folge des Staatsstreiches von Tschiang Kai-Shek in Kanton. Obwohl Bucharin hier die Gefahr bewaff-
neter Zusammenstöße sieht, besteht er gemeinsam mit Stalin weiterhin auf der Allianz der KP Chinas
mit den nationalistischen Kräften – gegen die Warnungen der Vereinigten Opposition von Sinowjew
und Trotzki (siehe: Pierre Broué: La question Chinoise dans l’Internationale communiste, Paris, EDI,
1965; Alexander Pantsov: The Bolsheviks and the Chinese Revolution 1919–1927, Richmond, Curzon
Press, 2000).
Dok. 166: [Moskau], 24.1.1927 549
einem Krieg mit den westeuropaeischen Maechten resp. mit Polen und Rumaenien.3
Das kann man nicht behaupten und ich glaube, es waere eine Uebertreibung, so die
Frage zu stellen, dass wir notwendigerweise im Fruehling einen Krieg haben werden.
Ebenso kann man aber auch nicht sagen, dass schon eine geschlossene Front gegen
uns da ist, ohne irgendwelche Reihungen usw. Andererseits wissen wir sehr gut nach
der Linie verschiedener staatlicher Organe und Parteiorganisationen, sowie nach
der Linie der KI., dass die Situation immer schaerfer wird. Die letzten Ereignisse in
Litauen sind allen bekannt.4 In Lettland ist ein Putsch in Vorbereitung.5 Wir haben
darueber einige Informationen in den Zeitungen gegeben. Wir sind sogar imstande,
Details mitzuteilen, welche militaerischen, politischen und sonstigen Kraefte hinter
diesem Putsch stehen. Sie wissen, dass wir in diesen Tagen einige Tatsachen publi-
ziert haben. Es war ein Versuch eines Putsches in einem kleinen Masstabe, der von
der Lettischen Regierung erdrosselt wurde. In der jetzigen Situation ist sogar die Sozi-
aldemokratie Lettlands in einer panikartigen Stimmung. Sie kommen manchmal zu
den Kommunisten und erzaehlen ueber die Vorbereitungen des Putsches usw.
Was Polen betrifft, so ist die Situation Ihnen allen klar. Hinter den Kulissen steht
in erster Linie die englische Regierung, die jetzt aus allen Kraeften verschiedene
Aktionen gegen uns vorbereitet. Was die diplomatischen Vertraege usw. betrifft, so
wissen Sie, dass auch in allerletzter Zeit der franzoesisch-rumaenische Vertrag, der
jetzt in der Presse mitgeteilt wird, eine militaerisch geheime Konvention enthaelt,
eine geschlossene Seite dieses Vertrages.6 Alles das sind die Symptome der Vorberei-
tung der Kraefte gegen uns. Manchmal fuehlt man diese Vorbereitungen auch nach
der Richtlinie verschiedener Handelsangelegenheiten.
3 Obwohl beide Länder zu den „traditionellen“ Feinden der Sowjetunion gehörten, gab es Anfang
1927 keinen konkreten Anlass, einen drohenden Krieg anzunehmen.
4 Ende 1928 wurde durch einen Militärputsch die litauische Verfassung aufgehoben, wonach der
Lietuvių tautininkų sąjunga (Bund der Litauischen Nationalisten) eine Einparteienherrschaft antrat.
5 Ein Staatsstreich, der die Verfassung aufhob, erfolgte in Lettland erst im Mai 1934.
6 Am 10.6.1926 hatten Frankreich und Rumänien einen Freundschaftsvertrag geschlossen, der neben
einem politischen und einem Schiedsvertrag ein Militärabkommen beinhaltete, das Rumänien in das
gegen die Sowjetunion gerichtete Paktsystem der kleinen Entente integrierte. Frankreich sollte dem-
nach, sollte die rumänische Unabhängigkeit bedroht sein, militärisch intervenieren, allerdings unter
der Aufsicht des Völkerbunds. Siehe: Claudia-Valentina Gidea: Le Concept de sécurité dans le traité
Franco-Roumain de 1926. In: Romanian Review of International Studies II (2010), No. 1, S. 41–52. http://
dsi.institute.ubbcluj.ro/docs/revista/37_ro.pdf, 14.11.2012.
550 1924–1929
7 Am 5.12.1926 hatte der Vorwärts einen Artikel des Manchester Guardian unter dem Titel „Sowjetgra-
naten für Reichswehrgeschütze“ nachgedruckt, worin Details über die geheime Rüstungskooperation
(Flugzeug- und Giftgasproduktion, Offiziersaustausch, Munitionslieferungen) zwischen Roter Armee
und Reichswehr verlautbart wurden. Am 7.12.1926 brachte der Vorwärts einen weiteren Artikel über
die Involvierung von Junkers in die Rüstungskooperation. Sowohl bei konservativ-nationalistischen
Kräften als auch bei der KPD stießen diese Enthüllungen auf wütenden Widerstand. Am 16.12.1926
hielt Philipp Scheidemann im Reichstag eine Anklagerede gegen die Rüstungskooperation. Die Ent-
hüllungen der SPD führten zum Sturz des Kabinetts Marx III infolge eines Misstrauensvotums sowie
zur Kabinettsneubildung (Marx IV) (siehe: Zarusky: Die deutschen Sozialdemokraten, S. 198–208).
8 Die SPD legte in ihrer Berichterstattung über die „Granatenaffäre“ einen Schwerpunkt auf die Ar-
gumentation, nach der die Sowjetunion dadurch die deutsche Reaktion unterstütze. So hieß es etwa:
„Waren die Gewehre, die in Sachsen, Thüringen, Hamburg auf kommunistische Arbeiter losgingen,
etwa mit russischen Kugeln geladen?“ („Sowjetgranaten für Reichswehrgeschütze“. In: Vorwärts,
5.12.1926, zit. nach: Zarusky: Die deutschen Sozialdemokraten, S. 200).
9 Der Vertrag mit Junkers zum Flugzeugbau in der Sowjetunion wurde wenig später endgültig aufge-
löst (siehe Politbüro-Beschluss vom 5.2.1927).
Dok. 166: [Moskau], 24.1.1927 551
1. Dieser Kampf von unserer Seite gegen die Vorbereitung des Krieges10 und ande-
rerseits die Kampagne zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution.11 Diese zwei Kampa-
gnen kann man gut vereinigen und auch die chinesische Frage kommt in Betracht,
in wieweit wir sprechen ueber die Kriegsgefahr und verschiedene andere Auftreten
der imperialistischen Maechte gegen die Kolonialvoelker.12 Jetzt sollen wir schaerfer
aus der Defensive wegen dieser Granaten-Offensive selbst zur Offensive uebergehen13
und schaerfer auswerten die Stellung der Sozialdemokratie, Voelkerbundsliga,14 der
kapitalistischen Regierungen – und insbesondere der englischen Regierung – in
erster Linie im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Krieges gegen uns und im
Zusammenhang mit dem schon fast vorhandenen Kriege gegen die chinesische Revo-
lution. Wir steigern diese Kampagne und dann, teilweise parallel und immer weiter
steigernd, entwickeln wir die Kampagne fuer Sowjetrussland im Zusammenhang mit
dem 10. Jahrestag.
Hier stehen vor uns ziemlich grosse Aufgaben. Wir muessen jetzt diese Frage
ausarbeiten und dann nach einer Kampagne, teilweise waehrend dieser, eine andere
haben, die immer sich steigert und steigert waehrend des Sommers und zum Jahres-
tag der Revolution werden wir vielleicht hier versuchen, einen Kongress der Freunde
10 Bereits ab Mitte 1926, verstärkt ab 1927 initiierten die VKP(b) und das EKKI diverse Kampagnen
mit der Stoßrichtung „gegen die drohende Kriegsgefahr“. Durch die Darstellung einer von allen Seiten
akut bedrohten Sowjetunion sollten die Komintern-Sektionen und ihre Mitglieder noch stärker auf die
Sowjetunion fokussiert und damit für sowjetische außenpolitische und nicht zuletzt geheimdienstli-
che Belange instrumentalisierbar gemacht werden. Die Entfachung einer Massenhysterie der „Kriegs-
gefahr“, die keine Entsprechung in den internationalen Beziehungen hatte, diente verstärkt dazu, zur
Durchsetzung des Paradigmas vom Sozialismus in einem Land „Jagd auf die Opposition zu machen
und ihre physische Auslöschung vorzubereiten“ (Trotzki). Die Fiktivität einer Kriegsgefahr für die So-
wjetunion stellte Außenkommissar Čičerin noch 1929 gegenüber Stalin heraus (siehe Dok. 212). Siehe
weiterführend: Bernhard H. Bayerlein: Nikolaj I. Bucharin an der Spitze der Kommunistischen Inter-
nationale. Eine Bestandsaufnahme anhand der Humbert-Droz-Archive. In: Theodor Bergmann, Gerd
Schäfer (Hrsg.): „Liebling der Partei“. Bucharin. Theoretiker des Sozialismus. Beiträge zum interna-
tionalen Bucharin-Symposium Wuppertal 1988, Marburg, VSA, 1989, S. 83–100; Manfred von Boetti-
cher: Industrialisierungspolitik und Verteidigungskonzeption der UdSSR 1926–1930. Herausbildung
des Stalinismus und ‚äußere Bedrohung‘, Düsseldorf, Droste, 1979; zu den „Kriegsgefahrkampagnen“
in der Sowjetunion siehe zuletzt: A.V. Golubev: Sovetskoe obščestvo i „voennye trevogi“ 1920–ch gg.
In: Otečestvennaja istorija (2008), Nr. 1, S. 36–58.
11 Am 25.2.1927 beschloss das Politsekretariat der Komintern eine großangelegte Kampagne zum 10.
Jahrestag der Oktoberrevolution (siehe Dok. 167). Nicht zuletzt sollte hiermit, gerade angesichts der in
der linken und linksliberalen öffentlichen Meinung weithin akzeptierten Prinzipien der Verteidigung
der Revolution und der Sowjetunion, die Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“ auf internationa-
ler Ebene unterstützt werden (Bayerlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution).
12 Neben dem Komitee gegen den Krieg in Nordafrika, dem Komitee gegen die Kolonialgreuel in Sy-
rien, den Hände-Weg-von-China-Komitees erfolgte im März 1927 durch die Komintern die Gründung
der Liga gegen den Imperialismus.
13 Instruktionen an die deutschen Kommunisten zur „Granatenkampagne“ wurden im Politbüro des
ZK der KP der Sowjetunion formuliert (siehe Politbüro-Beschluss vom 24.2.1927).
14 Bucharin meint den Völkerbund, „Ligue des nations“.
552 1924–1929
Vom Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion wurde am 24.1.1927 das Budget des EKKI für 1927 auf
4.482.094 Goldrubel in Valuta festgelegt. Das EKKI wurde ermächtigt, 25.000 Tscherwonzenrubel
monatlich in Valuta umzutauschen. Das Valuta-Budget der Roten Gewerkschaftsinternationale wurde
für 1926–1927 auf 550.000 Rubel festgelegt.16
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion befand in einem Beschluss vom 27.1.1927 die Einreise
Savelij Litvinovs in die Sowjetunion für unzweckmäßig. Der leibliche Bruder des zukünftigen Außen-
kommissars Maksim Litvinov war als Mitarbeiter der Berliner Handelsvertretung 1926 nach undurch-
sichtigen Finanzgeschäften abgetaucht – nun war seine Rückkehr nicht mehr erwünscht. 1928 wurde
er von der französischen Polizei verhaftet.17
Am 5.2.1927 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über die Modalitäten der Liquidie-
rung des Vertrags mit der Firma Junkers. Dem deutschen Rüstungsbetrieb sollte eine Kompensation
von maximal 3,5 Millionen Rubel gezahlt werden. Die gemeinsame Fabrik in Fili bei Moskau sollte in
Sowjetbesitz übergehen. Dem Beschluss vorausgegangen waren gescheiterte Verhandlungen der So-
wjetregierung mit Junkers.18 Ebenfalls am 5.2.1927 beschloss das russische Politbüro, die deutschen
Bedingungen für die Liquidierung der deutsch-sowjetischen Scheinfirma Bersol AG zu akzeptieren.
Danach sollten alle materiellen Güter an die sowjetische Seite übergehen, im Gegenzug verzichtete
die sowjetische Seite auf Forderungen gegenüber der deutschen Seite.19
Am 24.2.1927 wurde in einem Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion zur militäri-
schen Zusammenarbeit mit Deutschland und zur „Granatenkampagne“ auch die KPD angesprochen.
Wörtlich hieß es: „Angehört: 7.– Über Deutschland. (Gen. Krestinskij, Unšlicht, Litvinov). Beschlos-
sen: 7.– a) Es für unerlässlich zu befinden, in Bezug auf die militärische Zusammenarbeit mit den
Deutschen sich strikt auf das zu beschränken, was im legalen Rahmen zulässig ist. b) Der deutschen
Kompartei zu empfehlen, sich bei der Kampagne zur Granatenfrage auf den politischen Aspekt der
Angelegenheit zu konzentrieren, was jedoch die faktische Seite angeht, so [müssen sie] die Unwahr-
heit der Behauptungen, die Regierung der UdSSR hätte Granaten nach Deutschland geschickt, aufzei-
gen. c) Gen. Krestinskij zu beauftragen, auf der Grundlage des Meinungsaustauschs im Politbüro eine
entsprechende Erklärung gegenüber der deutschen Regierung abzugeben. [...]“20
Dok. 167
Instruktionen des Politsekretariats der Komintern zur Kampagne
zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution
Moskau, 25.2.1927
W[erte] G[enossen].
Das Politsekretariat des EKKI hat in seiner Sitzung vom 25. Februar folgende Richt-
linien für die Führung der Kampagne zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution
beschlossen. Inhalt der Kampagne: Kampf gegen Imperialismus (Beispiel der Okto-
berrevolution). Schutz des ersten Sowjetstaates gegen neue Interventionen. Aufklä-
rung über Errungenschaften der proletarischen Revolution.
Charakter der Kampagnen. Lang andauernde Kampagnen in der Presse und Oef-
fentlichkeit. Ständige Steigerung von März bis November.21 Zum 10. Jahrestag selbst
grosse öffentliche Kundgebungen in allen Ländern. Innerparteiliche Aufklärungskam-
pagnen (Parteischulen, Kurse, etc.) Durchführung der Kampagnen in den Ländern.
Einleitung von unten. Zuerst Auftreten periphärer Organisationen. Anmerkung: Dies
gilt besonders für die Delegationen nach Russland, die von überparteilichen Gruppen
und Organisationen angeregt und vorbereitet werden sollen.22 Schaffung besonderer
Organisationen, wie „Klubs der Freunde des neuen Russland“ u.a. zur Vorbereitung
an der Basis.23 Später Zusammenfassung der periphären Initiativen in der Form von
Landeskomitees zur Organisierung des 10. Jahrestages oder dergl. Besondere Rolle
in der Vorbereitungsperiode fällt der I.A.H., der Liga gegen Kolonialunterdrückung24
und dgl. Organisationen zu.
Im Laufe der Entwicklung der Kampagne sollen die Parteien als solche immer
mehr in die Öffentlichkeit treten.
Leitung: In den Ländern: Zentralisierung bei der K.P. welche durch ihre Frakti-
onen die Aktionen der Nebenorganisationen koordinieren müssen.25 Das Politse-
kretariat des EKKI wird die Tätigkeit der Nebenorganisationen durch periodische
Besprechungen mit ihren Vertretungen koordinieren. Das Polit-Sekretariat des EKKI
teilt ihnen mit, dass es mit dem Plan des Genossen Muenzenberg, betreffend die För-
derung der Gründung von „Arbeiterklubs der Freunde des neuen Russland“ durch die
I.A.H., einverstanden ist und fordert die Parteien auf, dem Genossen Muenzenberg in
dieser Tätigkeit jegliche Hilfe zu leisten. Wir verweisen auf die von der Massen-Kom-
mission der VI. Erweiterten Exekutive ausgearbeiteten und vom Orgbuero des EKKI
angenommenen „Leitsätze für die Arbeit in den sympathisierenden Massenorganisa-
tionen für spezielle Zwecke“ hin, in denen über die Vereine der Arbeiterfreunde den
neuen Russland spezielle Richtlinien gegeben sind.26
Das Polit-Sekretariat das EKKI fordert die Parteien auf, diese Kampagne zum 10.
Jahrestag der Oktoberrevolution gut vorzubereiten, mit den Nebenorganisationen
über ihre Aufgaben in dieser Kampagne zu sprechen, und noetige Anweisungen an
die Fraktionen der Nebenorganisationen zu geben. Gleichzeitig teilen wir ihnen mit,
dass wir durch den Genossen Muenzenberg die I.A.H. besonders aufgefordert haben,
energisch an die Durchführung dieser Kampagnen heranzugehen.
Die Agit-Propabteilung des EKKI27 ist beauftragt worden, ueber die einzelnen im
Zusammenhang mit dieser Kampagne stehenden Fragen besondere Instruktionen an
die Parteien zu senden. Sie wird den Parteien und Nebenorganisationen für die Presse
und für ihre Kundgebungen liefern. Sie wird besondere Aufmerksamkeit auf die Liefe-
rung von künstlerischem Agitationsmaterial (Filme, Plakate, Photografien usw.) lenken.
Dok. 168
Brief des sowjetischen Emissärs in Deutschland „Albert“
[d.i. Vissarion Lominadze] an Stalin über die bewaffneten
Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und
Rotfrontkämpfern in Berlin
[Berlin], 27.3.1927
S[treng] geheim.
Kopie des Briefes von Gen. Alʼbert [d.i. Vissarion Lominadze] vom 27–3–27.28
1. Beim letzten Mal, als ich Ihnen über den Zusammenstoß der Faschisten und Kom-
munisten vom Sonntag, den 20. März, schrieb, kannte ich die Details dieser Angele-
27 Die Agitprop-Abteilung des EKKI (Leiter waren u.a. Béla Kun und David E. Petrovskij) entwickel-
te sich nach 1923 und besonders seit der Ausschaltung Sinowjews im Herbst 1926 vom Hilfsappa-
rat zur Versorgung der ausländischen Parteipresse zum Leitungs- und Kontrollorgan in Fragen der
ideologischen Begründung, Unterfütterung und Legitimation der Komintern-Aktivitäten im Bereich
der Presse sowie des Verlags- und Schulungswesens. Die Angleichung der Komintern an die VKP(b)
erfolgte unter dem Schlagwort der „ideologischen Bolschewisierung“, im Zeichen des „Marxismus-
Leninismus“ und des Paradigmas des „Sozialismus in einem Lande“. Der Aufbau von Agitprop-Ap-
paraten bei den kommunistischen Parteien verknüpfte hierbei Theorie mit Organisation und Diszipli-
nierungsaufgaben, häufig im Rahmen sogenannter „Massenkampagnen“.
28 Der junge georgischstämmige Parteifunktionär Vissarion „Besso“ Lominadze (1898–1934), der
sich bereits mehrmals im Kampf gegen die Opposition hervorgetan hatte und zuletzt in der Leitung
der Kommunistischen Jugend-Internationale tätig war, wurde von Stalin nicht zuletzt deswegen nach
Deutschland entsandt, um die KPD zu entschiedeneren politischen Aktionen zu bewegen. Von Januar
bis Mai 1927 hielt er sich – praktisch ohne Deutschkenntnisse – in Berlin auf; bereits seit 1922 eng mit
Heinz Neumann befreundet, schrieb er einige Dutzend an Osip Pjatnitzki adressierte Berichte, die an
Stalin und bisweilen auch an das gesamte Politbüro des ZK der VKP(b) weitergeleitet wurden. 1934
aus der Partei ausgeschlossen, begeht er kurz nach dem Kirov-Mord Selbstmord, um einer Verhaftung
zu entgehen (siehe zur Charakterisierung als „Jungstalinist“ oder “Stalins junger Wolf“ Broué: Hi-
stoire de l’Internationale Communiste, S. 592f.; Buber-Neumann: Die erloschene Flamme, S. 149ff.).
556 1924–1929
genheit noch nicht und konnte Ihnen deswegen keine richtigen Angaben mitteilen
(ich schrieb Ihnen am Montagmorgen und hatte nur eine Morgenzeitung zur Hand;
die Details klärten sich erst gegen Abend). Ich schrieb Ihnen, dass die Faschisten
keinen besonders glänzenden Sieg in Anspruch nehmen konnten, obwohl sie den Rot-
frontkämpfern zahlenmäßig um das Doppelte überlegen waren. Jetzt wurde endgültig
festgestellt, dass die Anzahl der Faschisten etwa 400–500 betrug, die der Rotfront-
kämpfer nur 23. Auf 20 Verwundete, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden, kamen
nur zwei Faschisten. Der Rest sind die Unsrigen. Der Vorfall spielte sich folgender-
maßen ab. Die Rotfrontkämpfer-Kapelle machte sich am Sonntag auf nach Trebin.29
Dort fielen unsere Jungs über eine kleine Gruppe Faschisten her und zerrieben sie
gewaltig. Auf dem Rückweg wurden die Rotfrontkämpfer in Lichterfelde von einem
nun größeren faschistischen Trupp empfangen, der den Zug attackierte, mit dem die
Rotfrontkämpfer fuhren. Die Faschisten hielten den Zug auf, indem sie alle Bremsen
zogen. Die Frontkämpfer verbarrikadierten sich im Waggon. Die Faschisten versuch-
ten durch Fenster, Dach und Türen in den Waggon zu gelangen. Der erste Schuss kam
aus den Reihen der Rotfrontkämpfer (darüber wissen jedoch nur wir Bescheid; die
Polizei und die gesamte Presse beschuldigen die Faschisten des Angriffes und der
Schießerei); dadurch wurde ein Faschist schwer verwundet. Die Faschisten antwor-
teten natürlich ebenfalls mit Schüssen. In den Waggon konnten sie erst gelangen,
nachdem die Frontkämpfer ihre letzte Patrone verschossen hatten. Von da an begann
die Abrechnung. Zur Ehre der Genossen muss gesagt werden, dass sie sich heroisch
verteidigt haben. Alle sind davon überzeugt, dass wenn die Kommunisten wenigstens
dreimal so viele gewesen wären, die Sache für die Faschisten schlecht ausgegangen
wäre.
Welches Echo der Angriff der Faschisten am helllichten Tag bei den Berliner
Arbeitern gefunden hat, konnte man am Dienstag, dem 22. Mai sehen. An diesem Tag
fand in Charlottenburg eine Demonstration statt. Der Ort der Demonstration – bürger-
licher Stadtrand – ist eine Hochburg der Faschisten. Man erwartete, dass fünf-, höchs-
tens zehntausend Arbeiter kommen würden. An der Demonstration nahmen jedoch
tatsächlich mindestens 30.000 Menschen teil. Und ich spreche dabei nicht einmal
von den vielen Tausenden von Arbeitern mit Frauen und Kindern, die die Demonst-
ration an jedem Häuserblock während des ganzen Demonstrationszuges begleiteten.
Die Polizei war in Unmengen vertreten. Noch vor Beginn der Kundgebung hatte es
bereits zwei größere Zusammenstöße mit der Polizei gegeben. Einer in Weber-Wejc,30
wo ein Rotfrontkämpfer auch als Erster geschossen hatte (wie die Parteiinstanz fest-
stellen konnte). Allerdings hat sich die Polizei dort frech und provokant verhalten. Als
die Polizisten (um die 14–16 Mann) mit Schüssen antworten wollten, wurden sie von
der Menge überrollt, entwaffnet und verprügelt. Daraufhin kam ihnen ein größerer
Polizeitrupp (an die 60 Mann) zu Hilfe, der das Feuer auf die Demonstranten eröff-
29 Trebin, d.i. vermutlich Trebendorf, sorb. Trjebin, sächsische Gemeinde im Landkreis Görlitz.
30 Weber-Wejc, vermutlich die „Weberwiese“, ein Platz bzw. Park im Berliner Bezirk Friedrichshain.
Dok. 168: [Berlin], 27.3.1927 557
nete. Hier wurden ein parteiloser Arbeiter ermordet und viele verwundet. Der zweite
Zusammenstoß geschah in einem anderen Stadtviertel. Auf die Arbeiter wurde nicht
geschossen, doch sie wurden mit den flachen Seiten der Säbel und mit Gummiknüp-
peln geschlagen. Hier lag die Initiative bereits vollständig auf Seiten der Polizei. Hier
wurde auch Thälmann durch Gummiknüppel verwundet. Tatsächlich bekam Thäl-
mann aufgrund eines Missverständnisses von den eigenen Leuten Schläge ab, doch
darüber sprechen wir und schreiben wir nicht öffentlich. Auf der Kundgebung trat
Thälmann schon mit einer blutenden Wunde auf. Die Genossen, die beim Zusammen-
stoß neben ihm waren, erzählen, dass er wie ein Besessener gekämpft habe. Leider
war es mir nicht beschieden, Zeuge dieser beiden größeren Zusammenstöße zu sein.
Ich befand mich zu dieser Zeit am anderen Ende des Demonstrationszuges. Die Kund-
gebung verlief hervorragend. Eine solche erboste, kämpferische, ja fast schon von
wilder Rohheit geprägte Stimmung bei den Arbeitern wie an diesem Tag habe ich in
Deutschland noch nie gesehen. Nicht umsonst sprach der Vorwärts am nächsten Tag
mit kaum verborgener Furcht vom ungezügelten „Pöbel“ ([das sind unsere] Gen.). Die
Rotfrontkämpfer hielten sich sehr diszipliniert. Ich war Zeuge eines dritten Zusam-
menstoßes, schon nach der Kundgebung. Als die Polizei anfing, scharf zu schießen
– zuerst in die Luft, dann teilweise auch in die Menge (in die Beine, um niemanden
schwer zu verletzen) –, rannten alle davon außer den Rotfrontkämpfern. Sie standen
wie eine Mauer. Nur die jüngsten von ihnen liefen auf den Bürgersteig, der ganze
Demonstrationszug jedoch rührte sich nicht einmal von der Stelle. Die Ausdauer der
Rotfrontkämpfer übte eine unmittelbare Wirkung auf die „Mitläufer“ aus, und diese
kehrten in den Demonstrationszug zurück. 6 Schwerverletzte, davon zwei verstorben,
ein Dutzend mit ernsthaften Verwundungen, an die 30 Mann Leichtverletzte – das
ist die Bilanz des Massakers der Polizei an diesem Abend. Ich spreche gar nicht erst
von den vielen Dutzenden, denen Gummiknüppel und Säbelhiebe zugesetzt haben –
von ihnen gibt es über hundert! Und trotz allem hat dies nicht die Arbeitermasse ver-
schreckt, sondern sie umso mehr erzürnt. Überhaupt war es eine seltene und außer-
gewöhnliche Demonstration. Alle hätten hören sollen, wie Tausende Arbeiter wie aus
einer Kehle „Rache Rache Rache“ riefen.31 Der riesige Aufmarsch wurde von Fackeln
erleuchtet (die Demonstration lief von 8 bis 11 Uhr [abends]), untermalt vom Getöse
der Trommeln und den erzürnten Schreien der Massen, und wurde alle 10–15 Minuten
mal von Schusswechseln, mal von kleineren Zusammenstößen unterbrochen. Viel-
leicht denken Sie, ich würde mich von Demonstrationen zu sehr hinreißen lassen,
doch ist dies wirklich unwahr. Am zweiten Tag war die gesamte Presse voll von ten-
denziösen und panischen Erzählungen über die Geschehnisse. Aber das wissen Sie
bereits selbst, also werde ich nicht von den Pressestimmen und dem Auftritt des
s[ozial-]d[emokratischen] Ministers Grzesinski im Landtag schreiben.32 Am Donners-
tag wurde eine neue Demonstration veranstaltet. [...] Manche russische Genossen,
die nicht auf der Demonstration gewesen sind, sagten mir, dass das ZK mit den vielen
Demonstrationen Missbrauch treibe usw.33 Im Allgemeinen mag das richtig sein. In
diesem Fall jedoch war es schon eine Frage der Ehre für die kommunistische Partei,
nach dem Polizeigemetzel am Dienstag auf die Straße zu gehen. Lassen sich die Kom-
munisten Angst einjagen und terrorisieren? So stellte sich die Frage. Und die Demons-
tration am Donnerstag gab darauf die entschiedenste, überzeugendste Antwort.
Am selben Tag nahmen sich die Faschisten vor, ihre eigene Demonstration in
Tempelhof durchzuführen. Das Resultat war ziemlich kläglich. Erstens haben sie
statt der Demonstration eine Versammlung in irgendeiner Kneipe abgehalten. Zwei-
tens wagte es kein einziger Faschist, diese Versammlung in Uniform zu besuchen!
Drittens erschienen von ihnen nur 80 Leute!! Viertens hielten sie ihre Versammlung
unter dem Schutz von sieben riesigen Polizeilastwagen ab, die den Verkehr auf der
Straße blockierten. Als Resultat verblich der Ruhm der Faschisten ziemlich schnell.
Das Ansehen unserer Partei, das Vertrauen in sie und der Respekt vor ihr wuchsen in
diesen Tagen zweifellos. Die Rote Fahne kann man in den letzten Tagen nirgendwo
erhalten, die Auflage ist bereits am frühen Morgen vergriffen (unsere Verleger jedoch
können die Auflage um mehr als 5.000 aus irgendwelchen „technischen“ Gründen
nicht erhöhen), die Auflage der Welt am Abend34 stieg in diesen Tagen auf 12.000 an.
Gestern gab es einen Rekrutierungstag der Rotfrontkämpfer. Ich kenne die Ergebnisse
noch nicht, bin mir jedoch sicher, dass die Rekrutierung gut verlief.
Diese ganze Geschichte schuf eine gute Basis für die politische Vorbereitung des
7.–8. Mai.35 In Berlin sowie in einem der Provinzbezirke wandten sich unsere Parteior-
ganisationen an die lokalen s[ozial]-d[emokraten] und gewerkschaftlichen Organisa-
tionen zwecks einer gemeinsamen Aktion am 7.–8. Mai. In der Provinz (ich glaube, in
Halle), wurde dieser Vorschlag abgelehnt. Er wird auch in Berlin abgelehnt werden.
Doch ist dies ein richtiger taktischer Schritt unsererseits. Von einer solchen Anwen-
dung der Einheitsfronttaktik können wir nur profitieren. [...]
33 Gleichzeitig mit Lominadze hielten sich u.a. die hohen sowjetischen Funktionäre Kuusinen, Sta-
sova und zeitweise Manuilski verdeckt in Deutschland auf.
34 Die Welt am Abend erschien als ein weiterer Baustein des „Münzenberg-Konzerns“ als Tageszei-
tung mit Boulevardcharakter in Berlin von 1922 bis Februar 1933 und erreichte um 1926 eine Auflage
von über 100.000. Das Blatt enthielt neben einem großen Kulturteil die Sonntagsbeilage „Film und
Radio“. Feuilletonchef war Kurt Kersten. Später erschien als Parallelausgabe die Welt am Morgen
(Chefredakteur Bruno Frei).
35 Am 7. und 8.5.1927 fanden in Berlin unter Führung der KPD trotz eines Verbotes des Polizeipräsi-
denten Karl Zörgiebel (SPD) große Gegendemonstrationen gegen ein Treffen des „Stahlhelm“ statt.
Anlässlich des Pfingsttreffens des RFB eine Woche später liess Ernst Thälmann den „Eid der Hundert-
tausende“ schwören, „stets und immer ein Soldat der Revolution zu bleiben und stets und immer für
die Sowjetunion und die siegreiche Weltrevolution zu kämpfen“.
Dok. 169: [Berlin], 11.4.1927 559
2) Sie können sich selbst vorstellen, wie schwer es ist, hier zu arbeiten, ohne von
Ihnen Anweisungen jeglicher Art zu sehr wichtigen und strittigen Fragen zu erhalten.
Ich kenne immer noch nicht Ihre Meinung zur Losung der „Arbeiterkontrolle“.36 [...]
Ich bitte sehr darum, Briefe weder zu chiffrieren noch zu kodieren – ich lese
sie im Büro, es gibt also keinerlei Gefahr der Aufdeckung. Und da die Post montags
ankommt und abgeht, fehlt die Zeit für die Dechiffrierung völlig, und ich muss sinn-
gemäß erraten, um was es geht.
Am 31.3.1927 nahm das Politbüro der KP der Sowjetunion die Einladung der deutschen Regierung
an, russische Naturwissenschaftler zu einer „Begegnungswoche“ nach Berlin zu entsenden. Der
deutsche Botschafter in Moskau hatte eine Liste der Forscher übergeben, die die Regierung gerne
in Berlin begrüßen würde, auch kam sie für sämtliche Kosten auf. Vermutlich handelte es sich dabei
um die „Russische Naturforscherwoche“ in Berlin, die im Rahmen der Deutschen Chemischen Gesell-
schaft Ende Juni 1927 durchgeführt wurde. Dabei sollte das Verhalten der Wissenschaftler im Ausland
strengstens von der GPU überwacht werden.37
Dok. 169
Eindrücke des Emissärs Lominadze an Stalin von einer
Kundgebung der KPD im Berliner Sportpalast
[Berlin], 11.4.1927
An Gen. Stalin.
STRENG GEHEIM.
KOPIE DES BRIEFES von Gen. Albert [d.i. Lominadze] vom 11.4.27.38
Ich bin gezwungen, meine Bitte nochmals zu wiederholen, Ihre Briefe an mich nicht
zu chiffrieren. Die Post von hier geht an demselben Tag heraus, an dem sie aus Moskau
ankommt. Bis Ihr Brief dechiffriert wird, vergeht sehr viel Zeit. So habe ich heute zum
Beispiel nur eine halbe Stunde, um Ihnen zu antworten.
36 Die Arbeiterkontrolle war Anfang der zwanziger Jahre ein Übergangskonzept der KPD zur Kon-
trolle der Produktion durch die Arbeiter in den Betrieben und über die Banken. In der zweiten Hälfte
der zwanziger Jahre wurde die Forderung abgeschwächt, auch die „Produktionskontrolle“ wurde als
„reformistisch“ abgelehnt (siehe Dok. 170).
37 RGASPI, Moskau, 17/3/626, 2; 17/162/4, 91. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 23.
38 Kursivierte Passage handschriftlich. „Albert“ ist über einem geschwärzten Namen als Korrektur
ausgeführt. Rechts neben der Passage Stempel: „2472 * 14.IV.1927“.
560 1924–1929
Ich versuche, das wichtigste von dem darzulegen, was ich heute vorhatte, an Sie
zu schreiben.
1) Robert [d.i. Karl Volk] hatte auf der Sitzung des Präsidiums des EKKI angesichts
der zahlenmäßigen Kräfte der faschistischen Organisationen Verwirrung gestiftet. Ich
schicke Ihnen zwei Dokumente: den Vortrag Neumanns auf der Sitzung des Berliner
Komitees39 und den Bericht der Informationsabteilung des ZK [der KPD]. Die Kräfte
des „Stahlhelm“ belaufen sich auf höchstens 500.000.40 Die Arbeiter stellen in dieser
Organisation 50–60 Prozent. Dies sind jedoch in der Hauptsache Landarbeiter. Ich
würde dazu raten, beide Dokumente ins Russische zu übersetzen, um auch den rus-
sischen Genossen die Möglichkeit zu geben, sich mit diesen Materialien bekannt zu
machen.
2) Letzten Dienstag gab es eine große Kundgebung im Sportpalast.41 Auf der Kund-
gebung erschienen mindestens zwanzigtausend Arbeiter. Die Stimmung war anfangs
außerordentlich gut – kämpferisch, aufgewühlt. Leider haben jedoch die Leiter der
Kundgebung alles getan, um diese Stimmung zu kippen und zu verderben. Thälmann
erschien 1¾ Stunden zu spät auf der Kundgebung. Pieck, der Vorsitzende der Kundge-
bung, wartete ungefähr eine Stunde auf ihn, fing dann selbst an zu reden, und sprach
eine ¾ Stunde, bis Thälmann schließlich auftauchte. Thälmann hielt ebenfalls eine
45 Minuten lange Rede. Das Auditorium wurde schrecklich müde. Ein Teil der Arbei-
ter fing an zu gehen. Nach Thälmann sprachen noch 5 Redner (von denen nur Mün-
zenberg und Esche [Eiche, d.i. Walter Ulbricht?] gut und mit Begeisterung sprachen),
es wurden 5 oder 6 Resolutionen vorgelesen und zur Abstimmung gebracht, wonach
Thälmann das Schlusswort ergriff. Seine abschließende Rede dauerte um die 40
Minuten und löste eine schier unvorstellbare Langeweile beim Publikum aus. Alle
Begeisterung ging zum Teufel. Das Volk verließ massenhaft die Kundgebung, was es,
wie man sagt, vorher noch nie gegeben hatte. Das war ein gewaltiger und schwerer
Schlag für die Partei. Man sagt, dass die parteilosen Arbeiter mit der Kundgebung
zufrieden waren, dagegen waren ausnahmslos alle Parteimitglieder, die ich gesehen
hatte, außer sich vor Wut. Auf Thälmann prasselten von allen Seiten Vorwürfe nieder.
Der Leiter der Orgabteilung des Berliner Komitees Pfeifert [d.i. Hans Walter Pfeiffer]
schrieb einen Brief, in dem er Thälmann vorwarf, er sei hochnäsig und aufgebla-
sen geworden, hätte das Verantwortungsgefühl für die Massen verloren, würde sich
überall vordrängeln etc. Wir haben Pfeifert gezwungen, diesen Brief zurückzuneh-
men. Dennoch ist vieles von dem, was er Teddy vorgeworfen hatte, wahr, und letzte-
rer hat es selbst zugegeben. Der Vorwurf Pfeiferts wegen der Ehrsucht etc. ist natür-
lich übertrieben. Aber etwas davon ist trotzdem bei Thälmann vorhanden. Ich denke,
an Thälmann wird die Lehrstunde dieser Kundgebung nicht spurlos vorübergehen.
Ich schreibe darüber so ausführlich, trotz Zeitmangels, da diese Geschichte um
die Kundgebung ein grelles Licht auf die Versäumnisse der Partei wirft. Die Partei ist
nicht fähig und hat nicht die Kraft dazu, den gewaltigen Aufschwung der Massen,
so wie er vorhanden ist, zu nutzen und in eine richtige Bahn zu lenken. In der Partei
gibt es keine Führer, die sowohl für die Partei- wie auch für die parteilosen Massen
anerkannte Autoritäten wären. Jeder kleine Fehler der Führung (wie die Verspätung
auf der Kundgebung um 1¾ Stunden oder lange, langweilige, ermüdende Reden) ver-
wandelt sich unter diesen Bedingungen in ein großes Minus für die Partei als Ganzes.
Schleunigst müssen die Lehren aus dieser missglückten Kundgebung gezogen und
verinnerlicht werden.
Unsere Direktiven über die Protestdemonstrationen in der Provinz sind bis jetzt
noch nicht ausgeführt worden. Am Donnerstag haben wir vor, Demonstrationen für
China und die UdSSR in allen großen Städten Deutschlands zu veranstalten.42 Wo
dies möglich sein wird, werden wir Demonstrationen auch vor den (englischen und
amerikanischen) Konsulaten abhalten. Die Presse führt die Kampagne bedeutend
besser. Darüber, wie die Kampagne in den Fabriken durchgeführt wird, gibt es noch
keine Angaben. Ihre Instruktionen werden wir zur Kenntnis nehmen.
3) Das Telegramm über die Konferenz der ZK-Vertreter und der Parlamentsfrak-
tionen der fünf Parteien habe ich heute zeitgleich mit Ihrem Brief erhalten.43 Die
Konferenz werden wir auf den 20. April ansetzen. Die Vertreter der KP Frankreichs,
Englands u.a. werden von uns Geld verlangen. Ich werde nicht eine Kopeke dieser
Ausgaben persönlich verantworten. Um diese Ausgaben müssen Sie sich schon selbst
kümmern.
Heute wird Münzenberg einen Aufruf im Namen der Liga [gegen Imperialismus]
anlässlich der Chin[esischen] Ereignisse verfassen. Der Aufruf wird morgen veröffent-
licht. Lansbury werden wir um seine Zustimmung schon nicht mehr fragen.44 Viel-
leicht wird dies zu einem Konflikt mit ihm führen, aber da kann man nichts machen.
Die Liga braucht dringend Geld. Wenn Sie sich schon dazu entschieden haben, eine
Organisation, die nach Meinung aller russischen Genossen eine „großartige Zukunft“
hat, in einem solchen Moment mit weniger als 500 Dollar monatlich zu fördern, dann
42 Lominadze lag sehr viel daran, die Solidaritätskampagne mit China in der KPD umzusetzen. Am
7.4.1927 empörte er sich in einem Brief an Stalin, Die Rote Fahne nehme China zu wenig in den Fokus:
„Die chinesischen Ereignisse sind wichtiger als jeder Zusammenstoß mit den Faschisten.“ (RGASPI,
Moskau, 558/11/758, 59–63).
43 Über diese Konferenz ist bisher nichts bekannt, es ist fraglich, ob sie stattfand.
44 George Lansbury (1859–1940) war ein pazifistischer und theosophischer britischer Labour-Poli-
tiker, zeitweise Parteivorsitzender, der die Internationale Arbeiterhilfe und Willi Münzenberg unter-
stützte.
562 1924–1929
bitte ich Sie sehr, doch zumindest ihre Schulden beim deutschen ZK in Höhe von
4.000 Mark vollständig zu decken. Sonst wird die Liga alle ihre Mittel sofort dem ZK
[der KP] Deutschlands übergeben müssen, um ihre Schulden zu tilgen, und ohne
Geld, [nur] vom Geist [angetrieben], ist die Liga selbstverständlich nicht in der Lage,
eine Kampagne in Europa durchzuführen.
Ihre Mitteilung über den Beschluss zu Braun [d.i. Arthur Ewert] ist zur Kenntnis
genommen worden.45 [...]
Ich würde ebenfalls darauf bestehen, dass die K.I. 4.000 Mark monatlich für die
Arbeit einer Telegraphenagentur aufwenden würde, die man hier einrichten könnte
und die die gesamte deutsche, und vielleicht auch einen Teil der europäischen Presse
mit unseren Informationen versorgen könnte.46 [...] Ich wiederhole meinen Vorschlag,
diese Sache Münzenberg anzuvertrauen. Was man auch über ihn sagen mag, auf
diesem Gebiet ist er ein Meister und könnte diese Sache, die eine wahrhaft giganti-
sche Bedeutung hat, aufziehen.
Ich komme zum Schluss. Keine Zeit mehr zu schreiben.
Anbei sende ich einen interessanten Überblick über die Wirtschaftslage in
Deutschland.
Das Politbüro der KP der Sowjetunion beschloss am 30.4.1927 Direktiven an die russische Delegation
zur Internationalen Wirtschaftskonferenz des Völkerbundes in Genf (Mai 1927), auf der internationale
Maßnahmen zur Überwindung der Krisenentwicklung und der zwischenstaatlichen wirtschaftlichen
Barrieren verhandelt werden sollten. Die Delegation sollte den Imperialismus kritisieren und das so-
zialistische Wirtschaftssystem dem kapitalistischen gegenüber stellen. Gleichzeitig sollte sie jedoch
deutlich machen, dass diese fundamentalen Unterschiede einer praktischen Zusammenarbeit mit
„bürgerlichen“ Staaten wie Deutschland und Frankreich nicht im Wege stünden.47
45 Vermutlich der Beschluss, Ewert, der vom XI. Parteitag im März 1927 in das ZK gewählt worden
war, als Vertreter der „Mittelgruppe“ in das Politbüro und neben Thälmann, Dengel und Meyer in das
Politsekretariat der KPD zu berufen.
46 Ein Beschluss zur Gründung einer Berliner Außenstelle der kominterneigenen Presseagentur
unter der Bezeichnung „Inprekorr“ (später „Supress“), die auch Telegramme, operatives Material und
Presse verteilte, wurde am 8.11.1926 gefasst (Bayerlein: Das neue Babylon, S. 239; id.: Transnationale
Netzwerke und internationale Revolution).
47 RGASPI, Moskau, 17/162/4, 142–147. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 142–147.
Dok. 170: [Moskau], 25.5.1927 563
Dok. 170
Aus dem Geheimprotokoll der Sitzung der russischen und
deutschen Delegation des 8. EKKI-Plenums zur Festlegung der
KPD-Politik
[Moskau], 25.5.1927
VÖLLIG GEHEIM.
PROTOKOLL Nr. 6
DER SITZUNG DER RUSSISCHEN UND DEUTSCHEN DELEGATIONEN DES PLENUMS
DES EKKI48
Vom 25.5.27.
Anwesend von der KPD: Thälmann,49 Braun [d.i. Ewert], Remmele, Heckert, Geschke,
Neumann, Münzenberg;
Von der VKP: Stalin, Bucharin, Rykov, Manuilski, Pjatnitzki, Kuusinen, Lominadze,
Šackin.
Tagesordnung:
48 Das 8. EKKI-Plenum, Moskau (18.–30.5.1927) fand unter Bedingungen einer (zumeist selbst pro-
duzierten) äußeren Bedrohung sowie wachsenden Legitimationsschwierigkeiten der Stalin-Bucha-
rinschen Kominternführung statt. Kurz zuvor hatte Großbritannien infolge der Durchsuchung der
sowjetischen Handelsvertretung und angeblich dort gefundener Beweise für eine Spionagetätigkeit
der Angestellten die Beziehungen zur Sowjetunion abgebrochen. Haupttagesordnungspunkte waren
die internationale Kampagne gegen die Kriegsgefahr, die (zu beschleunigende) Revolution in China
und das trotz der Krise und des Zurückweichens des TUC weiterhin verteidigte Anglo-Russische Ge-
werkschaftskomitee. Um der Opposition, die nur durch Trotzki und Vojislav Vujović vertreten war,
die beide des Öfteren niedergeschrien wurden, keine Plattform liefern zu müssen, wurde ein Pro-
tokoll erstmals nicht publiziert, nur die Stalin-Rede zur chinesischen Frage, der Bericht Bucharins
im Namen der russischen Delegation sowie die Thesen des Plenums über die Kriegsgefahr wurden
veröffentlicht (siehe: Kahan: Bibliography of the Communist International, S. 219–222).
49 Auf dem EKKI-Plenum trat Thälmann als schärfster Kritiker Trotzkis und der Linken Opposition
auf, im Namen Stalins und Bucharins.
564 1924–1929
Beschlossen: 1. Die Linie der KPD in Bezug auf die linken S[ozial]-D[emokraten] für
richtig zu befinden.
In Kriegszeiten ist eine Einheitsfront mit den linken S[ozial]-D[emokraten]
möglich, falls sie mit den rechten S[ozial]-D[emokraten] brechen und sich der Diszi
plin der rechten S[ozial]-D[emokraten] nicht unterwerfen.
[Beschlossen:] 2. Die KPD muss gegenwärtig gegen die Losung der Kontrolle der Pro-
duktion auftreten.51 Eine solche Losung kann nur in Zeiten revolutionärer Erhebung
proklamiert werden.
Die KPD sollte die Vorschläge der S[ozial]-D[emokraten] und der bürgerlichen
Parteien über das Streichholzmonopol oder die Nationalisierung des einen oder
anderen Industriezweigs unterstützen, denn für die Arbeiterklasse ist es unerheblich,
ob sich der gegebene Industriezweig in den Händen einzelner Kapitalisten oder in den
Händen des kapitalistischen Staates, also einer Gruppe von Kapitalisten, befindet.52
Die Munizipalisierung einzelner Betriebe kann von der KPD unterstützt werden.
[Beschlossen:] 3. Den Kampf gegen die Maslow-Anhänger innerhalb der KPD zu ver-
stärken, bis hin zum Ausschluss. Dabei soll man sich jedoch nicht auf Organisations-
maßnahmen beschränken, [sondern] einen ideologischen Kampf gegen sie führen
und ihn mit der gegenwärtigen Lage und dem Verhältnis zur VKP(b) verbinden.
50 Im Original heißt es „VKP“, allerdings geht es in dem Punkt um die KPD.
51 Die u.a von Brandler, Thalheimer und Trotzki erhobene Forderung nach Produktionskontrolle
gehörte zu den seitens der Linken in der KPD grundsätzlich abgelehnten „Übergangsforderungen“.
Trotzki schrieb dazu: „Die Arbeiterproduktionskontrolle kann der Bourgeoisie vom Proletariat nur
auf dem Weg zur Eroberung der Macht und damit der Produktionsmittel gewaltsam aufgezwungen
werden. Somit kann das Regime der Arbeiterkontrolle nur ein provisorisches, ein Übergangsregime
sein und nur der Periode der Erschütterung des bürgerlichen Staates, der proletarischen Offensive
und des Zurückweichens der Bourgeoisie entsprechen, das heißt: der Periode der proletarischen Re-
volution im weitesten Sinne des Wortes.“ Über Arbeiterkontrolle der Produktion. Brief an Genossen,
20. August 1931.
52 Das 1930 eingeführte Zündmittelmonopol war allerdings de facto eine Maßnahme zur Förderung
des schwedischen Unternehmers und Spekulanten Ivar Kreuger („Zündholzkönig“), der gegen Mil-
lionenkredite an die Regierung für 53 Jahre eine Absatzgarantie von 65% der in Deutschland ver-
kauften Zündhölzer erhielt. Der Zusammenbruch seines Imperiums 1932 trug zur Verschärfung der
Wirtschaftskrise bei.
Dok. 170: [Moskau], 25.5.1927 565
Was die Rechten angeht, so sollte man die Beratungen mit ihnen vor den ZK-Sit-
zungen einstellen, es empfiehlt sich jedoch nicht, Gen. Böttcher auszuschließen.53
[Angehört:] 4. Möglichkeit eines Bruchs mit England,54 die Kriegsgefahren und die
von der VKP unternommenen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Kriegsgefahr.
[Beschlossen:] 4. Die Information der Mitglieder der Delegation der VKP im EKKI zur
Kenntnis zu nehmen.
53 Paul Böttcher war zwar auf dem XI. Parteitag nicht ins ZK wiedergewählt worden, blieb jedoch
Vorsitzender der KPD-Landtagsfraktion in Sachsen und Mitglied der Bezirksleitung Westsachsen.
54 Nach einer Durchsuchung der sowjetischen Handelsvertretung, in der auch die All Russian Co-
operative Society (ARCOS) untergebracht war, am 12.5.1927, bei der nach britischer Darstellung Belege
für eine Agententätigkeit seitens ihrer Angestellten aufgefunden wurden („ARCOS-Affaire“), hatte die
konservative Regierung Baldwin (Außenminister Chamberlain) am 24.5.1927 den Abbruch der diplo-
matischen Beziehungen mit der UdSSR verkündet. Die Begründung waren „Militärspionage und sub-
versive Aktivitäten im gesamten britischen Empire sowie Nord- und Südamerika“. Erwartete zentrale
Dokumente aus dem War Office wurden jedoch nicht gefunden. Siehe hierzu den Beschluss des Polit-
büros des ZK der KP der Sowjetunion vom 26.5.1927 (vgl.: Documents Illustrating the Hostile Activities
of the Soviet Government and the Third International against Great Britain. London: HM Stationery
Office, 1927; Harriette Flory: The Arcos Raid and the Rupture of Anglo-Soviet Relations, 1927. In: Jour-
nal of Contemporary History 12 (1977), No. 4, S. 707–723).
55 Eine entsprechende auf den 30.5.1927 datierte Resolution „(...) über das Auftreten der Genossen
Trotzki und Wujowitsch auf der Plenartagung des EKKI“ wurde verabschiedet. Sie war auf den Aus-
schluss der beiden Repräsentanten aus dem EKKI gerichtet, der maßgeblich auf Stalins Drängen durch
einen Beschluss der Internationalen Kontrollkommission vom 27.9.1927 erfolgte. Die Führer der Opposi-
tion wurden wegen „Renegatenargumentation“ sowie „offen Sowjetfeindlichen“ Verbindungen ange-
klagt (siehe: Fridrich Igorevič Firsov, Helmut Heinz u.a. (Hrsg.): Die Komintern und Stalin. Sowjetische
Historiker zur Geschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin, Dietz, 1990, S. 127).
56 Besonders Bucharin setzte sich für Ewert als Mitglied des Präsidiums des EKKI ein, was von Stalin
konterkarriert wurde, der die „Liquidierung der Rechten“ vorantrieb.
566 1924–1929
[Beschlossen:] 7. Die Bitte der deutschen Delegation über die Kommandierung von
Gen. Lominadze zur Arbeit nach Deutschland zur Kenntnis zu nehmen, jedoch vorerst
keine endgültige Entscheidung in der Frage zu treffen.57
Am 26.5.1927 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, die Botschaft und die Handelsver-
tretung in London zu evakuieren. Vorausgegangen war eine Durchsuchung der Handelsvertretung
durch die britische Polizei. Ein Teil ihres Personals sollte nach Berlin evakuiert werden, von wo aus
die weiteren Kontakte mit England zu erfolgen hätten. Die sowjetische Botschaft in Berlin wurde auf-
gefordert, Stellungnahmen zur Widerlegung der Instruktionen Sinowjews an die KP Englands, falls
diese noch nicht in der englischen Presse lanciert seien, nach Moskau zu schicken, um den Veröffent-
lichungsmodus abzustimmen.59
Dok. 171
Brief Jacob Walchers an Bucharin über die Politikunfähigkeit der
KPD
Berlin, 26.5.1927
57 Am 25.7.1927 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, Lominadze für (weitere) drei Monate
nach Deutschland zu entsenden (siehe den Politbürobeschluss). In ihrer von Thälmann als „Drecks-
brief“ bezeichneten Zustandsschilderung der KPD schrieb Clara Zetkin später an Bucharin: „Leute
wie Osten [d.i. Vissarion Lominadze] sollten nie wieder nach hier kommen.“ (siehe Dok. 173).
58 Das Dokument wurde ergänzt durch die folgende Beilage: Beilage zum Protokoll Nr. 6, 25.5–27.
Zum p. 6. [Handschriftliche Resolution:] „Von der deutschen Delegation wurde Neumann zum Kan-
didaten für das Präsidium nominiert. Wir sind der Meinung, dass man nicht diesen [...] auswählen
muss, sondern Ewert. Wir bitten darum, über diese Frage im Büro der Delegation der VKP(b) abzu-
stimmen. Wir bitten darum, auf Basis einer entsprechenden Entscheidung den Mitarbeitern der KI
eine entsprechende Direktive zu erteilen, diese Frage mit der deutschen Delegation abzustimmen
und [die Frage] im EKKI zu stellen. [Sign.:] Bucharin, D. Manuilski, O.W. Kuusinen, U. Lominadze,
Šackin [...] [handschriftlicher Vermerk von anderer Hand (evtl. Lominadze)]: Gen. Stalin hat diesen
Vorschlag gesehen.“ [Datum unleserlich und Angaben in eckigen Klammern]
59 RGASPI, Moskau, 17/162/5, 16–17. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.:
Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 150–152.
Dok. 171: Berlin, 26.5.1927 567
Lage der Partei zu geben und soweit das im Rahmen eines Briefes möglich ist, auch
meine Meinung zu den einzelnen Fragen zu sagen.60
Als ich aus Moskau zurückkehrte, neigte ich zu der Annahme, daß die Partei in
Verfolgung einer grundsätzlich richtigen Linie sich mehr oder minder erfolgreich
bemühte, ihre Aufgaben durchzuführen. Ich mußte jedoch bald erkennen, daß es
die Partei nicht verstand, günstige objektive Möglichkeiten in maximaler Weise aus-
zunutzen. Ich will nur an die Fürstenentschädigung erinnern.61 Nach der gewaltigen
Volksbewegung hat die Parteiführung plötzlich vor der weiteren Durchführung der
Einheitsfronttaktik Angst bekommen, aus diesem Grunde die sympathisierenden
Kräfte und Organisationen, die sich um den Kuczynski-Ausschuß62 gesammelt hatten,
sich selbst überlassen und ohne Ziel und Plan den Kongreß der Werktätigen auf die
Tagesordnung gesetzt.63 Daß hier, lediglich zu dem Zweck, den Ultralinken den Wind
aus den Segeln zu nehmen und in völliger Verkennung der Lage ein großer Aufwand
schmählich vertan wurde, ist heute für jeden ersichtlich, der sehen will. Diese Flucht
aus der Fürstenenteignungskampagne zum Kon[greß] d[er] W[erktätigen] ist nicht
zufällig erfolgt, sondern aus Furcht vor einer weiteren Berührung mit der SPD und aus
Scheu vor ultralinken Angriffen. Eine Tatsache, die sich immer wieder in den politi-
schen Handlungen des ZK beobachten läßt. Das schlimmste aber in diesem Falle war,
daß durch die Ko[ngreß] d[er] W[erktätigen]-Kampagne die Partei das Interesse an der
Fortsetzung der Kampagne gegen die Fürsten allmählich erlahmen ließ und nicht zu
bewegen war, um nun auch in Preußen, wo die Frage erneut zur Entscheidung stand,
und wo in formaler Hinsicht die Sache viel leichter war, die Initiative zur Einleitung
einer Volksentscheidskampagne zu ergreifen. [...]
Den sechswöchigen Geburtswehen der Bürgerblockregierung64 braucht man nur
die Tatsache gegenüberzustellen, daß unsere Partei zu dieser Zeit in der politischen
60 „Bange Sorge“: Jacob Walcher (1887–1970), württembergischer Mitgründer der KPD, flüchtete
nach der Oktoberniederlage 1924 als Anhänger Brandlers nach Moskau. Anfangs von Bucharin un-
terstützt, versuchte er eine Einheitslinie der KPD in der Gewerkschaftspolitik der KPD umzusetzen,
wurde jedoch 1928 als Angehöriger der „Rechten Opposition“ ausgeschlossen; in der Emigration ge-
hörte er der Auslandsleitung der SAPD an.
61 Gemeint ist die erfolgreiche Kampagne für das Volksbegehren zur Enteignung der Fürstenhäuser
(1926) sowie die nachfolgende gescheiterte Volksabstimmung (siehe Dok. 142).
62 Kuczynski-Ausschuss, eigentlich „Ausschuss zur Regelung der Fürstenabfindung“, genannt nach
dem Wirtschaftswissenschaftler Robert René Kuczynski, dem Vater des späteren Wirtschaftsredak-
teurs der Roten Fahne Dr. rer. pol. Jürgen Kuczynski (1876 Berlin – 1947 Oxford). In ihm vertreten
waren unter der Hegemonie der KPD ca. 40 pazifistische, linke Organisationen, die anfangs erfolg-
reich einen Gesetzentwurf bzw. die Durchführung des Volksbegehrens zur Enteignung der Fürsten-
häuser in die Wege leiteten. Die anschließende Volksabstimmung scheiterte nicht zuletzt aufgrund
des Paradigmenwechsels der KPD-Kampagne (siehe hierzu Dok. 142 u.a.).
63 Siehe zum Reichskongress der Werktätigen Dok. 161.
64 Am 29. Januar 1927 kam es zum Regierungsantritt der 2. „Bürgerblockregierung“ aus Zentrum,
Bayerischer Volkspartei (BVP), Deutscher Volkspartei (DVP) und Deutschnationaler Volkspartei
(DNVP) unter Reichskanzler Wilhelm Marx.
568 1924–1929
Öffentlichkeit so gut wie keine Beachtung fand, weil sie es absolut nicht verstand,
durch entsprechende Losungen und durch konsequente Anwendung der Einheits-
frontpolitik die Massen mobil zu machen, obwohl dafür sehr günstige Voraussetzun-
gen bestanden. [...]
Die Hoffnung manches Genossen, daß durch die in Essen erfolgte Neuwahl des
ZK65 eine Besserung in der praktischen Politik der Partei eintreten werde, hat sich
nicht erfüllt. Ich übertreibe nicht, wenn ich Dir sage, daß diese pessimistische Auffas-
sung heute in weiteren Parteikreisen geteilt wird. [...]
Ich glaube, die ernsten Folgen, die sich aus dieser Einstellung des ZK nach meiner
Überzeugung unvermeidlich ergeben müssen, rechtfertigen es, wenn ich Dich bitte,
Dir diese Dinge genau anzusehen. Wenn Du dann noch Zeit findest, den Artikel zu
lesen, den ich unter dem Titel: „Die KPD und der linke Flügel der deutschen Arbei-
terbewegung“ im theoretischen Organ unserer Partei veröffentlicht habe, sowie die
Antwort, die der Genosse Osten [d.i. Vissarion Lominadze] daraufhin geschrieben hat,
so wirst Du über die Tragweite dieser Frage unterrichtet sein.66 Die nächste Nummer
der „Internationale“ wird eine Erwiderung von mir enthalten und wiederum eine
Replik des Genossen Osten.67 Ich will mich über den Ton des Genossen Osten in
diesem zweiten Artikel nicht auslassen, aber ich finde, daß es nicht im Parteiinter-
esse liegt, wenn mich Genosse Osten so quasi zu den Renegaten zählt und mir mit
dürren Worten droht: „Keinen Schritt weiter! Denn noch ein Schritt, und dann gibt
es kein Zurück mehr zum revolutionären Bolschewismus.“ Ich finde solche Drohung,
was mich persönlich betrifft, kindisch. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es für
unsere Sache von Nutzen ist, wenn man in der Öffentlichkeit verkündet, Leute, die so
wie Jacob Walcher denken, sind reif für den Ausschluß. Da Osten ja nicht irgendwer
ist, sondern hier als Vertreter der Exekutive fungiert, wäre es mir sehr lieb, wenn ich
erfahren könnte, ob seine Auffassung, die wahrlich von Sachkenntnis nicht getrübt
ist, von irgend jemand in der Exekutive [der Kommunistischen Internationale] gebil-
ligt wird. [...]
Trotzdem Genosse K[uusinen] wiederholt und mit Nachdruck die Notwendigkeit
der Konzentration aller Kräfte unterstrichen hat, haben sich in der Zwischenzeit einige
65 Bis zum XI. Parteitag der KPD (Essen, 2.–7.3.1927), der verschoben worden war, gelang es noch nicht,
die Opposition aus den Führungspositionen und dem Apparat auszuschalten. Nur vordergründig wurde
verkündet, dass der Parteitag „(...) die taktischen Auseinandersetzungen beendet“ und die „Führung
(...) in ihrem Zentralkomitee Vertreter fast aller Gruppierungen in der Partei vereint hat.“ (Neue Zeitung,
München, 15.3.1927. Siehe zum Kongress: Weber: Die Wandlung, S. 170–178).
66 Die Auseinandersetzung zwischen Walcher und dem Kominternemissär wurde offen im KPD-Or-
gan ausgetragen. Siehe: Jacob Walcher: Die KPD und der linke Flügel der deutschen Arbeiterbewe-
gung. In: Die Internationale, Heft 7, 1.4.1927; die Replik Lominadzes: M. Osten [d.i. V. Lominadze]: Die
KPD als Führer und Organisator des „Linken Flügels“. In: Die Internationale, Heft 11, 1.6.1927.
67 Siehe: Jacob Walcher: Nochmals die KPD und der linke Flügel. In: Die Internationale, Heft 11,
1.6.1927; und: M. Osten: Über die opportunistische Entstellung der Taktik der Einheitsfront. In: Die
Internationale, Heft 11, 1.6.1927).
Dok. 171: Berlin, 26.5.1927 569
Fälle ereignet, die das strikte Gegenteil einer Konzentration sind und ganz bestimmt
nicht im Parteiinteresse liegen.68 So ist die Genossin Rosi Wolfstein, die lange Jahre
vor dem Kriege im linksradikalen Flügel wirkte, während des Krieges eifrig und uner-
schrocken illegal arbeitete und die dem Reichsfrauensekretariat69 seit seinem Beste-
hen ununterbrochen, selbst in der Aera Ruth-Fischer-Scholem angehörte, vor kurzem
auf Verlangen des ZK aus dieser Körperschaft entfernt worden.70 [...]
In der Linie des Kampfes gegen die „Rechten“ liegt auch das Verhalten des ZK
gegenüber den Genossen Brandler und Thalheimer. Im Januar wurde beschlossen,
sie zur literarischen Arbeit heranzuziehen.71 Bis heute ist davon nichts zu merken.
Eine größere Arbeit von Br[andler], die in der deutschen Ausgabe der „Kommunis-
tischen Internationale“ erscheinen sollte, war bereits im Satz, wurde aber zurück-
gestellt aufgrund eines Telegramms aus Moskau, das, wie hier erzählt wird, auf die
Initiative des ZK zurückzuführen ist.72 Wie es um diesen Fall auch tatsächlich bestellt
sein mag, soviel ist jedenfalls klar, die Partei hat einen erschreckenden Mangel an
erfahrenen, fähigen, mit der Arbeiterbewegung verwachsenen Mitarbeitern. Deshalb
68 Der sog. „Kurs der Konzentration“ wurde 1926 eingeleitet, blieb jedoch prekär. Er konsolidierte
nach der politischen Liquidierung der linken Fischer-Maslow-Führung auf dem VII. EKKI-Plenum
durch die Zusammenarbeit der Thälmann-Dengel-Führung mit der („Mittel“-)Gruppe um Ernst Meyer,
Arthur Ewert, Gerhart Eisler und Karl Becker die seinerzeit noch schwache Thälmann-Führung. Of-
fiziell galt die Losung, von der Diskussion unter den verschiedenen Gruppen zur praktischen Ar-
beit überzugehen. Unstimmigkeiten über die Konzentration führten bereits im Januar 1927 zu einer
Spaltung der Mittelgruppe in die später vom ZK abwertend mit dem Terminus „Versöhnler“ belegten
Meyer, Ewert, Eisler, Schumann, Becker u.a. sowie die Parteirechte um Walcher, Böttcher, Frölich und
Enderle (siehe: Weber: Die Wandlung, I, S. 166 ff.).
69 Im Zuge der „Bolschewisierung“ wurde das Reichsfrauensekretariat als relativ selbstbestimmtes
Fach- und Leitungsorgan für die Frauenpolitik aufgelöst und die Frauenarbeit direkt dem Politbüro
der KPD unterstellt (siehe: Hans-Jürgen Arendt: Das Reichsfrauensekretariat bei der Zentrale der KPD
1919–1923. In: Mitteilungsblatt der Forschungsgemeinschaft „Geschichte des Kampfes der Arbeiterklas-
se um die Befreiung der Frau“, 1 (1986), S. 5–21, hier S. 14. Zur Kontextualisierung siehe: Bernhard
H. Bayerlein: Zwischen Internationale und Gulag. Präliminarien zur Geschichte der internationalen
kommunistischen Frauenbewegung (1919–1945). Teil 1. In: The International Newsletter of Communist
Studies 12 (2006), S. 27–47.
70 Die Entfernung Rosi Wolfsteins aus dem ZK und Erna Halbes, die 1924 Leiterin der Frauenab-
teilung des ZK war, aus dem Reichsfrauensekretariat erfolgte wegen ihrer vermuteten Nähe zu den
„Rechten“. Die auch als „zweite Rosa Luxemburg“ titulierte Wolfstein war Lebensgefährtin von Paul
Frölich und wurde 1929 aus der Partei ausgeschlosen.
71 Der Beschluss blieb unwirksam, Brandler durfte trotz eines zustimmenden Beschlusses zur Rück-
kehr durch das ZK auch 1928 die Sowjetunion nicht verlassen und reiste dann, nachdem er mit Kon-
takten zur deutschen Botschaft gedroht hatte, „illegal“ nach Deutschland zurück. Thalheimer reiste
im Mai 1928 zurück, nachdem er mit Bucharin vereinbart hatte, nicht mehr in die Sowjetunion zu-
rückzukommen.
72 Bei der Arbeit Brandlers geht es vermutlich um den von ihm gefertigten Entwurf eines Aktions-
programms der KPD, der zunächst verschleppt, dann vor allem auf Druck der Chemnitzer Linken als
opportunistisch verurteilt und erst Anfang 1928 veröffentlicht wurde (siehe: Weber: Die Wandlung,
S. 187f.).
570 1924–1929
wäre es Pflicht des ZK, alles zu tun, um zunächst die Mitarbeit solcher Genossen wie
Br[andler] und Th[alheimer] mit allen Mitteln zu erleichtern und darüber hinaus die
Bahn für ihre Rückkehr nach Deutschland freizumachen. Das ZK tut das Gegenteil.
Wird hier nichts geändert, so werden die beiden bis zum St. Nimmerlandstag in
Moskau sitzen zum Schaden unserer Bewegung.
Das sind nur einige Beispiele, die eine im ganzen Reich von oben bis unten herr-
schende Tendenz illustrieren sollen.
Selbstverständlich muß sich diese Praxis in Verbindung mit der unzulängli-
chen Politik des ZK nachteilig auf die Entwicklung der ganzen Partei und die prakti-
schen Resultate ihrer Politik auswirken. Das ZK sucht diesem Übelstand durch eine
geradezu unheimliche Betriebsamkeit des Apparates abzuhelfen. Die Produktion
von Rundschreiben ist erschreckend. Hat doch ein Bezirk im vorigen Monat, der 24
Arbeitstage hatte, nicht weniger als 16 Rundschreiben an seine Funktionäre heraus-
gegeben.73 Der zentrale Apparat überbietet die Produktivität noch. Allgemein klagen
die Genossen, daß es unmöglich sei, diese Überfülle von Anweisungen auch nur zur
Kenntnis zu nehmen, geschweige denn durchzuführen. Die unteren Funktionäre sind
in einer unerträglichen Weise überlastet, was, von allem anderen abgesehen, die Wer-
bekraft der Partei in stärkster Weise beeinträchtigt. [...]
Forscht man nach den Ursachen, auf die die Mängel und Unzulänglichkeiten in
unserer Partei zurückzuführen sind, so will es mir scheinen, daß das Hauptübel darin
zu suchen ist, daß die Vergangenheit der Partei von den Ultralinken in voller Weise
verzerrt und entstellt wurde, und daß bis heute die von den Ultralinken geschaffene
Parteilegende aufrechterhalten wird. [...]
Mit jedem Tag wird es deutlicher, daß wir um die Bereinigung der Parteivergan-
genheit, um die Zerstörung der von den Maslowiten geschaffenen Legende nicht
herumkommen, wenn die gesamte Partei die ideologische Festigkeit und Geschlos-
senheit erlangen soll, die für die Erfüllung ihrer Aufgaben unerläßlich sind. Heute
krankt die ganze Partei, vor allem ihre Führung, an einer lächerlichen Furcht vor dem
Gespenst des Opportunismus. Das schreckt und ängstigt sie bei jeder praktischen
Entscheidung. Das führt zu den von weitem sichtbaren Schwankungen und Unsicher-
heiten, die ihr die Erfüllung ihrer praktischen Aufgaben erschwert und oft unmöglich
macht. [...]
Solange die Maslow und Konsorten unwidersprochen darauf pochen können,
daß sie jahrelang die bolschewistische Linie verfochten, gegen den Opportunismus
gekämpft und schließlich die Partei gerettet haben, solange ist es nicht möglich, die
Tausende guter, opferbereiter Proletarier, die heute noch den Ultralinken Gefolg-
schaft leisten, innerlich für die Partei zu gewinnen. [...]
73 Zum bürokratischen Rundschreibenverfahren in der KPD, an der Spitze die Rundschreiben des ZK
an die Parteibezirke „als wesentliche Methode der Anleitung“ im Rahmen der strengen Zentralisie-
rung, siehe die quellenkritische Auseinandersetzung in: Weber: Generallinie, S. CVIII-CXI.
Dok. 171: Berlin, 26.5.1927 571
Was muß nun geschehen, um aus dieser Lage herauszukommen? Ich glaube,
es wäre nicht viel erreicht, wenn durch die Initiative der Exekutive [der Kommunis-
tischen Internationale] eine Änderung in der Zusammensetzung des Polbüros und
seines Sekretariats durchgeführt würde. Eine solche Änderung ist zwar wünschens-
wert und notwendig. Aber wie die Dinge liegen, kann sie nur dann von Nutzen sein,
wenn sie sich ergibt als Resultat einer Klärung, die sich in der ganzen Partei bis in
die unterste Zelle vollziehen muß. Mit einem Wort: Es ist notwendig, daß in unserer
Partei die aktuellen taktischen Probleme bis zu Ende durchdiskutiert werden und daß
zweitens eine gründliche Klärung der Parteivergangenheit erfolgt. [...]
Gerade ihr russischen Genossen müßt dafür volles Verständnis haben. Ich erinnere
mich, wie in der Vorkriegszeit von unseren Parteispießern über die russischen „Sil-
benstecher“ gespottet wurde.74 Die Leute hatten absolut kein Verständnis, weshalb die
Bolschewiken mit solcher Hartnäckigkeit und Konsequenz die Probleme bis zu Ende
durchdiskutierten und sozusagen um den letzten i-Punkt den heftigsten Streit ausfoch-
ten. Und doch ist ganz klar, daß die RKP niemals zu dieser herrlichen, vorbildlichen
Partei geworden wäre, daß sie nie ihre Riesenaufgaben hätte bewältigen können, wenn
eben die Bolschewiki nicht in jahrzehntelanger, leidenschaftlicher Diskussion sich
die erforderliche Klarheit über Weg und Ziel geschaffen hätten. Die KPD ist noch eine
werdende Partei. Sie kann zu einer herrschenden nur werden, wenn sie, gleich den
Bolschewiki, die Probleme nach allen Seiten und bis zu Ende durchdiskutiert. Das ist
es, was der Partei Not tut. Dazu brauchen wir Eure Unterstützung. Es muß aufgeräumt
werden mit dem heutigen Brauch, wonach jeder, der eine abweichende Auffassung ver-
tritt, und einen unerwünschten Vorschlag macht, sofort als Opportunist, als Feind der
Partei bezeichnet, und den Genossen denunziert wird. [...]
Will die Exekutive noch ein Übriges tun, so sollte sie der deutschen Sektion
einen anderen Vertreter senden. Genosse Osten ist dafür nicht geeignet. Er hat für
die komplizierten Verhältnisse in Deutschland nicht das genügende Verständnis, ja
nicht einmal das notwendige Verantwortungsbewußtsein. Dafür ein bezeichnendes
Beispiel. Genosse Osten ist bereits mehr als ein Jahr hier. Aber vor etwa drei Monaten
hat er den Genossen Meyer75 gefragt, ob im Reichstag eine sozialdemokratisch-kom-
munistische Mehrheit bestehe. Nun muß ich sagen, hätte ich dem ZK angehört, so
hätte ich vorgeschlagen, nach einer solchen Frage die Exekutive [der Kommunisti-
schen Internationale] um ein Rückreisebillet für den Genossen O[sten] zu ersuchen.
Denn es ist doch klar, gäbe es eine sozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit im
Reichstag, so wäre das eine für unsere gesamte Politik grundlegende Tatsache.76
74 „Silbenstecher“: Es handelt sich um ein veraltetes Synonym für „Haarspalter“ oder „Wortklau-
ber“, das häufig auf politische Gruppierungen bezogen wurde.
75 Genossen Meyer: Es handelt sich um das ZK-Mitglied Ernst Meyer.
76 Trotz der scharfen Kritik Walchers und Zetkins wurde der Emissär Lominadze auf Beschluss des
Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion im Juli 1927 erneut nach Deutschland entsandt. Der Kom-
internbeschluss lautete: „Protokoll Nr. 43. Sitzung der Ständigen Kommission, 25.07.1927. streng ver-
traulich. Behandelt: 4. Vorschlag des Gen. Petrovskij, den Gen. L[ominadze] vorläufig auf 3 Monate
572 1924–1929
So, mein lieber Bucharin, jetzt habe ich meine Sorgen zu Papier gebracht. Ihre
Beurteilung liegt jetzt in Deinem Ermessen. Ich habe mich nicht leichten Herzens zu
diesem Brief entschlossen. 1924 habe ich einmal an Genossen Sinowjew geschrieben,
um ihn auf verhängnisvolle Maßnahmen der Ruth-Fischer-Zentrale aufmerksam zu
machen. Er hat den Brief Ruth Fischer übergeben mit dem Effekt, daß das Übel noch
verstärkt wurde. Zu Dir habe ich das Vertrauen, daß Du, auch wenn Du in manchem
Punkt meine Auffassung nicht teilen solltest, in diesem Brief nichts anderes erblickst,
als das redliche Bemühen, unhaltbare Zustände in der Partei zu kennzeichnen und zu
ihrer Beseitigung beizutragen.77
Besten Gruß
J. Walcher
Das Politbüro der KP der Sowjetunion beschloss am 28.5.1927 eine Reihe von Maßnahmen zur Ver-
stärkung der Konspiration bezüglich der Auslandsarbeit. Unter anderem sollte die Arbeit der INOGPU
(Internationale Abteilung der GPU), der Komintern, der MOPR (Internationale Rote Hilfe) und der Prof-
intern (Rote Gewerkschaftsinternationale) von den diplomatischen Auslandsvertretungen der Sowje-
tunion „vollständig“ abgegrenzt werden. Die Methoden der chiffrierten Korrespondenz sollten noch
konspirativer gestaltet werden. Wohl als Folge der Durchsuchung der sowjetischen Handelsvertretung
in Großbritannien wurden alle Institutionen der Sowjetunion im Ausland angewiesen, ihre Archive zu
überprüfen und abzusichern.78
Das Politbüro der KP der Sowjetunion beriet am 14.7.1927 über die Einreise einer Delegation linker
Sozialdemokraten aus Deutschland in die Sowjetunion. Die Einreise wurde gewährt unter der Bedin-
gung, dass die Sozialdemokraten als Privatpersonen reisten. Allerdings wurde ihnen eine gewisse
materielle Unterstützung zugesprochen.79
Am 16.6.1927 beschloss das sowjetische Politbüro zu Fragen des Volkskommissariats für auswärtige
Angelegenheiten, erstens den Vorschlag der Reichswehr über die Beteiligung von Vertretern der Roten
Armee an Manövern der Reichswehr anzunehmen. Zweitens sollte Botschafter Krestinskij beauftragt
werden, Stresemann im Vorhinein darüber zu informieren. Der Hintergrund war, dass die Einladung
von einem Reichswehrvertreter übergeben wurde mit der Bitte, die Vertreter der Roten Armee mögen
doch offen und in Uniform an den Manövern teilnehmen. Litvinov hatte jedoch darauf bestanden,
dass Stresemann darüber ebenfalls informiert wird, um Missverständnisse zu vermeiden.80
Am 23.6.1927 beschäftigte sich das Politbüro mit der Publizierung der Ergebnisse der Reise Tomskijs
nach Berlin und seinen Gesprächen mit dem Generalrat der britischen Trade Unions.81
zur Verfügung der KPD zu stellen. Beschlossen: 4. Wird angenommen, OMS ist anzuweisen. Sekr.
Pjatnitzki.“ (RGASPI, Moskau, Auszüge Komintern).
77 Walcher war 1927 noch Mitarbeiter der Gewerkschaftsabteilung des ZK. Er wurde nach seiner Kri-
tik an Thälmann (Wittorf-Affäre) im Dezember 1928 als „Rechter“ aus der KPD ausgeschlossen. Siehe:
Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 983–985.
78 RGASPI, Moskau, 17/162/5, 24–25. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 462–463; Chaustov/Naumov/Plotnikov (Hrsg.): Lubjanka, S. 132.
79 RGASPI, Moskau, 17/3/644, 4.
80 RGASPI, Moskau, 17/162/5, 40; APRF, 3/64/653, 79. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, II, Dok. 28.
81 RGASPI, Moskau, 17/3/640, 23.
Dok. 172: Berlin, 31.7.1927 573
Dok. 172
Brief Arthur Ewerts an Bucharin über die Krisenerscheinungen in
der KPD
Berlin, 31.7.1927
82 Der IX. Parteitag der KPD vom 2. bis zum 7. März 1927 in Essen („Essener Parteitag“) bildete „den
Abschluß des Kampfes gegen die linke Opposition im Apparat und Funktionärskorps“ (siehe Weber:
Die Wandlung, I, S. 177). Er sollte entsprechend des „Offenen Briefes“ von 1925 unter den Schlag-
wörtern „innere Konsolidierung“, „Kampf um die Führung der deutschen Arbeiterklasse“ und „Kon-
zentration“ das Ende aller innerparteilichen Gruppen und Fraktionen (Thälmann-Dengel-Führung,
Meyer-Gruppe, Chemnitzer Linke) markieren.
83 Zum VIII. EKKI-Plenum siehe Dok. 170.
84 Gemeint sind die „Ultralinken“.
85 Gemeint ist der Offene Brief der Exekutive der Komintern gegen die Fischer-Maslow-Führung, der
am 1.9.1925 in der Roten Fahne publiziert wurde (siehe Dok. 135).
574 1924–1929
ten innerparteilichen Resultaten führte. Wenn es kaum noch weiter ging, war man
gezwungen, einen Schritt – wenn auch mit grossen inneren Hemmungen – weiter
zu gehen. Furchtsam und unter dem Zwang der Verhältnisse wurden diese Schritte
gemacht. Das Moment des bewussten Entschlusses, eine Waffe in den Händen einer
starken Führung – spielte eine untergeordnete Rolle. So war es bei der Vereinbarung
mit Meyer, so war es jetzt bei der Hereinnahme Meyers ins Sekretariat und bei vielen
anderen Anlässen.86
Was ist die Hauptursache, was erschwert besonders die Beschleunigung des
Konsolidierungsprozesses der Partei? Ich will nicht über bestimmte Vorstösse der
Rechten sprechen, die meistens eine Reaktion weit über den Rahmen der Bedeutung
dieser Vorstösse hinaus bei den alten Linken auslösen. Feststellen möchte ich nur,
dass Meyer und die mit ihm verbundenen Genossen seit der Vereinbarung in Moskau
und nach dem Parteitag sehr loyal mitarbeiteten und das sie gegen die Wühlereien
bestimmter rechter Elemente auch aktiv auftreten.
Die Hauptursache liegt meiner festen Ueberzeugung nach (und es ist das erste
Mal, das ich es Ihnen gegenüber ausspreche) in der Furcht der führenden Genossen
der alten Linken, vor allem des Genossen Dengel, in geringerem Umfang des Genos-
sen Thälmann, bei einer weiteren Entwicklung der Partei und ihrer Leitung auf der
bisherigen Linie die Hegemonie in der Führung zu verlieren. Verschärft wird dieses
durch ein starkes Unvermögen, Parteikräfte planmässig zu gruppieren, anzuziehen
und durch geistige Ueberlegenheit und eine feste Hand zu gewinnen. Die geistige
Ueberlegenheit wird zumindestens nicht von den anderen anerkannt und eine feste
Hand zeigt sich nicht in Schwanken und hysterischem Geschrei.
Der unvermeidlichen Entwicklung einer breiten kollektiven Führung stellen diese
Genossen – vor allem Dengel – die [unleserlich], engere Basis gegenüber. Natürlich
spricht man dies nicht aus. Aber fast jede Massnahme trägt mehr oder weniger deut-
lich diesen Stempel. Furcht vor der Verwendung jedes neuen Menschen, wenn er
nicht ein früherer Linker ist, zudrücken beider Augen bei den grössten Schwächen bei
früheren Linken findet man häufig auch dann, wenn die Sicherung der pol[itischen]
Linie der Partei eine andere Stellung direkt erfordert.
Bei dem Gen. Dengel sehe ich jetzt z.B. folgende klare Tendenz: ein Sekretariat
zu bilden, in dem Schneller die tägliche leitende Arbeit macht, er und Thälmann die
pol. Repräsentanten der „richtigen Linie“ darstellen, Lenz [d.i. Joseph Winternitz] der
Ideologe des Polbüro und Meyer das Dekorum der Konzentration wird. Ich glaube
zwar nicht, dass es gelingen wird. Es passt auf die Entwicklung der Partei nicht im
geringsten und würde in kurzer Zeit zu einem aktiven Kampf vieler Kräfte führen.
86 Ernst Meyer wurde im Rahmen einer 1926 geschlossenen Übereinkunft mit der Thälmann-Gruppe
in das ZK, Polbüro und Politsekretariat aufgenommen. Bis zu seiner krankheitsbedingten Abreise
nach Moskau im Oktober 1927 galt er als der eigentliche Leiter der Partei, obwohl er von der Thäl-
manngruppe mit Unterstützung des russischen Emissärs Lominadze zumeist verdeckt und später
offen als ‘Versöhnler‘ bekämpft wurde. Siehe neuerdings: Florian Wilde: Ernst Meyer.
Dok. 172: Berlin, 31.7.1927 575
Mit der „richtigen Linie“ ist das auch so eine Sache. Unzweifelhaft ist die Linie der
Partei im allgemeinen richtig, aber es werden viele Unterlassungssünden begangen;
häufig nur, weil man ein wenig ängstlich ist, bei verzwickten Fragen am Anfang ihres
Auftauchens energisch einzugreifen. (Auch auf die Vorgänge im Reichsbanner traf
dies zu.)87 Aber vielfach ist auch eine grosse Unklarheit gegenüber den Grundfragen
vorhanden. In den entscheidenden Referaten über die Kriegsfrage war Dengel sehr
abstrakt, Thälmann in der Berliner Parteiarbeiterconferenz hat nicht genügend klar
und zusammenhängend gesprochen, sodass von den besten Arbeitern schon jetzt
kritische Stimmen laut werden. Natürlich nutzen die Ultras wie auch die äusserste
rechte Clique diese Stimmung sofort aus.
Hinzukommt auch die lange Abwesenheit Teddys [d.i. Ernst Thälmann]. Er hat
bereits an 2–3 Reichsparteiarbeiterconferenzen und 2 Sitzungen des neuen Z.K.
gefehlt. Wenn ich Ihnen ganz offen meine persönliche Meinung sagen soll – meine
Bedenken wachsen. Teddy mag krank und erholungsbedürftig sein, aber das regel-
mässige Eintreten der Krankheit unmittelbar vor wichtigen Tagungen der Partei riecht
irgendwie nach Flucht und gibt zu den ekelhaftesten Gerüchten Anlass. Die äusserste
Rechte macht zweideutige Bemerkungen über die Krankheit. Die Ultras sprechen von
seiner Absägung und Ueberführung ins Irrenhaus. Die Gerüchte spielen eine unter-
geordnete Rolle, da ja nur wenige solchen Unsinn glauben. Unangenehm aber macht
sich das Fehlen und das sporadische Arbeiten Teddys innerhalb der Partei und der
Leitung bemerkbar. Autorität kann man bei den entscheidenden Kadres der Partei auf
diese Weise nicht erlangen.
Alle diese Zustände haben zu einer schlechten Atmosphäre in der Leitung und im
Apparat des Z.K. geführt, die sich bereits innerhalb der Bezirke auszuwirken beginnt.
[...]
Die früheren Linken selbst müssen jetzt – und je eher desto besser – aussprechen,
dass jetzt nichts notwendiger ist, als eine breitere Einheit für die Lösung der Aufgaben
zu schaffen. Ihre Sondermission hat die alte Linke mit der im wesentlichen erreichten
Durchführung des offenen Briefes erfüllt. Sie soll wie andere Gruppen jetzt aufgehen
in die neuen Aufgaben. Dies schliesst eine gewisse Selbstbeschränkung, Einfügung in
eine Kollektivität, Aufgabe unmöglicher Dominierungs-Methoden, die sich die Partei
auf die Dauer nicht gefallen lassen wird usw. in sich.
Die Frage ist, ob die führenden Genossen der alten Linken dies tun können. Ich
glaube, Teddy wird mit grossen Schwierigkeiten diesen Weg finden. Meyer und seine
Anhänger, glaube ich, werden diesen Prozess nicht erschweren. Wenn die führenden
russischen Genossen ebenfalls darauf hinarbeiten, so ist kein Grund zum Pessimis-
mus. Natürlich wird Teddy in der weiteren Entwicklung die heutige, nur auf Grund
einer ganz bestimmten Konstellation mögliche, Monopolstellung in der Führung
87 Vermutlich eine Anspielung auf die Amtsenthebung des ersten Vorsitzenden des Reichsbanners,
Friedrich Otto Hörsing, aus dem Amt eines sächsischen Oberpräsidenten durch die „eigene“, sozial-
demokratisch geführte preußische Regierung.
576 1924–1929
nicht einnehmen. Aber ich hoffe, dass er gross und klug genug ist, um zu erkennen,
dass er diese Monopolstellung auf die Dauer nicht haben kann. Grössere Schwierig-
keiten sehe ich bei Dengel, der bei seiner inneren Einstellung auch bei Teddy Schwan-
kungen hervorrufen kann. [...]
Es ist schwer, schon jetzt praktische Vorschläge zu machen. Für notwendig halte
ich, 1. planmässiges Hinarbeiten seitens der Vertretung88 auf Schaffung einer kollek-
tiven Arbeitsweise im Z.K. und Verbesserung der pol. Arbeit 2. kritischere Einstellung
zu den Leistungen sowohl der einzelnen Genossen wie auch der Leitung. So notwen-
dig die 1 000 % Unterstützung im Kampf gegen die Ultras seitens des Ekki war, so sehr
würde jetzt eine kritiklose Unterstützung den notwendigen Selbsterziehungsprozess
verlangsamen;
3. bei allen Zurückweisungen rechter Vorstösse und allem Kampf gegen opportu-
nistische Abweichungen, Verhinderung, dass dieser Kampf zur sportmässigen Hetz
wird, zur Verdeckung eigener Schwächen und Mängel und zur Gewährung von Frei-
briefen für „linke“ Abweichungen führt. [...]
5.) Die Arbeit des Sekretariats und des Polbüros des Z.K. muss besser organisiert,
verbreitert und energischer geführt werden. In diesem Zusammenhang steht auch die
Frage meiner Rückkehr, die aber allein noch nicht genügt.89
Ich weiss nicht, ob Sie mit der in diesem Brief angezeigten Linie in allen Punkten
einverstanden sind. Aber ich halte sie für die einzig mögliche. Und da wir aller Vor-
aussicht nach noch eine kurze Atempause bis zu neuen grossen Ereignissen haben
werden, halte ich es für meine Pflicht, aber auch für die Exekutive [der Komintern],
energischer wie bisher – was in diesem Falle nur der jetzigen Parteientwicklung ange-
passt wäre – den bereits eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. Stillstand wäre Rück-
schritt. Dieser Zustand besteht jetzt.
Viele Grüße
[sign.] Ihr Braun [d.i. Arthur Ewert].
Ich bitte Sie, von dem Brief den Ihnen notwendig erscheinenden [Gebrauch] zu machen.
Anbei eine Anlage (Brief eines äußersten Rechten an Gesinnungsgenossen).90
Am 11.8.1927 genehmigte das sowjetische Politbüro den Vorschlag Tomskijs zu einer Reise von Jag-
lom nach Berlin am Ende des Pariser Kongresses der Amsterdamer Internationale zu einem Gespräch
mit Edu Fimmen.91
Am 18.8.1927 beriet das Politbüro der KP der Sowjetunion über eine Grußbotschaft zum Geburtstag
des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Ein nicht näher ausgeführter Vorschlag Krestinskijs wur-
de abgelehnt, allerdings wurde ihm gestattet, einen „dritten Weg“ einzuschlagen.92
Am 24.8.1927 genehmigte das Politbüro der KP der Sowjetunion den Antrag des ZK des Komsomol,
zwei Personen die Reise nach Deutschland zur Feier anlässlich des 20. Jahrestags des Stuttgarter
Sozialistenkongresses 1907 zu genehmigen.93
Am 25.8.1927 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion einen Brief an Trotzki und Sinowjew
im Zusammenhang mit der in Deutschland erfolgten Veröffentlichung der Broschüre „Der Kampf
um die Kommunistische Internationale. Dokumente der russischen Opposition, nicht veröffentlicht
vom Stalinschen ZK“ durch die Gruppe Fischer-Maslow-Urbahns. In dem in der Beilage überlieferten
Briefentwurf hieß es, in dem betreffenden Band seien Beiträge von Trotzki und Sinowjew ohne deren
ausdrücklichen Protest abgedruckt worden. Die Mitglieder der deutschen Linken Opposition wurden
zugleich als „konterrevolutionäre Welpen der Bourgeoisie“ tituliert. An Trotzki und Sinowjew wurde
die Frage gerichtet, was sie zu tun gedächten und ob sie in Zukunft alles unternehmen würden, um
den unerlaubten Nachdruck ihrer Reden zu verhindern.94
Ebenfalls am 25.8.1927 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, das Büro des „Instituts für
Weltwirtschaft und Weltpolitik“ in Berlin aufzulösen. Das „Büro des Gen. Varga“ in der sowjetischen
Handelsvertretung sollte dem Westeuropäischen Büro des EKKI überlassen werden, während Varga
selbst aufgefordert wurde, nach Moskau zurückzukehren. Das gleiche Schicksal bescherte der Be-
schluss auch der offiziell der Berliner Handelvertretung unterstehenden Abteilung für diplomatische
Information des NKID in Berlin, dessen Betreiber Lapinskij nach Moskau abberufen werden sollte.95
92 RGASPI, Moskau, 17/3/647, 1; APRF, Moskau, 3/62/676, 121. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin,
II, Dok. 37.
93 RGASPI, Moskau, 17/3/648, 7.
94 RGASPI, Moskau, 17/3/648, 3 und 9–12. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i
Komintern, S. 482–485.
95 RGASPI, Moskau, 17/162/5, 89. Publ. in: Ibid., S. 481–482.
578 1924–1929
Dok. 173
„Drecksbrief“ Clara Zetkins an Bucharin über die
Cliquenwirtschaft in der KPD unter Thälmann
Berlin, 11.9.1927
Typoskript in deutscher Sprache. SAPMO-BArch, Berlin, RY 5/I 6/3/161, 18–24. Publ. in: Elfriede
Lewerenz, Elke Reuter (Einl.): Zum Kurswechsel in der KPD. Dokumente aus den Jahren 1927/1928. In:
Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1991), 6, S. 778–782; ebenfalls in: Weber/Bayerlein:
Der Thälmann-Skandal, S. 84–91.
Berlin, 11.IX.1927
Lieber Freund,
Die Nachricht über unser Eintreffen in Hamburg werden Sie durch Telegramm von
Freunden und eingeschriebene Postkarte erhalten haben. Die Reise verlief programm-
gemäß, jedoch mit unfreiwilliger Verzögerung.
Seit ich hier bin, rekognosziere und prüfe ich das Terrain für die Entwicklungs-,
Arbeits- und Kampfmöglichkeit der Partei. Ich habe zu diesem Zwecke nach und nach
mit den Vertretern aller Parteien96 gesprochen, die Masloviten ausgenommen. Es ver-
steht sich, daß ich dabei sorgfältig vermieden habe, was „fraktionsmäßig“ ausgelegt
werden könnte.
Gleich bei meiner Ankunft erfuhr ich durch den gewiß vorsichtigen Wilhelm
[Pieck], daß Teddy [d. i. Ernst Thälmann], seit seiner Rückkehr stark fraktions- oder
wohl richtiger kliquenmäßig eingestellt sei und sich von Dengel, Schneller und
anderen gegen die nötige Konzentration der Kräfte,97 ja sogar gegen das Zusammen-
arbeiten mit [Ernst] Meyer aufputschen lasse. Ich ließ mir daher angelegen sein,
vor allen anderen mit Teddy eine gründliche Aussprache zu haben. Darüber später.
Natürlich hielt ich es für Recht und Pflicht, auch Meyer und einige andere Genos-
sen zu hören. Darauf nahm ich an der Sitzung des Polbüros teil, die das Plenum der
Z[entrale] vorbereiten sollte, ferner an den Sitzungen des Plenums, die zwei Tage dau-
erten.98 In Folgendem meine Eindrücke.
Trotz mancher erschwerenden Umstände für unsere Aktivität ist die objektive Situ-
ation für die Entwicklung und Tätigkeit einer revolutionären Massenpartei sehr günstig.
Die KPD hat sich bis jetzt als schwach und unfähig erwiesen, die Lage auszunutzen. In
den Sitzungen des Plenums wurde von allen Seiten widerspruchslos festgestellt, daß
die „Radikalisierung“ der werktätigen Massen überwiegend von der SPD aufgefangen
wird, obgleich ihre Scheinopposition mit den Händen zu greifen ist und die KPD es an
der „Entlarvung“ nicht fehlen läßt. Ungeachtet ihres Verrats und der „linken“ Opposi-
tion in ihren Reihen hat sie sich konsolidiert, gewinnt an Mitgliedern und Einfluss im
Proletariat. Die KPD – das wurde ebenso widerspruchslos zugegeben – hat seit dem
Essener Parteitag99 keinen Zuwachs an Mitgliedern und Lesern ihrer Presse erfahren,
beides ist stationär geblieben, ja in manchen Bezirken zurückgegangen. Die Auflage
der Roten Fahne beträgt [20.000?],100 obgleich es an starker und fortgesetzter Reklame
dafür nicht fehlt. Die KPD hat nicht einmal die Führung in den Lohnkämpfen, die dank
ihrer Initiative entstanden sind. Nebenbei: die bürgerliche Presse spiegelt ab, daß die
KPD nicht mit den Massen verbunden ist. Sie behandelt die Partei als quantité négligea-
ble, um die man sich nicht zu kümmern braucht. Bei den Verhandlungen des Plenums
traten nur zwei Genossen mit der Ansicht hervor, daß dieser Stand der Dinge sich ledig-
lich aus den objektiven Schwierigkeiten erkläre, und daß Fehler und Mängel der Partei
keine Schuld daran trügen: der ewige Jungbursche Willy Münzenberg und der Jugend-
vertreter Blenkle, den ich bereits in der Sitzung des Polbüros als noch sehr unklar
und unreif kennengelernt hatte. Ihre Stellungnahme – ganz besonders und öffentlich
jene Willys – war inspiriert von dem Drang, sich „radikal“ „links“ zu geben und zu
diesem Zweck gegen Gerhard [d.i. Gerhart Eisler] und Karl Becker zu polemisieren. Die
beiden „Linkischen“ fanden jedoch keine Gelegenheit im Plenum. Bei allen Punkten
der Tagesordnung hoben die Referenten und Debatteredner Schwächen und Mängel
der Partei hervor und gaben Anregungen, was und wie zu bessern sei. Es wurde dabei
stark betont: die Notwendigkeit klarer durchgreifender grundsätzlicher Schulung, der
Erfüllung der Tageskämpfe mit der kommunistischen Ideologie; Konzentration aller
Kräfte auf der Linie der Partei, mit endlicher Überwindung der fraktionellen Reminis-
zenzen; kollektive Zusammenarbeit und Führung des ZK; Politisierung des RFB; gründ-
liche theoretische und praktische Schulung der Gewerkschaftsredakteure usw., usw.
Sie werden ja ein Stenogramm der Verhandlungen und Beschlüsse erhalten. Ob es ganz
getreu sein wird, ist eine andere Frage. Das Bedeutsamste der Verhandlungen schien
mir, daß sich in dem Auftreten der Vertreter der Bezirke frisches vorwärts drängendes
gesundes Leben in den Parteimassen offenbart. Diese beginnen, Kritik zu üben und
von der Führung scharfe Selbstkritik zu fordern. Sie erkennen, daß die [der] Partei das
Vertrauen der werktätigen Massen zu der Politik und der Führung der Kommunisten
fehlt. Sie selbst haben kein Vertrauen zu dieser Politik und dieser Führung. Und die
[...] Sie ist ist ebenfalls ohne Vertrauen zu sich, zu ihrer Führung; ihrer Politik. Sie ist
unklar, unsicher, schwankend, ratlos, pendelt hin und her zwischen Möchte-gern und
Kann-doch-nicht.
Sie ist von Kliquentreibereien zersetzt und vergiftet und empfindet das Unhalt-
bare ihrer Position nach innen und außen. Der Grund dazu ist, daß es den meisten
Mitgliedern der Z[entrale] fehlt an Kenntnissen – zumal auch über die Geschichte
der Arbeiterbewegung –, an theoretischer Schulung, an politischen Fähigkeiten und
berufung ist eine Frage der Formulierung, der richtigen Worte, und die werden wir
finden.“ Das war Teddys Meinung, und er schied mit der Mahnung an mich: „Tritt
nur recht scharf auf.“ Am nächsten Tage in der Sitzung des Polbüros schwitzte zu
meinem Erstaunen der gute Teddy nur Befürchtungen und unüberwindbare Hem-
mungen gegen den Beschluß, die einer glatten Ablehnung gleichkamen. Alle Helden
der Konzentration fielen tapfer um. Nur Meyer stand allein auf einsamer Flur und
verteidigte den Beschluß trefflich mit sachlichen und politischen und persönlichen
Gründen. Resultat: mit allen gegen Meyers Stimme wurde beschlossen, dem Plenum
eine Stellungnahme vorzuschlagen, die in Wirklichkeit Augusts Rückkehr auf Sankt
Nimmerlein verschob. Am folgenden Tag in der Sitzung des Plenums – ein verän-
dertes Bild. Teddy teilte mir mit, daß das Polbüro noch nachträglich auf Antrag Wil-
helms „ein Kompromiß“ angenommen habe – es ist die vom Plenum akzeptierte
kurze Resolution –, das [den] er befürworten, und zu dem er die Erklärung abgeben
werde, daß die Durchführung schleunigst erfolgen solle, das heißt etwa binnen eines
Monats für die Aufklärung einiger ultraangehauchter Mitgliederschaften, wie Chem-
nitz.101 Meyer hatte in der Abendsitzung des Polbüros sich der Abstimmung über den
Kompromiß enthalten, um seine Stellungnahme für das Plenum nicht im voraus zu
binden. Gerhard, der von dem Kompromißantrag nichts wußte, hatte einen Gegenan-
trag gegen den früheren Vorschlag des Polbüros eingereicht. Aus bestimmten takti-
schen Gründen war ich der Ansicht, daß wir unter den vorliegenden Umständen für
den Kompromiß stimmen könnten. Wir durften uns nicht mit dem Schein belasten
lassen, daß die Rückberufung an unserem „Eigensinn“, unserer „Rechthaberei“ und
unserem Mißtrauen gegen die „führende Gruppe“ gescheitert sei. Wir mußten Ver-
trauen in deren Konzentrationswillen zeigen, um bei Verschleppung oder Sabotage
der Rückberufung desto stärker auftrumpfen zu können. Nach Rücksprache mit mir
beschlossen Meyer und Gerhardt, dem Kompromiß zuzustimmen. G. [Gerhart Eisler]
wollte seinen Antrag mit einer kurzen Erklärung zurückziehen. Dengels Ausführun-
gen zu der Angelegenheit waren sachlich und gut und ermöglichten diese Haltung. In
der Diskussion protestierte kein Redner gegen A.s [Augusts, d.i. Thalheimers] Rück-
kehr, die alte Note der Brandler-Thalheimer Hetze wurde von niemand angeschlagen,
der Vertreter der Pfalz forderte nur gleiche Behandlung für „Linke“ und „Rechte“.
Aber Teddy tischte im Gegensatz zu seinen eigenen Worten am Tage vorher seine auf-
gewärmte Rede von der Sitzung des Polbüros auf und schwieg in allen Tönen von der
schleunigen Durchführung des Beschlusses. Meyer wurde dadurch zu einer Entgeg-
nung gezwungen, die so gut und sachlich war, daß Dengel im Schlußwort von Teddy
101 Der Bezirk Erzgebirge (Chemnitz) war noch Anfang 1924 ein Zentrum des Widerstands gegen
die linke Fischer-Maslow-Führung. 1927 widersetzten sich große Teile der Bezirksorgnisation der KPD
(„Chemnitzer Linke“) unter Leitung von Süßkind und Wesche einem moderateren Kurs gegenüber der
Sozialdemokratie und dem Einfluss Ernst Meyers und der Mittelgruppe; spätere führende „Versöhn-
ler“ wie Süßkind und Volk verließen daraufhin die Chemnitzer Linke (siehe: Weber: Die Wandlung,
I, S. 170 u.a.)
582 1924–1929
vorsichtig mit der Wendung abrücken mußte, dieser sei von Meyer „mißverstanden“
worden.
Von den übrigen Verhandlungen des Plenums sei nur hervorgehoben, daß Referat
und Diskussion über die wirtschaftlichen Kämpfe und die Gewerkschaftsarbeit eine
altbekannte Tatsache bestätigen. Fritz [Heckert] kann nicht Leiter der Gewerkschafts-
arbeit sein, wenn aus dieser mehr als ein bloßer Bluff werden soll.
Ich verzichte auf weitere Darstellung dessen, was ist. Der Freund, der Ihnen
diesen Brief überbringt, wird vollständiger berichten. Ich ziehe die praktischen
Schußfolgerungen für das, was meiner Meinung nach geschehen muß.
Die Kliquenwirtschaft um Teddy und mit Teddy muß durch kollektives Zusammen-
arbeiten ersetzt werden. Teddy ist das Symbol revolutionärer proletarischer Führung
der Partei, aber er selbst ist in der vorliegenden Situation kein Führer und kann kein
Führer sein. Die kollektive Führung hat auf der Grundlage der Konzentration zu gesche-
hen. Konzentration der Kräfte nicht bloß in der Z[entrale] vielmehr in allen leitenden
und organisierenden Körperschaften der Partei von oben bis unten. Ganz abgesehen
davon, daß A[ugust]s Rückkehr zur Durchführung des Kampfes mit der SPD und den
Masloviten eine sachliche, politische Notwendigkeit ist, bedeutet sie innen- und außen-
parteilich den Beweis, daß die Konzentration der Kräfte keine papierene Phrase bleibt,
sondern Tatsache wird. Sie wird das Signal sein für die Heranziehung weiterer tüch-
tiger Kräfte und die Gewinnung neuer. Die Gefahr ist nicht ausgeschlossen, daß der
Beschluß sabotiert wird. Deshalb ist unerläßlich, daß ihr auf der schleunigsten Durch-
führung besteht, unerschütterlich fest in der Sache, klug in der Form.
Sobald Jakob [d.i. Jacob Walcher] von den Ärzten freigegeben ist, muß er die
tatsächliche Leitung der Gewerkschaftsarbeit erhalten. Das Gejammer, daß es keine
Kräfte für diese Arbeit gebe, ist falsch. Jannak [Jannack] in Remscheid-Solingen,
Ehlers, Dantz und andere in Bremen, Westermann in Hamburg, [Willi?] Schöne-
beck und viele andere sogenannte „Rechte“ sind geschulte, erfahrene und begabte
Gewerkschafter.
Es ist höchste Zeit – auch in Hinblick auf die Wahlen –, daß die Partei sich ein
Aktionsprogramm oder eine Plattform gibt. Es muß die kommunistische Ideologie als
Grundlage haben, das ist unerläßlich. Über die einzelnen Forderungen, Etappenziele
usw. muß und kann diskutiert werden. Diese Diskussion könnte durch den endlichen
Abdruck des Artikels von Brandler eingeleitet werden. Diese Diskussion würde den
Geist, das Denken und Studieren in der Partei beleben, der Gedankenarmut und dem
Papageigeplapper entgegenwirken, die leider zu deren Wesenszügen gehören.
Der Kampf mit den Masloviten außerhalb und innerhalb der Partei ist nicht wie
bisher fast nur organisatorisch zu führen. Er muß auf die ideologische Überwindung
abzielen. Dazu ist notwendig, daß die WKP authentisches Material über den Kampf
mit der Opposition liefert.102 Es wird stürmisch verlangt. Wie war nur der Irrtum des
102 Zetkin spricht hier von der Linken Opposition in der VKP(b), die sich seit 1923 gegen das büro-
kratische Parteiregime gebildet hatte und in der als Hauptströmungen die „alte“ Linke Opposition
Dok. 173a: [Moskau], Mitte September 1927 583
Polbüros betreffs der Zitate gegen die Masloviten möglich? Er wird von diesen natür-
lich stark ausgenutzt. Alles wartet hier auf Aufklärung.103
Zum Schluß: Leute wie Osten [d.i. Vissarion W. Lominadze] sollten nie wieder
nach hier kommen. Von offiziellen Lobhudlern abgesehen, sind alle der Meinung,
daß er mehr geschadet als genutzt, den Konzentrationsprozeß aufgehalten und
gestört habe. Dagegen wird allgemein die baldige Rückkehr Brauns [d.i. Arthur Ewert]
gewünscht, obgleich man [sich] über seine mancherlei Unvollkommenheit im klaren
ist. Meyer hält sich tapfer und klug, aber seine Stellung ist sehr schwer, sie muß
gestärkt werden. Über besondere Kapitel, RFB und Frauenarbeit, demnächst
Ich lebe und halte mich. Ende der Woche geht’s nach Stuttgart, Sillenbuch.
Grüßen Sie alle Freunde, Ihnen selbst in treuer Freundschaft festen Händedruck
Clara Zetkin
Dok. 173a
Vertrauliche Materialien der Informationsabteilung des EKKI über
Oppositionsgruppen im Umkreis der KPD
[Moskau], Mitte September 1927
Vertraulich.
Material über die Oppositionsgruppen innerhalb und ausserhalb der KPD
Referent: Fischer.
Trotzkis (seit 1923) und die „neue“ Leningrader Opposition Sinowjews (seit 1925/26) vereinigt waren.
103 In der Roten Fahne vom 12.8.1927 wurde eine Erklärung der russischen Oppositionsführer zwar
publiziert, jedoch zugleich ihr Sinn entstellt. Der ungefälschte Text wurde daraufhin in der linksop-
positionellen Fahne des Kommunismus veröffentlicht.
104 Nach seinem Ausschluss aus der KPD 1926 (Iwan Katz hatte mit seiner Gruppe die ZK-treue Re-
daktion der Niedersächsischen Arbeiterzeitung besetzt) gründete er, auf seine Hannoveraner Basis
gestützt, zusammen mit der AAU Franz Pfemferts den „Spartkausbund der linkskommunistischen
Organisationen“, die ultralinke bis rätekommunistische Positionen vertrat, allerdings 1927 wieder
aufgelöst wurde. Parallel behielt Katz sein Reichstagsmandat bis 1928, zog sich jedoch aus der Politik
zunehmend zurück (siehe auch Dok. 143).
105 Dr. phil. Ernst Schwarz (Ps. Tiede) (1886–1958) schloss sich 1925 der ultralinken Opposition um
Werner Scholem und Arthur Rosenberg an, noch im gleich Jahr zusammen mit Karl Korsch Konstitu-
ierung der Gruppe „Entschiedene Linke“ (Organ: Kommunistische Politik). Nach Parteiausschluss – er
bezeichnete die Sowjetunion nur noch als „konterrevolutionäre Sowjetunion“ – Trennung von Korsch
584 1924–1929
1. Katz hat bald nach seinem Ausschluss aus der KPD gemeinsam mit Franz Pfamfert
[d.i. Pfemfert],106 dem Herausgeber der Aktion107 und Führer der syndikalistischen
„Allgemeinen Arbeiter-Union (Einheitsorganisation)“108 und mit einzelnen früheren
RGI-Verbänden109 (Schuhmacher, Kaiser)110 in Göttingen den „Spartakusbund links-
gerichteter Organisationen“ gegründet.111 Das Publikationsorgan dieser Organisation
und Annäherung an die KAPD, behielt jedoch bis 1928 sein Reichstagsmandat. Ende 1927 jedoch trat
er aus seiner eigenen Gruppe aus (entgegen der Einschätzung des EKKI-Referenten aus Unmut gegen
den Anschluss von Teilen der Gruppe an die KAPD) und entfernte sich nach Ablaufen seines Reichs-
tagsmandats aus der Arbeiterbewegung (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 855–856).
106 Richtig: Franz Pfemfert (1879–1954), Verleger und Publizist, Mitbegründer der KPD, später
rätekommunistische Position.
107 Die Aktion, von Franz Pfemfert zwischen 1911 und 1932 herausgegebene literarisch-künstlerisch-
politische Zeitschrift. Zunächst eines der zentralen Publikationsorgane des Expressionismus, in der
Zwischenkriegszeit Zentralorgan diverser rätekommunistischer Organisationen. In den Anfangsjah-
ren Sowjetrusslands kritische Solidarität zu den Bolschewiki, später dezidiert antistalinistisch, Ab-
druck von Schriften Trotzkis (Siehe: Wolfgang Haug (Hrsg.): Franz Pfemfert. Ich setze diese Zeitschrift
wider diese Zeit. Sozialpolitische Aufsätze, Darmstadt, Luchterhand, 1985; zuletzt: Gleb Albert: Ein
Mann, ein Blatt. Franz Pfemfert und „Die Aktion“ 1911–1932. In: versa. Zeitschrift für Politik und Kunst
(2007), No. 7, S. 48–62).
108 Allgemeine Arbeiter-Union (Einheitsorganisation), Abk.: AAU-E. Rätekommunistische Organisa-
tion, gegründet im Oktober 1921 als Abspaltung der KAPD von Otto Rühle und Franz Pfemfert. Die
Organisation war von diversen Spaltungen gekennzeichnet, einige Teile überlebten jedoch bis in die
NS-Zeit hinein als Widerstandsorganisationen.
109 RGI: Die Rote Gewerkschafts-Internationale, russisch: Krasnyj Internacional Profsojuzov, daher
auch “Profintern“, wurde als größte der Komintern angeschlossene Massenorganisationen 1921 ge-
gründet (1. Kongreß, 3.-19. Juli 1921). Sie vereinigte revolutionäre Industrie- und Fachverbände, an-
fangs auch nicht-kommunistischer Richtung und entstand aus dem am 15.7.1920 gebildeten Inter-
nationalen Rat der Fach- und Industrieverbände (auch: Internationaler Rat der Gewerkschaften).
Generalseketär war S. A. Lozovskij. Durch ihre Vertretung in den Leitungsgremien des EKKI war sie
auch finanziell eng mit der Komintern verknüpft, das sowjetische Politbüro beschloss die jährlichen
Budgets. Die Gesamtzahl der erfassten Gewerkschaftsmitglieder umfaßte weltweit bis zu 10 Millionen
Mitglieder, die Dominanz der sozialdemokratischen “Amsterdamer“ Gewerkschaften konnte sie je-
doch nie brechen. Leitungsorgane waren der Zentralrat, zwischen den Sitzungen das Exekutivbüro,
ihre Presseorgane Die Rote Gewerkschaftsinternationale und Internationale Gewerkschafts-Pressekor-
respondenz. Als Instrument der Kominternpolitik versagte die RGI als gewerkschaftliche Interessen-
vertretung, besonders in der Phase der einseitig gegen Sozialdemokraten und Anarcho-Syndikalisten
orientierten Politik der Spaltung der nationalen Gewerkschaften ab 1928, die der 4. Kongreß (Moskau,
17.3.-3.4.1928) vorbereitete. Nach kurzzeitiger Rückkehr zu einer Einheitslinie ab 1934/1935 wurde die
RGI 1937 aufgelöst (siehe: Tosstorff: Profintern).
110 Gemeint ist der Anfang 1924 von Ernst Schumacher (1892–1972) gegründete „Verband Internatio-
naler Bekleidungsarbeiter“ als linker RGI-Verband; wegen seines Eintretens für die Gewerkschaftsspal-
tung nach dem V. Weltkongress der Komintern aus der KPD ausgeschlossen, zusammen mit Paul Kaiser
(1884–1950), der mit Korsch zusammenarbeitete und Vorsitzender des linken Industrieverbandes für
das Baugewerbe war. Beide wirkten weiter als Vorsitzende der linkskommunistischen Gewerkschaft.
111 Am 12.3.1926 schlossen sich 12 räte- und linkskommunistische Organisationen auf Initiative
der AAU-E zu einem linkskommunistischen „Kampfkartell“ zusammen unter dem Namen „Sparta-
kusbund linksgerichteter Organisationen“, auch „Spartakusbund 2“ genannt. Der 1. Reichskongress
Dok. 173a: [Moskau], Mitte September 1927 585
nennt sich Spartakus. Es erscheint monatlich.112 Katz hat heute in der Partei wohl
kaum noch einen Anhänger.
2. Schwarz, der früher mit Korsch zusammenging, arbeitet in enger Anlehnung an die
KAP[D]. Er gibt als sein Organ Die entschiedene Linke heraus, das 14-tägig erscheint
und am Kopf die Devise führt: „Alle macht den Räten!“ Sein Anhang ist minimal, in
der Partei dürfte er überhaupt ohne Anhang sein.
3. Korsch. Er gibt als sein „Organ“ die Kommunistische Politik heraus.113 Auch er hat
heute in der Partei keinen Anhang mehr. In ihren „Organen“ bekämpfen sich alle
diese Gruppen gegenseitig und alle gemeinsam bekämpfen sie die Maslow-Ruth
Fischer-Gruppe.
fand am 20./21.11.1926 in Göttingen statt. Im Laufe des Jahres 1927 zerfiel jedoch der „Spartakusbund“
wobei sich auch die Gruppe um Katz abspaltete (siehe: Otto Langels: Die Ultralinke Opposition der
KPD in der Weimarer Republik. Zur Geschichte und Theorie der KPD-Opposition (Linke KPD), der
Entschiedenen Linken, der Gruppe Kommunistische Politik und des Deutschen Industrie-Verbandes
in den Jahren 1924 bis 1928, Frankfurt am Main-Bern-New York-u.a., Peter Lang, 1984).
112 Nach dem 1. Reichsparteitag des „Spartakusbundes 2“ wurden das Organ der AAU-E Einheits-
front und das Mitteilungsblatt der Katz-Gruppe zur Zeitschrift Spartakus vereinigt.
113 Nachdem Ernst Schwarz sich mit dem Organ Die Entschiedene Linke abspaltete, blieb Karl Korsch
weiterhin Herausgaber der Kommunistischen Politik. Ab 1928 verschwand die Korsch-Gruppe weit-
gehend aus der Politik, Korsch selbst widmete sich ausschließlich theoretischen Problemen (siehe:
Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 484).
114 Urbahns, der trotz seiner Zugehörigkeit zur linken Opposition von den KPD-Mitgliedern wegen
seiner mutigen Bekenntnisses vor Gericht, die alleinige Verantwortung für den Hamburger Aufstand
zu übernehmen (wozu er zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt wurde), als Beispiel höchster Tapfer-
keit gefeiert wurde, hatte im September 1926 den „Brief der 700“ unterschrieben (siehe Dok. 159). Im
November ausgeschlossen, wurde er zur „treibenden Kraft bei der Organisierung der linken Oppositi-
on“ (Hermann Weber). 1928 bis 1933 war er der Führer des Leninbundes, auch nach dem Ausscheiden
von Fischer, Maslow und Scholem. Seit 1928 verfügte die Linke Opposition mit dem Suhler Volkswillen
über eine deutsche Tageszeitung (siehe: Günter Wernicke: Die Radikallinke in der KPD und die rus-
sische Opposition. Von der Fischer/Maslow-Gruppe zum Lenin-Bund. In: Beiträge zur Geschichte der
Arbeiterbewegung 42 (2000), Nr. 3, S. 75–101).
115 Gemeint ist die Reichstagsfraktion „Linke Kommunisten“, die von verschiedenen linken bzw.
„ultralinken“ aus der KPD ausgeschlossenen Politikern gegründet wurde. Sie war keine politisch ein-
heitliche Gruppe, sondern ein pragmatischer Zusammenschluss zur Erreichung von Fraktionsrechten
und war ideologisch entsprechend uneinheitlich. In ihrer Existenz von Januar 1926 bis Februar 1928
waren dort Ruth Fischer, Hugo Urbahns, Karl Korsch, Iwan Katz, Ernst Schwarz u.a. aktiv (siehe: Otto
Langels: Die Ultralinke Opposition, S. 82ff.).
586 1924–1929
grosser Teil der Funktionäre der KPD, vor allem auch der ZK-treuen, wegen der dort
veröffentlichten Dokumente dieses Blatt abonnieren.116 Ausserdem gibt diese Gruppe
auch Sonderbroschüren heraus. So wurde die Erklärung der 83 Oppositionellen der
KPSU117 als Broschüre zum Preise von 5 Pf. verkauft. Eine Broschüre, die die wich-
tigsten Dokumente der Opposition der KPSU enthielt, wurde bereits in dritter Auflage
vergriffen.118 Dieser grosse Umsatz ist vor allem auch darauf zurückzuführen, dass
eben viele KPD-Funktionäre dieses Material kaufen, um die Dokumente kennen zu
lernen. Einige Bezirksleitungen kauften sogar grössere Mengen dieser Broschüren zur
Verteilung an ihre wichtigsten Funktionäre.
Nach dem letzten Manöver der Urbahns-Gruppe wurden auch ihre in der Partei verblie-
benen Anhänger zum Angriff eingesetzt. In den früheren Berichten (über die Fahne
des Kommunismus) brachten wir den Antrag der 15, der zugleich mit dem Urbahns-
Maslow’schen Antrag an die KI vom ZK die Wiederaufnahme der Ausgeschlossenen
forderte.119 An der Spitze des Antrages der 15 standen die Landtagsabg[eordneten]
Eppstein,120 Kilian121 und Guido Heyn [d.i. Heym].122 Was nun den Einfluss der
116 Die Wochenzeitschrift Die Fahne des Kommunismus, Zeitschrift der orthodoxen Marxisten-Lenini-
sten erschien von Juni 1927 bis 1933 im Namen der Kommunistischen Linksopposition in Deutschland
(Hugo Urbahns, Ruth Fischer, Arkadi Maslow, Werner Scholem).
117 Am 26.5.1927 wurde eine Erklärung, die als „Erklärung der 83“ bekannt wurde, dabei jedoch
Unterschriften von 84 „alten Bolschewiki“ trug, an das ZK der VKP(b) geschickt. Unterschrieben von
Trotzki, Radek, Abram Guralʼskij, Nikolaj Muralov, Georgij Safarov, Voja Vujović und anderen linken
kommunistischen Oppositionellen, klagte sie das Versagen der Stalin-Führung und der Komintern
besonders beim englischen Generalstreik 1926 und in der China-Politik an. Bis Mitte 1927 hatten ca.
3000 VKP(b)-Mitglieder die Erklärung unterzeichnet (Publ. in: Trotzki: Schriften 3.2, S. 727–759).
118 Zu den personellen Kontakten zwischen den Linken Kommunisten in Deutschland und den Link-
soppositionellen in der Sowjetunion, siehe: Pierre Broué: The German Left and the Russian Oppositi-
on. 1926–28. In: Revolutionary History 2 (1989), No. 3, S. 20–28, http://www.marxists.org/history/etol/
revhist/backiss/vol2/no3/gerleft.html.
119 Ruth Fischer forderte mehrere Male auch in Moskau vor der Internationalen Kontrollkommission
der Komintern (IKK) ihr Recht auf Parteimitgliedschaft ein, was jedoch genauso erfolglos blieb, wie
der Antrag auf Wiederaufnahme in die KPD, der gemeinsam mit Maslow und dreizehn weiteren Oppo-
sitionellen im August 1927 gestellt wurde. In Wedding und Neukölln und Teilen des Ruhrgebiets stand
weiterhin eine Mehrheit der Mitglieder hinter ihr, auch national war, wie die “Erklärung der 700“
zeigte (Dok. 159), ihr Einfluß noch beträchtlich (Kessler: Ruth Fischer, S. 270).
120 Eugen Eppstein (1878–1943), SPD-Mitglied seit 1897 und KPD-Gründungsmitglied, wurde 1928
Mitbegründer des Leninbunds.
121 Otto Kilian (1879–1945), Arbeiterdichter und Anhänger der linken KPD-Opposition, verließ im
Januar 1928 die KPD und wurde Mitbegründer des Leninbundes.
122 Guido Heym (1882–1945) war Stadtverordnetenvorsteher und KPD-Vorsitzender im thüringischen
Suhl. Trotz seiner offenen Parteinahme für die Fischer-Maslow-Gruppe konnte die KPD-Führung ihn
erst im Dezember 1927 ausschließen, da er außerordentlich populär war. Zunächst mit der Mehrheit
seiner Ortsgruppe Teil des Leninbunds, trat er mit vielen seiner Anhänger 1928 in die SPD ein. In der
NS-Zeit bestand um Heym herum in Suhl eine antifaschistische Widerstandsgruppe, er wurde 1945
bei einem Todesmarsch ermordet (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 373).
Dok. 173a: [Moskau], Mitte September 1927 587
Anhängerschaft der Urbahns-Gruppe innerhalb der Partei betrifft, so ist sie örtlich
auf einige Gebiete verstreut. In Baden nennen sich einige Ortsgruppen und Zellen als
zur Urbahns-Gruppe gehörig. Teilweise wird von hier eine Beitragssperrung gegen die
Partei durchgeführt, es wurden eigene Beitragsmarken der Urbahns-Gruppe in Druck
gegeben. Träger der Opposition sind hier vor allem die erst vor kurzem ausgeschlos-
senen Abg[eordneten] Ritter und Kenzler.123
Im Frankfurter Bezirk stehen einige wichtigere Zellen und Ortsgruppen unter
oppositionellem Einfluss.
Der Unterbezirk Suhl in Thüringen steht zu 90% zur Urbahns-Gruppe. Der hier
bodenständige Preuss[ische] Landtagsabg[eordnete] Guido Heyn [Heym] hat den von
der Zentrale eingesetzten Redakteur des dortigen Parteiorgans Volkswille (Auflage
3.000) verjagt und die Leitung des Blattes übernommen. Maslow nannte in Nr. 26
seines Organs124 den Suhler Volkswillen „unser“ Organ.125 Der Volkswille führt eine
scharfe oppositionelle Schreibweise gegen das ZK. Nach letzten Berichten glaubt aber
die Zentrale, den suhler Unterbezirk, an dessen Opposition auch einige taktische
Fehler der thüringer Bezirksleitung mitschuldig sind, für die Partei zu gewinnen.
In Halle ist der Träger der Urbahns-Opposition vor allem der Landtagsabg. Kilian.
Der Klassenkampf126 veröffentlichte kürzlich Mitteilungen darüber, dass die hallesche
Opposition schon beginnt, sich parteimässig zu organisieren, dass sie eigene Mit-
gliedskarten eines „Sportvereins Merkur“ herausgibt und Fraktionssitzungen sowohl
in Zeitz, als auch in Halle abhält. Die Opposition im halleschen Bezirk dürfte zahlen-
mässig ziemlich schwach sein.
In Berlin hat die Urbahns-Gruppe Anhänger im 18. Bezirk, in Neukölln und in
Charlottenburg.
Der Unterbezirk Aachen steht ferner geschlossen gegen die Partei. Innerhalb
der Partei besteht noch die oppositionelle Weber-Gruppe.127 Sie verhielt sich seit
123 Jakob Ritter (1886–1951) und Georg Kenzler (1884–1959) waren die Sprecher der linken Oppositi-
on in Baden und wurden beide im Juli 1927 aus der KPD ausgeschlossen.
124 Es handelt sich um die Wochenzeitung Die Fahne des Kommunismus.
125 Guido Heym war fast durchgängig von 1920 bis 1931 Chefredakteur des Suhler KPD-Organs Volks-
wille (Christa Hempel-Küter: Die Tages- und Wochenpresse der KPD im Deutschen Reich von 1918 bis
1933. Mit einem Titelverzeichnis und einem Personenregister. In: IWK 23 (1987), 1, S. 27–82, hier S. 68).
Ende 1927 kündigte Heym an, den Volkswillen zum Organ der linken Opposition im Reichsmaßstab
aufzubauen, wofür er aus der KPD ausgeschlossen wurde. Der Volkswille wurde in der Folge Reichs-
organ des Leninbundes und schließlich, mit dem Übertritt Heyms in die SPD 1928, Organ der SPD
(Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 373).
126 Der Klassenkampf war die KPD-Zeitung des Bezirks Halle-Merseburg.
127 Es handelt sich um den pfälzischen KPD-Funktionär und Mitbegründer der KPD Hans Weber
(1895–1986). Er war Mitglied des Zentralausschusses und einer der Führer der Weddiger Opoosition,
die unter den ultralinken Oppositionsströmungen über den stärksten Rückhalt seitens der Arbeiter
(in der Pfalz, Berlin und in Sachsen) verfügte. Er besorgte die Herausgabe von Trotzkis Schrift: „Die
internationale Revolution und die Kommunistische Internationale“ (1929), eine Fundamentalkritik
der Beschlüsse des 6. Kongresses der Komintern.
588 1924–1929
dem Essener Parteitag ziemlich loyal. Auf der letzten ZK-Sitzung am 8./9. Septem-
ber enthielt sich der Vertreter der Weber-Gruppe bei den Abstimmungen der Stimme,
während er früher gegen die Resolutionen zur innerparteilichen Lage stimmte. Er
erklärte im ZK, dass seine Bezirke Pfalz und Wedding „so disziplinierte Genossen
sind, dass keine Gefahr für die Partei besteht“. In den allerletzten Tagen haben einige
Anhänger der Webergruppe innerhalb der Partei Vorstösse für die Wiederaufnahme
von Maslow und Ruth Fischer in die Partei gemacht.
Die Kötter-Gruppe hat in Leipzig einen grossen Teil ihres Einflusses verloren.128
Hier bestand einige Wochen lang eine scharfe Krise in der Roten Hilfe dadurch, dass
die Anhänger der Webergruppe Vogt und Genossen versuchten, die Rote Hilfe für ihre
fraktionellen Ziele auszunützen. Vogt wurde damals mit noch einigen Anhängern
ausgeschlossen.129 Die Krise in der Leipziger RH ist heute schon so gut wie behoben
und es ist wahrscheinlich, dass Vogt und die übrigen Ausgeschlossenen in kürzester
Frist wieder in die Partei aufgenommen werden. Einfluss hat die Kötter-Gruppe noch
in der Heimat Kötters, in Bielefeld, wo er kürzlich zum Unterbezirkssekretär gewählt
wurde. Er hat nach dieser Wahl erklärt, dass er aufs schärfste gegen die Ruth Fischer-
Maslow-Gruppe kämpfen und sich selbst jeder fraktionellen Treibereien enthalten
werde. Nach dem Vorstoss Maslows für seine Wiederaufnahme in die Partei machen
sich innerhalb der Partei eine ganze Anzahl schwanker Elemente bemerkbar. Am
klarsten brachte diese Schwankungen der Gen. Lenz [d.i. Joseph Winternitz] auf der
letzten ZK-Sitzung zum Ausdruck.130 Er erklärte in seiner Rede, dass die Opposition
in der KPSU zwar einen Rückzug gemacht habe, dass aber zugleich die Mehrheit der
KPSU eine Annäherung an die Opposition durchgeführt habe. Er kritisierte die Erklä-
rung der Deutschen Delegation auf dem Plenum des ZK der KPSU.131 In der Antwort
des ZK auf den Antrag der 15 forderte er einige Abänderungen, die den Zweck hatten,
durch die Formulierung der Antwort nicht die Rückkehr der Führer der Maslow-
Gruppe auszuschliessen. Er forderte eine wirklich politische Auseinandersetzung mit
den Anhängern Maslows und ist dagegen, dass Maslow, Ruth Fischer usw. als Verbre-
cher, Banditen usw. bezeichnet werden. Für seine Abänderungsanträge stimmte auf
der ZK-Sitzung auch der Vertreter der Weber- und Köttergruppe und der Gen. Florin
128 Wilhelm Kötter (1902–1957), Leiter der Bielefelder KPD, als „Ultralinker“ vom ZK der KPD nach
Berlin versetzt, dort Anhänger der Weddinger Opposition und Führer ihrer gemäßigten Fraktion, der
„Kötter-Gruppe“. Im August 1927 Rückkehr nach Bielefeld, wieder Polleiter des Bielefelder Unterbe-
zirks. Im Juni 1930 aus der Partei ausgeschlossen, Abschied aus der Politik (Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 478).
129 Arthur Vogt (1894–1964) wurde als Sprecher der Leipziger „Ultralinken“ am 24.7.1927 aus der KPD
ausgeschlossen, Ende September jedoch, nach einem Ergebenheitsschreiben, wieder aufgenommen.
130 Joseph Winternitz (Ps.: Lenz, 1896–1952), Theoretiker der KPD-Linken, passte sich 1927 wieder
der Parteilinie an (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 1032).
131 Möglicherweise ein Irrtum, gemeint ist wohl das EKKI-Plenum. Für das letzte ZK-Plenum im April
lässt sich eine solche Erklärung nicht nachweisen.
Dok. 173a: [Moskau], Mitte September 1927 589
132 Wilhelm Florin (1894–1944) war seit Dezember 1925 Polleiter des Bezirks Ruhr und galt bisher als
äußerst linientreu (vgl. Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 255).
133 Rudolf Gerber (1901–1969), Parteipublizist, war ab 1927 in der Agitpropabteilung des ZK der KPD
tätig.
134 Edwin Hoernle (1883–1952) wurde Mitte 1927 auf den Posten des Chefredakteurs der Süddeut-
schen Arbeiterzeitung strafversetzt, weil er gegen die Methoden der Bekämpfung der Linken in der
KPD protestiert hatte (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 386).
135 Die Chemnitzer Richtung gehörte in den Jahren 1926–1928 zum linken Flügel der KPD, war jedoch
gegen die Vereinigte Linke Opposition orientiert.
136 Paul Bertz (1886–1950), ehemaliger Polleiter des Unterbezirks Chemnitz, arbeitete 1927 in der
Gewerkschaftsabteilung des ZK, er war Anhänger der „Chemnitzer Richtung“. Spielte später in der
Emigration eine führende Rolle.
137 Heinrich Wesche (1889–1953) war bis März 1927 Polleiter des Bezirks Chemnitz und einer der
Führer der Chemnitzer Linken.
138 Theodor Neubauer (1890–1945) war von Januar bis März 1927 Leiter des Bezirks Niederrhein und
„bekämpfte die linke Opposition besonders scharf“ (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 631).
139 Jacob Walcher wurde 1928 einer der Anführer der KPD-„Rechten“.
590 1924–1929
Dok. 174
Brief Dmitrij Manuilskis an Nikolaj Bucharin und Stalin über
seinen erfolgreichen Deutschland-Aufenthalt und die „äußerst
einmütige Arbeit unter Führung von Teddy“
[Berlin], 15.9.1927
Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 558/11/763, 35–36. In deutscher Sprache publ. in: Weber/
Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 91–94.
Liebe Genossen.
Am 8. September hat hier [in Berlin] ein Plenum des ZK stattgefunden.140 Nach all-
gemeiner Auffassung war dies eine der besten Plenartagungen, die in den letzten
Monaten, ja, vielleicht sogar Jahren stattgefunden haben. Alle politischen Fragen
wurden klar gestellt, die Amplitude der sogenannten Konsolidierung wurde konkret
festgelegt und es schien, als eröffne sich die Möglichkeit, unter Teddys [d.i. Ernst
Thälmanns] Führung in der nächsten Zeit zu einer maximal einmütigen Arbeit zu
kommen. Da traf Pepper [d.i. József Pogány] mit dem Auftrag von Ihnen ein, Gen. K.
[Koba, d.i. Iosif Stalin]. Schon nach seinen ersten Worten wurde mir klar: Wenn er
den führenden deutschen Genossen Ihre (des Gen. K.) Sicht zur Lage in der Kommu-
nistischen Partei Deutschlands in der Form übermittelt, wie er sie mir darlegte, dann
geht in der Führung eine Bombe hoch. Ich habe ihm vorgeschlagen, sich zu informie-
ren und Ihren Standpunkt nicht zu übermitteln, solange ich mich nicht schriftlich
mit Ihnen verständigt habe. Dabei ließ ich mich von folgendem leiten: Der deutsche
Genosse, der zum Parteitag der Workers’ Party nach Amerika gefahren ist,141 hat hier
auf der Durchreise die Frage nach Thalheimer und dessen Rückkehr gestellt. Bei den
deutschen Genossen entstand der Eindruck, daß die russischen führenden Genos-
sen diesen Gedanken wohlwollend sehen und dieser Vorschlag nach Erörterung mit
Ihnen, N. Iw. [Bucharin], gemacht wurde. Der entgegengesetzte Standpunkt von K. zu
dieser Frage wurde hier so interpretiert wie auf dem 7. Plenum die Frage der Rationa-
140 Die ZK-Tagung fand am 8. und 9. August 1927 statt. Thälmann gab den Bericht über die Lage und
die Aufgaben der KPD. Heckert referierte über die letzten Wirtschaftskämpfe.
141 Der deutsche Genosse, der zum Parteitag der Workers’ Party nach Amerika fuhr, war Hermann
Remmele.
Dok. 175: Berlin, 19.9.1927 591
lisierung142 ausgelegt wurde. Das Ansehen der Führung wurde geschwächt, während
es doch unser aller elementare Pflicht ist, dieses Ansehen in der heutigen schweren
Zeit mit allen Mitteln zu schützen.
Außerdem war ich dagegen, daß eine derartige Information ausgerechnet von
Pepper kommt, der seine Eigenheiten hat und sich außerhalb der Grenzen Rußlands
als Sondergesandter mit außerordentlichen Vollmachten fühlt. Leider haben wir
Leute, die das Gras wachsen hören. So etwas ist verhängnisvoll, es verdirbt die Par-
teien. Zu dieser Art Menschen rechne ich Pepper. Ihr Fehler, Gen. K., bestand darin,
daß Sie, der Sie sonst so ein vorsichtiger Mensch sind, das nicht beachtet haben. [...]
Dok. 175
Schreiben des Sekretariats der KPD an die Komintern zum
Verhalten der Angeklagten im bevorstehenden „Zentrale-Prozess“
Berlin, 19.9.1927
An Sekretariat EKKI.
Berlin, den 19. September 1927
Werte Genossen!
Der Termin für den Zentrale-Prozess ist durch den Oberreichsanwalt auf den 4.
Oktober festgesetzt worden. Bei den Verhandlungen im Rechtsausschuss über die
Aufhebung der Immunität der Abgeordneten wurde vereinbart, dass der Prozess
während der Sommerferien des Reichstags durchgeführt werden sollte. Das ist nicht
geschehen, obwohl der Oberreichsanwalt im Stuttgarter Kommunisten-Prozess wie-
derholt auf beschleunigte Durchführung des Prozesses drängte mit dem Hinweis auf
den Zentrale-Prozess, der noch während der Reichstagsferien durchgeführt werden
142 Heinz Neumann schrieb am 14. September 1926 an Stalin: „Für unsere praktische Arbeit steht die
Frage der Organisierung des Kampfes gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Rationalisierung
im Vordergrund. Die Analyse, die Sie in Gesprächen mit uns öfter zum Ausdruck brachten, daß sich die
Bourgeoisie als Hauptaufgabe jetzt die Wiederherstellung und Verschärfung der Vorkriegsdisziplin in
den Fabriken stellt, und daß wir vor allem eine Neubelebung der Betriebsräte auslösen müssen, habe
ich in der Praxis vollkommen bestätigt gefunden. Das ist jetzt in der Tat neben und zusammen mit der
Organisierung der Erwerbslosen das wichtigste Kettenglied für uns.“ (RGASPI 558/11/776,16–18). Das
VII. erweiterte EKKI-Plenum fand vom 22. November 1926 bis zum 16. Dezember 1926 in Moskau statt.
592 1924–1929
143 „Stuttgarter Kommunistenprozess“: Gemeinhin verstand man darunter einen Prozess aus dem
Jahre 1919 mit dem Hauptangeklagten Hoernle, der freigesprochen wurde. Hier ging es um den Pro-
zess gegen 12 Angeklagte aus dem Raum Stuttgart wegen Sprengstoffvergehen und der Erschießung
eines Polizisten im November 1923. Obwohl ihnen der Mord nicht nachgewiesen werden konnte, wur-
den einige zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt (siehe: Kurze Geschichte von Ostheim. http://www.
muse-o.de/geschichte/geschichte_osth.html).
144 Die Hindenburg-Amnestie 1925 war ein umfassender Strafnachlass nach der Wahl zum Staats-
präsidenten, bei der etwa 29.000 verurteilten Personen ein Straferlass gewährt wurde. Weitere, weni-
ger bedeutsame Amnestien folgten 1928, 1932 und 1934.
145 Nach mehrmaliger Verschiebung und mehreren gegen einzelne ZK-Mitglieder oder Verantwortli-
che des „Deutschen Oktober“ gerichteten Strafprozessen in den Jahren 1924/1925 kam schliesslich der
grosse politische Prozeß gegen die KPD-Führung („Zentraleprozeß“) nie zustande. Die im Bundesar-
chiv unter den Titeln „Prozeß gegen die Zentrale der KPD“ ausgewiesenen Akten betreffen den „Tsche-
kaprozeß“, der vom 10.2.1925 bis zum 22.4.1925 stattfand. Verbunden mit einer Amnestie wurden die
Vorbereitungen 1928 eingestellt. Inwieweit die KPD und ihre Juristische Zentralstelle (1921–1933)
daran einen gewichtigeren Anteil hatte, wurde bisher noch nicht nachgewiesen. Nichtsdestoweniger
gab es nach Angaben von Wilhelm Pieck bis Mitte 1925 allein 981 Prozesse gegen insgesamt 7000
KPD-Mitglieder, von denen 5768 verurteilt wurden. Siehe: Chronik der KPD 1918–1933. In: Ulrich Eu-
mann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Materialien zur Sozialgeschichte, http://www.kpd-
sozialgeschichte.homepage.t-online.de/chronik.html.
Dok. 175: Berlin, 19.9.1927 593
1. Die Angeklagten stellen sich, soweit sie legal sind und führen den Prozess mit allen
Konsequenzen durch, d.h. sie nehmen die zu erwartende Zuchthausstrafe auf sich
und scheiden für Jahre aus der Parteiarbeit aus und verlieren gleichzeitig ihr Abge-
ordnetenmandat.
2. Es gehen nur einige Genossen, die durch das Polbüro bestimmt werden und führen
den Prozess durch, was nicht ausschliesst, dass auch die übrigen Angeklagten in die
Illegalität gehen müssen.
3. Die Angeklagten gehen zum Prozess, aber nicht zur Urteilsverkündung, wodurch
aber nicht verhindert wird, dass die Ausgesprochenen Strafen rechtskräftig werden.
4. Die Angeklagten gehen nicht zum Termin und lassen durch die Verteidigung eine
Erklärung abgeben, warum sie sich jetzt kurz vor Beginn der Herbsttagung des Reichs-
tages nicht der Klassenjustiz stellen.
Bisher hat die Partei mit Ausnahme des Hamburger Prozesses den Standpunkt ver-
treten, dass sich kein Genosse freiwillig dem Klassengericht stellt. Von der Verteidi-
gung, insbesondere von Genossen Glock (?) wurde der Standpunkt vertreten, dass die
Angeklagten Genossen sich dem Gericht stellen und den Prozess durchführen. Dabei
neigte aber Genosse Glock (?) der Auffassung zu, dass die Angeklagten vor der Urteils-
verkündung verschwinden sollen, mit Ausnahme von ein oder zwei Genossen, die
dann in das Zuchthaus gehen müssten. Diesen Standpunkt vertraten im Politbüro die
Genossen 11 und 45. Genosse 45 forderte, dass sich die angeklagten Genossen stellen
und den Prozess mit allen Konsequenzen durchführen sollen. Genosse 45 glaubt,
dass der politische Erfolg einer revolutionären Prozessführung den Verlust ausglei-
che, der die Partei durch die Verurteilung einer Reihe von Spitzenfunktionären trifft.
Die zweite von uns angeführte Möglichkeit, dass nur einige Genossen, die vom
Polbüro zu bestimmen wären, den Prozess führen, wurde vom Sekretariat wie auch
vom Polbüro abgelehnt, mit dem Hinweis, dass dadurch die Genossen, die sich nicht
dem Gericht stellen, in eine schwierige Lage versetzt würden, die ihnen abgesehen
von der Illegalität die Arbeit in der Partei sehr erschweren würde. Ebenso wurde die
von uns angeführte dritte Möglichkeit, dass die Genossen zwar den Prozess führen,
aber vor der Urteilsverkündung verschwinden, abgelehnt, da dadurch der politische
Erfolg der Prozessführung völlig aufgehoben würde.
So stand vor dem Polbüro die Entscheidung: entweder gehen sämtliche Genossen
zum Prozess, führen ihn als Kommunisten und gehen ins Zuchthaus – oder sie bleiben
geschlossen weg und lassen durch die Verteidigung und durch die Presse begründen,
warum sie sich nicht der Klassenjustiz stellen. Das Polbüro hat das letztere beschlos-
594 1924–1929
sen, gleichzeitig aber noch den Beschluss gefasst, Euch um eine Stellungnahme zu
ersuchen. Wir bitten um beschleunigte Erledigung und telegrafische Mitteilung über
Eure Stellungnahme.
Am 20.10.1927 bestätigte das Politbüro der KP der Sowjetunion einen Antrag des Zentralrats der Ge-
werkschaften der UdSSR (M.I. Smirnov) zur personellen Besetzung der nach Deutschland zu entsen-
denden Arbeiterdelegation.146
Am 27.10.1927 verpflichtete das sowjetische Politbüro das NKID, dem Revolutionären Kriegsrat
(Vorošilov) regelmäßig die Berichte der sowjetischen Bevollmächtigten in Deutschland, Frankreich,
Italien, Polen und angrenzenden Ländern zukommen zu lassen.147
Dok. 176
Brief Ernst Thälmanns an Stalin über die Lage in der KPD-Führung
Berlin, 23.10.1927
Typoskript, deutsch. RGASPI, Moskau, 558/11/817, 73. Im Archiv befindet sich zudem eine Übersetzung
ins Russische: RGASPI, Moskau, 558/11/817, 71–72. In deutscher Sprache publ. in: Weber/Bayerlein:
Der Thälmann-Skandal, S. 97–99.
Es wird von den Genossen als ein grosser Übelstand empfunden, daß über die
inneren Vorgänge der KPSU149 bürgerliche Blätter, die telegrafisch von ihren Bericht-
erstattern bedient werden, früher berichten können als unsere Presse. Hier liegen
offenbar Unterlassungen der Agitprop[abteilung] des EKKI vor. Briefe, die wir in
dieser Angelegenheit schrieben, blieben erfolglos. Ich bitte Sie, Genosse Stalin, eine
Anweisung zur Abstellung dieses Mißtandes zu geben.
Zu den Vorgängen in eurer Partei werden wir in unseren nächsten ZK-Sitzungen
eingehend Stellung nehmen.
Am 3.11.1927 entschied das Politbüro der KP der Sowjetunion über die Akkreditierung eines Korres-
pondenten des sozialdemokratischen Vorwärts in Moskau. Unter der Voraussetzung, dass dieser sich
gegenüber der Sowjetunion zumindest nicht schlechter als die „liberale“ Vossische Zeitung verhalte,
werde die Sowjetregierung keine Einwände gegen seine Akkreditierung haben.150
In einem Beschluss „Über Deutschland“ akzeptierte am 30.11.1927 das sowjetische Politbüro den
Vorschlag der deutschen Regierung, Gespräche in Berlin über die Wirtschaftsbeziehungen zu führen.
Ein Vertreter des Handelskommissariats sollte hinzugezogen werden.151
149 Gemeint ist die weitere Verdrängung der Linken Opposition und ihrer Leitfiguren Sinowjew und
Trotzki aus der VKP(b), die mit ihrem Ausschluss endete.
150 RGASPI, Moskau, 17/3/658, 4.
151 RGASPI, Moskau, 17/3/662, 3; APRF, Moskau, 3/64/653, 124. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Ber-
lin, II, Dok. 48.
596 1924–1929
Dok. 176a
Telegramm des Emissärs Heinz Neumann aus China, sofort mit
dem Aufstand in Kanton zu beginnen
[Kanton, 9.12.1927]
Publ. in deutscher Sprache in: Mechthild Leutner, M. L. Titarenko (Hrsg.): KPdSU(b), Komintern und
die Sowjetbewegung in China. Dokumente. Bd. 3, Teil 1, 1927–1931, Münster, Lit-Verlag, 2000, S.
233–235, nach RGVA (Russisches Staatliches Militärarchiv), Dokumentensammlung. Das Chiffre-
Telegramm wurde in einem Brief des stellvertretenden Leiters der OGPU, M.A. Trillisser vom gleichen
Tag, an Stalin, Bucharin, Vorošilov, Karachan, Pjatnitzki und Berzin geschickt.
Streng geheim
„[...] Die Arbeiter sind in Kampfstimmung. Die Streikenden haben spontan Dutzende
von Bürgerhäusern in Brand gesetzt, ein Streik der Post und der Seeleute wird vorbe-
reitet, die Autobusse führen einen italienischen Streik durch.152 [...] Die Rote Garde
aus Arbeitern und ehemaligen Streikposten, insgesamt 2.000 Leute, ist ziemlich
straff organisiert (das Ergebnis der ersten Vorbereitung auf Swatou).153 Die Anzahl
der Waffen: 200 Bomben, 300 Mauser, einige Gewehre und 500 chinesische Messer.
Der einzige organisierte Gegner in Kanton selbst ist die Polizei.154 Der Aufstandsplan:
Im Morgengrauen in erster Linie Besetzung der zentralen Polizei durch das Sonder-
regiment und die Rote Garde und danach der anderen strategischen Punkte und Ein-
richtungen, gleichzeitig Generalstreik, Wahl des Deputiertensowjets, Bewaffnung
aus den eroberten Lagern, Erlaß eines Dekrets usw., Vormarsch der Bauern aus der
Umgebung auf die Stadt. Die Chancen, Kanton zu erobern, sind groß, es zu halten, ist
außergewöhnlich schwer. Wir hoffen aber, zurechtzukommen, indem wir den Kampf
der Militaristen, das Ausmaß [der Aktionen] der Arbeiter, die Demoralisierung der
Soldaten und den Bauernstand nutzen. Der Aufstand von Haifeng nimmt enorme
Ausmaße an155: Die Bewegung hat 100.000 Bauern erfaßt, vier Kreise sind ganz in
ihren Händen, die Sowjetregierung mit Peng Bai an der Spitze erfüllt komplett unsere
152 Italienischer Streik: Im Russischen bedeutet der Ausdruck „italienischer Streik“ soviel wie
„Dienst nach Vorschrift“, d.h. ein passiv resistentes Verhalten, bei dem die Beschäftigten zwar ihren
Arbeitsplatz nicht verlassen, bei ihrer Tätigkeit aber nur die für sie geltenden Anweisungen umsetzen
oder Dienstvorschriften anwenden.
153 Vorbereitung auf Swatou: Nach einer Niederlage der von Ye Ting und He Long geführten Guo-
mindang-Truppen vor Swatou sollten nach Anweisung des ZK der KP Chinas die von Ende August bis
Mitte Oktober 1927 dauernden Aufstandsvorbereitungen in Kanton gestoppt bzw. rückgängig gemacht
werden (Leutner/Titarenko: KPdSU(b), Komintern und China, 3.1, S. 234).
154 Polizei: Darunter zu verstehen ist die Hauptverwaltung für innere Sicherheit.
155 Aufstand von Haifeng: Der Kreis Haifeng liegt in der chinesischen Provinz Guangdong, deren
gleichnamige Hauptstadt Kanton ist.
Dok. 176a: [Kanton, 9.12.1927] 597
Neumann.“
Am selben Tag und noch vor dem obigen Telegramm erhielten wir das folgende Chif-
fre-Telegramm:
„Wenn wir keine Antwort auf das heutige Telegramm erhalten, treten wir am Montag-
morgen in Aktion. Neumann.“157
156 Der sowjetische Generalkonsul in Kanton, Veselov (Ps.), d.i. Boris Pochvalinskij, hatte am
29.11.1927 nach Moskau an Karachan geschrieben: „Kurs auf sofortigen Aufstand ist falsch, denn Par-
tei hat keine Kräfte für Eroberung und Organisierung der Macht in Kanton. Versuch zum Aufstand
kann deshalb außer zu unnötigem Blutvergießen nur zur Liquidierung der gegenwärtigen Putschisten
führen, die ungeachtet ihres reaktionären Wesens eine isolierte Gruppe in der Guomindang sind [...].“
(Publ. in: Leitner/Titarenko: KPdSU(b), Komintern und China, 3.1, S. 205).
157 Das vorliegende Dokument beleuchtet nicht nur die persönliche Verantwortung Heinz Neu-
manns für die Ereignisse. Als Antwort gab das Politbüro dem Vertreter des EKKI Heinz Neumann
grünes Licht für den Aufstand (siehe den folgenden Beschluss des Politbüros des ZK der KP der
Sowjetunion vom 6.–17.12.1927). Der Aufstand wurde zudem einen Tag früher begonnen, da die Pläne
vorzeitig bekannt wurden. Die tatsächlich gegenüber der Guomindang und bei einer passiv blei-
benden Bevölkerung aussichtslose Erhebung wurde im Keim niedergeschlagen, mit der Folge einer
blutigen Unterdrückung Zehntausender Kommunisten. „Diese Aufstände fügten der KPCh schweren
Schaden zu. Die Mitgliederzahl verringerte sich dramatisch, die Mehrzahl ihrer Organisationen wurde
vernichtet, ihre Verbindungen mit den Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen gingen
verloren. Die übriggebliebenen Organisationen und einzelnen Gruppen von Kommunisten und von
ihnen kontrollierten kleinen Militäreinheiten wurden in ländliche Gebiete abgedrängt. In der KPCh
begann eine neue Periode – die Periode ihrer vorrangigen Entwicklung auf dem Dorf [...].“ (Leutner/
Titarenko: KPdSU(b), Komintern und China, 3.1, S. 57). In Kanton selbst erfolgten Massenhinrichtun-
gen, auch fünf Mitarbeiter des sowjetischen Generalkonsulats wurden erschossen. Der „Kantoner
Aufstand“ wurde von der Stalinschen Führung als ein weiterer, wenn auch negativer Beleg für die
„bedrohte Festung“ Sowjetunion, für den Kampf gegen die ‚Rechten‘ und gerade auch zu einer ver-
meintlichen Überflügelung der Vereinigten Linken Opposition Trotzkis und Sinowjews unterstützt,
die die Chinapolitik Stalins schärfstens verurteilt hatte. Dies hatte weitreichende Folgen. Ganz China
zusammengenommen, forderten die von der Komintern mitzuverantwortenden Massaker als grösstes
Politizid in der Geschichte der Zwischenkriegszeit seit den Aufständen in Shanghai im Frühjahr 1927
547 000 Tote auf Seiten der Arbeiter und Bauern (wobei es sich hierbei um die niedrigsten Anga-
ben handelt. Siehe: Broué: Histoire de l‘Internationale Communiste, S. 440 u.a.; vgl. die auf eigener
Anschauung des Autors basierende Schilderung von Harold R. Isaacs: The Tragedy of the Chinese
Revolution, Stanford University Press, Second Revised Edition 1966 (1. Aufl. London 1938). Zum Hin-
598 1924–1929
Per Umfrage unter den Mitgliedern des Politbüros der KP der Sowjetunion gab das Politbüro dem Ver-
treter des EKKI Heinz Neumann grünes Licht, mit dem Aufstand in der südchinesischen Provinz Kanton
(Guangdong) zu beginnen: „Moskau, 6.–17. Dezember 1927. [...] Es ist folgendes Telegramm abzu-
schicken: An Kanton, für Moritz [d.i. Heinz Neumann]. Kopie nach Shanghai an Olga [d.i. Mitkevič].
Telegramme Kantoner Angelegenheiten erhalten. Angesichts der entschlossenen Stimmung der Mas-
sen und der mehr oder weniger günstigen Lage vor Ort haben wir nichts gegen Ihren Vorschlag und
raten, zuversichtlich und entschlossen zu handeln.“ Sekretär des ZK [.] J. Stalin [.] Auszug an: Genos-
sen Karachan.158
Nach der blutigen Niederlage des Aufstands in Kanton beauftragte das Politbüro der KP der Sow-
jetunion auf seiner Sitzung vom 22.12.1927 eine Kommission, eine „umfassende Kampagne im Zu-
sammenhang mit den Ereignissen in China auszuarbeiten [...] und zwar sowohl in bezug auf die au-
ßenpolitischen und Handelsbeziehungen mit Südchina, als auch die verschiedenen internationalen
Organisationen (Entwürfe für Aufrufe der Komintern, der IRH usw.)“. Die Begriffe „Niederschlagung“,
„Niederlage“ oder „Scheitern“ oder „Opfer“ werden nicht gebraucht.159
Am 22.12.1927 ernannte das Politbüro der KP der Sowjetunion Anastas Mikojan zum Sonderbeauf-
tragten der UdSSR bei den Verhandlungen in Berlin für die Ausweitung der Wirtschaftskontakte mit
Deutschland als Folge der Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen Ende der zwan-
ziger Jahre. Besprochen werden sollten tatsächliche langfristige Kredite sowie die Platzierung sowje-
tischer Anleihen in Deutschland.160
tergrund: Mechthild Leutner, Roland Felber, Mikhail L. Titarenko, Alexander M. Grigoriev (Hrsg.): The
Chinese Revolution in the 1920s. Between Triumph and Disaster, London-New York, Routledge, 2002;
Pierre Broué: La Question chinoise dans l’Internationale Communiste (1926–1927). Textes de Staline,
Trotsky, Martynov, Zinoviev (....). Thèses de l’Internationale communiste. Rapport secret de délégués
de l’IC, Paris, EDI, 1965 (2ème éd. revue et augmentée, 1976).
158 RGASPI, Moskau, 17/162/5, 132. In deutscher Sprache publ. in: Leutner/Titarenko: KPdSU(b),
Komintern and China, 3.1, S. 235f. Olga A. Mitkevič (1889–1943) war für die RGI in China.
159 RGASPI, Moskau, 17/3/664/1, publ. in: Leutner/Titarenko: KPdSU(b), Komintern und China, S. 237.
160 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 1.
1928
Am 12.1.1928 besprach das Politbüro der KP der Sowjetunion eine Anfrage seitens des Büros der
Fraktion des VCSPS im Politbüro der KPdSU(b) über die Genehmigung der Reisen von Grigorij N.
Melʼničanskij und Konstantin V. Gej nach Deutschland, Michail Ja. Apletin nach Frankreich und G.D.
Weinberger in die Tschechoslowakei. Ebenfalls wird die Reise von A. A. Bogdanov zur Konferenz des
Internationalen Propagandakomitees nach Berlin sanktioniert.1
Am 2.2.1928 bestätigte das Politbüro der KP der Sowjetunion neben dem „legalen Budget“ ein Ex
trabudget für die Komintern in Höhe von 6.368.010 Rubeln; es gestattete darüber hinaus den Wech-
sel von 500.000 Tscherwonzen-Rubeln in ausländische Währungen für diverse Organisationen und
Kommunistische Parteien. Eine Reserve von 500.000 Goldrubeln sollte für Wahlkampagnen in Polen,
Frankreich, Deutschland, England und den USA bereitgehalten werden. Der Wortlaut des Beschlus-
ses: „Protokoll N° 8 (Sonder-N° 8) der Sitzung des Politbüros des ZK der VKP(b) vom 2. Februar 1928.
[...]. 19.– Über das Budget. (PB vom 26.1.28, Pr.N°7, P. 16). (Gen. Kosior, Pjatnitzki). 19.– a) Das Budget
in Höhe von 6.368.010 Rub. zu bestätigen. b) Den Umtausch von Tscherwonzen-Rubeln in ausländi-
sche Währung für verschiedene komm[unistische] Organisationen und Parteien in Höhe von 500.000
Tsch.–Rub. zu erlauben. c) Gen. Pjatnitzki zu verpflichten, die Verteilung der assignierten Mittel
auf eine Weise durchzuführen, dass mindestens 500.000 Gold-Rub. für Wahlkampagnen in P[olen],
F[rankreich], D[eutschland], En[gland] und Amerika zurückgelegt werden. d) Das legale Budget zu be-
stätigen. Auszüge an: Gen. Pjatnitzki, Gen. Brjuchanov – alle. Gen. Šejnman – b.“4
Am 9.2.1928 hielt das sowjetische Politbüro fest, dass der Beschluss darüber, welche Vorschläge
gegenüber Deutschland gemacht werden sollten, nicht verwirklicht wurde. Zur Besprechung wurde
eine besondere Kommission gebildet, mit den Mitgliedern Mikojan, Šejnman, Litvinov, Frumkin und
Rudzutak. Sie sollten einen Vorschlag machen, wer zu den ausgearbeiteten Vorschlägen nach Berlin
fahren sollte.5
Dok. 177
Schreiben des Organisationssekretärs der Komintern Mauno
Heimo über die Schulden der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ)
Moskau, 13.2.1928
Zu dem beigelegten Antrag des Genossen Muenzenberg im Namen des „Neuen Deut-
schen Verlages“ möchte ich folgendes anführen:6
1. Die Behauptung Münzenbergs, dass die Komintern den Neuen Deutschen Verlag
gezwungen hätte, die I.A.Z. [Illustrierte Arbeiterzeitung] gegen seinen Willen durch
die Literaturvertriebstelle zu verbreiten, ist nicht richtig.7 Der Vertrieb der IAZ durch
die Literaturvertriebstelle erfolgte erst nach einer in Moskau mit dem Genossen Mün-
zenberg getroffenen Vereinbarung. Der N.D.V. ist so wie alle anderen an die Litera-
turvertriebsstelle angeschlossenen Organisationen verantwortlich über die nicht
gute (hyperbürokratische) Organisation der Vertriebsstelle, die hauptsächlich schul-
dig ist und die schlechten Resultate der Betriebsstelle. Deswegen ist der N.D.V. (der
den zweiten und später den einzigen Leiter der Vertriebsstelle ernannte) auch selbst-
verständlich verpflichtet, Anteil an die Deckung der Schulden der Vertriebsstelle zu
nehmen. Wenn das nicht der Fall waere, so hätte der Verlag der Komintern auch das
volle Recht sich mit entsprechenden Anträgen an die Budgetkommission zu wenden.
6 Am 14.11.1924 wurde der Neue Deutsche Verlag, Berlin, auf den persönlich haftenden Gesellschaf-
ter Willi Münzenberg umgeschrieben. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Babette Gross (als Ge-
schäftsführerin) baute er diesen zum Kernstück des Mediengeflechts um die Internationale Arbeiter-
hilfe und neben Malik zum bedeutendsten linken Literaturverlag der Weimarer Republik aus. Zu den
Zeitschriften gehörten außer der AIZ auch Der Arbeiterfotograf, der Eulenspiegel, Der Weg der Frau,
man vertrieb Literatur und Weltrevolution, Internationale Literatur und Das neue Rußland. Ein wichti-
ges Motto lautete: “Für den Arbeiter – mit den Intellektuellen – gegen den gemeinsamen Feind.” Zur
wohl bekanntesten Publikation wurde 1929 Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles.
Ein Bilderbuch, montiert von John Heartfield. Zu weiteren Veröffentlichungen siehe: Internationales
Willi-Münzenberg-Forum. http://www.münzenbergforum.de/.
7 Gemeint ist die Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ), die zur bedeutendsten linken Wochenzeitung der
Weimarer Republik wurde (siehe Dok. 152). Der Hintergrund des Beschlusses ist wohl die Liquidie-
rung der Literaturvertrieb GmbH als zentraler Literaturvertriebsstelle der KPD. Gross und Münzen-
berg hatten seit 1923 für den NDV ein Netz eigener Vertriebsstellen geschaffen und wollten offensicht-
lich finanziell nicht mit für die neue Struktur aufkommen (siehe: Babette Gross: Willi Münzenberg, S.
163; Siegfried Lokatis: Weltanschauungsverlage. In: Ernst Fischer, Stephan Füssel (Hrsg.): Geschichte
des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 2: Die Weimarer Republik 1918–1933. Teil
2, Berlin u.a., De Gruyter, 2012, S. 111–138, hier S. 121–122).
Dok. 177: Moskau, 13.2.1928 601
2. Die finanzielle Lage von IAH-Konzern,8 dessen Teil der NDV ist, kann nicht als
derartig bezeichnet werden, dass sie es nicht erlauben würde die Folgen der Liqui-
dierung der Vertriebsstelle zu tragen. Das ist nicht schwer auf Grund der offiziellen
Dokumente der Revisionskommission der IAH zu beweisen.
3. Ist zu bemerken, dass die Liquidierung der Literaturvertriebstelle erfolgte ohne vor-
herige Benachrichtigung des EKKI und gegen die in Moskau in einer Beratung mit
den Vertreter des EKKI-Verlages,9 NDV und Verlagsabteilung des EKKI10 während der
Oktoberfeiern angenommenen Richtlinien über die Literaturvertriebsstelle.
In Anbetracht alles dieses muss ich die Ablehnung des Antrages von NDV beantragen.
[sign:] Heimo 13.II.28
Am 16.2.1928 verabschiedete das Politbüro der KP der Sowjetunion das Budget der Roten Gewerk-
schafts-Internationale (Profintern), in Höhe von 424.000 Rubeln. Es fixierte den zur Abhaltung des
IV. Weltkongresses der RGI, der vom 17.3.1928 bis zum 23.4.1928 in Moskau stattfand, notwendigen
Betrag auf 379.303 Rubel, davon 74.199 in US-Dollar.11
Ebenfalls am 16.2.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion auf Vorschlag des Internati-
onalen Büros der Sowjetgewerkschaften, den streikenden Metallarbeitern in Mitteldeutschland über
die russische Sektion der Internationalen Arbeiterhilfe (Mežrabpom) 10.000 Rubel aus dem Interna-
tionalen Solidaritätsfonds beim sowjetischen Zentralrat der Gewerkschaften (VCSPS) zur Verfügung
zu stellen.12
Erneut beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion am 23.2.1928 die Festlegung neuer, stren-
gerer Regeln für die ausländischen Mitarbeiter in den sowjetischen Vertretungen und Organen im
Ausland.13
8 Zur Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) als „Konzern“ nach der Sprachregelung der Komintern,
siehe Dok. 49b, 147 u.a.
9 Nach der Gründung des Verlags der Kommunistischen Internationale in Petrograd 1920 wurden
die Verlagsaktivitäten der Komintern dezentralisiert, Druck und Auslieferung wurden von Verlagen
in den einzelnen Ländern jeweils in der Landessprache übernommen. Da Deutsch Hauptsprache der
Komintern war, übernahmen deutsche Verlage, wie Carl Hoym, Hamburg, eine Hauptaufgabe. Dazu
kamen Verlage wie Martin Lawrence Ltd. in London oder Les Editions Sociales in Paris. Die Herstel-
lung der Bücher erfolgte zum Teil weiterhin in der Sowjetunion.
10 Die Verlagsabteilung de EKKI (auch: Editionsabteilung, seit 1929 Redaktions- und Verlagsabtei-
lung) war für die Veröffentlichungen und Editionen der Komintern zuständig, nicht für die Presse.
Sie wurde im Zuge der Auflösung der Petrograder Abteilung des EKKI Ende 1922 geschaffen. Im Unter-
schied zur Informations- und Statistikabteilung war sie für die Verlage in Moskau, Berlin, London und
Paris zuständig, sowie für die Vorbereitung und Herausgabe theoretischer und propagandistischer
Literatur in den Sprachen der Kominternsektionen. Leiter war der frühere Chef der Presseabteilung
Michail Kreps. Eigene Übersetzerbüros wurden in Moskau und an einigen Verlagspunkten unterhal-
ten (Leiter: Grigorij Geriš) (Bayerlein: Transnationale Netzwerke und internationale Revolution).
11 RGASPI, Moskau, 17/162/6. 24–26. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 505–507.
12 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 26. Publ. in: Ibid., S. 507.
13 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 29.
602 1924–1929
Dok. 178
Geheime Vereinbarung („Geheimabkommen“) der russischen und
deutschen Delegationen im EKKI über die Zukunft der KPD
Moskau, 29.2.1928
Typoskript in russischer Sprache, RGASPI, Moskau, 508/1/59, 2. In deutscher Sprache publ. in:
Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 111–112.
Völlig geheim.
Gedruckt in drei Ex[emplaren]. G.K.
PROTOKOLL NR. 4
Der Sitzung der Delegation der VKP(b) im EKKI vom 29.2.28.14
BESCHLOSSEN:
Die nachstehende Resolution wurde nach einem ausgedehnten Meinungsaustausch
für alle Tagesordnungspunkte gleichzeitig einstimmig angenommen (Gen. Zetkin
enthielt sich der Stimme)15:
1. Festzustellen, daß die rechte Gefahr in der Arbeiterbewegung in Deutschland,
deren Ausdruck die Sozialdemokratische Partei ist, die Hauptgefahr darstellt:
14 Anwesend laut Protokoll waren von russischer Seite Bucharin, Stalin, Rykov, Molotov, Tomskij,
Lozovskij, Pjatnitzki, Mikojan und Kalinin. Von der deutschen Delegation Thälmann, Braun [d.i.
Arthur Ewert], Remmele, Dengel, Gerhart [Eisler], Neumann, Blenkle, Zetkin. Tagesordnung: „Fragen
der KPD“.
15 Der Resolutionstext, bei dem es sich um ein weiteres für die Stalinisierung des deutschen Kom-
munismus konstitutives „Geheimabkommen“ (Hermann Weber) handelt, wird nach der deutschen
Fassung wiedergegeben (SAPMO-BArch, Berlin, RY, 1/12/1/60, 139). Erstmals publ. in: Weber: Zu den
Beziehungen, S. 207–208; ebenfalls in: Elfriede Lewerenz, Elke Reuter (Einfg.): Zum Kurswechsel
in der KPD. Dokumente aus den Jahren 1927/1928. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung
(1991), 6, S. 786–787; zuletzt publ. in: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 111–112. Die deut-
sche Fassung ist mit „Entschließung“ betitelt, enthält nicht den bis hierhin abgedruckten Text, und
wird eingeleitet mit „Die gemeinsame Sitzung der Delegationen der KPD und der KPdSU beschließt:“
Bisher ist in der Literatur nicht darauf hingewiesen worden, dass in der hier zusätzlich herangezo-
gen russischen Fassung das Dokument lediglich als Sitzungsprotokoll der „russischen Delegation“
im EKKI ausgewiesen ist.
Dok. 178: Moskau, 29.2.1928 603
Das Politbüro der KP der Sowjetunion beschloss am 1.3.1928, die weitreichenden Wirtschafts- und
Kreditverhandlungen mit Deutschland in Berlin zu unterbrechen und Šejnman nicht nach Berlin zu
schicken. Rykov sollte aus der Verhandlungskommission entfernt und Mikojan zum Leiter ernannt
werden. Einige Artikel dazu sollten in der sowjetischen Presse veröffentlicht werden. Weiterhin wollte
Moskau eine Schule für Kinder deutscher Diplomaten und deutscher Bürger eröffnet werden, die in
Moskau lebten. Kurz darauf erfolgte die Verhaftung deutscher Spezialisten in der Sowjetunion und
die zentral vom Politbüro und der OGPU gesteuerte Šachty-Affäre.17 Der zeitliche Zusammenhang
legt eine Verbindung der Šachty-Affäre und dem Scheitern der sowjetisch-deutschen Verhandlungen
nahe.
16 Die in der deutschen Fassung hinzugefügte Liste der Unterzeichner weicht von der Anwesenheits-
liste in der russischen Version ab. Auf deutscher Seite fehlt nicht nur die Unterschrift von Clara Zet-
kin, die sich der Stimme enthielt, sondern auch die von Braun (Ps.), d.i. Ewert. Was die russischen
Delegierten angeht, fehlen die Unterschriften von Rykov und Kalinin. Die russische Fassung der De-
klaration wurde lediglich von Pjatnitzki unterzeichnet.
17 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 31–35. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 160–161.
604 1924–1929
Dok. 179
Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über die in
Verbindung mit dem Šachty-Prozess zu treffenden Maßnahmen
Moskau, 8.3.1928
PROTOKOLL NR. 14
(Sonder-Nr. 13)
DER SITZUNG DES POLITBÜROS DER ZK DER VKP(b) VOM 8. MÄRZ 1928.
Auszüge an:
Gen. Rykov;
Gen. Menžinskij. [...|
vom 5.III.1928.
[Beschlossen:] 18.– 1) Die involvierten Deutschen zu verhaften, dabei die AEG wissen
lassen, dass die Angelegenheit nicht sie betrifft, sondern ihre einzelnen Vertreter,
und diese Angelegenheit mit dem NKID koordinieren.18
2) Die Engländer ohne Einverständnis der Kommission in Ruhe zu lassen, den ver-
hafteten Engländer zu verhören und freizulassen, eine verstärkte Observierung der
Vertretung von Vickers19 u.a. in der UdSSR.
3) Die Erklärung des Oberstaatsanwalts der UdSSR am Samstag zu veröffentlichen,
den Gen. Rykov dabei zu beauftragen, über diese Angelegenheit auf der Sitzung des
Moskauer Sowjets am Freitag zu referieren.
4) Einer Kommission, zusammengesetzt aus Gen. Rykov, Ordžonikidze, Tomskij,
Stalin (vertreten durch Gen. Molotov), Kujbyšev, Menžinskij (vertreten durch Gen.
Jagoda) und Janson, mit der Leitung der OGPU und der Gerichtsorgane im Zusam-
menhang mit der Šachty-Angelegenheit und der Ausarbeitung von praktischen Maß-
nahmen zur Verbesserung unserer praktischen Arbeit auf der Linie der Partei, der
Gewerkschaften, der VSNCh, der Arbeiter- und Bauernkorrespondenten und der GPU
zu beauftragen.
5) Ein Dokument mit einer Einführung des ZK an alle Mitglieder des ZK und der ZKK,
Volkskommissare, wichtigste kommunistische Wirtschaftler und die besten kommu-
nistischen Elemente unter den Studenten zu versenden.
Auszüge an:
Gen. Rykov; Gen. Ordžonikidze; Gen. Tomskij; Gen. Stalin; Gen. Molotov; Gen.
Kujbyšev; Gen. Menžinskij; Gen. Janson.
Am 8.3.1928 sagte das Politbüro der KP der Sowjetunion die in Berlin geplante „Woche der russischen
Geschichte“ ab und warf dabei der deutschen Seite vor, sich in die Zusammensetzung der russischen
Delegation einzumischen.20 Am 29.3.1928 wurde der Beschluss jedoch auf Antrag des sowjetischen
Historikers Michail Pokrovskij zurückgenommen.21
Das sowjetische Politbüro beauftragte ebenfalls Litvinov, in seiner Rede zum Entwurf für das Abrüs-
tungskomitee des Völkerbunds darzulegen, dass, sollte der sowjetische Vorschlag angenommen wer-
den, die Sowjetunion nach Ablauf von zwei Jahren einen erneuten, weitergehenden Vorschlag zur
Abrüstung machen würde. Das NKID wurde damit beauftragt, den Entwurf rechtzeitig zu drucken.22
wjetischen Innenpolitik 1928–1938, Phil. Diss., Tübingen, 1970, S. 73–133; Michal Reiman: Die Geburt
des Stalinismus. Die UdSSR am Vorabend der „zweiten Revolution“, Frankfurt am Main, Europäische
Verlagsanstalt, 1979, S. 103ff. Zum Hintergrund der deutsch-sowjetischen Beziehungen: Kurt Rosen-
baum: Community of Fate. German-Soviet Diplomatic Relations 1922–1928, Syracuse University Press,
1965; id.: The German Involvment in the Shakhty Trial. In: Russian Review XXI (1962), S. 238–260;
Harvey Leonard Dyck: Weimar Germany and Soviet Russia 1926 –1933. A Study in Diplomatic Insta-
bility, London, Chatto und Windus, 1966, S. 129–136. Zur Bedeutung des Prozesses als Signal für die
Verfolgung der alten sowjetischen Ingenieursschicht siehe: Susanne Schattenberg: Stalins Ingenieu-
re. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München, Oldenbourg, 2002, S.
85ff. (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit. 11).
19 Vickers, Britischer Stahl- und Rüstungskonzern (1828 bis 2004), der auch im Flugzeugbau tätig war.
20 RGASPI, Moskau, 17/3/676,7.
21 RGASPI, Moskau, 17/3/679, 6.
22 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 38.
606 1924–1929
Das Politbüro der KP der Sowjetunion verwarf am 15.3.1928 auf Vorschlag von Stalin und Mikojan die
Formulierungen von Šlejfer und Krestinskij über neue Konzessionen an die deutsche Seite bei den
deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen und rief beide sowjetische Vertreter unverzüglich
zurück.23
Am 22.3.1928 beauftragte das sowjetische Politbüro Čičerin und Mikojan, einen Text für TASS über die
deutsch-sowjetischen Verhandlungen zu verfassen und gleichzeitig an alle Mitglieder des Politbüros
zu schicken. Der Text wurde mit den Korrekturen Stalins genehmigt.24
Dok. 180
Brief Stalins an Nikolaj Bucharin, Aleksej Rykov und Molotov mit
kritischen Bemerkungen zum Programmentwurf der Komintern
Moskau, 24.3.1928
Während ich die „Notizen“ Bucharins25 im Großen und Ganzen für richtig halte, fände
ich es notwendig, sie mit folgenden Bemerkungen zu ergänzen.
1) Ich denke, dass das Programm neu geschrieben werden muss, da der Pro-
grammentwurf, der vom V. Weltkongress als Grundlage beschlossen wurde, nicht
als befriedigend im Sinne der jetzigen Bedürfnisse der Komintern angesehen werden
kann.26
2) Die vorhandene „Einleitung“ zum Programmentwurf des V. Weltkongresses ist
unzureichend. Es wäre besser, ohne „Einleitung“ auszukommen. Wenn man ohne sie
nicht auskommen kann, so sollte man eine solche „Einleitung“ vorlegen, die die Idee
der Notwendigkeit eines allgemeinen Programms der KI neben einzelnen Programmen
der KI-Sektionen begründen würde.
3) Das Programm sollte, meiner Meinung nach, (im ersten Abschnitt) mit der
Analyse des kapitalistischen Weltsystems in seiner imperialistischen Entwicklungs-
phase, und nicht der kapitalistischen Gesellschaft an sich beginnen, wobei diese
Analyse unter dem Blickwinkel der sich entwickelnden Krise des Weltkapitalismus
geführt werden soll. [...] Dabei wäre es gut, eine Charakteristik der ökonomischen
und politischen Ungleichmäßigkeit der Entwicklung zu erstellen, die Hauptwider-
sprüche im Weltsystem des Kapitalismus mit der Unabwendbarkeit militärischer
Konflikte aufzuzeigen, die Idee der Möglichkeit des Sieg des Sozialismus in einzelnen
Ländern zu begründen usw. im Geiste der „Notizen“ Bucharins. [...]
5) Das dritte Kapitel sollte den Fragen zur Politik und Wirtschaft der Übergangs-
periode gewidmet sein, Fragen zur Diktatur des Proletariats, zur sowjetischen Form
der Diktatur, zum „Kriegskommunismus“ usw. Bei der Charakterisierung der Über-
gangsperiode, besonders was die Bedingungen der Machtergreifung des Proletariats
und des sozialistischen Aufbaus in den einzelnen Ländern angeht, sollte man nicht
vom Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus an sich sprechen, sondern vom
Übergang bei Vorhandensein der Diktatur des Proletariats in einem der Länder, d.h. in
unserem Land.27 Dabei sollte man, meiner Meinung nach, die Länder zumindest nach
drei Kategorien aufteilen, nämlich in die Kategorien imperialistischer, kolonialer und
sowjetischer Länder (Republiken), mit der Charakteristik eines besonderen Zugangs
zu Fragen der Übergangsperiode in jeder dieser Länderkategorien. [...]
6) Das vierte Kapitel sollte der UdSSR, ihrer Politik (Diktatur des Proletariats),
ihrer Wirtschaft (sozialistischer Aufbau), ihrer weltrevolutionären Bedeutung, der
Frage der Verpflichtungen des Proletariats der UdSSR gegenüber dem Proletariat
anderer Länder, der Frage der Verpflichtungen des Proletariats anderer Länder gegen-
über der UdSSR gewidmet sein. Diesem Kapitel wird eine überaus wichtige Bedeutung
innerhalb des ganzen Programms zukommen, wenn es gelingt, es in entsprechender
Fülle und Klarheit auszuarbeiten. [...]
10) Zur Frage der „Vaterlandsverteidigung“ (siehe Punkt 16 der „Notizen“ Bucha-
rins) denke ich, dass man strikt unterscheiden muss zwischen der imperialistischen
Heimat und der antiimperialistischen Heimat, wie auch zwischen der imperialisti-
schen Bourgeoisie, mit der es keinerlei Übereinkunft geben kann, und der antiimperi-
alistischen Bourgeoisie, mit der in der Situation eines Kampfes gegen den Imperialis-
mus Übereinkünfte zu bestimmten Bedingungen und für eine bestimmte Zeit zulässig
und wünschenswert sind. [...]
24.III.28.
[sign.:] I. Stalin
Das Politbüro bestätigte am 29.3.1928 die Nominierung von Vasilij K. Bljucher als Militärattaché in
Deutschland anstelle von Sergej Lunev.28
27 In seinem Schematismus und Rigorismus legitimiert Stalin hier die reaktionäre Utopie des ‘Sozia-
lismus in einem Lande‘ und verabsolutiert zugleich die Diktatur des Proletariats als Regierungsform.
Seine These läuft darauf hinaus, dass sobald die Diktatur des Proletariats in einem Lande errichtet
wurde, sich dort auch der Sozialismus verwirklichen lässt. Vgl. dazu den Beitrag von Jakov Drabkin
in Band 1.
28 RGASPI, Moskau, 17/3/679, 33.
608 1924–1929
Zur Anfrage der Kommission für Außenbeziehungen des VCSPS beim Politbüro der VKP(b) über die
Entsendung der Delegation zum V. Kongress der Internationale der Bildungsarbeiter in Leipzig geneh-
migte das Politbjuro 29.3.1928 maximal fünf Personen.29
Am 3.4.1928 bekundete das Politbüro der KP der Sowjetunion sein Einverständnis damit, zum natio-
nalen Treffen des kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands als Vertreter des Komsomol nicht
mehr als zwei Genossen zu entsenden.30
Dok. 181
Beschwerde des ZK der KPD über die Informationspolitik der
Sowjetunion und der Komintern zum Šachty-Prozess
Moskau, 5.4.1928
Werte Genossen!
Das Z.K. der KPD. beschwert sich in einem Schreiben darüber, dass zu der Ingenieur-
verhaftung, die in Deutschland in der gesamten bürgerlichen Presse, insbesondere im
Vorwärts, eine lebhafte Kampagne hervorrief, von hier keinerlei Berichte an die deut-
sche und sonstige ausländische Parteipresse ergangen sind.31 Besonders beschwert
sich das Z.K., dass es lediglich auf die Berichte in der „Prawda“ und „Iswestia“ ange-
wiesen war, die erst 4 bis 5 Tage später in seine Hände gekommen sind, sodass sie
gegenüber den Berichten in der bürgerlichen Presse untauglich wurden. Die einzige
Möglichkeit, die zur Führung einer Gegenkampagne besteht, ist durch eine telegra-
fische Berichterstattung durch die TASS oder direkt durch die AGITPROP der Kom-
intern. Es ist zweifellos, dass die SPD, durch die von ihr geführte Kampagne gegen
die Ingenieurverhaftungen und durch die vollständige Unmöglichkeit unserer Presse,
hierauf mit sachgemässen Argumenten zu antworten, unter der Arbeiterschaft in
Deutschland Erfolge zu verzeichnen hatte.
In wenigen Tagen steht der Prozess gegen die Wirtschaftssaboteure bevor. Durch
eine entsprechende rasche Berichterstattung kann das Versäumnis und die Nach-
teile, die die nicht erfolgte Berichterstattung bei der Verhaftung hervorrief, wieder
wettgemacht werden. Es kommt also darauf an, dass eine diesbezügliche Bericht-
erstattung schon heute organisiert wird. Ich bitte daher, ueber diese Angelegenheit
eine sofortige Aussprache mit Agitprop, TASS, Deutsches Ländersekretariat und mir
herbeizuführen. In der Berichterstattung über den Prozess muss wieder gutgemacht
werden, was zuvor versäumt wurde.
Am 6.4.1928 genehmigte das Politbüro der KP der Sowjetunion die Reise von Aleksandr Lukačevskij,
einem Mitarbeiter des Vorsitzenden des sowjetischen Gottlosenverbandes, Emelʼjan Jaroslavskij,
nach Berlin zur Teilnahme an der Sitzung des Exekutivkomitees der Freidenker-Internationale. Ziele
und Auftrag der Bewegung waren „die Bekämpfung der geistigen Rückständigkeit der Arbeiterbewe-
gung als Voraussetzung für ihre ökonomische Befreiung“, wozu die „Bekämpfung von Religion und
Nationalismus als den wirksamsten ideologischen Kräften der Reaktion“ und der „Kampf gegen Kleri-
kalismus und Chauvinismus, auf dem Boden des revolutionären Klassenkampfes“, gehörten.32
Dok. 182
Beschwerde Hermann Remmeles an die Komintern über
schikanöse Kontrollen im Hotel Lux
Moskau, 11.4.1928
W[erte] G[enossen]:
Betr. Beschwerde Verhaeltnisse Lux.34
und drohte mit der Miliz. Um ½ 1 Uhr, als eben die Genossen, die bei mir weilten, im
Begriffe waren, sich zu entfernen, steckte der Kommandant den Kopf durch die Türe,
um scheinbar zu kontrollieren, wer im Zimmer anwesend ist. Allerdings zog [er] es
vorsichtshalber vor, sofort wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Das ist der
Tatbestand.
Ueber diese Vorfälle waren insbesondere die deutschen Genossen ausseror-
dentlich verwundert, und bezeichneten es als einen unerhörten Skandal, dass im
Wohnhaus der Komintern ein Regime herrscht, das nicht weit entfernt ist von einem
Zöglings- oder Pflegeheim unter preussischer Polizeiaufsicht. Der Kommandant hat
ausserdem angekündigt, dass er den Genossen, die bei mir weilten, für die Zukunft
den Zutritt zum Lux verbiete. Ich frage die Kleine Kommission, woher die Komman-
dantur des Lux das Recht nimmt, Mitgliedern des Zentralkomitees der Kommparteien
den Verkehr mit Mitgliedern desselben Zentralkomitees zu verbieten.
Ich ersuche die Kleine Kommission dringend, diesen beschämenden Zuständen,
wie sie im Lux herrschen, endlich ein Ende zu setzen.
Dok. 183
Vorschlag Brandlers und August Thalheimers, sich im „Zentrale-
Prozess“ dem Gericht zu stellen
Moskau, 12.4.1928
Werte Genossen!
Am 9. Mai 1928 ist der Prozess gegen die alte Zentrale der K.P.D. von 1923 angesetzt.36
Wir sind der Meinung dass es politisch ausserordentlich gut wirken würde, wenn wir
uns zu diesem Prozess stellen würden. Die S.P.D. hat die Amnestie hintertrieben. Der
36 Nach mehreren Versuchen kam es auch 1928 nicht zur Abhaltung des „Zentrale-Prozesses“ gegen
die KPD-Führung. Die Taktik der KPD sah vor, dass die Angeklagten nicht zum Prozess erscheinen
sollten. Allerdings wäre es fraglich gewesen, dass die Zentrale dem Vorschlag Brandlers und Thalhei-
mers stattgegeben hätte.
612 1924–1929
Prozess ist nur angesetzt worden weil man hofft, dass er nicht stattfinden kann, weil
die Angeklagten nicht erscheinen werden. Wir sind der Meinung, dass wir der Partei
den besten Dienst erweisen, wenn wir uns stellen und den Prozess durchführen. Der
Wahlagitation könnte dadurch eine revolutionäre Note gegeben werden, die sich weit
über die Wahl hinaus auswirken müsste. Natürlich sind wir bereit den Prozess nach
den Direktiven der Komintern und der K.P.D. durchzuführen.
Wir bitten Sie deshalb uns die Erlaubnis dazu zu erteilen.
Das sowjetische Politbüro beschloss am 19.4.1928, keine Einwände dagegen zu haben, dass entspre-
chend eines Vorschlags Čičerins Rantzau oder Schlippe, d.i. Martin Schliep, ein zweites Treffen mit
den verhafteten Deutschen haben.37
Auf Vorschlag Stalins traf das Politbüro der KP der Sowjetunion am 26.4.1928 eine Reihe weitreichen-
der Maßnahmen der äußersten Geheimhaltung, die auf eine sichtbare Trennung von Sowjetorganen
und Komintern gerichtet waren. Auch der Geldtransfer für die Komintern sollte nicht mehr über Mos-
kau, sondern über Berlin und andere Wege erfolgen. Darüber hinaus sollten alle geheimen Mitarbei-
ter der Komintern überprüft werden.38
Am 3.5.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, die Behandlung des Kominternpro-
gramms im Politbüro auf den 7.5.1928 zu verschieben. Die Mitglieder des Politbüros sollten sich zu-
nächst mit dem zugesandten Entwurf auf der nächsten Sitzung vertraut zu machen.39
37 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 64. Schliep war Legationssekretär an der Botschaft Moskau.
38 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 66, 67, 70. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Kom-
intern, S. 517–519.
39 RGASPI, Moskau, 17/3/685, 2.
Dok. 184: Moskau, 10.5.1928 613
Dok. 184
Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion zur
Öffentlichkeitsstrategie im Šachty-Prozess und einem Treffen mit
Botschafter Rantzau
Moskau, 10.5.1928
PROTOKOLL N° 24
DER SITZUNG DES POLITBÜROS DES ZK DER VKP(b) VOM 10. MAI 1928.
(Sonder-N° 23)
9.– a) Dem deutschen Botschafter Rantzau ein Treffen mit den in der Angelegenheit
Šachty angeklagten Deutschen zu erlauben.41
b) Gen. Bucharin zu beauftragen, eine Beratung von Delegierten ausländischer
Komparteien (der englischen, französischen, deutschen u.a.) einzuberufen, damit
sie die odiösesten Stellen der Anklageschrift im Bezug auf die Verbindung der ent-
sprechenden ausländischen Mächte und ihrer Botschaften mit dieser Angelegenheit
40 Nachdem Ende März weitere Verhaftungen veranlasst und Jaroslavskij für die Zentrale Kontroll-
kommission der VKP(b) in den Donbass geschickt worden war, stimmten auf dem Vereinigten Plenum
des ZK und ZKK im April 1928 auch Rykov und Bucharin den Maßnahmen zu. Der Prozess mit 53
Angeklagten (darunter noch drei Deutschen) wurde am 18.5.1928 eröffnet und dauerte bis Anfang
Juli. Nach haarsträubender Beweisführung wurden 11 der Angeklagten (von ursprünglich 22 von der
Anklage geforderten) zum Tode verurteilt, sechs Urteile wurden noch kurz vor der Vollstreckung kom-
mutiert. Fünf Todesurteile wurden vollstreckt. Der Ingenieur Badstieber erhielt als einziger Deutscher
eine Gefängnisstrafe, allerdings mit einjähriger Bewährung, die beiden anderen Deutschen wurden
freigesprochen. Der hier abgedruckte Politbürobeschluss zeigt, dass sich Čičerin und Krestinskij mit
einem konzilianteren Kurs gegenüber den ausländischen staatlichen Vertretungen und besonders der
deutschen Seite durchgesetzt hatten bzw. dass der Prozess in der Hauptsache nach innen gerichtet
war. Der von Vyšinskij geleitete Prozess, an dem zeitweise Brockdorff-Rantzau teilnahm, endete nach
sechs Wochen (siehe: Ziehr: Die Entwicklung, S. 73–133; Zarusky: Die deutsche Sozialdemokratie, S.
238–240; Bayerlein: Nikolai Krestinskij).
41 Nach zehntägiger Haft erfolgte auf Beschluss des Politbüros am 16.3.1928 die Freilassung des
Krupp-Ingenieurs Goldstein, die vom sowjetischen Vertreter in Berlin, Nikolaj Krestinskij, am vehe-
mentesten gefordert worden war, sowie die eines weiteren deutschen Ingenieurs und vier sowjeti-
scher Spezialisten. Čičerin unterhielt derweil in Moskau permanente Kontakte mit dem deutschen
Botschafter Brockdorff-Rantzau. Drei weitere deutsche Ingenieure und Facharbeiter (Ernst Otto, Max
Maier und Wilhelm Badstieber) blieben zusammen mit 53 Angeklagten jedoch weiter in Haft.
614 1924–1929
hernehmen, Artikel mit Zitaten und Verweisen auf die Anklageschrift verfassen und
diese Artikel an ihre Zeitungen senden.42
c) Gen. Molotov, Čičerin und Krylenko zu beauftragen, die Veröffentlichung
der Anklageschrift nochmals zu revidieren im Hinblick auf eine maximale Kürzung
solcher Passagen, die die Tätigkeit ausländischer Botschaften u.ä. betreffen.
d) Der Bitte der Verteidigung um Aufschub des Prozesses um drei Tage zu ent-
sprechen.
Am 10.5.1928 befand das Politbüro der KP der Sowjetunion, dass eine besondere Intervention der
Profintern zu den Wahlen in Deutschland unnötig sei. Auch sollten die Bedingungen für eine materiel-
le Unterstützung streikender Arbeiter im Westen künftig nach strengeren Kriterien festgelegt werden
– dabei sei eine feste Vereinbarung mit der jeweiligen Sowjetgewerkschaft zu erreichen. Zugleich
wurde das Budget der Profintern zum 1. Januar 1929 auf 834.373 Rubel festgelegt.43
Am 10.5.1927 bewilligte das Politbüro des ZK der VKP(b) ebenfalls das Budget der Krestintern (Bauern-
internationale) für 1927/1928 in Höhe von 127.000 Rubel, mit dem Einverständnis von Narkomfin.44
Ebenfalls am 10.5.1928 wurde der Entwurf des Komintern-Programms von Bucharin und Stalin vom
Politbüro der KP der Sowjetunion als Grundlage gutgeheißen. Beide wurden aufgefordert, das mit
ihrer Unterschrift versehene Programm der Programmkommission der Komintern zur Diskussion zu
unterbreiten sowie allen Mitgliedern des ZK und des Präsidiums der Exekutive der KI zuzusenden.45
Das sowjetische Politbüro beschäftigte sich am 17.5.1928 mit den Beratungen der Taktikkommission
in Verbindung mit den Verteidigern im Šachty-Prozess. Krylenko und Jagoda wurden aufgefordert,
eine Person auszuwählen, die die Verhandlungen führen sollte. Als dritter Punkt sollte der Distrikt
Artemovsk zwei weitere Vertreter der öffentlichen Anklage zugeteilt erhalten.46
Am 17.5.1928 beschloss das sowjetische Politbüro ebenfalls, den deutschen Metallspezialisten Ker-
ner in die Arbeiter- und Bauerninspektion (RKI) einzuladen und ihm entsprechend seiner Anfrage den
höchstmöglichen Lohn zu bezahlen.47
Ebenfalls genehmigte das Politbüro der KP der Sowjetunion die Reise von Ja. K. Jaglom und A. N. Udarov
zu einer Konferenz der Freunde der Sowjetunion, die vom 27.–28.5.1928 in Köln stattfand, auf der die
Bildung eines Internationalen Komitees der Freunde Sowjetrusslands beschlossen werden sollte.48
42 In der Anklageschrift hieß es u.a., dass „die Organisation der Saboteure über ziemlich verzweigte
und ernste Verbindungen mit dem Ausland [...] von rein politischem Charakter verfügte. Letzteres
gilt besonders für verschiedene polnische und französische offizielle Organe.“ (Internationale Presse-
Korrespondenz 8 (1928), 51, S. 931).
43 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 78. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 519–524.
44 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 90.
45 RGASPI, Moskau, 17/3/686, 7. Publ. in: Ibid., S. 524–526.
46 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 87.
47 RGASPI, Moskau, 17/3/687, 33.
48 RGASPI, Moskau, 17/3/687, 9.
Dok. 184: Moskau, 10.5.1928 615
Am 19.5.1928 wurden im Politbüro der KP der Sowjetunion die Modalitäten des Aufgehens der Repu-
blik der Wolgadeutschen im Bezirk Nieder-Wolga erörtert.49
Dem Zentralen Rat der Sowjetgewerkschaften, der über eine geheime für die Auslandsarbeit zustän-
dige Abteilung verfügte, wurde vom Politbüro der KP der Sowjetunion für den Zeitraum vom 1.10.1927
bis zum 1.10.1928 eine Summe von 32.000 Dollar bewilligt. Zur 1896 gegründeten, von der Komintern
unabhängigen Internationalen Transportarbeiter-Föderation hieß es in dem betreffenden Beschluss:
„Angesichts der besonderen Bedeutung, die der Transportarbeiter-Internationale im Falle eines Krie-
ges gegen die UdSSR zukommt, ist es ausnahmsweise als zulässig anzuerkennen, die Transportar-
beitergewerkschaft der UdSSR in die oben genannte Internationale eintreten zu lassen, wobei das
Hauptziel dieses Eintrittes in der gegebenen Phase die Aufklärung ist.“50
Ebenfalls am 24.5.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, die linkszionistische Jü-
dischen Kommunistischen Arbeiterparteipartei Poalei Zion („Arbeiter Zions“/ EKRP) außerhalb des
Gesetzes zu stellen, die sich ausgehend von Russland seit Ausgang des 19. Jahrhunderts gegen den
antizionistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund gebildet hatte. Mitglieder und Sympathisan-
ten wurden von der OGPU verhaftet.51
Ebenfalls am 24.5.1928 ermächtigte das Politbüro die Komintern-Sekretäre Pjatnitzki und Trilisser,
„B. K.“ so schnell wie möglich nach Moskau zu holen.52
Am 31.5.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion auf Vorschlag von Vorošilov, deutsche
Offiziere zu Manövern der Roten Armee als Beobachter zuzulassen, wobei dieser Schritt auf „Gegen-
seitigkeit“ beruhen sollte.53
Am 2.6.1928 ließ das Politbüro der KP der Sowjetunion auf Vorschlag von Stalin und Bucharin die
„ungerechtfertigten“ Anklagen seitens der KP Großbritanniens (Harry Pollitt) in scharfem Ton zurück-
weisen: Der Beschluss des Politbüros, eine gewisse Anzahl von britischen Mitarbeitern sowjetischer
Institutionen von ihrer Arbeit zu befreien, wurde bestätigt. Weiter sollten Probleme, die sich im Pro-
zess der Trennung zwischen sowjetischer und Kominternarbeit ergeben hatten, von der „Janson-Kom-
mission“ definitiv liquidiert werden.54
Am 7.6.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion auf Vorschlag von Pjatnitzki und Bucha-
rin, als Berichterstatter über „die russische Frage“ auf dem VI. Weltkongress der Komintern Eugen
Varga für den ökonomischen Teil und Dimitrij Manuilski für den Bericht über die interne Situation in
der Partei zu bestätigen. Zugleich wurde Bucharin für zwei Wochen von jeglicher Arbeit befreit, um
sich auf den Kongress vorzubereiten.55
Am 14.6.1928 wurde nach einem Bericht Bucharins als Reaktion auf die Reichstagswahlen in Deutsch-
land und die Bildung des Kabinetts der großen Koalition unter Einschluss der SPD vom Politbüro
der KP der Sowjetunion für die Zukunft die Durchführung einer „reservierteren“ Politik gegenüber
Deutschland beschlossen. Das NKID wurde aufgefordert, in diesem Sinne weitere Maßnahmen zu ent-
wickeln und vor allem Material für die Regierungszeitung Izvestija zusammenzustellen.56
Dok. 185
Aus einem Brief Remmeles an Leo Flieg über die Lage in der KP der
Sowjetunion
[Moskau], 30.6.1928
30.6.[19]28
seine Stellungnahme zum Leninbund lebhaft zum Ausdruck gekommen ist.61 Wieweit
diese Dinge bei uns eine Wirkung haben, ist abzuwarten. Jedenfalls dürften bei uns
aber eine Reihe ehemaliger Oppositioneller zur versuchsweisen Wiederaufnahme in
Frage kommen. Ich denke hierbei z.B. a) an solche Leute, die sich von der Opposition
innerlich schon losgelöst haben, wie z.B. Schwan und einfache Arbeiter, die wieder
zurückwollen zur Partei; b) an solche Leute wie Schlecht, Schimanski etc. unter der
Voraussetzung, dass sie sich grundsätzlich von Maslow, Ruth Fischer trennen. Für
die Aufnahme in die Partei kommen nach meiner Überzeugung nicht in Frage, a) die
Führer der Opposition, wie Maslow, Ruth Fischer, Scholem, Urbahn[s], auch dann
nicht, wenn sie sich, wie das bei der Spaltung des Leninbundes geschehen ist, von
ihrer oppositionellen Stellungnahme abwenden; b) solche verworrenen Elemente,
mit denen die Partei jedenfalls nichts mehr anfangen kann, wie Riese, Grylewitz
[d.i. Anton Grylewicz], Weber, Hesse, Kögler und ähnliche. Man muss also bei dieser
Suche sehr vorsichtig Auswahl treffen und die Leute wieder aufnehmen, die wirk-
lich vollkommen kuriert sind, dabei aber unterscheiden zwischen solchen Leuten,
die ihrer ganzen Natur und ihrem Wesen nach nicht gute disziplinierte Kommunisten
werden können. Vor allen Dingen muss man sich davor hüten, dass durch die Auf-
nahme solcher Oppositioneller wieder eine Situation geschaffen wird, bei der evtl.
nach 2 Fronten hin gekämpft werden müsste. Die Hauptgefahr ist jetzt die Rechtsge-
fahr, und das habt Ihr ja jetzt gründlich in Erfahrung gebracht.
Die Gegensätze in der VKP(b) bestehen nach wie vor zwischen der Hauptlinie
St[alin], die eine gründliche Aufräumungsarbeit im Staats- und Parteiapparat durch-
führen will, und der Rechten, die an Anzahl stärker sind als die der Hauptlinie, die
auf diesem Wege nur schwankend folgt oder gar Verhinderung betreibt. Diese Gegen-
sätze bestehen in fast allen Fragen, wie in der Frage der Organisierung des Kampfes
im Dorfe gegen die Kulaken und in der Industrie gegen die sabotierenden Spezialisten
etc. Der Kampf geht augenblicklich um die Frage der Selbstkritik, die oftmals unter
einem Mantel auftritt, bei dem Gegensätze zum Ausdruck kommen. Man kann im
allgemeinen nicht sagen, dass sich die Gegensätze verschärft haben und die Linie,
die ST[alin] in einem Referat angegeben hat, in dem er betont, dass es sich zwar
um Gegensätze handelt, die aber nicht den Charakter prinzipieller Gegensätze, wie
damals bei der Opposition, tragen, sondern sich nur auf der Linie taktischer Diffe-
später. Radek, der als Direktor der der Sun-Yatsen-Universität in Moskau Wortführer der Opposition in
der Chinapolitik war, wurde auf dem 15. Parteitag ausgeschlossen. Er „kapitulierte“ erst im Juli 1929.
61 Trotzki warnte sowohl vor separaten Wahllisten der „linken Kommunisten“, als auch der Grün-
dung eines „Bundes linker Kommunisten“. Ein solcher könnte leicht zu einer zweiten Partei werden
und den prioritären Kampf innerhalb der KPD behindern: „Der Name der Opposition ist populär
genug und hat internationalen Charakter.“ (Leo Trotzki: Zur Arbeit der internationalen Linken Oppo-
sition. In: Dahmer/Feikert/Lauscher: Trotzki. Schriften, 3, S. 1160–1166, hier S. 1162f.). Ähnliche Vor-
würfe wurden von anderen sowjetischen Oppositionellen, so auch Radek und Sinowiew geäussert.
Unterdessen waren die Vorbereitungen zur Gründung des Leninbundes im Gange, die Gründungs-
konferenz fand am 8./9.4.1928 statt (Zimmermann: Der Leninbund, S. 109–110 u.a.).
618 1924–1929
renzen bewegen, also Gegensätze, die nicht bedeuten, einem Kampf um Machtfragen
oder andere Verschärfung, ist richtunggebend.62 [...]
Der Schachty-Prozess bedeutet nur den ersten Auftakt für eine Reihe von Maß-
nahmen, die besonders in Industrie und Handel gründlich durchgreifen. Auch in der
Agrarpolitik ist eine scharfe Wendung erfolgt, so z.B. werden die großen Sowjetgüter,
die bisher größtenteils an Kulaken auf einzelne Stücke verpachtet waren oder die in
ihrer größten Ausdehnung brachlagen, mit einer umfassenden maschinellen Organi-
sation nahezu restlos unter den Pflug genommen. Auch wurden [eine] große Anzahl
von Kulakengütern oder einzelne Parzellen, die die Kulaken gepachtet hatten, zu Sow-
jetgütern zusammengelegt und werden jetzt gleichfalls einheitlich bearbeitet. Damit
soll erreicht werden, dass die Getreidebeschaffung sowie überhaupt die Beschaffung
der landwirtschaftlichen Produkte von unsicheren Elementen des individuellen Bau-
erntums unabhängig gemacht wird und die Agrarwirtschaft in eine Planwirtschaft
verwandelt wird.63 [...]
Mit allen diesen Fragen wird sich das jetzige Plenum des ZK befassen.64 Das
Plenum beschäftigt sich mit folgender Tagesordnung:
62 Tatsächlich hatte Stalin die „rechte Opposition“ , besonders Bucharin als Protagonist und Nach-
folger Sinowjews als Leiter der Komintern durch allerlei Druckmittel bereits in seinem Sinne gefü-
gig gemacht (siehe: A.G. Löwy: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Leben und Werk Nikolai Bu-
charins, Neuauflage, Wien, Promedia, 1990; Wladislaw Hedeler, Ruth Stoljarowa: Nikolai Bucharin.
Leben und Werk, Mainz, Decaton Verlag, 1993; Marjan Britovsek: Der Endkampf mit Stalin im Jahre
1929. In: Theodor Bergmann, Gerd Schäfer (Hrg.): „Liebling der Partei“. Bucharin - Theoretiker des So-
zialismus. Beiträge zum internationalen Bucharin-Symposium Wuppertal 1988, Marburg, VSA, 1989,
S. 61–70; Bernhard H. Bayerlein: Nikolaj I. Bucharin an der Spitze der Kommunistischen Internatio-
nale. Eine Bestandsaufnahme anhand der Humbert-Droz-Archive, ibid., S. 83–100; F.I. Firsov, A. Ju.
Vatlin; E.A. Parchomenko (Red.): N. I. Bucharin i Komintern, Moskva, 1989.
63 Euphemistisch umschreibt hier Remmele die unmittelbare Vorgeschichte der Zwangskollekti-
vierung, die mit der Getreidebeschaffungskampagne 1927/28 einsetzte. Die Vorsorgungskrise jenes
Winters wurde von der Stalin-Führung dahingehend gedeutet, dass die als „Kulaken“ denunzierten
wohlhabenderen Bauern beträchtliche Getreidereserven zwecks „Spekulation“ anhäufen würden.
Im Januar 1928 wies der Generalsekretär die lokalen Parteiorganisationen an, „außerordentliche“
Maßnahmen bei der Bekämpfung solcher „Spekulation“ einzusetzen. Diese Zwangsmaßnahmen be-
deuteten einen Rückschritt zu den Methoden der Bürgerkriegszeit und „pervertierten den ‚Verkauf’
von Getreide endgültig zu einer kaum verhüllten neuerlichen Requisition“ (Hildermeier). Zugleich
lancierte das Regime ab dem Frühjahr 1928 eine Kampage für eine Ausweitung der Aussaatflächen
und intensivierte die Propagierung von kollektiven Landwirtschaftsbetrieben (Kolchosen), zunächst
noch auf freiwilliger Basis. 1929–1930 schließlich nahm die Kollektivierung der Landwirtschaft einen
flächendeckenden und durchgehend zwangbehafteten Charakter an. Siehe: Manfred Hildermeier:
Geschichte der Sowjetunion, S. 377ff.
64 Siehe hierzu auch die hier veröffentlichten Beiträge Bucharins und Stalins zum Kominternpro-
gramm (Doks. Nr. 186 und 187).
Dok. 185: [Moskau], 30.6.1928 619
Das Politbüro der KP der Sowjetunion konkretisierte am 21.6.1928 die Ziele im Verhältnis zu Deutsch-
land. Gegenüber Čičerin wurde betont, dass nicht ein Aufruf an die deutsche Regierung beschlossen
worden sei, es gehe vielmehr um Vorschläge zur Neuorientierung der Staatspolitik der Sowjetunion
im Falle der Bildung der neuen Regierung der großen Koalition sowie der zu diesem Anlass notwen-
digen konkreten Schritte.65
Per Umfrage der Politbüro-Mitglieder wurde am 25.6.1928 auf Antrag Bucharins beschlossen, Manu-
ilski mit dem Bericht über den Kongress der Komintern auf dem ZK-Plenum zu beauftragen. Über das
Programm der Komintern sollte jedoch nach wie vor Bucharin sprechen.66
Auf Vorschlag von Pjatnitzki beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion am 27.6.1928, die Eröff-
nung des VI. Kongresses der Komintern um 8–10 Tage zu verschieben.67
Das Politbüro der KP der Sowjetunion fasste am 28.6.1928 auf Antrag Pjatnitzkis einen Geheimbe-
schluss, den VI. Weltkongress der Komintern im Haus der Gewerkschaften in Moskau abzuhalten.
Zugleich wurde auf Antrag Lozovskijs beschlossen, den streikenden griechischen Tabakarbeitern auf
konspirativem Wege 10.000 Rubel zukommen zu lassen.68
Auf Vorschlag des Revolutionären Militärrates der Sowjetunion wurde am 2.7.1928 vom Politbüro
der KP der Sowjetunion die Entsendung einer Delegation zu Militärmanövern der Reichswehr nach
Deutschland beschlossen, bestehend aus ranghohen Kommandeuren der Roten Armee, darunter die
im Großen Terror hingerichteten Iona Jakir, Robert Ejdeman, Ivan Fedʼko und Ieronim Uborevič.69
65 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 106. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 174–175.
66 RGASPI, Moskau, 17/3/693, 6.
67 RGASPI, Moskau, 17/3/693, 7.
68 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 110–111. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 533–534.
69 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 113; APRF, Moskau, 3/64/655, 90. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin,
II, Dok. 88.
620 1924–1929
Dok. 186
Aus dem Referat Bucharins auf dem Plenum des ZK der KP der
Sowjetunion über den Programmentwurf der Komintern und die
Kriegsabsichten der Sozialdemokratie
Moskau, 5.7.1928
[BUCHARIN:] Während der letzten Jahre ging eine umfangreiche ideelle Umgruppie-
rung innerhalb des Reformismus vonstatten. Die Sozialdemokratie ging von den Posi-
tionen einer maskierten Verteidigung des Kapitalismus zum aktiven Aufbau des Kapi-
talismus über, [...].
Ich versuche es [das Programm der Labour-Partei] näher zu erläutern, um unser
Programmprojekt mit den Projekten unserer Gegner zu vergleichen, was meiner
Meinung nach nicht überflüssig ist, denn schon der heilige Augustinus hat gesagt,
dass das Böse dafür geschaffen ist, das Gute durch den Kontrast hervortreten zu
lassen (Gelächter).70
BUCHARIN: Das Böse existiert, um das Gute durch Kontrast hervortreten zu lassen.
Denn in der Sprache der Logik sind es korrelative Begriffe: wenn es das Böse nicht
gäbe, gäbe es auch nicht das Gute. [...]
70 Die Programmdebatte auf dem VI. Weltkongress der Komintern geriet (zunächst unbemerkt) zum
Spektakel des innerparteilichen Machtkampfes in der VKP(b). Die grundsätzlichen politisch-inhaltli-
chen Dissenzen und die Kritik wegen des allzu russischen Charakters des Programmentwurfs wurden
entweder nicht veröffentlicht oder erfolgten hinter dem Rücken der Delegierten. Zu den folgenschwer-
sten programmatischen Punkten gehörten das Konzept des Sozialismus in einem Land bzw. der We-
senscharakter der „Revolution der UdSSR“ nicht als „national isolierte“, sondern als „internationale
Revolution“ (Stalin), die Einschätzung der Sozialdemokratie (auf dem Weg zum “Sozialfaschismus“),
sowie die strategische Einschätzung der kapitalistischen Krise als das Ende der kapitalistischen Sta-
bilisierungsperiode. In die den VI. Weltkongreß (17.7.1928–1.9.1928) vorbereitende Programmkommis-
sion, in der ursprünglich neben Bucharin Skrypnik, Winternitz-Lenz, Humbert-Droz und der spätere
Meisterspion Sorge mitarbeiteten, wurde seitens des sowjetischen Politbüros Molotov als Stalin-Ver-
trauter abgestellt, um gegen den Einfluss des „verweichlichten“ Bucharin den Programmentwurf zu
redigieren (siehe den Beschluss des Politbüros, Dok. 16.8.1928 PB und den Brief Molotovs an Stalin
vom 24.8.1928 ). Auf dem Höhepunkt des internen und verdeckt geführten Kampfes, der mit der Ver-
drängung Bucharins endete, ließ der Seniorenkonvent des VI. Kongresses öffentlich erklären, dass es
in der sowjetischen Führung keinerlei Divergenzen gebe (siehe u.a.: McDermott/Agnew: The Comin-
tern, S. 76ff.).
Dok. 186: Moskau, 5.7.1928 621
Das Programm der deutschen Sozialdemokratie [...], wie es auf dem Heidelberger
Parteitag angenommen wurde,71 beschränkt sich in seinem prinzipiellen Teil auf zwei
kleine Blättchen. Der Imperialismus wird dort nur einmal erwähnt, und das auch
nur nebenbei – „die Imperialisten streben die Macht an“.72 Was die Entwicklung des
modernen Kapitalismus angeht, so findet sich dort eine wahrhaft klassische Phrase.
Die Entwicklung in Richtung des Monopolkapitalismus beschreibend, besagt das in
Heidelberg angenommene Programm der deutschen Sozialdemokratie, die Kapitalis-
ten seien „bestrebt“, sich die Resultate des gesellschaftlichen Prozesses anzueignen
und für sich zu monopolisieren. So heißt es im Wortlaut: „bestrebt!“73
Aus dieser Charakteristik ergibt sich, dass die Kapitalisten, wie es sich „her-
ausstellt“, gegenwärtig nicht die Monopolbesitzer der modernen Unternehmen und
Aneigner des Mehrwertes sind, – sie, so „stellt es sich heraus“, sind bloß „bestrebt“,
„versuchen“ diesen Mehrwert zu bekommen. Allein schon diese kleine Formel wirft
ein grelles Licht auf die gesamte theoretische Position der Sozialdemokraten. Selbst-
verständlich fällt darin kein Wort über die UdSSR, über die Diktatur des Proletariats
usw. [...]
Ich könnte noch viele andere Passagen zitieren und eine lange Reihe solcher
„theoretischen“ Kuriositäten aufzeigen, doch sind diese „Kuriositäten“ so kurios gar
nicht, wenn man sie aus dem Blickwinkel der politischen Praxis betrachtet. Aus dem
Blickwinkel der politischen Praxis bedeutet dies die Schüsse der Sozialdemokratie
auf Wiener Arbeiter.74 [...] Die Sozialdemokratie, die von uns schon bei Ausbruch des
imperialistischen Krieges berechtigterweise als Agentur des Imperialismus bezeich-
net wurde, wurde nun zu unserem boshaften henkerischen Feind, dessen ganze
71 Der Heidelberger Parteitag der SPD hatte vom 13.-18.9.1925 stattgefunden. Siehe: Klaus Schönho-
ven: Der Heidelberger Programmparteitag von 1925. Sozialdemokratische Standortbestimmung in der
Weimarer Republik, Heidelberg, Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, 1995 (Kleine
Schriften. 23).
72 Bucharin gibt hier eine ungenaue Übersetzung der entsprechenden Passage im Heidelberger
SPD-Programm. Der tatsächliche Wortlaut ist: „Dieses imperialistische Machtbestreben bedroht die
Gesellschaft ständig mit Konflikten und mit Kriegsgefahr.“ (Sozialdemokratischer Parteitag 1925 in
Heidelberg. Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin, Dietz, 1925, S. 6).
73 Im bis zum Godesberger Programm (1959) gültigen Heidelberger Parteiprogramm der SPD, das von
Rudolf Hilferding und Karl Kautsky mitverfasst wurde, lautet die Originalpassage: „Mit der Entwick-
lung der Technik und der Monopolisierung der Produktionsmittel wächst riesenhaft die Produktivität
der menschlichen Arbeit. Aber Großkapital und Großgrundbesitz suchen die Ergebnisse des gesell-
schaftlichen Arbeitsprozesses für sich zu monopolisieren. Nicht nur den Proletariern, sondern auch
den Mittelschichten wird der volle Anteil an dem materiellen und kulturellen Fortschritt vorenthal-
ten, den die gesteigerten Produktivkräfte ermöglichen.“ (Ibid., S. 5).
74 Bucharin spielt auf den Aufstand der Wiener Arbeiter gegen die Heimwehren am 15.7.1927 an, bei
dessen Niederwerfung 80 Menschen starben und mehrere Hunderte verletzt wurden. Siehe hierzu:
Alexander Watlin: Ein unbegriffenes Signal. Die Wiener Ereignisse vom 15. Juli 1927 in der Bewertung
der Komintern. In: Id.: Die Komintern. 1919–1929. Historische Studien. Mit einem Vorwort von Fried-
rich I. Firsow, Mainz, Decaton Verlag, 1993 (Studien zur Geschichte der Komintern. 1), S. 135–160.
622 1924–1929
Bosheit man in keinem Falle unterschätzen darf, und es ist völlig unangebracht, sich
hier irgendwelchen Illusionen hinzugeben.
Für die ZK-Mitglieder merke ich außerdem an, dass in letzter Zeit, im Laufe der
Zunahme der Spannungen zwischen der UdSSR und der Hindenburg-Republik, Hil-
ferding, der theoretische Vordenker der deutschen Sozialdemokratie und höchst ein-
flussreiche Theoretiker der 2. Internationale, in der geschlossenen Kommission des
Reichstages zu auswärtigen Angelegenheiten eine Haltung unter Beweis stellte, die
uns im Grunde mit der allergrößten Klarheit aufzeigt, was die Sozialdemokratie im
Falle eines Krieges tun wird. Er sagt, es gäbe noch eine ganze Reihe von „Unstimmig-
keiten“ innerhalb der kapitalistischen Staaten, und dies, zu einem großen Teil, weil
ein solch großer Wirtschaftskörper wie die UdSSR nicht an den Kollektivorganismus
der Weltwirtschaft angeschlossen sei. Sie sei deswegen nicht angeschlossen, weil die
sowjetischen „Usurpatoren“ in den Außenhandelsbeziehungen ein Außenhandels-
monopol praktizierten. Dies, sagt Hilferding, sei eine Barriere, dank derer sich die
Arbeitslosigkeit unter deutschen Arbeitern verstärke. Deswegen sei es im Interesse
der Arbeiter, diese Barriere zu brechen. Ich gebe die Worte des Herrn Hilferding nicht
ganz genau wieder, verbürge mich jedoch absolut für ihren Sinngehalt. Noch haben
wir keinen Krieg, und wir können nicht sagen, wann er kommen wird, doch ist hierin
nicht bereits eine ausnehmend konkrete theoretische Begründung eines Krieges
gegen die UdSSR gegeben, mit einer „Legitimierung“ durch die Arbeiterklasse, einer
höchst niederträchtigen Legitimierung?! [...]
Ich bleibe noch bei einer Reihe von Fragen, die ebenfalls mit den Veränderungen
am ehemaligen Entwurf [des Programms] zusammenhängen.
Die erste Frage ist die Frage der Sozialdemokratie und des Faschismus. Wir haben
den die Sozialdemokratie betreffenden Teil des Programms vergrößert und uns dabei
nicht auf die allgemeinen summarischen Aussagen betreffs sozialdemokratischer
Theorie und Praxis beschränkt. [...] Viele fragen uns, wieso die Sozialdemokratie
immer noch als starke politische Kraft existiert. Was ist, zum Beispiel, mit Deutsch-
land: ein Land ohne Kolonien, was für ein Mehrprodukt soll es haben? Die Sozialde-
mokraten jedoch erhalten bei den Wahlen 9 Millionen Stimmen und spielen allge-
mein die Führungsrolle in der Gewerkschaftsbewegung.
Dem liegt das Faktum zugrunde, dass ein hochtechnisiertes Land sogar ohne
Kolonien einen Differentialgewinn durch Tausch erzielt und auf diesem Wege andere
Länder ausbeutet. Andererseits spielt hier eine große Rolle, dass in den kapitalisti-
schen Ländern ein Prozess des Zusammenwachsens einer ganzen Schicht der Arbei-
terbürokratie mit den Organen des bürgerlichen Staates vor sich geht. [...]
Übrigens muss ich Ihnen, Genossen, sagen, dass ungefähr dasselbe auch im
Faschismus vorgeht. [...] Mit dem Faschismus verhält es sich nicht so einfach, als
handele es sich bloß um nackte Gewalt und sonst nichts. Faschismus ist eine kombi-
natorische Methode, die sich auf Korruption einschließlich einiger kleinbürgerlicher
Schichten und sogar eines kleinen Teils der Arbeiterklasse stützt.
Dok. 186: Moskau, 5.7.1928 623
BUCHARIN: Ja, in Deutschland ist dieser Prozess besonders stark ausgeprägt, und in
Österreich auch. Ich werde diese Thematik nicht weiter erörtern. [...]
Wir müssen unbedingt eine Reihe von Büchern gegen die traditionelle chinesi-
sche Philosophie, gegen Sun-Yat-Senismus, gegen Gandhismus herausbringen, gegen
einige besonders hartnäckige Angewohnheiten, gegen die besondere Denkweise einer
breiten Schicht unserer Genossen im Osten. Ich muss sagen, dass wir in China und in
Indien gelegentlich auf einen besonderen Denktypus stoßen, der mit einer fremden
Geschichte und einer fremden Kultur verbunden ist. [...] So spricht man manchmal
mit chinesischen Genossen. In welcher Weise betrachten sie häufig ihre Probleme?
Sie erkennen des Öfteren das Problem nicht anhand dessen, wie der reale Lauf der
Dinge verläuft, sondern anhand einer formallogischen Analyse der Begriffe. [...]
BUCHARIN: [...] Wir haben einen vollkommen berechtigten Kampf gegen den Oppor-
tunismus in China begründet. Doch muss man wissen, was dort auf diesem Gebiet
passiert. So bildete sich zum Beispiel in der Organisation von Guangdong ein Grüpp-
chen chinesischer Genossen heraus, die daraufhin beschlossen, dass die Führung
in diesem Bezirk opportunistisch sei. Augenblicklich besorgen sie sich Waffen und
wollen diese Führung ausrotten.
75 Der als Vater der chinesischen Republik bis heute verehrte Sun Yat-Sen war neben den von ihm
proklamierten „Drei Prinzipien des Volkes“ (die selbsbestimmte Volksgemeinschaft, die demokrati-
schen Rechte des Volkes, und der Wohlstand des Volkes) für seine pazifistischen Überzeugungen be-
kannt (Johannes Chang: Sun Yat-sen. Seine Lehre und seine Bedeutung. In: Jahrbuch für christliche
Sozialwissenschaften (1960), S. 179–194 /www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/jcsw/article/
viewFile/443/414. In dieser Redepassage prophezeit Bucharin meisterhaft als Gleichnis die Säube-
rungsmethoden Stalins, verpackt in die China-Metapher, wohingehend Stalin sich darüber lustig
macht.
624 1924–1929
Dok. 187
Aus einer Rede Stalins über den russischen Charakter des
Programms der Komintern
Moskau, 5.7.1928
Gedruckter Text, russisch. RGASPI, Moskau, 17/2/375, 67–71. Zit. nach: Stalin: Werke, Bd. XI, S.
78–85. Auszug in russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S.
669–674.
[…] Die Frage des inneren Gehalts des Programmentwurfs. Es stellt sich heraus, dass
einige Genossen der Meinung sind, der Programmentwurf sei, was seinen inneren
Gehalt betrifft, nicht durch und durch international, da er, wie sie sagen, einen „zu
russischen“ Charakter trage. Ich habe hier derartige Einwände nicht gehört. Solche
Einwände werden aber, wie sich herausstellt, in manchen Kreisen rund um die Kom-
intern gemacht.
Was konnte den Anlass zu solchen Äußerungen geben?76
Vielleicht die Tatsache, dass es im Programmentwurf ein spezielles Kapitel über
die UdSSR gibt? Aber was kann daran schlecht sein? Ist etwa unsere Revolution ihrem
Charakter nach eine nationale und nur eine nationale Revolution, und nicht haupt-
sächlich eine internationale Revolution? Warum nennen wir sie dann die Basis der
revolutionären Bewegung der ganzen Welt, den Hebel der revolutionären Entwick-
lung aller Länder, das Vaterland des Weltproletariats?
Bei uns hat es Leute gegeben, zum Beispiel unsere Oppositionellen, die die Revo-
lution in der UdSSR77 für eine ausschließlich oder hauptsächlich nationale Revolu-
tion hielten. Sie haben sich dabei das Genick gebrochen. Seltsam, dass es, wie sich
herausstellt, um die Komintern herum Leute gibt, die bereit sind, in die Fußstapfen
der Oppositionellen zu treten.78
Vielleicht ist unsere Revolution ihrem Typ nach eine nationale und nur eine
nationale Revolution? Aber unsere Revolution ist eine sowjetische Revolution, die
Sowjetform des proletarischen Staates aber ist eine mehr oder weniger obligatorische
Form auch für die Diktatur des Proletariats in den anderen Ländern. Nicht umsonst
sagte Lenin, dass die Revolution in der UdSSR eine neue Ära im Geschichtsverlauf,
76 In einem Gespräch, das am 11. 7.1928 stattfand, sagte Bucharin zu Kamenev, dass er bereits „seit
einigen Wochen“ nicht mehr mit Stalin spreche. Dieser werde von der Gier aufgefressen, als Theore-
tiker anerkannt zu werden (Jurij G. Fel’štinskij (Hrsg.): Dva epizoda iz istorii vnutripartijnoj bor’by.
Konfidencial’nye besedy Bucharina. In: Voprosy istorii (1991), 2–3, S. 182–203, hier S. 196–197).
77 Interessanterweise benutzt Stalin nicht mehr den historischen Begriff der Oktoberrevolution, son-
dern spricht von der historisch unzutreffenden „Revolution in der UdSSSR“.
78 Stalin stellt hier die Einschätzung der Opposition unzutreffend dar, die die Oktoberrevolution im
Gegenteil als entscheidenden Schritt zur internationalen Revolution wertete.
Dok. 187: Moskau, 5.7.1928 625
die Ära der Sowjets, eröffnet hat. Folgt daraus nicht, dass unsere Revolution nicht
nur ihrem Charakter, sondern auch ihrem Typ nach hauptsächlich eine internationale
Revolution ist, die ein Bild dessen vermittelt, was im Wesentlichen die proletarische
Revolution in jedem Lande darstellen soll?
Es besteht kein Zweifel, dass der internationale Charakter unserer Revolution der
proletarischen Diktatur in der UdSSR bestimmte Verpflichtungen gegenüber den Pro-
letariern und unterdrückten Massen der ganzen Welt auferlegt. Lenin ging hiervon
aus, als er sagte, dass der Sinn der Existenz der proletarischen Diktatur in der UdSSR
darin besteht, alles nur Mögliche für die Entwicklung und den Sieg der proletarischen
Revolution in anderen Ländern zu tun. Was aber folgt daraus? Daraus folgt zumin-
dest, dass unsere Revolution ein Teil der Weltrevolution, die Basis und das Werkzeug
der revolutionären Bewegung der ganzen Welt ist.
Es besteht ebenfalls kein Zweifel, dass nicht nur die Revolution in der UdSSR
Verpflichtungen gegenüber den Proletariern aller Länder hat und sie erfüllt, sondern
dass auch die Proletarier aller Länder bestimmte, recht ernste Verpflichtungen gegen-
über der proletarischen Diktatur in der UdSSR haben. Ihre Pflicht ist es, das Prole-
tariat der UdSSR in seinem Kampf gegen innere und äußere Feinde zu unterstützen,
gegen einen auf die Erdrosselung der proletarischen Diktatur in der UdSSR gerichte-
ten Krieg zu kämpfen, den direkten Übergang der Armeen des Imperialismus auf die
Seite der proletarischen Diktatur in der UdSSR im Falle eines Überfalls auf die UdSSR
zu propagieren. Folgt daraus nicht, dass die Revolution in der UdSSR mit der revolu-
tionären Bewegung in anderen Ländern untrennbar verbunden ist, dass der Triumph
der Revolution in der UdSSR ein Triumph der Revolution in der ganzen Welt ist?
Kann man etwa nach alldem von der Revolution in der UdSSR als von einer ledig-
lich nationalen Revolution, als von einer isolierten, nicht mit der revolutionären
Bewegung in der ganzen Welt verbundenen Revolution sprechen?79
Und umgekehrt, kann man etwa nach alldem außerhalb des Zusammenhangs
mit der proletarischen Revolution in der UdSSR irgendetwas von der revolutionären
Bewegung der Welt verstehen?
Was für einen Wert hätte ein Programm der Komintern, das von der proletari-
schen Weltrevolution handelt, wenn es die Grundfrage, die Frage des Charakters und
der Aufgaben der proletarischen Revolution in der UdSSR, die Frage ihrer Pflichten
gegenüber den Proletariern aller Länder und der Pflichten der Proletarier aller Länder
gegenüber der proletarischen Diktatur in der UdSSR, überginge?
Daher bin ich der Meinung, dass die Einwände hinsichtlich des „russischen
Charakters“ des Programmentwurfs der Komintern ein, wie soll man das möglichst
gelinde sagen..., unschönes Gepräge, einen unangenehmen Beigeschmack haben.
79 Auch hier stellt Stalin die Einschätzung der Opposition falsch dar. Wie Lenin ging sie davon aus,
dass die russische Revolution als isoliert bleibende Revolution nicht überlebensfähig sei.
626 1924–1929
Dok. 188
Vorschläge von Josef Gutsche, August Mayer und Gerhard Schott
zur Verbesserung der militärpolitischen Arbeit der KPD
Berlin, 16.7.1928
Werte Genossen!
In der Anlage überreichen wir Euch Vorschläge zur militärpolitischen Arbeit der deut-
schen Partei, die wir auch bereits am 22. Mai d. Jahres dem Polbüro der KPD. überge-
ben haben, ohne bis heute eine Antwort erhalten zu haben.
Diese unsere Arbeit ist der Überzeugung entsprungen, dass die Erfahrungen der
bisherigen revolutionären Kämpfe der deutschen Arbeiterschaft, vom militärpoliti-
schen Gesichtspunkte aus gesehen, zu wenig beachtet wurden. Besonders trifft dies
unserer Auffassung nach auf die grossen Bewegungen des Jahres 1923 in Deutschland
zu.
Wir haben deshalb versucht, eine Reihe der wesentlichsten Lehren der deutschen
Partei auf militärpolitischem Gebiet in der vorliegenden Arbeit darzulegen.
Die bisherige M.-Arbeit in Deutschland litt in erster Linie daran, dass sie zu
wenig Massencharakter trug. Die M.-Arbeit, die von der Partei bis zum heutigen Tage
geleistet wurde, wirkte sich nicht genügend in der Partei und darüber hinaus in der
Arbeiterschaft aus. Das Bewusstsein ihrer prinzipiellen Notwendigkeit drang aus
kleinen Zirkeln, die zum Teil sehr wertvolle Arbeit geleistet haben oder zu leisten ver-
suchen, nicht genügend hinaus. Die Arbeit musste praktisch bedeutungslos bleiben,
weil nicht verstanden wurde, sie mit der gesamten politischen Arbeit der Partei aufs
engste zu verbinden. Gerade diese Arbeit jedoch hat nur dann eine Bedeutung, wenn
sie Massenarbeit wird.
Sollen die Losungen der Partei und der Komintern: „Kampf gegen Kriegsgefahr“,
„Verteidigung der Sowjetunion“ nicht nur Propagandalosungen bleiben, sondern
sollen sie der Aktivisierung der Partei und breiter Arbeiterschichten dienen, so
muss die Partei alle dazu notwendigen Arbeiten planmässiger in Angriff nehmen.
Der Gedanke der militärischen Schulung in der Partei ist nicht tot. Viele Genossen
beschäftigen sich heute in Deutschland ernsthaft mit militärischen Wissenschaften,
studieren die Geschichte der revolutionären Kämpfe. Diese wertvollen revolutionären
Kräfte finden jedoch in der Art und Weise, in der die Partei in den letzten Jahren diese
Fragen behandelt hat, keinen nennenswerten Stützpunkt zur Weiterentwicklung.
Zudem wird die Arbeit von gewissen verantwortlichen Genossen als persönli-
ches Monopol betrachtet. Von Bemühungen, die einzelnen wertvollen Kräfte und die
Dok. 188: Berlin, 16.7.1928 627
Qualität der Arbeit auf dem vorgenannten Gebiet ständig und planmässig zu fördern,
ihren Aktionsradius mehr und mehr zu erweitern, ist so gut wie nichts zu spüren.
Wir ersuchen die zuständige Kommission des VI. Weltkongresses, die anliegende
Arbeit zur Kenntnis zu nehmen und sie als Material zum Ausbau des deutschen und
internationalen militärpolitischen Aufgabengebietes zu benutzen.80 Im Gegensatz zu
der verbreiteten Auffassung, dass von der deutschen Partei auf diesem Gebiete nur
hervorragendes geleistet wird, sind wir der Auffassung, dass die Fassade den Kern der
Arbeit zu sehr in den Hintergrund treten lässt.
Wir weisen dabei besonders auf die Überschätzung des „Roten Frontkämpfer-
bundes“ als realen Kampffaktor hin. Der RFB. wird die M.-Arbeit in der Partei nie
ersetzen können.
Das von uns vorgelegte Memorandum ist bewusst einseitig gehalten. Es soll sich
nur der von der Komintern eingeschlagenen politischen Linie einfügen.
Am 16.7.1928 fasste das Politbüro der KP der Sowjetunion einen Geheimbeschluss, wonach der so-
wjetische Gewerkschaftbund 10.000 Rubel an das neu zu gründende Internationale Büro der Gesell-
schaften der Freunde der Sowjetunion spenden sollte. Explizit wurde dabei betont, dass offiziell keine
sowjetischen Organisationen an der Neugründung des Büros beteiligt werden dürften.81
Um einen nach außen hin „friedlichen“ und von den tatsächlichen Fraktionskämpfen unberührten
Ablauf des VI. Weltkongresses der Komintern zu erreichen, beschloss das Politbüro der KP der So-
wjetunion eine Reihe von Maßnahmen. Am 19.7.1928 stimmte es dem Vorschlag des ZK-Sekretariats
betr. der Zusammensetzung der russischen Delegation zu.82 Per Umfrage unter den Mitgliedern vom
20.7.1928 wurde beschlossen, die VKP(b)-Delegation auf dem VI. Weltkongress durch Vasilij Kotov,
Konstantin Uchanov, Martem’jan Rjutin und Vladimir Polonskij zu vervollständigen.83 Per Mitglieder-
Umfrage vom 23.7.1928 beschloss es eine Reihe weiterer Maßnahmen zur VKP(b) Delegation auf dem
bevorstehenden Weltkongress. Die russischen Delegierten wurden verpflichtet, ihr Verhalten exakt
mit der Delegation der VKP(b) im EKKI abzustimmen; eine Blockbildung wurde ihnen explizit unter-
80 Seit Mitte der zwanziger Jahre richtete sich die KPD-Militärpolitik zunehmend nach den Vorgaben
der sowjetischen Parteiführung. Nach der Rückführung des Apparats infolge der Niederlage des deut-
schen Oktober wurde das Schwergewicht auf die militärische Ausbildung der deutschen Kommuni-
sten in Moskau gelegt (M-Schulen), teilweise auch auf ihre Anbindung an die sowjetischen Geheimap-
parate. Ein Neuaufbau des “AM-Apparats“ erfolgte 1928/1929 unter der Leitung Hans Kippenbergers,
Teile des Apparats arbeiteten direkt unter russischer Kontrolle (Feuchtwanger: Der Militärpolitische
Apparat, S. 527; Wollenberg: Der Apparat, S.14f.; siehe ausführlich Dok. 233, 375A u.a.; vgl. die Zusam-
menfassung in Band 1, S. 312ff.).
81 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 114.
82 RGASPI, Moskau, 17/3/696, 7. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S.
534–535.
83 RGASPI, Moskau, 17/3/697, 7. Publ. in: Ibid., S. 538.
628 1924–1929
sagt. Angesichts der „unsinnigen Gerüchte“ über Fraktionskämpfe in der russischen Partei wurden
die Protagonisten der tatsächlich stattfindenden, realen Auseinandersetzungen, Stalin und Bucharin,
damit beauftragt, eine Widerlegung der Gerüchte zu verfassen, die der Seniorenkonvent des Kongres-
ses zu verlautbaren habe.84 Des Weiteren wurden die beiden Referenten zur Sowjetunion, Manuilski
und Varga, ermahnt, den Fokus ihrer Ausführungen auf die Bekämpfung der „trotzkistischen Oppo-
sition“ zu legen.85 Bereits am 1./2.6.1928 hatte Bucharin in einer Privatnotiz an Stalin geschrieben:
„Ich habe es dir bereits gesagt, dass ich nicht kämpfen werde und es auch nicht will. [...] Wenn wir den
Kongress [...] zu Ende bringen, bin ich bereit, mich ohne jegliche Schlägereien, absolut ohne Lärm
und Kampf, zurückzuziehen, wohin auch immer.“86
Am 26.7.1928 besprach das Politbüro der KP der Sowjetunion die Möglichkeit der UdSSR, am Kellogg-
Pakt teilzunehmen. Der amerikanischen Regierung, die vorher die Haltung der UdSSR durch den deut-
schen Botschafter zu sondieren suchte, sollte mitgeteilt werden, dass die UdSSR prinzipiell Interesse
hätte, jedoch vorher den Entwurf des Abkommens einzusehen wünschte.87 Bezüglich des Kellogg-
Paktes beauftragte das Politbüro am 2.8.1928 Čičerin, ein Interview zu geben, welches verlautba-
ren lassen sollte, dass die UdSSR nichts gegen den Pakt an sich habe, dieser jedoch grundlegender
Korrekturen bedürfe.88 Seitens der Sowjetunion erfolgte damit erstmals eine Öffnung in Richtung auf
vertragliche kollektive Sicherheitsvereinbarungen mit Großbritannien und den USA.
Am 1.8.1928 stimmte das Politbüro der KP der Sowjetunion über einen Vorschlag Stalins ab, ihn auf-
grund seiner Abreise in der deutschen und der polnischen Kommission des VI. Kongresses der Kom-
intern durch Molotov zu ersetzen.89
Das Politbüro der KP der Sowjetunion wies am 2.8.1928 das NKID an, eine größere Energie zu ent-
falten, was die Redaktion der zu veröffentlichenden Reden der russischen Kommunisten auf dem VI.
Weltkongress anging.90
Auf Antrag des Komsomol erlaubte es das Politbüro der KP der Sowjetunion darüber hinaus einer
Delegation aus drei Pionieren und einem Leiter, am Kongress des Jung-Spartakus-Bunds, der Kinder-
organisation der KPD, in Deutschland teilzunehmen.91
84 Die Erklärung des Seniorenkonvents „stellte klar“, dass es keine fraktionellen Auseinanderset-
zungen zwischen Stalin und Bucharin u.a. in der Führungsspitze der VKP(b) und auch keine voran-
gegangenen Intrigen Stalins gegeben habe. Beides traf allerdings nicht zu, das Gegenteil war der Fall.
Die Abhaltung des 6. Weltkongresses der Komintern beruhte damit auf einer manipulierten, vorge-
täuschten Grundlage (siehe auch: Fridrich Firsov u.a.: Die Komintern und Stalin. Sowjetische Histori-
ker zur Geschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin, Dietz, 1990, S. 96).
85 RGASPI, Moskau, 17/3/697, 7–8. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 538–539.
86 RGASPI, Moskau, 17/2/417, 93. Publ. in: Ibid., S. 538, Fn. 1.
87 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 116. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 174–175.
88 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 118–119. Publ. in: Ibid., S. 175–176.
89 RGASPI, Moskau, 17/3/698, 9.
90 RGASPI 17/3/698, 6, 7, 9, 10. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S.
539–541.
91 RGASPI, Moskau 17/3/698, 10.
Dok. 189: [Moskau], 20.8.1928 629
Am 2.8.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, auf Basis der Entscheidungen des VI.
Weltkongresses eine Massenkampagne bei den Arbeitern der UdSSR zu initiieren. Die Agitprop-Abtei-
lung des ZK wurde mit der Ausarbeitung der konkreten Maßnahmen betraut.92
Am 16.8.1928 behandelte das Politbüro der KP der Sowjetunion erneut diverse Angelegenheiten des
VI. Weltkongresses. Molotov wurde für 2–3 Tage von der laufenden Arbeit zurückgestellt, um am Kom-
intern-Programm zu arbeiten. Es wurde beschlossen, das Thema Einheit und Spaltung in das Schluss-
dokument des Kongresses zu integrieren. In der Frage der faktisch gespaltenen KP Polens wurde die
Einberufung einer russisch-polnischen Sitzung für notwendig befunden.93
Dok. 189
Interne personelle Vorschläge Stalins zum VI. Kominternkongress,
zur KPD und der Person Thälmanns
[Moskau], 20.8.1928
3) Dengel und Schneller aus Deutschland wegzuholen – darin liegt der Plan Ewerts
und seiner Gruppe. Dagegen hat Gen. Thälmann doch die ganze Zeit über gekämpft.99
Wie kommst Du zu dem Plan, einen von ihnen aus Deutschland abzuziehen und ihn
ins Politsekretariat [des EKKI] zu übernehmen? Was bleibt denn dann bei Thälmann
in Deutschland? Ich bin gegen einen solchen Plan, wenn er nicht zu vollen 100% von
Thälmann begrüßt wird.100
streng konspirative, revolutionäre Gruppe, wurde rasch zur Massenbewegung. „In its actions the
Bund presented a mixture of political criticism, revolutionary force, secular Jewish culture and – de-
pending on the time – militant resistance. It was not only a protagonist of the First Russian Revolution
1905, it also played a dominant role in the overall leftist movement under the last tsar, in Interwar Po-
land and under German occupation. After the Shoa (from 1947) the Bund persisted as a transnational
network with its headquarters in New York and bases all over the globe.“ (Frank Wolff: Historiography
on the General Jewish Labor Bund. Traditions, Tendencies and Expectations. In: Medaon. Magazin für
Jüdisches Leben in Forschung und Bildung (2009), 4, S. 1–12. http://www.medaon.de/pdf/M_Wolff-4-
2009.pdf). Der Bund positionierte sich gegen den Zionismus. Gegen die menschewistische formier-
te sich 1918/1919 eine kommunistische Strömung. Einige derer Protagonisten bildeten zusammen
mit linken Zionisten der Poalei Zion die Jüdische Sektion der RKP(b) („Jevsekcija“), die unter Stalin
Anfang 1930 aufgelöst wurde. Zahlreiche ehemalige Bundisten waren in der Komintern tätig. Siehe
auch: Frank Wolff: Kollektive Identität als praktizierte Verheißung. Selbstzuschreibung und Grup-
penkonstitution in der transnationalen sozialen Bewegung „Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund“.
In: Helke Stadtland, Jürgen Mittag (Hrsg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über
soziale Bewegungen in den Geschichtswissenschaften, Essen, Klartext, 2014, S. 139–167; siehe auch
die Forschungsseite http://www.bundism.net.
99 Stalins Urteil erweist sich hier als völlig unzutreffend. Die beiden Politbüro-Mitglieder stellten
sich kurz darauf während der “Thälmann-Wittorf-Affäre“ (siehe Dok. 201 u.a.) gegen den für sie un-
tragbar gewordenen Thälmann. Philipp Dengel (1888–1948) wurde 1931 nach Moskau abgeschoben,
nachdem er sich mehrmals gegen Thälmann gewandt hatte. Ernst Schneller (1890–1944) wurde auf-
grund seiner Opposition gegen Thälmann auf zweitrangige Posten in der KPD ageschoben
100 Bereits am 5.8.1928 schrieb Stalin an Molotov: „Wie ist die Sache Thälmann? Ist er zufrieden?“
(RGASPI, Moskau, 82/2/1420, 200–201v). In einer weiteren Botschaft an Molotov vom 28.8.1928 schrieb
Stalin sogar, Brandler, der Führer der „rechten“ Opposition der KPD, könne (wenn er es wolle) aus der
VKP(b) austreten und nach Deutschland fahren. Wie dem auch sei, man müsse „so handeln, wie
Thälmann es sagen wird.“ (RGASPI, Moskau, 82/2/1420, 223–224).
Dok. 189: [Moskau], 20.8.1928 631
4) Die Thesen von Kuusinen taugen leider nichts. Das sind keine Thesen, sondern
„Überlegungen“ darüber, wie gut es wäre, gute Thesen zur kolonialen Frage zu haben.
Morgen schicke ich ihm meine Anmerkungen, in Kopie an Dich.101 [...]
Nachdem sich Heinrich Brandler an das ZK der KPD gewandt hatte, um nach Deutschland zurückkeh-
ren zu können, übertrug das Politbüro der KP der Sowjetunion den Fall am 25.8.1928 an die VKP(b)-
Delegation in der Komintern.102
Am 25.8.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion die Durchführung eines „Internationa-
len Roten Tages“. Die konkrete Form der Durchführung sowie der Termin wurden dem Exekutivkomitee
der Komintern zur Entscheidung überlassen. In der Folge wurde in Anlehnung an sozialdemokratische
Antikriegskampagnen zur Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges der 1. August als Roter
Antikriegstag festgelegt.103
Am 6.9.1928 entschied das Politbüro der KP der Sowjetunion über die personelle Zusammensetzung
der Delegation der VKP(b) im Exekutivkomitee und in der Internationalen Kontrollkommission der
Komintern. Ebenfalls wurden weitreichende Entscheidungen über die Parteiführung der KP Polens
sowie die personelle Besetzung des EKKI getroffen (mit Knorin, Popov und Purman als neuen Mitglie-
dern) getroffen.104
101 Am 21.8.1928 schrieb Stalin einen entsprechenden Brief an Kuusinen, in dem er den Charakter
der Thesen „zur Frage der kolonialen und halbkolonialen Länder“ als zu allgemein kritisierte und
Detailvorschläge machte (Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 545–546).
102 RGASPI, Moskau, 17/3/701, 2. In russischer Sprache publ. in: Ibid., S. 548.
103 RGASPI, Moskau, 17/3/701, 2. In russischer Sprache publ. in: Ibid., S. 548–549.
104 RGASPI, Moskau, 17/162/6, 126; 17/3/703, 3–4. In russischer Sprache publ. in: Ibid., S. 552–555.
632 1924–1929
Dok. 190
Telegrafische Bewilligung der Komintern zur Abhaltung der
Reichsparteiarbeiterkonferenz der KPD
Moskau, 15. September 1928
SEKRETARIAT EKKI
Moskau, den 15. Sept 1928.
[unleserliche Unterschrift]
Nach einer Erklärung von Brandler erteilte das Politbüro der KP der Sowjetunion am 20.9.1928 Pjat-
nitzki den Auftrag, entsprechend dem Meinungsbild im Politbüro mit dem ZK der KPD zu sprechen und
die Frage nach Erhalt der Antwort des ZK der KPD erneut im Politbüro vorzulegen.107
Am 30.9.1928 unterrichtete Molotov Stalin über den Ausbruch der „Thälmann-Affäre“ in Deutschland
und wartete auf Instruktionen: „Chiffriert. An Stalin. Das ZK der KPD hat seinen Beschluss in der Pres-
se veröffentlicht. Darin wird Thälmann wegen der Geheimhaltung der Vorgänge um den Sekretär des
Bezirks Wasserkante verurteilt, welcher 1500 Mark unterschlagen hat. Das ist eine ganz gemeine po-
litische Intrige von Gerhart–Eberlein–Ewert gegen die Interessen der Partei und der Komintern. Die
Mehrheit des ZK hat den Kopf verloren und ist dem Kampf ‚gegen das Versöhnlertum bei Korruption‘
auf den Leim gegangen. All das ist ohne Wissen des EKKI, hinter seinem Rücken, geschehen. Jetzt sind
einige ZK-Leute aus Berlin in Moskau angereist. Mit einem Beschluss des EKKI warten wir natürlich
105 Eine Parteiarbeiterkonferenz der KPD fand aufgrund der Absetzung Thälmanns als Generalse-
kretär und der nachfolgenden bürokratischen Rückgängigmachung zunächst nicht statt (siehe Dok.
191 u.a.). Erst Mitte Oktober kam es überhaupt zu einer partiellen Öffnung der Parteidiskussion; als
der Parteiapparat wieder unter der Kontrolle der Thälmannfraktion war, wurde am 3./4.11.1928 in Ber-
lin die Parteikonferenz eröffnet. Sie proklamierte die „Liquidierung des Liquidatorentums“ (Weber:
Die Wandlung, S. 210ff.).
106 Der Seniorenkonvent trat auf dem VI. Welkongress der Komintern mit einer Erklärung hervor,
die unterstrich, dass von der Existenz von Meinungsverschiedenheiten in der russischen Führung
keine Rede sein könnte. Tatsächlich bildete der Kongress den Höhepunkt des bis zum persönlichen
Bruch führenden Dissenz zwischen Stalin und Bucharin (siehe hierzu auch den Politbürobeschluss
der VKP(b) vom 23.7.1928).
107 RGASPI, Moskau, 17/3/705, 1, 4. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.:
Politbjuro i Komintern, S. 559–560.
Dok. 191: Tuapse (Südrussland), 1.10.1928 633
auf Dich. Telegraphiere uns Deine erste Meinung, wenn Du kannst. Molotov. N 32 [...] 20.20 Uhr
30.IX.28“108
Dok. 191
Chiffrierte telegraphische Stellungnahme Stalins an Molotov über
den „Thälmann-Skandal“
Tuapse (Südrussland), 1.10.1928
Autograph, russisch. RGASPI, Moskau, 82/2/225, 71; RGASPI, Moskau, 558/11/72, 92–92b. In
deutscher Sprache publ. in: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 153–154. In russischer
Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 560–562.
An Molotov
Thälmanns Schuld wird dadurch gemildert, daß sein Fehler uneigennützig und von
dem Wunsch diktiert war, dem Hamburger Sekretär die Möglichkeit zu geben, sich
ohne Skandal zu korrigieren. Da ich nicht alle Materialien kenne, äußere ich nur
eine vorläufige Meinung, die sich bei Prüfung aller Tatsachen nach meiner Ankunft
in Moskau ändern kann. Erstens, Thälmann hat einen groben Fehler begangen, als
er das Vergehen des Hamburger Sekretärs dem ZK vorenthielt, wofür er mit dem
bekannten Beschluß des ZK seine Strafe erhalten hat.109 Zweitens, die Veröffentli-
chung des Beschlusses, noch dazu ohne Wissen der KI, ist ein feindseliger Akt gegen
die Partei und die KI, die nur den Kapitalisten und der Sozialdemokratie nützt.110
108 Autograph, russisch. RGASPI, Moskau, 558/11/72, 93–94. In deutscher Sprache publ. in: Weber/
Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 152.
109 Im September 1928 wurde Thälmann als Mitwisser einer Unterschlagungsaffäre von Partei-
geldern um seinen persönlichen Freund John Wittorf, dem Polsekretär des KPD-Bezirks Hamburg-
Wasserkante, überführt. Auf einstimmigen Beschluss setzte das Zentralkomitee den Parteiführer und
Stalinfreund ab. Bereits im Oktober wurde er jedoch auf Initiative Stalins und Molotovs bereits wieder
rehabilitiert. Nach der Schaffung des Ursprungsmythos Thälmanns infolge des Hamburger Aufstands
als „Gold der Arbeiterklasse“ wurde Thälmann gegen zumeist die Absetzung unterstützende Be-
schlüsse in der KPD als lebendiges Symbol der Treue zur Sowjetunion und damit ihrem Führer Stalin
in einem in der Komintern einzigartigen Roll-Back-Verfahren gerettet. Die Traditionen des deutschen
Kommunismus wurden endgültig zerschlagen und die Abwehrstrategie gegen den Nationalsozialis-
mus zu einem Sekundärphänomen (siehe die Chronologie der Ereignisse anhand der Dokumente aus
russischen Archiven: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal; vgl. dagegen das Thälmann-apolo-
getische Werk: Eberhard Czichon, Heinz Marohn: Thälmann. Ein Report, 2 Bde., Berlin, Verlag Wiljo
Heinen, 2010.
110 Der Beschluss wurde am 27.9.1928 in der Roten Fahne veröffentlicht (siehe: „Aus der Partei. Be-
schluss des ZK zu den Hamburger Vorgängen“, Die Rote Fahne, 27.9.1928). Der Antrag des ZK lautete
ursprünglich sogar auf einen Parteiausschluss von Thälmann, Wittorf und anderen aus der KPD, die
Neuwahl des ZK und die Behandlung des Falles Thälmann in aller Öffentlichkeit. Nach dem Beschluss
zur Absetzung sandte das EKKI eilends (wohl auf Initiative Stalins, bzw. Molotovs) den Komintern-
634 1924–1929
Dieser Akt ist vom hochgradigen Fraktionsgeist Ewerts und Gerharts diktiert, die die
Interessen ihrer Fraktion über die Interessen der Partei und der KI gestellt haben. Für
ihre Schuld sehe ich keinerlei mildernde Umstände. Ewert und Gerhart [d.i. Gerhart
Eisler] müssen aus dem ZK ausgeschlossen und aus Deutschland abberufen werden.
Stalin.
1.10.28, 3.00 Uhr
Station Tuapse
Dok. 192
Protokoll der Kominternkommission zur Untersuchung der
Unterschlagungen im Hamburger KPD-Bezirk
Moskau, 2.10.1928
Eberlein (Fortsetzung): Ich sagte den Genossen, dass das sehr unglaubwürdig sei, und
bat ihn [John Wittorf?] er möchte mir am Nachmittag noch einmal sagen, ob er nicht
wisse wo die Gelder herkommen. In der Zeit, als wir am Nachmittag die 1500 Mark-
Geschichte untersuchten, kam ein Gespräch. Ich wurde an den Apparat gerufen. Es
war ein Mann am Telefon, der fragte, ob Herr Eberlein am Apparat sei. Ich fragte, wer
er sei. Er antwortete, er könne mir seinen Namen nicht nennen, das sei zu gefähr-
lich. Er wisse jedoch, warum ich in Hamburg sei. Ich möchte nachforschen, wo die 3
000 Mark hergenommen seien, die aus der H[andels] V[ertretung] gegeben wurden.
Für uns war es klar, dass hier etwas vorlag, von dem nichts bekannt war. Wir gingen
zum russischen Konsul und fragten ihn, ob er wisse, dass einmal ein Betrag von 3
000 Mark an die Bezirksleitung [der KPD] gezahlt worden sei. Der Konsul war nicht
in Deutschland. Sein Vertreter wusste davon nichts. Wir frugen auch den dortigen
Handelsvertreter, aber auch er wusste nichts. Wir vernahmen noch einmal den Kas-
sierer des Betriebsrates und auch den Betriebsratsvorsitzenden der Angestellten in
der russischen H.V. Er log uns das Blaue vom Himmel herunter vor, bis ich sagte, er
wisse, dass Geld gegeben wurde und dass er es mit Wittorf versoffen habe. Ich drang
solange in den Genossen, bis er erklärte, er dürfe mir nichts sagen. Auf mein weiteres
Drängen, erklärte er, er habe ein Schweigegebot, er dürfe nicht reden. Ich sagte ihm,
dass es das in der Kommunistischen Partei nicht gibt und dass sich ein Mitglied des
Z.K. nicht auf ein solches Schweigegebot berufen könne, dass das unmöglich sei. Ich
entband ihn im Namen des Zentralkomitees von diesem Schweigegebot. Nach langem
Zögern sagte er endlich aus. Er sagte, dass er im August vorigen Jahres, kurz vor den
Wahlen mit einigen Genossen gesprochen habe, ob sie nicht einen Betrag von einem
Konto flüssig machen und der Partei zur Verfügung stellen könnten. Sie erhielten
auch den Betrag von 3 000 Mark. Dieser Betrag wurde auf dem Konto für die Kinder-
speisung in Sowjetrussland gebucht, und dieser Betrag von 3 000 Mark wurde dem
Sekretär Wittorf von dem Genossen Riess112 übergeben. Er habe eine Quittung bekom-
men, die Quittung sei von den russischen Genossen später vernichtet worden. Mit
Wittorf habe er besprochen, dass er den Betrag in Raten einzahlen solle, der Betrag
solle in der Presse quittiert werden. Der Genosse sagte aus, dass er Bedenken bekom-
men habe, ob das Geld auch abgeführt sei. Er habe sich später die alten Zeitungen
herausgesucht und festgestellt, dass Beträge in Höhe von 500, 400 und 550 Mark
abgeführt seien, dass aber 1 550 Mark fehlen. Diese Bedenken seien stärker gewor-
den, seit er im April dieses Jahres mit dem Genosse[n] Presche gesprochen habe. Er
habe den Genossen Presche113 gebeten, er möchte nachsehen, ob diese 3 000 Mark in
den Büchern stehen. Er sei zu Wittorf gegangen und habe ihm das erzählt. Und drei
Tage später war der Vorgang in der Kasse und der Hinauswurf des Kassierers [erfolgt],
Wittorf versuchte die Schuld auf den Bezirkskassierer abzuwälzen und schmiss den
Kassierer hinaus. Wir erfuhren, dass ausser Presche auch der Genosse Scheer [d.i.
John Schehr], der Orgsekretär des Bezirkes unterrichtet war. Auch Genosse Scheer hat
geleugnet. Erst als wir ihm die Tatsachen zeigten, gab er nach und erklärte, dass ihm
im April durch die Besprechungen mit Riese [Rieß] und Presche Zweifel gekommen
seien, ebenso auf Grund des Verhaltens von Dehmel,114 der schon öffentlich Wittorf
beschuldigt hatte. Auf Grund des Lebenswandels von Wittorf habe er Zweifel bekom-
men. Am 22. Mai sei eine Sitzung in der Wohnung von Presche gewesen, an der die
112 Ludwig (Louis) Riess (Rieß) (1893–1965) war ein Freund Thälmanns, er nahm sogar an der er-
weiterten Präsidiumssitzung des EKKI im Dezember 1928 teil, das alle Beschlüsse gegen Thälmann
zurücknahm.
113 Willy Presche (1888–1937?), absolvierte 1925 eine (Militär-?)schule in der Sowjetunion und war
Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft. Im Zusammenhang mit der Wittorf-Affäre kurze Zeit sei-
ner Funktion enthoben, wurde er dann durch Thälmann rehabilitiert.
114 Richard Dehmel war Kassierer des Hamburger Parteibezirks; er wurde von Thälmann als Sün-
denbock vorgeschoben und aus der Partei ausgeschlossen.
636 1924–1929
drei Genossen teil genommen haben und in der Wittorf gestanden habe, dass er das
Geld versoffen und verspielt habe. Er gab zu, dass auch ein zweiter Betrag von 300
Mark von ihm unterschlagen worden sei. Sie haben Schuldscheine ausgestellt, die
in der Wohnung von Presche versiegelt und aufbewahrt sind. Wir vernahmen dann
Wittorf, der bisher sehr energisch auftrat und erklärte, er würde jedem in die Fresse
hauen, der sagt er habe Unterschlagungen begangen. Nachdem wir ihm alle diese
Tatsachen vor Augen hielten musste er zugeben und bestätigen, dass er die Gelder
unterschlagen hat. [...]
Nachdem ich den Tatbestand festgestellt hatte, gingen wir zu dem Genossen
Thälmann, der auch in Hamburg war, in die Wohnung und berichteten ihm über das
Resultat der Untersuchung. Dabei sagten wir auch, dass die Genossen, die wir gefragt
hatten, auf Grund der Tatsachen, dass in der Presse auch der Name des Genossen
Thälmann genannt worden war, uns erklärt hätten, der Genosse Thälmann habe von
den Dingen nichts gewusst. Das sagten wir auch dem Genossen Thälmann. Genosse
Thälmann sagte uns, er habe nichts gewusst. (Zuruf Thälmann: Das ist eine Lüge). [...]
Dok. 193
Anweisung der Komintern an die KPD, den ZK-Beschluss der KPD
zur Absetzung Thälmanns nicht bekanntzugeben
Moskau, 2.10.1928
Kompartei Berlin
Bis zur Entscheidung EKKI keine Mitteilungen über Beschluss des Zeka zum Falle
Hamburg [handschriftl. Einschub: an Bezirke und Mitgliedschaft] Stop Keine Vertre-
tung des Zeka Beschlusses in Parteiorganen und Versammlungen vornehmen.115
Sekretariat EKKI
[handschriftl.:] 2/10 28
Kuusinen
115 Die Komintern-Instruktion liessen sich nicht mehr durchsetzen. In der Partei war ein äußerst leb-
hafter, durch die Veröffentlichungen in der linkskommunistischen und sozialdemokratischen Presse
geförderter Diskussionsprozess entstanden (Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 191ff. u.a.).
Dok. 194: Moskau, 6.10.1928 637
Am 4.10.1928 stimmte das Politbüro der KP der Sowjetunion einem Resolutionsentwurf des EKKI-Prä-
sidiums über die KP Deutschlands zu. Es beauftragte eine von Molotov, Pjatnitzki und Kuusinen ge-
bildete Kommission mit der definitiven Redaktion entsprechend des erfolgten Meinungsaustauschs.
Bei der Resolution handelt es sich um die am 6.10.1928 veröffentlichte Entscheidung des Komintern-
Präsidums, Thälmann als Parteiführer der KPD wieder einzusetzen und den Beschluss des ZK der KPD
zu seiner Absetzung rückgängig zu machen.116
Dok. 194
Nicht zur Veröffentlichung bestimmter Teil des
Präsidiumsbeschlusses der Komintern zur Rehabilitierung
Thälmanns
Moskau, 6.10.1928
Werte Genossen!
Beiliegend senden wir Ihnen die vom Praesidium des EKKI in seiner Sitzung vom 6.
Oktober angenommene Resolution zur Deutschen Frage und teilen Ihnen mit, dass
bei der Annahme der Resolution noch ein Punkt angenommen wurde, der nicht, so
wie die Resolution, veroeffentlicht werden darf. Dieser Punkt lautet folgendermassen:
„Das Praesidium des EKKI betrachtet es als nicht normal, dass einzelnen Mitgliedern
des Polbueros Parteibezirke fest zugewiesen sind und macht den Vorschlag, diese bis-
herige Gepflogenheit zu liquidieren.“
Am 18.10.1928 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion mit dem „Fall“ August Thalhei-
mers, der im Mai für Familienangelegenheiten kurzfristig nach Deutschland entlassen worden war. In
einem Brief sollte er nun zur Rückkehr aufgefordert werden. Als VKP(b)-Mitglied sei dies seine Pflicht,
zumal er sein Versprechen, keine Fraktionsarbeit mehr zu betreiben, gebrochen habe. Gleichzeitig
wurde ein Telegramm an das ZK der KPD aufgesetzt, in dem der verschärfte Kampf gegen oppositi-
onelle Tendenzen seitens der „Rechten“ in Schlesien, Württemberg und Thüringen gefordert wurde.
Zugleich wurde in Bezug auf Heinrich Brandler beschlossen, im Falle einer nicht genehmigten Abreise
aus Moskau seinen Fall an die Zentrale Kontrollkommission der VKP(b) zu übergeben.117
Dok. 195
Stellungnahme von Hans Günther zur Verwendung der Begriffe
„Sowjets“ oder „Räte“ im Programm der Komintern
Gagri [Gagra, Abchasien], 20.10.1928
117 RGASPI, Moskau, 17/3/709, 4 + 18–19. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Kom-
intern, S. 564–565.
118 Dr. Hans Günther (1899–1938), der 1923 über die Marxsche Mehrwerttheorie promoviert hatte,
war einer der wenigen Theoretiker, die in der stalintreuen KPD verblieben. Er starb in sowjetischer
Lagerhaft.
119 Bei seiner ersten maßgeblichen Intervention im Rahmen der Komintern, als es 1923 um den
“deutschen Oktober“ ging, forderte Stalin im Politbüro ultimativ die Errichtug von Sowjets „fürs erste
in Sachsen und anderen günstigen Bezirken“. Gegen die wirklichkeitsfremden Vorstellungen Stalins
hoben Radek, Brandler und Trotzki die Bedeutung der Betriebsräte und Betriebskomitees in Deutsch-
land hervor (siehe: Bayerlein/Babicenko/Firsov: Deutscher Oktober, S. 141f.).
120 Schlecht lesbarer Name.
Dok. 195: Gagri [Gagra, Abchasien], 20.10.1928 639
121 Die anlässlich des spontanen Aufstands der Wiener Arbeiter gegen den Freispruch von
„Heimwehr“-Mitgliedern, die auf Arbeiter geschossen hatten, am 15.7.1927 propagierte Losung „Alle
Macht den Räten“ wurde von den zumeist sozialdemokratischen Arbeitern allerdings nicht verstan-
den. Seitens der Kominternführung wurde der Aufstand als Beleg für die dekretierte neue „Ende der
kapitalistischen Stabisilisierung“ instrumentalisiert. Der Aufruf zur Bildung von Arbeiterräten in
Wien wurde noch am 19.7.1927 im Dokument des EKKI „An die Arbeiter aller Länder, an die Arbeiter
Österreichs“ wiederholt. (Inprekorr 22.7.1927). Unterstützt von Bucharin nahm Stalin die Ereignisse
zum Anlass, den Kampf gegen „den Verrat der Sozialdemokratie“ und zugleich gegen die Vereinigte
Opposition von Sinowjew und Trotzki zu propagieren und weiterhin den Aufbau von Räten zu for-
dern. Das Präsidium der Komintern setzte die wirklichkeitsfremden und abgehobenen Losungen auch
gegen Teile der Führung der KP Österreichs durch (hierzu: Watlin: Ein unbegriffenes Signal, S. 142f.,
153f.).
640 1924–1929
Dok. 196
Brief Stalins an Thälmann zu dessen Exkulpierung und der
kollektiven Führungsarbeit in der KPD
Moskau, 25.10.1928
Entwurf von Pjatnitzki. Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 558/11/817, 83. In
deutscher Sprache publ. in: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 222–223. Der definitive
russische Text publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 565–566.
Zuerst war es für uns sehr schwer zu verstehen, auf welche Weise neunzig Prozent
der Mitglieder des ZK, die nicht zu den Rechten und Versöhnlern gerechnet werden
können, einen Beschluß fassen konnten, und ihn veröffentlichen, der faktisch die
Diskreditierung der Führung der KPD und vor allem des Gen. Thälmann bedeutete.
Der Brief des Genossen Ulbricht wirft Licht auf diese Angelegenheit. Im Briefe des
Genossen Ulbricht vom 6. Oktober d. J.,123 in dem er schildert, wie schwer es ihm war,
die Mitglieder des ZK zu überzeugen, ihre Abstimmung im Z.K. am 26. September d. J.
im Bezug auf Gen. Thälmann rückgängig zu machen, wird eine Resolution angeführt,
die von denjenigen Mitgliedern angenommen wurde, die ihre Anstimmung zurückge-
zogen hatten. Dort heisst es: „In Anbetracht des Verhaltens des Genossen Thälmann
in der Hamburger Angelegenheit ziehen die Unterzeichnenden die Schlußfolgerung,
daß es notwendig sein wird, Garantien zu schaffen, zu einer kollektiven Mitarbeit in
der Zukunft.“
Diese Resolution zeigt auf diejenige Unzufriedenheit, die vorhanden ist bei
einigen Mitgliedern des ZK im Bezug auf die Arbeitsmethoden der leitenden Organe
der K.P. Deutschlands. Wahrscheinlich gingen einige Mitglieder des Z.K., die man
nicht als Rechte oder Versöhnler nennen kann, davon aus, daß es keine Kollegialität
in der Führung vorhanden war. Es ist sehr möglich, daß eben eine solche Überzeu-
gung oder Meinung sie in die Hände der Rechten gestoßen hatte. Ich bin der Ansicht,
122 Hier auch ein in Teilen von der Endfassung abweichender Entwurf Pjatnitzkis vom 15.10.1928 (S.
220–222).
123 Stalin meint anscheinend das Datum des Erhalts. Der Brief Walter Ulbrichts und Fritz Heckerts
wurde am 1.10. verfasst (in deutscher Sprache publ. in: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S.
156–163). Nach scharfen, auch persönlichen Angriffen gegen “Rechte“ und “Versöhnler“ heisst es am
Schluß des Briefes: „Der Brief hat lediglich den Zweck, den Mitgliedern des Zentralkomitees unsere
Auffassung mitzuteilen, der Überzeugung, daß die Mehrheit der Mitglieder des Zentralkomitees treu
zur Komintern steht und den ernsten Willen hat, die Beschlüsse des VI. Weltkongresses der Kommu-
nistischen Internationale durchzuführen. Wir glauben, daß mit Hilfe der Exekutive, gestützt auf den
Willen der Massen der Parteimitglieder, die verhängnisvolle Maßnahme des Zentralkomitees wieder
gutgemacht werden kann. Die Reihen geschlosssen! Ein Panzer um die Partei! Nieder mit den Feinden
der Partei!“ (ibid., S. 163).
Dok. 197: Moskau, 25.10.1928 641
dass man aus dieser Sachlage die Lehre ziehen muß. Um in der Zukunft eventuelle
Mißverständnisse zu vermeiden, ist es notwendig, die Arbeitsmethoden in den leiten-
den Organe so zu ändern, dass in der Zukunft keine Beschwerde auf das Fehlen der
Kollegialität sein werden.
Ich rate Sie, persöhnlich an die Arbeit des Sekretariats und Pol[it]bureaus tätig
und ständig teilnehmen. Es ist notwendig den ideologischen Kampf gegen die Rechten
und Versöhnler zu verstärken, besonders in den Bezirken, wo sie ganze lokale Organi-
sationen oder ein bedeutender Teil der Mitglieder hinter sich führen.
Ich drücke fest Ihre Hand und wünsche Ihnen allseitige Erfolge
Ihr I. Stalin
Dok. 197
Bericht des Sekretariats der KPD an die Komintern über die
Parteidiskussion in Deutschland
Moskau, 25.10.1928
Zentralkomitee der K.P.D. Sekr. I/3 Berlin, den 25. Oktober 1928
W[erter] G[enosse],
Wir übersenden Euch mit gleicher Post das Protokoll unserer letzten Z.K.–Sitzung,
aus dem Ihr das Nähere über den Verlauf der Beratungen über den Bericht zu der
Hamburger Angelegenheit entnehmen könnt. Wir wollen dazu noch kurz folgendes
bemerken:
Die versöhnlerischen Genossen bezogen gewissermassen eine Doppelstellung.
Sie erklärten, dass sie nach wie vor den Beschluss des Z.K. vom 26.9. anerkennen,124
andererseits natürlich die Beschlüsse des Präsidiums [der Komintern] durchführen
werden. Die Erklärungen von diesen Genossen zeigen, dass sie verlangten, noch nach
der Beschlussfassung durch das EKKI und ZK ihre Auffassungen in der Partei zu ver-
treten. Es musste daher ein besonderer Beschluss gefasst werden, der diese Genossen
verpflichtet, überall für den Beschluss des Präsidiums und des Z.K. einzutreten. Nach
einigen Bedenken haben sie die Körperschaftsdisziplin anerkannt.
Was die Rechten anbetrifft, ist besonders der Vorstoss von Hausen und Galm,
der zweifellos im Auftrage von Thalheimer erfolgte, bemerkenswert.125 Zweifelsohne
ist dieser Vorstoss unternommen worden in der Voraussetzung, dass das Z.K. den
Ausschluss dieser Genossen beschliessen würde. Wir haben diese Genossen jedoch
nur der Funktionen enthoben und das Polbüro wurde beauftragt, wenn nötig, weitere
Massnahmen gegen sie zu treffen.
125 Vorstoß von Hausen und Galm: Hinter Erich Hausen (1900–1973) stand die Mehrheit im Partei-
bezirk Breslau. Als er im Dezember aus Moskau zurückkehrte, wo er seinen Standpunkt verteidigte,
hatte der Apparat die Verhältnisse in Breslau bereits umgedreht. Heinrich Galm (1895–1984), war ein
Offenbacher Gewerkschafter, der infolge seiner Opposition gegen die Rehabilitierung Thälmanns An-
fang 1929 ebenfalls aus der KPD ausgeschlossen wurde. Die große Mehrheit der Parteimitglieder in
Offenbach blieb auf seiner Seite und ging mit ihm in die Kommunistische Partei (Opposition) (KPO).
Die beiden Fälle zeigten, wie sowjetische Parteispitze und Komintern zur Rettung Thälmanns un-
mittelbar in die regionalen Parteigliederungen hineinregierten. Zur KPO siehe: Karl-Heinz Tjaden:
Struktur und Funktion der ‘KPD-Opposition’ (KPO). Eine organisationssoziologische Untersuchung
zur ‘Rechts’-Opposition im deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik, Meisenheim
am Glan, Anton Hain, 1964 (Neuauflage Hannover, SOAK, 1983) (Marburger Abhandlungen zur Poli-
tischen Wissenschaft. 4).
Dok. 197: Moskau, 25.10.1928 643
durchgeführt, wobei dem Genossen Schneller der Vorsitz der Kommission übertragen
wurde.
Genosse Eberlein stellte am zweiten Tage der Sitzung den Antrag, ihn von seinem
Posten zu entheben, da er weder im Polbüro, noch in der Finanzkommission ist und
damit nicht in enger Verbindung mit den leitenden Körperschaften der Partei steht.
Dem Genossen Eberlein wurde gesagt, dass er die Möglichkeit hat, die seine Arbeit
betreffenden Angelegenheiten vor den verschiedenen Körperschaften zu vertreten
und in seiner Anwesenheit behandeln zu lassen.
Am zweiten Tage der Z.K.-Sitzung wurden die Lehren der Volksbegehren-Kampa-
gne und die nächsten Aufgaben behandelt. Das Referat und die Diskussion zeigt die
Auffassung, die die Partei über den Ausgang des Volksbegehrens und die Perspektive
der Panzerkreuzerkampagne126 hat. Einheitlich wurde festgestellt, dass die Termin-
festlegung für das Volksbegehren [als] eine verfrühte zu bezeichnen war. Dafür spricht
auch die Tatsache, dass sich die Einzeichnungen in den letzten Tagen ganz besonders
gesteigert hatten, ein Zeichen, dass nicht genügend Zeit zur Vorbereitung war. Es hat
weiter an einem grundsätzlichen Kampf gegen den neuen deutschen Imperialismus
und gegen die sich auf ihn orientierende Sozialdemokratie gefehlt. Die Kriegsgefahr
wurde bei der ganzen Kampagne nicht genügend in den Vordergrund gestellt und
unsere aktuellen Losungen nicht genügend betont. Es hat weiter gefehlt an einer gut
organisierten Bewegung von unten her in den Betrieben und Gewerkschaften; es fand
zu sehr eine Orientierung auf die verschiedenen pazifistischen Organisationen statt.
Selbstverständlich hat auch die Hamburger Angelegenheit127 sich hemmend auf die
Bewegung ausgewirkt, wenigstens im Anfang, insbesondere auf unsere Parteiarbei-
ter. Der Ausgang des Volksbegehrens hat keine Niederlagenstimmung erzeugt in der
Partei und die Argumente der Rechten werden fast durchweg zurückgewiesen. Unsere
Genossen wissen sehr wohl, dass mit dem Volksbegehren die Kampagne nicht abge-
schlossen ist, dass es vielmehr gilt, die bestimmten Lehren aus den Mängeln und
126 Am 10.8.1928 beschloß die große Koaltion unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Her-
mann Müller, dem Bau des Panzerkreuzers A zuzustimmen, der als Prestigeprojekt der Marine das
Verbot des Baus deutscher Grosskampfschiffe umgehen sollte. Gleichzeitig wurden Zuschüsse zu
Schulkinderspeisungen gestrichen. Am 16.8.1928 beschloß das ZK der KPD dagegen einen Volksent-
scheid durch ein entsprechendes Volksbegehren einzuleiten. Das Volksbegehren fand kurz nach dem
Bekanntwerden des Thälmann-Wittorf-Skandals am 3.-16.10.1928 statt und endete mit einer eklatan-
ten Niederlage für die KPD. Nur etwas mehr als eine Million der Wahlberechtigten (knapp 3%) trugen
sich in die Listen ein, 10% wären notwendig gewesen. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 hatte
die KPD 10,6% der Stimmen erreicht. Zugleich erlebte die SPD einen erheblichen Vertrauensverlust
(Heinrich August Winkler: Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts, vol. 2, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in
der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Bonn, J. H. W. Dietz Nachf, 2. Aufl, 1988, S. 541–555; Jung: Direkte
Demokratie, S. 67–108.
127 Der Skandal um Thälmann und seinen Freund Wittorf wurde im parteioffiziellen Sprachge-
brauch weiterhin euphemistisch „Hamburger Angelegenheit“ genannt.
644 1924–1929
Schwächen zu ziehen und mit verstärkter Kraft gegen die imperialistische Sozialde-
mokratie den Kampf zu führen. [...]
Wir werden den Kampf gegen das Liquidatorentum, wie bereits in der Presse
begonnen, in den gefährdeten Bezirken fortsetzen und weiter, über den Fall Hamburg
hinweg, die Fragen des VI. Weltkongresses aufrollen. Die Z.K.-Sitzung, die den Bericht
entgegennimmt, findet bereits am 1. u. 2. November statt, am 3. u. 4. November wird
dann eine Parteikonferenz abgehalten, zu der ca. 60 Genossen aus den Betrieben hin-
zugezogen werden. Damit wird dann allgemein in der Partei die Diskussion über den
VI. Weltkongress eröffnet.
Am 30.10.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, Stomonjakov als Kopf der sowje-
tischen Delegation bei den anstehenden deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen in Mos-
kau einzusetzen.128 Die Verhandlungen sollten nach den Vorstellungen Stomonjakovs, die er am
19.11.1928 Stalin darlegte, eine Reihe von Konventionen zur Folge haben, darunter eine Zollkonventi-
on, auch sollte eine Reihe gegenseitiger Unzufriedenheiten der Handelspartner zur Sprache kommen.
Unter anderem wollten die deutschen Verhandlungspartner einen größeren Handlungsspielraum für
deutsche Firmen in der Sowjetunion, auch galt es, angesichts des Šachty-Prozesses beruhigend auf
die deutschen Unternehmen einzuwirken.129 Auf Anregung Litvinovs beschloss das Politbüro kurz vor
Beginn der Verhandlungen, am 26.11.1928, eine „kleine ständige Kommission“ zu bestimmten, die
die sowjetische Delegation politisch anleiten solle, da man nicht immer bis zur nächsten Politbüro-
Sitzung warten könne.130 Über die zähen Verhandlungen, die vom 27.11. bis zum 21.12.1928 liefen, in-
formierte Stomonjakov die Politbüro-Mitglieder in speziellen Bulletins.131 Als der Vertrag endlich am
21. Dezember unterzeichnet wurde, in dem eine beträchtliche Steigerung der deutschen Ausfuhren
in die Sowjetunion vereinbart wurde, bat Stomonjakov Stalin darum, von allen außenpolitischen
Verpflichtungen freigestellt zu werden, da der Vertrag in einer entwürdigenden Art und Weise unter-
zeichnet worden sei; er könne „die Schande nicht verkraften, die wir heute unserem Land zugefügt
haben.“132 Für diesen „unzulässigen“ Brief erhielt Stomonjakov schließlich am 27.12.1928 vom Polit-
büro eine Rüge.133
128 APRF, Moskau, 3/64/655, 147. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, II, Dok. 101.
129 APRF, Moskau, 3/64/655, 158–168. Publ. in: Ibid., Dok. 107.
130 APRF, 3/64/565, 6 und 8. Publ. in: Ibid., Doks. 110 und 111.
131 Siehe: Ibid., Doks. 112, 113, 114, 116, 117, 118, 119, 124, 125.
132 APRF, 3/64/656, 75–76. Publ. in: Ibid., Dok. 128.
133 APRF, 3/64/656, 74.
Dok. 198: Moskau, 29.11.1928 645
Dok. 198
Brief Gerhart Eislers an das Komintern-Sekretariat zur Auszahlung
von Trennungsgeld an seine Frau
Moskau, 29.11.1928
Am 29.11.1928 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion die Herausgabe einer Wochenzeitung
in deutscher Sprache, die einen „offiziell unabhängigen“ Charakter erhalten sollte. Mit der Aufgabe
wurden Litvinov und Mikojan betraut.136
Am gleichen Tag verabschiedete das Politbüro das Budget des EKKI für das Jahr 1929 mit 4.457.468
Goldrubeln (492.532 Rubel weniger als für 1928). Die Mittel von 500.000 Tscherwonzenrubel für di-
verse Organisationen, die Devisen erhielten oder ausgaben, blieben gegenüber 1928 unverändert.137
Dok. 199
Brief von Walter Ulbricht im Namen der Deutschen Vertretung in
der Komintern138 an Ernst Meyer
Moskau, 1.12.1928
Typoskript in deutscher Sprache, RGASPI, Moskau, 495/293/93, 72. Veröffentlicht in: Meyer-Leviné:
Erinnerungen, S. 233f.
W[erter] G[enosse].
Du teilst mir mit, dass Du infolge der schlechten Witterung und der Ueberanstren-
gung im Zusammenhang mit der letzten Sitzung des Politsekretariats am Montag den
3. Dezember nach Berlin zurückkehren willst. Ich halte es für notwendig, dass Du bis
zur nächsten Sitzung des Politsekretariats noch hierbleibst. Folgende Gründe veran-
lassen mich zu diesem Vorschlag:
1. Nachdem Du und der Genosse Humbert-Droz in der letzten Sitzung des Politse-
kretariats als Korreferenten aufgetreten seid und versucht habt, eine Plattform gegen
die Linie der Komintern und des Z.K. zu entwickeln, ist es unbedingt notwendig, dass
Du in der nächsten Sitzung des Politsekretariats die Stellungnahme der Mitglieder
des Sekretariats anhörst und auch meine Antwort zur Kenntnis nimmst.139
2. Ich glaube, wenn Du gesundheitlich in der Lage warst, ein 1 ¼ stündiges Kore-
ferat zu halten, so bist Du sicher auch gesundheitlich in der Lage, auch die Antwort
anzuhören.
Solltest Du dennoch am Montag abreisen, so kann man diese frühzeitige Abreise
nur als den Versuch betrachten, einer Stellungsnahme zu dem Beschluss des Politse-
kretariats in der Frage der Politik der KPD hier auszuweichen.
Dok. 200
Telegramm Ernst Meyers und Arthur Ewerts gegen den Ausschluss
Jacob Walchers
Moskau, 1.12.1928
Ewert, Meyer.
Am 6.12.1928 akzeptierte das Politbüro der KP der Sowjetunion die Vorschläge von Stomonjakov be-
züglich der russisch-deutschen Wirtschaftsverhandlungen und fügte einige Vorschläge hinzu. U.a.
sollte man der deutschen Seite in Sachen Konten für deutsche Konzessionen in der Sowjetunion,
Rechte der Arbeiter in den Unternehmen, die unter die Konzession fielen, und Festlegung der Löhne
entgegenkommen.141
Dok. 201
Erklärung Hugo Eberleins gegen die Rehabilitierung Thälmanns
durch die Komintern
Moskau, 6.12.1928
Erklaerung
In der vorgelegten Resolution142 wird die Haltung des Genossen Thaelmann im Ham-
burger Korruptionsfall auf ein mikroskopisches Mass verkleinert, und in der deut-
schen Partei wird durch diese Resolution der Eindruck erweckt, dass ein schweres
Verbrechen nur deshalb milde beurteilt wird, weil Thaelmann daran beteiligt ist.
Schon in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Finanzkommission und als Vorsit-
zender der Beschwerdekommission kann ich eine solche Rechtsprechung innerhalb
der Deutschen Partei nicht billigen. Aus der voellig verschiedenen Bewertung der
Schwere des Verbrechens und nicht, wie gesagt worden ist, aus Fraktionsgruenden,
ergibt sich meine Stellungnahme zu diesem Fall.
Ich halte die Beschluesse des Zentralkomitees nach wie vor fuer richtig. Durch die
unter Punkt 3 in dieser Resolution gegebene Darstellung wird der Hamburger Korrup-
tionsfall erst mit den innerparteilichen Differenzen verbunden, was das Zentralko-
mitee der Deutschen Partei gerade verhindern wollte. Damit werden die kommenden
politischen Auseinandersetzungen und Diskussionen vergiftet und anstelle der poli-
tischen Auseinandersetzungen tritt ein wuester persoenlicher Vernichtungskampf
in der Partei. Die Reden von Remmele, Heckert und Thaelmann sind ein deutlicher
Beweis dafuer. Ich fuerchte sehr, dass diese Resolution die Einleitung einer schweren
Parteikrise sein wird. Gerade das wollten wir durch die Beschluesse des Zentralkomi-
tees verhindern.
Ich muß diese Resolution ablehnen. [...]143
Auf Initiative Molotovs beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion am 13.12.1928, das Thema
KPD an die VKP(b)-Delegation im EKKI weiterzuleiten. Vorausgegangen war eine geschlossene Sit-
zung des ZK der VKP(b) und der VKP(b)-Delegation im EKKI, auf der ein scharfes Vorgehen gegen die
„Rechten und Versöhnler“ in der deutschen Partei beschlossen wurde.144
143 Eberlein wurde nach mehreren Verhaftungen im Exil in Frankreich und dem Gang ins sowje-
tische Exil im Juni 1937 dort verhaftet, der Verbindungen zur Gestapo beschuldigt, 1941 zum Tode
verurteilt und hingerichtet.
144 RGASPI, Moskau, 17/3/716, 6. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 570–571.
Dok. 202: Moskau, 17.12.1928 649
Dok. 202
Telegrafische Bedingungen des Präsidiums der Komintern an die
„Rechten“ in der KPD
Moskau, 17.12.1928
Kommission des Präsidiums hat offenen Brief über rechte Gefahr145 und geschlos-
senen Brief an Zeka [ZK] ausgearbeitet,146 die in Präsidiumssitzung Mittwoch zur
Behandlung kommen. Offener Brief enthält Vorschlag, von Rechten folgende Erklä-
rung zu verlangen:
145 Die Präsidiumssitzung des EKKI fand am 19.12.1928 statt. Sie führte zur letzten offenen Konfron-
tation in den obersten Leitungsgremien der Komintern, zwischen dem schweizer EKKI-Sekretär Jules
Humbert-Droz und der Mehrheit der übrigen Mitglieder, die von Stalin lautstark unterstützt wurde,
der dem Schweizer Heuchelei, Opportunismus und Würdelosigkeit vorwarf, weil er den offenen Brief
und andere vorgelegte Dokumente als „hirnlos und ohne Argumente“ charakterisiert hatte („Niemals
in der bisherigen Geschichte der Exekutive sind wir mit derartig miserablen Entwürfen konfrontiert
worden, was den politischen Gehalt angeht.“ (Siehe: J. Humbert-Droz: Déclaration au Présisium du
Comité exécutif de l’Internationale Communiste, 19.12.1928. Publ. in: Bahne/Amo/Bayerlein: Archives
de Jules Humbert-Droz, III, S. 134–137, hier S. 135, S. 138ff. Siehe: Offener Brief des EKKI an die KPD
über die rechte Gefahr in der KPD. An alle Mitglieder der KP Deutschlands: In: Internationale Presse-
korrespondenz VIII (1928), Nr. 142, S. 2829–2832; Rote Fahne, 22.12.1928.
146 Im geschlossenen Brief vom 20.12.1928 werden die “Rechten“ stigmatisiert und ihr unverzüg-
licher Parteiausschluss verlangt. Darüber hinaus wird der weitere “systematische Kampf gegen die
Versöhnler“ gefordert, “(...), denn ohne diesen kann in Wirklichkeit kein Kampf gegen den rechten
Flügel durchgeführt weden.“ Siehe: Bernhard H. Bayerlein, Aleksandr A. Vatlin (Hrg.): Aus dem Kom-
internarchiv. Geschlossener Brief des Exekutivkomitees der Komintern an das Zentralkomitee der
Kommunistischen Partei Deutschlands. In: The International Newsletter of Historical Studies on Com
intern, Communism and Stalinism I (1992), Nr. 1–2, S. 19–21; ebenfalls abgedruckt in: Weber/Bayerlein:
Der Thälmann-Skandal, S. 277–282.
147 Am 29.12.1928 konstituierte sich die „Rechte Opposition“ als Kommunistische Partei Deutsch-
lands – Opposition (KPO), führten ihre 1. Reichskonferenz durch und stellten sich konsequent gegen
die Ultimaten der Parteiführung. Heinrich Brandler, der im Oktober 1928 “unerlaubt“ aus Moskau
nach Deutschland zurückgekehrt war, wurde zusammen mit August Thalheimer aus der KPD ausge-
schlossen. Am 31.1.1929 faßte das Politbüro der KP der Sowjetunion einen zustimmenden Beschluß
zur Resolution vom 28.1.1929 über Brandler und Thalheimer (siehe 31.1.1929). Im schonungslosen und
650 1924–1929
Oben genannte Forderungen wurden von Hausen und Galm abgelehnt und diese sind
daher nach Präsidiumssitzung als ausgeschlossen zu betrachten.
Politsekretariat.
Telegramm. 17.12. aufgegeben. Kommpartei.
Walter [Ulbricht]
Auf der Sitzung des Politbüros der KP der Sowjetunion vom 20.12.1928 berichtete Pjatnitzki über die
Sitzung des Präsidiums des EKKI vom 19.12.1928, die den Höhepunkt der Hetzkampagne gegen die
„Rechten und Versöhnler“ darstellte. Das Politbüro beschloss daraufhin, in Zusammenarbeit mit dem
EKKI das Stenogramm der Sitzung an die ZKs der großen westlichen Kommunistischen Parteien zu
verschicken.148
bürokratischen Kampf gegen die “Rechten“ wurden bis zum Frühjahr 1929 die Parteibezirke “gesäu-
bert“ und schätzungsweise 6000 der Anhänger dieser Richtung, die ein historisches Substrat der KPD
war, aus der Partei ausgeschlossen (siehe: Weber: Die Wandlung, Bd. 1, S. 219–223; Tjaden: Struktur
und Funktion, S. 60ff.).
148 RGASPI, Moskau, 17/3/717, 3.
Dok. 203: Moskau, 20.12.1928 651
Dok. 203
Das Mitteleuropäische Ländersekretariat der Komintern
zum Umschwung in der Betriebspolitik der KPD nach dem
Ruhreisenstreik
Moskau, 20.12.1928
Mitteleuropäisches Sekretariat.150
Referat für Organisationsfragen.
20.XII. 1928.
Parolen, Taktik und Methoden des Kampfes der K.P.D. bei der Ruhraussperrung.
149 Handschriftlich russisch am oberen Rand: „An Gen. Wurm“. Stempel: „Nach 7 Tagen zurück an
Sekretariat. VERTRAULICH. CONFIDENTIAL.“
150 Das Mitteleuropäische Ländersekretariat der Komintern (MELS) wurde 1927 ursprünglich als
Zusammenfassung der früheren „deutschen“, „österreichisch-ungarischen“ und „skandinavischen“
Sektionssekretariate konstituiert. 1931–1935 vom lettischstämmigen Vil‘gel‘m Knorin (1890–1939?)
geleitet, war es ein wichtiges Organ im Rahmen der 1926 geschaffenen und 1935 wieder liquidier-
ten Struktur der Ländersekretariate der Komintern. Wie das Lateinische Sekretariat bereitete es die
Entscheidungen für das Politsekretariat und das Präsidium des EKKI vor, konnte jedoch über Zir-
kulare und Delegierte auch direkt die Parteien instruieren. Zusätzlich agierte das 1927 in Berlin ge-
schaffenene Westeuropäische Büro der Komintern (WEB) als übergeordnete, direkte Dependance des
Politsekretariats, das für alle westlichen Kommunistischen Parteien maßgeblich war. Neben Knorin
gehörten Šmeral, Pepper, Smoljanskij und Togliatti zu den Funktionären des MELS (siehe: Adibekov/
Šachnazarova/Širinja: Organizacionnaja struktura Kominterna; Bayerlein: Das neue Babylon).
652 1924–1929
des Kampfes einen Einfluss ausübte.151 Drittens zog die Partei breite Massen der nicht-
organisierten Arbeiter in die Bewegung hinein, indem sie diese Arbeiterschichten aus
einem Hindernis für die Vertiefung und Entfaltung des Kampfes in einen aktiven revo-
lutionären Faktor verwandelte.152 Und endlich, viertens, versuchte die Partei die von
ihr gleich zu Anfang ausgegebene Parole der Erweiterung der Bewegung durchzufüh-
ren. Diese Versuche müssen hervorgehoben werden, trotzdem sie ungenügend waren
und die Bewegung eine isolierte Bewegung der Ausgesperrten Ruhrarbeiter bleibt.
[...]
151 Die Aussperrung von 213000 Metallarbeitern des Ruhrgebiets im Rahmen des “Ruhreisenstreits“
(12.10.-21.12.1928) war neben dem Panzerkreuzerbau die zweite Großkrise des Jahres. Bei der starren
Ablehnung eines Schiedsspruchs durch die Industriellen ging es weniger um Tarifpolitik, als viel-
mehr um das staatliche Schlichtungswesen. Die KPD nahm den “Ruhrkampf“ zum Anlaß, traditio-
nelle gewerkschaftliche Streitformen zu durchbrechen (“Durchbruchskämpfe“), und – u.a. durch die
Gewerkschaftsopposition “Kampfleitungen“ auf Betriebsebene zu propagieren, die organisierte und
unorganisierte Arbeiter zusammenführen sollten. Der Streik endete mit einem Kompromiß (Schlich-
tung Severing), doch verschlechterte sich insgesamt die Position der Arbeiterbewegung. Aufgrund
ihrer als Spaltung der Gewerkschaften aufgefaßten Intervention erlebte auch die KPD eine Niederlage
(siehe u.a.: H.-U. Winkler: Der Schein der Normalität, 557–572). Besonders intensiv war der Einsatz der
ZK-Instrukteure, „als die Gewerkschaftsabteilung des ZK ihre Spitzenkräfte Hans Sawadzki und Paul
Peschke für eine Woche bzw. für mehr als einen Monat in den Bezirk entsandte.“ (Ulrich Eumann:
Eigenwillige Kohorten der Revolution. Zur regionalen Sozialgeschichte des Kommunismus in der Wei-
marer Republik, Frankfurt am Main, Peter Lang, 2007, S. 143.
152 Im Protokoll Nr. 4 der Sitzung des Mitteleuropäischen Ländersekretariats vom 27.12.1928 wurde
der Umschwung in der Gewerkschafts- und Betriebspolitik im Sinne der Radikalisierung hin zur sog.
„3. Periode“ erstmalig kodifiziert. Nach der Diskussion zum Referat Paul Merkers und Diskussionsbei-
trägen von Ulbricht, Ewert, Gusev, Vasilʼev, Serra, Smoljanski, Béla Kun, Martynov, Rubinstein, Schu-
mann, Mojrova und dem Schlusswort Merkers schlug das MELS vor, „[...] die Kommunistische Frak-
tion der Profintern, die Org- und Agitprop-Abteilung des EKKI, das Internationale Frauensekretariat
und die Kooperativsektion zu beauftragen, aufgrund des Referats des Genossen Merker und der Dis-
kussion eine Reihe konkreter Direktiven und Vorschläge, Artikel, Informationen u. a. alle taktischen
Fragen, die die Anwendung der neuen Gewerkschaftstaktik und der Führung von Massenkämpfen
betreffen, insbesondere die Fragen, die mit dem Charakter und der Tätigkeit der Kampfausschüsse
verbunden sind, durchzuarbeiten und ausserdem die wichtigsten prinzipiellen und taktischen Fra-
gen unseres Kampfes gegen die rechte Gefahr und versöhnlerische Einstellung zu ihr zwecks syste-
matischen Kampfes gegen sie in unseren Parteien zu beleuchten. Frist für Vorschläge bis 3.1.29. Vorsit-
zender Gussew: Sekretaer Glaubauf.“ (Typoskript, deutsch. RGASPI, Moskau, 495/28/27, 216).
Dok. 204: Moskau, 22.12. 1928 653
Dok. 204
Brief Thälmanns an die Komintern zur Widerlegung der gegen ihn
geäußerten Kritik
Moskau, 22.12. 1928
14625/10/Ru.
Aus dem Org.
25.12.1928
Vertraulich! Berlin, den 22. Dezember 1928
Werte Genossen!
Die Beratungen über die deutsche Frage und die Politik der Partei in den letzten Sit-
zungen des Politsekretariats zwingen uns zu einigen notwendigen Feststellungen:
1. Was die Ausführungen des Genossen Meyer betrifft, so haben wir zum Teil,
soweit die Genossen in der Sitzung des Zentralkomitees bereits Kenntnis hatten von
dem Protokoll, die Angriffe und zum Teil unwahren Darstellungen des Genossen
Meyer auf das Schärfste zurückgewiesen.154 Wir stellen ausser der Zurückweisung,
die bereits durch die einzelnen Polbüromitglieder im Zentralkomitee geschehen ist,
zwei Tatsachen fest:
a) Bei dem Beschluss des Juniplenums im Jahre 1927 über die Beurteilung des
Kampfes gegen die S.P.D. war der Genosse Thälmann in Berlin nicht anwesend,
sondern im Urlaub in der Schweiz. Gegen die angenommenen Thesen wurde nicht nur
von der Chemnitzer Bezirksleitung, nicht nur vom Genossen Schneller, sondern auch
nach der Rückkehr des Genossen Thälmann sofort gegen diese Thesen zwar nicht
als Ganzes, sondern vielmehr über einige Schwächen dieser Thesen gesprochen und
eine Korrektur verlangt. Die damalige Z.K.-Sitzung hatte nicht genügend ausgewertet
die Beschlüsse des Kieler Parteitages der S.P.D. Die Formulierungen über die „linke“
S.P.D., wie sie in den Kieler Parteitagsthesen enthalten sind, sind hier nicht genügend
konkretisiert. Der Kurs der S.P.D.-Politik der Unterstützung der Bürgerblockpolitik
[...] wurde zu schwach hervorgehoben und zu wenig auf die allgemeine Entwicklung
der zukünftigen [...]-Regierung, wie sie sich nach dem 20. Mai gebildet hat, gekenn-
zeichnet. Im September-Plenum des Z.K. wurden diese Schwächen beseitigt und das
Versäumte ausgemerzt.
b) Die Behauptung des Genossen Meyer, dass Genosse Thälmann und andere
Genossen verhindert hätten die Antwort auf das Aktionsprogramm des Genossen
Brandler,155 entspricht nicht den Tatsachen. Das Polbüro hatte einen Beschluss
gefasst, dass der Genosse Ewert, der in Moskau weilte, eine Antwort auf das Aktions-
programm auszuarbeiten hat. Der Genosse Ewert lehnte das im Beisein der Genossen
Remmele und Thälmann in Moskau ab. Dadurch wurde erstens die Antwort hinausge-
zögert und zweitens mussten wir erneut hier Stellung nehmen, wer von den anderen
Genossen beauftragt wird, einen Entwurf dem Polsekretariat und dem Polbüro vor-
zulegen. Dadurch, dass in der politischen Linie der Antwort Meinungsverschieden-
heiten entstanden, verzögerte sich ebenfalls monatelang diese Antwort. Das ist der
wahre Tatbestand und nicht das, was der Genosse Meyer behauptet, dass der Genosse
Thälmann die Antwort verhinderte und Genosse Ewert sich mit allen Mitteln einge-
setzt hat, eine Antwort zu geben. [...]
2. Wir können in diesem Schreiben nicht eingehen auf alle Diskussionsredner im
Politsekretariat, soweit sie die politische Linie und den innerparteilichen Kurs der
deutschen Partei angriffen. Wir beschränken uns auf die Ausführungen des Genossen
Humbert-Droz, da es uns sehr wichtig erscheint, einzelne Behauptungen seinerseits
zu kennzeichnen. Wenn man das geistige Leben und die bessere Verbindung aller
Sektionen mit der Komintern fördern will, dann ist es nicht zweckmässig, unkorri-
gierte Stenogramme sowohl eines Zentralkomitees, wie auch der Reichsparteiar-
beiterkonferenz zu benutzen zu einem Kampf gegen die Politik der Partei und ihre
Führung. Jeder Genosse weiss, dass z.B. bei der Reichsparteiarbeiterkonferenz in
Berlin nach dem über 3-stündigen Referat des Genossen Thälmann (der ausserdem
noch sehr schnell spricht) immer ein kleiner Teil von Stenotypistinnen nicht in der
Lage sein wird, seine Ausführungen aufnehmen zu können oder aber seine Gedanken
vollinhaltlich wiederzugeben,156 dass völlig vermieden wird, dass sinnentstellende
Fehler im unkorrigierten Stenogramm zu verzeichnen sind. Es ist eine alte Praxis,
auf allen Konferenzen, die eine politische Bedeutung haben, dass die wichtigsten
Redner ihr Stenogramm korrigieren, bevor es benutzt werden kann zu Angriffen, wie
es der Genosse Humbert-Droz anhand eines solchen Stenogramms im Politsekreta-
riat getan hat.157 Die Konsequenz dieser Tatsache wird sein, trotzdem es manchmal
vorteilhaft und politisch sogar notwendig ist, dass alle führenden Genossen [es] für
die Zukunft unterlassen werden, unkorrigierte Stenogramme zur Information an
das Politsekretariat des EKKI noch abzusenden. Dadurch würde sich die Absendung
solcher Stenogramme von wichtigen Reden ungeheuer verzögern und manchmal eine
schnelle politisch notwendige Orientierung nicht mehr gegeben sein. Ebenso wurde
der Bericht in der „Roten Fahne“ über das Referat des Genossen Thälmann auf der
Reichsparteiarbeiterkonferenz am selben Tage, als das Referat gehalten wurde, von
der Redaktion der „Roten Fahne“ ohne Kontrollen des Sekretariats und des Genos-
sen Thälmann wiedergegeben. Vergleicht man das unkorrigierte Stenogramm und die
Wiedergabe der Rede in der „Roten Fahne“, so ergeben sich daraus auch verschie-
dene aus dem Zusammenhang herausgerissene und falsch wiedergegebene Stellen.158
Das Sekretariat nahm sofort am Montag Stellung zu diesen nicht ganz richtigen For-
mulierungen und beschloss, da man an sieben Stellen die Rede richtig stellen müsste,
von einer Berichtigung im Interesse „der bekannten Gründe“ Abstand zu nehmen.
Nun zu einigen Behauptungen in der Rede des Genossen Humbert-Droz. Wir
beschränken uns auf einige Behauptungen des Genossen Humbert-Droz über die
Beurteilung der gegenwärtigen Lage in Deutschland und die Politik der K-P.D. Im
Januar findet eine Z.K.–Sitzung statt, in der eine eingehende Analyse der Situation
in Deutschland und die Aufgaben der Partei zur Debatte stehen werden. Aber auch
in unseren seitherigen Beschlüssen des Polbüros und des Z.K. wird der Genosse
Humbert-Droz nichts finden, was seine Behauptungen, dass unsere Perspektive den
Beschlüssen des VI. Weltkongresses widerspräche, stützen könnte. Im Gegenteil,
wir sind der Meinung, dass z.B. die Einschätzung der dritten Periode, wie sie von
Humbert-Droz in seinen Ausführungen gegeben wurde, eine falsche Einschätzung
ist, die den Beschlüssen des VI. Weltkongresses und seinen in dem ersten Punkt der
Tagesordnung niedergelegten Formulierungen in den Thesen (die einstimmig ange-
nommen wurden) nicht entspricht. Genosse Humbert-Droz hebt viel zu viel die Sta-
bilisierungserscheinungen allseitig hervor, ohne in dem Zusammenhang, wie wir es
in unseren angenommenen Beschlüssen und Resolutionen überall getan haben, die
Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche und die neuen Formen des Klassen-
kampfes zu erwähnen und zu kennzeichnen.
Nun zu einzelnen seiner Behauptungen:
a) Es ist unwahr, dass die Mehrheit der deutschen Delegation auf dem Weltkon-
gress zu dem Thesenentwurf der russischen Delegation eine andere Meinung hatte.
Vielmehr ist das Umgekehrte der Fall, dass die Minderheit der deutschen Delegation
nicht befriedigt war von dem Inhalt des Thesenentwurfes der russischen Delegation.
(Siehe Auftreten Ewerts auf dem Kongress und seine abgegebene Erklärung, ebenfalls
158 Angesichts der Opposition gerade der Betriebsfunktionäre war es nicht einfach, die neue Linie
durchzusetzen: „Um die Umsetzung der neuen Strategie in den Betrieben zu gewährleisten, wurde
seitens des ZK ein großer Aufwand getrieben. Laut eines Berichts der Org-Abteilung des ZK über die
Betriebsratswahlen vom April 1929 war am 26. Januar 1929 eine zweitägige Reichsparteiarbeiterkon-
ferenz zu diesem Thema durchgeführt worden. Kurz darauf richtete das ZK eine Kommission ein, die
die Bezirksleitungen anweisen und durch Instrukteure kontrollieren sollte. Nachdem sich die Bezirks-
leitungen auf ihren Sitzungen mit den Beschlüssen der Reichsparteiarbeiterkonferenz befasst hatten,
wurden sie in intensiver Arbeit den einzelnen Betriebszellen übermittelt.“ (Eumann: Eigenwillige
Kohorten, S. 322).
656 1924–1929
auch das Auftreten von Tittel.) b) Der Charakter der dritten Periode wurde, wo sie
benannt wurde in einer Resolution, so gekennzeichnet, wie es in den Thesen des VI.
Weltkongresses niedergelegt ist. [...]159
c) Der Artikel vom 17. Oktober in der „Roten Fahne“, den Genosse Humbert-Droz
als einen offiziellen Artikel des Polbüros bezeichnet hat, ist kein Artikel des Polbü-
ros, sondern ein Artikel des Genossen Fried, dessen Auffassung in dem zitierten Teil
von der Sitzung des Politbüros und des Zentralkomitees, welche zu den Lehren der
Panzerkreuzerkampagne Stellung nahm, verurteilt worden ist. (Siehe Protokoll des
Z.K. über Panzerkreuzerangelegenheit, Ausführungen des Genossen Remmele). Die
weiter[e] Behauptung des Genossen Humbert-Droz, das erwähnte Zitat des Genossen
Thälmann (was richtig ist) einem Zitat aus der „Roten Fahne“ gegenüberzustellen, in
dem es heisst: „Der Einfluss der Partei ist gewachsen – auch über den Kreis unserer
Wähler hinaus.“ ist kein Zitat der „Roten Fahne“, sondern ein Satz aus der Rede des
Genossen Dahlem auf der Parteiarbeiterkonferenz in Gross-Berlin. Die Ausführun-
gen des Genossen Thälmann auf dieser Parteiarbeiterversammlung in Berlin hatte
Genosse Humbert-Droz vergessen und nicht erwähnt; wir geben sie hiermit wieder:
“Ohne uns um das Geschrei der Gegner zu kümmern, müssen wir bolschewistische
Selbstkritik üben. Aber es gibt Kritik und Kritik, solche, die der Partei helfen will –
und solche, die sie untergräbt. Wir haben einen guten Aktionsradius gehabt – warum
haben wir ihn nicht voll ausnutzen können? Einerseits hatten wir Schwierigkeiten im
Kampfe gegen den Imperialismus, pazifistische und andere Schwankungen in den
Reihen der uns nahstehenden Schichten, ungenügender Kampf gegen diese Schwan-
kungen. Dann gab es eine Reihe von Fehlern im Verlaufe der Kampagne selbst.
Zunächst eine zu rasche Einleitung des Volksbegehrens, die die Folge einer falschen
Einschätzung der Kräfte des Gegners war. Die Krise in der S.P.D. wächst und wir hätten
eine längere Vorbereitungsfrist wählen können. Man muss die Frage des Krieges von
vornherein klar und grundsätzlich stellen, nicht erst in der kritischen Situation. Es
hat auch dieser Bewegung geschadet, dass wir noch mit pazifistischen Schlachten
zu tun hatten, dass die Frage der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den
Bürgerkrieg nicht genügend klar gestellt war. Ungenügend gestellt wurde die Frage
der Rolle der eigenen Partei und der S.P.D. im Kriegsfalle. Darüber müssen wir auch
in den eigenen Reihen größere Klarheit schaffen, damit wir der immer näherkom-
159 „Das IX. EKKI-Plenum [Februar 1928], der VI. Weltkongreß [Juli/August 1928] und besonders das
X. Plenum [Juli 1929] nehmen den Kurs auf einen jähen und gradlinigen revolutionären Aufschwung
(‚Dritte Periode‘). Dieser Aufschwung war damals, nach den ungeheuren Niederlagen in England,
China, nach der Schwächung der Kommunistischen Parteien in der ganzen Welt und besonders unter
den Bedingungen des Aufstiegs des Handels und der Industrie, der die wichtigsten kapitalistischen
Länder erfaßt hatte, durch die gesamte objektive Lage ausgeschlossen. Die taktische Wendung der
Komintern seit Februar 1928 war somit direkt entgegengesetzt der realen Wendung der historischen
Wirklichkeit.“ (Leo Trotzki: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, Berlin, Verlag
Der Kommunist, 1930, S. 1, neu publ. in: Id.: Schriften über Deutschland, Bd. 1, S. 76–98).
Dok. 204: Moskau, 22.12. 1928 657
menden Kriegsgefahr mit allen Schwierigkeiten, die sie uns bringen wird, gerüstet
gegenüberstehen.
Die Linksentwicklung der Massen muss auf eine höhere Stufe der Klarheit
gehoben werden, dazu müssen wir die Partei von den Verbündeten des Klassenfein-
des säubern. Wir müssen grössere Klarheit in der Partei schaffen, wir müssen die
organisatorischen Sicherungen gegen den Opportunismus verstärken, wenn Dinge,
wie der Fall Wittorf, in einer Weise ausgenützt werden, die den Feinden der Partei
zum Vorteil wird, dann muss von der Wurzel auf und ohne alle Sentimentalitäten
dagegen gekämpft werden.“
Das Ergebnis der Panzerkreuzerkampagne und die Mängel und Fehler, die in
dieser Kampagne gemacht wurden, sind durch einen Beschluss des Z.K. in einer
Resolution über die Lehren und Erfahrungen der Panzerkreuzerkampagne niederge-
legt. (In dieser Resolution ist die schärfste bolschewistische Selbstkritik an der Arbeit
der Partei festgestellt).160
4) Die gebrachten Zitate über die Taktik der Partei im Ruhrkampf, das Verhältnis
der Organisierten zu den Unorganisierten, die Behauptung, wir treiben eine antige-
werkschaftliche Politik, (unsere Politik ist auch im Ruhrkampf gewesen: Verstärkung
der revolutionären Gewerkschaftsopposition,) die Durchbruchstheorie, die nach
Humbert-Droz die ausschlaggebende Linie der Taktik gewesen sein soll, die eigen-
tümliche Stellung des Genossen Humbert-Droz zu den Propagandalosungen, die
wir in Verbindung mit unserer generellen Taktik in unserem Kampf richtig gestellt
hatten, gibt die Taktik, die die Partei während des Ruhrkampfes richtig durchgeführt
hat, nicht richtig wieder und verschiebt bewusst die allgemeine Linie der Partei und
ihr positives Ergebnis im Ruhrkampf. Die Beschlüsse des letzten Z.K. und die dort
gegen die Versöhnler angenommene Resolution [fehlt Text] ist der Standpunkt der
grossen Mehrheit der deutschen Partei und der nach unserer Auffassung auch in den
Beschlüssen des VI. Weltkongresses und IV. [RGI]-Kongresses niedergelegten Politik.
Einige Ueberspitzungen, die in diesem Kampf gemacht wurden, wurden als Mängel
und kleine Fehler auch in dieser Resolution festgestellt. Was die allgemeinen Mängel
und Schwächen der Taktik im Ruhrkampf betrifft, so sind sie kritisch beleuchtet und
auf das richtige Mass der bolschewistischen Selbstkritik in der vom Z.K. angenomme-
nen Resolution festgestellt worden.
e) Die Anschuldigung, dass die Mehrheit der Partei und ihre Führung die Rolle
der S.P.D. und ihren Einfluss auf die werktätigen Schichten falsch einschätzt, ist
unbegründet. Vielmehr sind wir der Meinung, dass der Genosse Humbert-Droz nicht
begreift, an Hand der Tatsachen des Auftretens der Rollkommandos des Reichsban-
ners beim Hamburger Hafenarbeiterstreik usw., dass die Taktik und Kampfesfront der
S.P.D. sich seit 1914 im wesentlichen geändert hat. Wenn für den Genossen Humbert-
Droz die Entwicklung der Sozialdemokratie zum Sozialfaschismus nicht etwas beson-
deres darstellt und etwas Neues, so sind wir entgegen seiner Auffassung in dieser
Frage anderer Meinung.
f) Die Stellung des Genossen Humbert-Droz zum innerparteilichen Kurs der deut-
schen Partei stimmt im allgemeinen überein mit dem Standpunkt der versöhnleri-
schen Gruppe. Dabei ist eines besonders festzustellen, dass der Genosse Humbert-
Droz behauptet, dass neben der rechten Gefahr auch linke Gefahren vorhanden
sind. Eine solche proportionelle Einschätzung der innerparteilichen Situation in der
deutschen Partei ist momentan völlig falsch und entspricht nicht den Tatsachen.
Diese Feststellung schliesst nicht aus, dass auch „linke“ Fehler in der Partei gemacht
wurden, die aber keineswegs eine Gefahr für die Partei bedeuten. Wir werden in den
nächsten Tagen unseren ideologischen Kampf besonders gegen die rechten Liquida-
toren in der Partei verstärken und verschärfen, aber es auch nicht unterlassen, die
politische Plattform der Versöhnler und ihre innerparteiliche Stellung zu bekämp-
fen.161 Der Genosse Merker vom Politbüro ist beauftragt, über die Taktik im Ruhr-
kampf und auch über die neueren Erscheinungen in der innerparteilichen Entwick-
lung des Politsekretariats besonders zu informieren.
g) Wäre das richtig, was der Genosse Humbert-Droz in seinen Ausführungen u.a.
behauptete, „dass die Linie, die von Ewert vertreten wird, wenn auch manche For-
mulierungen nicht ganz glücklich sind, der Linie der VI. Weltkongresses viel näher
sind als die Linie der heutigen Parteileitung“, dann müsste die Komintern gegen die
Beschlüsse und gegen die Linie der Mehrheit der deutschen Partei den entscheiden-
den Kampf aufnehmen.
h) Die fälschliche Behauptung, dass der Genosse Neumann der leitenden Instanz
der Parteiführung angehört und dass er der Leiter des Polbüros hinter den Kulissen
ist, nehmen wir zur Kenntnis und erklären, dass dies eine bewusste Verleumdung
der jetzigen Führung der deutschen Partei bedeutet. Richtig ist, dass der Genosse
Neumann stellvertretender Chefredakteur der „Roten Fahne“ ist, dass der Genosse
Neumann gemeinsam mit der Mehrheit der Führung aufs engste zusammenarbeitet,
richtig ist, dass der Genosse Neumann seine Aufträge im Interesse der Partei richtig
durchführt, richtig ist, dass der Genosse Neumann einige Aufrufe nach vorhergehen-
der Besprechung im Sekretariat als Grundlage formuliert, die wir später nach einigen
Korrekturen angenommen haben.
161 Im Unterschied zur „Rechen“ Opposition um Brandler und Thalheimer richteten die „Versöhn-
ler“ ihre Strategie nicht nach einer politischen Plattform aus. Ihre Führungsfiguren Ernst Meyer und
Jules Humbert-Droz verteidigten stattdessen die Beschlüsse des VI. Weltkongresses in ihrer ursprüng-
lichen Intention, die später manipulativ verändert wurden: „Dass sie [die Versöhnler] ihren Kampf
gegen Thälmann nicht auf Grundlage einer politischen Plattform führten, musste ihre Position erheb-
lich schwächen. Viele Parteimitglieder konnten die inhaltlichen Hintergründe des Konfliktes nicht
nachvollziehen, ihnen musste der versuchte Sturz des zuvor lange als proletarischer Führungsfigur
stilisierten und an der Basis beliebten Thälmann vor allem als eine undurchsichtige ‚Palastrevolution‘
erscheinen.“ (Wilde: Ernst Meyer, S. 527).
Dok. 205: Moskau, 22.12.1928 659
Dok. 205
Brief Stalins an Manuilski über seine angebliche Einmischung in
die Angelegenheiten der KPD
Moskau, 22.12.1928
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 558/11/763, 48–49. In deutscher Sprache publ.
in: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 283–284. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/
Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 571–573.
Mir liegt eine Kopie Deines Briefes vom 14. Dezember vor.162 Ich halte es für nötig,
darauf mit zwei Worten zu antworten.
1) Deine Einwände gegen den nichtexistierenden „Vorschlag“ zur Abberufung von
Neumann haben mich erstaunt. Wie kommst Du auf diesen nichtexistierenden „Vor-
schlag“, welche Klatschmäuler haben Dir diese „Information“ gesteckt? Ist es nicht
seltsam, daß Du, der jede Möglichkeit hat, sich aus erster Hand zu informieren, es vor-
ziehst, mit den unwahrscheinlichsten Gerüchten von einem „Rückzug“, einer „Kurs-
änderung“ usw. zu arbeiten. Es gab einen Versuch (nur einen Versuch) von einem Mit-
glied der KPdSU-Delegation, die Frage der Ablösung Neumanns zu stellen. Wir haben
Material angefordert, und da es kein Material gab, wurde der Versuch begraben. Das
ist alles. Allerdings gab es auch einen analogen Vorschlag von Humbert-Droz und
Clara Zetkin. Aber was kann ein Vorschlag dieser Genossen schon bedeuten, wenn
die gewaltige Mehrheit der KPdSU-Delegation und des EKKI-Präsidiums ohne Wenn
und Aber gegen diesen Vorschlag sind? Von wem ist eine solche, mit Verlaub gesagt,
Information überhaupt zu Dir gelangt? Etwa von Lominadze? Lominadze ist von der
Sorte Genossen, die das Gras wachsen hören. Das weißt Du genauso gut wie ich. Ich
162 Der Brief Manuilski an Stalin vom 14.12.1928 ist abgedruckt in: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-
Skandal, S. 260–262. Manuilski hatte sich in dem Glauben, dass Stalin für die Abberufung Heinz Neu-
manns sei, dagegen ausgesprochen.
660 1924–1929
weiß, daß Lominadze mit Neumann im Briefwechsel steht.163 Ich vermute, daß Gen.
Neumann es vorzieht, sich bei Lominadze zu informieren. Ich vermute es nicht nur,
sondern ich bin fast davon überzeugt. Aber das kann zu nichts Gutem führen. Erkläre
das dem Gen. Neumann mit allem Nachdruck. Oder hast Du diese „Information“ etwa
von den deutschen Versöhnlern? Gratuliere zu der guten Gesellschaft, in die Du da
geraten bist. Paß auf, daß Dir das nicht wieder passiert...
2) Wir sind gegen die Abberufung des Gen. Neumann. Aber wir sind auch gegen
die Fehler, die er zuweilen macht. Ich meine die Konzeption von der „kurzen Perspek-
tive“, vom „Aufschwung“ usw. Aus dem internen Brief an das Politbüro des ZK der
KPD wirst Du ersehen, daß wir solchen Fehlern keinen Vorschub leisten. Übrigens
wüßte ich gern Deine Meinung über den offenen Brief des Präsidiums des EKKI zur
rechten Gefahr in der KPD und über den internen Brief an das Politbüro des ZK der
KPD.164 Es kann der Eindruck entstehen, daß wir mit diesen Briefen etwas spät dran
sind. Aber das trifft nicht zu. Ich denke, daß die Briefe genau zum richtigen Zeitpunkt
abgeschickt wurden. Warum haben wir uns mit diesen Briefen nicht beeilt? Weil wir
wollten, daß das ZK der KPD auf eigene Initiative ernsthaft etwas zum Kampf gegen
die rechte Fraktion und die Versöhnlergruppe unternimmt. Wenn das EKKI bestimmte
eigene Schritte des ZK der KPD billigt, dann scheint mir das zweckdienlicher für die
deutsche KP und für das EKKI zu sein, als wenn das EKKI das ZK der KPD zu dem
einen oder anderen Schritt drängen muß.
3) Was alle möglichen Nebenfragen betrifft, die sich Dir zu diesem Brief stellen
können, so findest Du die Antworten im Stenogramm der Reden auf dem Präsidium
des EKKI am Tag der Annahme der beiden Briefe, sowohl des offenen als auch des
geschlossenen. Ich und Molotov mußten dort ziemlich scharf auftreten und Humbert-
Droz als Vertreter eines „feigen Opportunismus“ (Versöhnlertum ist feiger Opportu-
nismus) ans Kreuz schlagen.165 Wir haben beschlossen, das Stenogramm mit diesen
Reden an die Zentralkomitees aller großen Sektionen zu verteilen.
163 Sowohl Neumann als auch Lominadze intrigierten – vermutlich im Auftrag Stalins – gegen Bu-
charin, um seine Absetzung zu erreichen. Während Neumann nach Deutschland zurückging und dort
politisch auf das Abstellgleis gestelt wurde, wurde Lominadze, der von 1930 an verstärkt eine Opposi-
tionsrolle gegen Stalin einnahm, nach Transkaukasien abkommandiert. Neumann wurde 1937 in der
Sowjetunion erschossen, der 36jährige Lominadze erschoss sich 1935 selbst. Siehe: Branko Lazitch,
Milorad M. Drachkovitch: Biographical Dictionary of the Comintern, Stanford, CA., Hoover Institution
Press, 1973, new, revised and expanded edition 1986 (Hoover Press Publication, 340), S. 273f.; Marga-
rete Buber-Neumann: Kriegsschauplätze der Weltrevolution. Ein Bericht aus der Praxis der Komintern
1919–1943, Frankfurt am Main-Berlin-Wien, Ullstein, 1973, S. 104, 106f., 120, 211 (Ullstein-Buch. 3645);
id., Die Erloschene Flamme. Schicksale meiner Zeit, München e.a, Langen Müller, 1976 (Frankfurt am
Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1978, S. 149f.; Rupert W. Davies: “The Syrtsov - Lominadse Affair”.
In: Soviet Studies XXXIII (1981), No. 1, S. 29–50.
164 Gemeint ist der geschlossene Brief des Politsekretariats der Komintern vom 20.12.1928. Siehe
Dok. 202.
165 Stalins Ausfall in seiner Rede im EKKI-Präsidium vom 19.12.1928 ist folgendermaßen protokol-
liert: „Man kann nicht ohne Empörung über diese Erklärung [von Humbert-Droz] reden. Das ist die
Dok. 205: Moskau, 22.12.1928 661
Damit soll es genug sein. Ich drücke Dir die Hand. Gruß an Teddy.
feig-opportunistische Erklärung eines übergeschnappten Journalisten, der bereit ist, gegenüber der
Komintern zum Verleumder zu werden, nur um die Rechten mit Advokatentricks herauszuhauen.“ (2.
Rede des Genossen Stalin (...). In: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-Skandal, S. 271–273, hier: S. 273).
Auf dessen Anfrage teilt Humbert-Droz am 11.2.1929 Bucharin darüber hinaus folgendes mit: „In Be-
antwortung Ihrer Anfrage bestätige ich, daß während der Vorlesung meiner Erklärung, am Ende des
Präsidiums über die deutsche Frage, ich durch einen Zwischenruf des Genossen Stalin unterbrochen
wurde, der „poschel k tschwortu“ [Gehe zum Teufel] zugerufen hat [...]. Trotzdem, daß ich diese neue
Art und Weise der Behandlung der ausländischen Genossen im Präsidium der Komintern seitens
eines Vertreters des russischen Politbüros, als eine unerhörte, noch nie in der Geschichte der Komin-
tern dagewesene Methode der Leitung seitens der WKP betrachte, habe ich nach diesem Zwischenruf
des Genossen Stalin und den Zwischenrufen Molotows „licermernyi“ [heuchlerisch] meine Erklärung
ruhig und ungestört fortgesetzt.“ (Humbert-Droz an Bucharin, 11.2.1929. In: Ibid., S.298f.).
1929
Dok. 206
Arbeitsprogramm der deutschen Ländergruppe der
Internationalen Leninschule für das erste Halbjahr 1929
Berlin, 1.1.1929
Typoskript in deutscher Sprache, ohne Datum, Auszug. RGASPI, Moskau, 495/292/46, 1–2. Erstver-
öffentlichung.
Arbeitsprogramm der deutschen Ländergruppe an der I.L.S.1 vom Januar bis Juni 1929.
Zu behandelnde Themen:
I. Stellungnahme zur Gewerkschaftsfrage und zum Januar-Plenum des Z.K. der K.P.D.
II. Stellungnahme zu den Ergebnissen des österreichischen Parteitages (K.P.Oe.).
III. Stellungnahme zu Fragen der holländischen Partei (K.P.H.).
IV. Stellungnahme zu den Vorbereitungen des deutschen Parteitages (K.P.D.).
V. Stellungnahme zu den Ergebnissen des S.P.D.–Parteitages.
VI. Stellungnahme zur Frage des Einheitsstaates, wie sie vor der deutschen Partei steht.
VII. Stellungnahme zur deutschen Aussenpolitik.
VIII. Stellungnahme zur Agrar- und Bauernfrage, wie sie vor der deutschen Partei steht.
IX. Stellungnahme zu den Ergebnissen des deutschen Parteitages (K.P.D.). [...]
a.) Organisatorisch:
Die Ländergruppe tagt alle 14 Tage. Der Plan beginnt nach dem Stattfinden des Janu-
arplenum des Z.K. der K.P.D., also ungefähr Ende Januar, Anfang Februar. Bis Ende
Februar soll das I. Thema beendet und durchgearbeitet sein. Anfang März das II.
Thema. Mitte März das III. Thema. Bis Anfang April das IV. Thema. Mitte April das
V. Thema. Ende April das VI. Thema. Anfang Mai das VII. Thema. Mitte Mai das VIII.
Thema. Bis Anfang Juni das IX. Thema. Bei wichtigen, neu auftauchenden Fragen,
wird evtl. eine Umstellung erfolgen müssen. Das trifft auch auf die angeführten
Themen selbst zu, da sie mehr oder weniger zeitlich von Konferenzen der Partei
abhängen. [...]
1 Es handelt sich um den ersten Halbjahreskursus an der Internationalen Leninschule. Seitens der
KPD nahmen 33 Schüler teil, darunter Hermann Matern (Polsekretär Magdeburg), Paul Nischwitz
(UB-Leiter Zwickau), Karl Olbrisch (RFB Gauleiter Berlin), Albert Janka (Redakteur, Erzgebirge), Fritz
Selbmann (Gewerkschaftssekretär Ruhrgebiet), Willi Dolgner (UB Brandenburg) und Otto Wahls (Ber-
lin) (RGASPI, Moskau, 495/293/107, 83–84).
Dok. 206: Berlin, 1.1.1929 663
Auf Vorschlag Pjatnitzkis und Jaroslavskijs beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion am
3.1.1929, die Frist für die definitive Stellungnahme und die Antwort an die „Rechten“ (Heinrich Brand-
ler und August Thalheimer) auf den 15. Januar anzusetzen.2
Ebenfalls am 3.1.1929 erfolgte in einem Grundsatzbeschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion
eine Stärkung der Prärogative der OGPU gegenüber dem sowjetischen Außenkommissariat (nach ei-
nem Entwurf von Menžinskij). Die Verwendung von Informationen und Dokumenten der OGPU durch
den außenpolitischen Apparat wurde mit Restriktionen belegt. Im konkreten Fall konnte die OGPU
zukünftig über die Verwendung und die Bekanntgabe diesbezüglicher, aus ihren Quellen stammen-
den Informationen und Dokumenten eigenständig entscheiden, auch gegenüber den Botschaftern
der UdSSR in den einzelnen Ländern.3
Einem weiteren Beschluss des Politbüros vom 7.1.1929 zufolge sollte Thälmann und Willi Leow als
Führer des deutschen Roten Frontkämpferbundes übermittelt werden, dass aus Sicht der sowjeti-
schen politischen Führung das Angebot des Roten Frontkämpferbunds nicht für opportun gehalten
wurde, der Roten Armee Flugzeuge zu schenken. Es wurde darum gebeten, keinerlei Schritte in dieser
Richtung zu unternehmen.4
Ebenfalls am 7.1.1929 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, „Tr.“, also Lev Trotzki, wegen
„antisowjetischer Tätigkeit“ ins Ausland abzuschieben. Der hauptsächliche Organisator der Oktober-
revolution suchte zunächst auf der türkischen Insel Büyükada um Exil nach. 1940 wurde er auf Geheiß
Stalins im mexikanischen Exil von einem NKWD-Agenten ermordet.5
Am 10.1.1929 bestätigte das Politbüro der KP der Sowjetunion das Budget der Komintern für
1928/1929 in Höhe von 1.277.500 Rubel, davon für das OMS 332.000 Rubel, für den Apparat des EKKI
888.000 Rubel. Für die zusätzlichen Kosten zur Durchführung des VI. Weltkongresses der Komintern
wurden weitere 57.000 Rubel bewilligt.6 Eine Woche später, am 17.1.1929, verabschiedete das russi-
sche Politbüro das Budget der Profintern in Höhe von 496.744 Rubel, mit einem Abzug von 100.000
Rubel, die vom Sowjetischen Zentralrat der Gewerkschaften (VCSPS) aufgebracht werden sollten.7
Dok. 207
Anweisungen der Kleinen Kommission der Komintern zur
ultimativen Veröffentlichung von Presseartikeln
Moskau, 21.1.1929
Protokoll Nr. 25
der Sitzung der Ständigen Kommission des Sekretariats des EKKI vom 21. Januar 1929.
Anwesend: Piatnitzki, Šmeral, Ulbricht, Heimo, herangezogen Martynow, Wasiljew,
Galopin, Ulrich.
Behandelt (1. 408): [...] Frage der Verweigerung des französischen Verlages der KI
einen von der Redaktion der KI8 für Veröffentlichung bestimmten Artikel des Gen.
Wasiljew abzudrucken.
Nach Rückkehr des Gen. Kreps von seinem Urlaub, soll die Frage zur Behandlung
gestellt werden, warum sieben Nummern der englischen Ausgabe der KI. nicht
erschienen sind.
Am 31.1.1929 fasste das Politbüro der KP der Sowjetunion einen zustimmenden Beschluss zur Re-
solution vom 28.1.1929 über Heinrich Brandler und August Thalheimer. Am 29.12.1928 hatte sich
die „Rechte Opposition“ als Kommunistische Partei Deutschlands – Opposition (KPO) konstituiert.
Brandler und Thalheimer wurden aus der VKP(b) ausgeschlossen, gleichzeitig erfolgte in den ersten
Monaten des Jahres 1929 bis in die Regional- und Ortsorganisationen der KPD hinein der Ausschluss
der „Rechten“ und die Ausschaltung der „Versöhnler“.9
Auf Vorschlag Pjatnitzkis fasste das Politbüro der KP der Sowjetunion am 21.2.1929 den Beschluss,
dass die Komintern am Internationalen Antifaschistischen Kongress in Berlin offiziell teilnehmen soll-
te. Das EKKI sollte dafür Sorge tragen, dass die kommunistischen Parteien den Kongress bewarben
und propagandistisch begleiteten. Der von Henri Barbusse eröffnete Kongress fand vom 9.–10. März
im Großen Saal des Berliner Gewerkschaftshauses statt und führte zur Konstituierung des Weltkomi-
tees. Es nahmen 314 Delegierte aus 23 europäischen Ländern und aus Übersee teil.10
Dok. 208
Telegraphische Bestätigung der Komintern über die Säuberungen
und Ausschlüsse in der Roten Hilfe Deutschlands (RHD)
Moskau, 7.3.192911
Telegramm
Deutsche Reichspost Berlin
Kommunistische Partei Deutschlands
Kl. Alexanderstr. 28
9 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/3/724, 2–4. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Po-
litbjuro i Komintern, S. 577–578.
10 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/162/7, 35. Publ. in: Ibid., S. 579–580.
11 Datum nach Poststempel (mögl. auch 1.3.1929).
12 Jakob Schlöhr (1888–1956) war Sekretär der Roten Hilfe Deutschlands. 1928 seiner Funktion ent-
hoben, wurde er 1929 als Vertreter der „Rechtsopposition“ ausgeschlossen und ging zur KPO.
13 Die Rote Hilfe Deutschlands (RHD) war seit 1924 (seit 1925 von Clara Zetkin geleitet) die nationale
Sektion der Internationalen Roten Hilfe (IRH). Durch Intellektuelle und Künstler wie Heinrich Mann,
Albert Einstein, Heinrich Vogeler u.a. unterstützt war ihre als „proletarisches Rotes Kreuz“ definierte
Aufgabe gleichwohl politischer Natur. Sie führte im besonderen den Kampf gegen die politische Un-
terdrückung und leistete Hilfe für die von staatlicher Repression Betroffenen. Darin unterschied sie
sich von der IAH als „Proviantkontrolle des Proletariats“. Siehe: Brauns: Schafft rote Hilfe; Hering/
Schilde: Die Rote Hilfe.
666 1924–1929
Am 7.3.1929 verabschiedete das Politbüro der KP der Sowjetunion die Losungen zum zehnjährigen
Jubiläum der Komintern. Der siebenseitige korrigierte Text ging zur Kennntnis an Chinčuk, Litvinov
und Trilisser. Es befasste sich ebenfalls abschließend mit dem Programm der Kommunistischen Ju-
gendinternationale.15
Dok. 209
Schreiben Ulbrichts an Leo Flieg über Kürzungen der finanziellen
Zuschüsse der Komintern an die KPD
Moskau, 9.3.1929
Besten Gruss
Walter.
14 MOPR (Meždunarodnaja Organizacija Pomošči Borcam Revoljucii ) ist die russische Abkürzung
für die Internationale Rote Hilfe (IRH). Siehe hierzu Dok. 155 u.a.
15 RGASPI, Moskau, 17/3/729, 5–7. Ohne Anhang publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro
i Komintern, S. 583–584.
16 Für das Jahr 1928 erfolgte seitens des sowjetischen Politbüros eine Aufstockung der Mittel für die
kommunistischen Parteien (siehe PB-Beschluß vom 2.2.1928). Das Budget des EKKI für 1929 wurde um
knapp eine halbe Million Rubel gekürzt (siehe PB-Beschluß vom 29.11.1928).
Dok. 210: Saratov, 15.3.1929 667
Dok. 210
Persönlicher Brief Voja Vujovićs aus der sowjetischen
Verbannung an Jules und Jenny Humbert-Droz über die Folgen der
Thälmann-Affäre
Saratov, 15.3.1929
Saratov
Časovennaja 75 kv. 7
V.V.
17 Ironische Anspielung auf Stalin, der dem schweizer Kominternsekretär mit einigen Invektiven be-
dacht hatte, siehe Dok. 205.
18 Samokritika (russ.): Selbstkritik.
19 „Peperisieren“ – sprachliche Verballhornung der Tätigkeit des für seinen Schematismus bekann-
ten Kominterninstrukteurs John Pepper (Ps.), d.i. József Pogány.
20 Unter dem maßgeblichen Einfluss Togliattis erklärte sich das ZK der KP Italiens gegen Bordiga,
Tasca und andere Opponenten mit dem Kurs Stalins und der Komintern-Führung in der Thälmann-
Affäre solidarisch. Der Neapolitaner Amadeo Bordiga (1889–1970) war in der ersten Phase der Partei-
geschichte zusammen mit Antonio Gramsci (1891–1937) wichtigster Repräsentant der KPI. Letzterer
wurde unter Mussolini 1928 zu 20 Jahren Haft verurteilt und starb im Gefängnis. Bordiga prägte den
668 1924–1929
die Kommunistische Internationale. Denn, mit gehorsamen Dienern hat man noch
nie Revolutionen gemacht. Welch ein Absturz, trotz alledem! Jedoch einmal auf dem
Pfad Stalins engagiert, besitzt man keine Macht mehr, anzuhalten und man schluckt
alle Schmutzigkeiten herunter, selbst wenn dies zu sehr nach Asien riecht.
Ich bin grundsätzlich gegen Eurer politisches Programm und das der Anderen auf
der Rechten eingestellt und ich finde, dass man es mit all seinen Kräften bekämpfen
muss.21 Dafür jedoch muss man der Partei die Möglichkeit einräumen, zu erfahren,
worum und um wen es geht, das Programm der Rechten genau kennenzulernen, aus
unmittelbarer Quelle. Nur dann kann die Partei eine Prüfung vornehmen und sich frei
über die bestehenden Meinungsunterschiede aussprechen. Genau dies fehlt jedoch.
Man bekämpft euch mittels der „prorabotka“.22 Und man fragt sich immer stärker:
wohin gehen wir?
Die Geschichte mit Trotzki, auf der anderen Seite, stellt etwas so Degoutantes,
so Abscheuliches, so Schmutziges dar, dass sogar Jaroslavskij und Stalin darüber
erröten sollten! Doch wie du siehst, ist das nicht der Fall. Jaroslavskij zufolge wartete
Trotzki nur den geeigneten Zeitpunkt ab, um ins Ausland zu gehen und sich an die
Bourgeoisie zu verkaufen! Das ist der Höhepunkt der Schweinerei! Und all das wird
mit ernster Mine dem Proletariat offeriert – dem Hegemon der Revolution! Und die
Allmacht des Apparats bewirkt, dass man alles schluckt, ohne einen Ton zu sagen!
Wie widerlich ist das alles!23
[...] Ich verbringe meine Zeit damit, den 5. Leninband zu übersetzen. Es wird noch
einen Monat dauern. Unglücklicherweise bin ich physisch so geschwächt, dass ich
kaum dazu komme, an mir selbst zu arbeiten. In Archangelʼsk fühlte ich mich besser.
Vom 1. März an hat man uns die Pension auf 6 Rubel 25 [Kopeken] im Monat gekürzt.
Respekt vor den demokratischen Freiheiten und die moskaukritische Haltung der ersten Jahre. Wie
Gramsci hatte er das Politbüro der RKP(b) vor der Entfesselung eines „Bruderkampfes“ in der kom-
munistischen Bewegung gewarnt. Zur “Kapitulation“ Togliattis, der im Gegensatz zu Angelo Tasca die
Wiedereinsetzung Thälmanns verteidigte, siehe u.a.: A. Tasca: Déclaration au Présidium du Comité
Exécutif de l’Internationale Communiste sur l’Affaire Thälmann, publ. in: Bahne/Amo/Bayerlein: Ar-
chives de Jules Humbert-Droz, III, S. 87f.; vgl. Paolo Spriano: Storia del Partito comunista italiano. Bd.
2: Gli anni della clandestinità, Torino, Einaudi, 1969, S. 187ff. Zur Würdigung des Theoretikers Bordiga
siehe zuletzt: Christian Riechers: Amadeo Bordiga. Unperson, Abweichler, Altmarxist [1992]. In: Id.:
Die Niederlage in der Niederlage. Texte zur Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus. Heraus-
gegeben, eingeleitet und kommentiert von Felix Klopotek, Münster, Unrast-Verlag, 2009, S. 546–555.
(Dissidenten der Arbeiterbewegung. 1).
21 Humbert-Droz war zunächst Anhänger Bucharins und wurde später zu den „Versöhnlern“ gerech-
net.
22 „Prorabotka“: „Durcharbeitung“, weiterer russischer Begriff für Selbstkritik.
23 Am 7.1.1929 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, den Schöpfer und Oberbefehlshaber
der Roten Armee und Hauptorganisator der Oktoberrevolution wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ ins
Ausland abzuschieben. Der zwangsexilierte Revolutionsführer und hauptsächliche Organisator der
Oktoberrevolution fand von 1929–1933 in der Türkei Exil, wo er auf der Marmara-Insel Büyük Ada
(griechisch: Prinkipo) lebte. Siehe Politbürobeschluß vom 7.1.1929.
Dok. 211: Berlin, 19.3.1929 669
Seit einigen Tagen hat man sie erneut auf 15 Rubel erhöht. Das macht keinen großen
Unterschied. Sechs oder fünfzehn Rubel im Monat, dies bedeutet für die große Mehr-
heit der Deportierten gerade etwas, von dem man vor Hunger stirbt.24 Bravo Stalin!
Selbst Mussolini könnte Dich beneiden! Wenn die Bourgeoisie die Kommunisten aus-
löschen will, braucht sie ihnen gegenüber nur das gleiche Regime anzuwenden, das
Stalin sich für die Bolschewki-Leninisten ausgedacht hat. Und sie wird es vermutlich
nicht versäumen, diesem guten Beispiel zu folgen. [...]
Dok. 211
Brief von Josef Schneider an Remmele gegen den „Maulhelden“
Max Hoelz
Berlin, 19.3.1929
24 Vujović gehörte zu den linken antistalinistischen Oppositionellen und war Anhänger Sinowjews.
In der Komintern leistete er als einer der Letzten Widerstand gegen die Stalinisierung, bevor er 1928
in entferntere und zumeist unwirtliche Gegenden der Sowjetunion unter erniedrigenden Lebensbe-
dingungen deportiert wurde. Stalin ließ später auch seine beiden Brüder umbringen und löchschte
damit fast die gesamte Familie serbischer Revolutionäre aus. Siehe: Branislav Gligorijević: Izmedu
revolucije i dogme. Voja (Vojislav) Vujović u Kominterni, Zagreb, Spektar, 1983 (Biblioteca Nasi ljudi
u medunarodnom radnickom pokretu); Bahne/Amo/Bayerlein: Archives de Jules Humbert-Droz, III,
S. 158–160, S. 699f.
25 Nach seiner Freilasung aufgrund einer Amnestie im Jahre 1928 erschienen 1929 die Memoiren von
Hoelz in deutscher, russischer und tschechischer Sprache. Siehe: Max Hoelz: Vom ‚weißen Kreuz‘ zur
roten Fahne. Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse, Berlin, Malik-Verlag, 1929.
670 1924–1929
26 Joseph Schneider (1882–1939 im Gulag) war 1921 Mitglied des nach dem Einmarsch der Reichssi-
cherheitspolizei mit Vertretern der VKPD, der KAP und Betriebsräten gebildeten Aktionsausschusses
im Mansfeld. Hoelz bezeichnete ihn als seinen Stellvertreter. In Hoelzs Memoiren findet sich immer
noch folgende Passage über Schneider: „Es war zum Schreien komisch, wenn dieser auffallend klei-
ne, überfette Mensch in einem kleinen Wanderauto, das er irgendwo requiriert hatte, durch die von
streikenden Arbeitern angefüllten Straßen fuhr. Wer ihn nicht persönlich kannte, mußte ihn für einen
kapitalistschen Ausbeuter halten.“ (zit. nach: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 811).
27 Im Vorwort zu den 2005 erschienen Tagebüchern von Hoelz findet sich bei Ulla Plener eine we-
niger negative Lesart des Kampfes von Hoelz: “Max Hoelz, der sich im Mansfeldischen an die Spitze
der – zwölf Tage dauernden – bewaffneten Kämpfe der Arbeiter gesetzt hatte und dabei vor Gebäu-
desprengungen, Geiselnahme, Lebensmittel- und Geldbeschlagnahmungen u. ä. m. nicht zurück-
schreckte, wurde im April gefaßt, im Juni vor ein Sondergericht gestellt und zu lebenslänglichem
Zuchthaus verurteilt. Seine mutige Rede vor Gericht, in der er die Bourgeoisie und die ihr dienende
Weimarer Justiz scharf angeklagt hatte, beendete er mit dem Ruf: Es lebe die Weltrevolution! Der Ur-
teilsverkündung begegnete er mit den Worten: Es kommt der Tag der Freiheit und der Rache – dann
werden wir die Richter sein!“ (Plener: Max Hoelz, S. 13). Eine skeptische Haltung gegenüber der Per-
son Hoelzs dominierte jedoch auch innerhalb der KPD- und Komintern-Führung. Bereits im Herbst
1922 informierte Karl Radek die Exekutive der Komintern über krankhafte Züge von Hoelz, auch im
Gefängnis („Gefangene in Muenster haben sich bei der Partei sehr ueber Hoelz beschwert, dass er
auch ihnen gegenueber sehr hochmuetig und schroff aufgetreten sei, er habe ihnen auch ins Essen ge-
spuckt“). Hoelz‘ Artikel, „die tatsächlich die Partei blamieren können“, sollten „nicht ohne weiteres
abgedruckt werden.“ (Dok. 73). Am 22.3.1929 sandte Ulbricht folgendes Schreiben an das Parteisekre-
tariat: „Betr. Memoiren Hölz: Ich habe Euch bereits mitgeteilt, dass der hiesige Verlag gegen einzelne
Stellen in dem Buch von Hölz Bedenken hat. Soweit ich informiert bin, sind im Verein mit Hölz von
Euch im ursprünglichen Manuskript eine Reihe Korrekturen vorgenommen. Es ist notwendig, diese
Korrekturen auch auf die russische Ausgabe zu übertragen. Sorgt bitte dafür, dass die Agitpropabtei-
lung diese Angelegenheit beschleunigt erledigt.“ (RGASPI, Moskau, 495/292/44, 87).
Dok. 212: Berlin, 22.3.1929 671
Dok. 212
Brief Čičerins an Stalin zur Kritik am Kriegsgefahrsyndrom und
den außenpolitischen Vorgaben der Deutschlandpolitik der
Sowjetunion
Berlin, 22.3.1929
Verehrter Genosse,
[...] Wenn Sinowjew auf dem August-Plenum 1927 die kolossale Dummheit äußerte,
dass sich „Deutschland umorientiert hat“,29 heißt das nicht, dass unsere Presse diesen
Unsinn wiederholen und [damit] unsere Lage verschlechtern sollte. Die deutschen
Kommunisten hätten es sehr gerne, dass sich unsere Beziehungen zur deutschen
Regierung verschlechtern würden, da sie zur Zeit erfolglos agitieren, aber wir können
doch unsere Beziehungen zu Deutschland nicht verschlechtern, bloß um ihnen und
dem August-Sinowjew damit einen Gefallen zu tun. Gen. Stoecker sagte über das
Memorandum von Groener (das im nicht sinnentstellten Wortlaut für uns ziemlich
günstig ist)30 im Reichstag, dass man sich unter der Möglichkeit eines Krieges gegen
Polen die Vorbereitung eines Krieges gegen die UdSSR vorzustellen habe. Nun, was
für eine Idiotie! Der ganze Reichstag hat gelacht.
In unseren Moskauer Auftritten wird davon geredet, dass sich die Gefahr eines
Krieges zwischen den kapitalistischen Staaten und somit auch diejenige eines Über-
falls auf uns verschärft hat. Was für ein Unsinn, wie kann man solche Sachen erzäh-
len!! Dank des Krieges zwischen kapitalistischen Staaten haben wir die Macht erobert
und gefestigt, und jegliche Verschärfung der Antagonismen Deutschland – Entente,
28 In dem im Berliner Grunewald gelegenen Sanatorium starb Franz Mehring im Januar 1919.
29 Gemeint ist, dass sich das Deutsche Reich gegen die Sowjetunion umorientiert, d.h. den Kurs der
Zusammenarbeit beendet habe, was jedoch nicht zutraf.
30 In einem vertraulichen Memorandum, das wenig später als Sensation in London veröffentlicht
wurde, hatte Reichswehrminister General Wilhelm Groener im November 1928 den Bau eines „Panzer-
schiffes“ befürwortet. Dabei ging es um eine Stärkung der Beziehungen zwischen Staat und Armee,
im besonderen betrachtete Groener dies als Schutz im Falle einer Bedrohung der deutschen Neutra-
lität durch eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Drittstaaten sowie der Möglichkeit eines
polnischen Militärschlags gegen Ostpreußen. Dies war der Ausgangspunkt für die Mobilisierung der
Öffentlichkeit und der – gescheiterten – Kampagne der KPD für ein Volksbegehren gegen den Pan-
zerkreuzerbau. Als erstes Panzerschiff wurde 1931 die „Deutschland“ gebaut (siehe Dok. 197 u.a.; vgl.
B.J.C. McKercher/Roch Legault (Hrsg.): Military Planning and the Origins of the Second World War in
Europe, Westport CT, Praeger, 2001, S. 63).
672 1924–1929
31 Während anfänglich häufig eine „politische Krankheit“ kolportiert wurde, verschlimmerte sich
Ende der 1920er Jahre der Gesundheitszustand Čičerins immer stärker, der an Nerven- und Darment-
zündungen (Polyneuritis, Kolitis) litt. Er wurde 1930 als Volkskommissar des Äusseren durch seinen
bisherigen Stellvertreter Maksim Litvinov ersetzt. Er starb am 7. Juli 1936 in Moskau (siehe: Thomas:
Georgi Tschitscherin, S. 261).
32 Außer handelspolitischen Beziehungen mit England und den Niederlanden hatte sich das Zaren-
reich im Rahmen seiner Isolierungspolitik westlichen Kontakten weitgehend verschlossen. Erst im
18. Jahrhundert wurde dies mit Peter dem Großen (1689–1725) und Katharina II. (1762–1796) aufge-
brochen.
33 Čičerin unterzog sich in Wiesbaden einer weiteren Kur. Er logierte im Hotel und Badhaus „Vier
Jahreszeiten“ gegenüber dem Kurhaus. Nach der Zerstörung im Krieg wurde es als Appartmenthaus
wieder aufgebaut (Thomas: Georgi Tschitscherin, S. 257f. u.a.).
Dok. 213: Moskau, 25.3.1929 673
zugeben. Später wird man auf meinen Grabstein schreiben: „Čičerin, ein Opfer der
Kürzungen und Säuberungen“.
Meine schrecklichsten Ängste werden durch unsere Zeitungen hervorgerufen. [...]
Dok. 213
Instruktionen Ulbrichts im Namen der Komintern und der KPD zur
neuen Gewerkschaftstaktik
Moskau, 25.3.1929
Telegramm
Deutsche Reichspost
Kommunistische Partei Deutschlands
Kl. Alexanderstr. 28
beschluss politsekr[etaria]t der richtlinienvorschlag des zk der kpd in der frage der
organisatorischen zusammenfassung der ausgeschlossenen in seinen punkten 1 und
2 sofort durchzufuehren35 durchfuehrung der uebrigen punkte die sich auf die erhe-
bung von beitraegen beziehen sollen aufgeschoben werden bis das praesidium des
34 Stalin antwortete darauf am 31.5.1929: „Ich denke, ungeachtet einiger Taktlosigkeiten, die unse-
re Leute gegenüber den Deutschen geäußert haben (die Deutschen sind gegenüber der UdSSR nicht
weniger taktlos), laufen unsere Beziehungen recht gut. Sie brauchen dringend Großaufträge für die
Industrie – unter anderem, um die Reparationen zahlen zu können. Solche Aufträge liegen natürlich
nicht auf der Straße, und von uns können sie, wie bekannt, nicht wenige erhalten. Mit den Deutschen
müßte es vorangehen. Es wäre nicht schlecht, den Konservativen bei den Wahlen einen Denkzet-
tel zu verpassen. Eine stabile Mehrheit werden sie offenbar nicht bekommen, wenn überhaupt. Eine
Niederlage der Konservativen hätte enorme Bedeutung für Europa im allgemeinen und für uns im
besonderen.“ (Besymenski: Stalin und Hitler, S. 116).
35 Infolge der Verselbständigung der KPD-Gewerkschaftspolitik in Form eigener Fraktionen,
„Kampfleitungen“ und einer generellen Verschärfung der Oppositionsbewegung innerhalb der Ge-
werkschaften erfolgten ab März 1929, beginnend mit dem Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV),
Ausschlüsse von KPD-Gewerkschaftern und Betriebsräten, die auf Separatkandidaturen und den
Faschisierungsvorwurf gegenüber der mehrheitlich sozialdemokratischen Führung nicht verzichte-
ten. Tatsächlich verlor die KPD durch den Kurs auf die Gewerkschaftsspaltung, angetrieben durch
Ulbricht und dem Leiter der Gewerkschaftsabteilung des ZK, Paul Merker, sogar bisher erreichte Po-
sitionen in Berlin und im Ruhrgebiet (Ruhrbergbau). Seit Sommer 1929 erfolgte dann mit dem Aufbau
der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) der definitive Bruch und zugleich das Einge-
ständnis der Unmöglichkeit, „(...) den Gewerkschaftsapparat ‚von innen heraus‘ zu erobern.“ (siehe:
Müller: Lohnkampf, S. 87f., 97f.).
674 1924–1929
Dok. 214
Anweisungen des Sekretariats der KPD an die Bezirksleitungen
zur Demonstration am 1. Mai und zum Kampf gegen das
Parteiverbot
[Berlin], 28.3.1929
Typoskript in deutscher Sprache. HSTA Hannover. 80 Hildesheim II, Nr. 585 Vol. V. Polizeiliche
Abschrift, R. Ko. 1831/29. Veröffentlicht in: Weber: Die Generallinie, S. 5–9.
[...] 1. Zur propagandistischen Führung des Kampfes gegen die drohenden Verbote.37
Wir verweisen auf das Rundschreiben des ZK vom 25. März ds. Js.,38 in dem die allge-
meinen Richtlinien unseres Kampfes gegen den verschärften Unterdrückungsfeldzug
der Bourgeoisie und der SPD enthalten sind [...] Für die richtige propagandistische
Führung dieser Massenmobilisierung sind folgende Punkte zu beachten:
1. Die verschärften Unterdrückungsmaßnahmen sind nicht Ausdruck der Stärke
der Bourgeoisie, der Festigkeit der kapitalistischen Stabilisierung, sondern im Gegen-
teil: Anzeichen der verschärften Gegensätze und Widersprüche, der wachsenden
Erschütterung der kapitalistischen Stabilisierung, Abwehrmaßnahmen der Bourgeoi-
sie und der Sozialdemokratie gegen die steigende revolutionäre Welle. Unsere Pro-
paganda muß daher einen kraftbewußten, stolzen, siegessicheren Ton haben, nicht
Klagen über den Angriff der Bourgeoisie, sondern entschlossener Wille zur Abwehr
und verschärftem Gegenangriff.
2. Jeder Schlag gegen KPD und RFB ist ein Schlag gegen die gesamte Arbeiter-
klasse. Zweck der Maßnahmen ist, den steigenden Kampfwillen der Massen, der in
den Wirtschaftskämpfen und Betriebsrätewahlen zum Ausdruck kommt, zu brechen.
Darum richten wir an die Massen den Appell: Schützt und stärkt Eure Kampforgani-
sationen!
3. Jedes Zurückweichen vor den Verboten, jede Unterwerfung unter das Polizei-
diktat lockert unsere Verbindung mit den kampfgewillten Massen. Eine Taktik des
Rückzuges würde die Unterdrückungsmaßnahmen der Bourgeoisie erleichtern. Ent-
schlossener Widerstand, kühne Durchbrechung des Demonstrationsverbotes auf
der Basis breitester Massenmobilisierung muß die Polizeimaßnahmen unwirksam
machen.39 Unser Ziel ist nicht, durch polizeifrommes Verhalten Verbote zu vermei-
den, sondern durch revolutionäre Massenarbeit die Maßnahmen des Klassenfeindes
möglichst zu erschweren und zu durchkreuzen. Der Grundton unserer Propaganda
muß sein: Der revolutionäre Klassenkampf, der Kommunismus kann nicht verboten
werden!
4. Der Kampf für die Rechte der Arbeiter gegen die drohende faschistische Dik-
tatur wird geführt nicht im Zeichen der Verteidigung der Demokratie, der Weimarer
Verfassung, sondern im Zeichen des revolutionären Klassenkampfes für die Diktatur
des Proletariats.
Arbeiter, verteidigt und stärkt Eure Kampforganisationen! Hinein in die KPD! Hinein
in den RFB!
Die SPD will den Klassenkampf verbieten, die KPD führt den Kampf der Arbeiter-
klasse!
Volle Arbeitsruhe am 1. Mai – Am 1. Mai Straße frei!
Nieder mit dem neuen Sozialistengesetz!
Der Kommunismus kann nicht verboten werden!
Was Bismarck und Seeckt nicht vollbrachten, werden Hermann Müller und Grzesin-
ski nicht vollbringen!
Die Koalitionspolitik ist der Weg zum Faschismus, die Diktatur des Proletariats ist der
Weg zum Sozialismus!
Die Verbote gegen die revolutionären Arbeiterorganisationen dienen der Vorberei-
tung des imperialistischen Krieges!
Kämpft gegen die Kriegshetzer, für die Verteidigung der Sowjetunion!
Im Auftrage des Kapitals hetzen SPD-Minister die Polizei gegen die Arbeiter!
Nieder mit dem Polizeisozialismus!40
Heraus aus der SPD, der Partei des Arbeiterverrats!
39 Die hier geforderte Taktik der „Durchbruchskämpfe“ war mitverantwortlich für die Katastrophe
am Berliner „Blutmai“ des 1. Mai 1929. Siehe hierzu Dok. 222.
40 In der Vorlage heißt es fälschlicherweise „Polizeispezialismus“.
676 1924–1929
Arbeiter im Reichsbanner, laßt Euch nicht von den Koalitionsgenossen der Stahl-
helmführer gegen die Arbeiter hetzen, kämpft in den Reihen des RFB gegen den
Faschismus!
Die KPD kämpft für den Achtstundentag und Lohnerhöhung, darum soll die KPD ver-
boten werden!
Nur die KPD vertritt die Interessen der Erwerbslosen, darum soll die KPD verboten
werden!
Der RFB kämpft gegen den imperialistischen Krieg, darum soll der RFB verboten
werden!
Es lebe die Kommunistische Partei!
Dok. 215
Anweisungen des Politsekretariats der Komintern zur
Vorbereitung des Internationalen Tages gegen den
imperialistischen Krieg
Moskau, 2.4.1929
Typoskript in deutscher Sprache. Schweizerisches Bundesarchiv, Bern J.II 94, 751.41 Erstveröffent-
lichung.
Vertraulich!
2.4. 1929
Anweisungen des Politsekretariats des EKKI über die Vorbereitung des Internationalen
Tages gegen den imperialistischen Krieg.
Der Internationale Tag des Kampfes gegen den imperialistischen Krieg ist auf den 1.
August festzusetzen. Dieser Tag und die Vorbereitungen sind zur Desorganisierung
des „Pazifistischen“ Tags auszunutzen, der von der Sozialdemokratie am 4. August
veranstaltet wird.42
Für den Charakter und den politischen Inhalt des Tages sollen folgende Losungen
massgebend sein:
Gegen den imperialistischen Krieg, Kampf gegen ihn mit allen Mitteln. Lasst uns
zu seiner Verwandlung in den Bürgerkrieg rüsten, Verteidigung der USSR. Unterstüt-
zung der revolutionären Bewegung in den Kolonien. Nieder mit den pazifistischen
Illusionen. Nieder mit der Sozialdemokratie, die 1914 das Proletariat verraten hat und
41 Laut den RGASPI-Überlieferungen wurde das Dokument in der Sitzung des Politsekretariats vom
25.3.1929 angenommen. Eine Abschrift des ansonsten identischen Dokuments siehe: RGASPI, Mos-
kau, 495/3/96, 81–85.
42 Am 4.8.1914 bewilligte die Reichstagsfraktion der SPD die Kriegskredite und wurde damit Kriegs-
partei.
Dok. 215: Moskau, 2.4.1929 677
die ein aktiver Faktor der Vorbereitung des neuen imperialistischen Krieges ist. Zer-
setzung der imperialistischen und faschistischen Streitkräfte, Schaffung von proleta-
rischen Selbstschutzorganisationen, Kampf gegen den Faschismus. [...]
2./ Formen der Kampagne zum Internationalen Tag gegen den imperialistischen Krieg:
Massenversammlungen und Meetings, Strassendemonstrationen, eintägiger Demon
strationsstreik oder mehrstündige Arbeitseinstellung, je nach der konkreten Situa-
tion; dabei ist der Vorbereitung von Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen in
Militärbetrieben (Metallindustrie, chemische Werke) besondere und erhöhte Aufmerk-
samkeit zuzuwenden, ebenso auch den strategischen Eisenbahnknotenpunkten und
Kriegshäfen. Beteiligung von Soldaten und Seeleuten an Demonstrationen und Ver-
sammlungen, Organisierung der Klassenverbrüderung zwischen Arbeitern und Solda-
ten bei Kundgebungen; überall, wo es möglich ist, sind in Kasernen und auf Schiffen
an diesem Tage Massenkundgebungen und Arbeitsniederlegungen zu organisieren
(Verweigerung des Exerzierens, Umzüge, revolutionäre Lieder usw.), Organisierung
von Kundgebungen und Umzügen ehemaliger Kriegsteilnehmer, Kriegsopfer (Invali-
den und Krüppel), von Frauen und Kindern. Austausch von Arbeitsdelegationen zwi-
schen verschiedenen Ländern zur Beteiligung an Versammlungen und Demonstrati-
onen. In Ländern, wo ausländische Arbeiter eine grosse Rolle spielen (Frankreich),
ist der Agitation unter Ihnen und ihrer Organisierung zum Internationalen Tag gegen
den imperialistischen Krieg besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.43 [...]
43 Frankreich hatte bei der Arbeitsmigration in Europa eine Vorreiterrolle inne. Durch die Kriege
1870/71 bzw. in Folge des Ersten Weltkriegs war es dort zu einem regelrechten Engpass bei den qua-
lifizierten Arbeitskräften gekommen, was durch Zuwanderung kompensiert werden sollte. Im Zuge
dieser Politik wurden Anwerbeabkommen u.a. mit Italien, Polen und der Tschechoslowakei abge-
schlossen.
678 1924–1929
44 Es handelt sich um das Westeuropäische Büro der Komintern (WEB), das im Sommer 1927 als ex-
territoriales Organ des Politsekretariats der Komintern des EKKI gegründet wurde (zunächst in Brüs-
sel, später in Berlin, siehe Dok. 25.8.1927 PB). Als weniger bürokratisch und näher an den Parteien
angesiedelt als der Moskauer Apparat zielte es vor allem auf den Kampf gegen die Oppositionsbe-
wegungen innerhalb der kommunistischen Parteien in den westeuropäischen Parteien. Dem italie-
nischen Vertreter bei der Komintern, Angelo Tasca, zufolge handelte es sich um ein Fraktionsorgan
für die Interessen der Stalin-Fraktion zur Absicherung ihrer Interessen (Archives Tasca, 26.12.1928.
In: Giuseppe Berti (Hrg.): I primi dieci anni di vita del Partito Comunista Italiano. Documenti inediti
dell‘archivio Angelo Tasca. In: Annali della Fondazione Feltrinelli VIII (1966), S. 241–1079, hier S. 612;
vgl. dagegen: Richard Gyptner: Das Westeuropäische Büro der Kommunistischen Internationale
(1928–1933). Erinnerungen an Georgi Dimitroff. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbe-
wegung (1963), Nr. 3, S. 481–489). Nach Manuilski in der Anfangszeit leitete in den Jahren 1929–1933
Dimitrov das Sekretariat, mit Richard Gyptner als Sekretär. Das Büro verfügte über einen eigenen
Apparat von Instrukteuren, es stand mit den kommunistischen Parteien Westeuropas und Amerikas
in Verbindung, denen sie die in Moskau getroffenen Entscheidungen übermittelte (Bayerlein: Trans-
nationale Netzwerke und internationale Revolution).
45 KJV: Gemeint ist hier ide Kommunistische Jugend-Internationale (KJI).
46 Die sogenannten Freundesorganisationen waren ein wichtiges und konstantes Element im Rah-
men des weltweit organisierten Sympathienetzes für die Sowjetunion. Sie gingen aus der IAH bzw.
den Hilfskomitees für das hungernde Russland hervor und wurden später durch die Arbeiterdele-
gationen in die Sowjetunion und weitere kulturelle Netzwerke ausgeweitet. Seit Mai 1928 auch orga-
nisatorisch im Internationalen Bund der Freunde der Sowjetunion zusammengefasst (Presseorgan
Der drohende Krieg), wurden sie zu einem operativ bedeutsamen Faktor in den von der VKP(b) und
Komintern durchgeführten Propagandakampagnen des Stalinismus. Als weiterer Zweig waren die Ge-
sellschaften der Freunde der Sowjetunion für den Kulturaustausch mit der Sowjetunion zuständig.
47 Bund ehemaliger Kriegsteilnehmer: Gemeint ist die im Juni 1920 gegründete Internationale der
Kriegsopfer und ehemaligen Frontkämpfer (IAC), maßgeblich durch die französische ARAC (Asso-
ciation républicaine des anciens combattants) mit starker Beteiligung der KP Frankeichs mit Henri
Dok. 215: Moskau, 2.4.1929 679
6.) Die Agitpropabteilung, die Orgabteilung und die Frauenabteilung des EKKI50
sowie das E.K. der KJI. Haben unverzüglich alle Massnahmen für die Vorbereitung
Barbusse als erstem Vorsitzenden (als Variante findet sich die Bezeichnung: Internationale Bewe-
gung ehemaliger Kriegsteilnehmer (IVGK). Wichtigste Mitglieder der ca. 100000 Mitglieder (1930)
umfassenden IAC mit Sitz in Berlin waren die Vereinigungen des Internationalen Bundes in Deutsch-
land, der Zentralverband bzw. die Reichsvereinigung in Österreich sowie die Organisationen in der
Tschechoslowakei, Bulgarien, Jugoslawien und den USA (siehe: Internationale Kriegsopfer-Konferenz
gegen den Abbau der Sozialpolitik, Köln, 27.-29.6.1925. Herausgegeben vom Exekutivkomitee der Inter-
nationale ehemaliger Frontkämpfer und Kriegsopfer, o. O. (Berlin) o.D. (1925); Bayerlein: Transnatio-
nale Netzwerke und internationale Revolution).
48 Antifaschistisches Büro: Gemeint ist das Internationale (Variante: Europäische) Antifaschistische
Büro, das auf dem Internationalen Antifaschistischen Kongress (9./10. März 1929) in Berlin konsti-
tuiert wurde, was wiederum auf einen Beschluss des VI. Weltkongresses der Komintern zurückging.
Trotz der Bekenntnisse zum Antifaschismus änderte der Kongress nichts an der Sozialfaschismuspo-
litik. Siehe: Elfriede Lewerenz: Der Internationale Antifaschistenkongreß 1929 in Berlin. In: Beiträge
zur Geschichte der Arbeiterbewegung XXXI (1989), Nr. 2, S. 157–172;.
49 Freidenker-Internationale: Gemeint ist die im Juni 1925 gegründete Internationale Proletarischer
Freidenker (IPF), („Freidenkerinternationale“) mit Sitz in Berlin und Wien. Sie war zunächst von der
Komintern unabhängig und pluralistisch, erst nach der im Rahmen des „Sozialfaschismus“ durch-
gesetzten Spaltung 1930 wurde sie enger an der Komintern bzw. dem sowjetischen Freidenker- und
Gottlosenverband ausgerichtet, dessen Vorsitzender Emelʼjan Jaroslavskij war. Als Voraussetzung
für die „Bekämpfung der geistigen Rückständigkeit der Arbeiterbewegung“ gehörten die „Bekämp-
fung von Religion und Nationalismus als den wirksamsten ideologischen Kräften der Reaktion“ und
der „Kampf gegen Klerikalismus und Chauvinismus“ zu ihren hauptsächlichen Zielen (siehe Polt-
bürobeschluß vom 6.4.1928). Mitglieder des kominterntreuen Sekretariats nach der Spaltung der
Internationalen waren Hans Meins, Berlin (Generalsekretär), Levasseur (Frankreich) und Grunwald
(Tschechoslowakei), grosse Bedeutung hatte Aleksandr Lukačevskij, der den 3,5 Millionen Mitglieder
umfassenden russischen Verband repräsentierte. Siehe: Die revolutionäre Einheit marschiert! Pro-
tokoll des IV. Kongresses der IPF (Internationale Proletarischer Freidenker in Tetschen-Bodenbach,
14.–15.11.1930, Berlin, Verlagsanstalt der Proletarischen Freidenker, o.o. (Düsseldorf), o. D. (1930).
50 Nach der Gründung des Internationalen Frauensekretariats der Komintern (IFS) zur Zeit des II.
Weltkongresses der Komintern auf einer ersten improvisierten Konferenz 1920 wurde das Sekretariat
680 1924–1929
dieser Kampagne zu ergreifen und auf Grund obiger Vorschläge Aufrufe und Direkti-
ven für die Kommunistischen Parteien auszuarbeiten.51
Dok. 216
Der Rote Frontkämpfer-Bund zur Übergabe eines „würdigen
Geschenks“ an das „proletarische Vaterland“ anlässlich des
10jährigen Jubiläums der Komintern
Berlin, 23.4.1929
Roter Frontkämpfer-Bund
Bundesführung: Berlin SO 16, Brückenstraße 6a II52
Sekretariat Wy/A. Berlin, am 23. April 1929.
Werte Genossen!
Die letzte Reichsführerkonferenz des Roten Frontkämpferbundes beauftragte die
Bundesführung, anlässlich des 10 jährigen Bestehens der Kommunistischen Interna-
tionale53 ein dem RFB würdiges Geschenk dem proletarischen Vaterland zu überwei-
1922 nach Berlin verlegt. Zu den Mitarbeiterinnen gehörten neben Clara Zetkin C.G.L. Alexander,
Marthe Bigot, Varsenika Kasparova, Aleksandra Kollontaj, Rosa Montefiore und Henriette Roland-
Holst. Im Zuge der „Bolschewisierung“ des internationalen Kommunismus erfolgte dann die Auflö-
sung des IFS als eigenständiger „Zentralleitung“ und ihre Umwandlung in die Frauenabteilung des
EKKI innerhalb des Leitungsapparates in Moskau, die ihrerseits 1935 aufgelöst wurde. Die Frauenpoli-
tik folgte auf eine spezifische Weise den Meandern der Komintern, die im Rahmen ihrer Stalinisierung
zum Resonanzboden der sowjetischen Politik geworden war. Siehe: Bayerlein: Zwischen Internatio-
nale und Gulag.
51 Angesichts der massiven, breiten und internationalen Kampagne entsprachen die Ergebnisse des
1. August als internationalem Antikriegstag in Paris (“völliges Scheitern“) und Berlin nicht den hoch-
gesteckten Erwartungen. Die Losungen der Komintern bezeichnete der sowjetische Volkskommissar
des Äusseren, Čičerin, selbst als “Abenteuer, Doping, Bluff“ (Dok 228; vgl. auch: Philippe Robrieux:
Histoire Intérieure du Parti Communiste Français, vol. 1, S. 338ff.
52 Roter Frontkämpferbund: Größerer Briefkopf.
53 Nach den Zehnjahresfeiern zum Jubiläum der Oktoberrevolution 1927 war das Zehnjährige Jubilä-
um der Komintern Anlass zu einer breiten, von der Agitprop-Abteilung der Komintern zentralisierten
Kampagne. Die Feiern u.a.m. zum 10jährigen Komintern-Jubiläum waren, jedoch viel weniger um-
fangreich. In Moskau fand eine Ausstellung statt, auf der EKKI-Sitzung vom 1.7.1929 liess sich Stalin
persönlich zum Berichterstatter zur Feier des Jubiläums machen, die unter dem Banner des „Sieges
des Sozialismus“ in der UdSSR stattfand (siehe: Jean-Jacques Marie: Staline, Paris, Editions du Seuil,
1967, S. 350 (L‘histoire immédiate).
Dok. 216: Berlin, 23.4.1929 681
sen. Die Bundesführung, die zu diesem Antrag Stellung nahm, fasste den Beschluss,
4 Lastkraftwagen, 1 für Leningrad, 1 für Moskau, einen für Charkow und einen für
Rostow a.D. beim V. Reichstreffen feierlichst zu übergeben.54
Wir bitten Euch nun, dafür Sorge zu tragen, dass der Transport von Hamburg
möglichst zu dieser Zeit mit russischem Dampfer erfolgen kann. Da, wie uns die Ham-
burger Organisation informierte, sehr oft russische Schiffe im Hafen liegen, ist es
sicherlich ein leichtes, Anweisung zu geben, dass diese Wagen mit dem russischen
Schiff befördert werden.
Ausserdem bitten wir um Mitteilung, welcher Vertreter des EKKI das Geschenk
übernehmen wird. Über letzteres können wir mit der Zentrale der deutschen Partei
verhandeln. Das Wichtigste ist, dass Ihr für die Transportmöglichkeit sorgt.
Von April bis Mai 1929 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion in mehreren Sitzungen mit
den finanziellen und Wirtschafts- und geheimen Militärbeziehungen zu Deutschland, darunter am
16.4.1928 und am 30.4.192957 sowie am 25.4.1929 durch Instruktionen an Stomonjakov für die Kredit-
verhandlungen mit der deutschen Seite (Schlesinger). Der von Deutschland zu erbetende Kreditrahmen
wurde auf „500–600 Millionen Mark“ festgelegt.58 Am 16.4.1929 war die Bildung einer „absolut ge-
heimen“ Kommission zu den Kreditverhandlungen erfolgt, die mit Mikojan, Stomonjakov, Ruchimovič,
Aralov, Pjatakov, Šlejfer, Rozengolʼc, Roizenman, Sulimov und Frumkin hochkarätig besetzt war.59
Am 30.4.1929 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion mit der Affäre um den Vorsitzenden der
sowjetischen Staatsbank, Aron L. Šejnman. Auf einer Rückreise von Verhandlungen in den USA verblieb
Šejnman, der ein Freund und politischer Weggefährte von Rykov und Tomskij war, in Berlin und weigerte
sich, augenscheinlich angesichts der Hetze gegen die „Rechten“ in der Sowjetunion, nach Moskau zu-
rückzukehren. In Berlin soll er u.a. mit Paul Levi Kontakt aufgenommen haben, über seinen Parteiaustritt
berichteten Emigrantenzeitungen. Das Politbüro reagierte zunächst abwägend: Da Šejnman der Sowjetre-
gierung bislang nicht geschadet habe, hoffte man, ihn weiter im Ausland einsetzen zu können, und sandte
Tomskij zu Verhandlungen mit ihm nach Berlin. Passagen aus dem Stenogramm des Vereinigten Plenums
des ZK und der ZKK der VKP(b) von April 1929, in denen die Defektion Šejnman verurteilt wurde, wurden
gelöscht, gleichzeitig jedoch die OGPU instruiert, Šejnman zu observieren.60 Die Überredungsversuche
Tomskijs blieben erfolglos – Šejnman blieb als Privatmann in Berlin, und starb in London.61
54 Die Reichsführerkonferenz des Roten Frontkämpfer-Bundes (RFB) fand im November 1928 statt.
Das 5. Reichstreffen fand im März 1928 in Hamburg als Internationale Kundgebung statt. Am 3.5.1929
wurde der RFB in Preußen und am 10.5.1929 im ganzen Reich verboten. Siehe Finker: Geschichte des
RFB, S. 151–202; Voigt: Kampfbünde, S. 495–500.
55 Stempel: Roter Frontkämpfer-Bund e.V. Bundesführung: Berlin SO 16, Brückenstraße 6a II.
56 Daneben handschriftlicher Eintrag: „Durch Verbot [des RFB] entfällt diese Angelegenheit.“
57 APRF, Moskau, 3/64/656, 121, 177. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 142 und 144.
58 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 73. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 188–189.
59 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 70. Publ. in: Ibid., S. 187.
60 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 75.
61 Näheres zur „Affäre Šejnman“ siehe Genis: Nevernye slugi režima, S. 577–593.
682 1924–1929
Am 3.5.1929 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion auf Anregung Vorošilovs, Oberst Erich
Kühlenthal, auf der Basis der gemeinsamen Abmachungen, als einen der Zuständigen für die geheime
Kooperation mit der Roten Armee seitens der Reichswehr, in die Sowjetunion einreisen zu lassen.
Dazu sollte der deutschen Seite erklärt werden, warum eine erste Anfrage negativ beschieden wurde.62
Dok. 217
Beschlüsse des Politbüros der KP der Sowjetunion zu den
Maiereignissen in Berlin
Moskau, 9.5.1929
[Behandelt:]
7) Über die Ereignisse des 1. Mai in Berlin (Gen. Stalin)63
[Beschlossen:]
a) Die Direktive für eine breite Kampagne von Demonstrationen des Mitgefühls mit
den Berliner Arbeitern zu erteilen.64
b) In breiter Form in der Pravda und anderen Zeitungen Resolutionen der Arbeiter zu
veröffentlichen.
c) eine Sammlung zugunsten der Familien der Opfer und der entlassenen Arbeiter
durchzuführen.
d) den Aufruf des Westeuropäischen Büros zu veröffentlichen.65
e) dem Politsekretariat des EKKI vorzuschlagen, auf Grundlage der Materialien, über
die wir verfügen, einen entsprechenden Aufruf veröffentlichen.66
Am 9.5.1929 sprach das Politbüro der KP der Sowjetunion den Redaktionen der Pravda und der Kom-
somolskaja pravda einen Tadel aus, da sie am 8.5.1929 einen Artikel von Sinowjew und Kamenev
zu den Berliner Ereignissen abgedruckt hätten.67 In dem (nur von Sinowjew unterzeichneten) Artikel
hatte sich dieser zwar scharf gegen die Sozialdemokratie, Levi und Brandler gewandt, jedoch auch
eine als indirekt zu verstehende Kritik geäußert: „Die Kommunisten können noch nicht eine so gro-
ße Mehrheit der Berliner Arbeiter hinter sich bringen, dass die s[ozial]d[emokratischen]-Führer nicht
zu schießen wagten.“ Hauptaufgabe der KPD sei die Organisierung der Massen und, wenn die Zeit
gekommen sei, auch der Revolution (G. Sinowjew: Značenie berlinskoj maevki, Pravda, 8.5.1929). Da-
rüber hinaus erklärte sich das Politbüro auf Vorschlag Stalins für außerstande, sich in die Affäre der
Rehabilitierung der Genossen Kamenev und Sinowjew einzumischen. Die von beiden eingereichten
Erklärungen vom 8.5.1929 sollten den Autoren zurückgegeben werden.68
Dok. 218
Informationen über die Internationale Leninschule in Moskau aus
Anlass der Einführung von Neunmonatskursen
Berlin, 9.5.1929
Werte Genossen!
An der Internationalen Lenin-Schule werden gemäss dem Beschluss des Politischen
Sekretariats des EKKI vom 3. Mai 1929 kurzfristige Kurse für die Sektion der Komintern
organisiert.
bedauern.“ (Kurt Tucholsky: Das Märchen von Berlin. In: Id.: Gesammelte Werke. Bd. 7: 1929, Reinbek
bei Hamburg, Rowohlt, 1989, S. 78).
65 Ein Aufruf des WEB vom 8.5.1929 forderte zur Vorbereitung des 1. August 1929 als Tag des Kampfes
gegen den imperialistischen Krieg auf.
66 Ein entsprechender Aufruf der Komintern wurde zwar in der Russischen Delegation des EKKI be-
sprochen, jedoch nicht veröffentlicht (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 145).
67 RGASPI, Moskau, 17/3/739, 2.
68 Ibid.
684 1924–1929
Aber ehe wir Euch über Ziele und Aufgaben der kurzfristigen Kurse berichten,
halten wir es für notwendig, Euch nochmals die Internationale Lenin-Schule in Erin-
nerung zu bringen.
Diese Schule ist bekanntlich im Zusammenhang mit dem Beschluss des V. Kom-
intern-Kongresses über die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien und in
Zusammenhang mit dem Problem des Funktionärstamms organisiert worden, das,
wie der VI. Kongress der Komintern konstatierte, eine der wichtigsten, allen kommu-
nistischen Parteien gestellten Probleme ist.
Die zweijährige Arbeit der Schule und die Entlassung des I. Jahrgangs der Studen-
ten lässt darauf schliessen, dass die Lenin-Schule als ein Mittel für die Unterstützung
der Sektionen der Kommunistischen Internationale auf dem Gebiete der Lösung der
genannten Probleme sich durchaus bewährt hat und in dieser Sache eine ungeheure
Rolle spielen kann;69 die Schule sichert jedem Studierenden: 1. Vertiefung der orga-
nisatorisch-politischen Erfahrung der Parteiarbeit, 2. Erweiterung des politischen
Gesichtsfeldes und 3. eine theoretische Basis, die für das Eindringen des Leninismus
in den grundlegenden Stamm der Partei notwendig ist.
Das erste Kontingent der Studierenden und die Arbeit der Genossen, die die
Schule absolviert haben, zeugen davon, dass die Schule den Parteien theoretisch
gut ausgebildete Genossen mit breiterem Blickfeld und besseren Voraussetzungen
für eine richtige Einschätzung und Lösung der aktuellen Probleme in ihren Parteien,
als vor dem Eintritt in die Schule, gegeben hat. Daher müssen wir die Frage, ob die
Ergebnisse es rechtfertigen, dass die Partei zwei Jahre lang ihre verantwortlichen Mit-
arbeiter entbehren muss, folgendermassen beantworten: Natürlich ist es ein grosses
Opfer für die Partei, einen verantwortlichen Mitarbeiter zwei Jahre lang entbehren zu
müssen, aber es muss konstatiert werden, dass die die Schule absolvierenden Partei-
funktionäre mit vollem Recht behaupten können, dass der von der Schule erhaltene
Nutzen diesen Ausfall vollkommen deckt. Die Vorbereitung theoretisch ausgebildeter
Kaders für jede Partei kann nicht eine Frage von einigen Monaten sein. Es ist daher
durchaus unerlässlich, wenigstens eine höhere Parteischule für alle Sektionen zu
haben,70 die die Möglichkeit eines fundamentalen, tiefen Studiums mit einer mög-
lichst breiten Erfassung der Fragen der Theorie und Politik bietet.[...]
69 Am 1. Januar 1929 setzte bereits der dritte Kursbeginn der in einem Rundschreiben des EKKI
erstmals so genannten „Internationalen Lenin-Schule“ ein, zu dem die Schüler spätestens am 15.-20.
Dezember 1928 in Moskau sein mußten. Zum Beginn der ILS siehe Dok. 182.
70 Bereits 1922 hatte die KPD-Führung eine Parteischule eingerichtet (Klaus Kinner: Anfänge der zen-
tralen Schulungsarbeit der KPD. Die Parteischule von 1922. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-
Moritz-Arndt-Universität Greifswald 29 (1980), 1, S. 49–55). Das V. EKKI-Planum (1925) verpflichtete die
grösseren Sektionen erstmals zum Aufbau „einer zentralen Parteischule (in Form eines zwei- bis neun-
monatigen Kurses)“. Anfang 1926 wurden zwei “Elementarkurse“ eingerichtet, einer davon sollte die
Mitglieder „(...) ausführlich und gründlich mit der Lehre Lenins von der Möglichkeit des Sieges des
Sozialismus in einem Lande vertraut (zu) machen“ (Günter Hortzschansky (Hrsg.): Ernst Thälmann.
Eine Biographie, Berlin (-Ost), Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dietz, 2. Aufl.
Dok. 218: Berlin, 9.5.1929 685
Die Dauer der Kurse wird auf 9 Monate festgesetzt. Vom 1. September 1929 bis 1.
Juli 1930. Der KPD sind, laut Beschluss des Politischen Sekretariats, 10 Plätze zur Ver-
fügung gestellt. Da Ihr eine Parteischule habt, in der alljährlich mittlere Parteifunkti-
onäre ausgebildet werden, halten wir es [für] am zweckmässigsten, wenn nur Genos-
sen nicht unter dem Bezirksleiter oder Zeitungsredakteur zu den Kursen geschickt
werden. Wir meinen, dass, da die Partei jetzt 40 Arbeitskräfte erhält, die Auswahl
von 10 qualifizierten praktischen Funktionären (gegenwärtig Angestellte) nicht so
schwierig sein wird.71
Wir möchten Eure Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit der Auswahl der
Kursanten vom Standpunkte der Festigung der wichtigsten Industriezentren richten.
Unserer Auffassung nach wäre es am zweckmässigsten, 10 Genossen aus dem Ruhr-
gebiet, Hamburg, Halle, Schlesien und Niederrhein für ein halbes Jahr von der Arbeit
wegzunehmen um dann diese wichtigsten Gebiete mit theoretisch geschulten Arbeits-
kräften auszurüsten. Wir überlassen Euch die Entscheidung dieser Frage, da wir der
Ansicht sind, dass in der Frage der Auswahl der Kursanten eine Zersplitterung ver-
mieden werden müsste, da man nicht gleichzeitig alle Bezirke mit der Lenin-Schule
versorgen kann.
9.V.1929
Auf Anfrage des ZK der Internationalen Roten Hilfe (E. Stasova) beschloss das Politbüro der KP der
Sowjetunion am 16.5.1929, materielle Hilfe an die Opfer der Maiereignisse in Berlin zu gewähren.
Dabei sollte höchstens eine Summe von 100.000 Rubeln in Valuta zur Verfügung gestellt werden.72
Am 23.5.1929 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion erneut mit dem Aufruf des EKKI zum
Antikriegstag in Berlin. Der Beschluss lautete, den Vorschlag der russischen Delegation im EKKI vom
14.5.1929 gutzuheißen, der es als unnötig betrachtete, neben dem Aufruf des WEB (augenscheinlich
vom 8.5.1929) einen weiteren, gesonderten Aufruf des EKKI herauszubringen.73
1980, S. 294). Qua Beschluss des EKKI-Sekretariats vom 15.6.1936 wurde die Einrichtung „Zentraler
Parteischulen bei den ZKs der legalen kommunistischen Parteien“ zur Pflicht (Adibekov/Sachnazaro-
va/Sirinja: Organizacionnaja struktura Kominterna, S. 208).
71 Am 25. Oktober 1929 wurde dem EKKI vom Politbüro des ZK der VKP(B) „erlaubt“, das Lehrpro-
gramm der Lenin-Schule „durch Einführung neuer Militärdisziplinen zu erweitern“. Darüber hinaus
sollten „polnische Instrukteurs-Kurse mit einer Studienzeit von neun Monaten und einer Teilnehmer-
zahl von 30 Hörern“ eröffnet werden, dasselbe für 50 Deutsche mit einer Studienzeit von fünf Mona-
ten (Adibekov/Sachnazarova/Sirinja: Organizacionnaja struktura Kominterna, S. 171).
72 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 80. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
590–592.
73 RGASPI, Moskau, 17/3/741, 5–6. Den Beschluss der Delegation der VKP(b) im EKKI siehe: RGASPI,
Moskau, 508/1/83. Beides publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja: Politbjuro i Komintern, S. 593.
686 1924–1929
Am 30.5.1929 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion diverse Maßnahmen, um nachzuver-
folgen, wie es im Presseorgan der sog. „rechten Opposition“ der KPD („Brandlerianer“) zum Abdruck
einer Resolution des ZK-Plenums der VKP(b) vom April 1929 kommen konnte. Pjatnitzki und Manuilski
wurden damit beauftragt, die Affäre zu überprüfen, die Resolution des Plenums abdrucken zu lassen,
und über die Reaktionen zu berichten.74 Am gleichen Tag beauftragte das Politbüro Molotov mit der
Zusammenstellung und der Redaktion der Kommentare zum Programm der Komintern. Nachdem das
Programm bereits vom Politbüro am 13.9.1928 behandelt wurde, ging es nun offensichtlich darum, es
erneut mit der stalinistischen Lesart kompatibel zu machen.75
Dok. 219
Brief des Parteibezirks Nordwest der KPD an Wilhelm Pieck über
die Affäre des verschwundenen Fischdampfers Scharnhorst
[Berlin], 12.6.1929
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/292/47, 10. Als letzter Teil eines 9-seitigen
Briefdokuments. Erstveröffentlichung.
anbetrifft, die „Scharnhorst“ Frage hier im Bezirk aufzurollen und eine Wendung zu
unseren Gunsten herbeizuführen. Wir schlagen Euch deshalb konkret vor:
Der Genosse Plenge, der im nördlichen Russland längere Jahre lebte, wird von
Leningrad die Murman-Bahn benutzen bis Kjem. Kjem ist eine Station der Murman-
Linie und liegt gegenüber der Inselgruppe Solovetsch [d.s. die Solowezki-Inseln]. Ihr
braucht Euch um die Finanzierung dieser Reise nicht zu kümmern, sondern nur Eure
Unterstützung in bezug Einreise und Empfehlungen geben. Das Nähere könnte auf dem
Parteitag besprochen werden. Es muss alles vermieden werden, was dazu führen könnte
das „Seeräubergeheimnis“ um „Scharnhorst“ zu einem „ewigen“ [...] für die Sozialfa-
schisten zu gestalten.77 Es ist für uns offenkundig, das die hiesigen Sozialfaschisten aus
der weissgardistischen Quelle in Finnland schöpfen, um Hass namentlich unter der
hiesigen Seemannsbevölkerung gegen Sowjetrussland und gegen die KPD. zu säen. In
der Hoffnung, dass Ihr die Sache als wichtig genug anseht und in der Erwartung, dass
Ihr uns unterstützt,78 damit wir einen kräftigen Gegenhieb gegen die bürgerlichen und
sozialdemokratischen Schwindler führen können, verbleiben wir mit
kommunistischem Parteigruss!79
[sign.]: i.A. Plenge80
77 Der „Vorwärts“ griff wie andere Medien auf, dass entgegen den Ergebnissen des Seeamtes Bremer-
haven vom 19.3.1928 das Schiff nicht infolge Sturmeinwirkung untergegangen bzw. verschwunden
sei. Dabei wurde immer wieder auf das „Piratennest Solowetz im Weißen Meer“ als „Die Insel der
Seeräuber“ rekurriert, von der sozialdemokratischer Seite stärker auf eine Implikation sowjetischer
Behörden. Tatsächlich liegen die Solowezki-Inseln auf der keine „Seeräuber-Republik“, sondern ein
Lager für besondere Verwendung für Oppositionelle und später Arbeitslager der GPU im Rahmen
des Gulag eingerichtet wurde, ca. 600 km vom Strandungsort der „Scharnhorst“ an der Ostküste der
Halbinsel Kanin entfernt. Der KPD-Bezirk Nordwest schrieb am 26.6.1929 an das ZK: “Mit dem Fall
“Scharnhorst“ treibt die gegnerische Presse, vor allem natürlich die der SPD, eine auf lange Sicht
berechnete Kriegshetze gegen die Sowjet-Union, gestützt auf weissgardistisches Material aus Finn-
land. Stellt Euch nun vor, dass 13 Familien in jeder Woche einmal schwarz auf weiss lesen, dass die
Verschollenen in der Sowjet-Union festgehalten werden. Es ist jetzt so weit, dass diese 13 Familien
mit ihren Bekannten eine regelrechte Organisation darstellen. Organisator ist Jeske – Wilhelmshaven
(Schwager des finnischen Weissgardisten), Gewährsmann des Auswärtigen Amtes – Berlin, der kürz-
lich die Verhaftung Tschitscherins forderte.“ (RGASPI, Moskau 495/292/47, 17). Neben dem „Vorwärts“
transportierte die „Deutsche Fischerei-Zeitung“ die Gerüchte, nach denen „(...) die Besatzung der
Scharnhorst sich hinter russischen Kerkermauern befinden muß.“ Der Artikel endete allerdings mit
der Bemerkung der Redaktion: „Uns will die Angelegenheit doch etwas aprilmäßig anmuten.“ (Die
„Scharnhorst“-Tragödie im Reichstag. In: Deutsche Fischerei-Zeitung, 13.1.1931).
78 Kurz nach dem 12.6.1928 wurde in einem weiteren Brief die Reiseplanung von Plenge für Juli 1928
konkretisiert und auf rasches Handeln gedrängt, um eine Aufklärungskampagne zu starten (RGASPI,
Moskau 495/292/47, 10). Trotz der Befürwortung durch die deutsche Vertretung wurde die Reise nach
Ablauf von mehr als zwei Monaten durch das sowjetische Außenkommissariat nicht gestattet (siehe
Dok. 226).
79 Stempel: Kommunistische Partei Deutschlands. Bezirk Nordwest Bezirkssekretariat.
80 Oskar Plenge (1890 Northeim – 1944 Leipzig infolge Krankheit nach KZ-Haft) war zu dieser Zeit
Chefredakteur der Bremer „Arbeiterzeitung“, KPD-Abgeordneter der Bremer Bürgerschaft (bis 1928),
688 1924–1929
Am 6.6.1929 erfolgte die Bestätigung der Absetzung Bucharins als verantwortlichem Leiter der Kom
intern durch das Politbüro der KP der Sowjetunion, zusammen mit einem Beschluss über die Art und
Weise, wie dies in der Komintern publik gemacht werden sollte. Formell erfolgte ein Beschluss über
die Entscheidung der Delegation der VKP(b) im EKKI vom 30.5.1929 zur Durchführung der vom Ap-
rilplenum des ZK der VKP(b) verfügten Absetzung Bucharins. Der Beschluss, der ausschließlich Mo-
lotov zur Kenntnis gebracht werden sollte, lautete: „Zur nächsten Sitzung des Präsidiums des EKKI
dem Präsidium die Entscheidung des vereinigten Plenums des ZK und der ZKK über die Absetzung
des Gen. Bucharin von der Arbeit in der Komintern mitzuteilen und dem Präsidium vorzuschlagen,
ihn von seiner Funktion als Mitglied des Politsekretariats freizustellen. In das Politsekretariat Gen.
Manuilski als Mitglied einzuführen, der zur Zeit Kandidat des Politsekretariats ist. Anstelle des Gen.
Manuilski als Kandidat den Gen. Gusev einzuführen. Auf dem [X.] Plenum des EKKI die Frage nach der
Freistellung des Gen. Bucharin von den Pflichten als Mitglied des Präsidiums aufzuwerfen. Während
des Plenums die Frage an die Delegation der VKP(b) zu richten nach einer Kandidatur als Mitglied des
Präsidiums im Namen der VKP(b) anstelle von Gen. Bucharin.“81
Dok. 221
Richtlinien für die Presse der Kommunistischen Parteien über die
Durchführung der Antikriegskampagne
[Berlin], 12.6.1929
Typoskript in deutscher Sprache. Schweizerisches Bundesarchiv, Bern, J.II 94, 785. Erstveröffent-
lichung.
1./ Die Tätigkeit der Presse bei der Vorbereitung der Antikriegskampagne ist bestimmt
einerseits durch die Aufgaben der Antikriegskampagne, wie sie durch den 6. Weltkon-
gress formuliert wurden, andererseits durch den Charakter und die Bedingungen des
Erscheinens der kommunistischen Presse (legale und illegale Parteipresse, parteilose
sympathisierende Presse, Gewerkschaftsblätter, Frauen- und Jugendblätter, Bauern-
zeitungen usw.).
2./ Die Resolution des 6. Weltkongresses über die Bedeutung und Durchführung der
Antikriegskampagne, sowie die Entschliessungen der Internationalen Konferenz in
Brüssel über die Konkretisierung dieser Kampagne in den europäischen Ländern
stellen in den Vordergrund die Aufgaben der Mobilisierung der Parteimitgliedschaft
und aller Parteiinstanzen für den systematischen Kampf gegen die Kriegsgefahr. Die
kommunistische Presse hat bei der propagandistischen Vorbereitung und der orga-
und Leiter der regionalen Peuvag-Betriebe. Seit 1933 war er im illegalen Widerstand tätig (Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 679f.).
81 RGASPI, Moskau, 17/3/743, 4.
Dok. 221: [Berlin], 12.6.1929 689
Am 13.6.1929 fasste das Politbüro der KP der Sowjetunion auf Vorschlag von Vorošilov eine Reihe
von Beschlüssen über das deutsch-sowjetische Protokoll zur Verlängerung des 1926 abgeschlosse-
nen „Berliner Vertrages“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Zunächst sollte der zivile Teil
des Vertrags unterzeichnet werden, für den zweiten Teil sollte auf den ursprünglichen Forderungen
bestanden werden. Das am 24.6.1929 unterzeichnete Protokoll bedeutete die Fortführung der guten
ökonomischen, militärischen und politischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Wei-
marer Republik (S. Slutsch).82
Dok. 222
Brief Čičerins an Stalin über die verfehlte Komintern- und
Außenpolitik, den Berliner Blutmai und den Unsinn der
Sozialfaschismusthese
Berlin, 20.6.1929
Kopie.
Persönlich.
Geheim.
An Gen. STALIN.
Verehrter Genosse!
Ich danke Ihnen für den Brief vom 31.V.,83 den ich erst heute erhalten habe, da die
Post per Eilboten mir nur alle drei Wochen zugeht. Über Zeichen von Aufmerksamkeit
bin ich immer sehr erfreut. Leider macht man sich in Moskau kein Bild von meinem
Zustand. Ich bin zutiefst verstört über die riesigen Ausgaben für meine Behandlung.
Doch dafür kann ich nichts, ich habe schließlich im August, vor der Abreise, an das
Politbüro geschrieben, dass die Versuche, mich zu behandeln, nicht der Mühe wert
seien. Das Politbüro hat [jedoch] beschlossen, dass ich mich behandeln lassen soll,
und dies führe ich gewissenhaft aus. […]84
Völlig zu Recht weisen Sie darauf hin, dass Deutschland auf unsere Bestellun-
gen angewiesen ist. Genau deswegen muss ich dem schädlichen, tödlichen Unsinn
Sinowjews, Deutschland habe sich umorientiert,85 scharf widersprechen. Genug ist
genug. Die Wirklichkeit besteht nicht allein aus Schemen, und wenn wir uns rittlings
auf ein Schema setzen und die Augen gegenüber allem anderen verschließen, können
83 Am 31.5.1929 sandte Stalin einen kurzen Brief an Čičerin, in dem er um dessen baldige Rückkehr
aus Wiesbaden bat. Auch zeigte er sich davon überzeugt, dass die seitens der Sowjetunion begange-
nen „Taktlosigkeiten“ gegenüber Deutschland den guten Beziehungen keinen Abbruch tun würden
(RGASPI, Moskau, 558/2/48, 8. Publ. In: Kvašonkin/Košeleva/Rogovaja u.a.: Sovetskoe rukovodstvo,
S. 73–74).
84 Am 11.8.1928 hatte das Politbüro der KP der Sowjetunion beschlossen, Čičerin nach einer zwei-
wöchigen Behandlung in Moskau einen dreimonatigen Kururlaub im Ausland zu verordnen und, im
Einklang mit den ärztlichen Empfehlungen, ihm für diesen Zeitraum jede Arbeit zu verbieten (RGAS-
PI, Moskau, 17/3/700, 4).
85 Zur von Sinowjew vermuteten „Umorientierung“ Deutschlands gegen die Sowjetunion siehe auch
Dok. 212.
Dok. 222: Berlin, 20.6.1929 691
wir damit auf grausame Weise scheitern; auch in Deutschland gibt es unterschiedli-
che Faktoren; die dominierenden Faktoren sind auf unserer Seite; wenn die anderen
Faktoren die Oberhand gewinnen würden, wäre dies ganz allein unsere Schuld.
Ich erkenne die Grundlinie unserer Bauernpolitik als vollkommen richtig an,
auch wenn ich aufgrund meiner Isolierung die Details nicht beurteilen kann. […]
Doch ich behaupte auf entschiedene Weise, dass bei uns die Bedeutung des Sowjet-
staates nicht genügend beachtet wird; all diese absurden Gespräche in der Komintern
über die angebliche Vorbereitung eines Krieges gegen die UdSSR zerstören und unter-
graben nur die internationale Lage Lage [sic] der UdSSR. Es wäre zutiefst falsch, in
der hohen Einschätzung des Sowjetstaates eine nationale Beschränktheit erblicken
zu wollen. Die Interessen der russischen Nationalität tangieren mich nicht stärker, als
die Interessen anderer Nationalitäten. Mich interessiert die Rolle der UdSSR für die
Weltrevolution. Das ist keineswegs nationale Beschränktheit. Gerade aus der Pers-
pektive der Weltrevolution halte ich es für grundfalsch, wenn die internationale Posi-
tion der UdSSR untergraben und Gefahren ausgesetzt wird, nur damit die schlecht
zusammengekleisterte Agitation des Gen. Thälmann etwas besser vonstatten geht.
[…]
Es wäre doch schön, wenn Sie, Gen. Stalin, mit einem veränderten Äußeren für
einige Zeit ins Ausland fahren würden, zusammen mit einem echten, untendenziö-
sen Übersetzer. Sie würden die Realität erblicken. Ihnen würde der wahre Wert des
Geschreis über den Anbruch des letzten Kampfes ins Auge springen. Der empörende
Unsinn der Pravda würde in aller Nacktheit vor Ihnen erscheinen. Falsche Informatio-
nen aus China haben zu unseren kolossalen Fehlern von 1927 geführt (nach der wun-
derbaren Politik der Jahre 1923–26), wodurch die sogenannte „Sowjetperiode der chi-
nesischen Revolution“ schon zwei Jahre lang aus ihrer vollständigen Unterdrückung
besteht. (Die buddhistischen hölzernen Gebetsmühlen, die die auswendig gelernten
pseudo-revolutionären Formeln mechanisch wiederkäuen, die Gen. Lominadze, Mif,
Andrej [d.i. Karl Radek], Semenov, Šackin und andere Komsomolzen haben diese Tat-
sache nicht bemerkt.) Falsche Informationen aus Deutschland werden einen noch
größeren Schaden verursachen. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Nicht-Über-
einstimmung der Taktik mit den vorhandenen Kräften. Der erste Fehler waren die
KPD-Aufrufe vor dem 1. Mai, die nicht dem Zustand ihrer Kräfte entsprachen. Noch
schlimmer war die Kampagne der Kommunarden-Presse86 nach dem 1. Mai, als wir
die verbrecherischen Lügen der deutschen s[ozial-]d[emokratischen] Polizei über-
nommen hatten. Die Polizei hatte 30 alte Frauen, Greise und zufällige Passanten
erschossen, von den Polizisten wurde keiner getötet, einer erlitt eine Schussverlet-
zung, Zörgiebel schreit von Barrikadenkämpfen mit 200.000 Arbeitern und geheimen
Waffenlagern, und wir tun das gleiche. Als Barrikaden werden gemeinhin Konstruk-
tionen bezeichnet, hinter denen man sich zum Schießen versteckt. Dabei waren die
86 Im russischen Original: „kommunarnoj pečati“. Möglicherweise meinte Čičerin eher die Kommu-
nalpresse („kommunal’noj pečati“) der KPD.
692 1924–1929
Barrikaden des 1. Mai so beschaffen, dass ein Kind hätte über sie steigen können. Vor
Gericht wurde ihre Höhe auf 30 Zentimeter bemessen. Im Ogonek87 waren sie abgebil-
det: ein paar kleine aufgehäufte Steinchen, ein gefälltes kleines verkümmertes Bäum-
chen. Keine Barrikaden, sondern Entartung und Diskreditierung. Ein unglaublicher
Bluff. So führt man die Komintern ins Verderben. Und tatsächlich scheiterte der Gene-
ralstreik grandios. Die Wahlen in den sächsischen Landtag – ein voller Misserfolg
für die Kommunisten, eine Abnahme der Zahl der abgegebenen Stimmen. Die fran-
zösischen Kommunalwahlen – ein Auf-der-Stelle-Treten. In England waren von den
22 Millionen abgegebenen Stimmen 50 Tausend kommunistisch, d.h. rein gar nichts.
Die KPD ist von 500 Tsd. auf 100 Tsd. geschrumpft. Und dafür müssen die gigantische
Tatsache der Schaffung der UdSSR geopfert, ihre Lage unterminiert, täglich die Bezie-
hungen zu Deutschland verschlechtert sowie Lügengeschichten über seine angebli-
che Umorientierung aufgetischt werden – nur um den Gen. Thälmann mit etwas mehr
Agitationsmaterial zu versorgen. „Auf eine Null zu setzen“ – unglaublich!
Die Taktik gegenüber der deutschen S[ozial-]D[emokratie] ist seltsam. Sie redu-
ziert sich auf die Diskreditierung der Führungsschicht. Als ob es darum ginge. Die
deutsche S[ozial-]D[emokratie] ist in gleicher Weise zu einer kleinbürgerlichen demo-
kratischen Partei geworden (das Geschrei vom Sozial-Faschismus ist ungereimtes
Zeug), wie die britische Labour Party zu einer liberalen Massenpartei, anstelle der
alten Liberal Party. Doch was viel wichtiger ist – nicht ein Häuflein Führer hat Verrat
begangen, sondern eine ganze historische Schicht der Arbeiteraristokratie hat die
Seiten gewechselt. Während des Krieges haben revolutionär gestimmte englische
Metallarbeiter zu mir gesagt:88 „Wir haben hier einen totalen Umsturz, die Qualifizier-
ten nehmen die Position gutbezahlter Angestellter ein, daneben entsteht eine Masse
aus Ungelernten, Frauen und Kindern.“ Die industrielle Revolution hat die Arbeite-
raristokratie in einen Bestandteil der Mittelklasse verwandelt. Daher die konterrevo-
lutionäre Natur der S[ozial]-D[emokra]tie. Daher die ungeheuere Schwierigkeit, neue
revolutionäre Arbeiterparteien zu schaffen. Daher auch die schreckliche Gefahr der
Entstellung einer Bewegung mit den Methoden Hervés.89
Es ließe sich vielleicht folgendes bewerkstelligen: Es könnte doch, sagen wir,
die Moldauische Autonome Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit erklären, aus der
UdSSR austreten und mit der UdSSR einen Verteidigungspakt abschließen, damit
wir sie beschützen; die Öffentlichkeit wird denken, dies sei ein Schritt zur Schaffung
eines unabhängigen Bessarabiens; das EKKI zieht offiziell nach Balta90 um und legt
sich dort einen Sekretär zu; alles bleibt beim Alten, außer dass auf den Dokumenten
87 Ogonek („Das kleine Feuer“): Älteste russische Illustrierte (seit 1899), 1923 von Michail Kol’cov
wiederbelebt.
88 Čičerin lebte zwischen 1914 und 1917 im englischen Exil.
89 Gustave Hervé, ein französischer linkssozialistischer Führer, gründete 1919 die Parti socialiste
national und wurde noch in den zwanziger Jahren zum Anhänger eines französischen Faschismus.
90 Die in der Ukraine im Norden des Oblast Odessa gelegene Stadt Balta war 1924 bis 1928 Hauptstadt
der Moldauischen ASSR.
Dok. 224: [Berlin], 25.6.1929 693
„Balta“ steht, und wir [nicht] verantwortlich dafür sein werden, was auf fremdem Ter-
ritorium passiert. […]
Sie denken nun vermutlich, dass mein Gehirn [nicht] funktioniert. Es ist jedoch
die künstliche Erregung. Gleich mache ich das Licht aus, und eine erste Nacht der
Qualen bricht an. Werde ich jemals zum Leben und zur Arbeit zurückkehren??
Fragen über Fragen…
Nachdem man sich bereits am 17.6.1929 damit beschäftigt hatte, fasste das Politbüro der KP der So-
wjetunion am gleichen Tag, dem 20.6.1929, einen zustimmenden Beschluss, den Beginn des 10. Ple-
nums des Exekutivkomitees der Komintern auf den 30.6.1929 anzusetzen.91 Auf dem Plenum wurden
die Sozialfaschismus-Politik verschärft und weitere Kritiker ausgeschlossen. Am 11.7.1929 stimmte
das Politbüro einer Vorlage zu, den 5. Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale (Profintern)
im Juli einzuberufen. Tatsächlich fand dieser erst vom 15.–30.8.1930 statt.92
Dok. 224
Stellungnahme der deutschen Vertretung bei der Komintern über
die Verwendung der abzuschiebenden Ewert und Eberlein
[Berlin], 25.6.1929
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/292/44, 124. Datum schlecht leserlich.
Erstveröffentlichung.
W[erte] G[enossen].
Nach Information der führenden Genossen über unsere Besprechungen im Sekretariat
über Angelegenheit Ewert vertraten die Genossen übereinstimmend die Auffassung,
dass über die weitere Tätigkeit von E[wert] erst bei Anwesenheit der gesamten Delega-
tion entschieden werden soll.93 Da E. Kandidat der Exekutive [der KI] ist, müsse man
dem Genossen die Möglichkeit geben, an der Sitzung des Plenums teilzunehmen.
Persönlich wurde von den Genossen geäussert, dass es möglich wäre, den Gen. E.
nach dem Plenum dort zu verwenden, wo er vor seiner Tätigkeit in der Ostabteilung
arbeiten sollte. Bekanntlich lehnte er es damals ab, den Auftrag auszuführen.94 Es
steht weiter die Frage der ausschliesslichen Verwendung von Eberlein für internatio-
nale Geschäftsfragen. Auch über diese Frage wird erst entschieden nach Anwesenheit
der ganzen Delegation. [...]
N.B. Betr. der Rückreise des Gen. Huber, der wegen Unregelmässigkeiten von der
L[enin]-Schule zurückberufen wurde, teilen wir mit, dass der Gen. erst Anfang Juli
mit den anderen Gen. zurückkommt, da er sich gegenwärtig auf Exkursion befindet.
[...]
Vom 27.6.1929 an beschäftigte sich das Politbüro der KP der Sowjetunion mit der sich in der Grün-
dungsphase befindenden Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die für die zentrale Hand-
habung der deutschen Reparationsverpflichtungen ins Leben gerufen wurde. Die UdSSR, von
Deutschland informell über die Pläne in Kenntnis gesetzt, befürchtete Auswirkungen auf die von ihr
aufgenommenen Kredite. Das Politbüro beschloss, die deutsche Seite zu bitten, sie über alle weiteren
Vorgänge um die neue internationale Bank auf dem Laufenden zu halten. Ab dem 17.7. tagte eine zu
dieser Frage vom Politbüro einberufene Kommission.95
94 Als übergeordnete Zentralinstanz wirkte im Apparat des EKK das sogenannte Ostbüro des EKKI,
neben dieser Bezeichnung finden sich auch die Begriffe „Ostabteilung“ (nach dem 5. Weltkongreß der
Komintern) oder „Ost-Sekretariat der Komintern“. Es war für den nahen, mittleren und fernen Osten
zuständig. Ewert war seit dem 7. Plenum Kandidat des EKKI. Seit Beginn der 1930er Jahre war er De-
legierter des EKKI bei der KP Chinas, bevor er 1934 nach Brasilien geschickt wurde, um den Aufstand
unter Luis Carlos Prestes zu organisieren. Dort verhaftet, wurde er unter der polizeilichen Folter um
seinen Verstand gebracht. Siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 234f.; Hornstein: Arthur
Ewert, S. 188f. u.a.
95 APRF, Moskau, 3/64/656, 186. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 148 und 151–152.
Dok. 225: Moskau, 28.6.1929 695
Dok. 225
Brief der deutschen Vertretung bei der Komintern an das
Parteisekretariat über den Kampf gegen den „Sozialfaschismus“
und den deutschen Seemannsklub in Vladivostok
Moskau, 28.6.1929
Moskau, 28.6.29
Liebe Freunde.
und dass man nur einen Genossen schicken kann, der politische Erfahrungen besitzt
und mit Seeleuten umgehen kann.
In der „Prawda“ vom [2.6.] erschien ein Aufsatz von I. Ewentow über den 5 Jahresplan.
Es scheint mir notwendig, durch den Pressedienst die Redaktionen darauf aufmerk-
sam zu machen.97
Am 4.7.1929 nahm das Politbüro der KP der Sowjetunion einen Beschluss des Orgbüros der VKP(b)
vom 28.6. an. Dort ging es darum, den vom 6. Weltkongress der Komintern eingeführten „Interna-
tionalen Roten Tag“ bzw. Antikriegstag am 1. August in der Sowjetunion mit Meetings und Demon
strationen zu zelebrieren. Allerdings sollte der Tag nicht zum arbeitsfreien Feiertag deklariert werden.
Entsprechende Ankündigungen in der Presse wurden verurteilt.98
Am 18.7.1929 wurde der von Seiten der deutschen Botschaft erfolgte Vorschlag, eine Gesellschaft
deutscher Bürger in der Sowjetunion zu gründen, vom Politbüro der KP der Sowjetunion unter Hinweis
auf Verfassungsgründe abgelehnt.99
Am 18.7.1929 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion im Rahmen einer Umfrage ebenfalls
mit zwei von der russischen Delegation im EKKI eingebrachten Fragen, darunter der Aufruf des EKKI
zu den Ereignissen an der Chinesischen Osteisenbahn sowie die neue Zusammensetzung des formell
obersten Machtorgans der Komintern zwischen den Kongressen, des EKKI-Präsidiums. Des Weiteren
wurden aus den Mitteln der sowjetischen Gewerkschaften 10.000 Dollar an die Rotfrontkämpfer be-
willigt.100 In der Folge verstärkte das russische Politbüro generell die Verteilung von Finanzmitteln zur
Unterstützung von Streiks der Arbeiter in Westeuropa.
97 Im Rahmen eines 10–15 jährigen “Generalplans“ wurden seit 1929 drei Fünfjahrespläne ausgear-
beitet und durch Jahreskontrollziffern ausgerichtet. Für die Phase 1928–1933 wurde – der in der Praxis
um ein Jahr verkürzte – Entwurf des Gosplans der UdSSR vom April 1929 als Erster Fünfjahresplan ver-
abschiedet. Trotz erheblicher, größtenteils auf Kosten des Lebensstandards der Bevölkerung erreich-
ten Wachstumsraten konnten die Planziffern nicht erreicht werden. Eine Zwangskollektivierung war
ursprünglich nicht vorgesehen (Hans-Joachim Torke: Historisches Lexikon der Sowjetunion, 1917/22
bis 1991, München, Verlag C. H. Beck, 1993, S. 87f.).
98 RGASPI, Moskau, 17/3/747, 6–7.
99 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 97.
100 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 98, 100. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja
u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 601–602.
Dok. 226: Berlin, 23.7.1929 697
Dok. 226
Antrag der deutschen Vertretung bei der Komintern an das
sowjetische Außenkommissariat zur Aufklärung in der Affäre
Scharnhorst
Berlin, 23.7.1929
W[erte] G[enossen].
Nachfolgend unterbreiten wir Euch einige Auszüge aus der immer mehr Staub auf-
wirbelnden Affaire „Scharnhorst“-Bremen. Wie uns mitgeteilt wurde, hat sich auch
bereits die Deutsche Botschaft in dieser Sache bereits an das Außenkommissariat
gewandt, sodass Euch die Sache genügend bekannt sein dürfte. Da die Sache von den
deutschen Sozialfaschisten zu einer wüsten Hetze gegen Sowjetrussland und gegen
die Kommunistische Partei in schamloser Weise ausgebeutet wird, haben unsere
Bremer Genossen beschlossen, eine Gegenkampagne zu machen. Zu diesem Zweck
stellen die Genossen den Antrag, dass ein Genosse, der Gen. Plenge, der längere
Jahre im nördlichen Russland lebte, nach Russland fährt, um sich mit eigenen Augen
von dem Tatbestand zu überzeugen.101 Er beabsichtigt von Leningrad aus die Mur-
manskbahn zu benutzen bis Kem. Kem liegt gegenüber der Inselgruppe Solowezki.
102 Nach Ablauf eines weiteren Monats teilte Ulbricht dem ZK der KPD am 29.8.1929 aus Moskau
die Ablehnung des Außenkommissariats in der folgenden Weise mit: „In der Angelegenheit der Be-
satzung des Schiffes Scharnhorst aus Bremen teilt das Aussenkommissariat der USSR mit, dass es
die Schwindelmeldungen der sozialdemokratischen Presse offiziell dementiert habe. Eine weitere
Untersuchung der Angelegenheit ist absolut zwecklos. Eine solche Schwindelnachricht wie die über
das Verbleiben der Mannschaft von Scharnhorst kann man unmöglich mit Tatsachen beantworten.
Eine Reise des Genossen Plenge kommt also nicht in Betracht.“ Noch 1930 beschäftigte die Affäre
den Reichstagsausschuß für Verkehrsangelegenheiten, der die Reichsregierung beauftragte “in eine
Prüfung der einschlägigen Bestimmungen des Seeunfallgesetzes einzutreten und eine entsprechende
Vorlage zu machen“ (Reichstagsprotokolle, 1930/32, Bd. 450, Nr. 1032, S. 5, http://www.reichstagspro-
tokolle.de/Sach_bsb00000131_000837).
Teil 3: 1929–1933
„Sozialfaschismus“-Politik, letzte KPD-
Fraktionskämpfe, Machtantritt Hitlers und
Reichstagsbrand
Am 8. und 15.8.1929 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion mit einem Artikel der par-
teilosen Litvinova an das Berliner Tageblatt und der Antwort der Roten Fahne. Das Politbüro befand
den Artikel als für den Sowjetstaat diskreditierend und forderte Konsequenzen bei der Vergabe von
Dienstreisen.1
Am 15.8.1929 beschloss das Politbüro zur Kenntnis an Elena Stasova und Rudzutak, es der Internatio-
nalen Roten Hilfe zu gestatten, aus ihren Mitteln im Rahmen der für Deutschland festgelegten Finanz-
mittel Hilfszahlungen an die Familien der im rumänischen Jilava-Tal erschossenen Bergarbeiter aus-
zugeben. Vermutlich handelte es sich um das Kohlerevier im Schil-Tal (Valea Jiului) und das Gefängnis
Jilava bei Bukarest, in dem die Bergarbeiter erschossen wurden.2
Ebenfalls am 15.8.1929 erörterte das Politbüro unter dem Punkt „Über die deutschen Kredite“ die
Reaktion auf eine Anfrage des Sachverständigen des Auswärtigen Amtes für deutsch-sowjetische
Wirtschaftsbeziehungen, Moritz Schlesinger. Dieser war an den sowjetischen Handelsvertreter in
Moskau, Begge, herangetreten mit dem Vorschlag, der Sowjetunion einen zusätzlichen Kredit in Höhe
von 40 Millionen Mark zu gewähren. Die Politbüro-Kommission kam überein, diesen Vorschlag ent-
schieden abzulehnen, da ein solcher Kredit für die Wirtschaft der UdSSR von geringer Bedeutung sei,
jedoch zugleich die Verhandlungsposition der Sowjetunion schwächen würde. Bezug nehmend auf
diese Anfrage sollte im Namen von Mikojan eine Antwort übermittelt werden, die besagen sollte, dass
er diesen Vorschlag nicht verstehe oder nicht als ernsthaft betrachte, nachdem er, Mikojan, bereits
am 11.4. eine offizielle Verlautbarung erhalten habe. Aus den genannten Gründen hielte er es im All-
gemeinen nicht für möglich, diese Frage zu erörtern.3
Am 19.8.1929 rügte das Politbüro der KP der Sowjetunion die OGPU und das Postkommissariat dafür,
dass sie „antisowjetische“ Telegramme des nach Saratov verbannten Linksoppositionellen Christi-
an Rakovskij durchgelassen hätten. Es solle erwogen werden, Rakovskij in entlegenere Regionen zu
verbannen, genauso wie „die übrigen herausragenden Trotzkisten, die ihre Akivität nicht eingestellt
haben“.4
Dok 227
Rundschreiben der Agitprop-Abteilung des EKKI über die
propagandistische Auswertung der Beschlüsse des X.
EKKI-Plenums
[Moskau], 23.8.19295
In den nächsten Tagen wird die „Inprekorr“6 die Thesen der Agitprop-Abteilungen
[sic] des EKKI über das X. EKKI-Plenum veröffentlichen.7 Im Zusammenhang mit den
Thesen lenken wir Eure Aufmerksamkeit auf folgene Punkte:
1. Aufgabe der Thesen ist es, den Agitatoren, Propagandisten und Schriftstellern bei
der Popularisierung der Beschlüsse des X. Plenums zu Hilfe zu kommen. [...]
2. Im ersten Punkt der Thesen wird darauf verwiesen, die zentrale Direktive des X.
Plenums bestehe in der Einschlagung des festen Kurses auf die Eroberung der Mehr-
heit der Arbeiterklasse.
4. Bei der Erläuterung des Inhalts des neuen revolutionären Aufschwungs ist insbe-
sondere sein internationaler Charakter hervorzuheben. Dabei sind Beispiele anzu-
führen, die von der Radikalisierung der Arbeiterklasse und vom Aufschwung der
revolutionären Bewegung nicht nur aus dem Leben der Arbeiterklasse des betreffen-
den Landes anzuführen [sic], sondern es ist auch der internationale Charakter des
Aufschwungs zu beleuchten.
[...] Wir sprechen die feste Hoffnung aus, dass Ihr uns über alle Schritte auf dem Lau-
fenden halten und uns auch darüber berichten werdet, wie die Parteimitglieder die
Beschlüsse des X. Plenums aufnehmen.
Am 5.9.1929 erfolgte ein ausdrücklich strikt geheimzuhaltender Beschluss des Politbüros der KP der
Sowjetunion, die sowjetischen Militärschulen von „unsicheren und feindlichen Elementen“ unter den
ausländischen Studierenden zu „entlasten“. Gleichzeitig wurden Unšlicht und Pjatnitzki damit be-
traut, kommunistische Arbeiter aus dem Westen für ein militärisches Studium in der Sowjetunion
auszuwählen und dem Politbüro entsprechende Vorschläge vorzulegen.8
Am 26.9.1929 entschied das Politbüro der KP der Sowjetunion über eine Direktive der Komintern an
das ZK der KP Österreichs aus Anlass der Aufmärsche der österreichischen Heimwehren gegen die
sozialdemokratischen und alle linken Verbände, die Manuilski und Pjatnitzki korrigiert hatten. In der
Komintern wurde daraufhin u.a. durch die Einberufung der sog. „Konstanzer Konferenz“ eine interna-
tionale Kampagne „gegen den Faschismus in Österreich“ lanciert.9
8 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 143. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 603.
9 RGASPI, Moskau, 17/162/7, 158. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 604–605.
704 1929–1933
Dok 228
Kritischer Brief Čičerins an Molotov über die Deutschlandpolitik
der Sowjetunion und der Komintern
In Deutschland, 27.9.1929
27.IX.29.
Kopie
Abs[olut] geheim.
An Gen. MOLOTOV.
Verehrter Genosse!
Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Brief vom 21. IX [...]. Sie schreiben, dass ich [in
der Sowjetunion] etwas Neues sehen werde. Utopie – nichts werde ich sehen.10 Ich
bin über Bord – Sie schreiben fröhlich über neue Fabriken, das ist jedoch [bloß] ein
erster Schritt, wir sind noch lange, lange nicht autark – man braucht gute Beziehun-
gen zu der Umgebung, besonders zu Deutschland, aber Moskau tut Thälmann und
Co zuliebe alles, was nur möglich ist, um die Beziehungen zu Deutschland zu verder-
ben, das Wesentliche wird dabei geopfert. Das Wesentliche ist die Industrialisierung.
Die Kolchosen und Sovchosen sind nur eine Teilstütze, die seit langem bestehende
Aufgabe – die Versorgung des Dorfes mit Industriegütern – bleibt in Kraft. Auch die
Kominternfrage wird ohne die Industrialisierung und die Schaffung guter wirtschaft-
licher Bedingungen bei uns nicht gelöst. Manche englische Politiker haben gesagt:
„Wenn es keine UdSSR gäbe, müsste man sie erfinden, denn sie stößt die Arbeiter
von der Revolution ab.“ Das ist, gehen wir davon aus, ein Paradoxon, die ganze
Presse tönt allerdings von unseren Lebensmittel- und anderen Schwierigkeiten, habe
ich doch selbst von Arbeitern gehört: „In Russland gibt es Lebensmittelkarten, kein
Fleisch, keine Butter, keine Eier usw.“ Da wird kein „revolutionäres“ Doping helfen.
Ihr spannt das Pferd hinter den Karren, wenn ihr die Beziehungen zu Deutschland
zugunsten der Agitationsinteressen Thälmanns beschädigt. All diese Auftritte von
der Art des abscheulichen, völlig unsinnigen Artikels von Nomad,11 die ständigen
10 Vjačeslav Molotov hatte am 21.9.1929 an Čičerin geschrieben und ihn um Rückkehr in die Sowje-
tunion gebeten, wobei er versprach, dem schwerkranken Außenkommissar bessere ärztliche Bedin-
gungen als im Ausland zu Verfügung zu stellen. Zu den innersowjetischen Angelegenheiten schrieb
Molotov: „Wenn Sie kommen, werden Sie viel Neues, höchst Interessantes und wirklich Aufmuntern-
des sehen.“ (RGASPI, Moskau, 558/2/48, 12. Publ. in: Kvašonkin/Košeleva/Rogovaja u.a.: Sovetskoe
rukovodstvo, S. 100–101). Čičerin lehnte jedoch weiterhin seine Rückreise nach Moskau u.a. aus ge-
sundheitlichen Gründen ab.
11 Nomad (Ps.), d.i. Evgenij Gnedin (1898–1983), Sohn des russischen Revolutionärs, Mitautors der
Theorie der permanenten Revolution und späteren deutschen Agenten Alexander Parvus-Helphand.
Dok 228: In Deutschland, 27.9.1929 705
Kritteleien, die Auslösung von Skandalen, das Aufbauschen der allerkleinsten Nich-
tigkeiten, die Verzerrung von Perspektiven, direkte Lügen – all dieses Verpfuschen der
Beziehungen zu Deutschland durch uns ist purer Wahnsinn. [...] Wir haben tollpatschig
aufgeschrien, warum die deutsche Regierung sich anschicke, sowohl unsere als auch
die chinesischen Interessen zu vertreten12 (während des großen Krieges haben die
wenigen Neutralen sowohl die Interessen der Entente als auch die der Mittelmächte
vertreten, das ist die allergewöhnlichste Sache) [...]. Leider werden Sie schlecht infor-
miert. Sie wissen einfach nicht, wie schwach die revolutionäre Bewegung ist, von der
man bei uns aus Unkenntnis laut tönt. Wenn Sie die Berichte über die Prozesse gegen
die am 1. Mai in Berlin Verhafteten läsen, würden Sie sehen, wie nichtig die Ange-
legenheit gewesen ist, die durch die Polizeischüsse in ein großes Ereignis verwan-
delt wurde (die S[ozial-]D[emokrat]-en wollen ihre Rolle als Retter der Gesellschaft
nicht verlieren, denn wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hat, verjagt man ihn,
der Mohr braucht immer noch etwas, was zu tun ist), wobei die kommunistischen
Anwälte geradeheraus gesagt haben, dass ohne die Polizeischüsse nichts gewesen
wäre.13 Am 1. August bin ich durch die Örtchen gefahren, in denen die in Frankfurt
und bei Höchst beschäftigten Arbeiter leben, und habe gesehen, wie unbedeutend
die Bewegung ist.14 An den Mauern klebten kleine rote Papierchen mit Aufschriften
über die Kriegsgefahr und die Vorbereitung eines Angriffes gegen die UdSSR, und ich
habe gesehen, wie einige Arbeiter lachten, wohl wissend, dass es zum jetzigen Zeit-
punkt keine Kriegsgefahr gibt und niemand die UdSSR angreift (den Konflikt um die
Eisenbahn15 sehen sie nicht als Angriff an) – diese Losungen schaden der Komintern
schwer. Abenteuer, Doping, Bluff sind ein großer Schaden. [...]
1922–1939 im NKID, dort v.a. für Deutschland zuständig, 1935–1937 Erster Sekretär der deutschen Bot-
schaft in Berlin. 1939 verhaftet, nach Freilassung und Rehabilitierung 1955 einer der Mitbegründer
der sowjetischen dissidenten Menschenrechtsbewegung. Zusammen mit Lev Michajlov und Gnedin
verfasste er eine Broschüre über den Dawes- und Young-Plan: Nomad & Politikus: Ot plana Dauesa k
planu Junga, Moskva, Moskovskij rabocij, 1929 (vgl. Dok. 229).
12 Während des chinesisch-sowjetischen Konflikts um die Rechte an der Chinesischen Osteisenbahn
im Sommer 1929 übernahm Deutschland sowohl die Vertretung sowjetischer Interessen in China als
auch die Vertretung chinesischer Interessen in der Sowjetunion.
13 Gemeint ist die von der KPD bis zum Aufstand hochstilisierte Berliner 1. Mai-Demonstration. Über
sie hatte Čičerin bereits kritisch an Stalin geschrieben (siehe Dok. 222).
14 Der 1. August wurde seit dem 10. EKKI-Plenum von der Komintern als internationaler Tag gegen
den Krieg und die Kriegsgefahr gegenüber der Sowjetunion zu einer répétition générale der Maide-
monstrationen ausgerufen, ohne besondere Erfolge.
15 Ende Mai 1929 hatte China einen Konflikt über die unter sowjetischer Verwaltung stehende ostchi-
nesische Eisenbahn provoziert. Tschiang Kai-shek hatte die Bahn okkupiert und sowjetisches Perso-
nal arretiert. Im November intervenierte die Sowjetunion militärisch, woraufhin vertraglich der alte
Zustand wieder hergestellt wurde.
706 1929–1933
Am 28.9.1929 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion mit dem Vorschlag „der
deutschen Eisenbahner“ zur Initiierung eines „internationalen revolutionären [Produktions-]
Wettbewerbs“. Die Frage wurde verschoben und nicht wieder aufgegriffen.16 Ein weiterer Punkt betraf
die Anfrage des Präsidiums des ZK der MOPR über die Reise von R.V. Halperin und zwei Arbeitern zu
den Kongressen der Roten Hilfe in Deutschland und der Schweiz.
Am 10.10.1929 bestätigte das Politbüro der KP der Sowjetunion das Budget der OGPU für 1929–1930
in Höhe von 57,5 Millionen Rubel.17
Am 14.10.1929 behandelte das Politbüro der KP der Sowjetunion die Frage der Zusammensetzung der
deutschen Delegation zu den sowjetisch-deutschen Verhandlungen und beriet über die Entsendung
einer Delegation zum gesamtdeutschen Kongress der Arbeiter und der Frauen Deutschlands (Ruhr)
nach Deutschland.18
Dok 229
Brief Čičerins an Molotov über die Unsinnigkeit der
Sozialfaschismus-These
[Wiesbaden], 18.10.1929
Typoskript, russisch. APRF, Moskau, 12/74/55, 97–99; RGASPI, Moskau, 82/2/1463, 85–87 Deutsche
Erstveröffentlichung. In russischer Sprache auszugsweise publ. in: Sokolov: Neizvestnyj Čičerin, S.
16–17.
GEHEIM
Persönlich
18. Oktober 1929
An Gen. Molotov
Verehrter Genosse!
[...] Ich bin zutiefst über all dies beunruhigt: Die Illusionen Moskaus über eine angebliche
revolutionäre Bewegung; die unheilbringende Komintern-Führung;19 die Beziehungen zu
Deutschland; die Bestrebungen Moskaus, auf Teufel komm heraus die Beziehungen zu
Deutschland zu verderben, um es Thälmann recht zu machen; all diese abscheulichen
verlogenen Artikel von Nomad, Politikus20 usw. Was ist das, zum Beispiel, für eine Unge-
reimtheit – „Sozial-Faschismus“!!! Die S[ozial-]D[emokraten] sind Bourgeoise, Spießbür-
ger, Reaktionäre, sie sind eine recht schäbige liberale Massenpartei, aber Faschisten (wie
Winnig ein Faschist ist)21 gibt es unter ihnen nur sehr wenige. Währenddessen hat man
sich bei uns angewöhnt, überhaupt jede reaktionäre Handlung Faschismus zu schimp-
fen. Nicht jede Diktatur ist jedoch Faschismus. Nicht jede Reaktion, nicht jeder Despo-
tismus ist gleich Faschismus. Die Feldgerichte Stolypins waren kein Faschismus.22 Der
Faschismus ist ein Staat im Staate. Der alte Polizeistaat war kein Faschismus. Pleve – kein
Faschismus.23 Ludwig XIV. – kein Faschismus. Wenn aber aus unerfindlichen Gründen
jede Reaktion und jeder Polizeistaat Faschismus genannt wird, so muss ein neuer Termi-
nus erdacht werden für den echten, spezifischen Faschismus Mussolinis, Piłsudskis und
des Stahlhelms.24 Die Kennzeichen des echten, spezifischen Faschismus sind organisierte
Banden, die Gewalt im Interesse der herrschenden Klasse anwenden, und eine Form der
Partei, die die Macht ergreift; er [der Faschismus] braucht Helden und Führer. Die deut-
schen S[ozial]-D[emokraten] und der echte, spezifische Faschismus haben absolut nichts
gemeinsam. Es ist sehr einfach, überall angesichts einer reaktionären Maßnahme zu
rufen: „Faschismus, Faschismus“. Dies ist jedoch nichts als eine Verdrehung der Begriffe,
Schmiermittel für’s Gehirn [umstvennaja smaz’].
Der spezifische Faschismus unterscheidet sich radikal vom alten Polizeistaat. Er wurde
bei uns nur unvollkommen analysiert, was dem bei uns herrschenden Schablonenden-
ken und der geringen Kenntnis westeuropäischen Lebens geschuldet ist. Hier ist richtiger
Marxismus gefragt, und keine einfache Wiederholung schlecht verstandener Formeln.
Die Praxis des Faschismus in Deutschland wird von den Hitler-Leuten, dem Stahlhelm
und ähnlichen Organisationen repräsentiert; die Theorie des Faschismus jedoch wurde
am besten von Spengler formuliert.25 Überhaupt berühren seine Ansichten zwei Ebenen:
Evgenij Gnedin gemeinsam verfasste Broschüre über den Dawes- und Young-Plan: Nomad & Politikus:
Ot plana Dauesa k planu Junga, Moskva, Moskovskij rabocij, 1929.
21 Der Gewerkschafter und Schriftsteller August Winnig wandelte sich nach dem 1. Weltkrieg vom
Sozialdemokraten zum völkischen Nationalisten. Allerdings wurde er bereits nach dem Kapp-Putsch
(1920) aus der SPD ausgeschlossen.
22 Der russische Ministerpräsident Petr Stolypin, initiierte nach 1905 eine Agrarreform, ließ jedoch
antizarische Bewegungen durch sog. „Feldgerichte“ unterdrücken. Im Volksmund wurde die hier an-
gewandte Tötung durch den Strang auch als „Stolypinsche Krawatte“ bezeichnet.
23 Vjačeslav Konstantinovič Pleve (deutsch: von Plehwe) wurde 1902 zum Innenminister des rus-
sischen Zarenreiches bestimmt; er trug entscheidend zur Zerschlagung der Arbeitervereine und Ge-
werkschaften bei.
24 Der 1918 gegründete „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“, deutsch-nationaler und republikfeindli-
cher paramilitärischer Verband (später auch: Wehrsportverband); mit ca. 500.000 (1930) Mitgliedern weit-
aus stärker als der Rote Frontkämpferbund der KPD. Im Oktober schlossen sich 1931 der Stahlhelm, die
NSDAP und die DNVP zur Harzburger Front zusammen. Im Dritten Reich in die Sturmabteilung integriert.
25 Čičerin bezieht sich auf Oswald Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes. Umrisse
einer Morphologie der Weltgeschichte“, das in 2 Bänden 1918 und 1922 beim Verlag C. H. Beck in
München erschien. Die Darstellung des Cäsarismus als des zu erstrebenden Endstadiums der Zivilisa-
tion, und Möglichkeit der Verhinderung der Weltrevolution distanzierte den Geschichtsphilosophen
jedoch sowohl vom Führerkult als auch der Rassenlehre des Nationalsozialismus, während er den
italienischen Faschismus positiv sah. Ein „germanisches Imperium“ sah er als eine wichtige Voraus-
708 1929–1933
1) Im Bezug auf die Vergangenheit ist seine Theorie vom „Untergang des Abendlandes“
eine fast wortgetreue Wiederholung der Theorien von Neo-Slavophilen wie Danilevskij und
Konstantin Leont’ev aus der Zeit von Pobedonoscev.26 Aus deren Theorie der „kulturhisto-
rischen Typen“ ließ sich ableiten, dass der russische kulturhistorische Typus bereits seinen
Zenit überschritten habe, daher die Formel, man müsse „Russland einfrieren, dass es nicht
mehr lebe.“ Dabei haben die Neo-Slavophilen27 viele ihrer Ansichten von den klerikal-tra-
ditionalistischen Philosophen der französischen Restauration (Bonald, de Maistre) entlie-
hen; 2) In Bezug auf die Gegenwart basiert Spenglers Theorie (mit der wir uns aufgrund
unserer Zurückgebliebenheit überhaupt nicht befasst haben) darauf, dass sich aufgrund
des Systems der Aktionäre der Besitz von der Nation losgelöst habe, gleichzeitig hätten auf-
grund der neuen Kriegstechnik freiwillige Verbände ideell überzeugter Menschen, die diese
neue Technik beherrschten, die Volksarmeen abgelöst, wobei diese bewaffneten Verbände
ideell überzeugter Menschen durch den Kult ihrer Führer miteinander verbunden seien, die
kraft dieser die Schicksale der Völker bestimmten [...]
Dieser spezifische Faschismus, oder Schafismus,28 ist in Deutschland im Abflauen
begriffen – diese Phänomene seiner Entwicklung, seines Wachstums und seiner
Abschwächung müssten in Verbindung mit den allgemeinen gesellschaftlichen
Stimmungen und Wirrungen in Deutschland, mit dem Kult der Frustration und des
überflüssigen Menschen in der Nachkriegszeit, mit der Wiedergeburt des Neoroman-
tismus und der gegenwärtigen Rückkehr zum Goethetum sowie zum Realitäts- und
Aktivitätskult erforscht werden. Ohne die Erforschung der gesellschaftlichen Stim-
mungen und Strömungen als Ganzes kann man den Zustand eines Landes nicht cha-
rakterisieren. Bloße Statistiken, Produktions- und Handelszahlen – das ist zu wenig.
Ich betrachte jedoch diese ganzen bunten Bilder so, wie ein Wanderer die sich ihm
offenbarende Tallandschaft erblickt – wie ein Wanderer allerdings, der sich bereits
am Wegesrand niedergelassen hat, seinen Wanderstab loslässt und das Aufziehen
der Nacht erwartet, die für ihn eine ewige Nacht sein wird.29
Mit Genossengruß,
G. Čičerin
setzung zur Verhinderung des Untergangs des Abendlandes an, im sowjetischen Kommunismus sah
er die Wirkungsweise einer asiatischen Horde und nur „sehr wenig“ von „echtem Marxismus“.
26 Der konservative russische Staatsmann Konstantin Pobedonoscev war von 1880 bis 1905 Ober-
Prokurator der Heiligen Synode Russlands.
27 Ziel des besonders stark in der Tschechoslowakei vertretenen Neoslavismus sollte ursprünglich
die Beförderung einer Vereinigung der Slaven innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie
sein. Durch die russozentrische Ausrichtung des Zarismus sowie reaktionär-nationalistische Tenden-
zen kam es zur Krise, die anlässlich des ersten neoslavischen Kongresses 1908 in Prag deutlich wurde.
28 Im Original: „šafizm“. Nach Sokolov ist dies der von Čičerin gebrauchte, unter Verwendung des
Namens Spenglers gebildete Begriff zur Bezeichnung des „spezifischen“ Faschismus (Sokolov: Neiz-
vestnyj Čičerin, S. 17).
29 Der unter Stalin zur Unperson erklärte Čičerin starb erst 6½ Jahre später. Trotz seiner Krankheit
gab er erst 1930 sein Amt an Litvinov ab und lebte zurückgezogen in Moskau.
Dok. 230: [Moskau], 25.10.1929 709
Dok. 229a
Telegramm des ZK der KPD an Stalin und Molotov mit der
Bitte um Mittelüberweisung zur Unterstützung des Berliner
Rohrlegerstreiks
Berlin, 24.10.1929
ZK KPD
Dok. 230
Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über ein
erweitertes Angebot von Militär- und Spezialkursen für
ausländische Kommunisten
[Moskau], 25.10.1929
Angehört:
6. Frage des Gen. Unšlicht (PB vom 5.9.1929, Protokoll Nr. 96, P. 8)
(Gen. Unšlicht, Pjatnitzki)
Beschlossen:
a) Dem EKKI zu gestatten:
1) polnische Instrukteurskurse mit einer Lehrdauer von 9 Monaten für 30 Hörer
zu eröffnen;
30 Eintrag auf russisch zu Beginn des Dokuments: „An Stalin und Molotov ist ein deutscher Text aus
s.c. am 25.10.1929 geschickt worden. Pjatnitzki hat [ihn] gelesen.“ Am Ende des Dokuments folgt die
russische Übersetzung.
710 1929–1933
2) für die deutschsprachige Hörergruppe Kurse für den Zeitraum von 5 Monaten
für 50 Personen zu eröffnen;
3) ebenfalls eine französischsprachige Hörergruppe aus 30 Personen in 5 Monaten
auszubilden;
4) das Programm der bestehenden Lenin-Kurse31 durch die Einfügung neuer mili-
tärischer Disziplinen zu erweitern;
5) in die 6-Monats-Kurse der KIM32 militärische Disziplinen zu integrieren;
6) im nächsten Jahr eine englische Gruppe für England und die USA vorzubereiten.
10.521,4 R[ubel]
Auszüge versandt an: Gen. Unšlicht - alle; Gen. Pjatnitzki - alle; Gen. Brjuchanov - „c“.
Am 5.11.1929 wurde durch das Politbüro der KP der Sowjetunion erstmals die Erschießung eines lin-
ken Oppositionellen verfügt. Dabei handelte es sich um Jakov Bljumkin, der als OGPU-Funktionär
Kontakte zur Linken Opposition und zu Trotzki aufrechterhalten hatte. Darüber hinaus kritisierte das
Politbüro ausdrücklich die OGPU, da sie nicht beizeiten die konterrevolutionäre Tätigkeit Bljumkins
aufgedeckt und ihn liquidiert habe.35
Dok 231
Rundschreiben des Westeuropäischen Büros der Komintern zur
Beschränkung und Erfassung der politischen Emigration
[Berlin], 12.11.1929
W[erte] G[enossen]! Wir weisen alle Parteien auf nachstehende Richtlinien hin, die
bei Emigrantenfragen unbedingt zu beachten sind:
I. Die Emigration nimmt ungeheuer zu, die Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkei-
ten der meisten in Betracht kommenden Länder werden immer schwieriger und ein-
geschränkter. Daher soll Emigration nur in jenen Fällen zugelassen werden, welche
nach den internationalen Regeln wirklich eine solche erfordern (bei hoher Verurtei-
lung über 3–5 Jahre, oder in Einzelfällen, welche besondere nachweisliche Gefahr
bedeuten).
2. Sofortige Legitimierung noch vor der Abreise des P[olit-]E[migranten]. Es muss
unbedingt erreicht werden, dass in allen normalen Fällen die genaue Legitimierung
(Personaldaten, Emigrationsgrund, Organisationsdaten, Lichtbild) bereits vor dem
Eintreffen des P[olitischen] E[migranten] in den Händen der betreffenden R[ote]
H[ilfe]-Sektion ist. Nur in Ausnahmefällen, bei unmittelbarer Gefahr im Verzug, ist
nachträgliche Legitimierung begründet.
Mit Gruss!
WEB der K.I.38
Dok 232
Mitteilung des Kominternpräsidiums über die Wiederaufnahme
der Tätigkeit des Westeuropäischen Büros in Berlin
[Berlin], 22.11.1929
Werte Genossen,
Entsprechend den Bestimmungen der Statuten der K.I. teilen wir Ihnen mit, dass das
West-Europäische Büro der K.I. das seine Arbeit nach dem VI. Kongress [der Komin-
tern, 1928] wieder aufgenommen hat,39 zwecks maximaler Ermöglichung einer direk-
ten Anleitung für die Arbeit der kommunistischen Bruderparteien vom Präsidium des
EKKI folgende Rechte eingeräumt erhalten hat:
1. In Fällen unaufschiebbarer Dringlichkeit in allen Fragen Beschlüsse zu fassen
und Aufrufe zu veröffentlichen.
2. Im eigenen Namen des Büros schriftliche Direktiven an die Parteien zu erteilen.
Die Tätigkeit des Westeuropäischen Büros vollzieht sich lt. den Anweisungen des Präsi-
diums und des Politsekretariats des EKKI. Um Parallelismus bei der Ueberweisung von
Direktiven an die Kom-Parteien aus Moskau und vom Westeuropäischen Büro zu ver-
meiden, wird dafür Sorge getragen, dass das West-Europäische Büro über seine sämtli-
chen Direktiven an die Parteien das Politsekretariat und das Präsidium informiert.
Das West-Europäische Büro wird Instruktoren zu seiner direkten Verfügung
haben und steht sonst in engem Kontakt mit den Kom-Fraktionen der verwandten
Organisationen. Diese Mitarbeiter erhalten verschiedene Aufträge vom West-Europä-
ischen Büro bei deren Durchführung ihnen die Parteien die notwendige Hilfe zu Teil
werden lassen sollen.
Am 30.11.1929 bestimmte das Politbüro der KP der Sowjetunion die Zusammensetzung einer neuen
Führungsmannschaft für die sowjetische Handelsvertretung in Deutschland.40
Am 5.12.1929 fasste das Politbüro der KP der Sowjetunion einen Beschluss, mit dem die Umwandlung
der autonomen Republik der Wolgadeutschen in eine Musterregion für die vollständige Kollektivie-
rung dekretiert wurde.41
Am 15.12.1929 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion ebenfalls über das Budget des EKKI.
Das Budget für ausländische Devisen sollte überprüft werden wozu eine aus Smirnov, Pjatnitzki und
Brjuchanov zusammengesetzte Kommission zu bilden sei.42
Am 25.12.1929 beriet das Politbüro der KP der Sowjetunion über die Verhandlungen mit dem deut-
schen Flugzeugbauunternehmen Heinkel, wobei ein nicht näher ausgeführter Vorschlag von Kliment
Vorošilov angenommen wurde.43
Dok 233
Brief Karl Gailisʼ an Tuure Lehén über die Aufgaben der
Militärarbeit der KPD
[Moskau], Ende 1929 – Anfang 1930
Abs[olut] geheim
Auf Basis eines Meinungsaustausches auf der letzten Sitzung der Militärkommission44
sowie eines zusätzlichen Gesprächs mit Gen. Berzin würde ich gerne einen Entwurf
zu Überlegungen zur militärischen Arbeit der Partei skizzieren, um diese, nachdem
ich sie mit Dir besprochen habe, der Kommission zur Besprechung vorzulegen und
dann den Deutschen zu übermitteln. Als ich den Entwurf für einen Brief skizziert
hatte, stellte ich allerdings fest, dass ich sie ohne Deine Hilfe nicht zusammenstellen
kann. Ich könnte nur über Diversionen und Kader schreiben. Über Aufklärung und
Zersetzung, wie auch über den RFB, der ebenfalls in dem Brief erwähnt werden muss,
kann ich nicht schreiben, da ich darüber nicht informiert bin.
Ich schicke Dir den Entwurf des Briefes, und wenn Du (in den nächsten Tagen)
Zeit hast, schau bei mir vorbei und wir werden dann die Frage besprechen und die
Aufgabenteilung vornehmen.
Meiner Meinung nach muss der gesamte Brief sehr knapp gehalten werden und
nur die Aufgaben fixieren.45
Mit Gen[ossen]-Gruß
[Sign.:] Gailis46
45 Der Briefentwurf Gailisʼ, betitelt als „Aufgaben der KPD im Bereich der Militärarbeit“, ist in der An-
lage überliefert: RGASPI, Moskau, 495/25/1377, 97. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/
Širinja: Komintern i ideja, S. 710, Fn. 4
46 Wie in Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i idea vermutet wird, könnte unter dem bisher nicht
eindeutig entschlüsselten Pseudonym A. Neuberg der Lette Karlis Gailis am maßgeblichen Handbuch
der Komintern zum bewaffneten Aufstand mitgewirkt haben (siehe: Neuberg/Kippenberger/Tucha
tschewski/Ho Chi Minh: Der bewaffnete Aufstand. Bisher wurde das Pseudonym u.a. mit Hans Kip-
penberger, Tuure Lehén oder auch als Gruppenpseudonym aufgelöst.
1930
Am 10.1.1930 befasste sich das Politbüro der KP der Sowjetunion auf Initiative von Sergo Ordžonikidze
mit einer neuen Kaderbesetzung in der sowjetischen Handelsinspektion in Berlin, zu deren neuem
Leiter Zachar Belen’kij, Mitglied der Arbeiter-Bauern-Inspektion, ernannt wurde.1
Dok. 234
Brief des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der Komintern an
das ZK-Sekretariat der KPD über den „Sozial-“ und den „National-
Faschismus“ in Deutschland2
[Moskau], 13.1.19303
Vertraulich.
An das Sekretariat des Z.K. der K.P.D.
Werte Genossen!
Wir hatten im Ländersekretariat eine Beratung, in der die Genossen Heckert und
Merker ueber die politische Lage in Deutschland, sowie ueber die Arbeit der Partei
berichteten, wobei es zu einem Meinungsaustausch ueber die im Mittelpunkt der Auf-
gaben der Partei stehenden Fragen gekommen ist.
Wir möchten auf Grund der Arbeiten dieser Beratung Veranlassung nehmen,
Euch eine Reihe von Erwägungen bekannt zu geben, die wahrscheinlich nicht wertlos
für Eure Arbeit sein werden.
Es ist für jeden klar, dass das Tempo der Zuspitzung der Klassengegensätze in
Deutschland eine aussergewöhnliche Beschleunigung erfahren hat, sodass schon in
den allernächsten Monaten mit gewaltigen Klassenzusammenstössen zu rechnen ist.
Davon, ob wir es verstehen werden, uns mit klaren und präzisen politischen Losun-
gen und unter Verwendung klarer und präziser Formen des Kampfes, sowie der Orga-
nisierung der Massen an die Spitze der in rascher Entfaltung befindlichen Massenbe-
wegung zu setzen, hängt es ab, welchen Schwung diese Bewegung erreicht und ob
diese Bewegung umschlagen wird in ein neues höheres Stadium.
wir an der Macht sind (als die Partei der proletarischen Diktatur) dieses Joch des inter-
nationalen Kapitals zerbrechen und werden alle diese Verpflichtungen annullieren.
3. Das Finanzkapital Deutschlands will das Land versklaven und reiht sich ein
unter die hörigen Verbündeten des amerikanischen Kapitalismus. Wir, die Kommu-
nisten, werden Deutschland zu einem ebenso unabhängigen grossen Land der Arbeit
machen, wie es – dank der Bolschewiki – Russland geworden ist, das unter dem
Zarismus am Gängelband des anglo-französischen Imperialismus wandelte.
4. Die Bankmagnaten diktieren dem Lande offen ihren Willen. Wir werden, wenn
wir an der Macht sind, Schluss machen mit den Bacchanalien der Bankmagnaten.
Wir werden die proletarische Nationalisierung aller Privatbanken vornehmen und die
Staatsschulden an die vaterländischen Kapitalisten annullieren.
5. Die Grosshandelsmagnaten richten die kleinen Geschäftsleute zugrunde,
werfen die Angestellten zu Tausenden auf die Straße und treiben die Lebensmit-
telpreise für den Massenkonsum. Wir, die Kommunisten, werden, wenn wir an der
Macht sind, Schluss machen mit den Bacchanalien der Grosshandelsmagnaten. Wir
werden den Grosshandel nationalisieren und eine mächtige Konsumgenossenschaft
bilden, die die Werktätigen freimacht von den räuberischen Handelsherren.
6. Wir werden die kapitalistischen Formen der Betriebe der öffentlichen Hand
(Munizipalität) vernichten. Wir werden den grossen Hausbesitz konfiszieren und die
Arbeiter, sowie die städtische Armut in die Wohnungen der Reichen einquartieren.
Wir werden die Gebühren für die Betriebe der öffentlichen Hand nach dem Klassen-
prinzip regeln und dadurch die von den niedrig bezahlten Schichten des Proletariats
zu erhebende Gebühr auf ein Minimum herabsetzen.
7. Wir werden Schluss machen mit der Steuermisswirtschaft der Bourgeoisie.
Das Proletariat wird, nachdem es die Macht erobert, die Fabriken, die Banken, den
grossen Hausbesitz und den Handel expropriiert hat, alle Voraussetzungen schaffen,
um das Budget des proletarischen Staates nach dem Klassenprinzip zu gestalten.
8. Wir werden die Sozialversicherung aller Arten auf Kosten des Staates (und auf
Kosten der Unternehmer, solange vorübergehend noch einige kleine Privatbetriebe
bestehen bleiben) einführen.
9. Wir werden die Herrschaft der Krautjunker brechen.6 Wir werden einen Teil des
Grund und Bodens den landarmen Bauern übergeben. Wir werden staatliche land-
wirtschaftliche Betriebe schaffen. Wir werden die Arbeitsbedingungen des ländlichen
und städtischen Proletariats einander angleichen.
10. Wir werden mit eisernem proletarischem Besen das ganze Schmarotzerpack
der Fabrikanten, Unternehmer, Bankiers, Junker, Grosshandelsleute, Generale, bür-
gerlicher Politiker und Spekulanten aller Farben und Schattierungen ausfegen. Von
der Fabrik bis zur Zentralregierung – überall wird das Proletariat herrschen.
6 Der Begriff „Krautjunker“ wurde als negative Bezeichnung für den ostelbischen adeligen Grundbe-
sitzer gebraucht.
Dok. 234: [Moskau], 13.1.1930 719
7 Zu den Betriebsräte-Wahlen im Frühjahr 1930, die meisten davon im März, kandidierten die KPD-
Kandidaten erstmals in ca. 1200 Betrieben (besonders auf Druck der Komintern- und RGI-Führung)
auf eigenen „Roten Listen“. Den kommunistischen Kandidaten wurde eine Kandidatur in Form ande-
rer Listen selbst dann untersagt, wenn sie die Mehrheit stellten. „Relative Erfolge“ (Müller) waren nur
im Ruhrgebiet (Bergbau) und in Schlesien zu verzeichnen (siehe auch Dok. 257; vgl. Werner Müller:
Lohnkampf, Massenstreik, Sowjetmacht. Ziele und Grenzen der „Revolutionären Gewerkschafts-Op-
position“ (RGO) in Deutschland 1928 bis 1933, Köln, Bund-Verlag, 1980, S. 121–124.
8 Gegen den Young-Plan initiierte der deutschnationale Medienzar Alfred Hugenberg zusammen mit
Hitlers NSDAP und Franz Seldte vom Stahlhelm einen Volksentscheid. Die Abstimmung am 22. De-
zember 1929 scheiterte zwar mit nur 13,8 Prozent der Wahlberechtigten, doch vor allem die NSDAP
konnte durch den „bis dahin größten Propagandafeldzug in der Weimarer Republik“ (LeMo) Nutzen
ziehen, der sich in der Reichstagswahl vom September 1930 materialisierte. Siehe: Jung: Direkte De-
mokratie, S. 109–146.
720 1929–1933
den. Dabei aber ist es klar, dass wir, bevor wir imstande sind, den politischen Massen-
streik in der einen oder anderen Stadt, bezw. Industrie durchzuführen, diese Losung
zum Allgemeingut der breiten Massen und in erster Linie der Partei selbst machen
muessen. [...]
Worin besteht das Neue auf dem Gebiete der Organisationsformen, das durch die
veränderte Situation hervorgerufen wird?
In erster Linie in der Notwendigkeit aller nur erdenklichen Anstrengungen in
der Richtung, dass der Zusammenhang zwischen der Erwerbslosen-Bewegung und
der Bewegung des im Betriebe stehenden Proletariats nicht verloren geht.9 In der
Partei muss absolute Klarheit geschaffen werden über die Frage der Unzulässigkeit
der Bildung vollkommen getrennter Erwerbslosen-Organisationen, und vollkommen
getrennter Erwerbslosen-Demonstrationen. Jemehr die Erwerbslosigkeit zunimmt,
umso energischer wird die Bourgeoisie (mit Hilfe der Sozial- und der Nationalfaschis-
ten) bemüht sein, einen Keil zwischen die Erwerbslosen und die im Betriebe Stehen-
den zu treiben und die letzteren zu erpressen durch die Tatsache des Vorhanden-
seins einer ungeheuren Erwerbslosenarmee. Es ist infolgedessen notwendig, in jene
Erwerbslosen Komitees oder Räte, die augenblicklich im Prozesse der Entfaltung der
Massenbewegung der Erwerbslosen geschaffen werden, Vertreter der Betriebe, beson-
ders der Grossbetriebe mitaufzunehmen, die Beteiligung der Arbeiter der wichtigsten
Betriebe der jeweiligen Ortschaft zur unerlässlichen Bedingung von Erwerbslosen-
Demonstrationen zu machen und in das Programm der Aufgaben der revolutionären
Betriebsräte Massnahmen zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit und zur Unterstüt-
zung der Erwerbslosen mitaufzunehmen. [...]
3. Ueber die Rolle der Presse, insbesondere der „Roten Fahne“ bei der Mobilmachung
der Massen. [...]10
Durch mangelnde Kontrolle von seiten des P.B. lässt sich auch die Tatsache erklären,
dass in den letzten Wochen in den Leitartikeln der „Roten Fahne“ systematisch ein
falscher, höchst schädlicher Standpunkt in der Frage des Sozialfaschismus vertreten
wird. Der Verfasser einer Reihe von Leitartikeln versucht nachzuweisen, erstens, dass
der Sozialfaschismus, wenn er die Massen verliert, auch seinen Wert für die Bourgeoisie
verliert und dass letztere den Block mit der Sozialdemokratie sprengen und zur offenen
Diktatur übergehen will. In der Neujahrsnummer der „Roten Fahne“ heisst es z.B.: „Es
ist (...) der Zeitpunkt in nächste Nähe gerückt, wo die Bourgeoisie das Bündnis mit der
Sozialdemokratie (...) aufgibt, und an seiner Stelle die nackte Politik der faschistischen
Diktatur anzuwenden.“ Dass Konzessionen von der Sozialdemokratie nur deshalb
gemacht werden, um sich noch einige Monate an der Regierung zu erhalten.
9 1930 erfolgte seitens der KPD eine verstärkte Konzentrierung auf die Arbeitslosen als Zielgruppe,
es folgte der Aufstieg der KPD als Erwerbslosenpartei. Mitte 1931 arbeiteten nur noch knapp 20% der
Parteimitglieder in den Betrieben. Siehe Dok. 272
10 Der nachfolgende Punkt wird wiedergegeben nach einer korrigierten Abschrift (RGASPI, Moskau,
495/28/47, 61–67).
Dok. 234: [Moskau], 13.1.1930 721
Es fällt nicht schwer, zu sehen, dass dieser Standpunkt in der Frage des Sozialfa-
schismus den Beschlüssen des XII. Parteitages und des 10. Plenums widerspricht. [...]
Die Sozialdemokraten sind mit dem bürgerlichen Staat fest verwachsen und
haben den Massen jahrelang erzählt, dass die Koalitionspolitik sie aus allem Unglück
retten wird. Aber die Frage ihres Verbleibens in der Regierung ist eine Frage zweiten
Grades im Vergleich zu der allgemeinen Frage über das Bündnis der Bourgeoisie mit
der Sozialdemokratie bei der Anwendung faschistischer Kampfmethoden gegen das
Proletariat.11 Derjenige, der einen Gegensatz konstruiert zwischen der offen faschis-
tischen Politik der Bourgeoisie und ihrer Blockpolitik mit der Sozialdemokratie, der
reicht den rechten Opportunisten und den Versöhnlern, die die faschistische Ausar-
tung der Sozialdemokratie leugnen, die Hand; der stiftet Verwirrung in den Köpfen der
Parteimasse und aller Arbeiter überhaupt.
Die Frage der richtigen Beurteilung der Rolle des Sozialfaschismus ist die Grund-
frage, das ausschlaggebende Kriterium zur Beurteilung der politischen Hieb- und
Stichfestigkeit eines verantwortlichen Parteifunktionärs. [...]
4. Ueber den Kampf gegen den Opportunismus in der Praxis und ueber die Kaders. [...]
Besorgniserregend ist die andere Tatsache, die Tatsache des Schweigens der „Roten
Fahne“ im Laufe einer Reihe von Tagen, während „Vorwärts“ und „Gegen den Strom“12
den Fall in der Zelle Siemens hinausposaunten13 – eine Tatsache, die von der Passi-
vität der Berliner Parteileitung in dieser Angelegenheit zeugt. Die richtige Taktik in
dieser Frage ist gerade die umgekehrte Art jener Taktik, wie sie von der „Roten Fahne“
und von der Berliner Parteileitung angewandt wurde. [...]
Der Fall in der Siemenszelle, bei Knorrbremse usw. zeigt, dass ein Teil der Kaders
der Partei – Ballast darstellt und als Hemmschuh der revolutionären Entwicklung der
Partei fungiert. Wie haben wir uns von diesem Ballast zu befreien? Unseres Erachtens
ist das beste Mittel und die beste Kontrolle in den Massenkampagnen der Partei. Eine
der unmittelbaren nächsten Generalkontrolle dieser Art wird die Kampagne aus Anlass
11 Damit verschärfte die Komintern den Kampf gegen die Sozialdemokratie („Sozialfaschismus“),
auch gegen noch vorhandene differenzierte Sichtweisen in der KPD-Führung, die auf Unterschiede
zum Nationalsozialismus und die von diesem ausgehende Gefahren hingewiesen hatte. Zwei Mona-
te später brach die große Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller
tatsächlich auseinander. Die KPD-Führung lag mit ihrer Prognose richtig, sie ordnete sich jedoch im
Laufe des Jahres (zunächst in ihrem Sinne der „revolutionären“), von Stalin und Molotov diktierten
Bekämpfung der SPD mit allen Mitteln unter. Graduell forderte sie ebenfalls eine mit dem nationalen
Interesse unterlegte Bekämpfung und betrieb damit nicht nur Verharmlosung, sondern auch Nachei-
ferung des Nationalsozialismus.
12 Gegen den Strom war das Zentralorgan der „rechten“ KPD-Opposition (KPO). Siehe hierzu Dok.
197 und 202.
13 Einerseits proklamierte die KPD den „Kampf um die bolschewistische Linie bei Siemens“
andererseits verfolgte man die Aufstellung einer eigenen „roten“ Betriebsratsliste, was von den
Mitgliedern der Kabel- und Metallzelle jedoch abgelehnt wurde (Wetterleuchten bei Siemens. In:
Gegen den Strom, 21.12.1930, S. 935).
722 1929–1933
der Betriebsräteneuwahlen werden, wo die Partei, ausgehend von den Tatsachen der
Sabotage und der Passivität – sich von dem erwähnten Ballast befreien kann. [...]
Wir sind lediglich auf einige Hauptfragen eingegangen. Es wäre von ueberaus
grossem Wert, wenn Ihr Euch äussern wolltet ueber die Arbeitspläne des Z.K. und
der Partei für die unmittelbar nächste Zukunft. Besonders bitten wir den Abteilungen
und Bezirken Weisung zu erteilen, dass sie uns rechtzeitig und systematisch Material
einsenden.
Am 25.1.1930 genehmigte das Politbüro der KP der Sowjetunion zusätzliche Geldzahlungen an die
Rote Gewerkschafts-Internationale (RGI) in Höhe von 50.000 Rubeln in Devisen sowie 100.000 in rus-
sischer Währung.14
Dok. 235
Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über die
Budgets der Komintern, der Roten Gewerkschaftsinternationale
und der Bauerninternationale
[Moskau], 15.2.1930
Angehört:
87. Über das Budget des EKKI und der OMS für 1929/30.
Beschlossen:
87. Das Budget der Ausgaben des EKKI in Höhe von 1.000.000 Rubel und die Ausga-
ben der OMS in Höhe von 256.000 Rubel zu bestätigen, insgesamt 1.265.000 Rubel.
Auszüge versandt an: Gen. Pjatnitzki, Brjuchanov.
Angehört:
89. Über das Budget der Profintern für 1929/30.
Beschlossen:
89. Die Summe der Ausgaben in Höhe von 550.142 Rubel zu bestätigen, davon 100.000
Rubel aus den Mitgliedsbeiträgen des VCSPS.15
Angehört:
90. Über das Budget der Krestintern für 1929/30.
Beschlossen:
90. Die Aufstellung der Ausgaben zu bestätigen in Höhe von 176.000 Rubel.
Auszüge versandt an: Gen. Teodorovič, Brjuchanov.
Dok. 236
Aufzeichnung des sowjetischen Bevollmächtigten in Deutschland,
Nikolaj Krestinskij, über ein Gespräch mit Staatssekretär Carl von
Schubert bezüglich der SPD-Presse
[Berlin], 19.2.1930
Deutsche Erstveröffentlichung. In russischer Sprache ohne Archivangabe publ. in: Zemskov u.a.:
Dokumenty vnešnej politiki SSSR, Bd. XIV, Nr. 66, S. 96–103.
Ich antwortete Schubert,16 dass [...] die gesamte deutsche Presse ohne eine entschie-
dene Gegenmaßnahme der deutschen Regierung zwei Wochen lang eine Reihe ver-
leumderischer Behauptungen gegen uns veröffentlicht habe [...]
Alle Rekorde bräche allerdings die in den letzten Tagen begonnene Kampagne
des Vorwärts gegen die Bevollmächtigte Vertretung sowie die UdSSR im Allgemeinen
im Zusammenhang mit der Roten Fahne. Der Vorwärts werfe uns vor, wir würden zur
Finanzierung der Roten Fahne 5000 Exemplare der Zeitung kaufen. Wir hatten diese
Behauptung umgehend dementiert, gleichwohl jedoch führe der Vorwärts damit fort,
diese verlogene, ungereimte Behauptung in allen Tonlagen zu wiederholen.[...]
Schubert sagte, dass [...] er nach Erscheinen des Vorwärts-Artikels über die Subsi-
dierung der Roten Fahne durch die Bevollmächtigte Vertretung [der Sowjetunion] den
Redakteur des Vorwärts, Stampfer, angerufen und ihn auf die Unglaubwürdigkeit der
Behauptungen des Vorwärts hingewiesen habe. Stampfer habe allerdings geantwor-
tet, er habe durchaus aussagekräftige Beweismaterialien. Schubert interessiere sich
vergleichsweise wenig für deutsche Innenpolitik. Ihn interessieren die Aktionen der
deutschen Kommunisten kaum. Er benötige aber die Möglichkeit, bei Gesprächen mit
Vertretern deutscher Gesellschaftskreise mit reinem Gewissen zu erklären, dass die
UdSSR keine Beziehung zu den Aktionen der deutschen Kommunisten unterhalte.
In einem Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion vom 25.2.1930 wurde u.a. den Wünschen
der KPD-Führung stattgegeben, in den „Bericht der Zentralkomitees der KP Deutschlands, Italiens
und Englands über die Durchführung der Beschlüsse des EKKI“ einen Punkt zum Fünf-Jahres-Plan und
zur „Dekulakisierung“ in der Sowjetunion einzufügen. Zum Berichterstatter in dieser Sache wurde
Molotov bestimmt.17
Dok. 237
Erklärung von Eberlein zur Abschwörung von seinen
„versöhnlerischen“ politischen Auffassungen
Berlin, 25.2.1930
An das
Exekutivkommitee der
Kommunistischen Internationale
Moskau
Werte Genossen!
Im Anschluss an meine mündliche und schriftliche Erklärung, die ich am 27. November
1929 vor den Genossen Piatnitzki und Manuilski in Moskau zur Frage meiner Abwen-
dung von den politischen Auffassungen des Versöhnlertums abgegeben habe,19 habe
ich gemäss meinem Versprechen mich sofort nach meiner Rückkehr nach Deutsch-
land an das Sekretariat des Zentralkommitees der KPD. gewandt, mit der Bitte um
eine Aussprache, mit dem Ziele der Abgabe einer ausführlichen Erklärung.
Trotz meiner wiederholten Bitte seit dieser Zeit, ist eine solche Aussprache bis
heute nicht zustande gekommen.
Damit aber bei Euch nicht der Eindruck entsteht, als wolle ich mein damals gege-
benes Versprechen nicht einhalten und in Anbetracht der Tatsache, dass auf den
17 RGASPI, Moskau, 17/3/777, 11–12. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 619–620.
18 Handschriftl., z. T. unleserlicher Eintrag: „Ist den Mitgliedern der Politischen Kommission zur
Kenntnis gebracht.“
19 Durch politische Abschwörungen, Parteistrafen, Umsetzungen usw. ergaben sich Ende 1929 Dif-
ferenzierungen in der Gruppe der Versöhnler, die weitgehend aus den Führungspositionen entfernt
waren. Ernst Meyer, einziges verbliebenes Polbüro-Mitglied der „Versöhnler“, der von den zentralen
Entscheidungen ferngehalten wurde, trat noch kurz vor seinem Tod im Februar 1930 gegen eine „Kapi-
tulation“ ein; andere, so neben Eberlein auch Ewert, ordneten sich öffentlich der Parteilinie unter. Ewert
und Eisler wurden nach Moskau abgeschoben, Süßkind, Eberlein und Adolf Ende ihrer Funktionen ent-
hoben (Wilde: Ernst Meyer, S. 569ff.; Bayerlein: Die unbekannte Geschichte; vgl. den Beitrag in Band 1).
Dok. 239: [Berlin], 4.3.1930 725
jetzigen Sitzungen der Exekutive über die Stellung der Komintern gegenüber dem
Versöhnlertume [Stellung] genommen wird, wiederhole ich meine Bereitschaft zur
Abgabe einer ausführlichen Erklärung, die meine völlige Abkehr von den politischen
Auffassungen des Versöhnlertums dartut und die den Forderungen des Zentralkom-
mitees meiner Partei entspricht.
Inzwischen ist am Sonntag den 23. Februar 1930 die beiliegende politische Erklä-
rung des Genossen Artur Ewert in der Roten Fahne erschienen.20 Ich erkläre Euch,
dass ich inhaltlich mit dieser Erklärung einverstanden bin.
Indem ich Euch bitte von diesem Schreiben Kenntnis zu nehmen zeichnet
Dok. 239
Instruktion des Westeuropäischen Büros der Komintern an alle
kommunistischen Parteien gegen die „religiöse antisowjetische
Kampagne“
[Berlin], 4.3.1930
An alle Parteien
Ergänzung zu den Beschlüssen der Politkommission [des EKKI] vom 4. März.21
20 Die Erklärung und definitive Kapitulation des weitaus einflussreichsten Vertreters der Versöhnler,
Arthur Ewert, der damit die Versöhnler als Gruppe offiziell auflöste, erfolgte nach dem Tod von Ernst
Meyer; sie ist datiert vom 23.2.1930 (vom Thälmann-ZK veröffentlicht als: Der Bankrott des Versöhn-
lertums. In: Meyer-Leviné: Erinnerungen, S. 215f.; Wilde: Ernst Meyer: S. 587f.). Als in die Komintern
abgeschobener Funktionär wurde Ewert (Ps. Harry Berger), der den (gescheiterten) Prestes-Aufstand
1934/1935 organisieren sollte, verhaftet und durch Folterungen der brasilianischen Polizei in den Irr-
sinn getrieben. Seine Frau Elise Saborowski wurde an Hitlerdeutschland ausgeliefert und kam 1939
im KZ Ravensbrück ums Leben.
21 Den Vorlauf für die Konterpropaganda gegen die auch auf die Proteste aus Deutschland gegen
religiöse Verfolgungen gerichtete „religiöse antisowjetische Kampagne“ leistete das Politbüro des ZK
der KP der Sowjetunion, das sich weiterhin kritisch mit der innenpolitischen Ausrichtung der Wei-
marer Regierung befasste, u.a. wegen angeblicher Fälle “antisowjetischer Hetze“ im Fall Kutepov,
der antireligiösen Kampagne oder der „Entkulakisierung“. Gleichwohl setzte sich Litvinov bei Stalin
für die Aufhebung der erfolgten Abkapselung der deutschen Botschaft in Moskau – neben anderen
diplomatischen Vertretungen – ein (Slutsch: Deutschland und die UdSSR, S. 57, 58; Litvinov an Stalin,
26.1.1930 – AVP RF 05/10/62/60,1.1; Litvinov an Stalin 13.5.1930 – AVP RF 05/10/62/60, 1.8).
726 1929–1933
des Auftretens der kirchlichen Organisationen gelegt werden. Alle religiösen Organi-
sationen, die miteinander streiten, haben diese antisowjetische Kampagne gleichzei-
tig begonnen.22 Das bedeutet, dass diese antisowjetische Kampagne ein Bestandteil
des Vorschreitens der Bourgeoisie und der Sozialdemokratien zum Kampf gegen die
Sowjetunion ist, die gigantische Erfolge in der Durchführung des Fünfjahresplanes, auf
dem Gebiete der Industrialisierung und Kollektivisierung der Landwirtschaft und in
dem entschiedenen Vormarsch gegen die Grossbauern (Kulaken) hat.23
WEB der KI
Dok. 240
Brief Pjatnitzkis an Stalin und Molotov zum Konflikt um Paul
Merker und Remmele in der KPD („Merkeriade“)
[Moskau], 1.4.1930
Absolut geheim
Persönlich
22 So schrieb das katholische Freiburger Konradsblatt, (1930), Nr. 14, S. 178: „Was sich da drüben in
Sowjet-Rußland seit Jahren abspielt, das ist das furchtbare Vorspiel des auch uns drohenden Kamp-
fes; das ist das Wetterleuchten in dem schlagenden Wetter; ist der ferne Kanonendonner, der näher
und näher kommt, bis sich das Kriegsgewitter über unserer abendländischen christlichen Kultur ent-
ladet.“ Zit. in: Heribert Smolinsky: Das katholische Rußlandbild in Deutschland nach dem Ersten
Weltkrieg und im Dritten Reich. In: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Das Rußlandbild im Dritten Reich,
Köln, Böhlau, 1994, S. [323]-355. U.a. protestantische Kreise zogen verstärkt ab 1930 gegen den sog.
„Kulturbolschewismus“ zu Felde, der sich ab 1930 zu einem auch nach innen gerichteten Kampfbe-
griff entwickelte (ibid., S. 339). 1930 erschien ebenfalls in der Reihe „Christliche Wehrkraft“ ein Buch
von Karl Nötzel, das den theoretischen Hintergrund zu liefern glaubte: Karl Nötzel: Gegen den Kultur-
Bolschewismus, München, 1930.
23 Nach einem Beschluss des ZK-Plenums der VKP(b) über das Tempo der Kollektivierung wurde am
1.2.1930 im Rahmen einer Verordnung „über Maßnahmen zur Befestigung des sozialistischen Umbaus
in der Landwirtschaft in den Kollektivierungsgebieten und zum Kampf gegen das Kulakentum“ die
„Beschlagnahme von Land, Häusern und anderen Besitztümern sowie die Ausweisung von Großbau-
ern aus Gegenden mit Genossenschaftsbetrieben“ verfügt. Am 4.3.1930, dem Tag der vorliegenden
Instruktion, erfolgte ein Beschluss des ZK „Über die Bekämpfung der Verzerrungen der Parteilinie in
der Kollektivwirtschaftsbewegung“ (Edgar Hösch, Hans-Jürgen Grabmüller: Daten der sowjetischen
Geschichte, von 1917 bis zur Gegenwart, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1981, S. 76).
Dok. 240: [Moskau], 1.4.1930 727
tige telegraphische Anweisungen zu geben, dass die weitere Verwendung des Artikels
‚Schritt haltenʻ als Material und zur Verbreitung über die Internationale24 bis zu Ihrer
Entscheidung unterbleibt. Ich bin gezwungen, diese Mitteilung auf eigene Verantwor-
tung zu machen. Trotzdem sicher, dass in Übereinstimmung mit großer Anzahl wich-
tiger Funktionäre. Merker.“
Wir wissen nicht, worum es geht, und deshalb wurde an das ZK der KPD folgen-
des Telegramm geschickt (vom 29.3.[1930]):
„Persönliches Telegramm von Merker erhalten. Inhalt uns unverständlich, um so
mehr die Methode, erbitten sofortige Aufklärung, Gusev, Heckert.“
Nach dem Abschicken dieser Telegramme haben wir vom Gen. Merker einen Brief
an die K[ommunistische] I[nternationale] erhalten,25 beigefügt waren die Kopie eines
Briefes an das Sekretariat des ZK der KPD und eine Kopie an den Gen. Thälmann. Alle
drei Briefe lege ich bei.
Aus all diesen Dokumenten ist ersichtlich, dass in der engeren Führung der KP
Deutschlands ein Konflikt entstanden ist, der dringend beseitigt werden muss. Ich
schlage vor, diese Frage im Büro der [russischen] Delegation [in der Komintern] zu
besprechen. [...]26
Unterschrift: Pjatnitzki.
24 Der vierteilige Artikel Remmeles war in großen Teilen gegen Merker und die „linken Abweichun-
gen“ in der KPD-Führung gerichtet, besonders auch in der Betriebs- und Gewerkschaftspolitik, aber
auch gegen Überspitzungen des „Sozialfaschismus“. Siehe: Hermann Remmele: Schritt halten! –
Warum muss der Kampf gegen zwei Fronten gerichtet werden? In: Die Internationale, Nr. 7 (15.3.1930),
S. 198 ff.; Nr. 8/9, S. 230 ff., Nr. 10, 295 ff. u.a.
25 Der Brief ist auf den 26.3.1930 datiert (RGASPI, Moskau, 495/19522, 26–28). Er belegt, dass nach der
neuen Maßgabe durch die erweiterte Sitzung des EKKI-Präsidiums (18.2.1930–28.2.1930), den „Kampf
an zwei Fronten“, gegen rechts und links gleichermaßen zu führen, ein Kampf um die Deutungsho-
heit in der KPD ausgebrochen war. Publ. in: L. Gincberg: Politsekretariat IKKI trebuet: dokumenty
Kominterna i Kompartii Germanii. 1930–1934 gg. In: Istoričeskij archiv, 1994, Nr. 1, S. 150–152.
26 Paul Merker (1894–1969) war als verantwortlicher Funktionär der Gewerkschaftsabteilung und
Mitglied des Polbüros auch Leiter der RGO und hatte als solcher die Kominternthese von der Sozialde-
mokratie als durchgehend reaktionäre sozialfaschistische Partei bis zu Ende geführt. Die Gegenreak-
tion in der KPD-Führung, die auf dem Unterschied zwischen Führung und Mitgliedschaft der Sozial-
demokratie bestand, brachte die Komintern erneut in Schwierigkeiten, da der von Merker umgesetzte
ultralinke Kurs mit den Thesen Stalins in großen Teilen deckungsgleich war. Heckert bspw. machte
Lozovskij unmittelbar verantwortlich (SAPMO-BArch I 6/3/208, 54–55). Die Antwort der Komintern fiel
ambivalent aus (hierzu Dok. 242; vgl. Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 159ff.).
728 1929–1933
Dok. 241
Ausschnitte aus dem Protokoll eines Gesprächs zwischen
Krestinskij und Reichsaußenminister Julius Curtius über die
politische Verfolgung der KPD
[Berlin], 16.4.1930
Typoskript, deutsch. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin, 4562/E 161, 661–680.
In deutscher Sprache publ. in: Peter Grupp, Harald Schinkel, Roland Thimme (Hrsg.): Akten zur
deutschen auswärtigen Politik: 1918–1945, Serie B, 1925–1933. Band XIV, 1. Januar bis 30. April 1930,
Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, 1980, S. 502–510.
zu treiben. Er, der Reichsminister, erwähne aber diese Fälle nur beispielsweise. Es
komme ihm viel mehr auf die Gesamteinstellung an.27
Am 25.4.1930 spricht sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion für Verhandlungen mit
Deutschland aus, unter der Voraussetzung, dass von deutscher Seite „prinzipielle und fundamentale
Fragen zur Diskussion gestellt werden“. Gleichzeitig wird der OGPU die Direktive erteilt, „gegenüber
den Deutschen in den vom NKID in seiner Mitteilung aufgezeigten Fällen keine besonders strengen
Maßnahmen zu ergreifen.“ Der Beschluss, bei dem es vermutlich um die Beendigung von Verfol-
gungsmaßnahmen gegenüber ausreisewilligen russlanddeutschen Bauern ging, wurde an Maksim
Litvinov für das NKID und Vjačeslav Menžinskij für die OGPU weitergeleitet .28
Ebenfalls am 25.4.1930 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Vertrag mit dem
deutschen Unternehmen Rheinmetall zur technischen Hilfe bei der Herstellung von Rüstungsgütern.29
27 Die „Gesamteinstellung“ der sowjetischen Führung gegenüber Deutschland wandelte sich tat-
sächlich durch partielles Eingehen auf die deutschen Forderungen, gerade nach Ende der sozialde-
mokratischen Koalition unter Reichskanzler H. Müller. Politbürobeschlüsse wie die vom 15.4.1930,
25.4.1930 und 15.5.1930 (siehe Kasten) bereiteten u.a. durch die Bildung einer gemeinsamen Schlich-
tungskommission eine neue Verständigung vor. Die fast parallel zum Rücktritt der Regierung Mül-
ler, dem Ausscheiden der SPD aus Regierungsverantwortung und der Wendung nach rechts unter
dem Präsidialkabinett Brüning seit April 1930 erfolgenden neuen Verständigungsschritte wurden
maßgeblich durch das große Interesse der deutschen Industrie infolge der Wirtschaftkrise gefördert.
Dabei war die Reichsregierung bestrebt, „dem Geschäfte“ den „sensationellen Charakter“ zu neh-
men (Tilman Koops, Karl Dietrich Erdmann, Wolfgang Mommsen, Walter Vogel u.a. (Hrsg.): Akten der
Reichskanzlei. Weimarer Republik – Die Kabinette Brüning I/II, Bd. 2, Dokumente, Nr. 269 Minister-
besprechung vom 20. März 1931, 17 Uhr / TOP 1. Wirtschaftspolitische Angelegenheit (Russengeschäf-
te), Boppard am Rhein, Boldt, 1982/1990, S. 974–977). So prallten Proteste der Sozialdemokratie u.a.
wegen der zunehmend totalitäreren Stalinschen Innenpolitik an der Regierung Brüning ab, die nicht
bereit war, „den (...) Kurs einer verstärkten Zusammenarbeit mit Sowjetrußland den innerdeutschen
Protesten zu opfern.“ (Slutsch: Deutschland und die UdSSR, S. 57ff.; Karl Dietrich Erdmann, Helmut
Grieser: Die deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zeit der Weimarer Republik als Problem der
deutschen Innenpolitik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. (1975), Nr. 26, S. 403–426, hier:
S. 422f. Im gemeinsamen Protokoll vom 24.6.31 wurde schließlich der Berliner Vertrag vom 24.4.26 um
mindestens drei Jahre verlängert (Dok. PB-Beschluß vom 30.6.1931). Der Vertrag konnte mit einjäh-
riger Frist gekündigt werden, jedoch frühestens zum 30.6.33 (Telegramm Von Dirksens, Nr. 207 vom
23.6.31, BArch R 43 I/140, 56–58).
28 RGASPI, Moskau, 17/162/8, 136. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 222.
29 APRF, Moskau, 3/64/657, 136. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 166.
730 1929–1933
Dok. 242
Geschlossener Brief des Politsekretariats der Komintern an das
ZK der KPD über die innerparteiliche Lage und die Angelegenheit
Paul Merker30
[Moskau], 26.4.1930
Streng vertraulich31
Das Pol[it]sekretariat hat sich mit dem Material über die innerparteiliche Lage der
KPD, insbesondere über den Konflikt zwischen der Parteileitung einerseits und dem
Genossen Merker andererseits bekannt gemacht und hält es für notwendig, folgendes
festzustellen:
Die politische Linie der KPD, die in der Resolution des März-Plenums des ZK der
KPD ihren konkreten Ausdruck fand,32 ist richtig und steht völlig im Einklang mit dem
gesamten Kurs der Kommunistischen Internationale, insbesondere mit den Beschlüs-
sen des letzten Erweiterten Präsidiums des EKKI.33 Die bedeutenden Erfolge der Partei
30 Pjatnitzki hatte am 25.4.1930 Entwürfe eines offenen und eines geschlossenen Briefes der Kom
intern an Stalin geschickt, mit folgendem Wortlaut: „In Übereinstimmung mit dem Gen. Molotov
werden wir morgen diese Briefe im Politsekretariat besprechen. Wir werden dem Politsekretariat vor-
schlagen, die Briefe als Grundlage anzunehmen und eine Kommission für die endgültige Redaktion
des Briefes zu bestimmen, zu der Gen. Molotov gehören wird; deswegen, falls Sie noch Korrekturen
oder Änderungen haben, können sie über die Kommission eingebracht werden. Bei der Ausarbeitung
des vorgeschlagenen Entwurfs wurden die Hinweise des Gen. Molotov berücksichtigt.“
31 Formal an das Zentralkomitee gerichtet, war die Kenntnisnahme des Briefes jedoch auf den engs-
ten Führungskreis der KPD beschränkt, wie es in einem Begleitbrief des Büros des Sekretariats hieß:
„Dieser Brief ist nur als Informationsmaterial den Mitgliedern des Politbüros der Partei vorzulegen
und nach dem zu vernichten.“
32 Vermutlich gilt der Verweis „Märzplenum“ der Plenartagung des ZK der KPD vom 14.3.1929, auf der
die „Gewerkschaftsfrage“ sowie die „innenpolitische Lage in Verbindung mit der Reparationsfrage“
zentral behandelt wurden (siehe hierzu: Weber/Wachtler: Die Generallinie, 7f.).
33 Ebenfalls von der KP der Sowjetunion ausgehend, ging mit der erweiterten Präsidiumssitzung des
EKKI (18.–28.2.1930) ein Wandel mit einer schärferen Stoßrichtung gegen sog. „linke Abweichungen“
einher. Bezeichnend war, dass die Komintern auf den mit Börsenkrach und dem Beginn der Weltwirt-
schaftskrise seit Oktober 1929 einsetzenden welthistorischen Umschwung nur mit „außergewöhnli-
cher Vorsicht“ („insolita prudenza“) reagierte (Agosti: Storia III, 1, 171 ff.), obwohl dies eine, wenn
auch „verspätete“, Bestätigung der eigenen Vorhersagen bedeutete. Nachdem der ultralinke Kurs
parallel zur definitiven Ausschaltung der sog. „Rechten Opposition“ und dem Beginn der Kollektivie-
rungen in der Sowjetunion praktiziert wurde, kündigte sich nun, mit dem Beginn der bisher größten
globalen Krise paradoxerweise eine Wendung nach rechts an. Gleichzeitig erreichte der stalinistische
Dok. 242: [Moskau], 26.4.1930 731
Personenkult die Komintern. Vertreter der VKP(b) sollen zunächst Thälmann gegenüber auf Über-
spitzungen der „Sozialfaschismus“-Politik hingewiesen haben, der Unterschied zwischen sozialde-
mokratischer Führung und Basis sei nicht mehr zum Ausdruck gekommen. Ein Pravda-Artikel Stalins
vom 2.3.1930 nahm erstmals das Schlagwort vom „Kampf an zwei Fronten“ auch für die Komintern
(nicht nur für die VKP(b)) auf. In letzter Sekunde sei, wie es hieß, ein entsprechender Passus noch
in die Resolutionen der erweiterten Plenumssitzung aufgenommen worden (hierzu: Carr: Twilight,
S. 9ff., S. 12 ff.; Milos Hájek: Storia dell’Internazionale comunista (1921–1935). La politica del fronte
unico. Prefazione di Ernesto Ragionieri, Roma, Editori Riuniti, 1972, S. 188 ff.; Aldo Agosti: La Terza
Internazionale. Storia documentaria. Prefazione di Ernesto Ragionieri. 6 vols., vol. III, 1, 1928–1943,
S. 167ff. (Biblioteca di Storia); vgl. auch: Leo Trotzki: Die Wendung der Komintern und die Lage in
Deutschland, Berlin, Verlag Der Kommunist, 1930; publ. in: Id.: Schriften über Deutschland, I, S.
76–98, hier S. 77 f.; für die KPD: József Wieszt: KPD-Politik in der Krise 1928–1932. Zur Geschichte
und Problematik des Versuchs, den Kampf gegen den Faschismus mittels Sozialfaschismusthese und
RGO-Politik zu führen, Frankfurt am Main, Materialismus-Verlag, 1976, S. 233 ff., 258 ff.).
34 Zum KPD-Kurs in den Betriebsratswahlen 1930 siehe Eumann: Eigenwillige Kohorten, S. 325–327.
732 1929–1933
35 Dabei blieb der gewerkschaftliche Kurs weiterhin ambivalent. In den Gewerkschaftsthesen zum
V. Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale (August 1930) sollte auf Duck der russischen
Delegation und unter Anwesenheit Stalins ausdrücklich „das linke Sektierertum“ Merkers erwähnt
und „die allgemeine Losung ‚Geht in die reformistischen Gewerkschaften‘“ als für Deutschland und
Polen unzweckmäßig gestrichen werden. Gleichzeitig sei es jedoch notwendig, „in den Thesen zu
unterstreichen, dass die Absetzung dieser Losung keineswegs bedeutet, dass die Anhänger der Ge-
werkschaftsopposition aus den reformistischen und nichtroten Gewerkschaften austreten können
oder sollen.“ (Beschluss der russischen Delegation der Komintern zur Strategie gegen den „Natio-
nalfaschismus“, [Moskau], 18.7.1930, RGASPI, Moskau, 508/1/98, 1–2. In russischer Sprache publ. in:
Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 626–629).
Dok. 242: [Moskau], 26.4.1930 733
um die Eroberung der Massen ist, sie besteht in der ruhigen und kameradschaftlich
gehaltenen Überzeugung der an der ‚Linkskrankheit‘ leidenden Genossen von der
Falschheit ihrer Auffassungen.
Das Polsekretariat hält es gleichzeitig für notwendig, der Parteiführung eine
Reihe kritischer Bemerkungen mitzuteilen, da wir aus jedem derartigen Vorfall – wie
der letzte innerparteiliche Konflikt – mit bereicherter Erfahrung hervorgehen und aus
den Fehlern oder Mängeln lernen müssen.
Die Lehre besteht darin, dass im Kampfe gegen diese oder jene Abweichung der
Bogen nicht nach der anderen Seite hin überspannt werden darf. Nun leidet aber der
unvollendete Artikel des Genossen Remmele an diesem Mangel,36 dadurch wurde
nach der durchaus richtigen Märzresolution des ZK [der KPD] die Stellung der Par-
teiführung im Kampfe gegen das ‚linke‘ Abbiegen in gewissem Sinne geschwächt
und nicht gestärkt. Es ist unmöglich zu verkennen, dass der Artikel des Genossen
Remmele, der im allgemeinen richtig ist und den Hauptzweck hatte, den richtigen
Kurs des Märzplenums des ZK in der Frage des Kampfes auf zwei Fronten zu verstär-
ken, wesentliche Fehler enthält. In dem Artikel des Genossen Remmele wird die Frage
in einer Weise behandelt, dass der Eindruck entstehen kann, als wäre das ‚linke‘
Abbiegen die Hauptgefahr bei den Betriebsrätewahlen. [...]
Der Sozialfaschismus – ist eine bestimmte, und zwar die letzte Phase der Ent-
wicklung der Sozialdemokratie als einer bürgerlichen Arbeiterpartei, mit der sich ihre
Rolle im System des imperialistischen Staates wandelt, mit der sich ihre Klassenbasis
verschiebt und ihre Methoden zur Erhaltung des Einflusses in den Massen andere
Formen annehmen.
Wenn man die Fehler des Genossen Merker, der zwischen der sozialfaschistischen
Bürokratie, sowie der Spitze der qualifizierten Arbeiter und den breiten sozialdemo-
kratischen Arbeitermassen nicht differenziert, aufdeckt, so darf man nicht ins andere
Extrem verfallen und darf nicht vergessen, dass der führende Hauptkern der Sozial-
demokratie – die sozialfaschistische Bürokratie – bereits mit dem imperialistischen
Staat verwachsen ist und ähnlich der bürgerlichen Intelligenz zu einem Bestandteil
des imperialistischen Systems geworden ist. [...]
Das Polsekretariat hält dafür, dass der Kampf gegen die ‚linken‘ Abweichungen
des Genossen Merker und seiner Anhänger weit erfolgreicher hätte geführt werden
können, hätte der Artikel des Genossen Remmele nicht die erwähnten Unklarheiten
und Fehler enthalten, die, nebenbei bemerkt, in der Aprilresolution des Politbüros
der Zentrale der KPD nicht genügend hervorgehoben wurden. Das Politsekretariat des
EKKI gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass in Zukunft so wichtige Fragen im Einver-
ständnis mit ihm entschieden werden.37
36 Siehe: Remmele: Schritt halten, S. 135 ff.; 7, 198 ff.; 8/9, 230 ff., 10, 295 ff.
37 Im Politsekretariat des EKKI kritisierte sogar der für seinen Schematismus bekannte Komintern-
funktionär Gusev am 26.4.1930 das Vorpreschen der KPD-Führung in der Angelegenheit Merker und
die Auslösung einer die Mitglieder verwirrenden ideologischen Kampagne, die ohne Abstimmung
734 1929–1933
Am 30.4.1930 erlaubt das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion es dem ehemaligen Volkskom-
missar für Bildungswesen, Anatolij Lunačarskij, gemeinsam mit seiner Frau für zwei Monate nach
Heidelberg zu gehen.38
Dok. 243
Aus einem Referat Rosenthals über „die rechten Renegaten in
Deutschland“ nach dem X. Plenum des EKKI im Informationsbüro
der Komintern
Moskau, 6.5.1930
mit der Komintern erfolgt sei. Er unterstrich dabei die internationale Bedeutung der KPD als nach der
VKP(b) größte Sektion der Komintern (RGASPI, Moskau, 495/3/215, 21).
38 RGASPI, Moskau, 17/3/784, 8.
39 Die 2. Reichskonferenz der Kommunistischen Partei–Opposition (KPO) fand im November 1929
in Weimar statt. Die hier weiter diskutierte und von der 3. Reichskonferenz (Berlin, Dezember 1930)
angenommene Plattform war konzipiert als „der Niederschlag nicht nur der bisherigen Arbeit und
Erfahrung der Kommunistischen Opposition, sondern auch eines Jahrzehnts des revolutionären
Kampfes und von Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Kom-
munistischen Internationale, eines Jahrzehnts, das überaus reich war an den verschiedenen Formen
und Inhalten des revolutionären Kampfes und an Auseinandersetzungen darüber. Die Plattform ent-
stand zunächst aus dem Bedürfnis, die taktischen Differenzen der Kommunistischen Opposition mit
der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Kommunistischen Internationale für die Zwecke
der inneren Parteiauseinandersetzung herauszuarbeiten und festzulegen. Im weiteren Verlaufe aber
Dok. 243: Moskau, 6.5.1930 735
6. Schlussbemerkungen.
Zusammenfassend kann folgendes gesagt werden: 1. je erfolgreicher die KPD. und
die anderen Sektionen der Komintern die neuen Methoden zur Massenmobilisierung
auf den verschiedenen Gebieten ihrer Tätigkeit anwenden, desto mehr sehen sich die
Renegaten genötigt, eine neue Austrittswelle im nationalen und internationalen Mass-
stab zu organisieren und alle Renegatengruppen innerhalb und ausserhalb Deutsch-
lands zusammenzufassen.
2. Die Voraussage des Offenen Briefes des EKKI an die KPD.,41 dass die Brandle-
rianer – nachdem ihnen die Konzentrierung als selbständige Gruppe innerhalb der
wurde sie planmäßig ausgeweitet zu einer möglichst umfassenden und eingehenden Darstellung des
Weges zur proletarischen Revolution in Deutschland. [...] Die Plattform der Kommunistischen Partei
Deutschlands (Opposition) ist also mit dem Programm der Kommunistischen Internationale zusam-
menzunehmen. [...] Die Kommunistische Opposition erfüllt damit die Aufgabe, die die Exekutive der
Kommunistischen Internationale bereits im Jahre 1922 allen ihren Sektionen stellte, und die die offi-
zielle Kommunistische Partei Deutschlands bis heute nicht zu erfüllen imstande war.“ (Plattform der
Kommunistischen Partei Deutschlands (Opposition). Beschlossen auf der dritten Reichskonferenz zu
Berlin, Dezember 1930, o.O.u.o.J., S. 3–4.
40 Die 1930 gebildete Internationale Vereinigung der kommunistischen Opposition (IVKO) vereinigte
neben der deutschen KPO um August Thalheimer und Heinrich Brandler unterschiedliche Organisa-
tionen im internationalen Maßstab, darunter den oppositionellen Flügel der KP Schwedens um Nils
Flyg und Karl Kilbom, die Independent Communist Labor League (ICLL) der USA um Jay Lovestone,
weitere KPO-Gruppen in Schaffhausen (Schweiz) um Walther Bringolf, Asch (heute Aš, Tschechien)
und Straßburg (Frankreich) sowie eine Gruppe um den indischen Marxisten Manabendra Nath Roy.
Obwohl antistalinistisch orientiert, zerbrach die Vereinigung nicht zuletzt an ihrer zunehmend kri-
tiklosen Haltung der Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse in der Sowjetunion. Siehe hierzu:
Tjaden: Struktur und Funktion, S. 162ff., S. 259ff.
41 Der Hinweis bezieht sich auf den offenen Brief des EKKI-Präsidiums vom 19.12.1928 an die KPD
über die „Rechte Gefahr“, der den bürokratischen Schlusspunkt unter die „Wittorf-Affäre“ setzte
(Dok. 202). Von der KPD-Führung wurde er unmittelbar als Ausschlussdrohung gegen Brandler, Thal-
heimer, Walcher, Frölich und Genossen kolportiert und auch auf die Gruppe der „Versöhnler“ (Ewert,
Meyer, Eberlein, Dietrich, Becker u.a.m.) ausgedehnt, zu deren „vollständiger politischer Liquidie-
rung“. Siehe hierzu den Beschluss des Polbüros der KPD zum offenen Brief vom 21.12.1928, Die Rote
Fahne, 23.12.1928, abgedruckt in: Weber: Der deutsche Kommunismus, S. 242–245.
736 1929–1933
Partei unmöglich gemacht worden war – sich ausserhalb der Partei zu einer eigenen
Gruppe zusammenschliessen und in weiterer Folge sich mit den Ultralinken ausser-
halb der SPD. verschmelzen werden, hat sich als vollständig richtig erwiesen.
3. Die Brandlerianer spielen heute die gleiche Rolle, wie die linken Sozialdemo-
kraten vor zwei Jahren.
Der tschechische Renegat Jilek hat seinen vor nicht langer Zeit vollzogenen Aus-
tritt aus der Renegatengruppe hauptsächlich damit begründet, dass diese sich immer
mehr von den Grundsätzen der Kommunistischen Internationale entferne und immer
deutlicher den Kurs auf den Eintritt in das Sozialdemokratische Lager nehme.
4. Da die SPD. gezwungenermassen in die Opposition eintreten musste, können
ihr die Brandlerianer nicht als Train einfach auf den ausgefahrenen Geleisen folgen,
sondern müssen sich ihrerseits nun auch etwas „linker“ gebärden.
5. Die Brandlerianer als Tross der Sozialdemokratie spielen die Rolle kleiner Spe-
kulanten, die mit falschem Gewicht operieren. Gegen die sich innerhalb der Partei
befindlichen Opportunisten, auf die sich die Renegaten stützen, muss ein scharfer
ideologischer und organisatorischer Kampf geführt werden, aber es ist nicht notwen-
dig, gegen die Renegaten selbst einen speziellen Kampf zu führen, sie müssen viel-
mehr gemeinsam mit den Sozialfaschisten bekämpft werden.
6. Mit ihrem fanatischen Kampf gegen die Theorie des Sozialfaschismus, mit
ihrem Putschgeschrei, dass sie am 1. Mai, am 1. August, bei der Zuspitzung der öster-
reichischen Krise und am 6. März erhoben,42 mit ihrer Einschätzung der Koalitions-
politik als das kleinere Uebel und der Sozialdemokratie als einem ernsten Faktor im
Kampfe gegen den Faschismus, mit ihrer Analyse der Weltlage (keine akute Kriegs-
gefahr, keine akute Wirtschaftskrise), mit ihrem gegen die Komintern gerichteten
schmutztriefenden Pamphlet (Offener Brief)43 bereiten die Brandlerianer ihren Ueber-
gang zum offenen Kampf gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung vor.
42 Neben der linken hatte auch die rechte Opposition der KPD das Vorgehen der KPD-Führung am 1.
Mai, das zu den Berliner Ereignissen führte, als provokativ und putschistisch gewertet. Im Falle Ös-
terreichs wurde Ähnliches versucht. Auf der dazu einberufenen „Konstanzer Konferenz“ wurde eine
internationale Kampagne „gegen den Faschismus in Österreich“ beschlossen (Siehe: Rundschreiben
des Westeuropäischen Büros der Komintern in Berlin an die Kommunistischen Parteien über die
„Konstanzer Konferenz“ und die internationale Kampagne gegen den „Faschismus“ in Österreich,
zur Unterstützung der KPÖ und die Unterdrückung in Jugoslawien; in: Bayerlein: Transnationale
Netzwerke und internationale Revolution). Am 11.10.1929 sowie am 14.10.1929 und erneut am 4.12.1929
erfolgten weitere, dringende Aufforderungen seitens des Westeuropäischen Büros der Komintern an
die ZKʼs der Kommunistischen Parteien, doch die Kraftprobe, das Gewicht der Komintern in die Waag-
schale zu legen, scheiterte (zur Kritik siehe: L. Trotzki: Die Österreichische Krise, die Sozialdemokra-
tie und der Kommunismus. In: Id.; Schriften über Deutschland, I, S. 53–66).
43 Nach den Maiereignissen veröffentlichte die KPO das Dokument „Die Lehren des 1. Mai. Offener
Brief – An alle Mitglieder der KPD. An die Exekutive der Kommunistischen Internationale“. In: Gegen
den Strom (1929), 197 ff. Hierin hieß es u.a.: „Die Führung, deren Politik in den Maitagen bankrott ge-
macht hat, muss verschwinden. [...] Die innerparteiliche Demokratie muss wieder hergestellt werden!“.
Dok. 243: Moskau, 6.5.1930 737
Am 15.5.1930 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dem deutschen Botschaf-
ter Dirksen gegenüber erneut die grundsätzliche Bereitschaft der Sowjetunion zur Beseitigung der
Schwierigkeiten im Warenaustausch und anderen Fragen zu erklären. Dabei sollte allerdings grund-
sätzlich darauf bestanden werden, jede Diskussion über Fragen der sowjetischen Innenpolitik abzu-
lehnen.44
Am 30.5.1930 wurden durch das Politbüro Boris Stomonjakov und Šolom Dvolajckij als sowjetische
Vertreter in die deutsch-sowjetische Schlichtungskommission berufen. Des Weiteren wurde Einver-
ständnis für einen Communiquévorschlag an von Dirksen signalisiert. Ihm sollte vorgeschlagen wer-
den, hierin auf den Vertrag von Rapallo zu verweisen.45 Vorläufiger Höhepunkt der Wiederannäherung
war das deutsch-sowjetische Protokoll vom 24.6.1931 zur Verlängerung des Berliner Vertrags von
1926.
Am 3.7.1930 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, der deutschen Regierung an-
gesichts des Abzugs der letzten französischen Okkupationstruppen aus dem Rheinland ein Glück-
wunschtelegramm zu schicken.49
44 RGASPI, Moskau, 17/162/8, 151. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadzo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 223–224.
45 RGASPI, Moskau, 17/162/8, 161 Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 224–225.
46 RGASPI, Moskau, 17/162/8, 170, 175–176.
47 APRF, Moskau, 3/64/657, 215–217. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 178.
48 RGASPI, Moskau, 17/162/8, 171. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadzo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 225–228.
49 APRF, Moskau, 3/64/690, 84. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, II, Dok. 180.
738 1929–1933
Dok. 244
Briefentwurf des Politsekretariats der Komintern an die KPD-
Führung über die nationale Befreiung der Werktätigen gegen den
„Nationalfaschismus“ als Perspektive zu den Reichstagswahlen
[Moskau], 28.7.1930
Typoskript, deutsch. RGASPI, Moskau, 495/3/171, 155–159. Weitere Fassungen siehe ibid., 160–164,
181–185. Erstveröffentlichung.
6 Ex/Bö.
28.7.1930.
Vertraulich.
Zur Frage des Kampfes gegen den Nationalfaschismus in Deutschland.
Werte Genossen!
Die ernsten politischen und organisatorischen Erfolge des Faschismus (der Natio-
nalsozialisten) in Deutschland im Laufe des letzten Jahres stellen das Problem des
Kampfes gegen diese neue Waffe der Bourgeoisie in seiner ganzen Grösse vor uns. Das
Beispiel Sachsens und anderer Orte zeigt,50 dass es dem Faschismus gelingt, breite
Massen zu gewinnen, darunter auch proletarische, die von unserer Arbeit bisher
hätten erobert werden können und müssen, sowie, dass unsere Partei bislang noch
nicht alle erforderlichen Methoden im Kampf gegen den Nationalfaschismus gefun-
den hat.
Der rasche Aufstieg des Faschismus ist das Resultat der Wirtschaftskrise in
Deutschland, die sich besonders vertieft in Verbindung mit dem Youngplan, der
die kleinen Warenproduzenten und Unternehmer in den Ruin stürzt, Millionen Pro-
letarier arbeitslos macht, das Lebensniveau der im Betrieb stehenden Arbeiter her-
abdrückt (Lohnabbau), breitesten Massen der Werktätigen (darunter Angestellten,
kleinen Kaufleuten, Handwerkern, kleinen Bauern usw.) neue Steuern, neue Zölle u.
a. Lasten auferlegt.
50 Die NSDAP erzielte bei den Landtagswahlen in Sachsen vom 22.6.1930 mit 14 Sitzen erstmals mehr
als die KPD (13); sie wurde damit zur zweitstärksten Partei hinter der SPD (32). Das vorliegende Doku-
ment erhellt die Entstehungsgeschichte der aus Moskau induzierten nationalistischen Anpassung der
KPD zur Einstimmung auf die am 18.7.1930 auf den 14.9.1930 festgelegten Reichstagswahlen, die den
Aufstieg der NSDAP markierten. Die KPD trat mit der „Proklamation“ einer in nationalen bis nationa-
listischen Tönen gehaltenen „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deut-
schen Volkes“ auf (siehe Dok. 245). Stalin selbst hatte vor allem in Gesprächen mit Heinz Neumann
im Juni 1930 auf einen solchen Kurswechsel gedrängt.
Dok. 244: [Moskau], 28.7.1930 739
schlagen, denn nur Rätedeutschland im Bunde mit der Sowjetunion und mit Unter-
stützung des revolutionären Proletariats Frankreichs, Polens, der Tschechoslowakei
und anderer Länder ist imstande, der imperialistischen Entente die Stirne zu bieten.
Gestützt auf die Erklärungen Strassers53 und seiner Anhänger, sowie die Koaliti-
onspraxis der Faschisten sind sie als faktisch Ausführende des Youngplans zu ent-
larven. Gestützt auf konkrete Tatsachen muss man in jeder Weise die Koalitionspra-
xis der Faschisten entlarven: sie ist ihr schwacher Punkt, denn sie ist es, die ihnen
die Maske von „Revolutionären“ und „Sozialisten“ am besten vom Gesicht reisst, ihr
wahres Wesen der Vollstrecker des Youngplans, ganz wie es die anderen bürgerlichen
Parteien sind, zeigt.
Im Gegensatz zu den grundlosen Revanche-Ideen der Nationalfaschisten muss
man den Massen erklären, warum das kapitalistische Deutschland ausserstande
ist, den räuberischen Ansprüchen der französischen Imperialisten Widerstand zu
leisten. Die Losung des wirtschaftlichen und politischen Bündnisses mit der USSR ist
vor den Massen zu entfalten, es ist ihnen zu zeigen, dass Rätedeutschland Millionen
Erwerbslosen Arbeit geben, dass es ein industrielles Zentrum der Sowjetunion sein
kann (gestützt auf ungefähre Zahlen muss gezeigt werden, welche Industrieprodukte
Rätedeutschland gegen landwirtschaftliche Rohstoffe, Halbfabrikate usw. an Sow-
jetrussland liefern könnte). Mit Rücksicht darauf, dass die Faschisten es verstanden
haben, unter den Erwerbslosen eine grosse Kampagne zu entfalten, muss dieses Pro-
gramm unter den Arbeitermassen besonders energisch popularisiert werden.
Der sozialen Demagogie der Faschisten muss die Partei ihr volles Programm
der proletarischen Revolution entgegenstellen. Einer der wesentlichsten Mängel im
Kampfe gegen die Faschisten besteht darin, dass die Partei den Massen noch kein
voll entfaltetes Programm des Auswegs aus der Krise, der Vorbeugung der drohenden
Katastrophe gegeben hat, sodass die nationalfaschistische Demagogie den rückstän-
digen Massen als radikales Mittel für die Beseitigung aller schlimmen Seiten des heu-
tigen Regimes erscheinen konnte.
Im Gegensatz zu der Agitation der Faschisten gegen das grosse Handels- und
Bankkapital, im Gegensatz zu ihrer sozialen Demagogie über Steuern, Sozialversiche-
rungsabbau, im Gegensatz zu ihrer marktschreierischen antisemitischen Agitation
gegen die Schmarotzer könnte sich die Partei mit einem gemeinverständlich darge-
legten Programm an die Massen wenden, das in einer klaren und deutlichen Sprache
besagt, was die Kommunisten nach ihrer Machtergreifung tun werden. Die Partei muss
53 Am 3.7.1930 trat der Führer des sozialrevolutionären Parteiflügels Otto Strasser nach Verfügung
des Ausschlusses aus der NSDAP aus und gab die Gründung der „Kampfgemeinschaft revolutionä-
rer Nationalsozialisten“ bekannt (sein Bruder Gregor blieb in der NSDAP). Ihr schlossen sich ca. 200
Mitglieder an, sie wirkte in Zukunft vor allem durch ihre Publikationen („Die Sozialisten verlassen
die NSDAP“, „Der Nationale Sozialist“, „Die Deutsche Revolution“, „Die Schwarze Front“) und ihre
teilweise mit der KPD gemeinsam geführten Kampagnen.
Dok. 244: [Moskau], 28.7.1930 741
54 Eine klare Spaltung der NSDAP wurde maßgeblich durch den Verbleib des beliebteren und ein-
flussreicheren Bruders Ottos – Gregor Strasser – vermieden.
55 Diese Bemerkung weist im Zusammenhang mit dem Hinweis auf ein beiliegendes Dokument da-
rauf hin, dass ein erster Entwurf der Programmerklärung (die am 23.7.1930 vom Politsekretariat des
EKKI verabschiedet wurde) als Anlage zum vorliegenden Dokument verschickt wurde. Ihre Abfassung
erfolgte auf Initiative Stalins, der seit 1929 auf einen nationaleren Kurs der KPD drängte und am Tag
der Reichstagsauflösung die Abfassung eines Grundsatzdokuments der Komintern zum Kampf gegen
den „Nationalfaschismus“ in der russischen Delegation des EKKI durchsetzte. Die Nationalfaschisten
seien hierin „als Elemente zu entlarven, die dazu in der Lage sind, sich den Schöpfern von Versailles
zu verkaufen, obwohl sie in Worten gegen diese auftreten.“ Es sei zu unterstreichen, „dass die Befrei-
ung Deutschlands vom Versailler Vertrag, [und] vom Youngplan nur mit dem Sturz der Bourgeoisie
möglich ist.“ (Siehe die Programmerklärung, folgendes Dokument).
742 1929–1933
den Katastrophe entfaltet und den Massen den Weg des Kampfes um die Befreiung
der Werktätigen Deutschlands, um Rätedeutschland, weist.
Dok. 245
Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen
Befreiung des deutschen Volkes
Berlin, 24.8.1930
Die Rote Fahne, 24.8.1930. Erneut abgedruckt in: Ernst Thälmann: Reden und Aufsätze zur Geschichte
der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. II, Berlin(-Ost), Dietz-Verlag, 1956, S. 530–540; Weber: Der
deutsche Kommunismus, S. 58–65.
56 Die vorliegende Programmerklärung ist das Ergebnis eines von Moskau induzierten Kurses der
nationalistischen Anpassung der KPD. Stalin selbst hatte in Gesprächen mit Heinz Neumann im Juni
1930 auf einen solchen Kurswechsel gedrängt, bereits seit 1929 einen nationaleren Kurs der KPD ein-
gefordert und am Tag der Reichstagsauflösung die Abfassung eines Grundsatzdokuments der Kom-
intern zum Kampf gegen den „Nationalfaschismus“ in der russischen Delegation des EKKI durchge-
setzt. Die „Nationalfaschisten“ seien hierin „als Elemente zu entlarven, die dazu in der Lage sind, sich
den Schöpfern von Versailles zu verkaufen, obwohl sie in Worten gegen diese auftreten.“ Zu unter-
streichen sei dabei, „dass die Befreiung Deutschlands vom Versailler Vertrag, [und] vom Youngplan
nur mit dem Sturz der Bourgeoisie möglich ist.“ (RGASPI 508/1/98, 1f. Publ. in: Dam’e/Komolova/
Korčagina u.a.: Komintern protiv fašizma, S. 234f.). Siehe ausführlich zur “nationalpopulistischen“
Wende der KPD, die von der Linken Opposition und Trotzki besonders scharf kritisert wurde: Hoppe:
In Stalins Gefolgschaft, S. 187–195 u.a.; vgl. L. Trotzki: „Gegen den Nationalkommunismus. Lehren des
‘Roten’ Volksentscheids“. In: Id.: Schriften über Deutschland, I, S. 113–137.
57 Die auf den 14.9.1930 festgelegten Reichstagswahlen markierten den Aufstieg der NSDAP und lei-
teten die Präsidialregierungen, zunächst unter Heinrich Brüning ein. Die NSDAP wurde unerwarteter-
Dok. 245: Berlin, 24.8.1930 743
weise mit 18,3 % zweitstärkste Partei hinter der SPD. Mit 13,1 Prozent war die mit der „Proklamation“
der in nationalen bis nationalistischen Tönen gehaltenen Erklärung angetretene KPD nur fast halb so
stark wie die SPD. Für die KPD-Führung war der Wahlsieg der NSDAP gleichwohl als “zweitrangig“
einzuordnen (Weber/Wachtler: Die Generallinie, S. 203ff.).
58 „Negersteuer“: Umgangssprachliche Bezeichnung für eine von der Regierung Brüning qua Not-
verordnung am 26.7.1930 eingeführte Kopf- bzw. Einwohnersteuer, wie sie als vermeintliches Mittel
gegen die Weltwirtschaftskrise zuerst vom thüringischen Staatsminister des Inneren, dem National-
sozialisten Wilhelm Frick (1877–1946), eingeführt wurde. Die Praxis stammte aus der Kolonialverwal-
tung und diente der pauschalen Erfassung der eingeborenen Bevölkerung (zur Gegenpropaganda der
KPD siehe: Hermann Remmele (verantwortlich): Vom Panzerkreuzer zur Negersteuer. Der Bankrott
zweier Regierungen, Berlin, Internationaler Arbeiterverlag o. D. [1930]).
744 1929–1933
Die Regierungsparteien und die Sozialdemokratie haben Hab und Gut, Leben
und Existenz des werktätigen deutschen Volkes meistbietend an die Imperialisten des
Auslands verkauft. Die sozialdemokratischen Führer, die Hermann Müller, Severing,
Grzesinski und Zörgiebel,59 sind nicht nur die Henkersknechte der deutschen Bour-
geoisie, sondern gleichzeitig die freiwilligen Agenten des französischen und polni-
schen Imperialismus.
Alle Handlungen der verräterischen, korrupten Sozialdemokratie sind fortge-
setzter Hoch- und Landesverrat an den Lebensinteressen der arbeitenden Massen
Deutschlands.
Nur wir Kommunisten kämpfen sowohl gegen den Youngplan als auch gegen
den Versailler Raubfrieden, den Ausgangspunkt der Versklavung aller Werktätigen
Deutschlands, ebenso wie gegen alle internationalen Verträge, Vereinbarungen und
Pläne (Locarnovertrag, Dawesplan, Youngplan, deutsch-polnisches Abkommen
usw.),60 die aus dem Versailler Friedensvertrag hervorgehen. Wir Kommunisten sind
gegen jede Leistung von Reparationszahlungen, gegen jede Bezahlung internationa-
ler Schulden.
Wir erklären feierlich vor allen Völkern der Erde, vor allen Regierungen und Kapi-
talisten des Auslandes, dass wir im Falle unserer Machtergreifung alle sich aus dem
Versailler Frieden ergebenden Verpflichtungen für null und nichtig erklären werden,
dass wir keinen Pfennig Zinszahlungen für die imperialistischen Anleihen, Kredite
und Kapitalanlagen in Deutschland leisten werden.
Wir führen und organisieren den Kampf gegen Steuern und Zölle, gegen die Ver-
teuerung der Mieten und Gemeindetarife, gegen Lohnabbau, Erwerbslosigkeit und
alle Versuche, die Lasten des Youngplans auf die werktätige Bevölkerung in Stadt und
Land abzuwälzen.
Die Faschisten (Nationalsozialisten) behaupten, sie seien gegen die vom Versail-
ler Frieden gezogenen Grenzen, gegen die Abtrennung einer Reihe deutscher Gebiete
von Deutschland. In Wirklichkeit aber unterdrückt der Faschismus überall, wo er
an der Macht steht, die von ihm unterworfenen Völker (in Italien die Deutschen und
Kroaten,61 in Polen die Ukrainer, Weißrussen und Deutschen, in Finnland die Schwe-
59 Die 2. Regierung einer großen Koalition in der Weimarer Republik unter dem Sozialdemokraten
Hermann Müller war als letzte parlamentarische Regierung von Juni 1928 bis März 1930 im Amt. Al-
bert Grzesinski war von 1926 bis Februar 1930 Nachfolger Carl Severings als preußischer Innenmi-
nister. Zur harten Linie gegen radikale Organisationen, die auch der sozialdemokratische Berliner
Polizeipräsident Karl Zörgiebel vertrat, siehe Dok. 168, Dok. 214 u.a.
60 Am 31.10.1929 wurde das Deutsch-Polnische Liquidationsabkommen abgeschlossen, das auf dem
beidseitigen Verzicht finanzieller Ansprüche aus dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag
beruhte. Besonders stark von der Rechten und auch der KPD bekämpft, bedeutete das Abkommen
einen Schritt zur Normalisierung der Beziehungen.
61 Anspielung auf die zum Teil gewaltsame Entnationalisierungs- bzw. Italianisierungspolitik Südti-
rols unter dem Mussolini-Faschismus, das seit dem Friedensvertrag von St Germain mit Österreich an
Italien fiel. Was Kroatien angeht, wurden Italien für den Fall seines Kriegseintritts in den Londoner
Dok. 245: Berlin, 24.8.1930 745
den usw.).62 Die Führer der deutschen Faschisten, Hitler und seine Helfershelfer,
aber erheben nicht ihre Stimme gegen die gewaltsame Angliederung Südtirols an das
faschistische Italien.63 [...]
Wir Kommunisten erklären, dass wir keine gewaltsame Angliederung eines
Volkes oder eines Volksteiles an andere nationale Staatsgebilde, dass wir keine
einzige Grenze anerkennen, die ohne Zustimmung der werktätigen Massen und der
wirklichen Mehrheit der Bevölkerung gezogen ist.
Wir Kommunisten sind gegen die auf Grund des Versailler Gewaltfriedens durch-
geführte territoriale Zerreißung und Ausplünderung Deutschlands. [...]
Alle Parteien in Deutschland, mit der einzigen Ausnahme der Kommunistischen
Partei, treiben Koalitionspolitik im Reiche, in Preußen, in Thüringen und den anderen
Einzelstaaten. Alle Parteien außer den Kommunisten sind Koalitionsparteien, Regie-
rungsparteien, Ministerparteien.
Nur wir Kommunisten sind gegen jede Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie, für
den revolutionären Sturz der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsordnung,
für die Aufhebung aller Rechte und Vorrechte der herrschenden Klassen, für die
Abschaffung jeder Ausbeutung.
Die Nationalsozialisten behaupten, Wirtschaftskrise und Ausplünderung der
Massen seien lediglich Folgen des Youngplans; die Überwindung der Krise sei bereits
gesichert, wenn Deutschland die Fesseln des Versailler Vertrages abstreift. Das ist
ein grober Betrug. Um das deutsche Volk zu befreien, genügt es nicht, die Macht
des Auslandskapitals zu brechen, sondern die Herrschaft der eigenen Bourgeoisie
im eigenen Lande muss gleichzeitig gestürzt werden. Die Krise wütet nicht nur im
Deutschland des Youngplans, sondern auch in den siegreichen imperialistischen
Ländern mit Amerika an der Spitze. Überall, wo die Kapitalisten und ihre Agenten,
die Sozialdemokraten, am Ruder sind, werden die Massen in der gleichen Weise aus-
gebeutet. Nur in der Sowjetunion bewegen sich Industrie und Landwirtschaft in auf-
steigender Linie. Nur in der Sowjetunion wird die Erwerbslosigkeit beseitigt, werden
die Löhne erhöht, werden die sozialpolitischen Errungenschaften der Werktätigen zu
beispielloser Höhe ausgebaut.64 In allen kapitalistischen Ländern, in allen Ländern
geheimen Vereinbarungen zwischen England, Frankreich und Rußland von 1915 grosse Teile Istriens
und Dalmatiens zugesprochen.
62 Von einer nationalen Unterdrückung der schwedischen Minderheit in Finnland kann so nicht ge-
sprochen werden. Seit der Verfassung Finnlands von 1919, das bis dahin unter russischer Herrschaft
war, sind Schwedisch und Finnisch sogar als Nationalsprachen anerkannt.
63 Im Interesse seines Bündnisses mit dem faschistischen Italien akzeptierte Hitler auch nach dem
„Anschluss“ Österreichs 1938 die Zugehörigkeit Südtirols zu Italien.
64 Die Jahreszuwächse der industriellen Bruttoproduktion in der Sowjetunion waren seit dem 1.
Fünfjahresplan 1928/1929 zwar nominell hoch, doch die allgemeine Verknappung der Konsumgüter
führten in Verbindung mit Schwarzmarkt und Privathandel zur Steigerung der Lebenshaltungskosten
und einer Senkung der Reallöhne, auf dem Hintergrund einer chaotischen, zumeist nur auf den quan-
titativen Aspekt reduzierten und diktatorisch durchgesetzten Welle gesellschaftlicher Veränderungen
(Zwangskollektivierungen u.a.). Dagegen wurde die Angestelltenschicht und die der „Intelligentsia“
746 1929–1933
des Faschismus und der Sozialdemokratie wachsen Elend und Hunger, Lohnabbau
und Erwerbslosigkeit, Reaktion und Terror.
Die Kommunistische Partei Deutschlands entfaltet den schärfsten politischen
und wehrhaften Massenkampf gegen den nationalverräterischen, antisozialistischen,
arbeiterfeindlichen Faschismus.
Wir kämpfen für die Rettung der werktätigen Massen vor der drohenden Kata
strophe.
Wir Kommunisten erklären, dass wir nach dem Sturz der Macht der Kapitalisten
und Großgrundbesitzer, nach der Aufrichtung der proletarischen Diktatur in Deutsch-
land, im brüderlichen Bündnis mit den Proletariern aller anderen Länder in erster
Linie folgendes
Programm
durchführen werden, das wir der nationalsozialistischen Demagogie entgegenstellen:
Wir werden den räuberischen Versailler „Friedensvertrag“ und den Youngplan,
die Deutschland knechten, zerreißen, werden alle internationalen Schulden und
Reparationszahlungen, die den Werktätigen Deutschlands durch die Kapitalisten
auferlegt sind, annullieren.
Wir Kommunisten werden uns für das volle Selbstbestimmungsrecht aller Natio-
nen einsetzen und im Einvernehmen mit den revolutionären Arbeitern Frankreichs,
Englands, Polens, Italiens, der Tschechoslowakei usw. denjenigen deutschen Gebie-
ten, die den Wunsch danach äußern werden, die Möglichkeit des Anschlusses an
Sowjetdeutschland sichern.
Wir Kommunisten werden zwischen Sowjetdeutschland und der Union der Sozia-
listischen Sowjetrepubliken ein festes politisches und Wirtschaftsbündnis schließen,
auf Grund dessen die Betriebe Sowjetdeutschlands Industrieprodukte für die Sowje-
tunion liefern werden, um dafür Lebensmittel und Rohstoffe aus der Sowjetunion zu
erhalten.
Wir erklären vor den Werktätigen Deutschlands: Ist das heutige Deutschland
wehrlos und isoliert, so wird Sowjetdeutschland, das sich auf mehr als neun Zehntel
seiner Bevölkerung stützen und die Sympathien der Werktätigen aller Länder genießen
wird, keine Überfälle ausländischer Imperialisten zu fürchten brauchen. Wir verwei-
sen die Werktätigen Deutschlands darauf, dass die Sowjetunion nur dank der Unter-
stützung der Arbeiter aller Länder vermocht hat, mit Hilfe ihrer unbesiegbaren Roten
Armee die Interventionen des Weltimperialismus erfolgreich zurückzuschlagen.
Im Gegensatz zu den heuchlerischen faschistischen Phrasen gegen das große
Bank- und Handelskapital, im Gegensatz zu den leeren nationalsozialistischen Wort-
gefechten gegen die Schmarotzer und gegen die Korruption werden wir folgendes Pro-
gramm durchführen:
als Leitungsfunktionäre privilegiert (siehe: Moshe Lewin: Le siècle soviétique. Traduit de l’anglais par
Denis Paillard et Florence Prudhomme, Paris, Fayard/Le Monde diplomatique, 2003, S. 82ff. u.a.).
Dok. 245: Berlin, 24.8.1930 747
Zur Macht gelangt, werden wir dem Treiben der Bankmagnaten, die heute dem
Lande offen ihren Willen aufzwingen, schonungslos Einhalt gebieten. Wir werden die
proletarische Nationalisierung der Banken durchführen und die Verschuldung an die
deutschen und die ausländischen Kapitalisten annullieren. [...]
Wir Kommunisten bringen den Werktätigen das Programm ihrer sozialen Befrei-
ung vom Joche des Kapitals. Wir werden die Begeisterung der Massen zum Siege über
die Bourgeoisie, zur sozialen und zugleich zur nationalen Befreiung des werktäti-
gen deutschen Volkes entfachen. Nur der Hammer der proletarischen Diktatur kann
die Ketten des Youngplans und der nationalen Unterdrückung zerschlagen. Nur die
soziale Revolution der Arbeiterklasse kann die nationale Frage Deutschlands lösen.
[...]
Nach einer Mitteilung Molotovs beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 5.8.1930,
der KPD zur Durchführung einer „besonderen Aufgabe“ zusätzlich 100.000 Rubel in Devisen zu bewil-
ligen.66 Vermutlich ging es um die Kampagne zu den Reichstagswahlen (am 14.9.1930).
Qua Beschluss des sowjetischen Politbüros vom 10.8.1930 wurde das Volkskommissariat für Außen-
handel ermächtigt, unter bestimmten Bedingungen wie der Gewährung eines Jahreskredits des Deut-
schen Reiches über 20 Millionen Mark einen weitreichenden Vertrag über Weizen- und Getreideliefe-
rungen an Deutschland abzuschließen.67
65 Wie Hoppe unter Hinweis auf die ZK-Sitzung vom 16./17.7.1930 ausführt, war Thälmann der Grund
dafür, dass die „nationalpopulistische Linie“ nicht konsequent nach dem Willen Stalins umgesetzt
wurde: „Es waren wohl vor allem Thälmanns eigene Skrupel, auf der nationalistischen Klaviatur zu
spielen, die der deutsche Parteivorsitzende hier verdeckt ausdrückte, und die er einige Monate da-
nach auch dem sowjetischen Generalsekretär mitteilte: Als Thälmann im Dezember 1930 gemeinsam
mit Neumann von Stalin empfangen wurde, bemühte sich der Diktator jedenfalls vergeblich, diesem
seine Konzeption des Nationalpopulismus nahezubribngen. Thälmann habe einfach nicht verstan-
den, weshalb die ‚nationale Frage’ so wichtig für die Kommunisten sei, lästerte Stalin später gegen-
über Dimitrov über den deutschen Parteivorsitzenden“ (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft; vgl. Dimitrov:
Tagebücher, I, S. 107). Gleichwohl wurde ein nationaler Diskurs weiter gepflegt, der die KPD weiter in
Frontstellung gegen die SPD brachte und damit ein Zusammengehen gegen die NSDAP weiter verun-
möglichte (hierzu auch den Einleitungstext von Hermann Weber in Bd. 1).
66 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 9. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S.
629.
67 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 11.
748 1929–1933
Am 5.9.1930 bewirkte ein Beschluss des sowjetischen Politbüros einen Umschwung in der interna-
tionalen Gewerkschaftstaktik, besonders, was das Verhältnis zu den sozialdemokratischen Gewerk-
schaften anging. Der Kurs ging in Richtung auf eine Spaltung der internationalen Gewerkschaftsbe-
wegung, doch der Linkskurs der Kominternführung war offensichtlich auf den Widerstand der KPD
gestoßen. So forderten Heckert und Dahlem, die Notwendigkeit der Arbeit in den reformistischen
Gewerkschaften weiterhin zu betonen. Das sowjetische Politbüro bestand jedoch darauf, dass der
gleichzeitig in Moskau stattfindende V. Kongress der Roten Gewerkschafts-Internationale der Aufhe-
bung der Losung „Hinein in die reformistischen Gewerkschaften“ zustimmen sollte. Allerdings sollte
dies – wie es weiter hieß – nicht bedeuten, nicht mehr in den betreffenden Gewerkschaften zu arbei-
ten, auch stelle man sich gegen einen freiwilligen Austritt der Anhänger der Profintern.68
Am 10.9.1930 nominierte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion zunächst Jakov Suric, den lang-
jährigen Sowjetbotschafter in der Türkei, als Nachfolger Krestinskijs zum neuen bevollmächtigten
Vertreter der Sowjetunion in Deutschland. Allerdings wurde die Entscheidung wieder revidiert unter
dem Vorwand, Suric werde weiterhin in der Türkei gebraucht. Obwohl sowohl Stomonjakov als auch
Krestinskij sich für die Beibehaltung der Nominierung Surics einsetzten, beschloss das Politbüro am
15.9.1930, stattdessen Lev Chinčuk nach Berlin zu senden. Suric wurde dann vier Jahre später Sowjet-
botschafter in Deutschland.69
Am 15.9.1930 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, Verhandlungen zur technischen
Kooperation nur mit deutschen Firmen aufzunehmen und nicht mit deutsch-amerikanischen Konsor-
tien. Anlass war ein vorangegangener entsprechender Vorschlag des deutschen Industriellen Otto
Wolff.70
68 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 22–23. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 633–634. Ein entsprechender Beschlusstext wurde u.a. von Švernik, Lozovskij, Pjatnitzki und
Genrichkovskij unterzeichnet. Als Anlage zum Beschluss findet sich eine Notiz von Heckert und Dah-
lem über die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften in
Deutschland und Polen.
69 APRF, Moskau, 3/64/638, 70, 73. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 190 und 193. Für
die Interventionen Stomonjakovs siehe ibid., Doks. 189 und 191.
70 APRF, Moskau, 3/64/658, 51. Publ. in: Ibid., Dok. 194.
Dok. 246: Moskau, 18.9.1930 749
Dok. 246
Glückwunschtelegramm der Komintern an die KPD zu ihrem
Ergebnis bei der Reichstagswahl
Moskau, 18.9.1930
Typoskript, deutsch. RGASPI, Moskau, 495/293/108, 12. Veröffentlicht in: Die Rote Fahne, 19.9.1930.
8733/La/Me/5
a.d.Russ. 17.IX.193071
An die
Kompartei Berlin.
dass die Partei ihre revolutionäre proletarische Energie auf die breite Entfaltung des
politischen und Wirtschaftskampfs konzentrieren und die erzielten Erfolge organisa-
torisch verankern wird. Vorwärts zum Kampf um Räte-Deutschland!
Dok. 247
Schreiben K. Pervuchins an das Politsekretariat über die
Stellungnahmen der Komintern zum Wahlergebnis in Deutschland
[Moskau], 1.10.1930
9155/5/E/H775
a.d.russ. 3.10.30. Vertraulich.
Werte Genossen!
Mich überrascht die Haltung des EKKI zu den soeben stattgefundenen Wahlen in
Deutschland, die nicht zufällig als historische bezeichnet werden. In der „Prawda“
und in der „Iswestja“ sind Leitartikel erschienen, es wurden Artikel des Genossen
Radek veröffentlicht, die er selbst gezeichnet hat, auch hat er ein Referat in der Kom-
munistischen Akademie in Gegenwart von 600–700 Zuhörern gehalten,76 wobei der
Saal derart überfüllt war, dass viele, vielleicht Hunderte Genossen nicht mehr her-
eingelassen werden konnten; in den Stadtteilen erteilen die Genossen Chitarow und
Lenzner Konsultationen – das EKKI aber schweigt und schweigt und gibt seine kom-
petente Meinung weder inoffiziös, noch offiziös kund. Man konnte erwarten, dass in
der nächsten Nummer der „KI“ eine Reihe Artikel mit Bezug auf diese Wahlen erschei-
nen wird, dabei aber bringt die Nummer vom 20. September lediglich einen Leitar-
tikel von 5 ganzen Seiten.77 Dieser Leitartikel lässt eine Reihe höchst wichtiger, mit
diesen Wahlen zusammenhängender Fragen unberührt, ebenso wie er keinen Ton
darüber sagt, welche Bedeutung diese Wahlen für die anderen Länder, in erster Linie
für die USSR haben, wie die Bourgeoisie diese Wahlen einschätzt, welche Schluss-
folgerungen unsere kommunistischen Brüderparteien und naturgemäss die KPdSU
aus diesen Wahlen zu ziehen haben usw. usw.78 Mit einem Wort, es wäre notwendig,
im Zusammenhang mit diesen historischen Wahlen zahlreiche Fragen zu beleuchten.
Natürlich lässt sich das in einem Leitartikel nicht machen, warum werden dann aber
nicht andere Artikel über dieses Thema gebracht. Merkwürdig ist es sogar, dass die
Zeitschrift „KI“ die Wahlen als historisch bezeichnet, ihnen aber lediglich einen Leit-
artikel widmet.
Somit hat weder das EKKI noch das Organ der KI erschöpfend und rechtzeitig
seine Haltung zu diesen Wahlen gekennzeichnet und es ist die Frage berechtigt, ob es
nicht Zeit ist, dass man in der gebührenden Weise reagiert.79
77 Siehe: Historische Wahlen. In: Die kommunistische Internationale, H. 35, 17.9.1930. Haupttenor
war die revolutionäre Entwicklung, was jedoch bald wieder zurückgenommen wurde.
78 Pervuchin traf offensichtlich einen wunden Punkt. Die Komintern versuchte in der Folge, be-
sonders stark von Manuilski vorangetrieben, den prononciert nationalistischen Kurs zu verschärfen
und über die KPD hinaus auf die übrigen Sektionen der Komintern auszuweiten. Wie weit man sich
dabei dem nationalsozialistischen Diskurs anzunähern bereit war, zeigt eine Sitzung im EKKI zur
nationalen Frage im Januar/Februar 1931. Hier wurde sogar darauf gedrungen, die nationalen Befrei-
ungsparolen von den Perspektiven einer sozialen Revolution und des Sozialismus abzukoppeln. Der
Kampf gegen die nationale Unterdrückung sollte, so die dem zugrundeliegende Intention, nicht durch
den Hinweis auf ein sowjetische Lösung abgeschwächt werden (Brief Piecks an Thälmann, Moskau
2.2.1931, RGASPI, Moskau, 495/292/54, 27–34).
79 Der Funktionär der Agitpropabteilung der Komintern, Naum M. Lenzner, beschwerte sich am
7.10.1930 in einem ausführlichen Brief an Stalin und Molotov über ein Referat Manuilskis zur Situation
in Deutschland. Trotz der Wahlergebnisse habe dieser nicht von der Zuspitzung einer revolutionären
Krise gesprochen. Er habe vielmehr vor Übertreibungen gewarnt und auch davor, sich nicht zu sehr
mitreißen lassen [ne uvlekatʼsja]. Er habe daraufhin die Versammlung geschlossen, ohne dass über
politische Bedeutung der Wahlergebnisse ein Meinungsaustausch erfolgt wäre (RGASPI, Moskau,
82/2/228, 23–30). In einem Brief an Stalin und Molotov reagierte Manuilski auf die Anschuldigun-
gen Lenzners gegen ihn. Angesichts der Umsetzung von Stalins neuer “nationalpopulistischer“ Linie
für die KPD (Bert Hoppe) wurde die KPD-Führung, besonders Thälmann, zunehmend als ungeeignet
eingeschätzt (siehe: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 732–733; Hoppe: In Stalins Ge-
folgschaft, S. 181ff., S. 189f.).
752 1929–1933
Am 15.10.1930 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, das NKID Verhandlungen mit
Deutschland über eine Zollkonvention beginnen zu lassen.80 Ebenfalls am 15.10.1930 genehmigte das
russische Politbüro einen Flug des deutschen Ingenieurs Ziener mit einer Landung auf dem Territo-
rium der UdSSR.81 Zugleich wurde die Behandlung einer Bitte des ZK der KPD um Hilfe an die Partei-
Kooperative in Halle verschoben.82
Am 25.10.1930 lehnte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Teilnahme einer Delegati-
on des Roten Frontkämpferbunds aus Deutschland an den Jubiläumsfeiern zur Oktoberrevolution in
Moskau ab. Als Begründung wurden die „besonderen Bedingungen der internationalen Situation“
angegeben (Krestinskij, Litvinov), doch kam man damit auch Wünschen der deutschen Regierung
entgegen.83 Außerdem wurde über eine Antwort an die Reichswehr, sowie über die Notwendigkeit
beraten, verstärkt sowjetische Waren in den Ländern Europas zu platzieren. Beraten wurde darüber
hinaus über die beim Völkerbund gebildete Kommission zur Paneuropa-Bewegung, zu der Briand im
Mai 1930 ein Memorandum für einen europäischen Staatenbund verfasst hatte.84
Dok. 248
Ablehnende Stellungnahme seitens der Komintern, über die KPD
den streikenden Metallarbeitern in Berlin sowjetisches Getreide
zur Verfügung zu stellen
Moskau, 26.10.1930
Abs[olut] geheim.
Persönlich
Weder die Komintern, noch die Profintern haben den Streikenden irgendeine
Hilfe zugesichert. Offensichtlich haben sie in den Zeitungen der Sowjetunion darüber
gelesen, dass Arbeiter der UdSSR für den Streik Geld sammeln. Deshalb denken sie
offensichtlich, dass man mit diesem Geld hier, in der UdSSR, Getreide kaufen, und
den Abtransport dieses Getreides von Hamburg nach Berlin anordnen kann.
Ich glaube nicht, dass man dieser Bitte entsprechen kann. Da aber diese Frage
so ernst ist, bitte ich um Anweisung, welche Antwort wir dem ZK KP Deutschlands
geben sollen.86
(Pjatnitzki)
Dok. 249
Rede Pjatnitzkis auf der Sitzung des Präsidiums des EKKI über die
Reichstagswahlen und den Erfolg der Nationalsozialisten
Moskau, 28.10.1930
[...] Warum haben die Nationalsozialisten sehr viele Stimmen gewonnen, so viele
Stimmen, dass das nicht nur für uns unerwartet kam, die wir uns nicht die ganze Zeit
nur mit deutschen Fragen beschäftigen, sondern selbst für die deutschen Genossen.
Möglicherweise auch für die Nationalsozialisten selbst. Wir dachten, dass sie
3.500.000 [Stimmen] bekommen, doch sie erhielten 6.400.000, das war völlig uner-
wartet. Und hier möchte ich übergehen, möge Genosse Heckert sich nicht über mich
ärgern, zu den Fehlern, die gemacht worden sind, meiner Meinung nach, von der
deutschen Partei, die den Nationalsozialisten die Möglichkeit gaben, einen solchen
Sieg zu erringen. Sie erinnern sich, dass Ende 1929 der Nationalsozialist Hugenberg87
eine große Kampagne für das Plebiszit gegen den Youngplan begann.88 Unsere Genos-
sen in Deutschland gaben daraufhin diese Losung heraus: Schreibt alle auf, die ihre
Unterschrift für die Faschisten geben. Sie glaubten nicht und die Bourgeoisie glaubte
lungstags, drohender Lohnkürzungen und der Linie der RGO, den Streik weiterzuführen (RGASPI,
Moskau, 495/293/113, 22, 30).
86 Eine Stellungnahme Stalins war nicht zu eruieren. Sie dürfte ebenfalls negativ ausgefallen sein.
87 Hugenberg war nicht Mitglied der NSDAP, sondern Parteivorsitzender der Deutschnationalen
Volkspartei.
88 Siehe Dok. 234.
754 1929–1933
terstreik ist ersichtlich, dass die Arbeiter nicht so fest zu den Sozialdemokraten und
den reformistischen Verbänden stehen.92 Hinter den Faschisten aber stehen die pro-
letarischen Massen. Sie haben überall ihre Stimmenzahl erhöht, wie wir auch, etwas
weniger als wir in den Industriegebieten in Sachsen, Ruhr, Thüringen. [...]
Im Allgemeinen sind sie nicht solche Dummköpfe, diese Nationalfaschisten.
Offensichtlich werden sie vom Kapital hervorragend gesteuert. Genosse Heckert oder
irgendjemand anderes hier zitierte, wie die Börsenzeitung und alle anderen bürgerli-
chen Zeitungen davon sprechen, dass sich die Faschisten geändert hätten, dass sie
die gleiche Sache machen wie die Marxisten. Das ist ein Manöver, nicht mehr und
nicht weniger als ein Manöver. Wie hat Mussolini in Italien angefangen? Er hat nicht
damit angefangen, jemanden zu erschießen oder Kriegsgerichte einzuführen oder
dass er den Standpunkt der Kapitalisten einnahm. Er trat mit einem demagogischen
Programm zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, des Kleinbürgertums und der
Bauern auf. Das war die Methode, mit der er die Massen erobert hat. Und als er sie
erobert hatte, als er sich gefestigt hatte, zeigte er sein wahres Gesicht. [...] So haben
wir es hier [bei den Nationalsozialisten] mit Arbeitsteilung zu tun, nicht mehr und
nicht weniger, um das Vorgehen zu bemänteln, das sie im Reichstag gemacht haben.
Hier sind wir für Streiks, für die Arbeiter, aber im Reichstag stimmen wir für die Regie-
rung Brüning.93 Dies ist für uns ein höchst gefährliches Manöver und unsere Partei
sollte sie überall entlarven. [...]
92 Der Streik von 130.000 Metallarbeitern in Berlin gegen eine Lohnkürzung von 15%, begann am
14.10.1930 und endete am 31.10.1930 durch eine Zwangsschlichtung. Die sozialdemokratische Gewerk-
schaftsführung akzeptierte zwar die Schlichtung nicht, wollte jedoch den Streik nicht fortführen, der
von der KPD als „Beginn einer Neuausrichtung der politischen Entwicklung“ sowie „Angriffspunkt
für eine Offensive gegen die Unternehmer und gegen den Faschismus“ gewertet wurde. Entgegen der
Auffassung der KPD, die ihn mit grossen Propaganda- und Hilfsaktionen unterstützte, war es wirt-
schaftlich und politisch eine Niederlage. Hierzu: Grob: Die Lehren des Berliner Metallarbeiterstreiks.
In: ISK. Mitteilungsblatt VI (1931), 1, S. 1–8; Weber: Die Generallinie, S. 225.
93 Im Gefolge der Reichstagswahl am 14.9.1930 regierte Heinrich Brüning (1885–1970) als Reichskanz-
ler ohne parlamentarische Mehrheit, von der SPD toleriert und weitgehend auf Notverordnungen ge-
stützt, die vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg legitimiert wurden. Der Zentrumspolitiker
Brüning war bis zum 30.5.1932 im Amt.
756 1929–1933
Dok. 250
Von der Komintern autorisierte Resolution über die Aufgaben des
illegalen Roten Frontkämpfer-Bundes und die Liquidierung der
Antifa in Deutschland
Moskau, 2.11.1930
10053/5/Lu/
Abschrift
2. Nov. 1930
Vertraulich
I. Allgemeines:
In der gegenwärtigen Situation, die durch eine ausserordentliche Verschärfung des
Klassenkampfes, durch gesteigerte Vorstösse des Faschismus gegen die Arbeiter-
klasse und durch das Wachstum des revolutionären Aufschwunges gekennzeichnet
ist, und im Zusammenhang mit dem Uebergang des RFB in die Illegalität muss der
Charakter der Tätigkeit des RFB sich wesentlich ändern.95 Nach wie vor bleibt seine
zentrale politische Aufgabe der Kampf gegen den Faschismus. Die politische Linie
94 Der „Rote Frontkämpferbund“ (RFB) war die paramilitärische Wehrorganisation der KPD zum
“proletarischen“ Schutz und der Verteidigung der Partei vor gewaltsamen Übergriffen der Gegner.
Der “Kampfbund“ der SPD war das “Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ (siehe auch Dok. 139). Auf
Beschluss des Zentralkomitees vom 31.5.1924 gegründet, war der RFB in Gruppen und Sektionen
organisiert. Die Mitglieder trugen Uniform. Der erste Vorsitzende war Ernst Thälmann, der auf der
ersten RFB-Reichstreffen im Jahr 1925 gewählt wurde, sein Nachfolger war Willy Leow, der später
in den sowjetischen “Säuberungen“ umkam. In seiner besten Zeit hatte der RFB 70.0000–100.000
Mitglieder, sein Zentralorgan war “Die Rote Front“. Seit 1927/1928 verzeichnete er einen starken Mit-
gliederverlust, nicht zuletzt durch Skandale um Leow, ein Zeichen fortschreitender Bürokratisierung
und Korruption. Nach den blutigen Maiereignissen 1929 verboten, wurde die Tätigkeit illegal und in
Form mehrerer Nachfolgeorganisationen fortgesetzt. Hierzu Schuster: Der Rote Frontkämpferbund;
Wolfgang Abendroth: Zur Geschichte des Roten Frontkämpferbundes. In: Alwin Diemer (Hrsg.): Ge-
schichte und Zukunft: dem Verleger Anton Hain zum 75. Geburtstag am 4. Mai 1967, Meisenheim Glan,
Hain, 1967; Sybold Beetz: Zur Gründung des Roten Frontkämpferbundes. In: Beiträge zur Geschichte
der Arbeiterbewegung 7 (1965), S. 96–102; Kurt Finker: Geschichte des Roten Frontkämpferbundes,
Berlin, Dietz, 1981; Voigt: Kampfbünde der Arbeiterbewegung.
95 Der RFB wurde am 3. Mai 1929 als Folge des Berliner „Blutmai“ vom preußischen Innenminister
verboten.
Dok. 250: Moskau, 2.11.1930 757
dieses antifaschistischen Kampfes, die in der Resolution des Polbüros des ZK der KPD
für die Partei festgelegt worden ist, gilt auch für den RFB.96
Nach wie vor muss der RFB den Charakter einer ausserparteilichen Massenor-
ganisation tragen, trotz der Illegalität. Aber während er früher hauptsächlich in der
Form von selbständigen Aufmärschen und Veranstaltungen in der Oeffentlichkeit in
Erscheinung trat, so muss jetzt das Schwergewicht seiner Tätigkeit in der Teilnahme
an der Organisierung eines breiten proletarischen Selbstschutzes auf der Grundlage
der Betriebe liegen. Die geschlossenen Aufmärsche von uniformierten RFB-Abteilun-
gen bleiben ein wichtiger Bestandteil der allgemeinen proletarischen Selbstschutz-
bewegung.
96 Vermutlich ein Bezug auf die „Anweisungen des Sekretariats an die Bezirksleitungen vom
18.9.1930“ (abgedruckt in: Weber: Die Generallinie, S. 204–211), in denen es hieß: Der „Massenkampf
gegen den Faschismus“ fordere eine „bessere Arbeit unter den werktätigen Schichten“. Und weiter:
„Die Schaffung der Einheitsfront des proletarischen Klassenkampfes gegen Faschismus und Kapital
offensive ist das wichtigste Mittel zur Gewinnung der Anhänger der Sozaldemokratie [sic], zur Zer-
schlagung der Massenbasis des Sozalfaschismus [sic].“ (Ibid., S. 205).
758 1929–1933
diesem Zweck bedarf es neben der Partei keiner besonderen „Kaderorganisation“ des
proletarischen Selbstschutzes, und den RFB. als eine solche „Kaderorganisation“ zu
betrachten, ist ein Fehler. Den Kern des proletarischen Selbstschutzes bilden in erster
Linie die Parteizellen und darüber hinaus das sich um die Zelle gruppierende Aktiv,
daher die auf der Grundlage der jeweils auf der Tagesordnung stehenden Massenakti-
onen erfolgende Zusammenfassung der aktivsten Elemente aus den verschiedensten
revolutionären Arbeiterorganisationen des betreffenden Betriebes oder Wohnbezirks
und auch derjenigen parteilosen, christlichen und sozialdemokratischen Arbeiter,
die bereit sind, an den betreffenden revolutionären Aktionen aktiv teilzunehmen.
An den Arbeiten dieses Aktivs sowie auch an allen anderen Massnahmen des Selbst-
schutzes (Rote Betriebswehren, Streikposten usw.) müssen die Betriebsgruppen des
RFB. aktiv teilnehmen. [...]
97 Wie der österreichische „Republikanische Schutzbund“ war das 1924 gegründete „Reichsbanner
Schwarz Rot Gold“ (siehe Dok. 139) eine sozialdemokratische Wehrorganisation und ein formell von
der SPD unabhängiger Ordnungsdienst. Anfang 1930 wurden unter ihrem Führer Karl Höltermann die
Aktivitäten zur Verteidigung gegen die Übergriffe nationalsozialistischer Verbände, besonders die SA,
verstärkt. Als Reaktion auf die Bildung der „Harzburger Front“ durch NSDAP, DNVAP und Stahlhelm
wurde Ende Dezember 1931 auf Initiative des Reichsbanners – auch als Konkurrenz zum RFB – die
„Eiserne Front“ aus SPD, ADGB und anderen Formationen gebildet. Wie die übrigen Wehrverbän-
de konnte sie jedoch keine entscheidenden Impulse zur Verteidigung der Weimarer Republik geben.
Seitens des RFB erfolgte später die ausdrückliche Ablehnung einer Zusammenarbeit mit dem Reichs-
banner (Dok. 296). Zur „Eisernen Front“ siehe: Rohe: Reichsbanner Schwarz Rot Gold, S. 392ff.; zum
Verhältnis zwischen Reichsbanner und RFB: Ibid., S. 350–354).
98 Hinweis auf die verfassungsmäßigen Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold. Die monarchistischen,
rechtsnationalen und nationalsozialistischen Kräfte marschierten unter der schwarz-weiß-roten
Fahne.
99 Vermutlich die „Antifaschistische Junge Garde“, gegründet als eine der legalen Nachfolgeorgani-
sationen des RFB am 26.7.1929 in Berlin (Weber: Die Generallinie, S. 68).
100 Zunächst wurde als Jugendorganisation des RFB am 22.8.1924 der „Rote Jungsturm“ in Jena ge-
gründet, der im Januar 1925 in „Rote Jungfront“ umbenannt wurde. Seine Zielgruppe waren Jugendli-
che und junge Erwachsene von 16 bis 21 Jahren. 1929 zusammen mit dem RFB verboten.
760 1929–1933
Am 5.11.1930 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über die „wirtschaftlichen Positio-
nen“ der Sowjetunion in England, Deutschland und Italien. In dem betreffenden Beschluss wurde die
Notwendigkeit einer Steigerung des Absatzes sowjetischer Waren in diesen Ländern betont.102
101 Gemeint ist der am 28.9.1930 unmittelbar als Reaktion auf die Reichstagswahlen 1930 als über-
greifende neue Massenorganisation „zum Kampf gegen den Faschismus in all seinen Erscheinungs-
formen, insbesondere gegen den Nationalsozialismus“ gegründete „Kampfbund gegen den Faschis-
mus“ (KGF). Siehe hierzu Dok. 255.
102 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 57. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, 236–239.
Dok. 251: [Moskau], 21.11.1930 761
Dok. 251
Zirkularbrief des Westeuropäischen Büros der Komintern an die
kommunistischen Parteien in Europa zum Prozess gegen die
„Industriepartei“ in der Sowjetunion103
[Moskau], 21.11.1930
An alle Parteien.
In Ergänzung der Telegramme des Politsekretariats des EKKI über die Durchführung
einer Kampagne gegen die imperialistische Intervention und zur Verteidigung der
Sowjetunion in Verbindung mit dem Stattfinden des Prozesses gegen die konterre-
volutionäre Industriepartei unterbreiten wir den Parteien folgende Vorschläge und
Anregungen für die Durchführung der Kampagne:
1. Die Presse muss den Prozess in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen und
alle Materialien auffallend und sichtbar in den Zeitungen publizieren. Es müssen täg-
liche Berichte über den Prozess, täglich Ausschnitte aus dem Anklageakt und laufend
Artikel zur Beleuchtung der von den Imperialisten verbreiteten Massnahmen für eine
Intervention etc. gebracht werden.
2. Während des Prozesses sind in allen Ländern, mindestens in den wichtigsten
Städten, breite Massenkundgebungen durchzuführen, wo es möglich ist, sollen auch
Demonstrationen organisiert werden. In einer Reihe von Städten sollen Demonstrati-
onen vor den französischen und englischen Gesandtschaften stattfinden.
3. Besondere Massnahmen sind zur Durchführung von Betriebsversammlungen,
besonders in Grossbetrieben und in Betrieben der Kriegs- und Chemieindustrie und
103 Im Prozess gegen die sog. „Industriepartei“ (25.11.–7.12.1930) wurden acht Wissenschaftler und
Funktionäre des staatlichen sowjetischen Planungskomitees (Gosplan) wegen Bildung einer „konter-
revolutionären Schädlingsorganisation“ sowie Spionage im Auftrag von Franzosen und Engländern
angeklagt. Stalin persönlich orientierte den Prozess in Richtung auf Verbindungen mit den westeuro-
päischen Regierungen und vermeintliche Vorbereitung eines militärischen Angriffs gegen die Sowje-
tunion. Damit schaffte er künstlich ein Bedrohungssyndrom. Die Todesurteile wurden in Haftstrafen
von 10-jähriger Dauer umgewandelt, allerdings waren bereits im Vorfeld des Prozesses über 2000
Personen verhaftet und 48 Beschuldigte hingerichtet worden. Siehe Müller: Frühe Schauprozesse in
der Sowjetunion, S. 389–398; Frank Hirschinger: Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter: Kommunis-
tische Parteisäuberungen in Sachsen-Anhalt 1918–1953, Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, 2005, S.
99f. (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung); zur parteioffiziellen Dar-
stellung siehe das deutsch publizierte Protokoll: Nikolaj V. Krylenko: Prozess der „Industriepartei“,
Moskva, Centralʼnoe Izdatelʼstvo, 1931.
762 1929–1933
104 Die Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit wurde nach der Bildung regio-
nal unterschiedlicher Vorgängerorganisationen auf dem „Congrès contre lʼimpérialisme et lʼoppression
coloniale“ (Brüssel, 10–15.2.1927) gegründet. Sie war von Willi Münzenberg inspiriert, mit dem Ziel:
„1. Die antiimperialistischen Kräfte in den kapitalistischen Ländern mit denen der kolonialen und
halbkolonialen Länder zu vereinigen. 2. Finanzielle und politische Unterstützung für die national-
revolutionären und sozialrevolutionären Kräfte der unterdrückten Völker zu mobilisieren. 3. Durch
ihre Sektionen und angeschlossenen oder sympathisierenden Organisationen ständig in der ganzen
Welt gegen jede Form des Imperialismus und für die nationale Unabhängigkeit der unterdrückten
Völker zu agieren.“ (Zum neuesten Forschungsstand siehe: Petersson: Willi Münzenberg; vgl. Hai-
kal: Die Kommunistische Internationale; Piazza: Die Liga gegen Imperialismus; Jürgen Mothes: Kom-
munistische Internationale und Lateinamerika: Zu einigen Aspekten der Hilfe der Komintern bei der
politisch-ideologischen und organisatorischen Festigung der kommunistischen Bewegung und bei
der Umsetzung ihrer strategisch-taktischen Konzeption auf dem amerikanischen Subkontinent, Diss.,
Leipzig, 1976, bes. S. 461f.; Boris Goldenberg: Kommunismus in Lateinamerika, Stuttgart, W. Kohl-
hammer, 1971, S. 48ff.
Dok. 252: Berlin, 23.11.1930 763
Mit Gruss!
WEB der K.I.
Dok. 252
Adresse des 2. Reichskongresses werktätiger Frauen
Deutschlands an die „Arbeiterschwestern und -Brüder der
Sowjetunion“
Berlin, 23.11.1930
Liebe Genossen!
Mit grosser Begeisterung nahm der II. Reichskongress werktätiger Frauen Deutsch-
lands am 22. und 23. November in Berlin, der von 1000 Delegierten aus dem ganzen
764 1929–1933
Reiche und aus allen Schichten der werktätigen Frauen besucht war, Kenntnis von
Euren Begrüssungsschreiben und verurteilte aufs schärfste die Visumsverweigerung
seitens der deutschen Behörden für die russische Arbeiterinnendelegation.105
Mit voller Genugtuung billigte der Kongress die Vernichtung der organisierten
Faschisten durch die Arbeiter- und Bauernmacht. Der Kongress werktätiger Frauen
beantragt für die Saboteure des sozialistischen Aufbaus, die Feinde der internationa-
len Arbeiterklasse sind, die Todesstrafe.106
Der II. Reichskongress werktätiger Frauen gelobt, alle Frauen in Stadt und Land
zu mobilisieren für den Schutz und die Verteidigung der Sowjetunion!
Es lebe der Internationale Kampf des Proletariats!
Es lebe die Sowjetunion!
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 5.12.1930, dem EKKI im Rahmen eines „be-
sonderen Quartals“ für 1930 286.713 Rubel sowie 70.098 Rubel für die Internationale Verbindungs-
abteilung (OMS) zu bewilligen. Als „besonderes Quartal“ wurde dabei die Planung und Durchführung
einiger umfangreicher politischer Aktionen seitens der kommunistischen Parteien im Zeitraum von
Ende 1930 bis Anfang 1931 bezeichnet.107
Dok. 253
Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion gegen die
Auffassung der KPD, dass der Machtantritt des Faschismus in
Deutschland bereits erfolgt sei
[Moskau], 10.12.1930
Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau 17/162/9, 94. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/
Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 638.
Aus dem Protokoll Nr. 20 (Besondere Mappe) der Sitzung des Politbüros des ZK der
VKP(b), vom 15.12.1930.
Übermittelt an Pjatnitzki.110
108 Als Reaktion auf die Notverordnungen des Kabinetts Brüning gegen die Wirtschaftskrise in
Deutschland vom November 1930 schrieb Die Rote Fahne am 2.12.1930 unter dem Aufmacher „Faschis-
tische Diktatur! Gewaltherrschaft mit Artikel 48! Durch Notverordnung 25 Hungergesetze diktiert. Nur
die KPD. kämpft gegen den Faschismus!“: „Dieser letzte Akt der Regierungspolitik, den Brüning und
Hindenburg mit vollem Einverständnis und der aktiven Hilfe der sozialfaschistischen Führer vollzo-
gen hat, ist der Beginn der faschistischen Diktatur über Deutschland.“ Und im Leitartikel (Autor war
vermutlich Heinz Neumann): „Die faschistische Diktatur droht nicht mehr, sondern sie ist bereits da.“
Sie müsse und könne nun durch die Volksmassen und dem Proletariat als Führer der Volksrevolution
erfolgreich beseitigt werden. (Die Lage. In: Die Rote Fahne, 2.12.1930); hierzu: Weingartner: Stalin und
der Aufstieg, S. 49f.).
109 Das bisher archivisch nicht eruierte Telegramm an das Politbüro der KPD soll sich in den noch
unzugänglichen Beständen der OMS befinden (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 170f.). Auch der
sowjetische Botschaftsrat in Berlin, Bratman-Brodovskij, widersprach in einem Brief an Krestinskij
grundlegend der Einschätzung der KPD. Zwar sei der starke Rechtsruck unter Brüning offensichtlich,
da jedoch ein klassischer Parlamentarismus in Deutschland nie bestanden hätte, bediene sich dieser
– mit Hilfe der SPD – durchaus konstitutioneller Mittel. Die Arbeiterbewegung sei nicht zerschlagen
und schließlich könne selbst eine Machtübernahme des Faschismus die außenpolitische Grundinten-
tion deutscher Politik nach einer Revision der Versailler Verträge nicht ändern: „Die staatspolitischen
Interessen würden somit jede deutsche Regierung auch weiterhin auf eine Zusammenarbeit mit der
Sowjetunion verweisen.“ Bratman-Brodovskij an Krestinskij, [Berlin], 11.12.1930 (AVP RF, Moskau, Se-
kretariat Krestinskogo, 1, 41, 1.43–51, zit. in: Christoph Mick: Sowjetische Propaganda, Fünfjahrplan
und deutsche Russlandpolitik 1928–1932, Stuttgart, Steiner, 1995, S. 126f., Fn. 279).
110 Nach anfänglichem verbissenem Festhalten korrigierten Neumann und Thälmann erst nach Ge-
sprächen mit Stalin im Kreml sowie der Komintern in der letzten Dezemberwoche ihre Einschätzung
766 1929–1933
Dok. 254
Geheimes Zirkular des Politsekretariats der Komintern über
den oppositionellen „Rechts-Linksblock“ von Sergej Syrcov und
Lominadze und den Ausschluss der „Rechten“ aus der KP der
Sowjetunion
[Moskau], 10.12.1930
Vertraulich!
4462. 10. Dez. 1930
Werte Genossen!
Unter der Führung der KPdSU führt die Arbeiterklasse der USSR. an der ganzen Front
eine Offensive des Sozialismus gegen die kapitalistischen Elemente. Im stürmischen,
einzig dastehenden Tempo baut die Kommunistische Partei der USSR an der sozia-
listischen Grossindustrie, wobei sie das Maximum an Mitteln der Schwerindustrie
zuwendet, die für die Zukunft eine noch raschere Entwicklung der gesamten sozia-
listischen Wirtschaft sichert. Die kommunistische Partei der USSR, hat der sozialis-
tischen Industrie einen solchen Entwicklungsweg gesichert, der dem sozialistischen
Sektor bereits den Sieg über den privatwirtschaftlichen gebracht hat und durch seine
Erfolge den Sieg sozialistischen Formen über privatwirtschaftliche in der Industrie
bereits entschieden hat. Indem die Partei in den ausschlaggebenden landwirtschaft-
lichen Gebieten allgemeine Kollektivisierung und Liquidierung des Kulakentums im
Lande durchführt, rottet sie die letzen Wurzeln des Kapitalismus im Lande aus. [...]
Eine Reihe von Jahren hindurch führte die Partei einen scharfen Kampf gegen
den Trotzkismus als Ausdruck menschewistischer Stimmungen der kleinbürgerli-
chen Zwischenschichten in der Partei. Der Trotzkismus ist entlarvt und heute weiss
in der USSR. jeder klassenbewusste Arbeiter, dass Trotzki ein Konterrevolutionär, der
Trotzkismus eine menschewistische konterrevolutionäre Richtung ist. Daher wird es
jetzt niemandem einfallen, in der USSR. als Trotzkist oder mit offenen trotzkistischen
Losungen aufzutreten, jedoch wurde letztes Jahr in der KPdSU versucht, trotzkisti-
sche Ideen unter dem Mantel „linker“ Abbiegungen und Abweichungen durchzubug-
sieren (Lominadse, Schatzkin, Sten u.a.m.),111 wobei nach aussen hin Einverständnis
mit der allgemeinen Linie der Partei vorgetäuscht wurde. Im Laufe der letzten Jahre
führte und fährt die Partei einen äusserst energischen Kampf gegen die rechte Abwei-
chung als die Hauptgefahr in der gegenwärtigen Periode. Sie entlarvte und entzeich-
nete die Auffassung der Rechten, wie seinerzeit die trotzkistischen Auffassungen als
unvereinbar mit der Zugehörigkeit zur KPdSU. Unter dem Druck der offenkundigen
Erfolge der Partei und der sozialistischen Begeisterung der Massen, sahen sich die
Führer der rechten Abweichungen in der KPdSU. (Rykow, Tomski) genötigt, vor dem
XVI. Parteitag ihre Fehler zuzugeben. Der Parteitag verlangte von ihnen, sie sollen es
nicht durch Worte, sondern auch durch Taten beweisen.112 Doch auch nach dem XVI.
Parteitag taten die Genossen Rykow und Tomski nichts, um die ihnen vom Parteitag
gestellte elementare Bedingung zu erfüllen, nämlich, um die rechte Abweichung offen
und entschlossen zu bekämpfen. Genosse Bucharin, der auf dem Parteitag fehlte,
veröffentlichte erst im November eine allgemeine Erklärung, in der er seine Fehler
zugibt und sein allgemeines Einverständnis mit der Parteilinie bekannt gibt.113 Eine
solche zweideutige Haltung der ehemaligen Führer der rechten Abweichung (Bucha-
rin, Rykow, Tomski) musste notwendigerweise die Rjutin, Slepkow, Jaglom u.a.m.,
die sich im Grunde genommen zu Menschewiki gewandelt haben, zur Vertretung
ihrer opportunistischen Auffassungen, zur Fraktionsarbeit und zum Sammeln von
Kräften gegen die Partei anspornen. Doch unter den gegenwärtigen Verhältnissen,
wo die rechte Abweichung, wie der Trotzkismus in der Partei und im Lande entlarvt
ist, wo der Gesamtpartei und den breitesten Arbeitermassen ihr konterrevolutionä-
rer Wesenskern klar geworden ist, wird es niemand wagen, vor der Partei oder vor
position und einem 1932 gebildeten „Oppositionsblock“ (siehe den Beitrag Bayerleins in Bd. 1) sind
wahrscheinlich, jedoch genausowenig aufgeklärt, wie die internationale Dimension des „Rechts-
Linksblocks“, und etwaige Verbindungen zu Heinz Neumann. Seiner Witwe zufolge traf dieser letzt-
mals im Mai/Juni 1931 mit Lominadze zusammen, der dabei den nichts von der oppositionellen Tä-
tigkeit seines Freundes ahnenden Neumann über die wirklichen terroristischen Absichten Stalins
gegenüber seinen Genossen informierte (Margarete Buber-Neumann: Erloschene Flamme: Schicksale
meiner Zeit, Frankfurt am Main-Berlin, Ullstein, 1989). Neumann wurde im folgenden Jahr, im Mai
1932 aus dem Politbüro der KPD ausgeschlossen, als der Oppositionsblock in der Entstehung begriffen
war, und nach Spanien gesandt, sicherlich um ihn aus Moskau fernzuhalten. Siehe zu den beiden op-
positionellen Vorstössen, zusätzlich zu den oppositionellen Netzwerken um Rjutin, Smirnov und der
Linken Opposition um Trotzki: Robert H. Davies: The Syrtsov-Lominadze Affair. In: Soviet Studies 33
(1981), no. 1, S. 29–50; Pierre Broué: Trotsky et le bloc des oppositions de 1932. In: Cahiers Léon Trotsky
(1980), H. 5, S. 5–37, hier S. 5; Buber-Neumann, Erloschene Flamme, S. 155; Ypsilon: Pattern for the
world revolution, Chicago-New York, Ziff-Davis Publishing Company, 1947, S. 119ff.; Sergej Kislicyn:
„Pravo-levackij“ blok Syrcova-Lominadze “. Čto eto bylo? In: Kentavr (1993), Nr. 1, S. 110–123.
112 Der XVI. Parteitag der VKP(b) (26.6.1930–13.7.1930) billigte die gegen die „rechten Abweichler“
durchgeführten Maßnahmen. Rykov wurde am 22.7.1930 als Vorsitzender des Rats der Volkskommis-
sare und des obersten Verteidigungsrates berufen, nach Hausdurchsuchungen bei ihm, Bucharin und
Tomskij durch die OGPU im November wurde er am 19.12.1930 in der ersten Funktion von Molotov
abgelöst.
113 Auf dem ZK-Plenum der VKP(b) (10.–17.11.1929) leistete der ehemalige Komintern-Vorsitzende Bu-
charin Selbstkritik. Wie Rykov und Tomskij unterwarf er sich Stalin und der Parteilinie.
768 1929–1933
der Arbeiterklasse offen unter trotzkistischer oder rechter Fahne aufzutreten, ohne
Entlarvung und Ausschluss aus der Partei zu befürchten.114 Daher tragen heute alle
parteifeindlichen Vorstösse den Stempel der Doppelzüngigkeit. [...] Die in letzter Zeit
im internationalen Masstab und innerhalb der USSR. sich vollziehende Annäherung
zwischen Trotzkisten und Rechten in allen Hauptfragen schafft Voraussetzungen für
einen Block aller rechten und „linken“ „Abweichler“ innerhalb der Partei zu gemein-
samen fraktionellen Vorstössen.
Bereits im September hat es die ZKK. vermocht, die doppelzüngige Arbeit des
Rechten Rjutin aufzudecken, des früheren Sekretärs der Moskauer UB.-Leitung Krass-
naja Pressnja, abgesetzt 1928. Oeffentlich erklärte er, er sei für die allgemeine Linie
der Partei, in seinem Fraktionskreis aber bezeichnete er es als Manöver, führte eine
konterrevolutionäre Wühlarbeit gegen Partei und Parteileitung und gruppierte um
sich zu diesem Zwecke Leute. Etwas später erklärten A. und W. Slepkow, Maretzki,
Eichenwald und andere aus der Bucharinschen „Schule“ sowie der frühere Sekre-
tär der internationalen Kommission des W.C.Sp.S. [VCSPS], Jaglom, der seinerzeit mit
Walcher und anderen deutschen Rechten im Block gestanden hat,115 sie seien mit der
allgemeinen Linie der Partei einverstanden, vertraten aber zugleich die schlimms-
ten opportunistischen Konzeptionen und Auffassungen, die nicht nur in offenem
Gegensatz zur Parteilinie stehen, sondern auch die auch faktisch die konterrevoluti-
onären Organisatoren der auf Wiederherstellung des Grossgrundbesitzes ausgehen-
den „Werktätige Bauernpartei“, der Kondratjew, Tschajanow, Makarow und anderer,
die sich auf den Kulaken stützen wollten, sowie die menschewistischen Schädlinge
Gromann, Suchanow usw. deckten.116
Die Partei schloss diese, ein Doppelspiel führenden Mitglieder aus ihren Reihen
aus. [...]
Somit ist die politische Plattform des Genossen Syrzow-Lominadse eine ganz
und gar opportunistische. Sie ist der Ausdruck ihrer kleinbürgerlichen Angst vor
den Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus, einer Angst die in Orientierung auf
Unvermeidlichkeit der „Krise“ und des „Bankrotts“ des sozialistischen Aufbaus in
der USSR. umschlägt. Wie auch andere Fraktionsgruppen erhob dieser Rechts-Links-
114 Dies änderte sich spätestens 1932 mit der Plattform und dem Manifest des maßgeblich von Rjutin
begründeten „Bund der Marxisten-Leninisten“ und den Versuchen (vor allem Ivan Smirnovs), einen
Block der Opposition in der Sowjetunion zu konstituieren (siehe Dok. 299).
115 Der Russe Jakov Jaglom und der Deutsche Jacob Walcher waren als Funktionäre gemeinsam in
der Roten Gewerkschaftsinternationale aktiv.
116 Der Wirtschaftswissenschaftler und berühmte Konjunkturtheoretiker Nikolaj Kondrat’ev (1892–
1938), der Pionier der Agrarwissenschaft Aleksandr Čajanov (1888–1937) und der Agrarwissenschaftler
Nikolaj Makarov (1887–1980) waren nur einige der Wissenschaftler und Funktionäre, die als Mitglie-
der einer komplett fiktiven, von der OGPU erdachten „Werktätigen Bauernpartei“ verhaftet wurden.
Der Statistiker und Führungsmitglied der staatlichen Planungsbehörde Vladimir Groman (1874–1940)
und der Wirtschaftswissenschaftler Nikolaj Suchanov (1882–1940), beide ehemalige Menschewiki,
wurden ebenfalls 1930 als Mitglieder eines „Unions-Büros des ZK der Menschewiki“ verhaftet.
Dok. 254: [Moskau], 10.12.1930 769
117 Lominadze war wie Heinz Neumann früher einer der engsten Stalin-Vertrauten. Dass Neumann
und Lominadze freundschaftlich verbunden waren, wird im Dokument nicht thematisiert. Vgl. Dok. 168.
770 1929–1933
Dok. 254a
Brief Stefan Bratman-Brodovskijs an Nikolaj Krestinskij über den
Prozess gegen die „Industriepartei“ und die Fehleinschätzung der
Brüning-Regierung durch die KPD
Berlin, 11.12.1930
Geheim
Berlin, den 11. Dezember [19]30.
An das N.K.I.D.
Gen. Krestinskij
auf die GPU und auf den Terror, das Misstrauen in unsere Justiz, sowie eine Verschär-
fung der inneren Lage in Deutschland und die Angst vor einer Revolution (in Kreisen
der Spießbürger ist diese Angst viel größer, als es in der Presse scheint). Die Ver-
schärfung des Klassenkampfes zwingt die deutsche Presse dazu, alles die [Sowjet-]
Union Betreffende auf das Böswilligste zu entstellen. Alle positiven Seiten unseres
Lebens werden in ihr Gegenteil verkehrt, so etwa machten sie aus der Liquidierung
der Arbeitslosigkeit „Zwangsarbeit“; die gesamte Kampagne gegen den Export fand
ihren Widerhall in Deutschland, auch wenn sich die Regierung „neutral“ verhält.
Wenn es die Verschärfung der Beziehungen Deutschlands zu den Verbündeten (in
erster Linie Polen und Frankreich) nicht gäbe, die die Regierung und die öffentliche
Meinung dazu zwingt, die „sowjetische Karte“ auszuspielen, hätten wir in Deutsch-
land eine schlimmere Hetze als die, die wir in diesem Frühjahr ausgestanden haben.
Selbstverständlich kann man in so einer Lage auf keine Sympathie wie auch immer
gearteter bürgerlicher Elemente bezüglich des Prozesses zählen. Auf die linken bür-
gerlichen Intellektuellen zu setzen, ist ebenfalls falsch, denn diese verspürten schon
immer einen Abscheu gegen unsere Justiz und die GPU, sie sympathisierten mit uns
nur, wenn es um unseren kulturellen Aufbau ging. Auch muss festgehalten werden,
dass die sehr schwierige Lage in Deutschland es erschwert hat, die Aufmerksamkeit
auf den Prozess unter den mit uns sympathisierenden Arbeitermassen zu lenken.
Gen. Münzenberg teilte uns mit, dass die Redaktionen seiner Zeitungen120 Zuschriften
mit der Bitte erhalten, weniger Platz für den Prozess aufzuwenden und den eigenen
Belangen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Andererseits liegt auch bei uns eine Mitschuld für den Misserfolg bei der pro-
pagandistischen Ausnutzung des Prozesses. […] Weder die Presse, noch die mit uns
sympathisierenden Kreise wurden auf den Prozess vorbereitet, vor der Veröffentli-
chung der Anklageschrift wusste niemand etwas darüber. […]
Trotz der oben beschriebenen ungünstigen Lage unternimmt die Botschaft, vor
allem die Genn. Vinogradov und Štern,121 die größtmöglichen Anstrengungen, um
den Prozess propagandistisch zu nutzen. Darüber, was getan wurde und was getan
werden muss, werden sie unmittelbar schreiben.
3. Im letzten Bericht hatte ich erwähnt, dass die neue Methode des Regierens
– formal mit Parlament, faktisch ohne Parlament – im Grunde einen Weg für ein
faschistisches Regime bereitet. In der kommunistischen Presse wird diese Regie-
rungsmethode bereits als faschistische Diktatur bezeichnet, oder zumindest als
erste Etappe des Faschismus.122 Es ist nicht unsere Aufgabe, Einschätzungen über
die Richtigkeit oder Unrichtigkeit politischer Entscheidungen der Kompartei abzuge-
ben. Umso mehr, als dass für die Kompartei in diesem Fall Aspekte der Taktik die
entscheidende Rolle spielen, die Notwendigkeit, zwecks Selbstverteidigung eine
Kampfstimmung aufrechtzuerhalten usw. Allerdings könnte sich die Regierungsform
in Deutschland als entscheidend für die Beziehungen zur Sowjetunion erweisen, wes-
wegen es notwendig ist, auf die Frage nach den in den letzten Wochen eingetretenen
Veränderungen einzugehen. […]
Die Position der kom[munistischen] Presse, die Regierung Brüning sei schon
faschistisch, weil sie die parlamentarische Regierungsform liquidiert habe, wäre
richtig, wenn es in Deutschland tatsächlich einen Parlamentarismus gäbe. Dabei
zeigt die Geschichte Nachkriegsdeutschlands, dass es in Deutschland einen klassi-
schen Parlamentarismus etwa nach der Art Englands nie gegeben hatte. […] Wenn
man vom Fall des Parlamentarismus spricht, so ist dieser Fall schon im Jahre 1923
eingetreten. Deswegen kann man jetzt nicht davon sprechen, dass das Neue an den
Ereignissen der letzten Tage die Abschaffung des Parlamentarismus sei. Wenn die
Ansicht, dass die Regierung Brünings eine faschistische sei, richtig wäre, wie lässt
sich dann der Umstand erklären, dass die Regierung Brüning zur Durchführung ihrer
Maßnahmen zu antikonstitutionellen Mitteln greift, obwohl sie die volle Möglichkeit
hätte, durch die Erweiterung ihrer Basis nach rechts, inklusive N[ational]S[ozialisten]
und N[ational]D[emokraten], diese reaktionären Gesetze sowohl in Deutschland
als auch in Preußen durchzusetzen? Ein solcher faktischer Triumph des Faschis-
mus würde auf völlig legalem Wege vonstatten gehen, und eine solche faschistische
Regierung könnte auf vollkommen legalem Wege über das Parlament die allerreaktio
närsten Maßnahmen durchsetzen, zur vollständigen Zerschlagung der Arbeiterorga-
nisationen übergehen usw. Die Regierung Brüning schlägt jedoch diesen Weg nicht
ein und versucht, den Triumph des Faschismus aufzuschieben. Und all diese Maß-
nahmen, die man für Kennzeichen des Faschismus halten könnte, sind im Gegenteil
ein Versuch, ohne Faschismus auszukommen und bis zum Zeitpunkt einer solchen
Verbesserung der wirtschaftlichen Lage durchzuhalten, die alle radikalen Strömun-
gen liquidieren und es erlauben würde, zu „ordentlichen parlamentarischen Formen“
zurückzukehren. Man kann eine Regierung nicht faschistisch nennen, angesichts der
die Kommunisten gemeinsam mit den Faschisten, wenn auch aus unterschiedlichen
Gründen, gegen die Regierung stimmen. Natürlich sind solche Regierungsmethoden
122 In dieser Weise verfuhr die KPD mit allen bürgerlichen Regierungen in der Endphase der Weima-
rer Republik. Sogar das sowjetische Politbüro schritt gegen diese Praxis ein (siehe Dok. 253, vgl. auch
die Kritik von Aussenkommissar Čičerin, Dok. 229).
Dok. 254a: Berlin, 11.12.1930 773
nicht von langer Dauer, sie sind nur in einem bestimmten Entwicklungsabschnitt
denkbar, zumal sie eine Situation völliger Instabilität und Unsicherheit über die
Zukunft schaffen.
Dabei wächst der Einfluss der Faschisten tatsächlich unaufhörlich. Dies haben
die letzten Kommunalwahlen gezeigt, dies zeigen die Demonstrationen der Faschis-
ten und ihr Einfluss auf die gesamten bürgerlichen Parteien. Daher kann man die
gegenwärtige Politik Brünings als bewussten oder unbewussten Übergang zu einem
faschistischen Regime charakterisieren. Womit diese Übergangsperiode endet – dies
hängt vom Ausgang der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ab. Sollte sich die Krise
zuspitzen, ist der Sieg des Faschismus unausweichlich. Die erfolgreiche Überwindung
der Krise dagegen kann das alte pseudo-parlamentarische System wiederherstellen.
Für unsere Außenpolitik haben diese Fragen eine große Bedeutung, denn der
Machtantritt der Faschisten würde zu einer deutlicheren dezidierteren Außenpolitik
führen. Es ist gegenwärtig schwer zu sagen, zu welchen außenpolitischen Kombinati-
onen der deutsche Faschismus nach seinem Triumph in der Lage wäre. Jedenfalls gibt
es keine Zweifel darüber, dass Deutschland auch unter dem Faschismus die Befreiung
von allen Lasten des Versailler Vertrags als sein außenpolitisches Hauptziel betrach-
ten wird. […]
Mit Genossengruß
[Sign.] Brodovskij
(Brodovskij)
P.S.: R[ote] F[ahne] vom 12. dieses Monats hat die ursprüngliche Einschätzung der
heutigen Lage als faschistische Diktatur bedeutend abgeschwächt.123
B.
123 „Heute ist die Brüning-Regierung selbst zur Regierung der faschistischen Diktatur in ihrem An-
fangsstadium geworden.“ (Ernst Thälmann: Wir führen das Volk zum Sieg über die faschistische Dik-
tatur! In: Die Rote Fahne, 12.12.1930).
774 1929–1933
Dok. 255
Bericht der KPD an die Komintern über den Kampfbund gegen den
Faschismus in Deutschland
Berlin, 20.12.1930
960/10/Dz.124
Abschrift
Vertraulich!
Mitte Oktober ds. Js. ist die Schaffung des „Kampfbundes gegen den Faschismus“
ernsthaft in Angriff genommen worden. Vom ersten Tage an litt diese Arbeit unter
grossen finanziellen Schwierigkeiten.125 Nur das allernotdürftigste Material konnte
hergestellt werden (Statuten, Richtlinien, Mitgliederkarten und Marken). Alles Agi-
tations- und Propagandamaterial musste grösstenteils von den neu geschaffenen
unteren Einheiten des Kampfbundes selbst hergestellt werden. Hinzu kam, dass in
den ersten Wochen eine nicht geringe Anzahl Bezirksleitungen der Partei sich wenig
oder überhaupt nicht um die Organisierung des Kampfbundes bemühten und so
erhebliche Tempoverluste verschuldeten.
Mit wenigen Ausnahmen (Berlin, Sachsen, Thüringen u.a.) ist die Arbeit erst
Anfang Dezember stärker forciert worden. Es kommt hinzu, dass auch in den unteren
Parteikörperschaften, der RGO,126 Antifa, RFB usw. grosse Unklarheiten überwunden
tisch dominierten Gewerkschaften. Die durch die „Dritte Periode“ motivierte RGO-Linie, die von den
„Roten“ Einheitsverbänden des Einheitsverbands der Metallarbeiter Berlins, des Verbands der Berg-
arbeiter Deutschlands und des Einheitsverbands für das Baugewerbe als Schwerpunkte der Veranke-
rung der KPD vorangetrieben werden sollte, scheiterte nicht zuletzt auch durch das Wachstum der
Arbeitslosen infolge der Wirtschaftskrise, die die Partei zunehmend bestimmten. Die RGO mobilisier-
te gemeinsam mit der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) zum denkwürdigen
BVG-Streik (3.–7.11.1932), nach der „Machtübernahme“ gingen Teile der RGO – im Unterschied zur
KPD-Führung mit der revolutionären Perspektive eines unverzüglichen Sturzes des Hitler-Regimes
– in einen äußerst opferreichen Widerstand, der jedoch, isoliert aufgrund der Beibehaltung der anti-
sozialdemokratischen Orientierung, zum Scheitern verurteilt war. Die RGO-„Reichsleiter“ waren Paul
Merker (1929–1930), Franz Emrich (1930), Franz Dahlem (1930–1932) und Fritz Schulte (1932–1934/35).
Die RGO-Politik wurde offiziell erst 1934/1935 aufgegeben. Siehe: Werner Müller: Lohnkampf, Mas-
senstreik, Sowjetmacht. Ziele und Grenzen der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) in
Deutschland 1928 bis 1933, Köln, Bund-Verlag, 1988.
127 Die Fanfare: Organ des Kampfbunds gegen den Faschismus. Wirsching vermerkt, der Vertrieb der
Fanfare sei „offensichtlich ineffektiv und ohne große Wirkung“ geblieben (Andreas Wirsching: Vom
Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39,
München, Oldenbourg, 1999, S. 569).
776 1929–1933
Am 25.12.1930 bestimmte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine hochkarätige Kommis-
sion zur Leitung den Handelsverhandlungen mit der deutschen Seite. Mitglieder sollten Molotov,
Stalin, Rudzutak, Ordžonikidze, Rosengolʼc, Litvinov und Kalimanovič sein. Molotov wurde das Recht
übertragen, die Kommission einzuberufen.129 In einem weiteren Beschluss vom 30.12.1930 beschloss
das Politbüro, Verhandlungen mit Deutschland „in Industrieangelegenheiten“ zu beginnen, wobei
eine aus Stalin, Molotov, Ordžonikidze, Rozengol’c und Litvinov gebildete Kommission „die Form der
Durchführung dieses Beschlosses“ auszuarbeiten hatte.130
128 So bestanden in mehreren Stadtvierteln Münchens seit 1929 starke antifaschistische Schutzbün-
de.
129 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 102; APRF, Moskau, 3/64/658, 108. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-
Berlin, II, Dok. 208.
130 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 111.
1931
Dok. 256
Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über
Angelegenheiten der Komintern, u.a. zum Mandatsende Molotovs
[Moskau], 7.1.1931
Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/162/9, 111–112. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/
Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 639–640.
Angehört:
6/16. Fragen des Gen. Pjatnitzki (Gen. Pjatnitzki, Manuilski).
Beschlossen:
a) Die Entscheidung zur Frage der Durchführung eines internationalen Tages für
den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr (circa Mitte Februar) dem EKKI
zu überlassen.1
b) Gegen die Liquidierung des Krestintern-Apparates2 in Moskau nicht zu wider-
sprechen.
c) Das „Westeuropäische Büro“ der Komintern als Informations-Kontroll-Organ
des EKKI belassen.3
d) Den Kostenrahmen des EKKI und andere finanzielle Fragen, die von Gen. Pjat-
nitzki aufgeworfen wurden, einer Kommission, bestehend aus Gen. Rudzutak, Pjat-
nitzki, Janson und Grinʼko zur Überprüfung zu übergeben.
e) Die Frage über die deutschen Angelegenheiten einer Kommission, bestehend
aus Gen. Vorošilov, Stalin, Molotov und Pjatnitzki, zur Betrachtung zu übertragen.
Die Einberufung der Kommission obliegt Gen. Vorošilov.4
f) Die Freistellung des Gen. Molotov von der [personellen] Zusammensetzung des
Präsidiums und des Politsekretariats des EKKI auf dem Plenum des EKKI durchzu-
führen.5
Auszuge verschickt an: Gen. Pjatnitzki, Stalin, Molotov – alle; Vorošilov – e);
Grinʼko, Janson, Rudzutak – d).
1 Der 1. Internationale Erwerbslosentag der KPD wurde am 6.3.1930 in Berlin abgehalten (siehe: Die
Rote Fahne, 7.3.1930).
2 Zur Krestintern/Bauerninternationale siehe Dok. 235.
3 Zur Einsetzung eines Westeuropäischen Büros des Politsekretariats der Komintern siehe Dok. 232 .
4 Bisher war über die Einrichtung einer Kommission über die Angelegenheiten der KPD beim Politbü-
ro des ZK der KP der Sowjetunion nichts bekannt.
5 Nachdem Molotov seit 1929 die Komintern geleitet hatte, übernahmen diese Rolle nun Manuilski
und Pjatnitzki – in enger Abstimmung mit Stalin und Molotov.
778 1929–1933
Angehört:
19/41. Über die MOPR.
Beschlossen:
Den Valuta-Kostenumfang der MOPR in Höhe von 250.000 Rubel festzusetzen.
Auszüge verschickt an: Gen. Rudzutak, Stasova.
Angehört:
49/49. Über die Kostenaufstellung des EKKI (PB vom 30.XII.30, Pr[otokoll] Nr. 22,
P[unkt]. 6/16).
Beschlossen:
Die Kostenaufstellung des EKKI für das Jahr 1931 in Höhe von 4.697.171 Gol[d]
rub[el] und 446.118 Tscherw[onzen]-Rubel festzusetzen.
Auszüge verschickt an: Gen. Pjatnitzki, Rudzutak, Grinʼko.
Dok. 257
Brief des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der Komintern,
über die Einschätzung des Faschismus in der Roten Fahne und die
antifaschistische Demonstration in Berlin
[Berlin], 10.1.1931
A[bsolut] geheim.
Ich werde noch eine Woche hier bleiben, gemäß Ihres Telegramms und der Bitte der
Deutschen.6 Zu den Fragen, die wir besprochen haben, haben sie [die Vertreter der
KPD] sofort nach ihrer Rückkehr nach Hause Direktiven ausgegeben. Wie tief jedoch
die Formulierungen vom ersten Dezember es bereits geschafft haben, Wurzeln zu
schlagen,7 dafür spricht sogar, dass in der Roten Fahne neben den richtigen immer
6 Knorin hielt sich als Leiter des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der Komintern in Moskau
(MELS) in Deutschland auf.
7 In einem Referat vor der Berliner Bezirksleitung der KPD sagte Ulbricht, die Brüning-Regierung sei
seit dem 1.12.1930 „zur ersten Regierung der faschistischen Diktatur geworden“. Während es in einem
„Rundtelefonat des Sekretariats [der KPD] zur Brüning-Notverordnung“ vom 3.12.1930 noch hieß,
die Brüning-Regierung habe den „entscheidenden Schritt zur Errichtung der faschistischen Diktatur
vollzogen“, korrigierten die „Anweisungen des Sekretariats an die Bezirksleitungen“ vom 19.12.1930
Dok. 257: [Berlin], 10.1.1931 779
noch die alten falschen Formulierungen auftauchen. Sogar einzelne Mitglieder des
Politbüros versuchen noch zu beweisen: Bei uns ist alles vorhanden, was nach dem
Programm die faschistische Diktatur definiert, plus noch mehr. Dennoch kann diese
Frage bereits als beigelegt betrachtet werden, und in der Resolution wird der Schwer-
punkt auf die Organisierung des antifaschistischen Kampfes, der ökonomischen
Streiks und des Kampfes um die Massen gelegt werden, auf Grundlage der Erfahrun-
gen der letzten Wochen. Die Lage ist ziemlich ernst und es liegt auf der Hand, dass je
breiter und energischer wir die Fragen stellen und auftreten, desto größere Chancen
auf Erfolg wir haben werden. In der Frage des Kampfes für die Einheitsfront mit den
s[ozial]-d[emokratischen] Arbeitern in Berlin wurde mit der Demonstration vom 7.
Januar ein großer Schritt nach vorne gemacht.8 Damit wurde der Fehler wiedergut-
gemacht, der im Dezember während der faschistischen Demonstrationen gegen den
Film von Remarque zugelassen wurde, als aus diesem nichtigen Anlass die Faschis-
ten die Straßen eingenommen hatten, während wir nicht da waren.9 Dieser Fehler
wird nun von allen als solcher anerkannt. Auch wenn wir jedoch am 7. Januar den
Fehler wiedergutgemacht haben, dürfen dennoch unsere Erfolge nicht überbewer-
tet werden. Wir haben uns als Teilnehmer an einem noch größeren Spiel erwiesen,
als wir es noch am Vortag angenommen hatten. Die S[ozial]-D[emokraten] kündig-
ten einen Trauerumzug an, und, in Zusammenhang mit dem Verbot der Demon
stration, den Verzicht auf den Verkehr störende Marschkolonnen. Wir antworteten
darauf mit dem Aufruf, aus dem Trauerumzug eine antifaschistische Demonstration
zu machen. Daraufhin spielten die S[ozial]-D[emokraten] ihre Gegenkarte aus: alle
auf die Straße, Gewerkschaften usw., um mit ihrem unser Manöver zu schlagen. Es
gelang uns, dieser Demonstration in wesentlichen Teilen einen antifaschistischen
revolutionären Charakter zu verleihen, doch es gelang nicht, von ihr vollständig
Besitz zu ergreifen. Wir konnten aufzeigen, dass wir die Organisatoren des Kampfes
gegen den Faschismus sind, doch die S[ozial]-D[emokraten] schafften es, durch die
Mobilisierung ihrer kompletten Kader und durch ziemlich linke Manöver, die s[ozial]-
d[emokratischen] Arbeiter von einer noch breiteren Verbrüderung mit uns abzuhal-
in der folgenden kryptischen Weise diesen Sachverhalt: „So kam es zu jenem Wendepunkt Anfang
Dezember, an dem aus der Funktion der halbfaschistischen Brüning-Regierung, die einer Regierung
der – wenn auch noch keineswegs vollkommen – faschistischen Diktatur in Deutschland wurde, wobei
wiederum der Sozialfaschismus die Rolle des Geburtshelfers spielte und den Massen vortäuschte,
die Unterstützung der Brüning-Regierung durch die SPD ließe sich als ein Weg zur Vermeidung der
Hitler-Diktatur beschönigen oder entschuldigen.“ (Die Rote Fahne, 7.12.1930; Inprekorr, 12.12.1930, zit.
in Weber: Die Generallinie, S. 265. Die beiden Sekretariatsdokumente ibid., S. 262–263 und 264–280,
hier: S. 265–266).
8 Vermutlich Bezug auf eine KPD-Demonstration gegen das Verbot des Remarque-Films „Im Westen
nichts Neues“.
9 Gegen die Oscar-prämierte Verfilmung von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“
(Regie: Lewis Milestone) im Jahre 1930 organisierte die NSDAP eine breite Kampagne mit zahlreichen
Vorführungsstörungen, inszenierten Schlägereien vor Lichtspieltheatern sowie Großaufmärschen.
Am 11.12.1930 wurde der Film in Deutschland verboten.
780 1929–1933
ten. Die meisten Erfolge gab es unter der Jugend, die wir in Berlin im Wesentlichen
erobert haben. Wenig [Erfolge] unter den älteren S[ozial]-D[emokraten]. Doch trotz
allem ist diese Demonstration unzweifelhaft als unser Erfolg bei der Eroberung der
antifaschistischen Massen anzusehen und wird bei der Ausarbeitung unserer künfti-
gen Taktik im Kampf um die Straße, unserer Taktik der Einheitsfront von unten große
Bedeutung haben. Beim Ruhrstreik zeigten sich eine ganze Reihe unserer Schwä-
chen.10 Unsere Ruhrgenossen kamen hierhin mit der Meinung, dass es keinen Streik
geben könne. Hier hat man ihnen ins Gewissen geredet. Unsere Ruhrgenossen von
der RGO kannten die Geographie unseres Einflusses nicht, häufiger war dort, wo ihrer
Meinung nach alles vorbereitet war, in der Praxis nichts vorhanden. Der schlesische
[Streik] war noch schlechter vorbereitet als der im Ruhrgebiet. Überhaupt ist die RGO-
Führung schwach. Gerade jetzt ist nun auch Franz [Dahlem] krank. Überhaupt gibt
es in der RGO mehr Gewusel als Verstand. Die Stimmung ist auch hier, nach dem
Metallarbeiterstreik,11 wunderbar, was sich in der schnellen Wiederherstellung der
Organisationen dort zeigt, wo alle unsere Leute gefeuert worden waren.
Auf dem Plenum [des ZK der KPD] wird die Frage der antifaschistischen Aktions-
Komitees, die ihre Autoren sich als Keimzellen von Räten vorgestellt haben, eine
gewisse prinzipielle Bedeutung haben.12 Das S-t13 [des Politbüros der KPD] hat nach
der Rückkehr der 314 den Vorschlag zu ihrer Gründung wiederholt, doch niemand
weiß, was sie [die Aktions-Komitees] im gegenwärtigen Stadium tun sollen. Klar ist,
dass wenn sie unverzüglich gegründet werden, sie sich durch ihr Nichtstun selbst
kompromittieren. Viel aktueller ist es, Kader der Beauftragten, Komitees zur Wahl der
Betriebsräte, der Streik- und Vorbereit(?)15[tungs-]Komitees zu schaffen, von denen es
10 Am Jahresende setzten die RGO Verbände im Ruhrbergbau, die gegenüber dem Alten Verband
und den christlichen Gewerkschaften eine Steigerung verzeichneten, einen Streik gegen die geplante
Lohnsenkung und die Defunktionalisierung der Tarifverträge durch, dies sogar gegen den anfäng-
lichen Widerstand der Bezirksorganisation. Der von Thälmann als Durchbruch bezeichnete Streik
(2.–9.1.1931) endete jedoch mit einer Niederlage und verschärfte den Kampf unter den unterschiedli-
chen Gewerkschaftsorganisationen. Drei Arbeiter starben bei Zusammenstößen mit der Polizei (siehe:
Siegfried Bahne: Die KPD im Ruhrgebiet in der Weimarer Republik. In: Jürgen Reulecke (Hrsg.): Ar-
beiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-
Westfalen, Wuppertal, Peter Hammer, 1974, S. 315–354, hier S. 345f.; Rudolf Tschirbs: Tarifpolitik im
Ruhrbergbau, 1918–1933. Beiträge zu Inflation und Wiederaufbau in Deutschland und Europa, Veröf-
fentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Berlin, de Gruyter, 1986, S. 392ff.)
11 Gemeint ist der Streik von 130 000 Metallarbeitern in Berlin, siehe Dok. 248 u. 249.
12 Vermutlich sind damit die „betrieblichen Aktionsausschüsse“ gemeint. Zu ihren Aufgaben siehe
Anweisungen des Sekretariats an die Bezirksleitungen, 19.12.1930. In: Weber: Die Generallinie, S.
264–280, hier: 275f.
13 Fußnote im Original: „Offensichtlich Sekretariat“.
14 Gemeint ist die Rückkehr von Thälmann, Neumann (und Remmele?) aus Moskau, wo sie u.a. Ge-
spräche mit Stalin hatten (siehe: Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 187f.) So im Original.
15 So im Original.
Dok. 258: [Moskau], [vor dem] 18.1.1931 781
sehr wenige gibt. Unser Ja[blonskij]16 ist vollkommen verwirrt und hat hier eine sehr
schädliche Position eingenommen. [...]
Auf der Tagesordnung des Politbüros der KP der Sowjetunion vom 15.1.1931 stand neben neuen Güter-
bestellungen in Deutschland ein Telegramm von Chinčuk über eine mögliche Verzögerung des Eintref-
fens der deutschen Industriellen in Moskau (Stalin).17
Dok. 258
Nicht abgeschickte Instruktionen der Politkommission
der Komintern zur antifaschistischen Ausrichtung der
Betriebsrätewahlen in Deutschland
[Moskau], [vor dem] 18.1.1931
Vertraulich.
Die Politkommission des EKKI empfiehlt Euch, bei den diesjährigen Betriebsräte-
Wahlen folgende Elemente in den Vordergrund treten zu lassen.19
1. Den Massen die Veränderungen der politischen Situation im Vergleich zur Zeit
der vorjährigen Wahlen eingehend zu erklären. Das ist die wichtigste Voraussetzung,
damit die Massen unsere, der jeweiligen Situation entsprechende Aktionsvorschläge
verstehen lernen. Dies setzt eine Mobilisierung der politischen Aktivität der Arbeiter-
massen unter der Parole „Kampf gegen den Faschismus“ als Hauptparole und eine
im Vergleich zum vorigen Jahr viel engere Verknüpfung dieser Kampagne mit den
16 Fußnote im Original: „[Moisej] Jablonskij – war auf Einladung der deutschen Genossen Leiter der
Schule. Befindet sich gegenwärtig in Moskau.“
17 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 117. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 242–243.
18 Handschriftlicher Eintrag: „Nicht abgegangen“.
19 In den Instruktionen der Politkommission der Komintern zu den Betriebsrätewahlen in Deutsch-
land kommt im Vergleich zu den “Fehlern“ aus dem Vorjahr eine deutliche Mäßigung der Spaltungs-
intentionen der deutschen Gewerkschaften zum Ausdruck, wie auch eine stärker antifaschistische
Orientierung der Gewerkschaftspolitik auf die Masse der Arbeiter und sogar Angestellten. Gerade dies
könnte der Grund dafür gewesen sein, dass die Instruktionen nicht abgeschickt wurden, was auf in-
terne Richtungskämpfe in Moskau hindeutete.
782 1929–1933
20 Mit “Roten Listen“ sind die (allerdings nur sehr wenigen) “als Konkurrenz zu den freien Gewerk-
schaften gegründeten ‚roten Verbände’“ gemeint; sie sollten neben der breiter konzipierten RGO auf-
gebaut werden, waren jedoch zumeist keine Massen-, sondern Kaderorganisationen (Müller: Lohn-
kampf, S. 156f.).
21 1931 gründete der in der ostpreußischen Landabteilung der KPD-Bezirksleitung tätige Robert Ned-
dermeyer den Revolutionären Landarbeiterverband Ostpreußen, dessen erster Vorsitzender er wurde
(nach Weber war er auch Vorsitzender des Einheitsverbandes der Land- und Forstarbeiter der RGO,
Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 629).
Dok. 258: [Moskau], [vor dem] 18.1.1931 783
verbandes und für die Entfaltung von Wirtschaftskämpfen im Frühjahr dieses Jahres
abgeben soll.
Die Politkommission hält die Aufwerfung der Frage über die diesjährige Erfas-
sung der Angestellten der Betriebe durch die Roten Listen seitens des ZK. für richtig.
Gleichzeitig damit ist die Polkommission der Anschauung, dass im Interesse eines
erfolgreichen Kampfes gegen den Faschismus eine möglichst weitgehende Ausdeh-
nung dieser Erfassung auf alle Angestellten überhaupt notwendig wäre. [...]
Man muss in allen Betrieben und nicht nur dort, wo rote Betriebräte vorhan-
den sind, eine Berichterstattung und Kritik über die Tätigkeit der alten Betriebsräte
durchsetzen. Diese Versammlungen müssen in unserer Presse in umfassender Weise
beleuchtet werden. Die im vorigen Jahr infolge der Fehler verlorenen Positionen
müssen um jeden Preis zurückerobert werden.
Am 20.1.1931 fasste das Politbüro der KP der Sowjetunion einen Beschluss über die anstehenden
Verhandlungen mit deutschen Industriellen, die in Moskau erwartet wurden. Es wurde beschlossen,
Pjatakov in die Verhandlungskommission (siehe PB-Beschluss vom 13.12.1930) aufzunehmen. Diese
hatte innerhalb von zwei Tagen eine Verhandlungsstrategie auszuarbeiten.22
Ebenfalls am 20.1.1931 beschäftigte sich das Politbüro mit Unterstützungen seitens der deutschen
Regierung für Sowjetbürger deutscher Herkunft. Der Beschluss betraf sanitäre Hilfssendungen an als
Kulaken verbannte Russlanddeutsche, die untersagt wurden – u.a. über das sowjetische Rote Kreuz.
Am 7.2.1931 fand ein erstes Gespräch zwischen Botschafter von Dirksen und Molotov statt. Dirksen
gab dabei der Hoffnung auf gute Beziehungen und einen persönlichen Kontakt zu Molotov Ausdruck.
Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern seien in ständiger Ver-
besserung begriffen. Die einzige „Wolke“, die diese verdunkle, sei das Verbot des sowjetischen Au-
ßenkommissariats, seitens der deutschen Regierung Hilfslieferungen an Russlanddeutsche zu leis-
ten.23
Am 10.2.1931 wurde seitens des Politbüros die Entscheidung über die Einrichtung eines Klubs deut-
scher Ingenieure verschoben. 25
22 RGASPI, Moskau, 17/162/9, 123. Publ in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 243.
23 RGASPI, Moskau, 82/2/1161, 22–26.
24 APRF, Moskau, 3/64/658, 152, 154. Publ. in: Sevost’janov, Moskva-Berlin, II, Dok. 214 und 215.
25 RGASPI, Moskau, 17/3/813, 7.
784 1929–1933
Am 12.2.1931 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Zusammensetzung einer
Kommission zu Verhandlungen mit der deutschen Seite über die deutsch-sowjetische Fluggesell-
schaft Deruluft. 26 Der Kommission wurde am 20.2.1931 die Entscheidung über die Verlängerung der
Deruluft-Tätigkeit überantwortet.27
Dok. 259
Denunziatorischer Bericht Remmeles über eine Begegnung mit
Bucharin im Frisiersalon des Hotels Metropol in Moskau
[Moskau], 4.3.1937
3 Ex. We.
Vertraulich.
An Genossen Manuilski.28
Nach Gespraechen sollen Bucharin und Rykow bei der letzten Plenartagung des
Z.K. aufgetreten sein und ihre partei- und sowjetfeindlichen Beziehungen, wie sie in
den beiden Prozessen festgestellt wurden, geleugnet haben.29 Bucharins Stellung-
nahme in den Jahren 1928/29, als die Komintern mit ihm zu tun hatte, ist hinlaeng-
lich bekannt.30 Aber auch noch aus dem Jahre 1931 erinnere ich mich einer Episode,
die darueber Auskunft gibt, wie er um diese Zeit eingestellt war. Im Winter 1930/31
waren die Genossen Thaelmann, Neumann und ich hier. Ich sammelte damals das
Material fuer das Buch „Die Sowjetunion“.31 Genosse Thaelmann interessierte sich
auch fuer diese Arbeit und war daher im Bilde ueber den Fortgang der Industriali-
sierung und Kollektivisierung.32 Wir wohnten damals im „Metropol“. Im Rasiersalon
des Metropol,33 in den wir uns (Thaelmann und ich) gemeinsam begaben, trafen wir
Bucharin. Genosse Thaelmann kam mit ihm ins Gespraech und aeusserte sich opti-
mistisch ueber den guenstigen Stand der Industrialisierung und Kollektivisierung.
Bucharin antwortete so pessimistisch und giftig ueber die Entwicklung und die Ver-
haeltnisse in der U.d.S.S.R., dass ihm Thaelmann sehr bruesk ungefähr antwortete:
„Ich kenne die Berichte und die Zahlen des ZIK34 und des Z.K., und die sagen wir
[mir] etwas anderes als Ihre Panikmacherei!“ Bucharin antwortete voller Hohn: „Nun,
[dann] glauben Sie nur!“ Nachdem wir aus dem Frisiersalon herauskamen, sagte ich
zu Gen. Thaelmann: „Der ist aber geladen!“, worauf dieser antwortete: „Mensch, der
ist ja der giftigste Feind.“
Einige Tage spaeter waren wir bei Genossen Stalin.35 Genosse Thaelmann erzaelte
den ganzen Vorgang. Genosse Stalin sagte: „Sie haben ganz richtig geantwortet. Auch
zu uns kam er mit seiner Panikmacherei und redete von Bauernaufstaenden und
Zusammenbruch, wo es sich um einige Kulakenwiderstaende handelte, mit denen
wir von vornherein gerechnet hatten – die Kollektivierung musste natuerlich auf den
Widerstand der Kulaken stossen. Bucharin sah im Kulaken das sowjetische Dorf und
betrachtete daher den Kulakenwiderstand als „Bauernaufstaende“. Als er mit seiner
Panikmache zu uns kam, sagten wir ihm: studieren Sie bitte die Berichte; wir hatten
hunderte Berichte aus allen Gebieten der Union ueber den Verlauf der Kollektivbe-
wegung, und die sagten uns etwas ganz anderes, naemlich, dass die Entwicklung
rascher ging als wir angenommen und geplant hatten. Der Kulakenwiderstand wurde
durch die armen und Mittelbauern rascher gebrochen, als wir erwartet hatten. Gewiss
gab es auch hie und da Ueberspitzungen und falsche Maßnahmen. Aber die haben
wir selbst korrigiert. Wir haben bisher ganz offen geredet und geschrieben. Irgend ein
für die Partei, für den Sozialismus, für die Sowjetunion. An meinem Glauben an die Sowjetunion wird
mein Schicksal nicht rütteln können.“ Ernst Schumacher: „Wir haben gelogen. Wir sind an allem
selber schuld.“ Niederschrift eines Gespräches mit Hedwig Remmele. In: UTOPIE kreativ, September
1999, H. 107, S. 61–69.
32 „Kollektivisierung“, vermutlich direkte Übernahme aus dem russischen „kollektivizacija“. Heute:
„Kollektivierung“
33 „Metropol“, 1899–1905 erbautes Luxushotel in Moskau, gegenüber dem Malyj-Theater gelegen.
Vom Geschäftsmann und Kunstmäzen Savva Ivanovič Mamontov im Jugendstil in Auftrag gegeben.
Die Architekten waren u.a.: William Walcot, Lev Kekušev und Nikolaj Ševjakov (Elaine Denby: Grand
Hotels. Reality and Illusion. An Architectural and Social History, Zwolle, Waanders Publishers, 1998).
34 ZIK russ. Centralʼnyj Ispolnitel’nyj Komitet, deutsch ZEK (Zentral-Exekutivkomitee), oberstes Organ
der Sowjetmacht 1922–1938.
35 Neben Thälmann, Neumann und Remmele waren Pjatnitzki, Knorin, Manuilski und Kuusinen
am 17.5.1932 bei Stalin (Anatolij Černobaev (Hrsg.): Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic,
prinjatych I.V. Stalinym (1924—1953 gg.). Spravočnik, Moskva, Novyj chronograf, 2008, S. 69). Auch
hier wies Stalin auf die Bedeutung der nationalen Frage für die KPD hin (siehe: Hoppe: In Stalins
Gefolgschaft, S. 187, Fn. 57).
786 1929–1933
Geheimnis oder Dinge, die wir haetten verbergen muessen, gab es hierueber nicht.36
Aber so sind die Menschen, die kein Vertrauen zur sozialistischen Entwicklung und
zur Masseninitiative des Proletariats und der Bauernmassen haben. Weil sie selbst
Buerokraten und Mechanisten sind, sehen sie ueberall Buerokratismus und Gewalt.
Die schoepferische Kraft der Massen existiert fuer die ueberhaupt nicht.“ So sagte der
Genosse Stalin dem Sinne nach. Ich musste das Gespraech, das mir noch lebhaft in
Erinnerung ist, ohne Aufzeichnungen rekonstruieren.
Diese Episode zeigt, dass Bucharin mindestens nach 1931 gegen die Politik des
Z.K. oppositionell eingestellt war. Von Rykow kann ich nichts sagen, da ich mit diesem
seit 1923 nicht mehr zusammenkam. Ich hielt mich verpflichtet, obige Erinnerungen
mitzuteilen.37
/Remmele/
sign. Remmele
4.3.1937
36 Was Stalin als „Kulakenwiderstand“ bezeichnete, waren teilweise bis zum Aufstand reichende
Protest- und Widerstandsbewegungen der Bauern gegen die Zwangskollektivierungen, die neben
steuer- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen durch den Einsatz von OGPU-Truppen und sog. Frei-
willigenbrigaden niedergeschlagen wurden, verbunden mit Hungersnot, Verhaftungen, Umsiedlun-
gen oder Flucht in die Städte. Allein 1930 wurden 13754 Aufstände oder aufstandsähnliche Aktio-
nen mit 3 Millionen Teilnehmern offiziell registriert (siehe: V. Danilov, A. Berelowitch (Hrsg.): Les
documents des VČK-OGPU-NKVD sur la campagne sovietique. In: Cahiers du monde russe 35 (1994),
S. 437–401, hier: S. 673.
37 Bucharin und Rykov wurden 1938 im 3. Moskauer Prozess zum Tode verurteilt und daraufhin ex-
ekutiert.
Dok. 261: Moskau, 26.3.1931 787
Dok. 261
Rede Manuilskis auf dem XI. EKKI-Plenum der Komintern zur nicht-
revolutionären Situation in Deutschland und für die Zerschlagung
der Sozialdemokratie als „Massenbasis“ des Faschismus
Moskau, 26.3.1931
Publ. in: D.S. Manuilski: Die kommunistischen Parteien und die Krise des Kapitalismus. Bericht vor
dem XI. Plenum des EKKI, Hamburg, Verlag Carl Hoym Nachf., 1931, S. 5–6, 61, 127–128, 132f.38
[...] Diese revolutionäre Krise, die mit Elementen der allgemeinen Nachkriegskrise des
Kapitalismus zusammenhängt [...] und die sich in den schwachen Gliedern des kapi-
talistischen Systems am raschesten entwickelt, hat nicht allgemeinen Charakter und
spiegelt die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der revolutionären Prozesse wider.
In Ländern wie Indien, China, Spanien und einigen Ländern in Lateinamerika
reifen ihre Elemente am schnellsten heran; In anderen Ländern, wie in Polen und
Deutschland reifen vorläufig nur Voraussetzungen zum Hinüberwachsen der Wirt-
schaftskrise in eine revolutionäre heran; in einer dritten Reihe von Ländern, die
bisher die Mehrheit der kapitalistischen Länder überhaupt bilden (in erster Linie die
Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich), können wir vorläufig nur fest-
stellen, daß sich das Tempo dieses revolutionären Aufschwungs beschleunigt. [...]
[...] Ein Haupthindernis bei der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse durch
die kommunistischen Parteien, ein Haupthindernis in der Entwicklung der heutigen
revolutionären Bewegung der Massen zu Entscheidungskämpfen des Proletariats und
der Werktätigen gegen das kapitalistische System ist die Sozialdemokratie und der
reformistische Gewerkschaftsapparat aller Länder. [...] So wird die Sozialdemokratie
zum Bestandteil der bürgerlichen Diktatur in allen ihren Formen, darunter auch der
faschistischen. Ihre Hauptfunktion ist es, eine Massenbasis für den Faschismus zu
schaffen, denn, wie Lenin zutreffend betont, kein Regime kann ohne eine gewisse
Massenbasis bestehen. Das schließt aber nicht aus, daß die Sozialdemokratie unter
den Streichen der die Massen radikalisierenden Wirtschaftskrise genötigt ist, in den
ihr durch die Manövrierfähigkeit des Kapitals gesteckten Grenzen „linke“ Manöver
auszuführen.
38 Das 11. EKKI-Plenum (26.3.1931–11.4.1931) verkündete offiziell die Strategie des Kampfes an zwei
Fronten der Abweichungen von der Generallinie, d.h. der “rechten“ und der “linken Abweichung“
(„Zweifrontenkrieg“) . Diese Festlegung erfolgte auf der Grundlage eines als imminent angesehenen
Sieges des Sozialismus, selbst im Falle einer Machteroberung des Faschismus, der von der Regierung
Brüning eingeführt, nur als kurzzeitig und vorübergehend eingeschätzt wurde (Bahne: Die KPD und
das Ende von Weimar, S. 12ff., 22ff. Zum Plenum siehe auch Dok. 275; XIth Plenum of the Executi-
ve Committee of the Communist International, Theses, Resolutions and Decisions, London, Modern
Books Ltd. (1931), S. 101f.).
788 1929–1933
Das vergangene Jahr zeigte eine äußerst beschleunigte Faschisierung der Sozial-
demokratie, die sie durch „linke“ Manöver zu verdecken bestrebt war, von denen die
kommunistischen Parteien manchmal überrumpelt wurden. Diese Kombination von
faschistischen Methoden mit „linker“ Phrase bildet jenes neue, für die Sozialdemo-
kratie charakteristische Zickzack, das die kommunistischen Parteien in ihrer takti-
schen Linie berücksichtigen müssen. [...]
Es ist als besonderes Verdienst der KPD. hervorzuheben, daß sie es verstand, die
Aufgaben des Kampfes für die nationale Befreiung der deutschen werktätigen Massen
mit ihrem Kampf für ihre soziale Befreiung, für die proletarische Diktatur zu verbin-
den. Dieses Programm des revolutionären Kampfes des Proletariats als Führer aller
Werktätigen muß die Achse aller revolutionären Klassenkämpfe bilden, um eine Ver-
bindung des Kampfes für die Tagesinteressen der Massen mit dem Kampf zum Sturze
der bürgerlichen Diktatur herzustellen.
Die zentrale Aufgabe der KPD. ist die maximale Beschleunigung der Eroberung
der Mehrheit der Arbeiterklasse und der Zerstörung der Massenbasis der Sozialdemo-
kratie.39 Dies verlangt in erster Linie eine weitere kühne Entfaltung der selbständigen
Führung der Klassenkämpfe des Proletariats auf dem Boden breitester Hineinziehung
sozialdemokratischer und parteiloser Arbeiter in alle Organe der Einheitsfront von
unten. Die KPD. ist stark genug, um in der Tat zu zeigen, daß die Arbeiterklasse der
Offensive des Kapitals auf den Arbeitslohn und die Lebenshaltung der werktätigen
Massen Einhalt zu gebieten vermag. Dies verlangt weiterhin die ernsteste Aufmerk-
samkeit auf die wirkliche Verwandlung der RGO. und der revolutionären Gewerk-
schaften in Massenorganisationen, in wahre Führer der Wirtschaftskämpfe des Pro-
letariats. Die KPD. ist stark genug, um den Arbeitern durch Taten zu beweisen, daß
die RGO. und die revolutionären Gewerkschaften fähig sind, diese Kämpfe zu orga-
nisieren und durchzuführen. Dies setzt schließlich voraus, daß die KPD. weiter dafür
kämpft, der proletarischen Revolution in Deutschland Verbündete zu sichern und in
den kleinbürgerlichen Massen von Stadt und Land den führenden EinfIuß zu erlan-
gen. Dieser Kampf muß mit viel größerer Energie, in viel rascherem Tempo geführt
werden als bisher. Die KPD. muß dem Massenvormarsch der Faschisten Einhalt gebie-
ten, muß ihre Aktionen gegen den Faschismus mit den allgemeinen Kämpfen der
Arbeiterklasse koordinieren und denjenigen Industriezweigen, wo die Faschisten Fuß
gefaßt haben (chemische Industrie, Bergbau, Eisenbahn), besondere Aufmerksam-
keit zuwenden.40
39 Die radikale Überspitzung der Sozialfaschismusthese verweist nicht zuletzt auf den paranoiden
Hass auf die Sozialdemokratie als mentale Grundkategorie der Stalinschen Persönlichkeit. Den „er-
folgreichen Kampf des Proletariats um seine Befreiung von den Ketten des Kapitalismus“ machte er
davon abhängig, dass es vollständig vom Einfluss der Sozialdemokratie befreit sei. Stalin hatte per-
sönlich einen entsprechenden Passus in den Thesen des XI. EKKI-Plenums ergänzt (siehe: Firsov:
Stalin und die Komintern, S. 103.
40 Zentrales Instrument der NSDAP zur Verankerung in den Betrieben war die 1928 auf Betreiben der
linken Fraktion (Reinhold Muchow, Gregor Strasser) gegründeten „tendenziell sozialrevolutionären“
Dok. 261: Moskau, 26.3.1931 789
Wir müssen die allgemeine Linie der KPD. in vollem Umfang billigen, die im Kampfe
für die rascheste Erfüllung dieser konkreten Aufgaben die Idee der proletarischen
Diktatur systematisch und unermüdlich propagiert und den werktätigen Massen
Deutschlands mit aller Ueberzeugungskraft zeigt, daß der einzige wirkliche Ausweg
aus kapitalistischen Krisen und Versailler Knechtung im Sturze der bürgerlichen Dik-
tatur und in der Errichtung eines Rätedeutschlands liegt. [...]
Uebrigens hatten einige Genossen hinsichtlich der Losung der „Volksrevolution“
ihre Zweifel. Sollen wir – sagten sie – die alte klare Losung der proletarischen Revo-
lution durch einen neuen Terminus, der der Epoche der Revolutionen des Jahres 1848
entlehnt ist, ersetzen?41
Nun haben aber erstens die deutschen Genossen die Losung der proletarischen
Revolution nicht durch die Losung der „Volksrevolution“ ersetzt. Sie haben niemals
die alten bolschewistischen Losungen abgeschafft. Die Losung der „Volksrevolution“
in ihren Dokumenten und in ihrer agitatorischen Tagesarbeit ist ein Synonym der pro-
letarischen Revolution. Sie bedeutet unter den gegebenen konkreten Verhältnissen
in Deutschland, wo ein ungeheurer Klassenumschwung vor sich geht, daß die KPD.,
wenn sie auch noch nicht die Mehrheit der Arbeiterklasse erobert hat, doch schon
zu einer Partei von Millionen unterdrückten und ausgebeuteten werktätigen Massen
[geworden] ist. [...]
Bedeutet das aber, Genossen, daß wir in Deutschland bereits die Losung, die
Aufgabe der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse von der Tagesordnung abset-
zen? Durchaus nicht! Das bleibt die grundlegende Hauptaufgabe, die strategische
Aufgabe für Deutschland. Wir haben in Deutschland die Mehrheit der Arbeiterklasse
noch nicht erobert. Betrachtet die letzten Betriebsrätewahlen. Alle Parteien haben
Verluste, unsere Partei hat gewonnen. Es gibt jedoch Stellen, wo alle Parteien Ver-
luste haben und auch unsere Partei prozentuale Verluste hat, aber geringere, zum
Beispiel im Ruhrgebiet. [...]
Die Auswirkung der durch die zyklische Krise vertieften allgemeinen Krise wird
für den Kapitalismus noch viel verhängnisvoller sein. Die „Atempause“, die der Kapi-
talismus in diesem Falle erhalten würde, würde den revolutionären Aufschwung kei-
nesfalls unterbrechen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie auf kurze Zeit die Ausrei-
fung der revolutionären Krise in Deutschland zum Beispiel verzögern würde, aber
schwerlich aufhalten könnte sie diese in Indien, China und selbst nicht in Polen.42
Das aber, was wir an der Auswirkung der zyklischen Krise einbüßten, haben wir
durch den gesteigerten Einfluß der UdSSR. kompensiert, bzw. werden es weiterhin
immer noch mehr kompensieren. Das ist heute ein revolutionärer Faktor. [...]
Am 30.3.1931 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss zu weiteren Ver-
handlungen mit den mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrten deutschen Industriellen und
entschied über neue Bestellungen von Gütern und Waren in Deutschland.43 Am 14.4.1931 wurde
schließlich eine Vereinbarung über sowjetische Bestellungen in Deutschland und ihre Finanzierung
abgeschlossen.44
Dok. 262
Rede Manuilskis auf der Sitzung der Politkommission des XI. EKKI-
Plenums zum Konzept einer „Volksrevolution“ in Deutschland
[Moskau], 6.4.1931
MANUILSKI: Es gibt eine Erklärung der italienischen Delegation, deren Inhalt darauf
hinausläuft, dass der Terminus der Volksrevolution, der von der deutschen Kompar-
tei verwendet wird, in seinem Wesen ein nichtkommunistischer Terminus sei. Die
strategische Hauptlosung der deutschen Kompartei müsse aus dem Verkehr gezogen
werden, und die deutsche Kompartei müsse zur Losung der proletarischen Revolu-
tion zurückkehren. Ich denke, Genossen, dass dies nicht richtig ist. [...]
Zweitens, Genossen, was bedeutet im Wesentlichen die Losung der Volksrevo-
lution unter den konkreten Bedingungen, unter denen sich die deutsche Kompartei
befindet? Wenn eine kleine Partei, die gerade erst anfing, den Einfluss der Sozial-
demokratie zu zerschlagen, die gerade erst damit begann, sich in den Betrieben zu
verankern, eine solche Losung aufgestellt hätte, dann hätten wir gesagt, dass die
Aufstellung einer solchen Losung falsch sei, dass die Partei als Propagandalosung
die alte Losung der proletarischen Diktatur beibehalten müsse. Wenn jedoch unsere
deutsche Kompartei sich der Lösung des Problems des Gewinns der Mehrheit ent-
42 Trotz der sozialen und politischen Zuspitzung wird auch hier die Wahrscheinlichkeit einer revo-
lutionären Situation in Deutschland explizit verneint. Grundsätzlich wird diese Betrachtungsweise
unter Annahme einer Grundtendenz der „Annäherung“ an oder „Ausreifung“ einer revolutionären
Situation bis in das Jahr 1933 hinein und über die Reichstagsbrandkrise hinaus bis zur Etablierung
des NS-Regimes nicht mehr in Frage gestellt. Vgl. hierzu die Ausführungen Thälmanns, Dok. 309 u.a.
43 RGASPI, Moskau, 17/162/10, 2. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Polit-
bjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 244–245.
44 Dokumenty vnešnej politiki SSSR, Bd. 14, S. 246–248.
Dok. 262: [Moskau], 6.4.1931 791
schieden annähert, wenn im Augenblick die Aufgabe vor ihr steht, diejenigen Schich-
ten an sich zu ziehen, die eine Reserve für, einen Verbündeten des Proletariats, dar-
stellen, so ist es völlig klar, dass unter diesen, konkret revolutionären Bedingungen
die Aufstellung einer solchen Losung für Deutschland richtig ist.
[...] Man sagt, die Losung der Volksrevolution sei von Lenin in einem völlig anderen
Kontext verwendet worden. Lenin habe die Losung der „Volksrevolution“ 1905 und
früher verwendet, lediglich in Bezug auf Revolutionen, die bürgerlich-demokratisch
geprägt seien... Genossen, dies ist nicht ganz richtig. Erstens hat Lenin 1919 darüber
gesprochen. Genosse Béla Kun hat mich auf ein sehr interessantes Gespräch hinge-
wiesen, das gedruckt wurde45 (und es gibt davon auch Grammophonplatten), in dem
Lenin von der Sowjetmacht als einer Volksmacht spricht. Und Lenin spricht mehr-
mals von der Volksrevolution. Deswegen denke ich, dass es falsch wäre, die Losung
jetzt abzusetzen.46 Sie bedeutet für jede Kompartei eine große Maßnahme, die wir das
Programm der sozialen und nationalen Befreiung nennen. Die Partei muss aufzei-
gen, dass das Proletariat als die kommende Klasse die Interessen aller Unterdrückten
verfolgt, und dass in allen Ländern Revolutionen undenkbar sind, wenn sie nicht
Volksrevolutionen sind, – dort, wo bürgerlich-demokratische und dort, wo proletari-
sche Revolutionen stattfinden werden. Es ist ein alter Fehler, anzunehmen, dass das
Proletariat als isolierte Klasse eine proletarische Revolution durchführt, so als ob sie
von allen übrigen Klassen isoliert sei. So haben zum Beispiel die italienischen Genos-
sen seinerzeit einen Fehler begangen, einen Fehler, den wir zusammen mit ihnen
begangen haben, denn es geschah mit Wissen der Komintern. [...] Die italienischen
Genossen jedoch, die sich an Milch verbrannt haben, blasen nun sogar auf Wasser.
Das ist ein russisches Sprichwort.47 Da sie seinerzeit einen Fehler gemacht haben,
wollen sie nun angeblich die deutsche Partei vor einem solchen Fehler warnen. Ich
denke, das wäre falsch. Deswegen würde ich vorschlagen, in dieser Frage über die
strategische Losung Lenins die Linie des deutschen ZK anzuerkennen und zusammen
mit der deutschen Kompartei für diese Losung zu stimmen.
Am 5.5.1931 erhöhte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion das Einfuhrkontingent des Volks-
kommissariats für Verkehr für Einkäufe im Rahmen der deutschen Kredite um 13.600 Rubel.48
Am 15.5.1931 sowie am 20.5.1931 beriet das Politbüro auf Vorschlag von Stalin bzw. Jagoda über eine
Notiz in der Kölnischen Zeitung über Kapitän „Karl Egge“, den Kapitän des Eisbrechers Krasin, der die
italienische Nordpol-Expedition unter Umberto Nobile rettete.49 In Wirklichkeit hieß der Kapitän des
Eisbrechers Krasin Karl Pavlovič Eggi. Die “Krasin“ trug entscheidend zur Rettung der in Not gerate-
nen Nobile-Expedition bei. Weltweit wurde das Engagement gelobt, und der mangelnde Eisatz des
Mussolini-Regimes verurteilt. In Italien wurde Nobile wegen seiner angeblich egoistischen Haltung
bei der Rettung kritisiert und als General degradiert, 1931 wurde er dafür als Gast in der Sowjetunion
empfangen, wo er bis 1936 blieb.
Ebenfalls am 15.5.1931 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, eine Mannschaft aus
50 Sportlern zur Spartakiade zu entsenden.50 Die 2. Spartakiade, eine internationale kommunistische
Gegenveranstaltung zur Olympiade war für Juli 1931 in Berlin angesetzt, wurde jedoch verboten und
musste nach Moskau ausweichen.
Am 20.6.1931 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion als Reaktion auf ein Schreiben
von Handelsfunktionär German Bitker, die zuständigen Behörden aufzufordern, die Logistik der in
Deutschland getätigten Bestellungen zu optimieren.51
Nach der Unterzeichnung eines deutsch-sowjetischen Protokolls zur Verlängerung des Berliner Ver-
trages am 24.6.1931 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 30.6.1931, mit der
deutschen Regierung Verhandlungen über günstige Konditionen für die Einfuhr sowjetischer Waren
nach Deutschland aufzunehmen. 52
Am 5.7.1931 beschloss es, einen Auftrag an „Luftschiffbau Zeppelin“ im Umfang von 4 Millionen
Reichsmark für den Bau eines Zeppelins in der Sowjetunion zu vergeben.53
Am 10.7.1931 wurde seitens des Politbüros den Organen der OGPU untersagt, in den Diensten tätige
Kommunisten zu verhaften. Ebenso gelte dies für Spezialisten. Alle von der OGPU ausgesprochenen
Höchststrafen seien dem ZK vorzulegen.54
Dok. 263
Beschlussprotokoll der Sitzung der Politkommission des EKKI
über die Lage in Deutschland und den verschärften Kampf gegen
die SPD-Linke
[Moskau], 15.7.1931
Typoskript, deutsch. SAPMO-BArch, Berlin, I 6/10/40, 82; RGASPI, Moskau, 495/4/122, 2. Erstveröf-
fentlichung.
Streng vertraulich!
Für Sondermappe!
Behandelt:
1. (2024) Meinungsaustausch über die Lage in Deutschland.
Berichterstatter: Ulbricht.55
Diskussionsredner: Smoljanski, Kun, Pieck, Manuilski, Guttmann, Piatnitzky,
Losowski, Kuusinen.
Beschlossen:
1. a) Den Gen. Ulbricht zu beauftragen, dem ZK der KPD über den Meinungs-
austausch in der Politkommission des Pol[it]- Sek[retariats] des EKKI über die Lage
in Deutschland Bericht zu erstatten. Dabei soll er vor die deutschen Genossen die
Frage stellen, ob sie es für zweckmässig halten, sofort zu versuchen, in den Betrieben
breite Kampfausschüsse als Vertretungskörper der grossen Masse der Arbeiterschaft
zu schaffen,56 sowie auch Kampfausschüsse der Erwerbslosen, der Landarbeiter und
der armen Bauern – auf Grund des Programms der KPD zur nationalen und sozialen
diese Zuspitzung gesehen werden. Zu den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise siehe: Winkler:
Weimar, S. 408ff.
57 Gemeint ist die Programmerklärung (siehe Dok. 245).
58 Punkt 1b) behandelt die KP Frankreichs und die KP der Tschechoslowakei.
59 Das ZK der KPD schwenkte auch auf diese Linie ein. Am 17.7.1933 signalisierte es „volle(r) Überein-
stimmung mit Eurer Auffassung“, die linke Sozialdemokratie als gefährlichsten Feind zu deklarieren.
Siehe Dok. 265.
60 Als Reaktion auf die verheerende wirtschaftliche und finanzielle Situation vor allem Deutschlands
wurde am 6.7.1931 der Hoover-Plan angenommen, der ein einjähriges Moratorium für die deutschen
Reparationszahlungen vorsah. Der Plan war ein Schritt zur völligen Aufhebung des Young-Plans. 1932
brachte dann das faktische Ende der Reparationen.
61 Pieck setzte seine Unterschrift unter die Pjatnitzkis.
Dok. 264: Berlin, 15.7.1931 795
Dok. 264
„Sekretariatsbrief“ Neumanns an Pieck über die Teilnahme der
KPD am „roten Referendum“ für den Volksentscheid zur Auflösung
des Preußischen Landtags
Berlin, 15.7.1931
RGASPI, Moskau, 495/292/56, 116–117. Typoskript in deutscher Sprache publ. in: Mevius: New
Documents, S. 74–76.62
Lieber Wilhelm!
Wir halten es für notwendig, Dich, vorläufig, nur zur deiner persönlichen Information
und für die leitenden Genossen des EKKI über folgende Frage in Kenntnis zu setzen,
die wir in der Polbürositzung am Freitag65 behandeln werden:66
Am 9. August findet bekanntlich der Volksentscheid über die Auflösung des
Preussischen Landtags statt. Unsere endgültige Stellungnahme dazu ist erforderlich.
Es besteht bei uns – in ganz unverbindlichen Vorbesprechungen – die Meinung, daß
es zweckmäßig sein kann, als Kommunistische Partei die Parole der Einzeichnung im
Volksentscheid für die Auflösung des Preussischen Landtages abzugeben. Für diesen
62 Bei Hoppe (In Stalins Gefolgschaft, S. 208f.) bleibt unerwähnt, dass der Brief bereits von Martin
Mevius publiziert wurde.
63 Im Januar 1931 hatten Rechtsparteien und Nationalsozialisten die Einleitung einer Volksabstim-
mung für die Auflösung des preußischen Landtags und damit den Sturz der sozialdemokratischen
Koalitionsregierung gefordert. Eine mehrheitliche Reichstagsabstimmung im April machte den
Weg zur Voksabstimung frei, die am 9.8.1931 stattfand. Der in letzter Minute seitens der Komintern
ausgebübte Druck brachte die KPD dazu, am Plebiszit teilzunehmen, und zwar unter dem Zeichen
eines “roten Volksentscheids“, der ausdrücklich gegen die SPD gerichtet war. Die KPD stellte sich
an die Seite der NSDAP mit dem Ziel der Entmachtung der Sozialdemokratie. Dieser Höhepunkt der
“Sozialfaschismus“-Politik erbrachte mit 9, 8 Millionen Stimmen jedoch nicht den erforderlichen
Stimmenanteil von 13, 4 % (zum “Roten Volksentschied“ siehe: Weingartner: Stalin und der Aufstieg
Hitlers, S. 85ff.; Winkler: Der Weg in die Katastrophe, S. 385–391).
64 Die Autorenschaft des Briefes kann Heinz Neumann und vermutlich auch Hermann Remmele zu-
geschrieben werden (siehe hierzu: Mevius: New Documents, S. 74, Fn. 11; Hoppe: In Stalins Gefolg-
schaft, S. 209).
65 Die Polbürositzung fand am 17. Juli 1931 statt.
66 Hoppe unterstreicht, dass der Sekretariatsbrief hinter dem Rücken Thälmanns verfasst worden sei
(Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 208), um Fakten zu schaffen im Sinne einer Beteiligung der KPD
am Volksentscheid.
796 1929–1933
Schritt, dessen außerordentliche politische Bedeutung auf der Hand liegt, würden
folgen Gesichtspunkte sprechen:67
Die erforderliche Stimmenzahl zur Auflösung des Landtags beträgt etwa 13 Mil-
lionen. Falls wir die Einrechnungsparole ausgeben, wäre der Erfolg des Volksent-
scheids nach allen rechnerischen Grundlagen gesichert. Die Rechtsparteien erhielten
bei ihrem Volksbegehren etwa 6 Millionen. Sie werden bei der jetzigen Verschär-
fung der Lage mindestens 9 bis 10 Millionen aufbringen. Da es sich diesmal nicht
um Listeneinzeichnung, sondern einmalige Stimmenabgabe handelt. Wir werden
zweifellos bei unserem heutigen Einfluß in Preussen etwa 4 Millionen aufbringen.
Annahme des Volksentscheids bedeutet Neuwahlen in Preussen für Ende Oktober.
Es bestehen große Aussichten, daß die KPD dabei zur stärksten Partei wird, sowohl
die Sozialdemokratie schlägt als auch mit allergrößter Wahrscheinlichkeit die Nazis,
deren Hauptstürmgebiete (Bayern, Baden, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Meck-
lenburg, Oldenburg usw.) am Preussenkampf nicht teilnehmen.68
Wir dagegen setzen alle unsere Hochburgen mit Ausnahme Hamburgs und der
süddeutschen Industriezentren, vor allem Berlin, Mitteldeutschland, Ruhrgebiet, Nie-
derrhein, Oberschlesien usw. in den Wahlkampf ein. Es hätte eine ungeheure Bedeu-
tung wenn wir im entscheidenden Lande Deutschlands die stärkste Partei werden.
Noch viel wichtiger als diese statistische Seite wäre aber die durch Neuwahlen in
Preussen entstehende Verschärfung der Gesamtsituation, und die Möglichkeit, den
preussischen Regierungs- und Polizeiapparat, das stärkste Bollwerk der Sozialdemo-
kratie, den stärksten Stützpfeiler des Brüning-Systems zu zertrümmern. Gewiß hätten
wir auch bei den ordnungsmäßig im nächsten Frühjahr rechnerisch dieselben oder
noch bessere Aussichten, in Preussen an die Spitze zu gelangen. Aber welcher Teufel
garantiert uns, daß wir dann noch unter dem jetzigen Wahlrecht stehen werden?
Der hier angedeutete Schritt hätte natürlich wie jeder große politische Schritt
auch negative Seiten. Die SPD und die Brandleristen würden ein furchtbares Geschrei
über „Einheitsfront von Nazis und Kozis“ anstimmen. Aber dieses Geschrei hören wir
seit unserem Freiheitsprogramm täglich, ohne daß es die Krise der SPD aufhalten
67 Nach der neueren Dokumentenlage wird, was die Beteiligung der KPD am Volksentscheid angeht,
eine dreistufige Entscheidungskette erkennbar: Ein erster Vorschlag (von Remmele) zielte darauf ab,
seitens der KPD dem NS-Volksbegehren durch einen „roten Volksentscheid“ zuvorzukommen, ein
zweiter Vorschlag (maßgeblich von Neumann) sprach sich für eine Beteiligung am Volksentscheid
aus, wozu jedoch das Votum der Mitglieder des Polbüros abgewartet werden sollte (der „Sekretari-
atsbrief“ die Verantwortung der Komintern (bzw. Stalins). Als schließlich die Mitglieder des Polbüros
einhellig eine Beteiligung ablehnten, traf wenig später die Entscheidung Stalins und der Komintern-
Leitungsgremien ein, doch teilzunehmen. In allen Fällen sprach sich Thälmann dagegen aus. Neu-
mann wurde nun vorgeworfen, das Vertrauen Thälmanns missbraucht zu haben, indem er sich nicht
an die Absprache hielt, nicht über das Thema zu sprechen, solange das Politbüro keine Entscheidung
getroffen hatte. Vgl. hierzu: Weingartner: Stalin und der Aufstieg Hitlers, S. 85ff.; Winkler: Der Weg in
die Katastrophe, S. 385–391.
68 Sowohl das Ergebnis des Volksentscheids als auch das der nächsten Landtagswahlen Anfang 1932
entsprachen keineswegs diesen Erwartungen.
Dok. 264: Berlin, 15.7.1931 797
kann. Entscheidend sind die objektiven Tatsachen, die tatsächlichen Resultate eine
solchen Schritts: die Zerschlagung des sozialfaschistischen Bollwerks in Preussen
und die Möglichkeit, noch einmal in einem „freien“ Wahlkampf unter größter Aus-
nützung der Legalität unser gewaltiges Wachstum seit dem 14. September zu demons-
trieren, stärkste Partei in Preussen zu werden.69
Das Geschrei der Sozialdemokraten wird überhaupt nur so lange einen Wieder-
hall [sic] finden, bis der Wahlkampf eröffnet ist, d. h. ein paar Wochen. Dann treten
die entscheidenden politischen Fragen in den Vordergrund, dann gibt es Wahlver-
sammlungen im ganzen Land, aber keine Diskussion darüber, wer an den Neuwahlen
„Schuld hat“.
Es war selbstverständlich richtig, daß wir beim ersten Volksbegehren die Parole
der Nichtbeteiligung herausgaben. Dieses Volksbegehren war eine direkte Stahlhelm
initiative, ein Werkzeug der faschistischen Massenmobilisierung, das mit Einzeich-
nung in die von Stahlhelm als private Organisation ausgelegte Liste verbunden war.
Diesmal wird der Volksentscheid nicht von faschistischen Organisationen sondern
offiziell von der Preussenregierung ausgeschrieben und dreht sich um die objektive
Entscheidung: „Der preussische Landtag ist aufzulösen.“ Entspricht diese Formel,
entspricht ihr Inhalt den Klasseninteressen des Proletariats – ohne Rücksicht auf die
Veranstalter des früheren Volksbegehrens? Zweifellos entspricht sie unseren Klas-
seninteressen, umsomehr als die Krise, das Mißtrauen, die allgemeine Erschütterung
dadurch in allerstärkster Weise gesteigert wird.
Anderseits bringt uns die Nein-Parole objektiv in eine Reihe mit dem Zentrum,
der Staatspartei und der SPD, mit den Verteidigern der reaktionären Preussenregie-
rung. Haben wir Grund, eine solche Position zu beziehen? Keinesfalls!
Falls wir einen solchen Schritt der Teilnahme am Volksentscheid tun, müssen
wir ihn natürlich – bei aller Kürze der vorhandenen Zeit – wirksam und sorgfältig im
Hinblick auf die sozialdemokratischen Arbeiter vorbereiten, damit die Massen unsere
Handlung verstehen.
Wir müssen ausgehen von den Schandtaten Severings: Verbot des Roten Front-
kämpferbundes, Verbot der Spartakiade, Zeitungsverbote, Versammlungsverbote,
Polizeibrutalitäten, Handhabung der reaktionären Notverordnung usw.,70 vor allen
Dingen die Förderung und Züchtung der Faschisten durch den Severing-Kurs, die
preussische Polizei, die preussische Klassenjustiz.71 Wir müssen sagen, daß die Auf-
69 Die KPD erreichte in Preußen, für dessen Untergang als parlamentarischer Teilstaat sie selbst mit-
verantwortlich war, maximal 11,2 % bei den Provinziallandtagen (1930–1933) und 12,8–13,2% bei den
Landtagswahlen.
70 Die Notverordnungen waren ein zentraler Gesetzeshebel der semipräsidiellen Weimarer Reichs-
verfassung (Artikel 48), der für angebliche Notfallsituationen die Ausschaltung des Parlaments und
die nur noch vom Reichspräsidenten zu genehmigende Durchsetzung der Exekutivgewalt im Krisen-
fall ermöglichte.
71 Bezug zum Verbot des Roten Frontkämpferbundes, der Spartakiade sowie zahlreichen Zeitungs-
und Versammlungsverboten durch den preußischen Innenminister.
798 1929–1933
rechterhaltung der Preussenregierung eine direkte Stütze für den Faschismus bedeu-
tet. Wir müssen die Auflösung des Landtages als Entfesselung des Massenkampfes im
ganzen Lande sowohl gegen Stahlhelm und Nazis als auch gegen den Severing-Kurs
proklamieren. Außerdem müßten sich übertretende sozialdemokratische Arbeiter
selbst dafür aussprechen.
Dies alles betrifft nicht mehr die prinzipielle Frage, sondern nur die Art der
geschickten Durchführung und Einheitsfront mit sozialdemokratischen Arbeitern
gegen den Faschismus.
Wir teilen Dir diese Auffassung zunächst unverbindlich mit und bitten Dich, vor-
bereitend mit den Genossen Manuilski, Knorin und Pjatnitzki darüber zu sprechen,
vielleicht auch die Meinung der Genossen des Politbüros einzuholen, ohne daß eine
offizielle Beschlußfassung oder Stellungnahme des EKKI erforderlich wäre, bevor
die Auffassung unseres deutschen Polbüros vorliegt. Falls bei uns eine einheitliche
Meinung im angedeuteten Sinne entstehen sollte, würden wir die Exekutive um die
Erlaubnis ersuchen, den angedeuteten Schritt zu vollziehen. Ohne diese Erlaubnis
werden wir selbstverständlich nichts unternehmen.
Wir werden in den nächsten Tagen telefonisch und telegrafisch mit Dir noch über
die weiteren Einzelheiten dieser Frage in Verbindung treten.
Dok. 265
Brief Piecks an Pjatnitzki über die Haltung der KPD zur linken
Sozialdemokratie
[Moskau], 17.7.1931
den 17.7.1931
Gen. Piatnitzki
Manuilski
Kuusinen
Werter Genosse!
Ich erhielt heute folgendes Telegramm vom Sekretariat des ZK der KPD:
Am 18.7.1931 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Reihe von Maßnahmen in
Verbindung mit der Finanzkrise in Deutschland, die sowohl die Erfüllung sowjetischer Bestellungen,
als auch den Absatz sowjetischer Waren in Deutschland sicherstellen sollten.73
Dok. 266
Brief Wilhelm Piecks an das ZK-Sekretariat der KPD zur
Übermittlung der Instruktion seitens führender russischer
Genossen zur unbedingten Teilnahme am preußischen
Volksentscheid
[Moskau], 20.7.1931
Liebe Freunde!
In der Frage, ob sich die Partei an dem Volksentscheid über Auflösung des
preuss[ischen] Landtages beteiligen soll oder nicht, ist hier unter den führenden
Genossen nicht nur der Komintern, sondern auch der Partei74 die einmütige Auffas-
sung vorhanden, daß die Partei sich unbedingt an der Abstimmung beteiligen muß,
natürlich für die Auflösung. Die Begründung für diese Stellungnahme entspricht
ungefähr den in Eurem Sekretariatsbrief an mich niedergelegten Auffassungen.
Zuerst waren allerdings bei einigen russischen Genossen andere Auffassungen
vorhanden, die sie aber nach Rücksprache mit den führenden Genossen der Partei
aufgegeben haben. Leider lag die Begründung für den Beschluß des Polbüros nicht
72 Als Vorlauf zu diesem Beschluss, mit dem die zeitweise Mäßigung in dieser Frage wieder rückgän-
gig gemacht wurde, hatte die Kominternspitze einen Beschluss des Polbüros der KPD vom Juni 1931
moniert, und „in der Frage des Verhältnisses zur ‚linken‘ Sozialdemokratie“ ihrer Meinung zufolge
eine „Auslassung der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung“ festgestellt (siehe Dok. 272).
73 APRF, Moskau, 3/64/659, 93–93v. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 242.
74 In seinen Notizen über ein Telefonat mit Flieg in dieser Sache notierte Pieck am 20.7.1931: „ja, auch
an anderer Stelle (Stalin) (Molotov)“ (RGASPI 495/292/54, 342f., zit. in Hoppe: In Stalins Gefolgschaft,
S. 211) .
800 1929–1933
vor, während für den gegenteiligen Standpunkt in dem Sekretariatsbrief eine sehr
gute Begründung gegeben wurde. Ich habe trotzdem versucht, die wahrscheinlichen
Gründe, die für den Beschluß des Polbüros maßgebend waren, den Genossen vor-
zutragen, wobei ich besonders hervorgehoben habe, daß wir in dieser Zeit, wo wir
die besten Anknüpfungspunkte an die sozialdemokratischen Arbeiter haben, nichts
unternehmen dürfen, was diese Beziehungen etwa wieder zerstört. Das würde zwei-
fellos bis zu einem gewissen Grade durch die Beteiligung an dem Volksentscheid ein-
treten, wo wir parallel mit den Deutschnationalen und den Nationalsozialisten die
Entscheidung herbeiführen. Wenn auch die Preussenregierung durch ihre Handlun-
gen uns genügend Material gibt, den sozialdemokratischen Arbeitern begreiflich zu
machen, daß diese Regierung sich in keiner Weise unterscheidet von der Brüning-
Regierung oder einer Rechtsregierung, so werden doch die sozialdemokratischen
Arbeiter immer in erster Linie die Tatsache sehen, daß wir mit den Rechtsparteien
zusammengehen. Wäre es uns bisher gelungen, den sozialdemokratischen Arbei-
tern eine solche Strategie verständlich zu machen, dann könnten wir mit ihnen noch
andere Kämpfe gemeinsam durchführen. Aber diese und andere Gründe wurden von
den Gen. nicht anerkannt, weil sie die Tatsache in der Vordergrund stellten, daß wir
in dieser Zeit, wo die Faschisten die stärkste Agitation zum Sturz der Preussenregie-
rung unternehmen, uns nicht bei der Wahl der Stimme enthalten können. Wenn wir
auch agitatorisch den Kampf gegen die Preussenregierung führen, so wird bei den
Massen, die von den Rechtsparteien beeinflußt werden, der Eindruck entstehen, dass
wir es mit diesem Kampf nicht ernst meinen. Wir müssen aber auch diesen Teil der
Massen für uns gewinnen.
Wie wir beim Youngplan erst hinterher den Faschisten durch unser Befreiungs-
programm den Wind aus den Segeln genommen haben, so dürfen wir es nicht darauf
ankommen lassen, daß wir beim Kampf gegen die Preussenregierung in eine ähnliche
Situation hineingeraten. Beim Volksbegehren war die Zurückhaltung der Partei noch
verständlich, weil es sich dabei zunächst nur darum handelte, den Volksentscheid
herbeizuführen. Aber bei dem Volksentscheid selbst, wo die Regierung in ihrer For-
mulierung die Frage stellt, muß die Partei an der Entscheidung über diese Frage teil-
nehmen.
Der arbeiterfeindliche und konterrevolutionäre Charakter der Preussenregierung
ist offensichtlich genug, daß es uns nicht allzu viel Mühe kosten wird, den Arbeitern
verständlich zu machen, daß ihr Sturz von den Kommunisten unbedingt herbeige-
führt werden muß.
Es sind noch eine Reihe sehr triftiger Gründe von den Genossen für die Beteili-
gung angeführt worden. Ich will sie hier nicht wiederholen. Peinlich an der ganzen
Angelegenheit ist nur, daß Ihr die Entscheidung über diese Frage nicht erst vor die
Politkommission der Komintern gebracht habt, und dadurch hätte vermieden werden
können, daß solche gegensätzlichen Auffassungen zwischen Euch und den russi-
Dok. 267: [Moskau], 2.8.1933 801
schen Gen. entstanden. Aber hoffentlich ist es Euch doch gelungen, zu vermeiden,
daß das nach außen hin bemerkt wurde.75
Ich muß Euch offen sagen, daß ich eigentlich froh war, als ich den Sekretariats-
brief bekam,76 in dem in Aussicht gestellt wurde, daß die Mehrheit der Genossen für
die Beteiligung sein würde, dabei habe ich den Genossen hier auch die Schattenseiten
einer solchen Stellungnahme vor Augen geführt und es wird auch von den Genossen
offen anerkannt, daß die Beteiligung am Volksentscheid mancherlei Schwierigkeiten
bringt, die aber bei einem guten Tempo der Arbeit der Partei in den Betrieben und den
Gewerkschaften schnell überwunden werden können. Die weitere Entwicklung wird
der Partei durchaus Recht geben, daß sie so entschieden hat und ohne Rücksicht auf
das Geschrei der Sozialdemokraten, daß die Kommunisten mit den Faschisten zusam-
mengehen, den Sturz der Preussenregierung herbeiführt.
Ich habe nur das eine Bedenken, daß unter Umständen doch nicht die 13 Mil-
lionen Stimmen herauskommen und die Neuwahl des Landtags nicht erfolgt. Dann
kämen wir um den eigentlichen Effekt, der uns auch helfen wird, die anfänglichen
Schwierigkeiten zu überwinden. [...]
Dok. 267
Aus einem Brief Remmeles (Ps. „Herzen“) an die Kommission
zur Untersuchung der Fraktionsarbeit in der KPD über die
Hintergründe des Volksentscheids gegen die preußische
Regierung
[Moskau], 2.8.1933
SAPMO-BArch, Berlin, 5/1 6/3/469, 10–27, hier: 25–27. In deutscher Sprache publ. in: Mevius: New
Documents, S. 80–81.
An die Kommission zur Untersuchung der Fraktionsarbeit in der K.P.D. Von Herzen
[d.i. Hermann Remmele]
In der Resolution des ZK heisst es ueber die Fehler der Neumann-Gruppe:77 „Unter-
nommen wurde Widerstand gegen den Preussen-Volksentscheid usw“. Auch diese
75 Thälmann selbst hatte seine ablehnende Haltung gegenüber einer Teilnahme am Volksentscheid
nicht eindeutig gegenüber den verantwortlichen Kominternfunktionären bekundet.
76 Zum Sekretariatsbrief siehe Dok. 264.
77 In der Resolution des ZK der KPD “Zur Lage und den nächsten Aufgaben“ vom Mai 1933 hiess es:
„Wenn auch der rechte Opportunismus die Hauptgefahr in der Durchsetzung der Generallinie der
Partei bildet, so muß daneben mit Nachdruck hingewiesen werden auf den “links” maskierten Op-
portunismus, wie er in aller Klarheit nicht nur im Merkerschen Sektierertum (Theorie der “kleinen
802 1929–1933
Behauptung ist wieder [sic] besseres Wissen von den Verfassern in der Resolution
gemacht worden. Der Sachverhalt war der. Als in der nationalsozialistischen Presse
die Diskussion ueber ein Volksbegehren und Volksentscheid gegen die Preussen-
Regierung begann (damals stand noch nicht fest, wer das Begehren einleiten wuerde,
NSDAP oder Stahlhelm), machte ich im Sekretariat den Vorschlag,78 dass wir der
Reaktion zuvorkommen sollten und von uns aus ein solches Volksbegehren einleiten
sollten. Gegen diesen Vorschlag wendete sich Gen. Th[älmann] mit der Begruendung,
dass wir nicht die Stimmzahl aufbringen wuerden, die notwendig ist und vor allem,
dass wir damit alle SPD-Arbeiter gegen uns bekommen wuerden und eine erfolgrei-
che Anwendung der Einheitsfront nicht mehr moeglich sei. Darauf wurde ueber diese
Frage vor und waehrend des Volksbegehrens (das dem Volksentscheid vorausgeht)
nicht mehr gesprochen. Unsere Presse nahm Stellung gegen das Volksbegehren des
Stahlhelms und forderte unsere Anhaenger auf, sich nicht daran zu beteiligen.
Als es dann zum Volksentscheid kam, machte Neumann den Vorschlag, wir
sollten uns an dem Volksentscheid des Stahlhelms beteiligen. Ich war einverstanden,
trotzdem das jetzt schwerer [wog?] als wie wenn wir diesen selbst eingeleitet haetten.
Genosse Th[älmann] war gegen diesen Vorschlag mit der gleichen Begruendung wie
frueher, dass das die Einheitsfront mit den SPD-Arbeitern behindere. Nach langem
Hin und Her einigten wir uns, den Vorschlag dem Polbuero zu unterbreiten, ohne
das wir zuvor selbst unsere Meinung dazu sagen, um zu hoeren, wie besonders die
PB-Mitglieder aus der Provinz zu diesem Vorschlag stehen. Im Polbuero sprachen alle
Mitglieder gegen diesen Vorschlag (Ulbricht, Schubert, Schulte, Kaspar [d.i. Willy
Kasper], Heil [d.i. Wilhelm Hein] usw.), worauf festgestellt wurde, dass wir uns nicht
beteiligen sollen. Ein oder zwei Tage nach dieser Sitzung kam ein Telegramm von der
Komintern, dass wir uns unbedingt an dem Volksentscheid beteiligen sollen.79 Darauf
wurde im Sekretariat beschlossen, dass sofort alle Massnahmen zur Aktion der Betei-
ligung durchzufuehren sind. Als wir diese Massnahmen im ZK-Apparat durchfueh-
ren wollten, wendete sich der Leiter der Agitprop, Gen. Lenz [d.i. Josef Winternitz],
sehr scharf gegen Beteiligung. Er schrieb an das Sekretariat einen Brief, in dem er
erklaerte, dass er die Arbeiten dem Agitprop fuer den Volksentscheid nicht durch-
Zörgiebel”) zum Ausdruck kam, sondern vor allem 1931 von der Neumann-Gruppe in Widerspruch
zu den Beschlüssen des ZK als offener Angriff auf den Parteiführer Thälmann unternommen wurde
(Widerstand gegen den Preußen-Volksentscheid, Losungen der Neumann-Gruppe: Zertrümmert den
ADGB, Beitragssperre, „keine Angst bei Gründung roter Verbände“ usw.). Hinzu kommt noch die
hemmende Rolle der Neumann-Gruppe, die in der ideologischen Massenoffensive gegen den Faschis-
mus durch Theorien über die Unvermeidlichkeit der faschistischen Diktatur, Losungen wie „Schlagt
die Faschisten...“, durch Spekulationen auf Niederlagen der Partei in den Wahlkämpfen und durch
aktiven Widerstand gegen die vom Genossen Thälmann geführte ideologische Offensive der Partei
immer wieder Hemmungen bereitete, rückständige Stimmungen der Peripherie der Partei und des
Kleinbürgertums zum Ausdruck brachte (publ. in: Dokumente des ZK der KPD 1933–1945, S. 32‑39).
78 Demnach war es nicht einmal Neumann, der in der Literatur bisher als der eigentliche Urheber gilt.
79 Siehe den Brief Piecks Dok. 266, der dies unterlegt.
Dok. 268: [Moskau], [28.7.1931] 803
fuehren koenne, da diese Aktion falsch sei und er nichts mit ihr zu tun haben wolle.
Genosse Th[älmann] beteiligte sich auch nicht an der Aktion, er ging auf Wochen
nach Hamburg und hielt auch keine Versammlungen ab zum Volksentscheid, sodass
auf meiner Versammlungstour Bezirkssekretaere mich befragten, ob es wahr sei, dass
Th. gegen die Beteiligung waere, was ich natuerlich bestritt. Bezeichnend fuer die
genannte Behauptung ist, dass die Genossen, die sich seinerzeit gegen die Beteili-
gung am Volksentscheid einsetzten, heute gegen mich den Vorwurf erheben, dass
ich Widerstand gegen die Durchfuehrung des Volksentscheides geleistet haette. Auch
gegen diesen Vorwurf kann ich mich nicht anders zur Wehr setzten, als der Kommis-
sion80 den wahren Sachverhalt der damaligen Vorgaenge mitzuteilen.
[...]
Dok. 268
Geheimer Maßnahmenkatalog der Komintern über die
Konspiration und den Kampf „gegen Provokation und
Verrätertum“
[Moskau], [28.7.1931]81
Geheim.
Fragen der Konspiration und der Kampf gegen Provokation und Verrat.
I. In einer ganzen Reihe von Sektionen ist es um die Konspiration sehr schlecht
bestellt.82 Grobe Verletzungen der Grundregeln der Konspiration wiederholen sich
ständig aufs Neue.83 [...]
80 Es handelt sich um die Kommission zur Untersuchung der Fraktionsarbeit in der KPD.
81 Nicht spezifizierte Vorlage, vermutlich des Politsekretariats des EKKI, ohne Datum. Registrations-
vermerk vom 28.7.1931.
82 Es wird zwar keine kommunistische Partei explizit aufgeführt, die Maßnahmen zielten jedoch ge-
rade auch auf die KPD. Die Gestapo selbst sah in den V-Männern von ehemaligen und noch aktiven
Kommunisten ihre wichtigste Quelle, die in der KPD im Vergleich zu den anderen linken Organisati-
onen besonders hoch gewesen ist (Grundmann: Der Geheimapparat der KPD, S. 95–99). 1930 wurden
70 NS- und Polizeispitzel, allein im Januar/Februar 1931 wurden weitere 6 NS-Spitzel enttarnt, für
1937 bspw. ca. 25 nachgewiesen (Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD,
S. 255). Seit 1919 gab die KPD-Zentrale sog. Spitzel-Almanache heraus, die den Fahndungsbüchern der
Polizei nachempfunden waren (letztmals für 1930/1931), seit 1924 sog. von der MP-Abteilung heraus-
gegebene Evidenzlisten, die die Namen und Fotos der enttarnten Spitzel, Denunzianten und sonsti-
ger „Parteischädlinge“ enthielten (Ibid., S. 134–135, 283f.; der Almanach 1925 in: Staatsbibliothek zu
Berlin, Fc 8061/415).
83 1932 denunzierte ein ehemaliger Komintern-Sekretär scharf das Ausmass der polizeilichen Infil
tration der KPD, die viel stärker war, als in den von der KPD gerade deshalb ins Visier genommenene
804 1929–1933
II. Alle Sektionen werden verpflichtet, auf Basis ihrer Erfahrungen sowie der anderer
Sektionen Maßnahmen zum Kampf gegen Nicht-Konspirativität, Verrat und Provoka-
tion zu ergreifen, wobei als Grundlage folgende Punkte aufgestellt werden müssen:
1. Der Kampf gegen alle Erscheinungen von Nicht-Konspirativität, vor allem
gegen Geschwätzigkeit, muss verstärkt werden; der Sicherheit von [konspirativen]
Treffpunkten und Adressen muss mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden; in der
Korrespondenz dürfen schlechte Chiffren, allgemein bekannte Methoden der chemi-
schen Schrift in konspirativen Fragen, usw. nicht zur Verwendung kommen.
2. Die Anzahl der Untergrundverbindungen von verantwortlichen leitenden Par-
teiarbeitern muss auf ein notwendiges Minimum gesenkt werden.
3. Über die Untergrunddruckereien darf nur eine begrenzte Personanzahl (1–2)
informiert sein. Sollte mehr als das notwendige Minimum von den Untergrunddru-
ckereien wissen, so muss der Standort dieser Druckereien unverzüglich geändert
werden.
4. Es ist unerlässlich, den Parteiapparat im Untergrund zu überprüfen sowie
durch bewährte und ausreichend überprüfte Genossen zu verstärken.
5. Eine größere Vorsicht bei der Auswahl von Parteiarbeitern bei der Kommandie-
rung von Genossen in die Parteischulen ist notwendig.
6. Die Apparate zur Durchführung des Grenztransfers von Parteiarbeitern müssen
dort, wo sie zu aufgebläht sind (bspw. [in] Finnland, Lettland), reduziert werden.
7. Der Grenztransfer von Genossen, die aus politischen Gründen ins Ausland emi-
grieren, muss von den Routen, auf denen Parteiarbeiter ins Ausland fahren, separiert
werden.
8. Die Verantwortung sowohl für die Organisierung von Transporten [von Gütern],
als auch für den Transfer von Parteiarbeitern über die Grenze, muss einzelnen Genos-
sen übertragen werden.
9. Den Politemigranten unter den Parteimitgliedern ist das Führen von Korrespon-
denz mit Parteimitgliedern und Jungkommunisten, die in ihrem Heimatland leben,
wie auch generell private Korrespondenz zu Parteiangelegenheiten, zu untersagen.
10. Entsprechende Maßnahmen sind durchzuführen, damit verdächtige Perso-
nen, die aus dem Ausland [in die Sowjetunion] kommen, sich nicht in Moskau, Lenin-
grad oder dem Grenzgebiet niederlassen können.
kleineren linken Parteien und Organisationen. Alfred Kattner, der technische Sekretär des ZK und
vermutlich auch Wilhelm Hein, Kandidat des Politbüros, arbeiteten 1933 im unmitelbaren Umkreis
Thälmanns. Allerdings meint Peukert: „Die schon von Zeitgenossen oft kolportierte Auffassung, die
KPD sei mit Spitzeln und Verrätern durchsetzt gewesen, ist in dieser Allgemeinheit unzutreffend.“
(siehe u.a.: Gerhard Jahn (Hrsg.): Herbert Wehner: Zeugnis, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1982, S.
144ff.; Bahne: Die KPD und das Ende von Weimar, S. 43; Detlev Peukert: Die Kommunistische Partei
Deutschlands im Widerstand: Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhein und Ruhr 1933–1945, Wup-
pertal, Hammer, 1980, S. 96, 124ff.; Helmuth Warnke: „Bloß keine Fahnen“. Auskünfte über schwieri-
ge Zeiten 1923–1954, Hamburg, VSA, 1988, S. 41).
Dok. 268: [Moskau], [28.7.1931] 805
84 ML steht in diesem Fall für Meždunarodnaja Leninskaja, also „Internationale Lenin“-Schule.
85 LOKUNMZ – russische Abkürzung für: Leningradskaja sekcija Kommunističeskogo universiteta
nacionalʼnych menʼšinstv Zapada, die Leningrader Abteilung der Kommunistischen Universität für
die nationalen Minderheiten des Westens, gegr. 1922 (finnische, lettische und estnische Sektoren der
KUNMZ – russ. Kommunističeskij universitet nacionalʼnych menʼšinstv Zapada (Bayerlein: Das neue
Babylon, S. 250)).
86 KUTV – russ. Kommunističeskij universitet trudjaščichsja Vostoka, Kommunistische Universität für
die Arbeiter des Ostens.
87 Hier und im weiteren Verlauf des russischen Originaldokuments werden die Geheimpolizeien
mit der vorrevolutionären umgangssprachlichen Bezeichnung für die russischen Geheimpolizei,
„ochranka“, bezeichnet.
806 1929–1933
20. Wenn an einer bestimmten Stelle die Verbindung einer Organisation mit Pro-
vokateuren und ihre enge Beziehung zu Verrätern aufgedeckt wird, muss dort die
Zusammensetzung der Organisation überprüft werden [...] (im äußersten Fall ist diese
Organisation aufzulösen).
21. Allen Gerüchten über Provokationen muss gründlich nachgegangen werden. [...]
23. Da in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Anstieg der Arbeitslosig-
keit die Geheimdienste ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Arbeitslosen gerichtet
haben, um unter Ausnutzung ihrer schwierigen materiellen Lage in ihren Kreisen Pro-
vokateure und Spitzel anzuwerben, ist es notwendig, eine äußerste Wachsamkeit auf
die Arbeitslosenarbeit zu lenken, um unter ihnen die provokatorische Tätigkeit der
Geheimdienste zu entlarven.
24. Zur Selbstverteidigung gegen Provokationen und zur Entlarvung von Provoka-
teuren und Verrätern werden alle Sektionen verpflichtet, eine Spionageabwehr auf-
zubauen, die in keinem Fall, sei es auch nur zur Aufklärung, Parteimitglieder in die
Geheimpolizei entsenden darf. In der Regel werden in dieser Weise abkommandierte
Parteimitglieder von der Atmosphäre der Geheimpolizei aufgesogen und so nach
einer gewissen Zeit selbst zu Agenten der Geheimpolizei.
25. Alle Sektionen werden verpflichtet, eine Broschüre über Fragen der Kon
spiration, über die Verhaltensmaßregeln nach einem Parteikongress sowie über den
Kampf gegen Provokation und Verrat herauszugeben. [...]
Das russische Politbüro beschloss am 28.7.1931, anlässlich der Verhandlungen mit Frankreich die
Bestellungen entsprechend der mit Deutschland geschlossenen Vereinbarung abzuschließen.88
Am 5.8.1931 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit den sowjetischen Presse-
berichten zur Wirtschaftslage in Deutschland. Höchstwahrscheinclich im Zusammenhang mit laufen-
den Wirtschaftsverhandlungen wurde den Redaktionen von Pravda und Izvestija nahegelegt, in einem
gemäßigteren Ton über die Wirtschaftslage in Deutschland zu berichten.89 Am 15.8.1931 beschloß
das Politbüro auf Bitte des Allunions-Volkswirtschaftsrats, die Verhandlungen mit dem deutschen
Kali-Syndikat auf Dezember 1931 zu verschieben.90 Am 25.8.1931 wurden Massnahmen gegen Fir-
men beschossen, die Nachlässigkeit gegenüber den sowjetischen Bestellungen an den Tag legten.91
Am 10.9.1931 beschloss das Politbüro, Direktiven an die als Mitglieder der sowjetisch-deutschen
Schlichtungskommission zum Handelsvertrag mit Deutschland bestallten Funktionäre zu erstellen.92
Am 14.9.1931 erfolgt ein neuer Beschluss zu Deutschland – diesmal allerdings über aus dem Sowjet-
territorium abgeschobene Deutsche, deren Gelderträge vom veräußerten Eigentum, bis auf wenige
Ausnahme abgesehen, laut Beschluss einbehalten werden sollten.93 Am 5.10.1931 wurde dieser Be-
schluss bestätigt.94
88 RGASPI, Moskau, 17/162/10, 131–134. Publ. in: Adibekov u.a.: Politbjuro i Evropa, S. 253–254.
89 RGASPI, Moskau, 17/162/10, 138. Publ. in: Ibid., S. 254–255.
90 RGSASPI, Moskau, 17/162/10, 161.
91 APRF, Moskau, 3/64/659, 158. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 247.
92 RGASPI, Moskau, 17/162/11, 1; APRF, 3/64/660, 6. Publ. in: Ibid., Dok. 253.
93 RGASPI, Moskau, 17/162/11, 7–8; APRF, 3/64/660, 14. Publ. in: Ibid., Dok. 256.
94 RGASPI, Moskau, 17/162/11, 21.
Dok. 269: Moskau, 16.9.1931 807
Dok. 269
Resolution der Komintern zur Legitimierung des „Roten
Volksentscheids“ in Deutschland
Moskau, 16.9.1931
Vertraulich.
Der Volksentscheid über die Auflösung des Preussischen Landtages, an dessen Spitze
die SPD. steht, zeugte vom wachsenden politischen Einfluss der KPD., deckte mit
grösster Schärfe das Verwachsen der SPD. mit dem bürgerlichen Staatsapparat auf
und war ein weiterer Anstoss für die Verschärfung der Klassengegensätze in Deutsch-
land. Die Volksentscheidkampagne bestätigte in vollem Umfang die Linie des XI.
Plenums des EKKI., dass „der erfolgreiche Kampf gegen den Faschismus von der
KP die Mobilisierung der Massen auf dem Boden der Einheitsfront von unten gegen
alle Formen der bürgerlichen Diktatur, gegen alle ihre reaktionären Massnahmen,
die der offenen faschistischen Diktatur die Wege ebnen, verlangt.“ (Thesen des XI.
Plenums) Durch ihre Beteiligung am Volksentscheid hat die KPD. die konsequente
Durchführung der Taktik „Klasse gegen Klasse“97 praktisch verwirklicht, indem sie
die SPD.-Theorien des „geringeren Uebels“, die betrügerische sozialdemokratische
Phraseologie über Kampf gegen den Faschismus entlarvte. Der gegen Faschismus
und zugleich gegen die SPD. gerichtete Volksentscheid enthüllte vor den breitesten
werktätigen Massen die Rolle der sozialdemokratischen Regierung Severings, als der
heute wichtigsten Stütze der Brüning-Regierung, als der Regierung der Durchführung
der faschistischen Diktatur.
Das Pol.-Sekretariat konstatiert, dass die Ergebnisse des Volksentscheids ein
bedeutender Erfolg der KPD. sind.98
Das wichtigste Resultat des Volksentscheids besteht darin, dass die Hegemonie
in der Bewegung gegen die volksfeindliche Politik des Monopol-Kapitals in Deutsch-
land und gegen die sozialdemokratische preussische Regierung in den Händen der
KPD. lag. Der von den Faschisten eingeleitete Volksentscheid, die damit den dema-
gogischen Zweck verfolgten, ihre Positionen durch ein oppositionelles Manöver zu
festigen, änderte vollkommen seinen Charakter durch Einmischung der Kommunis-
tischen Partei, die ihn zu einer Kampfwaffe gegen die demokratischen Illusionen der
Massen und die Theorie des „kleineren Uebels“ machte, zu einer Massenmobilisie-
rung gegen den Faschismus, gegen die Offensive des Kapitals auf die Lebenshaltung der
werktätigen Massen, gegen die SPD., diese soziale Hauptstütze der deutschen Bour-
geoisie in ihrem Kampf um den kapitalistischen Ausweg aus der Krise. Durch Entfal-
tung des revolutionären Klassenkampfes auf dem Boden konkreter Forderungen der
werktätigen Massen hat es die KPD. vermocht, die Faschisten zu zwingen, ihre schein-
radikale antikapitalistische und Anti-Versailles-Demagogie aufzugeben. Der kommu-
nistischen Gefahr gegenübergestellt, haben sich die Faschisten unverzüglich offen in
die gemeinsame Einheitsfront der bürgerlichen Reaktion eingereiht. Die bedeuten-
den Massen der kleinen Bauern und des städtischen Kleinbürgertums, die ihnen bis
dahin Gefolgschaft leisteten, hatten nunmehr die Möglichkeit, sich praktisch davon
zu überzeugen, dass die Faschisten eine blosse Agentur des Monopol-Kapitals sind,
die KP. aber – die einzige Partei der nationalen und sozialen Befreiung Deutschlands.
Das Ergebnis des Volksentscheids in allen bedeutenden Industriebezirken Preus-
sens zeigt, dass die KP. es verstanden hat, den parlamentarischen Illusionen in der
Arbeiterklasse, die von der SPD genährt und ausgeschlachtet werden, einen ernstli-
chen Schlag zu versetzen.99
Die KP. hat es einerseits vermocht, sich über den Kopf der Faschisten hinweg
an bedeutende werktätige Schichten von Stadt und Land zu wenden, andererseits,
bedeutende sozialdemokratische und reformistische Gewerkschaftsmassen vom kon-
terrevolutionären Charakter der Politik des „kleineren Uebels“ zu überzeugen.
99 Zu diesen und ähnlichen Erklärungsversuchen kommentierte Trotzki: „Ja – als [revolutionäres]
Sprungbrett wäre der Volksentscheid vollauf gerechtfertigt. Ob neben den Kommunisten auch Fa-
schisten abstimmen oder nicht, würde jede Bedeutung verlieren in dem Augenblick, wo das Proleta-
riat durch seinen Vorstoß die Faschisten niederwirft und die Macht in seine Hände nimmt. [...] Man
muß nur die Möglichkeit haben, den Sprung tatsächlich zu machen, nicht in Worten, sondern in Wirklich-
keit. Das Problem ist also das Kräfteverhältnis. Auf die Straße gehen mit der Losung ‚Nieder mit der
Brüning-Braun-Regierung!‘, wenn – aufgrund des Kräfteverhältnisses – diese Regierung nur durch
eine Regierung Hitler-Hugenberg ersetzt werden kann, ist reines Abenteurertum. Die gleiche Parole
bekommt jedoch einen völlig anderen Sinn, wenn sie zur Einleitung des unmittelbaren Kampfes des
Proletariats um die Macht wird. Im ersten Falle müßten die Kommunisten den Massen als Helfershelfer
der Reaktion erscheinen; im anderen würde die Frage, wie die Faschisten gestimmt haben, bevor sie
vom Proletariat zerschmettert wurden, alle politische Bedeutung verlieren.“ (Leo Trotzki: Gegen den
Nationalkommunismus:
Lehren des „Roten“ Volksentscheids, 25.8.1932, Berlin, A. Grylewicz, 1932. Publ.
in: Id. Schriften über Deutschland, Bd. 1, S. 113ff.; https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotz-
ki/1931/08/natkomm.htm.
Dok. 269: Moskau, 16.9.1931 809
Das Ultimatum der KPD. und die Antwort Severings und der SPD. hat den Arbei-
tern Deutschlands und darunter auch bedeutenden sozialdemokratischen Arbeiter-
schichten gezeigt, dass die SPD. direkt der Verbündete des Monopol-Kapitals und
seiner Politik der Ausplünderung der werktätigen Massen ist, dass sie die direkte
Schuld an Hunger, Elend und Erwerbslosigkeit trägt. Aus den Erfahrungen dieser
Kampagne ersahen die Massen die Verteilung der Klassenkräfte und haben sich prak-
tisch davon überzeugt, dass es ohne Isolierung der SPD. keinen siegreichen Kampf
gegen den Faschismus und die Offensive des Kapitals geben kann. Dies lehrte sie die
Einheitsfront Hugenberg-Severing-Seydewitz-Brandler [sic!]. Die schmählich zusam-
mengebrochenen Versuche des Sozialfaschismus, seine „linksradikalen“ Gruppen
zur provokatorisch-demagogischen Ausnützung der „demokratischen“ Illusion der
Massen gegen die KP. zu gebrauchen, nötigten ihn zur offenen Polizeigewalt, zur Ent-
ziehung der „demokratischen“ Freiheiten der Arbeiter zu greifen und damit seinen
wirklichen Block mit dem Faschismus zu enthüllen. Die linken Sozialdemokraten
mussten sich selber offen entlarven als Puffer zwischen KP. und sozialdemokrati-
schen Arbeitermassen. Die Renegaten – Brandlerianer und Trotzkisten – entlarvten
sich als direkte Agentur des Sozialfaschismus.
Die Bedeutung des Volksentscheids besteht darin, dass die KP. trotz des bru-
talsten Polizeiterrors, unter dem die Volksentscheidskampagne vor sich ging, trotz
Verbots der Kommunistischen Presse, der revolutionären Versammlungen und der
Demonstrationen es vermocht hat, in einer kurzen Zeit ihre Kräfte zu mobilisieren, wo
durch sie einen hohen Grad von Manövrierfähigkeit gezeigt hat. Zugleich hat aber die
Volksentscheidskampagne noch einmal die Hauptschwäche der KPD. in der gegen-
wärtigen Etappe gezeigt: Das ernstliche Zurückbleiben der Positionen der KPD. in
den Betrieben hinter dem allgemeinen Wachstum der Partei. Das offenbarte sich in
einer Reihe von Fällen in der bei weitem ungenügenden Abwehr der demagogischen
Hetze und der Angriffe der Sozialdemokraten in den Betrieben. Die Agitationsarbeit,
die infolge der überhaupt verspäteten Kampagne der KPD. für den Volksentscheid
mit grosser Verspätung eingesetzt hatte, konnte sich auf kein genügend starkes Orga-
nisationssystem in den Betrieben stützen. Die ganze Volksentscheidskampagne war
mit dem Kampf in den Betrieben gegen den räuberischen „Selbsthilfe“-Plan der deut-
schen Bourgeoisie in ungenügendem Masse verbunden.
Dies ist umso wichtiger, als die entscheidende Bedeutung der Volksentscheid-
kampagne nicht in der Abstimmung selber lag, sondern in der ausserparlamentari-
schen Organisierung der Massen zur Vorbereitung des deutschen Proletariats auf die
endgültige Abwehr des von der deutschen Bourgeoisie mit Hilfe des Sozialfaschismus
vorbereiteten „grossen Plans“ der Offensive auf die Lebenshaltung der Werktätigen
unter der Flagge der „Selbsthilfe“. Die Beteiligung der KPD. am Volksentscheid war
eine vorbereitende Kampagne der revolutionären Vorhut zu den sich in Deutschland
entfaltenden grossen Kämpfen zwischen Arbeit und Kapital. Die wütende Attacke,
die die SPD. heute gegen die KP. führt im Bestreben, sie um jeden Preis in die Illega-
lität zu treiben, ist Ausdruck der Angst der SPD.-Führer vor den nahenden grossen
810 1929–1933
SPD. mit dem Faschismus gegen die kommunistische Avant-Garde vorbereitet.100 Die
Entlarvung dieser konterrevolutionären Rolle der II. Internationale wird die Krise der
deutschen Sozialdemokratie beschleunigen und die Front der proletarischen Revolu-
tion in Deutschland stärken.
Dok. 270
Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über die
Vorschläge des preußischen Innenministers Severing zur
Aufhebung des Verbots der KPD-Presse
[Moskau], 25.9.1931
Angehört:
6. Erklärung des Gen. Manuilski.
Beschlossen:
100 Auf dem Wiener Kongress der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) vom 25.7.1931–1.8.1931
vertraten 664 Delegierte ca. 6.200.000 Mitglieder. Haupttagesordnungspunkte waren „Der Kampf um
die Abrüstung und gegen die Kriegsgefahr“ (L. de Brouckère); „Die Lage in Deutschland und Zentral-
europa und der Kampf der Arbeiterklasse um die Demokratie“ (O. Bauer) sowie „Die Weltwirtschafts-
krise und die Arbeitslosigkeit“ (R. Grimm). Auf dem Kongress ergab sich eine prinzipielle Debatte
über die Tolerierungspolitik der SPD in Deutschland und die Sinnfälligkeit einer wirtschaftlichen Un-
terstützung Deutschlands als Mittel gegen den drohenden Abfall in den Nationalsozialismus, was be-
sonders Otto Bauer verteidigte. Dagegen forderten linke Teile um die englische ILP und des „Bunds“
nun den „Endkampf zum Sturz des Kapitalismus, um die Millionen deutscher Arbeiter vor den Folgen
der Wirtschaftskrise zu retten. Die daraufhin verabschiedete maßgeblich von Otto Bauer formulierte
Kompromißresolution war zugleich der letzte Beschluß der Internationale vor der Machtergreifung.
Sollten die kapitalistischen Klassen – hieß es in der Resolution – „die mitteleuropäische Wirtschaft
und die mitteleuropäische Demokratie untergehen lassen (...); wenn im Gefolge einer solchen Ka-
tastrophe der deutschen Wirtschaft in ganz Europa östlich vom Rhein faschistische Gewalt der Ar-
beiterklasse ihren demokratischen Kampfboden entreißt, dann wird der Arbeiterklasse kein anderer
Ausweg bleiben, als der Gewalt des Faschismus alle ihre Machtmittel entgegenzuwerfen. Die Welt
hat keine andere Wahl mehr als diese; entweder eine sofortige und großzügige internationale Aktion
zur Rettung der Wirtschaft, der Demokratie und des Friedens oder die Katastrophe und den Bürger-
krieg.“ (zit. in: Braunthal: Geschichte der Internationale, 2, S. 386. Vgl. Otfried Dankelmann: Der Wie-
ner Kongreß der SAI 1931 zur Lage in Deutschland. In: O. Dankelmann, J. Glasneck, I. Kircheisen, W.
Kowalski (Hrg.): Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie, Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg, 1980, 4, S. 24–38).
812 1929–1933
101 Nach der Veröffentlichung in der Roten Fahne vom 17.9.1931 eines Solidaritätstelegramms mit
meuternden englischen Seeleuten und der Bekundung zur Unterstützung eines Aufstands wurden
seitens des preußischen Innenministers das Zentralorgan und weitere Parteiblätter verboten (Der
vom Berliner Polizeipräsident Grzesinski unterzeichnete vierwöchige Verbotserlass erschien als Aus-
gabe der Roten Fahne vom 18.9.1931). Innenminister Severing verband jedoch eine Aufhebung des Ver-
bots mit einer öffentlichen Erklärung des Verlags, in der der möglicherweise entstandene Eindruck
bedauert würde, es habe eine „Aufreizung zur Nichtbefolgung deutscher Gesetze“ stattgefunden. Das
Sekretariat der KPD erklärte sich zunächst mit der Befolgung der Bedingungen zur Staatstreue einver-
standen und sandte ein entsprechendes Telegramm nach Moskau. Die Politkommission lehnte jedoch
bereits am 22.9.1930 das Ansinnen ab. Drei Tage später wurde von höchster Stelle, durch das Politbüro
des ZK der KP der Sowjetunion – unter Anwesenheit von Pjatnitzki und Knorin, die hier abgedruckte
kategorische Ablehnung beschlossen (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 282–286, hier irrtümlich der
21.9. für die Rote-Fahne-Veröffentlichung).
102 Die Meuterei von ca. 1000 Seeleuten der Britischen Atlantik-Flotte in Invergordon, Schottland
gegen die im Rahmen der Großen Depression vorgenommenen Kürzungen durch die „nationale Re-
gierung“ („The Invergordon Mutiny“, 15–16.9.1931) im September 1931, war einer der wenigen Streiks
von Militärs in der britischen Geschichte. Im Telegrammmanifest der KPD hieß es: „Mit Freude und
Begeisterung haben die revolutionären Arbeiter Deutschlands die Kunde vernommen, dass Tausende
von Matrosen der englischen Kriegsflotte das Banner der Meuterei gegen Staat und Regierung erho-
ben haben. Lasst Euch durch die sozialdemokratischen Führer vom Schlage Macdonalds und Hen-
dersons nicht irreführen, Setzt kühn und entschlossen die Meuterei fort. Fügt Euch keiner Disziplin.
Verweigert den Gehorsam. Leistet keinem Befehl Eurer reaktionären Offiziere folge. Entwaffnet sie
und jagt sie von den Schiffen, wenn sie frech werden. [...] Es lebe die Meuterei der englischen Matro-
sen! [...] Es lebe die kommunistische Weltrevolution! (Telegramm des ZK der KPD an die meuternden
Matrosen Englands, Die Rote Fahne, 17.9.1931).
103 In diesem Zusammenhang wurde in Moskau das Szenario eines neuen 4. August 1914 und eines
Übergangs der KPD in das Lager des Klassenfeindes entworfen. Kaganovič teilte Stalin brieflich seine
Sorge über die KPD mit: „Einen sehr unangenehmen Eindruck erweckt die Tatsache, dass das Sekre-
tariat des ZK der deutschen Partei auf der Annahme der Bedingungen Severings besteht. Pjatnitzki
berichtete, dass es darüber hinaus auch andere Tatsachen dieser Art gebe. [...] Ist dies nicht ein An-
zeichen schwerwiegender Vorgänge in der deutschen Partei?“ (Brief Kaganovičs an Stalin, 26.9.1931,
RGASPI, Moskau, 558/11/739, 129–135. Publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S. 120).
In der entscheidenden Phase vor Hitlers Machtantritt und der Etablierung des NS-Systems verzichtete
die KPD darauf, allerdings unter Berufung auf die Moskauer Beschlüsse, öffentlich den Sturz Hitlers
oder den Aufstand zu fordern (siehe Dok. 305 u.a.).
Dok. 271: [Moskau], 16.10.1931 813
b) Dem ZK der KPD vorzuschlagen, eine Massenkampagne für die Aufhebung des
Verbots der Roten Fahne u.a. verbotener kommunistischer Zeitungen zu entfalten.
Auszüge versandt an: Gen. Manuilski, Pjatnitzki.
Am 30.9.1931 beschloß das Politbüro der KP der Sowjetunion, den stellvertretenden Volkskommissar
für Binnenhandel, Izrail’ Vejcer nach Deutschland zu entsenden, um angesichts der Valutakrise die
sowjetischen Exporte nach Deutschland zu intensivieren. Zugleich sollten die Importe in die Sowjet-
union gedrosselt werden. 104
Am 5.10.1931 befaßte sich das Politbüro der KP der Sowjetunion mit einem Schiff unter deutscher
Flagge, das in Archangel’sk aufgehalten und als ursprünglich sowjetisches Eigentum beansprucht
wurde. Das Politbüro erklärte sich bereit, der deutschen Regierung 10.000 Mark „für den Umbau [...]
des russischen Dampfschiffes“ zu zahlen, falls diese ihre Besitzansprüche an dem Schiff aufgebe.105
Dok. 271
Instruktionen des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der
Komintern an die KPD zur Verstärkung der Erwerbslosenarbeit
[Moskau], 16.10.1931
Vertraulich
Werte Genossen!
Ausgehend aus der Perspektive der weiteren Verschärfung der Wirtschaftskrise und
der rapide Wuchs der Erwerbslosigkeit [...] muss festgestellt werden, dass auf diesem
Gebiet nicht nur kein Umschwung vorhanden ist, sondern die Erfolge, die die Partei
zur Zeit des XI. Plenums zu verzeichnen hatte, im Zusammenhang mit der weiteren
Zuspitzung der Lage zu stagnieren begann und zum Teil auch Rückschläge zu ver-
zeichnen hat.107 Am krassesten kam diese Erscheinung zum Ausdruck beim Verlauf
des Erwerbslosentages am 15. Juli. Bei einer äusserst günstigen politischen Situation,
wo der Erwerbslose zum ersten Mal auf Grund der Juni-Notverordnung die herabge-
setzte Arbeitslosenunterstützung ausbezahlt bekamen, wo die Lage sich besonders
zuspitzte, durch die Bankkrache und durch den Sturm der Sparer auf die Sparkassen,
muss der Verlauf des Erwerbslosentages sowohl politisch, wie organisatorisch als
Misserfolg bewertet werden.
Wenn bis jetzt die Initiative in der Erwerbslosenbewegung in Deutschland sich
in unseren Händen befand, haben wir letztens seitens der Sozialfaschisten, in klei-
nerem Masse auch seitens der Nazi, Versuche in der Erwerbslosenbewegung Fuss zu
fassen festzustellen. Wenn die SPD ihre Zustimmung zu allen Verschlechterungen
der Lage der Erwerbslosen gegeben hat, und erst vor einigen Tagen die Kürzung der
Unterstützungszeit von 26 auf 20 Wochen gebilligt hat, versucht sie diesen Schritt
durch angebliche Erhaltung der Unterstützungssätze und durch eine Kampagne für
Nothilfe durch Versorgung mit Kartoffeln und Kohlen die 1 ½ Millionen freigewerk-
schaftliche Erwerbslose zu täuschen. Diesem Zweck diente auch der soeben veröffent-
lichte gemeinsame Aufruf des A.D.G.B. und christlichen Gewerkschaften.108
Die objektiven Bedingungen zu einer breiten Entfaltung der Erwerbslosenbewe-
gung im Sinne des Widerstandes gegen die Verschlechterungen der Unterstützung,
wie auch zum Uebergang zum Gegenangriff unter den Losungen des Arbeitsbeschaf-
fungsprogramms war[en] nie so günstig wie jetzt. Es gilt nur die Mängel, Passivität
und Schwächen zu beseitigen um die Bewegung ins Rollen zu bringen. Die Erwerbs-
losigkeit ist weiter im Wachsen, zu Zeit sind 69% aller Erwerbslosen aus der Versi-
cherung ausgesteuert und den Krisen und Wohlfahrtsunterstützungen überwiesen
worden.109 Der systematische und rücksichtslose Abbau der Unterstützungen ist von
der Regierung auf grund des ungenügenden Widerstands der Arbeiterklasse leicht
durchgeführt worden. In den letzten zwei Jahren betraf der Abbau zirka 20% und sank
durchschnittlich von 78,50 Mk. 1928 bis 50 Mk. im August 1931, aber der Generalan-
griff kommt erst. Die Liquidierung der Geldunterstützung und Übergang zu Naturel-
unterstützung [sic] wird die Lage der Erwerbslosen mit einem Schlage ungeheuer ver-
schlechtern. Die Gefahr der generellen Aufhebung der Erwerbslosenunterstützung ist
ren.“ (Rundschreiben an alle Bezirksleitungen und Redaktionen, 24.8.1929. In: Weber/Wachtler: Die
Generallinie, S. 37–49, hier: S. 43ff.; vgl. Arthur Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer
Republik, Frankfurt am Main, Europäische Verlagsanstalt, 1955, S. 467f.; Rose-Marie Huber-Koller:
Die kommunistische Erwerbslosenbewegung in der Endphase der Weimarer Republik, Frankfurt am
Main, 1977).
108 Ebenfalls 1931 im Auftrag des ADGB ausgearbeitete und auf dem sog. „Krisenkongress“ am
14.4.1932 beschlossene Arbeitsbeschaffungs- und Konjunkturprogramme wurden durch die Haltung
der Brüning-Regierung blockiert. Zur Politik des ADGB unter dem Präsidialkabinett Brüning siehe:
Erich Matthias, Klaus Schönhoven (Hrsg.): Solidarität und Menschenwürde. Etappen deutscher Ge-
werkschaftsgeschichte Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn, Verlag Neue Gesellschaft, 1984,
S. 187–207, S. 233–253.
109 „Aussteuern“/„Aussteuerung“: Bei diesem vornehmlich in der Schweiz benutzten Begriff handelt
es sich um das Erlöschen des Anspruchs auf Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung.
Dok. 271: [Moskau], 16.10.1931 815
mit der Herausnahme des Ruhrbergbaus aus der Versicherung auf die Tagesordnung
gestellt. Die Pläne der Regierung, die die Unterstützung der Reformisten und Nazi
findet, die darauf hinausgeht, die Erwerbslosen aus den Städten herauszuholen und
auf dem flache Lande anzusiedeln um sie auf das niedrigste Lohnniveau der Landar-
beiter herabzudrücken, zeigt wohin der Weg geht. Die Gefahr der Zweiteilung auch
unter den Erwerbslosen bei unserer ungenügenden Aktivität wird immer grösser. [...]
Deshalb wurde die Bewegung seitens der Partei und der RGO politisch und orga-
nisatorisch ungenügend ausgenützt. Es genügt anzuführen, dass im November 1930,
als der Stand der Erwerbslosigkeit 4 Millionen erfasste, [...] die Partei und die RGO
ein Netz von 2000 Erwerbslosenausschüssen geschaffen [hat], während im August
1931 bei einer Steigerung um 1 Million Erwerbslose, sogar eine Rückgang der Erwerbs-
losenausschüsse festzustellen ist. In den 14 ausschlaggebenden Bezirken hatte die
Partei im August 1931 1260 Erwerbslosenausschüsse, wenn die Partei in 4500 Ort-
schaften Parteiorganisationen hat, wenn die Partei in ihren Reihen mindestens
120.000 Erwerbslose Parteimitglieder zählt und die Zahl der registrierten Erwerbslo-
sen durch die RGO auch 120.000 beträgt, und da unter den registrierten Mitgliedern
der RGO Zehntausende parteilose Erwerbslose sind, ist es klar, dass viele Tausende
Kommunisten in der Erwerbslosenbewegung nicht herangezogen sind.
1. Im Vordergrund steht der Kampf gegen die Aufhebung der Erwerbslosenversi-
cherung, die durch die Notverordnung im Ruhrgebiet angedeutet wurde und gegen
die Aufhebung der Geldunterstützung geführt werden muss. In diesem Kampf der
Erwerbslosen müssen die Betriebe herangezogen werden. Der Kampf für die Beibe-
haltung der Geldunterstützung muss verbunden werden mit der Forderung der Ver-
sorgung der Erwerbslosen für den Winter mit Kartoffel, Kohlen, Kleider usw.
2. Die Erwerbslosenmassen müssen mobilisiert werden zum organisierten Wider-
stand gegen die Uebersiedlung der Ausgesteuerten von den Städten auf das flache
Land. Bei dem ersten Versuch, die Exmissionen durchzuführen, müssen Massenwi-
derstand geleistet werden [sic].
3. Es muss sofort herangegangen werden, um ein Netz von Küchen, Speisepunkte,
Teehäuser zu organisieren. Aus einer breiten Entfaltung einer Sammelaktion muss
der Druck auf die Kommunen verstärkt werden. [...]
4. [...] Es muss alles daran gesetzt werden, um die Betriebsarbeiter für den Kampf
der Erwerbslosen zu gewinnen in Form von strengster Kontrolle von Ueberstunden,
Einsetzung von Erwerbslosen und womöglich zu einstündigen Demonstrationsstrei-
ken für die Forderung der Erwerbslosen überzugehen.
3. Um die 1½ Millionen der [in der] reformistischen Gewerkschaft organisierten
Erwerbslosen, die auch zum Teil ausgesteuert werden und Kürzung der Gewerk-
schaftsunterstützung ausgesetzt sind, um die Entlarvung der arbeiterfeindlichen
Maßnahmen zur „Linderung“ der Erwerbslosigkeit (40–Stundenwoche ohne Lohn-
ausgleich) muss der Ausgangspunkt zu einer breiten Einheitsfrontkampagne werden.
6. Im schnellsten Tempo müssen die Erwerbslosenausschüsse ausgebaut werden
um sie in aktiv gewählte mit der Masse verbundene Kampforgane zu verwandeln. Der
816 1929–1933
Am 10.10.1931 fasste das sowjetische Politbüro einen Beschluss „Über den Streik der deutschen See-
leute in unseren Häfen“. Dabei sollte dem deutschen Konsul in Leningrad, der gefordert habe, die
ausgeschlossenen streikenden Seeleute von bereits abgefahrenen Schiffen in seine Verfügungsge-
walt zu überstellen, eine Absage erteilt werden. Die Frage der Verprügelung des deutschen Konsuls in
Odessa durch streikende deutsche Matrosen wurde von der Tagesordnung genommen.110
Ebenfalls am 10.10.1931 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion zum wiederholten
Mal mit der Reise von Pjatakov und Vejcer nach Deutschland zu den Verhandlungen zwecks Ankurbe-
lung der sowjetischen Exporte. Eine Kommission zur Erarbeitung von Direktiven wurde angesetzt.111
Diese Direktiven wurden am 15.10. verabschiedet: Danach sollte Vejcer mit Vertretern einzelner Trusts
nach Deutschland fahren, um mit deutschen Firmen Verträge über Exporte von Sowjetgütern nach
Deutschland für das Jahr 1932 abzuschließen. Parallel sollte Pjatakov mit führenden deutschen In-
dustriellen Kontakt aufnehmen, um ihre Hilfe zu sichern. Es sollte postuliert werden, daß die sow-
jetischen Bestellungen in Deutschland von den sowjetischen Exporten nach Deutschland abhingen.
Dabei sollten u.a. Zollvergünstigungen für sowjetische Waren eingefordert werden. Exportiert werden
sollte Getreide (800 Tonnen aus der Ernte 1931/32, 1700 Tonnen aus der Ernte 1932/33) (!), Holz,
Erdöl, Lebensmittel, Erze und Kohle.112 Am 15.10.1931 wurde Pjatakov zur Auflage gemacht, nicht spä-
ter als am 28.10.1931 nach Deutschland zu fahren, wohin er sich zusammen mit Vejcer begab.113 Als
Ergebnis der Verhandlungen wurden am 22.12.1931 sowjetische Exporte nach Deutschland im Wert
von 750 Millionen Mark vereinbart.
110 AP RF, Moskau, 3/64/677, 8. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 265.
111 RGASPI, Moskau, 17/162/11, 24. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 264.
112 RGASPI, Moskau, 17/162/11, 27–29.
113 RGASPI, Moskau, 17/162/11, 27–29.
Dok. 272: [Moskau], 28.10.1931 817
Dok. 272
Bericht maßgeblicher Komintern-Funktionäre an Stalin und
Molotov über „Einmischungen“ in Angelegenheiten der KPD
seitens der sowjetischen Delegation in der Komintern im Jahre
1931
[Moskau], 28.10.1931
Ungeachtet der von uns vereinbarten Regel, dem ZK der KP Deutschland nur in Fällen
ernsthafter Notwendigkeit politische Anweisungen zu geben, war unsere Interven-
tion im vergangenen Jahr, die Verhandlungen während des XI. Plenums des EKKI
nicht mitgerechnet,115 in den folgenden Fällen erforderlich:
In der Frage des Kampfes gegen die Nationalsozialisten vor den Reichstagswahlen
(auf Vorschlag des Gen. Stalin wurde der Entwurf der Programmerklärung erstellt);116
In der Frage der Bewertung der allgemein-politischen Lage und des Charakters
der Brüning-Regierung im Zusammenhang mit der Feststellung des ZK der KPD, dass
der Faschismus in Deutschland bereits gesiegt habe;117
c) In der Frage des Verhältnisses zur „linken“ Sozialdemokratie im Zusammen-
hang mit der Auslassung der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung im Beschluss des
Politbüros des ZK der KPD im Monat Juni;118
114 Im November 1931 führte die Delegation der VKP(b) im EKKI eine Beratung mit den KPD-Ver-
tretern Thälmann, Neumann und Pieck über die im vorliegenden Dokument aufgeworfenen Fragen
durch. Stalin beharrte in Moskau erneut auf der “Sozialfaschismus“-Politik und generell einer Radi-
kalisierung der Komintern. Nach 1928/1929 handelte es sich um die 2. wichtige Korrektur der General-
linie unter Anleitung Stalins, eine dritte folgte bereits im Mai 1932. Kurz darauf brach der Führungs-
streit in der Partei offen aus (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 294f.).
115 Während der Verhandlungen des XI. EKKI-Plenums wurde die „Klasse-gegen-Klasse-Politik“ im
Rahmen der Verschärfung des revolutionären Prozesses für Deutschland bekräftigt und damit die
weitere Orientierung gegen die Sozialdemokratie. Siehe Dok. 275 u.a.
116 Siehe Dok. 244.
117 In der Roten Fahne vom 2.12.1930 wurde behauptet, mit der Regierung Brüning sei die Zeit der
faschistischen Diktatur in Deutschland angebrochen. Dagegen intervenierte das Politsekretariat des
EKKI nach einem entsprechenden Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion (siehe
Dok. 253).
118 Sie hierzu das Dok. 265, mit dem die KPD dem Druck nachgibt und tatsächlich die linke Sozial-
demokratie als Hauptfeind anerkennt.
818 1929–1933
119 Siehe die ultimative Aufforderung an die KPD infolge eines Beschlusses des Politbüros des ZK
der KP der Sowjetunion, Dok. 270.
120 Werner Hirsch hätte sich als hoher KPD-Funktionär in einem Gespräch mit Joseph Wirth dahin-
gehend erklärt, dass die KPD „an keine ernsthaften Massenkämpfe“ denke. Wirth habe sich darüber,
so Hirsch sinngemäß „sehr befriedigt“ geäußert (Brief Piecks an das ZK-Sekretariat der KPD, 20.8.1931,
RGASPI 495/292/54, 236–241, bes. 240). Hermann Remmele kommentierte später: „Der Exekutivaus-
schuss des deutschen Finanzkapitals ‚erkennt‘ die Führer der KPD als ‚stubenrein‘, als ‚verhandlungs-
würdig‘, als ‚gleichberechtigt‘ an, was die Hirsch und Genossen mit viel Ruhmredigkeit und größter
Freude verkünden“ („Der westeuropäische Kommunismus“. Bericht Remmeles an Stalin und Pjatnitz-
ki, 25.12.1932, RGASPI 508/1/129, 65–136, hier: 119; siehe Dok. 301.
121 Entsprechende Interventionen galten u.a. den Betriebsratswahlen und der Rolle der RGI bzw. der
Roten Gewerkschaften sowie der Kampfausschüsse in den Betrieben (vgl. hierzu: Dok. 258)
122 Zu den mit der KPD befassten Mitgliedern der russischen Delegation im EKKI gehörten Manuil-
ski, Knorin, Pjatnitzki und Kuusinen. Siehe: Alexander Watlin: Die Russische Delegation in der Ko-
mintern. Machtzentrum des internationalen Kommunismus zwischen Sinowjew und Stalin. In: Jahr-
buch für historische Kommunismusforschung (1993), S. 82–99.
123 Vgl.: Ernst Thälmann: Volksrevolution über Deutschland. Rede auf dem Plenum des ZK der KPD.
15.–17. Januar 1931, Berlin, Internationaler Arbeiter-Verlag, 1931. Zum Konzept der „Volksrevolution“
siehe ausführlicher Dok. 262
Dok. 272: [Moskau], 28.10.1931 819
126 Nachdem die SPD-Reichstagsabgeordneten Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz neben 4 weiteren
Abgeordneten am 29.9.1931 wegen Bruchs der Fraktionsdisziplin aus der SPD ausgeschlossen wurden,
gründeten sie die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Rosenfeld und Seydewitz hatten
sich u.a. geweigert, ihre neue Wochenzeitung Die Fackel einzustellen. Das EKKI kritiserte die KPD für
eine zu lasche Haltung gegenüber der SAP und forderte eine klare “Entlarvung“ dieses “Manövers“
(Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 295; vgl. Winkler: Der Weg in die Katastrophe, S. 399–411).
127 Gemeint ist die Volksabstimmung über die Auflösung des Preußischen Landtages am 9. August
1931 (siehe Dok. 264 u.a.).
128 Siehe die inkriminierten Passagen in Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 295.
Dok. 272: [Moskau], 28.10.1931 821
129 Dabei handelt es sich möglicherweise um die Erklärung, in der die KPD-Delegation die von der
Komintern verlangte Bewertung des Faschismus nicht ausreichend auf die Sozialdemokratie orien-
tiert und den Kampf gegen sie und die Brüning-Regierung als Hauptfeinde verschärft habe (und nicht
gegen Hitler). Vgl. Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 203f.
130 Bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg am 27.9.1931 wird die NSDAP mit 26,2% zweitstärkste
Partei nach der SPD mit 27,8% und vor der KPD mit 21,9%. Die bisher regierende Große Koalition unter
Einschluss des Zentrums und der SPD verliert ihre Mehrheit.
822 1929–1933
nutzen. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht unsere Partei zu 80% aus Arbeitslosen. Ledig-
lich 20,8% der Parteimitglieder arbeiten in Betrieben, und an der Ruhr nur 11,7%. Die
bestehenden Betriebszellen sind kaum aktiv. Die Anzahl der Mitglieder der Gewerk-
schaftsopposition, einschließlich der Mitglieder der Roten Gewerkschaften, bewegt
sich etwa bei 300 Tausend Menschen, allerdings entrichteten lediglich 100 Tausend
von ihnen regelmäßig ihre Mitgliedsbeiträge. Die Roten Gewerkschaften haben sich
seit Januar 1931 nicht weiter verbreitet, sondern stagnieren. Nur in der allerletzten
Zeit hat die Partei eine ernstere Aufmerksamkeit auf die Arbeit in den reformistischen
Gewerkschaften gelenkt. Unsere Positionen in diesen Gewerkschaften sind äußerst
schwach geworden. Die Roten Betriebsräte spielen dank ihrer opportunistischen
Praxis und Passivität nicht die Rolle unserer Stützpunkte in den Unternehmen, eine
Folge ungenügender Aufmerksamkeit seitens der Partei und der Gewerkschaftsoppo-
sition. Sie haben unseren Einfluss in den Betrieben nicht umgesetzt. Durch opportu-
nistische Praxis der Teilnahme an Entlassungen von Arbeitern, des fehlenden Wider-
stands gegen die Lohnsenkung usw. haben sie sich häufig dermaßen kompromittiert,
dass eine Wiederherstellung ihres Einflusses bereits ein Ding der Unmöglichkeit
ist. Die Arbeitslosen stellen den allergünstigsten Boden für unsere Arbeit dar, doch
die Partei umfasst nur einen unbedeutenden Teil von ihnen organisatorisch, was
insbesondere deshalb gefährlich ist, weil die Sozialdemokraten mit einer [eigenen]
Erwerbslosenarbeit beginnen.131
All dies erfordert einen entschiedenen Umschwung in der Parteiarbeit, um die
Aufmerksamkeit der Partei insbesondere für die Arbeit in den Betrieben zu verstärken
und die Fehler der Partei in dieser Frage zu beheben. [...]
gesamten Leitungsarbeit der Partei sowie der praktischen Teilnahme des gesamten
Politbüros an den Entscheidungen der Partei aufgeworfen werden.
[Sign.:] Knorin
Manuilski
Pjatnitzki132
Dok. 273
Protestschreiben von KPD-Arbeitern an die Komintern, die aus den
Druckereibetrieben der Partei entlassen wurden
[Düsseldorf], 28.10.1931
An das
Büro der Kommunistischen Internationale
Moskau
Werte Genossen!
Nachdem wir uns in unserer Angelegenheit schon zehnmal an das Z.K. der KPD.
gewandt haben, ohne eine klärende Antwort zu erhalten, sehen wir uns nunmehr ver-
anlasst, uns an Euch zu wenden, in der bestimmten Erwartung, dadurch zu unserer
Rehabilitierung zu kommen.
Zur Sache:
Wir sind mit 6 Genossen und einer Genossin bei den Westdeutschen Buchdruckwerk-
stätten in Düsseldorf, ein Parteiunternehmen, bei dem die Niederrheinisch. Partei-
blätter hergestellt werden, beschäftigt, bezw. beschäftigt gewesen.133 Wir haben den
Parteianordnungen, auch in unbezahlten Ueberstunden in der Druckerei Parteiarbeit
zu leisten, freiwillig Folge geleistet. Jedoch wurde dieses unserer Anerbieten durch
die Geschäftsleitung derart ausgenutzt, dass unsere Genossen 40 bis 50 Stunden
Mehrarbeit leisten mussten, die nicht bezahlt wurden. Ausserdem verrichteten wir als
Parteimitglieder in den Partei- und überparteilichen Organisationen unsere Arbeit.
Dass solche Methoden der Geschäftsleitung zu Kollisionen in der Belegschaft führen
müssen, werdet Ihr verstehen. Wir haben niemals abgelehnt, Ueberstunden im Par-
teiinteresse zu machen. Jedoch werdet Ihr einsehen müssen, dass bei intensiver
132 Anschließend handschriftlicher Vermerk Otto Kuusinens: „Mit dem Text der Notiz einverstan-
den. Kuusinen.“
133 Die Westdeutsche Buchdruckwerkstätten AG in Düsseldorf druckte im Zeitraum von 1924–1933
neben zentralen KPD-Dokumenten und Reden von Parteiführern auch politische Plakate (nachgewie-
sen in: http://www.deutschefotothek.de/documents/wer/04040570).
824 1929–1933
Arbeit wie das gerade im Düsseldorfer Betriebe der Fall ist, eine Ueberstundenschuf-
terei körperlich unmöglich ist. Das hatte auch die Bezirksleitung Niederrhein einge-
sehen, und eine Abstellung der Dinge angeordnet. Dieses wurde von der Geschäfts-
leitung proforma angenommen, aber in der Praxis nicht gehandhabt. Nun setzten die
Schikanen ein, die soweit gingen, dass wir mit Unterstützung der Bezirksleitung aus
der Partei ausgeschlossen wurden. Unsere Einsprüche gegen den Ausschluss, die seit
dem 20. Mai ds. J. bereits laufen, wurden bisher ausser belanglosen Antworten, hin-
ausgezögert. Wir kommen nun zur Spezifizierung der ganzen Angelegenheit.
Wir unterzeichneten blieben bei der Streikverhängung über die Bergische Arbeiter-
stimme in Solingen134 seitens des Deutschen Buchdrucker-Verbandes, der Partei treu
und arbeiteten trotzdem man uns seitens der Reformisten aus dem Verband herauswarf
und uns als Streikbrecher titulierte.135 In dieser Zeit haben wir bewiesen, dass wir gewillt
sind, im Interesse der Partei die grössten Opfer zu bringen. Nach Stillegung des Solinger
Betriebes wurden wir dem Düsseldorfer Betriebe zugeteilt in dem wir seit Juli 1930 tätig
sind und zu dem wir ca. 30 km. mit der Eisenbahn zu fahren haben. Die Fahrtkosten
wurden uns ursprünglich seitens der Geschäftsleitung vergütet, dann aber mussten wir
diese selbst bezahlen. Die Geschäftsleitung verstand es nach kurzer Zeit, durch Intrigen
die Belegschaft gegeneinander auszuspielen, um Lohnkürzungen und sonstige Arbeits-
verschlechterungen durchzuführen, unfähige, dafür aber willfährige Kollegen besser
zu stellen. Eine solche Methode ist nicht kommunistisch und muss zur Diskreditierung
der kommunistischen Bewegung überhaupt führen. Eine Methode dient dann vielleicht
134 Bergische Arbeiterstimme: Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, Sektion der Kom-
munistischen Internationale. – Düsseldorf: Freier Verl.
Zusatz bis 29.1918, Nr. 270: Organ für das arbei-
tende Volk des Kreises Solingen. – 29.1918, Nr. 271–287: offizielles Organ d. Arbeiter- und Soldatenra-
tes. – 29.1918, Nr. 288–294: offizielles Publ.-organ d. Arbeiterrates
ursprünglich Tageszeitung der SPD,
dann der USPD. U.a. war Richard Sorge kurzzeitig Redakteur.
Mikrofilm-Ausg., Berlin, SAPMO-BArch,
1977, Signatur: MF 122.
135 Die Genossenschafts-Buchdruckerei war Heimat der Bergischen Arbeiterstimme. Ausgangspunkt
der Auseinandersetzungen war ein Arbeitskampf in der KPD-eigenen PEUVAG (Papier-Erzeugungs-
und Verwertungs-Aktien-Gesellschaft) bzw. ihren diversen Niederlassungen. Die PEUVAG vereinigte
seit 1924 bis auf wenige Ausnahmen die Druckereien der KPD, vornehmlich diejenigen, die Tageszei-
tungen herstellen, als eigene Filialbetriebe. Leiter der Gesamtorganisation war seit 1925 Willy Lang
rock (1889–1962).. Der hier beschriebene Konflikt mit den eigenenen Setzern und Druckern brach auf
dem Hintergrund des Kampfes gegen die “Rechten und Versöhnler“ aus, die Anhänger von Brandler
und Thalheimer, in dem bis zu 10 000 Parteiausschlüsse erfolgten (Weber: Die Wandlung, S. 186ff.).
Besonders die Politik der „Revolutionären Gewerkschafts-Opposition“, RGO) in den Betrieben wurde
nicht nur von der „Rechten“, sondern von der Mehrheit der Parteioppositionen als spalterisch kri-
tisiert. Zur KPD-Presse siehe: Kurt Koszyk: Deutsche Presse 1914–1945. Geschichte der deutschen
Presse, Teil III, Berlin, Colloquium Verlag, 1973. S. 324ff.; id.: „Die Rote Fahne“, In: Heinz-Dietrich
Fischer (Hrg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach, Verlag Dokumentation, 1972,
S. 391–404 (Publizistik. Historische Beiträge. 2); Herbert Girardet: Der wirtschaftliche Aufbau der
kommunistischen Tagespresse in Deutschland von 1918 bis 1933. Unter besonderer Berücksichtigung
der Verhältnisse im Regierungsbezirk Düsseldorf, Essen, W. Girardet, 1938 (Phil. Diss., Universität
Leipzig 1938, S. 53–56); Weber: Die Wandlung, S. 219ff.
Dok. 273: [Düsseldorf], 28.10.1931 825
den Reformisten dazu, von ihren Schandtaten abzulenken und den Kommunismus mit
diesen Methoden zu identifizieren. Diese Methode, die der Oeffentlichkeit nicht unbe-
kannt geblieben ist, führte dann auch dazu, dass eine Reihe Abbestellung[en] der kom-
munistischen Presse [und] Austritte aus der kommunistischen Partei erfolgten. [...]
Nun zu der Persöhnkeit [sic] des Geschäftsführers Voigt.136 Der Genosse Voigt ver-
bietet sich Genossen gegenüber, als Genosse angeredet zu werden. Er verbietet z. B. im
Betrieb das Rauchen, welches sonst gestattet war, raucht aber selbst im Betriebe. Ein
Belegschaftsmitglied, welches früher Parteigelder unterschlagen hat, wird von Voigt
dazu benutzt die Löhne zu reduzieren um dann nach Durchführung derselben, von
Voigt besonders belohnt zu werden. Auf Vorstelligwerden der Genossen erklärt Voigt,
ja, der ehemalige Genosse tut ja auch heute alles, was ich will. Andere Kollegen macht
er dadurch willfährig, dass er sie zum Faktoren avancieren lässt, trotzdem kurz vorher
ein Betriebsleiter und ein Faktor aus Ersparnisgründen versetzt wurden. Sogar den Lehr-
lingen wurde der Lohn um 6% gekürzt, aber dem ehemaligen Genossen, der Parteigel-
der unterschlug, Lohnerhöhung bewilligt. Zu welchem Zweck? Nur um die Belegschaft
gegeneinander ausspielen zu können. Ein solches willfähriges Element, (als Genossen
kann man solche Leute nicht titulieren) erklärte gegenüber einem schwerkriegsbeschä-
digten Belegschaftsmitglied „kranke Leute können wir in unserem Betriebe nicht gebrau-
chen.“ Ausdrücke Voigts wie: „Schweinhund, Rindvieh, Idiot“ usw. beweisen grade
keine kommunistische Einstellung Voigts. [...] Wir können die Beweise dafür antreten,
dass die willfährigen Elemente Voigts und der Bezirksleitung früher Spitzel gegen die
kommunistische Bewegung waren, die revolutionäre Bewegung bekämpften und wenn
sie sich heute zu solchen unkommunistischen Methoden missbrauchen lassen nur um
ihre materiellen Belange zu sichern, dann werden diese Leute in bestimmten Situatio-
nen auch zu anderen Zwecken käuflich sein. Wir können unsere revolutionäre Tätigkeit
mit Stolz aufzeigen und werden auch in Zukunft derselben treu bleiben ohne welche
Gegenleistung dafür zu erwarten, wie wir es aber auch für selbstverständlich erachten,
gegen Methoden, die geeignet sind die revolutionäre Bewegung zu diskreditieren, vorzu-
gehen und diese zu beseitigen versuchen. In unseren Reihen sind Genossen, die einen
bürgerlichen Betrieb verliessen um gegen geringeren Lohn in dem damals von den Refor-
misten bestreikten Solinger Betriebe im Interesse der Partei Arbeit zu leisten, Genossen,
die mehrmals in den revolutionären Kämpfen ihr Leben in die Schanze schlugen,137
Genossen, die fast ausnahm[s]los der Partei ihre Kraft zur Verfügung stellten und die
schwierigsten und vertrauensvollsten Funktionen übernahmen und durchführten. Das
Aktenmaterial über unseren Fall ist zu Gunsten der BL [Bezirksleitung] und Geschäfts-
leitung ausgearbeitet [...] Wir bitten Euch nun im Interesse einer baldigen Klärung ent-
sprechende Schritte zu unternehmen und uns baldigst Antwort zukommen zu lassen.
Am 3.11.1931 genehmigte das Politbüro der deutschen Botschaft in Moskau, eine Schule für die Kinder
der Botschaftsangehörigen einzurichten. Der Schule, die formell nicht der Botschaft gehören sollte,
wurde jedoch das Recht eingeräumt, nach dem deutschen Volks- und Mittelschulplan zu unterrichten;
der Beschluss wurde am 5.11.1931 offiziell bestätigt.138
Am 10.11.1931 erfolgte ein Beschluss über die Erklärung der Deutschen und das Fehlverhalten der so-
wjetischen Militäraufklärung bezüglich der Trennung von Komintern und sowjetischen Geheimappa-
raten, an dem Berzin, Stalin, Molotov, Vorošilov und Manuilski beteiligt waren. Berzin, der Leiter der
Militäraufklärung, habe die Bestimmungen des ZK vom 8.12.1926 verletzt, er solle seinen Stellvertre-
ter aus Deutschland abberufen. Eine Kommission mit Kaganovič, Vorošilov, Manuilski und Pjatnitzki
solle den genauen Sachverhalt klären.139
Am 20.11.1931 beschäftigte sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion wiederholt mit dem
Streik der Matrosen auf deutschen Schiffen im Hafen von Odessa und dem besagten Zwischenfall um
den verprügelten deutschen Konsul. Es wurde beschlossen, den „Hauptschuldigen“ zu zwei Wochen
Haft und einer Geldstrafe zu verurteilen, womit anscheinend der Matrose Jan Janssen gemeint ist,
der von einem sowjetischen Gericht am 3.12. zur besagten Haftstrafe und der Zahlung von 200 Rubel
verurteilt wird.140
Dok. 274
Beschwerde an den Presseleiter der Komintern über den Umgang
mit dem deutschen Archiv beim Lenin-Institut, Moskau
Moskau, 26.11.1931
Gen.
Tschernin,
im Hause.
Werter Genosse!
Ich erhielt das beiliegende Schreiben vom deutschen Zentral-Agitprop.141 betr. die
Uebersendung von Material aller Art, das für das deutsche Archiv beim Lenin-Institut
untergebracht werden soll.142 In dem Schreiben wird ferner der Vorschlag gemacht,
dass unbedingt ein Genosse zur Verwaltung dieses Archivs bestimmt wird. Ich bitte
Dich, mir mitzuteilen, ob das von Zentral-Agitprop gemacht wird oder ob dazu ein
Antrag an die Kl [eine] Kommission notwendig ist und ob dieser Antrag von Euch
gestellt wird. Meines Wissens lagert noch das gesamte Material, das bisher hierher
geschickt wurde, unausgepackt in Kisten und ist jeglicher Benutzung entzogen. Viel-
141 Die parteioffizielle Bezeichnung der Agitprop-Abteilung des ZK der KPD war „Abteilung Zentral-
Agitprop“.
142 Deutsches Archiv beim Lenin-Institut: Das Lenin-Institut, später Marx-Engels-Lenin-Institut ar-
beitete zur Realisierung seiner ursprünglichen Aufgabe, der Herausgabe der Schriften Lenins, eng
mit der Komintern zusammen. Parallel dazu war das Marx-Engels Institut für die Erforschung der Ge-
schichte des Marxismus und für die Vorbereitung einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke
von Marx und Engels (MEGA) zuständig, in enger Zusammenarbeit mit dem Archiv der Kommunisti-
schen Partei Rußlands. Infolge der Russifizierung und Stalinisierung der VKP(b) geriet die unter dem
Institutsleiter Rjazanov begonnene theoretische Beschäftigung mit dem Marxismus und die Heraus-
gabe der MEGA ins Stocken. Nach der “Säuberung“ Rjazanovs im Jahre 1931 wurde das Institut mit
dem Lenin-Institut fusionniert und später als Institut für Marxismus-Leninismus zum offiziellen Par-
teinstitut der KPdSU und Gralshüter der stalinistischen Ideologie. Hochqualifizierte Mitarbeiter des
Instituts wie Sorin, Adoratskij, Steckij und Rjazanov selbst wurden Opfer der stalinistischen Repressi-
onspolitik (siehe: Vladimir Gavrilovič Mosolov: IMEL. Citadelʹ partijnoj ortodoksii. Iz istorii Instituta
Marksizma-Leninizma pri CK KPSS, 1921–1956, Moskva, Novyj khronograf, 2010; Siegfrid Bahne: Zur
Geschichte der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: Hans-Peter Harstick, Arno Herzig, Hans Pel-
ger (Hrsg.): Arbeiterbewegung und Geschichte. Festschrift für Shlomo Naʼaman zum 70. Geburtstag,
Trier, Karl-Marx-Haus, 1983, S. 146–165; Rolf Hecker: Rjazanov und die erste MEGA, Hamburg, Ar-
gument Verlag, 1997: Jakov G. Rokitanskij, Reinhard Müller: Krasnyj dissident. Akademik Rjazanov.
Opponent Lenina, žertva Stalina. Biografičeskij očerk, dokumenty, Moskva, Izdat. Academia, 1996
(Vremena i nravy. Memuary, pis’ma, dnevniki).
828 1929–1933
leicht weiss man noch nicht einmal genau, wo das Material überhaupt lagert. Eine
Zeitlang lag es auf dem Hofe der Komintern herum. Solltest Du in der Angelegenheit
nicht zuständig sein, dann teile es mir mit. [...]
Dok. 275
Rede Manuilskis im Politsekretariat der Komintern über die
„Volksrevolution“ und den antifaschistischen Kampf
[Moskau], 1.12.1931
MANUILSKI. Die Referate, die wir angehört haben, kann man nicht als befriedigend
bezeichnen: sie haben die Fragen, die die Politkommission vor den Ländersekretaria-
ten gestellt hat, nicht beantwortet. [...]
Weiter, Genossen, die Frage der zwei Welten143 ist aufs engste mit der Frage des
revolutionären Auswegs aus der Krise verbunden. Und warum wird, z.B., in unseren
einzelnen Sektionen die Frage des revolutionären Auswegs aus der Krise so schwach
gestellt, so wenig verarbeitet? Dies spiegelt gerade diese allgemeine Schwäche der
Sektionen, das Unvermögen, die beiden Welten konkret gegenüber zu stellen, wider.
Darin besteht jetzt unsere ungeheuere144 Schwäche. Denn wenn wir die Frage der
beiden Welten richtig zu stellen vermögen würden, könnten wir auch die Frage des
revolutionären Auswegs aus der Krise konkretisieren und mit realem, konkretem
Inhalt füllen.
Weiter, Genossen, könnt Ihr bemerken, dass in der letzten Zeit nach dem XI.
Plenum bei uns in einer Reihe von Parteien die Agitation und Propaganda für die
proletarische Diktatur und den Sozialismus verschwunden ist. Bei uns ist jetzt überall
145 Der Propagandist war eine Monatsschrift für die Propaganda des Marxismus-Leninismus, hrsg.
vom Zentralkomitee der KPD, I (1930) – III (1932), Berlin. Herausgeber war Ernst Schneller. Druck:
Peuvag, Filiale Düsseldorf.
146 Durchgestrichen: „Einhalt“.
147 Durchgestrichen: „Einhalt“.
148 Durchgestrichen: „Einhalt“.
149 Wie es die Aufzeichnungen eines Gesprächs zwischen dem hohen sowjetischen Diplomaten und
späteren Vertreter beim Völkerbund Boris Štejn und dem deutschen Botschaftsrat Twardowski vom
12.12.1931 suggerieren, scheint man bereits Ende 1931 in sowjetischen diplomatischen Kreisen mit
einer „früher oder später“ erfolgenden Machtübernahme gerechnet zu haben (siehe Dok. 275a; vgl.
Slutsch: Deutschland und die UdSSR 1918–1939, S. 65; vgl. Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 313f.).
830 1929–1933
ob der Faschismus nur durch die proletarische Revolution gestürzt werden kann. Wir
sagten, dass man die Diktatur der Bourgeoisie nur durch die proletarische Diktatur
stürzen kann, aber der Angriff des Faschismus kann auch durch Teilkämpfe gestört
werden. Und wir wiesen darauf hin, dass Teilkämpfe möglich sind, denn derjenige,
der den Standpunkt vertritt, dass jetzt der Faschismus nur durch die proletarische
Diktatur gestürzt werden kann, der verfällt auf den Standpunkt Brandlers, dass in der
gegenwärtigen Zeit Teilkämpfe unmöglich sind. [...] Wir finden die Widerspiegelung
dieser Einstellung sowohl im Propagandisten, als auch bei den einzelnen Genossen.
Die vierte Frage – über die Volksrevolution. Ich stelle die Frage gleich so: In
Deutschland hat man sehr viel über die Volksrevolution geschrieben und in dem
Lande, in dem in Verbindung mit dem Angriff des japanischen Imperialismus die
Frage der Volksrevolution gestellt werden sollte – in China spricht man von der Volks-
revolution nicht.155 [...]
Und nun weiter. Wenn die Klassenlinie der proletarischen Revolution verloren
gegangen ist, wenn der Faschismus nur die Kehrseite des revolutionären Prozesses
darstellt, wenn die reaktionäre Bourgeoisie von kommunistischem Bewusstsein
durchdrungen werden und bis zur proletarischen Revolution gebracht werden kann,
wenn der Faschismus den Boden für die proletarische Revolution bereitet, so kann
man unwillkürlich dazu kommen, die Faschisten des Verrats an den Werktätigen,
des Verrats am Sozialismus zu beschuldigen. Aber wann waren denn eigentlich die
Faschisten Sozialisten, wann? Das ist schon zuviel. Das bedeutet tatsächlich die
Schwächung unseres Kampfes gegen den Faschismus und andererseits bedeutet es
ein Nachgeben dem Druck der Kleinbourgeoisie, den sie gegenwärtig auf uns ausübt.
Und weiter, Genossen, die dritte Schlussfolgerung aus diesem Verlust des Klassen-
charakters der Volksrevolution – dieser Druck der Mitläufer sowie der Kleinbourgeoi-
sie äussert sich in gewissen taktischen Verdrehungen. Woher stammen, Genossen,
diese terroristischen Stimmungen in der Kommunistischen Partei Deutschlands?156
155 Mit dem militärischen Überfall Japans auf Mukden und die Mandschurei am 18.9.1931 begann der
japanisch-chinesische Krieg, den die Sowjetunion im Unterschied zum Deutschen Reich verurteilte.
156 Sowohl die staatlichen Repressalien (mit der Drohung eines Parteiverbots), die ökonomische
Verwahrlosungskrise, als auch der Druck der KPD-Mitglieder, sich vor allem gegen die zunehmen-
den gewaltsamen Übergriffe der Nationalsozialisten entsprechend zur Wehr zu setzen („Schlagt die
Faschisten, wo ihr sie trefft!“) schuf eine explosive Lage. Die Fälle von Attentaten und politischen
Morden häuften sich, zu denen der Mord an zwei Polizeihauptleuten auf dem Bülowplatz in Berlin
gehörte, an dem am 9.9.1931 u.a. auch der spätere Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke
beteiligt war. Wie Thälmann später berichtete, wurden er und Heinz Neumann Ende Oktober 1931 in
Moskau von Stalin persönlich verpflichtet, sich für die KPD als Ganzes öffentlich vom individuellen
Terror zu distanzieren (RGASPI 14.5.1932 495/4/188a, 39). Am 10.11.1931 hatte das ZK der KPD eine
Grundsatzerklärung gegen den individuellen Terror verabschiedet, in der es u.a. hieß: „Die strate-
gische Hauptaufgabe der Kommunistischen Partei Deutschlands ist in der gegenwärtigen Periode die
stärkste Entfaltung der revolutionären Massenarbeit, die Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse
für die entscheidenden Kämpfe um ein freies, sozialistisches Rätedeutschland.“ Nach dem Haupt-
feind der „rechten Gefahr“ wird die „linke Gefahr“ „terroristischer Stimmungen“ beschworen: „Das
832 1929–1933
Ist denn die Frage des Terrors und terroristische Stimmungen eine Kampfmethode
des Proletariats? Nein, Genossen. Nur Leute, die Personenkultus treiben, können
diese Methode verteidigen. Das ist ohne Zweifel ein Einfluss fremder Klassen. Das ist
nicht unsere Kampfmethode. Das ist eine Methode der Orgesch,157 Hitlers, aber durch-
aus nicht der kommunistischen Partei. [...]
Zentralkomitee der KPD. ruft allen Parteimitgliedern, allen revolutionären Arbeitern nochmals die
durch die siebzigjährige Erfahrung der marxistischen Arbeiterbewegung unumstößlich bewiesene Tat-
sache in Erinnerung, daß alle anarchistisch-terroristische Bestrebungen nur dazu dienen, die Arbei-
termassen vom wirklichen Klassenkampf abzulenken, die Millionenmassen von der revolutionären
Vorhut abzustossen, Provokateuren jeder Art das schmutzige Handwerk zu erleichtern und der bür-
gerlichen Mordhetze gegen die Kommunistische Partei billige Vorwände zu liefern.“ (Beschluss des
Zentralkomitees der KPD. In: Die Rote Fahne, 13.11.1931).
157 Orgesch: „Organisation Escherich“, republikfeindliche Einwohnerwehr (siehe Dok. 34, 37).
Dok. 275a: [Moskau], 12.12.1931 833
Dok. 275a
Niederschrift des sowjetischen Diplomaten Boris Štejn über eine
Unterredung mit dem deutschen Botschaftsmitarbeiter Fritz von
Twardowski
[Moskau], 12.12.1931
Beim Empfang zu Ehren von Emil Ludwig159 hatte ich ein Gespräch mit Twardowski.
Twardowski fragte mich, wie wir zur letzten Notverordnung160 stehen. Ohne meine
Antwort abzuwarten, sagte er selbst, dass diese Notverordnung zu drei Vierteln gegen
die Internationale Kommission, die zu Zeit in Basel tagt, gerichtet ist.161 Ich fragte
Twardowski, welchen Eindruck er bezüglich der nächsten Aktionen Hitlers habe.
Twardowski fing an, mir ausführlich zu schildern, dass ein Machtantritt Hitlers für
die UdSSR kein Grund zur Besorgnis sein solle. Natürlich, sagte er, seien mit einem
solchen Machtantritt unausweichliche Repressionen gegen die deutsche Kompartei
verbunden, doch diese Frage stehe außerhalb des Rahmens unseres Gesprächs.
Was die sowjetisch-deutschen Beziehungen angehe, so sei es notwendig, daran
158 Fritz von Twardowski (1890–1970) war seit der ersten Hälfte der 1920er Jahre Mitarbeiter der
deutschen Botschaft in Moskau. Die hier erstmals veröffentlichten Aufzeichnungen eines Gesprächs
zwischen dem hohen sowjetischen Diplomaten und späteren Vertreter beim Völkerbund Boris Štejn
und dem deutschen Botschaftsrat Twardowski vom 12.12.1931 stellen eine Kontinuität zu der von
Bratmann bereits ein Jahr vorher, im Dezember 1930, geäußerten Einschätzung dar (Dok. 254a). Sie
lassen vermuten, dass man seitens der sowjetischen Diplomatie mit der Machtübernahme der Natio-
nalsozialisten rechnete (Slutsch: Deutschland und die UdSSR 1918–1939, S. 65; vgl. Hoppe: In Stalins
Gefolgschaft, S. 313f.).
159 Der deutsche Schriftsteller Emil Ludwig besuchte Ende 1931 die Sowjetunion, wo er auch eine
Unterredung mit Stalin hatte (Stalin: Werke, Bd. 13, S. 93–109). In dem überlieferten Gespräch fragte
Ludwig: „In letzter Zeit machen sich bei einigen deutschen Politikern ernste Befürchtungen bemerk-
bar, dass die Politik der traditionellen Freundschaft zwischen der UdSSR und Deutschland in den
Hintergrund gedrängt werden könnte.“ Stalin antwortete: „Wir waren nie die Garanten Polens und
werden es nie werden, ebenso wie Polen nicht der Garant unserer Grenzen war und es auch nicht sein
wird. Unsere freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland bleiben dieselben wie bisher. Das ist
meine feste Überzeugung.“ (Ibid., S. 103–104).
160 „Notverordnung“ im Original deutsch in kyrillischer Schrift.
161 In Basel im August 1931 gebildete Kommission u.a. der britischen und amerikanischen Gläubi-
gerbanken des Deutschen Reiches, das aufgrund der Bankenkrise keine Kredite mehr im Ausland zur
Schuldentilgung erhielt. Ein zunächst für ein halbes Jahr festgesetztes Stillhalteabkommen bedeute-
te ein Moratorium für die Schuldenzahlungen. Eine Notverordnung zwang die deutschen Schuldner
zum Beitritt.
834 1929–1933
zu erinnern, dass die Nationalsozialisten nichts ohne die Reichswehr und gegen
den Willen der Reichswehr machen können. Dabei gebe es keine Zweifel, dass die
Reichswehr keinerlei Veränderung der Politik gegenüber der UdSSR zulassen werde.
Er, Twardowski, hege diesbezüglich keinerlei Zweifel. Während seines letzten
Deutschlandaufenthaltes habe er eine Reihe von Gesprächen mit nationalsozialisti-
schen Funktionären geführt und habe sich davon überzeugt, dass sie nichts gegen die
UdSSR planen. Zum Anderen sei auch die Logik der Wirtschaftsbeziehungen zwischen
Deutschland und der UdSSR eine solche, dass an irgendwelche Veränderungen nicht
zu denken sei. Es sei jetzt schon zu wenig, zu sagen, dass Deutschland und die UdSSR
zu gleichen Teilen an der Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen
ihnen interessiert seien. Es müsse aufrichtig gesagt werden, dass Deutschland daran
in einem viel größeren Maß als die UdSSR interessiert sei. Die neusten Ereignisse im
Bereich der Regulierung des Außenhandels einer Reihe von Staaten, der englisch-
französische Zollkrieg usw. haben gezeigt, dass der Weg nach Westen für den deut-
schen Export als entweder verschlossen oder in höchstem Maße eingeschränkt ange-
sehen werden müsse. Zugleich sei die Existenz Deutschlands ohne einen wachsenden
Export unmöglich, ganz gleich wie die Reparationsfrage gelöst werden möge. Dies
sei sowohl unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Krise, als auch im Falle ihrer
Überwindung korrekt. Der Hauptweg des deutschen Exportes führe Richtung Osten.
Dabei habe die UdSSR eine Reihe von Möglichkeiten und verfüge daher über eine
größere Manövrierfreiheit. Die Verhandlungen in Berlin haben Twardowski davon
überzeugt, dass die deutsche Seite eine ausreichend klare Vorstellung über die Frage
habe, und zweifellos alles tun werde, um der UdSSR die Verwirklichung ihrer Exporte
zu erleichtern, da sie vortrefflich verstehe, dass ohne dies die Entwicklung deutscher
Exporte unmöglich sein werde. Natürlich werde es in naher Zukunft im Bereich der
Kreditvergabe zu gewissen Engpässen kommen, doch dieser Umstand hänge nicht
davon ab, welche Gruppen an der Macht sein würden, und sei auch keineswegs von
politischen Sympathien oder Antipathien diktiert, sondern von strengen wirtschaftli-
chen Notwendigkeiten.162
Ich antwortete kurz, dass ich mich freuen würde, wenn die Wertschätzung der
Entwicklung sowjetisch-deutscher Wirtschaftsbeziehungen, die T[wardowski] geäu-
ßert habe, sich durch konkrete Handlungen manifestieren würde. Was das Problem
der Kredite angehe, so habe T[wardowski] selbst bereits dargelegt, wie wichtig dieser
Punkt für die Ausweitung deutscher Exporte in die UdSSR sei. Ich habe zu dieser
Frage nichts hinzuzufügen.
162 Der am 24.6.1931 unterzeichnete Berliner Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Sowje-
tunion wurde maßgeblich auf Druck von Brüning nicht ratifiziert. Gleichwohl war „(…) die Situation
in den Jahren der Weltwirtschaftskrise […] für die bilateralen Beziehungen sogar günstiger als in den
früheren Jahren. Das bestätigte die militärtechnische Zusammenarbeit […] sowie der sich zunehmend
erweiternde Handel (…).“ (Slutsch: Deutschland und die UdSSR, S. 60).
Dok. 275a: [Moskau], 12.12.1931 835
ren würde. Der zweite Fehler bestünde darin, dass man sich unsere Übereinkunft mit
Frankreich zu einfach vorstelle. Wir haben unseren Wunsch, eine Übereinkunft mit
Frankreich und Wege zur Herstellung friedlicher Beziehungen mit ihm zu finden, nie
verheimlicht, und werden ihn auch nicht verheimlichen. Deutschland tue im Übrigen
dasselbe, und da dies nicht auf Kosten der UdSSR geschehe, haben wir uns nie gegen
eine solche Fragestellung ausgesprochen. Entsprechendes verlangten wir auch von
Deutschland. Man solle jedoch nicht vergessen, dass auf dem Wege einer franzö-
sisch-sowjetischen Verständigung noch viele Schwierigkeiten lägen. Wir nähmen
an, dass die Überwindung dieser Schwierigkeiten eine beträchtliche Beruhigung der
angespannten Atmosphäre in ganz Europa mit sich bringen würde. Der dritte Fehler
schließlich bestehe in der Aussage, dass wir „bereit seien, ein Opfer in Form eines
Paktes mit Polen darzubringen“. Damit brächten wir kein „Opfer“, denn wir hätten
niemals vorgehabt, Polen anzugreifen. Andererseits stelle unsere Bestrebung, mit
Polen einen Pakt abzuschließen, keine Neuigkeit für Deutschland dar. Diese „Neu-
igkeit“ sei bereits fünf Jahre alt, und mir sei unverständlich, warum sie ausgerechnet
zum jetzigen Zeitpunkt eine solche Unruhe auslöse. Wir haben stets erklärt, dass wir
alles tun werden, um einen Krieg zu vermeiden. T[wardowski] wisse, wie angespannt
die aktuelle Atmosphäre sei und welche Gefahr von „Theorien“ ausgehe, die im Krieg
einen Ausweg aus der Krise sehen. Alles, was der Schwächung der Umsetzung solcher
Theorien in die Wirklichkeit dienlich sei, werde von uns getan; doch dies könne keine
Widersprüche seitens Deutschlands hervorrufen.
T[wardowski] sagte abschließend, dass er persönlich die Unruhe und Nervosi-
tät, die Berlin gegenwärtig verspüre, nicht teile, und dass die von mir vorgebrachten
Argumente seinerseits keinen Widerspruch hervorriefen.
Der Botschafter reist am 13. um 2 Uhr nachmittags an.
/B. Štejn/166
4 Ex. 8.
– an Gen. Litvinov
– an Gen. Krestinskij
– nach Berlin
– an 2. Westabt[eilung] [des NKID?]
166 Boris Štejn (1892–1961) war Leiter der 2. Westabteilung des sowjetischen Außenkommissariats
und später Diplomat in der UNO.
Dok. 276: [Moskau], 14.12.1931 837
Dok. 276
Entwurf eines Briefes der Politkommission der Komintern an alle
Sektionen zur Gedächtniskampagne für Lenin, Liebknecht und
Luxemburg
[Moskau], 14.12.1931167
Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen, deutsch. RGASPI, Moskau, 495/4/157,
107–116. Erstveröffentlichung.
12975/2I[B]./Ha.
A.d.Russ. 14.12.31.
Entwurf eines Briefes an die Sektionen der KI zu der Gedächtniskampagne für Lenin,
Liebknecht, Luxemburg!
Werte Genossen!
Die Lenintage (Januar 1932)168 erlangen unter den gegenwärtigen Bedingungen eine
ungeheure Bedeutung als eine breite Kampagne für die Ausrüstung der Proletarier-
und Halbproletariermassen in Stadt und Land mit den geschichtlichen Erfahrungen
des Bolschewismus, für die Mobilisierung ihrer revolutionären Aktivität um die aktu-
ellen Aufgaben der Komintern und ihrer Sektionen.
Das agitatorische Gerüst der gesamten Kampagne muss der Kampf fuer den Sieg
des revolutionaeren Auswegs aus der Krise, fuer den Sturz der Kapitalistenherrschaft
und den Triumph des Sozialismus in der ganzen Welt, die revolutionäre Verteidigung
des sozialistischen Aufbaus und der chinesischen Revolution als der groessten Errun-
genschaften des Weltproletariats und der groessten Denkmaeler, die Lenin, Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht aufgerichtet wurden, durch die vereinigten Kraefte der
Werktaetigen aller Laender sein. [...]
Die Geschichte legt den Kommunistischen Parteien die Verpflichtung auf, diese
Massnahmen auf dem sichersten, erprobtesten Weg zum Siege zu führen, sie im
169 Die Losung ist eine populäre Zusammenfassung Lenins aus den Marxschen Thesen über Feu-
erbach. „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Ge-
danke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des
Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.“
(W. I. Lenin: Was tun?. In: Id.: Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 379).
170 Die von Rosa Luxemburg personifizierte unabhängig-linkssozialistische und spartakistische Tra-
dition wurde 1931 durch den apodiktischen Brief Stalins an die Zeitschrift Proletarskaja Revoljucija
gegen den „halbtrotzkistischen und parteifeindlichen“ Historiker Sluckij im Heft 6/1931 als „Luxem-
burgismus“ in ein neues Feindbild umgedeutet (siehe: Stalin: Über einige Fragen der Geschichte des
Bolschewismus. Brief an die Redaktion der Zeitschrift Proletarskaja Rewoluzija, Nr. 6 (113), 1931. In:
Stalin: Werke, XIII, S. 425–38). Die Stalinschen Vorgaben sollten KPD und Komintern gegen die „Ein-
führung als Schmuggelware von brandleristischen und trotzkistischen Waren“ schützen (ibid.). Unter
der Führung Thälmanns wurde Stalins falscher historischer Vergleich als Maxime zur Liquidierung
des theoretischen Erbes Luxemburgs umgesetzt. In einer Stellungnahme schrieb Trotzki: „Wahrlich,
Stalin hat allen Grund, Rosa Luxemburg zu hassen. Umso größer ist unsere Verpflichtung, die Erinne-
rung an Rosa Luxemburg von Stalins Verleumdung rein zu halten, die von besoldeten Funktionären
beider Hemisphären wiederholt wird; umso mehr ist es unsere Pflicht, diese wahrlich unvergleichli-
che heroisch-tragische Gestalt den jungen Generationen des Proletariats in all ihrem Glanz und ihrer
großen erzieherischen Kraft zu überliefern.“ (Leo Trotzki: Hände weg von Rosa Luxemburg!, Prinkipo,
28.6.1932. In: Permanente Revolution. Wochenschrift der Linken Opposition der KPD, Nr. 15, 23. Juli 1932.
Abgedruckt in: Leo Trotzki: Schriften über Deutschland, I, S. 323–334).
Dok. 276: [Moskau], 14.12.1931 839
171 Im Artikel sprach Stalin zunächst nur von „Fehlern prinzipiellen und historischen Charakters“.
172 Stalin vermischt hier bewusst die Zeiträume, zum Vorwurf, Lenin habe gegen Luxemburg die
Spaltung der II. Internationale durchsetzen müssen, schrieb Trotzki: „Um eine derartige Behauptung
aufzustellen, muß man in Fragen der Geschichte der eigenen Partei und vor allem des ideellen Ent-
840 1929–1933
erschwerte die Furcht der „Linken“ vor der Spaltung und die verspaetete Schaffung
einer selbstaendigen Kommunistischen Partei den Weg des Proletariats ausserordent-
lich im Kampfe um die Macht.
Es muss die Richtigkeit des Standpunktes Lenins und seiner Kritik der zentris-
tischen Fehler der „Linken“ in der vorkriegszeitlichen II. Internationale aufgezeigt
und es muessen alle Versuche der heutigen „Linken“ (Brandlerianer und Trotzkis-
ten), den Bolschewismus als eine nur fuer die „zurueckgebliebenen“ Ostlaender taug-
liche Waffe, den Luxemburgismus aber als den konsequentesten Bolschewismus, die
einzige, des vorgeschrittenen Proletariats hinzustellen, entlarvt werden. [...]
Es muss klargemacht werden, dass die KI und die breiten proletarischen Massen
das Gedaechtnis Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, als grosser Revolutionaere,
stets in Ehren halten werden, denn sie haben, trotz ihrer ideologischen Fehler, den
Weg der II. Internationale – wenn auch mit einiger Verspaetung – aber endgueltig
verlassen, sind den Weg der proletarischen Revolution gegangen und sind sozialde-
mokratischen Moerdern zum Opfer gefallen – eine Tatsache, die sie fuer alle Zeiten
dem Proletariat und dem Kommunismus geweiht hat.
Die Januarkampagne muss auch ausgenutzt werden, um im Zeichen bolsche-
wistischer Selbstkritik bei einzelnen Genossen eine Reihe von Fehlern und falschen
Einstellungen aufzudecken, deren Wurzel in der Hauptsache in Ueberresten des
Luxemburgianismus [sic] zu suchen sind. Zu solchen Fehlern gehoert z. B. die falsche
Beurteilung der gegenwaertigen Krise und die damit zusammenhaengenden falschen
taktischen Einstellungen. Unter dem Einfluss der Krise beginnt die rechtsopportunis-
tische Ueberschaetzung der kapitalistischen „Stabilisierung“ und die Unterschaet
zung der gegenwaertigen Krise (im besonderen die Theorie der „Ausnahmestellung
Amerikas“) der trotzkistischen Theorie der Ausweglosigkeit, der „Unmoeglichkeit“
fuer die Bourgeoisie einen Ausweg aus der heutigen Krise zu finden, platzzuma-
chen. Diese, besonders von den linken Sozialdemokraten entwickelte Theorie, findet
manchmal ihren Weg auch in die kommunistische Presse.173
wicklungsganges von Lenin ein völliger Ignorant sein.“ Und weiter: „Lenin kannte die Irrtümer Rosa
Luxemburgs besser als Stalin, aber es ist kein Zufall, daß er den alten russischen Zweizeiler ‚Wohl
traf’s sich, daß des Adlers Flug ihn niedriger, als Hühner fliegen, trug, doch fliegen Hühner nie auf
Adlershöh’n!‘ gerade auf Rosa Luxemburg anwandte. Genau das ist es! Und darum sollte Stalin seine
ressentimentgeladene Mittelmäßigkeit besser im Zaum halten, wenn er mit Menschen vom Range
Rosa Luxemburgs zu tun hat.“ (Leo Trotzki: Hände weg von Rosa Luxemburg, S. 323, 329).
173 Im Vorwort zu seiner scharfen Analyse der Situation in Deutschland schrieb Trotzki im Januar
1932: „Der russische Kapitalismus erwies sich infolge seiner außerordentlichen Zurückgebliebenheit
als schwächstes Glied der imperialistischen Kette. Der deutsche Kapitalismus offenbart sich in der
gegenwärtigen Krise aus dem entgegengesetzten Grunde als das schwächste Glied: Er ist der fortge-
schrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die
innere dynamische Kraft der Produktivkräfte Deutschlands ist, desto mehr wird sie durch das euro-
päische Staatensystem erdrosselt, das dem Käfig-System einer zusammengeschrumpften Provinzme-
nagerie gleicht.“ (Leo Trotzki: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, Berlin, Linke
Dok. 276: [Moskau], 14.12.1931 841
Die Theorie der „vollen Ausweglosigkeit“ haengt mit der falschen luxemburgiani-
schen Beurteilung des Imperialismus zusammen, mit der Ueberschaetzung der Spon-
taneität und der Unterschaetzung der Rolle des subjektiven Faktors. Diese Theorie der
„Ausweglosigkeit“ fuehrt zu fatalistischen Stimmungen, schwaecht die Wachsamkeit
und Kampffaehigkeit der revolutionären Avantgarde und ist so einerseits Wasser auf
die Muehlen der opportunistischen Passivitaet und der Taktik des „Selbstgesche-
hens“, andererseits dient sie aber der Rechtfertigung „linker“ anarchistischer Ueber-
treibungen. [...]
Zum Kampf gegen diese und andere Fehler (Genosse Thaelmann verweist in
seinem Artikel174 auf manche Auslegung der Losung „Volksrevolution“ in Deutschland
als vorbereitende Etappe der proletarischen Revolution, Vertuschung der fuehrenden
Rolle des Proletariats und seiner Partei in der Volksrevolution, Gegenueberstellung
von Faschismus und Sozialfaschismus) muessen im Rahmen der Januarkampagne
die groessten Anstrengungen fuer eine tiefgehende Durcharbeitung aller aktuellen
politischen Probleme gemacht werden. Werden wir diese Arbeit durchfuehren, so
werden die KI-Sektionen ihre Kaders ideologisch festigen, eine erfolgreiche Mitglie-
derwerbung („Leninaufgebot“)175 durchfuehren und sich fuer die Loesung der vor
ihnen stehenden Kampfaufgaben in hoeherem Masse geruestet erweisen.176
Am 8.12.1931 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über Verhandlungen mit Deutsch-
land, die über das Volkskommissariat für Außenhandel liefen.177
Opposition der KPD, Anton Grylewicz. Übersetzung von J. Frankel, 1932, publ. in: Id: Schriften über
Deutschland, Bd. I, S. 180–307
174 Hierzu auch Dok. 262.
175 Das „Lenin-Aufgebot“ für neue junge Parteimitglieder wurde unmittelbar nach Lenins Tod aus-
gerufen und bereits auf dem XIII. Parteitag im Mai 1924 erfolgreich bilanziert. Kritiker Trotzki schrieb
dazu: „Gleichzeitig mit der Theorie vom Sozialismus in einem Lande wurde für die Bürokratie die
Theorie in Umlauf gesetzt, dass im Bolschewismus das Zentralkomitee alles, und die Partei nichts
sei. Die zweite Theorie wurde jedenfalls mit mehr Erfolg verwirklicht als die erste. Sich Lenins Tod
zunutze machend, rief die regierende Gruppe zum ‚Lenin-Aufgebot‘. Die Tore der Partei, sonst so
sorgfältig gehütet, wurden jetzt sperrangelweit geöffnet: Arbeiter, Angestellte, Beamte strömten in
Massen herein. Die politische Absicht war, die revolutionäre Avantgarde aufzulösen in menschliches
Rohmaterial ohne Erfahrung, ohne Selbständigkeit, aber von altersher gewohnt, sich der Obrigkeit zu
unterwerfen. Das Vorhaben gelang.“ (Leo Trotzki: Verratene Revolution, S. 98).
176 Ende Dezember verabschiedete die Politkommission der Komintern noch weitaus schärfere In
struktionen an die KPD, siehe Dok. 279.
177 RGASPI, Moskau, 17/162/11, 81.
1932
Dok. 279
Instruktion der Politkommission der Komintern an die KPD mit der
neuen Rosa Luxemburg-Interpretation Stalins
[Moskau], 2.1.19321
Vertraulich.2
Werte Genossen!
Der schonungslose unversöhnliche Kampf gegen die Sozialdemokratie, diese soziale
Hauptstütze der Bourgeoisie, ist die entscheidende Voraussetzung für die Eroberung
der Mehrheit der Arbeiterklasse und für den revolutionären Kampf gegen die Dikta-
tur der Bourgeoisie unter der Führung der Kommunistischen Partei. Die Kommunis-
tische Partei Deutschlands hat der Sozialdemokratie in Entwicklung des revolutionä-
ren Kampfes der Massen, durch die Entlarvung der Sozialdemokratie und durch die
Durchführung der Einheitsfronttaktik bereits eine Reihe ernster Schläge versetzt und
erobert erfolgreich die Arbeiter für sich. Die Abstellung einer Reihe, zu verschiede-
nen Zeiten begangener, politischer und prinzipieller Fehler hat die Kampffähigkeit
der Partei erheblich gesteigert. Die Sozialdemokratie versucht, die antifaschistische
Stimmung der Arbeitermassen irrezuführen, die Massen von den Aktionen unter
Führung der KPD fernzuhalten und den Angriff der Kommunistischen Partei durch
ein doppelt geartetes Manöver abzuwehren: einmal versucht sie durch das Geschrei
über Hitler die Aufmerksamkeit der Massen von ihrer eigenen Politik der Unterstüt-
zung der Durchführung der faschistischen Diktatur abzulenken; zweitens ist sie
bestrebt, durch „Einheitsfront“-Manöver die Herstellung der wirklichen Einheits-
front der Arbeitermassen unter der Führung der Kommunisten zum revolutionären
Kampf zu hintertreiben. Eine wirkliche, den Arbeitermassen verständliche Entlar-
vung dieses gefährlichen Manövers der SPD ist jetzt die allerdringendste Aufgabe der
KPD. Ihr habt dafür zu sorgen, dass es jetzt wirklich gelingt, alle Organisationen und
Mitglieder der Partei zu bewegen, in bewusster, richtiger und geduldiger Weise diese
Entlarvung der SPD in Angriff zu nehmen. Die Gruppen der Seydewitz, Brandler,
der Trotzkisten, Urbahns u. a. sind ein integrierender Bestandteil der konterrevolu-
3 In ihrer Ausrichtung gegen die Sozialdemokratie als Hauptfeind kontrastiert die Instruktion auffäl-
lig mit der noch im Dezember geäußerten Kritik Manuilskis (siehe Dok. 275).
4 Im württembergischen Unterreichenbach schlossen sich die KPD- und SPD-Ortsgruppen im Dezem-
ber 1931 zu einer „Vereinigten Arbeiterpartei“ zusammen (Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in
der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt, Wissenschaftli-
che Buchgesellschaft, 1996, S. 373; siehe dort auch weitere Beispiele der Annäherung zwischen Kom-
munisten und Sozialdemokraten an der Parteibasis).
844 1929–1933
5 Der Brief Stalins gegen den „Luxemburgismus“ „Über einige Fragen der Geschichte des Bolsche-
wismus“ (siehe Dok. 276).
6 Stalins Brief wurde am 22.11.1931 mit einer knappen, unsignierten Einleitung in der „Roten Fahne“
publiziert (Stalin über den Kampf gegen Zentrismus. In: Die Rote Fahne, 22.11.1931, S. 3). Über einen
Monat später publizierte das ZK eine umfangreichere Stellungnahme zum Stalin-Brief, in dem die
Bedeutung für die KPD betont wurde (Der Brief des Gen. Stalin und die KPD. In: Die Rote Fahne,
8.1.1932, S. 3–4). Möglicherweise war das „Falsche“ an der ursprünglichen Einleitung lediglich ihr
geringer Umfang.
7 Der marxistische Theoretiker Fritz Sternberg (1895–1963), Gründungsmitglied der SAPD, übte öf-
fentlich scharfe Kritik an der Sozialfaschismusdoktrin und der Gewerkschaftspolitik der KPD (siehe:
Herbert Ruland: Analyse und Strategien zur Verhinderung und Überwindung des Faschismus in den
Schriften Fritz Sternbergs. In: Helga Grebing (Hrsg.): Fritz Sternberg (1895–1963). Für die Zukunft des
Sozialismus, Köln, Bund-Verlag, 1981, S. 76–117, hier v.a. S. 100–106).
Dok. 280: [Moskau], 3.1.1932 845
tion gegen diesen Beschluss sind Signale, die ernste Aufmerksamkeit erheischen.8
[...]
Politkommission.
Dok. 280
Notiz eines Referenten der Organisationsabteilung der Komintern
über die Darstellung der Militärpolitik in der KPD-Presse
[Moskau], 3.1.1932
Im Laufe der Jahre 1930/31 sind in der KPD-Zeitschrift Oktober eine Reihe von Artikeln
über Verteidigungsfragen der SU erschienen.10 Diese Artikel versuchen richtigerweise
das Proletariat kapitalistischer Staaten für die Verteidigung der UdSSR zu mobilisie-
ren und konkrete Formen der Hilfe zu bewerten, die das ausländische Proletariat der
UdSSR erweisen soll sowohl im Kampf gegen die Bedrohung eines Interventionskrie-
ges als auch in dessen Entwicklung. Doch aufgrund des Inhaltes und der Zusammen-
8 Der Weddinger Jugendverband opponierte gegen den „Beschluss des Zentralkomitees der KP.
Deutschlands“ gegen den individuellen Terror vom 10.11.1931 (siehe Dok. 275) (Die Rote Fahne,
13.11.1931 und GdA, S. 558f.). Die Weddinger Reaktion beleuchtete, dass auch weiterhin eine Orientie-
rung auf den „wehrhaften Abwehrkampf“ vorhanden war und gezielte terroristische Aktionen durch-
geführt wurden (siehe: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 249f.).
9 Titel handschriftlich auf deutsch eingefügt. Die wehrpolitische Zeitschrift Oktober erschien als ille-
gales „Militärpolitisches Mitteilungsblatt“ von 1928 bis zu ihrer Einstellung durch eine nicht zuletzt
auf terroristische Annäherungen zurückzuführende Verfügung der Komintern Ende 1931 (Kaufmann/
Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 248). In Artikeln von Hermann Dünow
wurde bspw. das Attentat auf den Berliner Polizisten Kuhfeld am 30.6.1931 als Beginn „neuer Kampf-
formen“ und „Anklänge an den Partisanenkampf“ legitimiert (K. F. [d.i. Hermann Dünow]: Die Taktik
in der jetzigen Situation. In: Oktober (1931), Nr. 4 (zit. in: Ibid., S. 249) oder „Zwang kann nur durch
Zwang, Terror nur durch Terror gebrochen werden. Das um seine Befreiung kämpfende Proletariat
wird nicht jenen folgen, die Passivität und unzulässige Tolerierung predigen, sondern jenen klassen-
bewussten Revolutionären, die das Gebot der Stunde aussprechen: Organisierung des wehrhaften
Kampfes, Organisierung des Massenterrors zur Niederbrechung des Faschisten- und Polizeiterrors.“
(A.N.: Individueller und Massenterror im Kampf gegen die bewaffnete Staatsmaschine. In: Oktober
(1931), Nr. 4, zit. in: ibid., S. 249).
10 Die betreffenden Artikel siehe: Ernst Schneller, Kurt Wagner: Die militärische Verteidigung der
Sowjetunion. In: Oktober (1930), Nr. 1–4; „Moritz“: Die Verteidigung der SU mit allen Mitteln. In: Ok-
tober (1930), Nr. 5.
846 1929–1933
stellung seiner Argumentation begibt sich die Zeitschrift auf einen politisch heiklen
Weg, der der Sache der Verteidigung der Union nicht wenig schaden kann.
Die Autoren beschränken sich nicht darauf, die Fragen der Verteidigung der
[Sowjet-]Union in allgemeinpolitischer Perspektive zu betrachten, beschränken sich
nicht auf die Vorbereitung der proletarischen öffentlichen Meinung auf ein mögli-
ches Überschreiten der Grenzen zum Zwecke der Selbstverteidigung durch die Rote
Armee auf das Territorium ihrer Gegner, sondern beginnen auch die möglichen mili-
tärischen Kräfte des Geg[ners] der UdSSR zu analysieren, geben Charakteristiken ein-
zelner Länder, bewerten Grenzgebiete der UdSSR und der Nachbarländer als mög-
liche Kriegsschauplätze, analysieren das Verhältnis sowohl der Land- als auch der
Seestreitkräfte, erwähnen mögliche operative Ausrichtungen der Tätigkeiten sowohl
der Feinde der UdSSR als auch der Roten Armee und drücken in ihren Schriften die
Meinung der militärpolitischen Kreise der Roten Armee aus, mit denen die Autoren
der Artikel, Ernst SCHNELLER, WAGNER (Otto Braun), KURT FISCHER (die beiden
letzteren waren Hörer der Militärakademie) Kontakt haben.
Dies enthüllt unseren Feinden unzweifelhaft in einem gewissen Maße unsere
Absichten und erleichtert ihre Orientierung über unsere Vorhaben, da die Zeitschrift
Oktober nicht unserer Zensur unterliegt. Den Schaden derartiger Artikel kann man
am deutlichsten aus der Betrachtung der Autoren ersehen, wie die Rote Armee Lenin-
grad zu verteidigen beabsichtigt. Die Autoren geben an, dass die Rote Armee für die
Verteidigung der Stadt Lettland, Estland und das südliche Finnland besetzen müsse,
wobei sie betonen, dass dies verhältnismäßig leicht gelingen werde.
Derartige Erklärungen sind gegenwärtig ausgesprochen schädlich, da sie der
Bourgeoisie dieser Länder neue Materialien für chauvinistische Agitation und die
Täuschung und die Demoralisation der Arbeiterklasse des Baltikums in die Hand
geben und diese Länder gleichsam zur Verstärkung ihrer Bewaffnung anstiften und
sie in die Arme großer Führer treiben.
Als äußerst misslungen und schädlich müssen auch die Schriften von „Moritz“
bezüglich dessen, in welchen Formen sich die Hilfe des Proletariats ausl[ändischer]
Länder für die Rote Armee äußern soll, angesehen werden. Neben den richtigen
Erklärungen, dass es wichtig ist, die Massen zum Kampf gegen die Heranziehung der
eigenen Industrie für einen Krieg gegen die UdSSR und die Behinderung des Transits
von Menschen und Material der Geg[ner] der UdSSR durch das eigene Territoriums
aufzurufen, beschäftigt sich der Autor mit offenen Instruktionen, wie dies zu gesche-
hen habe, indem er empfiehlt, Sabotagetrupps zu je 2–5 Personen bei der Eisenbahn,
der Post, den Telegrafen, der chemischen und metallurgischen Industrie, unter den
Seeleuten, auf den Werften usw. zu bilden, um Leuchttürme, Kommunikationsverbin-
dungen zu zerstören, Brücken zu sprengen, Zugentgleisungen zu organisieren usw.
Dok. 280: [Moskau], 3.1.1932 847
I. Sowohl Oktober als auch Żołnierz rewolucji12 tun richtig daran, konkrete Materialien
zu präsentieren, die die Vorbereitung auf einen Angriff bourgeoiser Länder auf die
UdSSR zeigen, die vorgesehenen militärischen Verbände, die Rolle einzelner Länder,
die Aufrüstung, die Armeestärke, den Bau von Kommunikationswegen und Rüs-
tungsbetrieben usw. zu entlarven und auch zu versuchen, die Pläne des militärischen
Angriffes auf die UdSSR zu durchdringen.13
II. Notwendigkeit der Hilfe für die UdSSR und ihre Rote Armee aufzuklären, indem in
großen Zügen auf die konkreten Formen dieser Hilfe hingewiesen wird (bewaffneter
Aufstand, politischer Streik, Partisanentätigkeit, Arbeitsniederlegungen in der Trans-
port- und Kriegsindustrie).
III. Der allergröbste politische Fehler ist die Unterbringung von Materialien, die 1.)
die möglichen operativen Ziele der Roten Armee und die Gruppierung ihrer Kräfte,
2.) die Frage der möglichen Besetzung von Territorien der Nachbarn beleuchten.
Dies provoziert objektiv antisowjetische Stimmungen in diesen Ländern und schafft
die moralische Basis für die Aufstockung der Bewaffnung und einen Block mit den
großen Führern. 3.) Die Verbindung der Erfolge der Roten Armee mit dem Bestehen
nat[ional-] revolutionärer Bewegungen an den Rändern von Nachbarstaaten (West-
weißrussland, Westukraine, Afghanistan) [thematisieren], da derartige Materialien
objektiv den Charakter von Denunziationen der Bourgeoisie gegen Verbündete der
UdSSR im Interventionskrieg tragen.
IV. Die Zeitschriften sollten sich in Zukunft, neben der Einführung von Entlarvungs-
kampagnen, wie im Pkt. 1 angegeben, auf das Studium der historischen Erfahrung
von bewaffneten Aufständen und der gegenwärtigen Ereignisse des bewaffneten
Klassen- und Nat[ional-] revolutionären Kampfes konzentrieren, auf der Grundlage
der Lehre des Marxismus-Leninismus und auch auf die verschiedenen allgemeinen
Fragen der Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes. Insbe-
sondere auf die Fragen des Straßenkampfes und die Partisanentätigkeit sowie die
Demonstrationstaktik.
11 Im hier gekürzten Dokument folgen Ausführungen über ähnliche „Vergehen“ der Militärzeitschrift
der KP Polens.
12 Żołnierz rewolucji, deutsch: “Soldat der Revolution“.
13 Siehe hierzu auch Dok. 281.
848 1929–1933
Dok. 281
Vorschlag Lozovskijs an die sowjetische Delegation im EKKI zur
Einrichtung einer westeuropäischen Vertretung der Komintern
angesichts der Kriegsgefahr
[Moskau], 5.1.1932
Typoskript auf Blankoformular der Profintern in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 82/2/228, 33.
Erstveröffentlichung.
A[bsolut geheim]
Liebe Genossen!
Eine Reihe von Faktoren sprechen dafür, dass der Krieg herannaht.14 Im Kriegsfall
werden die Komintern und die Profintern von ihren Sektionen abgeschnitten sein,
und wir werden in den ersten Kriegswochen – die die schwierigsten für alle Organi-
sationen sein werden – nicht in der Lage sein, ihnen die notwendige ideell-politische
Hilfe zukommen zu lassen. Es wäre angebracht, jetzt zwei-drei verantwortliche Funk-
tionäre abzukommandieren, die sich unverzüglich mit der Vorbereitung des illegalen
Apparats (Techniken, Verbindungen u.ä.) befassen würden, und die im Kriegsfall als
Westeuropäische Vertretung der Komintern auftreten und den Sektionen der Komin-
tern und der Profintern politische und organisatorische Hilfe geben könnten.15 Wenn
sich später herausstellen sollte, dass wir uns in den Fristen vertan haben, kann man
die Technik einfrieren [rezervirovatʼ], eine Person dort zurücklassen usw. Jedenfalls
ist es besser, hinsichtlich der Vorbereitung zu übertreiben, als sich überraschen zu
lassen.–
Mit Gen[ossen]gruß,
[Sign.:] A. Lozovskij
14 Der kommende Angriff auf die Sowjetunion und die Beschwörung der Interventionsgefahr waren
auch weiterhin ein zentraler ideologischer Topos, der nicht zuletzt zur Kontrolle und Disziplinierung
der kommunistischen Mitglieder eingesetzt wurde, dabei jedoch einem künstlichen Bedrohungssyn-
drom entsprach. Vgl. hierzu die Čičerin-Stalin-Korrespondenz, Dok. 212 u.a.
15 Es ist verwunderlich, dass weder das in Berlin stationierte Westeuropäische Büro des Politsekre-
tariats, noch die Internationale Verbindungsabteilung (OMS), deren Aufgabe gerade die Herstellung
und Absicherung der Verbindungen war, hier erwähnt werden. Der Begriff „illegaler Apparat“ war
hier offensichtlich nur eine Chiffre für ein gänzlich neues illegales Netz der Komintern.
Dok. 281: [Moskau], 5.1.1932 849
Am 16.1.1932 standen die Forderungen gegenüber Deutschland in der Frage des sowjetischen Ge-
treide-Exports auf der Tagesordnung des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion; dabei sollten
deutsche Firmen verpflichtet werden, bestimmte Mengen Getreide in der UdSSR einzukaufen.16 Die
Verhandlungen mit Deutschland wurden erneut am 28.1.1932 beraten, dabei wurde Vejcer nahege-
legt, seine Verhandlungen mit der Reichsbank und der Deutschen Reichsbahn schnellstmöglich zum
Abschluss zu bringen, sowie das am 22.12.1931 unterzeichnete Protokoll zum Abschluss der deutsch-
sowjetischen Exportverhandlungen zu ratifizieren.17
Am 8.2.1932 beriet das russische Politbüro über die sowjetische Beteiligung an der „Reichs-Goethe-
Feier“ zum 100. Todestag Johann Wolfgang von Goethes am 22.3.1932 in Weimar. Zu diesem Zwecke
sollte Anatolij Lunačarskij nach Deutschland delegiert werden.18
Dok. 282
Resolution des ZK-Plenums der KPD: Kampf gegen den
Hitlerfaschismus und Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie
[Berlin, 20.2.1932–23.2.1932]
Resolution des Zentralkomitees der KPD über die Lage in Deutschland und die Aufga-
ben der KPD.19
19 Die Resolution des ZK-Plenums wurde in der Parteipresse als “Vormarsch der Bolschewisierung“
hervorgehoben („Ein neuer Vormarsch der Bolschewisierung“. In: Die Rote Fahne 26.2.1932; ebenfalls
mit dem Untertitel: „Die Plenartagung des ZK. der KPD im Zeichen des Kampfes gegen den imperia-
listischen Krieg und der revolutionären Massenarbeit. In: Inprekorr (1932), Nr. 19, S. 542–544). Sie
enthielt einige selbstkritische Passagen, ohne jedoch die zerstörerische Linie der KPD zu ändern. Ein-
stimmig verabschiedet, wurde sie an das Sekretariat zur definitiven Redaktion weitergeleitet. Eine re-
digierte Fassung wurde nur im internen Mitteilungsblatt veröffentlicht. Die Resolution markiert nicht
nur eine Etappe im Kampf gegen eine einheitliche Front aller Arbeiterorganisationen gegen Hitler,
sondern bedeutet auch den Beginn der Entfernung Neumanns und seiner Umgebung aus der KPD-
Führung (der Originalentwurf in: Archives de Jules Humbert-Droz, IV, S. 174–198; vgl. Mitteilungen
der Kommunistischen Partei Deutschlands. Material zum Plenum des ZK der KPD. Februar 1932, zu
verschiedenen Entwürfen SAPMO Barch I 2/1/84, 2–288; hierzu auch: Weber: Die Generallinie, S. 440;
Wieszt: KPD-Politik, 324ff.).
20 Zur Art und Weise, wie sich das ZK zwischen der Bekämpfung rechter und linker Fehler hindurch-
lavierte, siehe: Einige Beispiele rechtsopportunistischer und „linker“ Abweichungen und Fehler. Dem
Plenum des ZK vorgelegt, ca. 20.2.1932. AHD 548. In: Bayerlein/Lasserre: Engagements à travers le
monde, S. 163–174.
Dok. 282: [Berlin, 20.2.1932–23.2.1932] 851
21 Nicht nur in der SPD – so Höltermann in seiner letzten Rede vor dem Berliner Schloss, gerade auch
in der KPD war die Losung „Nach Hitler kommen wir!“ verbreitet. Die u.a. bei Bracher und Bahne aus-
geführte Vermutung, dass es in Moskau Überlegungen gegeben habe, zunächst Hitler an die Macht
kommen zu lassen, um dann besser losschlagen zu können, wird unter Historikern nicht allgemein
geteilt.
22 HIB bedeutet „Hinein in die Betriebe!“, die entsprechende, hauptsächlich im Berliner Raum or-
ganisierte Kampagne der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NBO) wurde 1931 ohne
durchschlagenden Erfolg durchgeführt. Diese Aktivität der „Betriebs-SA“ sollte Hitler zufolge im Wi-
852 1929–1933
b) Entlarvung der Rolle der Hitlerpartei als einer Streikbrechertruppe und Unterneh-
merschutzgarde, als eines Teiles der Bourgeoisie, als der aktivsten Terror- und Kamp-
forganisation des Finanzkapitals (Bocksheimer Dokument),23 die ihr faschistisches,
konterrevolutionäres Programm keineswegs erst zu „verraten“ brauchte, weil es
immer faschistisch und konterrevolutionäre war;
c) Zerschlagung der Demagogie der Hitlerpartei, die sich als „neue Partei“ vor den
Massen praktisch noch nicht genügend entlarvt hat und die arbeiterfeindliche Politik
der SPD als „bankrotten Marxismus“ auszugeben versucht, durch Entlarvung ihrer
eigenen Rolle, sowie Blossstellung der SPD, als eines mit der Hitlerpartei verbunde-
nen „gemässigten Flügel des Faschismus“;
d) Ausserordentliche Verstärkung der ideologischen Kleinarbeit zur Zersetzung der
nationalsozialistischen Front, zur Lostrennung und Gewinnung ihrer werktätigen
Anhängermassen für den revolutionären Klassenkampf des Proletariats. Neue und
konkrete Formen der Agitation und Propaganda, vor allem aber bei der Entlarvung
der nationalen Demagogie des Hitlerfaschismus; [...]24
derspruch zur NBO nicht als ein Ersatz für die Verankerung in den Gewerkschaften verstanden wer-
den (siehe: Christian Zentner, Friedemann Bedürftig (Hrsg.): Das große Lexikon des Dritten Reiches,
München, Südwest-Verlag, 1985, S. 407; David Schoenbaum: Hitlerʼs Social Revolution, Garden City
(NY), Doubleday, 1966, S. 28ff.; Max H. Kele: Nazis and Workers: National socialist appeals to German
labor, 1919–1933, Chapel Hill, The University of North Carolina Press, 1972, S. 180ff.).
23 Die „Bocksheimer Dokumente“ beinhalteten einen von der NSDAP in Hessen vorbereiteten
Dringlichkeitsliste für den Fall einer Machteroberung, die eine Sequenz von Repressionsmaßnah-
men enthielt: „Am 25. November [1931] wurden der Polizei die ‚Boxheimer Dokumente‘ bekannt. Es
handelte sich um Pläne, die führende Mitglieder der hessischen NSDAP für den Fall der Machter-
greifung vorbereitet hatten. Zu den vorgesehenen Maßnahmen gehörte unter anderem die folgende:
‚Jede Schusswaffe ist binnen 24 Stunden [...] abzuliefern. Wer nach Ablauf dieser Frist im Besitz einer
Schusswaffe betroffen [angetroffen] wird, wird als Feind [...] des deutschen Volkes ohne Verfahren auf
der Stelle erschossen. [...] Die Richtlinien für eine Notverordnung über den nationalen Arbeitsdienst
bestimmten, dass ‚jeder Deutsche (nicht Juden usw.)‘ zur Dienstleistung verpflichtet werden konnte.“
(siehe hierzu: Winkler: Der Weg in die Katastrophe, S. 448).
24 Parteiführer Ernst Thälmann meinte jedoch auch: „Nichts wäre verhängnisvoller als eine oppor-
tunistische Überschätzung des Hitlerfaschismus“ (Zit. nach: Wieszt: KPD-Politik, S. 325). In seinem
Schlusswort auf dem ZK-Plenum wies er darauf hin, “dass die Partei in der Vergangenheit zwar eine
richtige Generallinie, richtige Beschlüsse, eine richtige strategische Orientierung hatte, dass aber
in der praktischen Durchführung der Beschlüsse, in der praktischen Anwendung der strategischen
Orientierung die entschiedenen Hauptschwächen unserer revolutionären Arbeit gegeben sind.“ (Die
Rote Fahne, 26.2.1932).
Dok. 283: [Moskau], 13.3.1932 853
Am 23.2.1932 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dem hohen Finanzfunktionär
G. M. Arkus, Leiter der Auslandsoperationen der sowjetischen Staatsbank, eine zwei- bis dreiwöchige
Reise nach Deutschland zu genehmigen.25 Laut einer späteren Aussage von Kamenev im 1. Moskau-
er Prozess 1936 soll G. M. Arkus als stellvertretender Vorsitzender der Staatsbank der UdSSR den
Aufbau eines illegalen Zentrums des „trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums in Westeuropa“ (mit
Rejngolʼd u.a.), sowie seine eigene finanzielle Alimentierung durch Staatsgelder betrieben haben
(Zentralkomitee der KPdSU (B): Über die terroristische Tätigkeit des trotzkistisch-sinowjewistischen
konterrevolutionären Blocks, Moskau, 29. Juli 1936, Raubdruck unbekannter Herkunft und Datierung).
Am 3.3.1932 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über ein nicht überliefertes Tele-
gramm des sowjetischen Industriefunktionärs German Bitker über Metallpreise in Deutschland, wo
raufhin eine hochkarätige Politbüro-Kommission mit der Angelegenheit betraut wurde.26
Ebenfalls am 3.3.1932 stand im Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion der Vertrag von Akademie-
mitglied Ioffe (vermutlich der Physiker Abram Ioffe) mit der Firma Siemens & Schuckert auf der Tages-
ordnung. Auf Vorschlag von Molotov wurde der Vertrag aufgelöst.27
Am 4.3.1932 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen nicht überlieferten Beschluss
anhand einer Notiz von Krestinskij über die Finanzierung einer Sonderausgabe des Berliner Tage-
blatts über die UdSSR.28
Am 7.3.1932 verfasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine detaillierte Direktive an die
sowjetische Delegation bei den Verhandlungen mit Reichswirtschaftsminister Hermann Warmbold.
Es ging um den Aufkauf von Getreide deutscherseits, die Direktive bestand auf der Forderung nach
festen Quoten für einzelne Getreidesorten.29
Dok. 283
Brief Wilhelm Piecks an Ernst Thälmann mit der Aufforderung, in
der Roten Fahne den Kult um seine Person einzuschränken
[Moskau], 13.3.1932
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/292/60, 58. Erstveröffentlichung.
Lieber Freund!
Die von Dir in unserer letzten Aussprache angeregte Angelegenheit habe ich hier erle-
digt. Die Genossen waren ganz mit Deinen Auffassungen einverstanden, auch bezüg-
lich der Personenfrage.
Dann noch zu einer anderen Angelegenheit. Ich bitte Dich, der eingerissenen
Methode, die besonders in der R[oten] F[ahne] geübt wird, von der Partei Thäl-
manns zu reden, schnellstens auszurotten.30 Ich sprach schon vor meiner Abreise mit
[Werner] Hirsch darüber. Es ist das eine Methode, die bisher noch in keiner Sektion
der K.I. angewandt worden ist und die geeignet ist, das Wesen der Kommunistischen
Partei zu verzerren und auch ihre Werbekraft einzuschränken. Du wirst verste-
hen, dass sich dieser Einwand nicht etwa gegen die Popularisierung Deiner Person
wendet. Die Genossen sind hier absolut dafür und haben auch, als damals in dem
Artikel von Kurt [d.i. Heinz Neumann?] die bekannte Stelle enthalten war, darin kei-
neswegs etwa eine unzulässige Bezeichnung gesehen.31 Auch sonst ist man absolut
dafür, dass Deine Person in den Vordergrund gestellt wird. Aber in dieser Verbindung
mit der Partei ist das unzulässig. Ich habe hier den Genossen erklärt, dass Du selbst
nicht damit einverstanden wärest und wahrscheinlich schon dafür gesorgt hast, dass
das unterbleibt.
Gehe jetzt nur mit allem Nachdruck daran, dass die Direktiven in der Bekämp-
fung der Kriegsgefahr durchgeführt werden. Es würde gut sein, wenn für bestimmte
Kriegsbetriebe und Häfen führende Genossen persönlich verantwortlich gemacht
würden, dass die Direktiven durchgeführt werden.
30 Trotz der mäßigenden Worte Piecks hatte Thälmann den Personenkult in der KPD längst interna-
lisiert und nicht zuletzt mit der Hilfe Stalins in der Parteiführung institutionalisiert (siehe hierzu die
Darstellungen Neumanns Dok. 287). Dagegen bezweifelt Hoppe, dass Thälmann sich selbst entspre-
chend einschätzte. Neumann hätte mit entsprechenden Vorwürfen nur bezweckt, „Mißtrauen gegen
Thälmann [zu] sähen“ (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 340). Die Bezeichnung der KPD als „Partei
Thälmanns“ wurde später in der DDR offizialisiert.
31 Die erwähnte Passage liess sich nicht eruieren. Neumann besaß zu dieser Zeit noch die Vor-
machtsstellung im Zentralorgan Rote Fahne. Im Mai 1932 erfolgte dann nach einer Präsidiumssitzung
des EKKI auf Druck Stalins die endgültige Entscheidung für Thälmann als Parteiführer, gegen Neu-
mann, der nach Moskau abkommandiert wurde. Remmele bildete nun den Gegenpart zu „Teddy“ in
Deutschland. Siehe hierzu: Weber/Wachtler: Die Generallinie, S. LXXXIIIff.
Dok. 284: [Moskau], 15.3.1932 855
Dok. 284
Vertrauliche Stellungnahme Pjatnitzkis gegenüber der
Komintern zu den Ergebnissen des ersten Durchgangs der
Reichspräsidentenwahl
[Moskau], 15.3.1932
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 495/4/177, 13–20 (hier: 14–18). Erstveröffent-
lichung.
Vertraulich.32
Politkommission
Sitz[un]g 15.III.1932
Genosse Pjatnitzki:
[...] Wie Genosse Pieck glaube ich nicht, dass das Ergebnis von 5 Millionen [für ThäI
mann abgegebener] Stimmen eine Niederlage der Partei ist.33 Bei der Einschätzung
der kommenden Wahlergebnisse haben wir hier viel geschwätzt, haben hohe Stim-
menzahlen genannt. Es waren Rekordzahlen, die wir aufgestellt haben, wir haben
geschrieben von 8 bis 9 Millionen Stimmen, nicht weniger. – Das war ein Scherz. Was
wir geglaubt haben, ist, dass der Aufschwung, den unsere Partei jetzt hat, eine hohe
Stimmenzahl bringt. Sie würde 5 bis 6 Millionen Stimmen bekommen. Aber das, was
sie bekommen hat, ist keine Niederlage. Das sind keine Reichstags- und Landtags-
wahlen. Die Massen, die gestimmt haben für Thälmann, haben gewusst, das ist nur
ein Zählkandidat – er wird und kann nicht gewählt werden. Ich neige zu der Behaup-
tung – ich habe das noch nicht ganz genau durchdacht und bitte die Genossen, das
entsprechend zu betrachten –, dass viele unter denjenigen, die für Hitler gestimmt
haben, nicht seine Anhänger sind, jedoch ihre Stimme, weil sie die Notwendigkeit,
für den Kandidaten der KPD zu stimmen, noch nicht erkannt haben, gegen die Regie-
rung, gegen die Notverordnungen und gegen die Politik der Verelendung der Massen
abgegeben haben.
Könnte unsere Partei größere Erfolge erzielen? Unbedingt! Unbedingt! Was
hat unsere Partei daran gehindert, einen großen Erfolg zu erringen? Nach meiner
Meinung die nicht ganz richtige Politik der Partei in einigen wichtigen Fragen. Ich will
an einige dieser Fragen erinnern. Nach der ersten Notverordnung hat unsere Partei
die Losung ausgeben: „Der Faschismus hat gesiegt!“34 Man hat diese Parole sehr breit
propagiert. Die deutschen Genossen waren mit unserer Kritik in dieser Frage nicht
einverstanden. Es war ein hartnäckiger Kampf, bis die Partei diese Parole fallen ließ.
Aber drei bis vier Monate hindurch war dies die einzige Parole gegen die Notverord-
nung. Stellen Sie sich vor: die erste Notverordnung wurde als nicht ganz so schlimm
von den Massen empfunden. Sie hatten ihre ganze Bedeutung noch nicht erkannt,
und jeder Arbeiter, wenn man ihm sagte, dass die Notverordnung dazu geführt hatte,
dass der Faschismus in Deutschland gesiegt hat, konnte sagen: der Faschismus ist
nicht so schlimm. Dieser Schraubstock, der dann mit den aufeinanderfolgenden 5 bis
6 Notverordnungen weiterhin von der Regierung angewandt wurde, hat wirklich die
Arbeiter an der Gurgel gepackt. Es ist eine unrichtige Behauptung, die auf dem XI.
Plenum und nach dem XI. Plenum von unserer Partei aufgestellt wurde, und zwar,
dass die Partei den Faschismus schon geschlagen habe [...] Es hat sich erwiesen, dass
die Faschisten bei allen Wahlen, die nach dem XI. Plenum stattfanden, von Wahl zu
Wahl mehr als wir an Stimmen gewannen. [...]
Die dritte [Frage], das ist in bezug auf den Young- und Dawesplan und auch die
falsche Einstellung der Partei zu dieser Kampagne von Hugenberg. Diese Parole
„Schreibt jeden auf, der sich für den Volksentscheid einträgt! Schlagt die Faschisten,
wo ihr sie trefft!“35 hat eine Unterschätzung der Losungen der Nazis in der Young- und
Dawesfrage aufgezeigt. Unsere Partei hat die Initiative nicht ergriffen, um die Kampa-
gne gegen den Young- und Dawesplan zu führen, die Massen aber waren gegen den
Youngplan und das wurde dadurch gezeigt, dass Hugenberg viel mehr Unterschriften
bekommen hat, als nötig war, um das Volksbegehren zu erzwingen. Das sind meiner
Meinung nach die Hauptgründe, warum unsere Partei nicht die Möglichkeit gehabt
hat, breiteste Massen gegen den Faschismus zu mobilisieren [...]
Nun jetzt nehmen wir eine andere Frage: wie agitieren die Nazis? Ganz selbstver-
ständlich, sie haben viel größere Möglichkeiten als wir. Sie haben große finanzielle
Mittel. Die Großbourgeoisie unterstützt sie. Sie haben ihre Leute im Staatsapparat. Sie
haben jetzt durch ihre Siege den Staatsapparat einiger Länder in ihre Hände bekom-
men.36 Die Gutsbesitzer sind auf ihrer Seite, und sie konnten dort eindringen, wo
unsere Partei noch nicht die Möglichkeit hatte einzudringen. Aber nicht nur das. Die
Hauptsache, warum sie solche Fortschritte gemacht haben, sind: Sie agitieren so wie
keine andere Partei in Deutschland. Sie wenden sich an alle Schichten der Werktäti-
gen mit entsprechenden Parolen, und so breit und so populär, wie keine andere Partei
in Deutschland; von unserer Partei gar nicht zu reden. Nehmen Sie unsere Literatur
für die breitesten Massen, nehmen sie unsere Zeitungen und nehmen Sie die Litera-
tur und die Zeitungen der Nazis, nehmen Sie unsere Flugblätter und nehmen Sie die
Flugblätter der Nazis, nehmen Sie unsere Plakate und Handzettel und nehmen Sie
die Plakate und Handzettel der Nazis, und Sie werden sehen, das hätte doch umge-
kehrt sein müssen. Ich werde nicht übertreiben, wenn ich sage, dass die Methoden
der Agitation der Nazis fast die gleichen sind wie die der Bolschewiki im Zeitraum von
der Februar- bis zur Oktober-Revolution 1917. Der Methode nach! Und wir in Deutsch-
land sind demgegenüber völlig hilflos. Sie [die Nationalsozialisten] sind überall ein-
gedrungen und nicht nur das. Sie geben in dem Moment eine Antwort, in dem man
die Antwort geben muss. Ich werde hier ein krasses Beispiel anführen. Als der Krach
der Danatbank37 ausbrach, wo die Massen auf den Straßen waren – sie hatten Angst,
sie verlieren ihre verschiedenen Spargelder –, in demselben Augenblick kommen
die Nazis und sagen, dass die Schuld daran die ausländischen Regierungen haben,
welche Deutschland ausbeuten. Wo war unsere Partei? 5 Tage hat man überhaupt
nichts von unserer Partei in Berlin gehört, wo alle auf den Straßen waren, wo man
in den Betrieben davon gesprochen hat: Wird man die Löhne auszahlen oder nicht.
Welche Losung haben wir herausgegeben? [...]
Die Nazis imponieren den Massen auch dadurch, dass sie eine bewegliche Partei
des Angriffs und des Kampfes sind mit ihren bewaffneten Sturmabteilungen, mit
ihren Paraden usw. – die breitesten Massen haben es schwer, ohne Unterstützung
durch die kommunistische Agitation zu durchschauen, dass dieser Kampf der Nazis
sich gegen die Werktätigen richtet. Unsere Partei jedoch hat es nicht verstanden, die
Unzufriedenheit der breitesten Massen unter ihrer Führung gegen die diktatorischen
Notverordnungen, die gegen diese Massen gerichtet sind, zu lenken und den Wider-
stand durch die Tat zu organisieren.
36 Erstmals in der Weimarer Republik wurde die NSDAP 1930 in Thüringen als Koalitionspartner an
einer rechtsbürgerlichen Landesregierung beteiligt. Wilhelm Frick wurde Staatsminister für Inneres
und Volksbildung.
37 Die wegen ihrer Geschäftspolitik in die Kritik geratene Darmstädter und Nationalbank (Danat-
Bank), damals eine Großbank, erklärte am 11.7.1931 ihre Zahlungsunfähigkeit und brach zusammen.
Nachdem auch die Dresdner Bank in eine Schieflage geraten war, waren die Banken dem einsetzen-
den Run der Bevölkerung nicht gewachsen. Die Regierung erklärte deshalb den 14. und 15. Juli zu
Bankfeiertagen, in der Folge wurde durch eine Reihe von Notverordnungen der Zahlungsverkehr ein-
geschränkt (siehe: Eva Terberger, Stefanie Wettberg: Der Aktienrückkauf und die Bankenkrise von
1931. University of Heidelberg. Department of Economics, 2005 (Discussion Paper Series. 418). http://
www.uni-heidelberg.de/md/awi/forschung/dp418.pdf).
858 1929–1933
[...] Wir müssen jetzt die Arbeit der Nazis betrachten. Sie haben nun damit begon-
nen, die Erwerbslosen zu organisieren. Wieviel Resolutionen haben wir schon über
die Erwerbslosenfrage? Wieviele Beschlüsse haben wir in dieser Frage gefasst, dass
man in die Masse der Arbeitslosen eindringen muss, wie man einen Kampf gegen
Exmissionen38 aus den Wohnungen führen, wie man bei den Streiks arbeiten muss.
[...] Unsere Arbeit unter den Erwerbslosen ist seit dem XI. Plenum zurückgegangen.
Durch die Vernachlässigung unsererseits ist es den Nazis gelungen, dort einzudrin-
gen. Das ist eine Tatsache. [...]
Dok. 285
Rede Aleksandr Martynovs in der vorbereitenden Kommission des
XII. Plenums des EKKI zur Kritik des Antifaschismus der KPD
[Moskau], 25.3.1932
[...]39 Ich denke, dass wir uns im Apparat der Komintern vor den [Reichspräsidenten-]
Wahlen [1932] mit Wahrsagerei beschäftigt haben, wieviel die Kommunisten bekom-
men, und es zeigte sich, dass keine Einigkeit bestand: Die einen meinten 4 Millionen,
andere 5, die dritten 6, 7 und 8. Das war Kaffeesatzleserei. Aber in einem Punkt waren
wir einer Meinung und in diesem Punkt haben wir uns alle geirrt. Wir haben alle
gedacht, dass bei den Präsidentenwahlen die Beteiligung weit niedriger sein werde
als bei den Parlamentswahlen.40
38 Exmission (jur.): Ausweisung aus der Wohnung oder dem Grundstück durch den Vermieter.
39 Die 12. Plenarsitzung des EKKI (12. EKKI-Plenum) fand vom 27. August bis zum 15. September 1932
statt. Der Kominternführung zufolge sollte damit eine neue revolutionäre Periode eröffnet werden.
Der gegen eine Einheitsfront der Arbeiterbewegung gerichtete Kurs wurde durch die absurde Theorie
eines gleichzeitigen, parallelen Wachstums der KPD und des Faschismus gerechtfertigt. Die “Faschi-
sierung“ in Deutschland bedeutete nach Auffassung der Komintern zugleich eine „Schmälerung der
bürgerlichen Herrschaft“ (Bahne: Die und Das Ende von KPD Weimar, S. 29ff.). Die Tagesordnung
des Plenums enthielt Berichte über die internationale Lage und die Aufgaben der Komintern (Kuu
sinen), über die Streiks und Kämpfe der Arbeitslosen (Thälmann – mit Ko-Berichten von Lenski und
Gottwald) und den „sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion“ (Manuilski). Durch eine umfang-
reiche Agitprop-Tätigkeit wurde anlässlich des 50. Jahrestages des Todes von Karl Marx eine “Mas-
senkampagne“ gestartet, um den „Marxismus-Leninismus“ zu verbreiten. Ergänzungswahlen zum
Präsidium des EKKI und die Verabschiedung des Finanzberichts bendeten das Plenum, das letzte vor
dem Machtantritt des Nationalsozialismus in Deutschland, das die politische Linie unverändert liess
(siehe: Del Amo/Bahne/Bayerlein: Archives de Jules Humbert-Droz III, S. 473ff.).
40 Die Wahlbeteiligung bei den Reichspräsidentenwahlen lag bei 86,2% bzw. 83,5% im zweiten Wahl-
gang. Die darauf folgenden Worte sind durchgestrichen worden: „dass wir den Angriff des Faschis-
Dok. 285: [Moskau], 25.3.1932 859
Und es zeigte sich, dass es entgegen allen Erwartungen eine kolossale Wahlbe-
teiligung gab. Was hat das signalisiert, was hat die Aufmerksamkeit der Massen in
Deutschland mobilisiert? Die rote Gefahr? Nein. Sondern die Frage, kommt Hitler
oder nicht. Das stand im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Hitleristen haben ihre
Stimmenzahl verdoppelt, haben die Massen mobilisiert. Auf der anderen Seite fürch-
ten die Massen die Machtübernahme Hitlers und haben sich mobilisiert, um die
Machtübernahme Hitlers zu verhindern.
Warum ist es den Sozialdemokraten so glänzend gelungen, ihre Politik des klei-
neren Übels zu verfolgen? Offensichtlich, weil die dritte Kraft, d.h. unsere Kraft, nicht
besonders sichtbar war. Vor den Massen stand das Problem, kommt Hitler [an die
Macht] oder nicht, aber die Perspektive der Revolution war nicht zu bemerken, denn
es war keine umwälzende Bewegung der Massen sichtbar. Das zeigt, dass die KPD
nicht in der Lage war, eine solche Aktivität zu entfalten, um die Aufmerksamkeit und
die Hoffnung an sich zu ketten und die Aufmerksamkeit von der Theorie des kleine-
ren Übels abzulenken, nicht zeigen konnte, dass es noch einen anderen Ausweg gibt,
und dass dies der Weg der Revolution ist. Offensichtlich besteht die Frage, wie man
dieses unser Kapital realisieren kann, die enormen Sympathien, die die Partei besitzt.
Wenn es nicht so eine große Fluktuation gäbe, hätte die Partei nicht 300 sondern 500
tausend [Mitglieder].
[...] Mir scheint, dass unsere deutsche Partei bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt
den Kampf mit dem Faschismus nicht ganz richtig führt. Ich erinnere daran, dass
nach dem XI. Plenum, als die deutschen Genossen nach den Septemberwahlen41 her-
kamen, sie uns erzählten, dass wir unter der Losung der Volksrevolution eine Ein-
heitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern aufgebaut hätten und dass wir
den Angriff der Faschisten abwehren konnten.
Dass wir den Angriff der Faschisten abwehren konnten, das ist offensichtlich
eine Übertreibung. Aber ich denke, dass darin ein Stück Wahrheit steckt. Ein wenig
haben wir in dieser Zeit zurückschlagen können: Auf der einen Seite konnten wir in
der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern den Angriff der Faschis-
ten abschwächen, auf der anderen Seite haben unsere Genossen opportunistische
Schlüsse aus diesem richtigen Manöver gezogen. Die Genossen sagten, dass der
Faschismus der Hauptfeind und die Hauptstütze der Bourgeoisie ist. Das XI. Plenum
wies darauf hin, dass die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie die Sozialdemokratie
ist und dass unsere Hauptaufgabe in der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse,
in der Liquidierung des Einflusses der Sozialdemokratie besteht, dass die Sozialde-
mokratie dem Faschismus den Boden bereitet. Das war sehr richtig, aber bedeutete
dies, dass man mit dem Bade auch das Kind ausschütten musste?
mus abwehren können: das war – offensichtlich – eine Übertreibung. Aber ich denke, dass etwas
Wahrheit darin liegt.“
41 Gemeint sind die Wahlen zum Reichstag vom 14.9.1930.
860 1929–1933
Wir haben eine Reihe opportunistischer Fehler gemacht. Der Kampf gegen die
Sozialdemokratie ist in den Hintergrund gerückt, der Charakter der proletarischen
Revolution wurde verwässert. [...] All diese opportunistischen Verzerrungen mussten
korrigiert werden. Aber bedeutet dies, dass man von diesem taktischen Schritt ablas-
sen soll, von der Schaffung einer Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbei-
tern gegen den Faschismus? Aber inzwischen wurde dies zurückgewiesen. Genossen,
die in Deutschland waren, erzählen, dass auf Schritt und Tritt sozialdemokratische
Arbeiter auf [kommunistische] Versammlungen kommen, wo ihnen gesagt wird: Der
Hauptfeind ist die Sozialdemokratie und nicht Hitler. Das ist eine ziemlich vulgäre
Auslegung unserer Theorie.
Was den Kampf gegen den Faschismus betrifft, möchte ich noch eine Bemer-
kung machen. Bei uns äusserte sich der Kampf gegen den Faschismus noch im letzen
Sommer darin, dass man sich mit den Faschisten mit der Waffe in der Hand schlug,
jeden Tag wurden Faschisten getötet. Aber diese Methode der Anwendung individu-
ellen Terrors erhielt von uns die entsprechende Abfuhr. Wir haben damit gerechnet,
dass diese Methode des individuellen Terrors durch Massenaktionen ersetzt würde,
aber das hat nicht stattgefunden. Und es zeigte sich, dass wir den Faschisten keine
Abfuhr erteilt haben.
Am 27.3.1932 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, Spezialisten der zivilen Luft-
fahrt der Firma Junkers zur Arbeit in der Sowjetunion heranzuziehen. Dafür sollten Geldmittel, Unter-
künfte (50 Zimmer) und Transportmittel bereitgestellt werden.42
Dok. 286
Brief des Kominternemissärs Lajos Magyar an Kun über Hitlers
Pläne zur Vernichtung des Bolschewismus und der Sowjetunion
[im Deutschen Reich], 6.4.1932
6.IV.32.43
W[erter] G[enosse].44
Ihren Brief ohne Datum, bestehend aus 10 Punkten, habe ich erst heute erhalten. In
der Mandschurei-Frage werden wir die Linie ausbessern.45 Ich bin sehr froh, dass Sie
mit der Presse zufriedener sind, und nach der Konferenz wird Teddy [d.i. Ernst Thäl-
mann] noch bessere Reden halten. [...]
Unter den sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern schlägt uns die sozi-
alfaschistische, trotzkistische, brandleristische Gesellschaft damit, dass der Arbei-
ter in der Sowjetunion schlecht lebt. Unsere wirtschaftlichen und sonstigen Erfolge
werden anerkannt, aber es wird betont, all dies geschieht auf Kosten des Lebensni-
veaus der Arbeiter. Man sollte in diesen Artikeln ganz offen auch über die Schwierig-
keiten sprechen und aus der Sowjetunion kein Schlaraffenland machen, aber man
müsste auch das Positive zeigen. Ich weiss nicht, ob es nicht möglich wäre, unter
den besseren Elementen der ausländischen Arbeiter eine Kampagne zu organisieren,
dass sie Briefe an ihre ehemaligen Betriebe, Bekannten, Verwandten usw. richten. Es
wäre dann ein Artikel notwendig über die sogenannte Frage des Wolfes.46 Es handelt
sich darum, dass sogar in unseren Kommunistischen Parteien, und sogar in der
Spitze, noch immer solche Stimmungen sind, dass die KI in den letzten 4,5 Jahren
43 Handschriftlich im Kopf: „Brief von Michael [d.i. Lajos Magyar] an Ludwig [d.i. Béla Kun]“.
44 Lajos Magyar (Ljudvig Ignat‘evič Mad’jar), ursprünglicher Name Lajos Milgdorf (1891 – ca. 1937)
war ein ungarischer Kommunist, Anhänger der Sinowjew-Opposition, Ostasienspezialist und Instruk-
teur der Komintern für die Presse- und Propagandaarbeit der KPD (siehe auch seine folgenden Berich-
te aus Deutschland). Später aus China nach Moskau zurückgerufen, wurde er bereits 1935 verhaftet
und vermutlich Ende 1937 erschossen (siehe Dok. 434). Seine Frau, die Deutsche Lea Abramowitz
(Alice Abramovic) arbeitete im KPD-Apparat und überlebte eine ca. 15jährige Haft in der Sowjetunion.
Sie starb 1971 in der DDR (Kössler: Dritte Internationale und Bauernrevolution, S. 335; Archives de
Jules Humbert-Droz, IV, S. 358f. e.a.
45 Nach dem inszenierten Zwischenfall von Mukden besetzten japanische Truppen die Mandschurei.
Am 18.2.1932 wurde der Staat Mandschukuo unter einer japanischen Marionettenregierung für unab-
hängig erklärt. Die ostchinesiche Eisenbahn blieb vorerst juristisch unter Kontrolle der Sowjetunion.
46 Magyar bedient sich hier der besonders in England, aber auch in Russland verbreiteten Äsopschen
Fabel vom Hirtenjungen und dem Wolf („The Boy Who Cried Wolf“). Nachdem der Hirtenjunge dreimal
mit dem Ruf „Der Wolf kommt!“ die Bauern in die Irre geführt hatte, kam der Wolf beim vierten Mal
wirklich und fraß seine Herde (in anderen Versionen auch den Jungen), da die Bauern nicht mehr
halfen („Never Cry Wolf!“).
862 1929–1933
ununterbrochen über die Kriegsgefahr geschrieben habe, immer geschrieben hat, der
Wolf kommt, aber der Wolf kam nicht. Jetzt ist zwar der Wolf da, aber man will noch
immer nicht glauben. Das ist eine schwere Hemmung für unseren Kampf auch in den
Massen. Man müsste erklären, weshalb die KI diese Gefahr signalisierte, dass diese
Gefahr real war, aus welchen Gründen damals der Krieg nicht kam, und aus welchen
Gründen wir behaupten, dass der Wolf da ist.
Hitler-Rede. Hitler hat in Düsseldorf vor den Industriellen eine Rede gehalten, in
welcher er erklärte, dass er den Bolschewismus nicht nur in Deutschland, sondern
auch in Russland vernichten wolle.47 Die Rede wurde in einer sehr geschlossenen
Gesellschaft gehalten und 3 Vertreter des Comité du Forge48 waren ebenfalls anwe-
send. Das Stenogramm der Rede liegt am Kusnetzki Most49 oder bei den Nachbarn.50
Wir konnten hier das Stenogramm nicht erhalten. Man müsste es verschaffen und
hier veröffentlichen. [...]
In alter Freundschaft,
[Sign.] Ludwig.
Am 8.4.1932 erfolgt ein erneuter Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion über die Verhand-
lungen mit Deutschland. Dabei wurden Vorschläge des Kommissariats für Außenhandel angenom-
men, die dazu dienen sollten, günstige Bedingungen für sowjetische Importe nach Deutschland zu
erhalten.51
Ebenfalls am 8.4.1932 setzte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion das Budget des EKKI auf
1.456.000 Rubel und darüber hinaus das des OMS auf 411.000 Rubel fest.52
47 Mit der Absicht, das schlechte Image der NSDAP bei den Industriellen zu verbessern, hielt Hitler
am 26.1.1932 eine vielbeachtete Rede vor dem Industrie-Club Düsseldorf. Proteste von SPD und KPD
vor dem Parkhotel begleiteten Hitlers Ausfälle gegen Gleichheit, Demokratie und Klassenkampf. Als
Ausweg aus der Krise beschrieb er die Herstellung der „Einheitlichkeit“ im Volk: „Nimmt die derzeiti-
ge Entwicklung ihren Fortgang, so wird Deutschland eines Tages zwangsläufig im bolschewistischen
Chaos landen, wird diese Entwicklung aber abgebrochen, so muß unser Volk in eine Schule eiserner
Disziplin genommen und langsam vom Vorurteil beider Lager geheilt werden. Eine schwere Erzie-
hung, um die wir aber nicht herumkommen!“ (zit. in: Henry A. Turner: Die Großunternehmer und der
Aufstieg Hitlers, Berlin, Siedler Verlag, 1985, S. 261ff.).
48 Richtig: Comité des forges (deutsch: “Hüttenkomitee“), 1864 durch die Eisenhüttenbesitzer (Eu-
gène Schneider, Charles de Wendel u.a.) als Forschungs und Interessensorgan der Großindustriellen
gegründet. Es spielte eine zentrale Rolle für die Sicherung der Interessen der Industriellen, die In-
dustriepolitik und die Aufteilung der Märkte. 1940 wurde es von der Vichy-Regierung aufgelöst und
durch das Comité dʼorganisation de la sidérurgie ersetzt.
49 An der Kusnetzki Most-Straße in Moskau (russisch: Kuzneckij most) lag damals das Gebäude des
NKID.
50 Als „die Nachbarn“ wurde im Jargon der NKID-Mitarbeiter das OGPU-NKWD bezeichnet, dessen
Gebäude in der Lubjanka-Straße, d.h. schräg gegenüber vom NKID-Gebäude, lag.
51 APRF, Moskau, 3/64/661, 14–15. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 289.
52 RGASPI, Moskau, 17/162/12, 85.
Dok. 287: Moskau, 10.4.1932 863
Dok. 287
Heinz Neumann über den Personenkult Ernst Thälmanns und die
Auswirkungen auf den Kampf gegen den Faschismus
Moskau, 10.4.1932
53 Es dürfte sich um die letzte Rede Heinz Neumanns in einem hohen Kominterngremium gehandelt
haben: Im Mai wurde er auf Drängen Stalins aus der KPD-Führung entfernt.
54 Vermutlich Hinweis auf die „Beratungen“ der Delegation der VKP(b) im EKKI u.a. mit Thälmann
und Neumann im November 1931 (siehe hierzu Dok. 272). Die spätestens seit der Volksentscheidskam-
pagne im Jahr 1931 latenten Auseinandersetzungen in der Führungsspitze der KPD brechen nun auf
(siehe u.a.: Dok. 268).
864 1929–1933
Am Freitag, vor der Eröffnung der Plenarzentrale55 haben wir dann endlich die
Resolution mit den Aenderungen bekommen.56 Vorher (Pieck war dabei) wurde sie
aber bereits verschickt an alle Mitglieder des Zentralkomitees, an alle Abteilungslei-
ter und sogar an die Instrukteure. Dann erst haben wir sie bekommen und hatten
genau eine Stunde Zeit zur Durchsicht. Thälmann selbst erschien gar nicht zu dieser
Sitzung, er hatte noch seine achtstündige Rede ausgearbeitet. Er sagte zu Flieg: es
wird wohl alles angenommen werden, denn die Resolution kommt von der Komin-
tern, man solle ihm telefonieren. – Solange ich in der Führung sitze und mitverant-
wortlich bin, lasse ich mich nicht so behandeln! Wir sind doch keine Schulkinder.
Außerdem ist in Moskau gesagt worden, daß wir konkrete Fragen ändern können,
soviel wir wollen. [...]
Genosse Remmele hat schon einige politische Fragen dargelegt. Ich möchte jetzt
zum Ausgangspunkt den Zwischenruf des Genossen Piatnitzky nehmen, warum
Thälmann jetzt und nicht schon früher eine Aenderung der Führung wollte. Ich
glaube, daß hierbei natürlich auch persönliche Dinge eine Rolle spielen. Wir haben
immer gelernt, daß der Charakter und die Eigenschaften der Personen, die an der
Spitze einer Millionen-Partei stehen, nicht ohne Bedeutung sind. Thälmann hat in
den letzten Jahren – teilweise auch durch unsere Schuld und teilweise auch (ich sage
das in aller Bescheidenheit) durch Einwirkung der Komintern eine solche Selbstüber-
schätzung angenommen, daß er glaubt, er könne als Einzelperson die Partei führen.
Es gibt nur zwei Leute: Thälmann und Stalin, – das ist wirklich seine Auffassung. Er
will als Thälmann allein die Partei führen. Er hat keine große Meinung von uns und
auch nicht von den Genossen der Komintern, sondern er glaubt, daß er wirklich eine
Persönlichkeit ist vom Format Stalins und Lenins. Das ist er unserer Meinung nicht,
weil er große Schwächen hat. Zu seinen Schwächen gehört, daß er oft in ernsten Situ-
ationen nicht da ist. Wir wollten diese Frage nicht stellen, aber prüfen Sie die Tat-
sachen! Als die Versöhnler die Konzentration durchgeführt haben,57 war Thälmann
auf Monate fort. Einen Tag nach den Barrikadenkämpfen im Mai 192958 hatten wir
keine Verbindung mit Thälmann, er hat in Berlin in seiner Wohnung gesessen, wie
waren allein. Vor dem Volksentscheid war er einen Monat lang in Hamburg und hat
sich krank gemeldet, war dann in Berlin und hat auf einer Funktionärsversammlung
zum Volksentscheid gesprochen und war dann während des ganzen Volksentscheids
abwesend. [...]
55 Vermutlich handelt es sich um das ZK-Plenum der KPD, das vom 20.2.32–23.2.32 stattfand.
56 Siehe die Resolution des ZK-Plenums der KPD im Sinne des „Hauptstoßes gegen die Sozialdemo-
kratie“, Dok. 282.
57 „„Es ist für uns keine Redensart und kein Manöver, wenn wir davon sprechen, an einer wirklichen
Konzentration der Kräfte der Partei mitarbeiten zu wollen.“ (Brief von Karl Becker, Paul Frölich, Ger-
hart [Eisler], Ernst Meyer an Thälmann, Remmele, Dengel, Ewert, Berlin, 17.10.25, in: SAPMO-BArch,
RY 1/I 2/3/66, 11–16, zit. in: Wilde: Ernst Meyer, S. 415).
58 Gemeint sind die Ereignisse um den Berliner „Blutmai“ am 1.5.1929. Siehe hierzu Dok. 217, 222.
Dok. 287: Moskau, 10.4.1932 865
– Ich will nicht mehr über alle Dinge reden. Ich kenne meine Fehler sehr gut.
Niemand wird sagen, daß wir persönlich sind.
(Zwischenruf Remmele: Ich bin 35 Jahre organisiert und noch niemals habe ich
mich an einer Fraktion beteiligt.) [...]
Was ist Leow? Er ist an der Spitze des RFB, vollkommen unfähig. Wir dulden ihn
jahrelang, weil er der beste Freund von Thälmann ist.59
(Zwischenruf Gen. Manuilski: Aber als wir nach Leningrad gefahren sind, haben
Sie mir gesagt: Leow ist ein sehr guter, ausgezeichneter Kerl!)
Neumann: Persönlich! Aber was hat Leow aus dem RFB gemacht? Einen Trüm-
merhaufen; er hat 12.000 Mitglieder! Von der Komintern kommt ein Telegramm, wir
sollen schärfer gegen den Faschismus kämpfen. Was ist das Resultat? Der Rote Front-
kämpferbund kämpft nicht genügend gegen den Faschismus, gegen den Krieg! Und
niemand von uns darf sich einmischen, sonst wird es als eine Attacke gegen Thäl-
mann bezeichnet. Es gibt zwei Dinge, in denen Thälmann unbeschränkt herrscht:
das ist der Hamburger Bezirk und der R.F.B. Und auf beiden Gebieten sieht man, wozu
solch persönlicher Kurs führt.
Remmele hat schon geschildert, daß Scher [d.i. John Schehr] behauptet hat,
Münzenberg habe gesagt, Thälmanns Rede sei zu lang. Dafür hat Schehr schon seine
Belohnung, er ist Polsekretär vom Ruhrgebiet! Scher, bekannt aus dem Fall Wittorf,
kriegt den wichtigsten und größten Bezirk Deutschlands anstelle von Florin – gegen
die Stimmen von Hermann [Remmele] und mir, d.h. es wurde ja nicht abgestimmt,
aber Hermann und ich haben Einwendungen gehabt. Das ist Cliquenpolitik im
schlimmsten Sinne. Wer mit ihm ist, wer Byzantismus macht, wird von ihm heran-
gezogen wie Schehr, Leow, Hirsch; jeder, der selbständig auftritt, der etwas tut, ohne
daß er vorher Thälmann fragt und ihm sagt: unser großer Führer, – der wird beiseite
geschoben. In Parteidokumenten steht schon drin: „unser Führer!“60 Die Resolution
wurde aufgrund des Pravda-Artikels gemacht, um ihn gegen uns auszuspielen. Aber
eine Aenderung hat man dabei vorgenommen. In der Pravda hieß es: Fünf Millionen
Stimmen für die proletarische Revolution und die proletarische Diktatur. Thälmann
hat das durch Hirsch geändert: Fünf Millionen Stimmen für Thälmann, den Führer
unserer Partei! Thälmann hat verlangt, daß „Führer“ drin steht.61
59 Seit der Wittorf-Affäre 1928 gab es Gerüchte über Korruption und Misswirtschaft im RFB. Dass
Leow ein Trinker war, war kein Geheimnis. Nach seiner Emigration in die Sowjetunion wurde er als
Anführer eines Komplotts, in den die wolgadeutsche Parteiorganisation und die Komintern verwickelt
gewesen sein sollten, verhaftet und 1937 erschossen (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten,
II, S. 538).
60 Bereits in der Roten Fahne vom 12.9.1930 hatte man den NS-Sprachgebrauch in einer Veranstal-
tungsankündigung übernommen („Heute spricht unser Führer“). Vgl. den Brief Piecks an Thälmann
(Dok. 283).
61 Thälmann wurde bereits seit Anfang der 1930er Jahre auch in der Parteipresse als “Führer unse-
rer Partei“ tituliert und Hitler gegenübergestellt, so: Heute spricht unser Führer. In: Die Rote Fahne,
866 1929–1933
Wie wirkt sich das in der sachlichen Arbeit aus? Jeder Versuch, irgend etwas zu
arbeiten, was nicht Thälmanns Person in den Mittelpunkt stellt, wird niedergetram-
pelt. Als der Fall Merker war, ist Thälmann weggefahren; beim Volksentscheid, bei
den Mai-Barrikaden, beim Kampf mit den Versöhnlern, – bei allen entscheidenden
Fragen ist er abwesend; wenn alles vorbei ist, kommt er zurück, kritisiert und macht
alles kaputt. [...]
Dok. 288
Rede Manuilskis zur Vorbereitung des XII. EKKI-Plenums:
Angesichts ihres Schematismus müsse die KPD dem Faschismus
unterliegen
[Moskau], 17.4.1932
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 495/170/5, 41–66, hier: 53–57, 64. Deutsche
Erstveröffentlichung. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja,
S. 771–774.
Versammlung zur Vorbereitung des XII. Plenums des EKKI (17. April 1932)
Geheim
Manuilski: Genossen, ich will auf eine weitere diskussionswürdige Frage eingehen.
[...] Es ist die Frage nach unseren Losungen. Ich habe mir soeben den 1.-Mai-Aufruf
der französischen Arbeitskonföderation herausgegriffen.62 Ich gebe mein Ehrenwort
darauf, dass ich mich in einer solchen Stimmung befand, dass ich bereit war, mit
Schimpfworten um mich zu werfen, was bei mir selten vorkommt (Gelächter). [...]
Die Faschisten haben nun alles mögliche in Deutschland ausgenutzt, sie nutzen
das ökonomische und nationale Moment, sie nutzen die erhöhte Aktivität der Massen
für Aktionen aus, sie nutzen alles aus und sagen: Wir sind die Politiker des heutigen
Tages, und wir bieten Euch einen revolutionären... [Ausweg]63 Ein Genosse hat mir das
folgende lebendige Bild zur Illustration übermittelt: er war auf einer Versammlung
faschistischer Arbeitsloser – 150–200 Mann von der Sturmabteilung.64 Ein Redner
tritt auf und sagt: „Kameraden, ihr habt heute über den Sklarek-Prozess gelesen.65
12.9.1930; Der Führer unserer Partei (ibid., 22.5.1931, 22.11.1932) u.a. Wilhelm Pieck hatte den begin-
nenden Führerkult in der KPD noch kritisiert (Dok. 283).
62 Gemeint ist die Confédération générale du travail unitaire, die sich 1921/1922 von der CGT abspalte-
te und sich der Profintern anschloss.
63 Auslassung im Original.
64 Sturmabteilung (SA).
65 Die jüdischen Textilunternehmer Leo und Willy Sklarek (Verhaftung am 26.9.1929) wurden am
23.6.1932 zu je vier Jahren Zuchthaus wegen Betrugs in Tateinheit mit schwerer Urkundenfälschung
und Bestechung verurteilt. In die großflächigen Bestechungen von Berliner Beamten waren neben
Dok. 288: [Moskau], 17.4.1932 867
Dieser Prozess kostet der deutschen Republik jeden Tag 17.000 Mark. Ich frage Euch,
wäre es nicht besser, diese 17.000 Mark unter den Arbeitslosen zu verteilen, anstatt
dass die bürgerliche Republik dieses Geld verwendet, um irgendwelche demokrati-
schen Prozesse zu führen? Sklarek hat [sic]66 10 Millionen Mark verschwendet, und
wäre es nicht etwa besser, wenn man das Geld in Unternehmen investieren und Euch
Arbeit geben würde? Wenn wir also an die Macht kommen, schaffen wir eine Dreier-
gruppe [trojka] aus...67 und einem Vertreter der Arbeiterklasse, und was machen wir
dann wohl mit Sklarek?“ Und die Menge schreit mitgerissen: „Wir werden ihn [sic]
erschießen!“ Hier haben Sie ein lebendiges Bild.
Danach geht dieser Genosse auf eine Versammlung, wo unsere Arbeiter und
Arbeitslosen anwesend sind, und dieser Genosse hält eine Rede wie folgt: „Genossen,
das XI. Plenum des EKKI hat konstatiert, dass die kapitalistische Stabilisierung ihrem
Ende zugeht, dass der Kapitalismus allergrößte Erschütterungen durchlebt, dass die
Krise eines der Anzeichen dieser Erschütterungen ist, dass man einen revolutionären
Ausweg aus der Krise suchen muss usw. usf.“
Es ist erforderlich, sich auf eine gekonnte, revolutionäre, lebhafte Weise der
Sache der Mobilisierung der Massen anzunehmen.[...]
Die Faschisten sind stark zur Zeit, weil sie an das aktive Massengefühl appellie-
ren, sie sprechen über die heutige Politik, wir aber versprechen [eine Besserung] in
der Zukunft. [...]
Am 28.4.1932 erlaubte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion der sowjetischen Verhandlungs-
delegation in Deutschland für eine Vereinbarung mit der Reichsbank die mündliche Zusage zu geben,
bei Bestellungen mit Reichsmark zum Dollarkurs bezahlen zu können.68
SPD-Amtsträgern auch KPD-Stadträte wie Gustav Degner involviert (siehe: Antonia Grunenberg: „Ge-
meine Systemverbrecher“? Der Fall Sklarek in Berlin 1929. In: Freibeuter, 1987, H. 31. Aus der KPD war
Otto Gäbel in den Skandal verwickelt, siehe hierzu: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 279f.
66 Da Manuilski anscheinend nicht mit den Einzelheiten der Sklarek-Affäre vertraut war, ging er
davon aus, dass es sich bei Sklarek um eine einzige Person handelte, und benutzte im Folgenden den
Singular.
67 Auslassung im Original.
68 RGASPI, Moskau, 17/162/12, 115; APRF, Moskau, 3/64/661, 21. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Ber-
lin, II, Dok. 291.
868 1929–1933
Dok. 289
Brief „Ludwigs“ (Ps.), d.i. Lajos Magyar, über den Einbruch der
Nationalsozialisten in die Arbeiterklasse und die Perspektiven
eines deutschen Italien
[Berlin?], 9.5.1932
Den 9.V.32.
obwohl Sie jetzt über deutsche Angelegenheiten genug hören werden, möchte ich
Ihnen doch einige Gedanken zusammenhanglos mitteilen.
1. Wie zu erwarten war, versuchen die Nazis, ihren Einbruch in die Arbeiterklasse zu
erweitern. Auf dem Wedding halten sie jede Woche eine öffentl[iche] Versammlung
ab. Die SA-Kasernen werden in „Küchen“ umgewandelt und je 400, 600 Mann täglich
erhalten dort zu essen. In Berlin führen sie jetzt eine Aktion durch, um 5.- bis 6.000
proletarische Kinder aufs Land zu schicken. Solange sie nicht in der Regierung sein
werden, werden sie auch gegen die bevorstehenden Notverordnungen, Lohnabbau
eine entsprechende Demagogie treiben. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, ihren
weiteren Einbruch in die Arbeiterschaft aufzuhalten. Je mehr ich die Sache studiere,
desto klarer wird es für mich, welch grosse Fehler wir in der Bekämpfung der Nazis
gemacht haben. Man kann sogar die SA nicht nur als eine Prätorianergarde betrach-
ten, die man mit Fäusten erledigen kann. Es ist einfach nicht wahr, dass die Leute
in der SA nur bezahlte Subjekte sind. Es sind sogar nicht wenig Proleten unter den
400.000 SA-Leuten im Reich, die durch die Nazi-Demagogie und nicht allein durch
Geld, Bekleidung usw. angezogen werden.69 Man muss auch einen politischen, ideo-
logischen Kampf gegen die Nazis führen, nicht nur schimpfen. Überhaupt ist das
Schimpfen allein keine genügende Waffe, sogar im Kampfe gegen die Renegaten
nicht. Siehe Frankreich.70
69 Statt der genannten 400.000 gab es 1932 ca. 220.000 Mitglieder, davon ein Großteil Arbeiter und
Angestellte. Die KPD hatte sich bereits 1931 in einem Offenen Brief an die „Werktätigen Wähler der
NSDAP und die Mitglieder der Sturmabteilungen“, speziell an die „schaffenden Volksgenossen“ ge-
wandt: „Als ehrliche Kämpfer gegen das Hungersystem haben sich die proletarischen Anhänger der
NSDAP in die Einheitsfront des Proletariats eingereiht und in Erwerbslosenausschüssen ihre revolu-
tionäre Pflicht getan. (...) In zahlreichen Wohngebieten haben Anhänger der NSDAP den revolutionä-
ren Arbeitern geholfen, die Massen gegen die Exmission von Erwerbslosen zu mobilisieren. In vielen
Dörfern haben Mitglieder der NDSAP unter Führung der Kommunisten verhindert, daß den schaffen-
den Bauern die Kuh gepfändet oder ihr kleiner Besitz versteigert wurde.“ (Die Rote Fahne, 1.11.31, zit.
in: Hermann Weber: Der deutsche Kommunismus, Frankfurt am Main, 1963, S. 156).
70 Neben den „Renegaten“ von rechts und einer ebenfalls relativ starken trotzkistischen Bewegung
von links wurde im Dezember 1930 die Parti dʼunité prolétarienne (deutsch: Partei der proletarischen
Einheit) durch den Zusammenschluss zweier kleiner Parteien, der Parti ouvrier et paysan (POP) und
Dok. 289: [Berlin?], 9.5.1932 869
2. Zur Frage der Einheitsfronttaktik von unten. Man stellt diese Frage sehr oft nur
als ein Problem der Gewinnung der sozialdemokratischen und sozialdemokratisch
beeinflussten Arbeiter. Diese Fragestellung ist zu eng. Das Problem liegt viel tiefer.
3. Zur Frage des Faschismus. In den vorigen Briefen habe ich darauf hingewiesen, dass
die Arbeiter stimmungsgemäss und sehr berechtigt den Hitler-Faschismus gegenwär-
tig als die grösste Gefahr erachtet haben. Ein Beweis dafür: im Saargebiet und im
Memel haben wir wirklich glänzende Wahlerfolge gehabt, weil dort die Frage über
Hitler nicht steht und unsere Genossen mit ihrer Unterschätzung des Hitler-Faschis-
mus sich nicht mit den Stimmungen der Arbeiter in Gegensatz bringen konnten,
wie das sonst in Deutschland geschah. Wir haben in Bayern auch verhältnismäs-
sig besser abgeschnitten, weil dort die Hitler-Gefahr nicht so unmittelbar ist wie in
anderen Teilen Deutschlands. Eben deshalb erlaube ich mir eine kritische Bemerkung
der Parti socialiste communiste oder auch Union socialiste communiste (PSC/USC) gegründet. Letz-
tere wurde vom sozialistischen Priester Paul Louis geleitet. Beide waren 1923 entstandene Abspaltun-
gen von der KPF. Generalsekretär der PUP war Louis Sellier, der 1929 zusammen mit fünf weiteren
Pariser Statdtverordneten aus der KPF ausgeschlossen wurde (siehe: Michel Dreyfus: PCF, Crises et
dissidences: de 1920 à nos jours. Bruxelles, Editions Complexe, 1990; Georges Lefranc: Le mouvement
socialiste sous la troisième République: 1875–1940, Paris, Payot, 1963).
870 1929–1933
hinsichtlich des Aufrufes des ZK und der RGO über die Einheitsfront.71 Man hätte in
diesem Aufruf die Frage über den Faschismus viel schärfer stellen müssen. [...]
5. Es gibt einige Theorien hier, mit denen man gründlich aufräumen müsste. Eine
Theorie besagt, dass Deutschland kein Italien sei, dass also hier der Faschismus
nicht herrschen kann. Selbstverständlich ist Deutschland nicht Italien, aber Musso-
lini hat vor der Machtergreifung weder 13 Millionen Stimmen bekommen, noch eine
solche Organisation besessen wie Hitler. In Deutschland wird die faschistische Dik-
tatur, wenn es dazu kommt, andere Formen annehmen. Es ist nicht ausgeschlossen,
dass sogar eine gewisse „legale“ Periode kommt. Aber diese Theorie, Deutschland
sei nicht Italien, ist ziemlich gefährlich. Aus dieser Theorie folgt auch die Theorie,
dass in Deutschland ein Hitler-Regime sich nur einige Monate lang halten kann.
Diese Auffassung ist einfach abenteuerlich und verbrecherisch. Es ist keine Kleinig-
keit, eine faschistische Diktatur zu stürzen, und man sollte sich nicht mit Selbstbe-
trug befassen. Manche trösten sich auch damit, dass ein eventuelles Hitler-Regime
kein einziges Problem lösen könne und dass die Anhänger von Hitler dann auseinan-
derlaufen würden. Man tröstet sich auch damit, dass in der nationalsozialistischen
71 In einem gemeinsamen Aufruf von KPD und RGO vom 25.4.1932, der sich an die „gewerkschaftlich
organisierten Arbeiter, an alle Mitglieder der ADGB-Gewerkschaften und an alle sozialdemokrati-
schen Arbeiter“ richtete, nicht jedoch explizit an die betreffenden Organisationen, wurde gleichwohl
eine gemeinsame Perspektive des Kampfes „mit jeder Organisation, in der Arbeiter vereinigt sind,
und die wirklich den Kampf gegen Lohn- und Unterstützungsabbau führen will“ entwickelt (Die Rote
Fahne, 27.4.1932. Siehe hierzu: Werner Müller: Lohnkampf, Massenstreik, Sowjetmacht. Ziele und
Grenzen der „Revolutionären Gewerkschafts-Opposition“ (RGO) in Deutschland 1928 bis 1933. Köln,
Bund-Verlag, 1980, S. 180f.).
72 Es handelt sich um die Verhinderung der Wahl eines NS-Landtagspräsidenten in Preußen (hierzu
ausführlich die folgenden Dokumente).
Dok. 290: [Moskau], 10.5.1932 871
Partei selbst die verschiedenen Klassen aufeinanderstossen und die Krise der Partei
hervorrufen werden. Meiner Meinung nach sind alle diese Theorien ganz überflüs-
sige Ausflüsse des Selbsttröstens. Ich weiss schon, dass der Nationalsozialismus kein
einziges Problem wirklich lösen kann, dass sie die Interessen ihrer Massenanhänger
nicht befriedigen können. Wenn sie aber die Macht werden ergriffen haben, werden
sie solche Zustände schaffen, dass sie die Gegensätze in die Tiefe treiben, und der
Ausbruch dieser Gegensätze kann eine ziemlich lange und für die Arbeiterklasse
bestimmt sehr blutige Periode sein. [...]
Dok. 290
Anschreiben Pjatnitzkis an Stalin zu den Informationsberichten
über die Lage in der KPD
[Moskau], 10.5.1932
Absolut geheim
No 3266 10.V.[19]32
Wir senden Ihnen einen Informationsbericht über die Lage in der KP Deutschlands,
der von den Genossen Manuilski, Gusev, Knorin, Kuusinen und mir durchgesehen
worden ist, – als Mitteilung über das bevorstehende Treffen mit den deutschen
Genossen.74
73 Zum Bericht über die Lage in der KPD und zur bevorstehenden Sitzung mit Thälmann, Neumann,
Remmele lag auch ein Anschreiben Pjatnitzkis vom 10.5.1932 vor, der Stalin um Anweisungen bat,
siehe Dok. 290.
74 Vermutlich das Treffen mit Stalin vom 17.5.1931, an dem für die KPD Thälmann, Neumann, Remme-
le, Pieck und Ulbricht und für die russische Komintern-Delegation und die VKP(b) Manuilski, Pjatnitz-
ki, Knorin, Gusev, Lozovskij, Kalinin, Enukidze und Kaganovič teilnahmen. Neben dem Beschluss,
Neumann vorübergehend aus der Führung der KPD zu entfernen und aus Deutschland abzuberufen,
erfolgten in der mehr als fünfstündigen Sitzung neue Festlegungen für die „Antifaschistische Aktion“
(siehe hierzu Dok. 294; vgl. A.V. Korotkov, A.D. Černev, A.A. Černobaev: Posetiteli Kremlevskogo kabi-
neta I.V. Stalina. Žurnaly (tetradi) zapisi lic, prinjatych pervym gensekom. In: Istoričeskij archiv (1994),
Nr. 6; (1995), Nr. 2, 3, 4, 5–6; (1996), Nr. 2, 3, 4, 5–6; (1997), Nr. 1 und weitere Ausgaben; Hoppe: In
872 1929–1933
Pjatnitzki
Geheim
Stalins Gefolgschaft, S. 336). Am 14.5.1932 hatte bereits ein Treffen der Politkommission mit Thälmann
stattgefunden, auch dieses Stenogramm ist überliefert (siehe: RGASPI 495/4/188a).
75 Die geschlossene Sitzung der Politkommission fand am 10.4.1932 statt (siehe das Stenogramm,
Dok. 287).
76 Für Neumann traf dies wohl nicht zu. Siehe hierzu das Protokoll (B) der Politkommission (RGASPI
495/4/182, 48f.).
77 Am 2.8.1932 schrieb Kaganovič an Stalin über die Angelegenheit Neumann, er besitze weiteres
Material von Pjatnitzki, das auf „irgendetwas Fraktionelles“ hindeute (Persönliches Archiv M.L.
Kaganovič, Moskau. Publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S. 258). Am 8.8.1932 ant-
wortete Stalin, es sei „klar“, dass Neumann Fraktionsarbeit mache. Man müsse ihn zur Rechenschaft
ziehen, es reiche im Augenblick jedoch aus, ihn zu verwarnen und seine Politbüro-Kandidatur zu-
rückzuziehen (RGASPI, Moskau, 558/11/99, 193–142. Publ. in: Ibid., S. 270). Kaganovič übermittelte die
Stellungnahme der Komintern; am 16.8.1932 schrieb er an Stalin, die Kominternleute hätten ebenfalls
härtere Maßnahmen befürwortet (RGASPI, Moskau, 558/11/740, 153–160. Publ. in: Ibid., S. 283).
78 Die Landtagswahlen in Preußen vom 24.4.1932 erbrachten für die NSDAP eine Steigerung von 2 auf
36%, für die KPD ergab sich keine Verbesserung.
Dok. 290: [Moskau], 10.5.1932 873
die für die Kompartei abgegeben wurden, aufgrund der [Nicht-]Wähler aus der Arbei-
terschaft geschah, zeigt am deutlichsten der Umstand, dass in den zwei wichtigsten
Bezirken Berlins (Wedding und Friedrichshain), wo die Partei verhältnismäßig am
stärksten war, die Zahl für der für die Kompartei abge[ge]benen Stimmen sogar unter
das Niveau der Wahlen vom Mai 1928 fiel.
In den roten Gewerkschaften und der revolutionären Gewerkschaftsopposition
macht sich bereits seit einigen Monaten ein Stillstand bemerkbar, geht eine Verringe-
rung der politischen Autorität und des Gewichtes der revolutionären Gewerkschafts-
bewegung überhaupt vor sich.
Die Partei hörte gegen Ende 1931 faktisch auf, zu wachsen, und offensichtlich –
genaue Zahlen für das Jahr 1932 haben wir noch nicht – liegt in der letzten Zeit sogar
ein gewisser Rückgang des Mitgliederbestandes vor.79
d) Den Nationalsozialisten ist es gelungen, in eine Reihe der wichtigsten Betriebe
und insbesondere in das Milieu der Arbeitslosen einzudringen; der Einfluss der Nati-
onalsozialisten in der Arbeiterklasse wächst weiter; es gibt allen Grund zur Annahme,
dass die allerelendsten Schichten der Arbeiter und die Arbeitslosen, die sehr lange
keine Arbeit mehr haben und keine Unterstützung erhalten, auf die Seite der Natio-
nalsozialisten wechseln.
e) Die Sozialdemokraten verlieren weiter an Einfluss auf die Massen, aber nicht
zugunsten der Kommunisten, sondern zugunsten der Nationalsozialisten; in Bezug
auf die Kommunisten ist es ihnen zum ersten Mal in der Krisenzeit gelungen, zum
Gegenangriff überzugehen; sie haben die bedeutungsvolle Kampagne der „Eisernen
Front“ entwickelt,80 mit der sie der Kompartei die Initiative für die Einheitsfront weg-
geschnappt haben; sie haben eine hysterische Agitationskampagne gegen Hitler ent-
wickelt, der die Kompartei keine ernsthafte Gegenkampagne entgegenstellen konnte;
der Sozialdemokratie gelang es, bei den Wahlen einen gewissen Teil der kommunis-
tischen Wähler auf ihre Seite zu bringen, die unseren Kampf gegen den Faschismus
nicht gesehen haben und dem Glauben verfielen, dass die Sozialdemokraten tatsäch-
lich gegen die Faschisten kämpfen.
79 Nach den vorliegenden Statistiken stieg die Mitgliederzahl der KPD Anfang 1931 von knapp
200.000 bis Ende 1932 auf knapp 300.000 kontinuierlich an. Siehe: Ulrich Eumann: Sozialgeschichte
der KPD. http://www.kpd-sozialgeschichte.homepage.t-online.de/statistiken.html#mgl.
80 Eiserne Front: Als Kampfbund zur Verteidigung der Republik 16.12.1931 als Konterpart der rechts-
nationalistischen „Harzburger Front“ auf Initiative des Reichsbanners gegründet (siehe Dok. 250),
schlossen sich in ihr ADGB, SPD, Allgemeiner Freier Angestelltenbund (Afa-Bund) und Arbeiter-Turn-
und Sportbund (ATSB) zusammen. Politisch von der SPD und wehrtechnisch vom Reichsbanner ange-
leitet, verfehlte sie ihre Mission, durch den Aufbau einer schlagkräftigen Organisation den National-
sozialismus zu bekämpfen, selbst bei von Papens staatstreichähnlichem Schlag gegen die preußische
Regierung im Juli 1932 wurde auf einen effektiven Widerstand verzichtet, Reichsbanner-Vorsitzender
Höltermann wurde von den Gewerkschaften überstimmt (siehe: Helga Gotschlich: Zwischen Kampf
und Kapitulation. Zur Geschichte des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Berlin, Dietz, 1987).
874 1929–1933
81 Hier wurden seitens der Kominternspitze ein Bericht über die konkreten Interventionen in Rich-
tung auf die KPD sowie Vorschläge für Korrekturen der KPD-Politik an die Adresse Stalins und Molo-
tovs vorgelegt (siehe Dok. 272).
Dok. 290: [Moskau], 10.5.1932 875
82 Die „Prager Konferenz“ fand vom 15.8.1931–18.8.1931 unter Teilnahme west- und zentraleuropä-
ischer kommunistischer Parteien in Berlin statt. U.a. von Dimitrov, Ulbricht, Frachon und Nieder-
kirchner vorbereitet, sollte sie Richtlinien zum Kampf gegen die Erwerbslosigkeit entwickeln und
konkrete Kampschritte zur Überwindung der Trennung zwischen Arbeitslosen und Arbeitern in den
Betrieben formulieren (Horst Schumacher, Konrad Fischer, Herbert Mayer u.a. (Hrsg.): Geschichte der
internationalen Arbeiterbewegung in Daten, Berlin (Ost), Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK
der SED, Dietz, 1986, S. 288).
876 1929–1933
Mehrheit der Stimmen des Landtages gewählt werden kann. Im neuen Landtag haben
die Parteien, die die Regierung Braun-Severing unterstützen, 162 Abgeordnete, die Par-
teien der rechten Opposition 203 Deputierte, die Kommunisten 57 Abgeordnete. Daraus
folgt, dass bei Beibehaltung des gegenwärtigen Reglements der neue Premierminister
nicht gewählt werden kann und angesichts dessen das Kabinett Braun als geschäfts-
führendes Kabinett im Amt bleiben kann. [...] Die Rechten sind offensichtlich bereit, die
Frage so auszulegen, dass für die Änderung des Reglements nur eine relative Mehrheit
notwendig ist. Vor uns stellt sich die Frage, ob wir vor den Arbeitern die Verantwortung
für die Schaffung einer Regierung von Nationalisten und Nationalsozialisten, einer
faschistischen Regierung, anstatt der gegenwärtigen sozialdemokratischen Regierung
auf uns nehmen können. Uns scheint, dass wir eine solche Verantwortung nicht auf
uns nehmen können und sollten den Sozialdemokraten einige Forderungen stellen, die
den breiten Massen verständlich sind, bei deren Erfüllung wir gegen die Änderung des
Reglements stimmen oder gegen die Abmachung einer entsprechenden Deklaration
stimmen könnten. Dies wird jedoch faktisch bedeuten, dass die den Massen verhasste
sozialdemokratische Regierung als geschäftsführende Regierung im Amt bleibt.83
Dieser Umstand wird sich ebenfalls auf unsere Möglichkeiten, die Massen zu mobilisie-
ren auswirken, unserer Meinung nach im geringeren Maße.
83 Schliesslich handelte die KPD-Führung gegen die Vorgaben der Kominternspitze, die KPD-Abge-
ordneten votierten für den SPD-Kandidaten, womit Thälmann selbst eine zentrale Abweichung von
der Einheitsfrontpolitik von unten legitimierte (siehe hierzu Dok. 295; vgl. Hoppe: In Stalins Gefolg-
schaft, S. 306ff.).
Dok. 290: [Moskau], 10.5.1932 877
Am 16.5.1932 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, ein Abkommen mit deutschen
Industriellen über Kredite und Warenbestellungen anzustreben, welches für die Dauer eines Jahres
(bis Mai 1933) ausgelegt werden sollte.84
Am gleichen Tag wurde nach dem Plan von Aleksej Steckij und Karl Radek ein Beschluss zu den Auf-
gaben des per Entscheidung vom 1.4.1932 gegründeten Informationsbüros („Büro für internationale
Information des ZK der VKP(b)“) gefasst. In den nächsten Monaten sollte dieses von Radek geleitete
und direkt Stalin zugeordnete Büro für das ZK der Partei Informationen über „internationale Fragen“
beschaffen und seine Tätigkeit u.a. auf die polnisch-sowjetischen, deutsch-polnischen, deutsch-so-
wjetischen und polnisch-baltischen Beziehungen ausrichten.85
Betreffs der Verhandlungen mit Deutschland über die Importkredite beschloss das Politbüro des ZK
der KP der Sowjetunion am 1.6.1932, Jurij Pjatakov nach Berlin zu entsenden, um eine Verbesserung
der Vertragsbedingungen zu erreichen; bis dahin sollte von weiteren Bestellungen abgesehen wer-
den. Aus Berlin schlugen Pjatakov und Vejcer vor, den deutschen Forderungen entgegenzukommen,
was vom Politbüro am 10.6.1932 akzeptiert wurde.86
Am 1.6.1932 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über die Lage in Deutschland und
eine ggf. notwendige Veränderung der politischen Ausrichtung der Komintern infolge des Wechsels
im Amt des Reichskanzlers von Brüning zum deutsch-nationalen Franz von Papen und seinem kon-
servativen Adelskabinet (am 30.5.1932). Nach einem Bericht Manuilskis wurde beschlossen, den Mit-
gliedern des Politbüros durch das Sekretariat des EKKI eine Notiz über die Lage in Deutschland und
den Maßnahmen zu übermitteln, die die Komintern und die KPD in Bezug auf die Regierung von Papen
ergreifen werde.87
84 RGASPI, Moskau, 17/162/12, 134, 140; APRF, 3/64/661, 32–33. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin,
II, Dok. 293.
85 Siehe den Beschluss: RGASPI, Moskau, 17/162/11, 143–144, publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.:
Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Evropa, S. 281–283. Zur Geschichte des Informationsbüros siehe: Oleg
Ken: Karl Radek i Bjuro Meždunarodnoj Informacii CK VKP(b). 1932–1934 gg. In: Cahiers du Monde
russe 44 (2003), No. 1, S. 135–178.
86 RGASPI, Moskau, 17/162/12, 153, 182, 189; APRF, 3/64/661, 44, 51. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-
Berlin, II, Dok. 295 und 296.
87 RGASPI, Moskau, 17/162/12, 151. In russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.:
Politbjuro i Komintern, S. 666–667.
878 1929–1933
Dok. 293
Brief Stalins an Lazarʼ Kaganovič gegen die kritische
Berichterstattung der sowjetischen Presse über die neue deutsche
Papen-Regierung
Sotschi, 5.6.1932
Unsere Zeitungen haben in Bezug auf die neue deutsche Regierung einen unrichtigen
Ton angeschlagen.88 Sie beschimpfen und schmähen letztere. Dies ist eine falsche
Position, die auf „Revolutionierung“ ausgerichtet ist, in Wirklichkeit jedoch denjeni-
gen nützt, die einen Bruch zwischen der UdSSR und Deutschland bezwecken. Dieser
Fehler muss korrigiert werden.89
Stalin.90
88 Stalin wendete sich konkret gegen einen kritischen Artikel der Pravda vom 3.6.1932 über die neue
deutsche Regierung. Im von ihm inkriminierten Artikel hieß es u.a., Papen habe die Aufgabe, eine
Diktatur zu errichten, die Weimarer Verfassung abzuschaffen und den Reichstag aufzulösen. Brü-
ning habe mit Hilfe der SPD eine nationalsozialistische Basis für die Regierung Papen geschaffen.
Deutschland sei nach wie vor der Herd der revolutionären Gärung in Europa, die KPD sei „der einzige
Organisator der werktätigen Massen gegen den faschistischen Terror.“ (Pravitelʼstvennyj krizis v Ger-
manii, Pravda, 3.6.1932).
89 Drei Tage später, am 9.6.1932, schrieb Kaganovič an Stalin, es sei schwer, Deutschland gegen die
Sowjetunion aufzubringen, wo doch „selbst ein Nat[ional]-Sozialist wie [von] Reventlow“ dies er-
klärt habe (RGASPI, Moskau, 558/11/740. Publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S.
153–156). Am 3.8.1932 berichtete Kaganovič dem Generalsekretär über Gespräche mit von Reventlow;
sie wiesen darauf hin, dass „selbst solche faschistischen Elemente uns gegenüber zu versichern ge-
zwungen sind, die Beziehungen zu uns nicht zu zerstören.“ Kaganovič hielt dies für sehr wichtig,
denn solche „Elemente“ würden voraussichtlich weiter an der Macht beteiligt bleiben (Privatarchiv
M.L. Kaganovič. Publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S. 259). Stalin und seine En-
tourage überschätzten dabei die Rolle von Reventlows und anderer prosowjetischer Kreise innerhalb
der NSDAP (vgl.: Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 315). Gleichzeitig erkundete der sowjetische Bot-
schaftsrat in Berlin, Sergej Aleksandrovskij, Möglichkeiten zum Kontaktaufbau mit NS-Größen wie
Göring (siehe: Dʼjakov/Bušueva: Fašistskij meč, S. 133).
90 Vermerk am Schluss des Dokuments: N° 7. 21.25. 5/VI.32.
Dok. 294: Berlin, 18.6.1932 879
Dok. 294
Brief Ernst Thälmanns an Wilhelm Florin über die Taktik zur
Verhinderung der Wahl eines NS-Präsidenten im Preußischen
Landtag
Berlin, 18.6.1932
Lieber Wilhelm!91
[...] Am 22.6. steht im Preußischen Landtag die endgültige Wahl des Landtagspräsidi-
ums für die ganze Dauer der Existenz des Landtags, sowie die Wahl des Ministerprä-
sidenten auf der Tagesordnung.92 In der zweiten Frage tritt in unserer Taktik keinerlei
Änderung ein. Wir halten an der Methode fest, eine Änderung der Geschäftsordnung,
die die Wahl eines Naziministerpräsidenten ermöglichen würde, zu vereiteln.
In der ersten Frage ist die Lage heute etwas anders als beim Zusammentritt des
Landtages vor 4 Wochen, als die erste provisorische Wahl des Landtagspräsidiums
erfolgt ist.93 Das Zentrum will aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr für einen
Nazi als Landtagspräsidenten stimmen. Die Wiederwahl des nationalsozialistischen
Landtagspräsidenten hängt also ausschließlich von unserer Stellungnahme ab. Nun
ist der Preußische Landtagspräsident bekanntlich eines von den drei Mitgliedern
jener Körperschaft, die über Landtagsauflösung zu entscheiden hat. Zu dieser Kör-
perschaft gehören außerdem noch der Vorsitzende des Staatsrates und der Minister-
präsident. Wenn ein Nazi Landtagspräsident würde, so bestünde im Falle der Ein-
setzung eines Reichskommissars anstelle des Ministerpräsidenten eine 2:1 Mehrheit
91 Wilhelm Florin war seit Frühjahr 1932 Nachfolger Piecks als Leiter der deutschen Vertretung beim
EKKI.
92 Bei der Wahl des preußischen Landtagspräsidenten vom 22.6.1932 stimmte die KPD-Landtagsfrak-
tion auch ohne Erfüllung der von der Komintern geforderten Bedingungen für den Sozialdemokraten
(Protokoll Nr. 141 der außerordentlichen Sitzung des Politsekretariats vom 20.6.1932, RGASPI, Moskau
495/3/251, 1, erwähnt in Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 307). Die Kritik aus Moskau folgte postwen-
dend (siehe das folgende Dokument). Die preußische Regierung unter dem Sozialdemokraten Otto
Braun blieb geschäftsführend im Amt, allerdings nur bis zu ihrer Auflösung durch die Reichsexekuti-
on von Papens („Papenschlag“) einen Monat später (siehe Dok. 303).
93 Zum Teil blutige Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern der KPD und der NSDAP-Fraktio-
nen begleiteten die Eröffnungssitzung des preußischen Landtags am 25.5.1932. Die Rote Fahne sprach
von einer „großen, bewußt angelegten Provokation“ und einem „regelrechten feigen Überfall der
Nazis gegen den kommunistischen Redner, Genossen Wilhelm Pieck“ (Die Rote Fahne, 26.5.1932; vgl.
Inprekorr, 27.5.1932, S. 1351). Die Ereignisse waren ein Anlass für die Gründung der Antifaschistischen
Aktion (s.u.; vgl. Weber: Die Generallinie, S. 489–492).
880 1929–1933
gegen Adenauer vom Staatsrat.94 Die Nazis und Deutschnationalen hätten es also in
der Hand, bei günstiger Gelegenheit Landtagswahlen einfach zu dekretieren. Dies nur
zur Erläuterung der praktischen Bedeutung, die die Wahl des Landtagspräsidenten
für die weitere Entwicklung hat.
Viel entscheidender ist jedoch die Frage, ob wir in der gegenwärtigen Situation
eine Taktik anwenden können, wie beim Landtagszusammentritt, d.h. einfach für
alle Mitglieder des Landtagspräsidiums kommunistische Kandidaten aufstellen und
für sie stimmen. Tun wir das, so ergibt sich daraus, dass tatsächlich allein durch
unsere Stellungnahme der Nazikandidat gewählt wird.95 Zweifelsohne würde das bei
der gegenwärtigen Lage unsere antifaschistische Einheitsfrontkampagne außeror-
dentlich hemmen und von sehr nachteiliger Wirkung bei der Fortführung der anti-
faschistischen Aktion und bei der Wahlkampagne sein.96 Wir sind deshalb für fol-
gende Taktik. Die Partei wendet sich sofort, d.h. noch vor der Landtagssitzung an die
proletarische Öffentlichkeit mit einer Kundgebung, die im Rahmen des allgemeinen
antifaschistischen Massenkampfes die Losung aufstellt: Kein Nazi und kein Deutsch-
nationaler in Landtagspräsidium! [...] In dieser Kundgebung der Partei muss klar zum
Ausdruck gebracht werden, dass wir unseren Kampf gegen die Braun-Severing-Regie-
rung, gegen SPD und Zentrum nicht im Mindesten abschwächen. Da aber die Hitler-
partei die Partei des schärfsten Terrors gegen die Arbeiterklasse ist, die die Arbeiter-
organisationen zerschlagen und unterdrücken will, die jede Position zur Aufrichtung
der offenen faschistischen Diktatur und blutigen Unterdrückung der Arbeiter aus-
94 Konrad Adenauer war von 1921 bis 1933 als Zentrumspolitiker Präsident des Preußischen Staats-
rates, der Vertretung der preußischen Provinzen. Als solcher führte er einen Kleinkrieg gegen den so-
zialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Neben dem Ministerpräsidenten und dem Prä-
sidenten des Staatsrates konnte auch der Landtagspräsident das Parlament des Freistaats auflösen.
95 Infolge der Landtagswahlen wurde die NSDAP mit fast 37% stärkste politische Partei und besaß
nun zusammen mit der KPD eine Parlamentsmehrheit. Die Regierung Braun blieb daher nur ge-
schäftsführend im Amt.
96 Die Antifaschistische Aktion wurde offiziell am 26.5.1932 ins Leben gerufen (siehe hierzu das
Rundtelefonat des ZK der KPD in: Weber: Die Generallinie, S. 489–492). Nach der Landtagseröffnung
veröffentlichte die KPD einen Aufruf des ZK (Die Rote Fahne, 26.5.1932) mit dem Titel: „Feiger Ueber-
fall der Nazis im Landtag auf die Kommunisten. Antifaschistische Aktion! Aufruf des Zentralkomitees
der KPD. an die deutsche Arbeiterklasse“. Hierin wird von einem „brennenden Stadium“ gesprochen,
in das die „faschistische Bedrohung der deutschen Arbeiterklasse“ getreten sei und ein Maßnahme-
katalog zur „Einheitsfront“ entwickelt: „Nur die sofortige Einleitung von Kampfaktionen der breiten
Massen kann die Regierungsteilnahme des Hitlerfaschismus vereiteln, die einen sehr gefährlichen
Schritt auf dem Wege zur offenen faschistischen Diktatur in Deutschland bedeuten würde.“ Während
der Aufruf den Feind eindeutig benennt, um „den blutigen Plan des Hitlerfaschismus zu vereiteln, der
die offene faschistische Diktatur über Deutschland aufrichten will!“, wird an anderer Stelle die Fort-
führung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie gefordert: „Die ‚Antifaschistische Aktionʻ bedeu-
tet keine auch noch so geringfügige Abschwächung des Kampfes gegen den Sozialfaschismus, keine
auch noch so geringfügige Konzession an die Methoden des Führer-Kuhhandels, keine Einheitsfront
von oben, sondern die Organisierung einer breiten Massenbewegung von unten.“ (zit. in: Weber: Die
Generallinie, S. 490f.; siehe auch Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 304f.).
Dok. 294: Berlin, 18.6.1932 881
nutzt, werde die KPD auch innerhalb des Parlamentes alles tun, um zu verhindern,
dass ein Nazi oder Deutschnationaler ins Landtagspräsidium komme. In Verbindung
damit müsste die Tatsache gebrandmarkt werden, dass das Zentrum bei der ersten
provisorischen Wahl für den Nazi als Präsidenten gestimmt hat. Die Kundgebung der
Partei müsste sich sodann in stärkster Weise an die Massen in den Betrieben und
Stempelstellen wenden, die durch sofortige Kampfentschließungen die Forderung:
Kein Nazi oder Deutschnationaler ins Landtagspräsidium, kein Ministerposten für die
Hitlerpartei aufgreifen sollen. Darüber hinaus müsse der Massenkampf für die Durch-
setzung folgender Forderungen geführt werden:
Diese Forderungen werde die KPD auch im Preußischen Landtag durch ihre Landtags-
fraktion aufstellen. Ihre Durchsetzung sei, wenn SPD und Zentrum es wolle, durch
die Mehrheit von KPD, SPD und Zentrum sogar im Landtag möglich. Es sei jedoch
von diesen Parteien durchaus nicht zu erwarten, dass sie auch nur diese primitivsten
Forderungen des antifaschistischen Kampfes bewilligen würden. Nur der außerpar-
lamentarische Massenkampf gegen die Papen-Regierung und Braun-Severing-Regie-
rung durch Massenaktionen und Streiks, vor allem durch den politischen Massen-
streik, könne diese Kampfforderungen durchsetzen.
Die 4 politischen Bedingungen sollen der Frage unserer Abstimmung in der Prä-
sidiumsfrage zwar politisch verbunden werden, aber nicht etwa so als Bedingung
formuliert werden, dass der Eindruck eines Kuhhandels, eines Schachergeschäftes
entstehen könnte. Das gilt auch nicht für die nicht unwichtige Forderung des Vize-
präsidentenpostens für die KPD. Wir sind der Meinung, dass jedoch zwei Beauftragte
unserer Landtagsfraktion auch direkt mündlich über diese Angelegenheit mit der
SPD-Landtagsfraktion verhandeln sollen und binnen 24 Stunden eine Antwort darauf
fordern sollen, ob die SPD bereit ist, für unsere Forderungen zu stimmen. Auch im
anderen Falle würden wir selbstverständlich unsere Politik fortsetzen und in jedem
Fall in der Landtagssitzung mit einer scharfen politischen Erklärung auftreten.
97 Am 14.06.1932 erfolgten per Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg zusammen mit
einem Arbeitsbeschaffungsprogramm eine Kürzung der Arbeitslosenfürsorge um ca. 23% sowie eine
Rentenkürzung. Über Beiträge wurden Beamte zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung her-
angezogen, auch die Leistungen der Krankenversicherung wurden weiter eingeschränkt (Detlev Hu-
mann: Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933–1939, Göttingen, Wallstein-Verlag,
2011, S. 43f.).
882 1929–1933
Wir versprechen uns von dieser Taktik eine sehr weitgehende Förderung unserer
gesamten antifaschistischen Kampagne. Die Einheitsfrontbewegung wächst an und
für sich. Eine solche Taktik wird die Mobilisierung der SPD-Arbeiter zu gemeinsamen
Aktionen noch erleichtern. Anderseits gerät das Zentrum in eine politisch schwierige
Situation. Die Differenzen im Lager der Bourgeoisie können unter Umständen noch
etwas verschärft werden. Auch ist gegenüber den Verbotsmaßnahmen die Lage für das
Zentrum und die SPD viel schwerer. Eine scharfe und prinzipiell formulierte Sprache
gegen SPD und Zentrum würde dabei die Gefahr verhindern, dass wir nunmehr all zu
sehr in eine Front mit diesen Parteien kommen.
Wir bitten Dich, uns sofort Eure Stellungnahme zu dieser Frage noch am Mon-
tagvormittag telefonisch zu übermitteln. Je rascher, desto besser. [...] Die Hauptsache
ist ja, dass nicht etwa wir in den Verdacht kommen, von der SPD und dem Zentrum
zu einer Stellungnahme gezwungen zu werden, sondern unsererseits die Initiative
ergreifen, sodass falls ein Landtagspräsidium ohne Nazis und Deutschnationale
zustande kommt (völlig sicher ist ja die Stellung des Zentrums noch nicht), dies von
den Massen als ein Erfolg unseres antifaschistischen Kampfes und unserer Politik
empfunden wird.[...]
Zu dem übermittelten Entwurf [zur Einschätzung der „Charakteristik der
Papenregierung“98] mache ich nur einige kurze Bemerkungen: mit der Einschätzung
der Lage sind wir im allgemeinen einverstanden. Bei den damaligen Sitzungen waren
ja noch nicht alle Tatsachen bekannt. Wir sind völlig damit einverstanden, dass man
nicht von Übergangs-Regierung und Platzhaltern sprechen darf, und haben, soweit
das auch bei uns vorgekommen ist, hier bereits entschieden dagegen Stellung genom-
men. Die ursprüngliche Formulierung, dass die Papen-Regierung die unmittelbare
Vorbereitung der offenen faschistischen Diktatur betreibt, erschien auch uns als
nicht ausreichend, sodass wir schon vor einigen Tagen eine Verschärfung eingelei-
tet haben. Wir sind jedoch der Auffassung, dass man noch nicht schreiben soll, die
offene faschistische Diktatur in Deutschland sei bereits da, weil dies zu leicht mecha-
nistisch ausgelegt werden könnte. Zweckmäßig wäre es, zu formulieren, dass die
Papen-Regierung die unmittelbare Aufrichtung der offenen faschistischen Diktatur
in Deutschland betreibt. [...]
Was dann die Frage der Aufgabenstellung anbetrifft, die Streikfrage, Massen-
selbstschutz, politischen Massenstreik, so haben wir in dieser Linie bereits eine ganze
Reihe von Maßnahmen eingeleitet (Rundschreiben Nr. 12 und mündliche Informa-
tion). Es scheint, dass die Partei diesmal besser als bei früheren Kampagnen in Bewe-
gung kommt und dass wir auch in der Frage der außerparlamentarischen Führung
der Kampagne mit dem Ziel von Kämpfen bessere Aussichten haben.
98 Vgl. hierzu den Brief des Politsekretariates des EKKI an die KPD vom 11.6.1932 (RGASPI, Moskau,
495/4/196, 8–14).
Dok. 295: [Moskau], 20.6.1932 883
Zum Schluss zur Frage eines Spitzenmanövers mit dem ADGB und der SPD. Wir
sind damit einverstanden, nur glauben wir, dass der heutige Grad der Massenmobili-
sierung noch nicht ausreicht.
[...]
Dok. 295
Brief Pjatnitzkis, Knorins, Gusevs und Lozovskijs zur Wahl des
preußischen Landtagspräsidenten (an Molotov und Kaganovič)
[Moskau], 20.6.1932
Sofort99.
Abs[olut] geheim.
Wir schicken Ihnen einen Brief, den wir um 2 Uhr nachmittags von dem Gen[ossen]
Thälmann101 erhalten haben. Letzterer bittet um schnelle Antwort, da die deutschen
Genossen morgen (21.VI.32) schon die ihnen vorgeschlagene Taktik im Preußischen
Landtag durchführen sollen.
Da wir den Brief gerade erst bekommen haben, haben wir eine Versammlung
einberufen, auf der der Brief besprochen wurde.102 Die Mehrheit (die Gen. Kuusinen,
Gusev, Lozovskij, Florin (Vertr[eter der] KP Deutschlands]) und Schwabova [d.i. Maria
Svabová] (Vertr[eterin der] KP Tsch[echoslovakei])103 nahmen folgenden Vorschlag
an:
1.) Keinerlei Verhandlungen mit S[ozial]-D[emokraten] oder der Partei des Zentrums,
weder über die Frage der Wahlen des Vorsitzenden [d.i. Präsidenten] des Landtags
noch des stellv[ertretenden] Vorsitzenden oder zu irgendwelchen anderen Fragen.
2.) Insofern das von uns abhängt, müssen wir die Wahl eines Nationalsozialisten zum
Vorsitzenden des Landtages durch die Wahl unseres eigenen Kandidaten verhindern;
wenn die Zentrumspartei wieder für den Kandidaten der Nazis stimmt, dann müssen
wir sogar, wenn es keinen anderen Weg gibt, die Wahl des Nazis zu verhindern, dies
durch die Stimmabgabe für den s[ozial]-d[emokratischen] Kandidaten oder sogar für
den Kandidaten der Zentrumspartei, der der Gegenkandidat zur Kandidatur des Nati-
onalsozialisten wäre, verhindern.
3.) Vor diesen Wahlen wendet sich die Komm[unistische] Partei an die deutschen
Arbeiter mit einem Aufruf zum außerparlamentarischen Kampf für die Plattform (4–5
antifaschistische Forderungen, die völlig verständlich und annehmbar für die Mehr-
heit der s[ozial]-d[emokratischen] Arbeiter und auch der Arbeiter der Zentrumspar-
tei sind). In diesem Aufruf ist es notwendig, die S[ozial]-D[emokraten] und die Zen-
trumspartei als die Verantwortlichen für die Schaffung der Papenregierung und für
das Wachstum der Nat[ional]-Soz[ialisten] zu entlarven.104
Wir sollten offen erklären, dass wir dessen ungeachtet alles tun werden, was von
uns abhängt, um die Wahl eines Nat[ional]-Sozialisten zum Vorsitzenden des Preußi-
schen Landtages zu verhindern, erstens, weil wir konsequent und ernsthaft gegen den
Faschismus kämpfen und, zweitens, weil die Mehrheit der soz[ial]-dem[okratischen]
Arbeiter und der Zentrumspartei noch glauben, dass ihre Führer, die sie auf jede
erdenkliche Weise betrügen, eigentlich einen Kampf gegen den Faschismus führen.
Wir wollen die Arbeiter von ihren Illusionen befreien.
4.) Vor der Wahl des Vorsitzenden des Preußischen Landtages sollten die Kommu-
nisten im Geiste dieser Plattform und dieses Aufrufes eine Erklärung einbringen, die
auch mündlich begründet werden sollte, wobei offen erklärt werden sollte, dass wir
uns über die Köpfe [der Mitglieder] der Landtagsfraktionen hinweg an die Arbeiter
wenden, um die ihnen folgenden Arbeiter von ihnen loszureißen, „und eine Einheits-
front zu schaffen“.
Gen. Pjatnitzki und Gen. Knorin sind gegen den 2ten Punkt der oben angeführten
Entscheidung. Sie denken, dass die KP Deut[schlands] die Taktik in dieser Frage nicht
ändern sollte, d.h. wie früher auch, eigene Kandidaten aufzustellen und für sie zu
stimmen. Anstatt für den Kandidaten der S[ozial]-D[emokrat]ie und des Zentrums
für das Präsidium des Landtages zu stimmen, sollte die KP morgen im Landtag den
Vorschlag einbringen, das Gesetz über die Senkung der Arbeitslosenhilfe in Preußen
nicht anzuwenden, das Dekret über die Gehaltsbesteuerung in Preußen nicht durch-
zuführen, die Sturmabteilungen nicht zu legalisieren. Die S[ozial-] D[emokraten] und
das Zentrum werden gegen diese Vorschläge stimmen. Auf diese Weise werden sie
sich in den Augen der Massen selbst diskreditieren. Da wir den deutschen Genossen
104 Da sich die KPD-Führung nicht an die Anweisungen hielt und ohne ausdrückliche Bedingun-
gen den sozialdemokratischen Kandidaten wählen ließ, wurde sie seitens der Kominternspitze
scharf kritisiert (siehe hierzu u.a. das Protokoll der Politkommission vom 27.6.1932, RGASPI, Moskau,
495/4/200, 1ff.).
Dok. 296: [Moskau], 10.7.1932 885
schnell antworten sollen, bitten wir darum, uns noch heute eine Instruktion darüber
zu erteilen, welche Antwort wir ihnen geben sollen.105
Dok. 296
Anfrage von Knorin und Pjatnitzki für die Komintern zum Angebot
der sozialdemokratischen Reichsbannerführung im Sinne einer
gemeinsamen Abwehrstrategie (an Kaganovič und Stalin)
[Moskau], 10.7.1932
Geheim:
105 Stalin befand sich zu dieser Zeit in einer seiner Feriendatschen. Vermutlich sprachen sich Mo-
lotov und Kaganovič für die am 20.6.1932 in einer außerordentlichen Sitzung des Politsekretariats
im Namen der Komintern beschlossene Festlegung der Bedingungen für die Zustimmung zu einem
anderen Kandidaten aus. Aufgrund seiner Recherchen im Stalinarchiv setzt Hoppe hier den aufgrund
der langjährigen Unterschätzung verspäteten Beginn einer gesteigerten Beschäftigung Stalins mit
der Politik Hitlers an. Im Juni 1932 ließ sich Stalin ein von der OGPU vorbereitetes Memorandum zu
den außenpolitischen Planungen der Nationalsozialisten zustellen (Empfangsdatum: 21.6.1932, das
Dokument befindet sich nach Hoppe vermutlich im Präsidentenarchiv). Siehe: Hoppe: In Stalins Ge-
folgschaft, S. 314. Zur weiteren Entwicklung der Beziehungen infolge des von Moskau als Vertrauens-
bruch angesehenen Vorgehens der KPD siehe: Ibid., S. 307f.).
106 Höltermanns Vorschlag wurde von Willi Münzenberg übermittelt und gutgeheißen, es handelte
sich dabei vermutlich um den „weitreichendsten Vorstoß dieser Art“ (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft,
S. 310). Letzterer führte parallele Gespräche u.a. mit den Sozialdemokraten Carlo Mierendorff und
Emil Kirschmann (Winkler: Der Weg in die Katastrophe, S. 648).
107 Der von der Sowjetunion faszinierte österreichische Journalist und Politiker Ernst Fischer (1899–
1972) schloß sich nach 1934 der Kommmunistischen Partei Österreichs an und arbeitete während des
886 1929–1933
seine Absicht Bescheid wisse und dass letzterer diese Schritte gutheiße. Wir haben
damals diese ganze Geschichte nicht geglaubt. Inzwischen gibt es eine Erklärung von
Höltermann und einen Auftritt von Otto Bauer im Exekutivkomitee der II. Internatio-
nale zur Frage der Ereignisse im Fernen Osten (die Rede von ihm, von Hilferding und
die Resolution des Exekutivkomitees der II. Internationale zu dieser Frage legen wir
bei.)
Wir denken, dass es nötig wäre, einen der Mitarbeiter des EKKI zu beauftragen,
nach Deutschland zu fahren, um sich mit Höltermann zu treffen und seine Position
zur Schaffung einer Einheitsfront unterer Organisationen der KP Deutschlands und
dem Republikanischen Banner,108 deren Vorsitzender Höltermann ist, im Kampf
gegen die Hitleristen und den Angriff des Kapitals zu erkunden. 109
(Pjatnitzki)
(Knorin)
10.VII.[19]32
[Anlage:]
Zweiten Weltkriegs u.a. als Rundfunkredakteur für die Komintern. Siehe (Jean Michel Palmier: Wei-
mar in Exile, S. 69).
108 Gemeint ist das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.
109 Auch dieser bisher weitestgehende Vorschlag der KPD für ein gemeinsames Vorgehen mit den
Sozialdemokraten gegen die Nationalsozialisten, den die Kominternspitze zunächst nicht zu konter-
karieren schien, wurde von Stalin abgelehnt.
110 Der Magdeburger Oberbürgermeister Otto Hörsing (1874–1937) war bis 1931 Vorsitzender des
Reichsbanners. Durch eigene Vorstösse u.a in der Sozialpolitik (Arbeitsbeschaffungsprogramme)
machte er sich in der SPD und den Freien Gewerkschaften unbeliebt. Am 3.7.1932 wurde er aus der
SPD ausgeschlossen und gründete die „Sozial-Republikanische Partei Deutschlands“ (SRPD), auch
„Hörsing-Bewegung für Arbeitsbeschaffung“ (siehe: Rohe: Reichsbanner Schwarz Rot Gold, S. 379–
390; Carsten Voigt: Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der
Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924–1933, Köln u.a., Böhlau, 2009, S. 456f; Konrad Heiden: A
History of National Socialism, London, Routledge, 2010, S. 176).
Dok. 296a: Moskau, 22.7.1932 887
vor allem seine Gründung spezieller ‚Pioniereʻ Bedeutung, die eine eindeutig terroris-
tische Gruppe sind, die offiziell für den Schutz von Gebäuden, Versammlungen und
Arbeiterorganisationen vorgesehen ist.
Innerhalb des Reichsbanners gibt es eine starke Bewegung für die Einheit mit
den Kommunisten, die sich in einer ganzen Reihe von gemeinsamen Auftritten gegen
die faschistische Truppe ausdrückt. Die Reichsbanner-Leute ihrerseits sind (genauso
viel wie die Kommunisten) am meisten den Angriffen der Faschisten ausgesetzt, was
häufig zu einer gemeinsamen Verteidigung führt.
Am 21.7.1932 beauftragte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion Vejcer, die Möglichkeit zu
sondieren, ob die in Deutschland eingefrorenen ausländischen (vor allem englischen) Kredite zur For-
cierung sowjetischer Exporte außerhalb Deutschlands und zur Begleichung der sowjetischen Obliga-
tionen gegenüber Deutschland eingesetzt werden könnten.111
Dok. 296a
Beschluss des Politsekretariats des Exekutivkomitees der
Komintern über den KPD-Aufruf zum politischen Massenstreik
gegen die Reichsexekutive zur Auflösung des preußischen
Landtags („Papenputsch“) vom 20.7.1932
Moskau, 22.7.1932
Behandelt:
I. (775) Die Ereignisse in Deutschland.112
Berichterstatter: Florin.
Diskussionsredner: Losowsky, Marty, Wan-Min, Knorin, Furini [d.i. Giuseppe Dozza].
Beschlossen:
I. 1) Der Aufruf [des ZK der KPD] zum politischen Massenstreik wird gebilligt. 113
2) Es wird für notwendig erachtet, alle Massnahmen zur Durchführung dieses Streiks
zu treffen. Ohne eine gleichzeitige Aktion abzuwarten in allen Betrieben und in allen
Teilen des Reichs politische Teilstreiks auslösen unter Orientierung derselben auf den
politischen Massenstreik.
3) Der Streik ist unter den Losungen zu führen:
a) Für Aufhebung der Notverordnungen!
b) Für Auflösung und Entwaffnung der Sturmabteilungen!
c) Nieder mit der Regierung von Papen!
d) Es lebe die Arbeiter- und Bauernrepublik – Sowjetdeutschland!
4) Die Entlarvung der Sozialdemokratie, auf deren Schultern die Faschisten zur Macht
gekommen sind, ist noch mehr zu verstärken.114
5) Es wird geraten, sich nicht zu bewaffneten Zusammenstössen provozieren zu
lassen.
6) Es wird geraten, im Bezirk Berlin-Brandenburg nicht zu Demonstrationen aufzuru-
fen, sich aber gleichzeitig an die Spitze jeglicher spontanen Massenbewegung sowie
der organisierten Massenabwehr der Arbeiter gegen die Überfälle faschistischer
Banden zu stellen.115
zum Vorgehens der Exekutive gegen die Länderregierungen in Sachsen und Thüringen im Jahr 1923
aufweist. Der „Papenschlag“ (auch “Preußenschlag“ genannt), wurde von der KPD als “faschistischer
Staatsstreich“ bezeichnet, aber seitens der SPD wurde dies nicht mit einer Strategie des Widerstands
beantwortet, die gegen den von der KPD geforderten Generalstreik opponierte. Sie reichte statt des-
sen eine Verfassungsbeschwerde beim Reichsgerichtshof gegen die Auflösung des Landtags ein und
hoffte auf ein verbessertes Ergebnis für die am 31.7.1932 stattfindenden Wahlen. Die SPD, die im Unter-
schied zur österreichischen Sozialdemokratie auch zwei Jahre später auf aktiven Widerstand verzich-
tete, errang juristisch zwar noch einen Teilerfolg, doch wurde am 6.2.1933 (!) die definitive Absetzung
durch den Reichspräsidenten verfügt (Henning Grund: ‚Preußenschlag’ und Staatsgerichtshof im
Jahre 1932, Baden-Baden, Nomos, 1976; Jürgen A. Bach: Franz von Papen in der Weimarer Republik,
Düsseldorf, Droste, 1977; Wolfgang Benz, Immanuel Geiss: Staatsstreich gegen Preußen. Der 20. Juli
1932. Mit einem Vorwort von Johannes Rau, Düsseldorf, Landeszentrale für politische Bildung, 1982).
114 Die KPD-Führung veröffentlichte am Tag des Staatsstreichs einen Appell des ZK „an die SPD, den
ADGB, den Afa-Bund und alle deutschen Arbeiter“ zum Massenstreik, der hier von der Komintern
gebilligt wird (siehe: Die Rote Sturmfahne (illegal nach Verbot der Roten Fahne), abgedruckt in: Heinz
Karl, Erika Kücklich, Elfriede Fölster u.a. (Hrsg.) Die Antifaschistische Aktion. Dokumentation und
Chronik Mai 1932 bis Januar 1933, Berlin, Dietz, 1965, S. 193f.). Trotz des starken Drucks lehnte die
SPD zusammen mit den Gewerkschaftsvorständen den Generalstreik gegen den Staatstreich, bei dem
sie ihrer wichtigsten Bastion im Deutschen Reich verlustig ging, ab (siehe den Aufruf des Vorwärts,
21.7.1932; vgl. Weber: Die Generallinie, S. 538; Erich Matthias: Die Sozialdemokratische Partei Deutsch-
lands. In: Erich Matthias, Rudolf Morsey (Hrsg.): Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf, Droste, 1960,
S. 101ff.).
115 Dass die SPD-Regierung nicht gegen den “Preußenschlag“ verteidigt werden durfte, sondern
im Gegenteil die Angriffe auf sie zu verstärken seien, ging auf eine persönliche Intervention Stalins
zurück. An Kaganovič schrieb er am 17.7.1932, als weite SPD- wie auch KPD-Kreise den Generalstreik
forderten: „Die Notiz über Münzenberg und die Reichsbannerleute habe ich gelesen. Man sollte nicht
die KI in diese Angelegenheit involvieren. Lokale Kampfabkommen der KPD muss man zulassen, je-
doch ohne das ZK der KPD offiziell zu involvieren. Und dies nur unter der Bedingung der faktischen
Dok. 297: Soči, 26.7.1932 889
7) Die Politkommission wird beauftragt, Vorschläge über die Unterstützung der revo-
lutionären Bewegung in Deutschland seitens der Bruderparteien auszuarbeiten.
Dok. 297
Brief Heinz Neumanns an „den lieben Freund“ über seine
Gespräche mit Stalin zu den Perspektiven in Deutschland
Soči, 26.7.1932
Lieber Freund,
[...] Ich schreibe jetzt nur ein paar Worte, weil in ein paar Minuten ein G.P.U. Mann
von Hilde [d.i. Stalin] fährt, der einem wenigstens garantiert, daß Du den Brief in 2,
3 Tagen hast. [...]
Zur Sache. 1.) Perspektive. Unser „Familienstreit“ ist nun fruchtbar und pro-
duktiv.116 Die Frage ist wirklich dialektisch, d.h. hängt von ausserordentlich vielen
Kräften und Gegenkräften, Faktoren und Gegenfaktoren, Personen und Gegenper-
sonen ab; dazu kommt aber noch, daß diese Dialektik keine Darwinsche, sondern
eine Hegelsche, nicht evolutionär, sondern revolutionär, mit Sprüngen, größten
Überraschungen und jähen Wendungen ist. Ein kleines Beispiel, nur ein schwaches
Vorspiel davon, was kommt, sind die letzten Ereignisse in Deutschland, die unseren
Briefwechsel durchkreuzen und illustrieren.117 Vielleicht unterschätze ich die Schwie-
rigkeiten, die Schwäche unserer Leute drüben usw. – darin sollst Du mich jederzeit
korrigieren. Aber keinesfalls dürfen wir den Faktor Hilde in seiner gigantischen, welt-
geschichtlichen, parteihistorischen Bedeutung unterschätzen, oder, wie Erich [d.i.
Thälmann?], „materielle Beweise“ im kleinlichen Tagessinn verlangen. Du hast ganz
Leitung der Organisationen durch die KPD. Mit Otto Bauer darf man sich nicht zusammentun: wie
„kommunistisch“ er auch daherkommen mag, dieses Subjekt ist und bleibt ein Sozial-Chauvinist.
Wenn er die 2. Internationale zersetzen will – soll er es doch nach Herzenslust tun, jedoch aus eigener
Kraft.“ (RGASPI, Moskau, 81/3/99, 91–104. Publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S.
231). Stalins Diktum wurde am 21.7.1932 an Pjatnitzki übermittelt (RGASPI, Moskau, 558/11/740, 98;
siehe auch: Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 310).
116 Auch der Beschluss, keine Demonstrationen in der Hauptstadt durchzuführen, ging maßgeb-
lich auf eine Entscheidung Stalins zurück (siehe das Telegramm Kaganovičs an Stalin vom 21.7.1932,
RGASPI, Moskau, 495/170/214, 43 und die Antwort Stalins im Telegramm vom 21.7.1932, RGASPI, Mos-
kau, 558/11/78, 60). Anlässlich der Reichstagswahlen vom 31.7.1932 konnte die KPD ihre Stimmen um
1,2% auf 14, 35% erhöhen. Die NSDAP verbesserte sich um fast 20% auf 37, 3%.
117 Gemeint sind die Fraktionsauseinandersetzungen in der KPD-Spitze, über die sich Neumann
hier allzu optimistisch äußert.
890 1929–1933
recht, dass die Dialog-Wiedergaben meines Briefes unvollständig sind, vieles offen
lassen, die drängendsten Augenblicksfragen nicht beantworten usw. Aber was bedeu-
tet schon [...] Scheiß [...], Gottlieb und andere Posten usw – so unbedingt wichtig
die Fragen an sich sind – im Vergleich zu dem Kampfbündnis auf Jahrzehnte und
der absolut sicheren politischen Zukunft unserer Parteiführung, den absolut siche-
ren Untergang, Mißtrauen, Verachtung, Verspottung der Paulsbande [d.i. Wilhelm
Pieck?], die in diesen Wochen mit Hilde herausgekommen ist. Das kann ich auf keine
Weise brieflich wiedergeben oder mit ausreichenden Argumenten belegen. Dazu
muß ich zurückkommen und mit Dir sprechen – dann sind wir in einer Stunde im
Klaren. Ich war gestern wieder 4 Stunden bei Hilde118 und habe rein politisch ([un?]
gesetzlich), ohne Regeln usw. gesprochen: vollkommen klare Linie, nicht der leiseste
Zweifel, dass der Kurs auf „alle Macht den Bolschewiki“ geht. Und zwar ohne dazwi-
schenliegende Kompromißlösungen, nochmaligen Brei usw. Sondern: ganze Arbeit.
Ganz weg mit der Koalition,119 alles in die Hände der Bolschewiki. Allerdings sind die
Termine heute nicht auf Woche und Monat vorauszusagen. Ob 1, 2, 3 oder 4 Quartale
weiß ich nicht. Mehr auf keinen Fall. [...] Festesten Händedruck auf dick und dünn,
Dein Johan [d.i. Heinz Neumann].
Dok. 298
Kritische Rede Knorins zur Einordnung Deutschlands als
nachgeordnetes revolutionäres Land durch die Komintern
[Moskau], 27.7.1932
Ich finde diese Thesen völlig unbefriedigend.120 [...] Nehmen wir nun diese Frage: wie
wird sie gestellt, in welcher Reihenfolge sind die Länder aufgeführt? Spanien, Polen,
118 Vermutlich die Bildung der Regierung von Papen am 1.6.1932 und die Ereignisse um den Staats-
treich gegen die preußische Regierung am 20.7.1932.
119 Bis Ende August 1932 hielt Stalin Neumann noch in der Hinterhand: er lud ihn sogar in seine Feri-
enanlage in Mazesta am Schwarzen Meer ein, vermutlich, um ihn von der vorrevolutionären Entwick-
lung in Deutschland zu isolieren (wo Neumann intern sogar als der kommende Parteiführer gehan-
delt wurde) und die Parteiführung weiterhin gegeneinander ausspielen zu können. Kurz nach dessen
Abreise verfügte Stalin, dem über Pjatnitzki die von Neumann verfassten Briefe, in denen er sich teils
revolutionstaumelnd, teils fraktionell äußerte, ausgehändigt wurden, diesen aus der Parteiführung
(noch nicht aus dem ZK) zu entfernen (siehe hierzu: Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, bes. S. 345–347).
120 Der Bezug gilt den Thesen zum XII. EKKI-Plenum (Moskau, 27.8.-15.9.1932). Allerdings wurde
auch auf dem Plenum eine Neubewertung der Situation in Deutschland nicht vorgenommen. Kuu-
sinen sagte dort in seinem Bericht über die internationale Lage: „Auf dem letzten Plenum des EKKI
wurde die Lage in Deutschland durch die Feststellung der ‚Steigerung der Voraussetzungen der revo-
Dok. 298: [Moskau], 27.7.1932 891
lutionären Krise‘ charakterisiert. Ist es etwas prinzipiell anderes, was jetzt in Deutschland vor sich
geht? Meiner Meinung nach nicht. Natürlich ist dort eine weitere Steigerung der Voraussetzungen
der revolutionären Krise klarer ersichtlich, aber noch ist kein so gewaltiger Unterschied festzustellen,
daß wir auf dem jetzigen Plenum eine wesentliche neue Charakterisierung der Lage in Deutschland
vorzunehmen hätten.“ (O. Kuusinen: Die Internationale Lage und die Aufgaben der Sektionen der
kommunistischen Internationale [Bericht auf dem XII. Plenum des Exekutivkomitees der kommuni-
stischen Internationale (September 1932) zum Punkt 1 der Tagesordnung], Moskau, Verlagsgenossen-
schaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1933, S. 78).
121 In der polnischen Kommission des EKKI hatte Stalin 1924 das folgende gesagt: „Die deutsche
Frage. Sie hat nach der ‚russischen‘ Frage die ernsteste Bedeutung, erstens, weil Deutschland mehr
als jedes andere europäische Land mit der Revolution schwanger geht, zweitens, weil ein Sieg der Re-
volution in Deutschland den Sieg in ganz Europa bedeutet. Wenn der revolutionäre Brand an irgend-
einem Ende Europas anfängt, so gewiss in Deutschland. Nur Deutschland kann in dieser Hinsicht die
Initiative ergreifen, und ein Sieg der Revolution in Deutschland bedeutet die Sicherung des Sieges der
Revolution im internationalen Maßstab.“ Siehe: Stalin: Über die Kommunistische Partei Polens. Rede
in der Sitzung der polnischen Kommission der Komintern, 3.7.1924. In: Stalin: Werke, VI, S. 236–243,
hier: S. 238.
122 Auch Knorin kritisierte nun die entsprechende Klassifizierung, die auf dem XI. EKKI-Plenum
erfolgt war (siehe Dok. 298).
892 1929–1933
Dok. 299
„Die Krise der Komintern“: Aus der oppositionellen Plattform
des „Bundes der Marxisten-Leninisten“ der Sowjetunion
(Rjutin-Gruppe)
[Golovino bei Moskau], 21.8.1932
Deutsche Erstveröffentlichung. In russischer Sprache publ. in: Izvestija CK KPSS (1990), Nr. 8, S.
200–207; Nr. 9, S. 165–183; Nr. 10, S. 191–206; Nr. 11, S. 161–186; Nr. 12, S. 180–199; Aleksandr N.
Jakovlev (Hrsg.): Reabilitacija. Političeskie processy 30–50-ch godov, Moskva, Izdatelʼstvo političeskoj
literatury, 1991, S. 334–442, hier: S. 394–398. In englischer Sprache publiziert in: Sobhanlal Datta
Gupta (Hrsg.): The Ryutin Platform. Stalin and the Crisis of Proletarian Dictatorship. Platform of the
„Union of Marxists-Leninists“, Kolkata, Seribaan, 2010.
123 Der 1930 wegen „Rechtsabweichung“ aus der Partei ausgeschlossene ehemalige Parteisekretär
des Moskauer Krasnopresnenskij-Bezirks, Martemʼjan Rjutin (1890–1937), verfasste bereits im März
1932 den hier ausschnitthaft wiedergegebenen, über 100 Seiten umfassenden Text, in dem halböffent-
lich eine grundlegende Kritik an der aktuellen Lage der Sowjetunion und vor allem an der Herrschaft
Stalins geäußert wurde. Am 21.8.1932 berief Rjutin zusammen mit den alten Bolschewiki Vasilij Kaju-
rov und Michail Ivanov in der Wohnung eines Arbeiters im Dorf Golovino bei Moskau eine Versamm-
lung ein, auf der sie mit weiteren Oppositionellen den „Bund der Marxisten-Leninisten“ ins Leben
riefen und Rjutins Abhandlung als Plattform der Organisation annahmen. Ebenfalls wurde ein Mani-
fest „An alle Mitglieder der VKP(b)!“ verabschiedet, in dem der Inhalt der Plattform in kurzer und prä-
gnanter Form verarbeitet wurde (In deutscher Sprache publ. in: Annette Vogt: Eine bestechende Ana-
lyse, eine fundierte Kritik, aber... Die Tragik des Martemjan Nikititsch Rjutin. In: Theodor Bergmann,
Mario Keßler (Hrsg.): Ketzer im Kommunismus. Alternativen zum Stalinismus, Mainz, Decaton, 1993,
S. 155–161). Die Gruppe verbreitete ihre Dokumente sehr aktiv als Samizdat, so dass Sinowjew, Ugla-
nov und andere linke und rechte Oppositionelle sowie einfache Parteimitglieder Kenntnis von ihnen
erlangten. Am 14.9.1932 erhielt das ZK der VKP(b) offiziell Kenntnis über die Dokumente, woraufhin
am nächsten Tag Rjutin und andere am „Bund“ Beteiligte verhaftet wurden. Die Stalin-Führung nahm
die brisanten Dokumente sehr ernst – sie wurden als so geheim und explosiv eingestuft, dass bisher
in den sowjetischen Archiven keine Originaldokumente eruiert werden konnten (der Abdruck der
Plattform durch Jakovlev 1991 erfolgte nach der von der GPU seinerzeit angefertigten Kopie einer be-
schlagnahmten Fassung). Am 2.10.1932 beschloss die VKP(b), alle Mitglieder auszuschließen, die von
den Rjutin-Dokumenten wussten und sie nicht gemeldet hatten. Rjutin selbst wurde zu 10 Jahren Haft
verurteilt und am 10.1.1937 erschossen. Zur Rjutin-Gruppe siehe: Jakovlev: Reabilitacija, S. 92–104;
Annette Vogt: Eine bestechende Analyse; Aleksandr Šubin: Voždi i zagovorščiki, Moskva, Veče, 2004,
S. 251–252.
Dok. 299: [Golovino bei Moskau], 21.8.1932 893
besitzt einen solchen Charakter und hat solche Formen angenommen, dass von einer
Stärkung der Positionen der Komintern nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil, die
Komintern durchlebt zum jetzigen Zeitpunkt zweifellos eine Krise. Diese Krise drückt
sich in Folgendem aus:
1. Aus dem Stab der Weltrevolution, der sie unter der Leitung Lenins, Sinowjews
und bis zu einem gewissen Grad sogar unter der Leitung Bucharins gewesen ist, hat
sich die Komintern nach der Zerschlagung aller Oppositionen und aller Mitkämpfer
Lenins, nach der Errichtung der persönlichen Diktatur Stalins in der VKP(b) und in
der Komintern, schlicht und einfach in Stalins Kanzlei für Fragen der Komparteien
verwandelt.
Wenn Ludwig XIV. sagte: „Frankreich – das bin ich“, so sagt Stalin heute mit der-
selben Selbstsicherheit: „Die Komintern – das bin ich.“
2. Unter Lenin und Sinowjew arbeiteten im Zentrum der Komintern richtige Führer,
von denen jeder selbständig und entschlossen die entscheidenden theoretischen
und politischen Fragen aufwarf, ohne Angst zu haben vor falschen Beschuldigun-
gen der Abweichungen, ohne zu befürchten, dass er für gemachte Fehler gedemütigt
und bespuckt wird, sondern im Voraus wissend, dass er lediglich nach Genossen-
art korrigiert wird. [...] Gegenwärtig gibt es im Gegensatz dazu keine Führer in der
Komintern, es gibt vielmehr nur vollstreckende Beamte, die Angst haben, ein Wort
zuviel zu sagen, einen selbständigen, mutigen Gedanken zu äußern, die ständig auf
ihren nachtragenden und in den Kampfmethoden nicht wählerischen Vorgesetzten
schauen. Sogar einige derjenigen, die in der Vergangenheit wirkliche Führer gewesen
sind, verwandelten sich, nachdem sie in den letzten Jahren den stalinschen Lehr-
kurs durchlaufen hatten, in simple Stalin-Knechte, in Helden des „Was wünscht der
Herr?“.
3. Auf theoretischem Gebiet haben wir in der Komintern in den letzten Jahren eine
völlige Verarmung, an der philosophischen Front und im Bereich der theoretischen
Ökonomie – eine wahrhafte Arabische Wüste. [...]
Stalin ist nun für die Komintern der offiziell unfehlbare Papst. Dies nicht jedoch,
weil die Komparteien ihn tatsächlich als eine Autorität auf dem Gebiet der Theorie
des Marxismus-Leninismus ansähen, sondern, im Gegenteil, unbeschadet dessen,
dass alle seine theoretische und ideelle Armseligkeit sehen, nicht kraft seines Rechts,
sondern kraft seiner Macht, nicht aus Vertrauen zu ihm, sondern aus Angst vor ihm.
Stalin hält alle leitenden Mitarbeiter der Komintern, nicht nur in Moskau, sondern
auch an [anderen] Orten, fest in der Umklammerung der direkten oder indirekten
materiellen Abhängigkeit, und dies ist das entscheidende Argument zur Zementie-
rung seiner „theoretischen“ Unbesiegbarkeit.
Ein solcher Widerspruch jedoch zwischen Worten und Taten, zwischen Erklärun-
gen und innerer Überzeugung, ein solches Herunterbrechen des Marxismus-Leninis-
mus auf die Ebene der simplen Analogiebildung, der Willkür und der unterschiedli-
894 1929–1933
chen politischen Schritte und Kombinationen Stalins kann nicht zur Festigung der
Disziplin und der Einheit der Komparteien, zu ihrem quantitativen und qualitativen
Wachstum beitragen.
4. Der Ursprung der Krise in der Komintern findet sich [...] in der Krise der VKP(b),
der führenden Sektion der Komintern [...]. Ohne die Überwindung der Krise in der
VKP(b) kann mit der Überwindung der Krise der Komintern ebenfalls nicht gerechnet
werden. [...]124
5. [...] Der Angriff der Japaner auf Schanghai – ein proletarisches Zentrum von
Weltrang – hat welthistorische Bedeutung. In der (zweifellos) allerbarbarischsten
Weise wurden Tausende Proletarier, Tausende und Zehntausende ihrer Frauen und
Kinder hingemordet, die wichtigsten Kulturgüter wurden vernichtet, Bibliotheken
wurden zerstört. Und die Komintern schweigt wie ein Grab! [...] Aus welchem Grund
hat die Komintern nicht ihre Ansicht über dieses überaus wichtige historische Ereig-
nis mitgeteilt, warum schweigt die Komintern so geheimnisvoll? [...]
Deswegen, weil die innere Lage der Sowjetunion Stalin dazu zwingt, in einer
ganzen Reihe von Fällen eine opportunistische Außenpolitik zu betreiben, was sich
im Fehlen einer offenen und den Massen verständlichen Position der Komintern und
der VKP(b) widerspiegelt. Stalin macht zu dieser Frage ein geheimnisvolles Gesicht
und stellt seine Linie als weiteren Ausdruck seiner Weisheit dar. In Wirklichkeit haben
wir hier den weiteren Trick eines prinzipienlosen Politikasters vor uns, mehr nicht.
Sodann rückt im Fernen Osten der Sturm des Krieges heran. Im ganzen Lande
schwirren Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg umher. Und die Komintern
schweigt wieder wie ein Grab! [...] Irgendeine geheimnisvolle Schachpartie geht hier
vor sich. Es ist nicht auszuschließen, dass auch hier Stalin vom Opportunismus zum
Abenteurertum umschwenkt. [...]
Die Krise der Komintern findet in den letzten Jahren ihren stärksten und anschau-
lichsten Ausdruck in der gigantischen Verringerung der Mitgliedzahlen der Kom-
parteien bei gleichzeitigem Stagnieren des Wachstums, was den Einfluss auf die
Arbeitermassen angeht. Das Stagnieren eines wachsenden Einflusses auf die Arbei-
termassen haben besonders eindringlich die englischen und deutschen Parlaments-
wahlen sowie die Präsidentschaftswahlen in Deutschland gezeigt. Was das Abstürzen
der zahlenmäßigen Stärke der Komparteien betrifft, ist es aus der folgenden Tabelle
zu ersehen: [...]
124 Im bereits erwähnten Manifest „An alle Mitglieder der VKP(b)!“ wird die persönliche Diktatur
Stalins über die Partei und die Sowjetunion als „18. Brumaire Stalins“ bezeichnet, als ursächlich für
die Krise der Partei, und Stalin selbst als Provokateur gegen die Partei und gegen den Sozialismus
gesehen. Angesichts der Tatsache, dass er nicht freiwillig auf seine Macht verzichte, sei auch die bis-
herige Gruppeneinteilung der russischen Opposition obsolet geworden: Gerade Industrialisierung
und Zwangskollektivierung zeigten das Gewaltpotential des Stalin-Systems. Zur Aufrechterhaltung
der Sowjetunion gebe es als Alternative nur die Liquidierung der Stalinschen Clique. Siehe: Annette
Vogt: Eine bestechende Analyse.
Dok. 299: [Golovino bei Moskau], 21.8.1932 895
Mit Ausnahme Deutschlands – überall ein Abstürzen. Womit lässt sich dies erklären?
Eine zufriedenstellende Erklärung lässt sich nur in der Krise der Komparteien und
der Krise der Komintern finden. [...] Die Krise der Komintern befindet sich allerdings
erst in einem Anfangsstadium. Die Komparteien müssen die Kraft aufbringen und in
der allernächsten Zeit mit der Politik Stalins und seiner Führung Schluss machen. Sie
müssen die Komintern auf den Weg Lenins zurückbringen. Das Anwachsen der Krise
bringt anderenfalls unzählige schwere Folgen für die gesamte proletarische revoluti-
onäre Weltbewegung für einen lang andauernden Zeitraum mit sich.
Am 3.9.1932 und 8.9.1932 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf Vorschlag
von Jan Gamarnik damit, eine Delegation hochrangiger Militärs (u.a. Tuchačevskij) zu Manövern nach
Deutschland zu entsenden; im Gegenzug sollte sechs deutschen und drei italienischen Offizieren und
Militärattachés die Anwesenheit bei Manövern der Roten Armee erlaubt werden.125
Am 16.9.1932 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, durch Chinčuk und in Zusam-
menarbeit mit Vejcer bei der deutschen Regierung einen Protest gegen die Anhebung von Zöllen für
landwirtschaftliche Erzeugnisse einzulegen. Des Weiteren sollte die Erlaubnis der deutschen Re-
gierung erwirkt werden, Zahlungen ausländischer Firmen an die Sowjetunion, die auf Konten bei
deutschen Banken infolge eines Moratoriums eingefroren waren, als Kredite oder Bezahlungen von
Bestellungen annehmen zu können. Ein weiterer Beschluss betraf ökonomische Angelegenheiten in
Verbindung mit Ostpreußen, über die Litvinov mit der deutschen Seite sprechen sollte.126
Am 8.10.1932 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Vorschlag der „Deutschen
Gesellschaft zum Studium Osteuropas“ über die Durchführung einer Reihe von Vorträgen sowjeti-
scher Wirtschaftsleute und Wissenschaftler zu Fragen der ökonomischen Entwicklung der Sowjetuni-
on in Deutschland. Eine Kandidatenliste sollte erstellt werden.127
Am 4.11.1931 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss über ausländische
technische Hilfe beim Bau von Schiffen (Unterseeboten, Kreuzern, Zerstörern). Zu diesem Zweck soll-
ten sowjetische Militärs Verhandlungen mit der deutschen Firma JVS führen sowie Informationen über
weitere deutsche Betriebe sammeln, die für den U-Boot-Bau essentielle Dieselmotoren und Elektro-
teile herstellen. Zugleich sollten jedoch auch – für den Fall des Nichtzustandekommens entsprechen-
der Kooperationen mit Deutschland – Vertreter italienischer Schiffsbaugesellschaften nach Moskau
eingeladen werden.128
Am 6.11.1932 und am 13.11.1932 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf Vorschlag
von Vorošilov, drei bzw. vier Vertreter des Marine-Volkskommissariats zu Luftabwehr-Manövern nach
Deutschland zu entsenden.129
125 RGASPI, Moskau, 17/162/13, 90. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 287.
126 APRF, Moskau, 3/64/661, 77. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 300.
127 RGASPI, Moskau, 17/3/902, 17.
128 APRF, Moskau, 3/64/661, 99–99v. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, II, Dok. 302.
129 RGASPI, Moskau, 17/162/14, 4.
896 1929–1933
Dok. 300
Brief von Alfred (Ps.), d.i. Tuure Lehén, an M[ichael] (Ps.), d.i. Osip
Pjatnitzki(?) über die militärpolitische Arbeit in Deutschland
Moskau, 19.11.1932
Die deutschen Genossen, die sich im illegalen Apparat der KPD mit dem Kampf
gegen Provokationen befassen, beklagen die falschen Arbeitsmethoden der Organe
der GPU.130 Es gibt eine Reihe von Fällen, in denen diese Organe ohne Wissen und
Zustimmung der leitenden Parteiorgane Arbeitsaufträge an einzelne Parteimitglieder
vergeben haben, die diese Arbeit mit ihrer Parteiarbeit verbunden haben.
Einer dieser Fälle stellt sich folgendermaßen dar. In einer der Straßenzellen
Berlins arbeitete ein Mädchen – eine Hausangestellte, die die Aufmerksamkeit der
Zellenmitglieder dadurch auf sich lenkte, dass sie irgendwelche Geheimnisse hatte,
die sie nicht mit den anderen Zellenmitgliedern teilen wollte, manchmal verschwand
sie für längere Zeit und gab diesbezüglich ausweichende und widersprüchliche
Erklärungen ab usw. Die Mitglieder der Zelle begannen nun, auf eigene Initiative die
Geheimnisse dieses Mädchens aufzuklären und fanden unter anderem heraus, dass
sie als Hausangestellte bei einem Beamten der IA (politische Polizei)131 arbeitete, was
ihre Verdachtsmomente noch verstärkte. Sie erstatten darüber Meldung an die lei-
tenden Organe der Partei. Daraufhin erst wurde eine Meldung von Seiten der GPU-
Organe empfangen, nach der dieses Mädchen für die GPU arbeitet.
Dieses Beispiel, das nicht das einzige ist, zeigt, wie gefährlich diese Arbeitsme-
thoden sind und dass es notwendig ist, schleunigst alle Mittel zu ergreifen, damit
es eine solche „Kombination“ der Parteiarbeit mit derjenigen der Organe der GPU
künftig nicht mehr gibt.
Alfred
19.11.1932
130 Das Dokument beleuchtet die Funktion der KPD als Rekrutierungsfeld für die sowjetischen Ge-
heimdienste. Die Möglichkeiten einer „Überwerbung“ durch die sowjetischen Geheimdienste waren
vielfältig: So wurden 1930 im Zuge des Kampfes gegen die (vermeintliche) Kriegsgefahr unter Leitung
des militärischen Geheimdienstes die militärpolitischen Kurse der KPD („M-Schule“) in Moskau wie-
der eingeführt, die bis 1933 112, bis 1935 199 deutsche Kursanten absolvierten (bis 1935 weitere 87)
(siehe: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 189–193 u.a.; vgl. Beatrix
Herlemann: Der deutschsprachige Bereich an den Kaderschulen der Kommunistischen Internationa-
len, Berlin, Freie Universität, 1982).
131 Gängige Bezeichnung der politischen Polizei. Eigentlich die Abteilung I A (politische Polizei) der
preußischen Polizei nach der Novemberrevolution.
Dok. 301: [Berlin], 25.12.1932 897
Dok. 301
„Remmele-Memorandum“ an Pjatnitzki und den „Führer der
KPdSU“ Stalin über den Thälmann-Kurs in der KPD132
[Berlin], 25.12.1932
Werter Genosse,
im Streitfalle Sauerland – Alpari,134 in dem durch die Einmischung von uns sich
sowohl Eure als auch unsere Lage erschwert hat, bin ich Euch Rechenschaft schuldig.
Ich gebe diese Rechenschaft mit nachfolgendem Briefe.
132 Adressaten so im Brief benannt. Als Anrede fungiert nur „Werter Genosse“. Bei Hoppe „Mani-
fest“ Remmeles (Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 353f.), was auch eine Verwechslung mit dem Me-
morandum Remmeles vom 12.4.1933 sein könnte (siehe Dok. 321).
133 Dort jedoch mit unzutreffenden Datums- (28.12.1932) und Signaturangaben (508/1/129, 9–82).
134 Wie aus einem Brief Remmeles an Pjatnitzki vom 4.1.1933 hervorgeht, wird in seinem Memoran-
dum der Fall Sauerland und Alpari als Aufhänger herangezogen, um die Kritik an der Parteiführung
einzuführen. Kurt Sauerland hatte in seinem Buch (Kurt Sauerland: Der dialektische Materialismus.
Dogmatischer oder schöpferischer Marxismus, Berlin, 1932), Stalins Ausfälle gegen den „Luxembur-
gismus“ kriecherisch (Clara Zetkin) theoretisch legitimiert, doch die Replik Alparis war ebenfalls nur
halbherzig (siehe: Julius Alpari: „Der dialektische Materialismus“. Kritische Bemerkungen. In: Inpre-
korr, 12 (1932), 96/97/98): „Sie haben natürlich schon gesehen, dass es hier nicht um den Streit zwi-
schen Sauerland und Alpari geht, sondern um die entscheidendste Frage der revolutionären Strategie
und Taktik, die die Frage des Leninismus und seiner Anwendung in der KPD auf die Tagesordnung
setzt.“ Seine Hauptabsicht, so Remmele, sei es gewesen, Pjatnitzki und Stalin persönlich zu informie-
ren. Er bat Pjatnitzki, den Brief, in den er zehn Tage Arbeit investiert habe, ins Russische zu übertra-
gen und ihn Stalin zukommen zu lassen (RGASPI, Moskau, 495/293/129, 1–2; vgl.: Klaus Kinner: Die
Luxemburg-Rezeption in KPD und Komintern. In: Utopie kreativ, (2001), H. 129/130, S. 595–603.
898 1929–1933
135 Siehe hierzu: Tânja Puschnerat: Clara Zetkin. Bürgerlichkeit und Marxismus. Eine Biographie,
Essen, Klartext, 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A:
Darstellungen. 25).
136 Gerade Frölich dokumentierte Luxemburgs Auseinandersetzung und Kampf mit dem Reformis-
mus der II. Internationale. Siehe: Gegen den Reformismus. Eingeleitet und bearbeitet von Paul Frö-
lich, Berlin, Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten, Berlin, 1925.
Dok. 301: [Berlin], 25.12.1932 899
137 Der deutsche Monistenbund wurde 1911 von Ernst Haeckel in Jena gegründet, er gehörte der
freigeistigen und freidenkerischen Strömungen an, sein Ziel war die Suche nach einer „neuen, auf na-
turwissenschaftlicher Grundlage ruhenden einheitlichen Weltanschauung.“ Unter dem Österreicher
Rudolf Goldscheid und dem Schweizer Psychiater Auguste Forel entwickelte sich der eher bürgerlich-
elitäre und in Hamburg stark vertretene Monistenbund nach dem 1. Weltkrieg hin zu sozialistischen
Positionen.
900 1929–1933
vorgegangen sind. Radikalisierte Kleinbürger, die die Revolution über die bürgerliche
Bewegung hinausgetrieben hat – bis in die Reihen unserer Partei. Hier kamen sie – da
Kräfte, die schreiben können, in einer reinen Arbeiterpartei immer rar sind – rasch
vorwärts, erst Redakteur an der „Hamburger Volkszeitung“138 und dann unmittelbare
Vertraute und Mitarbeiter in der Führung der Partei. Diese kleine Schicht sind die
Genossen Heinrich Meyer, Ernst Noffke, Heesch und [Hans] Kippenberger. Vier Genos-
sen mit grossem Einfluss auf die Ideologie der Partei und auf die Politik der Führung.
Ausserdem rechne ich in die ausgesprochen kleinbürgerliche Richtung noch den
Genossen Peter Maslowski.
Die ersten vier Genossen waren von Beruf Volksschullehrer, Ingenieure und im
Monistenbund in Hamburg bezw. deren Jugend viele Jahre die führenden Geister. In
der Zeit, wo die jungen Arbeiter und auch junge Intellektuelle Marx, Engels und Par-
teiliteratur studierten, studierten diese Intellektuellen Nietzsche, Mach, Kant, Hegel.
Von allen diesen aber nur soviel, als in dem „Handbuch der Philosophie“ zu lesen ist.
Etwa im Jahre 1924/25 kamen sie zur Partei. Kippenberger als ehemaliger Reserveoffi-
zier kam rasch im Organisationsapparat vorwärts, Meyer und Noffke in die Redaktion
der Zeitung, Heesch dann später auch in die Redaktion. Die Schule, die sie anfäng-
lich durchmachten, war die Broschüren- und Lehrbücherschule von Kraus, Schneller,
Emel etc. und das genügte, um in den Redaktionen ihren Mann zu stehen.
Die Hauptfigur in dieser Richtung ist der Genosse Heinrich Meyer, jetzt persönli-
cher Sekretär von Th[älmann] (neben Hirsch, [Erich] Birkenhauer und Wurm). Genosse
Heinrich Meyer wollte noch lange, als er schon in der Partei war, einen „Hegelbund“
gründen.139 Er berief sich immer darauf, dass auch Marx und Lenin grossen Wert auf
das Studium von Hegel gelegt hatten. (Das ist richtig, aber nicht in dem Sinne, wie es
Meyer machen wollte „zurück zu Hegel“). Die ganze Grundeinstellung dieser Rich-
tung ist eine idealistische, keine materialistische. [...]
138 Hamburger Volkszeitung (15.12.1918–27.2.1933), seit 1920 Organ der KPD für den Bezirk Wasser-
kante (vormals Organ der USPD).
139 Auf holländische Initiative wurde seitens der Schüler des Philosophen Gerardus Johannes Bol-
land 1930 ein Internationaler Hegel-Bund gegründet, dessen erster Kongress vom 22.-25.4.1930 in Den
Haag stattfand. Siehe: B. Wigersma (Hrg.): Verhandlungen des Ersten Hegelkongresses (...) im Haag.
Im Auftrag des Internationalen Hegelbunds, Tübingen, J. C. B. Mohr, Paul Siebeck, 1931.
Dok. 301: [Berlin], 25.12.1932 901
2.) Die Stellung zum Leninismus wird immer mehr zur Grenzscheide einer wahrhaft
revolutionären Theorie und Praxis in den kapitalistischen Ländern. [...]
3.) Die These des Genossen Stalin „Dogmatischer oder schöpferischer Marxismus“ und
von der „Weiterentwicklung des Marxismus im Leninismus“141 ist zur Scheidelinie in
den entscheidenden kapitalistischen Ländern mit stärkster revolutionärer Entwick-
lung geworden. An dieser Grenzscheide trennen sich alle aktiven revolutionären
Kräfte von der offenen Konterrevolution und dem Sumpf, der die Fragestellung nicht
begriffen hat. Alle bewussten Konterrevolutionäre im Lager der Arbeiterklasse, die
SPD, die SAP, die Trotzkisten, die Brandleristen etc., die durch ihre Stellung, die sie
inne haben und die Rolle, die ihnen zugedacht ist, genauer wissen, als die Bourgeoi-
sie und auch besser als der westeuropäische Kommunismus (der sich als 100%iger
Bolschewismus vorkommt), dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen Sau-
erland und Alpari um die Kernfrage der Revolution handelte. Das drum und dran,
die Nebenumstände, die Begleiterscheinungen in diesem Streit haben die Feinde des
Kommunismus gar nicht berührt, das hat sie gar nicht interessiert, sondern sie stürz-
ten alle auf die Frage „Sieg oder Niederlage Stalins in der Frage des Leninismus“ weil
diese Frage zur wichtigsten Vorbedingung des Sieges der proletarischen Revolution in
den kapitalistischen Ländern geworden ist.
140 Dies wurde auf XII. Plenum als „Unterlassungen“ in Bezug auf die „Formen des Massenkampfes“
hervorgehoben, wobei das Beispiel der Generalstreikforderung gegen den „Papenschlag“ in Preußen
vom 20.7.1932 angeführt wurde (siehe: Kuusinen: Die internationale Lage, S. 73).
141 „ Bereits 1917 argumentierte Stalin gegen die europäische Revolutionsperspektive Preobraženskijs
und meinte, dass die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sei „dass gerade Rußland das Land sein wird,
das den Weg zum Sozialismus bahnt.“ Und weiter: „Man muss die überlebte Vorstellung fallen las-
sen, daß nur Europa uns den Weg weisen könne. Es gibt einen dogmatischen Marxismus und einen
schöpferischen Marxismus. Ich stehe auf dem Boden des letzteren.“ Reden auf dem VI. Parteitag der
SDAPR (Bolschewiki), 26.7.–3.8.1917. 6. Erwiderung an Preobrashenskij zur Frage des 9. Punktes der
Resolution ‚Über die politische Lage’, 3. August. In: Stalin: Werke, Bd. 3, S. 172f. Auch: http://www.
stalinwerke.de/band03/b03–032.html.
902 1929–1933
4.) Bei Euch im Bolschewismus bilden die Slutzkis und Altters [d.i. I.M. Al’ter] Ein-
zelerscheinungen und Ausnahmen142 und sobald sie versuchen, den Trotzkismus in
versteckter Form in die Geschichte der Bolschewiki und die Theorien des Leninis-
mus einzuschmuggeln, werden sie sofort erkannt, geschlagen und vertrieben. Bei
uns im westeuropäischen Kommunismus ist das gerade umgekehrt: Alle Theoretiker
sind versteckte Halb- und Ganztrotzkisten, Luxemburgisten, radikale Kleinbürger,
die unter Berufung auf den Stalinbrief,143 unter Berufung auf den Marxismus-Leni-
nismus, auf leeren Deklamationen nur falsche Etiketten für einen schlechten Inhalt
ihrer falschen Theorie sind, um damit ihre Kontrebande als 100%igen Leninismus in
die Partei, in die Kreise der revolutionären Arbeiter, die nach dem wahren Leninis-
mus dürsten, einzuschmuggeln. Im westeuropäischen Kommunismus ist niemand,
der das erkennt und sobald einer es erkennt und dagegen Stellung nimmt, wird er
geschlagen und vertrieben. Im westeuropäischen Kommunismus geschieht die Ver-
folgung und die Erledigung derer, die nach dem Leninismus drängen, die dem west-
europäischen Kommunismus den Leninismus entgegenstellen, nach dem Grundsatz
„nicht schlagen“ sondern „zerschlagen!“ „Die Versöhnler haben wir geschlagen, aber
die Neumanngruppe haben wir zerschlagen!“ lautete die Devise auf allen Bezirkspar-
teitagen der KPD. [...]
Und das ist seit dem XII. EKKI-Plenum nicht besser, sondern noch trostloser
geworden, so, dass die Partei auch bei den wichtigsten Ereignissen tage- und oft
wochenlang vollkommen direktionslos ist. Treffende Bespiele hierfür ergaben sich
beim Verkehrsarbeiterstreik in Berlin, beim Sturz der Papenregierung und der lang
anhaltenden Regierungskrise, beim Antritt der Schleicherregierung etc.
Nehmen wir den Strassenbahnerstreik in Berlin.144 Zweifellos hat die allgemeine
Streikagitation, besonders aber die gute Zellenarbeit unter Führung des Genossen
142 Der Historiker A.G. Sluckij wurde 1931 von Stalin infolge eines Artikels über die Vorkriegssozial-
demokratie in der Zeitschrift Proletars’kaja Revoljucija als „halbtrotzkistischer und parteifeindlicher“
Historiker abqualifiziert (siehe Dok. 276).
143 Der Brief Stalins zur Bekämpfung des sogenannten „Luxemburgismus“ (siehe hierzu Dok. 276).
144 Es handelt sich um den Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben („BVG-Streik“) vom 3.11.1932–
7.11.1932. Die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) hatte kurz vor der Reichstagswahl ge-
meinsam mit der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) erfolgreich zu dieser
hochpolitisierten Auseinandersetzung aus Anlass einer von der BVG angekündigten Senkung der
Stundenlöhne aufgerufen. Während in der Literatur einerseits die Zusammenarbeit zwischen KPD
und NSDAP thematisiert wird – Ulbricht und Goebbels, letzterer als NSDAP-Gauleiter von Berlin,
traten gemeinsam auf einer Massenkundgebung auf – wird andererseits der Charakter des Streiks
als „Volksbewegung“ hervorgehoben, der von SPD und ADGB verurteilt und staatlicherseits für il-
legal erklärt wurde und als letzter Streik in einem Grossbterieb den Widerstandswillen der Arbei-
ter dokumentierte und zum Signal für einen Generalstreik gegen Hitler hätte werden können. Siehe
zur neueren Literatur: Klaus Rainer Röhl: Die letzten Tage der Republik von Weimar. Kommunisten
und Nationalsozialisten im Berliner BVG-Streik, München, Universitas, 2008. Zu den unterschiedli-
chen Einschätzungen siehe auch: Wieszt: KPD-Politik, 557f.; Winkler: Der Weg in die Katastrophe, S.
765–773; Joachim Oltmann: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie: Der Streik der Berliner Ver-
Dok. 301: [Berlin], 25.12.1932 903
Kaiser, der geschickt alle Manöver der reformistischen Bürokratie durchkreuzte, ent-
scheidend bewirkt, dass der Streik ausgelöst wurde. Sobald aber der Streik zur Tat-
sache geworden war, zeigte sich, dass es sich nicht nur um einen wirtschaftlichen
Kampf, sondern um einen wahren Volksaufstand in Berlin handelte. Die gesamte
Bevölkerung, nicht nur die Arbeiter ergriffen Partei für die Streikenden.145 Selbst im
vornehmen Westen, auf der Tauentzien und auf dem Kurfürstendamm wurden in den
ersten 2 bis 3 Tagen, Wagen, die ausfahren wollten, von den dort wohnenden Klein-
bürgern und in der Hauptsache von Nazipublikum bombardiert. Es war die Wut gegen
die Papenregierung, die alle Volkskreise erfasst hatte, die sich nunmehr entlud. Alle
Zeitungen, vom „Vorwärts“ bis zur „Kreuzzeitung“146 schrien denn auch sofort, „das
ist kein wirtschaftlicher, sondern ein politischer Streik“.
Was machte die Führung nun in dieser Lage, die für die Ausdehnung des Streikes
und für die Ausgabe von politischen Losungen gegen die Papenregierung und gegen
die Notverordnungen, Zeitungsverbot, Rote Fahne – Verbot etc. so günstig wie noch
selten zuvor gewesen wäre? Das ZK hüllte sich überhaupt während der Dauer des
Streikes (5 Tage) in Stillschweigen. Die Bezirksleitung Berlin gab die Losung heraus:
„Kein politischer, sondern wirtschaftlicher Streik!“147 In den Unterbezirken, Zellen
und Streikversammlungen wurde erläutert: „Die Bourgeoisie und die Regierung will
den Streik zu einem politischen stempeln, um ihn abwürgen zu können. (Als ob sie
das nicht sowieso versuchte!) Um so schärfer müssen wir betonen, dass es sich beim
Streik nur um die wirtschaftliche Forderung handelt: „Keinen Pfennig Lohnabbau“
In anderen Fällen wurde wieder argumentiert: „Die Regierung Papen und die Bour-
geoisie schreien politischer Streik und schieben den Kommunisten die Schuld in die
kehrsarbeiter im November 1932. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 27 (1982), H. 11, S.
1374–1390; Klaus Rainer Röhl: Nähe zum Gegner: Kommunisten und Nationalsozialisten im Berliner
BVG-Streik von 1932, Frankfurt am Main–New York, Campus Verlag, 1994; Marinus Van der Lubbe
und der Reichstagsbrand, S. 184f. (siehe auch die Bewertung durch Hans Kippenberger, Dok. 375a).
145 Einen solchen Eindruck vermittelte auch der für die Militärarbeit der KPD zuständige Instrukteur
Tuure Lehén als Beobachter des Streiks nach Moskau: „In den ersten Streiktagen waren die Haupt-
verkehrsstrassen abends schwarz vor Menschen, besonders in den Arbeitervierteln! Das war die rich-
tige Volksbewegung. Ueberall herrschte eine lebhafte Stimmung für die Streikenden und gegen die
Streikbrecher. Ich war an vielen Stellen, aber von der Aktivität der Partei konnte ich nichts merken.“
(An Michael [d.i. Pjatnitzki] von Alfred [d.i. Tuure Lehén] 15.11.1932, Typoskript, deutsch, RGASPI,
Moskau, 495/293/123, 53–54).
146 Die nach dem Eisernen Kreuz als Titelsymbol „Kreuzzeitung“ genannte Neue Preußische Zeitung
erschien von 1848 bis 1939. Sie war die älteste konservative und deutschnationale Zeitung Berlins,
unter dem langjährigen Chefredakteur Wilhelm Freiherr von Hammerstein (Motto: „Mit Gott für König
und Vaterland“).
147 Hierzu berichtete Tuure Lehén nach Moskau: „Dieses Mal [hatte] die RGO tatsächlich die Führung
des Streiks inne [...], die Partei [trat] selbst jedoch während des Streiks, obwohl er de fakto zu einem
politischen Streik wurde, nicht in Erscheinung [...]. Die Regierung und die SPD sorgten dafür, den poli-
tischen Charakter des Streiks hervorzuheben, indem sie krampfhaft bemüht waren, den Verkehrsarbei-
tern zu beweisen, dass der Streik politisch ist und dass die Kommunisten und die Nazis mit dem Streik
nur ihre politischen Geschäfte machen, ihr ‚politisches Süppchenʻ kochen wollen.“
904 1929–1933
Schuhe, um jetzt vor den Reichstagswahlen vor der KPD gruselig zu machen und
uns eine Niederlage zu bereiten. Wir müssen demgegenüber betonen, dass der Streik
kein politischer ist, dass die KPD damit nichts zu tun hat und dass er nur von den
Verkehrsarbeitern gegen den Lohnraub geführt wird.“ Das war die Einstellung der
Partei von der Bezirksleitung bis zu den Zellen. Als die Belegschaften der Gaswerke
bei denen ebenfalls Lohnabbau angekündigt war, sich für den Streik erklärten, dort
der Lohnabbau vorläufig zurückgenommen wurde, traten die roten Betriebsräte für
Weiterarbeiten ein, trotzdem grosse Stimmung für Solidaritätsstreik mit den Stras-
senbahnern vorhanden war.
Ebenso unvorbereitet für die Partei, wie der Streik begonnen hatte, ebenso unvor-
bereitet für die Streikenden wurde er abgebrochen. Er wurde abgebrochen nicht auf
Beschluss und Abstimmung unter den Streikenden, sondern auf Beschluss der ille-
galen Streikleitung, der einfach den Streikenden bekannt gegeben wurde, was unter
den Streikenden grosse Verbitterung auslöste und den Nazis die Möglichkeit gab, zu
behaupten, dass die Kommunisten genau so wie die Gewerkschaftsbonzen handeln
und die Arbeiter selbst nichts zu bestimmen hätten. Natürlich war das Demagogie bei
den Nazis, aber sie hatten mit dieser Demagogie Erfolg, weil auch in der Partei und
unter den Streikenden sich Mißstimmung über die Art der Führung und des Abbruchs
des Streiks geltend machte.
Erst nachdem der Streik lange beendet war, entdeckte man bei allen Reden auf
den Bezirksparteitagen (zuerst in Berlin), dass der Streik ein voller Erfolg für die
Partei sei und dass sich in diesem Streik die Richtigkeit der Generallinie der Partei
erwiesen habe. Selbstkritisch wurde nunmehr betont, dass die Partei und besonders
die Parteipresse die grosse politische Bedeutung des Streiks nicht genügend erkannt
habe. Die politische Bedeutung hätte vielmehr hervorgehoben werden müssen. Jetzt
also argumentierte man gerade umgekehrt als während des Streiks. [...]
Eine andere Sache, die viel ernster ist. Bei der Präsidentenwahl im preussischen
Landtag hatte die Führung vorgeschlagen, für den SPD-Kandidaten zu stimmen, um
die Wahl eines Nazipräsidenten zu verhindern. Die Komintern war einverstanden,
aber nur unter der Bedingung, dass an die SPD bestimmte Forderungen gerichtet
werden, von deren Zustimmung das Eintreten für einen SPD-Kandidaten abhängig
sein sollte. Bei der Wahl im Landtag verzichtete die Fraktion nicht nur auf die Auf-
stellung von Forderungen an die SPD, sondern sie stimmte sofort für einen gemein-
samen Kandidaten der SPD und des Zentrums – einen Zentrumsmann, wovon zuvor,
als die Frage vor der Komintern gestellt wurde, nie die Rede war. Genosse Pieck hat
im Landtag dieses mehr als eigenartige Vorgehen auf der Landtagstribüne etwa so
begründet: um die Wahl von einem Nazipräsidenten zu verhindern, werden sich die
Kommunisten auch mit dem Teufel verbinden. Im Sekretariat – damals gehörte ich
noch dazu – hatten wir beschlossen, dass nach dem Beschluss der Komintern zu
verfahren sei. Nach den Vorgängen im Landtag gab Th[älmann] in der Sitzung des
Sekretariats die Erklärung ab, dass sich der Beschluss der Komintern nicht durch-
führen liess, da überhaupt kein SPD-Kandidat aufgestellt worden sei und deshalb
Dok. 301: [Berlin], 25.12.1932 905
hätte man auch ohne Bedingungen für den Zentrumskandidaten stimmen müssen.
Nach dieser Erklärung war klar, dass die Anweisung, gegen den Beschluss der Kom-
intern zu verfahren, von ihm ausging (ohne das Sekretariat, das ja der Auffassung
war, dass anders verfahren werden müsste, zu befragen). Dass wenige Tage später
Th[älmann] die Landtagsfraktion rügte und ihr Vorgehen (zu dem er sie veranlasst
hatte) als schwere opportunistische Abweichung öffentlich brandmarkte, war nicht
verwunderlich, denn das ist bei uns so die Regel.
Des Rätsels Lösung für das sonderbare Vorgehen im Landtag ergab sich aber erst
einige Monate später. Im Prozess Preussen – Reich vor dem Staatsgerichtshof148 trat
als Zeuge ein preussischer Regierungsbeamter auf, der aussagte: Eines Tages, vor der
Präsidentenwahl im Landtag, sei er in das Zimmer des Regierungsrates Abegg, Chef
der preussischen politischen Geheimpolizei (Chef der Ochrana)149 gerufen worden,
um bei einer „vertraulichen Besprechung mit den Führern der Kommunistischen
Partei Torgler (Vorsitzender der Reichstagsfraktion) und Kasper (Mitglied des P.B.
und Landtages) beizuwohnen.“ Der Zeuge gibt nun an Hand stenografischer Auf-
zeichnungen den Verlauf der Verhandlungen wieder. Bei diesen Verhandlungen hat
der Chef der Ochrana an Torgler und Kasper drei Forderungen gerichtet, was die Kom-
munistische Partei tun müsse, damit er, Abegg, dafür eintreten könne, dass man die
Partei nicht verbiete. Die drei Forderungen waren: erstens, das ZK gibt eine öffentli-
che Erklärung ab, dass die Partei gegen den individuellen Terror sei, zweitens, das ZK
verschickt ein Rundschreiben, das sich gegen den individuellen Terror wendet, und
drittens, die Kommunistische Landtagsfraktion stimmt für den gemeinsamen Kandi-
daten der SPD und des Zentrums. Natürlich kam es dem Chef der Ochrana nur auf die
dritte Forderung an, wozu er Auftrag von seiner Regierung hatte, die um ihren Posten
bangte. Der Schwindel, dass er, Abegg, gegen das Verbot der KPD arbeite, musste
doch bei einem Manne, dessen ganze Tätigkeit darin besteht, für das Verbot der KPD
Material zu sammeln, ganz offenkundig sein, war es doch gerade dieser Abegg, der
für Severing150 zum Verbot des RFB das Material und die Begründung lieferte. Die
zwei ersten Forderungen waren also nur Scheinforderungen, um den naiven Unter-
148 Der Staatsgerichtshof als oberstes Verfassungsgericht des deutschen Reiches entschied im Fall
„Preußen gegen Reich“, d.h. dem „Papenschlag“, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfü-
gung gegen das Reich wegen drohender „Verwirrung des Staatslebens“ abzuweisen. In der Hauptsa-
che bestritt das Reichsgericht mit Carl Schmitt als Vertreter der Reichsregierung zwar die Zulässigkeit
der Reichsexekution gegen Preußen, sah jedoch die Absetzung der preußischen Regierung und der
Einsetzung des Reichskommissars durch Notverordnung als gegeben an.
149 Ochrana (russ., umgangsspr. ochranka, aus: Ochrannoje otdelenie: Sicherheitsabteilung der
eigenen Kanzlei seiner kaiserlichen Majestät). Allgemeine Bezeichnung für die unterschiedlichen
Geheimdienste und die geheime Polizei im zaristischen Russland. Wilhelm Abegg (1876–1951) war
Staatssekretär im preußischen Innenministerium und Leiter der preußischen (nicht nur politischen)
Polizei. Er war als Reformer und Republikaner bekannt und wurde direkt nach dem „Preußenschlag“,
gegen den er Widerstand leistete, abgesetzt.
150 Carl Wilhelm Severing (1875–1952) war sozialdemokratischer Innenminister Preußens.
906 1929–1933
händlern und höheren Stellen in der Partei vorzutäuschen, als sei man um die Lega-
lität der KPD besorgt.
Nachdem diese Zeugenaussagen, die von keiner Seite dementiert und abgestrit-
ten wurden, durch die reaktionäre Presse bekannt waren, war das Vorgehen im preus-
sischen Landtag und das Geschrei über den individuellen Terror, den man plötzlich
wieder der „Neumangruppe“ anhing, vollkommen klar. Man wollte sich damit die
Erhaltung der Legalität erkaufen, die Angst vor der Illegalität trieb die Führung (nicht
das Sekretariat, das ja nichts von all diesen Dingen wusste) zu den trüben Schacher-
geschäften mit der Ochrana. Man hatte aber damit auch die Komintern düpiert. Man
hatte die Geheimverhandlungen mit der Ochrana verschwiegen und das Vorgehen im
Landtag als einen selbständigen Akt der politischen Taktik hingestellt. Die Führung
wusste genau, dass die bolschewistische Komintern nie für einen solchen traurigen
Coup zu haben gewesen wäre und deswegen musste sie hinters Licht geführt werden.
Diese Affäre zeigt deutlich, wie in gewissen Fällen die Generallinie der Komintern
„durchgeführt“ wird. In diesem Falle ist die Partei nicht der Politik der Komintern,
sondern der Politik der Ochrana und der Braun-Severing-Regierung gefolgt. Die KPD
war in diesem Falle nicht ein Organ des revolutionären Klassenkampfes und der bol-
schewistischen Politik der Komintern, sondern ein Hilfsorgan der Kabinettspolitik
der Braun-Severing-Regierung. Die KPD war in Gefolgschaft der Ochrana, – ein Witz
in der Geschichte des revolutionären Klassenkampfes. [...]
151 Möglicherweise Fritz Rück (1895–1959), ab 1927 in der Agitpropabteilung des ZK der KPD – er trat
allerdings bereits 1930 aus der Partei aus und ging zur SAP (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten,
S. 756).
Dok. 301: [Berlin], 25.12.1932 907
apparat des ZK, drei oder vier Redakteure in Provinzzeitungen, und 4 oder 5 Bezirks-
sekretäre, dann solche Genossen, die sich nicht in Parteistellung befinden, wie Kurt
Sauerland, [Karl August] Wittfogel, und noch ein Reihe junger Intellektueller, die in
der Partei kaum bekannt sind. Endlich gehört in diese Richtung eine Reihe von Par-
teifunktionären, die meist durch die Leninschule152 gegangen sind, die teilweise noch
in Funktion und teilweise entlassen und arbeitslos sind und alle entlassenen Funk-
tionäre des Kommunistischen Jugendverbandes. Es handelt sich um eine sehr breite
und starke Richtung, die mit der Schulungsarbeit der Komintern (Leninschule, Rote
Professur153) im ständigen Anwachsen begriffen ist.
Das charakteristische dieser Richtung, im Gegensatz zu den drei anderen Rich-
tungen ist, dass sie von einer ganz anderen Seite an die revolutionäre Bewegung
herangekommen ist. Mit wenigen Ausnahmen war diese Richtung nie in die Ideo-
logien der alten Linken in der II. Internationale verstrickt, sie kamen unverbraucht
und unbelastet von den alten Ideologien und Traditionen der Linken der II. Inter-
nationale in die Bewegung und sahen nun die revolutionären Probleme mit ganz
anderen Augen, mit anderem Bewusstsein, mit anderen Anschauungen, wie die drei
erst genannten Richtungen. [...]
13.) Der Rechtskurs und der Vernichtungsfeldzug gegen die bolschewistische Linke
Auf dem XII. EKKI-Plenum wurden die Dinge in der deutschen Partei in ihrem Zusam-
menhang richtig gesehen und in den Reden der Genossen Kuusinen, Manuilski, Piat-
nitzki und Knorin richtig beleuchtet. Inzwischen sind aber die dort erörterten Uebel
nicht weniger geworden, sondern haben sich bei Weitem verschlimmert. [...]
Dieser Vernichtungs- und Rachefeldzug gegen alle linken bolschewistischen Ele-
mente in der Partei ist ein ganz natürlicher Vorgang. Die jetzige Leitung fühlt ihre
Schwäche und Ohnmacht dass sie die Dinge, die in der immer grösseren Verschärfung
der Klassengegensätze an sie herantreten, nicht meistern kann. Sie fühlt, dass all ihr
Tun und Lassen, Sysiphusarbeit, Stückwerk ist, mit dem sie auch keinen Schritt vor-
wärts kommt, sondern trotz des raschen Ansteigens der revolutionären Welle, immer
auf einen Fleck tritt. In diesem kritischen Zustande fühlt sich die führende Richtung
schon bei jedem kritischen Worte in ihrer Existenz bedroht. Deswegen Unterschla-
gung der Kritik der Komintern auf dem XII. Plenum, deswegen Byzantinismus, der
Unersetzlichkeit und Unfehlbarkeit vortäuschen soll, deswegen verzweifelter Ver-
nichtungsfeldzug gegen das Sauerlandbuch, das einige unangenehme Punkte in der
Ideologie der KPD (ungewollt) berührte. [...]
ständig müssen die Bezirke, Zellen, Funktionäre und Mitglieder in Atem gehalten
werden, zur „Wachsamkeit“ gegen links, damit jede kritische Stimme in der Partei
sofort abgestempelt und infamiert ist, als „Fortsetzung der Fraktionsarbeit der Neu-
manngruppe“. Nur so und mit diesen Methoden glaubt man in der Partei jede Miß-
stimmung unterdrücken zu können.
Ists auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Neumann ist seit März 1932 nicht
mehr in der KPD.154 Aber an allem, was passiert ist, ist Neumann schuld. Am Ver-
sagen der Partei am 20. Juli war Neumann Schuld,155 am Stagnieren oder sogar teil-
weisem Rückgang der RGO ist Neumann schuld, an den unbefriedigten Resultaten
bei Ortsverwaltungs- und Betriebsrätewahlen ist Neumann schuld, an der falschen
Einschätzung des Schleicherkabinetts als eine „scheinsoziale“ Regierung, was die
ganze Analyse des XII. Plenums liquidiert,156 ist Neumann schuld usw. Ihr glaubt, ich
übertreibe? Bitte schön, nehmt die Begründung zum Antrag, Neumann aus dem ZK
auszuschliessen. [...]
Seit der Reichskonferenz (16. Oktober) fanden zwei Polbürositzungen statt, eine
am 17. November und eine am 16. Dezember. In der ersten beschäftigte man sich
lediglich mit dem „Fall Neumann“ in der zweiten nur mit dem „Fall Remmele“. Und
so beschäftigt sich der gesamte Parteiapparat bis zur letzten Zelle in allen Winkeln
Deutschlands immer nur mit den entsprechenden „Fällen“, die oben in der Leitung
auf die Tagesordnung gestellt und dann am nächsten Tage durch Instrukteure und
Rundschreiben ins Reich getragen werden und dann dort als „Massensturm der Mit-
glieder“ wieder in Resolutionen und Anträgen wieder an das ZK zu gelangen, das
noch nichts anderes kann, als von der Komintern zu fordern, dass dem „einmü-
tigen Willen der Mitglieder Rechnung getragen werden müsse“. Da man gegen die
Schleicherdiktatur und Kapitalsoffensive keinen Sturm entfachen kann, so glaubt
man wenigstens in der Partei einen Sturm gegen Neumann und dann wieder gegen
Remmele entfachen zu müssen. [...]
Ist zu erwarten, dass das sich alles ändern wird, wenn Neumann mal erst lange
genug fort ist, Remmele und vielleicht auch Münzenberg, und etwa auch noch
Dahlem, Schulte und noch einige aus dem ZK entfernt sind usf., dass dann wieder
Ruhe eintritt, und die Partei dann wieder besser nach aussen kämpfen kann? Ich
154 Vermutlich meinte Remmele damit, dass Neumann nach Moskau abgeschoben wurde.
155 20.7.1932: Der „Papenschlag“ die Absetzung der geschäftsführenden preußischen Regierung
(Dok. 293 u.a.).
156 Für die KPD galt die Schleicher-Regierung offiziell als „eine neue verschärfte Stufe des faschisti-
schen Regimes“, die Sozialdemokratie habe ihr als kleineres Übel den Weg bereitet (siehe: Winkler:
Weimar 1918–1933, S. 558).
Dok. 301: [Berlin], 25.12.1932 909
halte eine solche Auffassung für eine schöne Illusion. Umgekehrt ist es, weil nach
aussen die Stosskraft fehlt, braucht man den innerparteilichen Wirbel, der über die
Misserfolge nach Aussen ablenken und täuschen soll. Diese Methode gehört zum
System und wird solange existieren, solange das System existiert. [...]
Ob mit oder ohne Neumann, ob mit oder ohne Remmele, ob mit oder ohne Mün-
zenberg in der Parteileitung, im ZK oder in Afrika, oder sonst wo, wo der Pfeffer
wächst, das spielt gar keine Rolle – das ist so und wird so bleiben, solange der west-
europäische Kommunismus mit seinen Theorien, seiner Praxis, seinen Methoden
sein und bleiben wird. Und je konfliktschwangerer die Lage einer Partei, die auf eine
revolutionäre Strategie und Taktik verzichtet werden muss, solange und umso stärker
muss im innerparteilichen Kurs die geschilderte Methode gesteigert werden. Eines ist
vom anderen nicht zu trennen. [...]
Ich betone nochmals, ich habe nicht die Absicht, diese Fragen ohne den Willen
und die Zustimmung der Komintern und der Leitung der KPdSU zur Diskussion
zustellen. Aus diesem Grund ist das Schreiben nur an den Obmann der Delegation
der KPdSU bei der Komintern und an den Führer der KPdSU gerichtet.157
Dok. 303
Flugblatt der „Versöhnlerfraktion“ über die KPD und den
Machtantritt des Nationalsozialismus in Deutschland1
[Berlin-Weißensee], o.D. [22.1.1933]2
Genossen, die Gruppe von Parteimitgliedern, die sich mit diesem Schreiben an
Euch wendet, gehört unserer Partei zum Teil seit ihrem Bestehen, zum anderen Teil
seit mindestens 10 Jahren an. Sie stand in Opposition in den Jahren 1924 und 1925,
unterstützte auf das Intensivste die richtige leninistische Politik während der Jahre
1926 und 1927 und musste infolge der verhängnisvollen Wendung der Parteipolitik
im Jahre 1928, die durch die Märzniederlage 1933 besiegelt wurde, wiederum in die
Opposition zurückkehren.3
Wir waren während der verflossenen fünf Jahre mit der Politik unserer Partei niemals
einverstanden, aber wir haben stets versucht, unsere abweichenden Auffassungen im
Rahmen der Organisation unter strengster Beachtung der Parteidisziplin zu vertreten.
Wir haben in der Zeit zwischen dem Sechsten Weltkongreß4 und dem Weddinger Par-
teitag5 laut und vernehmlich vor der falschen Gewerkschaftspolitik gewarnt die uns in
den folgenden Jahren unfähig machte, die sozialdemokratischen Arbeiter zu gewin-
nen. Wir haben alles denkbare getan, um die Parteileitung von jenem katastrophalen
innerparteilichen Kurs abzuhalten, die die Organisation in Wirklichkeit aktionsunfä-
hig machte. Wir haben in den Jahren 1930 und 1931, als die wirtschaftliche und poli-
tische Krise sich zusehends dem Höhepunkt näherte, versucht, innerhalb der Partei
die richtigen Wege zur Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse durch den Kom-
1 Hergestellt August 1933 in Berlin-Weißensee, Karl Legien-Siedlung. Auflage 800, davon 200 nach
Hannover.
2 Das undatierte Flugblatt wurde von den Bearbeitern in die Zeit der bevorstehenden Machtübernah-
me Hitlers eingeordnet.
3 Gemeint sind die sog. „Versöhnler“ in der KPD (-siehe hierzu den Text von Bayerlein in Band 1 sowie
Dok. 205 u.a.).
4 Zum VI. Weltkongress der Komintern 1928 siehe Dok. 189.
5 Der XII. Parteitag („Weddinger Parteitag“ nach dem Tagungsort in Berlin-Wedding) der KPD (8.–
15.6.1929) bildete den vorläufigen Höhepunkt der ultralinken Entwicklung der Partei.
Dok. 303: [Berlin-Weißensee], o.D. [22.1.1933] 911
munismus durchzusetzen, weil uns schon damals klar war, daß die Konterrevolution
im Verlaufe der Krise siegen muß, wenn die KPD sich unfähig erweisen sollte, diese
Aufgabe zu lösen. Wir haben uns offen und scharf gegen die Volksentscheidspolitik
und die nationalistischen Entgleisungen gewandt, (deren Hauptvertreter Neumann,
Remmele, Münzenberg waren), und die in Wirklichkeit den Kampf gegen den Faschis-
mus beeinträchtigten.6 Wir haben während des ganzen Jahres 1932 unaufhörlich vor
der Unterschätzung des Faschismus gewarnt, im Januar auf alle erdenkliche Weise
die Führenden der Partei und diese selbst auf den drohenden faschistischen Umsturz
aufmerksam gemacht und die notwendigen Maßnahmen zur Mobilisierung der Arbei-
terklasse vorgeschlagen.
Wir hatten keinen Erfolg, die Parteileitung änderte ihre Politik nicht, die Nie-
derlage war die Folge. Wir haben gehofft, daß die Parteileitung zumindest aus der
Niederlage die Konsequenzen und Lehren ziehen werde – auch diese Hoffnung war
vergeblich. Die Politik, die solche furchtbaren Ergebnisse hatte, wird fortgesetzt [...]
6 Die hier publizierten Dokumente relativieren die Vorstellung Neumanns, Remmeles und Münzen-
bergs als Hauptbetreiber des roten Volksentscheids gemeinsam mit den Nationalsozialisten sowie
ihrer rhetorischen Annäherung an den Nationalismus (vgl. hierzu Dok. 252 und folgende).
7 Siehe zu den beiden Auffassungen die hier publizierten Dokumente Thälmanns und Remmeles
(Dok. 266 und folgende).
912 1929–1933
tion des Klassenkampfs in den Monaten Januar und Februar so passen, wie die Faust
aufs Auge. [...]
Die neuerliche Zuspitzung der Krise hatte die Bourgeoisie völlig kopflos gemacht.
Sie schwankte zwischen der Militärdiktatur Schleichers und einem faschistischen
Regime Hitler-Hugenberg, ohne sich während des ganzen Monats Januar für die
eine oder die andere Lösung entscheiden zu können. In dieser Situation stießen die
Nazis vor. Sie rufen zu der Demonstration am Bülowplatz vor dem Karl-Liebknecht-
Haus auf.8 Diese ungeheuerliche Provokation der Arbeiterschaft mußte unweigerlich
die Krise auf den Höhepunkt treiben, die Entscheidung gewaltsam beschleunigen.
Schleicher versuchte abermals auszuweichen, indem er die faschistischen Provoka-
teure vor den Arbeitern schützte, und den Arbeitern gestattete „legal“ zu antworten.
Aber die Berliner Arbeiter, die besser als ihre Führer begriffen hatten, dass die Ent-
scheidungsstunde des Kampfes gegen den Faschismus gekommen war, antworteten
auf ihre Weise: Am 22. Januar demonstrierten sie bei 15 Grad Kälte im stundenlangen
Vorbeimarsch am Karl-Liebknecht-Haus in einer Art und Weise, daß jeder, der nicht
blind und taub war, verstehen mußte: Die Berliner Arbeiter haben sich erhoben, sie
sind bereit, ihr Leben einzusetzen, um den Sieg des Faschismus zu verhindern. Die
Stunde für den Generalstreik ist gekommen.9
8 Das Karl-Liebknecht-Haus am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz war seit 1926 die Parteizentrale der
KPD. Es wurde 1912 als Fabrik- und Geschäftshaus erbaut („Etagenfabrik“). Mit der offensichtlichen
Absicht zu provozieren marschierte am 22.1.1933 die NSDAP zusammen mit der SA mit 16.000 Teil-
nehmern vor der Berliner KPD-Zentrale auf, von der Polizei gesichert, die das Karl-Liebknecht-Haus
(erfolglos) nach Waffen durchsuchte. Mit dem Aufmarsch der SA auf dem Bülowplatz sei, so das Po-
litbüromitglied der KPD, Hermann Remmele in seiner scharfen Kritik an der Politik der Mehrheit der
KPD-Führung vom 14.4.1933, „die Machtfrage entschieden“ worden. „Die Machtübernahme Hitlers
geschah nicht erst am 30. Januar, sondern am 22. Januar.“ (Dok. 321; siehe auch: Ronald Friedmann:
Die Zentrale. Geschichte des Berliner Karl-Liebknecht-Hauses, Berlin, Karl Dietz, 2011, S. 79 u.a.).
9 Den Autoren ist hier ein Fehler unterlaufen: Die Demonstration der 130.000 auf dem Bülowplatz
fand am Mittwoch, den 25.1.1933 statt. Während Thälmann als Reaktion einerseits ein Zeichen des
„Umschwungs der Klassenkräfte zugunsten der proletarischen Revolution“ sah und Die Rote Fahne
den Vorwärts als „Provokateur“ darstellte (auf S. 1 der Roten Fahne vom 26.1.1933 hieß es: „Provoka-
teur ‚Vorwärtsʻ. Er sudelt im Bunde mit Goebbels über eine ‚Niederlage des Proletariatsʼ!!“), schrieb
der langjährige Chefredakteur des Zentralorgans der SPD, Friedrich Stampfer, als Zeitzeuge: „Mein
Beruf als Journalist hat mich gestern abend auf den Bülowplatz geführt. Ich gestehe, daß ich das
dort Gesehene als ein Erlebnis empfunden habe. Auch das schärfste Urteil über die Politik der kom-
munistischen Führung kann nichts ändern an der Hochachtung, die diese Massen verdienen. Durch
klirrenden Frost und schneidenden Wind zogen sie in abgeschabten Mänteln, in dünnen Jacken, in
zerrissenen Schuhen stundenlang. Zehntausende blasser Gesichter, aus denen die Not sprach, aus
denen aber auch der Opfermut sprach für die Sache, die sie für die richtige halten. Aus ihren rauhen
Stimmen klang der Haß, der tausendmalberechtigte Haß gegen eine Gesellschaftsordnung, die sie zu
Not und Elend verdammt, der Protest, tausend mal berechtigte Protest gegen den grotesken Wahn-
sinn, die schreiende Ungerechtigkeit unserer sozialen Zustände. Der wäre kein Sozialist, der diesen
Haß, diesen Protest nicht mitempfände!“ Stampfer appelierte an die KPD-Arbeiter, sich von ihrer Füh-
rung loszureißen: „Aufs schärfste müssen wir Sozialdemokraten darum uns zu der Auffassung be-
kennen, daß das ganze arbeitende Volk vom bestbezahlten Arbeiter bis zum letzten Elendsproletarier
Dok. 303: [Berlin-Weißensee], o.D. [22.1.1933] 913
Zu den Blinden und Tauben gehörte leider unsere Parteiführung. Sie gab am
Morgen des 23. Januar nicht die Losung zum Kampf, sondern sie schwelgte in poe-
tischen Ergüssen über die „herrliche Demonstration“. Sie verließ sich darauf, daß
die Bourgeoisie, erschreckt durch die Demonstration und die Kampfbereitschaft der
Arbeiterklasse, aus Furcht vor dem Bürgerkrieg den Einsatz des Faschismus nicht
wagen würde. Sie verkannte vollkommen die wirkliche Lage. Noch am 31. Januar, am
Tage der Bildung der Regierung Hitler – Hugenberg, erschien die Rote Fahne mit der
Schlagzeile: „Einheitsfront von Hitler bis Wels.“10 Sie war fest überzeugt davon, daß
Schleicher die Situation meistern werde. Aber die Bourgeoisie zog andere Konsequen-
zen, als unsere Parteiführung sie erwartete. Die Demonstration des 22. Januar, der
kein Kampf gefolgt war, gab jenen Kräften in ihr die Oberhand, welche den staatli-
chen Einsatz der Faschisten gegen die Arbeiterklasse forderten. Das Echo, das der
Kampfruf der Berliner Arbeiter im ganzen Reich gefunden hatte, der Konflikt zwi-
schen Schleicher und dem ostelbischen Grundbesitz gab den Ausschlag. Die Faschis-
ten, denen der Schrecken des 22. Januar, die Furcht vor dem Proletariat, noch in allen
Knochen steckte, wurden förmlich in die Regierung hineingepeitscht. Die Entschei-
dung war in Wirklichkeit am 22. Januar gefallen.
Aber vielleicht hätte die Entwicklung bis zum 31. Januar noch geändert werden
können. Die Berliner Arbeiter waren, da ihre Kampfbereitschaft nicht ausgenutzt
wurde, zwar enttäuscht, aber sie waren, umsomehr als die Bewegung im Reiche
noch im Anwachsen war, noch immer kampfbereit. Aber es fehlte jede Initiative zum
Einsatz der proletarischen Einheitsfront, die in diesen Tagen wirklich vorhanden war.
klassenmäßig zusammengehört.“ (Vorwärts, 26.1.1933, Abendausgabe); in der Roten Fahne wurde die
Demonstration unter dem Topos: „Das ist die Kommune“ beschrieben, siehe: „Gewaltige Heerschau
gegen den Faschismus! Das Banner der KPD., das Zeichen des roten Berlins“. In: Die Rote Fahne,
26.1.1933; vgl. Horst Helas: Nazi-Provokation und Massen-Aufmarsch. Das Karl-Liebknecht-Haus im
Januar 1933. In: Disput (2003), 1, http://archiv2007.sozialisten.de/politik/publikationen/disput/view_
html?zid=2727&bs=1&n=16.
10 „Diese Unschärfe des politischen Urteils resultierte letztlich aus der kommunistischen Interpre-
tation der autoritären Regierungsbildungen seit 1930 als Prozeß fortschreitender ‚Faschisierung’, an
dem eine ‚Einheitsfront von Wels bis Hitler’ und somit das ganze Spektrum nichtkommunistischer
Parteien von der SPD bis zur NSDAP beteiligt sei (Peukert: Die KPD im Widerstand, S. 30). In der Tages
ausgabe der Roten Fahne vom 31.1.1933 lautete die Hauptschlagzeile: „Auf zum Kampf! Hitler, Papen,
Hugenberg von Hindenburg ernannt! Kriegserklärung an das Volk und seine KPD. – Wehrt Dolchstoß
der SPD.-Führer ab! Betriebe, Stempelstellen, Arbeiterviertel: vorwärts, marschiert!“ (Die Rote Fahne
31.1.1933). In der Extra-Ausgabe vom gleichen Tag hieß es unter der großflächigen Überschrift: „Judas
Ischariots! Schändlicher Hochverrat der SPD.-Führer am Proletariat! Kapitulationslosung wie am 20.
Juli. SPD-Arbeiter, mit uns gegen den Faschismus und seine Helfershelfer, die Wels und Konsorten!“
(Die Rote Fahne, Extra-Ausgabe, 31.1.1933). Am 28.1.1933 hatte Die Rote Fahne getitelt: „Schutzwall von
Hitler bis Wels für Schleicher-Bracht-Diktatur! KPD. allein für Sturz des Diktaturkabinetts – Heraus
beim Reichstagszusammentritt zur antifaschistischen Klassendemonstration.“
914 1929–1933
Die Parteileitung gab nicht einmal die selbstverständliche Losung zur Beteili-
gung an der sozialdemokratischen Lustgarten-Demonstration am 31. Januar aus.11
(Weil man die Bildung der Regierung Hitler-Hugenberg für ausgeschlossen hielt).12
Die endgültige Entscheidung war gefallen.
Im Monat Februar war die spontane Kraft der Abeiterklasse gegenüber dem
Faschismus gebrochen [...]
Die Parteileitung sagt, man konnte nicht kämpfen, weil die Voraussetzungen für
den bewaffneten Aufstand, also für die Eroberung der Macht durch das Proletariat
nicht gegeben waren. [...] und sicherlich: Unsere Parteileitung hat Recht, wenn sie
11 Ein erneuter Datumsfehler der Verfasser, die zudem in der Rückschau offensichtlich zwei
Kundgebungen verwechselt haben: Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler erfolgte bereits am
30.1.1933. Am 29.1.1933 demonstrierten eine Million Sozialdemokraten und ihre Anhänger auf einer
grossen Kundgebung im Berliner Tiergarten. Erst am 7.2.1933 fand dann im Lustgarten die Demon-
stration bzw. Kundgebung der Eisernen Front statt, an der ca. 200.000 Menschen teilnahmen. In
einem Beschluss hatte es die Politkommission des EKKI am 27.1.1933 nach einem Antrag Lozovskijs
ausdrücklich abgelehnt, „der KPD Anweisung zu geben, sich an der soz[ial]dem[okratischen] Demon-
stration am 29.1. zu beteiligen.“ (RGASPI, Moskau, 495/4/228, 3).
12 Die Ablehnung der Beteiligung durch die KPD-Führung bezog sich vermutlich nicht auf die Kund-
gebung der Eisernen Front vom 7.2.1933, sondern auf die Kundgebung der SPD vom 29.1.1933. An die
Lustgartendemonstration erinnerte sich der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner in der folgenden ein-
drucksvollen Weise: „Am Abend wohnte ich im Lustgarten der gewaltigsten Kundgebung bei, die Ber-
lin bis dahin erlebt hatte. Selbst die Versammlungen der Novembertage von 1918 reichten nicht an
diesen letzten Aufmarsch der Eisernen Front heran. [...] Der Parteivorsitzende Otto Wels hielt eine sei-
ner weithin hallenden Ansprachen, aber sie zündete nicht, die Menge blieb dumpf und stumm. Dann
ereignete sich vorne bei der Versammlungsleitung ein Zwischenfall. Der Vorsitzende der kommuni-
stischen Reichstagsfraktion, Ernst Torgler verlangte das Wort. Einige Dutzend seiner Anhänger riefen
laut seinen Namen. Aber eine kommunistische Rede war im Programm nicht vorgesehen, man lehnte
ab. Der Versammlungsleiter teilte das der Menge mit der seltsamen Begründung mit, daß sonst ein
weiterer sozialdemokratischer Redner die Ausführungen Torglers erst wieder berichtigen müßte. Die
ungeheure Volksmenge im Lustgarten nahm die Mitteilung über Torglers verhinderte Rede teilnahms-
los auf. Sie gab überhaupt an diesem Abend kein Zeichen von Kampfesfreude oder Siegeszuversicht,
sondern blieb ernst und stumm. Noch lange verharrte sie schweigend, als wartete sie auf etwas. Fac-
keln und Feuer erloschen. Dann auf einmal lief alles ohne Lärm auseinander.“ (Wilhelm Hoegner:
Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik 1933, Frankfurt am
Main, 1979, S. 50ff.). Fritz [Heckert?] schrieb dazu aus Moskau: „(...) 1. Man hätte im Lustgarten statt
Tor[gler] nur zu beauftragen, von der SPD-Tribüne aus zu sprechen, mit unseren Gruppen 200 Redner
senden sollen, die sofort nach der Rede von Wels begonnen hätten, zu den Anwesenden zu sprechen
und die Erklärung unserer Partei vorzulesen. (...) 2. Man hätte den Funktionären der RGO. konkret
formulierte Vorschläge geben sollen, welche wir als die Grundlage der Schaffung einer Einheitsfront
zur Durchführung des Angriffs machen. Dadurch wäre vermieden worden, dass unsere Gen[ossen] in
dieser Frage unsicher waren und teils in sektiererische Abgeschlossenheit, in opportunistische Passi-
vität oder in eine Politik des Zugeständnisses in der Linie der sozialdemokratischen Politik verfallen
wären. (...) (Ich glaube, dass die anderen Kameraden hier derselben Ansicht sind.). Nachträglich ist
man natürlich immer klüger. Aber in künftigen Fällen wird es doch gut sein, dass unsere Gen[ossen]
nach unten klarer und konkreter instruiert werden.“ (Fritz [Heckert?] an „Liebe Freunde“, [Moskau],
11.2.1933, RGASPI, Moskau, 495/292/63, 22).
Dok. 303: [Berlin-Weißensee], o.D. [22.1.1933] 915
sagt, daß im Januar der bewaffnete Aufstand, die Machteroberung unmöglich war –
aber sie beantwortet – nachträglich – damit die Frage, die ihr niemand gestellt hat,
weder die Arbeiterklasse, noch die Geschichte – höchstens ihre eigenen Illusionen.13
Diese Frage war bereits im Monat November (und wenn man will, schon am 20.
Juli)14 entschieden worden: Nämlich dadurch, daß es unserer Partei in den entschei-
denden Monaten vor dem Höhepunkt der Krise nicht gelungen war, die Mehrheit
der entscheidenden Schichten des Proletariats zu erobern, um wirklich den Macht-
kampf aufnehmen zu können (nicht nur an der Wahlurne für den Kommunismus zu
demonstrieren) und das vornehmlich deshalb, weil (?) das Kleinbürgertum in seiner
gewaltigen Mehrheit zur Konterrevolution überging. Diese grundlegenden Kräfte-
verhältnisse bestanden auch im Januar aber sie waren durch die Krise der faschisti-
schen Partei zugunsten der Arbeiterklasse modifiziert: Die Arbeiterklasse war nicht im
Stande, die Macht zu erobern, aber sie war absolut fähig, die extremste Form des Sieges
der Konterrevolution, die faschistische Diktatur zu verhindern. [...] Unsere Antwort auf
die Frage, ob man hätte kämpfen sollen, lautet: Ende Januar mußte unsere Partei den
Kampf aufnehmen.
Der Verrat der SPD – die führende Rolle der KPD oder „Sind die sozialdemokratischen
Arbeiter schuld?“
Wir haben die Fragen der Märzniederlage bisher ausschließlich vom Standpunkt
der Strategie unserer eigenen Partei gestellt. Das muß für Kommunisten der lei-
tende Gesichtspunkt sein. Aber um die Frage vollkommen und auch nach taktischen
Gesichtspunkten zu klären, muß man die Rolle aller während der Krise innerhalb des
Proletariats wirkenden entscheidenden Kräfte und ihrer Beziehungen untereinander
analysieren, also die Rolle der SPD und der sozialdemokratischen Arbeiter.
Wir sind mit der Partei völlig einverstanden, wenn sie in ihren Dokumenten den
permanenten Verrat der SPD an allen proletarischen Interessen vom 4. August 1914
bis zu den Schurkenstreichen Leiparts, Wels, Löbes und Grassmanns schildert. [...]
Aber das ZK geht noch weiter, es führt die Liquidation der Leninschen Theorie
über die revolutionäre Partei noch weiter. Es erklärt, daß nicht nur der Verrat der
SPD uns kampfunfähig gemacht habe, sondern, daß auch die SPD-Arbeiter Schuld
daran gewesen seien, weil sie nicht hätten kämpfen wollen. Man könnte darauf ant-
worten: Woher wißt Ihr denn das? Ihr habt es doch selbst nicht für richtig gehalten,
zu kämpfen „da die Voraussetzungen für den bewaffneten Aufstand nicht gegeben
waren.“ Ihr konntet doch den Pudding gar nicht erproben, da Ihr ihn nicht essen
wolltet.
13 Tatsächlich stellten die Nationalsozialisten diese Frage, um der KPD und Thälmann persönlich
Umsturz und Hochverrat nachweisen zu können (siehe Dok. 309).
14 Am 20.7.1932 erfolgte nach einer entsprechenden Notverordnung im „Papenschlag“ die Absetzung
der geschäftsführenden preußischen Regierung unter Otto Braun (SPD). Die SPD verlor ihre stärkste
Bastion, verzichtete jedoch auf den Aufruf zum Generalstreik (hierzu Dok. 293 und folgende).
916 1929–1933
Wollten die SPD-Arbeiter wirklich nicht kämpfen, haben sie wirklich unsere Ein-
heitsfrontangebote abgelehnt, wie das ZK es behauptet? Diese Behauptung hat nichts
mit der Wirklichkeit gemein. Jeder Berliner, jeder deutsche Arbeiter weiß, daß gerade
im Monat Januar zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern
ein brüderliches Verhältnis bestand, daß große Teile der sozialdemokratischen Arbei-
ter mit ihren Führern gebrochen hatten, daß sie bereit waren, sich der kommunisti-
schen Führung zu unterstellen. Und warum taten sie das nicht? Weil das nur unter
der Voraussetzung möglich war, daß die Leitung der KPD durch eine richtige Ein-
heitsfronttaktik den Verrat der SPD völlig paralysiert, die schon auf der Seite der KPD
stehenden SPD-Arbeiter völlig an sich herangezogen, die noch schwankenden SPD-
Arbeiter zu ehrlichen Bundesgenossen gemacht hätte.
Jahren auszeichnete, waren aber natürlich nicht fähig, die jahrzehntelangen Erfah-
rungen im revolutionären Kampf zu ersetzen, die der Gesamtorganisation durch die
Ausschaltung der alten Kaders verloren gegangen war [...]
In den Jahren 1929–1930–1931 liquidierte die Partei vollkommen die revolutionäre
Taktik der Eroberung der freigewerkschaftlich und sozialdemokratisch organisierten
Arbeiter durch die Fraktionsarbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften, ohne
die auch eine wirkliche Einheitsfronttaktik unmöglich war und ist. An ihre Stelle trat
die RGO-Politik einer „selbständigen roten Gewerkschaftsbewegung“ und Roter Ver-
bände. [...]
Keine dieser Voraussetzungen ist gegenwärtig erfüllt. Die Parteileitung treibt noch
immer eine Politik, als ob „wir keine Niederlage erlitten hätten“ [...]
Das Liquidatorentum äußert sich in verschiedenen Formen: „Es hat ja jetzt doch
keinen Zweck mehr – man muß abwarten, bis sich eine günstigere Situation bietet“,
„Irgend etwas muß falsch sein am Kommunismus“, „jetzt ist der Augenblick für die
918 1929–1933
Dok. 304
Notiz zur Selbstkritik auf der Sitzung der engeren KPD-Leitung
hinsichtlich der „Machtergreifung“
O.O., [4.2.1933]
Typoskript, deutsch, RGASPI, Moskau, 495/292/64, 19., mit handschriftlichen Eintragungen. Erstver-
öffentlichung.
Es fand eine engere Sitzung statt, in der die Frage der Selbstkritik behandelt wurde.
Die Direktiven wurden noch nicht so befolgt, wie notwendig gewesen wäre. Es
gab allerdings einige Fortschritte (sofortiges Auftreten in den Betrieben, spontane
Demonstrationen). Wenn man aber bedenkt, dass heute die Lage eine ganz andere ist,
muss man feststellen, dass die Massen ungenügend reagierten. Sehr bedenklich ist,
dass man diesen Stimmungen nachgegeben hat. Es muss alles getan werden, um das
zu überwinden. Es genügt nicht, dass man Rundschreiben herausschickt, sondern
die Leute muessen zusammengenommen werden. Man wird selbstverständlich alles
tun, was man tun kann.
Auch ohne seine Bitte hätte man den Wunsch erfüllt. Es war schon alles ver-
anlasst, um sie zu erfüllen. Die SPD. will herantreten, damit ihr Angebot abgelehnt
wird. Sie will sich damit ein Alibi schaffen, das muss verhindert werden. Wir muessen
erneuern unsere früheren Angebote an alle Organisationen, die wirklich kämpfen
wollen. Man wird alles versuchen, um in den Betrieben gemeinsame Komitees zu
schaffen, um dadurch Manöver zu verhindern.16
Dok. 305
Rede Ernst Thälmanns auf der Reichskonferenz der Polsekretäre
u.a. der KPD-Bezirke in Ziegenhals bei Zeuthen („Ziegenhalser
Rede“)
Ziegenhals bei Berlin, 7.2.1933
IML, ZPA (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv), NL 3/42. Publ.
in: Günter Hortzschansky, Stefan Weber (Hrsg.): Die illegale Tagung des Zentralkomitees der KPD am
7. Februar 1933 in Ziegenhals bei Berlin. 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin (Ost), Dietz,
1988 (Schriftenreihe Geschichte), S. 22–41; auch in: Ernst Thälmann: Geschichte und Politik. Artikel
und Reden 1925 bis 1933, Berlin, Dietz, 1973, S. 209–236.
Genossen!17
Die Bedeutung der heutigen Konferenz18 ergibt sich schon aus der Tatsache, daß zwei-
felsohne durch die Bildung der Hitlerregierung eine solche Zuspitzung des Klassen-
kampfes eingetreten ist, wie wir sie seit 1918 kaum mehr zu verzeichnen hatten. [...]
Das Proletariat und die Werktätigen der ganzen Welt blicken auf uns und [auf]
das deutsche Proletariat. [...] Der Kampf, der vor uns liegt, ist der schwerste, den die
Partei zu bestehen hat. Er kann nicht verglichen werden mit den Jahren seit 1923. Er
gibt jedem Kommunisten eine noch höhere Verantwortung als selbst in der damali-
17 Nach seinerzeitigen Angaben des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED beruht das
überlieferte Dokument lediglich „auf Auszügen [...], die von der Nazijustiz in die Anklageschrift gegen
Ernst Thälmann aufgenommen worden sind“, von denen der Inhaftierte selbst eine Abschrift anfer-
tigte. Zweifel an der Echtheit sind angebracht; Sassning spricht zumindest von einer „umstrittenen
Referatsüberlieferung“ (Ronald Sassning: Zur NS-Haftzeit Ernst Thälmanns. Legenden und Wirklich-
keit, Berlin, Helle Panke, 1997, S. 25), doch in grundsätzlicher Weise wurde das Dokument noch nicht
in Frage gestellt. Thälmanns Äußerungen in einem Brief an die KPD-Genossen aus dem Gefängnis
– „Ich habe diese Rede nicht gehalten. Es sind darin Auszüge über Ausführungen, die ich früher ein-
mal gemacht habe, so z. B. in der Frage der Einheitsfronttaktik enthalten.“ – sind zwar ein Hinweis,
können jedoch aufgrund möglicher taktischer Formulierungen in der Haft noch nicht als endgültiger
Nachweis dienen (RGASPI, Moskau, 526/1/50, l, 42; vgl. Dok. 309).
18 In der Literatur wird die Tagung bis heute weitenteils als „illegale Tagung des Zentralkomitees
der KPD“ in Ziegenhals bezeichnet (siehe zuletzt in Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 323). Nachdem
der Charakter der Konferenz als ZK-Sitzung erstmals mit Recht in Zweifel gezogen wurde (siehe: Hen-
ryk Skrzypczak: „Vertrauliche 09 Verschlusssache“. Zur angeblichen Tagung des Zentralkomitees der
KPD am 7. Februar 1933. Ein quellenkritischer Exkurs. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespon-
denz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung XXIX (1993), 3, S. 294–322), ist nun anhand von
in der Datenbank Comintern Online frei verfügbaren Dokumenten ihr Charakter als Arbeitskonferenz
zur Vorbereitung der Reichstagswahlen, an dem Polsekretäre der KPD-Bezirke, Abteilungsleiter und
Leiter der Reichsfraktionen der Massenorganisationen teilnahmen, empirisch nachgewiesen, u.a.
durch Thälmann selbst (vgl. Dok. 309). Auch der Wortlaut der Thälmann-Rede kann aufgrund der nur
indirekten Überlieferung des Dokuments nicht als gesichert gelten.
Dok. 305: Ziegenhals bei Berlin, 7.2.1933 921
gen Situation. Unmittelbar müssen wir die Offensive ergreifen, dann haben wir die
Chance für uns. [...]
Das Kabinett Hitler-Hugenberg-Papen ist die offene faschistische Diktatur. Was
die Zusammensetzung der Regierung anbetrifft, so kann es in Deutschland eine
weitere Steigerung in der Richtung des offenen Faschismus kaum mehr geben. Wohl
aber gibt es in den Methoden dieser Regierung der offenen faschistischen Diktatur
noch eine ganze Reihe von Steigerungsmöglichkeiten. Jeder Zweifel darüber, daß
diese Regierung vor irgendwelchen balkanischen Methoden19 des äußersten Terrors
zurückschrecken würde, wäre sehr gefährlich.
Es ist der Bourgeoisie ernst damit, die Partei und die ganze Avantgarde der Arbei-
terklasse zu zerschmettern. Sie wird deshalb kein Mittel unversucht lassen, um dieses
Ziel zu erreichen. Also nicht nur Vernichtung der letzten spärlichen Rechte der Arbei-
ter, nicht nur Parteiverbot, nicht nur faschistische Klassenjustiz, sondern alle Formen
des faschistischen Terrors; darüber hinaus: Masseninternierung von Kommunisten
in Konzentrationslagern, Lynchjustiz und Meuchelmorde an unseren tapferen anti-
faschistischen Kämpfern, insbesondere an kommunistischen Führern – das alles
gehört mit zu den Waffen, deren sich die offene faschistische Diktatur uns gegenüber
bedienen wird.
Schon die ersten Tage der Hitlerregierung beweisen den ganzen tiefen Ernst der
Situation. Es wäre ein Verbrechen, irgendwelche legalistischen Illusionen in unseren
Reihen zu dulden.20 Wir müssen in der ganzen Arbeiterklasse darüber Klarheit schaf-
fen, daß es wahrscheinlich keine andere Art der Ablösung dieser Regierung geben
kann als ihren revolutionären Sturz.
Das bedeutet nicht, daß der Sturz der Hitlerregierung und der Sieg der prole-
tarischen Revolution unbedingt ein und dasselbe sein muß. Wir stellen die Frage
des Kampfes für den Sturz der Hitlerregierung, die Frage der Beseitigung der Hitler-
Hugenberg-Regierung als unmittelbare Aufgabe. Wir stellen sie in jeder Stunde, wir
stellen sie heute, wir stellen sie morgen, übermorgen, wir stellen sie in den nächsten
Wochen und Monaten, ohne daß wir unter allen Umständen zu 100 Prozent sagen
können, daß, wenn uns der Sturz der faschistischen Diktatur gelingt, dies schon
mit dem Sieg der proletarischen Revolution direkt verbunden ist. Das müssen wir so
scharf sagen, weil wir den heftigsten Feldzug ideologischer Art in den Massen gegen
jede Theorie des „Abwirtschaftenlassens“ der Hitlerregierung führen müssen. Diese
Feststellungen schließen jedoch – ich betone das noch einmal – keineswegs aus,
daß der Kampf zum Sturz der Hitlerregierung gleichzeitig in den Kampf um die volle
Macht des Proletariats umschlagen kann.
Hier darf es kein Schema geben, sondern nur eine dialektische Betrachtung.
Weder legen wir uns darauf fest, die Hitlerregierung erst in dem Augenblick zu
stürzen, wo die Situation schon für den vollen Sieg der proletarischen Revolution
reif ist, noch lassen wir außer Betracht, daß, wie die Beschlüsse des XII. Plenums
[des EKKI] ganz klar sagen, die Fristen des revolutionären Aufschwungs und für die
volle Entfaltung der revolutionären Krise heute viel kürzer sind als in den bisherigen
Abschnitten der Geschichte des proletarischen Klassenkampfes.
Der wüste faschistische Terror in Deutschland, dem wir jetzt entgegengehen,
ändert nichts an unserer revolutionären Perspektive. [...]
Was ist die Bilanz unseres bisherigen Kampfes gegen die faschistische Diktatur?
Wir waren nicht imstande, die Aufrichtung der faschistischen Diktatur bis zur heuti-
gen offenen faschistischen Diktatur zu verhindern, obwohl wir den Kampf der Massen
dafür organisiert haben. Das ist gewiß eine ernste negative Feststellung.
Aber umgekehrt können wir sagen, daß wir den faschistischen Kurs der Bour-
geoisie empfindlich gestört haben. [...] Wenn wir nicht mehr erreichen konnten, so
deshalb, weil wir den Einfluß der SPD- und ADGB-Führer sowie der christlichen
Gewerkschaftsführer auf breite Arbeitermassen nicht in dem erforderlichen Maße zu
liquidieren vermochten. [...]
Wir riefen bei ihrer Machtübernahme zum Streik, zum Massenstreik, General-
streik auf. [...] Streiks jedoch konnten wir nur in geringerem Umfange auslösen. Wir
müssen deshalb die Frage beantworten, ob trotzdem unsere Losung richtig war. Die
Antwort kann nur bejahend sein. [...]
Müssen wir also wegen des bisherigen Ausbleibens größerer Streiks in einen
tiefen Pessimismus verfallen? Keineswegs! [...]
Wenn in ganz Deutschland kein Tag vergeht, wo nicht an ein paar Stellen Feuer-
gefechte zwischen faschistischen Terrorbanden und der Arbeiterschaft stattfinden,
sei es mit Kommunisten oder Reichsbannerleuten, so sind das bestimmte Elemente
des Bürgerkrieges, die wir sehen und bei unserer Beurteilung der Lage und der Aufga-
ben berücksichtigen müssen.
Elemente des Bürgerkrieges – das ist eine sehr ernste Feststellung. Denn wir
gebrauchen solche revolutionären Worte nicht in der Art, wie es einst Heinz Neumann
tat, der seine opportunistische Politik mit überspitzten, scheinradikalen Phrasen ver-
brämte. [...]
Das ist es, was wir für ganz Deutschland, aber auch für jeden einzelnen Bezirk
als Aufgabe stellen: eine Kette ununterbrochener, miteinander verflochtener und sich
gegenseitig ablösender Aktionen, die Entfaltung aller Formen des Massenwiderstan-
des und Massenkampfes gegen die faschistische Diktatur. [...]
Diese Linie, die wir in allen bisherigen Aufrufen des Zentralkomitees mit der
Losung: Streik – Massenstreik – Generalstreik! konkret zusammengefaßt haben, gilt
es, in der Praxis durchzusetzen. Das ist die Linie unseres revolutionären Massen-
kampfes für den Sturz der Hitlerdiktatur. Mit dieser Linie werden wir zugleich die
Dok. 305: Ziegenhals bei Berlin, 7.2.1933 923
Zusammengefaßt, Genossen:
21 Zu den Beschlüssen des XII. EKKI-Plenums siehe auch Dok. 344a.
924 1929–1933
* Eiserner Kurs auf die Sicherung der Partei und ihre Fortführung trotz aller
Anschläge des faschistischen Terrors!
* Konzentration aller Kräfte auf die Entfaltung jeder Form des Massenwiderstan-
des, der Massenaktionen und Massenkämpfe auf der Linie: Demonstrationen, Streiks,
Massenstreiks, Generalstreik gegen die faschistische Diktatur!
* Einheitsfrontpolitik zur Kampfmobilisierung in höheren Formen mit kühner
Initiative! Stärkster Kurs auf die Zerschlagung aller parlamentarischen und demo-
kratischen Illusionen, auf die Erziehung der Massen zum außerparlamentarischen
Massenkampf!
* Höhere revolutionäre Aufgabenstellung, auch in Agitation und Propaganda,
zwecks Vorbereitung der Massen und Heranführung der Massen an den Machtkampf,
an den Kampf um die Arbeiter-und-Bauern-Republik!
* Höchste Entfaltung der Masseninitiative, der eigenen Aktivität und Selbständig-
keit der unteren Einheiten und Leitungen!
* Revolutionäres Selbstbewußtsein, Siegeszuversicht, Angriffsfreude bei bol-
schewistischer Nüchternheit!
Das alles verwirklichen heißt: die faschistische Diktatur schlagen und zerschla-
gen! Vorwärts in diesem Kampf! Erfüllt eure revolutionäre Pflicht für den Sieg der
deutschen Arbeiterklasse!
Dok. 306
Denkschrift des Referenten der Organisationsabteilung, Karolʼ
Sverčevskij, über die Wehrkurse der Komintern
Moskau, 17.2.1933
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 495/25/1349, 1–6, 9–10. Deutsche Erstveröffent-
lichung. In russischer Sprache publ. in: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja, S. 786–792.
I. Arbeitsziele der Spez[ial]kurse In der Zeit vom 1. Jan. 1931 bis zum 1.I. 1933
I. Allgemeine Arbeitsziele
a) Die Gesamtzahl der Gen[ossen], die die Spez[ial]kurse im Laufe der vergange-
nen zwei Jahre durchlaufen haben, beläuft sich auf eine Anzahl von 194 Pers[onen]
folgender Nationalität: Deutsche 72, Polen 56 (darunter 2 Frauen), Finnen 22,
Ukrainer 11, Franzosen 10, Tschechen 10, Italiener 7, Spanier 3, Weißrussen 2 und
Schweden 1.
Dok. 306: Moskau, 17.2.1933 925
Die Absolventen der Spez[ial]kurse wurden schnell durch die entsprechenden Par-
teien für die Verwendung für die Arbeit im Land geschickt.22
Seit Dezember letzten Jahres laufen die Deutschen Kurse in einer Stärke von 38
Pers[onen], darunter 4 Gen[ossen], die die Kurse 1930 absolviert haben und nun als
Gruppenleiter arbeiten [...].
b) Die Qualität der Gen[ossen], die in die Kurse eintreten, ist je nach Nationalität sehr
unterschiedlich. Am besten ist diese Frage bei den Deutschen gelöst. Die Auswahl
der Gen[ossen] trifft der eigens dafür nach Deutschland geschickte Genosse Alfred
[d.i. Tuure Lehén]. Auch die Finnen sind kein schlechtes Material.
Am wenigsten zufriedenstellend ist die Frage der Auswahl und Zusammenstel-
lung der Kurse in der KPP gestellt. Unzweifelhaft äußern sich hier die sehr schweren
Umstände des Untergrundes, aber der wesentliche Grund liegt offensichtlich in der
Unterschätzung der Wichtigkeit und Bedeutung der militärischen Arbeit der Partei
im allgemeinen und von daher in der Unterschätzung der Kader der militärischen
Mitarbeiter im besondern. [...]23
II. Unterricht
a) Die ungefähre Dauer des Unterrichtes für die Deutschen und Polen schwankt zwi-
schen 5 – 6 Mon[aten], und für die Finnen 3 Mon[ate]
Die polit[ische] Abteilung des Unt[errichts-] Planes ist für die einzelnen Länder
unterschiedlich gewichtet. Für die deutschen Genossen ist sie geringer gewichtet
als für die Mitarbeiter der illegalen Parteien, die keine Möglichkeit der systemati-
schen Parteiausbildung bei sich im Lande haben. [...]
Das Hauptgewicht des Unterrichtes liegt auf folg[enden] Themen: Theorie und
Praxis des bew[affneten] Aufstandes, Zersetzung der bewaffneten Verbände der
Bourg[eoisie], Taktik, Partisanentätigkeit und Straßenkampf, Umgang mit Spreng-
stoff und vollständige Beherrschung der Waffentechnik und des Kampfes mit Hand-
feuer- und automatischen Waffen.
b) Die meisten Kader für den militärischen Unterricht kommen aus der IV. Abtei-
lung.24 Politleiter gibt die Komintern oder die entsprechende Sektion. Inzwischen
hat sich die Situation etwas gebessert, insofern, als dass wesentliche militärische
Themen (allgemeine Taktik, Partisanentätigkeit, Straßenkampf, Bewaffnung usw.)
durch Kräfte der Aspirantur25 unterrichtet werden, die ausgewählt worden sind aus
den Reihen der eigenen Kursanten oder denjenigen, die die Vorbereitung auf die
Kurse früher durchlaufen haben und nun in der praktischen Arbeit im Land arbei-
ten (die Deutschen) oder die extra für diesen Zweck aus dem Personal des letzten
Kurses dagelassen wurden (die Polen). Zukünftig werden diese Gen[ossen] die Lehre
selbstständig, unter der Aufsicht nur eines qualifizierten Spezialisten durchführen.
Die bisher in den deutschen Kursen gesammelten Erfahrungen kann man insgesamt
als geglückt bezeichnen. [...]
Am ungünstigsten ist für die Durchführung der Sprengstoffkurse gesorgt. 1931
haben die Gen. Grischa und Miller auf diesem Gebiet gearbeitet. Im letzten Jahr
hat Gen. Hermann ein wenig gearbeitet, doch nun gibt es absolut niemanden
mehr, der die Durchführung dieses für die Kurse wichtigen Themas sicherstellen
könnte. Es wäre wünschenswert, ein eigenes chemisches Sprengstofflabor einzurichten,
in dem immer zwei Spezialisten arbeiteten. Andernfalls könnte diese Sache endgültig
dahinsiechen.
24 Gemeint ist hiermit die für die militärische Spionage zuständige IV. Abteilung des Generalstabes der
Roten Armee (GRU).
25 Im Russischen bedeutet das Wort Aspirantur soviel wie „Promotionsstudiengang“ oder „Graduier-
tenkolleg“. Die „Kräfte der Aspirantur“ sind also Doktoranden.
Dok. 306: Moskau, 17.2.1933 927
Ebenfalls äußerst ernst steht es in der Frage der Lehrbücher. Es gibt lediglich
eine Broschüre von Neuberg über den bewaffneten Aufstand auf deutsch und pol-
nisch und einige Ex[emplare] von Roweckis [Broschüre] über den St[raßen-]Kampf.26
c) Fasslichkeit des Unterrichtes: mittel und hoch für die Deutschen, mittel für die
Finnen, und teilweise schlechter als mittel für die polnischen Kurse im Jahr 1932
Disziplin: Bei den Deutschen, Finnen und Polen völlig zufriedenstellend im Jahr
1931, und nicht vollständig zufriedenstellend im Jahr 1932 für die Polen. [...]
Dok. 307
„Moskau und der deutsche Faschismus“: Manuskript über das
Treffen der Sozialdemokraten Friedrich Stampfer und Victor Schiff
mit dem sowjetischen Botschaftssekretär Vinogradov in Berlin
kurz vor dem Reichstagsbrand
[Berlin, 22.2.1933]27
Typoskript in deutscher Sprache mit einem Anschreiben. Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-
Ebert-Stiftung, Bonn, Nachlass Friedrich Stampfer, Mappe 14, Dok. 738–739. Erstveröffentlichung.
Die Demokratie hat in Deutschland nicht nur eine Schlacht verloren, sondern sogar
ein so vollständiges Fiasko erlitten, dass jede Bemäntelung dieser Tatsache auch für
27 Zur Datierung notierte Friedrich Stampfer später in einem Anschreiben an Friedrich Adler hand-
schriftlich: „Ich glaube, Schiff irrt. Nach meiner Erinnerung hatten wir das letzte Gespräch mit Vy-
nogradoff [Vinogradov] vor der Ernennung Hitlers z[um] Kanzler. Die Intervention der deutschen
KPD (geplantes Gespräch mit Torgler und Neubauer) kam erst einige Wochen später. F[riedrich]
St[ampfer].“ Nach zuverlässigen Quellen fand das Gespräch am 22.2.1933 statt (Širinja: Komintern v
1933 godu, S. 152). Ein weiteres geplantes Gespräch mit Neubauer und weiteren KPD-Vertretern war
für den 28.2.1933 terminiert, konnte jedoch aufgrund des Reichstagsbrandes nicht mehr stattfinden
(siehe: Friedrich Stampfer: Verpaßte Gelegenheiten. In: Neuer Vorwärts, 5.11.1933). Anlass war das
hier von Schiff wiedergegebene Gespräch mit Botschaftssekretär Vinogradov, wie Stampfer in seinem
Artikel im Neuen Vorwärts ausführte: „Die letzte der Unterhaltungen der vorerwähnten Art hatte ich
einige Tage vor dem Reichstagsbrand. In ihr wurde mir in unzweideutiger Weise zu verstehen gege-
ben, daß Moskau mit dem Faschismus in Deutschland als einem unvermeidlichen Entwicklungs- und
Übergangsstadium rechne und daß ich darum von dort her – wenigstens zur Zeit – kein Verständnis
für meine Gedankengänge zu erwarten hätte. Es ist selbstverständlich, daß ich einige meiner nächs-
ten Freunde, von diesem Gespräch und seinem, für mich höchst unbefriedigendem Ergebnis unter-
richtete. Auf einem mir unbekannten Wege erfuhren die Führer der KPD davon. Zu meiner großen
Überraschung ließ mir Dr. Neubauer am Vormittag des Montag, den 27. Februar, mitteilen, daß die
Schlüsse, die ich aus jener Unterredung gezogen hätte, irrig seien und daß er und seine Freunde den
Wunsch hätten, sich mit mir über denselben Gegenstand zu unterhalten. Zu dieser Unterhaltung er-
klärte ich mich bereit, und man kam dahin überein, daß sie am Dienstag, dem 28. Februar, im Reichs-
tag stattfinden sollte. Lubbe und seine Drahtzieher haben es anders gewollt... Es hat keinen Zweck,
heute darüber zu Phantasieren, wenn der Graben zwischen den beiden deutschen Arbeiterparteien
weniger breit gewesen wäre und wenn es gelungen wäre, ihn rechtzeitig zu überbrücken. Niemand
kann daran zweifeln, daß es bis jetzt im Kampf zwischen SPD. und KPD. nur einen Sieger gegeben hat,
nämlich die kapitalistische Reaktion in ihrer konzentriertesten Form.“
28 Als Datum wird hier das Gesprächsdatum angegeben. Das gesamte Manuskript ist frühestens im
Juni 1933 verfasst oder fertig gestellt worden, worauf die Erwähnung des Pariser Weltkongress gegen
Krieg und Faschismus (4.–6.6.1933) hinweist.
Dok. 307: [Berlin, 22.2.1933] 929
die Zukunft gefährlich wäre. Ihre Wiederaufrichtung ist gewiss eines der Ziele, die die
deutsche Partei bei der Sammlung ihrer Kräfte innerhalb und ausserhalb Deutsch-
lands für künftige Kämpfe im Auge behalten muss. Aber der Gedanke ist geradezu
unvorstellbar, nach all den Gewalt- und Greueltaten, die der siegreiche Faschismus
bereits verübt hat und vielleicht noch verüben wird, dass die deutsche Sozialdemo-
kratie den Arbeitermassen jetzt empfehlen kann, für die Wiederherstellung der vollen
Demokratie als sofortiges Ziel zu kämpfen.29
Dass man nach einem erfolgreichen Umschwung denselben Kräften, die unsere
Wähler terrorisiert und gefoltert haben, die unsere Presse mundtot gemacht und
geraubt haben, die den Rundfunk und alle sonstigen Mittel der Propaganda restlos
für sich monopolisiert haben, volle, ideale Gleichberechtigung, demokratisches Fair
Play und überhaupt all das sofort gewähren müsste, was sie uns genommen oder ver-
weigert haben, ist ein Gedanke, gegen den sich die Arbeiter mit vollem Recht empören
würden. Zunächst würden sie rücksichtloseste Abrechnung fordern und es für einen
selbstmörderischen Wahnsinn erklären, ein zweites Mal aus Sentimentalität, Anstän-
digkeit oder Humanität ihren Feinden Gelegenheit zu geben, sich wieder zu erholen.
Erst dann, wenn diese Gefahr endgültig gebannt ist, wird man daran gehen können,
allmählich, ganz allmählich die Demokratie in Deutschland wiederherzustellen.
Also haben die Kommunisten mit ihren Theorien recht behalten? Ganz und gar
nicht! Einmal deshalb nicht, weil der Schiffbruch der Demokratie in Deutschland
noch keineswegs beweist, dass dieses Regierungssystem überall das gleiche Schick-
sal erleben muss. Man soll die fascistische [sic] Gefahr heutzutage nirgends mehr
unterschätzen und bei einer Fortdauer und Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise wird
selbst die bestfundierte Demokratie sich vor allzu großer Vertrauensseligkeit hüten
müssen. Aber von da zu behaupten, dass die Demokratie bereits bewiesen habe, dass
sie für Großbritannien, Frankreich, die skandinavischen und einige andere Länder
nichts tauge, ist ein weiter Weg.
Vor allem aber können sich die Kommunisten schon deshalb nicht rühmen,
„recht behalten“ zu haben, weil die Zerstörung der Demokratie in Deutschland –
und damit der Sieg des Faschismus – zum grossen Teil ihr Werk ist. Die demokra-
29 Der außenpolitische Redakteur des Vorwärts, Victor Schiff, sandte das Artikelmanuskript zusam-
men mit dem folgenden Anschreiben an den Generalsekretär der Sozialistischen Arbeiter-Internati-
onale, Friedrich Adler: „Copie. [handschriftlich:] Für Genossen Stampfer. Werter Genosse Adler, Der
beiliegende Aufsatz hat geradezu Zeitschriftenlänge, so dass ich selber bezweifle, ob meine ursprüng-
liche Absicht, ihn für Ihre Beilage ‚Dokumente und Diskussionen‘ zur Verfügung zu stellen, noch
durchführbar ist. Ich stelle Ihnen jedoch anheim, davon Kenntnis zu nehmen und eventuell solche
Teile davon abzudrucken, die Sie für nützlich halten, z.B. die Schilderung von der Unterredung, die
Stampfer und ich wenige Tage vor dem Reichstagsbrand mit dem russischen Presseattaché Wyno-
gradoff [d.i. Vinogradov] hatten. Vielleicht ist Ihnen aber diese Episode schon bekannt gewesen. Bei
gänzlicher oder teilweiser Nichtverwendung des Artikels wäre ich Ihnen dankbar für dessen Weiter-
leitung an Stampfer. Vielleicht druckt er ihn dann im Prager Vorwärts ab, von dem ich höre, dass er
endlich erscheinen soll. [...] Mit den besten Grüßen, Ihr gez. Victor Schiff.“
930 1929–1933
30 Gemeint ist der „Europäische Kongress gegen Faschismus und Krieg“ im Pariser Pleyel-Saal
vom 4.–6.6.1933, unter der Ägide von Henri Barbusse und Romain Rolland. Nach dem Amsterdamer
„Weltkongress gegen den imperialistischen Krieg“ (27.--28.8.1932) war dies der Ausgangspunkt für
die „Amsterdam-Pleyel“-Bewegung, die jedoch nicht mit den sich international entwickelnden Mas-
senprotesten gegen den Faschismus deckungsgleich war und die sich in der Folge weitgehend auf
die Auftritte und Deklarationen der zumeist prominenten Spitzen beschränkte. Barbusse wurde im
August 1933 Präsident des neugegründeten „Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus“. Der inso-
fern noch nicht eindeutig und bedingungslos geforderte Kampf gegen den Faschismus schloss die
„sozialdemokratischen Führer“ als Hauptgegner mit ein. Umfassende Massenbewegungen gegen den
Faschismus wurden seitens der Komintern erst Ende 1934/Anfang 1935 eingeleitet.
Dok. 307: [Berlin, 22.2.1933] 931
Skandinavien und überall sonst zu Agitationserfolgen gegen die Parteien der Züricher
Internationale verhelfen.31
Wer würde so verantwortungslos sein, aus Gründen des Ressentiments und
einer an sich noch so berechtigten Empörung über die Vergangenheit sich gegen den
Gedanken einer aufrichtigen Einheitsfront zu sträuben, angesichts des triumphieren-
den Nationalsozialismus, angesichts der Opfer ohne Zahl, die bereits gefallen sind
oder in den Konzentrationslagern schmachten! Eine solche aufrichtige Einheitsfront
haben wir ersehnt, als ihre Bildung noch vermocht hätte, das Unheil abzuwehren.
Aber was hat unsere Bereitwilligkeit damals genützt? Jedes versöhnliche Wort von
uns wurde mit verstärkten Beschimpfungen beantwortet – nicht von den kommunisti-
schen Massen, die das Zusammengehen ehrlich und ohne Hintergedanken wünschten
und es sogar vielfach auf eigene Faust durchführten, wohl aber von ihren Organen,
die bis zuletzt an der Parole festhielten: Hauptfeind ist die Sozialdemokratie!
Bis zuletzt scheiterte die wahre Einheitsfront, die kein Manöver sein darf, an dem
Starrsinn und an den Illusionen der kommunistischen Führer nicht so sehr in Berlin
als in Moskau! Dies an der Hand einer bisher fast nirgends bekannten Episode aufzu-
zeigen, ist der Zweck dieser Zeilen.
Man wird sich vielleicht daran erinnern können, dass der Berliner „Vorwärts“ im
Januar d.J. unter Führung von Stampfer in einer Weise für eine Versöhnung mit den
Kommunisten eingetreten ist, die an Selbstverleugnung grenzte.32 Die Artikel, die
31 Gemeint ist die Sozialistische Arbeiter-Internationale (SAI), mit Sitz in Zürich, der 1935 nach Brüs-
sel verlegt wurde. Sie hatte ihren sozialdemokratischen und sozialistischen Mitgliedsparteien die
Präsenz auf dem Pariser Kongress untersagt. Unter Willi Münzenbergs Regie wurden nicht nur der
Reichstagsgegenprozess, sondern auch das Thälmann-Komitee und weitere antifaschistische Initiati-
ven initiert. Münzenberg selbst, der sich auch gegenüber Stalin über die mangelnde Entfaltung einer
antifaschistischen Massenpropaganda beschwerte, kann zwar eine antifaschistische Grundintention
nicht abgesprochen werden, diese blieb jedoch anfangs mit dem Kampf gegen die Sozialdemokratie
verbunden.
32 Stampfer schrieb hierzu in dem bereits zitierten Artikel im Neuen Vorwärts: „Seit langem Stand
für mich fest, daß es nur ein Mittel gab, den Sieg des Faschismus in Deutschland zu verhindern: es
mußte mit der Zerrissenheit der deutschen Arbeiterbewegung ein Ende gemacht werden. Um eine
völlige Einigung herbeizuführen, dazu waren die Gegensätze viel zu stark. Aber vielleicht genügte es
schon zur Rettung, wenn die selbstmörderische Taktik des gegenseitigen Sich-Bekämpfens zunächst
einmal aufgegeben wurde, wenn man wenigstens so weit kam, sich bei Wahrung aller prinzipiellen
Meinungsverschiedenheiten über die beiderseitigen Maßnahmen zur Bekämpfung der gemeinsamen
Gefahren zu verständigen. Auch so weit konnte man nicht kommen, wenn Moskau dagegen war. Es
war notwendig, Moskau davon zu überzeugen, daß die Deutsche Sozialdemokratie keine feindselige
Politik gegen die Sowjetunion betrieb und das eine gewisse Verständigung notwendig sei, wenn nicht
die deutsche Arbeiterbewegung, besonders die SPD, dem furchtbarsten Schicksal entgegen gehen
sollten. Längst hatte der von mir geleitete Vorwärts alle Angriffe auf Sowjetrußland eingestellt, in
der Polemik gegen die KPD. beschränkte er sich auf die Abwehr gegnerischer Beschuldigungen, von
denen zu befürchten war, daß sie, unerwidert gelassen, auf die Arbeiter einen ungünstigen Eindruck
machen müßten. Die meisten Angriffe der kommunistischen Presse nahm er stillschweigend hin. Er
unterließ es aber auch nicht, den Opfermut und den Idealismus der deutschen Arbeiter zu rühmen
932 1929–1933
Stampfer unter seinem Namen damals schrieb, z.B. als er in bewegten Worten die
kommunistische Gegendemonstration am Bülowplatz33 – die Antwort auf die Provo-
kation und Demütigung, die die K.P.D. kurz zuvor an derselben Stelle stillschweigend
über sich hatte ergehen lassen müssen – schilderte, seine Berichte über das Blutbad in
Eisleben,34 die dem „Vorwärts“ ein längeres Verbot einbrachten, überhaupt die ganze
Haltung des sozialdemokratischen Organs war darauf eingestellt, den Kommunisten
goldene Brücken für eine aufrichtige Versöhnung zu bauen und angesichts der sicht-
baren, täglich wachsenden Gefahr eine wirkliche Einheitsfront zu bilden. Erfolg – nach
aussen hin wenigstens – gleich null: neue Schimpfereien auf die S.P.D., auf den „Vor-
wärts“ und seinen Chefredakteur waren die Antwort der kommunistischen Presse.
Wir aber gaben die Idee nicht auf. Und weil viele Zeichen dafür sprachen, dass
die deutschen Kommunisten – auch ihre Führer, zum Beispiel Torgler – die faschis-
tische Gefahr genau so erkannten wie wir, aber infolge von Richtlinien aus Moskau
nicht anders reden und schreiben durften, gingen wir einen anderen Weg. Bei einer
Begegnung auf der russischen Botschaft in Berlin bat ich einen russischen Diploma-
ten, der als die rechte Hand des Botschafters galt und daher mindestens einen indi-
rekten Einfluss auf die Moskauer Sowjet-Kreise haben konnte, Stampfer so bald wie
möglich aufzusuchen. Er, sagen wir Z. [d.i. Boris Vinogradov], kam auch einige Tage
später, es war dies, wohlgemerkt, in der Woche vor dem Reichstagsbrand.
Wir sprachen dort zu dritt von der kritischen Lage in Deutschland, von der weite-
ren Stärkung des Faschismus als Folge der fortgesetzten Fehde innerhalb des Proleta-
riats, und von der Notwendigkeit einer Einheitsfront, die ehrlich sein müsse und kein
Manöver zur Stärkung der einen Partei auf Kosten der anderen sein dürfe.
Stampfer erwähnte den einige Wochen zuvor im „Pravo Lidu“ von einem tschechi-
schen Sozialdemokraten gemachten Vorschlag eines „Nichtangriffspaktes“ zwischen
sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien.35 Von bolschewistischer Seite
sei diese Anregung zwar zurückgewiesen worden, aber das könne doch unmöglich
das letzte Wort sein. Denn inzwischen sei Hitler Reichskanzler geworden und die
Gefahr ins Riesenhafte gewachsen. Es sei doch überhaupt paradox, dass das bolsche-
und bei jeder Gelegenheit auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens gegen den gemeinsa-
men Feind hinzuweisen.“ (Stampfer: Verpasste Gelegenheiten).
33 Zur Demonstration am 25.1.1933 siehe Dok. 303.
34 Am 12.2.1933, wenige Tage nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, stürmten 600 National-
sozialisten das Versammlungsgebäude der KPD und die Turnhalle des Arbeitersportvereins in Eisle-
ben. Sie eröffneten das Feuer und schlugen mit Spaten auf die Anwesenden ein. Die Taten forderten
vier tote KPD-Mitglieder (Klassenkampf. Kommunistisches Organ für den Bezirk Halle-Merseburg,
15.2.1931, abgedruckt in: http://de.wikipedia.org/wiki/Eisleber_Blutsonntag).
35 Nicht zuletzt begründet auf den Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit angesichts der Ent-
wicklung in Deutschland machte der Chefredakteur von Právo Lidu, dem Zentralorgan der Sozialis-
tischen Partei der Tschechoslowakei, Jaroslav Koudelka, an Weihnachten 1932 den Vorschlag für ein
gemeinsames Vorgehen von SP und KP, auch im Hinblick auf einen möglichen Nichtangriffspakt der
Sowjetunion mit Polen und Frankreich (Právo Lidu, 25.12.1932). Der Vorschlag wurde namens des Ge-
neralsekretärs der KP der Tschechoslowakei, Klement Gottwald, zurückgewiesen.
Dok. 307: [Berlin, 22.2.1933] 933
weil wir uns nicht der bolschewistischen Führung hundertprozentig ausliefern, und
die Reaktion sammelt sich dann von neuem, wie 1920 nach dem Kapp-Putsch.36
Z. sagte, dass das gewiss sehr bedauerlich sein würde, aber er müsse ehrlicher-
weise bestätigen, dass die Kommunisten bis zur Erreichung ihrer eigenen Ziele wei-
terkämpfen würden, eventuell allein.
Stampfer war sichtlich über diese Starrheit erschüttert. Ich fragte Z., ob er, so wie
die Dinge heute – also damals, Ende Februar 1933 – lägen, die K.P.D. für im Stande
halte, den von ihr angekündigten Kampf gegen den Faschismus allein, d.h. ohne uns,
zu führen. Z. bejahte dies. Mit Erfolgsaussichten? – Jawohl! – In ganz Deutschland?
Auch in solchen Gegenden wie Bayern, Baden, dem Rheinland, Mecklenburg, Ost-
preussen, Schlesien, wo die Kommunisten nur über eine kleine Minderheit verfügten?
Z. gab offen zu, dass sein Optimismus nur für bestimmte Gebiete wie Berlin,
Sachsen Mitteldeutschland, Hamburg und das Ruhrgebiet gelte.
Das bedeute aber, wandte ich ein, unweigerlich den Zerfall Deutschlands. Bayern
z.B. werde sich niemals einem solchen Sowjet-Deutschland unterwerfen. Der russi-
sche Diplomat zuckte mit den Achseln, ich hatte den Eindruck, dass er entweder über
diese Frage niemals nachgedacht hatte, oder dass sie ihm gänzlich gleichgültig war.
Stampfer stellte mit Bedauern fest, dass das Gespräch bewiesen hätte, dass bei
einer solchen Auffassung der Lage und der Ziele jede Unterstützung einer aufrichti-
gen Einheitsfront durch die Männer in Moskau, die der K.P.D.-Zentrale die entschei-
denden Befehle zu geben hätten, aussichtslos sei.
Z. bestätigte dies, fügte jedoch begütigend hinzu: „Das, was ich Ihnen heute
sagte, ist die jetzige Meinung in Moskau. Es wäre immerhin denkbar, dass bei weite-
rer Zuspitzung der Lage, wenn die Gefahr noch größer wird, Moskau seine Haltung zu
dieser Frage revidiere.“
Wir sagten, beide zu gleicher Zeit: „Was? Noch größere Gefahr? Ist sie denn noch
nicht gross genug? Was soll denn noch geschehen, damit man in Moskau der K.P.D.
erlaube, sich mit uns ehrlich zu verständigen.“
Damit die Unterredung doch nicht völlig zwecklos gewesen sei, brachte ich noch
das Gespräch auf folgenden Tatbestand. Das Verbot der K.P.D. und die Annullierung
ihrer Mandate wurden damals in der Rechtspresse ganz ungeniert erörtert. Gerade in
den Tagen zuvor hatten die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ und die „Börsen Zeitung“
36 Der von ultrarechten und vaterländischen Freikorps, darunter der „Marinebrigade Ehrhardt“
unter Reichswehrgeneral von Lüttwitz zur Abschaffung der Weimarer Republik organisierte Kapp-
Putsch vom 13.3.1920 als bisheriger Höhepunkt der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nach
der Novemberrevolution scheiterte in erster Linie aufgrund eines einheitlichen, vier Tage lang durch-
gehaltenen Generalstreiks. Nichtsdestoweniger setze in der Folge die Reichsregierung diese oder ähn-
liche bewaffneten Verbände erneut gegen revolutionäre Vorstöße ein. Die Abwehrmaßnahmen gegen
den Kapp-Putsch führten im Ruhrgebiet zum Aufstand der Ruhr-Arbeiter („Ruhr-Aufstand“). Siehe:
Erwin Könnemann/Gerhard Schulze (Hrsg.): Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch, Dokumente,
München, Olzog 2002; George Eliasberg: Der Ruhrkrieg von 1920. Einleitung von Richard Löwenthal,
Bonn, Verlag Neue Gesellschaft, 1974.
Dok. 307: [Berlin, 22.2.1933] 935
fast mit den gleichen Worten, also anscheinend von der Wilhelmstrasse inspiriert,37
zum Ausdruck gebracht, dass die Vernichtung des Kommunismus in Deutschland
keinerlei Rückwirkungen auf das deutsch-russische Verhältnis haben würde, dass die
Sowjet-Regierung daraus „selbstverständlich“ keinerlei aussenpolitische Konsequen-
zen ziehen würde, und dergleichen mehr.38
Ich machte nun Z. darauf aufmerksam, dass es doch dringend notwendig wäre,
wenn von russischer Seite, mindestens von der „Prawda“ und der „Iswestija“ gegen
diese zynische Behauptung Stellung genommen werde.39 Denn das Schweigen der
russischen Blätter werde von der Reichsregierung als eine Bestätigung aufgefasst und
förmlich als eine Aufmunterung zum Vorgehen gegen die K.P.D. empfunden werden.
Ob er, Z., nicht schleunigst veranlassen könne, dass in der Moskauer Presse gewarnt
werde, dann würde das Berliner Auswärtige Amt vielleicht das Schlimmste gegen die
deutschen Kommunisten im Interesse der Rapallo-Politik verhindern.
Zu meinem Erstaunen sagte mir Z. kategorisch, die Moskauer Presse werde
bestimmt zu diesen Erklärungen der genannten Berliner Blätter keine Stellung
nehmen. Sie müsse sich sehr davor in Acht nehmen, auch nur den Anschein der Ein-
mischung in die innerdeutschen Verhältnisse zu erwecken.40
Die Regierung, die Botschaft, gewiss, meinte ich; aber die Presse? Die vergebe
sich doch nichts dabei und erweise damit nicht nur den deutschen Kommunisten,
sondern dem ganzen Proletariat einen Dienst. Denn die Annullierung der kommu-
nistischen Mandate ermögliche unter Umständen die nationalsozialistische Allein-
herrschaft.
Aber Z. blieb bei seinem Standpunkt. Darauf erklärte ich innerlich empört: „Gut,
dann werde ich im „Vorwärts“ schreiben, dass die „D.A.Z.“41 und die „Börsen-Zei-
tung“ sehr wünschten, dass vielmehr eine Vernichtung der K.P.D. nicht ohne Wirkung
auf die öffentliche Meinung in der Sowjetunion bleiben könnte und dass im Gegenteil
eine gründliche Abkehr Moskaus von der Rapallo-Politik und damit eine weitere Iso-
lierung Deutschlands unvermeidlich werden würden.“
37 Der Topos „Wilhelmstrasse“, wird hier als Metapher für die Reichsregierung gebraucht.
38 Die konservative, nationalliberale Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) erschien seit 1861 (bis 1945)
in Berlin (bis 1918 unter dem Namen Norddeutsche Allgemeine Zeitung). Die seit 1857 erscheinende
Berliner Börsen-Zeitung, geleitet von Arnold Killisch von Horn, stand nicht nur der Hochfinanz, son-
dern auch dem NS-Regime nahe. Ihren Wirtschaftredakteur Walther Funk machte Hitler zum Reichs-
wirtschaftsminister und Reichsbankpräsidenten.
39 Die Pravda (1912–1991) war das oberste Presseorgan des ZK der RKP(b)/VKP(b), die Izvestija er-
schien seit 1917 als Organ der Legislative der UdSSR.
40 Seit der „Machtergreifung“ befleißigte sich auch die Pravda einer „neutralen“ Berichterstattung
über das NS-Regime und die Ereignisse in Deutschland. Siehe neuerdings: O.I. Grigorʼeva: Obraz Ger-
manii na stranicach gazety „Pravda“. Janvarʼ 1933 – ijunʼ 1941 g. In: Aleksandr V. Golubev (Hrsg.):
Rossija i mir glazami drug druga. Iz istorii vzaimovosprijatija. Vypusk pjatyj, Moskva, IRI RAN, 2009,
S. 211–235.
41 D.A.Z.: Deutsche Allgemeine Zeitung.
936 1929–1933
1. dass die Hitler-Regierung als eine ihrer ersten Taten 400 Millionen Russenkredite
auf ein Jahr verlängert hat;42
2. dass der Berliner Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion im April verlängert
worden ist;43
3. dass nur zwei ausländische Blätter unter vielen Dutzenden, gegen die ein Verbot in
Deutschland erlassen worden ist, durch besonderen Erlass wieder gestattet wurden,
und zwar die „Prawda“ und die „Iswestija“.
4. dass die Kommunistische Partei Hollands gegen die Boykottforderung,44 die inzwi-
schen von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei Hollands zum
Beschluss erhoben worden ist, mit der Begründung protestiert hat, dass sich das
gegen die Interessen der Sowjet-Republik richten könnte, die mit Deutschland wert-
volle Handelsbeziehungen unterhalte.
5. dass im „Völkischen Beobachter“ riesengrosse Inserate der Derop, der sowjetrussi-
schen Benzinhandelsgesellschaft in Deutschland erschienen sind, derselben Derop,
deren deutsche und zum Teil sogar russische Arbeiter und Angestellte zu Dutzenden
verhaftet worden sind.45
42 Seit 1931 gehörte der deutsche Handel mit Russland im Vergleich zu anderen Ländern zu den
wichtigsten Posten.
43 „Als die Komintern nach der eklatanten Niederlage, während Abertausende KPD-Mitglieder
verfolgt wurden, von einem kurzzeitigen Rückzug sprach, der den Sturz des Hitlerregimes nur be-
schleunigen könne, verlangte die Sowjetunion auf außenpolitischem Gebiet von Hitler ein Zeichen
des guten Willens. Zeitgleich mit den Massenverhaftungen von KPD-Mitgliedern infolge der Notver-
ordnungen ratifizierte der Reichstag im Mai 1933 das Verlängerungsprotokoll des Berliner Vertrages
zwischen Deutschland und der Sowjetunion von 1926, der auf den Vertrag von Rapallo gefolgt war.“
(Bayerlein: Abschied von einem Mythos, S. 134).
44 Auch die Komintern lehnte jede Boykottforderung gegenüber Hitlerdeutschland ab. Während
der Internationale Gewerkschaftsbund, unterstützt von der Sozialistischen Arbeiter-Internationale,
einen Wirtschaftsboykott Hitlerdeutschlands forderten.
45 Derop: 1928 gegründete „Deutsche Vertriebsgesellschaft für Russische Ölprodukte“ (Derop), die
ein breites Netz an Tanklagern und Tankstellen unterhielt und 1937 in die „Benzol-Verband Bochum“
überging, aus der die ARAL wurde. Im Sommer 1933 erfolgten erste Durchsuchungen und Verhaftun-
gen durch die von Göring geleitete Kriminalpolizei, wobei der Ursprung der Maßnahmen noch nicht
vollständig geklärt ist. Siehe: Emil Rasche: Die sechste Großmacht. Männer und Mächte um Erdöl,
Frankfurt am Main, Büchergilde Gutenberg, 1951, S. 136f.
Dok. 307: [Berlin, 22.2.1933] 937
Man kommt um die bittere Feststellung nicht herum, dass die selbstbewusste Prophe-
zeihung der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ und der „Börsen Zeitung“ sich hun-
dertprozentig erfüllt hat.46 Es ist die Wiederholung der Tragödie der Kommunisten
in Italien und in der Türkei, deren Ausrottung durch den „Duce“47 und den „Ghazi“48
Stalin und Litwinoff49 nicht gehindert hat, die herzlichsten wirtschaftlichen und
sogar diplomatischen Beziehungen zu diesen Ländern bis zum heutigen Tag weiter
zu pflegen.
Gerade auf diese Beispiele beriefen sich damals, im Februar, die Organe der
Wilhelmstrasse. Wir aber meinten, dass diese Präzedenzfälle für Deutschland nicht
stichhaltig wären, weil die K.P.D. in der Gedankenwelt der Moskauer Internationale
eine ganz andere Rolle spiele als die italienischen oder die türkischen Kommunisten.
Wir haben uns darin getäuscht und müssen mit dem „Populaire“ zu der
Erkenntnis gelangen,50 dass die Regierung Stalins weniger Solidarität für die
Männer in Deutschland gezeigt, die für sie kämpften und litten, als z.B. die amerika-
nischen Juden für ihre in Deutschland verfolgten Glaubensgenossen.51
46 Am 28.4.1933 traf sich Hitler mit Sowjetbotschafter Lev Chinčuk, wobei er laut Bericht des Letzte-
ren sagte, beide Staaten müssten „von dem unverrückbaren Faktum der Existenz des jeweils anderen
ausgehen“ und entsprechend handeln. Sie seien „unabhängig von den unterschiedlichen Weltan-
schauungen [...] durch gemeinsame Interessen miteinander verbunden“, wobei diese Verbindung
einen „dauerhaften Charakter“ trage (Dokumenty vnešnej politiki, Bd. XVI, Moskva, Izdatelʼstvo
političeskoj literatury, 1970, S. 271).
47 Zu den guten Beziehungen der Sowjetunion mit dem faschistischen Italien siehe: Manfredi Martel-
li: Mussolini e la Russia. Le relazioni italo-sovietiche dal 1922 al 1941, Milano, Mursia, 2007.
48 Unter Atatürk (Mustafa Gasi Kemal Pascha) und dem Kemalismus erfolgte vor allem in der zweiten
Hälfte der 1920er Jahre eine systematische Verfolgung und Inhaftierung der Mitglieder der TKP (Türki-
ye Komünist Partisi), die Kemal gleichwohl grundsätzlich unterstützte.
49 Maksim Maksimovič Litvinov, ursprüngl. Mejer Vallach (1876–1951) war als Nachfolger Čičerins
von 1930 bis 1939 Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten der Sowjetunion. Er galt als Ver-
fechter der kollektiven Sicherheitspolitik, gehörte jedoch nicht dem inneren Zirkel Stalins an und war
kein Mitglied des Politbüros. Siehe: Sabine Dullin: Le rôle de Maxime Litvinov, dans les années trente.
In: Communisme (1995), nr. 42/43/44, S. 75–93; id.: Men of Inluence. Stalin’s Diplomats in Europe.
1930–1939, Edinburgh, Edinburgh University Press, 2008; Zinovy Sheynis: Maxim Litvinov. Translated
from the Russian by Vic Schneierson, Moskva, Progress, 1988.
50 Le Populaire, Tageszeitung der SFIO, der französischen sozialistischen Partei (SFIO).
51 Dass die keineswegs feindliche Position Stalins gegenüber dem NS-Regime in Deutschland
1933 etwas mit seinem zutiefst persönlichen Kampf gegen Trotzki zu tun hatte, verdeutlicht der
Bericht Vinogradovs über das Gespräch, den er nach Moskau sandte: „Ich antwortete Schiff, wie
auch anderen Journalisten, die mir diese Frage stellten, dass die UdSSR als Staat sich nicht in in-
nerdeutsche Angelegenheiten einmischen kann, und dass die Rote Armee nicht nach dem Re-
zept Trotzkis mobilisiert wird. Dies heißt jedoch nicht, dass unsere Öffentlichkeit das [KPD-]
Verbot und den weißen Terror unbemerkt lässt.“ (AVPRF, Moskau, 082/17/78/9, zit. in: Širinja: Kom-
intern v 1933 godu, S. 153). Trotzki hatte in einem Artikel „Ein Sieg Hitlers bedeutet: Krieg gegen die
UdSSR“ (datiert vom 28.12.1931, erstmals veröffentlicht am 16.7.1932) eine revolutionäre Staatspolitik
der Sowjetunion für den Fall einer Machtergreifung Hitlers als des Todfeindes der Sowjetunion ge-
fordert: „Nimmt man die Versicherung der faschistischen Propheten, sie würden in der ersten Hälfte
938 1929–1933
des Jahres 1932 an die Macht kommen, für bare Münze – obwohl wir weit davon entfernt sind, diesen
Leuten auf ihr bloßes Wort hin zu glauben –, so ist es möglich, von vornherein eine Art politischen
Kalender zu entwerfen. Einige Jahre werden mit der Faschisierung Deutschlands vergehen – der Zer-
schlagung der deutschen Arbeiterklasse, der Schaffung einer faschistischen Miliz und der Wieder-
herstellung der Armee. Etwa 1933/34 wären die Voraussetzungen einer militärischen Intervention in
der Sowjetunion geschaffen. Dieser Zeitplan geht natürlich von der Annahme aus, daß die Regierung
der Sowjetunion unterdessen geduldig abwartet. Meine Beziehungen zur gegenwärtigen Regierung
sind nicht derart, daß ich ein Recht hätte, in ihrem Namen zu sprechen [...]. Umso freier kann ich
mich dazu äußern, wie – meiner Meinung nach – die Sowjetregierung im Falle eines faschistischen
Umsturzes in Deutschland handeln müßte. An ihrer Stelle würde ich, sobald ich die telegraphische
Nachricht von diesem Ereignis erhielte, eine Teilmobilmachung anordnen. Steht man einem Todfeind
gegenüber und ergibt sich der Krieg mit Notwendigkeit aus der Logik der realen Situation, so wäre es
unverzeihlicher Leichtsinn, diesem Gegner Zeit zu lassen, sich festzusetzen und zu stärken, Bündnis-
se einzugehen, sich die nötige Hilfe zu verschaffen, einen umfassenden militärischen Angriffsplan
– nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten – auszuarbeiten, und so eine ungeheure
Gefahr wachsen zu lassen.“ (Leo Trotzki: Ein Sieg Hitlers bedeutet Krieg gegen die UdSSR (I see war
with Germany). In: The Militant, 16.7.1932. http://www.mlwerke.de/tr/1931/311228f.htm). Nach Hitlers
Machtantritt schrieb Trotzki am 17.3.1933: „Sofern es die innere Lage der UdSSR erlaubte, hätte die
Sowjetunion in der ersten Phase von Hitlers Machtergreifung einige Armeekorps in Weißrussland und
der Ukraine mobilisieren müssen, – natürlich unter der Flagge der Verteidigung der sowjetischen
Grenzen. Selbstverständlich kann die Rote Armee die deutschen Arbeiter beim Machen der Revolu-
tion nicht vertreten, sondern nur die Revolution der deutschen Arbeiter unterstützen. Aber auf ver-
schiedenen Stufen kann diese Unterstützung verschiedene Gestalt annehmen. Die Rote Armee kann
den deutschen Arbeitern zum Beispiel helfen, die Revolution zu beginnen.“ (G. Gurow: Deutschland
und die UdSSR. In: Leo Trotzki: Schriften über Deutschland, II, S. 495–497, hier S. 496).
Teil 4: 1933–1939
NS-Unterdrückung, Volksfront-Politik und
Großer Terror
Dok. 308
Brief Ernst Thälmanns an die Kominternführung über die Situation
in Deutschland nach dem 30. Januar
Berlin, 25.2.1933
An 2
Liebe Freunde!
Wir ersuchen Euch, beiliegenden Brief, von unserem Freund Th[älmann] geschrieben,1
an die bekannte Stelle weiterzuleiten. Der Brief sollte einem Boten mitgegeben werden,
da aber keiner kam, schicken wir ihn Euch zu.2
Besten Gruss
Liebe Freunde!
Unser Freund Max3 wird Euch ja bereits über die wichtigsten Massnahmen berichtet
haben, die wir im Anschluss an den 30. Januar getroffen haben. Ich will mich deshalb
darauf beschränken, einige Hauptpunkte hervorzuheben und dann hauptsächlich zu
der Frage der weiteren Politik und neuen Aufgabenstellung schreiben, weil es hier
einige Probleme gibt, die so schwerwiegend sind, dass wir sie nur nach vorhergehen-
der Verständigung mit Euch in Angriff nehmen können.
Wie war die Entwicklung nach dem 30. Januar? dass es unmittelbar nach der Ein-
setzung Hitlers nicht zu grösseren Streiks oder gar zum Generalstreik kam, ist – wie
ich glaube – keine besondere Überraschung. Man kann wohl ohne jede Schönfärberei
sagen, dass der Erfolg unserer Massenmobilisierung zum Protest gegen die Hitlerre-
gierung in den ersten Februartagen zwar nicht befriedigend war, aber doch einiger-
massen den gegebenen Möglichkeiten entsprach. Wir hatten überall eine ziemlich
lebendige Massenaktivität, Kampfdemonstrationen unsererseits und Störung der
faschistischen Aufmärsche. Als erster Anfang des Kampfes gegen die Hitlerregie-
1 Der Brief Thälmanns stellte den vermutlich letzten und zugleich gescheiterten Versuch einer Kon-
taktaufnahme mit der Kominternspitze in Moskau nach dem Machtantritt Hitlers dar. Er wirft ein grel-
les Licht nicht nur auf die Hörigkeit gegenüber Moskau, sondern auch auf das bei Thälmann durchaus
vorhandene Verständnis über die welthistorische Situation und seiner Verantwortung für die KPD.
2 Der Eingangsstempel „14.[?] APR.1933 2385“ könnte darauf hinweisen, dass der auf den 25. Februar
datierte Brief, der erst am 9. März abgeschickt wurde, erst im April 1933 in Moskau erhalten wurde.
So lässt sich bereits für die Zeit vor dem Reichstagsbrand ein erstaunliches Kommunikationsdefizit
erkennen.
3 Max war ein Pseudonym von Herbert Schubert und von Fritz Heckert.
942 1933–1939
rung war diese Mobilisierung nicht schlecht. Ganz anders muss man jedoch die
Frage beantworten, ob es uns gelungen ist, von diesem Ansatz ausgehend die anti-
faschistische Massenbewegung in den folgenden Tagen und Wochen entsprechend
der Verschärfung der Situation zu einer höheren Entfaltung zu bringen. Hier muss
man ohne Zweifel sagen, dass bisher sehr ernste Schwächen bestehen, dass die Partei
mit besonderen Ausnahmen nicht die Massen zu höheren revolutionären Formen des
Kampfes zu mobilisieren vermochte. Ausnahmen gibt es, sehr gute Ausnahmen, wie
im Düsseldorfer und Hamburger Bezirk, aber z.B. in Berlin und im Ruhrgebiet ist eine
ziemliche Schwäche zu verzeichnen. In den letzten Tagen ist eine Erhöhung der Akti-
vität, nach fortgesetzter Besprechung und Anpeitschung, in Berlin schon eingetreten.
Trotz alledem gibt es hier noch unverzeihliche Schwächen in der Mobilisierung der
werktätigen Massen.
Bevor ich auf die Frage eingehe, was wir tun, um die vorhandenen Schwächen
zu überwinden, will ich darstellen, worauf diese Schwächen m.E. beruhen. Die
Hauptursache liegt wohl darin, dass es der Führung der Partei nach dem 30. Januar
nicht sofort gelang, bis in die unteren Einheiten vollen Verständnis für die verän-
derte Lage beizubringen, um damit zugleich mit den alten Methoden unserer Arbeit
und den alten Formen des Massenkampfes zu brechen. Die Partei braucht in den
unteren Parteieinheiten, um den Uebergang zu höheren revolutionären Aufgaben
und zu gesteigerten Formen der Aktionen selbst zu finden und den Massen begreif-
lich zu machen, entschiedene Klarheit über die weitere Entwicklung in Deutschland.
Es genügt nicht, dass wir auf einzelnen Gebieten entsprechende höhere Aktionslo-
sungen herausgeben, wenn wir nicht gleichzeitig der Partei und den Massen zum
Bewusstsein bringen, dass diese höheren Aktionslosungen sich organisch aus dem
Gesamtplan unserer Politik ergeben. Wir haben jetzt auf Grund der Beschlüsse des
Sekretariats und des Polbüros ein Rundschreiben an die Bezirke geschickt, das ich
beifüge.4 Darüber hinaus haben wir zwei Dokumente im Entwurf vorbereitet, die wir
Euch jedoch vorher vorlegen wollen: 1. Thesen des Zentralkomitees zur Lage, die den
Zweck haben, der Partei eine klare und unzweideutige Perspektive zu geben, gewis-
sermassen die grosse Konzeption unserer weiteren Politik, aus der sich die einzelnen
4 Das Rundschreiben an die Bezirke datiert vom 23.2.1933. Hierin hieß es: „Es ist von entscheidender
Bedeutung für eine richtige Politik und Arbeit unserer Organisationen, daß es uns gelingt, der Ge-
samtheit unserer Mitglieder und darüber hinaus den breiten Massen voll zum Bewußtsein zu bringen,
daß sich mit der Aufrichtung der offenen faschistischen Diktatur über Deutschland eine grundlegen-
de Veränderung der Situation ergeben hat […]. Das Unverständnis für diese grundlegenden Änderun-
gen, das gegenwärtig noch in breiten Teilen unserer Organisation und den Massen vorhanden ist,
erzeugt vielfach ein Beharren auf alten Methoden, einen Mangel an kühner Aktivität bei der Durch-
setzung der [Losungen] unserer Organisation und der Inangriffnahme der höheren Aufgabenstellung
[...].“ (Rundschreiben Nr. 6 des Sekretariats des ZK der KPD an die Bezirksleitungen vom 23. Februar
1933. In: Margot Pikarski: Umstellung der KPD auf die Illegalität (Mai 1932 – Sommer 1934). In: Beiträ-
ge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 20 (1978), S. 719–733, hier S. 725–726; teilweise abgedruckt in:
Weber: Generallinie, S. 663).
Dok. 308: Berlin, 25.2.1933 943
5 Thesen des ZK zur Lage: Weit wichtiger als die angesichts des Beginns der flächendeckenden Un-
terdrückungswellen abstrakten Programmvorstellungen war die Tatsache, dass „die Taktik der KPD
und der Komintern [...] in den ersten Monaten nach dem 30. Januar 1933 darauf hinaus [lief], die
Tatsache einer Niederlage zu leugnen und alle, die dieser Behauptung nicht beistimmten, als Defaitis
ten, Agenten des Klassenfeindes und Anhänger der ‚sozialdemokratischen Sumpfideologie’ (Pieck)
zu beschimpfen. Die Grundlinie bestand darin, von der Möglichkeit oder gar der Tatsache einer Offen-
sive der deutschen Arbeiterklasse zum Sturz Hitlers und der Aufrichtung der proletarischen Diktatur
auszugehen.“ (Bahne: Die KPD, S. 58).
6 BVP (Abk.): Die Bayerische Volkspartei war von 1919 bis 1933 die stärkste Partei in Bayern, und
stellte seit dem Hitlerputsch die bayerische Regierung unter dem Ministerpräsidenten Heinrich Held
(1868–1938). Sie löste sich jedoch nach der Gleichschaltung im Juli 1933 auf.
7 Unter Zustimmung der SPD unter Wilhelm Hoegner sollte als Zeichen des Widerstands gegen Hitler
zunächst unter dem in der Bevölkerung beliebten Kronprinz Rupprecht von Bayern als Generalstaats-
kommissar die Monarchie wieder hergestellt werden. Dieser Plan der Lostrennung Bayerns wurde
jedoch nie öffentlich lanciert und spätestens nach dem Sieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen
am 5.3.1933 kam es unter Einsatz zahlreicher Druckmittel durch die Hitler-Regierung am 12.4.1933 zur
Bildung einer Regierung unter dem hitlertreuen „Reichsstatthalter“ Franz von Epp. In Bayern beruft
man sich noch heute darauf, dass von allen deutschen Ministerpräsidenten Heinrich Held in Bay-
ern noch am längsten Widerstand geleistet habe (siehe: Kabinett Held IV, 1932–1933. In: Historisches
Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_46018). Der führende
BVP-Politiker und spätere CSU-Mitbegründer Fritz Schäffer (1888–1967) wurde im Juni 1933 von den
Nationalsozialisten verhaftet und erst 1934 wieder freigelassen.
944 1933–1939
will, wie wir in Erfahrung gebracht haben, Mitte März nach Rom fliegen, um dort bei
Mussolini seine Antrittsvisite zu machen.8 [...]
Es ist klar, dass alle diese inneren Differenzen und darüber hinaus der Wider-
spruch zwischen den bisherigen Versprechungen der Nazis an ihre Anhänger und
ihrer jetzigen Regierungspraxis einen bestimmten inneren Sprengstoff darstellen, der
sich gegen die faschistische Konzentrationsregierung auswirkt und bei gleichzeitiger
offensiver Massentätigkeit und Durchsetzung von Massenaktionen unter Umständen
ihren Sturz erleichtern kann. Auf der anderen Seite müssen wir nach meiner Meinung
auf schärfste jede Illusion bekämpfen, wie sie vor allem seitens der liberalen bürgerli-
chen Presse („Berliner Tageblatt“ usw.) genährt wird, teilweise aber sogar bis in unsere
Partei und erst recht in die sozialdemokratische Arbeiterschaft eindringt, als ob die
Hitler-Regierung an ihren eigenen inneren Widersprüchen zugrunde gehen könnte.
Man muss sogar sehen, dass der grösste Teil dieser Differenzen und Widersprüche für
eine gewisse Zeit abgeschwächt und teilweise überwunden werden könnten, falls es
der Regierung gelingt, im Kampf gegen den Kommunismus, gegen uns und die revo-
lutionäre Arbeiterschaft ernstere Erfolge zu erzielen. Umgekehrt: wenn es uns gelingt,
den Kampf der Massen rasch auf eine höhere revolutionäre Stufe zu heben, so werden
wir die Hitler-Regierung nicht nur unmittelbar durch unsere Massenaktionen und
Massenkämpfe bedrängen und erschüttern, sondern dadurch zugleich ihre inneren
Schwierigkeiten speisen, entwickeln und steigern können. [...]
Wir könnten diesen offen faschistischen Massnahmen Schwierigkeiten bereiten,
aber nur wenn wir rasch den Massenkampf steigern und eine wirkliche Gegenoffen-
sive gegen den Faschismus und die Hitler-Regierung zustande bringen. [...]
Kein Zweifel, dass heute noch keine ernste Depression in der Arbeiterklasse vor-
handen ist. Solche Tatsachen wie die Generalstreiks in Lübeck, Stassfurt, Elmshorn
oder der Dresdner Streik, zeigen in einer überaus erfreulichen Weise, dass von einem
ernsten Eindringen des Faschismus in die Arbeiterklasse noch immer, selbst heute,
nicht gesprochen werden kann.9 Die verhältnismässig kleinen Splitter an Gelben,
Stahlhelmleuten und Nazis in den Betrieben werden von der Masse der kommunis-
tisch-sozialdemokratischen Arbeiter und Anhänger zurückgedrängt und zum Teil zur
Unaktivität gezwungen. Natürlich bedeutet das im Falle eines Generalstreiks nicht,
8 Hitler traf Mussolini allerdings erst im Juni 1934 in Venedig, mehr als ein Jahr nach der Machtüber-
nahme durch die Nationalsozialisten. Das Treffen im März kam nicht zustande.
9 Nach anfänglichen, unkoordinierten Aufrufen zum Generalstreik fand sich in den illegalen Rund-
schreiben des ZK im Februar und März 1933 nur noch die Forderung „Rüstet zum Massenstreik!“ (Il-
legales Rundschreiben des ZK, 25.3.1933. In: Weber/Wachtler: Die Generallinie, S. 676- 682, hier: S.
681). Nach weitgehend spontanen Demonstrationen und Kundgebungen als Reaktion auf die Bildung
der Hitler-Hugenberg-Papen-Regierung am 30.1.1933 rief die KPD erst am 31.1.1933 unkoordiniert zum
Generalstreik auf, was sogar von den eigenen Anhängern kaum befolgt wurde. „Wenn es die KPD
nicht mir wirkungslosen Protesten bewenden lassen wollte, mußte sie Demonstrationen und Streiks
initiieren und diesen durch ein gleichzeitiges Abkommen mit SPD und ADGB eine klare Stoßrichtung
geben.“ (Peukert: Die KPD im Widerstand, S. 32). Dies fand jedoch nicht statt.
Dok. 308: Berlin, 25.2.1933 945
10 Aussöhnung mit dem Faschismus: Ohne die eigene Niederlage zu problematisieren, zog die KPD
gegen die zur Kollaboration bereite Linie der ADGB-Führung zu Felde, die mit der Begründung, die
Organisationen und Strukturen retten zu müssen, eine Annäherung an die Nationalsozialisten voll-
zogen hatten. Dies rettete die Freien Gewerkschaften nicht vor der endgültigen Zerschlagung am 2.
Mai 1933. Inmitten dieser historischen Katastrophe der Arbeiterbewegung verzichtete die KPD dann
auf die Perspektive eines Wiederaufbaus der Freien Gewerkschaften und spekulierte sogar auf eine
Übernahme (siehe u.a. Dok. 318; vgl. Gerhard Beier: Die illegale Reichsleitung der Gewerkschaften
1933 - 1945, Köln, Bund Verlag, 1981).
946 1933–1939
stillegen könne, auch hinsichtlich der Elektrizitäts-, und Gaswerke, lediglich bei der
Post werde ein Streik ausserordentlich schwierig sein.11
Es ist immerhin denkbar, dass angesichts des schroffen Kurses der Regierung
gegen die SPD tatsächlich eine solche sozialdemokratische Streikparole in irgendei-
nem Zeitpunkt herauskommt, selbstverständlich nur dann, wenn die ernste Gefahr
besteht, dass sonst wir allein grosse Streiks auslösen können, und wenn den sozi-
alfaschistischen Führern das Wasser bis an die Kehle steht. Ich glaube aber, dass
man zwar nicht die Möglichkeit eines solchen Ereignisses ausschliessen darf, dass
es aber verhängnisvoll wäre, sich etwa darauf einzustellen, statt von uns aus Kurs
auf die Führung des Generalstreiks nur durch unsere Kraft, in Gemeinschaft mit den
breiten Arbeitermassen der SPD und der Christen zu nehmen. Das letztere ist die Linie
unserer revolutionären Kampfpolitik. Das Hauptgewicht bleibt also bei der Einheits-
fronttaktik von unten. Aber wir gehen einen Schritt weiter als vor dem 30. Januar,
indem wir generell unten, wenn die Vorbedingung einer bestimmten Massenmobili-
sierung gegeben ist, auch an die unteren Organisationen der SPD, des Reichsbanners,
der freien und der christlichen Gewerkschaften herantreten. Dasselbe gilt natürlich
auch für Sport, Freidenker und andere Massenorganisationen. Mit dieser Orientie-
rung schliessen wir weitere Formen einer kombinierten Einheitsfronttaktik von unten
und oben – das heisst im Bezirksmasstabe oder zentralem Masstabe – nicht etwa
grundsätzlich aus. Wir haben ja am 30. Januar, wenn auch nur in der Form der öffent-
lichen Aufforderung im Flugblatt ein solches direktes zentrales Einheitsfrontangebot
an SPD, ADGB, AFA-Bund12 und christliche Gewerkschaften gerichtet.13 Es könnte
11 Im Aufruf des Vorstandes der SPD und der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion vom 31. Ja-
nuar 1933 (In: Vorwärts, 31.1.1933) hieß es: „Die Stunde fordert die Einigkeit des ganzen arbeitenden
Volkes zum Kampf gegen die vereinigten Gegner. Sie fordert Bereitschaft zum Einsatz der letzten und
äußersten Kräfte.(...) Jeder Versuch der Regierung, ihre Macht gegen die Verfassung anzuwenden oder
zu behaupten, wird auf den äußersten Widerstand der Arbeiterklasse und aller freiheitlich gesinnten
Volkskreise stoßen. Zu diesem entscheidenden Kampf sind alle Kräfte bereitzuhalten.“
12 AFA-Bund: Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD (AfA).
13 Einheitsfrontangebot: Aus dem veröffentlichten Teil des Flugblatts der KPD geht nicht hervor, dass
es sich um ein „direktes zentrales Einheitsfrontangebot“ handelte. Am Schluss des Flugblatts hieß es:
„Arbeiter, Arbeiterinnen, Jungarbeiter, nehmt in allen Betrieben, in allen Gewerkschaften, in allen
Arbeiterorganisationen, auf allen Stempelstellen sofort Stellung für den Generalstreik gegen die fa-
schistische Diktatur!“ (Aus dem Aufruf der KPD zum Generalstreik vom 30. Januar 1933, publ. in: Ge-
schichte der Deutschen Arbeiterbewegung, vol. 5, S. 441f.). Nicht die KPD, sondern KPD(O), SAP und
die Linke Opposition der KPD (Internationale Kommunisten Deutschlands/IKD) forderten SPD, KPD
und Gewerkschaftsführungen zu einem gemeinsamen Aufruf an die Arbeitschaft zum Generalstreik
auf. Siehe: August Thalheimer: Brief der Reichsleitung der KPD-O an den Vorstand des ADGB, an das
ZK der KPD, an den Parteivorstand der SPD, 30. Januar 1933. In: Gruppe Arbeiterpolitik: Faschismus
in Deutschland. Analysen und Berichte der KPD-Opposition 1928–1933, vol. 1, o.O., Selbstverlag, 1981,
S. 281. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/thalheimer/1933/01/rleitung.html). Im Aufruf der
Linken Opposition hieß es: „Es genügt nicht, zum Kampf aufzufordern und sich bereit zu erklären,
ihn mit der SPD, dem ADGB und den christlichen Gewerkschaften durchzuführen, wie es das ZK der
KPD bisher gemacht hat. Die Lage erfordert heute von der KPD, ein offenes Spitzenangebot an die
Dok. 308: Berlin, 25.2.1933 947
eine Situation eintreten, wo wir erneut ein solches Angebot nicht nur in Flugblatt-
form, sondern gleichzeitig auch in der Form eines direkten Briefes stellen müssten.
Voraussetzung müsste sein, dass nach der Lage der Dinge ein solcher Schritt dazu
geeignet wäre, den Zwiespalt zwischen Massen und Führung bei der SPD rasch zu
verschärfen und die unteren Funktionäre unseren Parolen empfänglicher zu machen.
Jedenfalls aber ist die Frage der Einheitsfronttaktik heute von der allergrössten
Bedeutung. Wir haben einige gute Erfolge. In Frankfurt/Main z.B. haben wir nach
dem Verbot unserer Demonstration und dem Aufruf der Eisernen Front14 zu einer
Demonstration die Massen aufgerufen, unter unseren Losungen zu dieser Demonstra-
tion zu gehen und sie zu einer antifaschistischen Einheitsdemonstration zu machen.
Der Erfolg war sehr gut. [...]
Natürlich darf man die bisherigen örtlichen Generalstreiks und Massenstreiks
nicht überschätzen. Die Tatsche, dass meistens nur bei Begräbnissen erschossener
Antifaschisten gestreikt wurde, zeigt deutlich, dass sie zunächst den allgemein-
offensiven Charakter noch vermissen liessen, den wir unbedingt für die allgemeine
Offensive des Proletariats gebrauchen. Aber wenn es uns gelingt, solche Streiks in
grösserer Anzahl einzulösen, wird die Ueberleitung zu offensiveren Streikkämpfen
verhältnismässig erleichtert sein. Es ist wieder so, wie bei der Streikwelle im vergan-
genen Sommer: das Anfangen ist immer das schwerste.
SPD- und ADGB-Führung zu machen. Man muß ein konkretes Kampfprogramm vorschlagen, vor der
Arbeiteröffentlichkeit die SPD und ADGB-Führung zu Verhandlungen und Vereinbarungen auffor-
dern (...)“. (Der Terror beginnt. Sofort handeln durch Einheitsfront. In: Permanente Revolution, 3 (1.
Februarwoche 1933).
14 Zur Eisernen Front siehe Dok. 290.
15 Ein KPD-Verbot wurde auf eine Forderung Hitlers hin nicht ausgesprochen. Ohne jeden Anflug
von Legalität ließ Hitler in den Tagen nach dem Reichstagsbrand trotz des legalen Status der Partei
zunächst ca. 4000 Kommunisten verhaften.
948 1933–1939
erklärten, dass durch ein Verbot die Kommunisten zur verstärkten Arbeit in den
Gewerkschaften gebracht und damit eine Radikalisierung der Gewerkschaften zu
befürchten wäre. Hindenburg hat sich ferner dahin ausgesprochen, dass er gegen
den Erlass des Parteiverbots sei, weil das eine zu gefährliche Massnahme sei, über
deren Ausgang man nicht vorher klar sehen könne. Es hat nun den Anschein, als ob
hinter dieser Stellungnahme Hindenburgs der Kreis um Hugenberg, Papen und dem
Major Hindenburg, dem Sohn Hindenburgs steckt. Hugenberg durfte ein doppeltes
Spiel getrieben haben. Sein Vorstoss im Kabinett sollte ihm gewissermassen in der
Frage des Parteiverbots ein Alibi verschaffen, um nicht in dieser Frage vor Hitler in
die Defensive gedrängt zu werden. In Wirklichkeit scheint es, als ob diese Kreise das
sofortige Verbot noch nicht wünschen. Es spricht also jetzt einiges dafür, dass das
Verbot erst nach der Wahl kommt. [...]
Wie wir jetzt erfahren haben, plant Hitler vor der Wahl noch eine grosse Bombe in
der Art des Sinowjew-Briefes bei den englischen Wahlen von 1925.16 SS-Leute sollen
ein angebliches Kommunisten-Attentat auf Hitler durchführen, das natürlich fehl-
schlägt. Damit will man einerseits die nötige Progromstimmung [sic] für das Verbot
schaffen, andrerseits der Partei Stimmen abtreiben und schliesslich vor allem eine
Wahlbombe zugunsten der Nazis provozieren. Wir denunzieren diese Pläne rechtzei-
tig der Oeffentlichkeit, verbreiten dabei ein besonderes Flugblatt in grosser Auflage,
um diese Wahlbombe der Nazis entweder zu verhindern, oder doch verhältnismässig
unschädlich zu machen. In Anbetracht des geplanten Nazimarsches auf Berlin am
5./6. mobilisieren wir die Berliner Betriebe und Arbeiterviertel und stellen die umlie-
genden Parteibezirke insbesondere auf diese Tatsache ein.17 Wir geben die Losung der
Verteidigung des roten Berlins, der wehrhaften Massen-Notwehr und des Rechtes der
Abwehr des Faschisten-Marsches mit allen Mitteln der Massen aus (Entwaffnung der
Faschisten, Bewaffnung der Antifaschisten, Aufhalten von Zügen, Autos, Lastwagen
und Marschkollonnen). Als wichtigstes wollen wir die Betriebe zum politischen Mas-
senstreik mobilisieren und Streiks der Eisenbahner, Strassenbahner, Gas-, Wasser-,
Elektrizitätsarbeiter etc. erreichen und schlagen schon jetzt Protest und Streikmass-
nahmen der Betriebe den SPD- und ADGB-Arbeitern vor. Wir haben eine antifaschis-
tische Alarm-, Rüst- und Aktionswoche für die Zeit vor dem 5/6. März angesetzt und
16 Der sich später als Fälschung herausgestellte Sinowjew-Brief spielte fbesonders in England in den
1920er Jahren eine große Rolle und diente dazu, das Schreckgespenst einer gewaltsamen kommu-
nistischen Machteroberung zu schaffen und damit gleichzeitig die Labour-Regierung unter Ramsay
MacDonald zu schwächen. Hierin wurde die KP Englands aufgefordert, die Zersetzung in der Armee
zu tragen um die britische Rote Armee aufzubauen. Die „größere Provokation“ in Deutschland, die
Thälmann erwartete, ohne sie zu kennen, war sicherlich der zwei Tage nach seinem Brief erfolgte
Reichstagsbrand. Zum „Sinowjew-Brief“ siehe: Lewis Chester, Stephen Fay, Hugo Young: The Zino-
viev Letter, London, Heinemann, 1967.
17 Nazimarsch auf Berlin: Am 5. März fanden die Reichstagswahlen statt, bei denen es der NSDAP
nicht gelang, die Mehrheit der Mandate zu erreichen. Vier Tage danach, am 9.3.1933, wurden die 81
Mandate der KPD annulliert.
Dok. 308: Berlin, 25.2.1933 949
schlagen durch ein Massenflugblatt etc. Alarm in allen Arbeitervierteln und Betrie-
ben.
Für den Wahlkampf haben wir zentralerseits u.a. einen zentralen Wahlaufruf
(illegal: 7 Millionen Auflage), vorige Woche ein Einheitsfrontangebot (mit unseren
3 Minimalforderungen) herausgebracht. Da unsere Presse fast restlos verboten ist,
haben wir eine Menge illegalen Flugblattmaterials herausgebracht. Die Presse stellt
zweitägig erscheinende Broschüren für die Leser fertig (aktuell: z.B. „Eisleben“, „Ein-
heitsfront“) Für Berlin ist die Herausgabe eines legal erscheinenden in neutraler Auf-
machung, für einen Preis von 5 Pfg. herauszubringenden 4 – 6 seitig erscheinenden
Mittagsblattes unmittelbar in die Wege geleitet. Wir haben das Gleiche für verschie-
dene grosse Bezirke angewiesen. – Regelmässig erscheint nun auch die „Rote Sturm-
fahne“. [...]
Die Umstellung auf die Illegalität macht langsame Fortschritte. Es zeigen sich
natürlich sehr grosse Kinderkrankheiten. Auch tauchen immer erneut schwere Ver-
saeumnisse aus der Vergangenheit auf. Ohne sich Illusionen darüber zu machen,
dass wir manche Schläge beim Verbot haben werden, kann man doch schon mit
einigem Optimismus hinsichtlich der ungebrochenen Fortführung unserer revoluti-
onären Massenarbeit in der Illegalität in die Zukunft blicken. Aber auch diese – wie
die ganze Frage des Kampfes gegen die Hitler-Regierung hängt ausschliesslich davon
ab, ob es uns gelingt, in kurzer Frist wirkliche Massenaktionen und Kämpfe grösseren
Umfangs zustande zu bringen. Wir haben in der Frage des wehrhaften Kampfes gegen
den faschistischen Terror eine sehr ungleichmässige Situation. Versagen in Berlin
und im Ruhrgebiet, Erfolge am Niederrhein und in Wasserkante. [...]
Ein geplanter Einmarsch in die Arbeiterviertel bei Düsseldorf wurde abgeblasen
wegen der mächtigen Massenmobilisierung, obwohl extra vorher 54 KPD-Funktionäre
in Schutzhaft genommen worden waren, die man teilweise auf den Strassen aufgriff.
[...]
Eine schlechte Lage ist in Essen, wo zweimal öffentliche Massenkundgebungen
der Eisernen Front angesetzt waren, zu denen Zehntausende kamen. Beide Male
hatte die SA bewaffnet vorher den Platz besetzt. Beide Male schickte die SPD-Leitung
die Massen nach Hause. Unsere Genossen hatten davor zurückgeschreckt, mit dem
Einsatz aller Mittel die SA-Kolonnen bei dieser Gelegenheit zu verjagen. Im Ganzen
muss man also sagen: wenn es uns nicht gelingt, den Massenkampf in allen Bezirken
auf eine höhere revolutionäre Stufe zu heben, Beispiele grösserer revolutionärer Mas-
senaktionen zu schaffen, so wären durchaus Depressionsstimmungen zu befürchten,
die heute noch nicht vorhanden sind. Das gilt vor allem von den systematischen Ter-
rorakten der Nazis, wo einstweilen noch das Verhältnis so ist, dass wir und SPD schon
mehr Tote haben als die Nazis. Auch hier müssen wir offensiver und massenmässiger
vorgehen. Das bezirkliche Einheitsfront-Angebot der Berliner R.G.O. an den ADGB war
950 1933–1939
ein Fehler. Das Angebot [geschah] nicht entsprechend den Direktiven des Sekretariats
des ZK – es war als Ganzes ein Einheitsfrontangebot von oben.18 [...]
Welche politische Linie und welche praktischen Methoden wir ausgearbeitet
haben, um diese rasche Steigerung des Massenkampfes und der Massenaktivität zu
erreichen, erseht Ihr am besten aus den beigelegten Direktiven. Wie Euch Max erzählt
haben wird, wurde schon auf der Reichskonferenz vor allen Polsekretären, Abtei-
lungsleitern und Leitern der Reichsfraktionen der Massenorganisationen in der Linie
dieser Direktiven im Referat aufgezeigt, welche Aufgaben vor uns liegen.19 Das Referat
wird in der Partei und unter den Sympathisierenden auszugsweise verbreitet.20 Wenn
Ihr mit unseren Vorschlägen bezüglich des Aktionsprogramms und den Thesen zur
Lage einverstanden sein solltet, bezw. wenn diese Dokumente mit Euren Vorschlägen
ausgebaut sind, wollen wir sie benutzen um der ganzen Partei und den Massen noch
viel stärker klares Bewusstsein für den Ernst der Situation und klare Direktiven für die
vor uns liegenden höheren revolutionären Aufgaben zu geben.
Wir sind uns über die grosse Tragweite unserer jetzigen Beschlüsse, sogar über
den Rahmen Deutschlands hinaus, für die ganze geschichtliche Entwicklung, durch-
aus bewusst. Wir wissen, wieviel davon abhängt, ob wir jetzt die richtige, den konkre-
ten Bedingungen entsprechende Politik einschlagen und erfolgreich durchführen. Es
ist deshalb klar, dass wir in einer solchen ernsten Situation voll und ganz auch in den
Einzelheiten unserer taktischen Massnahmen nach Möglichkeit schon vorher Über-
einstimmung mit Euch herbeiführen. Das erscheint uns umso notwendiger, als bei
weiterer Verschärfung der Situation oft eine solche Verständigung und Beratung mit
Euch nicht mehr in dem Masse, vor allem in der hierfür erforderlichen Schnelligkeit
möglich sein wird, wie in der Vergangenheit. Umso notwendiger ist es, jetzt unseren
weiteren Weg sowohl in der Einschätzung der Entwicklung, wie in der Aufgabenstel-
lung und den wichtigsten taktischen Fragen mit Euch festzulegen.21
18 Die letzten beiden Sätze sind Teil eines nachträglich vorgenommenen handschriftlichen Ein-
schubs.
19 Gemeint ist hiermit die Konferenz in Ziegenhals bei Zeuthen (siehe Dok. 305).
20 Auch die Verbreitung der Thälmann-Rede erfolgte, wenn überhaupt, vermutlich nicht in diesem
Sinne siehe Dok. 305).
21 Eine solche Festlegung ist höchstwahrscheinlich aufgrund der Kommunikationsschwierigkeiten
vorerst nicht erfolgt.
Dok. 309: Berlin, 4.10.1933 951
Dok. 309
Brief Ernst Thälmanns an den Untersuchungsrichter des
Reichsgerichts über Revolutionserwartung, Aufstands
vorbereitungen und Aktionsplanung der KPD im Februar 1933
Berlin, 4.10.193322
Abschrift
Berlin d. 4.10.33
22 Die chronologische Einordnung des Briefes in der Edition erfolgte durch die Bearbeiter unter dem
15.2.1933.
23 Bemerkenswerterweise entsprach die von Thälmann zu seiner Verteidigung herangezogene Ar-
gumentation weitgehend dem politischen Kurs vor und nach dem Machtantritt Hitlers, den er als
Vorsitzender der KPD verfolgte. Das vorliegende Dokument ist im Zuge der Vorbereitung des Prozesses
gegen Ernst Thälmann entstanden (zur Vorbereitung des 1934 vorgesehenen und schließlich von Hit-
ler aufgegebenen Prozesses siehe den Text von Bayerlein in Bd. 1). Da es eine wichtige, unmittelbare
Stellungnahme zur Haltung der KPD gegenüber der Machtübernahme Hitlers darstellt, wurde es in
der Dokumentation chronologisch auf Mitte Februar 1933 eingeordnet.
24 Siehe: Denkschrift über die kommunistischen Umsturzbestrebungen in Deutschland. Im amtli-
chen Auftrage herausgegeben vom Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig, 1933 (überlie-
fert in: RGASPI, Moskau, 526/1/48, 30–43). Laut Einleitung des Verlags sollte die 31seitige Denkschrift
„die illegale Tätigkeit der Kommunisten in Deutschland, die auf den gewaltsamen Umsturz gerichtet
war, darstellen. Sämtliche Feststellungen der Schrift beruhen auf rechtskräftigen Urteilen des Reichs-
gerichts, die zum größten Teil vor dem 30. Januar 1933 gefällt sind.“ (S. 3).
952 1933–1939
gen der revolutionären Krise. Heranreifen – also ist sie noch nicht da. Wahnwitz – im
Heranreifen etwa die Reife vorweg wenigstens anzunehmen und entsprechend dann
die Reife unmöglich zu machen. Wir hatten im Februar 1933 in Deutschland keine
unmittelbar revolutionäre Situation, auch keine revolutionäre Situation, auch keine
unmittelbare Entfaltung und Verschärfung der revolutionären Krise, auch keine revo-
lutionäre Krise. In unseren offiziellen Dokumenten des Z.K., der Parteikonferenz,25
im Programm zu den Reichstagswahlen im März 1933,26 wie auch in meinen Refera-
ten, trotz fehlerhafter Wiedergabe bei der Veröffentlichung ist festzustellen,27 dass
wir immer wieder von dem beschleunigten Heranreifen der Voraussetzungen der
revolutionären Krise sprechen und nur in dieser Linie unserer Taktik festlegten. Es ist
deshalb unwahr, wenn behauptet wird, dass wir am Februar-Ende [sic] den Umsturz
in Deutschland planten, es ist absurd, vom bewaffneten Aufstand und von Aufstands-
vorbereitungen der Partei zu sprechen. Tatsächlich haben wir nicht die Umwälzung
unmittelbar vorbereitet, es lag kein im einzelnen bestimmter Aktionsplan vor. Wir
sind der festen Meinung, daß für uns auch noch die offene Kampfesmöglichkeit nicht
gekommen war. Das Z.K. hat die Bewaffnung der Arbeiter als Aktionslosung nicht
gestellt und nicht als Forderung erhoben, wie ebenfalls eine Losung der KPD, die Par-
teiangehörigen müßten sich zum Zwecke des Aufstandes bewaffnen, nicht herausge-
geben wurde.
Also wir verneinen nicht die Revolution, wir halten sie für notwendig und als
einzige Möglichkeit der nationalen und sozialen Befreiung, wir arbeiten und kämpf-
ten für sie. Wir verneinen die Verschwörung – wir gründen uns auf objektive Voraus-
setzungen (zu denen wir subjektiv mithelfen). Diese Voraussetzungen reifen heran,
waren bisher nicht gegeben. Wir hatten bisher keinen Plan zum Umsturz als Aktio-
nen und konnten ihn nicht haben –– wir wollten nicht alle bisherige Arbeit in Frage
stellen. In dieser Verbindung stehen auch unsere Losungen zur Frage der Macht. Bei
diesen Losungen, wie Volksrevolution, freies, sozialistisches Deutschland, Sowjet-
Deutschland, Diktatur des Proletariats, Arbeiter- und Bauernregierung, Deutschland
25 „Parteikonferenz“: Gemeint ist hier die Funktionärskonferenz der KPD in Ziegenhals bei Zeuthen
vom 7.2.1933 (siehe Dok. 305).
26 Programm zu den Reichstagswahlen: In der letzten legalen Ausgabe der Roten Fahne vom
26./27.2.1933 wurde unter der Überschrift „Es lebe der Kommunismus“ ein Wahlaufruf der KPD veröf-
fentlicht, der größtenteils propagandistisch ausgerichtet war und neben der Aufforderung zur Wahl
der KPD kein Aktionsprogramm beinhaltete. Die SPD-Führung wurde hierin der „Sabotage“, des „Ab-
wartens und Stillehaltens“ im Rahmen eines „Nichtangriffspakts“ bezichtigt. Einige der Wendungen
Thälmanns aus der „Ziegenhalser Rede“ wie auch aus seinen Briefen vom 25.2.1933 finden sich hierin
wieder. Das in derselben Ausgabe veröffentlichte Programm, das auf Antrag der KPD-Reichstagsfrak-
tion eingebracht werden sollte, beschränkte sich weitgehend auf soziale Forderungen; es beinhaltete
ebenfalls die „Einstellung aller Versailler Tribut- und Reparationszahlungen!“ (Die Sofort-Forderun-
gen der Kommunisten. In: Die Rote Fahne, 26./27.2.1933).
27 Auch hier erwähnte Thälmann eine fehlerhafte Widergabe seiner Rede auf der Tagung in Ziegen-
hals.
Dok. 310: [Moskau], 28.2.1933 953
der Arbeiter und Bauern, Arbeiter- und Bauernmacht, Arbeiter- und Bauernrepublik,
kann es sich nur [um] propagandistische Darlegung handeln. [...]
Eine geschichtliche Umwälzung in Deutschland durch die siegreiche proletari-
sche Revolution ist nur denkbar mit den Millionen Massen der Arbeiter und des werk-
tätigen Volkes, und nicht gegen sie. Auf der Parteikonferenz im Oktober 1932 wurde
z.B. von mir an einer Stelle gesagt: „Die Hitlerbewegung hat heute bereits einen
solchen Massencharakter, daß ohne den Einbruch in ihre Front ein Sieg der proletari-
schen Revolution undenkbar ist.“28
Dok. 310
Bericht Manuilskis über die Einheitsfront und die „günstige
Situation“ in Deutschland
[Moskau], 28.2.1933
So steht die Frage der Einheitsfront für die deutsche Sozialdemokratie, hier hat kein
Kommunist das Recht, sich wie auch immer gearteten Illusionen hinzugeben, völlig
anders hingegen steht die Frage der Einheitsfront für die Hunderttausende organisier-
ter und nicht-organisierter sozialdemokratischer und parteiloser Arbeiter Deutsch-
lands, die sich jetzt unter den Schlägen des Faschismus in Deutschland darüber
bewusst werden, dass das einzige Mittel, den Fall des Faschismus zu beschleunigen,
ihm einen weiteren Weg zu versperren, seinen Sturz zu erreichen, darin besteht, die
kommunistische Einheitsfront mit der Arbeiterklasse zu verwirklichen. […]
Unsere Aufgabe besteht genau darin, dieser Masse […] die Möglichkeit zu geben,
sich in der Form einer Einheitsfront des Kampfes herauszukristallisieren. Das ist die
erste Hauptaufgabe, die wir mit unserem Aufruf verfolgen.29
28 Parteikonferenz Oktober: Das Schlusswort Thälmanns auf der Parteikonferenz vom 15.-18.10.1932
verdeutlicht die auch von der Komintern ausgegebene defensive Linie und die nicht einmal als eine
vorrevolutionäre Situation eingestufte Lage in Deutschland. Siehe: Ernst Thälmann: Reden und Auf-
sätze 1930–1933, Bd. 2, März 1932-Februar 1933, Köln, Verlag Rote Fahne, 1975, S. 285–340. Im Oktober
1932 ließ ebenfalls Manuilski in Moskau eine Kommission „über die linken Manöver der Sozialde-
mokratie“ einberufen, auf der mit besonderem Blick auf Deutschland die kommunistischen Partei-
en aufgefordert wurden, sich an jede sich entwickelnde soziale Protestbewegung zu „klammern und
diese Bewegung zu höheren Formen vorwärts [zu] treiben“ (RGASPI, Moskau, 495/18/916, 146–154, zit.
nach: Hoppe: In Stalins Gefolgschaft, S. 320).
29 An diesem Tag veröffentlichte die Pravda einen Aufruf des EKKI zur Einheitsfront gegen die fa-
schistische Diktatur, der daraufhin auch in der Partei- und Kominternpresse publiziert wurde. Der
am Tag nach der Verhaftung der Mitglieder der Reichstagsfraktion der KPD publizierte Aufruf enthielt
zwar eine leichte Abschwächung der Ablehnung gegenüber der Sozialdemokratie, trotzdem wurde
954 1933–1939
Die zweite Aufgabe, Genossen, besteht darin, die deutsche Sozialdemokratie, und
nicht nur die deutsche, sondern die gesamte internationale Sozialdemokratie und das
Büro der 2. Internationale in eine solche Lage zu versetzen, in der sie (wie wir wissen,
wollen sie keine Einheitsfront) sich in einer äußerst schweren Situation wiederfinden
werden, wo sie dazu gezwungen werden, klar und deutlich zu unserem klaren und
deutlichen Vorschlag Position zu beziehen, und davor, muss ich angesichts der gest-
rigen Mitteilung der „Führer-Briefe“30 und der Telegramme aus Deutschland sagen,
hat die Sozialdemokratie am meisten Angst.
Und es muss gesagt werden, dass auf die Antwort, die wir ihnen in diesem Doku-
ment geben, die Sozialdemokratie nicht gewartet hat und auch nicht wartet.
Die Sozialdemokratie fürchtet sich vor der Einheitsfront, und als Beispiel kann
ich diese verworrene, fehlerhafte Einheitsfront anführen, die unsere Französische
Kommunistische Partei durchführte,31 als sie versuchte, Verhandlungen mit dem Zen-
tralkomitee der Sozialistischen Partei Frankreichs zu führen. Und man hätte sehen
müssen, wie sich nach dem Abbruch der Verhandlungen eine, im Grunde genommen,
allgemeine Zufriedenheit in der französischen sozialistischen Partei ausbreitete. […]
Ich sage, Genossen, dass sie darauf gewartet haben und auch jetzt darauf
warten, dass wir ihnen eine derartige Antwort geben, wie wir sie bisher für gewöhn-
lich gegeben haben, mit der Auflistung aller ihrer Verrätereien angefangen mit dem
2. August 1914,32 mit Erklärungen darüber, dass es im Grunde genommen zwischen
diesen Verrätern und uns keinerlei Gespräche über eine Einheitsfront der Arbeiter-
klasse geben kann. Diese Antwort wird zweifellos die Rolle einer Bombe spielen, die
dabei helfen wird, jetzt die Basis der Arbeitermassen zugunsten einer Einheitsfront
herauszukristallisieren.
Genossen, ich gehe jetzt zu dieser Antwort über, und zuallererst zu den zwei
Hauptbedingungen, die von der Kommunistischen Internationale aufgestellt werden.
Ich werde sie vorlesen, Genossen. Dies sind die zwei Hauptbedingungen:
die Grundausrichtung einer Einheitsfront nur von unten in dem (verspäteten) Dokument nicht ver-
ändert (der Aufruf ist abgedruckt in: Weber: Die kommunistische Internationale, S. 266–269; siehe
auch Dok. 311).
30 Deutsche Führer-Briefe: Die 1928 von Edgar Alexander gegründeten Deutschen Führerbriefe war
ein regierungsnaher deutscher wirtschaftlicher und politischer Informationsdienst. Die zweimal
die Woche erscheinen Bulletins waren nicht frei erhältlich, sie wurden nur den höchsten Entschei-
dungsträgern in Industrie, Militär und Staatsapparat zugestellt. 1933 wurde das mittlerweile vom
Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht nahestehenden Franz Reuter herausgegebene Periodikum
in Deutsche Briefe umbenannt, um eine Assoziation mit Hitler zu vermeiden. Als interne, anonymi-
sierte Informationen für die große und mittlere Industrie wurden diese in Bürogemeinschaft mit der
Arbeitsstelle Schacht und dem Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT) herausgegeben. Sie zielten
auf eine friedliche, ökonomische Durchdringung und den Austausch mit den Staaten Osteuropas und
der Sowjetunion.
31 Die KPF hatte zumindest versucht einige Fühler in Richtung der Sozialistischen Partei auszustrecken.
32 2. August 1914: Die Abstimmung über die Kriegskredite fand nicht am 2. August 1914, sondern zwei
Tage später, am 4. August, statt.
Dok. 310: [Moskau], 28.2.1933 955
33 Vermutlich gebrauchte Manuilski den aus dem Französischen entlehnten Begriff „Arbeitsbörsen“
für die Unterstützungskassen.
956 1933–1939
und den sozialdemokratischen Arbeiter zu stellen sind, dann bin ich überzeugt, dass
wir es auf der Basis dieser Forderungen schaffen werden, die Sozialdemokratie zu
zerschlagen. [...]
In dieser [unserer] Erklärung ist ein Punkt enthalten, der bei vielen Genossen,
deren Meinung wir sehr in Betracht ziehen, zum Beispiel unter anderem bei unserem
Gen. Marty, Zweifel hervorruft. Und ich halte es für meine Pflicht, hier zu versuchen,
diese Zweifel aufzuklären. Dies ist der dritte Punkt, der aus dem Folgenden besteht.
Wir schreiben:
„Bei der Annahme und der praktischen Durchführung dieser zwei Forderungen
(die ich zitiert hatte) empfiehlt das Exekutivkomitee der Komintern den Komparteien,
den Vorschlag des Büros der Sozialistischen Arbeiterinternationale ‚über die Einstel-
lung gegenseitiger Angriffeʻ anzunehmen, jedoch nur für die Zeit des gemeinsamen
Kampfes gegen die Bourgeoisie, und unter der Bedingung, dass gegen jeden, der die
Bedingungen für die Vereinbarung in der Sache der Durchführung der Einheitsfront
verletzt, der unbarmherzigste Kampf geführt werden soll, wie gegen Streikbrecher,
die die Einheitsfront der Arbeiterklasse hintertreiben.“
[...] Sagt, Genossen, welcher Arbeiter wird das nicht verstehen? Welcher Arbeiter
wird, unter Bezug darauf, nicht sagen: ja, hier sagten die Kommunisten, dass sie ein
Opfer gebracht haben, sie haben auf Kritik verzichtet, wenn man aber gemeinsam in
den Krieg zieht und der Deserteur flieht, so jagt man ihm eine Kugel in den Rücken.
Sollten sich unter uns Deserteure befinden, so wird die gesamte Klassenpsycho-
logie der Arbeiterklasse instinktiv sprechen: solchen Deserteuren muss man nicht
nur Worte der Kritik, sondern eine Kugel in den Rücken jagen. [...] Unser dritter Punkt
befreit uns nicht nur nicht von der Kritik, sondern verpflichtet uns zur Kritik. Wir
würden Verrat an der Arbeiterklasse begehen, wenn wir uns von dieser Kritik befreien
würden. [...]
Was wird nun die 2. Internationale sagen? [...] Genossen, ich erkläre im Voraus,
die 2. Internationale wird diese Vorschläge nicht annehmen. Es könnten einzelne Ver-
handlungen zwischen einzelnen Zentralkomitees beginnen, sie werden jedoch sehr
bald abgebrochen. Die 2. Internationale wird diese Vorschläge über eine Organisie-
rung des Kampfes nicht annehmen, denn dies wäre die Absage der Sozialdemokratie
an sich selbst. [...]
[...] Einige Genossen sagten, dass dies im Wesentlichen eine falsche Taktik sei.
Diese drei Bedingungen seien richtig, jedoch nur richtig für die Deutschen. Sie seien
richtig für die Deutschen, weil dort jetzt im Wesentlichen die größte Gefahr durch den
Faschismus bestehe, und da dort die deutsche Sozialdemokratie geschlagen sei, sei
sie anscheinend am stärksten geneigt, auf eine Einheitsfront der Arbeiter einzugehen.
Zweitens würden diese Bedingungen am besten für die Deutschen passen, da wir dort
eine große kommunistische Partei hätten, die keine Fehler machen würde. Ich will
diese Frage beantworten. Mir scheint, dass in einer solchen Fragestellung ein gewis-
ser Kern von, milde ausgedrückt, nationaler Beschränktheit steckt. Warum? Diese
gegenwärtige Taktik ergibt sich nicht nur aus der Bewertung der Lage in Deutschland,
Dok. 310: [Moskau], 28.2.1933 957
die jetzt auf engste Weise mit der gesamten internationalen Situation verbunden ist.
Die gegenwärtige Reaktion ist nicht nur eine charakteristische deutsche Erscheinung,
sondern sie ist eine internationale Erscheinung. Der revolutionäre Aufschwung ist
nicht nur eine deutsche Erscheinung, es ist eine internationale Erscheinung. [...]
Wie können wir denn die einzelnen Sektionen der Komintern voneinander isolieren?
Diese Taktik ist auf Grundlage der internationalen Linie, auf Grundlage der Zerstö-
rung der internationalen Sozialdemokratie ausgearbeitet worden. [...]
[...] Man sagt, es gäbe junge Parteien, die Fehler machen könnten. Nun, Genos-
sen, wo könnten unsere kommunistischen Parteien sonst lernen, wenn nicht aus
Erfahrung? Wenn du schwimmen willst – ab ins Wasser. Wenn du nicht ins Wasser
kletterst, wirst du in der Badewanne das Schwimmen nicht erlernen. [...]
Ein Genosse hat sogar einen solchen Gedanken geäußert, dass er diese Taktik
verstanden hätte, wenn von der Verteidigung der deutschen Arbeiterklasse die Rede
gewesen sei, wo eine solche internationale Aktion nachvollziehbar sei. Hier ginge
es jedoch um eine Reihe ökonomischer Forderungen, die in verschiedenen Ländern
unterschiedlich ausgeprägt seien, deswegen könne eine solche Taktik keinen inter-
nationalen Charakter besitzen. Ich denke, Genossen, dass eine solche Fragestellung
zutiefst fehlerhaft ist. Denn, was bedeutet heute „verteidigen“? [...]; diese Taktik ist
die reale Hilfe an das deutsche Proletariat seitens des internationalen Proletariats.
Diese Taktik ist, da sie eine ganze Reihe ökonomischer und politischer Forderungen
umfasst, im Grunde die wirkliche Hilfe, denn dem deutschen Proletariat helfen heißt
zuallererst: kämpfe gegen die eigene Bourgeoisie, und nicht nur gegen den deutschen
Faschismus. In Frankreich ist es ja sehr leicht, gegen Hitler zu kämpfen, gegen die
eigene Bourgeoisie fällt dieser Kampf jedoch um einiges schwerer. [...]
Was gibt es aktuell Neues, Genossen? Bis jetzt haben wir einzelne Sozialdemo-
kraten gewonnen. Wir treten in eine Periode katastrophaler Einbrüche in der Sozi-
aldemokratie ein, das muss man begreifen, katastrophaler Einbrüche. Es geht jetzt
nicht darum, zwei Dutzend neuer Kommunisten zu gewinnen. Es geht darum, dass
wir innerhalb der Sozialdemokratie Minen legen müssen, die die allergewaltigsten
Erschütterungen auslösen würden und uns helfen würden, neue breite Schichten der
Arbeiterklasse innerhalb der Sozialdemokratie zu gewinnen.
Wir treten in eine Periode ein, die der annähernd ähnlich ist, die wir unmittelbar
nach dem Krieg hatten, als die Komintern gegründet wurde, als ganze Schichten der
Arbeiterklasse sich abspalteten und in unseren Zusammenschluss eingingen. Genos-
sen, dies ist eine neue, eine neue Situation, und deswegen haben wir jetzt eine so
gewinnbringende Situation, und die Sozialdemokraten befinden sich in Panik, da sie
verstehen, dass es um die Aufteilung ihres Erbes geht. Und wir haben, Genossen, dies
seit einer Ganzen Reihe von Jahren vorhergesehen. [...]
Ich denke, Genossen, dass die Vorschläge, die Euch das Politsekretariat jetzt
macht, unbedingt anzunehmen sind, denn diese Vorschläge werden uns nun helfen,
die große Aufgabe zu erfüllen, die vor uns liegt bezüglich der Eroberung der Hauptka-
958 1933–1939
der der sozialdemokratischen Arbeiter, und dies nicht nur in Deutschland, sondern
in der internationalen Arena.
Dok. 310b
Vermerk Stalins, in der sowjetischen Presse nichts über die
Drogenvergangenheit Hermann Görings verlauten zu lassen
[Moskau], 2.3.1933
[hdschr. Mechlis:] An Gen. Stalin. Erhalten aus London von unserem Korresponden-
ten. Lohnt sich der Abdruck? L. Mechlis. 2/III-33.
Pravda.
Blatt N°.....
Zusammenfassung operativer Information des lokalen Netzes der Pravda
Über Telefon
Über Telegraf
Der Daily Herald druckt auf der ersten Seite eine interessante Meldung seines Stock-
holmer Korrespondenten, wonach Göring während seines Aufenthalts in Schweden
eine längere Zeit zunächst in einer privaten Klinik für Geisteskranke, und anschlie-
ßend in einer städtischen Irrenanstalt untergebracht war.35
34 Vgl. hierzu auch den Beschluss des sowjetischen Politbüros vom 8.10.1933, wonach bei der Be-
richterstattung über den Reichstagsbrandprozess Ausfälle gegen NS-Führer zu unterlassen seien.
Siehe auch den Politbüro-Beschluss vom 13.9.1933.
35 Die hier kolportierten Meldungen werden in der Literatur nicht angezweifelt. Die Morphiumsucht
von Hermann Göring, der Nr. 2 des NS-Regimes, die infolge der Pflege nach seiner 1923 beim „Hitler-
Putsch“ vor der Münchener Feldherrenhalle erlittenen Schussverletzung einsetzte, war kein Geheim-
nis. Weniger bekannt dürfte gewesen sein, dass Göring am 1.9.1925 in die schwedische psychiatrische
Klinik Långbro (Stockholm) eingewiesen wurde, da er eine Pflegerin tätlich angegriffen hatte, nach-
dem sie ihm Morphium verweigert hatte. Die Krankheit des 1927 infolge einer Amnestie Hindenburgs
nach Deutschland zurückgekehrten Göring wird in der Historiographie nicht einheitlich zur Erklä-
rung seiner politischen Haltung und der allgemeinen Persönlichkeitsstruktur angeführt (vgl. Hein-
rich Fraenkel, Roger Manvell: Hermann Göring, Hannover, Verlag für Literatur und Zeitgeschehen,
1964, S. 52ff.; Joachim C. Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft,
München-Zürich, Piper, 2003, S. 116).
Dok. 310b: [Moskau], 2.3.1933 959
Am 3.3.1933 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion per Umfrage, das Budget des
EKKI für das laufende Jahr auf 1.700.000 Rubel und das der OMS auf auf 835.000 Rubel festzulegen.
Dies betraf nicht die Valuta-Ausgaben, deren Umfang bereits am 12.1.1933 festgelegt worden war.
Zugleich wurde das Budget der Profintern auf 1.800.000 Rubel festgelegt, davon 150.000 auf Kosten
des sowjetischen Gewerkschaftsverbands.37
36 „Langboro“: Gemeint ist der Stockholmer Stadtteil Långbro, wo sich die 1909 eröffnete psychia-
trische Klinik befand.
37 RGASPI, Moskau, 17/162/14, 78. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 686–687.
960 1933–1939
Dok. 311
Aufruf des Exekutivkomitees der Komintern zur Einheitsfront
gegen die faschistische Diktatur
Moskau, 6.3.1933
Publ. in: Pravda, 6.3.1933; LʼHumanité, 5.3.1933; Daily Worker, 6.3.1933; Rundschau, 11.3.1933. In
deutscher Sprache publ. in: Weber: Die kommunistische Internationale, S. 266–269.
Die Krise dauert fort. Die Erwerbslosigkeit nimmt unaufhörlich weiter zu. Hunger und
Elend erfassen immer neue und neue Schichten der Arbeiter. Die Offensive des Kapi-
tals nimmt immer schärfere Formen an. Die Bourgeoisie holt zum Feldzug aus gegen
sämtliche politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Arbeiterklasse.
Die faschistische Reaktion ergreift ein Land nach dem anderen. Die Errichtung der
offenen faschistischen Diktatur in Deutschland hat Millionen Arbeiter aller Länder
mit aller Eindringlichkeit vor die Frage der Notwendigkeit der Organisierung der Ein-
heitskampffront gegen die faschistische Offensive der Bourgeoisie, und, vor allem,
gegen die deutsche Bourgeoisie gestellt, die der Arbeiterklasse Schritt für Schritt alle
wirtschaftlichen und politischen Errungenschaften raubt und die Arbeiterbewegung
mit den brutalsten Terrormethoden niederzuwerfen versucht.
Das Haupthindernis auf dem Wege der Bildung der Einheitskampffront der kom-
munistischen und sozialdemokratischen Arbeiter war und ist die von den sozialis-
tischen Parteien – die heute das internationale Proletariat den Schlägen des Klas-
senfeindes ausgesetzt haben – betriebene Politik der Arbeitsgemeinschaft mit der
Bourgeoisie. Diese Politik der Arbeitsgemeinschaft mit der Bourgeoisie, bekannt
als sogenannte Politik des „kleineren Übels“, führte in Deutschland praktisch zum
Triumph der faschistischen Reaktion. Die Kommunistische Internationale und die
kommunistischen Parteien aller Länder haben wiederholt ihre Bereitschaft zum
gemeinsamen Kampf mit den sozialdemokratischen Arbeitern gegen die Kapitalof-
38 Die Pravda vermied es ausdrücklich, den „Aufruf an die Arbeiter aller Länder“ als Aufruf der Kom-
intern zu publizieren(!), in dem erstmalig – und nur vorübergehend – keine Rede mehr vom „Sozial-
faschismus“ war. Trotzki kritisierte den Aufruf scharf und sprach von einer für Deutschland und die
KPD zu spät kommenden, unter dem Druck der Sozialdemokratie ergriffenen, halbherzigen Maßnah-
me: „In der Prawda vom 6. März ist das Manifest abgedruckt nicht als direkter und offener Aufruf des
in Moskau sitzenden EKKI – wie es stets gehandhabt wurde! – sondern als von der TASS aus Paris te-
legraphisch übermittelte Übersetzung eines Dokumentes aus der ‚Humanité‘!!! Welch sinnloser Kniff!
Nach allen Erfolgen, nach der Erfüllung des ersten Fünfjahresplanes, nach der ‚Vernichtung der Klas-
sen‘, dem ‚Eintritt in den Sozialismus‘ wagt es die Stalinsche Bürokratie nicht mehr, einen Aufruf des
EKKI im eigenen Namen zu veröffentlichen! So sieht ihre wirkliche Haltung zur Komintern aus und so
fühlt sie sich in Wirklichkeit in der internationalen Arena.“ (Leo Trotzki: Portrait des Nationalsozialis-
mus. Ausgewählte Schriften 1930–1934, Essen, Mehring Verlag, 1999, S. 295f.).
Dok. 311: Moskau, 6.3.1933 961
39 Das Büro der Sozialistischen Arbeiter-Internationale erließ am 19.2.1933 den Aufruf „An die Arbei-
ter der ganzen Welt“ als Reaktion auf den Machtantritt der NSDAP. Hierin forderte sie die „einheitliche
Aktion der gesamten Arbeiterklasse auf Grund ehrlicher und offener Verständigung“ und verurteilte
den „Bruderkrieg“, der der „stärkste Bundesgenosse des Faschismus“ sei und forderte dazu auf, „die
gegenseitigen Angriffe einzustellen“. Die hier veröffentlichte Antwort erfolgte mehr als 14 Tage später
(!) – nach dem Reichstagsbrand – am 5.3.1933 und stellte eine nur halbherzige Öffnung der Komintern
dar, die auf das Angebot auf Spitzenverhandlungen überhaupt nicht einging (siehe: Julius Braunthal:
Geschichte der Internationale, vol. 2, S. 410f.; vgl. Werner Kowalski (u.a.) (Hrg.): Geschichte der So-
zialistischen Arbeiter-Internationale (1923–1940), Berlin (-Ost), Deutscher Verlag der Wissenschaften,
1985, S. 178ff.
962 1933–1939
Proletarier aller Länder, vereinigt euch zum Kampf gegen Kapitaloffensive und
Faschismus!
40 Das Büro der SAI empfahl bis zur Entscheidung der Exekutive, vorerst nicht individuell mit einzel-
nen kommunistischen Parteien Einheitsfrontverhandlungen zu beginnen. Die am 18. und 19.3.1933 in
Zürich tagende Exekutive wandte sich “daher neuerdings an die Kommunistische Internationale und
fordert sie auf, die grundlegende Frage – nach Spitzenversammlungen – die gestellt wurde, zu beant-
worten. Sie verlangt von den der SAI angeschlossenen Parteien, sich aller Sonderverhandlungen zu
enthalten, solange nicht Verhandlungen zwischen den beiden Internationalen tatsächlich zustande
kommen.“ (Internationale Information, 31.3.1933. Zit. in: Braunthal: Geschichte der Internationale,
vol. 2, S. 412). In der Pravda wurde dafür bereits vorher die „feige Kapitulation der Sozialdemokratie
vor dem Faschismus“ denunziert (Pravda, 6.3.1933, zit. in: Ibid., S. 412).
41 Wie es um die Ernsthaftigkeit des Aufrufs der Komintern bestellt war, zeigt Paul Försterling, der
sich als Instrukteur der Komintern bzw. der KJI zu dieser Zeit in Deutschland aufhielt. Er sagte später
im EKKI: „Keiner der Funktionäre hat diesen Aufruf der Komintern gekannt. Sie waren mehr über-
rascht und erfreut, dass ein solches Angebot gemacht wird. Wenn aber die Funktionäre es nicht wis-
sen, wie können sie unter den sozialdemokratischen Arbeitern damit Agitation treiben?“ (Vgl. Dok.
314).
Dok. 312: [in Spanien], 7.3.1933 963
Dok. 312
Geheimbrief von Neumann an Remmele über die
„Thälmann-Bande“
[in Spanien], 7.3.193342
7.III[. 1933]
Lieber Alter!43 Wir sind vor Freude bis an die Decke gesprungen, als wir hörten, daß
die Mitteilung von Deiner schweren Erkrankung falsch war. Es ist herrlich, daß Du bei
so guter Gesundheit bist und endlich die Früchte für uns alle ernten kannst. Ebenso
mein lieber Schwager W.44
Ich habe nur eine einzige Bitte an Dich: Mache endlich Schluß mit Deiner ver-
fluchten, unbegreiflichen Passivität und Zurückhaltung, die alles verdirbt und
erwürgt. Begreife doch, um was es geht und welche ungeheure, geradezu geschicht-
liche Verantwortung Du persönlich jetzt trägst. Es geht wirklich darum, die Rolle von
Karl L[iebknecht] und nicht von Hugo Haase zu spielen.45 Mache sofort Schluß mit der
lammsmäßigen Geduld, mit dem Schweigen und Allem-Zustimmen.
Ich mute Dir keine Unvorsichtigkeit und Husarenstücke zu. Aber drei Dinge
mußt46 Du machen: 1.) nach drüben [d.i. Moskau] protestieren, 2.) in der Körperschaft
[d.i. die KPD] abgrenzen, 3.) Mittelgruppe zu uns herüberreißen.
Vor allem verlange: sofort nach drüben [nach Moskau] zu kommen, um dort spre-
chen zu können.47
Fallt nur nicht darauf herein, wenn die [Thälmann-]Bande sich mit den 4,7
M[illionen Stimmen bei den Reichstagswahlen] „retten“ will. Das zeigt nur, wie glän-
zend die Masse ist, was man hätte tun können und was man noch tun muß.48
Bei allen kominternfeindlichen Äeußerungen: sofort protokollieren und herüber-
schicken.49
Ich habe festes Vertrauen zu Dir und weiß, daß Du Karl [Liebknecht] (nicht Hugo
[Haase] oder, was noch übler ist, Leo [Trotzki]) sein wirst.
Herzl. Grüsse50
Für Dich und Anna51
Grete [d.i. Margarete Buber-Neumann].
Dok. 312a
Brief von Max Hoelz an Pjatnitzki mit der Bitte um seine
Abkommandierung nach Deutschland
Moskau, 7.3.1933
Genossen Piatnizki
Komintern.
Lieber Genosse,
Genosse Kahan sagte mir heute,52 dass Genosse Manuilski zur Zeit nicht in die Kom-
intern kommt, da er mit einer besonderen Arbeit (Vorbereitung des Marx-Vertrag
[Vortrag])53 beschäftigt ist. Ich wende mich deshalb an Dich, mit der Bitte, mir zu
helfen, dass ich eine Komandierung [sic] nach Deutschland bekomme. Ich bin gern
bereit, eine ganz kleine, d.h. niedrige Arbeit zu verrichten und mich ganz streng an
die mir erteilten Weisungen zu halten. Aber es ist mir unmöglich – bei der jetzigen
Lage in Deutschland – hier in der Sowjetunion zu bleiben. Man muss sich schämen
vor dem einfachsten Arbeiter hier. Ich schäme mich, überhaupt auf die Strasse zu
gehen. Was soll ich denn antworten auf die täglichen Fragereien, warum ich mich
hier in der Sowjetunion herumdrücke, anstatt in Deutschland zu arbeiten.
Werter Genosse Pjatnizki, ich bitte Dich ganz dringend und ernsthaft, hilf mir,
das [sic] ich eine Komandierung [sic] nach Deutschland erhalte.
Morgen hole ich mir die Antwort von Dir.54
Rot Front
[Sign.:] Max Hoelz
52 Es ist unklar, um welchen „Genossen Kahan“ es geht. Es könnte sich um Boris Kagan, Kassierer
der EKKI-Finanzabteilung, oder den EKKI-Instrukteur Georges Kagan handeln.
53 Manuilski war Hauptredner auf den Feierlichkeiten zum 50. Todestag von Karl Marx im Moskauer
Bolschoi-Theater am 14.3.1933. Siehe hierzu den Politbürobeschluss der VKP(b) vom 8.3.1933.
54 Hoelz war 1929 auf Einladung in die Sowjetunion emigriert und wurde als großer revolutionärer
Führer dargestellt. Der am 15.9.1933 angeblich in der Oka ertrunkene Tatmensch könnte auch ein frü-
hes Opfer der Säuberungen durch das NKVD gewesen sein; er wurde später als Mitglied zur „konter-
revolutionären, terroristischen, trotzkistischen“ Verschwörergruppe um Erich Wollenberg und Zenzl
Mühsam gezählt (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 384). Nachdem bereits das ZK der KPD
vor einer Rückkehr Hoelz’ nach Deutschland gewarnt hatte, wurde seine „Affäre“ am 21.1.1933 im Po-
litsekretariat behandelt; die dort getroffene höchstwahrscheinlich negative Entscheidung wurde ihm
am 23.1.1933 von Manuilski mitgeteilt, was seine Rückkehrbereitschaft nach Deutschland jedoch offen-
sichtlich nicht beeinflusst zu haben scheint (siehe: Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch,
Datenbank; Vatlin: Kaderpolitik, S. 55–56).
966 1933–1939
Am 8.3.1933 beschloss das russische Politbüro – auf Vorschlag von Vorošilov – umfangreiche Ankäufe
von Waffen und Technik in faschistischen und nationalsozialistischen Staaten, darunter U-Bootstech-
nik in Deutschland (bei JVS) sowie Schiffstechnik in Italien.55
Ebenfalls am 8.3. beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über die Feierlichkeiten zum 50.
Todestag von Karl Marx. Es wurde beschlossen, am 14.3.1933 im Bolschoi-Theater eine Versammlung
des ZK und der ZKK der VKP(b), des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare
der UdSSR, des Exekutivkomitees der Komintern und des Moskauer Komitees der VKP(b) einzuberu-
fen. Die organisatorische Vorbereitung wurde Genrich Jagoda und Aleksej Steckij aufgetragen. Dmit-
rij Manuilski sollte einen Vortrag über Marx halten, Vladimir Adoratskij über die aktuelle Marx-For-
schung berichten. Für den 16.–17.3.1933 wurde beschlossen, eine entsprechende Vorlesungsreihe an
der Kommunistischen Akademie abzuhalten. In der Presse sollten verstärkt Artikel zum Marxismus-
Leninismus platziert werden, wobei „oberflächliche und vulgarisierende“ Artikel strikt zu vermeiden
seien.56
Dok. 314
Redebeiträge von Sepp Schwab, Hermann Köhler, Manuilski und
Pjatnitzki zur Lage der KPD nach dem Reichstagsbrand
Moskau, 15.3.1933
Stenogramme
zum Protokoll Nr. 299 der Politkommission des Pol[it-]Sekr[etariats] vom 15.III.1933.
Zur deutschen Frage.58
Genosse Schwab:
[...] Wie ist die Lage in den unteren Organisationen? [...] Wir haben selbst Sitzungen
der U[nter]-B[ezirks]L[eitungen] Berlin gesehen und man erzählte uns, dass heute
Demonstrationen durchgeführt werden, wie sie durchgeführt werden. Sie sind nicht
zahlreich, es sind hauptsächlich Kaderdemonstrationen. Etwa 30 bis 40 Mann mar-
55 RGASPI, Moskau, 17/162/14, 79–80; APRF, Moskau, 3/64/639, 128. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-
Berlin, III, Dok. 2.
56 RGASPI, Moskau, 17/3/917, 12. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 687–688.
57 Stempel: „unkorrigiert“. Alle Redebeiträge sind als „Streng vertraulich“ betitelt. Im digitalen Por-
tal Comintern Online unzutreffende Datumsangabe zur Bezeichnung der Aktenmappe (15.8.1933).
58 Zur deutschen Frage: Teilnehmer an der Aussprache in der Politkommission des EKKI waren:
Sepp Schwab (1897–1977), der als Referent im Mitteleuropäischen Ländersekretariat des EKKI nach
Deutschland geschickt wurde, dann jedoch in Moskau blieb, und „Köhler“ (vermutlich Paul Förster-
ling, der 1931–Juni 1933 als Mitglied des Exekutivkomitees der KJI auch in Deutschland war) als Be-
richterstatter sowie Fritz Heckert, Manuilski, Knorin, Pjatnitzki, Kuusinen, Lozovskij, Gallo (Ps.), d.i
Luigi Longo und Serafima I. Gopner.
Dok. 314: Moskau, 15.3.1933 967
schieren auf dem Bürgersteig und treffen sich plötzlich in der Strassenmitte, marschie-
ren vorwärts einige hundert Meter, schreien Parolen und gehen dann ganz schnell aus-
einander. Einige 3 bis 4 Genossen gehen auf die Höfe, schreien kurz 3 bis 4 Parolen und
verschwinden dann schnell wieder. Auf diese Weise wird die Agitation durchgeführt.
Natürlich ist alles ungenügend. Wir haben auch darüber gesprochen, insbesondere
wie steht die Frage. Unmittelbar nach der Verhaftung Thälmanns59 sind Handzettel
herausgegeben worden, wurden Losungen an die Wände gemalt, [mehr?] konnten wir
weiter von der Leitung nicht erfahren. Genosse Köhler hat sehr eingehend gefragt,
aber man hat ihm keine Antwort geben können, die Genossen waren nicht im Bilde.
Noch auf eines will ich aufmerksam machen; die Stimmung in unserer eigenen
Mitgliedschaft. Hier muss man sagen, es herrscht eine Erbitterung. Die Genossen
sagen offen, man hat seitens der Führung teilweise gebremst in den vergangenen
Monaten und Wochen, heute muss man sich wehrlos verhaften lassen. In Wedding
hat man Waffen in die Panke60 geworfen und erklärte, warum soll man mit den Nazis
kämpfen, man muss damit rechnen. – Und wenn Schiessereien waren, sagten die
Leute: Bevor wir uns wehrlos den Nazis aussetzen, sterben wir lieber im offenen
Strassenkampf. [...] Das ist so etwa die Stimmung, die ich in Berlin gefunden habe.
Wir haben uns bemüht, ein getreues Bild zu bekommen und haben versucht, Ver-
bindung mit den Arbeitern in den Betrieben zu bekommen. Aber das ist uns nicht
gelungen [...].
Genosse Köhler
Ich will euch einige Worte über den Eindruck sagen, den ich von Berlin bekommen
habe. Berlin gleicht nicht nur einer durch eine fremde Macht besetzten Stadt, sondern
Berlin schäumt und tobt jetzt im Nationalchauvinismus. Und davon ist das Strassen-
bild, die ganze Öffentlichkeit beherrscht. Dieser Nationalchauvinismus tobt sich in
leersten und dümmsten Phrasen aus, die man wirklich nur anführen kann. Das sind:
Rettung Deutschlands; der Tag der deutschen Nation ist angebrochen; Phrasen von
Deutschlands Ehre, Deutschlands Ruhm, Deutschlands Grösse. [...]
Aber das Typische ist, dass die Masse schweigt, dass sie stumm ist und weggeht.
Ich habe so den Eindruck gehabt bei diesen Gruppen, die da herumstehen, dass man
wartet, dass man auftreten wird, dass man irgendeine Parole gibt, einen Gegendruck
zu machen. Auch die Schiessereien, die noch stattfinden in den letzten Tagen sind
vereinzelte Aktionen, Arbeiter, die sich gegen die Faschisten verteidigen, sie sind
nicht mit Massenaktionen verbunden. Genosse Scheer [d.i. Schehr] erklärte, dass
das auf Anraten des ZK erfolgt sei. Genosse Thälmann soll, bevor er verhaftet worden
sei, erklärt haben: Gebt die Waffen frei, sagt den Arbeitern, sie sollen sich mit allen
Mitteln verteidigen, wenn sie dazu imstande wären. Wir erklärten, das sei ganz gut,
aber dies könne nicht die Massenbewegung ersetzen.
61 Trotz ihres antifaschistischen Anspruchs machte die Komintern den niederländischen Rätekom-
munisten und Antifaschisten Marinus van der Lubbe (1909–1934, in Leipzig enthauptet) nach dem
Beispiel der Nationalsozialisten zum Haupttäter. In seinem vielfach angezweifelten Geständnis vor Ge-
richt gab van der Lubbe selbst, der wohl von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde, jedoch
technisch-logistisch den Reichstag nicht allein angezündet haben konnte, als Motiv für seine Allein-
schuld an, die deutsche Arbeiterschaft zum Widerstand gegen die kapitalistische Herrschaft und die
faschistische Machtergreifung aufzurufen. Nach dem Todesurteil wurde er 1934 wegen „Hochverrats in
Tateinheit mit vorsätzlicher Brandstiftung“ aufgrund der ungesetzlichen Reichstagsbrandverordnung
mit dem Fallbeil hingerichtet (zu den Quellen und zum Stand der Debatten um die Alleinschuldthese
siehe: Alexander Bahar, Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird. Mit Doku-
menten, Berlin, Edition q., 2001; siehe ausführlicher Dok. 324a).
62 Am 1.3.1933 wandte sich das ZK der KPD „in derselben Linie zur Herstellung der notwendigen ein-
heitlichen Kampffront gegen den faschistischen Terror“ zum zweiten Mal an die Vorstände von SPD
und ADGB mit dem Vorschlag, gemeinsam den Generalstreik auszurufen. Das bisher weitgehendste
Angebot wurde jedoch abgelehnt (siehe: Weber/Wachtler: Die Generallinie, S. 677; Bahne: Die KPD in
Weimar, S. 34ff.; Matthias: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, S. 101ff.).
63 D.i. Franz Künstler (1888–1942), Berliner SPD-Vorsitzender, nach dem SPD-Verbot verhaftet und in
das SA-Lager Oranienburg gesteckt.
Dok. 314: Moskau, 15.3.1933 969
Was habt Ihr unternommen, damit dieses Einheitsfrontangebot der Masse bekannt
wird. Er antwortete: Wir haben das Einheitsfrontangebot nachmittags gemacht. Aber
da konnten wir es nicht drucken. Am zweiten Tag früh hatten wir erst Verbindung
mit der Druckerei. Was dann mit den Flugblättern geschehen ist, wissen wir nicht.
Ob diese Flugblätter an die Arbeiterschaft herausgekommen sind, konnten wir nicht
feststellen. Aber entscheidend ist: Dass verantwortliche Funktionäre nichts davon
wussten. Das zeigt, wie schwach unsere Verbindungen sind.
Der Aufruf der Komintern zur Einheitsfront:64 Keiner der Funktionäre hat diesen
Aufruf der Komintern gekannt. Sie waren mehr überrascht und erfreut, dass ein
solches Angebot gemacht wird. Wenn aber die Funktionäre es nicht wissen, wie
können sie unter den sozialdemokratischen Arbeitern damit Agitation treiben?
Die letzte Frage, um zu zeigen, wie schlecht wir unsere Parolen hinunterbringen.
Bei der Verhaftung von Thälmann hat sich in den Betrieben nichts gerührt. [...] Ich
habe einen genauen Bericht über die AEG-Ackerstrasse bekommen. Unser Betriebs-
rat hat wirklich versucht, etwas zu unternehmen. Es wurden Flugblätter hergestellt,
im Betrieb verbreitet mit der Aufforderung, einen kurzen Demonstrationsstreik, Pro-
teststreik gegen die Verhaftung von Thälmann durchzuführen. Was ist geschehen?
Die Belegschaft hat abgelehnt: ein Streik hat keinen Zweck. Was können wir retten?
Thälmann ist sowieso verhaftet. Und wenn wir jetzt streiken, fliegen wir nur aus dem
Betriebe heraus. Das war die allgemeine Stimmung in dem Betrieb. Und dann noch
ganz schlimme Stimmungen: wir werden die ganze Woche verhaftet, die ganze Woche
schlägt man uns, und wenn mal ein Bonze verhaftet wird, schadet es auch nichts.
Man soll auch mal Bonzen verhaften. [...]
Man muss alle Schwierigkeiten sehen, Genossen, um dann ein richtiges Urteil
abzugeben. Aber diese ganzen Geschichten haben auch die Schwächen unserer Partei
offenbart. 1. Unser illegaler Apparat hat nicht die genügenden Fähigkeiten bewiesen
und war zu schwach, zu sichern die Partei. Man muss auch sagen, dass der Apparat
einen Monat vorher [aus]gewechselt worden war, da verschiedene Verrätereien vor-
handen waren.65 Vielleicht hängt das auch damit zusammen. [...]
Genosse Manuilski:
Ich glaube, Genossen, dass man die Situation in Deutschland richtig einschätzen muss,
ohne diese deprimierenden Stimmungen, die jetzt sehr gefährlich sind, nicht nur für
die deutsche Partei, sondern auch für die Kommunistische Internationale. Ich glaube,
dass alles, was die Genossen hier erzählt haben, absolut richtig ist. Ich bin sicher, dass
jeder von uns, wenn er jetzt nach Deutschland geht, wenn er nur mit einem Arbeiter
spricht, wenn er das Strassenbild sieht, dieselbe Einschätzung geben wird, und ich
will hier keineswegs die Berichte kritisieren. Ich glaube, dass Sie richtig getan haben,
anstatt einer Analyse der ökonomischen und politischen Lage das zu geben, was Sie
gesehen haben. Aber ich glaube, dass wir durch dieses Bild sehen sollen, was wirklich
in Deutschland vorgeht, um eine richtige Einschätzung zu geben. [...]
Diese Hysterie auf den Strassen – das ist selbstverständlich. [...] Aber ich glaube
nicht, dass es eine solche Hysterie in den Arbeiterbezirken gibt. [...]
Zweitens kann man diese Stimmung, diese Hysterie vergleichen mit dem, was
wir während des Krieges erlebt haben. Das ist ganz dasselbe. Wenn morgen die Fran-
zosen in den Krieg eintreten werden, werden Sie diesselbe Hysterie sehen. [...] Wir
werden eine solche Hysterie immer im Moment einer grossen Umwälzung sehen und
wir gehen gerade zu dieser Umwälzung. Wir gehen gerade im internationalen Mas-
stabe zu dieser Umwälzung. [...]
Oder fragen Sie die italienischen Genossen. Dort ist es dasselbe. Das ist der
grösste Schlag gegen unsere Partei, gegen unsere Bewegung. Aber ich bin sicher, das
ist auch eine Härtung der Partei, weil hier die schwachen Elemente, die schwanken,
weglaufen werden, und wir werden den Kern erhalten, der absolut notwendig ist. Wir
werden die Lage der Partei noch in einer geschlossenen Sitzung besprechen. [...]
Was soll man machen? Die wichtigste Aufgabe ist jetzt, im Zusammenhang mit
dieser Ruhe und Kaltblütigkeit der Partei, unsere Partei umzubauen. Gerade auf
Grund dieser Tatsache, dass einige Elemente weggehen werden, soll man unsere
Partei jetzt umbauen auf eine illegale Basis. Das ist die wichtigste Aufgabe, die vor der
Partei steht. Seit Jahren haben wir geschrieben, besonders Genosse Piatnitzky, dass
wir in Deutschland unsere Partei auf die Illegalität umbauen müssen [...]66 Gerade
jetzt bei dem Umbau der Partei auf die Illegalität muss man die Frage der Umstellung
der Partei auf die Betriebe stellen, natürlich auch auf die Erwerbslosen usw. Aber die
Betriebe soll man ausnutzen, um unsere Partei umzubauen. [...]
4. Wir sollen alle Möglichkeiten ausnutzen. Man kann nicht sagen, dass der
Boden für den Massenstreik günstig ist. Jetzt müssen wir auf Grund kleinerer Forde-
rungen der Arbeiterklasse diese ökonomischen Kämpfe entwickeln, die verschiede-
66 „Man kann davon ausgehen, daß erste Illegalitätsvorbereitungen (...) eingeleitet waren. Aber von
einem umfassenden Programm zur Umstellung der KPD auf die Illegalität zur Überführung in den
politischen Untergrund kann nicht gesprochen werden. Auch wird bei der Umsetzung und Ergänzung
der Überlegungen und Maßnahmen nach der Installierung der Hitlerregierung ersichtlich, daß selbst
richtige Orientierungen für den Schutz der Kader zu einseitig blieben, die Abwehrarbeit insgesamt
unterentwickelt war.“ (Sassning: Die Verhaftung Ernst Thälmanns, 1, S. 43). Wenn auch die KPD sich
seit 1928 verstärkt auf ein eventuelles Parteiverbot vorbereitet hatte, und mit dem RFB bereits eine
„illegale Massenorganisation“ hatte, war sie auf das Ausmaß des NS-Terrors keineswegs vorbereitet.
Eine systematische Informierung der Mitglieder über Regeln und Techniken der Konspiration erfolgte
erst wenige Tage vor dem Reichstagsbrand. Zudem wirkte der taktische Schritt der Hitlerregierung,
die KPD zunächst nicht zu verbieten, auf die Funktionäre verwirrend und hemmend (siehe Peukert:
Die KPD im Widerstand, S. 71–78).
Dok. 314: Moskau, 15.3.1933 971
Gen. Piatnitzky:
Die Lage in Deutschland war, bevor dieser Umsturz war, wirklich katastrophal. Nicht
nur nicht bei den Arbeitern, auch bei den Angestellten, bei den Bauern war keine
Perspektive. Was soll nun weiter sein? Die Lage hat sich verschlechtert sowohl für die
Arbeiter als auch die Arbeitslosen, auch für das Kleinbürgertum und einen grossen
Teil der Bauernschaft. Die deutsche Partei hat nicht die Frage der Uebernahme der
Macht gestellt. Sie konnte nicht sofort die Frage der Uebernahme der Macht stellen.
Die Nationalsozialisten haben allen versprochen, was sie gerade brauchen [....].
Es wäre gut möglich, einen solchen Terror auszuüben in einem solchen Kultur-
land wie Deutschland, ohne auf ihrer Seite zu haben die Sympathien erheblicher
Teile der Bevölkerung. Man kann nicht sagen, dass nur die Terrormassnahmen nicht
die Möglichkeit gegeben haben, gegen diesen Terror zu protestieren.
Wird es lange dauern? Ich bin einverstanden mit Knorin, dass das nicht lange
möglich ist. Sie können den breiten Massen nichts geben. Eine proletarische Regie-
rung hätte den Massen etwas geben können. [...]
Die Partei hat zwei Illegalitäten vor sich gehabt in Deutschland. 1919 bei Spar-
takus und 1923. Wenn wir 1923 nehmen, so war das ein Kinderspiel. Das war keine
Illegalität. Man könnte darüber lachen. Ich habe das Glück gehabt, 23 bis 4 Monate zu
67 Der deutsche Kommunist Max Maddalena (1895–1943) arbeitete zu dieser Zeit im europäischen
Apparat der Roten Gewerkschafts-Internationale in Moskau.
68 Eierfrage: Im Gesamtkontext der Autarkiebestrebungen und der Neuordnung der Landwirtschaft
nach 1933 hatte die Regierung Hitler hatte u.a. die Eierpreise erhöht.
69 Keine Verhaftungswelle unter leitenden Funktionären: Es trifft zwar zu, dass 13 der 15 Politbüro-Mit-
glieder und -Kandidaten zunächst der Verhaftung entkamen (Herbst: Kommunistischer Widerstand).
Auf mittlerer und unterer Funktionärsebene waren die Verluste jedoch enorm. Bereits im Februar 1933
rissen die Verhaftungen, so Peukert, „erhebliche Lücken in die Leitungsstruktur der KPD“ (Peukert:
Die KPD im Widerstand, S. 83). Im März intensivierten sich die Festnahmen. Anfang Juni 1933 waren
bereits 17 von 22 Bezirksleitungen verhaftet (Ibid., S. 83–89; Herbst: Kommunistischer Widerstand).
972 1933–1939
der Zeit in Deutschland zu sein.70 Wir haben gesehen, hätte die Polizei wirklich den
Versuch gemacht, wirklich Verhaftungen durchzuführen, sie hätte alle Abgeordneten
des Reichstages und Landtages festnehmen können. [...] 1919 war es auch so, da hat
die revolutionär gestimmte Arbeiterschaft uns versteckt, uns gestützt. Das Vorbild der
deutschen Genossen hat gezeigt, dass eine solche Lage und ein solcher Terror nicht
eintreten wird und das hat dazu geführt, dass wir in [Sachen] Illegalität [nur] gespielt
haben. Und so hat alles versagt. Die Mehrheit hat versagt. [...]
Das ist doch kein Zufall, dass der Führer der Partei [d.i. Ernst Thälmann], den alle
suchen werden, 3 Jahre lang eine Wohnung gehabt hat, wo Dutzende von Genossen
da waren, und noch dazu eine Wohnung bei einem Funktionär der Partei. Das ist
doch kein Zufall!71 [...]
Das ist doch keine Illegalität, die wir jetzt gemacht haben! Sie haben sich so ver-
steckt, dass nicht nur die Polizei, sondern auch die Arbeiterklasse sie nicht findet.
Das ist doch keine Illegalität! Das ist schon ein Verbrechen! [...]
Man muss solche Genossen aussuchen, die schon illegale Arbeit gemacht haben.
Nicht illegale Arbeit, wie es 1919 und 1923 in Deutschland war, sondern wirklich in
der Reaktion, und Beihilfe leisten. Ich glaube nicht, dass die deutschen Genossen das
werden machen können. Ich werde froh sein, wenn sich herausstellt, dass ich über-
treibe. Vielleicht werden die Tatsachen zeigen, dass ich übertreibe. Ich habe soviel
Sünden; auf eine mehr kommt es nicht drauf an. [...]
Das sind Parolen, die wir herausgeben müssen. Und die Hauptparole: Nieder mit
der Hitler-Regierung. Für die Arbeiter- und Bauernregierung. Jetzt muss diese Parole
überall sein. – Kleinarbeit machen! Und wirklich muss die Arbeiterklasse spüren,
dass eine Führung der Kommunistischen Partei da ist. In solchen Momenten ist diese
Führung mehr nötig als in jeder anderen Zeit.
Jetzt zuletzt über die Methode unserer Führung. Was ist bis jetzt gewesen? Wir
haben viele Depeschen geschickt. Wir haben Leute instruiert. Wir haben Reden gehal-
ten, diese Reden gedruckt und – die Parteien haben nichts getan oder sehr wenig.
Lesen Sie alle unsere Beschlüsse! Hätte die deutsche Partei die Hälfte durchgeführt,
hätte ein solcher Zustand nicht kommen können! Wie war es? Über die Arbeitslosen!
70 In Deutschland zu sein: Diese überraschende Äußerung Pjatnitzkis über seinen Aufenthalt in
Deutschland ließ sich bisher aus den Dokumenten zum „Deutschen Oktober“ nicht erschliessen.
71 Am 3.3.1933 sollte in der Wohnung Thälmanns in der Lützowerstr. 9 in Berlin-Charlottenburg ein
Treffen seines persönlichen Stabes stattfinden. Werner Hirsch war bereits eingetroffen, Erich Bir-
kenhauer, Alfred Kattner und ein spezieller Emissär (vermutlich Sepp Schwab) aus Moskau sollten
ebenfalls kommen. Stattdessen kam die Schutzpolizei und Thälmann, der sich weigerte, die illegale
Wohnung zu wechseln, wurde verhaftet. Schwab konnte das für Thälmann bestimmte Schriftstück
aus Moskau nur noch Jonny Schehr, dem „operativen Nachfolger“ des verhafteten Thälmann, sowie
Dimitrov übergeben; eine Abschrift zur Veröffentlichung erhielt auch Gyula Alpari. Über zehn Jahre
blieb der Führer des deutschen Kommunismus – auch während der Laufzeit des deutsch-sowjeti-
schen Freundschaftspaktes – in Haft, wo er im August 1944 ermordet wurde (siehe: Sassning: Die
Verhaftung Ernst Thälmanns, S. 7ff.).
Dok. 314: Moskau, 15.3.1933 973
Wieviel hat man geschrieben und gesprochen. Nichts ist unternommen worden. Die
Faschisten haben jetzt die Arbeitslosen oder einen grossen Teil dieser Arbeitslosen.
Wieviel Konferenzen waren über diese Frage und über die Arbeit im Betrieb. Man hat
uns doch belogen! Eine Partei von 300.000 Mitgliedern hat nicht die Möglichkeit, den
Kampf in den Betrieben gegen die Verhaftung des Führers der Partei aufzunehmen!
(Zwischenruf Gen. Wassiljew: Es gibt nur 10% Parteimitglieder in den Betrieben!)
Wir haben doch noch die RGO-Leute, wir haben doch 15 Massenorganisationen.
Die haben doch auch Mitglieder. In Berlin kann man auf den Strassen für den Sarg
von Thälmann sammeln, wo wir noch jetzt 700.000 Stimmen bekommen haben, also
Leute, die mit uns sympathisieren! Man hat sie nicht aufrütteln können. Warum? Wo
ist die Organisation? Kann man denn das zulassen, was jetzt in Deutschland war?
Man spricht so viel von Illegalität. Man hat in Wien das Parlament ausgeschaltet. Es
ist eine Lage dort entstanden, wo unsere Leitung jeden Tag hätte erwarten können, dass
man die Partei verbietet. Alle die führenden Genossen waren zuhause, nach dem, was
in Deutschland geschehen ist. Wo sind unsere Leitungen dort? Ich weiss nicht.
Was wird morgen in Frankreich, in der Tschechoslowakei sein, wenn man die
Partei wird ohne Führung lassen. Es muss doch etwas unternommen werden. Es kann
doch nicht so weiter gehen. Wir müssen die Frage stellen, wirklich die Beschlüsse
durchzuführen und vielleicht weniger Beschlüsse fassen, aber dafür sorgen, dass sie
wirklich durchgeführt werden. Das ist die Frage, die man behandeln und sehen muss.
Das kann so nicht weiter gehen. Es kann doch nicht so weitergehen.
974 1933–1939
Dok. 315
Telegramm des ZK der KPD an Pjatnitzki über Finanzfragen
[Berlin], 16.3.1933
72 Handschriftliche Anmerkung: „An Gen. Dobrovol’skaja. Lesen Sie diesen Brief und sagen Sie,
worin der Kern dieser Sache besteht. Pjat[nitzki].“ Dem Brief liegt eine einseitige russische Zusam-
menfassung des Textes bei (RGASPI, Moskau, 495/19/81, 1). Agnessa Dobrovol’skaja (1895–1938?) war
1931 bis 1935 die persönliche Sekretärin Pjatnitzkis.
73 Schreiben des ZK: Dabei könnte es sich um einen chiffrierten Brief von „K.“ an die Budgetkommis-
sion des EKKI vom 21.3.1933 handeln (siehe: RGASPI, Moskau, 495/19/81, 13–13v), der Ausführungen
über den Finanzbericht für das Jahr 1932 enthält. Hier geht es um Größenordnungen der Gesamt-
„Bilanzierung. Allein die Präsidentenwahlkampagne erforderte 623.000 Mark.
74 Die Presse- und Versammlungstätigkeit der KPD wurde bereits mit der „Reichstagsbrandverord-
nung“ vom 28.23.1933 verboten, das faktische Parteiverbot erfolgte jedoch erst mit der Einziehung des
Parteivermögens am 26.5.1933. Die KPD-Führung war derweil auf ein nicht erfolgendes Verbot fixiert.
Das SPD-Verbot folgte am 22.6.1933, das Verbot der BVP am 3.7.1933.
Dok. 315: [Berlin], 16.3.1933 975
noch in beschränktem Masse zur Verfügung stehen wird, sind Abführungen aus den
Geschäftsunternehmungen,75 die ca. 50.000 Mark monatlich betragen und ausschliess-
lich dem ZK zugeflossen sind. Aber nicht nur die vom bürgerlichen Staatsapparat direkt
zu beeinflussenden Einnahmen werden sich ändern sondern auch unsere entschei-
dende revolutionäre Finanzgrundlage: Einnahmen aus Beiträgen und Sammlungen.
Einnahmen aus Beiträgen werden im gesamten Masstabe, zumindesten in der ersten
Zeit, zweifellos zurückgehen. Andererseits muss selbstverständlich alles aufgeboten
werden, um durch umfassende Massenmobilisierung den Erlös der regelässigen Samm-
lungen derartig zu steigern, sodass damit überhaupt die Durchführung der wichtigsten
Arbeiten finanziell gesichert wird. Dabei kann naturgemäss die Verteilung der Anteile
an die einzelnen Organisationseinheiten den veränderten Bedingungen entsprechend
immer in der bisherigen Weise gemacht werden.
Ebenso wie Einnahmen werden auch die Ausgaben gegenüber dem bisherigen
Voranschlag wesentliche Veränderungen erfahren. Die Zentralen Instanzen werden
durch Reduzierung des Angestelltenapparates erhebliche Einsparungen an Gehältern
machen. Demgegenüber stehen allerdings gerade hier auch wieder infolge des ver-
schärften faschistischen Terrors insbesondere für Herstellung illegalen Druckmateri-
als ganz bedeutende Mehrausgaben. Es ergibt sich also die Notwendigkeit, die Finan-
zierungsmöglichkeiten unserer zukünftigen Arbeit zu überprüfen.
Wir sind der Ansicht, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen das Hauptge-
wicht unserer gesamten Finanzierung so weit wie möglich nach unten in Zellen und
Ortsgruppen gelegt werden muss. Unsere Zeitungen sind verboten, müssen also in
gesteigertem Masse durch illegale Betriebs- und Hausblock-Zeitungen ersetzt werden,
da die Herausgabe Zentraler Flugblätter und Broschüren immer schwieriger wird.
An diese Stelle muss selbst hergestelltes Material der unteren Einheiten treten. Die
Auslösung von Aktionen und Streiks darf unter keinen Umständen an finanzieller
Schwäche der Betriebe scheitern. Unsere Finanzpolitik muss deshalb auf breitester
Initiative von unten basieren. Um das zu erreichen, wird vorgeschlagen, den Haupt-
anteil der Sammlungen, die voraussichtlich die stärkste Einnahmequelle nach [dem]
Parteiverbot sein werden, Zellen und Ortsgruppen und Bezirksleitungen zu überlas-
sen, während ZK lediglich 10 Prozent vom Erlös erhalten soll. Wir sind der Ansicht,
dass es dadurch ermöglicht wird, nicht nur Sammlungen zu einer wichtigen Methode
unserer Massen-Mobilisierung zu machen, sondern gleichzeitig damit auch Zellen-
Ortsgruppen-Stadtteil- und Bezirksleitungen die Mittel für ihre Arbeit zu sichern.
Die zwei entscheidenden Einnahmequellen sind die regelmässigen Mitgliederbei-
träge, deren Erlös wie bereits erwähnt, wahrscheinlich in den ersten Monaten infolge
des zu erwartenden Mitgliederrückgangs und der Veränderten Kassierung (14-tägig
75 Zu den Geschäftsunternehmen der KPD gehörten u.a. das Bürohaus Vulkan GmbH als Verwal-
tung für alle Parteihäuser und -gebäude, die Stern Druckereien GmbH und die Papiererzeugungs- und
Verwertungsgesellschaft (Peuvag A.G.) zur zentralen Versorgung der Zeitungs- und Buchverlage der
Partei.
976 1933–1939
76 Veränderte Kassierung: Auch unter den Bedingungen der Verfolgung setzte die KPD die Kassierung
der Mitglieder fort und schaffte es zunächst, Mitgliederbeiträge zu kassieren – allerdings mit einem
massiven Zahlungsrückgang. So schrumpfte etwa die Zahl der beitragszahlenden Mitglieder im KPD-
Bezirk Ruhrgebiet von 26000 im Februar 1933 auf 6000 im März und 1000 im April, im Juni jedoch
regenerierte sich die Partei dort auf 1200 zahlende Mitglieder. Auch in anderen Bezirken schafften
es die regionalen Kräfte im ersten Jahr der NS-Herrschaft immer wieder, Parteistrukturen zahlender
Mitglieder zu regenerieren, doch in einem Umfang, der einen Bruchteil der Zeit vor 1933 ausmachte
(siehe Peukert: Die KPD im Widerstand, S. 98–109).
77 3.5000: Eine Null wurde handschriftlich hinzugefügt. Es ist wohl von 35.000 Mark auszugehen.
78 Als Blatt 5 und 6 folgt eine Zusammenstellung der Einzelposten („Bisheriger und künftiger Etat“).
Dok. 316: [Moskau], 20.3.1933 977
Dok. 316
Briefentwurf der Komintern an das ZK der KPD über die Lage in
Deutschland, zur Begutachtung an Stalin, Molotov, Kaganovič
[Moskau], 20.3.1933
Ich schicke Ihnen den Entwurf eines Briefes an das ZK der KP Deutschlands. Wir
bitten darum, ihn zu lesen und uns Anweisungen zu geben, welche Veränderungen
an ihm vorgenommen werden müssten.80
[Sign.:] Pjatnitzki
20.3.33
Abs[olut] geheim
bürgertums dem Proletariat gefolgt wären. Die Sozialdemokratie jedoch, die ihre bis-
herige Politik fortsetzte und sich auf die weitere Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie
orientierte, schnürte die Initiative der Massen mit einem Netz von ihr anhängender zen-
tralisierter Organisationen, in erster Linie der Gewerkschaften, ab, und verhinderte die
Organisierung des Generalstreiks, mit dessen Erfolg die breiten Massen des Proletari-
ats angesichts des Streikbrechertums der Sozialdemokratie nicht rechnen konnten. Da
die kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen im Proletariat nicht den revolutionären
Anführer und Organisator sahen, [...] warfen sie sich in Richtung Faschismus.
[...] Der faschistische Terror, der in erster Linie gegen die Kommunisten als revo-
lutionäre Anführer der Massen gerichtet ist, trifft teilweise auch die Sozialdemokra-
tie. Indem die Faschisten die sozialdemokratischen Arbeiter terrorisieren und einen
Teil der sozialdemokratischen Führer auf ihre Seite ziehen, wollen sie das Netz der
der Sozialdemokratie folgenden Arbeiterorganisationen schwächen und den Weg für
die Schaffung eigener Arbeiterorganisationen nach dem Muster der faschistischen
Korporationen freimachen.82
Die faschistische Diktatur, die sich auf die bewaffneten Banden der Nationalso-
zialisten und des „Stahlhelms“ stützt und den Bürgerkrieg gegen die Arbeiterklasse
eröffnet, [...] zerschlägt die sozialdemokratischen Theorien der Klassenzusammen-
arbeit und der Politik des „kleineren Übels“ und vernichtet alle demokratischen Illu-
sionen in den breiten Arbeitermassen. [...] Die Arbeiterklasse überzeugt sich in der
Praxis, dass die Kommunisten Recht hatten, als sie jahrelang gegen demokratische
Illusionen und gegen die sozialdemokratische Politik des „kleineren Übels“ und der
Klassenzusammenarbeit gekämpft haben.
Gleichzeitig kann die ungezügelte faschistische Hitlerdiktatur, die den Bürger-
krieg im Lande entfesselt hat, keine einzige politische oder ökonomische Frage des
modernen Deutschland lösen [...] Jeder neue Tag der Hitlerregierung wird umso
klarer den Betrug aufzeigen, dessen Opfer die Massen geworden sind, die Hitler
gefolgt sind. Jeder neue Tag wird es klarer zeigen, dass Hitler Deutschland in die Kata-
strophe führt. Der revolutionäre Aufschwung in Deutschland wird trotz des faschisti-
schen Terrors in einem noch größeren Tempo ansteigen. Der Widerstand der Massen
gegen den Faschismus muss zwangsläufig stärker werden. Die Errichtung der offenen
82 Faschistische Korporationen: Der Korporatismus im faschistischen Italien zielte auf die Vereini-
gung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in offizielle Strukturen, die die Klassengegensätze eineb-
nen sollten, koordiniert vom 1926 gegründeten Ministerium der Korporationen. Auch die im Rahmen
der Betriebs- und Industriepolitik NS-Deutschlands errichtete Deutsche Arbeitsfront (DAF, siehe Dok.
363) als Einheitsverband von Arbeitgebern und Arbeitnehmern trug korporatistische Züge (siehe zum
Vergleich: Alexander J. De Grand: Fascist Italy and Nazi Germany. The „Fascist“ Style of Rule, London,
Routledge, 1995, S. 40–45). Die Prognose der Komintern bewahrheitete sich insofern, als die DAF auf
den bei der Zerschlagung der Freien Gewerkschaften (siehe Dok. 324) vorgefundenen Strukturen und
erbeuteten Vermögenswerten aufgebaut wurde (siehe Hans-Gerd Schumann: Nationalsozialismus
und Gewerkschaftsbewegung. Die Vernichtung der deutschen Gewerkschaften und der Aufbau der
„Deutschen Arbeitsfront“, Hannover, Goedel, 1958).
980 1933–1939
faschistischen Diktatur beschleunigt, indem sie alle demokratischen Illusionen bei den
Massen zerstört und die Massen vom Einfluss der Sozialdemokratie befreit, das Tempo
der Entwicklung Deutschlands hin zur proletarischen Revolution.
Die Aufgabe der Kommunisten liegt im Folgenden: die Massen darüber aufzu-
klären, dass die Regierung das Land in die Katastrophe führt. Jetzt ist es notwendig,
mit größerer Energie als je zuvor den Massen zu erklären, dass das einzige Mittel der
Rettung der werktätigen Massen vor noch mehr Armut und Not, das einzige Mittel zur
Verhinderung der Katastrophe die proletarische Revolution und die Diktatur des Pro-
letariats sind. Es ist unabdingbar, für das Zusammenrücken aller Kräfte des Proleta-
riats und für die Schaffung der Einheitsfront des Kampfes der sozialdemokratischen
und kommunistischen Arbeiter zu kämpfen, für die Gewinnung von Verbündeten des
Proletariats, man muss die Partei und alle Massenorganisationen des Proletariats
stärken und die Massen vorbereiten für die entscheidenden revolutionären Kämpfe, für
den gewaltsamen Sturz des Kapitalismus und der faschistischen Diktatur mittels des
bewaffneten Aufstands.
Davon ausgehend
- ist es die erste und wichtigste Aufgabe der KPD unter den Bedingungen des
bestialischen Terrors, die Partei zu erhalten, in die Illegalität zu überführen und zu
stärken, was nur durch eine exakte, energische und selbstlose Tätigkeit sowohl des
ZK, als auch der lokalen Organisationen möglich ist. 83 [...]
- ist es die zweite Aufgabe der KPD unter den aktuellen Bedingungen, das
Maximum an Kräften auf die Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften zu kon-
zentrieren, wobei die Faschisten versuchen werden, diese in eigene faschistische
Organisationen zu verwandeln, und wobei ihnen die sozialdemokratischen Gewerk-
schaftsführer faktisch helfen werden. [...]
- besteht die dritte Aufgabe der KPD gegenwärtig im maximalen Eindringen revo-
lutionärer Arbeiter in die legalen Massenorganisationen (sportliche und kulturell-auf-
klärerische, wie z.B. den Freidenkerverband, die Kooperativen, das Reichsbanner)84,
wobei die gesamtpolitische Leitung durch gut konspirativ getarnte kommunistische
Fraktionen sichergestellt werden soll;
- ist es die vierte Aufgabe der KPD, die Tribünen des Reichstags, der Landtage,
der Kommunalverwaltungen auszunutzen, in die die Kommunisten trotz des faschis-
tischen Terrors von den Massen gewählt wurden. [...] Es ist notwendig, alle Fälle der
Nichtbeteiligung der Kommunisten an den Parlamenten85 und Kommunalverwaltun-
83 Die Partei zu erhalten: Vgl. hierzu die wütenden Worte Pjatnitzkis, demzufolge die KPD sich so
versteckt habe, dass „nicht nur die Polizei sie nicht finden kann, sondern sogar die Arbeiterklasse“
(Dok. 314).
84 Das sozialdemokratische „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ (siehe Dok. 139) wurde bereits am
5.3.1933 von den Nationalsozialisten verboten.
85 Nichtbeteiligung an den Parlamenten: Am 11.3.1933 hatte die Komintern in einer Instruktion Prä-
senz der kommunistischen Abgeordneten zur Eröffnung des Reichstags gefordert. „Wir befinden, daß
Dok. 316: [Moskau], 20.3.1933 981
die [kommunistischen] Abgeordneten, wenn sie zugelassen werden, trotz der Verhaftungsgefahr an
der Eröffnung des Reichstages teilnehmen müssen. Nur die tatsächlich verantwortlichen Leiter des
Parteizentrums und der wichtigsten Bezirke sollen nicht erscheinen. Wir erwarten Mitteilung über
Eure Position in dieser Frage.“ (RGASPI, Moskau, 495/184/2, 134, Ausg. 1933). Am Tage der Reichstags-
eröffnung durch Hitler fragte das EKKI nach, ob die Direktive umgesetzt worden sei, und falls nicht,
aus welchen Gründen (RGASPI, Moskau, 495/184/2, 162–162v, Ausg. 1933. Zit. in: Širinja: Komintern
v 1933 godu, S. 224). Zur Reichstagseröffnung zeigten die KPD-Abgeordneten keine Präsenz und nah-
men nicht teil. In den Notizen Wilhelm Piecks vom 21.3.1933 hieß es: „Reichstagssitzung in Potsdam
und am Nachmittag in Berlin in der Kroll-Oper. Am 8. März hatte der Reichsinnenminister Dr. Frick
in einer Massenkundgebung in Frankfurt a/Main erklärt, daß die Kommunisten am 21. März beim Zu-
sammentritt des Reichstages ‚durch dringende und nützlichere Arbeit verhindert sein werden an der
Sitzung teilzunehmen.ʻ Dazu würde ihnen in den Konzentrationslagern Gelegenheit gegeben werden.
Aber auch ‚ihre roten Bundesgenossen von der Sozialdemokratieʻ müßten verschwinden. Die KPD-
Abgeordneten nahmen an der Eröffnung des Reichstages nicht teil.“
86 Die KPD hatte im seinerzeit in Darmstadt ansässigen hessischen Landtag zehn Sitze. Unmittel-
bar nach dem Reichstagsbrand demolierten die Nationalsozialisten ihr Fraktionszimmer. Die sich zu
diesem Zeitpunkt auf einer Versammlung in Frankfurt am Main befindenden KPD-Parlamentarier
wurden den Erinnerungen der Abgeordneten Cilly Schäfer zufolge am Frankfurter Bahnhof gewarnt,
nicht nach Hause zu fahren, da „in Hessen [...] jetzt auch alles verboten“ sei. Daher wurde das regio-
nale Ermächtigungsgesetzt am 13.3.1933 gegen die Stimmen der SPD und unter Abwesenheit der be-
reits in den Untergrund getriebenen KPD-Abgeordneten beschlossen (siehe: Ingrid Langer: Hessische
Parlamentarierinnen im Widerstand. In: Renate Knigge-Tesche, Axel Ulrich (Hrsg.): Verfolgung und
Widerstand in Hessen 1933–1945, Frankfurt am Main, Eichborn, 1996, S. 342–334).
982 1933–1939
7. Nieder mit der faschistischen Diktatur! Nieder mit der Hitlerregierung! Es lebe
die Arbeiter-und-Bauern-Republik – das Sowjet-Deutschland! Es lebe die Diktatur des
Proletariats!
[Sign.:] Pjatnitzki
Am 20.3.1933 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den Ingenieur Krasovskij nach
Deutschland in die Lokomotivenfabrik Henschel (Kassel) zu entsenden, um an der Projektierung des
Baus einer Tenderlok teilzunehmen.87
Am 31.3.1933 stimmte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion der Resolution des Präsidiums
der Komintern über die Gründe für die Niederlage und die Aufgaben der KPD zu (siehe das folgende
Dokument), die auf dem Briefentwurf Pjatnitzkis an die KPD vom 20.3.1933 basierte.88
Dok. 317
Vertraulicher Teil der Resolution des Präsidiums der Komintern
zum Referat Heckerts über die Gründe der Niederlage der KPD und
die Aufgaben
[Moskau], 1.4.1933
6530/St
Resolution des Präsidiums des EKKI zum Bericht des Gen. HECKERT über die Lage in
Deutschland.89
Die erste wichtigste Aufgabe der KPD unter den gegenwärtigen Verhältnissen des bru-
talen Terrors ist es, die Partei zu erhalten, in die Illegalität zu überführen und zu fes-
tigen, was nur durch eine präzise, energische und opferbereite Arbeit sowohl des ZK
als auch der Ortsorganisationen zu erreichen ist. Es gilt, um jeden Preis die ständige
Arbeit der Führung der Kommunistischen Partei zu sichern, rasch auf alle politischen
Die zweite Aufgabe der KPD unter den gegenwärtigen Verhältnissen besteht darin,
ein Höchstmass ihrer Kräfte auf die Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften
zu konzentrieren, die die Faschisten, mit Hilfe der sozialdemokratischen Gewerk-
schaftsführer, in ihre faschistischen Organisationen zu verwandeln bestrebt sind.
Die RGO hat den Hauptteil ihrer Tätigkeit in die reformistischen Gewerkschaften zu
verlegen. Die Kommunisten haben den Kampf sowohl gegen die Zertrümmerung der
Gewerkschaften durch faschistische Banden als auch gegen die Durchführung der
Linie der sozialdemokratischen Führer in den Gewerkschaften aufzunehmen, da sich
die sozialdemokratischen Führer die Aufgabe gestellt haben, die Gewerkschaften der
faschistischen Diktatur zu unterwerfen und mit Hilfe der Gewerkschaften die wirt-
schaftlichen Massnahmen dieser faschistischen Diktatur durchzuführen (Erklärung
Leiparts an Hitler). Wenn die Mitglieder der RGO und die Kommunisten gute Arbeit
in den reformistischen Gewerkschaften leisten werden, so werden sie sich dadurch
die Führung über die unorganisierten Arbeiter sichern. Es gilt, den Kampf gegen die
Faschisierung der Betriebsräte zu führen und dort, wo die Nationalsozialisten die
Betriebsräte an sich gerissen oder durch eine nationalsozialistische Betriebsorgani-
sation auseinandergetrieben haben, die Arbeit illegal fortzusetzen und Neuwahlen
zu fordern, bei deren Anlass mit Listen im Namen der Gruppen der Arbeitereinheit
aufzutreten ist, wobei in diese Listen sowohl kommunistische als auch solche sozial-
demokratische und unorganisierte Arbeiter aufzunehmen sind, die zum Kampf gegen
den Faschismus bereit sind.
Die dritte Aufgabe der KPD besteht gegenwärtig darin, alle legalen Möglichkeiten zu
revolutionärer Arbeit in allen legalen Arbeiterorganisationen (Sport-, Kultur- und Bil-
dungsvereine, Freidenkerverband, Genossenschaften, Reichsbanner usw.) auszunüt-
zen und dafür zu sorgen, dass die allgemeine politische Führung seitens konspirativ
gut gedeckter kommunistischer Fraktionen gesichert wird.
Die vierte Aufgabe der KPD besteht darin – soweit irgend eine Möglichkeit dazu
besteht, die Tribüne des Reichstages, der Landtage und Gemeindeparlamente, in die
die Kommunisten durch die Massen gewählt wurden, trotz des faschistischen Terrors
984 1933–1939
Die fünfte Aufgabe der KPD hat in dem Kampf gegen das Eindringen der National-
sozialisten in die Betriebe und gegen den faschistischen Betriebsterror zu bestehen,
wobei die Arbeitermassen gegen beides zu mobilisieren sind. Dies kann nur durch
eine gute Arbeit der Betriebszellen gesichert werden, die jetzt eine ausnehmend wich-
tige Bedeutung erlangt.
Die sechste Aufgabe der KPD hat in der Anführung der Unzufriedenheit der werktä-
tigen Bauernmassen mit der faschistischen Diktatur zu bestehen, die durchbrechen
wird, sobald sich klar herausstellt, dass die Faschisten nicht imstande sind, die For-
derungen der Bauern zu befriedigen.
Die allumfassende Aufgabe der Partei unter den gegenwärtigen Verhältnissen
ist der Kampf um die Herstellung der Einheitsfront der Arbeiter zum revolutionären
Kampf gegen den Faschismus, gegen die Kapitaloffensive und die Verschlechterung des
Lebenshaltungsniveaus der Massen. Dazu bedarf es einer systematischen Entlarvung
der sozialdemokratischen Führer, die die Arbeiterklasse verrieten und verraten bezw.
bereits ins Lager der Faschisten übergelaufen sind.90 Dazu ist es notwendig, dass die
Massen jeden Tag die Partei als ihren einzigen Schutzwall gegen den Faschismus
sowie gegen jegliche Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen und politischen Lage,
als Organisator ihres Kampfes trotz des Streikbrechertums der sozialdemokratischen
Führer sehen. Alle an die sozialdemokratischen Arbeiter gerichteten Vorschläge über
gemeinsame Kampfaktionen müssen offen vor dem Angesicht der Arbeitermassen
erfolgen.
Es gilt vor allem solche Kampfformen zu wählen, die der heutigen Situation am
meisten entsprechen (Massenversammlungen, Wahl von Massendelegationen, kurze
Demonstrationen, Proteststreiks, politische und kurzfristige Streiks usw.), jedoch darf
90 Ins Lager der Faschisten übergelaufen: Am 23.3.1933 notierte Pieck in seinem Tagebuch anlässlich
der Reichstagseröffnung zur Rede des SPD-Vorsitzenden Otto Wels: „Wels erklärt in seiner Rede, dass
die SPD den Austritt aus der II. Internationale vollzogen habe und der Außenpolitik der Regierung
zustimme.“ (Wilhelm Pieck: Chronik, SAPMO BArch NY 4036/10, 156). Tatsächlich war die SPD die
einzige Partei im Reichstag (die KPD-Abgeordneten waren durch Verhaftungen und Verfolgung am
Erscheinen gehindert), die am 23.3.1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte. Otto Wels hielt
eine Rede, in der er im Namen der SPD-Fraktion das Gesetz ablehnte und sich „in dieser geschichtli-
chen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und
des Sozialismus“ bekannte. Über den Austritt aus der Internationale oder die Zustimmung zur Politik
Hitlers verlautete Wels dagegen kein Wort (Zur Teilpublikation der Rede und zum Entstehungskontext
siehe Hans J. L. Adolph: Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894–1939, Berlin,
De Gruyter, 1971, S. 254–265). Allerdings trat Wels in der Tat am 30.3.1933 aus dem Büro der Sozialisti-
schen Arbeiter-Internationale aus, nachdem er (in der Hoffnung auf ein Nachlassen der Repressionen
gegen die SPD im Reich) versucht hatte, die Annahme scharfer Anti-Hitler-Resolutionen durch die
SIA-Exekutive zu verhindern – ein Rücktritt, den er am 17.5.1933 rückgängig machte (ibid., S. 268, 278).
Dok. 317: [Moskau], 1.4.1933 985
auf keinen Fall auf wirtschaftliche Streiks verzichtet werden und, wo die Situation es
erlaubt, sind Streiks gegen Lohnabbau und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen
zu organisieren. Die Partei hat sich an die Spitze aller Massencharakter tragenden
Formen des Widerstandes der Arbeiter gegen den Faschismus zu stellen.
Die Hauptlosungen der Partei in den nächsten Wochen haben folgende zu sein:
1) Wiederherstellung der Versammlungs- und Pressefreiheit sowie der Unantast-
barkeit der Person, Freilassung aller Gefangenen, Freilassung des Genossen Thäl-
mann.
2) Kampf gegen die Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Faschisten.91
Schutz aller Arbeiterorganisationen, der Wohnungen, des Hab und Gut sowie des
Lebens der Arbeiter gegen die terroristischen faschistischen Banden. Auflösung der
Hilfspolizei. Entwaffnung der SA.
3) Sofortige Rückgängigmachung aller durch Notverordnungen verfügten Kür-
zungen des Arbeitslohns sowie der Einkünfte der Arbeiter, Angestellten und unteren
Beamten.
4) Gewährung von Unterstützungen an alle Erwerbslosen ohne Rücksicht auf die
Dauer der Erwerbslosigkeit. Erhöhung der Erwerbslosenunterstützungssätze.
5) Gegen die Zunahme der Teuerung, Nichtzulassung von Preiserhöhungen und
Rückgängigmachung der seit der Hitlerregierung vorgenommenen Erhöhung der
Preise auf Brot, Speck, Fleisch, Eier, Käse, Milch und Margarine.
6) Befreiung der Klein-, Zwerg- und Mittelbauern von allen Steuern und Schul-
den. Aufhebung der Bodenpacht. Unentgeltliches Saatgutdarlehen sowie unentgelt-
liche Verteilung von Kunstdünger an die Klein- und Zwergbauern sowie an die Klein-
pächter.
7) Annullierung aller mit dem Versailler Vertrag zusammenhängenden Steuern
und Zahlungen.
8) Kampf gegen die Kriegsvorbereitungen und gegen den Militarismus.
91 In einem Aufruf vom 30.3.1933 rief die KPD alle Gewerkschaften auf, sich gegen die Faschisten zu
verteidigen. Dabei wurde jedoch nur der RGO zugesprochen, einen echten Widerstand gegen die NS-
Gewerkschaften zu führen (Rundschau (1933), 13, 12.5.1933, S. 392–393).
986 1933–1939
Dok. 318
An „Michael“ [d.i. Osip Pjatnitzki]: Bericht aus Berlin für die
Kominternführung über die Lage in Deutschland
Berlin, 2.4.1933
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/19/81, 7–12 (7–8 mit Rückseiten). Erstveröf-
fentlichung.
aus Berlin
erhalten
dechiffr[iert]. 2.IV.3392
Nachstehend etwas ausführlicher über den Stand [hdschr. Anmerkung:] der Kampa-
gne zur Ergänzung dessen, was wir bereits mündlich übermittelt haben.
Obwohl es vorher klar war, dass in erster Zeit in Deutschland am schwierigsten
sein wird, die Kampagne zu organisieren und unsere ersten Bemühungen darauf
gerichtet sein müssen, die anderen Länder in Bewegung zu bringen, halten wir es doch
für politisch ausschlaggebend, dass Deutschland in Bewegung kommt, und wir ver-
suchen, trotzdem die Freunde hier ungeheure Schwierigkeiten haben, unsere Sache
mit den Abwehrkämpfen, die im (...) vorgehen zu verbinden. Hier einige Beispiele
über den Widerstand und die Kämpfe der Massen in den letzten Tagen. Zwickau kam
es zu Massenwiderstand bei Besetzung des Volkshauses durch S.A. und Polizei, der
den tagüber gedauert hat. Den Massen gelang es, Hakenkreuzerfahne herunterzurei-
sen. Als die umliegenden Strassen abgeriegelt wurden, haben die Massen die Ketten
durchbrochen und ein zweites Mal die Fahne heruntergerissen. Dieselben Ereignisse
in noch schärferer Form hatten wir im Arbeiterort Wurzen, wo die Massen die Fahne
heruntergerissen haben und die S.A. Leute verjagten. Als S.A. und Polizeiverstärkun-
gen ankamen, dauerten die Kämpfe noch fünf Stunden in den Strassen. 450 Arbeiter
wurden verhaftet. Die Nachrichten über Massenstreiks in Dresden bestätigen sich
vollständig. Aehnliche Ereignisse sind auch in Elbing zu verzeichnen. In Königsberg
i. Pr. wurden einige unserer Betriebsräte in einem grossen Betrieb verhaftet aber auf
Druck der Massen wieder freigelassen wurden. Sogar in Berlin wo die Aktivität viel
schwächer ist als in der Provinz wurden die Nationalsozialisten von der Belegschaft
des Schlachtviehhofs verprügelt und vom Hof getrieben. Im Eisenbahnreparatur-
werke Schöneweide haben die Arbeiter die Direktion nach der Hissung der Fahne
gezwungen, dieselbe wieder herunterzunehmen. Alle diese Aktionen kamen ohne
Verbindung mit oben durch die Initiative der unteren Einheiten, die aber noch nicht
überall entwickelt. Die unteren Einheiten leben zum grossen Teil noch von Gerüchten
und Märchen. Heute kam ein Mann aus Hamburg, der berichtete, dass man dort in
unseren Einheiten bis heute noch nicht glaubt, dass Th[älmann] verhaftet ist.
Die ersten massenhaften Versuche der N.S. in die Betriebe einzudringen fangen
in Kommunalbetrieben an, wo sie versuchen, die Belegschaften unter Druck und
Terror zusetzen, um dort Fuss zu fassen und ganal [danach?] Abteilungen der Stras-
senbahner und Arbeiter in den Kommunalbetrieben in geschlossenen Zügen in ihre
Aufmärsche hineinzubringen.
Erst in den letzten Tagen steigerte sich die Initiative von unten. Das Aktiv beginnt,
aus seinen Verstecken herauszugehen. Es kommt dabei zu Kuriositäten. So wurde z.B.
in Neuköl[l]n auf Initiative der Zellen drei Unterbezirkleitungen gebildet.
Unter den S. D. Arbeitern und unteren Funktionaeren steigert sich die Empoerung
besonders ueber die Politik des ADGB. Einige unserer Freunde hatten Besprechun-
gen mit einigen Gewerkschaftsfunktionaeren, die zum Ausdruck bringen, dass sie
bei einem weiteren Anpassen der Gewerkschaften an das faschistische System nicht
mitmachen wuerden, sondern versuchen werden, die Oppositionellen Verbaende,
Zahlstellen und Ortsverwaltungen als besondere Organisationen zusammenzufas-
sen. In den naechsten Tagen will der ADGB mit seinem ausgearbeiteten Programm
zu den aktuellen Problemen herauszukommen. Es soll mit der Regierung vereinbart
sein, die Tarifvertraege auf ein Jahr zu verlaengern und in versteckter Form Arbeits-
zeitverlaengerungen und Rationalisierungsmassnahmen durchzufuehren und dafuer
soll eine Arbeit gemeinsam hergestellt werden. Diese Massnahme wuerde die Oppo-
sitionsstimmung noch mehr steigern. Deshalb kommen uns die Meinungen einiger
Freunde zweifelhaft vor, dass auf groessere politische Aktionen jetzt nicht zu rechnen
sei, und dass man sich darauf konzentrieren muss, an Ort und Stelle jede Versuche
und versteckte Form von Rationalisierungsmassnahmen und Arbeitszeitverlaenge-
rungen und dergl. in Betrieben durchzufuehren, abzuwehren, muss selbstverstaend-
lich gemacht werden, aber bei noch anhaltender Lage muss jede Gelegenheit aus-
genutzt werden, um auf jedes politische Ereignis Massen in Bewegung zu bringen.
Wir haben vorgeschlagen, am Tage der Eröffnung des Reichstages nicht nur in den
anderen Laendern, sondern auch in Deutschland Kundgebungen, Demonstrationen,
Streiks zur Unterstuetzung des Kampfes der deutschen Arbeiter gegen die faschisti-
sche Diktatur, gegen Brandstifter, die den Reichstag einberufen, ohne die Vertretung
revol. Arbeiterschaft zuzulassen, fuer die Zuruckeroberung des von den Faschisten
weggenommenen Arbeitereigentums, fuer die Freiheit [der] Arbeiterpresse, Befreiung
politischer Gefangenen, Rettung Thaelmanns usw. durchzufuehren. Alle Kundgebun-
gen sollen mit der Massenmobilisierung fuer Kongress verbunden werden.93 – Auf
der Welle dieser Bewegung soll sich unsere Taetigkeit entwickeln. Bis jetzt gelang es
hier, den Aufruf abzudrucken, Deutsches Initiativkomitee zu schaffen, das mit einem
besonderen Manifest herausgekommen ist. Unser Aufruf mit einem besonderen (...),
93 Gemeint war der „Europäische Kongress gegen Faschismus und Krieg“ in Paris, der vom 4.–
6.6.1933 stattfand (siehe Dok. 307).
988 1933–1939
durch unsere Presse machen würden (...) 25. März wird entgültig der Termin des Kon-
gress festgestellt. Es wäre natürlich sehr gut für Kampagne, damit sie in Betrieben
und Gewerkschaften verankert werden kann, wenn Kongress etwas später als 16/17
April stattfindet. Wir bitten um schnelle und dringende Mitteilung Ihrer Meinung.
2 ex.
b/G/NR
Dok. 319
Stenogramm eines Referats Osip Pjatnitzkis über die Situation
und die Aufgaben der KPD
Moskau, 11.4.1933
Geheim
STENOGRAMM
DES BERICHTS DES GEN. PJATNITZKI VOM 11. APRIL 1933
ÜBER DIE GEGENWÄRTIGE LAGE IN DEUTSCHLAND95
[…] Genossen, ich will jetzt zu zwei Fragen übergehen, die Sie am meisten interessie-
ren: Gab es in Deutschland im Januar 1933 eine revolutionäre Situation, und werden
die Faschisten die Macht halten können?
95 Der Anlass der Rede geht weder aus dem Dokument noch aus den Findbüchern hervor. Der Vor-
trag wurde offenbar in der Internationalen Lenin-Schule gehalten (siehe den Publikationshinweis).
Das Dokument trägt handschriftliche Korrekturen stilistischer wie inhaltlicher Art. Die Übersetzung
folgt dem unkorrigierten Ursprungstext als unmittelbarem Ausdruck der mündlichen Rede Pjatnitz-
kis. Zentrale inhaltliche Ergänzungen und Korrekturen Pjatnitzkis werden in den Anmerkungen the-
matisiert.
990 1933–1939
96 Pjatnitzki zitiert Lenins Schrift „Der ‚Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit des Kommunis-
mus“, die hier in der deutschen Originalübersetzung herangezogen wird. Siehe: Lenin-Werke, Bd.
31, S. 71.
97 Handschriftlich ergänzt: „im Januar 1933“.
98 Siehe Dok. 317.
99 Ausschluss Wolf und Wollenberg: Der Beschluss wurde veröffentlicht in: Die Kommunistische Inter-
nationale XIV (1933), H. 7, 15.5.1933.
100 Handschriftlicher Vermerk am Rande: „Braucht man diesen Absatz überhaupt?“
Dok. 319: Moskau, 11.4.1933 991
101 Zwei Kandidaten des PB verhaftet: Von den 15 Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros wur-
den zunächst nur Ernst Thälmann sowie Wilhelm Kasper (1892–1985) verhaftet (Herbst: Kommunisti-
scher Widerstand).
102 Bezirkspolleiter: Urspr.: Gebietspolitsekretäre.
103 Der Absatz ist am Rand angestrichen. Hdschr. Vermerk: „Sehr delikates Material“.
104 wider Erwarten: Handschriftlich korrigiert in „entgegen der Befürchtungen“.
105 Rote Fahne in 300.000 Ex.?: Nach offiziellen Komintern-Angaben erschien Die Rote Fahne im
April 1933 in einer Auflage von 300.000 Exemplaren (nach Rundschau, Basel, in Hempel-Küter: Die
Tages- und Wochenpresse, S. 45). Ob diese Angaben der Realität entsprachen, ist ungewiss, jedoch
nicht vollkommen unwahrscheinlich, da zum einen die illegalen KPD-Druckereien im Reich bis 1935
funktionierten, zum anderen Publikationen des ZK in Druckereien im angrenzenden Ausland herge-
stellt werden konnten (vgl. Dok. 378).
106 Hdschr. ergänzt: „nach und nach“.
107 Im Dokument folgen Berichte über einzelne Aktivitäten des Widerstands in Deutschland, die
vom Applaus des Publikums begleitet werden.
992 1933–1939
Die Kompartei muss alle Kräfte sammeln und dadurch alle Schichten der Werk-
tätigen durchdringen, wie auch das Milieu der Kleinbourgeoisie, und der Bauern-
schaft. Die Kompartei muss überall und an jedem Ort präsent sein. Sie muss Stütz-
punkte schaffen – Bauernkomitees in den Dörfern, illegale Gewerkschaften. Wenn
die gewerkschaftlichen Basisorganisationen faschisiert werden sollten, dann müssen
die Kommunisten möglicherweise die Losung zum Austritt aus den faschistischen
Gewerkschaften aufstellen und die revolutionären Elemente112 zum Eintritt in die ille-
galen Gewerkschaften auffordern. Das ist nicht ausgeschlossen. […]
Die Kommunisten müssen die Arbeit in der Reichswehr verstärken. [Auch] unter
den SA-Leuten gibt es sehr viele ehrliche Arbeiterelemente, einige von ihnen glauben,
dass sie einer großen Sache dienen.113 Die Nationalsozialisten haben es geschafft,
sie aufzuhetzen – nicht gegen das Kapital an sich, [auch] nicht gegen das jüdische
Kapital, sondern gegen die jüdischen Kleinbürger – Angestellte, Ärzte, Anwälte, Tech-
niker usw., und damit wollen sie beweisen, dass sie eine wirklich soziale, sozialisti-
sche Partei sind.114 Zweifellos müssen viele Arbeiterelemente durch die Kommunisten
den Faschisten wieder weggenommen werden. Dafür müssen die Kommunisten auch
unter den SA-Leuten arbeiten.
Die Bedingungen in Deutschland verbessern sich rasch.115 […] Die proletarische
Revolution in Deutschland ist unumgänglich. Die KP Deutschlands muss alles Mög-
liche tun, um sie zu organisieren, das Proletariat anzuführen und es zum Sieg zu
führen. (Anhaltender Applaus.)
Gen. NACOV verliest die Resolution.116 Er schlägt vor, die Resolution als Grund-
lage heranzuziehen, in den Sektoren das Referat des Gen. Pjatnitzki und die Reso-
lution durchzuarbeiten, und erst dann die Resolution endgültig zu verabschieden.
(Vorschlag wird angenommen).
PJATNITZKI – Ich habe hier einige Notizen. Ich hatte vergessen, auf einen Aspekt des
Dokuments des EKKI-Präsidiums über die gegenwärtige Lage in Deutschland ein-
zugehen. Dort heißt es, dass die sozialdemokratischen Arbeiter in ihrer Masse den
Vorschlag der Kommunisten über die Einheitsfront nicht angenommen hätten. Dies
verwirrt einige Genossen sehr. Dies hat auch im Präsidium, bei der Beratung über die
Resolution, einigen Widerspruch hervorgerufen. Es ist durchaus verständlich, dass
diese Stelle auch bei Ihnen Verwunderung auslöst.
Die Sache ist die, dass die Kommunisten immer den Kampf geführt haben
gegen Linke, Linke in Anführungszeichen, Phrasendrescher, die die s[ozial]-
d[emokratischen] Führer mit der Masse der Mitglieder gleichgesetzt haben. Da dieser
Kampf geführt wurde, ist es für die Genossen, die diese Wahrheit, dass man s.-d.
Führer nicht mit den Mitgliedern der s.-d. Partei gleichsetzen darf, verinnerlicht
haben, schwer zu verstehen, warum das Dokument des Präsidiums eine so schwere
Anschuldigung gegen die s.-d. Arbeiter aufstellt. Nicht alle Genossen sind flexibel
genug, um zu verstehen, dass unterschiedliche Situationen eine unterschiedliche
Taktik verlangen: was Kommunisten in einer Situation gepredigt haben, passt nicht
immer in einer anderen Situation. […] Das Dokument des Präsidiums erklärt, warum
die sozialdemokratischen Arbeiter in ihrer Masse dem Aufruf der Kommunisten zur
Herstellung einer Einheitsfront zum gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus und
die Offensive des Kapitals nicht gefolgt sind. Sie waren gefesselt von ihren Führern,
sie haben diesen Führern blind geglaubt. […]
Die nächste Notiz: „Was ist das für ein Interview, das Thälmann dem Korrespon-
denten des Berliner Tageblatts gegeben hat?“
Ich weiß nichts von einem solchen Interview. Ich denke, dass dies eine Unwahr-
heit ist. Es ist genau so ein falsches Gerücht, wie dass die Komintern Gen. Thälmann
abgesetzt hätte, ihn vor Gericht gestellt hätte usf. Solche Sachen darf man nicht
glauben.
„Kann die Partei die Losung des bewaffneten Aufstandes aufstellen, wenn sie
noch nicht die Mehrheit des Proletariats hinter sich hat, und unter welchen Bedin-
gungen kann eine solche Losung aufgestellt werden? Einige Gen. sind der Meinung,
dass die KP in einer revolutionären Situation sich auch ohne eine Mehrheit im Prole-
tariat auf einen bewaffneten Aufstand einlassen könne, indem sie darauf zähle, dass
die Mehrheit im Verlauf des Aufstandes erobert werde.“
Ich denke, das ist Kasuistik. Ich habe nicht gesagt, dass die Losung des bewaff-
neten Aufstandes jetzt aufgestellt werden muss. Der Kurs auf den bewaffneten Auf-
stand muss aufgenommen werden. Das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. […]
Wenn die revolutionäre Situation herangereift sein wird, dann werden die breitesten
Massen zur KP Deutschlands übertreten. Überhaupt ist es sehr schwer festzustellen,
ob die Kommunisten irgendwo bereits die Mehrheit der Arbeiterklasse hinter sich
haben oder nicht. Das lässt sich nur während des Kampfes feststellen. […] Das Doku-
ment des EKKI-Präsidiums stellt fest, dass es im Januar 1933 keine revolutionäre Situ-
ation in Deutschland gegeben hat, und die KP Deutschlands den Machtantritt der
Faschisten nicht hat verhindern können, weil die Mehrheit des Proletariats noch der
Sozialdemokratie gefolgt ist. Mit der KP Deutschlands ging nur die Avantgarde des
Proletariats. […]
Dok. 319: Moskau, 11.4.1933 995
Der Genosse sagt, man könne die Mehrheit der Arbeiterklasse schon im Kampf
erobern. Die Frage besteht nicht hierin, sondern darin, ob eine passende Situation
gegeben ist, um in den Kampf zu ziehen. Es gibt die Erfahrung dreier Aufstände. Der
bulgarische im Jahre 1923,117 der estnische118 und der Hamburger.119 […] Ist das etwa
nicht genug? Ich denke, es reicht völlig aus, um [diese Erfahrung] nicht ein drittes Mal
zu machen.
„Wie muss man den Austritt aus den Gewerkschaften verstehen, wenn sie sich
faschisieren? Werden die Kommunisten nicht in den faschistischen Gewerkschaften
arbeiten?“
Genossen, das ist einfach Wortklauberei. Ich sagte, dass die Situation sich schnell
ändert, und die Taktik ebenfalls abhängig vom Gang der Dinge geändert werden
muss. […] Unter diesen Bedingungen muss man bedenken, dass die KP Deutschlands
in der Lage sein wird, illegale Gewerkschaftsorganisationen zu schaffen, die diesen
Kampf gegen die reformistischen oder die faschistischen Gewerkschaften führen
werden, wie auch immer sie heißen mögen, Gewerkschaften, die nicht für die Inte-
ressen der Arbeiter kämpfen werden. Eine solche Perspektive ist nicht ausgeschlos-
sen. Doch ich habe nie gesagt und ich sage nicht, dass wir sofort zur Schaffung ille-
galer Gewerkschaften übergehen oder die Losung „Hinaus aus den reformistischen
Gewerkschaften“ aufstellen müssen. Wir müssen all diese Möglichkeiten abwägen
und ergründen, und unsere Taktik abhängig von den Ereignissen bestimmen. Diese
Notiz zeigt, dass hier einfach meine Worte verdreht werden, während ich in meinem
Vortrag davor gewarnt habe, dass die Ereignisse in Deutschland mit schwindelerre-
gender Geschwindigkeit vonstatten gehen und dass die Frage der Gewerkschaften
seitens der Faschisten noch nicht geklärt ist.
117 Zum bulgarischen Aufstand und seiner Niederlage 1923 siehe Dok. 125.
118 Der „Estnische Aufstand“ im Dezember 1924 war ein gescheiterter Putschversuch, der von der KP
Estlands unter Anleitung der Komintern ausgeführt wurde und zu zahlreichen Todesopfern unter est-
nischen Kommunisten und durch umfangreichen Repression gegen die KP führte. Siehe auch Dok. 125.
119 Zum Hamburger Aufstand, der eigenmächtig von Thälmann angezettelt wurde, gleichwohl und
trotz der Niederlage als einziger bewaffneter Aufstandsversuch von links in der Weimarer Republik in
die historische Erinnerung einging, siehe Dok. 96a.
996 1933–1939
Dok. 320
Brief des sowjetischen Botschafters in Berlin Lev Chinčuk an
Krestinskij über Hitlers außenpolitisches Programm und sein
Verhältnis zur Sowjetunion
[Berlin, 12.4.1933]120
[…] Ich wäre also geneigt zu behaupten, dass Hitler noch kein ausgeprägtes außen-
politisches Programm hat, und dass er tatsächlich mit allen Kräften die übergroßen
innenpolitischen Aufgaben fokussiert, die noch lange nicht gelöst sind und selbst die
Formen ihrer Lösung noch nicht klar herausgearbeitet sind.
Wie soll man jedoch das antisowjetische Verhalten der gegenwärtigen deutschen
Regierung und ihrer Organe erklären? Zunächst einmal ist es absolut klar, dass der
Kampf gegen den Kommunismus in Deutschland nicht zu trennen ist von Anfein-
dungen und Angriffen gegen die UdSSR mit rein innenpolitischen Zielsetzungen.
Hitler ist nicht derart unabhängig von seinen Massen, die jahrelang mit dem Hass
auf den Kommunismus und seinen Hauptträger, die UdSSR, aufgezogen wurden,
als dass er sofort eine klare Trennlinie ziehen könnte zwischen seinem Kampf gegen
den Kommunismus und der Position der UdSSR als Staat in den außenpolitischen
Leitlinien Deutschlands als Staat. Ich denke, dass die Erklärung Hitlers im Reichstag
und das Interview Görings im Telegraph hoch bewertet werden müssen, angesichts
ihrer ganzen Vergangenheit und des ganzen Verlaufs der sogenannten „nationalen
Revolution“.121
Angesichts der innenpolitischen Aufgaben ist Hitler nicht in der Lage, entschie-
denere Schritte in unsere Richtung zu tätigen – selbst dann nicht, wenn er eine klare
außenpolitische Konzeption im Sinne einer „Ostorientierung“ hätte, wie sie etwa die
D[eutsch]-N[ationalen] oder etwa der Stahlhelm und die Reichswehr haben. Noch
weniger ist er in der Lage, die Aktivitäten seiner Massen zu steuern, die aus ihrem
Kampf gegen den Kommunismus unter der Führung Hitlers in primitiver Weise anti-
sowjetische Schlussfolgerungen ziehen.
Doch darin erschöpft sich diese Frage freilich nicht. In der heutigen antisowjeti-
schen Hetze spielt die allgemeine außenpolitische Konzeption der Nat[ional]-Sozialis-
ten, die auf die Annäherung an England und Italien, die Neutralisierung Frankreichs
und eine aktive „Raum-Politik“122 im Osten Europas zielt, eine bestimmte, wenn auch
120 Vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes der Russischen Föderation war nur ein Auszug
des Briefes zu erhalten.
121 Zur Einschätzung des Dokuments siehe: Slutsch: Deutschland und die UdSSR, S. 65f.
122 „Raum-Politik“ in deutscher Sprache in kyrillischen Buchstaben.
Dok. 320: [Berlin, 12.4.1933] 997
nicht allumfassende Rolle. Eine solche Konzeption kann natürlich nicht anders als
vollkommen antisowjetisch sein, doch sie ist irreal und in absehbarer Zukunft nicht
umsetzbar, und sie bringt lediglich als Tendenz ohne genügend reale Grundlage eine
gewisse Schärfe in die laufende antisowjetische Hetze. Für das große antisowjetische
Spiel hat Hitler noch keine Partner gefunden, und er wird sie zumindest in naher
Zukunft kaum finden können. […] Die politische Realität wird Hitler lehren – oder
vielleicht hat sie ihn in gewisser Hinsicht schon gelehrt –, dass er ohne die sowjeti-
sche Karte nicht auskommen wird. Doch damit das antisowjetische Wüten ein Ende
findet, muss diese Einsicht von den nat[ional]-soz[ialistischen] Führungsspitzen tief
in die [Partei-]Basis durchdringen. Ein solcher Prozess ist zwangsläufig von langer
Dauer.123 […]
123 In gewisser Weise gab der Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrags nur einen Monat später
dem sowjetischen Bevollmächtigten recht. Hitler hatte bereits ein Zeichen des guten Willens in seiner
Rede vom 23.3.1933 gegeben und die Ratifizierung der Fortführung des Berliner Vertrags zwischen
Deutschland und der Sowjetunion angekündigt. Die Ratifizierung, die 1931 nicht erfolgte, wurde
nun am 5.5.1933 ausgeführt. Vierzehn Tage nach seinem Schreiben, am 28.4.1933 hatte Chinčuk ein
Gespräch mit Hitler, der in der folgenden Weise zitiert wird: „Unsere beiden Staaten müssen sozu-
sagen die Unverrückbarkeit des Faktums der gegenseitigen Existenz für lange Zeit anerkennen und
in ihren Handlungen davon ausgehen (...) Unabhängig von der unterschiedlichen Weltanschauung
beider Staaten verbinden sie gemeinsame Interessen, und diese Verbindung trägt einen dauerhaften
Charakter.“ (Dokumenty vnešnej politiki, XVI, S. 271, vgl. dazu: Vadim Rogovin: Mirovaja revoljucija
i mirovaja vojna, Moskva, 1998, S. 126). Wie weit das sowjetische appeasement ging, zeigte ein Brief
Litvinovs an Stalin vom April 1933, in dem die Bedeutung der „rassischen Zusammensetzung“ des
leitenden Botschaftspersonals in Berlin hervorgehoben wurde. Siehe (auch zum Gesamtkomplex der
Beziehungen): Sergej Slutsch: Deutschland und die UdSSR 1918–1939: Motive und Folgen außenpoli-
tischer Entscheidungen. Eine neue russische Perspektive. In: Deutsch-russische Zeitenwende: Krieg
und Frieden 1941–1945. Hrsg. v. Hans-Adolf Jacobsen. Baden-Baden, 1995. S. 28–90, bes. S. 62ff.; Ders.:
Stalin und Hitler 1933–1941. Kalküle und Fehlkalkulationen des Kreml. In: Stalin und die Deutschen:
Neue Beiträge der Forschung. Hrsg. v. Jürgen Zarusky. München, Oldenbourg, 2006. S. 59–88, bes. S.
59ff.; Besymenski: Stalin und Hitler, S. 74ff.
998 1933–1939
Dok. 321
Brandbrief von Hermann Remmele (Ps. Herzen) an die KPD-
Führung, die er für die katastrophale Niederlage verantwortlich
macht
[Berlin], 12.4.1933
12.4.33
Abschrift
An alle Mitglieder des P.B.124
W[erte] G[enossen]. Das Sekr[etariat] verschickte in den letzten Wochen eine Reihe
von Dokumenten im Auftrage des Z.K., von denen nicht alle Mitglieder des P.B. (z.B.
ich) vor der Herausgabe informiert waren und um ihre Zustimmung befragt wurden.125
[...]
Zur Lage.
1.) Zur Resolution. Ich stimme der von Euch, nach der PB Sitzung vom 20.3.33. ver-
schickten Resolution nicht zu.126 Sie erfüllt in keiner Weise die Aufgabe Klarheit über
die politische Lage zu bringen. Die Lage wird so analysiert, als ob die Ereignisse der
letzten Wochen überhaupt keine wesentlichen Veränderungen auf verschiedenen
Gebieten der politischen Struktur in Deutschland und damit auch in der internatio-
nalen Lage gebracht hätten. Eine so ungeheuerliche Unterschätzung des Ernstes der
Lage für das deutsche und internationale Proletariat, der mit dem Sieg des Faschis-
mus in Deutschland entstanden ist, hätte ich nicht für möglich gehalten. [...]
4.) Ist die faschistische Diktatur eine Stärkung oder Schwächung der kapitalisti-
schen Herrschaft? Diese Frage ist eine der Kernfragen, die es zu beantworten gilt. Die
Resolution des ZK. ignoriert fast vollkommen diese Frage und soweit sie andeutungs-
weise diese unumgängliche Frage berührt, beantwortet sie dieselbe in einer vollkom-
men falschen Weise. Eine der Resolutionen der B.L. Berlin soll diese Frage dahin-
gehend beantworten (ich habe sie noch nicht zu Gesicht bekommen und konnte sie
daher noch nicht lesen), dass der Faschismus „einige Teilerfolge“ erzielen konnte.
Diese Resolutionen stellen sich nicht die Aufgabe, den Ernst der Lage so zu analysie-
ren, wie er ist, sondern Trost zuzusprechen. Es ist nicht Resolution, sondern Spekula-
tion, was hier geschieht. Das steht im schärfsten Widerspruch mit den Aufgaben und
Pflichten einer revolutionären Partei. [...]
Einer der markantesten Züge des Hitlerismus ist die nahezu lückenlose Konzen-
tration aller bürgerlichen Kräfte und Strömungen in raschem Tempo, wie das selbst
nicht in Italien und nicht so vollkommen in den anderen Terrorländern, wie in Polen,
Rumänien, Jugoslavien und Bulgarien erreicht wurde. Das zeigt die Grösse der Gefahr,
in der sich die deutsche Bourgeoisie vor der drohenden proletarischen Revolution
befand. Die rasche und nahezu widerstandslose Eingliederung aller bürgerlichen
Kräfte bis zur SPD und den ADGB in die Hitlerische Diktatur, die widerstandslose
Liquidierung der Weimarer Republik, der Wettlauf aller Parteien, Wirtschaftsor-
ganisationen und bürgerlicher, kultureller und sozialer Bewegungen um die Gunst
Hitlers, beweist wie faul und inhaltslos alle diese bürgerlichen Institutionen bereits
waren und wie weit sie bereits historisch keine Existenzberechtigung mehr hatten.
Das rasche Tempo, mit dem der Faschismus in Deutschland die alten traditionellen
bürgerlichen Institutionen überrannte und sich einverleibte, zeigte, wie überreif die
Frucht der Fäulnis in der alten bürgerlichen Welt in Deutschland geworden war. Der
Faschismus übernahm die Konkursmasse der bürgerlichen Demokratie als ein Ver-
mächtnis der bankrotten, untergehenden Gesellschaftsordnung. [...]
Die Resolution des Sekr[etariats] ignoriert diesen Konzentrationsprozess voll-
kommen, ja, sie leugnet ihn sogar oder verdunkelt ihn zum mindesten, indem sie
nur von den Gegenseiten im Lager des Faschismus spricht und die Haupttendenz,
die heute gerade die wichtigste ist festzustellen, nämlich die der Konzentration, voll-
kommen übergeht. Natürlich werden die dem kapitalistischen System innewohnen-
den inneren Schwierigkeiten und Widersprüche durch den sieg des Hitlerismus nicht
schwächer, sondern sie vergrössern sich sogar rascher unter dem faschistischen Herr-
schaftssystem, aber durch die fast kompakte Konzentration aller politischen Kräfte
der bürgerlichen Gesellschaft können diese inneren Schwierigkeiten und Widersprü-
che zeitweise und vorübergehend vertuscht und in die zweite Rangordnung gedrängt
werden. Und das ist dem Hitlerismus zweifellos in hoher Weise zunächst gelungen.
Diese Konzentration der Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft im Faschismus und
durch die faschistische Diktatur nicht zu sehen, sie zu ignorieren oder gar zu leugnen,
wäre der verhängnisvollste Fehler, der uns nicht ermöglichte, die politischen Kraft-
und Machtverhältnisse richtig einzuschätzen und damit unsere Taktik dem Gegner
gegenüber zu finden.
Warum geht die Resolution des Sek. der Feststellung der markantesten politi-
schen Erscheinung der faschistischen Diktatur in Deutschland aus dem Wege? Etwa
1000 1933–1939
deshalb, weil bei dieser Feststellung einige falsche Thesen des Parteiführers und der
Parteiführung durch die Geschichte als unrichtig und falsch erwiesen wurden? Die
Parteiführung hat kein Recht, falsches aus der Vergangenheit aufrecht zu erhalten
oder heute als falsch erkanntes unausgesprochen zu lassen. [...]
[...] Wenn der Sieg des Faschismus in Italien, in Finnland, in Polen, in Rumä-
nien, in Jugoslavien, in Bulgarien eine Niederlage für das Proletariat bedeutet, so
ebenso oder noch vielmehr in Deutschland, eben gerade darum, weil Deutschland
das stärkste und kampferprobteste Proletariat hat. Die Niederlage einer Armee ist
nicht abhängig von der Frage, ob sie im letzten Stadium des Kampfes gekämpft hat,
sondern ob sie bereits eroberte Positionen preisgeben und zurückweichen musste,
Und von diesem Gesichtspunkt aus ist es die grösste Niederlage des deutschen Prole-
tariats seit 1914. [...]
Aber schliesslich sind ja nicht diese Stimmenzahlen das ausschlaggebende, denn
sie sind ja nur ein Zeichen der – besonders in revolutionären Zeiten – sich rasch ver-
ändernder Massenstimmungen. Das gilt für das auf und das ab. Viel wichtiger als das
ist die widerstandslose Hinnahme des scheusslichen Massenterrors, der ausschliess-
lich nur gegen Arbeiter angewendet wird, der offen und unverhüllt den Klassencha-
rakter des Bürgerkrieges gegen das Proletariat trägt. Ohne wesentliche Gegenwehr
werden Gewerkschaftshäuser besetzt oder verwüstet, die Kassen der Gewerkschaften
geraubt, Betriebsräte mitten aus den Belegschaften heraus verhaftet und verprügelt,
Fabrikeingänge und Werkstätten von S.A. besetzt und überwacht, die Wohnviertel der
Arbeiter bürgerkriegsmässig überfallen, Wohnungen gewaltsam erbrochen, die Woh-
nungen durchwühlt und zertrümmert, den Arbeiterfrauen der letzte Pfennig geraubt,
die Arbeiter zu Tausenden in die SA.-Lager verschleppt, zu Krüppeln geschlagen
oder gar ermordet, zu Zehntausenden in die Konzentrationslager verschleppt, wo
sie wie Sklaven Frondienste leisten müssen, ohne jede Bezahlung und einer ständi-
gen Tortur von körperlichen Misshandlungen und Quälereien. Dann noch obendrein
der Hohn und Spott der Vandalen, an dem die ganze „zivilisierte“ Bande teilnimmt.
„Den Gefangenen geht es gut“, sie sehen „glänzend“ aus. Es wird ihnen „kein Haar
gekrümmt“, sie sind „mit ihrem Schicksal vollkommen zufrieden“, sie bestätigen,
dass sie „keine Ursache zu Klagen haben“, als ob nicht schon die Tatsache der Berau-
bung ihrer Freiheit, nur deswegen, weil sie Proletarier sind, eine physische Misshand-
lung der Zehntausenden wäre. Aber auf all das schweigt das Proletariat, es leistet
keinen Widerstand. An der Front ihrer Freiheiten und Rechte, die sich das Proletariat
schon vor Jahrhunderten erkämpft hatte, ist es bis auf die Stufe des Anfangsstadiums
zurückgeworfen. Die Versammlungsfreiheit vernichtet, das Vereinigungsrecht der
Willkür der S.A. unterworfen, die Pressefreiheit geraubt, die Kampffonds der Arbei-
terorganisationen geplündert, die Demonstrationsfreiheit begegnet den Feuergarben
der Maschinengewehre, die „freie“ Arbeit wird für Hunderttausende, bald für Millio-
nen zur unverhüllten Sklavenarbeit in Zwangsdienstlagern, die Wiedererstehung der
unverhüllten Leibeigenschaft auf den Gütern der frechsten Ausbeuterkaste, usf.
Dok. 321: [Berlin], 12.4.1933 1001
Und das Proletariat bleibt ruhig, dasselbe Proletariat, das hervorragende Bei-
spiele seiner Kraft und seines leidenschaftlichen revolutionären Freiheitsdranges in
der Vergangenheit aufzuweisen hat! [...] Täglich bringt die gesamte Presse triumphie-
rende Siegesberichte über die in allen Städten und Industriezentren durchgeführten
Feldzüge im Kriege gegen das Proletariat. Und all das soll keine Niederlage der deut-
schen Arbeiterklasse sein? Kann man die Lage in Deutschland wirklich analysieren,
ohne diesen Zustand zu sehen, oder sehen zu wollen, wie das die Resolution tut?127
[...]
Die Opfer in einem entschlossenen Abwehrkampf, selbst wenn dieser mit der
Niederlage geendet hätte, wären um nichts grösser, vielleicht sogar geringer gewor-
den. Nicht etwa, dass der Terror geringer wäre, dieser wäre nach einer Niederlage
mit Kampf wahrscheinlich grösser gewesen. Aber diese Opfer wären nicht vergebens
gebracht worden, Opfer im Kampfe sind der Same für kommende Revolutionen, Opfer
als Resultat des Meuchelmordes gehören ruhmlos der Geschichte an. Eine Niederlage
nach einem Kampfe ist Ansporn für grössere Kräftesammlung, eine Niederlage ohne
Kampf ist Quelle von Hoffnungslosigkeit und Resignation (man kann nichts machen).
Wer das bei Beurteilung der Lage nicht in Einsatz zu bringen vermag, wie das die
Resolution tut, kann dem Proletariat nicht den Weg zeigen, wie aus der Lage heraus-
zukommen ist. [...]
Stellen wir nochmals fest: Seit Jahren trommeln wir Gewerkschaftsarbeit!
Betriebsarbeit! Die Mitglieder hören das, die Mitglieder beschliessen in Dutzenden
Versammlungen immer und immer wieder, und das Resultat ist, es wurde nicht
besser, sondern eher schlechter. Woran lag das? Dafür gibt es keine andere Erklärung:
die Mitglieder waren nicht überzeugt von dem, was man ihnen sagte. Man bedenke 6
Millionen Anhänger, 300 oder gar 400 tausend Mitglieder, eine Armee, die die ganzen
Gewerkschaften und die wichtigsten Grossbetriebe hätte mitreissen müssen, wenn
sie nur entsprechende Positionen an den entscheidendsten Stellen in der Armee der
organisierten Arbeiterschaft gehabt hätten. Erst an der Grösse der gegenwärtigen
geschichtlichen Ereignisse wird die ganze Grösse unserer Versäumnisse klar. Das
Proletariat hat eine Schlacht verloren, wir sind nicht ganz frei von Schuld zu spre-
chen. Wir haben nicht verstanden im Voraus den Mitgliedern klarzumachen, wohin
diese Versäumnisse führen müssen. Wir verstanden nicht den Genossen unten den
ganzen Ernst der Dinge vor Augen zu führen, ihnen zu zeigen warum und weshalb die
Besetzung einer entscheidenden Position mehr wert ist als eine ganze Armee, die zu
127 Noch am 25.3.1933 hieß es in einem Rundschreiben des ZK der KPD: “Mehr denn je gilt die Er-
kenntnis, daß die Aufrechterhaltung und die Verschärfung des faschistischen Terrors seine Grenze
an dem entfalteten Massenwiderstand der Arbeiterklasse finden wird. Diese Erkenntnis gilt es, zum
Allgemeingut aller Arbeiter zu machen. Und ausgehend von der Siegesgewißheit des revolutionären
Kampfes der Arbeiterklasse wieder neuen Kampfesmut und neue Kampfesbegeisterung zu geben.
So werden wir rasch die Voraussetzungen für die Vernichtung des faschistischen Diktaturregiments
der Hitler-Papen-Hugenberg schaffen.“ (Illegales Rundschreiben des ZK, 25.3.1933. Publ. in: Weber/
Wachtler: Die Generallinie, S. 676–682, hier S. 680).
1002 1933–1939
Kämpfen nicht gerüstet ist. Wir verstanden nicht den gesamten Feldzug der gesam-
ten Mitgliedschaft anzuzeigen, sie mit den strategischen Stützpunkten vertraut zu
machen, ihnen die revolutionäre Taktik zu erklären.
Ja wir taten noch mehr: sagte wir nicht in Hunderten und Tausenden von Ver-
sammlungen an: Deutschland ist nicht Italien! In einem Agrarland konnte der
Faschismus siegen, in Deutschland kann er es nicht! Das sagte nicht dieser oder jener,
das sagten wir alle. Wie konnte man dem einfachen Arbeiter klar machen, wie ernst
die Lage ist, und wie man der Gefahr begegnen muss? Das sind Sünden, die man
heute aussprechen muss, wenn man zu einer anderen Methode der Arbeit kommen
will. Nicht die Mitglieder sind schuld, die unsere Ratschläge nicht befolgten, sondern
vor allem sind wir selber schuld in der Führung, und das ohne Ausnahme, weil wir
uns zu leichtfertigen Kraftmeiereien verleiten liessen, ohne jedoch eine schlagkräf-
tige Armee geschaffen zu haben, indem wir die entscheidenden Positionen sicherten,
von denen aus wir hätten zuschlagen können, und beweisen konnten, dass Deutsch-
land nicht Italien ist. [...]
c.) 22. und 30. Januar. Die Machtübernahme Hitlers geschah nicht erst am 30.
Januar, sondern am 22. Januar. Mit dem Aufmarsch der SA. auf dem Bülow-Platz war
die Machtfrage entschieden.128 Die ganze Presse des In- und Auslandes schrieb in den
Tagen des SA.-Aufmarsches, dass es sich dabei um eine Kraftprobe des Faschismus in
Deutschland handele. Von allen Gegnern des Faschismus, wurde dieser Aufmarsch
als eine Provokation des einzigen ernsthaften Gegners des Faschismus in Deutsch-
land angesehen, und wenn diese Provokation gelang, auch der offiziellen Macht-
übernahme Hitlers nichts mehr im Wege stehe. Heute ist ganz klar, dass dieser 22.
Januar der entscheidendste Tag war, an dem alles gewagt werden musste, oder alles
verloren war. Die Kabinettsverhandlungen des 30. waren nur noch untergeordnetes
Beiwerk. Hier ging es genau wie mit dem 1. Juni und dem 20. Juli.129 Wer den 1. Juni
nicht begriff, musste vom 20. Juli überrascht werden und wer den 22. Januar als harm-
lose Demonstration auffasste, durfte nicht überrascht sein, wenn Hitler am 30. Januar
an der Macht war.
Die Partei hat es am 22. Januar nicht zu einer entscheidenden Kraftprobe kommen
lassen, trotzdem es der entscheidende Tag war. Daran sind wir in der P[artei]L[eitung].
alle schuld. Unsere Anweisungen gingen dahin, es nur zu friedlichen Demonstratio-
nen kommen zu lassen, und keinen ernsthaften Widerstand dem SA.-Aufmarsch ent-
gegenzustellen. Wir haben gemeinsam diese Taktik beschlossen, eine Taktik, die wie
128 Aufmarsch der SA am Bülowplatz: Was die Bedeutung des SA-Aufmarsches vor der KPD-Zentrale
für die Entscheidung über die Machtfrage im Reich angeht, argumentierten die „Versöhnler“ in der
KPD ähnlich. Siehe Dok. 303.
129 Gemeint ist der 20.7.1932, der „Papenschlag“ als Absetzung der geschäftsführenden preußischen
Regierung (Dok. 293 u.a.). Am 1.1.1932 hatte Reichspräsident Hindenburg als Nachfolger Brünings den
autoritär-klerikalen Franz von Papen als Reichskanzler eingesetzt, der den Nationalsozialisten den
Weg zur Macht öffnete.
Dok. 321: [Berlin], 12.4.1933 1003
es sich jetzt zeigt, nicht der Situation entsprach. Auch das muss offen ausgesprochen
werden, wenn man über die Richtigkeit oder die Fehler der Partei spricht.
d.) Das erwartete und nicht eingetroffene Parteiverbot. Ein anderer Fehler, der
ein nicht unerheblicher war, war der, dass die Führung der Partei die ganze Partei
lediglich auf das Verbot der Partei einstellte, für das angeblich schon die Verordnung
fix und fertig noch vor der Reichstagswahl vorbereitet gewesen sei. Die ganze Partei
wurde genauestens instruiert, was in diesem Falle zu tun sei. Es waren Millionen von
Flugblättern gedruckt, es waren Anweisungen für die Betriebe, für die Stempelstellen
etc. erteilt usf. Alles starrte auf das Papierchen, auf das Gesetz, auf das Verbot, und
niemand sah wie der Faschismus auf ganz anderem Wege die Partei unterdrückte. Ihr
erinnert euch als in der Sitzung des PB. vor dem 10.2. die Meldung von dem angeb-
lichen Verbot, das bereits im Innenministerium vorbereitet sei, kam, habe ich sofort
vor dieser Nachricht gewarnt, dass sie richtig sein könne, da das ganz im Widerspruch
mit den Piratenmethoden des Faschismus steht. Ich sagte damals ich glaube nicht
daran, dass die Partei verboten wird, sondern ich glaube an eine grosse Provoka-
tion zum Zwecke der gewaltsamen terroristischen Unterdrückung der Partei.130 Trotz
meiner Warnung wurde die Partei nur auf die einzige Eventualität des Verbotes einge-
stellt. Und das war der Fehler. Hätte man die Partei auch auf die andere Eventualität
eingestellt, die ich vermutete, dann hätte sie von den Ereignissen nicht so überrascht
sein können. So aber wartete die Partei auf den entscheidenden Tag, der der Tag des
Verbots sein sollte. Da aber dieser Tag nicht kam, die Partei nicht verboten wurde,
und auch nicht verboten werden wird, konnte man eben nichts machen. Man wartete
auf das Signal, das Hitler geben würde und Hitler hat das Signal nicht gegeben, was
war da zu machen. So war es doch wohl?
Was zeigte dieser Vorgang? Erstens, dass man das faschistische System voll-
kommen verkannte. Das was eben den Faschismus von der bürgerlichen Demokratie
unterscheidet ist nicht etwa einzig und allein die Frage des Parlaments, sondern das
Hauptwesen des Systems besteht darin, dass er die Methoden des Lumpenproletariats
zur Staatsräson erhebt. Welches sind die Methoden des Lumpenproletariats? Nun die
Methoden der kriminellen Verbrecherwelt im allgemeinen, und ihre Spezialitäten im
besonderen. Die Methode der Landsknechte, bei denen der Krieg den Krieg ernähren
musste, die Methoden der Zuhälter, denn auf eine Art muss doch der Mensch leben,
die Methoden der Falschspieler, denn als Sprössling der honetten Gesellschaft lebt es
sich im Salon am standesgemässesten, die Methode der Gentlemeneinbrecher, man
bleibt dabei immer in anständiger Gesellschaft, die Methoden der Brandstiftung, war
die doch ein einträgliches Gewerbe im Feindesland. Dass sich die Führung nicht auf
diese Eventualität einstellte und nur an den gesetzlichen Weg glaubte, bewies, dass
sie sich nie mit dem Wesen des Faschismus beschäftigte, und den klassenmäßigen
Inhalt des Faschismus als das organisierte Lumpenproletariat begriff. Das was eben
130 Grosse Provokation zum Zwecke des Verbots: Angesprochen ist hier der Reichstagsbrand. Auch in
diesem Punkt sollte Remmele Recht behalten.
1004 1933–1939
den Faschismus von der Demokratie unterscheidet ist, dass diese für das Geschäft des
Bürgers erst den Segen des Pfaffen und die Autorität des Staatsanwalts haben muss,
d.h. das Gesetz, dass das Parlament zu beschliessen hatte. Der Faschismus frägt
einen Dreck nach diesem Gesetz, er hat seine eigenen Gesetze, die ungeschriebenen
und unschreibbaren Gesetze der kriminellen Verbrecherwelt.
Diese Versäumnis der Führung, dass sie sich nicht auf diese Eventualität ein-
stellte, bewies wie sehr sie von legalistischem Kretinismus befangen war. Ihr wisst,
dass dieser Vorwurf der Führung beim Verbot des proletarischen Freidenker-Verban-
des öffentlich in der „K[ommunistischen] I[nternationale]“ gemacht worden ist, und
damals in diesem Artikel der Komintern, vor den Gefahren, die daraus für die Partei
entstehen würden, gewarnt wurde.131 [...] In der Führung dachte man nur an den
gesetzmässigen Weg, man dachte garnicht daran, dass es anders kommen konnte,
man hatte entweder den Faschismus nicht begriffen, oder aber man dachte, wie das
ja auch oft ausgesprochen wurde, wenn Hitler ran kommt, kann er auch nur mit
Wasser kochen.
Gleichzeitig war neben diesem legalistischen Kretinismus ein anderes Uebel zu
verzeichnen, nämlich das des kampflosen Zurückweichens und das Nichtausnutzen
der legalen Möglichkeiten gegenüber dem illegalen Vorgehen des Faschismus. Ich
habe bereits schon in einem Falle mein Nichteinverständnis mit diesem Vorgehen,
nämlich in der Diäten-Frage zu Eurer Kenntnis gebracht. Beide Erscheinungen, das
Rechnen nur mit der Gesetzlichkeit des Staates und der Regierung, und das Unver-
ständnis dafür, dass auch die Regierung illegale Methoden anwenden kann, und auf
der anderen Seite der Verzicht auf die Ausnutzung aller legalen Mittel auch der Regie-
rung gegenüber, stammen aus der gleichen Quelle: legalistischer Kretinismus. [...]
Diesselben Fehler treten aber jetzt auch wieder in der Resolution auf. Zu den bren-
nendsten Problemen, auf die heute die Parteimitglieder eine Antwort haben wollen,
wird keine Stellung genommen. Allen entscheidenden Fragen, die mit der Machter-
greifung des Faschismus auf die Tagesordnung gestellt werden, wird geflissentlich
aus dem Wege gegangen. Das ist keine revolutionäre Politik mehr! Das ist der reinste
Opportunismus, wenn man glaubt brenzliche Fragen damit aus der Welt zu schaffen,
indem man sie verschweigt. Ebenso ist es Opportunismus schlimmster Sorte, wenn
man glaubt damit die Autorität der Parteiführung zu erhalten und zu vermehren,
131 Nach der Spaltung der Freidenker-Internationale im Jahre 1930 (siehe Dok. 215) wurde qua Ver-
ordnung des Reichspräsidenten „zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen“ ihr Spielraum weiter
eingeschänkt. Qua Verordnung vom 3. Mai 1932 wurden dann die kommunistischen Freidenkerver-
bände am 3.5.1932 als Träger der „Gottlosenpropaganda“ verboten. Offensichtlich hatte die Parteifüh-
rung diese Maßnahme angesichts von über 100000 Mitgliedern nicht ernst genug genommen (siehe
Jochen-Christoph Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik: Proletarische Freiden-
kerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart, Klett-Cotta, 1981; Horst Groschopp:
Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin, Dietz, 1997, 2. verbesserte Auflage, Mar-
burg, Tectum, 2011).
Dok. 321: [Berlin], 12.4.1933 1005
wenn man den Mitgliedern verbietet, über die Politik der Führung zu sprechen, oder
sie deswegen aus der Partei auszuschliessen.
Damit stärkt man und vermehrt man nicht das Vertrauen zur Parteiführung,
sondern man untergräbt es.
9.) Ich beantrage a.) diesen Brief zu vervielfältigen und allen Mitgliedern des PB.
zuzustellen. b.) ihn sofort dem P[olit]S[ekretariat]. des EKKI zu übermitteln und c.)
sofern eine Parteidiskussion stattfindet und Resolutionen von der Parteiführung der
Mitgliedschaft unterbreitet werden, diesen Brief als Material zur Diskussion der Par-
teimitgliedschaft zuzuführen. In diesem Falle wäre der Punkt 8, Fehler und Mängel
der Parteipolitik, nochmals einer Revision zu unterziehen, worüber man eine Aus-
sprache herbeiführen kann. Ebenso kann man in diesem Falle die zwei einleitenden
Absätze, die den Protest gegen das Verfahren im PB. enthalten, in Wegfall bringen
lassen, da das ja eine innere Angelegenheit ist, mit der man eine Parteidiskussion
nicht zu belasten braucht.
Ich protestiere nochmals gegen das Verfahren, wie ich es am Anfang des Briefes
kritisierte und besonders gegen die Methode der gewaltsamen Unterdrückung der
Kritik an der Politik der Partei.132
besten Gruss
Herzen [d.i. Heinrich Remmele].
132 Gewaltsame Unterdrückung der Kritik: Die Komintern machte sich trotz der von Remmele gelie-
ferten Belege die Argumentation der (Rest-)Führung der KPD zueigen. Trotz des entstandenen Vaku-
ums in der Führung wurde Remmele aufgrund seiner Kritik und des Scheiterns der KPD mit scharfen
Partei- und Kominternstrafen überzogen. Nachdem das EKKI eine Untersuchung eingeleitet und der
Bericht der Untersuchungskommission über Remmele und Neumann vorgelegt wurde, erfolgte am
27.10.1933 der Beschluss, nach dem Remmele sein Mandat als Mitglied des EKKI-Präsidiums niederle-
gen und durch das ZK aus der Leitung der KPD entfernt werden sollte. Für die Arbeit in der Komintern
sollte er ebenfalls nicht mehr verwendet werden, fortan sollte er in die VKP(b) übergehen und in der
Sowjetunion arbeiten.
1006 1933–1939
Dok. 322
Alfred Kurella über die Einladung der Komintern zu gemeinsamen
antifaschistischen Aktionen mit der Sozialdemokratie
[Moskau], 28.2.1935
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/205/6339, 373–376, hier: 375. Erstveröffent-
lichung.
[...] 1933 April mündliche Rüge im Pol.Sekretariat, weil ich zugelassen hatte (ohne
beim EKKI vorher anzufragen), dass Barbusse sich mit Briefen an Adler, Bauer und
Vandervelde wandte, in denen er seine Vermittlung für eine ev[entuelle] Fühlung-
nahme mit der Leitung der Komintern anbot und mit anderen Briefen an „linke“ Sozi-
aldemokraten zu einer int[ernationalen] Konferenz zur Beratung gemeinsamer Akti-
onen mit den KP [Kommunistischen Parteien] zur Hilfe für das deutsche Proletariat
nach Hitlers Sieg einlud (diese Konferenz wurde im Mai in Paris mit Billigung der KI
durchgeführt).133
Im April-Mai 33 hatte ich Schwankungen in der Frage der Resolution des Präsidiums
über die deutsche Frage. [...]
133 Dass Kurella in dieser Sache eine Rüge erhielt, belegt, dass es der Komintern mit ihrem Einheits-
frontangebot an die Sozialdemokratie zu diesem Zeitpunkt nicht ernst war.
134 Antifa-Kongress: Gemeint ist der „Europäische Kongress gegen Faschismus und Krieg“ im Pariser
Pleyel-Saal vom 4.–6.6.1933 (siehe Dok. 307, 321).
135 Trotz der katastrophalen Entwicklung in Deutschland wurde auf dem Kongress „gegen Faschis-
mus und Krieg“ – auch im Vergleich zum Amsterdamer Friedenskongress vom August 1932 – die an-
tifaschistische Komponente weniger betont und entsprechend der offiziellen Kominternlinie stärker
dem als prioritär proklamierten Antikriegskampf nachgeordnet.
136 Die Zeitschrift Monde erschien von 1928 bis 1935 in Paris. Ihr Gründer und Direktor war Henri
Barbusse, Alfred Kurella war im Herbst 1933 Chefredakteur. Er sorgte mit dafür, dass die als „salonso-
zialistisch“ kritisierte, anfänglich literarisch und journalistisch hochwertige, von einer Phalanx in-
Dok. 322: [Moskau], 28.2.1935 1007
Im November 1934 beging ich dann den Fehler, an der Organisation und Durchfüh-
rung des Abends der ehem[aligen] KIM-Leute aktiv teilzunehmen,137 ohne den objek-
tiven politischen und parteischädlichen Charakter dieser Zusammenkunft zu erken-
nen. Dafür erhielt ich von der Politkommission des EKKI einen strengen Verweis und
wurde von meiner Stelle im Sekretariat Dimitroffs entfernt.138
Diesen Abweichungen, Schwankungen und Fehlern steht in der ganzen Zeit ein
aktiver polit. Kampf gegen alle parteifeindlichen Fraktionen, Gruppierungen und
Strömungen und eine umfangreiche Propagandaarbeit für den Leninismus auf den
verschiedensten Gebiten gegenüber.
Am 15.4.1933 traf das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Entscheidung in Sachen der Deut-
schen Vertriebsgesellschaft für Russische Öl-Produkte AG (Derop). Die Derop war wiederholtes Ziel
von Angriffen, Durchsuchungen etc. des NS-Regimes, die damit motiviert waren, dass die Firma eine
Zuflucht für deutsche Kommunisten biete. Der Vorschlag der Deutschen, Derop zu verkaufen, soll-
te abgelehnt werden, stattdessen sollte die Firma aufrechterhalten werden, indem ihre regionalen
Apparate an Konzessionäre abgegeben sowie „zwei einflussreiche Deutsche, möglichst aus Reichs-
wehrkreisen oder Großindustrielle“, in den Aufsichtsrat aufgenommen werden sollten.139
Dok. 324
Resolution des Politsekretariats der Komintern zur
Wiederherstellung von Klassengewerkschaften in Deutschland
Moskau, 5.5.1933
Angesichts der Lage, die durch die Gleichschaltung der Gewerkschaften (die Beset-
zung der Gewerkschaftshäuser und Beschlagnahme der Gewerkschaftsgelder, die
Einsetzung von Kommissaren und die Verhaftung der Gewerkschaftsbürokratie)
geschaffen wurde, halten wir für notwendig folgende Linie:
1) Die neugeschaffene Lage, durch die der ADGB als selbständige Organisation
aufgehört hat zu existieren, erfordert mit aller Dringlichkeit die Notwendigkeit der
raschesten und tatsächlichen Durchführung unserer letzten Beschlüsse; über den
Eintritt aller Kommunisten und revolutionären Arbeiter in die Gewerkschaften.141
Die RGO hat heute die Möglichkeit der Eroberung des grössten Einflusses unter den
140 Der ADGB unter Theodor Leipart hatte sich Ende März demonstrativ von der SPD distanziert und
Bereitschaft gezeigt, sich dem neuen Regime anzupassen. Trotz der Hoffnung der Gewerkschaftsfüh-
rer, dadurch ihre Strukturen erhalten zu können, holte das NS-Regime am 2.5.1933 zum vernichtenden
Schlag gegen die Freien Gewerkschaften aus. Während der ADGB sogar zur Teilnahme an den vom
NS-Regime organisierten Erste-Mai-Feierlichkeiten aufgerufen hatte, besetzten am Vormittag des Fol-
getags SS- und SA-Trupps im ganzen Reichsgebiet die Gewerkschaftshäuser, die Zahlstellen und die
Redaktionen der Gewerkschaftspresse. Die ADGB-Führung sowie leitende Gewerkschaftsfunktionäre
wurden in „Schutzhaft“ genommen und misshandelt, das Vermögen der Gewerkschaften wurde be-
schlagnahmt. Die Strukturen und Vermögenswerte wurden vom Regime zum Aufbau der DAF genutzt
(siehe Schumann: Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung, S. 69–75; Peter Jahn (Hrsg.):
Die Gewerkschaften in der Endphase der Republik 1930–1933, Köln, Bund-Verlag, 1988, S. 48–55).
141 Eintritt in die Gewerkschaften: Die ohnehin nicht lange andauernde Hinwendung der KPD zu den
Gewerkschaften erfolgte praktisch, als es zu spät war. Am 27.2.1933 hatte das ZK in einem Rundschrei-
ben die Mitglieder aufgefordert, die „innergewerkschaftliche Arbeit in den ADGB- und in den christ-
lichen Gewerkschaften“ zu verstärken, jedoch mit dem Schwerpunkt, darin „Oppositionsgruppen“
zu bilden (Weber: Die Generallinie, S. 669). Teilweise schien die Absicht durch, die Gewerkschaften,
nachdem die größtenteils sozialdemokratischen Führer verhaftet wurden, übernehmen zu wollen. In
einem über Kopenhagen gesendeten Chiffretelegramm forderten die Komintern und das Exekutivko-
mitee der Roten Gewerkschaftsinternationale am 16.6.1933 bereits wieder die verstärkte Propaganda
zum Wiederaufbau des ADGB (siehe: RGASPI, Moskau, 495/184/13, 206. Ausg. 1933. Zit. in: Širinja:
Komintern v 1933 godu, S. 237).
Dok. 324: Moskau, 5.5.1933 1009
142 Kommissarischer ADGB: Die mit der Aktion vom 2.5.1933 enthaupteten ADGB-Verbände wurden
NSDAP- und NSBO-Kommissaren unterstellt, „denen lediglich Überwachungsfunktionen, nicht aber
Eingriffsrechte in den einzelnen Geschäftsgang übertragen worden waren“ (Schumann: Nationalso-
zialismus und Gewerkschaftsbewegung, S. 71). Sie sollten die reibungslose Überführung der Gewerk-
schaftsstrukturen in die gleich darauf gegründete DAF sicherstellen.
1010 1933–1939
Am 10.5.1933 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, im Namen des Volkskommis-
sariats für das Post- und Fernmeldewesen einen Protest an den deutschen Postminister zu richten.
Grund war die Behinderung von Transit-Telegrammen der TASS durch die Deutschen, sowie „der Vor-
schlag des deutschen Postministers über die Einstellung der Versuche unsererseits mit der 500-Kilo-
watt-Funkstation“.145
Dok. 324a
Brief Karl Radeks an den sowjetischen Botschaftssekretär in
Berlin, Vinogradov, über die Schuldigen am Reichstagsbrand und
dem bevorstehenden Reichstagsbrandprozess
[Moskau], 10.5.1933
Berlin.
An Gen. VINOGRADOV.
Lieber Genosse.
Wir sind hier der Meinung, dass das Leben von Gen. Dimitrov und anderen bulgari-
schen Genossen sich in unmittelbarer Gefahr befindet. In der Angelegenheit der Orga-
144 Die Gewerkschaftsarbeit der KPD besonders im angezeigten Sinne kam nicht voran. Die hier
aufgestellten Forderungen blieben auf dem Papier. Außerdem erfolgte der Verzicht auf den Aufbau
unabhängiger Gewerkschaften, teilweise wurde das Weiterbestehen der RGO propagiert.
145 RGASPI, Moskau, 17/162/14, 137. Laut der zugänglichen Sondermappen-Dokumente im Moskauer
ZK-Archiv handelte es sich um den ersten Protest überhaupt seit dem Machtantritt Hitlers.
1012 1933–1939
146 Im vorliegenden Dokument setzte sich Radek, der als Leiter des gesonderten Informbüros für
internationale Fragen beim ZK der VKP(b) (BMI) direkt Stalin zuarbeitete, für die Organisierung einer
internationalen Verteidigungskampagne für Dimitrov ein, möglicherweise auf Druck von Willi Mün-
zenberg. Während die sowjetische Außenpolitik gegenüber NS-Deutschland weitgehend kritiklos
blieb, wurde die in der öffentlichen Meinung breit rezipierte internationale Kampagne gegen den
Reichstagsbrandprozess, die den Reichstagsbrand zur Legende machte, von den relativ autonomen,
besonders engagierten Kräften um Münzenberg konzipiert und realisiert, in dessen Pariser Verlag das
„Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“ erschien. Hier besonders aktiv war neben Otto
Katz auch Romain Rolland, auf dessen Initiative die Amsterdam-Pleyel-Bewegung geschaffen wurde.
147 In einer Meldung des Populaire, der Tageszeitung der französischen Sektion der sozialistischen
Arbeiter-Internationale (SFIO) vom 28.4.1933 wird der Artikel des Manchester Guardian aufgegriffen,
der die Untersuchung des Populaire bestätige, wonach es sich beim Reichstagsbrand um ein Werk der
„Rosenberg-Bande“ gehandelt habe. Bei „Bell“ handelt es sich um den SA-Agenten Georg Bell, der
in der Kominternpropaganda auch als Aushecker des Plans dargestellt wurde. Kurz vor dem Brand
wurde er ermordet, angeblich, weil er zu viel darüber gewusst haben sollte, was die neuere Forschung
bezweifelt. Siehe: Andreas Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland. Politik und Ermordung des SA-
Agenten Georg Bell, Münster, Lit, 1998, S. 182–186.
148 Ernst Röhm (1887–1934). „Stabschef“ der Sturmabteilung (SA), die Hitler nicht zuletzt durch
die Straßenkämpfe den Weg bahnte. Sein Konzept der „Volksarmee“ und der „zweiten Revolution“
brachten sowohl die Reichswehr als auch Hitler gegen ihn auf. Auf Befehl Hitlers in der Haftanstalt
Stadelheim ermordet, nach seiner Weigerung, sich selbst zu erschiessen.
149 Daluege: Der Berliner SS-Führer Kurt Daluege (1897–1946, in Prag hingerichtet) war zunächst
leitend in der SA, dann als Polizeichef in Preußen unter Göring eine zentrale Stütze für den Aufbau
des NS-Systems. Anfang 1933 säuberte er die preußische Polizei auf Grundlage der scheinbar bereits
vor dem Brand ausgearbeiteten (!) sog. „Reichstagsbrandverordnung“ von allen republikanischen
Elementen („Sonderabteilung Daluege“). Im Krieg verantwortlich für die Repressionsmaßnahmen im
„Protektorat Böhmen und Mähren“ (Lidice u.a.) (siehe: Graf: Politische Polizei, S. 338f. u.a.).
150 Wer die Sache außer van der Lubbe ausgeführt hat: Radeks Aussage weist darauf hin, dass er
(und wohl auch Stalin) nicht davon ausgingen, daß van der Lubbe der Hauptorganisator bzw. Al-
leintäter des Reichstagsbrandes war. In der immer noch nicht beendeten Reichstagsbrand-Debatte
wurde die zentrale Behauptung der deutschen Geschichtswissenschaft, van der Lubbe sei der Al-
leintäter gewesen, in den letzten Jahren u.a. unter Hinweis auf Zeitzeugnisse des Konservativen Her-
mann Rauschning und des Kommunisten Ernst Torgler entkräftet. Gegen den Mainstream der deut-
schen Geschichtswissenschaft erscheint die Haupttäterschaft der Nationalsozialisten nun plausibler. In
seinen Aufzeichnungen schrieb bereits 1939 Hermann Rauschning: „Erst aus dem Gespräch [Görings
mit Himmler, Frick und mehreren Gauleitern] erfuhr ich, daß der Reichstag ausschliesslich [recte: im
Dok. 324a: [Moskau], 10.5.1933 1013
Sie kennen dieses Milieu so gut, dass es Ihnen nicht schwer fallen sollte, diese
Frage mithilfe diskreter Gespräche oder Diskussionen mit Niedermayer, Grabowsky,151
den Leuten aus dem „Tat“-Kreis152 zu klären.
Die zweite Frage ist: wie kann dieses Material verwendet werden? Ich denke,
am besten wäre es über den Manchester Guardian, amerikanische Zeitungen, den
Populaire. Schreiben Sie, was Sie in diesen Bereichen machen können. Befinden sich
F[Mar]t [oder Fajrt] und Ku in Berlin?153 Sie wissen selbst, was Sie aufgrund Ihrer Posi-
tion selbständig tun können, und was man andere unter Ihrer Aufsicht tun lassen
muss.
Auftrag] der nationalsozialistischen Führung angezündet worden war“ und hob die Rolle von Göring
hervor (Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, Zürich, 1940, S. 76). Der seinerzeitige Vorsitzende
der KPD-Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, bezeichnete später eine Gruppe von SA-Mitgliedern unter
Führung von Karl Ernst als Brandstifter. In einer 2014 in den USA erschienenen Synthese werden
die SA-Leute neben Ernst, Wolf-Heinrich Graf von Helldorff und vor allem Hans Georg Gewehr als
mutmaßliche Täter angenommen, die nach einer Vorlage von Goebbels handelten (siehe: Benjamin
Carter Hett: Burning the Reichstag. An Investigation into the Third Reich’s Enduring Mystery, Oxford-
New York u.a., Oxford University Press, 2014, S. 318f.). Siehe als Verteter der Alleinschuldthese: Fritz
Tobias: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit, Rastatt/Baden, Grote, 1962; Hans Mommsen:
Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 12 (1964), 4, S.
351–413; Petr Stojanoff: Der Reichstagsbrand. Die Prozesse in London und Leipzig, Wien, Europa Verlag,
1966; Für die (Haupt-)Täterschaft der Nationalsozialisten plädieren neben Hett insbesondere: Alexander
Bahar, Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird (mit Bibliographie), Berlin,
edition q, 2001; neuerdings prägnanter dies.: Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation, Köln,
PapyRossa, 2013, bes. S. 155ff.
151 Niedermayer/Grabowski: Zu Oskar von Niedermayer siehe Dok. 55; Grabowsky: Vermutlich
Adolf Grabowsky (1880, Berlin - 1969, Arlesheim bei Basel), reformkonservativer deutscher Politik-
wissenschaftler, Mitbegründer (1907) und Herausgeber der Zeitschrift für Politik. Grabowsky gehörte
zu denjenigen deutschen Intellektuellen, die Sowjetrussland von konservativer Seite aus Beachtung
entgegenbrachten. So äußerte er sich 1919 über den Bolschewismus, dieser sei „durchaus führerhaft,
aktivistisch, aristokratisch“ und damit nah am Konservatismus. Sein Interesse an der Sowjetunion
hielt weiter an, so verfasste er u.a. den Artikel „Bolschewismus“ im Handwörterbuch der Soziologie
(1932) und war (gemeinsam mit Carl Schmitt, Arvid Harnack u.a.) Mitglied in der „Arplan“, der Ende
1931 gegründeten prosowjetischen „Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft“. 1934 emi-
grierte er in die Schweiz (siehe: Horst Knospe: Grabowsky, Adolf. In: Wilhelm Bernsdorf, Horst Knos-
pe (Hrsg.): Internationales Soziologenlexikon, Bd. 1, Stuttgart, Enke, 1980, S. 155–156; Gerd Koenen:
Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten. 1900–1945, München, Beck, 2005, S. 230, 343).
152 Tat-Kreis: Um die Zeitschrift Die Tat gebildete linkskonservative „Redaktionsgemeinschaft“,
darunter Hans Zehrer, Ernst Wilhelm Eschmann, Giselher Wirsing und Ferdinand Friedrich Zimmer-
mann, die in der späten Weimarer Republik mit einer Auflage von bis zu 30 000 einen beachtlichen
Erfolg erzielte. Stichworte waren die Endkrise des Kapitalismus, Antiparlamentarismus, nationaler
Auf- und Umbruch, sowie Autarkie. Stalin wurden Übersetzungen von Tat-Artikeln vorgelegt (Kurt
Sontheimer: Der Tatkreis. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), 3, S. 229–260).
153 Die Namenskürzel sind nicht sicher aufzulösen. Der nächste Satz Radeks weist daraufhin, dass
es sich um höherrangige Personen handeln mußte, vermutlich nicht aus dem außenpolitischen Sek-
tor. Komintern-Sekretär Manuilski befand sich in dieser Periode zeitweise ikognito in Deutschland,
„Ku“: Otto Kuusinen und Béla Kun waren beide ebenfalls Komintern-Sekretäre.
1014 1933–1939
Ich bitte Sie sehr darum, sich dieser Angelegenheit mit voller Ernsthaftigkeit
anzunehmen, und mir so schnell wie möglich zu schreiben, was Sie machen können.
Schreiben Sie über diesen, und nicht über den gewöhnlichen Weg.154
Am 14.5.1933 genehmigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion zwei Konferenzen in Moskau
zum Eisenbahngüterverkehr: Eine sowjetisch-polnische am 15.5. sowie eine sowjetisch-polnisch-
deutsche am 25.5. Dafür wurde die Erlaubnis erteilt, fünf polnische Vertreter des Transportministeri-
ums und vier deutsche Vertreter der Reichsbahn einreisen zu lassen.155
154 Intentionen und Hintergründe der Braunbuchkampagne haben mit den Thesen Stephen Kochs
in seinem Buch „Double Lives“ eine Historikerdebatte ausgelöst (Stephen Koch: Double Lives: Stalin,
Willi Münzenberg, and the Seduction of the Intellectuals, with an introduction by Sam Tanenhaus,
New York, Enigma Books, revised and updated edition, 2004 (1. Aufl. 1994), bes. S. 97–145). Das hier
publizierte Dokument scheint zunächst die These Kochs, dass die russische Führung über Radek als
Vermittler eine von den sowjetischen Diensten kontrollierte Kulissenkampagne anschob, zu stützen,
während die Mehrheit der KPD-Führung weiter versuchte, die Kampagne zu sabotieren; die weitere
Münzenberg-Korrespondenz bestätigt diesen Eindruck jedoch nicht (siehe u.a. das folgende Doku-
ment; vgl. den Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 286ff. u.a.).
155 RGASPI, Moskau, 17/3/923, 11.
Dok. 325: [Paris], 15.5.1933 1015
Dok. 325
Brief Münzenbergs an den „lieben Freund“ über Hilfsaktionen und
antifaschistische Solidaritätskampagnen für die Freilassung von
Thälmann, Torgler und Dimitrov
[Paris], 15.5.1933
Lieber Freund,156
Wir haben Deine verschiedenen Briefe, darunter auch die Mitteilung bezügl. der Kom-
mission mit Rau an der Spitze,157 erhalten. Wir teilen Dir für diese Kommission über
die wichtigsten geplanten Schritte von uns in der Frage der deutschen Hilfsaktion
folgendes mit.
Diese Mitteilung kannst Du auch gleichzeitig an Fritz H[eckert]158 geben:
1.) Im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit steht die Organisierung von Versamm-
lungen, Kundgebungen, Demonstrationen, im weitesten Umfange und in den brei-
testen Kreisen für Teddy [d.i. Ernst Thälmann], Torgler, Dimitroff.159 Die erste dieser
grossen Kundgebungen hat am Freitag in Paris stattgefunden. Ueber die besonders
politische Bedeutung dieser Kundgebung habe ich bereits am Sonnabend geschrie-
ben. Ich lege zur Ergänzung des Sonnabend-Briefes heute noch die Berichte aus einer
Anzahl bürgerlicher Zeitungen bei, die meinen Bericht unterstreichen. Ebenfalls ein
kurz abgefasstes Protokoll.
2.) Solche und ähnliche Versammlungen wollen wir jetzt in allen Hauptstädten
und einer grossen Reihe Mittelstädte in allen Ländern durchführen. Ab heute findet
in Holland eine grosse Versammlungsserie statt, in der als Hauptredner Otto Heller
156 Bei dem unbekannten Adressaten handelte dürfte es sich um eine Vertrauensperson im IAH-,
RH- oder Agitprop-Apparat in Moskau gehandelt haben. Zur Interpretation und Bedeutung des Doku-
ments siehe den Beitrag von Bayerlein in Band 1, S. 286ff.
157 Kommission mit Rau an der Spitze: Die betr. Person konnte nicht entschlüsselt werden. Dabei
handelte es sich wohl um eine Moskauer Kommission, möglicherweise die Antikriegskommission des
EKKI, die von 1932 bis 1935 bestand und von Béla Kun geleitet wurde.
158 Fritz H.: Vermutlich Fritz Heckert, der zu dieser Zeit Vertreter der KPD beim EKKI war.
159 Kampagne: Dabei handelte es sich um die von Münzenberg koordinierte, fast erzwungene, pro-
pagandistisch eindrucksvolle Solidaritätskampagne. Man rechnete mit der Eröffnung eines großen
Prozesses in allernächster Zeit gegen Thälmann, der jedoch nicht eröffnet wurde. Der Ausgang des
Reichstagsbrandprozesses, der erst am 21.9.1933 begann, trug zusammen mit der hier beschriebenen
transnationalen antifaschistischen Kampagne dazu bei, dass der ursprüngliche Plan der National-
sozialisten, sowohl dem deutschen, als auch dem internationalen Kommunismus den Prozess zu
machen, nicht realisiert wurde (zur Intention und Vorbereitung der Prozesse siehe: Graf: Politische
Polizei, S. 221–233).
1016 1933–1939
auftritt160 und in denen eine ähnlich lautende Resolution wie die Pariser ebenfalls
vorgelegt wird.
3.) Gleiche Versammlungen sind vorbereitet in Norwegen, Schweden, Spanien,
England, Schweiz, Saarbrücken, Amerika, etc.
4.) Eine gewisse Höhe dieser Versammlungsaktion soll erreicht werden in den
Kundgebungen des Internationalen Solidaritätstages, dessen Demonstrationen in
erster Linie und vor allem im Zeichen für die deutsche Arbeiterklasse und für die
Aktion Thälmann organisiert werden.
5.) Die Pariser Resolution wird als Massenflugblatt herausgegeben werden und
in verschiedene Sprachen übersetzt und verbreitet werden. Wir hoffen, auf unseren
Wegen mehrere Zehntausend nach Deutschland zu bekommen.
6.) In Vorbereitung ist ein drittes Heft, der „Braune Terror“ über Deutschland, das
ausschliesslich der Aktion Thälmann gewidmet ist. Erscheint am 20. Mai.161
7.) In Verbindung mit der R[oten]H[ilfe] werden sowohl hier wie in anderen
Ländern gemeinsame Aktionen, Versammlungen, Sammlungen etc. vorbereitet, teil-
weise sind sei bereits in der Durchführung.
8.) In ca. 4 Wochen erscheint der erste Band des „Braunbuches“ in deutsch, eng-
lisch, französischer und holländischer Sprache.162 Wir sind überzeugt, dass es zu den
stärksten Arbeiten gehört, die bis heute herausgekommen sind.
Entstehung und Verbreitung des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror 1933/34. Mit drei
bibliographischen Übersichten. In: Jahrbuch für Geschichte 21 (1980), S. 289–327.
163 Internationaler Gerichtshof: Dazu wurde eine juristische Kommission für einen internationalen
Untersuchungsausschusses vorbereitet, die – wie Münzenberg später schreibt, auf Bitten Stalins –
einen „Gegenprozess“ in London mit dem britischen Kronanwalt Denis Pritt an der Spitze durchführte
(14.-18.9.1933) (siehe Dok. 330). Am 20.9.1933, einen Tag vor Beginn des Reichstagsbrandprozesses,
veröffentlichte die Kommission ihr Schlusskommuniqué, das auf die Täterschaft der Nationalsozia-
listen für den Brand hinwies. Die Mitglieder des „Untersuchungsausschusses zur Aufklärung des
Reichstagsbrandes” unter Vorsitz von Pritt bestätigen die Unschuld der Angeklagten mit Ausnahme
Marinus van der Lubbes. Sie hegten den „allerstärksten Verdacht”, die Nationalsozialisten selbst
seien die Täter. Münzenberg trat trotz seiner maßgeblichen Rolle in der Vorbereitung des Gegenpro-
zesses nicht in Erscheinung, in dem es vor allem wegen der Einschätzung der Rolle van der Lubbes
zu Unstimmigkeiten und Rückzügen von der „Braunbuch“-Argumentation kam (so seitens Stafford
Cripps). Der eigentlich zuständige EKKI-Sekretär Béla Kun beklagte sich darüber, dass die Komintern
die Kampagne nur halbherzog unterstützte. 1938 verweigerte Dimitrov schließlich Münzenberg die
Solidarität und Verteidigung „(...) so wie ich sie für dich durch mein Handeln und den Gegenprozeß
vom Herbst 1933 abgetrotzt habe, während deines Leipziger Prozesses.” (Dok. 443). Vgl. Anson Ra-
binbach: Van der Lubbe – ein Lustknabe Röhms? Die politische Dramaturgie der Exilkampagne zum
Reichstagsbrand. In: Susanne zur Nieden (Hrg.): Homosexualität und Staatsraison. Männlichkeit,
Homophobie und Politik in Deutschland 1900–1945, Frankfurt am Main, Campus, 2005, S. 193–213,
hier: S. 197, 204; http://www.münzenbergforum.de.
164 AJZ: Gemeint ist die weiterhin in Prag erscheinende AIZ, die unter dem Titel „Henker Göring“ am
14.9.1933 eine Sondernummer (Nr. 36) zum Reichstagsbrand-Prozess und zum Gegenprozess heraus-
brachte (http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/09/14/pressechronik-14-9-1933/). Regards war das
vom kommunistischen Filmkritiker Léon Moussinac geleitete französische Gegenstück der AIZ, für
dessen Layout und Design der Maler Edouard Pignon zuständig war.
165 Die Passage ist zweideutig. Sie lässt darauf schließen, dass Instruktionen vorlagen, nach denen
die Agitation in erster Linie gegen den geplanten, schließlich nicht stattgefundenen Thälmann-Pro-
zess gerichtet werden sollte.
1018 1933–1939
Selbstverständlich führen wir unsere Sammlungen weiter durch und alle Mass-
nahmen, die mit der Hilfsaktion als solche in Verbindung stehen.166
Herzlichen Gruss
[hdschr. später nachgetragen:] Willi
Dok. 326
Nachricht von Pjatnitzki an Stalins Privatsekretär Aleksandr
Poskrebyšev über die Situation Thälmanns in NS-Haft
Moskau, 22.5.1933
Gen. POSKREBYŠEV,
wie versprochen, schicke ich Ihnen die Antwort, die wir von ZK der KP Deutschl[ands]
über Thälmann erhalten haben.
„Gen. Thälmann wurde 2 Mal von seiner Frau besucht. Allwöchentlich bekommt
er alles Nötige zugeschickt. Ein Anwalt ist engagiert, er wird jedoch nicht zur Verteidi-
gung Thälmanns zugelassen. Bis jetzt hat man ihn nicht geschlagen. Er ist überführt
worden (wohin, wurde nicht gesagt).167 Er lässt alle grüßen.“
[Sign.:] Pjatnitzki
Am 1.6.1933 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit den Überflugrechten für
deutsche Flugzeuge. Dabei wurde drei Maschinen der Lufthansa der Überflug des Sowjetterritoriums
auf der Route nach Westchina gestattet. Die Route sollte zunächst mit der von Deruluft (Deutsch-Rus-
sische Luftverkehrs AG, 1921–1937) identisch sein – über Königsberg und Moskau, und danach über
Kazan’–Sverdlovsk–Semipalatinsk–Sergiopol’ verlaufen.168
166 Das Dokument stützt nicht unbedingt die Sichtweise Kochs (Koch: Double Lives, S. 97–145), nach
der die Kampagne nach einem sowjetischen und zwischen den Geheimdiensten vereinbarten Dreh-
buch abgelaufen sei, und es sich dabei um eine mit der russischen Führung und Stalin abgesprochene
und von Münzenberg, Otto Katz und Gibarti (Ps., d.i. László Dobos) als sowjetischen Agenten sozu-
sagen nur zum Schein als Fassade durchgeführte antifaschistische Kampagne gehandelt habe. Die
wirklichen Absichten der sowjetischen Außenpolitik und ihre Haltung gegenüber dem Reichstagspro-
zess sollten damit übertüncht werden (zur Kritik der Thesen Kochs siehe den Beitrag von Bayerlein
in Bd.1, S. 244, 286ff.).
167 Thälmann überführt: Thälmann wurde in die Haftanstalt Moabit in Berlin überführt.
168 RGASPI, Moskau, 17/162/14, 148.
Dok. 327: O.O., 1.6.1933 [ca. Juni 1933] 1019
Ebenfalls am 1.6.1933 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, das Budget der Profin-
tern für das Jahr 1933 auf 200.000 Rubel festzusetzen.169
Dok. 327
Beschluss der Auslandsleitung der KPD zur verschärften Kontrolle
der Politemigration
O.O., 1.6.1933 [ca. Juni 1933]
Über die Arbeit unter den deutschen Emigranten und ihre organisatorische Erfassung
in den Bruderparteien. 170
1. Nach dem Statut der Komintern muss jeder Kommunist, wenn er in ein anderes
Land übersiedelt, Mitglied der Partei dieses Landes werden.171
2. Die aus Deutschland emigrierenden Mitglieder der KP müssen darum sofort nach
ihrer Ankunft im Emigrationsland die Aufnahme in die KP dieses Landes beantragen.
Bei ihrer Aufnahme sind die Gründe ihrer Emigration zu prüfen und festzustellen, ob
ihre Heimatorganisation mit der Emigration einverstanden ist, wobei als Legitimati-
onsbestätigung nur ein vom ZK der Heimatpartei ausgestelltes Dokument betrachtet
werden kann.
169 RGASPI, Moskau, 17/162/14, 150. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 691.
170 Bereits am 20.3.1932 wurde in einer Instruktion des russischen ZK eine strengere Erfassung und
Überwachung der ausländischen Kader angeordnet. Es wurde eine Reihe von Maßnahmen dekretiert,
zum einen, um „benutzbare“ Kader zu selektionieren, zum anderen als Maßnahme gegen „Provokati-
on und Gegenabwehr“ (RGASPI, Moskau, 495/18/918, 1–2).
171 Ein angehängtes Dokument enthielt konkretere Durchführungsbestimmungen für die hier an-
gezeigten Maßnahmen, die der Einführung eines umfassenden Kontrollsystems über die kommuni-
stische Emigration, besonders der KPD-Emigration, dienten. Die als „tragischer Karneval“ bezeich-
nete Situation der KPD-Emigration (hier in Frankreich) wurde 1936 von einem Parteimitglied in der
folgenden Weise beschrieben: „Das beginnt schon, wenn man aus illegaler Arbeit in Deutschland
geflüchtet ist, bei der Meldung in Paris. Nach langem Prüfen und Aushorchen wird man, sobald man
das Vorstadium strenger Examination bestanden hat, einem GPU-Mann übermittelt. Der prüft nun
in erster Linie nicht etwa, ob man ein Nazi, sondern vielmehr ein Kommunist ist; die sind nirgends
gerne gesehen, am wenigsten bei der Emi[grations]leitung. Stellt sich heraus, dass er revolutionäre
Vorstellungen hat, bleibt er hängen.“ (A.: Brief an die Kritische Parteistimme. In: Die Kritische Partei-
stimme Hrg. von der linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten) [1936/ Dat. unleserlich]). Es
ergab sich die paradoxe Situation, dass die Bedingungen im illegalen Widerstand freier waren als in
der Emigration (siehe hierzu den Beitrag von Bayerlein im Bd. 1, S. 295ff.).
1020 1933–1939
4. Zwecks besserer Einlebung in die Bewegung des Aufenthaltslandes und des Ver-
trautwerdens mit den Besonderheiten dieser Bewegung können Sprachgruppen
gebildet werden. Diese Sprachgruppen dürfen keine selbständigen Parteiorganisati-
onen sein; sie sind nur Hilfsorgane der Landes-, bezw. Bezirks- oder Ortsorganisatio-
nen der Partei,
5. In den Sprachgruppen kann und soll unter Aufsicht der Landespartei den Emigran-
ten ausreichende Möglichkeit zur Information über die Fragen des Heimatlandes und
der Arbeit der Heimatpartei gegeben werden. Die Form der Behandlung der Fragen
der Heimatpartei und ob und welche Beschlüsse dabei angenommen werden sollen,
ist vom ZK der Landespartei zu beschliessen.
7. Die Landespartei muss mit der Partei des Emigrantenlandes vereinbaren, welche
Emigranten als Verbindungsleute des ZK des Emigrantenlandes zu gelten haben.
9. Die Parteien der Emigrationsländer, besonders solche mit einer den Emigranten
fremden Sprache, sollen den Emigranten die Möglichkeit geben, auch in Kursen die
politischen Fragen des Emigrantenlandes oder ihres Heimatlandes zu behandeln, wie
auch allgemein ihre Kenntnisse des Marxismus und Leninismus zu steigern.
10. Die Emigranten sollen zur materiellen (finanziellen Hilfe für ihre Heimatparteien
und zur Verbreitung der Literatur der Heimatparteien unter den Emigranten) ständig
aufgefordert werden.
11. Der Verkehr der Emigranten mit Organen ihrer Heimatparteien soll nur unter der
Kontrolle der zuständigen Organe der Landesparteien erfolgen, die Regeln der Kons-
piration sind dabei strengstens zu beachten.
12. Für die gesamte Arbeit unter den Emigranten muss die Landesparteileitung mit
dem ZK der Partei des Organisationslandes einen Arbeitsplan ausarbeiten.
Dok. 328: [Moskau], 10.6.1933 1021
13. Die Organe der Landespartei dürfen nicht zulassen, dass sich unter den Emigran-
ten Fraktionen oder fraktionsähnliche Gruppen bilden. Gegen jede solche Bildung ist
sofort mit allen Parteimitteln vorzugehen.172
Dok. 328
Kommunisten und Faschisten als „Erben“ der zerschlagenen
sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung:
Aus einem Referat Solomon Lozovskijs in der Roten
Gewerkschafts-Internationale
[Moskau], 10.6.1933
Das, was in Deutschland passiert ist, versetzt den vielen Internationalen, die über-
haupt kein Lebenszeichen von sich gaben, die dann und wann zusammentraten und
die oder jene Resolution verfassten, einen weitaus größeren Schlag, als der Trans-
portarbeiter-Internationale,173 die aktiv blieb, und auch weiterhin aktiv ist. Hier hat
172 In einem Beschluss des ZK der KPD über Mitgliedsbücher und Organisationszugehörigkeiten der
Emigranten vom Juni/Juli 1933 hieß es verschärfend: „In zahlreichen Fällen haben faschistische Spit-
zel und Provokateure Parteimitgliedsbücher, die sie bei Haussuchungen und Verhaftungen beschlag-
nahmt haben, zum Zweck der Spitzeltätigkeit benutzt. Das ZK der KPD macht alle Arbeiter darauf
aufmerksam, dass Parteimitgliedsbücher in keinem Fall als Ausweise Gültigkeit haben. Auch gegen-
über Bruderorganisationen in den anderen Ländern haben die bisherigen Parteimitgliedsbücher der
KPD keine Gültigkeit als Ausweise. Als Emigranten können künftig nur solche Arbeiter anerkannt
werden, die vom ZK der KPD im Einvernehmen mit der betreffenden Bezirksorganisation als solche
bestätigt worden sind. Emigrierte Arbeiter werden in die betreffenden Bruderparteien überführt und
können nicht Mitglied der KPD bleiben. Das ZK der betreffenden Sektion bestimmt, inwieweit die frü-
heren Mitglieder der KPD im Rahmen der betreffenden Parteiorganisation zu lose[n] Sprachgruppen
zusammengefasst werden.“ (Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung II, 1933, 23, S.
793, 7.7.1933, publ. in: del Amo/Bahne/Bayerlein: Archives de Jules Humbert-Droz, IV, 221–222; zur Si-
tuation der kommunistischen Emigration siehe auch: Reinhard Müller (Hrsg.): Georg Lukács, Johan-
nes R. Becher, Friedrich Wolf [u. a.]: Die Säuberung. Moskau 1936. Stenogramm einer geschlossenen
Parteiversammlung, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1991, S. 9ff.; Tischler: Flucht in die Verfolgung).
173 Transportarbeiter-Internationale: Die 1896 gegründete Internationale Transportarbeiter-Födera-
tion (ITF) mit Sitz in London, Hamburg, Berlin (bis 1933), Amsterdam und London, die heute noch
existiert und dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) angehört. Generalsekretär in
der Zwischenkriegszeit war der linke Sozialist Eduard „Edo“ Fimmen, Sohn eines deutschen Kauf-
manns und Freund Willi Münzenbergs, der auch Mitglied der Internationalen Arbeiterhilfe und der
Liga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung war. Der ITF als einziger weltweiter und po-
litisch unabhängiger Gewerkschaftsorganisation gehörte u.a. der deutsche Einheitsverband der Ei-
senbahner an. Die ITF leistete einen herausragenden Beitrag zum internationalen Widerstand gegen
das Hitlerregime, ihr Verbindungsnetz wurde von einer großen Anzahl antifaschistischer Gruppen ge-
nutzt. Siehe: Bob Reinalda (Hrsg.): The International Transport Workers’ Federation (ITF) 1914–1945.
1022 1933–1939
die Beratung dieser Frage zu einer völlig natürlichen Lebhaftigkeit geführt, in dem
Sinne, dass eine ganze Reihe von Genossen als Erben schnellstens auch ihr Erbstück
bekommen wollten. Wir und die Faschisten sind beide die Erben der reformistischen
Gewerkschaftsbewegung. Sie erhalten die Gewerkschaftsbürokraten, wir die Arbei-
termassen. Allerdings haben sie die Gewerkschaftsbürokraten bereits bekommen,
während wir uns die Arbeitermassen noch nicht aneignen konnten, und die Aufgabe
besteht darin, uns diese anzueignen. Dies ist die zentrale Frage, die vor uns steht. Das
trifft den Nagel auf den Kopf.
Am 15.6.1933 erlaubte die KP der Sowjetunion bis zu acht Vertretern ausländischer Eisenbahngesell-
schaften die Einreise zu einer sowjetisch-litauisch-deutschen Verkehrskonferenz.174
Am 19.6.1933 forderte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den sowjetischen Repräsentan-
ten in Italien, Vladimir Potemkin, auf, Mussolini das unverzügliche Einverständnis für den von ihm
vorgeschlagenen Pakt mitzuteilen und ihm den eigenen Paktentwurf zu übergeben, unabhängig von
der Unterrichtung Frankreichs über die Verhandlungen. Der italienisch-sowjetische Neutralitätspakt
wurde schließlich am 1.9.1933 unterzeichnet.175
Dok. 329
Bericht an die Komintern über das Verhalten des ehemaligen
Hauptkassierers der KPD Arthur Golke
[Berlin], 26.6.1933
Abschrift!176
Bericht
Betrifft A. Golke177
Vor mehreren Wochen machte mir A. die Mitteilung, dass er sein Quartier wechseln
müsse, weil es unsicher geworden sei. A. hatte eines Abends in unmittelbarer Nähe
seines Quartiers ein Bierlokal besucht, wo er von SPD-Arbeitern erkannt wurde.
The Edo Fimmen Era, Amsterdam, Stichting beheer IISG, 1997; Nelles: Widerstand und internationale
Solidarität.
174 RGASPI, Moskau, 17/3/924, 25.
175 RGASPI, Moskau, 17/162/14, 162. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 291.
176 Handschriftl. Eintrag: „chiffr.“
177 Name handschriftlich, schlecht lesbar. Arthur Golke (1886–1938, nach Todesurteil in Moskau er-
schossen), Hauptkassierer und Mitglied des ZK der KPD.
Dok. 329: [Berlin], 26.6.1933 1023
Dok. 330
Brief Münzenbergs an Stalin über die Ursachen für die Niederlage
des deutschen Kommunismus 1933
[Paris], 20.7.1933
179 Arthur Golke emigrierte 1934 über Prag und Paris in die Sowjetunion und arbeitete dort in der
Kominternzentrale in Moskau. Nach Verhören vor der Internationalen Kontrollkommission 1937
verhaftet, zum Tode verurteilt und im August 1938 erschossen. Seine Frau und beide Töchter durften
1947 nach Deutschland zurückkehren (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 308).
180 Der Name Stalin erscheint im kompletten Dokument nicht. Er erschließt sich aus dem Zusam-
menhang.
181 Nach dem Problemen mit der russischen Delegation wie auch anderer widriger Umständen ge-
schuldeten Abbruch des II. Kongresses der Kommunistischen Jugend-Internationale (KJI) in Jena im
April des Jahres wurde der Kongress in Moskau nachgeholt (14.7.-24.7.1921). Gegen Münzenbergs Wi-
derstand wurde auch das Sekretariat der KJI nach Moskau verlegt und dort auf Betreiben Sinowjews
unmittelbar der Komintern unterstellt. Münzenberg blieb zwar Sekretär (zusammen mit Leo Flieg),
wurde jedoch in der Frage der Unabhängigkeit der KJI ausgebootet und kehrte nach Berlin zurück. Die
Schaffung des transnationalen und internationalen Netzwerks bleibt sein Verdienst.
Dok. 330: [Paris], 20.7.1933 1025
von der Politkommission – und besonders die in den darauffolgenden Jahren aus-
serordentlich extreme, doktrinäre, dogmatische, steife, starre, formale Propaganda
wesentlich daran Schuld ist, dass die breiten Massen der Jugendlichen, die wir
während des Krieges unter unseren Fahnen gesammelt hatten, der kommunistischen
Bewegung verloren gingen und dass die dem Nationalsozialismus und dem Chauvi-
nismus als leichte Beute zufielen.
Es ist charakteristisch, dass in Deutschland diejenigen, die am häufigsten über-
gangen sind und von der chauvinistischen Welle mitgerissen wurden, Jugendliche
sind, während es umgekehrt während des Krieges die Jugend war, die sich zuerst
gegen den Krieg sammelte und wirklich grosse Massenbewegungen, wie z.B. bei den
internationalen Jugendtagen durchführen konnten.182
Ich bin tief überzeugt, dass der damalige Knick in der proletarischen kommu-
nistischen Jugendbewegung viele Schuld an diesem Verlust der Jugend für den Kom-
munismus trägt, denn was wir heute in den westeuropäischen Ländern haben, sind
nicht mehr als kümmerliche Ansätze.
Das war für mich die herbste Enttäuschung meines Lebens, die Lenin zu mildern
versuchte, indem auf sein persönliches Eingreifen ich in der Jugendexekutive verblieb
und mit der Gründung der IAH betraut wurde.183 [...]
Auch in den letzten Jahren habe ich wiederholt in taktischen Fragen stark dif-
ferenziert. Es gibt dort verschiedene Freunde, die vorübergehend, hauptsächlich
1929/30 in Deutschland waren, die mir bestätigen, dass ich die faschistische Entwick-
lung in Deutschland signalisiert habe. Sie werden sich erinnern, dass ich bereits im
Jahre 1923 ein besonderes Büro mit einer besonderen Zeitung zum Studium der natio-
nalsozialistischen Fragen geschaffen hatte und diese Frage gestellt habe.184 Ich habe
hier differenziert besonders mit meinem mir kameradschaftlich sehr nahestehenden
Freunde H. N. [d.i. Heinz Neumann] aber auch mit der parteioffiziellen Terminolo-
gie, wie sie besonders in der Tagesagitation zum Ausdruck kam und dies speziell um
die Jahreswende 1933, wo gesagt wurde, dass die nationalsozialistische Gefahr für
Deutschland überwunden sei.
Besondere Differenzen bestanden, wie Sie wissen, in der Frage der Massenpropa-
ganda und der Mittel und Methoden einer solchen Propaganda. Ich bin heute mehr
denn je davon überzeugt, dass ich in diesen Auffassungen absolut und hundertpro-
zentig Recht gehabt habe. Die sonst erfindungsreichen Propagandisten des Dritten
Reiches greifen auf die „Welt am Abend“, auf die „AIZ“, auf unsere Filmbeispiele
zurück, auf die Art und Methoden, wie wir unsere Feste und Massenaktionen orga-
nisiert haben, die mir in den parteioffiziellen Kreisen den Verruf des amerikanischen
Schreiers eingebracht haben.185 Ich erinnere mich mit einer ausserordentlichen Dank-
barkeit, dass Sie es waren, mit wenigen Freunden dort, die mir überhaupt diese Arbeit
ermöglicht hatten, aber an Ort und Stelle musste ich diese Arbeit gegen den Wider-
spruch und die Erschwerung der offiziellen Partei und ihres Apparates durchführen.
Ihnen kann ich sagen, dass ich in den ersten Stunden nach der Reichstagsbrandge-
schichte, aber besonders nach den Lobeshymnen auf die unvergleichliche Propa-
gandatätigkeit von Göbbels und Konsorten geradezu eine körperliche Wut darüber
empfand. Ich fühlte, dass, wenn man mir nicht Steine in den Weg geschmissen hätte,
mir die Freiheiten in meinen Reihen gegeben hätte, die die nationalsozialistischen
Propagandisten in ihren Reihen haben, ich mich jeden Tag mit ihnen gemessen hätte
und bereit bin, mich morgen mit ihnen zu messen. [...]
Ich habe mich bei all diesen taktischen Differenzen, die seit 1921 gewesen sind,
ständig unterworfen. [...] Ich weiss sehr gut, dass ich mich in verschiedenen Fragen
geirrt habe und dass ich in anderen Fragen wie z.B. in der Jugendfrage, der Frage
184 Überliefert ist die Existenz (für die Jahre 1922?/1923?) einer „Kommission des EKKI zum Studium
des Faschismus“ (Bayerlein: Das neue Babylon, S. 223). Babette Gross schrieb: „Im Sommer 1923 hatte
Willi Münzenberg zusammen mit Valeriu Marcu eine Analyse des neuen Phänomens, des Faschismus,
versucht [...]. Er vertrat die Meinung, daß der Faschismus die Folge der Fehler der Arbeiterpartei-
en in Deutschland wie in Italien sei, daß die Faschisten in die Lücke gesprungen seien, die durch
die versäumten Revolutionen entstanden sei. [...] Mit einer solchen Kritik der Arbeiterparteien, die
die Kommunisten einschloß, war man aber in der Komintern nicht einverstanden, und Münzenberg
mußte die Zusammenarbeit mit Marcu einstellen.“ (Gross: Willi Münzenberg, S. 233f.). Im Jahre 1933
knüpfte Münzenberg durch die Gründung des Internationalen Antifaschistischen Archivs in Paris an
diese Bestrebungen an (siehe: Reinhard Müller: Über die Gründung des Pariser Instituts zum Studium
des Faschismus. Neue Moskauer Dokumente. In: Exil (2012), H. 1, S. 34–42).
185 Filmbeispiele, Feste: Die Internationale Arbeiter-Hilfe nutzte nicht nur über den Prometheus Ver-
leih (vor allem sowjetischen) und Eigenproduktionen den Film als Medium für die Arbeiterbewegung,
sondern wurde über den überparteilichen Volks-Film-Verband auch für Intellektuelle interessant. Seit
Beginn der Initiative 1927 wurde der Internationale Solidaritätstag 1930 zu einem grossen Festival
ausgebaut („Fest der 100 000“) (Braskén: The Revival of International Solidarity, S. 423ff., S. 471ff.
Dok. 330: [Paris], 20.7.1933 1027
der Einschätzung des deutschen Faschismus, der Frage der Mittel und Methoden
der Massenarbeit, Recht habe, aber über alle diese Fragen stand bei mir, steht bei
mir, und bei mir immer stehen die zügelloseste Arbeitsgier in der Bewegung und ich
schreibe diesen Brief an Sie, lieber Genosse, heute nicht, um Ihnen irgendwelche
Bedenken oder Bauchschmerzen über politische und taktische Fragen mitzuteilen,
sondern ich wende mich heute an Sie als einen Freund, vielleicht den objektivsten
und gerechtesten Freund seit Lenins Tod, weil heute Zustände bei uns einzureissen
drohen, die einfach die Arbeit, unberücksichtigt von taktischen Einstellungen, die
rein praktische Arbeit für die Bewegung, drohen unmöglich zu machen.
Ich weiss nicht, ob Sie in einer ruhigen Stunde die Möglichkeit hatten, die Ent-
wicklung der Kaders und der einzelnen Personen in der KI seit 1919 an sich vorüber-
ziehen zu lassen, wie ich das auf meinen Irrfahrten von Deutschland nach hier getan
habe.186 Dabei drängte sich bei mir die Feststellung auf, dass wir, und dies besonders
in den letzten Jahren, eigentlich keine starken aus der Jugend emporgewachsenen
Persönlichkeiten entwickelt haben, weder auf dem theoretischen noch auf dem poli-
tischen Gebiet, noch auf den Gebieten der Agitation, der Organisation und der Pro-
paganda. [...]
Darüber will ich heute schreiben, und wenn ich dabei meine eigenen Erfahrungen
besonders mitsprechen lasse, dann nicht, weil ich meine Frage für eine interessante
Frage halte – auf eine mehr oder weniger kommt es nicht an und auch nicht darauf,
ob einer mehr oder weniger leisten darf, sondern deshalb, weil sie für mich die leben-
digste ist und weil ich weiss, dass das wirklich ist, was ich schreibe. Aber ich wieder-
hole, dass das, was ich erlebt habe und woran ich seit Jahren leide, keine Frage nur
von mir ist, sondern eine Frage von hunderten und hunderten kräftiger, talentierter,
arbeitswilliger, begeisterter und bis zum Tode treu ergebener Genossen der kommu-
nistischen Bewegung. Deshalb schreibe ich Ihnen diesen Brief und deshalb schildere
ich Ihnen einige meiner Erlebnisse und Erfahrung. Ich schreibe Ihnen, weil ich hoffe,
dass diese Schilderung mithelfen wird, eine Ueberprüfung der Arbeitsweise unserer
Bewegung vorzunehmen und um hunderten, zur Arbeit drängenden Genossen eine
gewisse Bewegungsmöglichkeit in der Entfaltung einer eigenen Initiative zu geben.
Ich will nicht alle Fälle aufzählen und alle Erlebnisse, die ich gehabt habe, um
diese These zu beweisen, dass die Schwere des Apparates und die Art, wie er arbeitet,
nicht die Initiative fördert, sondern sie lähmt und tötet und damit auch die Bewegung
schädigt. [...]187
186 Mit Hilfe von Babette Gross konnte der steckbieflich gesuchte Münzenberg auf abenteuerlichen
Wegen mit Unterstützung des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, des Schwiegervaters
ihrer Schwester Margarete Buber-Neumann und einer falscher Identität zunächst ins Saargebiet,
dann nach Frankreich fliehen (siehe: Gross: Willi Münzenberg, S. 358ff.)
187 In der Folge der Darstellung werden Einzelbeispiele aus den verschiedenen Organisationen auf-
geführt, so der „Liga gegen Imperialismus“, der „Amsterdamer Antikriegsbewegung“, des „antifa-
schistischen Kongresses“ bzw. Komitees sowie der „Internationalen Arbeiterhilfe“.
1028 1933–1939
Das sind ungesunde Methoden, die die Arbeitsentwicklung hemmen und zerstö-
ren müssen.
Ein anderes Kapitel: der Antifaschistische Kongress.188 Ende März erhalte ich
Nachricht, erreicht mich der erste Brief mit der Mitteilung über die Organisierung
des Antifaschistischen Kongresses, ein wüster, unerhörter unqualifizierter Schimpf-
brief, wie ich ihn in meinem Leben noch nicht erhalten habe. Einige Wochen später
habe ich eine heftige Auseinandersetzung mit dem für die Organisierung des Kon-
gresses verantwortlichen und damit beauftragten Genossen K189 mit dem Resultate,
dass nicht nur ich, sondern eine grosse internationale Organisation von jeder weite-
ren Mitarbeit an dem Kongress ausgeschlossen wird. Es ist schon ein Skandal, dass
wegen einer Auseinandersetzung, bei der mir, wie ich heute noch tief überzeugt bin,
das bitterste Unrecht seit Jahren geschehen ist, ich als einer der bekanntesten Anti-
faschisten, der von der deutschen Bourgeoisie mit Recht oder Unrecht, als einer der
stärksten Träger des antifaschistischen Kampfes und als aktiver Kämpfer gegen den
Faschismus in der Presse bezeichnet wird, vollkommen ausgeschaltet bin von jeder
Sitzung, ausgeschaltet bin von jeder Besprechung, sogar von der Teilnahme am Kon-
gress, so ist es ein unverzeihlicher politischer Skandal, dass eine Organisation wie
die IAH, nur deshalb, weil ich ihr Sekretär bin und mit einem der Organisatoren des
Antifaschistischen Kongresses eine Auseinandersetzung hatte, auf dem Kongress wie
Dreck behandelt wurde. Alle anderen Organisationen hatten Redner, durften den
Kongress offiziell begrüssen, der IAH wurde das verweigert. Für die andern Organi-
sationen wurden Resolutionen angenommen, für die IAH wurde das verweigert. [...]
Ein anderer Fall. Auf meine Anfrage im Januar teilen Sie mir mit: bleiben bis zur
letzten Stunde, vorbereiten die Uebersiedlung und dann draussen weiter arbeiten.
In den entscheidenden Tagen steigert die faschistische Presse ihre Hetze gegen mich
ins Masslose.190 Ich bin in Süddeutschland. Ich versuche, mich zu halten, so lange es
möglich ist. Die faschistische Propaganda macht mich verantwortlich für die ganzen
angeblichen Provokationsdokumente, für Brunnenvergiftungen, Geiselmorde und
der Teufel weiss noch wofür. Ich bin verantwortlich für die Ueberführung wichtiger
Organisationen und Unternehmungen. Ich entschliesse mich nach der Ueberfüh-
188 Der Internationale Kongress des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus (WKKF) wurde vom
4.6.1933 –6.6.1933 im Pariser Salle Pleyel, Rue du Faubourg St Honoré, abgehalten, mit über 3.000
Delegierten. Die sogenannte Amsterdam-Pleyel-Bewegung ging im Weltkomitee gegen Krieg und Fa-
schismus (franz. Comité mondial contre la Guerre et le Fascisme) auf. Im Verhältnis zum Amsterda-
mer Friedenskongress (August 1932) wurde die antifaschistische Ausrichtung des deutlicher an der
offiziellen Linie der Komintern ausgerichteten Kongresses nun stärker dem Antikriegskampf unterge-
ordnet. Zu den Unterstützern gehörten seinerzeit noch der junge Albert Camus sowie Albert Einstein,
der sich jedoch später öffentlich von der “verdeckten Propaganda im Dienste des russischen Despotis-
mus” distanzierte. Vgl. Willi Münzenbergforum, http://www.münzenbergforum.de.
189 Genosse K.: Vermutlich Alfred Kurella (Ps. Bernard) als rechte Hand von Henri Barbusse im Welt-
komitee gegen Krieg und Faschismus.
190 Im Völkischen Beobachter vom 2.3.1933 wurde Münzenberg sogar als „geistiger Leiter“ einer ge-
planten Massenvergiftung von Speisen und Brunnen tituliert (zit. in Gross: Willi Münzenberg, S. 362).
Dok. 330: [Paris], 20.7.1933 1029
rung auf den Frontabschnitt zu gehen, den Sie bestimmen. Ich gehe also nach dem
Ausland, so schwer, wie ich selten einen Weg gegangen bin. Trotzdem mir alle Ver-
nunftgründe sagen, es ist richtig, das Gefühl sträubt sich dagegen. Ich kann nicht,
das Gefühl wird immer wieder lebendig; die anderen sind drüben, du bist hier. Ich
finde nur ein Mittel, um darüber wegzukommen: die fieberhafteste, gesteigertste
Arbeitsleistung, die nur möglich ist. Ich versuche das Maximum von Agitation zur
Unterstützung unserer deutschen Freunde zu organisieren, ich versuche, die ins
Ausland geflüchteten Leute zusammenzufassen. Es ist niemand hier ausser mir. Ich
versuche Komitees zu schaffen, Geld aufzubringen, weil niemand dazu die Hände
rührt und es gelingt tatsächlich, die erste Welle von draussen zu erzeugen. Da, nach
einigen Wochen, kommen die Kommissionen, die Unterkommissionen, die Subkom-
missionen, die Beauftragten, die Unterbeauftragten, stellen fest, dass die Initiative
natürlich gut sei, aber man darf sie nicht ausüben. Initiative wird in Resolutionen
gefordert, aber man darf sie nicht entwickeln, wenn nicht die kompetenten Stellen sie
entwickeln. Im ersten grössten Aufschwung der Bewegung funkt man dazwischen,
zerstört hunderte von Verbindungen, verbietet weitere Initiative, beschwert sich,
droht mit Verfahren, richtet Briefe nach dort, sendet Kuriere nach dort, telegrafiert
jeden Tag, dass hier ein Mensch sitzt, der zuviel arbeitet und zuviel Initiative hat. [...]
Eine andere Frage: Der Gegen-Prozess. Im März treffe ich hier den Freund M.191
den Sie geschickt hatten und der mir u.a. Ihren persönlichen Wunsch übermittelt, mit
Hilfe von Romain Rolland einen Gegen-Prozess zu organisieren.192 Ich nehme mich
mit Eifer der Sache an. Es gelingt 10 der bekanntesten Juristen der Welt zu bekommen.
Die ganze Presse wird aufmerksam. Der Gegen-Prozess rückt in den Mittelpunkt des
ganzen öffentlichen Interesses. Wiederholt wird das von drüben bestätigt. Genaue
Instruktionen kommen. Es wird eine Dreier-Kommission von drüben eingesetzt, die
intern alles führen soll. In dieser Dreier-Kommission wird alles bis auf die letzte Zeile
und das letzte Flugblatt besprochen. Da bekommt die Rote Hilfe plötzlich ein Tele-
gramm, einen gleichen Gegen-Prozess wie im Haag in Paris zu organisieren. Die Leute
müssen sich natürlich an die gleichen Juristen wenden und die Juristen halten uns
entweder für wahnsinnig oder für Hochstapler. Und so geht das fort.
Wir haben erreicht, dass in England, in Spanien, in Holland tausende führende
Intellektuelle, die uns bisher absolut fernstanden, zum ersten Mal für eine Aktion
gewonnen wurden und aktiv arbeiten und jeden Tag hat man nichts anderes zu tun
als alle Angriffe abzuwehren, damit die Komitees nicht auseinander gehauen und zer-
191 Freund M.: Möglicherweise handelte es sich um Dmitri Manuilski. Neben dem Komintern-Sekre-
tär hielt sich seit 1932 auch Lajos Magyar (Ps. Ludwig) in Berlin und Paris auf, der eng mit Münzen-
berg zusammenarbeitet. Siehe seine hier veröffentlichten Berichte, Dok. 289 u.a.; vgl.: Gross: Willi
Münzenberg, S. 420.
192 Zum Gegenprozess siehe Dok. 325. Hier wird deutlich, dass Stalin zwar den Münzenberg-Kanal
für eine partielle antifaschistische Initiative nutzte, andererseits jedoch im Rahmen der offiziellen
sowjetischen Politik eine strikte Zurückhaltung übte und eine umfassende antifaschistische Kritik
nicht erlaubte (siehe hierzu den Beitrag von Bayerlein in Band. 1, S. 269ff.).
1030 1933–1939
schlagen werden. 90% aller Kraft braucht man, um die Störungen abzuwehren und
nur 10% bleiben, um weiter nach aussen zu arbeiten. Das macht das stärkste Ross
kaputt. So kann man nicht mehr arbeiten [...]
Welche geradezu ungeheuerliche Schärfe dieser Kampf annimmt, darüber infor-
miert sie beiliegender Brief, den der Ihnen und besonders auch Béla K[un] bekannte
radikale Schriftsteller von Brentano193 an einen Pariser Freund geschrieben hat. Die
in diesem Briefe gemachten Mitteilungen waren für mich so ungeheuerlich, dass ich
lange gezögert habe, den Brief weiterzugeben und ich gebe ihn erst heute weiter,
nachdem ich von anderer Seite eine Bestätigung über die Richtigkeit der in dem
Briefe aufgestellten Behauptungen erhalten habe, und meine Frau das in dem Brief
erwähnte Zirkular selbst einsehen konnte.
Aus diesem Briefe von Brentano ergeben sich folgende Tatsachen. Kurz nach dem
Reichstagsbrand haben die 3 Versöhnler Humber-Droth [d.i. Jules Humbert-Droz],
Otto Heller und Robert [d.i. Karl] Volk den wegen trotzkistischen Abweichungen aus
der Komintern ausgeschlossenen Tranquilli [d.i. Ignazio Silone] aufgesucht, der in
Zürich mit Unterstützung sozialdemokratischer Kreise eine Monatsschrift „Infor-
mation“ herausgibt, und der unter dem Namen Silone einen ausgezeichneten gera-
dezu vorbildlichen antifaschistischen Roman geschrieben hat.194 Die 3 Versöhnler
haben Tranquilli erklärt, dass jetzt eine neue Welle kommt und dass sie an die Macht
kommen. Von ihm haben sie die Zurverfügungstellung seines Blattes verlangt und
ihm dafür versprochen, ihn in die Partei aufzunehmen und ihn in die neue italie-
nische Leitung vorzuschlagen. Tranquilli hat zugesagt. Es sind mehrere Artikel von
Heller unter einem Pseudonym erschienen und es ging ein Zirkular heraus von dem
Vertreter des Kominternverlags, an die Litstellen, dass in Zukunft nicht mehr „Unsere
Zeit“195 vertrieben werden sollte, die mit der trotzkistischen „Weltbühne“196 auf eine
193 Der deutsche antifaschistische Schriftsteller Bernhard von Brentano (1901–1964) kritisierte auch
in weiteren Briefen die in der Katastrophe endende KPD- und Kominternpolitik scharf (vgl. Gerhard
Müller: „Warum schreiben Sie eigentlich nicht?“ Bernhard von Brentano in seiner Korrespondenz mit
Bertolt Brecht (1933–1940). In: Exil 9 (1989), Nr. 2, S. 42–53, hier S. 47).
194 Die Monatszeitschrift Information erschien mit dem Untertitel „Wirtschaft, Wissenschaft, Er-
ziehung, Technik, Kunst“ 1932–1933/1934 in Zürich, unter der Leitung von Emil Oprecht und Ignazio
Silone. Bei dem Roman handelt sich um das erste grosse Werk Silones, „Fontamara“, das die faschi-
stische Einflussnahme im Abruzzendorf Fontamara literarisch verarbeitet. Es entstand im schweizer
Exil. Siehe: Ignazio Silone: Fontamara. Roman, Zürich, Oprecht, 1933; Neuausgabe Köln, Kiepenheuer
& Witsch, 1962. Silone arbeitete später mit Münzenberg zusammen und veröffentlichte u.a. in der
Zeitschrift „Die Zukunft“.
195 Unsere Zeit: Halbmonatsschrift für Politik, Literatur, Sozialpolitik und Arbeiterbewegung, die als
Nachfolgeorgan von Der Rote Aufbau vom Exekutivkomitee der Internationalen Arbeiterhilfe im
Namen von Willi Münzenberg herausgegeben wurde und in Berlin, Basel und Paris (in den Editions
du Carrefour) erschien. Seit 1934 von Alexander Abusch als Chefredakteur geleitet, wurde sie 1935
wegen finanzieller Schwierigkeiten eingestellt (Schiller: Der Traum von Hitlers Sturz, S. 9, 117 u.a.).
196 Die Weltbühne (vormals Schaubühne als Theaterzeitschrift) erschien seit 1918 als Wochenschrift
für Politik, Kunst und Kultur unter Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky in
Dok. 330: [Paris], 20.7.1933 1031
Stufe gestellt wurde, sondern in Zukunft nur noch die „Information“. Heller versuchte
Tranquilli von der redaktionellen Stelle zu verdrängen. Dann kam es zum Bruch. [...]
Nach dem Bruch proklamierten die Versöhnler den Boykott der „Information“ und
taten ihren Mitverschwörer Tranquilli in Acht und Bann. Die Universum-Bücherei, die
u.a. Werke von Schiller, Heine und Goethe herausgebracht hat, hatte unterdessen den
Roman Silones übernommen, der auch von dem Kominternverlag für andere Ueber-
setzungen erworben wurde.197 Daraufhin organisierten die Versöhnler und der von
ihnen beeinflusste Leiter der Parteilitstelle, Bickel, in Zürich,198 ein offizielles Schrei-
ben des Z.K. der Schweizerischen [Kommunistischen] Partei, in dem gedroht wurde,
ein Massenboykott gegen die AIZ durchzuführen und Anzeige bei der Komintern zu
erstatten, wenn der Roman von uns vertrieben würde. Die schweizerische Partei und
ihr Litvertrieb, ein Spielball bei den Manövern einer Versöhnlergruppe.
Berlin. Nach ihrem Verbot durch die Nationalsozialisten wurde sie nach einem Zwischenspiel in Wien
im Prager und dann im Pariser Exil weitergeführt. Ab 1933 blieb sie zunächst Heimat und Sprachrohr
der unabhängigen linken Weimarerer Intelligenz unter dem neuen Chefredakteur Willi Schlamm, der
sowohl gegenüber der SPD, als auch der KPD und dem Stalinismus kritisch eingestellt war, ohne des-
wegen eine „trotzkistische Weltbühne“ zu sein. Nach dessen Ablösung im März 1934 unter Hermann
Budzislawski wurde sie in das „Fahrwasser“ der KPD geleitet, ohne hundertprozentig auf Parteilinie
zu sein (Walter: Exilpresse, IV, S. 37ff.). Vergnon spricht von einer Mischung aus „Verschlagenheit,
Erpressung und Orchestrierung der legitimen antifaschistischen Erwartungen“, mit der sich die Zeit-
schrift der KPD annäherte, ohne zu einem offiziellen Sprachrohr zu werden, und damit jedenfalls eine
Konkurrenz auf der Linken ausschaltete. Nach Kriegsbeginn 1939 verboten (Walter: Exilpresse, IV, S.
23–71; Gilles Vergnon: Prague 1933, la Neue Weltbühne, une revue allemande en exil. In: Cahiers Léon
Trotsky (1991), 45, S. 45–78, hier S. 68). Zur weiteren Entwicklung István Deák: Weimar Germany‘s
Left-Wing Intellectuals. A Political History of the “Weltbühne” and its Circle, Berkeley, University
of California Press, 1968; Toralf Teuber: Ein Stratege im Exil. Hermann Budzislawski und „Die neue
Weltbühne“, Frankfurt am Main e.a., Lang, 2004 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche
Sprache und Literatur. 1895). Gegen die These der Annäherung an die KPD siehe u.a.: Thomas A.
Eckert: ‘Die Neue Weltbühne’ unter der Leitung von Hermann Budzislawski – ‘im Fahrwasser der
KPD’? In: Michael Grunewald, Frithjof Trapp: ‘Autour du Front populaire allemand’. Einheitsfront.
Volksfront, Bern-Frankfurt am Main e.a., Peter Lang, 1990 (Contacts. Série III. Etudes et documents.
9), S. 111–127.
197 Universum-Bücherei: Die im Oktober 1926 gegründete Universum Bücherei eröffnete als eigen-
ständig agierende Buchgemeinschaft dem Neuen Deutschen Verlag und der Internationale Arbeiter-
hilfe einen weiteren Vertriebsweg. Laut Eigenanzeige fühlte sie sich den „Vorwärtsstrebenden“ und
der „modernen Weltliteratur“ verpflichtet. Weltkongress und Feier zum zehnjährigen Bestehen der
Internationale Arbeiterhilfe. Die Universum Bücherei organisierte ein Fest im Berliner Sportpalast,
das aufgrund des großen Andrangs auch „Fest der 20.000“ genannt wurde. Nach ihrem Verbot 1933
erfolgte eine Neugründung als Genossenschaft in Basel, wo sie bis 1939 bestand (Heinz Lorenz: Die
Universum-Bücherei. Geschichte und Bibliographie einer proletarischen Buchgemeinschaft. 1926–
1939, Berlin, Antiquariat und Verlag Elvira Tasbach, 1996).
198 Hans Bickel (1884–1961) war ein deutsch-schweizer Linkssozialist und Kommunist. Er arbeitetet
später auch in der Rundschau-Nachrichten-Agentur mit und trat nach dem Stalin-Hitler-Pakt aus der
KP der Schweiz aus.
1032 1933–1939
Um das Durcheinander voll zu machen, kommt einige Wochen später ein Ver-
treter der K.P.D. nach der Schweiz mit dem Auftrag, ein überparteiliches Komitee zu
bilden. Der Mann ist begeistert, als er einen ausgezeichneten Mann gefunden hat, der
über alle Intellektuelle verfügt, der das Zentrum einer solchen Bewegung sein könnte
und sein muss ... Silone. Also geschehen vor wenigen Wochen, im Jahre 1933 in der
schweizerischen Sektion der KI.
Ein anderer Fall: Wir führen den erbittertsten Kampf gegen die faschistische
„Welt am Abend“ auch öffentlich in der Presse gegen einen Verräter, der die Sache
mitmacht, um seine Wohnung zu retten. Wir strengen zivilrechtliche und strafrechtli-
che Prozesse an usw.199 In diesem Moment erreicht uns die Nachricht, dass in Berlin
eine neue „Arbeiter-Bilder Zeitung“ unter dem Namen „ABZ“ erscheinen soll.200 Der
ursprünglich geplante Name „AIZ“ war von der Staatspolizei verboten worden, weil
man dadurch eine Behinderung der Verfolgung der heute schon zu Tausenden nach
Deutschland gebrachten wirklichen „AIZ“ befürchtete. Diese Bilder-Zeitung ist eine
ausgesprochen faschistische Bilderzeitung, genau wie die „Welt am Abend“, von den
gleichen Hintermännern gemacht, von den gleichen faschistischen Staatsministern
zugelassen. An dieser Zeitung arbeiten eine Reihe der besten Parteifunktionäre und
Instrukteure vom Wedding mit, wie ihnen gesagt wurde, auf Beschluss des Z.K. der
K.P.D.
Alle unsere Versuche, darüber Klarheit zu schaffen, eine Verständigung zu errei-
chen, ein gemeinsames Vorgehen zu sichern, sind gescheitert. Es ist klar, dass, wenn
es sich bewahrheiten sollte, wofür verschiedenes, u.a. auch ein Bericht des Genossen
Holm spricht,201 dass das Z.K. der K.P.D. aus irgendwelchen Gründen seinen Funktio-
199 Die Welt am Abend erschien seit 1926 als Tageszeitung mit Boulevardcharakter und einem gro-
ßen Kulturteil in dem von Münzenberg um die Internationale Arbeiterhilfe herum aufgebauten Pres-
sekonzern. Feuilletonchef war Kurt Kersten – später erschien als Parallelausgabe die Welt am Morgen
unter Chefredakteur Bruno Frei. Das Blatt vermied den Jargon parteioffizieller Resolutionen, öffnete
sich dem Boulevard, baute den (Arbeiter-)Sportteil aus und äußerte sich in einem engagierten Feuil-
leton für Aktionen und Ziele der radikalen Arbeiterbewegung. Mit dieser Mischung wird sie zum meist
gelesenen Arbeiterblatt und zur größten Abendzeitung Deutschlands. Für das Jahr 1929 gab der Kos-
mos Verlag eine Auflage von 230.000 an. Damit war war sie ein ernsthafter Gegener vor allem für den
Konzern des Deutschnationalen Hugenberg (vgl. Dok. 168). 1933 verboten, erschien sie „getarnt“ und
„unter nationalsozialistischer Obhut“ von Mai bis September 1933. Sowohl die von NS-Seite betriebe-
ne Wiederbelebung der AIZ, als auch der Welt am Abend erwiesen sich als Fehlschlag. Siehe: Hartwig
Gebhardt: Nationalsozialistische Werbung in der Arbeiterschaft. Die Illustrierte „ABZ. Arbeit in Bild
und Zeit“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 33 (1985), H. 2, S. 310–338, hier: S. 314, S. 338; vgl.
Willi Münzenberg Forum, http://www.münzenbergforum.de.
200 Die ABZ erschien ab Juli 1933, teilweise mit direkt aus der Prager AIZ abgeschriebenen Artikeln.
Die letzte von Gebhardt eruierte Ausgabe (Nr. 19) stammt vom 26.11.1933. Im Zuge der Stabilisierung
des NS-Regimes war man dann auf eine Tarnillustrierte nicht mehr angewiesen (Gebhardt: Die Illu-
strierte, S. 319, 337f.)
201 Das KPD-Mitglied Hans Holm (1895–1981) arbeitete 1932/1933 im Auftrag der Komintern für die
internationalen Parteiverlage.
Dok. 331: [Moskau], 22.7.1933 1033
nären erlaubt hat, mitzuarbeiten, und das begünstigt, dass dann der Kampf gegen die
faschistische „Welt am Abend“ ausserordentlich erschwert ist. [...]
Ich möchte nur eines erreichen, dass mir und den hundert andern, die arbeiten
wollen und arbeiten können, die Möglichkeiten zur Arbeit gegeben werden. Dass sie
alle ganz und mit aller Kraft für unsere Bewegung und für die proletarische Revolu-
tion arbeiten dürfen, ohne dass man versucht, ihnen dreimal täglich die Knochen zu
brechen.
Mit dem Ausdruck der festesten und unverbrüchlichsten Waffenkameradschaft
bin ich und verbleibe ich
Dok. 331
Bericht über die organisatorische Lage der KPD angesichts des
existenzbedrohenden NS-Terrors
[Moskau], 22.7.1933
7161/8/Schw./Bg.
22.7.1933
Streng vertraulich.
Die Zahl der von der Kassierung erfassten Mitglieder betrug im Monat April 151.000
(das ist 49% der Durchschnittsziffer des letzten Vierteljahres 1932). Im Monat Mai
betrug sie etwa 116.000. Die Zahl der kassentechnisch erfassten Mitglieder ist jedoch
nur ein Teil der tatsaechlichen Mitgliederzahl. Hinzuzurechnen sind hier noch min-
destens 30.000 in den Gefaengnissen und Konzentrationslagern verhaftet sitzende
Parteimitglieder und jene zehntausende von Parteigenossen, in hunderten von Orts-
gruppen, auf dem flachen Lande, die infolge des Fehlens von Verbindungen mit den
Leitungen, der Verhaftung von Funktionaeren oder infolge besonderer Schwierig-
keiten, oder als in der Emigration befindlich des starken Druckes des faschistischen
Terrors nicht erfasst werden konnten. Andererseits ist aber auch zu beruecksichtigen,
dass insbesondere in den Grosstaedten die Zahl der kassentechnisch errechneten
Mitglieder insbesondere unter den Bedingungen der faschistischen Diktatur, nicht
immer ein klares Bild gibt von der tatsaechlich vorhandenen Mitgliederzahl. Allge-
mein kann angenommen werden, dass bei Beginn des Monats Juni trotz drei Monate
unerhoerten Terrors und ausserordentlich starker Verluste der Partei die Zahl der zur
Arbeit vorhandenen Parteimitglieder ueber ein Drittel des Standes des Durchschnitts
des letzten Vierteljahres 1932 betrugen. Dabei wird aber berichtet, dass die Tendenz
bereits wieder eine aufsteigende ist und die Zahl der abgerechneten Mitglieder in der
ersten Haelfte des Monats Juni schon so viel betrug wie im ganzen Monat Mai.
Dabei gibt es zwischen den Bezirken auch grosse Unterschiede, die auf verschie-
dene Ursachen zurückzuführen sind. Beispielsweise hat Hamburg im Mai 83% abge-
rechnet, Berlin dagegen nur 28%, in Berlin sollen im Juni nur 9.000 Mitglieder erfasst
worden sein. [...]
In einigen Orten gibt es Diskussionen, die zeigen, dass bestimmte kleinere Kreise
und Schichten innerhalb der Partei und des Jugendverbandes den vom Klassengegner
und der Sozialdemokratie ausgehenden Druck unterliegen, oder unter diesem Druck
ideologisch zurueckweichen. In einer Bezirksleitungssitzung berichtete der Vertreter des
Jugendverbandes, dass bei den Intellektuellen im KJVD eine Stimmung vorhanden ist,
dass das Proletariat eine Niederlage erlitten habe und diese Leute formulieren „Lieber
eine Niederlage im Kampf als ohne Kampf“. Der Jugendverband tritt aber solchen Stim-
mungen ausserordentlich energisch entgegen unter dem Aufzeigen, dass es sich hier
offensichtlich um Auswirkungen der bereits im Herbst vergangenen Jahres im Jugend-
verband liquidierte Gruppen handelt, die sich um Heinz Neumann und nunmehr um
die opportunistischen und putschist[isch]en Losungen von Herzen [d.i. Hermann
Remmele] als dem unmittelbaren Fortsetzer der Gruppe Neumann sammeln.203 Aus der
Partei ist nur ein einziger ernsterer Fall bekannt, (Berlin: UB 24) wo eine Prop[aganda]-
Funktionaerin im Sinne Herzens die Auffassung vertrat, das Proletariat hat eine Nie-
derlage erlitten und einige Funktionaere sich dieser Auffassung anschlossen. In einem
Teil der Berliner Strassenzellen wurde anfangs Mai in dieser Richtung Diskussionen
gefuehrt, aber mit ueberwiegender Mehrheit ueberall die Einschaetzung des EKKI als
richtig anerkannt. Dass es gerade in Berlin zu solchen Diskussionen kam, ist ebenfalls
zurueckzufuehren auf die Arbeit der Ueberreste der Gruppe Neumann und darauf, daß
der die ideologische Arbeit der Gruppe Neumann fortfuehrende Genosse Herzen seinen
Wohnsitz in Berlin hatte. Von den Renegatengruppen versuchen sich die Trotzkisten in
einigen Orten (Berlin, Frankfurt) bemerkbar zu machen. Obwohl die Partei das Auftre-
ten und die Staerke dieser Gruppe nicht ueberschaetzt, hat sie dennoch beschlossen in
den unteren Einheiten aufzutreten.204 [...]
203 Das Politbüro-Mitglied Hermann Remmele opponierte nicht nur gegen die offizielle KPD- und
Kominternlinie, nach der es sich 1933 nicht um eine Niederlage gehandelt habe, sondern warnte die
Komintern frühzeitig, dass der Thälmann-Kurs notwendig in die Niederlage führen musste (siehe
Dok. 301 u.a.).
204 Wie das „Auftreten“ der KPD aussah, kritisierte der der KPD nahestehende Schriftsteller Bern-
hard von Brentano scharf am Frankfurter Beispiel: Er teilte am 18.7.1933 seine grundsätzliche Ableh-
nung der sog. „Heckert-Resolution“ über die Komintern-Politik 1933 mit. In einem Brief an Bertolt
Dok. 276: [Moskau], 22.7.1933 1035
Am 1.8.1933 traf das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Entscheidung in Sachen des „Vor-
schlags von Gen. Vorošilov über das Unterseeboot.“ Dabei hieß es, der Vertragsentwurf mit einer
nicht näher benannten deutschen Firma sei zu bestätigen und an Vorošilov und Pjatakov zur Endre-
daktion zu übergeben. 205
Am gleichen Tag beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Einberufung einer Sitzung
der Exekutive der Komintern für November 1933. Auf der Tagesordnung des 13. EKKI-Plenums sollten
der internationale Faschismus, die Kriegsgefahr und die Aufgaben der Kommunistischen Parteien
stehen. Vorgesehen waren u.a. Berichte der KP Deutschlands und der KP Englands.206
Brecht beklagte er, dass „wieder geschlossene Leute von uns fort[gehen] (sic)“ und „der Menschenver-
brauch“ „entsetzlich“ sei: „Aber darüber dürfen sich die Leute nicht wundern, die mit der SA zusam-
menarbeiten [und Trotzkisten, SAP usw., der Polizei anzeigen]. (...) aber ich wollte es nicht glauben.
So ist nun also in Frankfurt verfahren [worden] und (...) die (...) Denunziation soll 4 guten tüchtigen
Arbeitern – welche allerdings Trotzkisten waren – das Leben gekostet haben. Können Sie etwas tun?“
(Müller: „Warum schreiben Sie eigentlich nicht?“, S. 42–53, hier S. 47; zum regionalen Beitrag zum an-
tifaschistischen Widerstand der trotzkistischen Gruppe der Internationalen Kommunisten Deutsch-
lands (IKD) siehe: Peter Berens: Trotzkisten gegen Hitler, Köln, Neuer ISP-Verlag, 2007).
205 APRF, Moskau, 3/64/661, 172. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 10.
206 RGASPI, Moskau, 17/162/15, 15. Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i
Evropa, S. 291–292.
1036 1933–1939
Dok. 332
Bericht des deutschen Botschafters in Moskau, Herbert von
Dirksen, über Gespräche in Moskau zum Stand der sowjetisch-
deutschen Beziehungen nach dem Machtantritt Hitlers207
Moskau, 17.8.1933
Typoskript in deutscher Sprache. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik
Deutschland, Berlin, R 31498 (Abt. IV, Az. Russland Politik 2 geh.: Politische Beziehungen zu Russlands
zu Deutschland, Bd. 11).208 Erstveröffentlichung. Teilw. zit. in: Besymenski: Stalin und Hitler, S. 69f.
Vertraulich!
Lieber Bülow!209
Ich möchte Ihnen heute über eine Unterhaltung mit Herrn Jenukidze privatschriftlich
berichten, da die ganzen Umstände dieses Besuches mehr vertraulicher Art sind. Herr
Jenukidze, dessen Stellung etwa der des Staatssekretärs Meissner beim Reichspräsi-
denten entspricht,210 ist kürzlich von einem Kuraufenthalt zurückgekommen, den er
entgegen der diesjährigen Parole Moskaus, Deutschland zu meiden, zum größten Teil
in Deutschland – und zwar in Königstein im Taunus – zugebracht hat.211 Er ist einer
der aufrichtigsten und wärmsten Freunde Deutschlands in der Sowjetunion. Da er zur
nächsten Umgebung Stalins gehört – er ist auch Georgier – ist auch sein politischer
Einfluss gross. Herr Jenukidze hat meine Frau und mich sowie Herrn und Frau von
Twardowski gestern zu sich auf seine „Datsche“ eingeladen; eine hübsche kleine Villa
30 km von Moskau entfernt. Herr und Frau Krestinskij und Herr Karachan nahmen
noch an dem Essen teil. Da diese Einladung auf die Datsche besonders freundschaft-
207 Bericht von Dirksens an Prinz Bernard von Bülow, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, als
Durchschlag an Siegfried Hey, Mitarbeiter der Osteuropa-Abteilung des Auswärtigen Amtes, Berlin.
208 Als Vorlage für die Kopie diente die Rückvergrößerung der alliierten Filmkopie, da die brandge-
schädigte Originalakte noch nicht restauriert ist.
209 Brief an von Bülow: „Das durch von Dirksen aufgezeichnete Gespräch mit Jenukidse wurde von
sowjetischer Seite nicht veröffentlicht. Es galt als Erfindung, als Verleumdung der antifaschistischen
Prinzipien der sowjetischen Politik. Heute ist klar, daß dies einer der Sondierungsversuche war, die
Stalin damals startete.“ (Besymenski: Stalin und Hitler, S. 70).
210 Avel Enukidze (1877–1937), zunächst Intimfreund Stalins, war Sekretär des Präsidiums des Zen-
tralexekutivkomitees der Sowjetunion und oberster Personalchef des Kreml. Bereits im März 1935
wurde der Freund und treue Gefolgsmann Stalins im Zusammenhang mit einer transkaukasischen
Affäre seiner Funktionen enthoben, später wegen Hochverrat und Spionage angeklagt und 1937 er-
schossen. Otto Meissner (1880–1953) war als Staatssekretär unter allen Präsidenten der Weimarer Re-
publik, wie auch als Chef der Präsidialkanzlei Hitlers tätig.
211 Enukidze befand sich (spätestens seit dem 17. Juli) in Kur in Bad Königstein im Taunus.
Dok. 332: Moskau, 17.8.1933 1037
lich gemeint ist und als etwas Aussergewöhnliches bezeichnet werden kann, wäre ich
für vertrauliche Behandlung der näheren Umstände unserer Unterhaltung dankbar.
Mir hat an der Unterhaltung mit Herrn Jenukidze auch aus dem Grunde besonders
gelegen, weil ich jetzt bemüht bin, unseren Standpunkt einflussreichen Sowjetper-
sönlichkeiten gegenüber zur Geltung zu bringen, die nicht dem Außenkommissariat
angehören. Ich glaube, dass die beiden Unterhaltungen, die ich mit Molotov und
Krestinskij gehabt habe, Ihren Zweck voll erreicht haben, in dem sie mir einerseits
Erklärungen von ganz maßgebender Sowjetseite brachten und mir andererseits die
Möglichkeit zu einer Einwirkung auf die höchsten Parteistellen gaben.212 Die Unter-
haltung mit Jenukidze ist also in den Fahnen meines Berichtes Nummer A/16 84 vom
14. August hineinzustellen.
Ich nahm auf die Erklärungen Bezug, die mir Herr Molotov hinsichtlich der Politik
der Sowjetregierung gegenüber Deutschland gegeben hatte und führte aus, dass
diese Erklärungen für sich von großem Wert gewesen sein. Ich hätte während ver-
schiedener Monate den festen Eindruck gehabt, dass die Sowjetregierung ihre Politik
gegenüber Deutschland völlig zu ändern beabsichtige und dass sie eine ganz andere
Orientierung eingeschlagen habe. Ich nahm Bezug auf die politischen Verhandlun-
gen der Sowjetregierung in diesen Monaten und vor allem auf die Pressekampagne,
die gegen uns in unerhörter Schärfe geführt worden sei; im Einzelnen hob ich die
Beschuldigungen der Sowjetpresse, dass wir aufrüsteten und den Krieg vorbereite-
ten, sowie die veränderte Haltung zu Versailles und zu Polen hervor.213
Herr Jenukidze ging sogleich sehr lebhaft auf meine Ausführungen ein und gab
mir Erklärungen ab, sie viel wärmer und viel positiver waren als die Äußerungen
von Herrn Molotov. Er führte aus, die jetzt vielfach verbreiteten Gerüchte über eine
Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik und eine entscheidende Annäherung
an Frankreich und Polen seien falsch. Die Sowjetregierung würde ihre Politik gegen-
über Deutschland nicht ändern und sie in der bisherigen Weise fortführen; das sei
die Ansicht Stalinʼs und entspräche auch den mir von Molotov gegebenen Erklärun-
gen. Die Politiker der Sowjetunion würden auch Dummköpfe sein, wenn sie anders
handelten, denn freundschaftliche Beziehungen zu Deutschland entsprechen den
eigenen Interessen der Sowjetunion ebenso wie das umgekehrte auch der Fall sei.
Herr Jenukidze sprach dann noch ziemlich eingehend über Versailles, zitierte die Aus-
sprüche Lenins, der diesen Vertrag für unhaltbar und untragbar erklärt und seine
Bekämpfung empfohlen habe.214
212 Molotov blieb bei seiner Deutschland schonenden Linie. Während Maksim Litvinov den Zeit-
punkt für gekommen hielt, als Maßnahme gegen NS-Deutschland Bündnisse mit den Westmächten
vorzubereiten, wandte sich am 2.10.1933 Molotov scharf gegen den Außenkommissar. Er unterstrich,
dass er „mit den Deutschen keine weitere Verschärfung für notwendig“ hielte (Autograph, russisch.
RGASPI, Moskau, 558/11/769, 134).
213 Hierbei bezog sich Dirksen auf die Haltung der Sowjetunion (und der Komintern) vor dem Macht-
antritt Hitlers.
214 Lenins Haltung zum Versailler Vertrag wird im Dok. 32 illustriert.
1038 1933–1939
Ich gab darauf meiner Genugtuung über diese Erklärungen von Jenukidze Aus-
druck und fügte hinzu, ich könnte nur wiederholen, was ich Herrn Molotov und Herrn
Krestinskij erklärt habe, dass nämlich die deutsche Regierung ebenfalls an der bis-
herigen Russland-Politik festhalten wolle und dass auf unserer Seite alle Vorausset-
zungen dafür gegeben seien. Ich machte darauf aufmerksam, dass von Sowjetseite
Einzelfälle, wie z. B. das Hugenberg-Memorandum215 oder die Reise Rosenbergs nach
London in ganz falscher Beleuchtung dargestellt worden seien und dass daran ganz
unzulässige Schlussfolgerungen geknüpft worden seien.216
Herr Jenukidze erwiderte, dass gerade er und die leitenden Leute in der Sowjet-
union viel Verständnis für die Entwicklung in Deutschland hätten und sich darüber
vollkommen klar wären, dass gerade in den ersten Zeiten nach der Übernahme der
Macht das agitatorische und das staatspolitische Element innerhalb der Partei sich
erst allmählich trennten und dass erst allmählich die staatspolitische Linie sich
bildete. Dies könne vielleicht auch von der Stellung von Herrn Rosenberg gesagt
werden. Herr Jenukidze gab zu, dass die Sowjetpresse eine ungehörige Sprache gegen
Deutschland geführt hätte, aber er meinte, das dürfe auch nicht überschätzt werden.
Es gäbe genau wie in Deutschland auch in der Sowjetunion viele Leute, die rein par-
teipolitische Ziele in den Vordergrund stellten und von den staatspolitischen und von
den staatspolitisch denkenden in Schach gehalten werden müssten.
Im Lauf des Gesprächs wiederholte Herr Jenukidze mehrmals und mit Nachdruck
den Willen der Sowjetregierung zur unveränderten Fortführung der Politik gegenüber
Deutschland, vorausgesetzt, dass auf der Gegenseite dieselbe Einstellung vorhanden
sein.
Ich gab der Hoffnung Ausdruck, dass es gelingen möge, die deutsch-sowjeti-
schen Beziehungen wieder zu einer Stabilisierung zu bringen, so dass Herr Krestinskij
einwarf, dass der Zeitpunkt für solche Besprechungen vielleicht im Oktober gekom-
men sein würde.217
Durch die Unterhaltung mit Herrn Jenukidze festigt sich mein Eindruck, dass sich
hier allmählich die stimmungsmäßige Grundlage bildet, auf der meine in Bericht Tgb.
Nr. A/1634 vom 14. August angeregten Besprechungen geführt werden könnten. Es wird
wichtig sein, in der Zwischenzeit den Boden weiter vorzubereiten und ich glaube, dass
eines der geeignetsten Mittel hierzu eine freundschaftliche Fühlungnahme mit Herrn
Krestinskij wäre, falls dieser – was ich annehme – seinen Urlaub zu einer Kur in Kis-
singen gebrauchen wird.218 Ich möchte es dringend empfehlen, Krestinskij anlässlich
seines Aufenthaltes in Berlin, der wohl 2–3 Tage dauern würde, besonders freundlich
aufzunehmen und eine Unterhaltung mit dem Reichskanzler oder dem Ministerprä-
sidenten Göring in die Wege zu leiten.219 Ich würde ebenfalls sehr begrüßen, wenn
auch Herr von Neurath oder in seiner Abwesenheit Sie Herrn Krestinskij ein Essen oder
ein Frühstück mit einigen leitenden Persönlichkeiten des neuen Deutschland geben
könnten. Herr Krestinskij ist zum ersten Mal wieder in Deutschland, seitdem er es im
Oktober 1930 nach neun Jahren Botschaftertätigkeit verlassen hat.
Über all diese Fragen hoffe ich mich in den nächsten Tagen mit Ihnen unterhalten
zu können, da ich am 21. in Berlin eintreffen werde.
Eine Abschrift dieses Briefes habe ich Herrn Hey zugeleitet.220
Dok. 333
Resolutionsentwurf der Komintern zur Ablehnung eines
internationalen Boykotts gegen Hitler-Deutschland
Moskau, 11.8.1933
11.8.33.221
Vertraulich.
W[erte] G[enossen],
ich sende Ihnen den ersten Entwurf der Resolution des Politsekretariats zur Boykott-
Frage mit der Bitte, am 13.8., pünktlich um 12 Uhr, auf der Sitzung (Zimmer Nr. 324)
erscheinen zu wollen.222
218 Krestinskij hatte sich bereits in Bad Kissingen bei Dr. Leusser einer Kur unterzogen. Der Aufent-
halt 1933 war vorbereitet. Siehe: Meyer an Dirksen, 17.7.1933, PAAA Archivband R 35966 (Handakten
Direktoren: Meyer, Privatbriefe Dirksen und Schulenburg).
219 Das sowjetische Politbüro änderte mehrmals die Vorbereitungen eines Berlinbesuchs Litvinovs.
220 Siegfried Hey (1875–1963) war stellvertretender Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt in Berlin.
221 Handschriftliche unleserliche Notiz.
222 Während der Internationale Gewerkschaftsbund, unterstützt von der Sozialistischen Arbeiter-In-
ternationale, einen Wirtschaftsboykott Hitlerdeutschlands forderte, wandte sich die Komintern strikt
1040 1933–1939
Pe/9 Ex.
11.8.33. Vertraulich.
Resolutionsentwurf223
Zum Beschluss des IGB (Amsterdamer Internationale) über die Boykotterklärung
gegen Deutschland.
1. Die Erklärung durch den Brüsseler Kongress des IGB gegen das faschistische
Deutschland224 sowie die offizielle Unterstützung dieses Beschlusses durch die II.
Internationale stellt ein Versuch des Betruges der Arbeitermassen dar, dessen Zweck
in erster Reihe ist, die Arbeitermassen – in erster Reihe die sozialdemokratischen
Arbeiter, die den Kampf gegen den Faschismus fordern, – von dem wirklichen revolu-
tionären, antifaschistischen Kampf zurückzuhalten. Die Erklärung des Boykotts [des
faschistischen Deutschland] ohne Verbindung mit dem antifaschistischen Kampf der
deutschen Arbeiterklasse unter Führung der KPD will einerseits den betrügerischen
Schein erwecken, als ob die internationale Organisation des Klassenverrats geneigt
wäre, wirklich gegen den Faschismus zu kämpfen, andererseits möchte sie die Auf-
merksamkeit der Arbeiter von dem Kampf gegen den Faschismus im eigenen Lande
ablenken. Die bisherige Erfahrung zeigt deutlich und klar, dass die reformistischen
dagegen. Bereits im April 1933 hatte sie einen von einem jüdischen Komitee in den USA geforderten
internationalen Warenboykott Deutschlands abgelehnt. In einer Instruktion an die KP der USA vom
16.4.1933 hieß es: „Wenn die Massen, empört von der Barbarei der Hitlerleute, den Boykott unterstüt-
zen, und ein Teil der amerikanischen Kapitalisten es auch durchführen will, dann – all right, denn es
ist nicht unsere Sache, die Interessen der deutschen Faschisten zu unterstützen. Aber die KP selbst
ruft jetzt keine Boykottlosung aus.“ (RGASPI, Moskau, 495/184/20, 115 (Ausg. 1933).
223 Resolutionsentwurf: Der definitive Beschluss konnte bisher nicht eruiert werden.
224 Der Brüsseler Kongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) vom 30.7.1933–3.8.1933
behandelte im Tagesordnungspunkt 1 den Faschismus als unmittelbare, bedrohliche internationale
Gefahr: „Die außergewöhnlichen Gefahren, die der deutsche Nationalsozialismus auslöst, fordern
außerordentliche Maßnahmen. Deshalb verhängt der Kongreß gegen die deutschen Waren den allge-
meinen Boykott. Er begrüßt das Vorgehen jener Landeszentralen, die die hierzu notwendigen Maß-
nahmen schon getroffen haben. Er fordert nun alle angeschlossenen Organisationen auf, je nach den
vorhandenen Möglichkeiten unverzüglich alle Maßnahmen zu treffen, um den Boykott wirkungsvoll
zu gestalten. Der Kongreß appelliert an die organisierte Arbeiterschaft und an alle Menschen, die
guten Willens sind, sich dem Boykott anzuschließen und die Opfer des Kampfes gegen den Faschis-
mus durch freigebige Spenden für den Matteotti-Fonds zu unterstützen. Der Kongreß appelliert an
alle nach Freiheit und Recht strebenden Menschen, mit der internationalen Arbeiterbewegung für die
Verteidigung der Freiheit zu kämpfen, da es ohne Freiheit keine Kultur gibt.“ (zit. in: Franz Osterroth,
Dieter Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie, Electronic edition, Berlin [u.a.], 2. Vom
Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränderte Auflage, 1980,
http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/band2/e235f1120.html).
Dok. 333: Moskau, 11.8.1933 1041
2. Der Betrug des Sozialfaschismus drückt sich besonders darin aus, dass die refor-
mistischen Gewerkschaften und Sozialdemokratischen Parteien, inwieweit sie
Schritte eingeleitet haben, Deutschland zu boykottieren – dies taten sie in der Form
eines Boykotts der deutschen Waren – das im Interesse der Konkurrenzfähigkeit des
eigenen Kapitalismus taten [...]
3. Die Kommunistische Internationale und ihre Sektionen können sich nicht herge-
ben, um so wie die II. und Amsterdamer Internationale als Mittel in den Händen eines
imperialistischen Landes gegen das andere imperialistische Land, als eine Stütze der
einen Form der bürgerlichen Diktatur gegen die andere ausgenutzt zu werden. Der
proletarische Kampf gegen die blutige faschistische Diktatur des deutschen Finanz-
kapitals kann in anderen Ländern nur dann erfolgreich geführt werden, wenn dieser
Kampf mit dem des deutschen Proletariats in direkter Verbindung steht und zur
selben Zeit gegen die eigene Bourgeoisie gerichtet wird. [...]
Die Pflicht der Kommunistischen Parteien ist es, dem Kampf, den die Arbeiter in
einigen Ländern, und besonders in einigen Hafenorten, für den Boykott des faschisti-
schen Deutschlands, seiner Agenten, seiner Transporte schon führen,226 zu erweitern
und zu verstärken bis zum Boykott aller Transporte (Schiffs- und Eisenbahnladun-
gen, Auto- und Avis-Verkehr227 usw.) zur Organisierung der Verjagung der national-
sozialistischen Agenten im Auslande und Kampf für das Asylrecht der deutschen
antifaschistischen Flüchtlinge, Kampf gegen jede Verletzung des Asylrechts durch
bürgerliche und sozialdemokratische Behörden, zu einer regen Tätigkeit für die mate-
rielle Hilfe der Opfer des Faschismus in Deutschland und für die moralische und poli-
tische Unterstützung der antifa[schisti]schen deutschen Emigranten.
225 Der Boykottaufruf des Internationalen Gewerkschaftsbundes bedeutete einen Bruch mit dem
ADGB, dessen Führung sich anfangs den korporatistischen Formen des NS-Systems anzunähern ver-
suchte, was diesen jedoch nicht vor der „Gleichschaltung“ rettete (siehe Dok. 308).
226 Der internationale Warenboykott wurde durch Drittstaaten weitgehend unterlaufen, die eine
Verschlechterung des Verhältnisses zu Deutschland nicht riskierten. Hingegen traf er Devisenbringer
des Deutschen Reiches wie die Hamburg-Amerika-Linie empfindlich. Von NS-Seite wurde der 1. April
1933, der Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte, Ärzte und Anwälte, als Antwort auf die internationa-
len Boykottbestrebungen dargestellt, doch verhinderten die internationalen Reaktionen vorerst eine
Verstetigung solcher rassistischer Repressionsmaßnahmen. Siehe: Edwin Black: The Transfer Agree-
ment. The Dramatic Story of the Pact Between the Third Reich and Jewish Palestine, New York-Lon-
don, 1984, S. 10–14; Dietrich Aigner: Das Ringen um England. Das deutsch-britische Verhältnis, die
öffentliche Meinung 1933–1939, München-Esslingen, Bechtler-Verlag, 1969, S. 221.
227 Gemeint ist der Flugverkehr.
1042 1933–1939
Nur in einem solchen ernsten Kampf und nur durch eine solche ernste Vorbereitung
eines wirklichen Transportboykotts des faschistischen Deutschlands kann der Trans-
portboykott aus einer betrügerische Parole des Sozialfaschismus zu einer wirklichen
Waffe des internationalen Proletariats gegen Hitlerdeutschland werden.
Am 15.8.1933 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dem neuen deutschen Bot-
schafter Rudolf Nadolny das Agrément auszustellen.228 Nach acht Monaten gab Nadolny aus Protest
gegen die sowjetfeindliche Politik der NS-Regierung den Posten freiwillig auf.
Ebenfalls am 15.8.1933 verfügte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dass Henri Barbusse für
das Antikriegskomitee 455.000 französische Francs zur Verfügung gestellt werden, als Hilfe seitens
der sowjetischen Gewerkschaften.229
Dok. 334
Brief Willi Münzenbergs an die Komintern über die
antifaschistische Tätigkeit Albert Einsteins
Paris, 4.9.1933
Lieber Freund!
Trotz der Warnungen des englischen Komitees230 und trotz der Vorstellungen, die man
dem englischen Verleger gemacht hat, hat der Verleger des Braunbuchs englische
Ausgabe herausgebracht mit einer Bauchbinde, aus der man erlesen konnte, als ob Ein-
stein am Buche selbst mitgearbeitet hätte.231 Die englischen Zeitungen haben die Sache
noch weiter zugespitzt und sogar behauptet, man merke dem Buche an, dass ein so
grosser Mann wie Einstein am Buche mitgearbeitet, oder es geschrieben haben muss.
Einstein hat mit Recht dagegen Einspruch erhoben und wir haben in Gemein-
schaft mit ihm eine Erklärung formuliert, die der Presse heute zugeht.232
Wir hatten durch eine Delegation englischer und französischer Kameraden zu
Einstein, der gegenwärtig in Belgien ist, ihm vorgeschlagen, vom Vorsitz des Weltko-
mitees zurückzutreten,233 mit besonderem Hinweis auf die Gefahr seiner Ermordung
und im Zusammenhang mit der Ermordung von Lessing.234
Einstein hat das kategorisch abgelehnt und erklärt, dass er auf jeden Fall Vorsitzen-
der des Weltkomitees zu bleiben wünscht.
Auch diese Tatsache ist in die Erklärung hineingearbeitet worden. [...]
Gib bitte die Nachricht so entschieden und so klar weiter, dass allen evnt. Klat-
schereien, die womöglich hier oder da entstehen könnten, der Boden entzogen wird.
232 Der Wortlaut der Erklärung lautete: „Es ist ein Missverständnis entstanden bezüglich der Mitar-
beit an dem vor Kurzem erschienenen Braunbuch über den Hitlerterror, die man Professor Einstein
zugeschrieben hat. Verantwortlicher Herausgeber dieses Buches ist das Internationale Hilfskomitee für
die Opfer des Hitlerfaschismus und Professor Einstein ist Ehrenvorsitzender dieses Komitees. Jedoch
ist Einstein Vorsitzender dieses Komitees nur im Hinblick auf das von ihm geleitete Hilfswerk, nicht
im Hinblick auf seine politische Aktivität. Er hat daher auch persönlich keinen Anteil an der Zusam-
menstellung des Braunbuches genommen. Im übrigen berichtet die von Lord Marley, dem eigentlichen
Vorsitzenden des Internationalen Hilfskomitees, verfasste Einleitung in völlig eindeutiger Weise über
die Art, in der das Buch entstanden ist. Paris, den 5.9.33.“ (RGASPI, Moskau, 495/60/242, 52).
233 Das Welthilfskomitee für die Opfer des Hitler-Faschismus (auch Weltkomitee für die Befreiung der
Opfer des deutschen Faschismus genannt, englisch: World Committee for the Relief of the Victims of
German Fascism; franz. Comité international d’aide aux victimes du fascisme hitlérien) war mit seinem
Präsidenten Lord Marley (deswegen auch “Marley-Komitee”) und dem Leiter der französischen Sekti-
on, Graf Károlyi als überparteiliche Plattform konzipiert. Albert Einstein war Münzenberg zufolge Eh-
renvorsitzender. Es bestanden nationale Sektionen und Unterorganisationen. Sein Sitz in der Rue Mon-
détour wurde zu Münzenbergs Pariser Hauptquartier, faktischer Sekretär des Komitees war Otto Katz
(Ps. André Simone). In gewissem Sinn handelte es sich um die Nachfolgeorganisation der Internatio-
nalen Arbeiterhilfe (Ursula Langkau-Alex). Im Umkreis des Komitees bildete sich ein transnationales
Netzwerk, darunter auch ein Kinderheim für Flüchtlingskinder aus Deutschland. 1934 fusionierte das
Komitee mit anderen Initiativen zum Internationalen Komitee zum Schutz der politischen Gefangenen
im faschistischen Deutschland (auch: Weltkomitee zum Schutz der Opfer des Faschismus) unter dem
Präsidenten Paul Langevin (Bernhard H. Bayerlein, Uwe Sonnenberg: 1933. Willi Münzenberg gründet
das Welthilfskomitee für die Opfer des Hitlerfaschismus, http://www.münzenbergforum.de).
234 Der emigrierte demokratische deutsche Philosoph, Publizist und Kritiker jüdischer Herkunft
Theodor Lessing (1872–1933) wurde am 30.8.1933 in seinem Arbeitszimmer in Marienbad nach der
Aussetzung einer Kopfprämie Opfer nationalsozialistischer Attentäter. Die beiden Todesschützen leb-
ten nach 1945 weitgehend unbehelligt in der Bundesrepublik bzw. in der DDR (siehe: Rainer Marwe-
del: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Frankfurt am Main, Büchergilde Gutenberg, 1987).
235 Im Einstein-Archiv findet sich mit der Datumsangabe „Anfang September“ eine Stellungnahme,
die die Entfernung des Physikers vom Komitee deutlich macht: „About half a year ago a committee
1044 1933–1939
Am 13.9.1933 befasste sich das sowjetische Politbüro mit einem Entwurf zu Instruktionen „Über die
Presse im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrandprozess“. U.a. sollten die sowjetischen Zeitun-
gen die Materialien aus dem Braunbuch über den Reichstagsbrand (Romain Rolland, Hjalmar Branting
u.a.) heranziehen, „die den Reichstagsbrand als faschistische Inszenierung entlarven, genauso wie
die faschistische Inszenierung des Prozesses gegen Torgler und die bulgarischen Kommunisten“. Die
Izvestija solle es dabei vermeiden, die Teile der Materialien abzudrucken, die die Mitglieder der deut-
schen Regierung persönlich beträfen. Der vorgesehene, von Steckij vorgelegte Entwurfstext zu dieser
Frage wurde jedoch von Kaganovič nicht akzeptiert, der lediglich über den zweiten Teil abstimmen
ließ, der die Einberufung einer Kommission zur Abstimmung über die Pressearbeit vorsah.236
Dok. 335
Protokoll der geheimen Sitzungen des Komintern-Sekretariats mit
der KPD-Führung zur Strategie in Deutschland
[Moskau], 19.9.1933
K.P.D.
1. Sitzung am 7.9. 1 – 66
2. Sitzung am 10.9. 67 – 146
3. Sitzung am 13.9. 147 – 160
4. Sitzung am 16.9. 161 – 221
5. Sitzung am 19.9. 222 – 280 [...]
Pe/6 Ex.
Sitzung v. 19.9.33. Streng vertraulich.
was formed in Paris to support German political refugees. At the written urging of the committee I
joined the honorary steering committee. Accordingly I had no real influence on the direction of this
committee and was not informed that it contemplated political activity in addition to its charitable
function. I also knew nothing of the publication of the Brown Book, which occurred without any
participation on my part. This only as a statement of the truth. Credit is due to those who really did
the work.“ (zit. in: David E. Rowe, Robert J. Schulmann: Einstein on Politcs. His Private Thoughts and
Public Stands on Nationalism, Zionism, War, Peace, and the Bomb, Princeton, Princeton University
Press, 2007, S. 430).
236 RGASPI, Moskau, 17/163/990, 208. In russischer Sprache publ. in: Maksimenkov: Bolʼšaja cenzu-
ra, S. 300–301.
237 Gemeint sind geheime Sitzungen des Sekretariats der KPD. Die sprachlichen Besonderheiten des
Dokuments wurden so belassen.
Dok. 335: [Moskau], 19.9.1933 1045
Gen. Piatnitzky:
Ich werde ein paar Bemerkungen machen. Ich bin voll und ganz mit den Ausführungen
des Genossen Knorin einverstanden. Ich möchte nur einige Bemerkungen machen. [...]
Die Gewerkschaften zu erobern und durch die Gewerkschaften auf die Arbei-
terklasse wirken, ist nicht gelungen. Die Faschisten haben es nicht bekommen und
werden es nicht bekommen.
Den Arbeitslosen: Sie haben diese Lager errichtet.238 Aber jetzt hat sich schon
gezeigt, dass die Lager nicht imstande sein werden, erstens die ganze Menge der
Arbeitslosen zu umfassen, und dass die Arbeitslosen im Lager selbst unzufrieden
sind. Und deswegen werden die Faschisten auf die Arbeitslosen sich nicht stützen
können. Sie werden nicht lang sich halten können. [...]
Das Kleinbürgertum hat schon angefangen zu rebellieren. Sie konnten nicht dem
ganzen Kleinbürgertum etwas Wirtschaftliches geben. Und hier ist noch ein Merkmal,
das man unterstreichen muss; das ist, dass die Bourgeoisie im ganzen schon nicht
mehr hinter Hitler und der Nationalsozialistischen Partei steht als ganzes. Es sind
schon Gruppen da, die nicht mit der Politik zufrieden sind. [...]
Das ist die Lage, die wir schon jetzt haben. Und die Lage wird sich mit jedem Tag
verbessern zu unseren Gunsten. Wenn die Lage so steht, dann hat eine furchtbar grosse
Bedeutung dieser subjektive Faktor in Deutschland. Wer wird die Kämpfe organisie-
ren? Wer wird für alle die Schichten, die mit uns gehen können, formulieren? Das ist
also: Landarbeiter, Kleinbauern, städtische kleine Beamte und Angestellte, Arbeitslose
und Arbeiterklasse. Wer wird die Forderungen formulieren? Wer wird sie zum Kampf
organisieren, und wer wird den Weg zeigen, wie aus dieser Lage herauszukommen ist?
Das ist jetzt eine der wichtigsten Fragen. Wer kann es machen? Das kann unsere Partei
machen. Also dieser subjektive Faktor spielt jetzt eine furchtbar große Rolle.
Die Massen haben früher geglaubt, dass sie von den Faschisten etwas bekom-
men. Die Faschisten haben den Massen nichts gegeben. Wer hat also geführt, oder
was für ein Hindernis war, dass wir direkt herantreten an die Arbeiterklasse, an das
Bauerntum, nicht an das ganze, sondern an die armen Bauern, und an die Arbeits-
losen und Landarbeiter. Wer war es? Das waren zwei Faktoren. Das waren die Sozi-
aldemokraten, und das waren die reformistischen Gewerkschaften. Die standen als
chinesische Mauer und haben uns nicht zugelassen zu den Massen. Die haben durch
ihre Taktik des kleineren Uebels usw. die Massen von uns abgehalten. (Ich will bemer-
ken: unsere Partei hat nicht verstanden, wie diese Mauer zu durchbrechen ist. Das ist
eine ganz andere Sache.) Aber jetzt ist diese Mauer eingefallen. Die Faschisten haben
[für] uns diese Mauer zerbrochen. Wir haben in diesem Moment keine Gewerkschaf-
ten, die zwischen uns und der Arbeiterklasse stehen. Wir haben keine sozialdemo-
kratische Partei, die zwischen uns und der Arbeiterklasse steht. Die sind alle beide
beschmutzt in den breitesten Schichten der Arbeiterklasse. Das, was wir nicht durch
unsere Arbeit machen konnten, haben die Ereignisse gemacht. Das heisst die Sozial-
demokratie hat sich entpuppt als Helferin der Bourgeoisie. Man kann nach meiner
Meinung ganz klar jetzt sagen, dass wir das erreicht haben in viel grösserem Masse als
es bei der Präsidentenwahl Hindenburgs239 war. Vielmehr sind sie jetzt entlarvt, als
wo wir die Auflösung des Landtags verlangt haben.240 Jetzt ist es vielmehr gemacht,
und von uns hängt es ab, diese Mauer so zu vernichten, dass auch kein Fundament
für den neuen Aufbau besteht. Von uns hängt es ab. Wenn wir diese jetzige günstige
Lage vergleichen mit der Lage, die wir 1923 gehabt haben – dort war eine revolutio-
näre Situation. Wir haben die revolutionäre Situation nicht ausgenutzt. [...]
Und deswegen konnten wir diese Situation nicht ausnutzen. Wir haben jetzt in
einem ganz andern Umfang, in ganz andern Kräfteverhältnissen eine noch bessere
Lage in der Hinsicht, dass wir jetzt nicht die Sozialdemokratie und die Gewerkschaf-
ten als stark zentralisierte Organisation, die noch Einfluss, breiten Einfluss auf die
Arbeiterklasse gehabt haben, haben. Also in dieser Hinsicht haben wir eine günsti-
gere Lage, um direkt mit den Arbeitern zu sprechen, um direkt ihre Forderungen zu
formulieren, um direkt ihre Organisierung in ihrem Kampfe gegen den Faschismus
durchzuführen. Also der subjektive Faktor spielt jetzt eine furchtbar grosse Rolle. Und
hier muss unsere Partei wirklich ihre Flügel ausbreiten und überall sein, überall orga-
nisieren, überall formulieren, überall agitieren. [...]
Was kann jetzt die Bourgeoisie weiter machen? Militärdiktatur nach Faschis-
mus?! Ich glaube auch nicht, dass es möglich sein wird, wieder mal zur Demokratie
überzugehen. Das ist nach meiner Meinung ganz ausgeschlossen. Also die Massen
müssen einen Weg haben. Der Weg ist: Sowjetdeutschland. Also das ist keine Rederei,
sondern zeigen auf Sowjetrussland. Das ist ein Ausweg. Aber um den Ausweg wirk-
lich zu zeigen, und damit der Ausweg auch von den Arbeitern wirklich gewählt wird,
müssen wir anfangen mit den Kleinigkeiten, mit den kleinsten Forderungen der
Arbeiter, ihnen diese kleinsten Forderungen formulieren, aber für jeden Zweig der
Arbeiter besonders. [...]
Also unsere Losung der Macht. Und wir müssen sagen, wenn wir die Macht über-
nehmen – und wir werden sie übernehmen, es kann garnicht anders sein, mit einem Tag
später, einem Tag früher, einem Monat später, einem Monat früher, einem Jahr später,
einem Jahr früher – wir werden die Macht bekommen, muss die Macht übergehen an die
Arbeiterklasse. Dann werden wir Brot geben. Dann wird eine nationale Befreiung sein, so
wie sich Russland befreit hat, und die proletarische Diktatur wird eine klassenlose Gesell-
schaft in Deutschland errichten. Wenn wir das alles sagen, wenn wir diese Losungen,
diese Hauptlosungen geben, bin ich sicher, dass wir diejenigen sein werden, die ernten,
was wir in 15 Jahren gesät haben. Also die ganze Umstellung der Partei, ganz die Kräfte
verteilen, ohne Geschrei die Arbeit führen und versuchen, unten in der Masse, in der
239 Zur Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten als Nachfolger Eberts am 29.3.1925, die nicht zu-
letzt von der KPD begünstigt wurde, siehe Dok. 127a.
240 Anspielung auf das von der KPD angestrebte „Rote Referendum“ zur Auflösung des Preußischen
Landtags 1931. Siehe hierzu Dok. 264.
Dok. 335: [Moskau], 19.9.1933 1047
Masse, in der Masse, in der Masse, in der Masse, überall zu sein. Dann bin ich sicher, dass
wir die Erben dieser faschistischen Diktatur sein werden, keine andern, sondern wir. Es
ist eine grosse Gefahr, dass die faschistische Diktatur viel früher fallen wird, als wir die
Möglichkeit haben werden, wirklich die Macht zu übernehmen und sich auf die breiten
Massen zu stützen, dass dieser subjektive Faktor viel weniger schnell wachsen wird als
der objektive Faktor. Und jeder von der Führung muss das im Auge behalten. [...]
Pe/5
Sitzung vom 19.9.33 Streng vertraulich.
Genosse Knorin:
Ich habe das gesamte Material, das ich jetzt habe, mitgebracht. Ich möchte nur einige
Polizeimaterialien erwähnen, die der Partei bekannt sind. Ich weiss nicht, ob jeder
von den Genossen es kennt oder nicht.
Weiter: Ich denke, dass wir eine sehr schlechte Lage jetzt dadurch haben, dass wir viele
unserer Genossen verloren haben.241 Wir müssen jetzt wahrscheinlich einige aus dem
Lande für die weiteren Zeiten herausnehmen. Wir können doch nicht alles aufs Spiel
setzen, jetzt unseren ganzen alten Kader opfern. Ich spreche nicht von den leitenden
Genossen, sondern auch von Leuten in den Bezirken, und zusammenfassen diese Genos-
sen, die wir im Ausland haben. Wir können nicht damit rechnen, dass die letzten Verhaf-
teten wirklich die letzten sind. Wir werden in der nächsten Zeit viele solche Verhaftungen
haben. Wenn wir jetzt alle unsere Kräfte ins Spiel werfen werden, dann werden wir in zwei,
drei Monaten keinen von den älteren Funktionären mehr haben. Das wird eine unmögli-
che Lage für die Partei ergeben. Darum stelle ich diese Frage, um darüber nachzudenken,
wie das zu ändern ist. Die Genossen haben die Frage der Schulen gestellt. Aber die Schu-
lung in den Schulen und die Schulung in der Arbeit der Partei – das sind verschiedene
Dinge. Wir können in den Schulen vieles bekommen, aber nicht alles. Das sind die Fragen.
Pe/5
Sitzung vom 19.9.33. Streng vertraulich.
Gen. Heckert:
Ich bin in allen Fragen mit dem Genossen Knorin und auch mit den Ausführungen
des Genossen Piatnitzky einverstanden. Ich will nur einige Ergänzungen machen. [...]
Die Frage der Organisation. Hier bin ich gänzlich einverstanden mit dem, was
Genosse Knorin gesagt hat. Ich denke, die Hälfte unserer Genossen hätten wir sparen
241 Auf dem XIII. EKKI-Plenum sprach Pieck selbst von „schweren Verlusten“ – 60.000 Verhaftun-
gen, 2000 hingerichtete KPD-Mitglieder und 100.000 Arbeiter in den Konzentrationslagern. Siehe
dazu in der Einleitung von Hermann Weber, S. 104, nach einer in der DDR-Werkausgabe nicht zitier-
ten Quelle (Wilhelm Pieck: Wir kämpfen für ein Räte-Deutschland. XIII. Plenum des EKKI, Dezember
1933; vgl. Bericht über die Tätigkeit der KPD, Moskau-Leningrad, 1934, S. 24).
1048 1933–1939
können, sie wäre nicht in die Hände unserer Feinde gefallen, wenn wir ganz gut die
Leitung organisiert hätten. Hier kann man jetzt gut reden, wo die Erfahrungen vorlie-
gen. Ein altes Sprichwort heisst: Vom Rathaus kommt man klüger herunter, als man
hinaufgegangen ist. Aber man muss jetzt auch klüger werden und mit den Methoden,
die uns zerstören, brechen. [...]
Wenn wir die Frage stellen: was hat die Hitlerregierung für Manöver gemacht,
und wie waren die Wirkungen? Erstens das grosse Manöver im Anfang: der Vierjah-
resplan.242 Das ist ja schon gescheitert. [...]
Das zweite – was ihnen wirklich sehr viel geholfen hat – waren die grossen Akti-
onen gegen die Juden, die Judenprogrome. Man muss sich darüber klar sein, zeitlich
hat ihnen das sehr stark geholfen.243 Sie haben da grosse Manöver machen können.
Heute hätten sie damit auch nicht mehr soviel erreicht. Die Reden auf dem Parteitag,
die Rassenreden dort sind in einer solchen Form abgewickelt worden, ohne Losungen
zu stellen. Das ist das Bezeichnende. Wenn sie dort einmal irgendeinen Juden ...
(Gen. Knorin: Ich habe hier ein sehr interessantes Dokument über die Einrichtung
des Oeffentlichen Amts. Sie stellen die Frage, dass das Oeffentliche Amt nicht ohne
jüdische Kraft sein kann. Für die Zeitungen werden [sic] erlaubt, für die Handelsteile
[?] jüdische Kräfte einzustellen. Die andern Redakteure müssen arischer Herkunft
sein...) (Gen. Heckert: Verbessere jeder seine Rasse an sich selbst!)
Anfangs haben sie mit diesen Methoden bei den kleinbürgerlichen Massen, bei den
Bauern wirken können. Jetzt ist das doch vorbei. Die Reden auf dem Parteitag gaben
auch deshalb keine Losungen.
242 Während Hitler zunächst einen „Vierjahresplan“ zur Behebung der Arbeitslosigkeit u.a. durch
das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ propagierte, führte im Rahmen der staatlich
gelenkten NS-Wirtschaftspolitik Göring als Beauftragter ab 1936 den Vierjahresplan durch, der vor
allem die militärische Aufrüstung forcierte. Siehe Dietrich Eichholtz: Vierjahresplan. In: Wolfgang
Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. 5., aktualisier-
te und erweiterte Aufl., Stuttgart, dtv, 2007, S. 851.
243 Am 1.6.1933 übermittelte die Auslandabteilung der GPU Stalin mehrere abgefangene britische
Telegramme. Darin berichtete der britische Botschafter in Rom, Mussolini habe über seinen Botschaf-
ter Hitler Vorwürfe wegen seiner antijüdischen Maßnahmen übermittelt. Während die Maßnahmen
gegen die Kommunisten verständlich seien, erregten rassistische Maßnahmen die gesamte, auch die
christliche Weltöffentlichkeit. Im zweiten Brief hieß es, es sei nicht wünschenswert, Göring nach Lon-
don einzuladen, da seine Anhänger vor der „physischen Gewalt an Juden“ nicht haltmachten (Typo-
skript, russisch. RGASPI, Moskau, 558/11/185, 109–124).
244 Auf dem Fünften als Massenspektakel organisierten Reichsparteitag der NSDAP „des Sieges“
vom 30.8.1933–3.9.1933 in der Nürnberger Luitpoldhalle traten, wie auch in seiner Folge, programma-
Dok. 336: [Berlin], 20.9.1933 1049
Wir machen eine Entschliessung, und dort macht der Führer eine Deklaration! Aber
auch keine der Reden hat irgendwie einen Versuch unternommen, Losungen heraus-
zugeben. Man muss auch hier sagen, z.B. dass die Warenhäuser nicht beseitigt sind,
und dass z. B. Tietz, die jüdische Firma, von der Regierung 14 Millionen Mark erhält.
Das hat eine ungeheure Wirkung gehabt, und so kann man sehen, die jüdischen
Geschäfte blühen selbstverständlich nach wie vor. Diese Methoden zünden jetzt nicht
mehr. Das ist auch schon ein Minus.
Dok. 336
Brief von Jakov Rejch („James“) aus Berlin an Knorin und Pjatnitzki
über den technischen Apparat der KPD
[Berlin], 20.9.1933
Die Technik.246
Es ist eine unglaubliche Sache, aber leider ist es Tatsache. In den letzten zwei Monaten
hatten und haben wir noch bis jetzt den besten technischen Apparat, den ueberhaupt
irgendeine illegale Partei besessen hatte, aber gleichzeitig ist die Verlagstaetigkeit
tische Aussagen gegenüber unverbindlichen Proklamationen deutlich zurück. Vor der Hitlerjugend
deklamierte der Führer: „Wir wollen keine Klassen und Stände mehr sehen.“
245 Der Absender war James (Ps.), d.i. Jakov Rejch, der bereits seit 1919 für den KPD-Apparat ver-
antwortlich war (vgl. Dok. 15). Während Rejchs Tätigkeit für die Komintern spätestens 1925 nach
einer langen Reihe interner Konflikte aufhörte, verblieb er in Berlin, wo er in der Berliner Vertretung
des sowjetischen Verlags „Meždunarodnaja kniga“ arbeitete. Erst gegen 1935 emigrierte Rejch in die
Tschechoslowakei, wobei er sein umfangreiches Archiv zur Komintern-Geschichte in Deutschland zu-
rücklassen musste, wo es höchstwahrscheinlich verloren ging. Rejch zog 1938 in die USA, wo er 1956
verstarb (siehe Genis: Nevernye slugi režima, Bd. 1, S. 559f.).
246 Die „Technik“, gemeint ist der technische Apparat der KPD, der von der technischen Abteilung
der KPD angeleitet wurde; er umfasste als wichtigste Arbeitsgebiete die Bereiche Druck, Versand
und Massenvertrieb (siehe hierzu Brief Nr. 1 über die Technik von James 18.6.1933, RGASPI, Moskau,
495/19/81, 46–47).
1050 1933–1939
dieses Apparates die minimalste.247 Im Laufe von 2 Monaten hat es kein Zentralor-
gan gegeben, es sind nur 2 Flugblaetter erschienen und paar kleinere Bestellungen
wurden ausgefuehrt, die von den Massenorganisationen ausgingen. Die Technik hat 2
Monate keine Arbeit geleistet, keine Bestellungen erhalten, ungeachtet ihrer grossen
Moeglichkeiten. Es ist selbstverstaendlich fuer jeden, dass in den schweren illegalen
Bedingungen solche zeitweilige Unterbrechungen und Arbeitseinstellung unumga-
englich seien. Das alles kann aber keinesfalls die beinahe 2-monatliche Stillegung
der Verlagstaetigkeit der Partei (von Haelfte Juli bis Haelfte September) rechtfertigen.
Jetzt erst (Haelfte September) hat die Technik eine grosse Anzahl von Bestellun-
gen erhalten (mehr als 800.000 Stueck wurden bestellt). Zum ersten Mal in meiner
illegalen Praxis sehe ich so einen Zustand, dass die illegale Partei die ihr zur Ver-
fuegung stehenden Arbeitsmittel und Moeglichketien nicht ausnutzt. Bis jetzt habe
ich gesehen, dass wir immer mehr herausgeben, schreiben wollten, als wir imstande
waren, das wirklich durchzufuehren. Wir wollen alle hoffen, dass die Schwaeche nur
eine voruebergehende bleiben wird.
Wie ist der jetzige Stand der Technik? Vor allem – wurde der Apparat der Zentrale
gestaerkt und vervollkommnet – d. h. die Druckerei- und Transport-Abteilungen. Wir
sind im Stande 100.000 Exemplare des Zentralorgans 2 Mal monatlich zu drucken,
ebenso wie Flugblaetter, Broschueren und anderen Zeitungen bis zu einer Million
Exemplaren. Als Beweis dafuer kann unsere Leistungsfaehigkeit in den letzten 10
Tagen, wo 800.000 Exemplare zur Verfuegung gestellt wurden. Obwohl viele Privat-
firmen das Drucken unserer Sachen unter dem Einfluss des Terrors ablehnen, hat die
Technik schon derart geregelte Arbeitsbedingungen und die Ausnutzungsmethoden
der Druckereien sind derart vervollkommnet worden, dass wir jetzt fuer die naechste
Zukunft die Arbeitsmoeglichkeiten fuer den zentralen Apparat in dieser Beziehung
gesichert haben. Gleichzeitig befindet sich im Aufbau-Prozess ein neues Arbeitssys-
tem, welches uns von allen Privatfirmen unabhaengig machen wird. Der Versandap-
parat sendet jetzt an alle Bezirke, mit Ausnahme von Ostpreussen und Schlesien. Das
bedeutet einen grossen Fortschritt, den wir erreicht haben, weil die Technik mit den
alten bürokratischen Methoden der Abwartung bis Adressen und Verbindungen vom
Sekretariat [übermittelt wurden, gebrochen hat]. Jetzt sucht und baut [die] Verbin-
dung die Technik selbstaendig auf durch das eigene Netz der Obtechniker.
Es wurden neue Methoden des Versandes der Literatur in die einzelnen Bezirke
eingefuehrt, die mannigfaltigsten Methoden, den lokalen Verhaeltnissen angepasst.
247 In seinem ersten Bericht an Pjatnitzki berichtete James am 18.6.1933 von mindestens acht Druc-
kereien in Berlin und weiteren in Hamburg, Leipzig, Mannheim, Stuttgart und Düsseldorf, die in der
Lage seien, „den ganzen zentralen Bedarf der Partei zu decken“. Allerdings nehme die Bereitschaft
zur Auftragsannahme durch die Privatdruckereien aufgrund des Terrors ab. Zur notwendigen illega-
len Betreibung lägen in den Lagern „40(?)“ parteieigene „modernste Druckmaschinen (Schellpresse)“
bereit, keine von ihnen sei jedoch „bis zuletzt“ ausgenutzt worden. Auch der Massenvertrieb sei noch
zu sehr auf den legalen Postbetrieb orientiert, weswegen in den Bezirken weniger als die Hälfte der
Materialien auch ankäme (RGASPI, Moskau, 495/19/81, 46–47).
Dok. 336: [Berlin], 20.9.1933 1051
Der Tatsache, dass das ZK fuer die Arbeit in der Technik tuechtige und vertrau-
enswurdige Leute zur Verfuegung gestellt hat und auch der wichtigen Arbeitsmetho-
den und Ansammlung von eigener Erfahrung haben wir zu verdanken, dass bis jetzt
die zentrale Technik fast keinen Schaden erlitten hat. Es wurde bis jetzt keine einzige
Druckerei, kein wichtiges Literatur-Lager ausgehoben. Die Meldungen, die taeglich in
der Presse erscheinen ueber das Aufdecken von komm[unistischen] Druckereien sind
sehr uebertrieben und werden mehrmals ein- und dieselben Meldungen wiederholt.
Das bezieht sich alles auf Verhaftungen im lokalen Masstabe, Bezirks- oder Zellen-
masstabe. Es werden manchmal Abziehapparate der Zellen, seltener auch der Bezirke
(Hamburg, Muenchen) gefunden. Bis jetzt hatten wir nur einen ernsten Mangel –
naemlich die ungenuegende Inanspruchnahme der Technik. Wenn man von der zen-
tralen Technik sagen kann, dass sie jetzt schon im Stande ist eine grosse Anzahl von
Literatur fertigzustellen und dieselben an die Bezirke zu senden, so muss doch fest-
stellen, dass die Technik der unteren Organisationen noch ernste Mängel besitzt, im
allgemeinen ist der Zustand auch weiterhin ziemlich schlecht, die Fortschritte noch
gering (vom Bezirk ueber Unterbezirk bis zu den Zellen). [...]
Auf dem Gebiet des Grenztransports sind manche Fortschritte zu verzeichnen.
Es gibt eine ganze Reihe von Grenzstellen,248 die gut funktionieren, durch welche das
Material passiert und geholt wird. Aber trotzdem bleibt ein grosser Teil (besonders das
was in Prag erscheint) auf [dem] Land liegen, im Auslande, ohne dass wir das zu Gesicht
bekommen. Meiner Meinung nach, ebenso wie der Meinung anderer verantwortlichen
Leute aus meiner Abteilung sollten die Auslandstaetigkeit bis aufs aeusserste beschra-
enkt werden (es soll dort die theoret[ischen] Organe gedruckt werden), dagegen sollte
man aber die im Lande selbst vorhandene Moeglichkeit besser ausnutzen. Die Grenze
bietet keine Gewaehr, dass die Literatur tatsaechlich ankommen wird, unsere Moeg-
lichkeiten aber werden je nach dem wie die Bezirke wieder funktionieren werden, sich
staendig verbessern. Es hat nur Sinn, wenn aus dem Ausland Matrizen gesandt werden.
Diese Frage wurde schon mehrmals eroertert, die Verbindung mit dem Ausland
ist jedoch sehr schwach. Es wurde beschlossen, dass jemand ins Ausland zur endgu-
eltigen Regelung dieser Angelegenheit fahren soll.
James.
Ge/3 Ex.
3.X.33.
Am 23.9.1933 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dass Botschafter Chinčuk der
deutschen Regierung einen Protest überreichen soll, weil sowjetische Journalisten nicht zum Reichs-
tagsbrandprozess zugelassen wurden. Man solle die Ausweisung deutscher Journalisten aus der So-
wjetunion androhen.249
Am 26.9.1933 erfolgte eine Anweisung an die TASS, die Ausweisung aller deutscher Pressevertreter
in Moskau innerhalb von drei Tagen aus der UdSSR zu kommunizieren.250 Am gleichen Tag hatte sich
das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit einer Protestnote an den deutschen Diplomaten
Fritz von Twardowski gegen die Behandlung sowjetischer Journalisten im Deutschen Reich befasst.
Am 27.9.1933 verfügte das Politbüro die Ausweisung, die als Reaktion auf die Diskriminierung so-
wjetischer Journalisten beim Reichstagsbrandprozess das Land zu verlassen hatten, letztmalig um
zwei Tage zu verschieben. Lediglich ein Journalist, der sich als Angehöriger der deutschen Botschaft
herausstellte, sollte ohne Korrespondenzrecht in der Sowjetunion belassen werden.251
Dok. 337
Bericht an die Komintern über die Umstellung der
Parteiorganisation der KPD auf die Illegalität
o.O., 28.9.1933
Zwei Monate nach dem Reichtagsbrand im April 1933 wurde trotz des Terrors, trotz
der Verfolgung, denen die Kommunisten ausgesetzt waren, 49% der Mitglieder
kassiert,252 die die Partei Ende 1932 verzeichnete. Ende Mai sank die Zahl auf 37,5
Prozent und Ende August auf 27,5%. Inzwischen wurden an die 80.000 Parteigenos-
sen in die Gefängnisse geworfen.253 [...]
249 RGASPI, Moskau, 17/162/15, 82. Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i
Evropa, S. 293.
250 RGASPI, Moskau, 17/162/15, 85. Publ. in: Ibid., S. 294, Fn. 1.
251 RGASPI, Moskau, 17/162/15, 86. Publ. in: Ibid., S. 293.
252 Die legale, mehr oder weniger offene Kassierung blieb auch nach 1933 Hauptbestandteil der
Parteiarbeit. Noch im Mai 1933 führte die KPD eine „Reichskontrolle über die Beitragskassierung“
durch, wofür die Kassierer eine Kontrollmarke in ihrem Parteibuch erhielten. Die Kassierungsmetho-
den änderten sich (der Beitrag betrug durchschnittlich 50 Pfennig), jedoch sollen noch im Juni 1933
ein Drittel und im Herbst noch 60.000 Parteimitglieder erfasst worden sein (Weber: Kommunistischer
Widerstand, S. 8).
253 Am 25.9.1933 beklagte die KPD die verheerenden Auswirkungen des Nazi-Terrors auf die Partei-
kader, vor allem auf mittlere und untere Parteileitungen, besonders in ländlichen Gegenden. Doch
seien beispielsweise auch im Unterbezirk Köln die Genossen „bis auf ganz wenige zusammenge-
schmolzen.“ Es gebe kaum noch geschulte Funktionäre. Die Partei solle sich darauf konzentrieren,
Dok. 337: o.O., 28.9.1933 1053
Unter welchen objektiven Schwierigkeiten die Partei ihre Reihen umbaute, auf
die neuen illegalen Verhältnisse einstellte und die Arbeit fortsetzte, zeigen folgende
Beispiele des Terrors, der in die führenden Kader unserer Partei teilweise empfindli-
che Lücken gerissen hat. In Hamburg z.B. wurden in den letzten zehn Tagen des April
folgende Verhaftungen vorgenommen: 4 UB-Sekretäre, 3 Bezirks-Instrukteure und
zwei Orgleiter des Bezirks nacheinander. Ende Juni wurde wieder ein Teil der Führung
des Hamburger Bezirks und der Unterbezirke verhaftet. In Mittelrhein wurden ab 25.
April folgende Genossen verhaftet: Der 1. und 2. Bezirkskassierer, 3 Garnituren [sic]
Oberinstrukteure, sämtliche Redakteure, die Bezirksleitung des RFB, der Erwerbslo-
senausschuss, die ganze Bezirksleitung, ausser dem Pol- und Orgleiter, die Frauen-
leiterin des Bezirks, der 2. Leiter des Bundes der Freunde, der Bezirkssekretär und
Betriebsinstrukteur der RGO, der Rote-Hilfe-Leiter und der Sekretär des KJVD. In dem
kleinen Unterbezirk Koblenz z.B. wurden allein 350 Parteigenossen verhaftet, darun-
ter 19 von den 30 Unterbezirksleitungsmitgliedern. [...]
Unter dem Druck der dauernden Verfolgungen sind auch eine Reihe Genossen
ins Ausland geflüchtet. Es sind auch solche Einzelheiten zu verzeichnen, dass z.B.
ein Stadtteilpolleiter in Königsberg sich freiwillig der Polizei stellte, um den Folterun-
gen der SA zu entgehen. Fälle des direkten Überlaufens zu den Nationalsozialisten
seitens führender Genossen, wie im Falle eines Stadtteil-Hauptkassierers in Altona/
Elbe, sind verhältnismäßig selten. [...]
Den schärfsten Kampf führt die Partei gegen ein Verkriechen in die Illegalität.
Aus einer bayrischen Ortsgruppe wird z.B. gemeldet, dass die drei Funktionäre der
Ortsgruppe aus Spitzelfurcht alle Parteiarbeit allein durchführen, jede Aufnahme von
neuen Mitgliedern ablehnen und sogar die übrigen Parteigenossen der Ortsgruppe
nicht zur Mitarbeit heranziehen.
Die zentrale Figur unserer Einheitsfrontpolitik ist der sozialdemokratische Arbei-
ter. Besonders ihn müssen wir in die revolutionäre Praxis einbinden. Die Berichte
aus den verschiedenen Bezirken zeigen auch, dass die Verbindung mit den sozial-
demokratischen Arbeitern in den Betrieben sich immer enger gestaltet. Der Bezirk
Niederrhein z.B. berichtet, wie die „alten fanatischen SPD-Leute“ unseren Zellen in
der Arbeit helfen. Ein SPD-Genosse nimmt ständig 30 Zeitungen mit in den Betrieb. In
einem anderen Betrieb nimmt der sozialdemokratische Betriebsrat unsere Zeitungen
und verteilt sie dort. Eine Reihe SPD-Ortgruppen eines anderen Bezirkes nehmen von
unseren Genossen die Beitragsmarken und rechnen sie dann an uns ab. Es finden
gemeinsame Stubenversammlungen statt. Die Hamburger Partei hat eine sehr gute
die Führungskader auszuwechseln, um sie vor der Verhaftung zu retten. Untere Kader müssten nach
oben gezogen werden, es gebe ein „gewaltiges Reservoir“ in den sozialdemokratischen Massen, die
langsam zur KPD stießen. Die vom ZK herausgegebene Losung „Jedes Parteimitglied ein Funktionär“
müsse veröffentlicht werden (RGASPI, Moskau, 495/25/548a, 33–37). Am 29.9.1933 beschloss die KPD
Maßnahmen zur Tätigkeit der illegalen Massenorganisationen (v.a. der Roten Hilfe und der Sportver-
bände) in der Illegalität. (RGASPI, Moskau, 495/25/548a, 61–66).
1054 1933–1939
Massenarbeit unter der Losung: „Jeder Kommunist ein Fünfergruppenführer der SPD-
Arbeiter“ entfaltet. Die sozialdemokratischen Arbeiter schimpfen, wenn ihnen unsere
Genossen nicht rechtzeitig und nicht genügend illegale Literatur zur Verteilung über-
geben. Es ist eine allgemeine Erscheinung, dass mindestens 50 Prozent der ganzen
illegalen Literatur der Partei durch parteilose und sozialdemokratische Arbeiter ver-
teilt werden. [...]
Demgegenüber stehen aber auch eine Reihe Fälle, wo Zellen aus Furcht vor einer
Majorisierung anstelle der Organisierung der Schulungsarbeit und der Erziehung der
sozialdemokratischen Arbeiter durch die revolutionäre Praxis, die Aufnahme von sozi-
aldemokratischen Arbeitern ablehnen. Über solche sektiererischen Tendenzen schreibt
ein Instrukteur aus dem Hamburger Bezirk: „Es gab aber auch Ortsgruppen unserer
Partei, wo die Genossen aus übertriebener Spitzelfurcht oder zu wenig Vertrauen zu
sozialdemokratischen Klassengenossen nicht nur die Aufnahme abgelehnt, sondern
sogar die Mitarbeit verweigert haben. Solche Fälle sind vielfach vorgekommen, doch
dürfen sie jetzt durch das Einschreiten des ZK unmöglich gemacht werden.“ [...]
In einem am 1.10.1933 endgültig verabschiedeten Text wurde gegen Deutschland Beschwerde wegen
Durchsuchungen von Journalisten und anderer konkreter Maßnahmen geführt. Auch seien die Jour-
nalisten zunächst nicht zur Eröffnung des Reichstags und zum Reichstagsbrand-Prozess zugelassen
worden.254
Dok. 338
Vermerk Molotovs an Stalin gegen eine Verschärfung der
sowjetischen Haltung gegenüber Hitler-Deutschland
[Moskau], 2.10.1933
7. Mit den Deutschen halte ich eine weitere Verschärfung nicht für notwendig. Litvinov
und seine prinzipienlose Umgebung sind geneigt, einen gegenüber den Deutschen
„oppositionellen“ Pfad einzuschlagen.255 Ich halte es für notwendig, ihn zu stop-
pen.256
Vjač[eslav Molotov]
2/X. 1933.
Am 8.10.1933 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Beschluss, im Rahmen der
Rundfunksendungen in ausländischen Sprachen die Sendungen in deutscher Sprache auf den
Reichstagsbrandprozess auszurichten. Allerdings dürften dabei die Mitglieder der Hitler-Regierung
nicht angegriffen werden.257
Dok. 339
Telegrammwechsel Stalins, Molotovs und Kaganovičs über einen
Besuch Krestinskijs bei Hitler
Moskau, 14.10.1933
Autograph in russischer Sprache. RGASPI, Moskau 558/11/81/141, 140, 144, 144v. Deutsche Erstver-
öffentlichung. In russischer Sprache teilw. publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S.
388; in französischer Sprache publ. in: Pavel Chinsky: Staline, archives inédites, 1926–1936, Paris,
Berg international, 2001, S. 65–66.
Dirksen hat Chinčuk in Berlin mitgeteilt, dass die deutsche Regierung es als eine poli-
tische Geste interpretiert hat, dass Krestinskij den Willen geäußert habe, sich nicht
in Berlin zu befinden, nachdem der Reichskanzler seinen Willen ausgedrückt hatte,
ihn zu treffen.
Litvinov ist über Chinčuk verärgert wegen der Ungeschicklichkeit seines Verhal-
tens, er hält jedoch die Reise von Krestinskij über Berlin während seiner Rückkehr
aus Wien, wo er sich zur Zeit aus gesundheitlichen Gründen aufhält, für unnötig und
sogar für unangebracht.
Da wir der Auffassung sind, dass es nicht opportun wäre, die Verschlechterung
unserer Beziehungen mit Deutschland zu betonen, sind wir der Meinung, dass Kres-
schlägen, eine schärfere Gangart gegenüber Hitlerdeutschland einzuschlagen, siehe: Sabine Dullin: Des
hommes d’influences. Les ambassadeurs de Staline en Europe. 1930–1939, Paris, Payot, 2001.
257 RGASPI, Moskau, 17/162/15, 98. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 294–295.
1056 1933–1939
tinskij über Berlin fahren muss und Hitler sehen muss, in dem Maße, in dem letzterer
einen solchen Vorschlag gemacht hat. 258
Molotov, Kaganovič.
Chiffriertes Telegramm
Aus Moskau am 16.10.1933 um 1:54.
An G. Stalin.
Aufgrund der Veränderung der Situation infolge des Austritts Deutschlands aus dem
Völkerbund259 muss die Frage der Reise von Krestinskij über Berlin vergessen werden.
Molotov, Kaganovič.
[Antwort Stalins:]
[Es ist] Unmöglich zu verstehen, aus welchem Grund die Frage der Reise Krestinskijs
vergessen werden soll. Was haben wir mit dem Völkerbund zu schaffen und warum
sollen wir eine Geste zugunsten der beleidigten [Völker]Bünde [sic] erbringen und
gegen das Deutschland, das sie beleidigt hat? [...]
Am 14.10.1933 erfolgte seitens des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion ein Beschluss „Über
die gegenseitigen Beziehungen mit den deutschen Dampfschifffahrtsgesellschaften“. Dabei wurde
festgestellt, dass die Handlungsstrategie von Litvinov – „sich bei den Wechselbeziehungen mit den
Gesellschaften ausschließlich von wirtschaftlichen Überlegungen leiten zu lassen“ – richtig sei.260
Am 15.10.1933 stimmte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion prinzipiell einem nicht näher
formulierten Vorschlag der Lufthansa bezüglich einer Transit-Flugstrecke Moskau-Xinjiang zu. Die
weitere Elaborierung wurde einer hochrangigen Kommission übertragen.261
258 Stalin erteilte noch am gleichen Tag seine Zustimmung, die Entscheidung über Krestinskijs Be-
such wurde jedoch am Tag darauf wieder umgestoßen.
259 Nach dem erst 1926 erfolgten Beitritt trat Deutschland nach einer Ankündigung von Josef Goeb-
bels vom 14.10.1933 wieder aus dem Völkerbund und der Genfer Abrüstungskonferenz aus. Begründet
wurde der Schritt mit der Weigerung Großbritanniens und Frankreichs, Deutschland faktisch eine
militärische Gleichberechtigung einzuräumen.
260 APRF, Moskau, 3/64/677, 215. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 11.
261 RGASPI, Moskau, 17/162/15, 73.
Dok. 340: [Moskau], 15.10.1933 1057
Dok. 340
Direktive des Mitteleuropäischen Ländersekretariats der
Komintern an die KPD zum Referendum über den Austritt
Deutschlands aus dem Völkerbund
[Moskau], 15.10.1933
10299/4/s 10266/la.
15.X.33.
Geheim.
Stellt die Frage des Austritts Deutschlands aus dem Völkerbund ins Zentrum Eurer
Agitation und Propaganda. Führt folgende Vorgaben durch. Die Unfähigkeit der auf
der nationalistischen Welle an die Macht gekommenen Hitlerregierung, Deutschland
vom Versailler Joch zu befreien und die deutsche nationale Frage zu klären, hat zum
Abebben der nationalistischen Welle in Deutschland und zur Schwächung der Posi-
tion der Hitlerregierung geführt. Zusammen mit dem Scheitern der Maßnahmen zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der wachsenden Verschlechterung der Wirtschafts-
lage und der Verschlechterung der Lage aller Werktätigen des Landes [...]263 bedroht
dies die Existenz der nationalsozialistischen Diktatur. Unter diesen Bedingungen ist
die von der Krise geschwächte Hitlerregierung zu ihrer eigenen Rettung gezwungen,
solche demagogischen Schritte im Bereich der Außenpolitik zu unternehmen, um
die nationalistische Welle im Land wieder ansteigen zu lassen und die Regierung zu
stärken. Die hochstaplerische deutsche Außenpolitik und die innere Schwächung
Deutschlands haben jedoch, trotz der verstärkten Aufrüstung, Deutschland während
der Existenz der faschistischen Diktatur außenpolitisch noch mehr geschwächt.
Während vor sechs Monaten ein Viermächteabkommen, das Anlass zur Hoffnung auf
eine Stärkung der Position Deutschlands in Europa gab, noch möglich gewesen ist,
und eine gewisse Hoffnung auf einen „Anschluss“ Österreichs264 bestand, so führte
die darauffolgende Politik Deutschlands zur Liquidierung dieser Frühlingserfolge
und zu einer Isolierung Deutschlands wie vor ihrem Eintritt in den Völkerbund. Dies
zeigt anschaulich, dass eine Befreiung Deutschlands aus dem Versailler Joch und
262 Handschriftlicher Eintrag.
263 Unleserliche handschriftliche Einfügung.
264 Aus der Vorwegnahme dieser Maßnahme läßt sich auch eine positive Haltung zum „Anschluss“
erkennen, der im Jahre 1938 erfolgte.
1058 1933–1939
seine tatsächliche Gleichberechtigung nur auf dem Weg einer proletarischen Revolu-
tion erfolgen kann, die sich auf die Solidarität der Werktätigen aller Länder stützt.265
Das faschistische Deutschland [...]266 stand in Genf vor der Notwendigkeit, sich
einem noch erniedrigenderen Regime, als es zu Zeiten der Leitung der Außenpolitik
durch Stresemann bestand, fügen, was zu einem Verlust des Einflusses der Partei der
Nationalsozialisten in den Massen geführt hätte. Um ihren Einfluss in den Massen zu
retten, entschlossen sich die deutschen Faschisten zu einem neuen demagogischen
Manöver. Mit dem Austritt aus dem Völkerbund wollen sie die nationalistische Welle
im Land wieder verstärken, was angesichts des Prestigeverlustes der Regierung im
Zusammenhang mit dem Reichstags[brand]prozess besonders notwendig wurde.
Sie wollen diese nationalistische Welle nutzen, um ihre Position zu festigen. Die
Reichstagswahlen sind angesetzt als Spekulation auf diese nationalistische Welle
sowie darauf, dass das Proletariat unter den Bedingungen des bestialischen Terrors
gegenwärtig nicht in der Lage sein würde, dem eine Massenkampagne für den prole-
tarischen Internationalismus entgegenzusetzen. Sowohl der Austritt aus dem Völker-
bund als auch die Ankündigung der Reichstagswahlen sind ein Zeichen der Schwä-
che der faschistischen Diktatur und ein Versuch, ihre Position für den Kampf gegen
die neue Welle des revolutionären Aufschwungs, der in ganz Deutschland zuzuneh-
men beginnt, zu stärken. Dies bedeutet, dass die werktätigen Massen ihren Kampf
gegen die faschistische Diktatur verstärken müssen. Die KPD muss eine breite Mas-
senkampagne gegen die faschistische Diktatur und für die Diktatur des Proletariats
entfalten. Alle KPs müssen den Massen erklären, dass die hochstaplerische faschis-
tische Politik und die Verschärfung der Lage in Europa eine unmittelbare Kriegsge-
fahr in Europa schafft, und zum verstärkten Kampf gegen den Krieg aufrufen. Die
KPs müssen erklären, dass der Austritt aus dem Völkerbund und das Verlassen der
Abrüstungskonferenz267 eine unmittelbare Nähe des Kriegs bedeuten. Das angekün-
digte Referendum und die Reichstagswahlen sollen die Position der Regierung inner-
halb des Landes stärken und außenpolitisch den Kriegskurs Hitlers stützen. Die KPD
muss erklären, dass, solange die faschistische Diktatur in Deutschland existiert, es
keine echten Wahlen oder ein Referendum, keinerlei Willensäußerung der Massen
geben kann. Die bevorstehenden Wahlen werden lediglich eine Komödie sein. Die
Erklärung der Regierung, dass die Wahlen auf Grundlage des alten Wahlrechts durch-
geführt würden, ist ein niederträchtiger Betrug, da hunderttausende Kommunisten
in Konzentrationslagern einsitzen und jegliche Opposition unterdrückt wird. Nichts-
destotrotz erklärt die Kompartei, dass sie die Willensäußerung der Massen während
der „Wahlen“ in den unter diesen Bedingungen möglichen Formen organisieren wird.
Wenn die Arbeitermassen eigene Listen aufstellen können, so wird sie zur Unterstüt-
zung dieser Listen aufrufen. Sollte dies unmöglich sein, wird sie dazu aufrufen, für
den Sturz der faschistischen Diktatur zu stimmen, Demonstrationen, Streiks organi-
sieren usw.268
Am 20.10.1933 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion ein Antwortschreiben Kliment
Vorošilovs an den Oberbefehlshaber der deutschen Reichswehr, Werner von Blomberg. Das Schrei-
ben ist bisher nicht eruiert worden.269
Dok. 341
Chiffretelegramm Molotovs und Kaganovičs an Stalin über einen
möglichen Besuch Litvinovs in Berlin
Moskau, 22.10.1933
Chiffretelegramm.
Aus Moskau 22/X-33 um 3 Uhr 05 Min. Eing. N° 83.
An Gen. Stalin
1) Litvinov fährt in 2–3 Tagen los.270 Angesichts der Tatsache, dass er durch Deutsch-
land fahren wird, stellte er uns die folgende Frage: Ist es für ihn notwendig, in Berlin
einen Stopp einzulegen, oder [sollte er] durchfahren, ohne aus dem Waggon auszu-
steigen?
Wir nehmen an, dass es für ihn zweckmäßig wäre, in Berlin Halt zu machen und
auf ein Treffen mit Neurath nicht zu verzichten. Oder, wenn Hitler dies wünschen
sollte, auch mit ihm. Was die Gespräche angeht, falls sie ihm vorschlagen sollten, ein
Protokoll in dem Sinne zu unterschreiben, dass alle Konflikte geregelt seien, könnte
man sich darauf einlassen, unter der Bedingung, dass sie [die deutschen Verhand-
lungspartner] öffentlich in der einen oder anderen Entschuldigungsform ihr Bedau-
ern über eine Reihe falscher Handlungen der deutschen Regierung im Journalisten-
268 Hitler ließ im Zusammenhang mit den Reichstagswahlen im Oktober zugleich ein Plebiszit zum
Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund organisieren. In der Komintern gab es zur Wahlbeteili-
gung völlig widersprüchliche Auffassungen. Man wandte sich an Stalin, der dann in seinem Sinne
entschied (siehe Dok. 342 und 343).
269 RGASPI, Moskau, 17/162/15, 116.
270 Litvinov fuhr zu Gesprächen in die USA, wo er mit Präsident Roosevelt zusammentraf und posi-
tive Vereinbarungen im Sinne der gegenseitigen Anerkennung abschließen konnte.
1060 1933–1939
konflikt ausdrücken.271 Falls sie nicht auf ein Protokoll bestehen werden, sollte man
sich auf eine Unterredung beschränken, in einem Ton, der ihnen zu verstehen gibt,
dass wir nicht vorhaben, den Konflikt zu verschärfen, [und] dass wir bereit sind, alles
Notwendige zur Wiederherstellung der vorherigen Beziehungen zu unternehmen.272
2) Nach Berlin wird Litvinov Paris passieren. Wir denken, dass er ebenfalls auf ein
Gespräch mit Paul[-]Boncour nicht verzichten sollte. Falls ein entsprechender Vor-
schlag an Litvinov herangetragen wird.273
Wir bitten Sie, Ihre Meinung mitzuteilen.274 NR 100.
Kaganovič, Molotov.
Dok. 342
Anfrage an Stalin zur Taktik der KPD gegenüber dem Referendum
zum Völkerbundaustritt
Moskau, 25.10.1933
Die Situation in Deutschland, in der die Kampagne in Bezug auf die Reichstagswah-
len am 12. November und das Referendum, angesetzt nach dem Austritt Deutsch-
lands aus dem Völkerbund und der Abrüstungskonferenz, stellt sich so dar, dass es
unmöglich ist, bei diesen Wahlen eine irgendwie bedeutsame Wirkung zu erzielen (es
wird eine Liste von Nat[ional]-Sozialisten für den Reichstag geben sowie einen Wahl-
schein für das Referendum mit der Aufschrift „ja“ (was die Billigung der Außenpolitik
der Regierung bedeutet) und „nein“ (gegen diese Politik). Eine andere Möglichkeit,
während der Teilnahme an der Abstimmung die Meinung derjenigen auszudrücken,
die mit dem faschistischen Regime unzufrieden sind, gibt es nicht; [einem Aufruf,]
eine Losung der Kompartei, beispielsweise „Nieder mit dem Faschismus“, „Es lebe
die KP Deutschlands“ etc. [auf den Wahlschein] zu schreiben, würde nur eine unbe-
deutende Anzahl von Wählern folgen.
Dok. 343
Antwort Stalins zur KPD-Taktik bei den Reichstagswahlen und dem
Referendum der Hitler-Regierung
Moskau, 26.10.1933
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau 508/1/128, 27 [558/11/82, 56]. Deutsche Erstver-
öffentlichung. In russischer Sprache publ. in: Damʼe/Komolova/Korčagina: Komintern protiv fašizma,
S. 306–307; Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 696–697.
Die Kominternleute sind im Unrecht.280 Der von ihnen vorgeschlagene Boykott ist
kein aktiver Boykott nach bolschewistischer Lesart, sondern eine einfache Stimment-
haltung bei den Wahlen, einfach ein Absentismus. Einen solchen Boykott haben die
Bolschewiki niemals anerkannt. Die Bolschewiki erkennen nur einen aktiven Boykott
an, der mit revolutionären Aktionen verbunden ist und darauf abzielt, die Wahlen
zu untergraben oder sogar zu sprengen. Doch dieser einzig annehmbare Boykott ist
nun in Deutschland unmöglich. Deswegen haben nicht die Kominternleute Recht,
sondern das Auslandsbüro des ZK der KPD. Man muss an den Wahlen teilnehmen,
indem man die faschistischen Listen durchstreicht und im Referendum mit „nein“
stimmt. Man muss auf dieser Basis eine breite antifaschistische Front mit den sozial-
demokratischen Arbeitern schaffen und die letzteren mitreißen, um diese Angelegen-
heit auf der Plattform der Kommunisten und unter ihrer Führung durchzuführen. Jede
andere Politik wird den Faschisten und den Sozialdemokraten nutzen.281
[Sign.]: Stalin
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 10.11.1933, daß Litvinov für die Rückreise
aus Amerika einen italienischen Dampfer nehmen und sich – nachdem er bereits auf der Hinfahrt mit
Reichsaußenminister Neurath zusammen gekommen war – in Italien mit Mussolini treffen sollte.282
Am 15.11.1933 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, eine Gruppe verhafteter deut-
scher Staatsbürger aus der UdSSR auszuweisen.283
Dok. 344
Rede Lozovskijs in der Roten Gewerkschafts-Internationale
über die „riesige historische Bedeutung“ der Zerschlagung der
deutschen Sozialdemokratie
[Moskau], 17.12.1933
Gen. Lozovskij: Genossen, vor nicht allzu langer Zeit haben wir beschlossen, im Sekre-
tariat und im Exekutivbüro, Mitte April die 9. Session des Zentralrates der Profintern
abzuhalten. Wir haben dazu ein vorbereitenden Entwurf der Tagesordnung entwi-
ckelt, der an die Mitglieder des Exekutivbüros verteilt wurde, und wir forderten die
Mitglieder des Exekutivbüros auf, dies in den Delegationen zu diskutieren und, falls
irgendwelche Änderungen oder Zusätze gemacht würden, darüber von der Tribüne
aus zu sprechen. Bis zu diesem Moment gibt es keine solchen Vorschläge. Sollten
Sie im Laufe der Diskussion gemacht werden, so werden wir diese besprechen.284 [...]
Wir kämpfen für die Massen, wir kämpfen für die Mehrheit innerhalb der Arbei-
terklasse. Unser Hauptfeind in der Arbeiterklasse ist die Sozialdemokratie. Und das,
was im Zusammenhang mit der Errichtung der faschistischen Diktatur passiert ist
– die Zerstörung der deutschen Sozialdemokratie, anschließend der politische und
organisatorische Bankrott des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds, der sich
öffnende Graben zwischen der Mitgliedermasse der reformistischen Gewerkschaften
und der sozialdemokratischen Führung, das riesige ideelle, politische und, wenn Sie
wollen, moralische Versagen der gesamten 2. und Amsterdamer Internationale vor
den breitesten Massen –, all das hat für uns eine riesige historische Bedeutung. Unser
Hauptfeind in der Arbeiterklasse ist schwächer geworden, und jeder von uns muss
sich fragen: Was haben wir gemacht, wie haben wir dieses Scheitern ausgenutzt, wie
haben wir diese Ereignisse an das Bewusstsein der Massen herangetragen, wie haben
wir unsere Organisationen auf Grundlage dieser Ereignisse gestärkt, und wenn wir
dies nicht getan haben, so muss man die gesamte Organisation von oben bis unten
abtasten und die Gründe finden, die zur Abbremsung der Tätigkeit unserer Organisa-
tionen geführt haben. [...]
Der erste Punkt der Tagesordnung beinhaltet die Situation der Arbeiterklasse,
Faschismus und die Probleme der revolutionären Gewerkschaftsbewegung. [...] Es
ist notwendig für Sie zu schlussfolgern, was Sie getan haben nach der 8. Session,
um die Roten Gewerkschaften zu stärken, was Sie getan haben, um die revolutionäre
284 Mit der deutschen Katastrophe beschleunigte sich der Niedergang der Roten Gewerkschafts-
Internationale, der mit ihrer Liquidierung zunächst als Organisationsverbund, dann als Apparat im
Jahre 1937 endete. Die angekündigte 9. Session des Zentralrates fand nicht mehr statt (siehe Tosstorff:
Profintern, S. 703ff.).
1064 1933–1939
Gewerkschaftsopposition zu stärken und zu verbreitern, und was die Situation ist mit
der Arbeit in den reformistischen, faschistischen und katholischen Vereinigungen
und irgendwelchen anderen Organisationen, wo arbeitende Massen vorhanden sind.
[...]285
Wenn die Situation sich ändern sollte, werden wir einige neue Fragen auf der
Tagesordnung diskutieren. Auf diesem Weg müssen wir in unserer revolutionären
Bewegung arbeiten, die trotz ihrer großen Schwächen nach vorne geht und sich ent-
wickelt und unserem Hauptfeind in der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie
einen schmerzhaften Schlag verabreicht.
285 Anlaß der Rede war die letzte Session des Zentralrates in der Geschichte der RGI, die vom 7.–
17.12.1931 in Moskau stattfand. Im Zuge der „Linkswende“ und der „Sozialfaschismus-Politik“ seit
1928/1929 wurde u.a. durch die gezielte Spaltung der Gewerkschaften im Rahmen der sog. RGO-Politik
– der Linie der „Revolutionären Gewerkschafts-Opposition“ – so viel Schaden angerichtet, dass eine
„taktische Korrektur“ angebracht wurde. Wie es nun hieß, „dürfe [man] nicht jegliche Fraktionsar-
beit in den reformistischen Gewerkschaften aufgeben“. Allerdings sollte dies jedoch „nichts an der
generellen Ausrichtung auf den selbständigen revolutionären Wirtschaftskampf ändern.“ (Tosstorff:
Profintern, S. 673).
1934
Dok. 344a
Erklärung Heinz Neumanns an die Komintern zu seinen politischen
Fehlern
Amsterdam, 14.1.1934
Handschriftliches Anschreiben und Erklärung als Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau,
495/19/706, 7, 7v, 8. Erstveröffentlichung.
Amsterdam, 14.I.34
W[erter] G[enosse] Piat[nitzki]! Beiliegend sende ich Ihnen eine Erklärung zu den
Beschlüssen der Z.K.K.,1 soweit sie mich betreffen, mit der Bitte um Prüfung und
Annahme dieser Erklärung durch die Instanz.
Ich sende das Schreiben direkt an Ihre Adresse, da ich keine andere habe und da
der Inhalt ja öffentlichen Charakter trägt.
Bitte geben Sie den einzelnen Freunden, bes. auch Fritz H[eckert] und Kno[rin] je
eine Kopie, ebenso der Bruderpartei.
Hinzufügen möchte ich noch, daß ich auch dem personellen Beschluß in meiner
Angelegenheit durchaus zustimme und ihn mit selbstverständlicher Disziplin durch-
führe, womit ich bereits begonnen habe. Selbstverständlich trifft mich diese Maß-
nahme in einer Zeit wie der jetzigen sehr schwer und bitter, aber ich muß die Konse-
quenzen meiner unerhörten Fehler bis zum Ende tragen, zumal ich das und vielleicht
noch mehr verdient habe.
Meine einzige Hoffnung und zugleich meine Bitte an Sie persönlich und die
anderen Freunde ist jetzt, mir Gelegenheit zu geben, durch Artikel für die Linie des
XIII. Pl[enums]2 einzutreten und sobald wie möglich wieder aktiv auf irgendeinem
Fleck dieser Erde, am besten in meiner Heimat oder wenigstens bei Ihnen irgend eine
ganz bescheidene Arbeit leisten zu können.
1 Im Gefolge seiner faktischen Entmachtung im Oktober 1932 und seiner (erfolgreichen) Versuche,
Remmele von der Notwendigkeit einer schonungslosen Kritik gegen die seiner Auffassung nach für
die deutsche Katastrophe mitverantwortliche Thälmann-Führung zu überzeugen, wurde Neumann
im Auftrag der Komintern als Instrukteur nach Spanien abgeschoben.
2 Es handelt sich um das 13. EKKI-Plenum des EKKI, das vom 28.11.1933–12.12.1933 in Moskau statt-
fand.
1066 1933–1939
Erklärung.
Auf Grund der Beschluesse des 13. Plenums der KI. sehe ich mich verpflichtet fol-
gende Erklaerung abzugeben:4
Ich bin mit den Beschluessen des 13. Plenums des EKKI, die eine gewaltige
revolutionaere Bedeutung fuer die gesamte Kommunistische Internationale haben,
bedingungslos und aus voller Ueberzeugung einverstanden. Namentlich stimme ich
denjenigen Beschluessen des 13. Plenums zu, die meine fruehere Stellungnahme in
den deutschen Fragen auf das schaerfste verurteilen. Diese meine Stellungnahme,
die vom 13. Plenum mit Recht als defaitistische Einschaetzung der Entwicklungsper-
spektiven in Deutschland verurteilt wurde, ist unvereinbar mit der Linie der Kom-
munistischen Internationale. Der Fraktionskampf gegen das ZK der KPD, den ich
seit dem Jahre 1932 organisiert und entgegen mehrfachen Beschluessen auch nach
dem 12. Plenum des EKKI5 bis zum Maerz 1933 fortgesetzt habe, stellt einen ueberaus
schweren, groben und schaedlichen Verstoss gegen die Linie der KI. und gegen die
bolschewistische Parteidisziplin dar.
Indem ich diese meine Fehler ohne Vorbehalt anerkenne und verurteile, erklaere
ich mein unbedingtes Einverstaendnis mit der Linie und der Fuehrung der KPD.,
insbesondere mit ihrer richtigen Taktik vor, waehrend und nach dem Staatsstreich
Hitlers. Jedes oppositionelle Auftreten gegen die Linie und Fuehrung der KPD., gegen
die Einschaetzung der deutschen Ereignisse, wie sie in der historischen Resolution
des Praesidiums des EKKI. vom 1. April6 und in den Beschluessen des 13. Plenums
enthalten ist, bedeutet einen parteifeindlichen Vorstoss, einen Uebergang zum
7 Da die KPD unter der Führung Thälmanns keinen Plan einer Erhebung gegen Hitler besaß, wurden
solche Überlegungen von offizieller Seite gleich als „falsch“ und „konterrevolutionär“ gebrandmarkt.
Gegen eine solche Haltung hatten Neumann und Remmele protestiert, weil sie davon ausgingen, dass
die von der Thälmann-Führung an den Tag gelegte Passivität auch gegen die Linie der Komintern ge-
richtet gewesen sei. Siehe den Brief Neumanns an Remmele vom 7.3.1933 (Dok. 312), in dem er schrieb:
„Fallt nur nicht darauf herein, wenn die [Thälmann-]Bande sich mit den 4,7 M[illionen Stimmen bei
den Reichstagswahlen] ‚retten‘ will. Das zeigt nur, wie glänzend die Masse ist, was man hätte tun
können und was man noch tun muß.“
8 Neumann zitiert hier die neue, instrumentelle Definition des Faschismus der Komintern, die seit
dem 13. EKKI-Plenum gültig war und von Dimitrov auf dem VII. Weltkongress als allgemeingültige
Formel übernommen wurde.
9 Wie der deutsche Soziologe und das Mitglied der Frankfurter Schule Karl August Wittfogel berich-
tete, soll ihm Radek als Leiter des außenpolitischen Think tanks Stalins 1933 gesagt haben, daß die
deutschen Arbeiter für einige Jahre die Herrschaft Hitlers auf sich nehmen müßten (Fritz J. Raddatz:
Vom Versagen der Linken. Ein Zeit-Gespräch mit Karl August Wittfogel. In: Die Zeit, 2.3.1979, Nr. 10).
10 Neumann wurde nach seiner Abschiebung nach Spanien im Juni 1935 zunächst zusammen mit
seiner Frau Margarete Buber-Neumann als Exilant in der Sowjetunion aufgenommen; dort im April
1937 verhaftet, wurde er am 26.11.1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Seine Frau kam ins Lager
Karaganda, wurde 1940 an NS-Deutschland ausgeliefert und dann im KZ Ravensbrück inhaftiert. Aus
Furcht vor neuer Inhaftierung in der SBZ als Witwe des von der KPD zur „Unperson“ erklärten Neu-
mann flüchtete sie 1945 in den Westen. Siehe ihre Lebensberichte: Buber-Neumann: Kriegsschauplät-
ze; id.: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Vgl. Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 634–636.
1068 1933–1939
Am 25.1.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, keine Vertreter der UdSSR in
die Internationale Kommission zur Hilfe für Flüchtlinge aus Deutschland zu schicken.11 Im außenpoli-
tischen Teil seiner Rede auf dem XVII. Parteitag der VKP(b) (26.1.1934–10.2.1934) sprach Stalin trotz
der Ereignisse in Deutschland nicht von einer Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehun-
gen.12
Am selben Tag beriet das Politbüro, „den Deutschen“ Ankäufe seitens der Sowjetunion im Wert von
25.000.000 Rubel, davon 15 Millionen für das Volkskommissariat für Verkehrswesen (Lokomotiven
und Lokomobile u.a.) sowie 10 Millionen für die Militärbehörden vorzuschlagen. Die Bezahlung von
40 Millionen Rubel sollte gestundet werden.14
Am 10.3.1934 erfolgte ein weiterer Beschluss über das Erdölkonsortium Derop. Das Unternehmen
wurde verkauft und die sowjetische Erdölexportgesellschaft Sojuznefteeksport schloß einen Drei-
Jahres-Vertrag zur Lieferung von jährlich 175.000 Tonnen Benzin an die Deutschen ab.15
Am 20.3.1934 erfolgte auf Vorschlag Krestinskijs ein Beschluss, bezüglich der offenen Valutafragen
mit Deutschland einige Korrekturen vorzunehmen. Am gleichen Tag wurde der ständige Vertreter der
Sowjetunion in Österreich beauftragt, in Zusammenarbeit mit dem Vertreter der Ausweispapiere für
die verfolgten Schutzbundangehörigen zwecks Einreise in die Sowjetunion auszustellen, allerdings
unter der Bedingung, dass diese nicht der Spionage überführt worden seien.16
Am 29.3.1934 wurden weitere Entscheidungen des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion zu den
österreichischen Schutzbundangehörigen getroffen. 300 von ihnen aus der Tschechoslowakei soll-
ten die Erlaubnis erhalten, in die Sowjetunion zu kommen. Mit der Aufsicht über die Umsetzung die-
ser Entscheidung wurde Ždanov beauftragt. Am gleichen Tag wurden die Haushalte der MOPR über
325.000 sowie des EKKI über 3.307.052,50 Goldrubel und 5.823.118 Tscherwonzenrubel genehmigt.17
Am 15.4.1934 genehmigte es das Politbüro dem ständigen Vertreter in Berlin, dem deutschen Botani-
ker, Mykologen und „Genossen“ Rolf Singer ein Visum für die UdSSR zu erteilen.18
In einem weiteren Beschluss wurde der Zeitung „D.L.“ eine Unterstützung von 9000 Valutarubeln ge-
nehmigt.19
Am 4.5.1934 erfolgten Beschlüsse des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion über Mátyás Ráko-
si und über die österreichischen Schutzbundangehörigen. Auf Vorschlag von Béla Kun sollte Rákosi
die sowjetische Staatsangehörigkeit verliehen und ein Transitvisum durch die Tschechoslowakei und
Polen ausgehändigt werden. (Weiteren?) einhundert von ihnen sollte die Einreise in die Sowjetunion
gestattet werden.20
Am 5.5.1934 genehmigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Budgets des Internatio-
nalen Agrarinstituts, der Roten Gewerkschaftsinternationale, des EKKI sowie des Verbindungsdiens-
tes der Komintern. Für das Jahr 1934 wurden dem Internationalen Agrarinstitut 1.000.000 Rubel
(darunter 175.000 Rubel für Bauvorhaben), der Roten Gewerkschaftsinternationale 1.535.000 Rubel
(davon 300.000 aus den Mitgliedsbeiträgen des sowjetischen Gewerkschaftsverbands), dem EKKI
2.800.000, der Abteilung für Internationale Verbindungen der Komintern 1.000.000 Rubel geneh-
migt. Betreffs der Schutzbundangehörigen, die in der Ukraine aufgenommen wurden, verpflichtete
man die KP der Ukraine, sie „im Geist des Kommunismus“ „umzuerziehen“.21
Dok. 345
„Tatsachenmaterial“ zum Bericht der Internationalen Roten Hilfe
über Aufnahme von Politemigranten in der UdSSR
[Moskau], 8.5.1934
„5“
4836/3/Ia/Ab
8/5.34
a.d.russ.
1932 “ “ “ “ 570 “
1933 “ “ “ “ 688 “
Schewelewa27
8.5.34.
24 Aufgrund der unspezifischen, propagandstischen Sicht und der fehlenden Analyse betrachtete
die Komintern Polen ebenfalls als faschistisches Land.
25 Neben der unmittelbaren Hilfe an die Opfer der Repression und die politischen Gefangenen bilde-
te die Politemigration das wichtigste Arbeitsgebiet der Internationalen Roten Hilfe. Neben mehreren
Kinderheimen und einer Internatsschule für die Kinder der Politemigranten wurde in Moskau das
zentrale Emigrantenheim unterhalten.
26 Zwei Monate später, am 11.7.1934 wurde das Politsekretariat des EKKI in dieser Frage aktiv und bilde-
te eine Kommission, um die Lage der Politemigranten zu untersuchen (RGASPI, Moskau, 495/3/327, 1).
27 Elizaveta Šeleva, geboren ca. 1899, war stellvertretende Vorsitzende der Roten Hilfe der Sowjet
union (MOPR).
Dok. 346: O.O., 25.5.1934 1071
Am 10.5.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, Lev Chinčuk auf eigenen
Wunsch als bevollmächtigten Vertreter der Sowjetunion in Deutschland abzulösen und an seine Stel-
le Jakov Suric einzusetzen.28
Tags darauf, am 11.5.1934, bewilligte das Politbüro auf Anfrage der obersten Verteidigungskommissi-
on der Sowjetunion die Zuwendung von Valuta aus dem Reservefonds des Rates der Volkskommissare
zum Kauf von zwei deutschen Flugzeug-Prototypen des Modells Heinkel ASCH-70. Dabei handelte es
sich möglicherweise um die militärische Version der Heinkel He 70 „Blitz“, mit der 1934 die Lufthansa
den „Blitz-Dienst“ zwischen den deutschen Großstädten eröffnete mit einem Flugmotor, der von sow-
jetischen Chefkonstrukteur Arkadij Švecov („ASCH“) in Lizenz entwickelt wurde.29
Dok. 346
Brief „Ludwigs“ (d.i. Lajos Magyar) an Pjatnitzki über seine
Mission in Deutschland
O.O., 25.5.1934
Heute schreibe ich nur kurz, würde jedoch sehr um Antwort bitten:
1.) Meine erste Bitte: mir die Erlaubnis zu geben, mich einige Wochen im Dritten
Reich31 aufzuhalten.32 Dies ist aus geschäftlichen Gründen unabdingbar. Rote Fahne,
[Deutsche] Volkszeitung, Internationale sind – mehr oder weniger gut – aufgestellt.
Die Arbeiterzeitung33 arbeitet auch mehr schlecht als recht. Wir schreiben Broschü-
ren. Die Landesleitung wird von uns informiert und bekommt von uns Materialien.
Doch jetzt ist es höchste Zeit, nachzuhorchen, was überhaupt im Land geschieht, vor
allem wie die Parteiorganisationen arbeiten. Wenn man nichts über die Stimmungen
der Arbeiter weiß, ist es schwer, für sie zu schreiben, und wenn man nicht weiß, was
die ehemaligen sozialdemokratischen Arbeiter umtreibt, ist es unmöglich, Antworten
auf ihre Fragen zu liefern. Natürlich werde ich vorsichtig sein und versuchen, nicht
28 APRF, 3/64/662, 105. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin, III, Dok. 25.
29 APRF, Moskau, 3/64/662, 34. Publ. in: Ibid., Dok. 26.
30 Über dem Briefkopf Eingangsstempel vom 2.6.1934. Links oben handschriftlicher Vermerk: „Ant-
wort erteilt 3.VI.34. In die Mappe.“
31 Im Original: „v tretʼej imperii“.
32 Offensichtlich war Magyar im Auftrag der Komintern für die Betreuung der illegalen Pressearbeit
der KPD in Prag tätig, wo neben der Roten Fahne auch die Deutsche Volkszeitung und die AIZ heraus-
gegeben wurde.
33 Vermutlich die Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ), die unter Chefredakteur Franz Carl Weiskopf seit
1933 weiter in Prag erschien.
1072 1933–1939
in die Hände der Gestapo zu fallen. Ich bin mir sicher, dass Sie mir die Erlaubnis, ins
wunderbare Land Hitlers zu fahren, nicht verwehren werden. […]34
4.) Hier gibt es keine besonderen Neuigkeiten. Die Rote Fahne erscheint bereits
dreimal im Monat. Andere Presseorgane erscheinen regelmäßig. In allgemeinen Par-
teiangelegenheiten kann ich von keinen besonderen Veränderungen berichten. Die
Deutschen sind ein gutes, ein erstaunliches Volk, doch die Gewerkschaftsarbeit und
die Massenarbeit überhaupt sind leider noch ausbaufähig.
Bei mir läuft alles ganz gut. Es gibt Arbeit. Man könnte viel besser und mehr
arbeiten. Doch hier hängt vieles von den allgemeinen und inneren Bedingungen ab,
über die ich Sie bereits ausführlich informiert hatte.
25/V.34. – Ludwig
Am 9.6.1934 sanktionierte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Liquidierung sogenann-
ter „Provokateure“ in der KP Polens im Zusammenhang mit dem Prozess gegen eine „Polnische
Militärorganisation“.35
Dok. 347
Rede Manuilskis zur Vorbereitung des VII. Weltkongresses der
Komintern über die falsche Einschätzung des Faschismus
[Moskau], 14.6.1934
Erlauben Sie mir, zu einigen konkreten Bemerkungen überzugehen. Ich will zual-
lererst Folgendes sagen: Ich denke, dass der Kongress36 auf sehr kraftvolle Weise
durchgeführt werden muss, unter dem Zeichen einer allerernsthaftesten Revision all
unserer Fehler und der Mängel unserer Arbeit. Wenn wir die Entwicklung in histori-
scher Perspektive betrachten, was haben wir? Über die Welt brauste eine riesige Krise
hinweg, die Stalin als etwas nie da Gewesenes in der Krisengeschichte charakteri-
siert. Der Apparat aller alten, bürgerlichen Parteien ist zerschlagen, der Apparat der
34 In weiteren Abschnitten seines Briefes bittet Ludwig um einen mehrwöchigen Urlaub (zum ersten
Mal seit zwei Jahren) und informiert Pjatnitzki über einen möglichen Spion in der englischen Delega-
tion von Lord Marley.
35 RGASPI, Moskau, 17/162/16, 86.
36 Gemeint ist der VII. Weltkongress der Komintern, der ursprünglich bereits für 1934 vorbereitet
wurde, dann jedoch, nach mehreren Entscheidungen des sowjetischen Politbüros, erst im Sommer
1935 einberufen wurde.
Dok. 347: [Moskau], 14.6.1934 1073
37 Offensichtlich scheint Manuilski ein bevorstehendes Zeitalter des Faschismus für nicht ausge-
schlossen gehalten zu haben. Gerade in Frankreich kam es allerdings im Februar 1934 dazu, dass
faschistische und royalistische Kräfte von einer weitgehend spontan entstandenen Massenbewegung
zurückgeschlagen wurden. Im Juli wurde dann erstmals in der neueren Geschichte der Komintern ein
Bündnis zwischen der Sozialistischen Partei (SFIO) und der KPF geschlossen und unter der neuen
Bezeichnung „Volksfront“ im Herbst um die bürgerliche, linksliberale „Radikale Partei“ erweitert.
In Großbritannien wurde 1932 unter Oswald Mosley die British Union of Fascists gegründet, die zwar
noch punktuelle Wahlerfolge errang, jedoch seit 1934 auf einen starken Widerstand in der Bevölke-
rung traf. Das Zeitalter des „Antifaschismus“ begann.
1074 1933–1939
Problem besteht darin, dass während wir den Kampf gegen den Faschismus ignorier-
ten, wir das gesamte Feuer gegen die Sozialdemokratie richteten und dabei annah-
men, dass wir den Faschismus zerschlagen, indem wir gegen die Sozialdemokratie
kämpfen. Wir nahmen an, dass der Faschismus irgendeine abstruse Lehre sei, so wie
Hitlers Buch „Mein Kampf“, die man nicht widerlegen müsste. In der Praxis hat sich
jedoch ergeben, dass solche Ideen, zusammengeklaubt aus Resten des Anarchismus,
des Parlamentarismus und der Sozialdemokratie plus Nationalismus, Millionenmas-
sen ergreifen können.38 [...]
Dok. 348
Beschwerde Karl Volks an die Komintern über seinen Ausschluss
aus der KPD als „Versöhnler“
[Zürich], 16.6.1934
„5“/6330/10
16.6.34.
Abschrift/SCHOE
Werte Genossen!
Das ZK der KPD hat mich aus der Partei ausgeschlossen, ohne mir Gelegenheit zu
geben, mich zu verantworten. Mein Rekurs wurde nicht beantwortet, deshalb wende
ich mich unmittelbar an Euch.40
38 Hitlers „Mein Kampf“ erschien 1925 und 1926 in zwei Bänden im Zentralverlag der NSDAP, Franz
Eher Verlag, München, und später in weiteren Ausgaben. Die hier von Manuilski vorgenommene, selt-
same und im antidemokratischen Narrativ verfangene Charakterisierung lässt entscheidende Inhalte
des Buches, wie Rassismus und Antisemitismus, das Kriegsparadigma und die Ausrichtung gegen
den Pazifismus, nicht zuletzt die intendierte Zerstörung der Sowjetunion und des „Weltjudentums“
als Zielvorstellungen außer Acht. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte bereitet für 2015 – in die-
sem Jahr verliert der Freistaat Bayern, dessen Finanzministerium die Verbreitung und Neuauflage
verboten hatte, die Urheberrechte an dem mit Publikationsverbot belegten Buch – eine wissenschaft-
lich-kritische Ausgabe vor. Siehe: Hitler, Mein Kampf. Eine Edition, http://www.ifz-muenchen.de/
aktuelles/themen/edition-mein-kampf/.
39 IKK (Abk.) – Internationale Kontrollkommission der Komintern.
40 Karl Volk, Ps.: Robert (1897–1961). In Galizien geboren, Studium in Prag, dort zunächst Poale Zion,
dann KP der Tschechoslowakei, 1920 KPD. 1924–1925 Agitpropabteilung des EKKI, 1928 ROSTA. Nach
illegaler Arbeit in Deutschland Emigration nach Paris. 1933 Parteiausschluss als Leiter der Versöhn-
ler-Fraktion. Am 10.8.1934 bestätigt die IKK den Ausschluß. In Zürich Kopf der „Versöhnler“, später
Dok. 348: [Zürich], 16.6.1934 1075
Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Beschluss des ZK ungerechtfertigt
ist und dass Ihr nach Überprüfung meiner Beschwerde diesen Beschluss aufheben
werdet. Ich habe in den vielen Jahren, den ich der Partei angehöre, noch niemals
eine parteifeindliche Handlung begangen, ganz zu schweigen von „konterrevoluti-
onären Umtrieben“, von denen das ZK in seinem Beschlusse spricht. Ich verhehle
keinesfalls, dass ich mit der Politik des ZK der KPD nicht einverstanden bin. Ich halte
dafür, dass ein Kommunist unter allen Umständen verpflichtet ist, der KI unbedingte
Wahrheit über seine politische Meinung zu sagen: dass er das Recht hat, dies zu tun,
auch wenn ihm bekannt ist, dass das ZK seiner Partei eine andere Meinung vertritt,
wenn er bereit ist, sich unter allen Umständen der Disziplin der KI zu fügen. In den
fast fünfzehn Jahren, in den ich der KI angehöre, habe ich niemals eine Politik der
Doppelzüngigkeit verfolgt. Wenn ich in irgendeiner Frage nicht einverstanden war,
so habe ich dies in der Parteidiskussion mitgeteilt. Wenn die Beschlüsse der Instan-
zen festlagen, so habe ich mich diszipliniert gefügt. Ich selbst habe im Jahre 1928 die
Parteileitung gebeten,41 mich aus dem Parteidienst zu entlassen, weil ich es nicht
verantworten konnte, ohne vollkommene Übereinstimmung mit der Politik des ZK
Parteiangestellter zu bleiben. In den darauf folgenden Jahren habe ich meine Pflicht
als Parteimitglied sowohl in der unmittelbaren Parteiarbeit als in ziemlich intensiver
literarischer Tätigkeit erfüllt, ohne mich irgendeiner Verletzung der Parteibeschlüsse
oder der Disziplin schuldig gemacht zu haben.
Dann kam der faschistische Umsturz. Ich habe die Politik, die das ZK in den ent-
scheidenden Monaten trieb, für falsch gehalten und tue es auch heute. Aber worin
bestand meine Differenz mit dieser Politik? Ich habe keinen Augenblick die Meinung
vertreten, als ob im Januar 1933 die Machtfrage auf der Tagesordnung gestanden hätte.
Die liquidatorischen Theorien Remmeles und Neumanns42 habe ich mit Entschieden-
heit bekämpft. Hingegen war ich davon überzeugt, dass bei einer richtigen Politik des
ZK durch die Entfesselung grosser Massenkämpfe die nationalsozialistische Form der
faschistischen Diktatur verhindert oder zumindest äusserst erschwert worden wäre.
Ich bin der Meinung, dass wir in Deutschland eine Niederlage erlitten haben. Ich
habe aber vom ersten Augenblick, als in der Partei die Diskussionen einsetzten, gegen
den defaitistischen Standpunkt gekämpft, als ob diese Niederlage eine „Epoche des
der „Berliner Opposition der KPD“, beruflich als Übersetzer tätig. Dann Auswanderung in die USA
(Ps. Robert Rintl). Nach 1945 Verbindungen zur SPD. Siehe seine Komintern-Saga: Ypsilon: Pattern
for a World Revolution, Chicago-New York, Ziff-Davis Publishing Company, 1947; vgl. Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 972; Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 332; Buckmiller/Meschkat: Biogra-
phisches Handbuch, Datenbank).
41 Volk forderte im September 1928, nach der Aufdeckung des „Wittorf-Skandals“, in den Thälmann
verstrickt war, dessen Absetzung als Parteivorsitzender. Siehe hierzu Dok. 192 u.a.
42 Volk verdeutlicht hier die Position der „Versöhnler“ zur deutschen Katastrophe. Das NS-System
zu stürzen, wäre unmöglich gewesen, doch die Art und Weise der Machtstabilisierung und damit die
Herausbildung des Terrorregimes mit allen negativen Folgen habe im Bereich des Möglichen gelegen
(siehe hierzu Dok. 303).
1076 1933–1939
Faschismus und der Reaktion“ einleite, als ob man in Deutschland mit einer „itali-
enischen Perspektive“ rechnen müsse.43 Ich habe während des ganzen Jahres 1933,
das ich zum grossen Teile in illegaler Arbeit in Deutschland verbrachte, gegen jede
liquidatorische Tendenz und gegen die Auffassung gekämpft, als ob man in Folge der
Niederlage die revolutionäre Perspektive aufgeben müsse. [...]
Ich habe auch nach dem Ausschluss, der in der diffamierendsten Form publiziert
wurde, keinen Schritt getan, der nicht mit den Pflichten eines Parteimitgliedes ver-
einbar wäre.
Aus allen diesen Gründen ersuche ich Euch, den Beschluss des ZK aufzuheben
und mir meine Rechte als Parteimitglied wieder zu geben.
Am 5.7.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf Anregung von Rozengolʼc, von
der Option eines Zusatzkredits von 25.000.000 Reichsmark, der Teil der letzten 40-Millionen-Kredi-
tabmachung mit Deutschland war, keinen Gebrauch zu machen.45 Am selben Tag gab das Politbüro
Richtlinien an I.Ja. Vejcer aus, an denen er sich bei den Verhandlungen für einen neuen deutschen
Importkredit zu orientieren hatte.46
43 Italienische Perspektive: Auch einige Thesen der Komintern waren nicht mehr weit von der Sicht
des Faschismus als „Epoche“ entfernt, wie die Manuilski-Rede zur Vorbereitung des VII. Weltkon-
gresses zeigt (Dok. 347). Tatsächlich stufte die Komintern im Gegensatz etwa zur Internationalen
Linksopposition die Situation in Deutschland, je bedrohlicher der Anstieg der Nationalsozialisten
in den 1930er Jahren wurde, nicht mehr als revolutionär, nicht einmal mehr als vorrevolutionär ein.
„Vom politischen Extremismus, für den nichts existiert als die ‚Eroberung der Straße’ im Namen der
unmittelbaren Diktatur des Proletariats (auf dem Papier) geht eine solche Führung [der KPD] ohne
Mühe zum Possibilismus über, indem sie sich nach jedem Winde richtet, der von der Kleinbourgeoisie
kommt, auch nach dem chauvinistischen.“ (Leo Trotzki: An die Reichskonferenz der Linken Oppositi-
on, 17. September 1930. In: Id.: Schriften über Deutschland, 1, S. 70–74, hier S. 72).
44 Die von Hans Bickel (1884–1961) geleitete „Arbeiterbuchhandlung“ in Zürich war die Parteibuch-
handlung der KP der Schweiz, die u.a. die Publikationen von Münzenbergs Verlagen vertrieb (siehe:
Brigitte Studer: Un parti sous influence. Le Parti communiste suisse, une section du Komintern, Lau-
sanne, L’Age d’Homme, 1994, S. 619; Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank).
45 APRF, Moskau, 3/64/662, 43. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 35.
46 APRF, Moskau, 3/64/640, 46–46v. Publ. in: Ibid., Dok. 36.
Dok. 349: [Moskau], 8.7.1934 1077
Dok. 349
Beschluss des Präsidiums der Komintern über die internationale
Kampagne zur Befreiung Thälmanns aus NS-Haft
[Moskau], 8.7.1934
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/2/d (Alte Signatur: 494/1/40/53, 53). Erstver-
öffentlichung.
Dokument Nr. 15
6530/St
Vertraulich
Beschluss des Präsidiums des EKKI
Das Präsidium des EKKI beschliesst auf Grund des Referates des Genossen Béla Kun
über die Einheitsfrontaktion zur Befreiung Thälmanns folgendes:
1) Die Direktiven des Politsekretariates und der Politkommission, ausgearbeitet
auf Grund des Aufrufes des EKKI vom 5. März zur Führung der Kampagne,47 insbeson-
dere die Direktive, lt. welcher die Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien auf-
gefordert wurden, an die Leitungen der entsprechenden sozialdemokratischen Par-
teien Angebote zwecks Herstellung der Aktionseinheit für die Befreiung Thälmanns
und anderer Antifaschisten zu senden, werden gebilligt.
2) Einige kommunistische Parteileitungen haben trotzdem diese Direktive mit
grosser Verspätung (Tschechoslowakei, Spanien), nicht genügend konsequent
(England, Schweiz) durchgeführt. Im allgemeinen haben die Parteien es nicht ver-
standen, die Kampagne mit dem Aufruf des EKKI vom 5.3.1933 zu verbinden.
Mit Ausnahme von Frankreich, wo es gelungen ist, den Einheitsdrang in der
Arbeiterklasse zum Ausgangspunkt von breiten Massenaktionen zu machen,48 haben
47 Zum Aufruf des EKKI vom 5.3.1934 siehe Dok. 311. Von der Befreiungskampagne für Thälmann,
der am 3.3.1933 verhaftet wurde, war im Aufruf keine Rede. Im illegalen Rundschreiben des ZK vom
13.3.1933, nach der Verhaftung Thälmanns, ist wiederum von Angeboten an die Führungen der sozi-
aldemokratischen Parteien keine Rede (siehe: Weber: Die Generallinie, S. 671–673). Des Weiteren feh-
len deutliche Hinweise in der Resolution des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale
vom 1.4.1933, die zwar von der Notwendigkeit der „Zusammenschweißung aller Kräfte des Proletariats
und die Herstellung der Einheitsfront der sozialdemokratischen und der kommunistischen Arbeiter“
spricht, entsprechende Angebote jedoch unerwähnt lässt und die Hauptaufgabe darin sieht, „die
Massen auf die entscheidenden revolutionären Kämpfe, auf den Sturz des Kapitalismus, auf den Sturz
der faschistischen Diktatur durch den bewaffneten Aufstand vorzubereiten.“ (Rundschau über Politik,
Wirtschaft und Arbeiterbewegung II (1933), S. 229–231).
48 Im Juli 1934 kam es zum Abschluss einer Vereinbarung über der Aktionseinheit zwischen der So-
zialistischen Partei (SFIO) und der KP Frankreichs, und später zum ersten Volksfrontbündnis, das in
der Folge von der KP Frankreichs weiter nach rechts ausgeweitet wurde. Die Darstellung lässt außer
Acht, dass es sich, was die Teilnahme der KPF an der Einheitsfront anging, um eine Entscheidung in
letzter Minute handelte, die weitgehend aufgrund des Drucks der Mitglieder von unten zustande kam.
1078 1933–1939
die Parteileitungen den Kampf für die Aktionseinheit nach der Ablehnung durch die
Sozialdemokratie praktisch eingestellt (Belgien, Schweiz), ja sogar die Beantwortung
des Einheitsfrontangebotes in der Presse, in den Massenorganisationen nicht forciert.
Mit Ausnahme von einigen Ländern, besonders von Frankreich (auch hier nicht unter
Ausnutzung aller gegebenen Möglichkeiten) hat keine Parteileitung es verstanden,
nach der Zurückweisung des Einheitsfrontangebots Aktionseinheit mit sozialdemo-
kratischen Organisationen über die Köpfe der sozialdemokratischen Parteileitungen
hinweg – im örtlichen oder Bezirks-Masstabe – herzustellen.
3) Den Kommunistischen Parteien wird empfohlen, ungeachtet der Zurück-
weisung der Vorschläge durch die sozialdemokratischen Leitungen neue Angebote
seitens der Kommunisten an die sozialdemokratischen Bezirks-, Stadt- und lokalen
Leitungen zu stellen, für ihre Annahme eine Massenkampagne in den sozialdemokra-
tischen Organisationen, Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen, ohne
zu schwanken, durchzuführen, die Aktionseinheit für die Befreiung Thälmanns und
anderer antifaschistischer Kämpfer durchzuführen, sie mit dem Kampf gegen den
Faschismus im eigenen Lande und für die wirtschaftlichen Tagesforderungen aller
werktätigen Schichten zu verbinden.
4) Unabhängig davon, ob die sozialdemokratischen Parteien oder einzelne Orga-
nisationen den Vorschlag zur Herstellung der Einheitsfront annehmen oder ableh-
nen, sollen die Kommunistischen Parteien und lokalen Organisationen eine breite
Aufklärungskampagne führen und jede Möglichkeit ausnützen, um durch Ueberwin-
dung der Widerstände, die Aktionseinheit der kommunistischen und sozialdemokra-
tischen Arbeiter herzustellen.49
In einem Beschluss vom 14.7.1934 gab das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion sein Einverständ-
nis zur Unterzeichnung eines Dreierabkommens mit Frankreich und Deutschland, das den „Regional-
pakt Ost“ garantieren würde.50
Bezüglich eines zusätzlichen Kredits von Deutschland in Höhe von 25 Millionen Mark beschloss das
Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 15.7.1934, auf das Recht, diesen in Anspruch zu nehmen,
zu verzichten. Ebenfalls wurde unter einer größeren Anzahl deutscher und österreichischer Sozialde-
mokraten vierzehn von ihnen die Einreise in die UdSSR gestattet.51
Am 9.2.1934 hatten sich bereits spontan und ohne eine Parteiinstruktion Demonstrationszüge der So-
zialisten und der Kommunisten im Zeichen des Protestes gegen die extreme Rechte in Frankreich, die
am 6.2.1934 gewaltsam demonstrierte, vereinigt.
49 Nach der KP Frankreichs erfolgte ein ähnlicher Umschwung durch die KP Spaniens im September/
Oktober 1934. Die KPD verharrte trotz der hier veröffentlichten Komintern-Resolution vom Januar 1935
(siehe Dok. 359) bis zum VII. Weltkongress der Komintern weitgehend in ihrer sektiererischen Politik.
Erst im 2. Halbjahr 1935 erfolgte dann die Umstellung der kommunistischen Parteien auf die Volks-
frontlinie, allerdings in unterschiedlicher Weise (siehe hierzu den Beitrag von Bayerlein in Bd. 1).
50 RGASPI, Moskau, 17/162/16, 119. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 313.
51 RGASPI, Moskau, 17/162/16, 111, 113, 114, 119, 122.
Dok. 349: [Moskau], 8.7.1934 1079
Am 25.7.1934 verabschiedete das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Antwort an die franzö-
sische Regierung. Hierin wurde die Bereitschaft erklärt, dem Völkerbund beizutreten, wenn man eine
entsprechende Einladung sowie einen ständigen Sitz im Rat des Völkerbunds erhalte. Zuvor hatte
Frankreich von der Sowjetunion gefordert, vor dem Abschluss eines gemeinsamen Vertrags in den
Völkerbund einzutreten.52
Auf Anregung Litvinovs beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 25.7.1934, die
„Gesellschaft Kultur und Technik“ zu liquidieren. Diese diente dem Austausch von technischem
Know-How zwischen Russland und Deutschland, bspw. wurden deutsche Professoren nach Russland
zu Vorträgen eingeladen. Das Hitlerregime habe jedoch, so Litvinov, Reisen deutscher Wissenschaf-
ter in die UdSSR deutlich erschwert. Daher sei die Gesellschaft nicht mehr arbeitsfähig. Um jedoch
Hitlerdeutschland nicht eine Steilvorlage für antisowjetische Propaganda zu liefern, sollte nun eine
Allunions-Gesellschaft für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit dem Ausland gegründet
werden, die für alle Staaten offen sei – so könne man die deutsch-russische Gesellschaft unter dem
Vorwand ihrer Redundanz auflösen.53 Die Gründung der neuen Gesellschaft wurde am 8.1.1935 vom
Orgbüro der KP der Sowjetunion eingeleitet, jedoch am 11.3.1935 vom Politbüro aus unbekannten
Gründen bis auf weiteres gestoppt.54
Am 26.7.1934 lehnte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Bitte der Lufthansa um die
Überflugsgenehmigung eines Flugzeugs über das sowjetische Territorium ab, wie auch wiederholt
am 15.8.1934.55
Am 5.8.1934 reagierte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf die „deutsche Hunger-Kam-
pagne“. Eine Kommission, bestehend aus Krestinskij für das NKID, Arkus (Staatsbank) und einem
Vertreter des Torgsin, der Allunions-Gesellschaft zum Handel mit Ausländern wurde beauftragt, kon-
krete Maßnahmen auszuarbeiten, um Geldüberweisungen aus Deutschland in die UdSSR (vermut-
lich zur Hilfe an Wolgadeutsche) zu verzögern (bzw. zu verhindern). Deutsche Meldungen über den
mit Torgsin abgeschlossenen Vertrag sollten in der Presse und im Rundfunk dementiert werden. Des
Weiteren wurde beschlossen, auf die Organisierung eines dritten koordinierten Transports von ös-
terreichischen Schutzbundangehörigen aus der Tschechoslowakei zu verzichten und stattdessen der
sowjetischen Vertretung in der ČSR zu erlauben, einzelnen Schutzbündlern die Einreiseerlaubnis in
die UdSSR zu erteilen. Außerdem überließ das Politbüro der Komintern fünf ausländische PKWs und
zwei LKWs.56
Am 9.8.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf Anfrage des NKVD, sogenann-
te deutsche Mitglieder zweier aufgedeckter „faschistischer Organisationen“ – eine davon angeblich
in der Redaktion der Deutschen Zentral-Zeitung – aus der Sowjetunion abzuschieben. Dagegen soll-
ten die russischen Angeklagten vor eine „Sonderberatung“ des NKVD gestellt werden.57
52 RGASPI, Moskau, 17/162/16, 140–141. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 314–315.
53 APRF, Moskau, 3/64/687, 77. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 38. Zum Hintergrund
ibid., Dok. 37.
54 APRF, 3/64/687, 81, 82. Publ in: Ibid., Dok. 55 und 61.
55 RGASPI, Moskau, 17/3/949, 94/76; 17/162/17, 8.
56 RGASPI, Moskau, 17/162/16, 142, 144.
57 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 4.
1080 1933–1939
Am 15.8.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, bei den Verhandlungen mit
Deutschland über einen Kredit von 200 Millionen Reichsmark auf einem Umfang der sowjetischen
Bestellungen im Wert von 20, höchstens 30 Millionen Mark zu bestehen.58
Qua Umfrage vom 16.8.1934 beschloss das Politbüro strenge Maßnahmen gegen die Theoriezeit-
schrift der KP der Sowjetunion Bolʼševik. Der ehemalige Kominternvorsitzende Grigori Sinowjew hatte
in einem Artikel die Interpretation einer Schrift von Friedrich Engels vorgenommen, die Stalin zufolge
falsch war, wofür er nun aus der Redaktion der Zeitschrift ausgestoßen wurde.59
Dok. 350
Redebeitrag Béla Kuns zur Vorbereitung des VII. Weltkongresses
der Komintern gegen ein Abrücken von der revolutionären
Strategie
Moskau, 22.8.1934
BELA KUN: Ich finde, dass die Thesen in dieser Form unannehmbar sind.60 Und das
aus folgendem Grund. Ich habe nach einer Begründung für die revolutionäre Pers-
pektive gesucht. Gefunden habe ich sie auf S. 2, wo es heißt, dass „der imperialisti-
sche Krieg auch zum Bürgerkrieg führt. In beiden Fällen riskiert die Bourgeoisie ihren
Kopf. Die Kräfte der Weltrevolution wachsen, [...] die Idee des Sturms reift im Bewusst-
sein der Massen, [...] das Heranbrechen der Revolution.“61 Faktisch [...] hat dies rein
deskriptiven Charakter, ohne jegliche Analyse. Und das soll eine Begründung für die
revolutionären Perspektive sein? [...] Ich denke, dass es sich auch in diesem Falle um
eine Vertröstung handelt statt der Darstellung einer echten revolutionären Perspek-
tive, einer begründeten revolutionären Perspektive.
(Manuilski: Dann gib sie uns!)
58 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 8; APRF, Moskau, 3/64/662, 52. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin,
III, Dok. 41.
59 RGASPI, Moskau, 17/3/950, 31–32. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 707–709.
60 Es handelt sich um die Thesen zum ersten Punkt der Tagesordnung des erst fast ein Jahr später
stattfindenden VII. Weltkongresses der Komintern (23.7.1935–21.8.1935), dort als Bericht Dimitrovs
„Die faschistische Offensive und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale“.
61 Kuns Rede wurde entweder auf den speziellen Sitzungen des EKKI-Präsidiums oder auf der Vorbe-
reitungskommission gehalten, die zur Vorbereitung des VII. Weltkongresses seit ca. Juni 1934 einberu-
fen wurde. Sie reflektiert das bereits 1933 manifeste Abrücken der Komintern von der revolutionären
Perspektive und wendet sich scharf gegen die These vom „Zeitalter des Faschismus“.
Dok. 350: Moskau, 22.8.1934 1081
Dazu komme ich, Gen. Manuilski. Und deswegen teile ich weitgehend Gen. Vargas
Meinung, die Thesen seien pessimistisch. [...]
Auf Grundlage dieser Thesen könnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass wir
uns in einer Epoche des Faschismus befänden. Die Thesen über den Faschismus sind
so gefasst, als ob es weder den 30. Juni in Deutschland62 noch den 25. Juli in Öster-
reich63 gegeben hätte. Die Thesen werfen die Frage des Faschismus völlig losgerissen
von der allgemeinen Krise des bürgerlichen Staates auf. [...]
Ich denke, dass der zweite Mangel dieser Thesen darin besteht, dass die Sozialde-
mokratie hauptsächlich im Kapitel über den Faschismus vorkommt. Wir sprechen die
ganze Zeit davon, dass man doch bitte den Faschismus nicht mit der Sozialdemokra-
tie gleichstellen solle, und hier figurieren der Faschismus und die Sozialdemokratie
in einem Kapitel, und das ohne eine ausreichende Differenzierung. Ob Sie es wollen
oder nicht, Gen. Kuusinen, es muss hier eine Antwort gegeben werden auf die Frage,
ob die Sozialdemokratie die Hauptstütze der Bourgeoisie bleibt, und nicht abgewar-
tet werden. Dies muss so formuliert sein, dass der kommunistische oder sozialdemo-
kratische Leser nicht darüber rätseln muss, ob die Sozialdemokratie die wichtigste
soziale Stütze bleibt, auf Basis [der Thesen] lässt sich dies jedoch nur erraten. [...]
Am 22.8.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den stellvertretenden Volks-
kommissar für Außenhandel, Šalva Eliava, mit einem Bericht über den mit Deutschland am 8.8.1934
unterzeichneten Vertrag zu beauftragen (das Abkommen zwischen Danzi und Polen?).64
62 30. Juni in Deutschland: Gemeint ist die Niederschlagung des „Röhm-Putsches“ am 30.6.1934
(„Nacht der langen Messer“), als Hitler den Machtkampf zwischen der Reichswehr und der plebej
ischen SA, die zum Träger einer zweiten, sozial orientierten Revolution zu werden drohte, autoritär
entschied. Die blutige Abrechnung betraf neben der SA, deren gesamte Führung Hitler durch SS-Ein-
heiten ermorden ließ, eine Reihe weiterer innerparteilicher Rivalen Hitlers, Himmlers und Görings.
Stalin soll sich bewundernd über die Aktion ausgesprochen haben, nach der die Reichswehr von nun
an auf die Person des „Führers und Reichskanzlers“ eingeschworen wurde. Die KPD hatte früh auf die
Beeinflussung der SA als „Kampfreserve gegen Hitler“ gesetzt, sie verfolgte im Rahmen der MP-Arbeit
den Aufbau geheimer Zellen in der SA. Hitlers Schlag, der die Reichswehr entscheidend aufwertete,
traf die KPD völlig unvorbereitet. Ohne äußerliche Erfolge wurde die „revolutionäre Arbeit (der KPD)
innerhalb der SA“ fortgesetzt (siehe: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der
KPD, S. 364).
63 25. Juli in Österreich: Die Rede ist von dem misslungenen nationalsozialistischen Putsch in Wien
am 25.7.1934, der nach schweren Kämpfen bis zum 30.7.1934 niedergeschlagen wurde. Zu den ca. 200
Getöteten gehörte auch der österreichische Bundeskanzler Dollfuß. Siehe: Gottfried-Karl Kinder-
mann: Hitlers Niederlage in Österreich. Bewaffneter NS-Putsch, Kanzlermord und Österreichs Ab-
wehrsieg von 1934, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1984; vgl.: Hans Schafranek: Sommerfest mit
Preisschießen. Die unbekannte Geschichte des NS-Putsches im Juli 1934, Wien, Czernin Verlag, 2006.
64 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 12.
1082 1933–1939
Dok. 351
Brief des Schriftstellers Lothar Wolf an Wilhelm Pieck und Fritz
Heckert
Moskau, 28.8.1934
Werte Genossen!
Ich möchte als langjähriges Mitglied der Schriftstellergruppe der KPD66 Eure Auf-
merksamkeit auf einige Misstände lenken.
Ich lebe seit einem halben Jahr in Moskau und habe feststellen müssen, dass
unter den hiesigen reichsdeutschen Parteischriftstellern so gut wie jeder Zusammen-
halt fehlt. Von irgend einer kollektiven politischen oder künstlerischen Arbeit kann
nicht gesprochen werden. Die Schuld liegt keineswegs an dem oft betonten Indivi-
dualismus, der Disziplinlosigkeit, der Feigheit, der Unreife und Gleichgültigkeit der
kommunistischen Schriftstelleremigranten. Im Gegenteil, die hier in der Emigration
lebenden Schriftsteller haben ja gerade für den revolutionären Kampf ihre Lebens-
möglichkeit in der Heimat riskiert und verloren.
65 Lothar Ruben-Wolf (1882–1938, in der Sowjetunion erschossen) war ein in Wiesbaden geborener
KPD-Arzt und langjährig führend für die sozialpolitischen KPD-Organisationen, in der kommunisti-
schen Ärztegruppe und im Klub der Geistesarbeiter tätig; verheiratet mit Martha Ruben-Wolf, jüdi-
scher Herkunft und in Moskau seit 1934 Sprecher der deutschen Ärztegruppe in Moskau. Nach der
traumatisch erlebten Verhaftung und Erschiessung ihres Ehemanns beging Martha Ruben-Wolf im
Jahre 1939 Selbstmord. Siehe: Reinhard Müller: Juden – Kommunisten – Stalinopfer. Martha Ruben-
Wolf und Lothar Wolf im Moskauer Exil. In: Exil XXVI (2006), H. 1, S. 5–26. Siehe auch Wolfs Bericht
an Wilhelm Pieck „zur Intellektuellenpropaganda der KPD“ von 1936 in: Christa Uhlig: Rückkehr aus
der Sowjetunion: Politische Erfahrungen und pädagogische Wirkungen. Emigranten und ehemalige
Kriegsgefangene in der SBZ und früheren DDR, Weinheim, Deutscher Studienverlag, 1998 (Bibliothek
für Bildungsforschung).
66 Ähnlich wie in anderen peripheren und zentralen Bereichen fand auch in der deutschen Schrift-
stellergruppe der KPD in Moskau ein bizarrer Ausgrenzungsprozess statt, der, befördert von der KPD-
Führung – besonders Ulbricht und Pieck – in den stalinistischen Terror überging. Vor allem Pieck for-
derte 1936 vehement die Überprüfung der deutschen Schriftsteller und der Peripherorganisationen.
Zum Teil sollten Personen nach Deutschland zurückgeschickt werden, zum Teil wurden Verhaftungen
in der Sowjetunion gefordert. „Ich glaube, daß es noch eine Reihe von Leuten von der Qualität Süß-
kinds gibt und die Mitglied unserer Partei sind, bei denen sich die gleiche Notwendigkeit ergeben
wird, sie zu verhaften. Hoffentlich wird dadurch endlich einmal diese Eiterbeule gründlich geleert
und ausgebrannt, die sich in der hiesigen Emigration gebildet hat.“ (IfGA/ZPA [Institut für Geschichte
der Arbeiterbewegung, Zentrales Parteiarchiv] I 2/3/286, zit. in: Müller: Die Säuberung, S. 9).
Dok. 351: Moskau, 28.8.1934 1083
72 Gustav Brand (1902–1937?) war ein sudetendeutscher Schriftsteller, seit 1928 Mitarbeiter der Deut-
schen Zentral-Zeitung. Er wurde 1936 in der Sowjetunion verhaftet. Andor Gábor (1884–1953) war ein
ungarischer Schriftsteller und Journalist, Mitbegründer der Internationalen Vereinigung Revolutio-
närer Schriftsteller (IVRS) und u.a. Mitherausgeber der Linkskurve. Der tschechische Kommunist
und Literaturwissenschaftler Paul Reiman (1902–1976) arbeitete in der IVRS und wurde selbst wegen
„Rechtsabweichung“ 1933 nach Moskau zitiert. Nach dem 2. Weltkrieg Direktor des Instituts für die
Geschichte der KPČ und im „Prager Frühling“ engagiert.
73 Narkompros, russ. Narodnyj kommissariat prosveščenija, Volkskommissariat für das Bildungswe-
sen.
74 Der Musiker, Schriftsteller, Verleger und Künstler Herwarth Walden (urspr. Georg Lewin, 1878–
1941) war als Gründer der Zeitschrift Der Sturm (1910–1932) der „geheime Architekt der Avantgarde“
des frühen 20. Jahrhunderts, besonders des Expressionismus, Futurismus, Dadaismus und der Neuen
Sachlichkeit. Mitglied der KPD, seit 1932 als Sprachdozent in Moskau tätig. Bereits 1934 wurde er in
der Deutschen Sektion wegen „linker Abweichungen“ zunächst erfolglos angegriffen. Im März 1941
wurde Walden als „deutscher Spion“ verhaftet, er starb am 31.10.1941 noch vor einer Verurteilung im
Gefängnislazarett in Saratov an der Wolga (siehe: Robert Hodony: Der geheime Architekt der Avant-
garde. In: Die Tageszeitung taz, 11.4.2010; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 986; zu Waldens
Verhörprotokollen und anderen Materialien aus seiner Strafsache siehe V. F. Koljazin, V. A. Gončarov
(Hrsg.): „Vernite mne svobodu!“ Dejateli literatury i iskusstva Rossii i Germanii – žertvy stalinskogo
terrora, Moskva, Medium, 1997, S. 242–282).
75 Siehe zur Behandlung der deutschen Schriftstellerin Berta Lask ihren Brief vom 29.8.1934, Dok.
352.
Dok. 351: Moskau, 28.8.1934 1085
76 Deutsche Zentral-Zeitung (DZZ), Verlag und Zeitschrift, zugleich Organ des Zentralbüros der deut-
schen Sektion beim ZK der Kommunistischen Partei, später Nemeckaja centralnaja gazeta. Komintern
(Moskau, 1926–1939). Sie publizierte „in deutscher Sprache vor allem für die deutschsprachigen
Facharbeiter und sowjetdeutschen Bürger, bot aber auch den emigrierten Schriftstellern ein litera-
risches Forum“ (Anne Hartmann: Traum und Trauma Sowjetunion: Die Sowjetunion als Exilland für
deutsche Schriftsteller 1933–45. http://www.ruhr-uni-bochum.de/traum/themen.htm). Anfang 1926
als Organ des Zentralbüros der deutschen Sektion bei der Agitations-, Propaganda- und Presseab-
teilung unter der Bezeichnung Unsere Bauernzeitung, seit 16.5.1926 Deutsche Zentralzeitung für Stadt
und Land. Nach der Schließung des Zentralbüros der Deutschen Sektion „Zentralorgan der deutschen
Werktätigen in der Sowjetunion“, mit einer Auflage von ungefähr 20.000 Exemplaren (1931). Zu den
abgedruckten Autoren gehörten Martin Andersen Nexö, Willi Bredel, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwan-
ger, Fritz Erpenbeck, Wieland Herzfelde, Alfred Kurella, Heinrich und Thomas Mann und viele ande-
re. Chefredakteure waren Adolf Klein (1926–1928), H. Löffler (1929), Imre Komor (1929–1933), Wladimir
Frischbutter (1933–1934), Julija Аnnenkova (1934–1937), Karl Kürschner (1937), Richard Grewe (1937),
Karl Hofmann (1937–1939) und Adol’f Sobolevič (1939). Als deutsche und internationale Zeitung
wurde die DZZ zum Angriffpunkt des stalinschen Terrors, bis zu 40 ihrer Mitarbeiter wurden vom
NKVD verhaftet, viele von ihnen erschossen. Siehe: Dehl: Verratene Ideale, S. 279–314.
77 Hans Marchwitza (1890–1965), deutscher Bergmannssohn und Arbeiterschriftsteller. Er wurde in
der Folge aus der Schweiz ausgewiesen und kämpfte dann im spanischen Bürgerkrieg.
1086 1933–1939
worden und verloren gegangen. Viele Sympathisierende sind von dem Anschluss an
die Partei abgeschreckt worden.78
Wie ich höre wird eine Reorganisierung der MORP geplant.
Ich empfehle als Maßnahme zu ihrer Genesung die Beschäftigung des Genossen
Becher auf einem anderen Wirkungsfeld.
Hotel Passage No 75
Gorkovo uliza 15.
Dok. 352
Brief der Schriftstellerin Berta Lask an die KPD-Führung zur
Situation in Moskau
[Moskau], 29.8.[6.?]1934
den 29.8.34
An die Leitung der Deutschen [Kommunistischen] Partei zu Haenden der Gen. Fritz
Heckert und Wilhelm Pieck.
Werte Genossen,
ich bitte mich zur illegalen Arbeit nach Deutschland zu schicken. Vielleicht werde ich
bald hochgehen. Aber auch im Gefaengnis und Konzentrationslager kann man noch
produktive politische Arbeit leisten bis zum Schluss, und das werde ich ebenso tun
wie im vorigen Sommer im Frauengefaengnis.79
Hier aber ist mir die positive antifaschistische Arbeit auf dem literarischen Gebiet
unmoeglich gemacht durch unaufhoerliche Schikanen einer intriganten Klique.
Gekroent werden diese Intrigen jetzt auf dem Kongress,80 indem man mich oeffentlich
aus der Reihe der prol[etarischen] rev[olutionären] Schriftsteller ausstrich.
Wenn ich im offnen Kampf vom offnen Klassenfeind zu Grunde gerichtet werde,
werde ich zufrieden sein, denn ich weiss, wofuer ich falle. Dass mir aber hier durch
Intrige der Boden unter den Fuessen weggezogen und die Gurgel abgedreht wird,
damit werde ich mich nicht schweigend abfinden.
Ich bitte also, wenn ich noch einmal meine Kinder gesehen habe, mich zurueck-
zuschicken.81
Dok. 353
Rede Knorins zur Preisgabe der revolutionären Perspektive in den
Thesen des VII. Kominternkongresses
Moskau, 29.8.1934
KNORIN: [...] Gen. Pjatnitzki sagt, ich hätte auf Kosten der Arbeiterbewegung sehr
radikale Formulierungen in der aktuellen Etappe vorgeschlagen. Ich habe bis jetzt
überhaupt keine Formulierungen vorgeschlagen und habe es auch nicht vor, es ist
jedoch klar, dass die Formulierung über den revolutionären Aufschwung unzurei-
chend ist. [...] Ich denke, es wäre völlig falsch, wenn wir sagen würden, dass die
Entscheidungen des VI. Kongresses nur im Grundsatz richtig seien. Ich denke, dass
die Entscheidungen des VI. Kongresses auch heute gänzlich richtig sind. Wir rufen
jedoch den VII. Kongress deswegen zusammen, weil die Lage sich in einer ganzen
Reihe von Fragen verändert hat und neue Fragen aufgetaucht sind. [...] Die Frage der
80 Es handelt sich um den Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller unter der Präsidentschaft
von Maxim Gorki, auf dem der Sowjetische Schriftstellerverband gegründet und der „sozialistische
Realismus“ normativ als neue künstlerische Form festgelegt wurde. Siebzehn deutschsprachige Gäste
wurden zugelassen, darunter Oskar Maria Graf, Johannes R. Becher und Gustav Regler. Siehe: Mi-
chael Rohrwasser: „Die Deutschen in Verzückung“. Der Moskauer Schriftstellerkongress 1934 und
seine deutschen Gäste. In: Exil, 1990, Nr. 2, S. 45–58.
81 Berta Lask kehrte erst 1953 nach Deutschland zurück und lebte als freie Schriftstellerin in Ost-
Berlin. Einer ihrer Söhne starb im KZ Dachau, Sohn Lutz überlebte Lagerhaft an der Kolyma.
1088 1933–1939
RGO82 war damals richtig gestellt, jetzt haben wir jedoch in Deutschland und Öster-
reich keine Gewerkschaften, gegen die es eine Opposition gäbe, und in einer ganzen
Reihe von Ländern können wir uns ebenfalls von dieser Form verabschieden. Es ist
[dort] bis zum Zusammenwachsen der Gewerkschaften mit dem bürgerlichen Staat
gekommen. Nun macht der bürgerliche Staat diese Gewerkschaften zu. Diese grund-
legende Veränderung wirft die gesamte Frage für uns anders auf.
Das ist aber nicht die Frage, über die ich sprechen wollte, sondern die Frage über
die selbständige Führung von Klassenkämpfen.
Man darf dies alles nicht auf die RGO zurückführen. Das ist völlig falsch. Wir haben
keine Vorschriften, wonach nur die RGO die Kämpfe führen müsse. Sie müssen von
Kommunisten mithilfe unseres ganzen Organisationssystems geführt werden. So
muss die Taktik der selbständigen Klassenkämpfe verstanden werden. Wenn wir
diese Formulierung absetzen, bedeutet dies die faktische Absage an den selbständi-
gen ökonomischen Kampf. [...] Man sagt uns, dass sich unsere Position gegenüber den
reformistischen Organisationen geändert habe. Die Taktik wird sich selbstverständ-
lich ändern. Wie ist unsere Beziehung zu den reformistischen Gewerkschaften jetzt,
wo sie vom Faschismus bedroht werden? Werden wir den Schutz aller echten Arbei-
terorganisationen, unter wessen Leitung sie auch stehen mögen, allen Eigentums
der Arbeiterklasse usw. auf unsere Fahnen schreiben? Wir haben dies für Deutsch-
land formuliert, mir scheint jedoch, daß diese Frage in der gegenwärtigen Situation
international gestellt werden muss. Ich denke, dass wir sagen können, dass wir, die
Kommunisten, jede selbständige Arbeiterorganisation, jedes Arbeitereigentum unter
unseren Schutz stellen.
Am 31.8.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die Rückkehr des im Juni ein-
gesetzten ständigen Vertreters in Deutschland, Jakov Suric nach Deutschland zu verschieben. Qua
Beschluss vom 4.9.1934 wurde ebenfalls der VII. Weltkongress der Komintern auf März 1935 verscho-
ben.83 Weitere Verschiebungen bewirkten, dass der Kongress erst im Juli-August 1935 stattfand.
Am 3.9.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die Wirtschaftsvereinbarungen
mit Deutschland zu unterzeichnen. Als Bedingung wurde gefordert, dass die Deutschen den kom-
pletten Zugang zu Fabriken und Forschungsinstituten – auch denjenigen der Kriegsindustrie – für die
sowjetische Seite freigeben.84 Wie das folgende Dokument belegt, wurde am 14.9.1934 das Einver-
ständnis zur Unterzeichnung der Vereinbarung wieder rückgängig gemacht.
Dok. 354
Telegramm Stalins an das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion
zum Abschluss des Handelsvertrags mit Deutschland
[Gagra],85 14.9.193486
Ich kann nur zustimmen, wenn Sie mir eine Nomenklaturliste der Bestellungen
zuschicken, die womöglich der Verbesserung bedarf, wenn Sie mir mitteilen könnten,
ob und bis wann unser Knebelvertrag mit den Deutschen über das Gold bestehen
bleibt, wonach wir verpflichtet werden, all das bei uns erwirtschaftete Gold an die
Deutschen zu verkaufen, und wenn ich die Endfassung des Vertragsentwurfs über
den fünfjährigen Kredit in den Händen halten könnte.87
Außerdem ist es erforderlich, dass nicht nur unsere Handelsvertretungsleute,
sondern auch unsere Besteller aus der Industrie eine sichere Möglichkeit haben, deut-
sche Fabriken zu besuchen und dort die notwendigen Informationen zu erhalten. Der
Vertrag mit den Deutschen ist eine sehr ernste Sache. Wir können nicht Fridrichson88
allein beauftragen, auf eigene Faust den Vertrag zu unterzeichnen, während wir den
Vertrag nicht in den Händen halten.
Fridrichson treibt sein junges Alter zur Eile, Eile ist jedoch in einer großen Sache
gefährlich. Nicht wir müssen uns in diesem Fall beeilen, sondern die Deutschen, die
mittels eines Vertrags mit uns die Karten in Europa neu mischen wollen und den
schlechten Eindruck, den sie mit ihrer Absage an den Ostpakt hervorgerufen haben,
wieder glätten wollen, außerdem wollen sie bei den Franzosen Misstrauen gegen uns
säen und ihre innere Lage verbessern. Ich rate dazu, sich mit den Deutschen nicht zu
85 Telegramm Stalins aus dem Urlaub in Gagra, an der abchasischen Küste des Schwarzen Meeres.
86 Von Besymenski (Stalin und Hitler, S. 70) auf den 11.9.1934 datiert.
87 Infolge der Intervention Stalins, der „das Vorgehen der sowjetischen Handelsvertretung gegen-
über den deutschen Behörden bis in die kleinsten Einzelheiten (hinein steuerte)“ wurde das Abkom-
men verzögert. Die Verhandlungen mündeten in das Angebot Schachts eines 500 Millionen Kredits,
doch trotz dreimaligen Anlaufs des Stalin-Vertrauten David Kandelaki und intensiver Bemühungen
seitens des sowjetischen Politbüros in den Jahren 1935–1937 kam ein Abschluß nicht zustande (Besy-
menski: Stalin und Hitler, S. 75ff.).
88 Lev Ch. Fridrichson (1889–1937) war der stellvertretende sowjetische Handelsvertreter in Berlin,
seine Aufgabe übernahm dann David Kandelaki, der wie Fridrichson 1937 in den Säuberungen um-
gebracht wurde.
1090 1933–1939
beeilen: Die Deutschen werden nicht von uns weglaufen, da sie den Vertrag mit uns
mehr brauchen, als wir.89
Kommandieren Sie Fridrichson nach Moskau, besorgen Sie den Endtext des Ver-
trags, schicken Sie mir die oben aufgeführten Angaben, und wenn alle Fragen geklärt
sind, werden wir die Frage der Vertragsunterzeichnung entscheiden.90
14.IX.1934.
STALIN.
Per Umfrage seiner Mitglieder vom 22.9.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion
eine Reihe von Maßnahmen zur Zelebrierung des 70. Jahrestags der Gründung der Ersten Internatio-
nale. Unter anderem sollte im Rahmen einer Vortragsreihe in der Kommunistischen Akademie auf die
Kontinuität von der I. Internationale zur Komintern hingewiesen werden.91
Am 23.9.1934 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit der internationalen
Situation, nachdem man am 18.9.1934 formell dem Völkerbund beigetreten war. Dabei wurde fest-
gehalten, dass mit dem Abschluss eines „Ostpakts“ (der im Konzept der Sowjetunion ein Pakt mit
Frankreich und Deutschland sein sollte) keine Eile bestehe, solange Deutschland und Polen sich nicht
anschlössen. Am 10.9.1934 hatte die Reichsregierung in einem Kommuniqué den Sinn eines Ostpakts
in Frage gestellt. Das Politbüro entschied nun, die Entscheidung bis zur Rückkehr Litvinovs von der
Völkerbundstagung in Genf aufzuschieben, der sich darauf beschränken sollte, die Absichten der
Franzosen zu sondieren.92
89 Stalin lehnte die Bedingungen des Handelsvertrags mit Deutschland ab und vollzog damit eine
Kursänderung. Allerdings erkannte er keine Eile und forcierte auch nicht einen definitiven Bruch mit
Hitlerdeutschland, sondern plädierte für eine Art Atempause. Die hundertprozentige strategische
Wende zu einer Politik der kollektiven Sicherheit war damit nicht verbunden. Stalin gab sich sicher
darin, dass Hitler wieder auf ihn zukommen würde. Die taktische Kursänderung bedeutete möglicher-
weise auch das endgültige grüne Licht für den definitiven Umschwung der Komintern auf den Antifa-
schismus und die Fixierung des VII. Weltkongresses. In seinen Notizen vom 15.9.1934 hatte Wilhelm
Pieck noch geschrieben: „Pieck reist von Paris nach Moskau zur Ausarbeitung des Berichtes des EKKI
zum Weltkongress. Da Kongress erneut vertagt, Vorbereitung des Berichtes abgebrochen.“ (Wilhelm
Pieck: Chronik, SAPMO BArch NY 4036/10; zur Kursänderung in der Stalinschen Außenpolitik siehe
den Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 273ff.).
90 Der russische Historiker Lev Besymenskij schreibt hierzu: „Stalin sah also im Handel einen Hebel
für seine politischen Schachzüge. Die Unterzeichnung des Abkommens wurde verzögert, als es aber
so weit war, holte man Friedrichsohn kurzfristig aus dem Urlaub zurück. Die Verhandlungen hatten
allerdings bereits der neue Handelsvertreter Kandelaki zu führen, was Stalin der Handelsvertretung
persönlich mitteilte. Im neuen Abkommen waren die Anträge des Volkskommissariats für Verteidi-
gung in Höhe von 25 Millionen Mark berücksichtigt.“ (Besymenski: Stalin und Hitler, S. 70f.).
91 RGASPI, Moskau, 17/3/952, 19. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 710).
92 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 17. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 318.
Dok. 355: [Moskau], [15.10.1934] 1091
Am 10.10.1934 war der Bergarbeiteraufstand in Asturien Thema im Politbüro des ZK der KP der So-
wjetunion. Es wurde beschlossen, den Aufruf der Komintern, der die Solidarität mit der spanischen
Arbeiterklasse einforderte, gutzuheißen.93
Am 12.10.1934 legte das sowjetische Politbüro in der Angelegenheit einer angeblichen militärischen
Spionageaffäre in Murmank Haftstrafen fest: Der deutsche Ingenieur Fuchs bekam acht Jahre, der
Österreicher Johann Kothgasser sechs Jahre.94
Dok. 355
Vorschläge Dimitrovs an Stalin zur Reorganisation des
Leitungsapparats der Komintern
[Moskau], [15.10.1934]
Über die Reorganisation der Leitungsorgane und den Umbau des Komintern-Apparats.95
93 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 57. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 713.
94 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 58.
95 Die Datierung wie auch die Adressierung an Stalin gehen aus einem Entwurf des Dokuments her-
vor (RGASPI, Moskau, 495/73/1, 15). Bereits am 6.10.1934 hatte Dimitrov Stalin in dieser Angelegenheit
geschrieben, wobei er die Selbständigkeit der Komintern-Sektionen stärker als im vorliegenden Do-
kument gewichtete, jedoch auch die Notwendigkeit der Verstärkung der „ideell-politischen Leitung“
der Parteien seitens der Komintern betonte (RGASPI, Moskau, 495/73/1, 4–7).
96 Entgegen dem Vorschlag Dimitrovs zur Reorganisierung wurden die Ländersekretariate nach dem
VII. Weltkongress vollständig liquidiert und ihre Kompetenzen ebenfalls in die Personalsekretariate
integriert.
1092 1933–1939
in erster Linie die Versorgung mit verifizierten und aktuellen Informationen über die
Lage in den entsprechenden Ländern sowie über Zustand und Tätigkeit der entspre-
chenden Parteien sicherstellen können, Fragen zur Besprechung in der Politkommis-
sion ausarbeiten und vorbereiten, und die praktische Durchführung der Komintern-
Beschlüsse seitens der Parteien überwachen.
97 Die traditionelle Struktur der Internationalen Verbindungsabteilung wurde im Zuge der folgenden
Terrorphase weitgehend aufgelöst und als „Verbindungsdienst“ neu aufgestellt. Siehe zur OMS Dok. 83.
98 Die ursprünglich umfassende Tätigkeit der Agitprop-Abteilung (siehe Dok. 167) wurde im Rahmen
der Propaganda zunehmend auf die Medienarbeit und -Kontrolle (Presse, Rundfunk, Verlage) verlagert.
99 Wie es die Zerschlagung des MP-Apparats der KPD belegt (siehe Dok. 359a ff.), wurde die Kaderab-
teilung des EKKI in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zur Nahtstelle eines Terrorkartells. Die zumeist
deutschen Referenten halfen dabei maßgeblich mit, die eigenen Genossen in den Tod zu schicken
(siehe Dok. 391 u.a.).
100 Dieser Vorschlag wurde umgesetzt, ein neues Organ wie das Westeuropäische Büro des Politse-
kretariats in Berlin, das bis 1933 bestand, wurde in der Folge nicht mehr geschaffen.
Dok. 355: [Moskau], [15.10.1934] 1093
die entsprechenden Parteien und zur Erfüllung spezieller Aufgaben der Politkommis-
sion abzukommandieren.101
Am 17.10.1934 lehnte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Vorschlag von Rozengolʼc und
G.M. Arkus ab, Baumwolle in Deutschland zu verkaufen und eine entsprechende Menge Baumwolle
für die UdSSR auf dem Weltmarkt zu erwerben.102
Am 23.10.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die Budgets der Profintern
und der MOPR zu begutachten und hierzu eine Kommission aus Ždanov, Pjatnitzki, Lozovskij, Grinʼko,
Poskrebyšev und Stasova zu bilden.103
Am 23.10.1934 erfolgte ebenfalls eine Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion über
die Beendigung der Konzession (nach Notizen von Trifonov vom 28.08.1934) für das deutsch-russi-
sche landwirtschaftliche Konsortium zur Entwicklung eines landwirtschaftlichen Musterbetriebs am
südrussischen Fluß Manytsch („Manytsch-Krupp“), das die Modernisierung der sowjetischen Agrar-
produktion vorantreiben sollte..
Am 2.11.1934 fasste das russische Politbüro einen wichtigen Beschluss zu den Beziehungen mit
Frankreich. Dabei ging man davon aus, dass die Vereinbarung über den „Ostpakt“ auch ohne Beteili-
gung Deutschlands und Polens zu unterzeichnen sei, falls Frankreich und die Tschechoslowakei, oder
auch Frankreich alleine dem zustimmen würden. Zu den Wiederaufrüstungsbestrebungen Deutsch-
lands sollten seitens der Sowjetunion keinerlei (weitere) Initiativen ergriffen werden. Sollte Frank-
reich dafür sein, müsse man ihm vorschlagen, Deutschland am Pakt zu beteiligen. Des Weiteren sollte
eine Übereinkunft darüber getroffen werden, dass sowohl Frankreich als auch die Sowjetunion keine
Vereinbarungen und auch keine Verhandlungen mit Deutschland tätigten, ohne die andere Seite da-
rüber zu informieren.
Ebenfalls am 2.11.1934 wurde die Weisung erteilt, dem abessinischen Außenminister inoffiziell die
Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen in Aussicht zu stellen.104
Dok. 357
Brief Béla Kuns an Dimitrov und Knorin über die Propagandaarbeit
im Saarland
[Moskau], 13.11.1934
Vertraulich!
Gemäss unserer vorgestrigen Besprechung schlage ich die Aufteilung der bewilligten
Summe, die zu 90% für die Arbeiten im Saargebiet106 verwendet werden soll, in fol-
gender Weise für die nachstehenden Ausgaben vor:
1.) Aufstellung eines Kurzwellensenders. Verwendung in den letzten zwei Wochen,
um vorzeitige Entdeckung zu verhindern. Sendungen besonders in den letzten Tagen
auf Gewinnung katholischer Bevölkerung konzentrieren (entsprechende „Predigten“
unter Ausnützung katholischen antifaschistischen Materials usw.). Wendung an die
noch schwankenden Schichten der Saarbevölkerung. Aufklärung der Nazianhänger
über die Lage in Deutschland in entsprechender Weise auf Grund Nazi-Materials.107
2.) Herausgabe von 6 Flugschriften je 6–8 Seiten illustriert an christliche Arbeiter,
Bauern, Katholiken, Mittelstand, Nazianhänger. Für alle Schichten konkretes Mate-
rial, schlagend geschrieben durch Photographien und Zeichnungen lebendig aus-
gestaltet, auf die Interessen der betreffenden Schicht zugespitzt. Für Katholiken die
108 Der Osservatore Romano, amtliche Tageszeitung des Vatikan, in der sowohl die Kirchenpolitik
Hitlers als auch später die Judenverfolgungen kritisiert wurden. Die Fixierung der Komintern auf die
Katholiken erfolgte als Einstieg in die Volksfrontpolitik, für das Saargebiet war dies insofern relevant,
als die „freien“ und „christlichen“ Gewerkschaften im dortigen Kohle- und Erzrevier eine „Deutsche
Gewerkschaftsfront Saar“ gründeten, die sich der „Deutschen Front“ anschloss und somit die Rück-
gliederung ins Reich vorwegnahm.
109 Gemeint ist die Ermordung Dr. Erich Klauseners (1885–1934) im Zuge von Hitlers Schlag gegen
die SA 1934. Klausener war ein katholischer Ministerialdirigent in Berlin, der sich als Leiter der Ka-
tholischen Aktion auch noch nach der „Machtergreifung“ dezidiert gegen die NS-Kirchenpolitik aus-
sprach. Siehe u.a.: Klaus Große Kracht: Erich Klausener (1885–1934), Preußentum und Katholische
Aktion zwischen Weimarer Republik und Dritten Reich. In: Richard Faber, Uwe Puschner (Hrsg.):
Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg, Königshausen &
Neumann, 2011, S. 271–296.
110 Zur Saarkampagne der KPD vgl.: Luitwin Bies: Klassenkampf an der Saar 1919 - 1935. Die KPD im
Saargebiet im Ringen um die soziale und nationale Befreiung des Volkes. Frankfurt am Main, Verlag
Marxistische Blätter, 1978.
1096 1933–1939
Saarbürger, die für Status quo sind, auf Kosten und unter Ausnützung der Möglich-
keiten der amerikanischen Deutschfrontler111 erfolgen sollen.
Am 25.12.1934 erfolgte ein erneuter Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion über
die sowjetisch-deutschen Handelsbeziehungen. Im Rahmen eines Fünfjahreskredits sollten Waren
im Wert von 200 Millionen Mark in Deutschland eingekauft werden, vor allem aus den Bereichen Che-
mie und Flugzeugbau. Entsprechende Geheimverhandlungen sollten seitens des Emissärs Stalins in
Deutschland, David Kandelaki, geführt werden.112
Am 25.12.1934 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion weiterhin, Personal und Um-
fang des sowjetischen Handelsapparats im Ausland maximal zu reduzieren. Hierzu sollte eine von
Nikolaj Ežov geleitete Kommission eingerichtet werden.113
Am gleichen Tag wurde beschlossen, den Aufruf der Roten Hilfe Spaniens zur Unterstützung der nach
der blutigen, militärischen Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Asturien Verfolgten in den sow-
jetischen Zeitungen zu veröffentlichen. Als konkrete Antwort sollten Geldsammlungen für die „Opfer
der spanischen Bourgeoisie“ Geldsammlungen durchgeführt werden.114
Nach dem aus Eifersuchtsgründen von Leonid Nikolaev begangenen Mord an Sergej Kirov, der Nr. 2 der
VKP(b), in Leningrad am 1.12.1934 verabschiedete das Politbüro am 3.12. (Protokoll vom 25.12.1934)
diverse Maßnahmen zur Einführung von Schnellverfahren gegen sogenannte „Terroristen“. Drei Maß-
nahmen zur „Führung von Prozessen über die Vorbereitung oder die Ausführung terroristischer Akte“
wurden beschlossen: Erstens sollten die Ermittlungen vor dem Prozess jeweils beschleunigt werden,
zweitens sollten keine Gnadensgesuche angenommen und drittens sollten die Todesurteile katego-
risch unmittelbar nach dem Prozess ausgeführt werden. Am 28.12.1934 wurden Leonid Nikolaev und
13 „Komplizen“ in einem Geheimprozess als Mörder Kirovs abgeurteilt und erschossen.115
Am 28.12.1934 befasste sich das russische Politbüro mit einer umfangreichen, 123 Posten umfas-
senden Liste von technischem Equipment, das in Deutschland bestellt werden sollte. Dafür sollte der
200-Millionen-Kredit aufgenommen werden.116
111 „Deutschfrontler“, Mitglieder der „Deutschen Front“ (DF) die das nationalistische Lager zur
Vorbereitung der Saarabstimmung gegründet hatte. Mitgliedsorganisationen waren die Deutschna-
tionale Volkspartei (DNVP), die katholische Zentrumspartei, die Deutsch-Saarländische Volkspartei
(DSVP), die Wirtschaftspartei (WP) sowie die NSDAP.
112 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 88–89.
113 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 84. Detaillierte Materialien siehe 17/162/18, 87–95. Demnach gab es in
Deutschland vor der Kürzung 585 Beschäftigte in sowjetischen Handelsgesellschaften, was das größte
Kontingent aller Staaten darstellte. Nach der Reduzierung blieben in Deutschland nach wie vor 251
Beschäftigte übrig.
114 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 86.
115 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 87.
116 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 108–115. Siehe hierzu den Politbürobeschluß vom 25.12.1934.
1935
Am 3.1.1935 erfolgte ein Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion, dem zufolge nach
der Erneuerung des Mark-Abkommens mit Deutschland Verhandlungen zur Abänderung der Zah-
lungsmodalitäten des 85-Millionen-Mark-Kredits (siehe Politbürobeschluss vom 28.12.1934) erfolgen
sollten. Dabei sollte ein erster Betrag bereits vorher zurückgezahlt werden, ein weiterer erst im letzten
Quartal 1935 bzw. Anfang 1936.1
Dok. 359
Beschluss der Komintern über die „sektiererischen Fehler“ der
KPD, für die antifaschistische Volksfront und die Arbeit in den
faschistischen Massenorganisationen
[Moskau], 19.1.1935
Typoskript in deutscher Sprache, RGASPI, Moskau, 495/3/432, 54–56. Auch: SAPMO-BArch, RY1/I
6/10/37, 47–50 und RY1/I 6/3/110, 1–5. Publ. in: Erwin Lewin: Neue Dokumente zur Kursänderung
1934/1935 in der KPD. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 1993, S. 171–186.
6530/St
Dokument Nr. 172
Streng-vertraulich
1 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 102; APRF, Moskau, 3/64/662, 123. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin,
III, Dok. 54.
2 Maschinenschriftlicher Eintrag.
3 Sektiererische Fehler: Die heftige Debatte über die KPD-Führung begann mit scharfen Anklagen sei-
tens der Kominternverantwortlichen am 3.1.1935. Das Politbüro sei gespalten, der KPD drohe Unfähigkeit
gegenüber dem Faschismus, die Partei wehre sich nicht entschieden gegen Sektierertum und Dogma-
tismus, meinte Knorin, und Togliatti warf der Partei „Emigrationsgeist“ vor. Siehe hierzu: Lewin: Neue
Dokumente zur Kursänderung; Heinz Kühnrich: Unbekannte Dokumente zur Komintern-Debatte über
Gruppenkampf und Sektierertum in der KPD Anfang 1935. In: Neues Deutschland, 7./8.8.1993.
4 Die Resolution wurde am 25. Januar 1935 vom Präsidium des EKKI bestätigt, am 26.1.1935 im Präsidi-
um unter Anwesenheit der deutschen Delegation besprochen und am 30.1.1935 auf einer sogenannten
erweiterten ZK-Sitzung von der KPD-Führung angenommen. Die folgende Notiz Piecks vom 19.1.1935
ist ein Beleg dafür, dass die zweimalige Verschiebung des VII. Weltkongresses nicht zuletzt auf die
Einstimmung der KPD-Führung auf den neuen Kurs und die Beseitigung der Gruppenkämpfe in der
Parteiführung zurückzuführen war: „Das Politsekretariat des EKKI bestätigt die Resolution des Län-
dersekretariats (Knorin) zu der Erledigung der Differenzen. Der Termin des VII. Weltkongresses wird
von Mai auf Juli verschoben. Der Bericht des EKKI soll von Pieck erstattet werden.“ (Wilhelm Pieck:
Chronik, SAPMO BArch NY 4036/10, 167).
1098 1933–1939
5 Am 30. Juni 1934 erfolgte die Niederschlagung des „Röhm-Putschs“, was hier seltsamerweise als
Verbesserung der Situation für die KPD dargestellt wird.
6 Es handelte sich um Ulbricht, Florin, Pieck und wahrscheinlich Franz Dahlem.
7 Das Ziel einer Wiederherstellung der freien Gewerkschaften wurde so erstmals seit 1933 wieder for-
muliert.
Dok. 359: [Moskau], 19.1.1935 1099
die Wiederherstellung der Freien Gewerkschaften verpasst war und die Sozialdemo-
kratie ein zentralisiertes Organisationsnetz wieder aufbauen konnte, während ein
innerer Gruppenkampf in der Leitung der KPD auf die Arbeit der KPD abschwächend
wirkte.
Nach gemeinsamer Erörterung mit dem Polbüro, Vertretern der L[andes]L[eitung],
der Berliner Organisation der KPD und Vertretern des KJVD der in der KPD-Leitung
entstandenen Lage beschliesst das Politsekretariat des EKKI:
1) Das ZK der KPD wird verpflichtet, in den Reihen der ganzen Stufenleiter der
Gesamtpartei einen entschlossenen Kampf gegen das Sektierertum und das linke „Dok-
trinärtum“ zu beginnen, dabei die konkreten Erscheinungsformen des Sektierertums
aufzudecken und die ganze Partei für die tatsächliche Durchführung der taktischen
Linie der KI im Kampf um die breiten Massen, mittels Anwendung der Einheitsfront-
taktik, zu mobilisieren und zugleich den Kampf gegen die rechten Opportunisten
(„Versöhnler“) zu führen, die die sektiererischen Fehler führender Parteigenossen zu
ihren parteifeindlichen Zwecken ausnützen wollen.
2) Das ZK der KPD wird verpflichtet, in breitem Masstab die Taktik der Einheits-
front mit allen sozialdemokratischen Gruppen und Organisationen zur Organisierung
des Kampfes gegen das faschistische Regime auf dem Boden konkreter Tagesforde-
rungen der Arbeitermassen zu entfalten, wobei auch Vorschläge an das Prager ZK
unter passenden Bedingungen und in passender Form nicht ausgeschlossen sind;
jede Erklärung linker Sozialdemokratischer Führer über ihre Bereitschaft zur Einheits-
front mit den Kommunisten ist auszunutzen, um sie entweder zu einer wirklichen
Einheitsfront zu zwingen oder sie vor den Massen als Gegner der Kampfeinheit der
Arbeiterklasse gegen den Faschismus zu entlarven, um diese Erklärungen der linken
Führer auszunützen zur Herstellung der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen
Gruppen im Lande, auf welche diese Führer Einfluss haben.
3) Das ZK der KPD wird verpflichtet, in breitem Masstab den Kampf um die Wie-
derherstellung der Freien Gewerkschaften zu entfalten. Die KPD muss sich dabei auf
den Organisationswillen der ehemaligen Mitglieder dieser Gewerkschaften, darun-
ter auch der Funktionäre, die heute den Klassenkampf wollen, stützen. Die Partei
muss energisch einer solchen Stimmung entgegentreten, als ob der Wiederaufbau
der Freien Gewerkschaften allein mit den Kräften der RGO gelöst werden könnte. Die
bürokratischen Bezirksleitungen der RGO, die ein Hindernis für den Kampf um die
Wiederherstellung der Freien Gewerkschaften sind, müssen aufgelöst und die RGO-
und Roten Gewerkschaftsgruppen in die wiederhergestellten Freien Gewerkschafts-
organisationen überführt werden.8 Mit den Gewerkschaftsfragen (Wiederherstellung
der Freien Gewerkschaften, Wirtschaftskampf usw.) und mit der Leitung der Kommu-
8 Erst hiermit erfolgte qua Anweisung der Komintern die Auflösung der Revolutionären Gewerk-
schafts-Opposition (RGO). Dass sich zwischenzeitlich Teile der RGO-Strukturen zu aktiven Wider-
standszentren entwickelt hatten, wurde hierbei nicht mehr berücksichtigt.
1100 1933–1939
nisten und der kommunistischen Fraktionen in den Gewerkschaften sollen sich die
Bezirksleitungen de Partei beschäftigen.
4) Das ZK der KPD wird verpflichtet, die Werbung von KPD-Mitgliedern aus den
Reihen der ehemaligen Sozialdemokraten zu verstärken, darf jedoch diese Werbung
nicht anstelle der Masseneinheitsfront setzen. Gegen die Sozialdemokratie, darunter
auch gegen die Einstellungen ihres linken Flügels ist eine ständige, breite, theoretisch
und taktisch gut fundierte Aufklärungskampagne zu führen.
5) Das ZK der KPD wird angewiesen, die Frage der Wege und Möglichkeiten der
Organisierung einer breiten antifaschistischen Volksfront zu erörtern, die nicht nur
kommunistische und sozialdemokratische, sondern auch katholische Arbeiter sowie
Bauern, unzufriedene Elemente der städtischen Mittelschichten und Intellektu-
ellen, kurz alle diejenigen erfasst, die bereit sind, gegen die faschistische Diktatur
zu kämpfen. Die Losung dieser Volksfront muss lauten: Ein Feind – die faschistische
Bourgeoisie, ein Ziel – Sturz der faschistischen Diktatur durch den revolutionären
Kampf der Massen.
Die KPD, die als Führer und Organisator der ganzen Arbeiterklasse auftritt, muss
die Arbeitermassen von einfachen, elementaren, ihrer Form und ihren Losungen nach
den gegebenen Verhältnissen der Klassenkräfte entsprechenden Aktionen zu immer
höheren Formen des Klassenkampfes, zum entschlossen Kampf gegen die faschisti-
sche Diktatur emporheben. Indem die KPD als Organisator und Führer des Kampfes
der proletarischen Massen um die Diktatur des Proletariats, um Rätedeutschland auf-
tritt, muss sie alle Antifaschisten mobilisieren, auch als Führerin des Befreiungskamp-
fes des ganzen Volkes vom Hitlerjoch auftreten.
Die KPD muss die Bauern und die städtischen Mittelschichten davon überzeugen,
dass die von ihr vorbereitete proletarische Revolution dem ganzen Volke Befreiung
bringt, dass sie die einzige, die wahre, die Volksrevolution ist.9
Daher – Antifaschistische Volksfront zur Volksrevolution, deren erstes und nächs-
tes Ziel der Sturz der faschistischen Diktatur ist.
xxx
Das Politsekretariat verpflichtet das Polbüro der KPD, auf dem Boden dieser Direkti-
ven seine Resolution auszuarbeiten und sie dem EKKI-Präsidium vorzulegen.10
Die Vorbereitung der Parteikonferenz11 in den Organisationen der Partei muss
breitest zur Ueberwindung der sektierenden Fehler ausgenutzt werden.
9 Die Parole der „Volksrevolution“ stammte aus dem Arsenal der linksnationalistischen „schwarzen
Revolution“ Strassers. Sie wurde 1931 von der Thälmann-Führung im Rahmen der Anpassung an den
rechten Diskurs entlehnt und nun unter der antifaschistischen Zielsetzung wieder aktualisiert.
10 Zur wenig später vom Politbüro der KPD ausgearbeiteten Resolution siehe: Proletarische Einheits-
front und antifaschistische Volksfront zum Sturze der faschistischen Diktatur. Resolution des ZK der
KPD vom 30. Januar 1935. In: Rundschau (1935), Nr. 10, S. 531–535.
11 Die 4. Parteikonferenz der KPD fand erst vom 3.–15. Oktober 1935 in Kunzewo bei Moskau statt
(siehe zur sog. „Brüsseler Konferenz“ Dok. 370).
Dok. 359a: [Moskau], 18.2.1935 1101
Am 26.1.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, 663 Anhänger Sinowjews aus
Leningrad nach Sibirien zu verbannen.12
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion fällte am 11.2.1935 einen Beschluss zu den Londoner
Verhandlungen zwischen England und Frankreich. Es sollte Druck auf Frankreich ausgeübt werden,
damit es mit Deutschland Verhandlungen für den Abschluss des Ostpakts aufnimmt, ohne dabei die
Vermittlung Englands zu suchen. Sollte von deutscher Seite der Beitritt zum Ostpakt definitiv abge-
lehnt werden, sei Frankreich anzubieten, einen solchen Pakt auch ohne Beteiligung Deutschlands
und Polens abzuschließen.13
Dok. 359a
Brief Wilhelm Piecks zu den Beschuldigungen gegen den Leiter
des militärpolitischen Apparats der KPD, Hans Kippenberger
[Moskau], 18.2.1935
Typoskript in deutscher Sprache. Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher-
heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Berlin, MfS HA IX/11 SV
1/81, Bd. 83, [00002–000004]. Erstveröffentlichung.
W[erte] G[enossen]
Der Kommission liegen Briefe der Genossen Ulbricht, Bertz und Rädel vor, in denen
eine Reihe Angaben über die Tätigkeit des Genossen Kippenberger gemacht werden,
die das Polbüro des ZK der KPD veranlassten, eine Untersuchungskommission einzu-
setzen.14
Ich möchte von mir aus der Kommission einige Fingerzeige zur Untersuchung
geben, auf die die Kommission Gewicht legen sollte.
15 Fast gleichzeitig mit der Hetzjagd auf Kippenberger innerhalb der KPD hatte das Politsekretariat
des EKKI im Januar 1935 über die sektiererischen Fehler der KPD entschieden und den neuen Kurs
vorgegeben (siehe Dok. 359). Die Liquidierung des Apparates erwies sich somit als Bestandteil einer
Gesamtstrategie.
16 Kippenberger soll Bertz gegenüber auch von den tatsächlich grassierenden „Gruppenkämpfen“ in
der Komintern gesprochen haben (s.u.).
17 OMS-Leute: Die Mitarbeiter der Internationalen Verbindungsabteilung der Komintern.
Dok. 359a: [Moskau], 18.2.1935 1103
Ich will es dahin gestellt sein lassen, inwieweit sich ein solcher Versuch, mir
meine Sekretärin (die während ihrer 15-jährigen Parteiarbeit als politisch absolut
zuverlässig, parteitreu und in konspirativer Arbeit erfahren erprobt ist und die in
jeder Hinsicht mein volles Vertrauen besitzt) unter solchen Vorwänden zu nehmen,
auf eine aktive Unterstützung des Gruppenkampfes hinausläuft.
Ueber die Verbreitung von Gerüchten durch K[ippenberger], die nur der Erschwe-
rung der Parteiarbeit dienen könnten, gibt die Auskunft des Genossen Bertz in
seinem Briefe, die von Rädel bestätigt wird, ebenfalls einige Anhaltspunkte. Ich habe
nach meiner Rückkehr im Oktober in Paris nicht feststellen können, von wem die
Gerüchte über die angeblichen Differenzen in der Führung der Komintern18 in Paris
verbreitet wurden. Aber es wurde darüber gesprochen. Der Brief von Bertz zeigt, dass
K[ippenberger] zumindest mit ihm in Gegenwart von Rädel darüber gesprochen hat.
Ich habe K[ippenberger] in der Sitzung des PB, als er über das Gespräch mit
Gerber berichtete,19 die Frage vorgelegt, ob er sich nicht erinnere, dass er zu jemand
erklärt hätte, dass „wenn man ihn hängen wolle, er Material noch gegen andere Leute
habe“ und habe dabei darauf hingewiesen, dass K[ippenberger] verpflichtet sei, alles
Material, was er über „andere Leute“ in Händen hat, dem PB zur Kenntnis zu bringen.
K[ippenberger] sammele nicht Material für sich zu seinen privaten Zwecken, sondern
stehe im Dienste der Partei. K[ippenberger] hat in der Sitzung kategorisch bestritten,
jemals eine solche Aeusserung zu einem Genossen gemacht zu haben. Der Brief von
Bertz bestätigt, dass K[ippenberger] sich tatsächlich ihm und Rädel gegenüber so
geäussert hat. Es ist also K[ippenberger] zu befragen, um was für Material es sich in
diesem Falle handelt.
Ich will hier nicht näher eingehen auf
1.) die Verbreitung falscher Nachrichten durch den Apparat von K[ippenberger],
wie das bei der Bezeichnung des Genossen Elgers als Spitzel20 oder der Gefangen-
nahme und Tötung des Gen. Scheringer21 (im letzteren Falle sollte sogar der Nachrich-
tenmann nur mit grösster Not der eigenen Gefangennahme entgangen sein);
2.) der völlig ungenügenden Umstellung des Apparates auf die illegalen Bedin-
gungen der Partei;
3.) des völligen Versagens der Nachforschungen über die Verbindungen der Ver-
söhnler (über Max Frenzel22 lag ein bestimmter Auftrag des PB an K[ippenberger]
vor, dessen Nichtdurchführung mit der Verhaftung des Nachrichtenmannes und des
Hochgehens seines Materials begründet wurde);
4.) des noch grösseren Versagens gegenüber dem aktiven Gruppenkampf im
Apparat des PB (hier steht sogar, wie eingangs festgestellt, eine aktive Beteiligung
daran in Frage);
5.) des völligen Versagens in der Aufdeckung von Spitzeln und Verrätern in den
einzelnen Bezirken;
6.) des Fehlens jeglicher Verbindungen im Gestapo-Apparat;
7.) des Fehlens jeglicher Verbindung mit dem Polizeiapparat in den Emigrantengebie-
ten und in Paris. (Hier müsste vor allem festgestellt werden, welche Verbindungen die
Pariser Polizei mit unserem Apparat bereits gehabt hat, wie das in den Massnahmen
gegen die Steno Karola23 und besonders gegen den Genossen Florin zum Ausdruck
gekommen ist.);
8.) des völlig unkonspirativen Auftretens von K[ippenberger], seiner Steno im
Zusammenhang mit Mitarbeitern des PB in den Pariser Cafes und bei Ausflügen in
die Umgebung.
Das sind alles Versäumnisse und Fehler des Nachrichtenapparates, der einer
dringenden Reform bedarf, deren Beratung aber nicht in das [sic] Bereich der Kom-
mission gehört. Ich wollte aber der Kommission diese Fingerzeige geben, um auch die
weiteren politischen Beziehungen aufzuzeigen, die zwischen den direkten Beschuldi-
gungen gegen K[ippenberger]. und der Tätigkeit seines Apparates bestehen. Mir liegt
daran, dass jetzt diese ganze Angelegenheit gründlich bereinigt wird, nachdem in
den politischen Aussprachen in der Politkommission die Differenzen in der Führung
der Partei liquidiert wurden. Es muss auch der Gruppenkampf im Apparat der Partei
damit erledigt sein.
Wilhelm Pieck.
22 Der „Versöhnler“ Max Frenzel (1891–1975) – nicht zu verwechseln mit dem linksoppositionellen
Ludwigshafener Stadtrat Max Frenzel – hielt nach kurzzeitiger Inhaftierung 1933 als Leiter der ille-
galen KPD in Moabit weiter den Kontakt zu Gesinnungsgenossen wie Edu Wald und Karl Volk; er
arbeitete für die Deutsche Volkszeitung in Prag und unterwarf sich nach einem Treffen mit Ulbricht
1936 auch offiziell der Parteilinie. Er starb hochgeehrt 1985 in Ost-Berlin (Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 265f).
23 Der als „Führer des Ruhrproletariats“ hochstilisierte Wilhelm Florin (1894–1944) war ein Gegen-
spieler Ulbrichts (siehe Dok. 452); er gehörte bis 1935 zum linken Flügel in der Parteiführung und
agierte später als Sekretär der Internationalen Kontrollkommission der Komintern.
Dok. 359b: [Paris?], 7.3.1935 1105
Am 5.3.1935 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit der Vorbereitung des VII.
Weltkongresses der Komintern. Das Datum der Eröffnung wurde definitiv auf den 15. Juli festgelegt,
nachdem das EKKI um eine Verschiebung gebeten hatte. Zugleich wurde der Profintern erlaubt, sich
mit einem Aufruf für Gewerkschaftseinheit an die sozialdemokratische „Amsterdamer“ Internationale
zu wenden.24
Das Politbüro beschloß darüber hinaus, das Deutsche Reich wegen seiner Ablehnung des erstrebten
Handelsvolumens mit der Sowjetunion für 1935 mit verschiedenen Sanktionen zu konfrontieren, bei-
spielsweise Verzögerungen bei Transitlieferungen.25
Dok. 359b
Brief Ulbrichts an den „lieben Freund“ zur Kritik am
militärpolitischen Apparat der KPD
[Paris?], 7.3.1935
Typoskript in deutscher Sprache mit handschriftlichen Ergänzungen. Archiv des BStU, Berlin, MfS HA
IX/11 SV 1/81, Bd. 225, 000043–000049; IML/ZPA-Signatur: I 2/3/283. Erstveröffentlichung.
7. März 193526
Lieber Freund,
Ich sende Dir eine Abschrift unserer Berichte, und lenke Deine Aufmerksamkeit vor
allem auf die Gewerkschaftsfrage. Der Entwurf zu einer Plattform für die Gewerk-
schaftsarbeit in Deutschland, der von Anhängern der Amsterdamer Gewerkschafts-
Internationale27 ausgearbeitet wurde, zeigt die Grundlinie, in der sie die Arbeit führen
wollen. [...]
In der Anlage sind Berichte, die die Aeusserungen einzelner Genossen nach
Durchführung unserer politischen Information, enthalten. Es steht einwandfrei fest,
dass die Gerüchte von Paris aus und durch den Alexapparat28 systematisch ins Land
getragen wurden. Dabei ist charakteristisch, dass fast nur Gerüchte gegen Pieck,
Walter [d.i. Walter Ulbricht] und bestimmte Mitglieder des EKKI verbreitet wurden.
24 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 134. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 719–720.
25 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 136–137.
26 Handschriftlich: „Michel persönlich“. Rosa Michel (geb. 1901), ursprüngl. Name: Marie Wacziarg,
war bis 1935 die französische Lebensgefährtin Ulbrichts.
27 Amsterdamer Internationale: Der sozialdemokratisch dominierte Internationale Gewerkschafts-
bund (1919–1945), mit Sitz in Amsterdam.
28 Alex-Apparat: Der von Hans Kippenberger (Ps. Alex) bis 1935 geführte militärpolitische Apparat
der KPD.
1106 1933–1939
Wir hatten zu Hause29 eine Aussprache mit Wassi [d.i. Boris Vasilʼev],30 wo ich drauf
aufmerksam machte, dass die verschiedene Struktur des Partei- und des Alex-Appa-
rates dazu führen muss, dass dieser Apparat unabhängig vom Parteiapparat arbeitet.
Wir haben inzwischen selbst festgestellt, dass das den Tatsachen entspricht, dass die
Obergebietseinteilung der beiden Apparate eine ganz verschiedene ist und deshalb
schon rein strukturmässig eine wirkliche Zusammenarbeit und eine Verantwortung
der Parteiorgane für den Apparat nicht möglich ist. Darüber hinaus hat sich jetzt
gezeigt, dass einzelne Funktionäre des Alex-Apparates nicht unter Leitung der ver-
antwortlichen Parteiorgane arbeiten, (soweit das mit den speziellen Aufgaben des
Apparates vereinbar ist) sondern umgekehrt: Politik auf eigene Faust machen. Ich
habe Wassi darauf aufmerksam gemacht, während Alex das bestritt. Da offensicht-
lich Wassi mir nicht glaubte, was zweifellos sein gutes Recht ist, war eine Klärung der
Fragen damals nicht möglich. Es wäre aber mindestens notwendig gewesen, wenn in
einer solchen ernsten Frage verschiedene Meinungen bestehen, dass die Freunde31
das selbst prüfen und sich ein eigenes Urteil bilden.
Inzwischen ist ja vielmehr festgestellt worden, nämlich, dass die Mitarbeiter des
Alex-Apparates die Träger der Verbreitung zersetzender Gerüchte sind, was offen-
sichtlich bei einigen Funktionären mit ihrer sektiererischen Einstellung zusammen-
hängt. In dieser Frage der Beurteilung der bisherigen Tätigkeit einiger Mitarbeiter
des Alex-Apparates, die ein sehr umfassendes Tätigkeitsgebiet haben, herrscht bei
uns absolute Uebereinstimmung. Ich bin nur zum Unterschied von Jean [d.i. Franz
Dahlem] der Meinung, dass es notwendig ist, einige Mitarbeiter des Apparates wie
Hugo [d.i. Franz Feuchtwanger], Viktor [d.i. Leo Roth], und Lore (Frau von Alex) [d.i.
Änne Kerff] auszuwechseln und durch Freunde von zu Hause zu ersetzen, da ich
nicht glaube, dass diese Freunde sich in kurzer Zeit umstellen können. Später, wenn
sie zu Hause sich neu orientiert haben, ist gegen die Verwendung dieser Genossen
nichts einzuwenden. Ich teile Dir diese Meinung nur persönlich mit und habe dem
P.B. davon keine Kenntnis gegeben.32 Wir haben alle Arbeit hier wirklich hier kollektiv
durchgeführt. In der politischen Stellungnahme und den Vorschlägen zu den einzel-
nen taktischen Fragen gab es und gibt es zwischen mir und Jean keinerlei irgendwel-
cher Meinungsverschiedenheiten, ja nicht einmal Nuancen. Unter diesen Bedingun-
gen, wollte ich nicht, dass die einzige Frage, wo wir verschiedene Meinungen haben,
nämlich inbezug auf die personellen Konsequenzen aus der zersetzenden Tätigkeit
des Alex-Apparates, vor dem P.B. gestellt wird.
Mit Händedruck
Walter [Ulbricht].
Am 8.3.1935 erließ das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Direktive an den ständigen
Vertreter in London, Ivan Majskij. Dem britischen Foreign Office sollte mitgeteilt werden, dass die
Sowjetregierung sich sehr darüber freuen würde, den Lordsiegelbewahrer (und späteren Außenmi-
nister) Anthony Eden sofort, oder spätestens nach den britisch-deutschen Verhandlungen in Moskau
begrüßen zu können.33
Dok. 360
Resolution der Komintern für die Neubelebung der internationalen
Kampagne zur Befreiung Thälmanns aus NS-Haft
Moskau, 21.3.1935
„5“/3734/7
9.4.35.
Abschrift/Ab.
Vertraulich
Resolution zur Neubelebung der Thälmannkampagne.34
33 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 142. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 321–322.
34 Der hier abgedruckte Beschluss war das Ergebnis intensiver Beratungen über propagandistische
und praktisch juristische Schritte zur Neubelebung der internationalen Solidaritätskampagne für
Ernst Thälmann, der offiziell noch immer in Untersuchungshaft saß, dessen Prozess jedoch in immer
weitere Ferne rückte. Zum Kontext des Dokuments ist zu berücksichtigen, dass ungefähr zeitgleich
durch die Kominternführung (vermutlich Stalin persönlich) der folgenschwere Beschluss erwirkt
wurde, die seit 1934 vorbereitete Flucht Thälmanns aus dem Gefängnis in Alt-Moabit abzusagen. Die
offizielle Begründung, nach der zu viele Personen bereits in den Plan eingeweiht gewesen sein, die
im hier abgedruckten Bericht von Grete Wilde für die Kaderabteilung des EKKI geliefert wurde (siehe
Dok. 375), dürfte diesbezüglich nicht stichhaltig gewesen sein.
35 Der nach dem Hamburger Aufstand in die Sowjetunion geflüchtete Werftarbeiter Friedrich (Fiete)
Schulze, geb. 1894, kehrte 1932 nach Hamburg zurück und wurde am 6.6.1935 mit dem Fallbeil in
Hamburg enthauptet.
1108 1933–1939
Das Thälmannkomitee soll sich in Zukunft wie folgt zusammensetzen: Vertreter der
IRH Genossin Reul42
IAH Gen. Münzenberg
RGI Gen. Deter (ES)43
36 Helene Glatzer, geb.1902, wurde aus Moskau zur illegalen Arbeit nach Deutschland abkomman-
diert und am 31.1.1935 im Polizeigefängnis Halle ermordet.
37 Der Ingenieur und Radiotechniker Rudolf Formis (1894–1935, von SA-Agenten erschossen) war
Mitarbeiter von Otto Strasser in Prag, wo er einen illegalen Sender betrieb. Er wurde von einem Kom-
mando des deutschen Geheimdienstes ermordet (Herbert Crüger, Anke Ehlert u.a.: Verschwiegene
Zeiten. Vom geheimen Apparat der KPD ins Gefängnis der Staatssicherheit, Berlin, Linksdruck-Verlag,
1990, S. 92, 230).
38 Fall Jacobs: Vermutlich der Leiter des technischen Sekretariats beim Politbüro der KPD, Franz
Jacobs (1906–1944, Zuchthaus Brandenburg) wurde im August 1933 verhaftet und 1934 zur einer län-
geren Haftstrafe verurteilt. Nach seiner Entlassung 1940 schloss er sich in Hamburg der Widerstands-
gruppe um Bernhard Bästlein an.
39 Am 4.4.1935 wurde die 33jährige sozialistische Publizistin Dora Fabian, die Mitglied der SAP war,
zusammen mit der 60jährigen Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Mathilde Wurm vergiftet in
ihrer Londoner Wohnung aufgefunden. Die Selbstmordthese wird auch in der Literatur in Zweifel ge-
zogen (siehe: James J. Barnes, Patience P. Barnes: Nazi Refugee Turned Gestapo Spy. The Life of Hans
Wesemann, 1895–1971, Westport (Conn.), Praeger, 2001, S. 93ff.).
40 Der Übergang vom alten zum neuen Komitee wurde bisher in der Literatur nicht ausreichend be-
rücksichtigt. Das erste internationale Thälmann-Komitee war anfangs in Paris in der Rue du Mondé-
tour untergebracht. Das neue Thälmannkomitee nannte sich „Internationales Befreiungskomitee für
Dimitroff, Thälmann und alle eingekerkerten Antifaschisten“. Sitz war Rue Notre-Dame-de-Lorette,
Nr. 10 in Paris. Als Ehrenpräsidenten fungierten André Gide und André Malraux (siehe: Langkau-
Alex: Deutsche Volksfront, I, S. 90). Zu den Gründen für das Scheitern der Kampagne siehe: Gilbert
Badia: Le Comité Thaelmann. In: Gilbert Badia, Jean Baptiste Joly, Jean Philippe Mathieu u.a.: Les
bannis de Hitler: accueil et luttes des exilés allemands en France (1933–1939), Paris, Etudes et docu-
mentation internationales, 1985, S. 199–259).
41 Walter Gollmick (1900–1945) war Mitarbeiter der Agitpropabteilung der KPD und enger Mitarbei-
ter von John Schehr bis zu dessen Verhaftung. Von Pieck wurde er nach seinem Tod 1945 als Gestapo-
agent bezeichnet (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 308–309).
42 Der Name ist nicht eruierbar.
43 Adolf Deter (1900–1969) war RGO-Leiter, Organisator des BVG-Streiks 1932, Ende 1934 Sekretär der
Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter in Paris und zentraler Kontaktmann der Komintern
in Paris. In Jan Valtins „Tagebuch der Hölle“ wird behauptet, Deter habe missliebige Genossen der
Gestapo in die Hände gespielt.
Dok. 360: Moskau, 21.3.1935 1109
44 Vermutlich Alfred Kurella (Ps. Bernard), zu dieser Zeit rechte Hand von Henri Barbusse im Weltko-
mitee gegen Krieg und Faschismus (siehe hierzu Dok. 322).
45 Philipp Daub (1896–1976) war 1935 Abschnittsleiter West der KPD in Amsterdam.
46 Das im August 1932 in Amsterdam gegründete Weltkomitee gegen den imperialistischen Krieg bil-
dete zusammen mit dem im Juni 1933 im Pariser Pleyel-Saal gebildeten Zentralkomitee der Antifaschi-
stischen Arbeitervereinigungen Europas am 20.8.1933 das Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus
(auch „Amsterdam-Pleyel-Komitee“). Unter dem Vorsitz von Henri Barbusse blieb Paris der Sitz. Das
Komitee gab zahlreiche Presseorgane heraus (Weltfront gegen imperialistischen Krieg und Faschismus,
Clarté, Einheit). Nach dem Tode von Barbusse wurde 1935 ein neues Präsidium u.a. mit Heinrich Mann
gebildet.
47 Kowno ist der polnische und russische Name der litauischen Hauptstadt Kaunas. Dort wurden
nationalistische, gegen die litauische Annektierung des ostpreußischen Memellandes wirkende
deutschfreundliche Kräfte vor Gericht gestellt und zu Gefängnisstrafen verurteilt.
48 Die internationale Kampagne der Komintern und der Internationalen Roten Hilfe 1935–1937 „Frei-
heit für Thälmann, Maddalena, Ossietzky, Mierendorff und alle Antifaschisten“ fügte sich mit dem
Einschluss des Sozialdemokraten Carlo Mierendorff und des „linksbürgerlichen Intellektuellen“ Carl
von Ossietzky in die neue Volksfrontorientierung ein. Der sozialdemokratische Sozialwissenschaftler
Carlo Mierendorff (1897–1943), kam 1938 frei und schloss sich dem Kreisauer Kreis an. 1943 kam er
beim Luftangriff auf Leipzig um. Der pazifistische Weltbühne-Herausgeber Carl von Ossietzky (1889–
1110 1933–1939
1938) erhielt rückwirkend 1936 den Friedensnobelpreis und starb 1938 an Tuberkulose als Folge seiner
Inhaftierung und Misshandlung im KZ Sonnenburg bei Küstrin.
49 Neben dem ehemaligem Generalmajor Paul Freiherr von Schoenaich (1866–1954) und dem Kapi-
tän zur See der kaiserlichen Kriegsmarine Lothar Persius (1864–1944), ehemals Mitglied der Richtho-
fenstaffel, gab es eine Reihe weiterer deutscher Offiziere preußischer Tradition, die zum Pazifismus
übergingen. Sie fanden sich zum Teil in den „Freunden der Sowjetunion“ wieder.
50 UNGC (Abk.): Die in der Folge des 1. Weltkrieges als konfessionsfreie solidarische Vereinigung
gegründete Union Nationale des Combattants de Guerre. Ihr Leitspruch war „Vereint wie an der Front“
(„unis comme au front“).
51 Jean Goy (1892–1944) war ein konservativer französischer Abgeordneter des Départements Seine
und Vizepräsident der UNGC. Auch in einem direkten Gespräch mit Hitler am 2.11.1934 trat er für ein
deutsch-französisches rapprochement der ehemaligen Kriegsteilnehmerorganisationen ein (siehe:
Roland Ray: Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreich-
politik 1930–1942, München, Oldenbourg, 2000, S. 128f. (Studien zur Zeitgeschichte. Bd. 59).
52 Am 2.12.1932 fand im Pariser Ballsaal Bullier eine gemeinsame öffentliche Versammlung von KPF
und KPD statt, auf der Thorez und Thälmann auftraten. Von ihm gingen weitgehend folgenlose Appel-
le zur Gemeinsamkeit an die Sozialistische Partei aus.
Dok. 360: Moskau, 21.3.1935 1111
müsste. Diese Delegation muss spätestens im Juni abfahren. Die Finanzierung hat
durch eine Sammelaktion in den USA zu erfolgen.53
f) Das Komitee soll einen Ausschuss bekannter Parlamentsabgeordneter (Labour
Party, französische Radikalsozialisten, sozialistische und kommunistische Abgeord-
nete aus England, Frankreich, der Tschechoslovakei, Skandinavien, Belgien usw.)
bilden, der eine Delegation zu Thälmann, Ossietzki und Mierendorf schickt. Ausser-
dem sollen die Abgeordneten in ihren eigenen Parlamenten Anträge und Anfragen für
Thälmann, Ossietzki usw. einbringen. In den Gemeindeparlamenten sind Protestan-
träge dagegen einzubringen, dass Thälmann auch in seiner Eigenschaft als Hambur-
ger Bürgerschaftsabgeordneter verfolgt wird.
g) Geldsammlungen.
+++
Zur systematischen Ausnutzung des Materials über die neue Terrorwelle in
Deutschland wird die Schaffung eines internationalen Untersuchungsausschusses
vorbereitet.54 Bei dieser Untersuchung ist der Fall Thälmanns besonders zu berück-
sichtigen. Diese Untersuchung dient zugleich auch zur Widerlegung der Behauptung
von einer Normalisierung der Rechtsverhältnisse in Deutschland.
Die Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter55 soll die Kampagne unter den
Wassertransportarbeitern (Thälmann als Hafenarbeiter) verstärken. Sie soll sich mit
der Forderung gemeinsamer Aktionen zur Befreiung Thälmanns an die der Internati-
onalen Transportarbeiterföderation angeschlossenen Gewerkschaften und im beson-
deren an Fimmen wenden.56
53 Einen ähnlichen Plan verfolgte Willy Brandt, als er sich Anfang 1936 in der norwegischen Ar-
beiterpartei darum bemühte, eine Ärzte- und Arbeiterdelegation nach Deutschland zu entsenden,
um die Haftbedingungen und den Zustand Ossietzkys zu überprüfen, diese Pläne scheiterten jedoch
(Willy Brandt: Die Nobelpreiskampagne für Carl von Ossietzky, Oldenburg, BIS, 1988 (Oldenburger
Universitätsreden. 20)).
54 Es ist nicht sicher, ob für Thälmann nach dem Vorbild des Londoner Gegenprozesses ein Aus-
schuss eingesetzt wurde.
55 Die Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter wurde im Rahmen der RGI am 3.10.1930 auf
einem Kongress in Hamburg als revolutionäre Gewerkschaftsorganisation der Seeleute offiziell ge-
gründet, nachdem dies am 2.3.1930 in Moskau beschlossen wurde. Als „verdeckte Fortsetzung der
maritimen Kominternsektion, des internationalen Propaganda- und Aktionskomitees der Transport-
arbeiter“ unterstanden ihr von nun an auch die Seemannsclubs in den Hafenstädten („Interklubs“).
Erster Vorsitzender war George Hardy, internationaler Sekretär Albert Walter. Deutsche Sektion der
ISH war der Einheitsverband der Seeleute, Hafenarbeiter und Binnenschiffer unter Reichsleiter Ernst
Wollweber (1932). Nach dem NS-Machtantritt wurde die Exekutive nach Kopenhagen verlegt. Seit
1934 wurde im Zuge der Auflösung der RGO der deutsche „Einheitsverband“ in die Internationale
Transportarbeiter-Föderation (ITF) unter ihrem Vorsitzenden Edo Fimmen überführt (siehe: Nelles:
Widerstand und internationale Solidarität; Holger Weiss: The International of Seamen and Harbour
Workers – A Radical Labour Union of the Waterfront or a Subversive World Wide Web?).
56 Auch die gerade von der Linken in KPD und Komintern als umfassende Maßnahme gegen das NS-
Regime vorangetriebene Thälmann-Kampagne geriet in die Fahrwasser der „großen Säuberungen“,
ihre Führung wurde ausgeschaltet. So hieß es am Schluss des Dokuments: „Die Parteivertreter sollen
1112 1933–1939
Am 3.4.1935 erteilte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion dem Emissär Stalins, David Kandela-
ki, die Vollmacht, den Handelsvertrag mit Deutschland für das Jahr 1935 sowie eine Vereinbarung über
einen Fünfjahres-Kredit über 200 Millionen Mark zu unterzeichnen.57
Ebenfalls am 3.4.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, von einer Einladung
der britischen Independent Labour Party zum VII. Weltkongress der Komintern abzusehen.58
Dok. 361
Hermann Schubert und Pieck im Mitteleuropäischen
Ländersekretariat über die KPD-Krise und die neuen Vorgaben der
Komintern
Moskau, 8.4.1935
Typoskript in deutscher Sprache, mit handschriftlichen Korrekturen. RGASPI, Moskau, 495/ 18–20,
89–100. Erstveröffentlichung.
Streng vertraulich!
[...] Ein letztes Wort noch dazu, dass diese Schwächen, die wir haben, und diese
Nichtveränderung der Arbeitsmethoden gegenüber der ersten Zeit der Illegalität auch
grosse Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Kaders gehabt haben. Wir können
gar nicht recht beurteilen, wie und wo ein Genosse, der unten in der Organisation
jetzt zwei Jahre herumgearbeitet hat, herausgeholt, für andere Arbeiten herangezo-
im Einverständnis mit den Genossen Richter [d.i. Hermann Schubert] und [Béla] Kun ausführliche
Vorschläge zur Neubelebung der Kampagne telegrafisch schicken. Die Genossen Richter und Kun
werden beauftragt, die Durchführung dieser Beschlüsse laufend zu kontrollieren.“ Kurze Zeit später
wurden sowohl Béla Kun in der Komintern, als auch Hermann Schubert in der KPD-Führung als Sün-
denböcke zunächst politisch ausgeschaltet. Schubert wurde im März 1938 nach erfolgtem Todesurteil
in Moskau erschossen, Kun im August 1938 im Gulag.
57 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 157.
58 RGASPI, Moskau, 17/3/961, 63. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern.
S. 720.
59 In der Folge der Januarsitzungen des Jahres 1935 zur KPD in der Politkommision des EKKI wurden
im Mitteleuropäischen Ländersekretariat der Komintern weitergehende Untersuchungen zur Klärung
der Situation der Bezirke und Zellen der KPD mit Blick auf den VII. Weltkongress vorgenommen.
Dabei konstatierte man das Fehlen jeglicher Initiative zur Massenarbeit seitens der Bezirksleitungen
und Zellen. Die Genossen dort seien „kaputt“, und diejenigen, die übrig geblieben seien, würden
„auch [noch] kaputt gehen“ (Dok. 361).
Dok. 361: Moskau, 8.4.1935 1113
gen werden kann. Wir suchen bei uns in einem engen Kreis herum, der immer kleiner
wird. Viele Leute sitzen hinter Schloss und Riegel oder sind totgeschlagen. Wir haben
solche Genossen die früher kleine Funktionen hatten und jetzt verantwortliche Arbei-
ten machen. Aber wo solche Genossen an die Oberfläche gekommen sind, ist es meist
infolge ihrer besonderen Fähigkeit und Energie; in den wenigsten Fällen durch syste-
matische Pflege, indem wir ihnen geholfen, sie gefördert haben. Die Ventile von unten
nach oben, durch die gute Kräfte zu verantwortlichen Funktionären vordringen, sich
entwickeln, sind bei uns zu eng. Das hängt mit den Arbeitsmethoden zusammen. Die
Zellen kommen wenig zusammen. Sie haben selten politische Beratungen, und die
kollektive Beschlussfassung und Kontrolle über die Durchführung der Beschlüsse im
engen Kreise von Genossen, die sich zusammensetzen und in bestimmten Abständen
diskutieren, wie zu arbeiten ist, ist sehr mangelhaft. Es kommt noch hinzu, dass wir
eben nicht diese systematische Arbeit in den faschistischen Massenorganisationen
haben, dass wir auch dort nicht beobachten können, wie ein Mensch zu den Massen
sprechen, zu den Arbeitern reden und sich mit ihnen auseinandersetzen kann. Das
Ergebnis ist: wir legen falsche Masstäbe an oder Masstäbe, die ungenügend sind. Wir
beurteilen die Genossen auf Grund der Angaben, die z.B. ihre Zellenleiter, die sie von
früher kennen, berichten; auf Grund ihrer Tätigkeit, die sie vielleicht in der Technik,
im Abziehen und Herstellen von Zeitungen geleistet haben. In den wenigsten Fällen
koennen wir die Genossen nach ihrer wirklichen politischen Arbeit und den Stand
ihrer politischen Reife beurteilen, weil dazu auf Grund dieser mangelhaften Anwen-
dung wirklicher Formen der Massenarbeit, richtiger Formen der Massenarbeit und
auf Grund eines mangelhaften innerparteilichen politischen Lebens in den Zellen
und unteren Einheiten die Möglichkeiten in der Partei fehlen. Das Ergebnis ist folgen-
des: Wir haben eine solche Uebersicht gemacht, dass wir praktisch am Ende unserer
alten Funktionärskader sind.
Die Uebersicht über die Entwicklung der Bezirksleitungs- und Zellenapparate
lehrt: die Leute sind kaputt. Einige sind noch übrig, sie werden auch kaputt gehen,
und was wird weiter? Wir sind schon weniger imstande zu sagen, im nächsten halben
Jahr entwickeln wir die und die Leute aus den Unterbezirken heraus. Wir sind nicht
dazu imstande. Ich wollte besonders auf die letzten Punkte hinweisen. Ich glaube,
dass das im Wesentlichen daran liegt, dass wir noch nicht eine richtige bolschewisti-
sche Form der Massenarbeit gefunden haben, wie sie zwar in unseren Resolutionen
steht, aber in der Praxis noch nicht durchgeführt wird.
Pe/F
5 Expl.
Sitzung des MELS
Am 8.4.1935.
(Deutsche Frage)
1114 1933–1939
Streng vertraulich
60 Otto Wahls („Otto Börner“, 1907–1990) gehörte von 1933–1935 der Berliner Landesleitung der KPD
an. Kurz vor der Sitzung im MELS wurden im März 1935 die Mitglieder der illegalen Berliner Landeslei-
tung Max Maddalena, Adolf Rembte, Käthe Lübeck und Walter Griesbach festgenommen.
Dok. 361: Moskau, 8.4.1935 1115
den zwei Hauptfragen, der Frage der Vereinigung und der Frage des Walter-Artikels
erzielt.61 Wir haben hier die Korrigierung vollzogen. Das waren sozusagen die Auswir-
kungen der Diskussion des PB im Lande.
(Zwischenruf Genosse Schwab:62 Und Hamburg?)
Wir werden natürlich jede eigene Entwicklung fördern. Wir fördern jede eigene
politische Regung der Bezirksleitung. Ich will nur eins sagen. Eine Gefahr besteht.
Wir haben seit März-April des Jahres 1933 keine entscheidende selbständige Stellung-
nahme der Bezirksleitungen in Deutschland zu irgendwelchen politischen Fragen.
Das ist natürlich eine große Gefahr. Zu den entscheidenden Grundproblemen gibt
es keine eigene ausgearbeitete Stellungnahme und Vertiefung der Fragen durch die
Bezirksleitungen.
(Zwischenruf Genosse H. [d.i. Hermann Schubert?]: Zu der Januar-Resolution
1934 gab es Niederrhein und Ruhrgebiet!)63
61 Im „Walterartikel“ nahm Ulbricht Bezug auf einen Artikel des Sozialdemokraten Siegfried Auf-
häuser in der Neuen Weltbühne über den Weg zur Einheitsfront gegen Hitler und rückte erstmals von
der gescheiterten „massenpolitischen Linie“ der KPD seit 1933 ab: „Die Herstellung der Einheit der
Arbeiterklasse kann nur auf dem Weg über die Aktionseinheit und durch die Gewinnung der Arbeiter-
massen für den revolutionären Klassenkampf, für den Kampf um den Kommunismus erreicht werden.
Deshalb wird die Kommunistische Partei alles für die Schaffung der kämpfenden Einheitsfront tun.
Sie fordert keine Vorbedingungen von den Sozialdemokraten, sie fordert nur den Willen zum gemein-
samen Kampf gegen den Faschismus, den gemeinsamen Feind! Wir Kommunisten erklären, daß wir
zur Herstellung der Aktionseinheit für den Kampf um die nächstliegenden Ziele alle prinzipiellen
Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten zurückstellen und vorbehaltlos und uneingeschränkt
zum gemeinsamen Kampf mit den sozialdemokratischen Klassengenossen bereit sind.“ (Für die Ak-
tionseinheit gegen den Hitlerfaschismus. Offene Antwort an Siegfried Aufhäuser und die linken Sozi-
aldemokraten. Von Walter [Ulbricht], Mitglied des Zentralkomitees der KPD. In: Rundschau (1934), Nr.
55, S. 2412–2414; ebenfalls in: Brüsseler Konferenz der KPD (CD)).
62 Es handelt sich um Sepp Schwab (1897–1977), der seit den dreißiger Jahren wichtige Funktionen
im Kominternapparat, besonders im MELS bekleidete.
63 Vermutlich die Januarresolution des ZK der KPD von 1935. Zur Konkretisierung der Resolution
des Politsekretariats des EKKI vom 19.1.1935 hieß es darin: „Die Kommunistische Partei vollzieht eine
kühne Wendung in ihrer revolutionären Massenpolitik zur Organisierung der proletarischen Ein-
heitsfront, um die Voraussetzungen des revolutionären Aufschwungs zum Sturz der faschistischen
Diktatur zu entwickeln. (...) Anstatt die linken Führer der Sozialdemokratie, die sich in Artikeln für
die Einheitsfront mit den Kommunisten erklärten, beim Wort zu nehmen, um sie entweder zu einer
wirklichen Einheitsfront zu veranlassen oder sie im Fall ihrer Ablehnung vor den Massen als Geg-
ner der Kampfeseinheit der Arbeiterklasse bloßzustellen, wurde in doktrinärer Weise der Hauptstoß
gegen diese Linken gerichtet und nicht zwischen ihnen und der Mehrheit des Parteivorstandes diffe-
renziert. Dieser Fehler kam auch zum Ausdruck in verschiedenen zentralen Dokumenten der Partei,
in Artikeln verantwortlicher Funktionäre sowie in der „Roten Fahne“. Das hinderte die Gesamtpartei
an der Förderung der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Gruppen im Lande und an der ent-
schlossenen Bekämpfung und Überwindung des Sektierertums. Die KPD unternimmt alle Anstren-
gungen, um mit allen sozialdemokratischen Arbeitern und Funktionären, Gruppen, Organisationen
und örtlichen, bezirklichen und zentralen Leitungen Abkommen zum gemeinsamen Kampf für die
Tagesforderungen des Proletariats und gegen den Hitlerfaschismus zu schließen. Die KPD richtet die
Aufforderung zum Abschluss eines Abkommens für die Einheitsfront besonders an die Opposition in
1116 1933–1939
Gen. DIMITROW: Kennt das Parteiaktiv diese Beschlüsse, die im Zusammenhang mit
diesen Diskussion im Polbüro angenommen wurden?
Gen. PIATNITZKY: Hier wurde im Januar eine Resolution angenommen, die zu den
Artikeln von Walter und Müller Stellung nahmen.
Gen. PIECK: Du sagst, wir fördern jede eigene Entwicklung; das hat auch Schwab
gesagt. Wenn diese eigene Entwicklung nun in einer falschen Linie geht?
Gen. OTTO: Wir hatten erst eine falsche Auffassung in der Einheitsfrontfrage.
Gen. DIMITROW: Ist diese Frage vor die Partei gestellt worden; kennt die Partei diese
Frage jetzt oder nicht?
Gen. OTTO: Ja, wir haben diese Korrektur vorgenommen – gerade mit der Berliner
Bezirksleitung, wo diese Frage sehr stark stand, auch mit Hamburg, wo wir die Reso-
lution korrigiert haben, und wir hatten auch da keine größeren Referenzen in dieser
Frage.
Gen. PIATNIZTKY: Wie steht es jetzt, wo sich das ZK an den Prager Vorstand wandte?64
Gen. OTTO: Das kam zusammen mit der Resolution. Ich habe ein Gerücht gehört,
schon vor zwei, drei Wochen, daß ein solcher Vorschlag geplant sei. Dann kam der
Vorschlag zusammen mit der Resolution.
Gen. KNORIN: Bekommen Sie jetzt nicht ständig Informationen über die Fragen, die
im Polbüro zur Behandlung stehen?
der SPD, die sich in einer politischen Plattform für die Einheitsfront ausgesprochen hat (Proletarische
Einheitsfront und antifaschistische Volksfront zum Sturze der faschistischen Diktatur. Resolution des
ZK der KPD vom 30. Januar 1935. In: Rundschau (1935), Nr. 10, S. 531–535; ebenfalls publ. in: Brüsseler
Konferenz der KPD).
64 Gemeint ist der Vorstand der SPD von 1933 bis 1939 in Prag (Sopade).
Dok. 361: Moskau, 8.4.1935 1117
Am 9.4.1935 besprach das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion erneut die Vorbereitungen eines
„Ostpakts“. Es wurden Korrekturen an dem französischen Vorschlag beschlossen, der vorsah, eine
Reihe bilateraler Sicherheitsabkommen zwischen der UdSSR und europäischen Staaten abzuschlie-
ßen. Unter anderem schlug die russische Seite eine Befristung auf zehn Jahre vor.65 Die Verhandlun-
gen kamen daraufhin ins Stocken. Am 20.4.1935 beschloss das Politbüro dann, die Verhandlungen
zwischen Litvinov und dem französischen Ministerpräseidenten Pierre Laval zunächst einzustellen.
Litvinov wurde nach Moskau zur Berichterstattung zurückbeordert.66
Am 17.4.1935 bestimmte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Kommission, bestehend
aus Ordžonikidze, Kaganovič, Vorošilov, Rozengolʼc und Kandelaki, die in Viertagesfrist die erste Run-
de der Bestellungen in Deutschland auf der Grundlage des neuen Kredits skizzieren sollten.67 Unter
anderem sollte, so beschloss das Politbüro am 23.4.1935, die nach Stalin benannte Fahrzeugfabrik
ZIS aufgerüstet werden.68
Am 26.4.1935 entschied das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den als dringend eingestuften
Vorschlag Litvinovs im Namen des sowjetisches Außenkommissariats, gegen die Rede von Rudolf Heß
vom 14.5.1935 Protest zu erheben, abzulehnen. Heß hatte dabei von der 1933 angeblich erfolgten
Auffindung von „Propagandamaterial ungeheuerlichster Art“ im Karl-Liebknecht-Haus, dem Sitz der
KPD in Berlin, zur „Aufrichtung des bolschewistischen Staates in Deutschland“ gesprochen, mit „de-
taillierten Anweisungen (...), wie die letzten Widerstände in Deutschland durch rücksichtslosen Terror
gebrochen werden müssten, antibolschewistische Dörfer niederzubrennen und nichtgefügige Städte
auszuhungern seien.“
Am gleichen Tag beschloss das Politbüro spanische Politemigranten, die nach der Niederschlagung
der „Kommune von Asturien“ politisch verfolgt wurden, unter den gleichen Bedingungen wie die ös-
terreichischen Schutzbundangehörigen in der Sowjetunion aufzunehmen.69
Am 4.5.1935 erklärten sich die Mitglieder des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion mit dem Ent-
wurf eines Beistandspaktes zwischen der UdSSR und der Tschechoslowakei auf Basis eines analogen
Paktes mit Frankreich einverstanden. Dabei wurde betont, dass der Tschechoslowakei nur dann mi-
litärischer Beistand seitens der Sowjetunion gewährt würde, wenn auch Frankreich Hilfe leistete.70
Am 13.5.1935 gab das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion umfangreiche Bestellungen im Wert
von über 138 Millionen Mark auf Kredit in Deutschland in Auftrag. Am gleichen Tag wurden die Bedin-
gungen für die Aufnahme ausländischer Juden nach Birobidžan festgelegt: In das Jüdische Autono-
me Gebiet der Sowjetunion sollte nur eingelassen werden, wer vor Einreise die sowjetische Staats-
bürgerschaft annahm und sich verpflichtete, mindestens 3 Jahre dort zu arbeiten. Bei dem Kreis der
zugelassenen ausländischen Juden sollte es sich zudem vorrangig um jene handeln, die Territorien
bewohnten, die vor dem 1. Weltkrieg zum Russischen Reich gehörten.71
65 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 2. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 322–323.
66 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 7. Publ. in: Ibid., S. 325–326, Fn. 1.
67 APRF, 3/64/662, 157. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin, III, Dok. 66.
68 APRF, Moskau, 3/64/662, 160. Publ. in: Ibid., Dok. 68.
69 RGASPI, Moskau, 17/162/17, 1, 4.
70 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 22. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, s. 326.
71 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 18–19.
1118 1933–1939
Am 21.5.1935 bzw. am 23.5.1935 folgten weitere handelspolitische Beschlüsse zu „Importen für die
Filmindustrie“ und „Bestellungen des Volkskommissariats für Binnenhandel“.72
Am 1.6.1935 beriet das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion erneut über den Ostpakt, dessen
Abschluss trotz des zwischenzeitlich am 2.5.1935 erfolgten sowjetisch-französischen Vertrags über
gegenseitige Hilfe („Stalin-Laval-Pakt“) verstärkt angestrebt werden sollte. Dabei wurde Frankreich
die Rolle übertragen, für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen die Initiative zu ergreifen und da-
bei auch die mögliche Zusammensetzung der Paktmitglieder zu ermitteln. Ein Involvement der UdSSR
in die Verhandlungen wurde von der Antwort Deutschlands abhängig gemacht.73
Am 1.6.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dem EKKI für Baumaßnahmen
961.000 Rubel aus dem Reservefonds des Rats der Volkskommissare zu Verfügung zu stellen.74
Am 21.6.1935 genehmigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Mittelzuweisung an die
Internationale Arbeiterhilfe: „Die Bitte des Gen. Münzenberg über die Gewährung von 10 Tsd. Goldru-
bel an die Mežrabpom zur Publikation von Antikriegsliteratur ist zu bewilligen.“75
Am 25.6.1935 lehnte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Vorschlag des deutschen Wirt-
schaftsministers Hjalmar Schacht (vermutlich über die Wiederaufnahme der Kreditverhandlungen und
einen 500-Millionen-Kredit an die Sowjetunion) ab (formell am 26.6.1935). Über die Ablehnung sollte
der französischen Regierung Mitteilung gemacht werden.76 Am 2.7.1935 beschloss das Politbüro die Be-
stellung von Zubehör für die Schwerindustrie in Deutschland im Umfang von einigen Millionen Mark.77
Am 17.7.1935 reagierte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf den Protest der deutschen
Botschaft gegen die Übergabe einer Fahne des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands an
eine Schützeneinheit der Roten Armee. Das Politbüro verzichtete auf eine Rechtfertigung und ließ er-
klären, dass die Darstellung der Komsomolʼskaja Pravda (wo dieser Vorgang anscheinend abgedruckt
wurde), nicht der Wahrheit entsprochen habe.78
Am 28.7.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dem Volkskommissariat für Au-
ßenhandel das Importkontingent über den deutschen Kredit auf 500.000 Rubel aufzustocken. Auch
sollten vier deutsche Walfangkutter gekauft werden.79
Ebenfalls am 28.7.1935 legte das Politbüro fest, in welcher Form der VII. Weltkongresses in der sowje-
tischen Presse zu behandeln sei. Dabei sollte die Pravda eine 10-seitige Beilage veröffentlichen, einer
Auswahl weiterer Staatszeitungen genehmigte man Beilagen im Umfang von 3 Seiten.80
72 APRF, Moskau, 3/64/663, 19 und 320. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 71 und 72.
73 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 49. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 326–327.
74 RGASPI, Moskau, 17/3/964, 36. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 720–721.
75 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 61. Publ. in: Ibid., S. 721.
76 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 71.
77 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 77.
78 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 81.
79 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 96–97. Mit abweichender Datierung nach Dokumenten aus dem APRF
in Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 83 und 85.
80 RGASPI, Moskau, 17/3/969, 16. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 721–722.
Dok. 362: [in der UdSSR], 5.8.1935 1119
Am 4.8.1935 legte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion das Budget für die Durchführung des
VII. Weltkongresses der Komintern auf 2.800.000 Rubel fest, die aus dem Reservefonds des Rats der
Volkskommissare beglichen werden sollten.81
Dok. 362
Brief Stalins an Molotov zur Einführung eines Generalsekretariats
der Komintern unter Dimitrov
[in der UdSSR], 5.8.1935
5/VIII-35.
gen. Ich denke, dass es an der Zeit ist, im Komintern-System die Institution eines
ersten Sekretärs (Gen[eral]sek[retärs]) einzuführen. Ich meine, dass man Dimitrov als
ersten Sekretär vormerken könnte. Pjatnitzki, Manuilski und andere (aus dem Kreis
der Ausländer) könnte man als Sekretäre in das Sekretariat des Exekutivkomitees der
KI einführen.83
Ich bin wirklich etwas erschöpft. Ich musste mich mit den Kominternleuten, mit
den Kontrollzahlen für [19]36, mit allen möglichen laufenden Fragen herumschlagen
– da wird man zwangsläufig müde. Aber es ist nicht schlimm – die Müdigkeit vergeht
schnell, wenn man sich einen Tag ausruht, oder sogar ein paar Stunden.
Gruß!
I. Stalin
Im Laufe des August 1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion weitere Ankäufe
auf Kosten des deutschen Kredits, darunter am 5.8.1935 und 11.8.1935 Arzneimittel und Kranken-
haus-Equipment, sowie am 13.8.1935 eine Erdschaufelanlage für die Umrüstung der Holzbörse in
Archangel’sk.84
Dok. 363
Für eine Volksregierung in Deutschland. Aus der Rede Ulbrichts
auf dem VII. Weltkongress der Komintern
Moskau, 7.8.1935
83 Dimitrov wurde neuer Generalsekretär der Komintern, als neue Sekretäre wurden Manuilski,
Pieck, Kuusinen, Togliatti, Marty, Gottwald, als Kandidaten Trilisser, Florin und Wang Ming (Ps.), d.i.
Chen Shaoyu, bestimmt. Pjatnitzki, Knorin und Béla Kun kamen nicht wieder in die Kominternfüh-
rung.
84 APRF, Moskau, 3/64/663, 63, 107, 111. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 90, 91 und 92.
85 Das Datum bezieht sich auf die Nachbearbeitung des Stenogramms, nicht auf den Zeitpunkt der
Rede. Während drei Jahre später ein stark gekürztes Protokoll erschien, das u.a. einige Berichte und
generell die Beiträge der Opfer des stalinistischen Terrors nicht enthielt (VII. Kongress der Kommu-
nistischen Internationale. Gekürztes stenographisches Protokoll, Moskau, Verlag für fremdsprachige
Literatur, 1939), bleibt bisher eine auf der Basis der Rundschau-Beiträge kompilierte Edition aus den
Dok. 363: Moskau, 7.8.1935 1121
1970er Jahren das ausführlichste Protokoll. Siehe: Protokoll des VII. Weltkongresses der Kommuni-
stischen Internationale, Moskau 25. Juli – 20. August 1935 (Ungekürzte Ausgabe, 2. Auflage), 2 Bde.,
Stuttgart, Neuer Weg, 1975.
86 Zum sog. „Röhm-Putsch“, der „Enthauptung der SA“, siehe Dok. 350.
1122 1933–1939
den Reihen der SA-Führer hatten, erhält jetzt die Opposition in der NSDAP ein beson-
deres Gewicht durch die Belebung in der Arbeiterbewegung.87 […]
Von den Rednern auf dem Kongress ist mit Recht die zentrale Frage gestellt
worden: Warum wächst trotz der breiten Unzufriedenheit nicht entsprechend der
organisierte Massenwiderstand gegen den Faschismus? Warum sind wir, trotz einer
gewissen Entwicklung der Basis für die Minderheitsfront noch nicht zur Schaffung
der breiten Einheitsfront mit den sozialdemokratischen […] Arbeitern gekommen? Die
Ursache ist in den sektiererischen Traditionen unserer Partei zu suchen, die beson-
ders seit 1929 in der Partei in Erscheinung getreten sind. […]
Zweifellos war unsere Taktik der selbständigen Kampfführung richtig, aber sie
wurde vielfach sektiererisch entstellt. Es ist eine große Lehre für alle Sektionen der
Kommunistischen Internationale, dass wir eine zeitlang durch grosse Aufmärsche
und Kundgebungen den Blick ablenken liessen von der organisatorischen Veranke-
rung der Massenstimmung und von konkreten Kampfinhalten im Betrieb und in den
Gewerkschaften.
Als die Kommunistische Partei Frankreichs im Einvernehmen mit der Kommunis-
tischen Internationale in vorbildlicher Weise dazu überging, auf neue Art unter den
veränderten Bedingungen die Einheitsfronttaktik anzuwenden,88 zeigte sich bei ver-
antwortlichen Funktionären der KPD ein Negieren dieser Erfahrungen, was bis zum
Widerstand gegen die taktische Linie der Kommunistischen Internationale führte. Das
zeigte ein Fortführen des selbstgefälligen Sektierertums in der KPD. Durch die Januar-
Resolution89 wurden im Einvernehmen mit der Komintern dieser Fehler korrigiert. Die
Partei begann die Wendung in ihrer Massenarbeit durchzuführen. Es zeigten sich aber
auch nachdem noch Hemmungen, weil einige führende Funktionäre nicht imstande
waren, den notwendigen Enthusiasmus in der Durchführung dieser Linie aufzubrin-
87 In den Jahren nach dem „Röhmputsch“ trugen die parteiinternen Auseinandersetzungen in der
NSDAP vor allem den Charakter von Kompetenzkonflikten, die sich aus dem Dualismus von Staat und
Partei ergaben. Ebenfalls kollidierten die unterschiedlichen Machtansprüche der einzelnen NS-Pro
tagonisten; die Autorität Hitlers wurde zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt (siehe: Dietrich Orlow:
The History of the Nazi Party. Bd. 2: 1933–1945, Pittsburgh, University of Pittsburgh Press, 1973, S. 111–
193). Zusammenhänge zwischen einer „Belebung in der Arbeiterbewegung“ und den Entwicklungen
innerhalb der NSDAP waren vollkommen aus der Luft gegriffen und sollten nur der Legitimation für
die Hinwendung der KPD zu den NS-Massenorganisationen.
88 Gegen den Putschversuch französischer Rechtsverbände am 6.2.1934 mobilisierten Kommunisten
und Sozialisten im ganzen Land zunächst getrennt. Am 12.2.1934 schlossen sich zwei getrennte De-
monstrationszüge in Paris spontan zusammen, ein Generalstreik umfasste mehr als vier Millionen Be-
teiligte. KPF und Sozialistische Partei vereinbarten daraufhin zunächst einen Pakt zur gemeinsamen
Aktion, dann – zur Vorbereitung der Wahlen 1936 – einen auch auf bürgerliche Partner ausgreifenden
Volksfrontpakt. Höhepunkt der vorrevolutionären Offensive der Arbeiterbewegung in Frankreich war
der Generalstreik im Juni 1936. Trotz der einsetzenden inneren, durch die zögerliche Politik der Volks-
frontregierung beschleunigten Krise wurden unter der Volksfront-Regierung zentrale politische und
soziale Reformen erreicht.
89 Die Resolution vom Januar 1935 siehe Dok. 361.
Dok. 363: Moskau, 7.8.1935 1123
gen, und weil auch bei einzelnen Genossen Tendenzen einer Duldsamkeit gegenüber
diesen Entscheidungen vorhanden waren.
Die Parteiorganisationen im Lande haben die Januar-Resolution begrüsst und
– wenn auch langsam – begonnen, diese massenpolitische Linie anzuwenden. Ein
Funktionär eines Berliner Stadtteils sagte mir kürzlich, dass sie unter sich die Frage
besprochen hätten: „Warum stagniert unsere Organisation?“ Die Genossen leisten
zweifellos eine kühne Arbeit zur Verbreitung von Agitationsmaterial, aber die Orga-
nisation ist isoliert von den Massen, obwohl viele Parteimitglieder Massenorganisa-
tionen angehören. Dort arbeiten sie aber in der Regel ohne die Einleitung [sic] der
Partei. Der Genosse schilderte uns, wie durch die Verbreitung allgemeiner kommunis-
tischer Losungen versucht wurde, die Massen in Bewegung zu bringen. Damit kamen
sie aber nicht weiter und sie sagten: „Es muss etwas passieren“. Sie erwarteten sozu-
sagen den Anstoss durch ein grosses Ereignis, auf das die Massen spontan reagieren
würden. Jawohl, es muss etwas passieren! Genosse DIMITROFF hat es ausgesprochen.
Durch unsere antifaschistische Arbeit in den faschistischen Massenorganisationen
muss dort „etwas passieren.“ Beim Reichstagsbrandprozess riss er dem Faschismus
die Maske vom Gesicht und zeigte die ganze reaktionäre barbarische Fratze des Hit-
lerfaschismus. Jetzt aber hat er dem werktätigen Volk das Geheimnis des trojanischen
Pferdes erklärt.90 (Beifall) Er hat uns gelehrt, wie die antifaschistischen Kräfte in den
faschistischen Massenorganisationen unter Ausnützung der legalen Möglichkeiten
kämpfen, um die kleinsten täglichen wirtschaftlichen und freiheitlichen Interessen
aller Schichten des werktätigen Volkes zu vertreten. Genosse DIMITROFF hat die ent-
scheidende Methode unserer Massenarbeit im Beispiel mit dem Pferd von Troja erläu-
tert. […]
Gerade weil wir die breiteste Volksfront wollen, deshalb ist die Stärkung unserer
Partei, die Sicherung der Partei gegen rechtsopportunistische Gefahren, aber auch die
90 Unter dem „Geheimnis des trojanischen Pferdes“ fasste Ulbricht, wie weiter unten ausgeführt,
die Verstärkung der KPD-Aktivität in praktisch allen NS-Massenorganisationen zusammen (DAF, Hit-
lerjugend, Sportorganisationen, katholische Vereinigungen, katholische Jugend, Kraft durch Freude
etc.). Die Politik des „trojanischen Pferdes“ bildete seit 1936 die Alternative zur Volksfrontpolitik für
die kommunistischen Parteien in den autoritären und totalitären Diktaturen der Zwischenkriegszeit,
nicht nur in NS-Deutschland. Eine empirisch abgesicherte Untersuchung zu ihrer Umsetzung und
Wirksamkeit liegt bisher nicht vor. Andreas Herbst schreibt zum Anspruch der KPD-Führung, in der
Deutschen Arbeitsfront zu arbeiten: „Die mit der Taktik des ‚Trojanischen Pferdes‘ verbundene Un-
terwanderung der DAF-Betriebsgruppen [...] wurde von den meisten Widerstandsgruppen bewusst
ignoriert. Entscheidend hierfür war nicht nur die zunehmend erschwerte Kommunikation zwischen
den illegalen Gruppen im Inland und der KP-Führung, angesichts immer irrealerer Vorstellungen der
Emigrationsleitung über den Kampf in der Illegalität verweigerten sich die Widerstandsgruppen in
zunehmendem Maße den Instruktionen von außen.“ (Andreas Herbst: Kommunistischer Widerstand
1933–1945, <http://www.ddr-biografien.de/00000095890f9bc01/0000009589137ed36.html>); zur
maßgeblichen Rolle Ulbrichts auch: Walter Ulbricht: Die Taktik des trojanischen Pferdes. In: Die In-
ternationale, 1936, Nr. 6/7, S. 31–36; zur transnationalen Dimension dieser Formel in den europäischen
Diktaturen siehe den Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 336).
1124 1933–1939
Festigung der Arbeiterklasse gegen die Einflüsse der Politik der Arbeitsgemeinschaft,
gegen die Volksgemeinschaftsideologie und den Chauvinismus durch eine stärkere
Propagierung der grundlegenden Ideen des „Kommunistischen Manifestes“ und der
Lehren des Führers des Weltproletariats, unseres Genossen STALIN, notwendig, wie
er sie niedergelegt hat und in dem Buch über Lenin und den Leninismus.91 Z.B. hat der
monatelang geführte zähe Kampf gegen die von den Wels, Stampfer, Klinger und Co.
propagierte Politik der Klassenzusammenarbeit, der Arbeitsgemeinschaft eine grosse
politische, erzieherische Bedeutung für die Festigung der Arbeiterklasse im Kampf
gegen den Faschismus. Auf Grund des lebendigen Beispieles des Sieges in der Sowjet
union gilt es, populärer den Massen klarzumachen, was in Deutschland wäre, wenn
in Deutschland die Sowjetmacht herrschen würde.
Wir glauben, es ist im Sinne der Ausführungen des Genossen DIMITROFF, wenn
wir aus den genannten Erfahrungen für unsere Partei die Schlussfolgerungen ziehen:
1. dass es notwendig ist, unmittelbar auf die politischen Ereignisse zu reagieren
und konkreter die Losungen auszuarbeiten, um die Massen in Bewegung zu bringen;
den Kommunisten in der Einheitsfront bessere Anleitung zu geben, damit sie auf die
Ereignisse sowohl auf die Lohndifferenzen im Betrieb, wie auf den Terror gegen die
katholischen Organisationen, oder aus Anlass des Verbotes des Stahlhelms reagieren.
Unmittelbar den Massen eine Einschätzung geben und Vorschläge machen können,
wie in der gegebenen Situation der antifaschistische Kampf geführt werden soll.
2. Die Parteilinie muss beharrlich und zäh durchgeführt und die Beschlüsse ent-
sprechend der jeweiligen Situation konkretisiert werden.
3. Es ist erforderlich, auch durch entsprechende Auswahl der Genossen, durch
eine entsprechende Kaderpolitik die Durchführung der Wendung sicherzustellen.
Wir müssen ernst die Lehren aus den Erfahrungen ziehen, damit die Partei befä-
higt wird, wirklich die Millionen des arbeitenden Volkes in den Kampf zum Sturz der
faschistischen Diktatur zu führen.
Breite Massen in Deutschland stellen die Frage: Was ist der Weg zum Sturz des
Hitler-Faschismus? Die entscheidende grundlegende Frage ist die Schaffung der Ein-
heitsfront und darüber hinaus die Entfaltung eine mächtigen Bewegung für die breiteste
Volksfront. […]
Früher hatten die Einheitsfrontvereinbarungen meist einen sehr propagandis-
tischen Charakter. Bei Überprüfung einiger Einheitsfrontabkommen aus der letzten
Zeit müssen wir feststellen, dass ein ernster Fehler darin vorhanden ist, dass in diesen
Vereinbarungen die gemeinsame Arbeit in den unter faschistischem Kommando ste-
91 Buch über Lenin und den Leninismus: Vermutlich ein Hinweis Ulbrichts auf die Anthologie von
Stalintexten: „Probleme des Leninismus“, die 1934 in einer deutschen Übersetzung erschien. Auch
Stalins Vorlesungen über die „Grundlagen des Leninismus“ wurden 1935 auf Deutsch herausgebracht
(Siehe: Iosif V. Stalin: Probleme des Leninismus, Zürich, Ring-Verlag, 1934; id.: Über die Grundlagen
des Leninismus. Vorlesungen, gehalten an der Swerdlow-Universität, Anfang April 1924, Moskau,
Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1935 (Kleine Bücherei des Marxismus-
Leninismus. 12).
Dok. 363: Moskau, 7.8.1935 1125
henden Organisationen meistens fehlt. Die beginnende Einheitsfront ist noch nicht
verankert in der gemeinsamen Arbeit in den faschistischen Massenorganisationen,
was eine Unterschätzung der legalen Möglichkeiten bedeutet. Die Erfahrung lehrt,
dass die Organisierung von Streiks und Widerstandsbewegungen nur möglich ist,
durch illegale Vorbereitung bei gleichzeitig legaler Vertretung der Arbeiter- und
Angestellten-Interessen in den Massenorganisationen. […]
Im Sinne der Beispiele des gemeinsamen Handelns in den letzten Monaten, in
denen sich eine aufrichtige Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialde-
mokraten erprobt hat, schlagen wir allen Sozialdemokraten, ihren Organisationen und
dem Prager Vorstand die Bildung der Einheitsfront für die unmittelbaren nächsten
Schritte zum Kampf gegen den Faschismus vor.
Für die gemeinsame Hilfe für die Opfer des Hitler-Terrors und die Spitzelabwehr.
Für die gemeinsame Arbeit in der Deutschen Arbeitsfront92 zur Verwirklichung
der Forderung: „Ran an die Löhne“ im Sinne der Verteidigung und Verbesserung der
Arbeitsbedingungen.
Für die gemeinsame antifaschistische Arbeit in allen unter faschistischem Kom-
mando stehenden Massenorganisationen. […]
Genosse Dimitroff hob hervor, dass die Achilles-Ferse des Faschismus der Wider-
spruch zwischen den sozialen Interessen der Massen, denen die Nazi-Führer die
grössten Versprechungen gemacht haben, und dem grosskapitalistischen Inhalt der
Nazipolitik besteht, was uns ermöglicht, die Massen der werktätigen Anhänger der
NSDAP zu gewinnen.
Im Sinne der grundlegenden Probleme, die ich darstellte, ist es die Aufgabe der
Volksfront, die Sammlung, Aktivisierung und Entfaltung einer breiten Volksbewegung
aller antireaktionären, antifaschistischen Kräfte gegen die Hitlerdiktatur für Brot und
Volksrechte, für Frieden und Fortschritt. In diesem Sinne wollen WIR auch die natio-
nalsozialistischen Anhänger, die gegen irgendwelche volksfeindlichen Teilmassnah-
men des Faschismus sind, für die Volksfront gewinnen. Um die Volksfront zu entfalten,
müssen wir die verschiedenen Forderungen der werktätigen Schichten durch eine
grosse, zementierende Parole, die die ganze Volksfront zusammenfasst, leiten und
diese Parole heisst gegenwärtig in Deutschland: „Freiheit“. […]
Zur Führung dieser Volksfront von Frieden, Freiheit und Fortschritt, ist es zweck-
mässig, dass Organe dieser Volksfront aus den besten antifaschistischen Kämpfern, aus
den Reihen der Arbeiter und anderen werktätigen Schichten der Bevölkerung gebil-
det werden, wobei es den Erfahrungen des Kampfes überlassen bleiben muss, welche
92 Die der NSDAP angeschlossene Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Reichsleiter Robert Ley war mit
über 20 Millionen Mitgliedern (1941) die größte NS-Massenorganisation. Als Zwangsorganisation soll-
te sie „durch Bildung einer wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft, die dem Klassenkampfge-
danken abgeschworen hat“ alle „schaffenden Deutschen“ umfassen. Die DAF war in praktisch allen
sozialpolitischen Bereichen tätig, besaß jedoch in der Tarifpolitik keine Kompetenzen. Auf die Volks-
gemeinschaftsideologie gestützt, diente sie der Integration der Arbeiterschaft in das System (siehe:
Ronald Smelser: Robert Ley. Hitlers Mann an der ‚Arbeitsfront‘. Eine Biographie, Paderborn, 1989).
1126 1933–1939
Formen diese Organe annehmen. Von grosser Bedeutung wird die aktive Mitarbeit der
Vertrauensleute der Arbeiter, von antifaschistischen Funktionären der faschistischen
Massenorganisationen, insbesondere vor allem der Deutschen Arbeiterfront, sein. Es
ist notwendig, die Entwicklung eines breiten antifaschistischen Funktionärs[riegels?]
zur organisierten Führung der Volksfront der Millionen zu fördern. Erinnern wir uns,
wie zur Zeit des Kapp-Putsches das werktätige Volk gemeinsam gegen die Reaktion
kämpfte.93 Spartakus, Sozialdemokratie, Katholiken, Demokraten, alle kämpften in
einer Front gegen die Reaktion, für die Volksfreiheit. In diesem Sinne rufen wir dem
werktätigen Volk Deutschlands zu: Seid einig, einig, einig im Kampfe gegen den Hitler-
faschismus! (Beifall).
Von entscheidender Bedeutung für den Kampf der Einheitsfront und darüber
hinaus der Volksfront, ist die Gewinnung der Massen der werktätigen Jugend. […] Für
die Gewinnung der Jugend ist das von Genossen Dimitroff angeführte Geheimnis des
trojanischen Pferdes erst recht gültig. Wir wollen deshalb mit der Wendung damit
beginnen, alle Mitglieder des kommunistischen Jugendverbandes und alle jugend-
lichen Antifaschisten davon zu überzeugen, dass sie in der Hitlerjugend, in den
Sportorganisationen, in den Vereinigungen der katholischen Jugend, in Kraft durch
Freude,94 in der Deutschen Arbeitsfront eine systematische Arbeit leisten, um alle
Kräfte zu sammeln, die für Frieden, Freiheit und Fortschritt sind. […]
Das Ziel unserer Politik ist die Errichtung eines Sowjetdeutschlands. Die nächste
Aufgabe ist der Kampf zum Sturz des Hitlerfaschismus. Im Kampf um die Sowjetmacht
kann unter den Bedingungen der politischen Krise, wie sie Genosse Dimitroff genannt
hat, wenn das Kräfteverhältnis der Klassen die Rätemacht noch nicht möglich macht,
die Schaffung einer Regierung der antifaschistischen Volksfront möglich sein. Wir
arbeiten unter solchen Bedingungen auf die Schaffung einer solchen Regierung in
Deutschland hin, um dadurch bessere Bedingungen für die Errichtung der Sowjet-
macht zu schaffen, besser den Kampf um die Diktatur des Proletariats vorzubereiten.
[…]
Ich komme zum Schluss. Es wird in Deutschland um so eher gelingen, den Sturz
der faschistischen Diktatur und darüber hinaus die Sowjetmacht zu verwirklichen,
wie wir die Wendung in unserer Massenpolitik ernst, zielbewusst und kühn durchfüh-
ren. Als wir auf dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale zum letzten
Mal die Worte unseres geliebten Führers Lenin, des genialen Führers des Weltprole-
tariats hörten, sagte er uns: „Wenn Ihr, die Vertreter der Kommunistischen Parteien,
lernt, bolschewistische Massenarbeit zu führen, lernt, die grossen Erfahrungen der
russischen Revolution auf die Verhältnisse Eures Landes anzuwenden, dann sind die
Perspektiven der proletarischen Revolution ausgezeichnet“.95
(Stürmischer Beifall)
(Hurra- und Rot-Front-Rufe)
Dok. 364
Antwortbrief Molotovs an Stalin über die Einsetzung Georgi
Dimitrovs als Generalsekretär der Komintern
[Moskau?], 10.8.1935
95 Das hier fälschlicherweise angeführte Konzept Lenins war allerdings unter den Bedingungen der
Weimarer Demokratie und dem Schlagwort „Heran an die Massen!“ nicht auf die Massen in staatli-
chen Zwangsorganisationen, sondern insgesamt auf die „Eroberung des ausschlaggebenden Einflus-
ses auf die Mehrheit der Arbeiterklasse, das Hineinführen ihrer entscheidenden Teile in den Kampf“
gerichtet. Wie Lenin für den Fall Italiens aufzeigte, sollte der Kampf „mit den proletarischen Massen
in den Gewerkschaften, in den Streiks, in den Kämpfen gegen die konterrevolutionären Organisatio-
nen der Faschisten“ gerichtet sein (W. I. Lenin: Brief an die deutschen Kommunisten. In: Id.: Über die
Kommunistische Internationale, Berlin (Ost), Dietz-Verlag, Institut für Marxismus-Leninismus beim
ZK der SED, 1969, S. 627–636, hier: S. 634f.; vgl. hierzu Dok. 47 und Anmerkungen).
96 Siehe den Brief Stalins, Dok. 362.
97 Noch am gleichen Tag beschloss das Politbüro des ZK der VKP(b), diese Beschlüsse umzusetzen
(siehe hierzu die Entscheidung vom 10.8.1935).
98 Polina Žemčužina (1897–1970) war die Ehefrau Molotovs.
1128 1933–1939
Per Umfrage unter den Politbüro-Mitgliedern der KP der Sowjetunion wurde am 10.8.1935 die Um-
strukturierung der Komintern beschlossen. Das Politsekretariat des EKKI wurde liquidiert „als ein
Organ, welches sich in der praktischen Arbeit nicht bewährt hat“. Neu geschaffen wurde der Posten
eines Generalsekretärs der Komintern. Die „Eminence grise“ der Komintern, Ossip Pjatnitzki, wurde
auf Antrag von Dimitrov und Manuilski, der von Stalin unterstützt wurde, aus den Führungsposten
entfernt. Maßgebliche Kaderpositionierungen wurden neu festgelegt: Das EKKI-Sekretariat sollte
sich nun zusammensetzen aus Dimitrov, Togliatti, Manuilski, Pieck, Marty, Kuusinen und Gottwald als
Vollmitglieder, sowie Trilisser, Florin und Wang Ming (Ps.), d.i. Chen Shaoyu, als Kandidaten. Seitens
der VKP(b) sollten Manuilski, Stalin und Trilisser in das Präsidium des EKKI eingeführt werden. Die
Zusammensetzung des EKKI selbst wurde seitens der VKP(b) durch Manuilski, Stalin, Ždanov, Ežov
und Trilisser ergänzt.99
Dok. 366
„Der Kampf um die Armee“: Aus den geheimen militärpolitischen
Instruktionen des VII. Kongresses der Komintern
Moskau, 20.8.1935
Punkt 6) „In Armee und Flotte…“ mit der Resolution des VII. Weltkongresses der KI
zum Bericht des Genossen Dimitroff.100 Dieser Punkt, der ebenfalls nicht zur Veröf-
fentlichung bestimmt ist, ist einzufügen in Abschnitt IV dieser Resolution: „Die Auf-
gaben der Kommunisten in den einzelnen Abschnitten der antifaschistischen Bewe-
gung“ zwischen dem 5. und 6. Punkt des veröffentlichten Textes.
Einen Punkt aus der Resolution des VII. Weltkongresses der KI zum Bericht des
Gen. Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti], und zwar den Punkt 7) „Kampf um die Armee“, der
zum Abschnitt III dieser Resolution: „Die Aufgaben der KI im Kampfe für den Frieden,
gegen den imperialistischen Krieg“ gehört. Dieser Punkt der Resolution ist in dem
veröffentlichten Text nicht enthalten, da er nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist.101
Sekretariat
99 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 110. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 722–723.
100 Gemeint ist die Resolution „Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisti-
schen Internationale im Kampfe für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus“. In: VII.
Weltkongress der Kommunistischen Internationale. Resolutionen und Beschlüsse, Moskau-Lenin-
grad, Verlagsgesellschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1935, S. 9–33. In Punkt 5 des veröffent-
lichten Textes geht es um die Frauenbewegung, in Punkt 6 um die Genossenschaften.
101 Siehe hierzu: VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, S. 34–46.
Dok. 366: Moskau, 20.8.1935 1129
6.) In Armee und Flotte steht vor den Kommunistischen Parteien die Aufgabe,
einen konsequenten Kampf für die Demokratisierung von Armee und Flotte, für die
Vertreibung der faschistischen Elemente aus ihnen zu führen und nicht zuzulassen,
dass Truppen zum Kampf gegen die revolutionäre Bewegung oder in Interessen eines
faschistischen Umsturzes eingesetzt werden.
7.) Der Kampf um die Armee. Neben dem Kampf gegen die Unterschätzung der
Kriegsgefahr haben die Kommunisten den Kampf gegen die Anschauungen zu führen,
denen zufolge es infolge [der] Mechanisierung der bürgerlichen Armeen unmöglich
sei den Krieg erfolgreich zu bekämpfen. Die entscheidende Bedeutung des Soldaten
im Kriegswesen ist im Zusammenhang mit der Einführung mechanisierter Armeen
nicht nur nicht geringer geworden, sondern hat, im Gegenteil, im Zusammenhang
mit dem – im Vergleich zu früher – grösseren Massencharakter der imperialistischen
Armeen, sowie infolge der steigenden Bedeutung der Industriearbeiter in der Produk-
tion und in der Bedienung der Kampfmaschinen zugenommen. Die Gewinnung der
Soldaten für das Proletariat durch Verteidigung ihrer, mit den Interessen der Arbeiter
und Bauern verknüpften Alltagsinteressen, der Kampf für die Verteidigung der Rechte
der Soldaten und deren Erweiterung, – ist mehr denn je unaufschiebbares Gebot im
Kampf gegen den Krieg, sowie in der Vorbereitung der Revolution.
In den Ländern der bürgerlichen Demokratie haben die Kommunisten den Kampf
zu führen für die Demokratisierung der Armee, für die Entfernung der faschistischen
und reaktionären Elemente aus den Reihen des Offiziers- und des Unteroffiziers-
korps, gegen die Verlängerung der Dienstszeit, für die Verwandlung der regulären
Armee in eine Volksmiliz mit verkürzter Dienstzeit; für die Verwandlung der staatli-
chen Einrichtungen für vormilitärische Ausbildung der Jugend in unabhängige Spor-
torganisationen; für die Einführung der demokratischen Kontrolle über die Oberste
Heeresleitung; für Volkskontrolle über Waffenfabrikation und Waffenhandel unter
Mitheranziehung der Arbeiterorganisationen.
In den faschistischen Ländern haben die Kommunisten alle legalen und halble-
galen Möglichkeiten auszunutzen, um die Soldaten zum Kampf für die Erleichterung
ihrer Lage zu organisieren. Pflicht eines jeden Kommunisten ist es, in allen militäri-
schen und halbmilitärischen faschistischen Organisationen zu arbeiten und zu dieser
Arbeit alle Kriegsgegner heranzuziehen, um die Mitglieder dieser Organisationen in
den Kampf für den Frieden und gegen den Krieg miteinzubeziehen.102
102 Die Verpflichtung der Kommunisten zur Arbeit in den faschistischen Militärverbänden war ein
Novum. Boris Vasilʼev plädierte in seiner Rede vor dem VII. Weltkongress vom 19.8.1935 für diese Hand-
lungsoption und betonte, dass „in solchen Organisationen, wie die Sturmabteilungen in Deutschland
[…] die Kommunisten Stützpunkte schaffen können, um sie gegen Bürgerkrieg und weißen Terror zu
nutzen.“ (RGASPI, Moskau, 494/1/434, 45–51. Publ. In: Drabkin/Babičenko/Širinja: Komintern i ideja,
S. 908–912, hier: S. 910).
1130 1933–1939
Am 22.8.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion per Mitglieder-Umfrage, öster-
reichische Schutzbundangehörige, die die UdSSR verlassen wollten, nicht daran zu hindern. Die füh-
renden NKVD-Funktionäre Nikolaj Ežov und Jakov Agranov wurden beauftragt, die materielle Situation
und die ideologische Betreuung der Schutzbundleute zu überprüfen.103
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 31.8.1935, den Leichnam des in Moskau
während des VII. Weltkongresses verstorbenen Henri Barbusse auf Bitten seiner Freunde und Ver-
wandten nach Paris überführen zu lassen. Der Transport zum Bahnhof sollte mit militärischen Ehren
vonstatten gehen und von Arbeiter- und Angestelltendelegationen begleitet werden.104
Am 14.9.1935 beschloss das russische Politbüro via Mitglieder-Umfrage umfassende und sehr konkre-
te Maßnahmen zur Berichterstattung über den Kongress der Kommunistischen Jugend-Internationale
in den sowjetischen Medien (Komsomolʼskaja Pravda u.a.) nach dem Vorbild der Berichterstattung
der Pravda über den 7. Weltkongress der Komintern, ohne eine „zusätzliche und ausführliche Darle-
gung der Vorträge und Redebeiträge“. Die Resolutionen des Kongresses sollten als Massenbroschüre
veröffentlicht werden.105
Dok. 367
Chiffretelegramm von Molotov an Stalin über den Nürnberger
Parteitag der NSDAP und die nationalsozialistische Hetze gegen
die Sowjetunion
[Moskau], 15.9.1935
Chiffriertes Telegramm
Aus Moskau am 15.9.1935 um 1:34
Nach Soči an Gen. Stalin.
Wir übermitteln Ihnen telegraphisch das Kommunique des Bulletins der TASS, das
nicht für die Presse bestimmt ist, über den Ablauf des Kongresses der Nationalsozi-
alisten. Heute haben wir die folgende Botschaft von Bessonov erhalten: „Heute hat
sich einer Information aus London zufolge in den Berliner Pressekreisen das Gerücht
verbreitet, dass die Deutschen am Vorabend eines Abbruchs der Beziehungen mit
uns seien und dass dieser Bruch bereits entschieden sei. Im Zusammenhang mit den
103 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 120. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 722–723.
104 RGASPI, Moskau, 17/3/970, 1. Publ. in: Ibid., S. 725.
105 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 142. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 725–726.
Dok. 368: [Sotschi], 15.9.1935 1131
antisowjetischen Reden von Rosenberg und besonders von Goebbels fragen uns die
Agenturen, wie wir zu reagieren gedenken. [...].“
Molotov, Kaganovič
[Im besagten Bulletin vom 13.9.1935 der TASS ging es um die Rede von Alfred Rosen-
berg]:
„[Rosenberg] stellt eine Identität zwischen Marxismus und Judentum her. Indem er
eine lange Reihe von Zitaten aus dem Talmud und der Bibel heranzog, hat Rosen-
berg erklärt, dass der Bolschewismus ‚das letzte Wort des Judentums‘ sei. [...] Darüber
hinaus hat Rosenberg an die Adresse der Führer der sowjetischen Regierung von uner-
hörter Unverschämtheit geprägte Erklärungen abgegeben und behauptet, dass dieje-
nigen unter ihnen, die nicht Juden seien, nicht den Familien der europäischen Völker
angehörten, sondern Kinder der Steppe, wie Lenin, die von den Juden, Kranken oder
Halbverrückten angesteckt worden seien (an anderer Stelle qualifizierte Rosenberg
Lenin als Kalmücke).“106
Dok. 368
Antwort Stalins an Molotov und Kaganovič zur Beurteilung des
Nürnberger NSDAP- Parteitags
[Sotschi], 15.9.1935
An Kaganovič, Molotov.
des Chauvinismus bezeichnet wird, und sagen, dass der Antisemitismus die tierische
Form des Chauvinismus und des Menschenhasses darstellt, dass der Antisemitismus
vom Standpunkt der Geschichte der Kulturen aus betrachtet eine Rückkehr zum Kan-
nibalismus darstellt, dass der Nationalsozialismus in dieser Hinsicht nicht einmal
originär ist, denn er kopiert unterwürfig die Organisatoren der russischen Pogrome
aus der Zeit des Zaren Nikolaus II. und Rasputins. [...]
Dok. 369
Brief des Redakteurs Kurt Nixdorf an Molotov aus dem Gulag über
die Umstände seiner Verhaftung
Mariinsk, Siblag NKVD, 24.9.1935
Autograph in deutscher Sprache. RGASPI 82/2/1454, 48, 51. Deutsche Erstveröffentlichung. Auf
russisch publiziert in: A.Ja. Livšin, I.B. Orlov, O.V. Chlevnjuk (Hrsg.): Pisʼma vo vlastʼ. 1928–1939.
Zajavlenija, žaloby, donosy, pisʼma v gosudarstvennye struktury i sovetskim voždjam, Moskva,
ROSSPEN, 2002, S. 281–282.
24.IX.35
Gen[osse] Molotov!
Entschuldigen Sie, dass ich mich zum zweiten Mal aus dem Lager an Sie wende. Sie
erinnern sich wahrscheinlich an mich im Jahre 1931, als wir Deutschunterricht hatten.109
Ich bin nun schon 3 Monate im Lager. Die rationale Verwendung meiner Arbeits-
kraft ist hier fast unmöglich. Für reguläre physische Arbeit bin ich zu krank und
physisch zu schwach; für Büroarbeit beherrsche ich das Russische nicht genug. Das
Verhalten mir, einem ehemaligen ausländischen Kommunisten, gegenüber seitens
offen verbrecherischer und konterrevolutionärer Elemente ist grob und höhnisch.
Ich wurde schon fünfmal ausgeraubt, und gestern hat eine der Hauptpersonen, der
Unterkonvoiführer der Lagers, mein Brigadier Zavarzin, mich so zusammengeschla-
108 Zwei Tage später, am 17.9.1935, sandten Molotov und Kaganovič den Text einer Rede Hitlers
vor dem Reichstag an Stalin, wobei sie ihrer Meinung Ausdruck gaben, dass ein Protest überflüssig
sei. Stalin antwortete am selben Tag: „Ich sehe keinen Anlass zu einem Protest.“ (RGASPI, Moskau,
558/11/89, 133. Publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S. 570).
109 Kurt Nixdorf (1903–1937, in Moskau erschossen), geboren in Breslau, Studium der Staatswis-
senschaften, Dozent. 1920 KPD-Mitglied, einer der Führer des Kommunistischen Jugendverbandes
(KJVD). 1927 abkommandiert an das Marx-Engels-Institut in Moskau, zugleich in der Partei als „Ver-
söhnler“ angegriffen. Am 3.2.1935 vom NKVD verhaftet, am 20.6.1935 zu fünf Jahren Lagerhaft ver-
urteilt (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 641; Buckmiller/Meschkat: Biographisches Hand-
buch, Datenbank, Eintrag „Nixdorff, Kurt“).
Dok. 369: Mariinsk, Siblag NKVD, 24.9.1935 1133
gen, dass mein Gesicht zwei Tage lang blutete. Meine schwere und völlig perspektiv-
lose Lage hier zwingt mich, Sie um Hilfe zu bitten.
Ich bin Parteimitglied seit 1919, zwischen 1928 und 1935 Mitglied der VKP(b), nie
in einer Opposition gewesen. Mein Widerspruch zur KPD (1929/30 bin ich Versöhnler
gewesen) ist längst liquidiert; ich bin vollkommen einverstanden mit der Linie des
VII. Kongresses der Komintern.
In der UdSSR habe ich seit 1928 gearbeitet, und ich war, so denke ich, immer ehrlich.
Ich hoffe, nicht unbescheiden zu wirken, wenn ich sage, dass ich in meiner Tätigkeit als
Redakteur der „Moskauer Rundschau“ in den Jahren 1930–1933110 einiges für die Propa-
gierung der UdSSR unter den westeuropäischen Intellektuellen geleistet habe.
Meine Vergehen: Ich habe als Dozent des Moskauer Instituts der Neuen Spra-
chen111 meinen Studenten einige Zeitungsartikel aus dem „Berliner Tageblatt“ und
der „Frankfurter Zeitung“ aus dem Jahre 1933 gegeben, sowie einer Studentin einen
Roman des deutschen nationalistischen Schriftstellers Ernst Jünger.
Diese Vergehen sind wirklich nicht so [schwerwiegend], dass sie Sie von einer Hil-
feleistung abhalten könnten. Ich bitte Sie, mir die Möglichkeit zu geben, zur frucht-
baren und nützlichen Arbeit irgendwo in der UdSSR zurückkehren zu dürfen,112 und
zu meiner Frau und meinem kleinen Sohn zurückzukehren. Als Zeichen der Loyalität
zur Sowjetmacht verzichte ich auf meine deutsche Staatsbürgerschaft und bitte darum,
ein Sowjetbürger zu sein. In den letzten acht Monaten meiner Haft habe ich mehr über
die Verpflichtungen eines Sowjetbürgers gelernt, als in den fünf Jahren meines Lebens
in der deutschen Emigration in Moskau. Nach dieser politischen Lehrstunde bin ich
überzeugt, dass ich alle Verpflichtungen eines Bürgers der Sowjetunion erfüllen werde.
Ich bitte Sie, über Ihr Sekretariat den Empfang meines Briefes zu bescheinigen.
Kurt Nixdorf
Postscriptum: Für das Jahr 1937 habe ich bereits Materialien für eine deutschsprachige
Biographie Puschkins gesammelt und würde sehr gerne diese Arbeit abschließen.
110 Moskauer Rundschau: Das im April 1929 vom österreichischen Publizisten und Diplomaten Otto
Pohl (1872–1941) und seiner Stieftochter Lotte Schwarz gegründete deutsch-, später auch englisch-
sprachige Informationsorgan über wichtige politische, kulturelle und wirtschaftliche Ereignisse und
Entwicklungen in der UdSSR. Erschien bis 1934, in diesem Jahr wurde Pohl wegen kritischer Artikel
disziplinarisch belangt.
111 Es handelte sich um das Moskauer Pädagogische Institut für Neue Sprachen.
112 Kurt Nixdorfs Gesuch an Molotov blieb folgenlos, sein Gesuch an den VII. Weltkongress der Kom-
intern wurde am 23.9.1935 von der IKK abgelehnt. Am 14.9.1937 zum Tode verurteilt und erschossen
(Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 641).
113 Es handelte sich um die 3. Schweinefarm der Novo-Ivanovsker Filiale des SIBLag (Sibirskij ITL),
einer besonderen Struktur des Gulag-Systems der „Besserungsarbeitslager“ (Ispravitelʼno-trudovoj
lagerʼ).
1134 1933–1939
Per Mitglieder-Umfrage vom 28.9.1935 beschloss das sowjetische Politbüro die Einrichtung einer
ständigen Kommission zur Überführung ausländischer Kommunisten in die VKP(b). Zugleich wurde
Jaan Anvelt zur Verfügung des EKKI abkommandiert.114
Dok. 370
Manifest der Brüsseler Parteikonferenz der KPD 1935 „an das
werktätige deutsche Volk!“
[Moskau, 15.10.1935]
114 RGASPI, Moskau, 17/3/971, 76–77. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 726–727.
115 Die aus Tarnungsgründen „Brüsseler Konferenz“ genannte Parteikonferenz fand nach dem VII.
Weltkongress vom 3. bis zum 15. Oktober 1935 in Moskau zunächst als 4. Parteikonferenz statt. Das
Gros der Delegierten kam aus der Emigration, wenige aus der Untergrundarbeit in Deutschland. Das
Hauptreferat hielt der zum Parteivorsitzenden gewählte Wilhelm Pieck. Mit der Konferenz sollte die
definitive Umsetzung der Beschlüsse des VII. Weltkongresses erfolgen (Volksfront, legale Massenar-
beit in den faschistischen Organisationen etc.). Das Manifest war neben der Resolution das zentrale
Abschlussdokument der Konferenz. Die Resolution siehe: Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf
aller Werktätigen für den Sturz der Hitlerdiktatur. Schlußwort des Genossen Pieck. Der neue Weg zum
gemeinsamen Kampf aller Werktätigen zum Sturz der Hitlerdiktatur, Resolution der Brüsseler Partei-
konferenz der KPD im Oktober 1935, Tarnschrift „Pilosophie“, Leipzig, Verlag für Kunst und Wissen-
schaft (1935); vgl. Erwin Lewin/Elke Reuter/Stefan Weber (Hrsg.): Protokoll der „Brüsseler Konferenz“
der KPD 1935, 2 Bde., München, Saur, 1997. Mittlerweile liegt das vollständige Protokoll der „Brüsseler
Konferenz“ vor, siehe: Günther Fuchs, Erwin Lewin, Elke Reuter u.a. (Hrsg.): Brüsseler Konferenz
1935, CD-Rom, Berlin, Dietz, 2000 (Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus. Bd. 2).
Dok. 370: [Moskau, 15.10.1935] 1135
Partei um die Macht kämpfte? Höhere Löhne und niedrigere Preise den Arbeitern,
gesicherte wirtschaftliche Existenz dem Mittelstande, Land und hohe Preise den
Bauern, Freiheit allen Werktätigen. Und was ist jetzt das Resultat der fast dreijährigen
Hitlerdiktatur? Immer klarer wird es: Das werktätige Volk wurde von Hitler betrogen!
Jeder Tag offenbart immer mehr, daß die Lage der werktätigen Massen immer
schlechter wird. Die Löhne sinken, die Preise steigen. Mittelständler und Bauern
geraten in immer tiefere Schuldknechtschaft. Kultur und Wissenschaft werden zer-
stört. Die wirkliche Intelligenz wurde mundtot gemacht oder des Landes vertrieben.
Die Gläubigen werden verfolgt. Mit unerhörtem Terror, Meuchelmorden, Folterungen
wehrloser Gefangener, Bluturteilen schwerster Art und dem Henkerbeil wird gegen
die Opposition vorgegangen, um die Herrschaft des Faschismus zu sichern. Das alles
hat Hitler über unser Volk und Land gebracht.
Schwer muß das werktätige Volk dafür büssen, daß es den Versprechungen
Hitlers Glauben schenkte, daß es ihm folgte und dem Finanzkapital die Aufrichtung
der faschistischen Diktatur ermöglichte. Ernst und groß steht vor dem werktätigen
Volke die Frage, ob das so weitergehen soll oder ob nicht eine Möglichkeit besteht,
sich von dieser Pest der faschistischen Diktatur wieder zu befreien.
Wir Kommunisten kämpfen für die nationale Freiheit des deutschen Volkes! Wir
sind für die restlose Beseitigung des Versailler Diktats und für die freiwillige Wie-
dervereinigung aller durch dieses Diktat auseinandergerissenen Teile des deutschen
Volkes in einem freiheitlichen Deutschland! Das soll nicht durch den Krieg, sondern
auf dem Wege einer friedlichen Verständigung mit den Nachbarvölkern erfolgen.
zeuge bauen läßt, desto mehr muß das werktätige Volk in den Städten hungern, desto
mehr wird der Bauer ruiniert. Die Kapitalsgewinne, die Direktorengehälter, die Tan-
tiemen und Dividenden steigen, aber dem werktätigen Volke werden die Einkünfte
geschmälert, werden die Lebensmittel vorenthalten.
Wir Kommunisten kämpfen gegen den Wirtschaftskurs der Hitlerregierung, der
den Massen Not und Elend bringt.
Wir rufen alle Werktätigen auf, sich mit uns zu vereinigen zum Kampfe
für Teuerungsausgleich und ausreichende Löhne und Gehälter,
für gesteigerte Zufuhr von Lebensmitteln,
für ernste Winterhilfe an alle Hungernden und Frierenden,
für Wiederherstellung der Arbeitslosen- und Sozialversicherung und der Sozial-
renten, für Steuererleichterungen und Brechung der Zinsknechtschaft des Mittel-
standes und der Bauern,
für den freien Verkauf der Arbeitsprodukte der Bauern zu lohnenden Preisen,
für Beseitigung der Zwangswirtschaft,
für Rückzahlung aller Subventionen, die an Großagrarier und Großindustrielle
gezahlt wurden!
gegen Hitler, gegen die faschistische Diktatur, für deren Sturz geschaffen werden. Alle
Menschen und Gruppen, die diesen Kampf wollen, müssen in dieser Front vereinigt
werden.
Oktober 1935
Die Reichsparteikonferenz der Kommunistischen Partei Deutschlands.
Am 4.10.1935 verabschiedete das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion Instruktionen an den Ver-
treter der UdSSR im Völkerbund, Vladimir Potemkin, zur offiziellen sowjetischen Position zum militä-
rischen Überfall des Mussolini-Regimes auf Abessinien. Die Instruktionen liefen auf eine ambivalente
Haltung hinaus, die zwar den Aggressionscharakter anerkennen, eine scharfe Verurteilung Italiens
jedoch vermeiden sollte. Den vom Fünferkomitee des Völkerbunds gemachten Empfehlungen, die die
italienische Seite in Schutz nahmen, sollte widersprochen werden. Auch Wirtschaftssanktionen ge-
gen Italien sollte „nicht widersprochen“ werden. In einem ergänzenden Beschluss wurde jedoch Po-
temkin instruiert, keine eigenen Initiativen zu ergreifen und zuerst England und Frankreich sprechen
zu lassen: „Falls sich während der Beratungen die Notwendigkeit einer Intervention ergeben sollte,
erklären Sie sich mit denen einverstanden, die die Tatsache einer Aggression und Italien als Angreifer
betrachten. Falls ein Auftritt vermieden werden kann, beschränken Sie sich lediglich auf eine Abstim-
mung über die entsprechenden Fragen. Verschärfen Sie in keinem Falle die Auftritte. Sie können Ihr
Bedauern darüber ausdrücken, dass die vom Völkerbund angenommene Definition von Aggression
keine Anwendung findet.“120 Vom Rat der Volkskommissare wurden Mitte Oktober einige Import und
Exportsanktionen sowie finanzielle Maßnahmen gegenüber Italien getroffen.121 Am 15.10.1935 erging
dann ein Direktive an Litvinov in Genf, wonach er u.a. keinen „größeren Eifer“ in Bezug auf die Sank-
tionen gegen Italien entwickeln sollte, als dies andere Staaten tun.122
Dok. 370a
Brief Elena Stasovas an die deutsche Vertretung der Komintern
über chauvinistische Auswüchse bei deutschen Politemigranten
Moskau, 20.10.1935
Vertraulich!
Werte Genossen!
In einem Schreiben an uns macht uns der lettische Genosse I. Avotin,123 Mitglied der
ISH,124 zurzeit in Antwerpen, Mitteilung über Zustände der Emigration, die wir Euch
zur Kenntnisnahme unterbreiten wollen. An die für uns in Frage kommenden Sekti-
onen haben wir zwecks Untersuchung und Abstellung bereits geschrieben. In dem
Schreiben des Gen. A[vatin] wird allgemein mitgeteilt, dass die deutschen Politemi-
granten gegenüber solchen anderer Länder in der Frage der Unterstützung, Verpfle-
gung, etc. bevorzugt werden.
So teilt uns der Genosse A[vatin] mit: Als A[vatin] persönlich in Kopenhagen ins
Gefängnis kam, wurde für A[vatin] die dort übliche Gefängnisunterstützung von 2.-
Kr. durch einen verantwortlichen Mitarbeiter der lettischen Partei bei der RHDän.125
gefordert. Der verantwortliche Mitarbeiter der RHDän., ein deutscher Genosse, lehnte
die Gefängnisunterstützung für A[vatin] ab, weil A[vatin] kein Deutscher sei. Auf Ver-
langen des Vertreters der KPL [KP Lettlands] wurde er dann gezwungen, die Gefange-
nenunterstützung zu bewilligen.
Weiter schreibt er aus Antwerpen: „Unter den deutsche[n] Politemigranten
herrscht ein schrecklicher Chauvinismus. Das Auslachen der hiesigen Partei ist eine
123 Avotin: Es handelt sich um Michael Avatin (Ps. Ernst Lambert, Schmitt, 1902–1943), einen nach
der Beschreibung von Jan Valtin in seiner Komintern-Saga zu allem fähigen „Triggerman“ der Komin-
tern. Avatin gehörte u.a. der im Umkreis der Internationale der See- und Hafenarbeiter in Antwerpen
und Rotterdam agierenden kommunistischen Sabotagegruppe um Ernst Wollweber an. Siehe: Ernst
von Waldenfels: Der Spion, der aus Deutschland kam: das geheime Leben des Seemanns Richard
Krebs, Berlin, Aufbau-Verlag, 2002, S. 51ff. u.a.; Hans Dankaart, Rudi van Doorslaer: De activitei-
ten van een communistische sabotagegroep in Antwerpen en Rotterdam. De organisatie Wollweber
(1933–1939), http://www.marxists.org/nederlands/thema/wereldoorlog2/1979sabotage.htm; Valtin:
Tagebuch der Hölle, S. 383ff.
124 ISH ist die englische Abkürzung für die International Seamen and Harbour Workers, Internatio-
nale der Seeleute und Hafenarbeiter. Siehe Dok. 360.
125 RHDän: Die Rote Hilfe Dänemarks.
Dok. 371: [Moskau], Dezember 1935 1141
tägliche Erscheinung. Wenn auch die hiesige Partei nicht so stark ist wie die deut-
sche, soll dies doch kein Thema zur Diskussion sein. Wozu solche Sachen führen, will
ich durch ein krasses Beispiel, das ich (Avotin) in Rotterdam gehört habe, bezeugen:
Ein holländischer Genosse sagte: ‚Die deutschen Emigranten sind Faschisten ohne
Hitler.‘“
Zum Schluss schreibt Avotin: „Meine Meinung ist, dass an der Spitze aller RH-
Organisationen Deutsche mitarbeiten, welche die Gelder der Organisationen auf
kosten der Politemigranten anderer Nationalitäten sparen. Solch eine Lage ist wei-
terhin unerträglich. Die Beteiligten schweigen nicht, und wenn die Massen solche
Schweinereien erfahren, wenden sie sich von der Solidarität ab.“126
Der Genosse A[vatin] teilt uns mit, dass er seine Mitteilungen jederzeit durch
Zeugen bestätigen lassen kann. Ausserdem ist uns der Gen. A[vatin] persönlich
bekannt, er ist ein ruhiger, zuverlässiger und sachlicher Parteiarbeiter.
Mit Komm-Gruss!
[sign:] H. Stassowa [d.i. E. D. Stasova]
Am 5.11.1935 legte die Kommission für Bestellung in Deutschland des Politbüros des ZK der KP der
Sowjetunion die Prioritäten der Bestellungen für die nächsten zwei Jahre fest: Chemie, Rüstungsin-
dustrie, Optik, Werkbänke, Transportausrüstung.127
Dok. 371
Denkschrift des Komintern MP-Spezialisten Tuure Lehén zur
Unterstützung der militärischen Arbeit der Komintern-Sektionen
[Moskau], Dezember 1935
Die Unterstützung, die in den vergangenen Jahren für die Militärarbeit der Sektionen
durch die Organe des EKKI geleistet wurde, bewegte sich (abgesehen von allgemei-
nen Fragen des Kampfes gegen den Krieg) hauptsächlich in den folgenden Bahnen:
126 Die Antwerpener Sektion der Internationalen Roten Hilfe machte auch zwei Jahre später durch
interne Probleme die Komintern auf sich aufmerksam. So schrieb der deutsche Emigrant „Ernst“
am 11.8.1937 via gewöhnlicher Briefpost an Georgi Dimitrov, es ginge nun um „Sein oder Nichtsein“
der Sektion, da die meisten Mitglieder wegen zahlreicher Ausschlüsse erbost seien, und „trotzkisti-
sche Elemente“ daraufhin eine Konkurrenzorganisation ins Leben gerufen hätten (RGASPI, Moskau,
495/73/54, 2–3).
127 APRF, 3/64/663, 149. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin, Dok. 98.
1142 1933–1939
1) ANTIMILITARISTISCHE ARBEIT. Auf dem VIII. Plenum des EKKI128 und vor allem
auf dem VI. Kongress der KI wurden außer den allgemeinen Fragen des Kampfes gegen
den Krieg in speziellen Kommissionen die Fragen der Organisation und der Methoden
der Arbeit in der Armee gründlich besprochen, und es wurden zu diesen Fragen spe-
zielle Resolutionen verabschiedet, die nicht veröffentlicht wurden, mit denen sich
jedoch die Vertreter aller Parteien bekanntmachten. Die Instruktion des VI. Kongres-
ses wurde in der Militärkommission des Kongresses (60 Personen) beraten und im
Präsidium des EKKI bestätigt.129 […]
Als eine der konkretesten Formen der Unterstützung muss die Arbeit der speziel-
len Instrukteure der Orgabteilung angesehen werden, die in einer Reihe von Ländern
(Tschechoslowakei, England, Rumänien) diese Aktivität neu aufbauen mussten. In
den folgenden Ländern hielten sich über einen längeren Zeitraum Instrukteure auf:
China (Ducroux und Lekki, die unter den ausländischen Streitkräften in Schang-
hai gearbeitet haben),130 England (Stahlmann [d.i. Arthur Illner] und Mattern [d.i.
Hermann Matern]), Tschechoslowakei (Werner [d.i. Wilhelm Zaisser], Stahlmann [d.i.
Arthur Illner] und Keller [d.i. Wilhelm Kropp]), Rumänien (Mattern [d.i. Hermann
Matern]), Frankreich (Dizka, Ismet [d.i. Mustafa Golubić]), Indochina (Ducroux),
Deutschland (Alfred [d.i. Tuure Lehén]), Österreich (Alfred, Dizka), Holland (Stahl-
mann), Schweden (Grande).
In all diesen Ländern, mit Ausnahme Deutschlands und teilweise Österreichs
und der Tschechoslowakei, waren die Instrukteure ausschließlich mit der Arbeit in
128 Das 8. EKKI-Plenum des EKKI (18.–30. Mai 1927) stand nach den Niederlagen der Komintern in
Großbritannien und China und der Kritik der Linken Opposition im Zeichen der Beschwörung der
Kriegsgefahr gegen die Sowjetunion. Ein Protokoll wure nicht veröffentlicht. Zur Kriegsfrage erschien
eine verkürzte Fassung der Thesen (siehe: Über Krieg und Kriegsgefahr. Thesen beschlossen vom Ple-
num der Exekutive der Kommunistischen Internationale am 29. Mai 1927, Prag, KPTSch, 1927; anson-
sten nur auf Russisch: Protiv vojny. Vopros o vojne na VIII. plenume Ispolkoma Kominterna, Moskva-
Leningrad, Gosizdat, 1928).
129 Die „Instruktion zur Arbeit in der Armee“ wurde von der Militärkommission des VI. Weltkon-
gresses am 28.8.1928 angenommen, als Addendum zur Geheimresolution des Kongresses über die
antiimperialistische Arbeit der kommunistischen Parteien. Darin wurden die Unverzichtbarkeit die-
ser Arbeit betont sowie konkrete organisatorische Maßnahmen für die kommunistischen Parteien
entwickelt (RGASPI, Moskau, 493/1/531, 148–168).
130 Der Franzose Joseph Ducroux (Ps. Dupont, 1904–1980) arbeitete seit ca. 1926 im Auftrag der Kom-
intern und der sowjetischen Militärspionage (GRU) u.a. für die antimilitaristische Kommission der
Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) in China, Indien, Shanghai, Hongkong, Indochina und
Britisch-Malaysia; 1931 wurde er auf dem Weg über China nach Singapur und auf der Suche nach dem
verschollen geglaubten französischen Komintern-Instrukteur Jean Crémet verhaftet, daraufhin auch
das „Ehepaar Noulens“, was die „Noulens-Rüegg-Affäre“ auslöste (Siehe hierzu: Freddy Litten: The
Noulens Affair. In: The China Quarterly (1994), Nr. 138, S. 493–512).
Dok. 371: [Moskau], Dezember 1935 1143
den Armeen und Flotten befasst. In Deutschland hatte die Arbeit des Militärappara-
tes, und folglich auch die unseres Instrukteurs, einen vielseitigeren Charakter (dar-
unter fiel nicht nur die Arbeit in Armee, Polizei, Flotte, den faschistischen Organisa-
tionen, sondern auch die Nachrichtenarbeit in der s[sozial]-d[emokratischen] Partei,
in den Betrieben, und sogar die „Abwehr“, d.h. der Kampf gegen Provokationen). In
der Tschechoslowakei wurde der Versuch unternommen, in militärischen Betrieben
zu arbeiten. […]
131 Zu den MP-Publikationen der KPD und zur Zeitschrift Oktober siehe Dok. 280.
132 Gemeint ist der Rote Frontkämpfer-Bund der KPD (RFB). Siehe Dok. 86 u.a.
133 „Republikanischer Schutzbund“: Österreichische sozialdemokratische, 1923/1924 formierte
paramilitärische Parteischutzorganisation mit bis zu 80.000 Mitgliedern, mit Sitz in Wien, geleitet
von Julius Deutsch und seinen Mitarbeitern Alexander Eifler und Theodor Körner. Später Antipode
der christlich-sozialen „Heimwehren“. Als illegale Organisation Hauptbeteiligter an den Februar-
kämpfen 1934 mit Aufständen in Linz, Wien u.a. gegen die „Heimwehren“. Danach Flucht einiger
hundert ihrer Mitglieder in die Tschechoslowakei und die Sowjetunion, Verbot der Sozialdemokratie
1144 1933–1939
4) SPEZIALSCHULEN. Als fast alleiniges Mittel realer Hilfe, die seit 1932 für die Mili-
tärarbeit der Sektionen von hier aus geleistet werden konnte, blieb die Vorbereitung
von Militärkadern in Spezialschulen übrig. Der spezielle „Apparat“ ging vollständig
im Schulbetrieb auf.
Seit 1932, als alle speziellen Instrukteure abberufen wurden, und vor allem nach
dem Machtantritt der Faschisten in Deutschland, als der Erhalt jeglicher Materialien
zur Militärarbeit der meisten Sektionen vollständig ausblieb, bildet die Vorbereitung
von Militärkadern an Spezialschulen die einzige organisationsmäßige Hilfestellung
an die Sektionen in dieser Frage. Im EKKI-Apparat hat sich nach 1932 niemand mehr
mit den Fragen der Militärarbeit der Sektionen auseinandergesetzt, wenn man von
den vom Genossen Man[uilski] organisierten vereinzelten Beratungen sowie (sehr sel-
tenen) Einzelgesprächen mit Vertretern bestimmter Parteien absieht.
Andererseits muss man annehmen, dass die substantielle organisationsmäßige
Hilfe, die den Sektionen in den vergangenen Jahren erwiesen wurde, eine positive
Rolle gespielt hat. Es kann damit gerechnet werden, dass sich bei der einen oder
anderen Sektion in Zukunft eine opportunistische Unterbewertung der Arbeit in der
Armee zeigen wird, und dass in einem solchen Fall eine energische Intervention
seitens der Leitungsorgane der KI notwendig sein wird. Doch dank des Umstands,
dass die Sektionen bereits praktische Arbeitserfahrungen gesammelt haben und
wissen, wie man arbeiten soll (und genau das soll doch die organisationsmäßige Hilfe
bewirken), kann das Fehlen eines speziellen Organs für die Militärarbeit beim EKKI
zukünftig nicht als Begründung für eine schwache Militärarbeit der Sektionen gelten.
Ungeachtet der Einheitsfront wird die Propaganda der Fragen des bewaffneten
Aufstands auch in Zukunft absolut notwendig sein. Die Sektionen werden dabei nicht
ohne die Hilfe von hier auskommen, da sie nicht in ausreichendem Maße über vorbe-
reitete Schreibkader136 verfügen. Diese Arbeit kann jedoch auch von einzelnen Genos-
sen ohne das Vorhandensein eines speziellen Organs durchgeführt werden.
und Ausrufung des österreichischen Ständestaates. Siehe u.a.: Karl R. Stadler: Opfer verlorener Zeit-
en. Die Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934. Mit einem Vorwort von Bruno Kreisky, Wien,
Europaverlag, 1974; Otto Naderer: Der bewaffnete Aufstand. Der Republikanische Schutzbund der
österreichischen Sozialdemokratie und die militärische Vorbereitung auf den Bürgerkrieg 1923–1934,
Graz, Ares-Verlag, 2004.
134 Voenka: Im politischen Jargon der Bolschewiki die Kampforganisation („voennaja organizacija“)
der bolschewistischen Partei im Vorlauf der Oktoberrevolution.
135 Gemeint ist wohl die aufgelöste T(error)-Gruppe um Felix Neumann. Siehe Dok.109 und 110.
136 Russ. „pisatelʼskie kadry“, wörtlich „Schriftstellerkader“. Gemeint sind Personen, die Broschü-
ren, Artikel u.ä. schrieben.
Dok. 372: [Moskau], 4.12.1935 1145
Dezember 1935.
Am 1.12.1935 traf das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Entscheidung zur sowjetischen
Westgrenze. Alle „besonderen Grenzübergänge“ zu Polen, Weißrussland und der Westukraine sollten
geschlossen werden. Alle von der Internationalen Roten Hilfe und der Komintern ausgegebenen Pas-
sierscheine aus Polen in die UdSSR sollten annulliert werden. Die KPs der Ukraine und Weißrusslands
wurden angewiesen, ohne Einwilligung von Nikolaj Ežov auf Empfehlung der polnischen Sektion der
Komintern keine Personen zu übernehmen.137
Am 3.12.1935 beschloss das russische Politbüro, unter Heranziehung der deutschen Kredite Komplett-
Ausrüstung für 100.000 Tonnen Ammoniak in den Grenzen von 7,5 Millionen Rubel einzukaufen.138
Dok. 372
Memorandum des Außenkommissars Litvinov an Stalin und das
Politbüro, die antisowjetischen Ausfälle des Hitler-Regimes nicht
mehr hinzunehmen
[Moskau], 4.12.1935
Geheim.
Ex. N° 10139
N° 329/L
AN DEN GENERALSEKRETÄR DES ZK DER VKP/b/ Gen. STALIN
Kopien:
Gen. Molotov.
Gen. Vorošilov.
Gen. Kaganovič.
Gen. Ordžonikidze.
ÜBER DEUTSCHLAND.
1. Gen. Suric hat, den ihm in Moskau gegebenen Anweisungen entsprechend, nach
seiner Rückkehr nach Berlin den Kontakt zu politischen Persönlichkeiten Deutsch-
lands verstärkt.140 Er schreibt nun: „Alle meine Kontakte mit den Deutschen haben
lediglich meine bereits früher formierte Überzeugung bestärkt, wonach der von Hitler
gegen uns eingeschlagene Kurs unverändert bleibt und keinerlei ernsthafte Verände-
rungen in der nahen Zukunft zu erwarten sind. Alle meine Gesprächspartner sind sich
darin einig. Hitler hat drei fixe Ideen: die Feindschaft zur UdSSR, die Judenfrage und
den „Anschluss“.141 Die feindliche Haltung gegenüber der UdSSR ergibt sich nicht nur
aus einer ideologischen Einstellung zum Kommunismus, sondern bildet die Grund-
lage seiner taktischen Linie im Bereich der Außenpolitik. Hitler und seine nächste
Umgebung sind der festen Überzeugung, dass das dritte Reich nur mittels eines kon-
sequent durchgehaltenen antisowjetischen Kurses seine Ziele verwirklichen sowie
Freunde und Verbündete gewinnen könne. Auch mein Gespräch mit Neurath hatte
keinen besonders ermutigenden Gehalt. Er gab mir klar zu verstehen, dass unsere
Beziehungen für den kommenden Zeitraum in einem strikt wirtschaftlichen Rahmen
verlaufen müssen. Deutlich unterstrich er die Hoffnungslosigkeit jeglicher Versuche,
in naher Zukunft eine Verbesserung unserer Beziehung zu erreichen.“ Weiter habe
Neurath ausgeführt, dass auch kulturelle Kontakte zwischen unseren Ländern ange-
sichts der derzeitigen Stimmungen kaum umsetzbar seien.
Die gleichen Eindrücke habe laut Mitteilung von Gen. Suric auch der deutsche
Botschafter in Moskau, Schulenburg, der sich jetzt in Berlin befindet, gewonnen.
Ich habe die ursprüngliche Meldung der TASS über die Erklärung von Schacht
gegenüber dem Direktor der französischen Bank, Tannery,142 über die Absicht
Deutschlands, sich mit Polen die Sowjetukraine aufzuteilen, mit einer gewissen
Skepsis wahrgenommen. Die Gen. Potemkin und Rozenberg habe ich damit beauf-
tragt, diese Meldung zu überprüfen.143 Die Ergebnisse dieser Überprüfung lassen kei-
nerlei Zweifel an der Authentizität dieser Aussage Schachts zu. Dies bedeutet, dass
Schacht, den Gen. Kandellaki [Kandelaki]144 uns erst neulich als unterstützenswert
140 Seit Juni 1934 war Jakov Zacharovič Suric (1882–1952) sowjetischer Geschäftsträger in Deutsch-
land. Zusammen mit Litvinov setzte sich der mit dem US-Botschafter Edward William Dodd freund-
schaftlich verbundene „Polpred“ angesichts Stalins zumindest abwartender Haltung erfolglos für
einen stärkeren Oppositionskurs der Sowjetunion gegen das Hitlerregime ein. Siehe: Aleksandr Si-
zonenko: V spiske lučšich. Etapy diplomatičeskoj karʼery Jakova Surica. In: Nezavisimaja Gazeta, 1.
März 2003. http://www.ng.ru/style/2001–03–01/16_listed.html.
141 Im Russischen steht das deutsche „anšljuss“. Gemeint ist der Anschluss Österreichs an das Deut-
sche Reich, der erst 1938 erfolgen sollte.
142 Jean Tannery (1878–1939) war Direktor der Banque de France.
143 Vladimir Potemkin (1874–1946) war von 1934 bis 1937 Sowjetbotschafter in Frankreich, Marsel’
Rozenberg (1896–1938) war von 1934 bis 1936 stellvertretender Generalsekretär des Völkerbunds,
dann sowjetischer Botschafter in Spanien während des Bürgerkriegs, wurde jedoch bereits 1937 nach
Moskau zurückgerufen und umgebracht.
144 Es handelt sich um David Kandelaki (1895–1938, in Moskau erschossen), der im persönlichen
Auftrag Stalins von 1934 bis 1937 in Verhandlungen mit den höchsten Stellen des Deutschen Reiches
eine Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen erreichen sollte. Die anfangs
auch von Göring positiv kommentierten Verhandlungen wurden erst 1937 angesichts der Intervention
Dok. 372: [Moskau], 4.12.1935 1147
2. Die antisowjetische Kampagne der Hitlerleute wird nicht nur nicht schwächer,
sondern nimmt wahrhaft epische Ausmaße an. Selbst wenn man die wütenden anti-
sowjetischen Auftritte Hitlers in diplomatischen Gesprächen und die Verbreitung
antisowjetischer Schmähschriften und Broschüren – einschließlich der abscheuli-
chen Rede Goebbelsʼ in Nürnberg145 – durch die deutschen Botschaften und Konsu-
late im Ausland außer Acht lässt, betreiben fast alle Presseorgane Deutschlands tag-
täglich eine systematische antisowjetische Kampagne. Weder die Komintern noch die
Komparteien und der sowjetische Staat werden verschont, die Führer unserer Partei
und die Mitglieder der Regierung werden mit persönlichen Beleidigungen überzogen.
Ungeachtet dessen nimmt die sowjetische Presse gegenüber Deutschland eine gera-
in Spanien u.a. nicht mehr fortgesetzt, da „die deutsche Seite gegenwärtig keinen Unterschied zwi-
schen der Sowjetregierung und der Komintern erkennen kann“ (Göring). Nichtsdestoweniger zeigte
die „Kandelaki-Mission“ Stalins festen Willen, zu einer Übereinkunft mit Hitler zu kommen, während
Letzterer zu diesem Zeitpunkt noch das große Ausmaß des Entgegenkommens, zu dem die russische
Seite bereit war, unterschätzte. Siehe: Lew Besymenski: Geheimmission in Stalins Auftrag? David
Kandelaki und die sowjetisch-deutschen Beziehungen Mitte der dreißiger Jahre. In: Vierteljahrshefte
für Zeitgeschichte 40, 1992, Nr. 3, S. 339ff.; id.: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin,
2002, S. 62–88, 65–77; Sergej Slutsch: Stalin und Hitler 1933–1941. Kalküle und Fehlkalkulationen des
Kreml. In: Zarusky: Stalin und die Deutschen, S. 66–76.
145 In seiner gegen die Sowjetunion gerichteten Rede auf dem 3. Parteitag der NSDAP in Nürnberg
am 13.09.1935 sagte Goebbels u.a.: „Während der Nationalsozialismus eine neue Fassung und For-
mung der europäischen Kultur in die Wege leitet, ist der Bolschewismus die Kampfansage des von
Juden geführten internationalen Untermenschentums gegen die Kultur an sich. Er ist nicht nur an-
ti-bürgerlich, er ist anti-kulturell. Er bedeutet in der letzten Konsequenz die absolute Vernichtung
aller wirtschaftlichen, sozialen, staatlichen, kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften des
Abendlandes zu Gunsten einer wurzellosen und nomadenhaften internationalen Verschwörerclique,
die im Judentum ihre Repräsentanz gefunden hat.“ (zit. nach dem O-Ton der Wochenschau, in: http://
www.cine-holocaust.de/cgi-bin/gdq?dfw00fbw000841.gd.).
1148 1933–1939
dezu tolstojanische Position der Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen ein. Eine
solche Position unsererseits begünstigt die antisowjetische Kampagne in Deutsch-
land und heizt sie noch mehr an. Ich halte diese Position für falsch und schlage vor,
unserer Presse eine Direktive zur Eröffnung einer systematischen Konterkampagne
gegen den deutschen Faschismus und die Faschisten zu erteilen. Nur auf diesem
Wege lässt sich Deutschland dazu bringen, die antisowjetischen Auftritte zu unterlas-
sen oder zu mäßigen.146
LITVINOV.
10 Ex. AR – VD.
Am 5.12.1935 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss „Über die Verein-
barungen mit Deutschland im Jahre 1936.“ Die Exporte in diesem Jahr sollten einen Umfang von 100
bzw. 90 Millionen Mark haben, wodurch die Verschuldung gegenüber Deutschland getilgt werden
sollte. Für 30 Millionen Mark sollten Waren bestellt werden, darüber hinaus sollten 25 Millionen Mark
in ausländischer Valuta für die Schuldentilgung aufgebracht werden. Im Falle eines Nichtabschlusses
des Vertrags sollten unter anderem die Schulden gegenüber den Deutschen nicht beglichen werden.
Für den Fall eines erfolgreichen Vertragsabschlusses sollten dem Außenhandelskommissariat bereits
Instruktionen über Warenbestellungen und Geldoperationen erteilt werden.147
146 Die dringenden und mehrmaligen Vorschläge Litvinovs für eine offensiverer Ausrichtung und
eine Propagandakampagne gegen die NS-Regierung wurden von Stalin und dem sowjetischen Po-
litbüro abgelehnt. Der russische Journalist und Historiker Besymenskij urteilt, dies hätte Stalins
Schachzüge angesichts der laufenden Annäherungsversuche durchkreuzt (Kandelaki-Mission).
Gegenüber Molotov hatte Stalin die NS-Hetztiraden als (mehr oder weniger verständliche) Antwort
auf die antifaschiste Ausrichtung und die Angriffe des VII. Weltkongress der Komintern auf die NS-
Führung erklärt (siehe Dok. 368, vgl. Besymenski: Stalin und Hitler, S. 78; Chlevnjuk: Stalin, S. 569.
147 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 6–7; APRF, Moskau, 3/64/664, 9–9v. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-
Berlin, III, Dok. 105.
Dok. 373: Moskau?, 5.12.1935 1149
Dok. 373
Denkschrift des Komintern-Referenten Wilhelm Zaisser über
die Antikriegsarbeit und die militärpolitischen Aufgaben der
Kommunistischen Parteien
Moskau?, 5.12.1935
Im Rahmen der in den Beschlüssen des VII. Kongresses gestellten Aufgaben gibt es
auch eine Reihe militärpolitischer Aufgaben. Sie sind in ihrem Wesen durch die „mili-
tärischen Thesen“ des VII. Kongresses konkretisiert, vor allem aber durch die unver-
öffentlichten Teile, die vom Kongress entsprechend der Entwicklung der Bewegung in
den einzelnen Ländern bestätigt und entwickelt werden.149
Diese militärpolitischen Aufgaben beziehen sich auf die politische Arbeit in der
Armee und Polizei, in den Organisationen vormilitärischer Ausbildung und in den
militärischen Verbänden des Gegners. Sie beziehen sich auch auf den bewaffneten
Kampf des Proletariats gegen den Faschismus und den Angriff des Kapitals wie auch
auf besondere vorbereitende Arbeiten für den bewaffneten Aufstand [...].
1. Aufgaben der antimilitärischen Arbeit in der Armee, in der Polizei und den Kampf-
verbänden des Gegners.
2. Aufgaben, die in Verbindung mit der Frage des bewaffneten Kampfes gegen den
Angriff des Kapitals und des Faschismus stehen (proletarische Selbstverteidigung,
Kampfbünde des Proletariats, die Frage der Bewaffnung usw.).
3. Aufgaben der Information über die Kampfverbände und Absichten des Gegners
und dessen spezieller Vorbereitungen auf den Bürgerkrieg usw. (Informationsverbin-
dung).
148 Mit Dank an Dr. Wilfriede Otto, Berlin, für die Besorgung der Übersetzung.
149 Siehe Dok. 366.
1150 1933–1939
Die Abteilung, der bisher die Aufgabe anvertraut war, ist damit so gut wie gar nicht
fertig geworden. Diese Abteilung hat sich im Grunde genommen auf die Organisation
und Führung der Erziehungsarbeit in Moskau beschränkt.150 Es hat keine lebendige
Verbindung mit den Arbeiten der einzelnen Sektionen gegeben. Außer zufälligen
Entsendungen einzelner Instrukteure, die ohne jegliche Führung und Kontrolle tätig
wurden, wurde nichts dafür getan, um die Arbeit der Sektionen auf diesem Gebiet
zu fördern, zu erleichtern oder zu ermöglichen. Es gab keine entsprechende Initia-
tive, um eine fruchtbare Arbeit zu erreichen. Der Bankrott in dieser Beziehung heißt
jedoch nicht, dass die außerordentliche Hilfe und Unterstützung seitens des EKKI
überflüssig gewesen ist. [...]151
Moskau, 5.12.1935
Am 9.12.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, in Deutschland bei der Firma
AFA 15 Akkumulatorbatterien für U-Boote einzukaufen. Die Entscheidung wurde am 18.4.1936 revi-
diert, weil die deutsche Seite eine technische Hilfe verweigert hatte.152
Am 11.12.1935 lehnte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Anfrage des von Italien militä-
risch angegriffenen Abessiniens bezüglich der Bereitstellung von Waffen und Instrukteuren ab. Dies
wurde damit begründet, dass man selbst nicht genug davon habe.153
Am 14.12.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den britisch-französischen
Laval-Hoare-Plan, der eine Aufteilung Abessiniens zur Beendigung des Krieges und wichtige Zuge-
ständnisse an Italien vorsah, abzulehnen. Dabei wurde auf die den Mitgliedern des Völkerbunds
garantierte territoriale Integrität verwiesen. Im Falle einer Annahme durch Abessinien sei der Plan
jedoch auch für den Völkerbund annehmbar.154
150 Abteilung: Seit 1922 wirkte unter verschiedenen Bezeichnungen im Kominternapparat eine für
die MP bzw. illegale Arbeit zuständige Kommission (Varianten: Antikriegskommission des EKKI,
Militärisch-konspirative Kommission des EKKI, Kommission des EKKI zur Durchführung der Kampa-
gne gegen den Krieg, Konspirative Kommission des EKKI, Ständige Militärkommission des EKKI), die
besonders in Richtung Grenzstaaten der Sowjetunion aktiv war. In den 1930er Jahren bestand eine
eigene MP-Abteilung der Komintern nicht mehr (siehe: Adibekov/Šachnazarova: Organizacionnaja
struktura, S. 176, Anm.34; Bayerlein: Das neue Babylon).
151 Im folgenden machte Zaisser weitere konkrete Ausführungen zur Verbesserung der militärpoliti-
schen Arbeit durch eine genauere Untersuchung der Arbeitsbedingungen in den einzelnen Ländern,
den Ausbau der MP-Kurse in der Sowjetunion, die bessere Verarbeitung der Erfahrungen einzelner
Sektionen sowie die Schaffung eines Archivs mit entsprechender Literatur (Flugblätter, Zeitungen,
Broschüren etc.).
152 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 8, 198.
153 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 13.
154 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 14. Publ. In: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 333.
Dok. 373: Moskau?, 5.12.1935 1151
Am 21.12.1935 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den Ingenieur Anatolij Pusto-
valov nach Deutschland zu kommandieren, um die bestellten hydroakustischen Geräte der Firmen
Atlas-Werke und Elektroakustik in Empfang zu nehmen.155
Am 23.12.1935 bestätigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Entwurf eines Telegramms
an den Emissär Stalins in Deutschland, David Kandelaki, zum Abschluss des Wirtschaftsvertrages
mit Deutschen Reich für das Jahr 1936. Darin wurde Kandelaki beauftragt, folgende Bedingungen an
Hjalmar Schacht zu übermitteln: 1. Die Sowjetunion zahlt im kommenden Jahr 60 Mio. Mark in Gold
oder Devisen, womit die Schulden von 1935 abgedeckt wären. 2. Die Deutschen lassen den Verkauf
von sowjetischen Waren im Land ohne jede Beschränkungen zu. 3. Der Erlös aus diesem Verkauf dürfe
von der Sowjetunion zur Tilgung der Zahlungen an Deutschland eingesetzt werden. 4. Sollte diesbe-
züglich eine Nachfrage erfolgen, sei den Deutschen zu bestätigen, dass die Sowjetunion die Exporte
an Deutschland, u.a. von Erdöl, erfüllen werde.156
Am 25.12.1935 erfolgte ein Beschluss über den Import von Druckerpressen aus Deutschland für eine
Druckerei in Kiev.157
155 APRF, Moskau, APRF, 3/64/664, 26. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 108.
156 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 20, 48.
157 APRF, Moskau,3/64/664, 33. Publ. in: Ibid., Dok. 110.
1936
Dok. 374
Brief von Manuilski an Nikolaj Ežov über Maßnahmen gegen das
„Einsickern von Spionen und Diversanten“ aus dem Ausland
[Moskau], 3.1.1936
Ich bitte Sie, mich in den nächsten Tagen in der Frage der Maßnahmen gegen das Ein-
sickern von Spionen und Diversanten in das Gebiet der UdSSR unter dem Deckmantel
von Politemigranten und Mitgliedern der kommunistischen Bruderparteien zu emp-
fangen. Im Vorfeld unseres Treffens würde ich gern diejenigen Fragen abstecken, die
einer Erörterung mit Ihnen unterliegen.
Die sogenannten „grünen Grenzübergänge“ sind nicht nur für die Polen, sondern
auch für die Finnen, Letten, Litauer und Esten zu schließen, da es sich um Parteien
handelt, die eine Vorgeschichte in Sachen Provokation haben3 (die rumänische Partei
hat keine „grünen Grenzübergänge“). Nur in absolut außergewöhnlichen Fällen soll
die „grüne Grenze“ in Anspruch genommen werden dürfen, dazu in jedem einzelnen
Fall mit besonderer Erlaubnis des ZK der VKP(b).
Der Zustrom der Politemigration in die UdSSR ist zu begrenzen, was in den kommu-
nistischen Bruderparteien politisch zu begründen ist mit der Notwendigkeit eines
1 Der Verfasser des Briefs geht nicht aus dem Dokument selbst hervor; sowohl bei Tischler als auch
bei Vatlin und Adibekov wird er als Dmitri Manuilski identifiziert (siehe Tischler: Flucht in die Verfol-
gung, S. 95; Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 728).
2 Als „grüne Grenzen“ wurden illegale Grenzübergänge für Funktionäre der kommunistischen Par-
teien der Nachbarstaaten bezeichnet, die von von sowjetischen Grenztruppen abgesichert wurden.
3 Im Original: „neblagopolučnych po provokacii“.
Dok. 374: [Moskau], 3.1.1936 1153
Kampfes gegen die Massendesertion vom Schlachtfeld der Klassenkämpfe sowie mit
der Gefahr einer Enttarnung der Parteikader. Dafür ist es unerläßlich:
a) die Einreise in die UdSSR allein jenen Personen zu gestatten, die dem ZK der jewei-
ligen KP und der Komintern persönlich bekannt sind, die eine spezielle Erlaubnis
sowie eine Empfehlung vom ZK ihrer Partei für eine Abreise in die UdSSR besitzen,
und nur in dem Falle, wenn diesen Personen harte Repressionen in ihrem eigenen
Land und Verfolgung in anderen kapitalistischen Staaten drohen. Dabei wird unbe-
dingt auch die Möglichkeit einer Einreise für kranke Genossen in Betracht zu ziehen
sein, die eine spezielle Behandlung benötigen und auf Fürsprache des ZK der jeweili-
gen Kompartei hin mit Einverständnis des ZK der VKP(b) unter der Bedingung in die
UdSSR entsandt werden, dass der jeweilige Genosse nach Abschluss der Heilbehand-
lung unverzüglich in sein Land zurückkehrt;
f) die Legitimationskommission bei der MOPR aufzulösen und ihre Funktion hinsicht-
lich der Erlaubniserteilung zur Einreise und zum Aufenthalt in der UdSSR einer Son-
derkommission beim Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR zu übertragen;4
g) den Vertretern der MOPR im Ausland das Recht zu entziehen, Empfehlungen für
eine Einreise in die UdSSR zu geben, wobei dieses Recht einzig dem ZK der jeweiligen
Komparteien vorbehalten bleiben soll;
h) unter den Überläufern, die eigenmächtig über die Grenze gekommen sind, nur die-
jeigen auf dem Territorium der UdSSR zu belassen, für die, neben einer überaus sorg-
4 Die bis 1936 existierende Legitimationskommission bei der Internationalen Roten Hilfe in Moskau
überprüfte gemeinsam mit den Parteivertretungen und der Kaderabteilung des EKKI die „Rechtmä-
ßigkeit“ der Emigration der politischen Flüchtlinge (siehe Hartmann: Traum und Trauma, S. 173;
Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 6).
1154 1933–1939
fältigen Überprüfung durch die Organe des NKVD, eine Erlaubnis und Empfehlung
vom ZK der jeweiligen Kompartei vorliegt.
a) jene Politemigranten, die Mitglied der VKP(b) sind, beim Umtausch der Parteibü-
cher gesondert zu überprüfen;6
5 Überprüfung der Politemigration: Seit ca. Januar 1936 führte die „Moskvin-Kommission“ der Kom-
intern, seit Oktober 1936 die „Kommission zur Überprüfung der Qualifikation“ gemeinsam mit der
Kaderabteilung des EKKI die Kontrolle des gesamten Apparats des EKKI sowie der politischen Emi-
gration durch. Am 25.12.1935 beschloss das EKKI-Sekretariat, die Internationale Kontrollkommission
zu beauftragen, Fälle des Eindringens in die KPdSU aus anderen KPs – „Spione, Diversanten und
klassenfeindliche Elemente“ – zu untersuchen und Vertreter der betreffenden Parteien zur Verant-
wortung zu ziehen. (RGASPI, Moskau, 495/18/1051, 276–277). Am 19.1.1936 berief das EKKI im Zuge
der Kontroll-, Disziplinierungs- und Repressionsmaßnahmen eine „Beratung der Vertreter der Partei-
en und Mitarbeiter der Kaderabteilung“ ein. Referent Manuilski beschuldigte die Apparate von EKKI
und Internationaler Roter Hilfe „einer verbrecherischen Nachlässigkeit“. Durch ihre Strukturen seien
angeblich verdächtige Elemente und „Agenten des Klassenfeindes“ in die VKP(b) eingedrungen. Er
verurteilte scharf die Führer der kommunistischen Parteien, die mit voller Absicht belastete Perso-
nen in die Sowjetunion geschickt hätten. Der politischen Emigration wurde hierbei eine allgemein
ideologisch zersetzende Funktion zugeschrieben, in ihren Reihen wurden „Schattierungen des Trotz-
kismus“ sowie „Überbleibsel rechter Abweichung“ festgestellt. Das EKKI sollte nun „die Reihen von
solchen Elementen säubern“, damit sie „das Strandgut, das uns die Parteien geschickt haben, zurück-
nehmen“ (Leonid Babičenko: Die Moskvin-Kommission. Neue Einzelheiten zur politisch-organisatori-
schen Struktur der Komintern in der Repressionsphase. In: The International Newsletter of Historical
Studies on Comintern, Communism and Stalinism 2 (1994/95), Nr. 5/6, S. 35–39, hier: S. 35f.)
6 Die VKP(b) lancierte Anfang 1936 eine Kampagne, wonach alle Mitgliederausweise von Parteimit-
gliedern überprüft und gegen neue ausgetauscht werden sollten. Die Aktion, die auf die Überprüfung
der Parteimitglieder im Jahr 1935 folgte, dauerte von März bis Ende 1936 (siehe: J. Arch Getty: Origins
of the Great Purges. The Soviet Communist Party Reconsidered, 1933–1938, Cambridge, Cambridge
University Press, 1985, S. 85–90).
Dok. 374: [Moskau], 3.1.1936 1155
IV. Organisierung der politischen und kulturellen Arbeit unter den Politemigranten:
a) die politische Arbeit unter den Politemigranten ist den örtlichen Parteiorganisati-
onen aufzuerlegen und aus der Zuständigkeit der Gewerkschaftsorganisationen und
der Organisationen der MOPR herauszulösen;
b) die Komintern ist zu verpflichten, eine Reihe von Maßnahmen politischen Charakters
zu konzipieren, um die Bewahrung und bolschewistische Erziehung der Emigrantenka-
der der illegalen kommunistischen Bruderparteien in der UdSSR zu gewährleisten;
c) die KUNZ7 (Komm. Universität der Völker des Westens) ist in eine internationale
Schule zur Vorbereitung und Erziehung der Reservekader der kommunistischen Bru-
derparteien umzuwandeln.
Die gegenwärtige Führung der MOPR ist, da sie ihrer Aufgabe nicht gerecht wurde,
abzulösen; ein Sekretariat nach Vorbild der Komintern ist zu schaffen, bestehend aus
einer Reihe ausländischer Genossen und einer ausreichend Autorität besitzenden und
starken Vertretung der VKP(b); letztere soll damit beauftragt werden, gemeinsam mit
den Organen des NKVD und der Kaderabteilung des EKKI eine gründliche Überprü-
fung der gesamten Politemigration vorzunehmen, sowohl derjenigen, die sich schon
auf dem Territorium der UdSSR befindet, als auch derjenigen, die in die UdSSR eintrifft.
7 KUNZ (Abk.), eigentlich KUNMZ, Abk. für russ. Kommunističeskij Universitet Nacionalʼnych
Menʼšinstv Zapada Ju. Marchlevskij – die Kommunistische Universität der Nationalen Minderheiten
des Westens. Gegründet 1921 zur Ausbildung der Parteikader der westlichen Regionen Russlands und
der Wolgadeutschen. Im Stalinismus wurde die Ausbildung auf die Mitglieder der westeuropäischen
kommunistischen Parteien erweitert, unter besonderer Berücksichtigung der Politemigranten. Zum
Lehrprogramm gehörten die Geschichte der Kommunistischen Bewegung, die Massenarbeit sowie
der Parteiaufbau. Die Auflösung der „Westuniversität“ Auflösung erfolgte durch das EKKI bereits am
7./8.Mai 1936. Zu ihren Absolventen gehörten die Skandinavier Furubotn und Hansen genauso wie
die Jugoslawen Tito, Ciliga und Kardelj und KPD-Mitglieder ohne Führungsaufgaben (siehe: Julia Kö-
stenberger: Die Geschichte der „Kommunistischen Universität der nationalen Minderheiten des We-
stens“ (KUNMZ) in Moskau 1921–1936. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2000/2001
(2001), S. 248–303.
1156 1933–1939
Darüber hinaus würde ich gern mit Ihnen über Maßnahmen bezüglich der Über-
prüfung der polnischen Kompartei sprechen, die, wie Ihnen bekannt ist, in den
letzten Jahren den Hauptlieferanten von Spionen und provokatorischen Elementen
in der UdSSR darstellt.8
Am 5.1.1936 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss zur Behandlung ver-
hafteter Ausländer. Das NKVD wurde angehalten, Eingaben des Außenkommissariats für verhaftete
Ausländer mehr Gehör zu schenken. Dabei wurde nahegelegt, in weniger schwerwiegenden Fällen die
Abschiebung der Betreffenden der Überstellung an ein Gericht vorzuziehen. Nur in Fällen „äußerster
Notwendigkeit“ sollte hinter geschlossenen Türen verhandelt und den Angeklagten eine Verteidigung
vorenthalten werden. Dem NKVD wurde vorgeschlagen, Verhaftungen von ausländischen Staatsbür-
gern nur mit einer Genehmigung seitens Molotovs oder des ZK-Sekretariats vorzunehmen.9
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 10.1.1936, Marx-Engels-Dokumente aus
der Sammlung Charles Longuet (29 Briefe von Karl Marx an seine Töchter, Brief von Friedrich Engels
an Paul Lafargue, Manuskript von Engels über Proudhon, Brief von Maurice Lachâtre u.a.) zu erwer-
ben. Dafür wurden 5000 Goldrubel bereitgestellt. Zum Zwecke des Ankaufs sowie der Sondierung des
Erwerbs des gesamten Marx-Engels-Nachlasses, der sich in den Händen des Exilvorstandes der SPD
(SOPADE) befand, wurden am 9.2.1936 Adorackij, Bucharin und Arosev nach Paris abkommandiert
(siehe den Brief Bucharins vom 1.3.1936). Am 19.4.1936 beschloss das Politbüro, 10.000 Francs als
absolutes Maximum für den Kauf anzusetzen.10
Am 15.1.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Direktive an den Vertreter
der UdSSR im Völkerbund zum Krieg Italiens gegen Abessinien. Hierin wurde dieser instruiert, von
sich aus keine Initiative für Erdölsanktionen gegen Italien zu ergreifen. Bei der Beratung dieser Fra-
ge sollte seitens der UdSSR auf die „mangelnde Effektivität“ solcher Sanktionen verwiesen werden.
Sollte jedoch eine Entscheidung für Sanktionen gefällt werden, habe sich die UdSSR ihnen anzu-
schließen.11
8 Die Vorstellung, dass die KP Polens durch „Provokateure“ unterwandert sei, manifestierte sich
innerhalb der Sowjet- und Kominternführung bereits Anfang 1936. Die antipolnische Kampagne in-
nerhalb der Komintern kulminierte in der Auflösung der KP Polens, die vom EKKI auf Drängen Sta-
lins hin im Dezember 1937 beschlossen, jedoch erst im August 1938 formalisiert wurde. In ihrer Folge
wurde fast die gesamte Führungsriege der Partei, die in die Sowjetunion geflohen war, verhaftet und
ermordet, wie auch eine Vielzahl einfacher Parteimitglieder: Von den knapp 4000 polnischen KP-
Emigranten in der UdSSR haben nicht mehr als 100 den Terror überlebt. Siehe: Adibekov/Anderson/
Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 730–731, Fn. 1; Ryszard Nazarewicz: Die Vernichtung der KP
Polens im Lichte der Akten des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, Leipzig, Rosa-
Luxemburg-Stiftung Sachsen, 1998; Bernhard H. Bayerlein: Stalinismus, Opposition und Widerstand
in Polen. Die „Affäre Leon Lipski“. In: Hermann Weber, Ulrich Mählert (Hrsg.): Verbrechen im Namen
der Idee. Terror im Kommunismus, Berlin, Aufbau-Verlag, 2007, S. 228–252.
9 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 24.
10 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/162/19, 27, 45, 138.
11 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 32. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 334.
Dok. 375: Moskau, 28.1.1936 1157
Am gleichen Tag verabschiedete das Politbüro einen Beschluss zur personellen Aufstockung der Bot-
schaften in Berlin, Paris, London, Wien und Prag um jeweils einen Mitarbeiter, der „die dort ankom-
menden Genossen“ betreuen sollte.12
Dok. 375
Bericht von Grete Wilde für die Kaderabteilung des EKKI über die
Fehler beim Befreiungsversuch Thälmanns aus der Haft
Moskau, 28.1.1936
Abschrift
5 Ex.
/M/Esche.
28.I.1936
Streng vertraulich.
Bei der Durchsicht verschiedener Materialien tauchte auf, dass die Angelegenheit
Thälmann Kreisen von Leuten bekannt ist, die absolut damit nichts zu tun hatten,
darüber diskutiert wurde, selbst jetzt noch, was eine Unterredung notwendig
machte.15
12 APRF, Moskau, 3/64/638, 112. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 111.
13 Vgl. Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 330.
14 Auftrag Thälmann: „Verhängnisvollster Kulminationspunkt“ für das Schicksal Ernst Thälmanns
(Ronald Sassning) war der Abbruch seiner vorbereiteten Flucht aus dem NS-Gefängnis Anfang 1935.
Die nachträgliche Begründung für den Abbruch des dritten Befreiungsplans nach 1933 und 1934/35)
sollte augenscheinlich durch das vorstehende Dokument geliefert werden – ein dreiviertel Jahr nach
dem Ereignis. Vor allem sollte jedoch Kippenberger als Leiter des MP-Apparats, der sich gleichzeitig
in Moskau zur gesamten Tätigkeit des Apparates verteidigen musste (siehe Dok. 375a), die Verantwor-
tung für das Scheitern übertragen werden (siehe hierzu: Sassning: Zur NS-Haftzeit, S. 39–42; Kauf-
mann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 327–331; Grundmann: Der Geheim-
apparat, S. 470).
15 In ihrer Spezialuntersuchung des Nachrichtenapparates der KPD beurteilen die Geheimdienstspe-
zialisten Kaufmann/Reisener/Schwips u.a. das vorliegende Dokument folgendermaßen: „Auffällig
ist, daß sich in diesem Bericht eine Behauptung kühn an die andere reiht, konkrete Belege und eine
kausale Beweisführung aber fehlen und sich sogar Widersprüche auftun. So wird zwar aufgezählt,
wer alles von dieser Aktion gewußt haben soll, aber nie ein konkreter Zeitpunkt genannt, wann die
betreffenden Personen davon erfahren haben sollen. Angaben über Informationsquellen sind in dem
Bericht überhaupt nicht enthalten.“ Auch Gestapounterlagen bestätigen, dass der Fluchtplan bis zu
1158 1933–1939
(Wohnungsmann, Provokateur),23 die Frau von Kahle, die die Verbindung zur Rosa
[Thälmann] hatte und den Auftrag hatte, ihr mitzuteilen, dass, wenn jemand mit
der Losung käme, sie ins Ausland zu gehen hat, wobei der Frau von Kahle gesagt
wurde, „dass wahrscheinlich die Rechtsanwälte nicht mehr notwendig hat und da sie
nicht dumm ist, wahrscheinlich verstanden hat (Aussage von Heinrich). Ueber Prag
drang die Mitteilung sogar bis nach Wien, wo Lisa und Robert wussten, dass so etwas
geplant ist. (Ein Kai aus Stettin wusste ebenfalls).
Nachdem die Angelegenheit eingestellt war, erzählte man in Kopenhagen durch
Paul (mitgeteilt von Karscher), dass man schon bis zur Schlüsselübergabe war, drei
Mann den Laden schmeissen sollten, aber da die Versöhnler das gewusst hätten,
wurde die Sache abgebremst und auch kein Geld mehr bewilligt. Der Koch von der
Westuniversität weiss ebenfalls etwas über den Schlüssel. Tatsache ist, dass die
Angelegenheit mit dem Schlüssel etwas zu tun hatte, sodass es keine Gerüchte sind,
sondern einfach die Genossen erzählt haben.
Die Erklärung von Heinrich [d.i. Franz Schubert], warum abgebremst und Ver-
nehmung von Thälmann erklärt er so, dass auch in Hamburg die Versöhnler darüber
gesprochen hätten und Paul mit Versöhnlern wahrscheinlich nicht eine parteimässige
Gruppierung bezw. Genossen, die gegen die politische Stellungnahme des Apparates
und Richter [d.i. Hermann Schubert] waren, meint, sondern eben wahrscheinlich die
Hamburger Versöhnler.
Thälmann wurde im Sommer über seine Befreiung vernommen, des weiteren
wurde Rosa [Thälmann] vernommen, ebenfalls Reinhold (Dünow),24 der einige Aus-
sagen lt. Thälmann-Materialien gemacht hat. Wer weiter vernommen wurde, ist nicht
bekannt.
Die neuesten Mitteilungen über Thälmann besagen (Brief von Claus, Ende Dezem-
ber an Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti]), dass
1) alle Beamten um Thälmann ausgewechselt worden sind,
2) Thälmann Tag und Nacht bewacht wird, und zwar so, dass ein Mann unmittel-
bar vor seiner Zellentür schläft.25
23 Der Gestapo-Informant Erich Braun (Ps. Behrend) wurde trotz mehrfacher Warnungen des MP-
Apparates vom Berliner KPD-Apparat weiterbeschäftigt. Aufgrund seines Verrates wurde die neue
Berliner Landesleitung im März 1935 (Adolf Rembte, Robert Stamm, Max Maddalena) von der Gestapo
verhaftet. Braun dürfte nichts von der Befreiungsaktion gewusst haben, ansonsten wäre die Gesta-
po informiert gewesen (siehe: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S.
334–336).
24 Nachrichtenleiter Hermann Dünow war bereits aufgrund einer Denunziation Kattners am
18.12.1933 verhaftet und 1935 zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden (Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 200).
25 Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, bemerken hierzu: „Die ange-
führten Veränderungen in der Bewachung Thälmanns (...) traten im Dezember 1935 ein, als die Flucht
schon seit neun Monaten abgesagt war.“ (S. 330).
1160 1933–1939
3) Thälmann nicht mehr mit dem Rasiermesser, sondern nur noch mit einem
Apparat rasiert werden darf. (diese Massnahmen sind nicht zu erklären mit der
Uebergabe Thälmanns an die Gestapo,26 sondern bestimmt auf Grund der Kenntnis
der Vorbereitungen, die getroffen worden waren.)
Da kein Auftrag bisher vorliegt, ist der Verantwortliche dafür, der sich in Moskau
befindet, wegen der allgemeinen Untersuchung des Apparates, nicht zur Rechen-
schaft gezogen.27
Ergänzung zu den Leuten, die Bescheid wussten, kann noch ein Architekt gezählt
werden, zu dem Thälmann gebracht werden sollte.
Am 28.1.1936 erlaubte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion es dem Tschekisten Jakov Agra-
nov, der in der Vergangenheit vor allem für die Überwachung der Intelligenzija zuständig und mit
Majakovskij befreundet war, sich mit seiner Frau nach Berlin zu begeben, um sich einer Operation zu
unterziehen. Zu diesem Zweck sollte ihm ein zweimonatiger Urlaub gewährt werden. Anderthalb Jahre
später wurde Agranov verhaftet und erschossen.28
Dok. 375a
Vertraulicher Bericht Hans Kippenbergers („Wolf“) über Struktur
und Tätigkeit des militärpolitischen Apparates der KPD
[Moskau?], 2.2.1936
Typoskript in deutscher Sprache. Archiv des BStU, Berlin, MfS HA IX/11 SV 1/81, Bd. 83, 000176–
000189. Erstveröffentlichung.
26 Nachdem der geplante Prozess gegen ihn definitiv abgesetzt wurde, wurde Thälmann nicht in ein
KZ verbracht. Obwohl die Untersuchungshaft abgegolten war, blieb er unter direkter Kontrolle der
Gestapo in Haft.
27 Aus den Gestapoakten geht hervor, dass der Befreiungsplan vollkommen unbekannt und nicht
nach außen gedrungen war (Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S.
330). Der nun auch für dieses Scheitern verantwortlich Gemachte war MP-Leiter Hans Kippenberger,
der, wie die hier gebrauchte Formulierung suggeriert, zur Rechenschaft gezogen werden sollte. In der
Sowjetunion wurde er zunächst in einen Betrieb gesteckt und im November zusammen mit seiner
Frau verhaftet und daraufhin umgebracht (siehe hierzu Dok. 375a).
28 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 40.
Dok. 375a: [Moskau?], 2.2.1936 1161
Aus dieser Aufgabenstellung ergab sich folgende funktionelle Gliederung der mil.pol.
Abtlg. (des speziellen „Apparats“):
1.) Die antimilitärische Arbeit in der Armee (Heer und Flotte), die RW-Antiarbeit.29
2.) die ähnlich geartete Tätigkeit unter den militarisierten Polizeitruppen – die
Schupo-Antiarbeit.
4.) der organisierte Rachedienst, entweder auf der Grundlage dieser antimilitaristi-
schen Tätigkeit in den genannten Formationen, oder durch spezielle Methoden des
ND31 bei den politisch wichtigsten Positionen der Bourgeoisie (= Spitzenverbindun-
gen), oder drittens als Massenberichterstattung (= Betriebs- und Stimmungsberichte).
5.) Ein besonderer Zweig des ND war die spezielle BB-Arbeit,32 die Betriebsberichte
technischen und wirtschaftlichen Charakters beschaffte.
29 Die sog. Reichswehr-Antiarbeit bildete die eigentliche antimilitaristische Arbeit, die jedoch nur
wenige Monate nach der Machtergreifung zusammenbrach (hierzu weiter unten).
30 Der Jungdeutsche Orden (Jungdo) war ein 1920 von Leutnant Artur Mahraun als Reaktion auf die
Katastrophe des Ersten Weltkrieges gegründeter sozialromantischer nationaler Verband nach dem
Vorbild des Deutschen Ordens. Unter „Hochmeister“ Mahraun zielte der mehrere zehntausend Mit-
glieder umfassende gegen die Nationalsozialisten gerichtete Verband (1933 aufgelöst) auf eine Reform
Deutschlands durch Nachbarschaften als gesellschaftliche Keimzellen sowie ein System der Volksab-
stimmungen im Rahmen eines „Föderativ- und Rätesystems ohne Weltanschauung“ (Mahraun) und
sollte „echte Ritterlichkeit“ pflegen. (siehe: Robert Werner: Der Jungdeutsche Orden im Widerstand
1933–1945, München, Verlag Wolfgang Lohmüller, 1980; Ernst Maste: Die Republik der Nachbarn. Die
Nachbarschaft und der Staatsgedanke Artur Mahrauns, Gießen, Walltor-Verlag, 1957, S. 182 u.a.).
31 ND (Abk.). Die Bezeichnung „Nachrichtendienst“, auch insgesamt als Bezeichnung für den MP-
Apparat gebräuchlich.
32 BB-Arbeit: Das seit 1927 aufgebaute „BB-Ressort“ der KPD erhielt eine Sonderstellung als vom
restlichen Apparat abgeschottetes System der sog. „Betriebsberichterstattung“, unter Einschluss der
Arbeiterkorrespondenten und der Arbeiterfotografen. Unter dem – anfangs künstlich hergestellten –
Druck eines drohenden imperialistischen Krieges ging es um Betriebsspionage aus der Industrie und
den Forschungsinstituten des Dritten Reiches für die Sowjetunion zur Ermittlung von „rüstungstech-
nischen Neuerungen, Art und Umfang der Produktion von Rüstungsgütern“, die Zusammenarbeit von
Industrie und Reichswehr, Rüstungsexporte sowie Vorbereitungen der Betriebe zur Umstellung auf
Rüstungsproduktion. Das Ressort ging 1934 in die Hand des sowjetischen Nachrichtendienstes über.
Reichsleiter des BB-Apparates waren Franz Grybowski (1919–1930), Fritz Burde (Ps. Edgar) (1930–1931)
und Wilhelm Bahnik (Ps. Martin) 1932–1935. Das Ressort umfasste eine größere Anzahl hochqualifi-
zierter Mitarbeiter, darunter Dr. Fritz Houtermans, Dr. Alexander Weißberg, Dr. Walter Caro, Dr. Carl
Brandt, Dr. Felix Bobek, Dr. Wilhelm Richter (siehe hierzu: Grundmann: Der Geheimapparat der KPD,
S. 37ff.; vgl. Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 177ff.).
1162 1933–1939
Dies war in grossen Zügen die Aufgabenstellung zur Zeit des Uebergangs in die Ille-
galität. Dementsprechend war die Funktionsverteilung im Apparat. Es gab einen Ver-
antwortlichen für
die Bearbeitung von Heer und Flotte (Febr. 33 Josef I [d.i. Josef „Beppo“ Römer])34
der militär. Polizei (Willi [d.i. Lucian Iltis])35
der fasch. nationalist. Organisationen (Arthur [d.i. Artur Heimburger]).36
33 RB (Abk.): Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Im „Idealfall“ hatte man sich die Nachrichtenarbeit
so vorzustellen, dass bis hinunter in die Straßenzellen die sog. Gegnerobleute „alle in ihrem Einzugs-
bereich wohnenden Reichswehrsoldaten, Polizeibeamten, Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederun-
gen, der DNVP, des Stahlhelm, der SPD und des Reichsbanners erfassen, Angaben über ihre politische
und berufliche Tätigkeit sowie ihre Persönlichkeit sammeln und sie regelmäßig mit kommunistischer
Literatur beliefern“ (Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 183).
34 Dr. Josef „Beppo“ Römer (Ps. Heller). (1892–1944, im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet). Deut-
scher „Nationalrevolutionär“, Offizier adeliger Herkunft. Führer der Organisation Oberland in Bayern
und Verbindungsmann zur KPD. Stellvertreter des militärischen Leiters beim ZK der KPD für den ge-
planten Aufstand 1923. Herausgeber des Aufbruch für den gleichnamigen Kreis (Weber/Herbst: Deut-
sche Kommunisten, S. 739).
35 Lucian Iltis (Ps. Willi). (1903–1967). Seit 1923 in der KPD, 1930 Absolvent des ersten MP-Kurses
in Moskau. Als EKKI-Instrukteur in Österreich und Frankreich, 1935 französischer Staatsbürger, KPF
und Humanité, 1939 zur französischen Armee; soll dann sowohl für die Résistance, als auch die Ge-
stapo gearbeitet haben. Im November 1946 Verhaftung wg. „Zusammenarbeit mit dem Feind“ (Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 403).
36 Artur Heimburger (1895–1989), 1916 SPD- und 1919-KPD-Mitglied, arbeitete ab 1922 in der Abwehr-
Abteilung des MP-Apparats. 1928 aus der Partei ausgeschlossen, ging Heimburger zur KPO. Nach 1945
SED-Mitglied und FDGB-Funktionär (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 356–357).
Dok. 375a: [Moskau?], 2.2.1936 1163
Die mil.pol. Schulungsarbeit war Aufgabe jedes Mitarbeiters der mil.pol. Abteilung.
Dieser Umriss in der Aufgabenstellung galt nicht nur für den zentralen Apparat
sondern auch für die Bezirke mit entsprechenden Modifikationen entsprechend den
bezirklichen Bedingungen. Nur die grossen Bezirke hatten den gleichen Einsatz ver-
antwortlicher Sachbearbeiter unter der Gesamtleitung eines “LK/2“.40 Im Allgemei-
nen war der LK/2 gleichzeitig Sachbearbeiter eines Gebietes (meist Abwehr). In den
Bezirken ohne RW fehlt selbstverständlich der entsprechende Bearbeiter; in den aus-
gesprochen ländlichen Bezirken der spez[ielle] BB-Mann. Einen besonderen Bearbei-
ter für spez. Verbindungen gab es von vornherein nur im zentralen Apparat.
Abgesehen von einigen sehr starken Unterbezirken war die App[arats]-Leitung
der UB. (Unterbezirk-LK) reduziert auf einen Verantwortlichen für die Abw[ehr], die
Antiarbeit und die N[achrichten]ʼArbeit. In den unteren Parteieinheiten stützte sich
die mil[itär].pol[itische]. Arbeit auf den Abw[ehr-].Mann und den „Gegnerobmann“
der Zelle (in wichtigen Betrieben gab es ausser diesen noch einen spez. BB-Mann,
dessen Funktion der Zelle jedoch unbekannt bleiben sollte). Dieses Schema entsprach
dem massenmässigen Charakter der mil.pol. Aufgaben, Stellung und der Struktur des
allgemeinen Parteiaufbaues. [...]
Nach dem Reichstagsbrand wurden die LK-Sitzungen und die Eventualtreffs ein-
gestellt, beibehalten lediglich die Einzelbesprechungen. Für dringlich notwendige
Treffs wurden Victor [d.i. Leo Roth] und Lore [d.i. Änne Kerff] zwischengeschaltet und
37 Franz Feuchtwanger. (1908–1991) arbeitete ab 1928 unter der Leitung von Kippenberger im AM-
Apparat, ab 1932 Leiter des SPD-Ressorts. 1934 nach M-Schulung in Moskau illegale Arbeit in Deutsch-
land, 1936 in Prag als Gegner Ulbrichts aus der KPD ausgeschlossen, schloss er sich der Gruppe „Neu
Beginnen“ an. 1940 emigrierte er nach Mexiko, wo er als Archäologe tätig war und Erinnerungen an
seine Arbeit im MP-Apparat verfasste (siehe: Feuchtwanger: Der Militärpolitische Apparat; Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 241f.).
38 Wilhelm Bahnik (1900–1938) war ab 1925 Leiter der BL Magdeburg und Leiter des AM-Apparats,
1927 verhaftet, 1928 freigelassen, war er weiterhin für den Apparat tätig, ab 1931/32 in Berlin als Leiter
des BB-Ressorts. Ab 1935 in der UdSSR, ging er 1936 nach Spanien, wo er als Offizier der Interbrigaden
im März 1938 fiel (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 81f.; Grundmann: Der Geheimapparat,
S. 49–56).
39 Leo Roth (weiteres Ps. Victor Albert) (1911 Rzeszów – 1937, in Moskau, erschossen). Zunächst
Linkszionist, dann KJVD-Mitglied ab 1926. Ein Jahr später als Korsch-Anhänger ausgeschlossen, dann
Mitglied des linksoppositionellen „Leninbundes“. 1929 Wiederaufnahme in die KJVD, wurde er einer
der fähigsten Leiter des militärpolitischen Apparats (so Herbert Wehner). Siehe Weber/Herbst: Deut-
sche Kommunisten, S. 749f. Zu seinem weiteren Schicksal siehe Dok. 391.
40 LK/2, auch „Leiko“: Leitungskommission.
1164 1933–1939
1.) Unklarheit über das Neue in der Situation und das, was kommen wird.
2.) Die Vorstellung, jetzt keine „künstliche“ Unruhe und Unsicherheit in den Apparat
zu tragen, der trotz zeitweiliger Störungen in den Verbindungen zum Reich und in
einer Reihe von Bezirken im Vergleich zum Parteiapparat sich noch eine gewisse Sta-
bilität bewahrt hatte, auf [die] sich auch die Parteiführung stützen konnte.
3.) Die Befürchtung, unter dem Einfluss des Terrors und des gewaltigen Druckes auf
die Partei zu falschen Massnahmen zu greifen.
4.) Die Absicht, diese Fragen von den erwarteten und bevorstehenden Moskauer Bera-
tungen (XIII. Plenum) abhängig zu machen.43
Dieser vierte Punkt spielt z.B. noch eine entscheidende Rolle in der letzten Bespre-
chung bei Jonny Schehr mit Reinhold [d.i. Hermann Dünow], wo im Prinzip schon
Klarheit über die Dezentralisation bestand, ihre Verwirklichung aber einer gründ-
lichen Beratung in einer ruhigeren Atmosphäre ausserhalb des Landes überlassen
wurde. (Damals rechneten wir noch damit, dass Schehr bald ins Ausland nachkom-
men würde.)44
Auf jeden Fall wurde die Umstellung verschleppt. Die Verhaftungsaffäre Rein-
hold und Genossen Ende Dezember 193345 ist die ursächliche Konsequenz davon. Die
individuellen Fehler dabei boten der Gestapo mehr oder weniger die Handhabe, die
Liquidation der bisherigen Methoden und Struktur der Apparatsarbeit zu vollziehen,
was wir selber – historisch gesehen – hinausgezögert hatten. Eine sehr empfindliche
und verlustreiche Lehre. Die Umstellung in der Aufgabenstellung und den Methoden,
der Uebergang zur Dezentralisation waren jetzt unausweichlich und die Aufgabe des
Jahres 1934.
43 Das XIII. Plenum des EKKI fand erst im Dezember 1933 statt. Siehe hierzu Dok. 344a.
44 John Schehr (1896–1934, in Berlin erschossen) wurde auf Beschluss der Komintern zum Nachfol-
ger Thälmanns als Parteivorsitzender nach dessen Verhaftung bestimmt; es gab jedoch Auseinander-
setzungen mit Ulbricht und Schubert. Im November 1933 sollte er – wie bereits Pieck, Dahlem und
Florin – ins Ausland gehen, wurde jedoch am 13.11.1933 verhaftet. Als Reaktion auf den Parteimord an
Alfred Kattner wurde er gemeinsam mit Eugen Schönhaar, Erich Steinfurth und Rudolf Schwarz auf
einem Transport der Gestapo nach Wannsee erschossen (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, 780;
Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 306f.).
45 Durch den Verrat Alfred Kattners wurde der im Inland verbliebene operative Leiter des MP-Appa-
rats und Stellvertreter Kippenbergers, Hermann Dünow, am 18.12.1933 verhaftet, was einen weiteren
Einbruch in den Apparat hervorrief. Die nationalen Strukturen außerhalb Berlins wurden dabei vor-
erst nicht beeinträchtigt (Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 315f.).
1166 1933–1939
16. März 1935 auf eine andere Basis gestellt werden.46 Wie weit das ausgereift ist, kann
ich nicht mehr beurteilen.
Die Arbeit in der militarisierten Polizei (Schupo) war bedeutend erfolgreicher. Hier
liessen sich vor allem im breiten Umfange legale Methoden mit den konspirativen
verbinden: Ausnutzen gewerkschaftlicher Möglichkeiten (der Polizeibeamtenorgani-
sationen, der Interessengemeinschaften ehemaliger Polizeibeamten), Ausnutzen der
Länderparlamente bei den Etatberatungen und durch besondere Vorstösse, Ausnut-
zen der Polizeibeamtenzeitungen und die Möglichkeit, eigene halblegale Polizeizei-
tungen gewerkschaftlichen Charakters herauszugeben, offiziell gezeichnet von einem
kommunistischen Parlamentarier mit offenen Artikeln bekannter Genossen (was wir
länderweise ausnutzten). Besonders wichtig war, dass die Hauptmasse der Polizei
in den revolutionären Zentren war. Das ermöglichte auch, die Arbeiterschaft selbst
aktiv auf die Polizeiarbeit einzustellen. Ein anschauliches Beispiel ist der Berliner
Verkehrsarbeiterstreik,47 wo auf den Streikversammlungen Resolutionen an die Poli-
zeimannschaften angenommen und Delegationen in die Kasernen geschickt wurden.
Andererseits war es möglich, Polizeibeamtendelegationen unter konspirativen Vor-
sichtsmassnahmen auf Arbeiterversammlungen, besonders gewerkschaftliche, auf-
treten zu lassen.
Die in der Masse vorhandene republikanische Einstellung der Schupo (im Gegen-
satz zu der nationalistisch „unpolitischen“ der RW-Soldaten) gab günstige Anknüp-
fungspunkte. Das äusserte sich besonders deutlich bei dem Staatsstreich gegen die
Preussenregierung im Juli 1932,48 wo die Berliner Schupo dicht vor einer Meuterei
stand und z.B. die Maikäferkaserne49 drei Tage lang abgeriegelt war. (Hier hatte einer
unserer Genossen, der offiziell der gewerkschaftliche Vertrauensmann dieser Kaserne
war, die Panzerwagen fahrtbereit gemacht).
Neben der Ausnutzung der legalen Möglichkeiten wurden selbstverständlich die
konspirativen Methoden analog der RW-Arbeit breit entfaltet, Vertrauensleute und
Zellen geschaffen. Mitte 1932 fand die erste Reichskonferenz unserer Schupogenos-
sen statt, wozu wir aus den wichtigsten Länder resp. Sparten der Schupo jeweils den
besten und erprobtesten herangezogen hatten. [...]
Seit der Hitlerdiktatur rückte die Antiarbeit in der SA in den Vordergrund. Sie hatte
einen wirklichen Massencharakter und wurde eine Aufgabe der Gesamtpartei und
des Jugendverbandes und konnte im Apparat nur ergänzt werden durch die Heraus-
gabe besonderer Materialien und die Organisierung von Oppositionsgruppen. Hier
war faktisch alles im Fluss bis ins Jahr 1935 und musste an Hand der Beschlüsse des
46 Am 16.3.1935 verkündete Hitler unter Bruch des Versailler Vertrages die Wiedereinführung der all-
gemeinen Wehrpflicht im Deutschen Reich.
47 Gemeint ist der BVG-Streik im November 1932. Siehe hierzu Dok. 301.
48 Zum „Preußenschlag“ vom Juli 1932 siehe Dok. 296a.
49 Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Maikäferkaserne befand sich in Berlin-Mitte (Chausseestrasse/
Oranienburger Vorstadt). Der Name ergab sich aus der Hauptexerzierzeit in Potsdam im April/Mai, der
Hauptflugzeit der Maikäfer.
Dok. 375a: [Moskau?], 2.2.1936 1167
50 Stahlhelmopposition: Die Opposition breiter Kreise des als Bund der Frontsoldaten gegründeten
„Stahlhelm“ (siehe Dok. 169) gegen die von Hitler verfügte Integration in die SA im Jahre 1933.
51 SA-Führer Ernst Röhm wurde 1934 von Hitler angeklagt, eine „zweite Revolution“ geplant zu
haben, seine Forderung untermauerte er mit der Notwendigkeit einer radikaleren sozialen Umgestal-
tung.
52 30. Juni: Die von Hitler organisierte Niederschlagung des „Röhm-Putsches“ am 30.6.1934 („Nacht
der langen Messer“), die den Respekt Stalins erheischte (siehe Dok. 146).
53 Aufbruchkreise: Nach dem Übertritt Richard Scheringers von der NSDAP zur KPD 1931 wurden
im Sinne des neuen nationalen Diskurses der KPD („nationale und soziale Befreiung“) sog. Aufbau-
Arbeitskreise (AAK) um die Zeitschrift Aufbruch – Kampfblatt im Sinne des Leutnants a. D. Scheringer
1168 1933–1939
(Nr. 1, Juli 1931) gebildet (Scheringer-Bewegung). Maßgeblich Kippenberger gelang es, Anhänger einer
„konservativen Revolution“ und NS-Dissidenten um die KPD zu gruppieren. Stalin legte grossen Wert
auf die Gewinnung der „Nationalkommunisten“. Die teils aufklärerisch, teils nachrichtendienstlich
wirkenden Arbeitskreise mit Rudolf Rehm, Josef „Beppo“ Römer, Gerhard Giesecke und von KPD-
Seite Ludwig Renn und Alexander Graf Stenbock-Fermor wurden nach Verhaftungen bzw. der Flucht
der Verantwortlichen 1933 aufgelöst. Später entwickelte vor allem Römer bedeutsame Widerstands-
aktivitäten (1939–1941). Zur Klassifizierung und zum umstrittenen Konzept siehe: Armin Mohler: Die
konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch (1950), völlig überarbeitete und
erweiterte 6. Auflage, hrsg. von Karlheinz Weißmann, Graz, Ares, 2005. Zur Aufbruch-Bewegung
neuerdings: Alexander Bischkopf: „Aufbruch“ zwischen den Fronten? Der „Fall Scheringer“ in der
Werbestrategie der KPD um das nationalsozialistische Wähler- und Mitgliederpotential, Phil. Diss.,
Technische Universität Berlin, 2013; weiterhin: Susanne Römer, Hans Coppi (Hrsg.): „Aufbruch“. Do-
kumentation einer Zeitschrift zwischen den Fronten, Koblenz, Verlag Dietmar Fölbach, 2001; Richard
Scheringer: Das große Los. Unter Soldaten, Bauern und Rebellen, Damnitz Verlag, 1979;
Id.: Grüner
Baum auf rotem Grund. Unter Soldaten, Bauern und Rebellen, Jubiläumsausgabe zum 100. Geburts-
tag des Autors, Rostock, BS-Verlag, 2004; Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst
der KPD, S. 231–236; Geschichte der Militärpolitik der KPD. 1918–1945, Berlin (Ost), Militärverlag der
DDR, 1987, S. 226–230.
54 Klaus (Ps.): Pseudonym nicht aufzulösen.
55 Lange (Ps.): Pseudonym nicht aufzulösen.
56 Werner (Ps.): Möglicherweise der „Leiter des Exekutivdienstes der Berliner Politischen Polizei,
Kriminalrat Werner (Bischkopf: „Aufbruch“ zwischen den Fronten, S. 112).
57 Harald (Ps.), d.i. Wilhelm Thews (1910–1943), Ps. Harald Ziehmke, Bruno Lehmann, Friedrich
Wehnert), Tiefbautechniker, 1931 Mitglied im Stahlhelm, 1932 in der SA. Wurde im Sommer 1932 für
den AM-Apparat der KPD gewonnen, ab 1933 Parteimitglied. 1934/35 Kursant der M-Schule der Kom-
intern in Moskau. 1935 Rückkehr nach Deutschland, dort Bauleiter beim Reichsautobahnbau und ille-
gale Arbeit für den Abwehrapparat der KPD. 1936 Flucht nach Spanien, dort Ausbilder bei den Inter
brigaden, anschl. in französischen Internierungslagern, 1941 an der spanisch-französischen Grenze
verhaftet und an Deutschland ausgeliefert. Am 2.11.1942 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt
und am 8.3.1943 hingerichtet (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 932; Buckmiller/Meschkat:
Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Thews, Wilhelm“, dort Hinweis auf „Harald“ als
Pseudonym).
Dok. 375a: [Moskau?], 2.2.1936 1169
Von den für die Aufbruch-Arbeit besonders tätigen Genossen der Leiko wurde Rehm
kurz nach dem Reichstagsbrand verhaftet (Rehm war früher der Gauleiter der NSDAP
für das Berlin-Brandenburger Landgebiet).58 Er gab eine Erklärung ab, sich nicht
mehr politisch zu betätigen und wurde als Schwerkriegsbeschädigter auf Intervention
hoher nationalistischer Stellen bald wieder freigelassen. Dass er Verrat geübt hat, ist
nicht sichtbar geworden. Korn ebenfalls ein ehemaliger Gauleiter der NSDAP,59 hat
noch bis Anfang 1935 allgemein illegale Arbeit geleistet, er war schon Ende 1932 aus
der Leiko ausgeschieden. Renn (Freiherr von Golzenau) ist noch in Haft,60 ebenso Dr.
Beppo-Römer (ehemaliger Freikorpsführer). Römer soll kürzlich abgeurteilt worden
sein.
Die Aufbruchleute Bodo Uhse61 und von Salomon waren von der [Arbeit] fern-
gehalten worden (besonders von Salomon galt als unsicherer Kantonist), sie sind
bei[de] meines Wissens z.Zt. in Paris.62
Zur Zentralen Leiko rechnete ferner von Moubeuge,63 obgleich er in Oberschlesien
ansässig war (ehemaliger Freikorpler, jetzt Gutsbesitzer) er hielt sich jedoch viel in
Berlin auf. Er ist 1933 verhaftet worden und sitzt in W[estdeutschland] heute noch.
Einige weitere Genossen der Berliner Leiko sind am zweckmässigsten bei der
NʼArbeit zu erwähnen.
58 Rudolf Rehm, geb. 1897, verließ kurz nach Strasser aus Ablehnung des parlamentarischen Weges
die NSDAP und wurde Organisationsleiter der Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten
(KGRNS) – „Schwarze Front“ – trat ca. 1930 zur KPD über. Zeitweilig Geschäftsführer des Aufbruch.
Nach kurzzeitiger Verhaftung 1933 wegen seiner schweren Kriegsverletzung entlassen, verlieren sich
seine Spuren (Bischkopf: Aufbruch zwischen den Fronten, S. 244f.).
59 Wilhelm Korn, geb. 1899 in Nagy Kikinda, Ungarn, Leutnant a.D., war bis Mitte 1930 Leiter der NS-
Führerschulen bei der Gauleitung Brandenburg und gezielt für die KPD als Spitzel in der NSDAP tätig.
60 Der Schriftsteller Ludwig Renn, urspr. Baron Arnold Vieth von Golzenau, 1889–1979, 1928 Mitglied
der KPD, veröffentlichte historische Romane („Krieg“, 1928, „Nachkrieg“, 1930). 1932 wegen „literari-
schen Hochverrats“ verhaftet. Nach Verurteilung im Januar 1936 Flucht über die Schweiz nach Spani-
en, im Bürgerkrieg Kommandeur des Thälmann-Bataillons, 1941–1946 Präsident der Bewegung Freies
Deutschland in Mexiko. Starb 1979 hochgeehrt in der DDR (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten,
S. 723f.).
61 Bodo Uhse (1904 Rastatt – 1963 Berlin) – Journalist, Schriftsteller, zunächst Bund Oberland- und
NSDAP-Mitglied, dann über Verbindung mit Bruno von Salomon Hinwendung zur KPD. 1934 Ausbürge-
rung, 1935 in Paris Parteieintritt. Politkommissar im spanischen Bürgerkrieg, dann mit Ludwig Renn in
Mexiko. Nach Rückkehr in der DDR Leiter der kulturpolitischen Zeitschrift Aufbau. Für kurze Zeit noch
Chefredakteur von Sinn und Form (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 951).
62 Es handelt sich um Bruno von Salomon (1900 Stettin – 1952), einen Bruder des Freikorpskämpfers
Ernst von Salomon. Weltkriegsoffizier, dann Journalist in der Landvolkbewegung, Hinwendung zur
KPD. Emigration mit Uhse, nach Münzenberg von Ulbricht in der Pariser Volksfront gegen ihn einge-
setzt (siehe Dok. 429). Nach dem spanischen Bürgerkrieg in der KP Frankreichs und der Résistance.
63 Ein „von Moubeuge“ war den Recherchen von Alexander Bischkopf zufolge sowohl in der Leiko
als auch im Aufbruch-Kreis tätig, seine Identität wird jedoch nicht konkretisiert (Bischkopf: „Auf-
bruch“ zwischen den Fronten, S. 108).
1170 1933–1939
Im Reich war die Leiko weniger Stützpunkt der spez. C-Arbeit und der N-Arbeit,
als mehr Rückhalt der Aufbruchbewegung. Genannt sei besonders die Münchner
Gruppe, wo der Bruder von Beppo Römer (Redakteur der Münchener Neuesten Nach-
richten64) eine gute Arbeit entwickelte bis lange in die Illegalität, bis er verhaftet und
in W. vor kurzem abgeurteilt wurde. In Westdeutschland war die Düsseldorfer Leiko
die aktivste, wo u.a. Ebeling mit seinem Kreis (ehemaliger Freikorpsoffizier)65 bis ins
Jahr 1935 weiter arbeitete.
Der Nachrichtenapparat:
Vorerst ergab sich eine selbstverständliche NʼArbeit aus der Anti-Arbeit, sowohl bei
der Armee, wie bei der Polizei und bei den faschistischen Formationen. Die Verbin-
dungen dorthin waren zur regelmässigen Berichterstattung angehalten auch über
solche Dinge, die nicht für die Antiarbeit ausgewertet werden konnten, sondern nur
informatorischen Charakter trugen. In einer Reihe von Fällen wurden bestimmte Ver-
trauensleute von jeder aktiven Antiarbeit von vornherein ferngehalten, wenn ihre
nachrichtenmässigen Möglichkeiten wertvoller erschienen. Die Sachbearbeiter für
die RW und Polizeiarbeit wie für die C-Arbeit hatten also auch sehr wichtige nach-
richtenmässige Funktionen, die sie zum Teil losgelöst von der Antiarbeit weiterentwi-
ckeln mussten, um zur Herstellung von Spitzenverbindungen zu kommen.
Hierbei wurde im einzelnen entschieden, wie weit solche Gesichtspunkte oder
gewonnene Verbindungen in den Händen des Sachbearbeiters verblieben oder der
speziellen Bearbeitung überwiesen wurden (im zentralen Massstabe also von Viktor
[d.i. Leo Roth] oder evtl. auch an BB).
Das wichtigste Mittel zur Herstellung von Nachrichtenverbindungen war die
Partei selber. Konsequent wurden die unteren Parteieinheiten und die Massenorga-
nisationen „durchgehechelt“, um Ansatzpunkte ins gegnerische Lager aufzuspüren.
[...]
Im Laufe der Jahre hatte sich für diese Aufgabe ein Kreis von Genossen herausge-
bildet, der auf diesem Zweig der Apparatsarbeit unter Ausnutzung besonders günsti-
ger Voraussetzungen erfolgreich eingesetzt werden konnte. [...]
Zum Teil wurden diese Genossen, soweit sie erprobt waren und ihre Arbeit auf
verwandtem Boden lag, miteinander verbunden und ein kombiniertes System ihrer
64 Münchner Neueste Nachrichten: In den 1930er Jahren größte Tageszeitung Süddeutschlands. Katho-
lisch-monarchistische, jedoch antinationalsozialistische Orientierung. 1933–1935 „gleichgeschaltet“.
65 Es handelt sich um Dr. Hans Ebeling (1897–1968). Er war nationalrevolutionärer Publizist, führen-
der Kopf der bündischen Jugendbewegung der Weimarer Republik. Herausgeber (mit Ernst Jünger)
der Zeitschrift Die Kommenden; später koordinierte er den Widerstand politischer Jugendgruppen von
den Niederlanden aus. Nach 1945 in Westdeutschland u.a. Leiter der Zeitschrift Die Brücke und der
Grauen Blätter (mit Arno Klönne). Siehe u.a.: Fritz Schmidt: Ein anderes Deutschland. Widerstand
und Verfolgung durch NS-Organe. Der Kreis um Hans Ebeling und Theo Hespers im Exil, Vorwort von
Arno Klönne, Edermünde, Achims Verlag, 2005.
Dok. 375a: [Moskau?], 2.2.1936 1171
Arbeit entwickelt. Das ergab sich in erster Linie bei den Genossen der Leiko und zwar
ausser denen, die schon genannt wurden, für:
Gen. Moritz: (H.H. von Renke [d.i. Ranke]66), bis 1933 verantwortlicher Angestellter
der Lufthansa, mit wichtigen gesellschaftlichen, diplomatischen und politischen Ver-
bindungen, Mitte 1933 emigriert und nach Paris beordert zur Entwicklung der dorti-
gen N-Arbeit.
Engel69 ehemaliger Fliegeroffizier. Bei Beginn der Illegalität verhaftet und seitdem
nichts wieder gehört.
66 Handschriftlich verbessert in: „Ranke“. Hans Hubert von Ranke (1902–1978). Sohn des königli-
chen Offiziers Heinrich von Ranke; Freund von Beppo Römer, nach Ende des 1. Weltkriegs Freikorps;
hoher Lufthansa-Angestellter, von Kippenberger für den AM-Apparat der KPD gewonnen. Aktivist der
Aufbruch-Arbeitskreise, später Freiwilliger in Spanien, dort zunächst nachrichtendienstlich tätig,
dann Bruch mit der KPD, Internationale Brigaden. 1938 Bruch mit der KPD. In Frankreich 1939 Ver-
pflichtung als Arbeitssoldat, Anschluss an die gaullistische Résistance. Nach 1945 Journalist u.a. beim
Bayrischen Rundfunk (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 700f.; siehe auch seine unveröffent-
lichten Erinnerungen („Zwischen Traum und Wirklichkeit“) im Institut für Zeitgeschichte, München).
67 Höchstwahrscheinlich der als Spitzel für die KPD innerhalb der NSDAP eingesetzte Rudolf Engel
(1903–1993). Nach mehreren kurzen Verhaftungen (u.a. Einsatz im Saargebiet) in Moskau nachrich-
tendienstliche Ausbildung, dann Spanien, und nachfolgend Internierung in Frankreich. Flucht und
Mitglied der Résistance und der Bewegung „Freies Deutschland“ für den Westen (CALPO). 1950 Direk-
tor der Akademie der Künste der DDR und hochgeehrter Außenpolitiker. Siehe: Rudolf Engel: Feinde
und Freunde, Berlin (-Ost), 1984.
68 Die militärpolitische Schule der Komintern in Moskau stellte im Zusammenhang mit den Säube-
rungen und der erzwungenen Auflösung des Kippenberger-Apparats bereits im Mai 1935 ihre Kurse
ein (Herlemann: Kaderschulen, S. 226).
69 Engel: Identität nicht zu eruieren.
70 Günther (Dr. Heimfoth): D.i. Dr. Karl-Günter Heimsoth, geb. 1899, deutscher Arzt und Wissenschaft-
ler, mit Arbeiten zur Homosexualität; Freikorpsaktivist mit Beziehungen zu Römer und Ernst Röhm.
1172 1933–1939
Erika,73 Tochter eines der grössten Mecklenburger Gutsbesitzers, mit wichtigen ver-
wandtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen. Bis Ende 1935 noch in Funk-
tion.
Grete75 Tochter eines höheren RW-Offiziers, mit wichtigen gesellschaftlichen und ver-
wandtschaftlichen Beziehungen, bis 1935 noch in Funktion.
Diese Genossen waren gewissermassen der Stamm der N-Arbeit, auf die sich darüber
hinaus eine Reihe weiterer Arbeiten stützte, die sich aus den Bedingungen der Illega-
lität ergaben. [...]
Neben der spez. N-Arbeit war die massenmässige Berichterstattung aus den
Betrieben usw. eine Aufgabe sämtlicher Genossen des Apparates einschliesslich der
speziellen Arbeiter.
In der speziellen BB-Arbeit ist neben den Aufgaben für die konkrete Hilfe zum
Aufbau der Sowjet-Industrie, wie sie besonders gross in den letzten Jahren der Legali-
tät gestellt worden war (natürlich nicht mit dieser speziellen Motivierung), vor allem
die Berichterstattung über alle Vorgänge auf dem Gebiete der Rüstungsindustrie domi-
nierend geworden. Ihre Ergebnisse wurden sowohl in den illegalen Materialien der
Partei im Lande zum Kampf gegen den Chauvinismus und die faschistische Kriegspo-
litik ausgenutzt, wie unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze, besonders
der ausländischen Presse zur Steigerung der Antihitlerkampagne zugeführt.
Aehnlich wurden die vorhandenen und neugeschaffenen diplomatischen und
ausländischen Presse-Verbindungen zur Entfachung und Verstärkung der Antiterror-
kampagne ausgenutzt, sowie zu speziellen Hilfeleistungen bei wichtigen Anlässen,
wie dem R[eichs]T[ags]-Brandprozess, grossen Verhaftungen, den drohenden Hin-
Die Abwehr-Tätigkeit:
Wir unterscheiden offensive und defensive Aufgaben in der Abwehrarbeit und erteil-
ten dementsprechend etwas die Verantwortlichkeit unter den Genossen der Abw[ehr]-
Abtlg. Die praktischen Anforderungen aus der lebendigen Parteiarbeit drängten diese
Doppelseitigkeit in der Aufgabenstellung immer wieder zurück zugunsten der offen-
siven Seite, sodass wir zeitweilig überlegten, die offensive Abwehr mehr oder weniger
zu verselbstständigen.
In gewissem Umfange war das in den letzten 1–2 Jahren vor der Illegalität gesche-
hen durch den Einsatz besonderer Mitarbeiter für offensive Zwecke und die Uebertra-
gung bestimmter offensiver Abw-Aufträge an die entsprechenden Abteilungen der LK.
So zu den N[achrichten]-Stellen der RW (der sogenannten Abwehrstelle des RWM)78
an den speziellen N[achrichten]D[ienst]. Zum Nachrichtenapparat des Stahlhelm (der
als N-Stelle Dankwarth mit dem ND der DNVP) und dem sogenannten „Wirtschafts-
dienst,“ das war der ND der Schwerindustrie, beide finanziert durch Hugenberg, liiert
war und als internes Informationsmaterial den O-D79 herausgab) an das Arbeitsge-
biet D80 der LK. Ebenso zu dem Nachrichtenapparat der SS an C.81 Als diese beiden
Einrichtungen Ende 1933, Anfang 1934 in der Gestapo aufgingen, wurde diese Ver-
pflichtung für C praktisch hinfällig. Der ND der SPD usw. war praktisch schon in den
ersten Wochen der faschistischen Diktatur liquidiert durch die Emigration seiner lei-
tenden Leute (Giesling, Eisner), resp. Verhaftung (Mendt). Der N- und Spitzelapparat
der Unternehmerorganisation neben dem vorgenannten Wirtschaftsdienst) wurde
ständig von Abw. selbst bearbeitet, da es sich hier um eine reine Spitzelorganisation
ausschliesslich gegen die Betriebszellen der Partei und die betrieblichen RGO-Grup-
pen handelte. Mit der faschistischen Diktatur verschwanden diese (zentralen) Spit-
zelorganisationen, ihre Aufgaben wurden teils von der NSBO,82 teils von dem ND der
SS und dem der Gestapo übernommen.
Der wichtigste Teil der offensiven Abw-Arbeit jedoch, der gegen die Polit-Polizei,
resp. die Gestapo, blieb Aufgabe der Abw. Sie wurde bis zuletzt nur sehr ungenü-
gend gekösr [gelöst], sowohl zentral wie bezirklich. Die relativ wenigen vorhandenen
Verbindungen gingen in den ersten Monaten der Illegalität noch fast ganz verloren
als Folge der radikalen Umstellung in der Polit[ischen] Polizei durch die Faschisten,
ganz besonders in Preussen. Die Veröffentlichung einiger interner Materialien durch
unsere Presse im Sommer 1933 und im [in der] Dezemberaffäre83 (aus der Pol.Polizei,
resp. Gestapo) bei der wahrscheinlich einige weitere die Gestapo betreffende Materi-
alien gefunden worden sind, haben die Säuberungsmassnahmen noch beträchtlich
vermehrt und eine solche Angststimmung erzeugt, dass auch die letzten Reste in Ver-
bindungen passiv wurden. Das änderte sich erst etwas gegen Ende 1934, Anfang 1935,
wo sich wieder Anzeichen einer Auflockerung bei der Gestapo bemerkbar machten,
sowohl zentral wie bezirklich, und Voraussetzungen zu einer systematischen offen-
siven Abw-Arbeit spürbar wurden. Voraussetzung dazu ist eine planmässige Klein-
arbeit, um sich eine Gesamtübersicht über den Personalbestand der Gestapo zu
verschaffen, und sei diese vorläufig noch so lückenhaft. Dazu müssen mit Hilfe der
Verhafteten und der Entlassungen die Namen der Beamten gesammelt wurden, Beur-
teilungen, Mitteilungen über den Verlauf der Vernehmungen (aus der Fragestellung
lassen sich Schlüsse auf die Ressortverteilung ziehen), Adressen der Hilfsbeamten,
der Aufwartefrauen, der Stenotypistinnen, usw. [...]
Ohne eine gewisse Entwicklung der offensiven Abwehr wird auch ihr defensiver
Teil sich nie ganz bewältigen lassen. Bis jetzt hatte dieser Zweig der Abwehr, allge-
mein gesprochen die eigentliche Abwehr, zu sehr die Funktion einer Feuerwehr, ja
selbst das unbedingt, da sie oft genug zum Löschen zu spät kommt und nur noch eine
Branduntersuchung zu machen vermag. Die Verhütung solcher Brände der Verhaf-
tungsaktionen der Gestapo, bezw. deren Eindämmung ist in erster Linie eine Frage
der richtigen Konspiration in der revolutionären Arbeit. Deshalb lag ein Hauptteil der
Abwehraufgaben darin, möglichst konkrete Feststellungen über die Ursachen und
Zusammenhänge der Verhaftungsaktionen zu machen, die praktischen Lehren daraus
zu ziehen und sie der revolutionären Arbeiterschaft bekannt zu machen. Deshalb die
Belieferung der illegalen Betriebs- und Wohngebietszeitungen, des illegalen Presse-
dienstes und der illegalen Literatur mit solchen Lehren und Auswertungen von Ver-
haftungsaffären, wie sie sich als eine wichtige Aufgabe der Abwehr 1934/35 immer
stärker entwickelte. Deshalb auch die Herausgabe besonderer Abwehrmaterialien an
84 LL (Abk.). Es handelt sich um die Verhaftung der Berliner als letzter noch agierender KPD-Landes-
leitung. Siehe hierzu Dok. 361 und 375.
85 Antiarbeit: Die operative Tätigkeit innerhalb der Armee, der Polizei oder den NS-Formationen.
86 N-Arbeit: Nachrichtenarbeit.
1176 1933–1939
im Zeitzer Gebiet.87 Auf die Entwicklung in gleicher Richtung in der Abw-Arbeit vom
Ausland her war schon hingewiesen worden.
Ohne Zweifel hat die Gestapo in Verbindung mit dem faschistischen Terror gegen
die Arbeiterklasse die raffiniertesten und „gewagtesten“ Methoden der Spitzelei
gegen die Kommunisten entwickelt. In früheren Berichten habe ich beschrieben, mit
welcher Systematik und wie sie dabei „auf Sicht“ arbeitet. Natürlich bleibt sie von der
allgemeinen Entwicklung im Lande nicht unberührt und ist oft gezwungen, gegen
den eigenen Willen auf die konsequente Durchführung ihrer taktischen Manöver und
Absichten zu verzichten. Durch eine erfolgreiche Abwehr wird sie in noch viel grösse-
rem Ausmasse in ihren Plänen gestört werden.
Dazu wird nach wie vor die genaue und zähe Untersuchung einzelner Verhaf-
tungsaktionen gehören. Die gründlich angelegte Enquete über die Vorgänge in der RH
im Jahre 193488 hat sehr vieles und reichhaltiges Material über die neuen Methoden
der Gestapo geliefert, zweifellos manche Tips für andere Fälle gegeben. Das bedinge
eine konsequente Weiterbearbeitung aller solcher „Standardfälle“, nicht nur, um
deren Verbleib zu entlarven, Spitzel zu beobachten, sondern um den evtl. Hintergrün-
den und vorläufig unsicht[bar] gebliebenen möglichen grösseren Zusammenhängen
nachzuspüren.
Reinhold [d.i. Hermann Dünow] hatte im Herbst 1933 den Fehler gemacht, die
einzelnen Verhaftungen dieser Zeit einzeln zu betrachten und sich einzeln zu erklä-
ren. Er hat diesen Fehler zu spät eingesehen. Man muss, wenn man die Gestapo ernst
nimmt, auch die grossen Verhaftungsaffären überprüfen. Das war im wesentlichen
die Aufgabe des zentralen Abw[ehr].Apparates und der Anlass, warum ich mich mit
einigen Abw-Fällen grösseren Formates sehr intensiv selbst beschäftigte. Die Abwehr-
arbeit ist in sehr ausgeprägter Form eine kontinuierliche Arbeit. Durch die innerpar-
teilichen Vorgänge schon bald nach Beginn der Illegalität waren die Bedingungen
dazu sehr ungünstig, und manchmal objektiv sehr vorteilhaft für die Machinationen
der Gestapo.
Den innerpolitischen Vorgängen ständig die grösste Aufmerksamkeit zuwenden,
ist deshalb von jeher eine sehr entscheidende Aufgabe der Abwehr gewesen. Die
87 Schröderaffäre: „1935 gelang es der Gestapo, einen Spion (Luise Schröder) in den Widerstand ein-
zuschleusen. Durch sie gelang es der Gestapo im März 1935 bei einer Versammlung in der ‚Gaststätte
Reiche‘ ca. 250 Widerstandskämpfer zu verhaften. [...] Zu diesen Massenverhaftungen kam es nicht
nur durch das Einschleusen von Spionen, sondern auch durch willkürliche Verhaftungen und darauf-
folgende Folterungen, wodurch viele Widerstandskämpfer verraten wurden. Im April 1936 begannen
die Prozesse gegen die führenden Widerstandskämpfer in Magdeburg und Naumburg. Die Prozesse
gingen mit hohen Zuchthausstrafen für die Widerstandskämpfer aus. Nach dem Verbüßen der Strafen
wurden viele in KZs verschleppt oder zur Strafdivision 999 eingezogen.“ (Jens Bittner, Thomas Bräuer,
Sven Döring u.a.: Der antifaschistische Widerstandskampf im Kreis Zeitz, http://www.fys-online.de/
wissen/ge/widerstand.htm).
88 Vorgänge in der RH: Wahrscheinlich ging es um die Affäre der Roten Hilfe in Kopenhagen, wo sich
eine Gruppe von Politemigranten heftig gegen die Emigrationsleitung und die Leitung der Roten Hilfe
auflehnte. Siehe ausführlicher Dok. 401.
Dok. 375a: [Moskau?], 2.2.1936 1177
89 Die letzte Parteikonferenz fand im Oktober 1932 statt. Sie hatte beschlossen, den systematischen
„Einbruch in die Reihen der nationalsozialistischen Anhängerschaft zu vollziehen“ (Bischkopf: „Auf-
bruch“ zwischen den Fronten, S. 71).
90 Zur wehrpolitischen Zeitschrift Oktober siehe ausführlich Dok. 280.
91 KJVI: Vermutlich Schreibfehler für KJV (Kommunistischer Jugendverband) oder KJVD.
1178 1933–1939
Dok. 376
Bericht und Vorschläge des Kominternfunktionärs Grigorij
Smoljanskij zur Situation der illegalen Parteikader in Deutschland
Moskau, 3.2.1936
1500/4/MK.
Orig.3.II-36.
„6“
Geheim
An Gen. MANUILSKI.
Anbei lege ich die Vorschläge zu den Kaderfragen in sechs unserer Länder vor /Öster-
reich, Deutschland, Ungarn, Tschechoslowakei, Schweiz, Holland/. Diese Vorschläge
sind aufgeteilt nach drei Gruppen: 1/ Fragen der Kaderpolitik der Parteien im Land; 2/
Fragen der Schulen hier; 3/ Fragen der Emigration. [...]
/G. Smoljanskij/
b) Deutschland.
Die Brüsseler Konferenz hat einen Beschluss über den Übergang zu „legalen“ Lei-
tungen gefasst /in dem Sinne, dass in den illegalen Leitungen legale Leute vorhan-
den sein sollen/ sowie über die Notwendigkeit für unsere Aktivisten, legale Posten in
92 „Noch Anfang 1934 wurde die Anweisung der Pariser KPD-Leitung übermittelt, nicht die Reorga-
nisationsbestrebungen der KPD im Lande voranzubringen, sondern das Schwergewicht der Tätigkeit
auf die Organisation von sogenannten Oktoberzirkeln in den Betrieben zu legen, in denen theoretisch
und praktisch die Aufstandsvorbereitungen vorangetrieben werden sollten. Träger des bewaffneten
Aufstandes für ein Sowjetdeutschland sollte der Rote Frontkämpferbund sein. Alle Einwände wur-
den mit der Begründung von der Unanfechtbarkeit von Kominternbeschlüssen zurückgewiesen.“
(Ronald Sassning: Thälmann, Dünow, Wehner, Mewis. Bilder mit Radierungen. Vom Kippenberger-
Apparat zum IM-System Mielkes. In: Utopie kreativ (2000), H. 115/116 http://www.rosalux.de/publi-
cation/14107/thaelmann-duenow-wehner-mewis-bilder-mit-radierungen-vom-kippenberger-apparat-
zum-im-system-mi.html).
93 Handschriftlicher Eintrag: „Kipp“.
Dok. 376: Moskau, 3.2.1936 1179
faschistischen Organisationen zu erreichen, um auf diese Art und Weise in die faschis-
tischen Massenorganisationen einzudringen und sich gleichzeitig vor den Schlägen
der Gestapo zu schützen. Wir verfügen allerdings über zu spärliches Material, um
beurteilen zu können, wie dieser Beschluss der Brüsseler Konferenz umgesetzt wird.
Es gibt jedoch keinen Zweifel daran /dies können wir aufgrund einer Reihe indirek-
ter Hinweise behaupten/, dass ein solcher Umbau einen ernsthaften internen Kampf
gegen sich hinter „radikaler“ Phrase versteckendes Sektierertum und Passivität not-
wendig machen wird. Dazu muss man sagen, dass die Brüsseler Konferenz noch nicht
die Frage nach einem neuen, aus den Tiefen der faschistischen Organisationen selbst
hervorgehenden, Kadertyp aufgeworfen hatte. Es ging um unsere Genossen, die
selbst die Besetzung von Posten anstreben sollen. Selbstverständlich erlauben es die
Bedingungen in Deutschland nicht, die legalen Möglichkeiten auch nur annähernd in
der Weise auszunutzen wie in Österreich, wo der Faschismus viel schwächer ist und
der überwiegende Teil der Basis faschistischer Massenorganisationen aus ehemali-
gen Sozialdemokraten besteht. Jedoch gibt es auch hier ohne Zweifel eine Reihe von
Möglichkeiten, die von der Partei bis jetzt nicht oder nur sehr wenig genutzt wurden,
nicht zuletzt aufgrund der sektiererischen Ausrichtung unserer Genossen vor Ort
angesichts dieser Aufgaben. Aus unserer Sicht sind die Aufgaben die folgenden:
1. Angesichts der besonderen Schwierigkeiten der Tätigkeit in den faschistischen
Massenorganisationen in Deutschland besteht die Aufgabe unserer dort /wie auch
unmittelbar in den Fabriken/ arbeitenden Genossen darin, indem man die kleinsten
Nöte der Arbeiter hervorhebt und sie nicht durch das Risiko abschreckt /da die Angst
vor dem Terror noch sehr groß ist/, die aktivsten von ihnen zu fördern, insbeson-
dere diejenigen zahlreichen Elemente aus der Zahl der sich unter dem Einfluss des
Faschismus befindlichen Arbeiter, die aufrichtig an den Faschismus geglaubt haben
und allmählich von seiner Politik enttäuscht werden.
2. Die Heranziehung eines Teils der aus den Konzentrationslagern und Gefängnis-
sen befreiten Kommunisten zur Kommandierung in die faschistischen Massenorgani-
sationen, und zwar derjenigen, die am wenigsten einer polizeilichen Überwachung
wegen ihrer früheren Aktivität unterliegen.
3. Die Verwirklichung der legalen Leitungen, die von der Brüsseler Konferenz vor-
gegeben wurden /[und] die es in einer Reihe von Orten schon gibt/,94 verlangt eine
noch größere Dezentralisierung der Bezirke, damit der legal arbeitende Funktionär,
der sich im Betrieb befindet, in der Lage ist, sie zu überschauen und zu leiten. Es ist
danach zu streben, dass die Mitglieder der leitenden Zellen und Bezirke über eine
Mitgliedschaft in den entscheidenden faschistischen Massenorganisationen verfügen.
94 Legale Leitungen: Solche Leitungen gab es nicht; spätestens seit 1936/1937 gab es keine repräsen-
tativen Organe in den Betrieben, noch Anlaufpunkte in den NS-Massenorganisationen mehr. Die im
Widerstand arbeitende KPD-Instrukteurin Ida („Ike“) Marschner-Stojentin urteilte, dass „die Partei
in Deutschland faktisch tot war“ (Sandvoß: Die „andere“ Reichshauptstadt, S. 446). Die Brüsseler
Parteikonferenz siehe Dok. 370).
1180 1933–1939
4. Ausgehend von der Existenz einer ganzer Reihe offener /„loser“/ sozialdemo-
kratischer Organisationen, die unter dem Deckmantel diverser Vereine existieren, die
häufig Ausgangspunkt und Gewerkschaftsorganisation des illegalen ADGB sind, zu
dem unsere Genossen bis jetzt immer noch keinen Zutritt gefunden haben, ist danach
zu streben, schnellstens in all diese Vereine einzutreten, wo sich Sozialdemokraten
befinden, wobei ein persönlicher Kontakt zu einzelnen sozialdemokratischen Arbei-
tern und Funktionären hergestellt werden soll. Dies darf in keiner Weise den Charak-
ter einer Infiltrierung der Organisationen annehmen, was die sozialdemokratischen
Arbeiter und Funktionäre nur abstoßen kann – aus Angst, dass wir sie von innen
sprengen wollen –, sondern den Charakter des politischen Kontaktes auf der Grund-
lage des gemeinsamen Kampfes gegen den Faschismus. [...]
1. Deutschland
solchen Leuten verunreinigt; es wurde angenommen, dass sie hier politisch unschäd-
lich seien/. [...]
4/ [...] Ein besonderes Augenmerk ist auf die Verbesserung der Methoden der Verschi-
ckung von Leuten ins Land zu richten, diese [sind] dabei materiell besser zu versor-
gen, mit einer kameradschaftlichen Atmosphäre zu umgeben, und jeglicher Bürokra-
tismus [ist] in Bezug auf diese Leute entschieden auszumerzen.
6/ Ein besonderes Problem stellen zum jetzigen Zeitpunkt die ehemaligen Funktio-
näre der RGO dar. Im Zusammenhang mit der Liquidierung der RGO ist das gesamte
Gewerkschaftsaktiv anscheinend einfach zur Parteiarbeit übergegangen, oder ist
abgetreten, und existiert als Gewerkschaftsaktiv faktisch nicht /nicht einmal in
der Form, wie es in den vergangenen zweieinhalb Jahren der faschistischen Dikta-
tur gewesen ist/.98 Da unser Gewerkschaftsaktiv vorher nicht in den reformistischen
Gewerkschaften gearbeitet hat und keine Verbindungen zu ehemaligen ADGB-Funk-
tionären hat, ist es zur Passivität verurteilt. Mir scheint zweckmäßig: 1/ all unsere
Gewerkschaftsaktivisten in die legalen faschistischen Organisationen [hineingehen]
95 Der 1933 verbotenen Roten Hilfe Deutschlands gelang es nicht, eine zentrale Struktur aufrechtzu-
halten; eine materielle Unterstützung der Gefangenen und ihrer Angehörigen gelang nur sporadisch
(siehe Kurt Schilde: „Schafft Rote Hilfe!“ Die kommunistische „Wohlfahrtsorganisation“ Rote Hilfe
Deutschlands. In: Hering/Schilde: Die Rote Hilfe, S. 31–56, hier S. 52–53). Komintern-Generalsekretär
Dimitrov kritisierte später in scharfer Form die mangelnde bzw. ausgebliebenen Hilfe an die Gefange-
nen und die Familien durch das Politbüro (siehe Dok. 467).
96 Stamm: Möglicherweise Robert Stamm (1903–19937, in Berlin-Plötzensee hingerichtet), der im
März 1935 zur Umsetzung der neuen Linie von Moskau nach Berlin abkommandiert wurde, Ende des
Monats jedoch mit Max Maddalena und Adolf Rembte verhaftet, und vor seiner Hinrichtung grausam
gefoltert wurde (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 890f.).
97 Rentas: Möglicherweise Adolf Rembte (1902–1937, in Berlin-Plötzensee hingerichtet), der am
2.3.1935 von Moskau und Prag aus in Berlin ankam, um den neuen Kurs umzusetzen und eine neue
Berliner Landesleitung vorzubereiten, jedoch am 27.3.1935 zusammen mit Käthe Lübeck, Stamm und
Maddalena verhaftet und am 4.11.1937 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde (Ibid., S. 720).
98 Die Auflösung der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) erfolgte erst durch die hier
abgedruckte Resolution der Komintern über die „sektiererischen Fehler“ der KPD vom 19.1.1935 (siehe
Dok. 359).
1182 1933–1939
zu lassen, insbesondere in den Betrieben, und sie dabei zu verpflichten, mit allen
Mitteln zu versuchen, in Betrieben und anderen Organen, wo es um die wirtschaft-
lichen Interessen der Arbeit geht, zu Vertrauenspersonen zu werden; 2/ sie zu ver-
pflichten, in alle legalen Organisationen hineinzugehen, unter deren Deckung sich
die alten Gewerkschaftsfunktionäre des ADGB versammeln, und enge persönliche
Beziehungen zu einzelnen dieser Funktionäre zu knüpfen; 3/ über die Profintern den
besten Teil unseres RGO-Aktivs zu sammeln, um sie eine Zeit lang gemäß unserer
neuen Gewerkschaftlinie zu schulen.
Dok. 376a
Vertraulicher Bericht Kippenbergers über den Parteiselbstschutz
(PSS) der KPD
[Moskau], 8.2.1936
Typoskript in deutscher Sprache. Archiv des BStU, Berlin, MfS HA IX/11 SV 1/81, Bd. 83, 000245–
000246. Auszugsweise veröffentlicht in: Otto: Erich Mielke, S. 510–511.
Esch/5 Ex.
10.2.36.
Streng vertraulich.
Parteiselbstschutz (PSS)
Anfang 1931 teilte mir Leo Flieg mit, dass das PB beschlossen hat, in den wichtigsten
Bezirken zur Bildung eines PSS99 überzugehen. Die aktive Abwehr des anwachsen-
den faschistischen Terrors war die Aufgabe der Massenselbstschutz-Bewegung. Der
PSS sollte gebildet werden als besonderer Schutz des Parteieigentums und der füh-
renden Funktionäre. Dazu war vorgeschlagen worden, einige kleine Gruppen [von]
handfesten Genossen zusammenzustellen, sie im Gebrauch von Handwaffen auszu-
bilden und dementsprechend auszurüsten. Auswahl der Gruppen und Einsatz war
ausschliesslich Angelegenheit des Pol.-Sekretärs des Bezirks.
Da der PSS bei der BL/Berlin auch zur evtl. Verfügung durch das ZK stehen sollte,
bekam ich den Auftrag, mich hier um die Bildung der Gruppen mit zu bekümmern.
solcher wilden Aktionen wie die Feuerüberfälle auf SA-Kneipen, die teilweise von
PSS-Gruppen unterstützt wurden, wodurch sich deren Ansprüche noch steigerten.
Das verschärfte die Differenzen so, dass Anfang 1932 der Berliner PSS als einheit-
liche Organisation liquidiert werden musste. An seiner Stelle wurden die Unterbe-
zirkssekretäre beauftragt, zum Schutz des unterbezirklichen Parteieigentums einige
Genossen unterbezirksweise zusammenzuhalten.
Für das KL-Haus wurde eine ständige Hauswache eingerichtet, die dem Org-Leiter
der Berliner BL unterstand. Als Organisatoren setzte Albert Kuntz wieder Klause und
Quand ein (obgleich ihm die voraufgegangengen Differenzen gut bekannt waren).104
Diese Differenzen hatten mittlerweile fraktionellen Charakter angenommen und
zwar auf der Basis der Neumann-Affäre.105 Genosse Thälmann betrachtete auch die
Bülowplatz-Affäre und die Häufung der undisziplinierten Feuerüberfälle (z.B. Gnei-
senaustr., Röntgenthal, Richardstr.)106 als fraktionistische Machenschaften, teils mit
Ausnützung des RFB oder des KJV, und wie sich im Falle Klause/Quand zeigte, auch
des PSS.
Wir versuchten, gegen die Neumannʼsche Klause/Quand-Klique ein gewisses
Gegengewicht zu schaffen und stützten uns dabei auf die Genossen Anton107 (M-Schü-
fälle neben anderen terroristisch unterlegten Aktionen als „fraktionistische Machenschaften“ der
„Neumannʼschen Klause/Quand-Klique“ dargestellt, die von Parteiführer Thälmann zurückgewiesen
worden seien. Doch während die Verantwortlichen des MP-Apparats im Terror liquidiert wurden, blie-
ben Mielke und Ziemer in Moskau unbehelligt (vgl. u.a.: Klaus Bästlein: Der Fall Mielke. Die Ermitt-
lungen gegen den Minister für Staatssicherheit der DDR, Baden-Baden, Nomos, 2002 (Schriftenreihe
Recht und Justiz der DDR. 3); Otto: Erich Mielke, S. 48ff. u.a.).
104 Albert Kuntz (1896–1945, im Konzentrationslager Dora ermordet), hauptamtlicher KPD-Funktio-
när seit 1923, war ab 1930 Orgleiter des Bezirks Berlin-Brandenburg. 1934 war er Mitangeklagter im
Prozess um den Polizistenmord, wobei er freigesprochen, jedoch weiter in „Schutzhaft“ festgehalten
wurde. 1945 wurde er im Lager Dora bei Nordhausen ermordet, nachdem er eine illegale Gruppe zur
Sabotage an den dort produzierten V-Waffen organisiert hatte (siehe Weber/Herbst: Deutsche Kom-
munisten, S. 515–516).
105 Zur Verdrängung Heinz Neumanns siehe u.a. seinen Brief vom, Dok. 344a.
106 In der Gneisenaustr. 17 in Berlin-Kreuzberg befand sich das SA-Sturmlokal „Zur Hochburg“, auf
das am 9.9.1931 KPD-Anhänger einen Schusswaffen-Überfall verübten, wobei ein SA-Mann starb. In
der Bahnhofsstr. im Röntgental (Norden von Berlin) befand sich das SA-Sturmlokal „Edelweiß“, wo
am 17.2.1931 ein unbekannter Mann bei einem Beschuss des Lokals getötet wurde. In der Richardstra-
ße in Berlin-Neukölln stand das SA-Sturmlokal „Richardsburg“, auf das KPD-Anhänger am 15.10.1931
einen Pistolenüberfall verübten, bei dem der Wirt getötet und mehrere SA-Männer verletzt wurden.
Zu den Vorfällen siehe: Bernhard Sauer: Goebbels’ „Rabauken“ Zur Geschichte der SA in Berlin-Bran-
denburg. In: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin (2006), S. 107–164,
hier S. 132, 159. Zum breiteren Kontext gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen der SA und
linken paramilitärischen Verbänden in Berlin und der entsprechenden Gerichtsprozesse in der Wei-
marer Republik siehe: Johannes Fülberth: „...wird mit Brachialgewalt durchgefochten“. Bewaffnete
Konflikte mit Todesfolge vor Gericht, Berlin 1929 bis 1932/1933, Köln, PapyRossa, 2011.
107 Anton (Ps.). Die Identität lässt sich nicht zweifelsfrei eruieren. Möglicherweise handelt es sich
um Anton Blatschek (geb. 1901), der unter dem Pseudonym „Wilhelm Bethge“ in den Jahren 1934–1935
Dok. 376a: [Moskau], 8.2.1936 1185
ler 1934/35), Martin (dessen voller Name ist mir entfallen)108 und Broede109 (wegen der
Bülowplatzaffäre zum Tode verurteilt und im Gefängnis ermordet).
Klause und Quand bekamen bezahlte technische Funktionen bei der BL (als
Boten), damit sie auf dieser Basis ihre Funktion als Leiter der Hauswache durchfüh-
ren konnten. Die Hauswache erhielt Tagesgelder.
Praktisch wurde der PSS in den Unterbezirken im Laufe des Jahres 1932 die Mate-
rialorganisation für die Waffenbeschaffung und -Verwahrung.
Im Sommer 1933 tauchte der Gedanke auf, einen PSS neu zu bilden.
Von Quand wurde im Sommer 1933 bekannt, dass er Provokateur und Verräter ist.
(Er gehörte übrigens zu der Charlottenburg-Moabiter-Klique ehemaliger Versöhnler
um Larsen /-Blücher/ und Konsorten.)110
Klauses Rolle ist bekannt.111
Ueber die Entwicklung des PSS in den übrigen Bezirken des Reiches (Ruhrgebiet,
Hamburg, Westsachsen) bin ich nicht informiert.
Am 9.2.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, zur Qualitätsverbesserungen der
Banknoten neues Equipment aus Amerika zu bestellen und dabei den deutschen Kredit zu nutzen.112
Schüler am deutschen Sektor der KUNMZ war (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Da-
tenbank).
108 Es handelt sich um Wilhelm Bahnik, den Leiter des „BB-Ressorts“. Siehe Dok. 375a.
109 Es handelt sich um Friedrich Broede, der als KPD-Parteiselbstschutzmitglied zum Tode verurteilt
wurde und kurz vor seiner Hinrichtung am 19.3.1935 Selbstmord beging (siehe: http://www.soziali-
stenfriedhof.de/64.html?&0=).
110 Es handelt sich um Heinrich Blücher (1899–1970), als „Heinrich Larsen“ für den KPD-Nachrich-
tendienst tätig, seit 1940 Hannah Arendts Mann und ein Freund des Komponisten Robert Gilbert. Der
„Versöhnler“ und spätere Philosophie-Professor in den Vereinigten Staaten wurde nach der Emigrati-
on nach Prag und Paris 1936 aus der KPD ausgeschlossen (siehe: Reinhard Müller: Heinrich Blücher.
Hannah Arendts „Wunder-Rabbi“. Revision eines Lebenslaufs. In: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd
Greiner (Hrsg.): Gesellschaft. Gewalt. Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Ham-
burg, Hamburger Edition, 2012, S. 373–400; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 122f.).
111 Michael Klause hatte im „Bülowplatz-Prozess“ im Juni 1934 ausgesagt und die anderen Angeklag-
ten belastet, wurde jedoch trotzdem zum Tode verurteilt. Nachdem sein Anwalt ein Gnadengesuch
gestellt hatte, wurde die Todesstrafe durch Verfügung Hitlers am 2.5.1935 zu lebenslanger Haft umge-
wandelt. In der Hoffnung auf eine vorzeitige Entlassung sandte der vereinsamte und desillusionierte
Klause in den Folgejahren immer wieder Berichte über die Hintergründe des Polizistenmordes an die
Gestapo und die Staatsanwaltschaft. Als er jedoch nicht nur nicht entlassen, sondern im November
1941 von der Gestapo zu neuen Verhören als Auskunftsperson in weiteren Prozessen hinzugezogen
wurde, beging er am 7.2.1942 in seiner Zelle Selbstmord (siehe: Andreas Herbst: Michael Klause. Vom
AM-Apparat der KPD zum „Kronzeugen“ der Gestapo. In: Simone Barck, Ulla Plener (Hrsg.): Verrat.
Die Arbeiterbewegung zwischen Trauma und Trauer, Berlin, Dietz, 2009, S. 187–194).
112 APRF, Moskau, 3/64/664, 42. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 112.
1186 1933–1939
Dok. 376b
Untersuchungsbericht der Kaderabteilung des EKKI (Grete Wilde)
über den militärpolitischen Apparat der KPD und Leiter Hans
Kippenberger
[Moskau, 10.2.1936]
Typoskript in deutscher Sprache. Archiv des BStU, Berlin. Archiv der Zentralstelle MfS HAIX/11 SV
1/81, Bd. 83, [BStU Seitenstempel 00073–00095]. Nach Grundmann im Bundesarchiv überliefert
unter BA-B: ZC 71, A. 5, 1–23. Erstveröffentlichung.
Streng vertraulich.113
----------------------------------------------------------------------------------------------
Die Untersuchung wurde eingeleitet aufgrund der Beschlüsse des PB der KPD und der
Vorschläge zur Untersuchung seitens der Kader-Abteilung. Im Verfolg der Durchfüh-
rung der Beschlüsse der Brüsseler Konferenz wurde die gesamte Leitung des Appara-
tes zwecks Untersuchung durch das PB der KPD hierher kommandiert, an ihre Stelle
traten andere bezw. wird der Apparat umgebaut.117
verdächtigt, als Doppelagent zu arbeiten, in die Sowjetunion beordert, wo er nach langer Haft seit
1937 im Jahre 1942 im Gulag in der Mordwinischen ASSR starb (siehe hierzu: Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 834f.; Mertens: Streng vertraulich. Angelegenheit: Arthur Sand, Lux Zimmer 273,
Archiv BStU, Berlin, Akte Franz Schubert ZC 71 A.2, 000192 – alte Signatur).
117 Hier wird die Art der Maßnahme als Rachefeldzug gegen Abweichler deutlich. „Es ging hier nicht
um Wahrheitsfindung, sondern um die Rechtfertigung eines Parteiausschlusses von Abweichlern und
vorauseilend auch des Todesurteils durch die Justiz der UdSSR.“ (Grundmann: Der Geheimapparat
der KPD, S. 23).
118 Die Hervorhebungen wurden nachträglich ausgeführt.
1188 1933–1939
tet wurden doch die Fragen noch weiter behandelt, wenn auch im eingeschränkten
Masse, was dazu führte, dass die BB-Leute eine Abtrennung ihres Arbeitsgebietes
von dem Parteiressort forcierten.119 Dagegen wehrte sich aber die Leitung des mil.
pol-Apparates bis zum Jahre 1934, wobei die Leitung immer wieder versuchte, sich
in das BB-Ressort wiederum einzumischen, bezw. zu kontrollieren. Der Leiter des
BB-Apparates, der vom mil.pol-Apparat dazu bestimmt war, Martin [d.i. Wilhelm
Bahnik], fühlte sich trotz der Trennung weiterhin Alex [d.i. Hans Kippenberger] fak-
tisch unterstellt und führte auch keine Trennung des BB-Ressorts, besonders in den
unteren Organisationen durch.
Was die Erleichterung des Einbruchs der Gestapo in unsern Apparat durch diese
legalen, demokratischen Arbeitsmethoden des Apparats betrifft, so verweisen wir
nur darauf, dass der Polizeimajor Giesecke120 wiederholt an den Sitzungen des mil.
pol-Apparates teilnahm, fast über alle Dinge informiert war und sofort beim Machtan-
tritt durch Hitler zu den Nationalsozialisten überging, in die Gestapo aufgenommen
wurde und dort das Ressort „Marxismus“ unter sich hatte. [...]
Die Abwehrarbeit war geteilt in die offensive Abwehr und die eigentliche Abwehr-
arbeit. [...]
Der wichtigste Teil der Abwehr wurde niemals ganz bewältigt.
„Bis jetzt hatte dieser Zweig der Abwehr, allgemein gesprochen, die eigentliche
Abwehr zu sehr die Funktion einer Feuerwehr. Selbst das nur bedingt, da sie oft genug
zum Löschen zu spät kam, und nur noch eine Branduntersuchung zu machen ver-
mochte.“ (Bericht von Wolf).
Dieses Zitat charakterisiert genügend den Zustand des Abwehrapparates als den
wichtigsten Teil des Apparates bei Beginn der Illegalität. Die wichtigste Abteilung der
Partei in diesem Apparat, war so gut wie nicht ausgebildet, bezw. beschränkte sich
wiederum hauptsächlich auf Beschaffung von Nachrichten, ohne in entsprechender
Weise die konspirativen Methoden der Partei, den Schutz der Parteikader vorzuberei-
ten.
Dem Apparat nicht unterstellt, sondern direkt in Verbindung mit dem Sekretariat
bezw. dem PB unterstellt, bestanden seit 1931 noch folgende Abteilungen:
Parteiselbstschutz, wobei der Berliner Leiter direkt dem Sekretariat der BL unter-
stellt war, zum ZK Verbindung hatte, allgemein aber für die Auswahl und den Einsatz
der Gruppen die Pol-Sekretäre der Bezirke verantwortlich war.
119 Gegen diese Einschätzung urteilt der Historiker Grundmann: „Trotz aller Pannen hat die den
Mitarbeitern der Geheimapparate vorgeschriebene Konspiration lange Zeit funktioniert, am längsten
im ‚BB-Ressort‘. Insbesondere wurde dort mit Decknamen derart konsequent gearbeitet, daß viele
Decknamen bis heute nicht entschlüsselt werden konnten.“ (Grundmann: Der Geheimapparat der
KPD, S. 14).
120 Gerhard Giesecke (geb. 1899), einer der Leiter der Aufbruch-Arbeitskreise und zeitweise Heraus-
geber des Aufbruch und Mitarbeiter des AM-Apparats, als Wanderredner aktiv. Trat Ende Oktober 1932
als einziger der wichtigeren Aufbruch-Mitarbeiter zur NSDAP über und machte der KPD öffentlich
und per Aussagen in Schutzhaft den Prozess (Bischkopf: „Aufbruch“ zwischen den Fronten, 309ff.).
Dok. 376b: [Moskau, 10.2.1936] 1189
Wenn man die Lehren aus dem Apparat bis zum Beginn der Illegalität zusammenfas-
sen will, kann man feststellen:
1) Trotz der formalen Illegalität des mil.pol. Apparates auch während der Illegalität
war er absolut unkonspirativ aufgebaut[;] er wurde behandelt (hauptsächlich durch
die Leitung des Apparates selbst, da das PB schon damals relativ wenig Einblick in die
Zusammenhänge des Apparates hatte) wie eine übliche Abteilung des ZK mit einigen
121 Quant: D.i. Bernhard Quandt, siehe Dok. 376a. Quandt wurde am 25.3.1933 verhaftet und zu 2,5
Jahren Gefängnis verurteilt, über seinen „Verrat“ ist nichts überliefert (Weber/Herbst: Deutsche Kom-
munisten, S. 692–693).
122 Harry (Ps.): Der Verantwortliche für das Waffenressort in Berlin, s.u.
1190 1933–1939
sekreten Anstrichen, im allgemeinen waren alle Genossen des Apparates über alles,
was sich im Apparat von oben bis unten abspielte informiert, kannten alle Vertrau-
ensleute bis in die unteren Organisationen.
2) Obwohl die Nachrichtenarbeit für die Partei wichtig war und auch heut noch ist,
griff die Arbeit viel zu sehr auf das Gebiet ausgesprochener Spionagetätigkeit über,
was schon nicht mehr den Interessen der Partei in dem Masse entsprach, wie der
Apparat sich damit befasste.
3) Ein grosser Teil der Zeit und Kräfte wurde verschwendet auf die Gewinnung und
Bearbeitung solcher Elemente, die der Partei relativ wenig Nutzen bringen konnten,
(Freikorpsleute usw.), während die massenmässige Erziehung der Partei, die Konzen-
tration auf die Fragen der Abwehr, der Erziehung der Partei zum Kampf gegen die
Provokationen fehlte.
4) Die Abwehr war entsprechend den politischen Beschlüssen der Partei und KI auf
Vorbereitung der Illegalität und verstärkter Anwendung illegaler Arbeitsmethoden,
man könnte sagen, politisch verantwortungslos vernachlässigt. Den Beweis für diese
verantwortungslose Vernachlässigung lieferte der Beginn der Illegalität.
Trotz der personellen Verantwortung Alex [d.i. Hans Kippenberger] für die Siche-
rung des Genossen Thälmann hat der Apparat diese kleine Aufgabe entsprechend
den grossen Aufgaben, die überhaupt vor dem Apparat standen, nicht lösen können,
d.h. in den Fragen des praktischen Schutzes der Parteileitung hat der Apparat voll-
kommen versagt. Die Gründe des Hochgehens des Genossen Thälmann sind bis
heute nicht klar, Tatsache ist, dass der Apparat, besonders was die Sicherheit für
den Genossen Thälmann betraf die Lage unterschätzte, bezw. unmittelbar nach dem
Reichstagsbrand vollkommen den Kopf verlor und dadurch viele wichtige Massnah-
men und Sicherungen verzögerte, bezw. überhaupt nicht durchführte.123
123 Hier wie in anderen Fällen muss der M-Apparat als Sündenbock für die Parteiführung herhalten:
„Als entscheidender Faktor für den Erfolg der Polizei gegen die Führungszentrale der KPD erwiesen
sich die Pannen im Sicherheitssystem der Partei, so dass man von seinem totalen Versagen am 3. März
1933 sprechen muss. Die [...] Schwachstelle war das Nebeneinander und die mangelnde Koordinie-
rung zwischen dem illegalen Verbindungswesen Herbert Wehners [...] und dem Nachrichtendienst
unter Hans Kippenberger [...] So kam es, dass ausgerechnet am 3. März für das Stabsquartier Thäl-
manns kein Objekt- und Personenschutz gegeben war, auch nicht das einfachste Warn- und Flucht-
system.“ (Ronald Sassning: Die Verhaftung Ernst Thälmanns und der „Fall Kattner“. Hintergründe,
Verlauf, Folgen. Teil I und II, Berlin, „Helle Panke“ zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur e.V.,
1998 (Pankower Vorträge. 11/1–2), S. 43ff. Vgl. die Darstellung Kippenbergers, Dok. 375a).
Dok. 376b: [Moskau, 10.2.1936] 1191
len, bezw. sich sofort von allen nur irgendwie verdächtigen Leuten zu reinigen, noch
sich Sympathisierende, aber nicht direkt mit der Partei verbundene Elemente, wie
sie besonders aus NSDAP, Reichswehr, oder Polizeikreisen kamen, fernzuhalten. Der
Apparat blieb auch weiterhin die besondere Abteilung, die zeitweise ohne Verbin-
dung zur Partei zu haben, selbständige und eigene Direktiven herausgab. [...]
Auf jeden Fall wurde eine Umstellung des Apparates verschleppt. Die Verhaf-
tungsaffäre Reinhold [d.i. Hermann Dünow] (Reichsabwehrleiter) und Genossen
Ende Dezember 1933 ist die ursächliche Konsequenz davon. Dabei boten eine Reihe
von Fehlern, die die Genossen des Apparates selbst begangen, der Gestapo mehr oder
weniger die Handhabe, die Liquidation der bisherigen Methoden und Struktur der
Apparatearbeit zu vollziehen. Faktisch hat uns die Gestapo zu einer Änderung des
Aufbaus und der Arbeit des Apparates gezwungen. Deswegen ging man Anfang 1934
an eine Umstellung des Apparates. [...]
Die Auswirkungen der „besonderen Abteilung“ und ihres von der Partei verschie-
denen organisatorischen Aufbaus, unabhängig jetzt von der Besetzung der Funktio-
nen, die in Anbetracht der vergrösserten politischen Aufgaben des Apparates auch
nicht mit anderen Genossen besetzt wurden, der Bestand der Apparateleute blieb
nach der Illegalität ausschliesslich derselbe, führte dazu, dass auch im Inhalt der
Arbeit keine Umstellung zu verzeichnen wart. Soweit besonders die Abwehrarbeit zu
einer Massenarbeit wurde, war es weniger das Verdienst des Apparates, als die stän-
dige Anleitung der Partei durch das Polbüro, durch die konkreten Direktiven, durch
die Parteileitung an sich. [...]
In Verbindung mit diesen Mängeln musste das Sektierertum im Apparat sich ver-
stärken, wodurch die Hauptarbeit des Apparates die in den ersten zwei Jahren stand,
die Organisierung der Abwehr als Massenarbeit, Schutz der Partei vor den Zugriffen
der Gestapo, fast überhaupt nicht durchgeführt wurde, was ein Fehler des gesamten
Apparates ist, da er seine Kräfte auf die verschiedensten Arbeiten verzettelte, ohne
zu wissen, wo der Schwerpunkt der Arbeit jetzt liegen müsse. Andererseits führte es
auch dazu, dass der Apparat sich nach unten hin Rechte anmasst, die Parteileitun-
gen „nicht hineinriechen liess“, da die Parteileitungen sehr oft erneuert wurden, der
Apparat aber in vielen Fällen ein Eigenleben führte in Verbindung mit der Hauptkon-
zentration auf die spezielle Nachrichtenarbeit und auch dort auf die für die Partei
lebensgefährlichste Arbeit, der faktischen Spionage. [...]
die zum 30. Juni führten, vorher der Partei trotz aller Spitzenverbindungen, nicht
melden.124 Die sektiererische Einstellung des Apparates auf diesem Gebiet zeigt sich
z.B. auch darin, dass seitens des Nachrichtendienstes von der Partei getrennte Ver-
bindungen zur SPD bestanden, auch zu einzelnen Gewerkschaftsgruppen, die man
aber der Partei vorenthielt, um sie nachrichtenmässig, noch konkreter gesagt, „BB-
mässig“ auszunützen. Während die Partei versuchte, in den Betrieben an SP-Arbeiter
heranzukommen, um mit ihnen gemeinsam zu kämpfen, hatte der Nachrichtenmann
Verbindungen, die er aber aus „Konkurrenzgründen“ in vielen Fällen nicht weitergab.
Als direkt verantwortungslos muss man bezeichnen, dass der Apparat bei der
strengen Illegalität und bei den Opfern, die aus dem Apparat und ihren Betriebsbericht-
erstattern gebracht wurden. Der Apparat es nicht verstanden hat, dass die Sammlung
von Nachrichten aus Kriegs- und Rüstungsbetrieben, Nachrichten, die auf das Gebiet
der Spionage hinausgehen (Flugzeugbau, Flugplätze, Wehrmacht, chemische Erzeug-
nisse, Kriegsmaterialien usw.) nicht eingestellt wurde, obwohl die Opfer und die damit
verbundenen Gefahren (man kann sagen, fast in jedem Fall Todesstrafe) nicht den für
die Partei gewonnenen Nutzen dieser Nachrichten entsprechen können. [...]
Die Nachrichtenverbindungen überhaupt, soweit sie zu höheren Kreisen gingen,
waren meist aufgebaut auf persönliche Verbindungen bestimmter Familienkreise, die
dann die Mitteilungen mündlich weitergaben ohne dass sie sich direkt der Partei zur
Verfügung stellten. Deswegen ist erklärlich, dass Viktor [d.i. Leo Roth] keine einzige
Verbindung an die neue Leitung, soweit es zentrale Verbindungen waren, übergeben
konnte. Viktor selbst erklärt die Methoden ihrer Arbeit.
1. Wenn irgend möglich, keine Leute ins gegnerische Lager hineinschicken, sondern
Leute aus den Organisationen ideologisch bearbeiten und gewinnen.
2. Die Verbindungen individuell bearbeiten und entwickeln, sie als Genossen und
mitunter auch als Mitarbeiter betrachten, nicht als Agenten.
3. Bei jeder Verbindung die politische Bedeutung seiner unmittelbaren Arbeit entwi-
ckeln, damit sie sich nicht „ausgenützt“ vorkommt.
Diese Methode unterschied sich sehr wesentlich von den Methoden eines sonstigen
Nachrichtenapparates. Die Gefahr bei diesen Methoden war und ist:
1) Die Verbindungen doch etwas persönlich an einen zu binden. Was aber bei Nach-
richtenarbeit sich nie ganz vermeiden lässt.
124 Vorgänge des 30. Juni: Der sog. „Röhm-Putsch“ am 30.6.1934, d.h. die Ermordung Ernst Röhms
und weiterer SA-Funktionäre auf Befehl Hitlers.
Dok. 376b: [Moskau, 10.2.1936] 1193
2) Dass man über das sich gesteckte Ziel hinausschiesst und den Verbindungen zuviel
sagt.
Dass der Nachrichtenapparat auch gut arbeiten konnte, bezw. sich viel mehr auf diese
Arbeit hätte konzentrieren müssen, die unter den gegebenen illegalen Bedingungen
seine Hauptaufgabe hätte sein müssen, zeigt die Arbeit des Apparates beim Reichs-
tagsbrandprozess, wo es ihm nicht bloss gelang, die entsprechenden Materialien zu
beschaffen, sondern sie auch durch richtige Verbindungen auszuwerten.125 Obwohl
auch diese Verbindungen rein persönlich waren, hätte man sie enger an die Partei
heranziehen können. Es handelt sich um die Verbindungen zur Presse sowohl der
deutschen als der ausländischen, besonders der englischen, liberalen Wissenschaft-
lern, die einen bestimmten Einfluß hatten, und solchen Kreisen, die wir also politisch
für uns hätten mobilisieren können. Auch diese Verbindungen wurden bisher nicht
dem deutschen Parteiapparat übergeben.
4. Die Abwehr.
Aufgrund der Untersuchung konnte festgestellt werden dass die schwächste Stelle
im Apparat die Besetzung und die Arbeit des Abwehr-Ressorts war. Schon bei der
Umstellung des gesamten Apparates auf die Illegalität war zu verzeichnen, dass der
Apparat selbst die konspirativen Regeln nicht einhielt. Allein im Jahre 1933 wurden
im gesamten Apparat neun Verhaftungen getrennt durchgeführt, die alle zur Aufrol-
lung des Apparates führen konnten, und wobei man sagen kann, dass alle diese Ver-
haftungen bei richtiger Erziehung der eigenen Funktionäre des Apparates bezw. bei
Einhaltung der konspirativen Regeln hätten vermieden werden können. Die Leitung
der Abwehr im zentralen Masstabe beschränkte sich fast ausschliesslich auf eine
Registratur der vorgekommenen Fälle. [...]
Der Hauptfehler der Abwehr bestand darin, dass schon vor Beginn der Illegalität
keine systematische Überprüfung der Leitungen und Funktionäre auf ihre Sicherheit
durchgeführt wurde, bezw. bei Eintritt in die Illegalität die Leitungen, die nach der
ersten grossen Verhaftungswelle neu eingesetzt wurden, überhaupt nicht mehr über-
prüft wurden. Man reinigte weder den zentralen Apparat, noch den Bezirksapparat,
125 Materialien zum Reichstagsbrand: Zentral wurde der Nachrichtendienst mit der Recherche und
der Beschaffung von Dokumenten zum Nachweis der NS-Urheberschaft des Reichstagsbrandes, zur
Informationsbeschaffung über den am Tatort festgenommen Holländer Marinus van der Lubbe (u.a.
durch Einsätze von Theodor Bottländer), zu den NS-Machenschaften zur Verdunkelung der Infor-
mationen („Oberfohren-Memorandum“) und der Ermordung von „Personen mit vermuteten Insider-
kenntnissen“ über die NS-Beteiligung eingesetzt, wie auch zur Unterstützung des Nachweises der
Unschuld der angeklagten Kommunisten. Auch zur Vorbereitung und Durchführung des Reichs-
tagsbrandprozesses gegen Dimitrov und Genossen leistete der Apparat einen zentralen Beitrag, ihm
wurde die Berichterstattung über Leipzig sowie die zentrale Recherche-, Aufklärungs- und Informati-
onsarbeit überantwortet, u.a. die erfolgreiche Beschaffung (über die Tochter von Generaloberst Kurt
von Hammerstein-Equord, dem Chef der Heeresleitung) und Veröffentlichung der Anklageschriften
(siehe: Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 294–302).
1194 1933–1939
wodurch eine ungeheure Provokationswelle gegen die Partei möglich war, ohne dass
also die Abwehr entsprechende Massnahmen traf.
Besonders verhängnisvoll wirkte der Einbruch des Gestapo in den eigenen
Apparat. Der teilweise bis zur Panik ausartete, zurückzuführen eben darauf, dass die
Abwehr nicht die entsprechenden Massnahmen durchführte, bezw. überhaupt vor-
schlug.
1) Hochgehen fast aller Waffenlager in Berlin durch Quant [d.i. Bernhard Quandt] und
Harry, verantwortlich für das Waffenressort in Berlin, die sich sofort als Provokateure
herausstellten, weil sie zu den Elementen gehören, die auch bei der SA hätten sein
können, sogenannte „Schlägertypen“.
4) Reinhold [d.i. Hermann Dünow] und sein Stellvertreter Joseph [d.i. Karl Langowski]
(selbst Abwehrleiter) wobei Joseph selbst zum Provokateur wurde.126
Durch die verschiedensten Aussagen wurden alle Teile des Apparates gefährdet, der
Apparat hatte, anstelle die Partei anzuleiten und zu überprüfen, [sich] erst mal mit
sich selbst und seiner ständigen Rekonstruierung zu befassen. [...]
Der hauptsächlichste Mangel, worauf das Versagen des Abwehrapparates auch
zurückzuführen ist, ist das Fehlen der sogenannten offensiven Abwehr gewesen.
Es bestanden so gut wie keine Verbindungen zur Polizei, Gestapo, Justiz, um evtl.
irgendwelche Nachrichten zu erhalten. Von allen Apparatleuten wird in ihren Berich-
ten das Fehlen dieser offensiven Abwehr einheitlich konstatiert. Eine Verbesserung
bezw. eine Änderung der Methoden der Abwehrarbeit, eine ernste Diskussion über
die Ursachen der Schwächen des Abwehrapparates gab es während der ganzen
Zeit nicht, besonders was Abwehr anbetraf, war die Parteileitung so gut wir nicht
informiert. Die Direktiven waren allgemeiner Natur, ohne den neuen Methoden der
Gestapo angepasst zu sein. [...]
Der Versuch, die Schwächen des Abwehrapparates dadurch zu erklären, dass in
den einzelnen Bezirken die Abwehrleiter zu persönlichen Adjutanten des ersten BL-
Mannes gemacht wurden, beweist nur, dass die Leitung nach Gründen sucht, um ihre
eigenen Fehler abzuschwächen, andererseits aber auch, dass man der Partei, bezw.
den neuen Kadern keine richtigen Anleitungen trotz eigener Verbindungen des Appa-
rates und eigener Direktiven gegeben hat.
Der katastrophale Zustand des Abwehrapparates darf aber nicht als nur persön-
licher Fehler des Abwehrmannes gewertet werden, sondern die Verantwortung trägt
126 Joseph (Ps.), d.i. Karl Langowski (1905–1965), 1932 Leiter der AM-Arbeit der KPD in der Reichs-
wehr und der Reichsmarine. Soll nach seiner Verhaftung im Dezember 1933 wichtige Aussagen ge-
genüber der Gestapo gemacht haben (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 527f.; Kaufmann/
Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, S. 205, 315f.).
Dok. 376b: [Moskau, 10.2.1936] 1195
die Apparatleitung überhaupt, die diesen Zustand duldete, bezw. versuchte zu ver-
heimlichen und sich nicht an die entsprechenden Stellen zwecks Hilfe und Abteilung
der Mängel wandte.
2) Viktor [d.i. Leo Roth]128 – kommt 1925 zum Jugendverband, jüdischer Kleinbürger,
schliesst sich sofort den Trotzkisten an, wird ausgeschlossen 1925, ist bis 1927 aktiver
Mitarbeiter der Trotzkisten, findet über das BB-Ressort irgendwie den Weg zur Partei,
wird Angestellter des BB-Ressorts und geht über als zentraler Nachrichtenleiter in
die Apparatsleitung. In Verbindung mit seiner Apparatsarbeit wird er Gegnerobmann
der Jugend, aber eigentliche Parteiarbeit hat er nie geleistet. Er ist heute erst 25 Jahre
alt, bei seinem Eintritt in das BB-Ressort kann er 20 Jahre gewesen sein. Politisch ist
er überhaupt nicht erprobt, er war zwar während der Illegalität im Lande, er ist ein
Streber, sehr von sich eingenommen, bewegt sich in absolut bürgerlichen Kreisen,
irgendwelche Verbindung zu Arbeiterschichten kann man bei ihm nicht feststellen.
3) Erwin [d.i. Franz Schubert]129 – ein Arbeiter, seit 1924 schon im Apparat, ist schon
zum Spezialisten und Bürokraten geworden. Hat seine Arbeit überhaupt nicht den
Erfordernissen der strengen Illegalität anpassen können, hat als Abwehrleiter selbst
wenig Wachsamkeit, hat selbst nicht gemerkt, dass er dem Staatsapparat eine Mög-
lichkeit zur Ausnutzung unserer Partei gab. Das letzte genügt vollkommen, um zu
zeigen, dass er als Abwehrleiter [seiner Aufgabe] nicht gewachsen sein konnte.
4) Lore [d.i. Änne Kerff]130 – seit 1929 Kippenbergers Frau, wird während der Illega-
lität zur verantwortlichen Mitarbeiterin herangezogen, hat teilweise Abwehrleitung
gemacht. Sie stammt aus proletarischen Kreisen und war früher eine aktive Jugend-
funktionärin. Durch ihre jahrelange Kenntnis des Apparates führte sie ihre Arbeit
ziemlich arrogant durch, die Genossen waren von ihr abgestossen und hatten kein
Vertrauen zu ihr. Wie weit sie sich Rechte angemasst hat, die nur Alex [d.i. Hans
Kippenberger] zustanden, kann nur allgemein angenommen werden auf Grund der
127 Der gesundheitlich bereits äußerst geschwächte Kippenberger wurde am 3.10.1936 vom Obersten
Gericht der UdSSR wegen „Spionage“ und Vorbereitung von „Terroranschlägen“ zum Tode verurteilt
und noch am gleichen Tag hingerichtet.
128 Viktor (Ps.): Nachdem er nach Moskau zitiert wurde, wurde Leo Roth dort noch 1936 verhaftet
und zum Tode verurteilt.
129 Erwin (Ps.): D.i. Franz Schubert, Leiter der Abwehr, der ebenfalls nach Moskau einbestellt und im
November 1936 verhaftet wurde. Er starb nach langer Haft und Folterungen 1942 im Gulag.
130 Lore: D.i. Christina (Änne) Kerff, Kippenbergers zweite Frau, die gemeinsam mit ihm am 5.11.1936
in Moskau verhaftet wurde. Sie wurde 1937 zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt und 1946 aus einem
Lager bei Magadan entlassen. Sie starb am 12.8.1984 in Ost-Berlin, Erich Honecker verweigerte bis
zum Schluss die von ihr verlangte öffentliche Würdigung Kippenbergers.
Dok. 376b: [Moskau, 10.2.1936] 1197
einzelnen Beschwerden, ohne dass dieser Frage grössere Bedeutung bei der Untersu-
chung zugelegt wurde.
Die engste Leitung des Apparates selbst enthielt zwei grosse Gefahrenpunkte,
wodurch es möglich gewesen wäre, in den Apparat einzubrechen. 1) durch Heinrich
[d.i. Franz Schubert], seiner Vertrauensseligkeit und ungenügenden Wachsamkeit, 2)
durch Viktor [d.i. Leo Roth], durch sein Wesen, er liebt es, gut zu leben und seine
persönlichen familiären Beziehungen, die durch seine Frau in die höchsten Reichs-
wehrkreise geht und durch seine ungenügende Parteizuverlässigkeit.131
Dass das nicht zufällig ist, sondern beweist, dass die Wachsamkeit des gesamten
Apparates seit der Illegalität wesentlich nachgelassen hat, bezw. der Apparat nicht
begriffen hat, dass er während der strengen Illegalität eine viel grössere Wachsam-
keit als früher an den Tag legen musste, geht auch aus folgendem hervor: Die Leitun-
gen der Auslandsstellen wurden Genossen übertragen, die politisch überhaupt nicht
überprüft sind bezw. unzuverlässig sind. Z. B. der Leiter des Pariser Apparates, durch
den also sowohl die Sammlung von Nachrichten, als auch die Abwehr, d.h. Überprü-
fung unseres dortigen Apparates, der eintreffenden Emigranten usw. unter sich hat
(sic), ist ein Genosse Moritz, den niemand vom ZK genauer kennt, ausser dass er der
Typ eines Intellektuellen ist. Was stellt sich heraus, wer Moritz ist:
H.H. von Renke [d.i. Hans Hubert von Ranke]. Bis 1933 verantwortlicher Ange-
stellter der Lufthansa mit wichtigen gesellschaftlichen, diplomatischen und politi-
schen Verbindungen. Mitte 1933 emigriert und nach Frankreich beordert zur Entwick-
lung der dortigen N-Arbeit. (Bericht von Alex [d.i. Hans Kippenberger]).
Moritz kennt die Partei überhaupt nicht. Er kannte etwas den Apparat, weil er
durch ihn herangezogen wurde und die Pariser Emigration, weiter nichts. [...]
Es ist selbstverständlich, dass der Apparat auch eine Reihe guter Kader erzogen
hat. Aber gerade, weil ein Teil des Kaders so unzuverlässig war, ging auch ein grosser
Teil des guten Kaders verloren. Eine Reihe von Apparatleitern wurde erschlagen,
andere haben sich glänzend benommen. Dadurch aber, dass die Wachsamkeit des
Apparates zu wenig scharf gestellt wurde, konnten solche Leute sich entwickeln, die
der Partei ungeheure Verluste brachten. Als Beispiel:
Klause [d.i. Michael Klause], Leiter des Berliner PSS, hatte die beste Charakteristik der
Spezialschule; einer der gefährlichsten Provokateure.
Quand [d.i. Bernhard Quandt], Leiter des Berliner Waffenressorts, lieferte alle Waffen-
lager aus, auch die PSS-Leiter wurden von ihm denunziert.
131 Roths Frau war Helga von Hammerstein-Equord (1913–2005), Mitglied der KPD und Tochter des
Generalobersts Kurt von Hammerstein-Equord, der die Weitergabe zentraler NS-Dokumente durch
sie stillschweigend duldete. Siehe zuletzt: Hans Magnus Enzensberger: Hammerstein oder Der Eigen-
sinn. Eine deutsche Geschichte, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2008.
1198 1933–1939
Kattner, kommt aus dem zentralen Apparat, hatte die verschiedensten Funktionen.
Der Apparatleiter des Ruhrgebiets, lässt bei seiner Ankunft alles hochgehen.
In Hamburg besteht begründeter Spitzelverdacht gegen den früheren Leiter. April 1935
oder schon etwas früher wird ein direkter Gestapoagent, Wachsmut, in den Apparat
aufgenommen.
Die Liste lässt sich noch um vieles vergrössern, das sind nur die bekanntesten
Fälle. Selbstverständlich hat man niemals die Garantie, dass der Apparat restlos
sauber ist, Aber eine derartige Fülle vom Missgriffen in der Personalauswahl im
Lande, in den Auslandsstellen und in der zentralen Leitung muss zu der Schlussfol-
gerung führen, dass die Richtlinien für die Personalpolitik auf dem Papier standen,
der Apparat selbst verantwortungslos seit der Illegalität die Personalfragen gestellt
hat. Deswegen ist die Charakterisierung der Fehler des Apparates in dem Bericht von
Alex [d.i. Hans Kippenberger] absolut ungenügend. [...]
Vollkommen unübersichtlich ist die Geldpolitik des Apparates. Neben dem ord-
nungsgemässen Budget für den zentralen Apparat, wobei die bezirklichen Appa-
ratsleiter vom Bezirk aus bezahlt werden sollten, gab es eine Reihe von Nebenein-
nahmen, auf Grund spezieller Verbindungen, die niemals genau überprüft werden
konnten und die die Genossen für sich behielten. Eine Rechnungslegung darüber
erfolgte nicht, was selbstverständlich ein gewisses Gefahrenmoment in sich birgt. [...]
ten über die Komintern, und desorganisierte dadurch die Partei. Diese politische Zer-
setzungsarbeit des Apparates hätte bei längerer Duldung noch schwerere Konsequen-
zen nach sich ziehen können, da er soweit ging, auch aus innerparteilichen Gründen
die schwersten konspirativen Fehler von Anhängern seiner politischen Richtung zu
decken. [...] Dass die Genossen bis heute ihre Fehler nicht einsehen wollen, zeigt,
dass sie weiterhin ein doppeltes Spiel treiben wollen. [...]
1) Den Apparat in seiner jetzigen Form restlos sowohl zentral, als bezirklich zu liqui-
dieren, das System des Dreierkopfes in den Bezirken, das faktisch zur Schaffung einer
Konkurrenzleitung führen kann, aufzuheben.
133 Unter Bezugnahme auf diesen Beschluss heißt es bei Grundmann: „Damit war auch formell das
Todesurteil über den BB-Ressort gesprochen. Dafür, daß auch die maßgeblichen Funktionäre dessel-
ben sterben mußten, haben Hitler und Stalin gesorgt. Und weil dabei mehrere Funktionäre, die in der
DDR zu den Mächtigen gehören sollten, darunter Ulbricht und Pieck, mitgewirkt haben, wurde später
auch das Opfer, das zahlreiche BB-Mitarbeiter gebracht haben, todgeschwiegen.“ (Grundmann: Der
Geheimapparat der KPD, S. 470).
1200 1933–1939
Personelle Vorschläge:
1) Alex [d.i. Hans Kippenberger] zur besonderen Verwendung zur Verfügung stellen,
3) Viktor [d.i. Leo Roth] auf eine politische Schule evtl. zur Massenarbeit in der SU zu
verwenden,
4) Heinrich [d.i. Franz Schubert] nach Klärung seiner Angelegenheit auf die Westuni-
versität zu schicken.
5) Ralf135 und Moritz [d.i. Hans Hubert von Ranke] sofort durch andere zu ersetzen.136
134 Faktisch bedeutet der Beschluss die Liquidierung des gesamten militärpolitischen Apparates der
KPD. Vgl. hierzu Bayerlein: Einleitung, Bd. 1, S. 301ff.
135 Der Name Ralf wurde bisher im Bericht nicht genannt.
136 Leo Roth wurde am 5.11.1936 in Moskau verhaftet und am 10.11.1937 erschossen. Franz Schubert
wurde am 4.11.1936 in Moskau festgenommen und starb am 2.6.1942 im Gulag.
137 Erna Mertens (Ps.), d.i. Grete Wilde (1904–1943, im Gulag umgekommen?). In den 1930er Jahren
Instrukteurin der Komintern, Mitarbeiterin der Kaderabteilung und direkt in die „Überprüfungen“
Dok. 377: Moskau, 19.2.1936 1201
Dok. 377
Tabellarische Aufstellung zur Überführung der Politemigranten
aus den kommunistischen Parteien in die KP der Sowjetunion
(1920–1936)
Moskau, 19.2.1936
Vertraulich.
angeblich partei- und sowjetfeindlicher Elemente involviert. Am 5.10.1937 wurde sie selbst vom NKVD
als ehemalige Angehörige der Fischer-Maslow-Gruppe und unter anderen Beschuldigungen verhaftet.
1943/1944 wahrscheinlich im Gulag (Karaganda) umgekommen (Weber/Herbst: Deutsche Kommuni-
sten, S. 1024f.).
138 Auch wenn die Bezeichnung KPdSU (russ.: KPSS) erst 1952 offiziell als Parteiname für die Kom-
munistische Partei der Sowjetunion etabliert wurde, taucht die Schreibung KPdSU bzw. KPSU bereits
vorher vor allem in deutschsprachigen Komintern- und Parteidokumenten auf.
139 Aus einem kritischen Bericht von Antoni Krajewski (urspr. Name: Władysław Stein, 1886–1937),
1935–1936 Leiter der EKKI-Kaderabteilung, und Jaan Anvelt (1884–1937), Mitglied der Internationalen
Kontrollkommission des EKKI wie auch der „Moskvin-Kommission“. Offensichtliche falsche Schrei-
bungen wurden so belassen.
140 Die Überführungen wurden von einer beim ZK der VKP(b) angesiedelten Überführungskommis-
sion durchgeführt.
1202 1933–1939
15. Chinesische - - -
16. Japanische - 1 -
17. Brasilianische 2 (Einer aufgenommen in die
KPSU nach üblichen Regeln)
18. Schweizerische - 8 Keine Angaben
19. Norwegische - - “
20. Schwedische - - “
21. Littauische 600 - 6
22. Deutsche 4.000 2.600 Keine Angaben
23. Englische - - “
24. Französische Keine Vertreter anwesend141
Dok. 378
Referat Piecks über die Lage in Deutschland im zuständigen
Kominternsekretariat Ercoli
Moskau, 25.2.1936
Abschrift
Pe/Esch. /5 Ex.
Sitzung im Sekretariat Ercoli.142 am 25. 2. 1936.
Es ist sicher sehr nützlich, was die Genossen vorgetragen haben, und die Arbeiten,
die sie machen.143 Es ist deshalb nützlich, weil sie uns das Material liefern, auf Grund
dessen man bestimmte Schlussfolgerungen für die Arbeit der Partei ziehen kann. Aber
eben deshalb kann man es nicht als politische Ratschläge für den Kampf, sondern
als Rohmaterial betrachten, was man für bestimmte Schlussfolgerungen ausnutzen
141 Keine Vertreter: Gemeint ist wohl, dass auf der entsprechenden Komintern-Sitzung keine Vertre-
ter anwesend waren, um die entsprechende Auskunft zu geben. Bekanntermaßen wurde eine Anzahl
KPF-Mitglieder in die VKP(b) überführt, so bspw. Maurice Albert (siehe: Gleb Albert, Bernhard H.
Bayerlein: Der einzige Franzose, der den blutigen Säuberungen der Komintern zum Opfer fiel? Zur
Biographie von Maurice Genrichovič Albert. In: The International Newsletter of Communist Studies
Online 17 (2004), S. 29–31).
142 Ercoli (Ps.), d.i. Palmiro Togliatti.
143 Scheinbar war der Sitzung des Sekretariats ein Termin mit „wissenschaftlich“ arbeitenden Ge-
nossen vorausgegangen.
Dok. 378: Moskau, 25.2.1936 1203
kann, umso weniger, als die Genossen in der Beurteilung der Fakten nicht ganz ein-
heitlich sind. Sie haben ja auch nicht die Aufgabe, politische Ratschläge zu geben.
Aber was ist wichtig? Es ist natürlich nützlich, wenn die Genossen, die wissenschaft-
lich arbeiten, doch auch schon gewisse Schlussfolgerungen ziehen, wie die Entwick-
lung weiter gehen wird. Wir sind ja nicht Registranten, um nachher festzustellen, was
war, sondern auf Grund der kapitalistischen Gesetze, die auch durch die faschistische
Diktatur nicht ausser Kraft gesetzt wurden, muss man etwas voraussagen können,
wie die Dinge sich weiter entwickeln werden, weil wir das auch für unsere Arbeit
brauchen. Und hier liegt die grosse Schwäche dieser wissenschaftlichen Arbeit, dass
sie zu wenig voraussieht. Wenn man hier das nimmt, was die Genossen gesagt haben,
so kann man es auf folgende Nenner bringen: es kann so kommen, und es kann auch
anders kommen; entweder ändert sich das Wetter, oder es ändert sich nicht. Das ist
natürlich keine Perspektive. Wenn wir Lenin nehmen – er hatte eine ganz bestimmte
Auffassung von der weiteren Entwicklung, und sie ist auch durchwegs eingetroffen,
von Nebensächlichkeiten abgesehen. Wir kennen doch die kapitalistischen Gesetze,
die gewisse Schlussfolgerungen ermöglichen. Das sollte man in der wissenschaftli-
chen Arbeit etwas stärker forcieren.
Was die Frage der Einschätzung der Entwicklung angeht: wir haben eine gewisse
Einschätzung der Entwicklung durch die Brüsseler Parteikonferenz,144 durch die
Resolution, die damals angenommen wurde, und die in gemeinschaftlicher Arbeit
mit den Genossen im Mitteleuropäischen Ländersekretariat ausgearbeitet wurde. Von
politischer Bedeutung ist nun, zu prüfen: bestehen diese Formulierungen noch zu
Recht oder hat sich inzwischen etwas anderes herausgestellt, was notwendig macht,
diese Formulierungen zu ändern. Wenn man die Lage allgemein nimmt, wie sie im
Lande ist, so ist mit den Formulierungen eine Einstimmigkeit vorhanden. Die Frist
ist ja nicht allzu lange her, wo das formuliert wurde. Es ist dort gesagt worden, dass
als etwas Neues in der Lage betrachtet werden muss, dass wir eine wachsende Mas-
senunzufriedenheit haben. Das ist zweifellos. Das ist unverkennbar, dass sie in allen
Schichten der Bevölkerung vorhanden ist, sogar bis in die Kreise der oberen Schich-
ten der Mittelschichten hinein. Dann die Frage der beginnenden Aktivisierung in
den Betriebsbelegschaften. Das ist der heikle Punkt. Es ist natürlich sehr vorsichtig
ausgedrückt: eine beginnende Aktivierung. Es ist notwendig, sich das Wort Aktivisie-
rung ein wenig näher zu betrachten. Man kann unter Aktivisierung natürlich einen
wachsenden ideologischen Widerstand annehmen, und man kann auch die Frage
der wachsenden oder beginnenden Organisierung von Kämpfen stellen. Wenn wir
das nehmen, was alle Berichte aus dem Lande über Widerstandsaktionen sagen, so
ist das relativ wenig, was wir haben. Aber es stellt sich auch heraus, dass wir vieles
nur zufällig erfahren, sodass man annehmen kann, dass die Berichte, die wir haben,
nicht ganz die Lage in den Betrieben kennzeichnen. Natürlich grosse Aktionen – dazu
sind schon andere Voraussetzungen notwendig, bei dem Terror, den die Faschisten
bei Beginn jeder Bewegung anwenden. Ich glaube, man braucht an dieser Formulie-
rung nichts zu ändern, sondern es kommt darauf an, festzustellen, was tatsächlich im
Lande ist. Das kann man aber nur durch Genossen, die aus dem Lande kommen, und
die uns etwas näheres über die Dinge sagen. Wir tappen leider hier etwas im Dunkeln.
Dann ist gesagt worden, dass es dem Hitlerfaschismus nicht gelungen ist, in die
Hauptmassen der Arbeiterschaft einzudringen. Das ist eine sehr wichtige Frage. Es
ist kein Zufall, dass eine grosse Gefahr besteht, das geht aus allen Materialien hervor.
Man muss anerkennen: es geht den Arbeitern heute besser als vor Hitler. Sie sind
nicht arbeitslos, sie sind in Betrieben, sie verdienen und dort, wo mehrere Erwach-
sene sind, erhöht sich das Familieneinkommen. Das ist eine grosse Geschichte, die
wir berücksichtigen müssen, warum es nicht möglich ist, die Arbeiter stark in Kämpfe
zu bringen. Die Differenz besteht in dem, was versprochen wurde und was eingetre-
ten ist. Die Faschisten haben unter den schwierigen Verhältnissen viel versprochen,
aber nicht gehalten. Hier ist ein Faktor, an dem wir hätten eingreifen müssen, dass
den Arbeitern das und das versprochen, aber dass das nicht gehalten wurde. Das
muss man den Arbeitern begreiflich machen.
Zu den Konflikten im Lager der Bourgeoisie. Es ist wahrscheinlich, dass Kreise in
offenem Kampfe stehen gegen die Hitlerregierung. In der Bourgeoisie geht ein Kampf
um den Anteil am Staatsapparat vor sich. Die Regierung kann nicht ewig nur ihren
Leuten alles geben, sie muss den anderen auch etwas zu gute kommen lassen. Ebenso
ist es mit den Aufträgen, die Kriegsindustrie ist zufrieden, aber die anderen wollen
auch etwas haben. Das kommt auch alles in der Stellungnahme der Bourgeoisie zur
S.U. zum Ausdruck145 Das alles wird verstärkt durch die Schwierigkeiten, in denen
sich das Land befindet.
Jede Taktik hat grosse Manövermöglichkeiten und die faschistische Taktik hat
im besonderen viele Möglichkeiten. Auch hier steht die Frage, dass man nicht unter-
schätzen darf die Frage der ökonomischen Schwierigkeiten. Ich glaube, jedes Gerede
von einer Katastrophe ist Unsinn, es gibt keine Katastrophe. Die einzige Katastrophe
wird sein, wenn das Proletariat die Revolution durchführt. Solange es der Bourgeoisie
gelingt, Bewegungen zu verhindern, wird sie in der Lage sein, hier und dort nachzu-
geben, wie sie es in der Lebensmittelfrage u. a. getan hat. Darum ist die Frage, ob eine
Missernte eintritt oder eine Inflation, hier nicht zu stellen.
Alles hängt hier ab vom Widerstand, und hier ist die Frage, worauf überhaupt
wir als Politiker alles Gewicht legen müssen. Es wäre also zu erklären, warum,
trotzdem sich doch die Dinge in Deutschland ökonomisch für die Arbeiter, für den
Mittelstand, für die Bauern nicht verbessert, sondern verschlechtert haben, und in
Anbetracht des unerhörten Terrors, der Unterdrückung jeder Freiheit, – warum es
uns nicht möglich ist, stärkere Widerstandsaktionen der Arbeiter auszulösen. Das
ist das grosse Problem, vor dem wir stehen. Und da gebe ich zu, dass man vielmehr
den Erdgeruch dessen brauchte, was in Deutschland unter den Arbeitern, in ihren
145 Es ist unklar, auf welches Dokument Pieck sich hier bezieht.
Dok. 378: Moskau, 25.2.1936 1205
Familien gesprochen wird. Was wir gelegentlich von den Genossen hören, die aus
dem Lande kommen, ist immer nur ein kleiner Ausschnitt, wobei oftmals noch die
Wünsche derjenigen mitsprechen, die berichten. Es ist schwierig, sich ein richtiges
Bild zu machen. Ein Genosse hier hat von der Mentalität eines Durchschnittsarbeiters
gesprochen. Darauf hat er seine Argumentation eingestellt. Das ist absolut richtig.
Dazu kommt, dass ja doch schliesslich der übergrosse Teil der deutschen Arbeiter
jedem Kampfe ausweichen will, weil er mit Opfern verbunden ist. Sie werden aus dem
Betrieb entlassen, ins Konzentrationslager gesteckt, und der Druck der Diktatur wirkt
sich sehr in der Richtung aus, dass die Arbeiter doch dem Kampfe ausweichen wollen.
Und hier steht die Frage, das Gegenteil zu erreichen, sie für den Kampf zu gewinnen.
Hier sind zwei Dinge von Wichtigkeit. Unsere ganze Agitation im Lande krankt daran,
dass wir mehr von unsern Wünschen ausgehen als von dem, was an die Arbeiter her-
ankommt. An die Arbeiter kommt heran die faschistische Zeitung, die täglich die Ideo-
logie der Massen beeinflusst. Die Leute riechen doch das. Das sind keine Dummköpfe.
Sie riechen sofort, wo ihrer Herrschaft Gefahren drohen. Sie stellen sofort ihre ganz
Agitation in dieser Richtung ein. Wir verstehen nicht, sie auf diesem Gebiete der Täu-
schung der Massen zu verfolgen, und hierauf stärker unsere Agitation einzustellen.
Das ist doch nicht schwer, weil wir die Zeitungen haben.146 Wir verfolgen das. Aber
die Dinge gehen an uns vorüber, ohne dass wir richtig darauf reagieren. Das betrifft
auch das, was die Frage der Lage der Arbeiter, der Bauern, das Mittelstandes selbst
angeht. Es ist nicht überall dasselbe im Lande. Das wurde hier auch richtig gesagt.
Wir müssen vielmehr konkret, sogar an den einzelnen Betrieben anknüpfen. Die Lage
in einem Betriebe ist unter Umständen ganz anders als im Nachbarbetriebe. An das,
was im Betriebe vor sich geht, was der Unternehmer sich leistet, was die Kommissare
146 Während es bis 1933 noch ca. 50 KPD-kontrollierte Zeitungen mit einer Gesamtauflage von ca.
650.000 gab, konnten KPD-Presseerzeugnisse nach dem Verbot der KPD-Presse qua Notverordnung
des Reichspräsidenten am 28.2.1933 nur noch illegal weiterproduziert werden. Zunächst war die
Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen eine Hauptbeschäftigung der KPD-Kräfte im
Untergrund, 1934 ging die Auflage der unterschiedlichsten in Untergrunddruckereien hergestellten
Broschüren, Zeitungen und Flügblätter in die Hunterttausende. Allerdings konnte gerade bei den
KPD-Periodika auf Bezirksebene unter den Bedingungen der Illegalität keine Kontinuität hergestellt
werden, die meisten Zeitungen erschienen sehr unregelmäßig oder gingen nach wenigen illegalen
Ausgaben ein. Lediglich die Rote Fahne als Organ des ZK konnte die 1930er Jahre hindurch erschei-
nen, da sie auf ausländische Druckereien ausweichen konnte. Allerdings waren die Rote Fahne, wie
auch die illegalen Druckerzeugnisse auf regionaler und lokaler Ebene, wenig „massenwirksam“: Ihre
Hauptfunktion „lag nicht in der Wirkung nach außen, sondern in der Festigung des Bewusstseins
der schon gewonnenen Anhänger.“ (Peukert: Die KPD im Widerstand, S. 181). Zudem erfolgte Anfang
1935 ein schwerer Schlag der Gestapo gegen den westdeutschen KPD-„Technik“-Apparat, der für das
illegale Druckerei- und Vertriebsnetz zuständig war, und von dem sich die KPD-Presse nicht mehr er-
holen konnte, was auch durch das Einschmuggeln von in Grenzländern gedruckten Materialien nicht
ausgeglichen werden konnte. Siehe: Hempel-Küter: Die Tages- und Wochenpresse; Peukert: Die KPD
im Widerstand, S. 175–189; für eine Bibliographie siehe: Jürgen Stroech: Die illegale Presse. Eine Waffe
im Kampf gegen den deutschen Faschismus. Ein Beitrag zur Geschichte und Bibliographie der illega-
len antifaschistischen Presse 1933–1939, Frankfurt am Main, Röderberg, 1979.
1206 1933–1939
sich leisten, sogar auch an das, was von der Nazipartei im Betrieb unternommen wird
– hier müssen wir immer wieder in der Agitation anknüpfen. Dann werden wir prakti-
sche Resultate haben. Ich habe hier nicht gesprochen von der reformistischen Ideolo-
gie. Hier bei den Sozialdemokraten ist es dasselbe. Ihre Politik ist, eben keine Kämpfe
auszulösen. Die ganze Politik des Parteivorstandes geht darauf hinaus, sich vor jeder
Verpflichtung, im Lande etwas zu unternehmen, zu drücken.147 Die wichtigste Lehre,
wenn wir hier über die Schwierigkeiten unserer Arbeit im Lande berichten, ist, den
subjektiven Faktor sehr ernst zu prüfen, ob hier nicht grosse Schwächen im Lande
vorhanden sind. Ich bin bei alledem bei der Einschätzung der Lage im Lande kein
Pessimist, sondern sehe grosse Möglichkeiten der Auslösung sogar breiter Massen-
aktion im Lande trotz des Terrors, wenn wir verstehen, wirklich das zur Grundlage
zu machen, was auf dem Kongress gesagt wurde, was in den Resolutionen unter den
Aufgaben gesagt wurde, wirklich zu praktizieren. Hier liegt meiner Meinung nach die
grosse Schwäche unserer ganzen Arbeit. Das gilt auch für das, was die Frage der For-
derungen angeht.
Die Frage der Forderungen ist eine sehr defizile Frage und da sollten wir wirk-
lich viel lernen von den französischen Genossen, solche Forderungen zu stellen, die
jedermann versteht. Das ist richtig. Auch das, was in den Betrieben vor sich geht,
bei den Bauern muss man kennen, um solche Forderungen zu stellen, die eigentlich
schon Forderungen der Massen sind, aber nur eine Führung brauchen um zu organi-
sieren, dass man mit diesen Forderungen auch die gleichgültigen Elemente erreicht.
Das ist ein sehr wichtiges Problem.
Das ist auch, wie Ihr wisst, eine Frage, ob unsere Kader ausreichen für die Mobi-
lisierung der Arbeitermassen, die uns helfen bei unserer Arbeit, sonst werden wir in
der Luft schweben. Man muss auf diesen subjektiven Faktor das Hauptaugenmerk
richten. Die Genossen, die hier zusammengekommen sind, die vom wissenschaftli-
chen Standpunkt die Fragen beleuchten, sollen uns helfen, diese Aufgaben, die wir
haben, zu erfüllen. Sie sollen nicht eine Registrationsarbeit machen, sondern sie
sollen helfen, die weitere Entwicklung aufzuzeigen. Aus dem Material muss man
Schlussfolgerungen ziehen können, wie werden wir uns rechtfertigen, wenn wir diese
politischen Forderungen stellen – ist sie begründet oder nicht, ist das nur ein Wunsch
von uns oder nicht.
147 Immerhin veröffentlichte die SOPADE 1934 das zum revolutionären Sturz des Hitler-Regimes
auffordernde „Prager Manifest“, auch die „Deutschland-Berichte“ der SOPADE waren eine zentrale
Quelle für die Situation im Reich (siehe dazu Dok. 463).
148 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 78.
Dok. 379: Paris, 1.3.1936 [März 1936] 1207
Dok. 379
Brief Bucharins an Stalin über seine Mission im Westen und die
unzureichende Bekämpfung des Nationalsozialismus
Paris, 1.3.1936 [März 1936]
Geheim149
Mit dieser Post schicken wir einen gemeinsamen Brief, an Dich und Molotov adres-
siert, mit dem Bericht darüber, was wir bis jetzt getan haben, und was wir in der uns
aufgetragenen Angelegenheit zu tun gedenken.150
An dieser Stelle will ich jedoch einige Worte zu anderen Angelegenheiten schrei-
ben – vielleicht wird es nützlich sein, obwohl vieles sich bereits jetzt wieder verändert
hat.
Berlin (auf der Grundlage von Eindrücken, Umfragen, Zeitungen). Sieht schmut-
ziger aus, als früher. Allerdings hängt dies teilweise zusammen mit den großen
Baustellen. Den „Lebensmittelschwierigkeiten“ liegen anscheinend zwei Ursachen
zugrunde:
1) Die Verarbeitung frischer Lebensm[ittel] zu Konserven und ihre Hortung für
den Krieg, 2) Sabotage seitens der Bauern. Anscheinend gibt es keine Gründe, die
Differenzen zwischen der Reichswehr und Hitler zu überbewerten. Die „katholische“
Front ist viel bedeutsamer.151 Erstaunlich stark ist die Schwerpunktsetzung in ganzer
Breite auf die Jugend, hier ist die Arbeit sehr geschickt und gekonnt. „Innere Koloni-
149 Handschriftlicher Eintrag oben: Brief von Gen. Bucharin. An Gen. Molotov. St[alin]. Gelesen. Mo-
lotov.
150 Aufgetragene Angelegenheit: Bucharin war gemeinsam mit Vladimir Adoratskij und Aleksandr
Arosev nach Paris gereist, wohin sie zum Ankauf von Marx-Engels-Archiven kommandiert wurden.
Der sowjetische Versuch, den Marx-Engels-Nachlass, der sich im Besitz des Exilvorstandes der SPD
(Sopade) befand, zu erwerben, blieb letztlich erfolglos. Siehe: Rolf Hecker: Die Verhandlungen über
den Marx-Engels-Nachlaß 1935/36. Bisher unbekannte Dokumente aus Moskauer Archiven. In: MEGA-
Studien (1995), 2, S. 3–25, hier 19ff.; Roy Medvedev: Bukharin’s Last Years. In: New Left Review (1978),
Nr. 109, S. 49–73, hier S. 50–52; Mosolov: IMEL, S. 291–312, wo Bucharins Rolle in den Verhandlungen
nur am Rande erwähnt wird.
151 Katholische Front: Bereits 1933 gab es mit dem Katholischen Jungmännerverband (1938 aufge-
löst) erste katholische Widerstandbewegungen gegen den Nationalsozialismus in Deutschland. Dies
setzte sich über die gesamte Zeit des Nationalsozialismus fort, beispielsweise in Organisationen wie
dem „Jungen Bundschuh“ oder dem „Kölner Kreis“.
1208 1933–1939
152 Rassefrau: Bucharin benutzt hier die im Russischen nicht vorhandene Zusammensetzung „ra-
sovaja zenščina“. Es ist anzunehmen, dass er den in der russischen Sprache in dieser Form nicht
vorhandenen, vergleichsweise unideologischen deutschen Ausdruck „Rassefrau“ als Bestandteil des
NS-Vokabulars aufgefasst hat.
153 Vgl. die Aussage eines Jungkommunisten zur „Verhinderung erbkranken Nachwuchses“, Dok.
433.
154 Zu den Deutschen Briefen siehe Dok. 310.
Dok. 379: Paris, 1.3.1936 [März 1936] 1209
Prag. In dieser Situation ist die Gefahr, die die herrschenden Gruppen in Tsche-
chien wohl unterschätzen, das „sudetendeutsche Volk“.155 Hier steht die Mehrheit
hinter den Hitlerfaschisten. Die Tschechen haben einen Teufel getan, um da irgend-
etwas tatsächlich auf ihre Seite zu ziehen. Im Gegenteil, sie haben das Gebiet, in dem
es viele Industriearbeiter gibt, in dem das deutsche Kapital steckt, in dem die Arbeits-
losigkeit doppelt so hoch ist wie in anderen Teilen der Tschechoslowakei usw., die
ganze Zeit über „tschechisiert“. Das Resultat ist (wobei man natürlich auch den Cha-
rakter dieser Region als Grenzgebiet in Betracht ziehen muss), dass wenn Hitler eine
Division dorthin schickt, sie in Sekundenschnelle anwachsen wird: das ist die vollen-
dete Irridenta.156 Die Lage von Beneš ist nicht die einfachste,157 da die Min[isterien] für
inn[ere] Angelegenheiten und Verteidigung in den Händen der Agrarier sind, soeben
hat man Hondža [d.i. Milan Hodža] aus dem Außenmin[isterium] verjagt, der die
ganzen katholischen Slowaken (das Gesocks der übelsten Sorte, das tagtäglich gegen
uns auftritt) mit sich ziehen wird.158 Anstatt die starke (auch demokratische) deutsche
Emigration gegen die Faschisten einzusetzen, erdrosseln sie [die Tschechen] sie nach
und nach...
Von den sowjetischen Fragen gibt es übrigens für die folgenden Fragen noch keine
Antwort:
155 Die Folgen der Wirtschaftskrise trafen die exportabhängige Industrie in den Gebieten mit deut-
scher Bevölkerung (ca. 3,5 Millionen) hart, die infolge des Vertrags von St. Germain (1919) in den
neuen Staat Tschechoslowakei integriert wurden. Gefördert durch die Tschechisierungspolitik bildete
sich unter Führung von Konrad Henlein die „Sudetendeutsche Heimatfront“, ab 1935 die stark von
den Nationalsozialisten unterstützte Sudetendeutsche Partei (SdP), die den Anschluss an Deutsch-
land vertrat. Der bis Mitte der 1930er Jahre noch große Einfluss von Sozialdemokraten und Kommu-
nisten ging stark zurück.
156 Irridenta: ursprünglich aus dem italienischen 19. Jahrhundert stammende Bewegung zum na-
tionalen Zusammenschluss aller Italiener, dann allgemein gebräuchliche Bezeichnung für politisch
abgetrennte nationale Minderheiten, sich dem Mutterland anzuschließen. Zwei Jahre später wurde
von Hitler im Münchner Abkommen (30.9.1938) die Abtretung des Sudetengebietes an das Deutsche
Reich erzwungen. 1939 erfolgte dann die Besetzung der Tschechoslowakei.
157 Edvard Beneš (1884–1948). Der Soziologieprofessor und Schüler des Staatsgründers Tomáš
Garrigue Masaryk, hatte 1935 einen Beistandspakt mit der UdSSR abgeschlossen. Von 1935 bis zum
Abschluss des Münchner Abkommens, nach dem er zurücktrat, war er Präsident der Tschechoslowa-
kischen Republik.
158 Milan Hodža (1878–1944), war ein slowakischer Journalist und Politiker und von 1935 bis 1936 der
erste slowakische Ministerpräsident der Tschechoslowakei.
1210 1933–1939
Meinung nach unseriös. In Prag habe ich O[tto] B[auer] gesehen, der, wie auch Léon
Blum, wie sie sagen, sehr besorgt ist über die Wende in der Taktik der Kom[munist]
en. Ich bin einem Gespräch über dieses Thema ausgewichen, und wies darauf hin, dass
ich bei all diesen Angelegenheiten völlig abseits stehe. Die Formel von O[tto] B[auer]
war folgende: „Wir als wirkliche Anhänger der engsten Zusammenarbeit mit den
K[ommuni]sten befürchten, dass es eine Revision der Beschlüsse des VII. Kongr[esses
der Komintern] gibt. Warum?“ etc.159 (Das Gespräch führte ich nicht alleine, sondern
mit A[rosev]).160
Über die französischen und übergreifend internationalen Angelegenheiten
schreibe ich nicht, da ich hier nur das weiß, was andere auch wissen. In einer Stunde
fahren ich und Adoratskij nach Kopenhagen, wobei wir eventuell von Amsterdam aus
fliegen müssen. Ich bitte im Voraus, mir diesbezüglich keine Schuld zu geben. Niko-
laevoj [d.i. Boris Nikolaevskij] (der Archivar der II. Int[ernationale]) kann nicht durch
Deutschland fahren, wir sollten jedoch alle zusammenbleiben, umso mehr, als ich
in Amsterdam Post[h]umus161 beschnuppern will, und [sehen will,] was er hat. Der
andere Weg – über London – ist zu lang und teuer.
Hier glaubt das „Volk“ nicht an einen Krieg, obwohl man gelegentlich Sirenen
hört. Im Kino zeigt man deutsche Sachen (Besetzung der Zone [des Rheinlandes],
Demonstr[ationen] in Berlin), aber es wird davor gewarnt, dass wenn es heftige Reak-
tionen geben sollte, die Vorstellung unterbrochen würde. Solche Reaktionen bleiben
aus. Derart käufliche Typen wie hier kann man wohl nirgends finden.
Ergriffen drücke ich Deine Hand. Weißt Du, ich habe hier [den Film] „Tschapa-
jew“ gesehen (unsere Dummköpfe haben ihn für die Franzosen verdorben, besonders
dumm sind die Übersetzungen der Dialoge und die Inschriften) – von hier aus sieht
man umso deutlicher, was wir, die UdSSR, sub specie historiae162 darstellen.163
Auf Wiedersehen. Bleib gesund – das ist das Wichtigste. Alles ist im Brodeln
begriffen, so dass jeder sehen kann, wie notwendig Du jetzt bist, – vielleicht so wie
nie zuvor, unser Teurer!
Dein Nikolaj
Ich habe vergessen zu schreiben, dass hier in Paris ein Kongress der Trotzkisten statt-
gefunden hat, ich habe jedoch noch keine Informationen. Wenn ich sie erhalte, werde
ich schreiben.165
Am 10.3.1936 verfügte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dass Mitarbeiter ausländischer
Verlage und EKKI-Mitglieder nicht befugt seien, ohne Genehmigung seitens des Komintern-Sekretärs
Dmitrij Manuilski Informationen über das Ausland an die Sowjetpresse weiterzuleiten. Falls dieser es
befinden sollte, dass diese oder jene Information veröffentlicht werden sollte, müsse er dies zunächst
mit dem ZK oder dem Außenkommissariat abstimmen.166
Dok. 380
Aus dem Beschluss des Kominternsekretariats zum Bericht des
Politbüros der KPD über Lage und Aufgaben der Partei
Moskau, 17.3.1936
Streng vertraulich167
„5“
6183/2/Bl.
17.5.1936
Abschrift
Beschluss des Sekretariats des EKKI zum Bericht des PB des ZK der KPD.168
Nach Erörterung des Berichtes des PB des ZK der KPD lenkt das Sekretariat des EKKI
die Aufmerksamkeit des PB auf folgende Hauptpunkte:
Angesichts der verschärften Kriegspolitik des Hitlerfaschismus und der Tatsache,
dass der Faschismus heute versucht, auf Grund der Entfaltung einer neuen unge-
heuren chauvinistischen Welle die Gegensätze im Lager der herrschenden Klasse zu
verkleistern und seine inneren Schwierigkeiten zu verdecken, muss die Partei alle
ihre Kräfte konzentrieren auf die Durchführung der Einheitsfront des Proletariats im
Kampfe gegen den Faschismus und für den Frieden, auf die Zusammenfassung aller
Anhänger des Friedens und der Freiheit. Kampf gegen den Krieg und für die Erhal-
tung des Friedens bedeutet Kampf für die Freiheit in Deutschland, für die Rettung des
deutschen Volkes vor einer furchtbaren Kriegskatastrophe.
In der gesamten Partei herrscht noch eine Unterschätzung der Wirkung der
faschistischen Ideologie auf die Massen, insbesondere der Friedensphrasen und der
nationalen und sozialen Demagogie. [...]
Es bestand eine Unterschätzung der Schwierigkeiten, denen die neue takti-
sche Orientierung des VII. Weltkongresses in der ganzen Partei begegnet ist. Diese
Schwierigkeiten zeigten sich in Uebertreibungen bei der Einschätzung der Lage, in
Widerständen gegen die Arbeit in den faschistischen Massenorganisationen, in der
Unterschätzung der Sozialdemokratie, des Kampfes um demokratische Freiheiten
167 Im Dokumentenkopf drei Stempel: „Original deutsch“, „Sbornik“ (Sammelband) und „Utverždeno
na zased[anii] Sekretariata IKKI / ot 17 marta 1936 / Protokol No 36“ (Bestätigt in der Sitzung des EKKI-
Sekretariats vom 17. März 1936, Protokoll Nr. 36).
168 Bemerkenswerterweise werden im kompletten Dokument weder die Unterdrückungspolitik des
Nationalsozialismus, noch der antifaschistische Widerstand, noch der durch die Verhaftungen und
Erschießungen von KPD-Mitgliedern und Funktionären erfolgte Aderlass der Partei oder selbst auch
die Konzentrationslager thematisiert.
Dok. 380: Moskau, 17.3.1936 1213
usw., was zu einer ungenügenden praktischen Durchführung der Linie des VII. Welt-
kongresses führte. [...]
Bei der Durchführung der Einheitsfront- und Volksfrontpolitik zeigten sich Unsi-
cherheiten und Schwankungen, wodurch nicht alle Möglichkeiten der Durchsetzung
der Einheitsfrontpolitik von der Partei ausgenutzt wurden. Die Einheitsfront im Lande
hat noch keinen wesentlichen Fortschritt gemacht, was dem Prager Vorstand seine
Politik der Ablehnung bedeutend erleichterte.169 [...]
Die Pariser Konferenz, an der sich ein bedeutender Teil führender Kräfte in der
antifaschistischen Emigration beteiligte, war ein Schritt vorwärts.170 Die gemeinsame
Erklärung, die in der Konferenz gegen Hitler angenommen wurde, ist keine gewöhn-
liche Emigrationssache, sondern ist von wichtiger Bedeutung für die Zusammenfas-
sung der antifaschistischen Kräfte im Lande selbst. [...]
Ausgehend von der Notwendigkeit, eine breite Front aller Hitlergegner herzustel-
len, muss die Partei erklären, dass wir Kommunisten, die für die Sowjetmacht sind,
bereit sind, mit allen Kräften, die gegen Hitler sind, für ein demokratisches Deutsch-
land zu kämpfen, indem das deutsche Volk selbst über das Regime entscheiden wird.
Wir sind bereit, mit allen Hitlergegnern in diesem Sinne Abkommen zu treffen und
ernsthaft für diese einzutreten. Die Partei muss in diesem Sinne auf sich die Initiative
nehmen, einen Entwurf einer Plattform der Volksfront gegen Faschismus und Krieg
vorzuschlagen. Der Ausgangspunkt dieser Plattform muss die Kriegsgefahr sein. In
Verbindung mit einer klaren Perspektive dieser Plattform zum Sturze Hitlers und des
Eintretens für ein demokratisches Deutschland müssen in ihr auch die aktuellsten
Forderungen der Arbeiter und der verschiedenen Schichten der Werktätigen (sowie
Kulturforderungen, Jugendfragen, Kirche usw.) enthalten sein. [...]
Die Partei muss eine breite Aufklärungskampagne unter den Kommunisten und
allen Antifaschisten führen, um sie zu überzeugen, dass die Arbeit in den faschisti-
schen Massenorganisationen heute das entscheidende Mittel ist, um zu Massenakti-
onen zu kommen. Gleichzeitig mit der Entlarvung der Rolle der faschistischen Mas-
senorganisationen ist es notwendig, den Arbeitern zu zeigen, wie sie innerhalb dieser
Organisationen die legalen Möglichkeiten ausnützen können für die Interessen der
Werktätigen und gegen den Faschismus. [...]
Bei der Durchführung der Beschlüsse der Brüsseler Konferenz sind die Schwä-
chen der Kadererziehung offen in Erscheinung getreten. Das Sektierertum steckt noch
tief in den Kadern der KPD. Es sind auch Gefahren einer Einwirkung der faschisti-
schen Ideologie vorhanden. Eine mangelhafte Wachsamkeit gegenüber parteifrem-
169 Gemeint ist der SPD-Parteivorstand im Prager Exil, der sich Sopade nannte.
170 Am 2.2.1936 beschloss die Tagung der “deutschen Opposition im Ausland” im Pariser Hotel
Lutetia die Konstituierung eines Engeren Ausschusses (später: Volksfrontausschuss). Dessen
Präsidentschaft übernimmt Heinrich Mann. Es erfolgt die Einsetzung einer Programmkommission
und die Entscheidung für eine “Kundgebung an das deutsche Volk”, ein Manifest “Für eine
gemeinsame Amnestieaktion” der ausländischen Staaten und Organisationen sowie die Gründung
des Presseorgans Deutsche Informationen.
1214 1933–1939
Vor der Partei stehen auf dem Gebiete der Kaderfrage folgende Aufgaben:
1) Erziehung der Kader zur Durchführung der Linie des VII. Weltkongresses und der
Brüsseler Parteikonferenz. Die führenden Kader sollen aus Genossen bestehen, die
von der Richtigkeit der Linie überzeugt sind. Es muss eine systematische Ueberzeu-
gung der Genossen erfolgen und vermieden werden, durch rein organisatorische
Methoden Genossen abzustossen.
2) Die Organisationsarbeit der Partei muss sich auf Grund eines Planes entwickeln,
in dem die Konzentration auf die entscheidenden Gebiete und Industrien und auf
die wichtigsten Probleme dieser Gebiete und Industrien in den Vordergrund gestellt
wird.172 Die Dezentralisierung der Bezirke, die von der Brüsseler Konferenz beschlos-
sen wurde, muss beschleunigt und bis zu Ende durchgeführt werden. Die Hauptkräfte
der Partei sollen dabei auf das Eindringen der Leitungen in die faschistischen Massen-
organisationen, besonders in die entscheidenden Organisationen angesetzt werden.
In die Leitungen sollen solche Genossen gestellt werden, welche überzeugt sind von
der Notwendigkeit einer solchen Arbeitsmethode und fähig sind, legale Funktionen
in den faschistischen Massenorganisationen zu erzielen. In kürzester Frist soll die
Partei nachforschen und aufklären, warum eine Reihe von Einheiten der Partei keine
Verbindung mit den Leitungen haben will,173 die Ergebnisse im Polbüro behandeln
und Massnahmen beschliessen.
che politisch leitende Zentren für diejenigen Bezirke sind, mit denen sie im Lande
Verbindung haben. Besonders ist es notwendig, dass die Grenzstellen ihre Arbeit zur
politischen Schulung der Kader der betreffenden Bezirke verstärken. [...]
5) Ausgehend von der besonderen Bedeutung der Reserven für die KPD muss ein PB-
Mitglied besonders verantwortlich gemacht werden für die Sammlung, politische
Erziehung und politische Aktivisierung des gesamten alten, qualifizierten Partei-
aktivs, das sich heute aus verschiedenen Gründen nicht unmittelbar in Parteiarbeit
befindet.175 Alle Elemente, die sich als unverbesserliche Sektierer erweisen, oder die
in der Durchführung der politischen Linie ihre Unfähigkeit zur Parteiarbeit zeigen,
sollen entfernt werden. Notwendig ist es jedoch, sorgfältig zu sammeln und an die
Führung heranzubringen alle anderen, auch diejenigen, die vielleicht einzelne Fehler
gemacht haben, aber bereit sind, und in der Tat die Bereitschaft zeigen, ihre Fehler zu
korrigieren. Die Sammlung aller alten qualifizierten Kräfte ist besonders notwendig
vom Standpunkte der Schaffung von Hilfskräften und der Verstärkung der operativen
Tätigkeit des PB.
7) Es ist notwenig, eine engere Zusammenarbeit zwischen dem PB und dem Sekreta-
riat des EKKI zu schaffen.
Am 20.3.1936 bestätigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion das zeitweilige Abrücken von
den Plänen zu den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Deutschen Reich: Das zu unterzeichnende Han-
delsabkommen für 1936 sollte zurückgestellt werden, Bestellungen über den 200-Millionen-Kredit
nicht mehr getätigt, einige bereits getätigte Bestellungen sollten storniert werden. Auch die Verhand-
lungen über einen weiteren 500-Millionen-Kredit sollten augesetzt werden. Hintergrund waren Ver-
handlungsschwierigkeiten des Stalin-Vetrauten Kandelaki in Berlin beim Aushandeln des Vertrags,
wie auch Schikanen der deutschen Behörden gegen die sowjetische Kreditbank in Deutschland.176
Am 21.3.1936 stimmte das russische Politbüro dafür, den abessinischen Militär David Hull, der einen
persönlichen Brief von Kaiser Haile Selassie übergeben wollte, durch Staatsoberhaupt Michail Kalinin
empfangen zu lassen.177
Am 23.3.1936 genehmigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion als Ausnahme zum Beschluss
vom 20.3.1936 eine Liste von Industriegütern zum Ankauf in Deutschland, darunter „Geräte zur Rek-
tifizierung von Gas“ (vermutlich zur Stickstoffherstellung), im Gesamtwert von 2.233.000 Rubel.178
(Sandvoß). Grenzstellenleiter waren u.a. Hans Beimler (Prag), August Creutzburg (Amsterdam), Willi
Adam (Kopenhagen). Siehe hierzu: Peukert: Die KPD im Widerstand, S. 251–324; Sandvoß: Die andere
Reichshauptstadt, S. 544. Die überlieferten Rundschreiben an die Grenzstellen siehe SAPMO-BArch
RY 1/I 2/3/276.
175 Dies erfolgte u.a durch eine erhöhte Nachfrage von Facharbeitern; Mitte der 1930er Jahre erfolgte
somit wieder eine Rückkehr in Betriebe und Verwaltungen (Sandvoß: Die andere Reichshauptstadt,
S. 534).
176 APRF, Moskau, 3/64/664, 52. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 120.
177 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 123.
178 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 123, 139; APRF, 3/64/664, 54. Publ. in: Sevostʼjanov, Moskva-Berlin,
III, Dok. 123.
1216 1933–1939
Aufgrund der Befürwortungen durch das Oberste Gericht und das NKID beschloss das Politbüro des
ZK der KP der Sowjetunion am 29.3.1936, den deutschen Staatsbürger E.E. Pfeil (der wegen Spionage
verurteilt worden war) abzuschieben, statt seine Erschießung zu vollstrecken. Gleiches galt für den
Deutschen R. Runge, der stattdessen eine zehnjährige Gefängnisstrafe erhielt.179 In diesem Zeitraum
lassen sich mehrere ähnliche Politbüro-Beschlüsse eruieren, die deutsche Staatsbürger betrafen.
Dok. 381
Ansprache Wilhelm Piecks im Kominternpräsidium über
Einheitsfront und Krieg
Moskau, 1.4.1936
Vertraulich.
Bö-z/6180
Präsidium vom 1.4.36.
Frage: Einheitsfront und Kampf gegen Krieg.181
Genosse Pieck:
Ziffern als wahr unterstellen, so besteht doch kein Zweifel, dass fast annähernd 100
Prozent der Wähler an die Wahlurne gegangen sind. Ungefähr 5/6 der Bevölkerung
haben für die faschistischen Listen gestimmt. Nicht, als ob die deutsche Bevölke-
rung das faschistische System liebt oder anerkennt, nicht, als ob etwa das deutsche
Volk die Provokationspolitik von Hitler unterstützt. Aber es ist Hitler gelungen, durch
seine Friedensheuchelei das Volk über seine wahren Kriegsabsichten zu täuschen.
Das birgt in sich die Gefahr, dass eben das deutsche Volk durch diese Provokation in
den Krieg hineingetrieben werden kann, ohne dass im Lande ein ernster Widerstand
dagegen entwickelt wird. Diese Lage stellt der Kommunistischen Partei in Deutsch-
land sehr sehr ernste Aufgaben, Aufgaben, die bisher nicht genügend erfüllt wurden
sind: nämlich eine wirklich ernste Aufklärungsarbeit über die wahren Absichten des
deutschen Faschismus. Wir haben uns durchweg damit begnügt, gegen den Terror,
gegen die Entrechtung des deutschen Volkes durch den Faschismus, durch die Zer-
schlagung der Organisationen zu protestieren. Aber wir haben nicht genügend das
Augenmerk des deutschen Volkes auf die provokatorische Aussenpolitik Hitlers
gerichtet.183 Als damals die Abstimmung im Saargebiet war, wo die übergrosse Zahl
der Bevölkerung für den Anschluss an Deutschland stimmte, haben wir uns mit der
Feststellung begnügt, dass das noch kein Bekenntnis zum Hitlerfaschismus sei, dass
es lediglich die Liebe zur Heimat sei, dass die Abstimmung gegen den Druck des
Terrors der französischen Regierung für Deutschland erfolgte.184
Aber, Genossen, ich glaube, wir haben dabei doch etwas übersehen, nämlich,
dass der Faschismus durch seine soziale Demagogie versucht hat, seine Herrschaft
im Lande zu befestigen. Das ist nicht nur zurückzuführen darauf, dass er den ganzen
Staatsapparat hat, sondern das beruht auch darauf, dass das deutsche Volk vorläufig
keinen Ausweg sieht, aus dieser Herrschaft des Faschismus herauszukommen.
Die Einheitsfront in Deutschland ist ausserordentlich schwach entwickelt, von
der Volksfront im Lande schon garnicht zu reden. Das ist zum grossen Teile natürlich
die Folge davon, dass die Sozialdemokratie, besonders der Sozialdemokratische Par-
teivorstand, die Einheitsfront und Aktionseinheit im Verfolg der Einstellung der Ein-
stellung [sic], wie sie die II. Internationale hat, vollkommen ablehnt, dass er Direk-
tiven ins Land gegeben hat, dass alle Verbindungen mit Kommunisten abzubrechen
sind, dass man diejenigen, bei denen man Verbindungen feststellt, aus der Partei aus-
schliesst. Das er das machen kann, zeigt die Schwäche der Einheitsfrontbewegung
im Lande, zeigt auch die Schwäche der Arbeit der Kommunistischen Partei und es
ist darum eine grosse Arbeit zu leisten, um den Charakter der Aussenpolitik Hitlers
in Deutschland beim deutschen Volk zu kennzeichnen. Und darin können uns auch
183 Die neue Betonung der Ausrichtung auf die Außenpolitik Hitlers lässt sich nicht zuletzt auch als
Form der Synchronisierung mit der Orientierung der sowjetischen Führung und besonders Stalins
interpretieren.
184 Zur Saar-Abstimmung und den Schwierigkeiten der KPD, entsprechende Losungen zu entwic-
keln, siehe Dok. 357.
1218 1933–1939
185 Während die Sitzungen des Lutetia-Kreises ohne Vertreter der Sopade stattfanden, jedoch zu-
mindest gemeinsame Erklärungen herausgegeben wurden, sah sich der Vorstand der Sopade zur Ver-
öffentlichung einer ablehnenden Denkschrift „Zur Frage der Einheitsfront“ vom 8.12.1935 gezwungen,
nachdem am 10.11.1935 in einem Brief an den Vorstand das ZK der KPD die Einheitsfrontbeschlüsse
der „Brüsseler Parteikonferenz“ erläutert und am 23.11.1935 in Prag eine Besprechung zwischen Hans
Vogel, Friedrich Stampfer und Walter Ulbricht und Franz Dahlem stattgefunden hatte, auf der die
Wendung der kommunistischen Parteien als rein taktische Maßnahme unter Beibehaltung der unde-
mokratischen Ziele bezeichnet wurde (Osterroth/Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie,
http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/spdc_band2.html). Auch der nächste Versuch einer
Einigung scheiterte nach einem Gespräch zwischen Friedrich Stampfer und Pieck am 1.7.1936. Die
sozialdemokratische Seite wandte sich sowohl gegen die Aufhebung des Verbots der Zusammenarbeit
mit der KPD, als auch gegen den Vorschlag eines Volksfrontkomitees in Prag (ibid.).
186 Mit „Provokation“ ist höchstwahrscheinlich die „Rheinlandbefreiung“ gemeint. Die kritische
Haltung der Sopade war auf eine Erklärung der Exekutive der Sozialistischen Arbeiter-Internationale
(SAI) zurückzuführen. Am 16./18.5.1936 hatte sich diese kritisch zur Durchlöcherung des Weltboykotts
gegen das Hitlerregime geäußert, wie auch gegen „die schwächliche, von kurzsichtigen Sonderinter-
essen bestimmte Politik der Regierungen gegenüber dem faschistischen Angriff auf Abessinien und
der Hitler-Provokation am Rhein, die zu neuen Erfolgen der Vertragsbrecher geführt und die Kriegsge-
fahr gesteigert haben“. „Die Sicherung des Friedens“ gestatte keine Abschwächung, sondern fordere
„die Verstärkung der Politik der kollektiven Sicherheit. Dies bedingt insbesondere die weitgehende
Koordinierung der Politik Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion zur Verhinderung aller
Angriffshandlungen und Vertragsverletzungen.“ (Osterroth/Schuster: Chronik der deutschen Sozi-
aldemokratie, Electronic edition http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/spdc_band2.html)
187 Auf einer Sitzung der Exekutive der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) sprachen sich
von 17 anwesenden Ländervertretungen nur fünf gegen die Einladung der Kommunistischen Inter-
nationale (Kl) aus. Trotzdem setzt sich die Minderheit – Großbritannien, die Niederlande, Schwe-
den, Dänemark und die Tschechoslowakei – schließlich durch, die jede gemeinsame Aktion mit den
kommunistischen Parteien ihres Landes und jede gemeinsame Aktion der beiden Internationalen
ablehnten.
1220 1933–1939
stark von der Ideologie des Faschismus erfasst worden, teils durch ihre organisatori-
sche Einspannung in das faschistische System, teils deshalb, weil die ganze Ideologie
des Faschismus gerade darauf eingestellt ist, der Jugend zu schmeicheln, um sie für
die imperialistischen Zwecke zu gewinnen. Dasselbe trifft zu auf die Armee, in die
die deutsche werktätige Jugend jetzt eingereiht ist. Auch hier ist die grosse Aufgabe
der Partei, trotz der illegalen schwierigen Bedingungen, diese Arbeit in der Armee
systematisch aufzunehmen und zu verstärken. Wir werden selbstverständlich aus
dieser Resolution des Präsidiums die Schlussfolgerungen zu ziehen haben, die in
dieser Resolution den Komparteien in den faschistischen Ländern gestellt sind, wobei
der deutschen Partei eine besonders hohe Aufgabe zufällt, weil es dem deutschen
Faschismus, dem Hauptkriegsbrandstifter, offensichtlich gelungen ist, die werktäti-
gen Massen über seine Kriegsabsichten zu täuschen und sie vor den Wagen des deut-
schen Imperialismus zu spannen. Wir sollen uns nicht über diese Tatsachen und über
die grossen Schwierigkeiten täuschen, die im Lande bestehen, um das zu verhindern.
Gibt es noch Wortmeldungen? Das ist nicht der Fall. Dann folgt das Schlusswort
des Genossen Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti].
In einem weiteren Beschluss „Über Deutschland“ erteilte am 4.4.1936 das russische Politbüro David
Kandelaki die Vollmacht, das Handelsabkommen mit Deutschland für 1936 zu unterzeichnen, was nun
wieder im Bereich des Möglichen schien.188
Per Mitgliederumfrage vom 28.5.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, eine
Delegation zur Plenumssitzung des Internationalen Frauenkomitees gegen Krieg und Faschismus zu
entsenden.189
Dok. 383
Walter Ulbricht: Zur Taktik des trojanischen Pferdes
1.6.1936 [Juni 1936?]
Erschienen unter dem Titel „Die Taktik des trojanischen Pferdes“ in: Die Internationale, 1936, Nr. 6/7,
S. 31–36. Publ. in: Hermann Weber (Hrsg.): Der deutsche Kommunismus, Dokumente 1915–1945,
Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1963, S. 410–411 (Auszug).
Das Hauptproblem, das alle Antifaschisten bewegt, ist die Frage: Wie kommen wir
zu Massenbewegungen, die zum Sturze Hitlers führen? Wir erleben in Deutschland,
wie der Nationalsozialismus mit Hilfe der Massenorganisationen, in denen die Mehr-
heit der Bevölkerung zwangsweise oder freiwillig organisiert ist, die Massen mit den
188 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 131; APRF, Moskau, 3/64/664, 58. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-
Berlin, III, Dok. 125.
189 RGASPI, Moskau, 17/3/978, 20. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 734.
Dok. 383: 1.6.1936 [Juni 1936?] 1221
faschistischen Argumenten betrommelt und den Krieg vorbereitet. Wir sollen die
Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda nicht unterschätzen. Auch breite
Massen haben die Friedensbeteuerungen Hitlers ernst genommen oder erkennen
manche Maßnahmen der „Kraft-durch-Freude“-Bewegung190 an oder halten die Win-
terhilfe für nützliche Einrichtung, obwohl sie selbst über die unzähligen Abgaben
stöhnen.
Wenn der Nationalsozialismus vor allem auf dem Wege der faschistischen Mas-
senorganisationen die Massen zu beeinflussen sucht, so müssen wir Kommunisten
die Schlußfolgerung ziehen, dort zu arbeiten, wo diese Massenarbeit des Nationalso-
zialismus geschieht, dort unsere Gegenpropaganda führen, dort, anknüpfend an die
besonderen Interessen der Mitglieder jener Organisationen, diese Mitglieder für die
Vertretung ihrer eigensten Interessen aktivisieren [...].
Wenn also ein Genosse sich mit einem solchen Argument gegen die Arbeit in den
faschistischen Massenorganisationen wendet: „Man kann nicht verlangen, daß ich
meine Überzeugung verrate“, so möchten wir antworten: Um keinen Preis! Aber es
wird Zeit, daß alle Kommunisten lernen, ihre Überzeugung nicht für sich zu behalten,
sondern mit den ihnen als verläßlich bekannten Sympathisierenden über die Argu-
mente des Faschismus zu diskutieren und darüber hinaus nach Methoden zu suchen,
wie man eine legale Aufklärungsarbeit durchführen kann, ohne als kommunistisch
verdächtig ins KZ zu kommen...
Die Taktik des trojanischen Pferdes bedeutet nicht nur eine Tarnung unserer
Arbeit, sondern eine solche Massenpolitik, die unter Anknüpfung an die nächsten
Interessen der Werktätigen die breitesten Massen zum Kampf gegen das nationalso-
zialistische Regime führt. Es gibt schon zahlreiche Beispiele der erfolgreichen Arbeit
in Massenorganisationen, aber es gibt auch viele Leitungen und Gruppen, die bisher
nur platonische Liebeserklärungen zur Taktik des trojanischen Pferdes abgegeben
haben, ohne mit den neuen Methoden der Massenarbeit zu beginnen.191
Vor allem kommt es darauf an, sich zu erkundigen, was die Nazis vor 1933 im all-
gemeinen und besonders für die einzelnen Schichten versprochen haben und was sie
heute noch versprechen, aber nicht erfüllen. Manche Genossen meinen: „Man kann
doch nicht nationalsozialistische Forderungen propagieren.“ Ist es nicht besser, statt
solcher allgemeiner Deklamationen sorgfältig zu prüfen, welche Naziforderungen
den Interessen der Feinde des Volkes entsprechen, die man konsequent bekämpfen
muß, und welche der Losungen wir ausnutzen können, weil sie den Interessen der
Werktätigen entsprechen? Wieviele Losungen haben die Nazis aus der Arbeiterbewe-
gung der vergangenen Zeit übernommen und nur etwas anders formuliert! Sollten
wir auf solche bei den Massen populäre Forderungen nur deshalb verzichten, weil sie
heute von den Nazis vertreten werden? Wie oft zeigt es sich, daß die Nazis gar kein
Interesse daran haben, daß an ihre früheren Versprechungen und Forderungen erin-
nert wird (z. B. „für den gerechten Lohn“),192 daß aber die Vertretung dieser Losungen
für uns die einzige Möglichkeit bietet, legal die Arbeiter zu Widerstandsbewegungen
zu aktivisieren . […]
Oftmals wird auch über die Passivität der Arbeiter geklagt. Verlangen wir von
den Arbeitern nicht manchmal zu viel auf einmal? Viele Arbeiter sind heute noch
nicht bereit zu der schwierigen illegalen Arbeit. Aber sie sind gewillt, in legaler Weise
an der gemeinsamen Vertretung der Interessen der Arbeiter teilzunehmen, sie sind
bereit, für ihre Rechte einzutreten. Wir sollten sorgfältiger prüfen, was die Arbeiter
in den einzelnen Betriebsabteilungen, in den verschiedenen Massenorganisationen,
was die verschiedenen Bevölkerungsschichten bewegt, um sie, anknüpfend an ihre
kleinsten Interessen, in Bewegung zu bringen.
Große Empörung herrscht in den Betrieben über die Gesundschreiberei der Ver-
trauensärzte. Ein Arbeiter bricht den Arm, bekommt einen Gipsverband angelegt und
der Arzt erklärt ihm, daß er ihn nicht krank schreiben dürfe, da der andere Arm noch
gebrauchsfähig sei. Er mußte mit dem gebrochenen Arm im Betrieb eine andere Arbeit
ausüben. In solchen Fällen müßten die Arbeiter an die nationalsozialistischen Erklä-
rungen über die Menschenwürde anknüpfen und die Vertrauensräte zur Arbeitsfront
schicken, um die Abschaffung dieser unmenschlichen Gesundschreiberei zu fordern.
Alle solche Beispiele müßten der DAF-Presse mitgeteilt und unter der Rubrik: „Ihr
fragt – wir antworten!“ um Antwort ersucht werden [...]
Per Mitgliederumfrage vom 3.6.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einige
Umbelegungen von Komintern-Gebäuden. Das EKKI sollte demnach in das sich im Bau befindliche
Gebäude der Internationalen Lenin-Schule ziehen, die Lenin-Schule dafür in das Gebäude der Inter-
nationalen Gewerkschaftsschule.193
Am 27.6.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, Nikolaj Švernik als Vertreter der
Gewerkschaften zur Sitzung des Generalrats der Weltvereinigung für Frieden (Rassemblement Univer-
sel pour la Paix) nach Paris zu entsenden. Zugleich wurde entschieden, das RUP für die Vorbereitung
seines Kongresses mit monatlich 10.000 Franken zu unterstützen.194
Am 29.6.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, Lufthansa darüber zu unter-
richten, dass vom 1.1.1937 an das russische Territorium nur noch mit einem neu auszuhandelnden
Vertrag überflogen werden könnte.195
192 Das Versprechen eines der getätigten Arbeit entsprechenden „gerechten Lohns“ bei gleichzei-
tiger Unterdrückung aller Arbeitskämpfe war das prägende Merkmal der nationalsozialistischen
Betriebspolitik (siehe: Tilla Siegel: Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der
Arbeit“, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1989).
193 RGASPI, Moskau, 17/3/978, 31. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 734.
194 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 192. Publ. in: Ibid., S. 733–734.
195 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 2.
Dok. 384: [Moskau], 02.07.1936 1223
Ebenfals am 29.6.1936 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einige Bestellungen in
Deutschland auf den Rest des am 28.12.1934 beschlossenen 200-Millionen-Kredits.196
Dok. 384
Brief des Leiters der Kaderabteilung des EKKI, Moisej
Černomordik, an Dimitrov mit angeblichen Beweisen gegen
Werner Hirsch
[Moskau], 02.07.1936
/2/ eg
2/VII-36
Geheim
GEN. DIMITROV
Die Angelegenheit Werner Hirsch hat einen in die Länge gezogenen Charakter an.197
Es ist bald schon 2 Jahre her, dass er in die UdSSR angekommen ist. Alle Daten spre-
chen dafür, dass dieser Mensch kein Vertrauen genießen kann.
1. Bereits im Jahre 1932 gab es eine Warnung, dass W[erner] H[irsch] enge Verbindun-
gen mit der Reichswehr habe. Es ist genau bekannt, dass er eine enge Verbindung zu
Schleicher und anderen gehabt hat.
3. Unbeachtet der Behauptungen von W.H., er sei gefoltert worden, gibt es Hinweise
darauf, dass das Gefängnisregime ihm gegenüber leichter gewesen sei als gegenüber
anderen Kommunisten.200
4. Seine Aussagen auf dem Leipziger Prozess waren zugunsten der Anklage.201
5. Die Verbindungen von W.H. sind vielfältig. Von dem, was uns bekannt ist, ist es in
erster Linie Zenzl Mühsam, die Agentin des aus der UdSSR geflohenen Trotzkisten
Wollenberg.202
199 Brief an Gen. Pjatnitzki: In einer NKVD-Auskunft zu Werner Hirsch hieß es dazu: „Das Hauptan-
klagematerial gegen Gen. Thälmann stellen die an ihn geschriebenen Briefe Werner Hirschs sowie die
von Werner Hirsch geschriebenen Thesen ‚Unser Kampf um den revolutionären Sturz der faschisti-
schen Diktatur und um ein freies sozialistisches Sowjetdeutschland‘ dar. Es wurde auf Grund dieses
Materials gegen Thälmann die schwerste Anklage nach dem §85 des deutschen StGB erhoben (Vorbe-
reitung eines bewaffneten Aufstandes).“ (NKWD-Auskunft über Werner Hirsch. In: Müller: Menschen-
falle Moskau, S. 443–447, hier: S. 444).
200 Die Berichte über Hirschs Folter speisten sich keineswegs nur aus seinen „Behauptungen“, son-
dern wurden von Mithäftlingen bezeugt. Als die Internationale Kontrollkommission der Komintern
am 10.6.1935 die „Angelegenheit Hirsch“ verhandelte, berichtete der ehemalige Mithäftling Heinz Alt-
mann, dass als SS-Leute Mithäftlinge zwangen, ihn zu verprügeln, Hirsch der einzige gewesen sei, der
sich geweigert habe und daher selbst umso stärker misshandelt worden sei. Altmann selbst wurde
1937 vom NKVD verhaftet und zu einem Geständnis gezwungen, nach dem er ein Gestapo-Agent ge-
wesen sei (Müller: Der Fall Werner Hirsch, S. 41).
201 Dieser Vorwurf wurde gegen Hirsch auf der Sitzung der Politkommission des EKKI vom 15.2.1935
erhoben (Chronik Pieck, 15.2.1935).
202 Kreszentia („Zenzl“) Mühsam, geb. Elfinger (1884–1962), die Frau des in der Nacht des Reichs-
tagsbrandes verhafteten und am 10.7.1934 ermordeten Anarchisten und freiheitlichen Sozialisten
Erich Mühsam, war auch aktives KPD-Mitglied und engagierte sich besonders in der Roten Hilfe. Of-
fensichtlich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen und unter Ausnutzung ihres schweren persönli-
chen Schicksals in die Sowjetunion gelockt, wurde sie vom NKVD beschuldigt, neben ca. 50 weiteren
Mitgliedern und Helfern der sog. „Wollenberg-Hoelz-Organisation“ an einer „konterrevolutionären,
terroristischen, trotzkistischen Verschwörung“ beteiligt zu sein. Erich Wollenberg, ein Mitkämpfer
Mühsams aus der Zeit der Münchner Räterepublik, hatte infolge der deutschen Katastrophe 1933/1934
mit Stalin gebrochen. Zenzl Mühsam erlebte trotz zeitweiser Freilassung durch eine internationale
Solidaritätskampagne (1936) über zwanzig Jahre Gefängnis, Verbannung und Straflager in der Sowje-
tunion, während andere „verfolgt, verhaftet, gefoltert und erschossen [wurden], dabei auch invalide
Emigranten, nach Moskau geflüchtete KZ-Häftlinge, Frauen und Kinder der verhafteten ‚Volksfein-
de‘.“ (Reinhard Müller). Ihr Leben lang kämpfte sie um die Rettung von Mühsams Nachlass und die
Veröffentlichung seines Werks, was zunächst vom KPD-Politbüro und dem NKVD, nach 1945 durch
die Stasi mit Hilfe der Akademie der Künste in Ost-Berlin unterbunden wurde und „[...] über Jahr-
zehnte einer Abschottung und Neutralisierung des einzig bedeutenden deutschen anarchistischen
Schriftstellers gleichkam.“ (Uschi Otten: „Den Tagen, die kommen, gewachsen sein“. http://alte.kpoe.
Dok. 384: [Moskau], 02.07.1936 1225
Er [d.i. Hirsch] kommt aus einer aristokratisch-feudalen Familie, verwandt mit Hin-
denburg. Seine Mutter ist eng befreundet mit Emmi Sonnemann – der Frau Görings.203
6. Man muss hinzufügen, dass W.H. unter höchst verdächtigen Umständen und in
jedem Fall durch einen persönlichen Befehl Görings aus dem Konzentrationslager
befreit wurde, und dass W.H. unterschiedliche Umstände seiner Befreiung angibt.204
Übrigens interessieren sich bestimmte offizielle Organe verstärkt für ihn.205
Man muss irgendetwas tun, um die Klärung seiner Angelegenheit zu forcieren. Ich
halte es für unzweckmässig, dass Sie ihn empfangen.206
/Černomordik/.207
Am 3.7.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Wiederaufnahme der Han-
delsbeziehungen zum faschistischen italienischen Staat zu den Konditionen des Handelsvertrags
vom 15.6.1935.208
Eine Woche später, am 10.7.1936, formulierte das Politbüro einen Text für den Rat der Volkskommis-
sare, wonach alle wegen des Angriffs auf Abessinien beschlossenen Sanktionen gegen Italien und
italienische Importe in die Sowjetunion aufgehoben werden sollten und dies von der Presse kommu-
niziert werden sollte.209
Dok. 385
Brief Piecks an die operative Leitung der KPD zur internationalen
Lage und den Verhaftungen von deutschen Kommunisten in der
Sowjetunion
Moskau, 27.7.1936
27.7.1936
Liebe Freunde!
Ich möchte Euch über einige wichtige politische Fragen informieren, die in der letzten
Zeit behandelt wurden:210
1. Die Taktik unserer chinesischen Partei. Das ZK hat die Bildung einer antijapanischen
Volksfront beschlossen und ist damit an die Korrektur von taktischen Fehlern heran-
gegangen, die in der letzten Zeit gemacht wurden und die das Zustandekommen einer
Volksfront gegen die japanischen Räuber erschwerten.211 Es geht dabei in der Haupt-
sache darum, Tschan-Kai-Tschek [d.i. Tschiang Kai-Shek] und die Kuomintang zu
zwingen, zu der Frage der Schaffung der Volksfront Stellung zu nehmen und es ihnen
zu erschweren, vor den Massen ihre reaktionäre Politik mit dem Hinweis zu verschlei-
ern, dass die Existenz der Roten Armee und der Kampf der KPCh um die Sowjetmacht
es ihnen erschwere, den Kampf gegen den japanischen Imperialismus zu führen. Sie
treten auf als die Vorkämpfer der Verteidigung Chinas gegen die japanischen Erobe-
rer. Durch unsere Taktik sollen sie aber genötigt werden, zu diesem Kampfe praktisch
Stellung zu nehmen. Unsere Taktik beruht darauf, daß die bürgerlich-demokratische
Revolution noch nicht vollendet ist, und deshalb nicht die Frage der Sowjetmacht,
sondern die Erkämpfung der demokratischen Republik auf der Tagesordnung steht.
Wir werden an die Kuomintang und Tschan-Kai-Tschek [d.i. Tschiang Kai-Shek] mit
210 Der Brief wird teilweise zitiert in Kaufmann/Reisener/Schwips u.a.: Der Nachrichtendienst der
KPD, S. 396 als Beleg dafür, dass Pieck von „der Richtigkeit und Notwendigkeit“ der Terrormaßnah-
men in der UdSSR überzeugt war und „in diesen Fragen keinerlei Erbarmen kannte.“
211 Pieck referiert hier die Umstellung der Politik der chinesischen KP auf eine Volksfront mit
Tschiang Kai-shek, trotz der katastrophalen Erfahrungen aus den Jahren 1926/1927 und trotz der mili-
tärischen Verfolgung durch die Nationalchinesische Armee – wurde 1934/1935 gegen die Übermacht
der „lange Marsch“ organisiert. Der japanische Angriff wurde seinerseits mit der Notwendigkeit eines
antikommunistischen Feldzugs im Sinne der Antikomintern vor allem nach dem Sian-Zwischenfall
des Jahres 1936 legitimiert, bei dem Tschiang Kai-shek von einer Einheit der KP kurzzeitig verhaftet
wurde. Siehe hierzu die Instruktionen und Korrespondenzen zwischen der Kominternführung und
der KP Chinas in: Alexander Dallin, Fridrich I. Firsov (Hrsg.): Dimitrov and Stalin. 1934–1943. Letters
from the Soviet Archives. Russian documents translated by Vadim A. Staklo, New Haven-London, Yale
University Press, 2000, S. 83–147.
Dok. 385: Moskau, 27.7.1936 1227
212 Am 26.11.1936 teilte Stalin im Kreml Dimitrov mit: „... Man muß die Linie in der chinesischen
Angelegenheit ändern. Mit den Räten wird es nichts. Es ist eine national-revolutionäre Regierung
zu schaffen, eine Regierung der nationalen Verteidigung, der Verteidigung der Unabhängigkeit des
chinesischen Volkes.“ (Dimitroff-Tagebücher, I, S. 135).
213 Dimitrov selbst schrieb einen Grundsatzartikel und Wan Min erklärte ausführlich die neue Par-
teitaktik der antijapanischen Front. Siehe Dimitroff: Zum 15. Jahrestag der Kommunistischen Partei
Chinas. In: Die Kommunistische Internationale 17 (1936), H. 9, (September), S. 880–883; Wan Min: 15
Jahre Kampf für ein unabhängiges und freies chinesisches Volk, ibid., S. 883–900.
214 Mit dem Staatsstreich vom 17.7.1936 unter Führung des Generals Franco in Spanisch-Marokko,
der bald das Festland erreichte, begann der spanische Bürgerkrieg. Die seltsame Wortwahl „Aufruhr“
mag sich aus der vorsichtigen Haltung der spanischen Regierung einerseits und der Komintern ande-
rerseits erklären. Beide vermieden es, von einer revolutionären Entwicklung zu sprechen.
215 Aus dem Putsch Francos entstand der spanische Bürgerkrieg. Vor allem anarcho-syndikalisti-
sche und linkssozialistische Teile der Arbeiterbewegung organisierten den beginnenden Widerstand,
der sich zur Revolution entwickelte, was zunächst die Existenz der spanischen Republik rettete. Der
Eintritt der KP Spaniens in die Volksfrontregierung erfolgte erst im September 1936.
1228 1933–1939
ders bei der Hitlerregierung, und den englischen Imperialisten. Hitler war besonders
in den nordafrikanischen Kolonien, in spanisch-Marokko und in französischen Kolo-
nien tätig. Wieweit Mussolini die Vorbereitungen des Aufruhrs unterstützte, ist noch
nicht klar ersichtlich. Die Regierungsumbildung zeigte gewisse innere Schwierigkei-
ten, die sich daraus ergaben, dass die Arbeiterorganisationen ihren Rücktritt forder-
ten, weil sie nicht genügend gegen die Konterrevolution vorging und andererseits
angenommen wurde, dass die neue Regierung mehr Einfluss auf die Offiziere hätte
und damit es der Konterrevolution erschwere, ihren Aufruhr mit Unterstützung der
Armee durchzuführen. Es sind unseren Freunden noch vor dem Aufruhr Direktiven
gegeben worden, die Geschlossenheit der Volksfront um jeden Preis zu sichern, für
die Verhaftung der Aufrührer und Verschwörer einzutreten, für die Konfiskation des
Grundbesitzes des Adels, für das Verbot der faschistischen Presse, für die Verstär-
kung der Arbeiter- und Bauernallianzen, Massnahmen zur Vorbeugung anarchisti-
scher Putsche und einiges andere. Nach dem Aufruhr galt es für die KP entschieden
für die Verteidigung der Republik und die Verbrüderung mit der Armee einzutreten.
Angesichts der Schwankungen der Regierung, die eine grosse Gefahr sind, ist die
Frage der Schaffung einer Volksfrontregierung unter Beteiligung aller Parteien der
Volksfront, auch der Kommunisten, zu stellen und Komitees zur Rettung der Repub-
lik zu bilden. Von grosser Bedeutung ist bei dieser Lage in Spanien, die immer noch
nicht klar den Ausgang der Kämpfe zeigt, dass sofort eine internationale Kampagne
zur Unterstützung des Kampfes gegen die Aufrührer eingeleitet wird, bei der klar der
Charakter des Verbrechens des Faschismus bei der Unterstützung dieses Aufrufes
aufgezeigt und als einzige Rettung die Steigerung der Kräfte der Volksfront dargelegt
werden müssen.216 [...]
216 Zwei Tage vor Abfassung des vorliegenden Berichts, am 25.7.1936 erfolgte Hitlers Zusage der
Unterstützung an die Franco-Truppen. Bereits am 1.8.1936 errichteten deutsche Transportflugzeuge
eine Luftbrücke von Tétouan aus an die spanische Küste, während die Sowjetunion sich abwartend
verhielt und die internationale Kampagne der Komintern anlief, die zunächst auf eine politische Un-
terstützung der Volksfront ausgerichtet war.
217 Ein Bericht der Internationalen Kontrollkommission wurde zum VII. Weltkongress der Komin-
tern veröffentlicht. Siehe: Die Komintern vor dem VII. Weltkongreß, Moskau, Verlagsgenossenschaft
Ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1935, S. 697–718.
Dok. 385: Moskau, 27.7.1936 1229
durch den Parteitag gewählt werden, in den illegalen Parteien übernimmt das ZK der
Partei diese Aufgabe. Wir müssten also unsere ZKK nur als ein Hilfsorgan des ZK, als
eine Art Kommission, behandeln.218 Das bedeutet, dass auch unsere ZKK nicht mit
solchen Dokumenten in die Oeffentlichkeit treten kann, wie das geschehen ist. Ferner
wurde festgelegt, dass die IKK ihre Tätigkeit etwas mehr begrenzt, indem sie nicht
mehr Berufungen einzelner Parteimitglieder behandelt, sondern dass das durch die
ZKKʼs oder die ZKʼs erfolgt. Die IKK kann im Falle einer Berufung der ZKK oder des
ZK die Verpflichtung auferlegen, die Angelegenheit noch einmal zu verhandeln. Es
wurden auch eine Reihe von Grundsätze[n] über die Bestrafung von Genossen fest-
gelegt. Ausschluss aus der Partei soll erfolgen, wenn von Parteimitgliedern Verrat
an der Partei, Mitteilungen an den Klassenfeind gaben, oder dem Klassenfeind das
Versprechen gaben, ihm behilflich zu sein [sic]. Ferner, wenn Parteimitglieder nicht
wahrheitsgetreu auf Fragen der Kontrollkommission antworten. Dabei wurde eine
Frage gründlich erörtert, die die Gnadengesuche betreffen.219 Es sollen Kommunisten
aus der Partei ausgeschlossen werden, die Gnadengesuche einreichen. Dabei wurde
aber darauf verwiesen, dass in einzelnen [Ländern] es gesetzliche Bestimmungen
gibt, wonach eine Freilassung aus dem Kerker nur erfolgt, wenn von den Eingekerker-
ten selbst ein entsprechender Antrag gestellt wird, wie das z.B. in Italien der Fall ist.
Solche Fälle wurden von der Charakterisierung als Gnadengesuche ausgenommen.
Aber es muss dafür das vorherige Einverständnis des ZK eingeholt werden. Ich habe
auch die bei uns vorkommenden Fälle vorgetragen, wonach von den Faschisten den
Eingekerkerten Reverse vorgelegt werden, in denen sie sich verpflichten, nicht mehr
politisch tätig zu sein, nicht[s] gegen den Staat zu unternehmen und darüber hinaus
auch die Anforderungen an die zu Entlassenden gestellt werden, für die Gestapo zu
arbeiten.220 Die ersteren Fälle wurden als solche angesehen, dass daraufhin keine
Parteimassnahme zu ergreifen ist, dass aber eine sehr sorgfältige Nachprüfung
des Verhaltens des Betreffenden im Gefängnis stattfinden und er ausserdem in der
ersten Zeit sehr stark von der Partei isoliert werden muss. Eine Verpflichtung, für die
Gestapo zu arbeiten, darf kein Kommunist abgeben, wo es geschieht, muss der Aus-
schluss aus der Partei erfolgen. Im Einverständnis mit dem ZK können Genossen im
Kerker bei der unmittelbar vorgesetzten Behörde Haftentlassungsanträge stellen oder
auch Anträge auf Erlass der weiteren Gefängnisstrafe. Als allgemeiner Grundsatz für
die Durchführung von Untersuchungen gegen Parteimitglieder gilt die Verletzung der
Einheit und Geschlossenheit der Reihen der Komintern, das Fehlen von bolschewisti-
scher Standhaftigkeit vor dem Klassenfeind (offenen Aussagen und Verrat vor Polizei
und Gericht), Fehlen einer vom Klassenbewußtsein geschärften Wachsamkeit, Verlet-
zung der Konspiration, Provokateure. Typische Fälle sollen der Parteimitgliedschaft
zur Kenntnis gebracht werden, um die Mitglieder zu veranlassen, daraus Lehren zu
ziehen. [...]
Das ist im Wesentlichen das Wichtigste aus den Beratungen und Informationen
der letzten Zeit. Ich werde Euch selbstverständlich darüber auf dem Laufenden halten,
wie ich auch versuchen will, durch die kollektive Zusammenarbeit der hier arbeiten-
den Genossen Eure Arbeit nach dem Lande zu unterstützen. Leider ist aber gegenwär-
tig die Urlaubszeit, sodass immer wieder Genossen, denen Aufträge gegeben wurden,
nicht mit ihren Arbeiten zu Rande kommen und dadurch Verzögerungen eintreten.
Unser Freund D[avid], der zu Euch kommen sollte, ist leider „erkrankt“.221 So etwas
kommt hier auch vor. Ich hoffe aber, dass er doch bald wieder seine Arbeit aufneh-
men kann. Ueber die Ursache seiner Krankheit bin ich nicht informiert. Es hängt das
aber offenbar mit Sachen zusammen, an denen in der letzten Zeit noch einige andere
erkrankten, wie Emel, Stauer, Mansfeld.222 Es ist kein Zweifel, dass es sich dabei um
Ursachen handelt, die vom Auslande eingeschleppt wurden, und bei denen es natür-
lich notwendig ist, eine gründliche Ausrottung vorzunehmen. Ob und inwieweit D.
davon angesteckt wurde, muss natürlich die ärztliche Untersuchung ergeben. Vor-
läufig ist darüber nichts zu erfahren. Mir ist selbstverständlich die Sache sehr unan-
genehm, da ich mit besonderem Eifern seine Entsendung betrieben habe. Vielleicht
hängt seine Erkrankung sogar mit der geplanten Entsendung zusammen. Wir können
nur wünschen, dass die Sache restlos geklärt wird und soweit ich dabei helfen kann,
wird das selbstverständlich geschehen. Wir müssen dabei sehr vorsichtig sein, und
das betrifft auch unsere Anträge auf Entsendung von Leuten nach hier. Es ist wirklich
erstaunlich, was von aussen her alles unternommen wird, um sich hier an den wich-
tigsten Stellen einzubauen und mit welcher Dummheit, wenn nicht mehr, Genossen
221 Fritz David (Ps.), d.i. Il’ja-David Izrailevič Krugljanskij (1897 Nowosibkow bei Wilna – 1936, in
Moskau hingerichtet), war in der Sowjetunion einer der engsten Mitarbeiter Piecks; er wurde wenig
später im 1. Moskauer Schauprozess angeklagt, siehe Dok. 386. Pieck schrieb am Vortag der Urteils-
verkündung an Florin: „Wir können wirklich den Sicherheitsorganen der SU danken, daß sie noch
rechtzeitig zugegriffen haben.“ (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 179; siehe auch im Einlei-
tungstext Hermann Webers).
222 Alexander Emel (Ps.), d.i. Moisej Lurʼje, Stauer (Ps.), d.i. Konon Berman-Jurin (1901 Ilukste, Kur-
land/Lettland – 24.8.1936 in Moskau hingerichtet) und Ernst Mansfeld (1908–1936, in der Sowjetunion
hingerichtet). Mansfeld emigrierte als KPD-Mitglied 1933 in die Sowjetunion und war in der Interna-
tionalen Arbeiterhilfe engagiert. Zu Emel und Stauer siehe Dok. 386.
Dok. 386: Moskau, 1.8.1936 1231
auf solche Versuche eingehen. Besonders werden diese Versuche von unserem Lande
aus unternommen. Ihr solltet auch bei Euch darauf ein sehr wachsames Auge haben.
Etwas mehr Vorsicht ist nützlicher als zu wenig.
Dok. 386
Briefentwurf des Sekretariats der Komintern an die NKVD-
Führung über eine „konterrevolutionär-terroristische Gruppe von
KPD-Mitgliedern“
Moskau, 1.8.1936
223 Der Autor ist nicht mehr zu ermitteln, das Dokument endet abrupt, ohne jegliche Schlussformeln
oder Unterschriften.
224 Einen Tag vorher, am 29.7.1936, hatte das ZK der VKP(b) ein internes Rundschreiben unter dem
Titel „Über die Spionage- und terroristische Tätigkeit des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks“ an
die Parteiorganisationen versandt. Darin wurde den von einem „vereinigten Zentrum des trotzkis
tisch-sinowjewistischen Blocks“ angeleiteten „Terroristengruppen“ nicht nur die Ermordung Kirovs
zugeschrieben, sondern auch Attentatspläne auf Stalin und andere Parteiführer. Der „Block“ hätte
sich auf den „Weg des individuellen weißgardistischen Terrors“ begeben und dabei auch mit auslän-
dischen Geheimdiensten kooperiert. Das Schreiben schloss mit dem Appell, versteckte Feinde in der
Partei aufzuspüren (Teilpublikation in: Hedeler, Chronik, S. 65).
225 Dass sich im folgenden Text einzig zu Pavel Lipšic keine Angaben finden, könnte darauf zurück-
zuführen sein, dass seine KPD-Mitgliedschaft rein nomineller Natur war. Aus Litauen stammend, hielt
er sich als parteiloser Ingenieur in Deutschland auf und schloss sich 1926 – wohl aus Zuneigung zu
seiner Lebensgefährtin, einer aktiven sowjetischen Kommunistin, – der KPD an. 1932 mit ihr in die
Sowjetunion zurückgekehrt, wurde er am 28.4.1936 verhaftet, am 7.10.1936 in einem geschlossenen
Prozess zusammen mit Erich Konstandt, Aleksandr Ochrimskij und Viktor Ljubarskij als Mitglieder
einer „konterrevolutionären trotzkistischen Organisation“ zum Tode verurteilt und am nächsten Tag
erschossen (siehe die Memoiren seiner Tochter: Natalʼja Galʼper: Strana sirot. Dokumentalʼnaja proza
XX vek [Petach Tikwa, Israel], Selbstverlag, 2004, S. 30–40. Zu Anklageschrift und Urteil im Prozess
gegen Lipšic u.a. ibid., S. 183–211).
226 Drei der genannten Personen wurden im ersten Moskauer Schauprozess gegen das „trotzkis
tisch-sinowjewistische terroristische Zentrum“ (19.–24.8.1936) verurteilt (Hedeler: Chronik, S. 461).
1232 1933–1939
Zu einem Großteil dieser Personen verfügt die Kaderabteilung der Komintern über
belastendes Material, das seinerzeit an das Narkomvnudel227 übergeben wurde. Ich
halte es für notwendig, Sie auf diese Tatsache hinzuweisen, da es erstens nun wichtig
wäre, zu überprüfen, ob dieses Material seinerzeit verwendet wurde, und zweitens
dieses Material möglicherweise in der einen oder anderen Weise den Ermittlungen
helfen könnte.
Im Folgenden führen wir in Kurzform das sich bei uns über diese Personen befin-
dende Material auf.
LURʼE Moisej /[Ps.] Emel Aleksander/. Am 30. Oktober 1934 teilte die Kaderabtei-
lung des EKKI dem Narkomvnudel (an Gen. S. /Sosnovskij/) mit, dass LURʼE M., Mit-
glied der Kompartei Deutschlands seit 1922, der im Agitpropapparat des ZK der KPD
gearbeitet hatte, „wegen Teilnahme an der Weddinger Opposition aus der Kompartei
ausgeschlossen wurde. Ehemaliger Trotzkist.“ Zugleich wurde mitgeteilt, dass die Säu-
berungskommission der Parteiorganisation des EKKI Emel nicht für die Überführung
in die VKP(b) empfohlen hatte –. Eine genauere Mitteilung wurde im Jahre 1936 an
das NKVD gemacht.
DAVID Fritz [d.i. II’ja-David Krugljanskij]. Die Kaderabteilung und die Parteiorga-
nisation des EKKI haben sich seinerzeit für DAVID F. als ein Mitglied der KPD inter-
essiert, das in der Redaktion der Zeitschrift Kommunistische Internationale arbeitete.
DAVID wurde vor das Parteikomitee bestellt, um die Frage zu klären, wie er, ein in
der Vergangenheit aktiver Menschewik, nach Deutschland kommen und in die KPD
eintreten konnte.228 Die Aussagen von DAVID F. wurden am 11. Juli 1936 an das NKVD
übergeben.
KONSTANDT Erich. Am 10. Februar 1934 teilte die Kaderabteilung des EKKI dem
Narkomvnudel (an Gen. S. /Sosnovskij/) mit, dass KONSTANDT ein politischer Betrü-
ger sei und der Spionage verdächtigt würde. Zusätzlich wurde über KONSTANDT am 17.
April 1934, 11. Mai 1934 und 20. Juli 1934 an dieselbe Adresse Mitteilung erstattet. Im
Brief N° 3264 teilte die Kaderabteilung des EKKI der Kommission zur Parteikontrolle
[der VKP(b)] mit, dass KONSTANDT bereits 6 Jahre in den Reihen der VKP(b) verblie-
ben sei, obwohl schon am 15. September 1928 die Kommission zur Überführung in
die VKP(b) auf Vorschlag des ZK der KPD ihre frühere Entscheidung zur Überführung
KONSTANDTS in die VKP(b) widerrufen und die Basis-Parteiorganisation beauftragt
hatte, seinen Parteiausweis einzuziehen. Erst anlässlich der Überprüfung der Partei-
dokumente kam KONSTANDT in die Kaderabteilung des EKKI mit einer Beschwerde
über die Einziehung seines Parteiausweises.
227 Narkomvnudel: NKVD.
228 Ilʼja-David Krugljanskij (Ps. Fritz David, 1897–1936, in der Sowjetunion hingerichtet), ein Tex-
tilarbeiter und Gewerkschaftsaktivist, war bis 1920 Mitglied der Menschewiki und kam 1926 nach
Deutschland, wo er der KPD beitrat und u.a. für die Rote Fahne schrieb. 1933 kehrte er nach Moskau
zurück und war dort enger Mitarbeiter Wilhelm Piecks. 1936 erfolgte sein Ausschluss aus der KPD
wegen „trotzkistischer Verbrechen gegen die Arbeiterklasse“ (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kom-
munisten, S. 179; Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank).
Dok. 386: Moskau, 1.8.1936 1233
Auf Vorschlag von Nikolaj Krestinskij stimmte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am
7.8.1936 einem Besuch des Ministerpräsidenten der französischen Volksfrontregierung, Léon Blum,
in die UdSSR zu.231 Der Besuch des Sozialistenführers kam allerdings nicht zustande.
Ebenfalls am 7.8.1936 bevollmächtigte das sowjetische Politbüro den Berliner Emissär David Kandela-
ki, einen neuen Handelsvertrag mit dem Deutschen Reich für 1937 nach den Bedingungen von 1936
abzuschließen (die von deutscher Seite abgelehnt wurden). Des Weiteren sollte der 200-Millionen-
Kredit vorfristig beglichen werden.232 Am gleichen Tag beschloss das Politbüro, vom 200-Millionen-
Kredit in Deutschland bis zu 5000 Tonnen Panzerstahl für Schiffe zu kaufen.233
Am 17.8.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine neue Verfahrensweise für
die Visavergabe an deutsche Industrielle und Handelsvertreter. Demnach sollte zunächst die sowje-
tische Botschaft eine Anfrage beim Außenkommissariat einreichen. Diese sollte dann mit der Aus-
landsabteilung des NKVD abgestimmt werden.234
229 Valentin Olberg hatte 1930, wahrscheinlich im NKVD-Auftrag, versucht, sich bei dem auf der
türkischen Insel Büyükada (griech. Prinkipo) exilierten Trotzki als Sekretär zu bewerben, wurde al-
lerdings abgelehnt, weil Franz Pfemfert und Alexandra Ramm bei ihrer Kommunikation mit Olberg
misstrauisch wurden und Trotzki warnten. Olberg trat beim ersten Schauprozess 1936 als Kronzeu-
ge gegen Trotzki, Sinowjew und Kamenev auf (Isaac Deutscher: The Prophet Outcast: Trotsky. 1929–
1940, London u.a., Oxford University Press, 1963, S. 21). Auf eine „weißgardistische Vergangenheit“
Olbergs deutet allerdings nichts hin. Sein Vater Paul Olberg war ein lettischer Sozialdemokrat, der
nach Deutschland emigriert und in der SPD aktiv war.
230 In Valentin Olbergs Komintern-Personalakte (RGASPI, Moskau, 495/205/8318) befinden sich zwei
Briefe von Lev Trotzki und seinem Sohn Lev Sedov aus den Jahren 1931–1932, die bei der Hausdurch-
suchung 1936 beschlagnahmt worden seien (siehe: Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch,
Datenbank, Eintrag „Olberg, geb. Szmuszkewicz“). Die Überprüfung dieser Briefe auf Inhalt und Au-
thentizität steht noch aus.
231 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 38.
232 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 40.
233 APRF, Moskau, 3/64/664, 87. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 137.
234 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 51; APRF, Moskau, 3/64/664, 88. Publ. in: Ibid., Dok. 138.
1234 1933–1939
Ebenfalls am 17.8.1936 wurde entschieden, dem Internationalen Büro der Gesellschaft der Freunde
der Sowjetunion über den sowjetischen Gewerkschaftsverband 10.750 US-Dollar für das Jahr 1936
zuzuleiten, sowie zusätzlich 6.000 Schweizer Franken zu Händen des Organisationskomitees für die
Einberufung des Internationalen Friedenskongresses.235 Der Kongreß der Weltvereinigung für Frieden
fand vom 3–6.9.1936 im Brüsseler Heysel-Stadion statt.
In einem weitern Beschluss wurde darauf gedrängt, dem republikanischen Spanien „zu den aller-
günstigsten Konditionen“ die benötigte Menge an Heizöl zu verkaufen.236
Am 19.8.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Presseplan zur Bericht-
erstattung über den Prozess der „konterrevolutionären trotzkistisch-sinowjewistischen Terrorgrup-
pe“ (19.–24.8.1936). Danach sollten die Pravda und die Izvestija täglich im Umfang von einer Spalte
über den Prozess berichten, alle anderen Zeitungen im Umfang von einer halben Spalte. Das Material
sollte vor dem Druck von Aleksej Steckij, Boris Talʼ, Lev Mechlis, Andrej Vyšinskij und Jakov Agranov
eingesehen werden, unter der Leitung des NKVD-Vorsitzenden Nikolaj Ežov. Zum Prozess zugelas-
sen werden sollten Redakteure der größten landesweiten Zeitungen, Korrespondenten der Pravda
und Izvestija, Mitarbeiter des EKKI sowie neben Korrespondenten ausländischer kommunistischer
Zeitungen auch Korrespondenten der bürgerlichen Presse. Die Möglichkeit der Präsenz ausländischer
Botschafter beim Prozess wurde zugelassen, den Betreffenden seien persönlich Eintrittskarten aus-
zuhändigen.237
Dok. 387
Brief Piecks an Wilhelm Florin zum Ergebnis des Moskauer
Prozesses und der „verbrecherischen Tätigkeit“ von
KPD-Mitgliedern
Moskau, 23.8.1936
Typoskript in deutscher Sprache. SAPMO, ZPA, Berlin I 2/3/250. Vollständig publ. in: Petra Becker,
Peter Erler, Barbara van der Heyden u.a. (Hrsg.): In den Fängen des NKWD. Deutsche Opfer des
stalinistischen Terrors in der UdSSR. Mit Kurzbiographien von mehr als 1100 Opfern, Berlin, Dietz,
1991, S. 275–283.
Abschrift
An Florin
da ich nicht in Urlaub fuhr, so Brief nur noch Inf.wert [handschr.] 23.8.36238
Lieber Wilhelm!
[…] Der Prozeß gegen die trotzkistisch-sinowjewistische Mörderbande hat sehr über-
raschende Ergebnisse gebracht. Es ist hier eine große Arbeit von den Sicherheitsor-
ganen geleistet worden. Dabei ist im Prozeß nur ein Teil der Verbrechen aufgerollt
worden, die gegen den Sowjetstaat und gegen die KPdSU und ihre Führer unter-
nommen worden.239 Es sind eine sehr große Zahl von Leuten verhaftet worden, die
mir diesen Verbrechen im engsten Zusammenhange stehen. Leider sind darunter
eine Reihe von deutschen Emigranten und Mitgliedern der KPD. Es sind das über 50
Leute.240 Natürlich kann durch diese Kerle die KPD nicht beschmutzt werden, aber
es wird dadurch die sehr ernste Frage gestellt, was wir unternehmen können, um
diese verbrecherische Tätigkeit unmöglich zu machen und auch die Partei selbst vor
diesen Kerlen zu schützen. Es ist zweifellos, daß wir nicht die erforderliche Wach-
samkeit haben walten lassen, daß wir über die Dinge immer zu leicht hinweggegan-
gen sind. Wenn wir uns nur vergegenwärtigen, in welchem Umfange immer wieder
Verhaftungen im Lande erfolgten und wir niemals ernstlich nachkontrollierten, auf
welche Ursachen das zurückzuführen war. Wir haben zwar immer darauf abzielende
Beschlüsse gefaßt, die aber praktisch nicht durchgeführt wurden. Ich habe jetzt auf
Grund des Prozesses erneut einen Beschluß formuliert und ihn mit unseren Freun-
den in der KI durchgesprochen. Wir müssen eine sehr ernste Durchleuchtung unserer
gesamten Emigration vornehmen, um uns über die Vergangenheit jedes einzelnen
Genossen sehr genau zu informieren. Wo diese nicht ganz zweifelsfrei ist, sollten wir
rücksichtslos die Parteimitgliedschaft entziehen. Dasselbe gilt im vermehrten Maße
für alle Legitimationen, insbesondere bei Empfehlungen für die Überführung in die
KPdSU. Sie sollen nur im absolut zweifelsfreien Fällen gegeben werden. Selbst wenn
das Schwierigkeiten mit einzelnen Genossen gibt, so müssen wir das in Kauf nehmen.
Die Verantwortung ist eine viel zu große, als daß wir unsere bisherige Loyalität fort-
setzen.
Dann scheint mir notwendig zu sein, daß wir unsere Emigration zahlenmäßig
bedeutend vermindern. Es muß eine ernste Nachprüfung erfolgen, wer noch in der
Emigration verbleiben und wer in das Land zurückkehren soll. Als allgemeine Regel
sollte dabei gelten, daß alle diejenigen ins Land zurückkehren, von denen die Nazis
kein Material über ihre Tätigkeit haben, die nicht an irgendwelchen Zusammenstößen
der Nazis teilgenommen oder gegen die Mordbeschuldigungen erhoben werden. Ich
bin überzeugt, daß 2/3 der Emigranten ins Land zurückgehen können. Eine Anzahl
wird vielleicht zunächst verhaftet werden, aber wenn ihnen nichts nachgewiesen
239 Der Brief wurde in Moskau am Tage vor der Urteilsverkündung im ersten Prozess vom 19. bis 24.
August 1936 gegen Kamenev, Sinowjew, Evdokimov, David u.a. geschrieben. Zum Ersten Moskauer
Schauprozess siehe auch das Kapitel im Einleitungstext von Hermann Weber, Bd. 1, S. 115ff.
240 Von den im Schauprozess unmittelbar angeklagten Personen waren Fritz David (Ps.), d.i. Ilʼja-
David Krugljanskij, Moisej Lurʼe und Valentin Olberg Mitglieder der KPD (siehe vorheriges Doku-
ment). Im Vorlauf des Prozesses wurden weitere KPD-Mitglieder verhaftet.
1236 1933–1939
werden kann, wieder entlassen werden. Diese Maßnahme wird auch dazu beitragen,
daß wir unseren Kaderbestand im Lande ideologisch heben.241 […]
Du wirst verstehen, daß mich am schwersten der Fall David [d.i. Il’ja-David Krugl-
janskij] betroffen hat. Ich habe wirklich Vertrauen zu diesem Kerl gehabt, der es in
sehr geschickter Weise verstanden hat, nicht nur mich über seine verbrecherischen
Pläne zu täuschen. Du wirst gelesen haben, daß Trotzki ihm den Rat gab, er solle in
jeder Hinsicht als ein der Komintern und der Partei treu ergebener Mann auftreten.
Dieses Spiel hat er gut verstanden. Du erinnerst Dich, daß im vorigen Sommer, als er
mit mir den Bericht für den Kongreß vorbereitete, Bedenken gegen ihn auftauchten.
Dabei handelte es sich in der Hauptsache um die Frage seiner Einreise nach Deutsch-
land und seines Eintritts in die KPD.242 Es wurde damals bekannt, daß er gleich nach
der Oktober-Revolution zweimal von der Tscheka verhaftet worden war, aber das
eine Mal nach einem Tage und das zweite Mal nach 3 oder 4 Tagen wieder entlas-
sen wurde. Er gehörte früher dem jüdischen „Bund“ an. Über diese Tatsachen hatte
David [d.i. Il’ja-David Krugljanskij] bei der letzten Parteireinigung Angaben gemacht,
und Fritz Heckert hat damals seine Aufnahme in die KPdSU befürwortet, die dann
auch beschlossen wurde (d. h. die Befürwortung). Es wurde durch eine Untersuchung
nachträglich festgestellt, daß er mit Zustimmung der zuständigen Sowjetorgane nach
Deutschland gefahren ist. So blieb von den im Vorjahre erhobenen Beschuldigungen
keine Unklarheit, und es war von unseren Freunden in der KI (Dim[itrov], Man[uilski]
und der Kaderabteilung) beschlossen worden, daß die Untersuchung nichts Nachtei-
liges über D[avid] ergeben hat und er zur Arbeit verwandt werden kann. Du erinnerst
Dich, daß wir bei unserer letzten BP-Beratung in Paris uns einstimmig dahin ver-
ständigten, beim Sekretariat des EKKI den Wunsch zu äußern, D[avid] für die Arbeit
unserer Propagandaabteilung unter der Leitung von Gerhard im Auslande zu verwen-
den, wenn dagegen von den Freunden der KI keine Bedenken erhoben werden. Das
geschah nicht, und so wurde alles für die Reise von D[avid] vorbereitet, als plötz-
lich seine Verhaftung erfolgte. Wir können wirklich den Sicherheitsorganen danken,
daß sie noch rechtzeitig zugegriffen haben. Welches Unheil hätte dieser Kerl noch
über uns bringen können, wenn er die Gelegenheit erhalten hätte, in dieser Funktion
unmittelbar mit der Führung verbunden zu sein und die ihm dadurch zugänglichen
Kenntnisse im Dienste von Trotzki und der Gestapo zu verwenden.
241 Anregungen zur Verringerung der Emigration in die Sowjetunion hatte bereits Anfang des Jah-
res Manuilski an Ežov übermittelt (siehe Dok. 374). In einem am 25.8.1936 verfassten, Ende Februar
1937 gebilligten und am 8.3.1927 verschickten Beschluss des Präsidiums des EKKI und des Büros der
IKK gegen „Agenten des Feindes“, denen es gelungen sei, in die KPs einzudringen, wurden führen-
den Parteifunktionären, „die Agenten des Klassenfeindes aus ihren Parteien zur Überführung in die
Reihen der führenden Sektionen der Komintern, die KPdSU, empfohlen haben“, härtere Sanktionen
angedroht (RGASPI, 495/20/760, 16–17; Weber/Mählert: Terror, S. 108–109).
242 Fritz David (Ps.), d.i. Ilʼja-David Krugljanskij, war enger Mitarbeiter von Pieck und Autor wesent-
licher Teile der Resolution der „Brüsseler Parteikonferenz“ 1935 (Weber/Herbst: Deutsche Kommuni-
sten, S. 179). Siehe auch Dok. 386.
Dok. 387: Moskau, 23.8.1936 1237
Ich empfinde die volle Verantwortung dafür, daß ich durch mein Vertrauen David
gegenüber es diesem ermöglichte, seine Verbrechen zu begehen. Du wirst gelesen
haben, daß dieser Kerl mir der Absicht in die Sitzung des VII. Weltkongresses gegan-
gen ist, um Stalin zu erschießen. Es waren damals vom Partkom, der Parteiorganisa-
tion im der Komintern, Bedenken auf Überlassung einer Teilnehmerkarte an David
geäußert worden. Ich habe mich in meinem Vertrauen zu David dafür eingesetzt,
daß er eine solche Karte erhielt, weil ich ihn für die Ausarbeitung des Schlußwor-
tes benötigte. Natürlich hat auch das Partkom nicht angenommen, daß dieser Kerl
etwa solche verbrecherischen Absichten hart, sondern dessen Bedenken gegen die
Überlassung einer Teilnehmerkarte waren auf ungenügendes politisches Vertrauen
begründet, weil ja damals diese von mir schon erwähnten Bedenken gegen David
erhoben wurden. Es ist keine Entschuldigung für mich, daß wenn David auch das
Vertrauen anderer Genossen in der Komintern hatte und er immerhin ernste Funk-
tion in der Redaktion der „KI“ bekleidete und auch Mitarbeiter der „Prawda“ war.
Der Kerl war ein sehr intelligenter Bursche und verstand es ausgezeichnet, sich nütz-
lich zu machen. Ich hatte damals für meine Mitarbeit zur Ausarbeitung des Berichts
an den Kongreß eine Anzahl Mitarbeiter vorgeschlagen, die aber alle nicht von ihrer
Arbeit abkommen konnten, so daß schließlich sich nur David aus der Redaktion los-
eisen konnte. Jedenfalls ist diese Enttäuschung, die ich mit D[avid] erlebte, eine sehr
ernste Lehre für mich. Natürlich gibt es keine 100prozentige Sicherheit dafür, nicht
getäuscht zu werden, aber doch müssen wir das Maximum von Sicherheit zu errei-
chen versuchen.243 [...]
Während Deiner Abwesenheit sind eine ganze Reihe anderer Leute verhaftet
worden, die mir uns in engen Beziehungen standen oder deren Verwendung wir ins
Auge gefaßt hatten, darunter Süßkind.244 [...] Ich glaube, daß es noch eine Reihe
anderer Leute von der Qualität Süßkinds gibt und die Mitglieder unserer Partei sind,
bei denen sich die gleiche Notwendigkeit ergeben wird, sie zu verhaften. Hoffentlich
wird dadurch endlich einmal diese Eiterbeule gründlich geleert und ausgebrannt, die
sich in der hiesigen Emigration gebildet hat. [...]
Hoffentlich hast Du Dich bei Deiner Kur gut erholt, das gleiche wünsche ich
Therese. Wenn Du mir irgend etwas mitteilen willst, ich bin bis zum 23. September in
243 In der Sitzung des EKKI-Sekretariats vom 27.8.1936 wurde die „Frage der mangelnden Wach-
samkeit im Zusammenhang mit der Angelegenheit von Fritz David“ behandelt (RGASPI, Moskau,
495/18/1111, 7). Pieck vermerkte dazu in seinen persönlichen Notizen über die Sitzung: „Vorwürfe
gegen Pieck, daß er sich für Davids Verbleiben in der KI eingesetzt hat.“ (Wilhelm Pieck: Chronik,
SAPMO BArch NY 4036/10, 27.8.1936).
244 Heinrich Süßkind (1895–1937, in der Sowjetunion erschosssen). Deutscher kommunistischer In-
tellektueller, aus Galizien stammend. Parteijournalist und Kandidat des Politbüros. Einer der maßgeb-
lichen “Versöhnler”. Am 9.8.1936 vom NKVD verhaftet, am 3.10.1937 (als „Trotzkist“ und „Versöhnler“
zugleich beschuldigt) zum Tode verurteilt und erschossen (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S.
914; Zu Anklageschrift und Urteil siehe: Weber/Mählert: Terror, S. 161–165).
1238 1933–1939
Kislowodsk, Sanatorium „10 Jahre Oktober“ und vom 27. September bis 15. Oktober in
Gagri, Sanatorium „17. Parteitag“.
Dok. 388
Beschluss des Kominternpräsidiums und der Internationalen
Kontrollkommission zur Verschärfung der Parteidisziplin
Moskau, 25.8.1936
Maschinenschriftliche Kopie, in deutscher Sprache.245 RGASPI, Moskau 495/20/760, 16–17. Publ. in:
Weber/ Mählert: Terror, S. 108–109.246
Beschluß des Präsidiums des EKKI und des Büros der IKK der KI.
Angesichts dessen, daß Fälle aufgedeckt wurden, wo einzelne Kommunisten vor dem
Klassenfeind die Parteidisziplin verletzten, und daß es Agenten des Feindes gelingt,
in die Reihen der Kommunistischen Parteien einzudringen, wobei sogar führende
Parteimitglieder nicht immer genügend Klassenwachsamkeit zeigen, indem sie sich
versöhnlerisch zur Verletzung der Parteikonspiration, zu Verrat und Provokation ver-
halten, beschließen das Präsidium des EKKI und das Büro der IKK der Komintern
folgendes:
1. Kommunisten, welche die Partei verraten haben, d.h. Parteimitglieder, die aus
diesem oder jenem Grunde dem Feinde geholfen oder im weiteren zu helfen verspro-
chen haben (durch Mitteilung von Angaben über die konspirative Tätigkeit der Partei
wie z.B. nicht der Veröffentlichung unterliegende Beschlüsse, Organisationssche-
men, illegale Treffpunkte, Namen, Adressen, Chiffren, Briefe usw., Versprechungen,
auf die Seite des Feindes überzutreten usw.), sind ebenso wie Agenten des Klassen-
feindes unbedingt aus der Partei auszuschließen, auch wenn sie späterhin ihre Fehler
eingesehen haben.
3. Zur Verantwortung vor der Partei werden auch Parteimitglieder gezogen, welche
ein versöhnlerisches Verhalten zur Verletzung der Konspiration, zum Verrat und zur
Provokation gezeigt haben.
4. Die IKK hat führende Parteifunktionäre zur strengen Verantwortung zu ziehen, die
Agenten des Klassenfeindes aus ihren Parteien zur Überführung in die Reihen der
führenden Sektion der Komintern, der KPdSU, empfohlen haben.
5. Parteimitglieder, die sich weigern, auf die Fragen der Kontrollkommission wahr-
heitsgetreue Antworten zu geben, sind auf der Stelle aus der Partei auszuschließen.
6. Die Kontrollkommissionen müssen, indem sie Verräter, fremde und feindliche Ele-
mente, Doppelzüngler, Degeneraten, zersetzte Elemente, Gauner, unverbesserliche
Fraktionelle sowie solche Parteimitglieder, die systematisch die Parteikonspiration
verletzen, schonungslos aus den Parteien vertreiben, dennoch sich gefühlvoll zu den-
jenigen Parteimitgliedern verhalten, die einen Fehler begangen haben, jedoch fähig
sind, sich zu bessern und die, nachdem sie ihren Fehltritt eingesehen haben, sich
ehrlich verpflichten, durch ihre weitere Aufführung ihre Schuld vor der Partei wieder
gutzumachen.
Am 26.8.1936 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss über die perso-
nelle Zusammensetzung der sowjetischen Delegation auf dem Weltfriedenskongress der Weltvereini-
gung für Frieden (RUP) in Brüssel (3.–6.9.1936).247
Am 29.8.1936 wurde seitens des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion dem Außenhandelskom-
missariat nahegelegt, ein Verbot des Exports von Munition und Flugzeugen nach Spanien zu erlassen,
der in der Presse dokumentiert werden sollte. Eine entsprechende Meldung wurde in der Pravda vom
30.8.1936 veröffentlicht. Dies wurde per TASS-Kommuniqué vom 30.8.1936 rückwirkend vom 28.8.
kommuniziert, wobei hier die Rede war von „aller Art von Waffen, Munition, sowie alle Arten von Ma-
terialien, Luftschiffen in zusammengesetzter und zerlegter Form sowie Kriegsschiffen. In Punkt 2 des
Beschlusses wurde der Beitritt der Sowjetunion zum Londoner Nichteinmischungskomitee beschlos-
sen, das von 27 Staaten auf initiative Frankreichs einberufen wurde. In der ersten entscheidenden
Phase des Bürgerkriegs verfolgte die UdSSR das Prinzip der Nichteinmischung als Regierungspoli-
tik.248
247 RGASPI, Moskau, 17/3/980, 69. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 740–741.
248 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 62. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 340–341.
1240 1933–1939
Dok. 389
Brief Heinz Neumanns an Dimitrov zu offensichtlichen
Falschmeldungen in der französischen Presse
[Moskau?], 31.8.1936
Die „Humanité“ schreibt in ihrem Bericht ueber den Sinowjew-Prozess250 vom 21.
August, Reingold habe ausgesagt,251 dass Sinowjew seit 1930 mit mir, Neumann, „enge
Beziehungen“ hatte, „um mit allen Mitteln die Führer der Komintern zu diskreditie-
ren“. 252 In einem Atemzug mit mir werden die trotzkistischen Renegaten Souvarine
und Doriot genannt.253
Selbstverständlich ist das eine ungeheuerliche Verleumdung. Ich habe niemals
etwas mit diesem Gesindel zu tun gehabt.
249 Ab Oktober 1935 arbeitete Heinz Neumann als Übersetzer in der Verlagsgenossenschaft
ausländischer Arbeiter in der UdSSR, doch er konnte nur kurzzeitig – besonders durch Pjatnitzki – vor
seinem Schicksal bewahrt werden. Zu seinen letzten Jahren siehe: Fritz N. Platten: Heinz Neumann.
Vom Zürcher Regen in die Moskauer Traufe. In: Weber/Mählert: Terror, S. 167–185.
250 Siehe Dok. 387.
251 Isaak Rejngol’d (1897–1936), bolschewikischer Revolutionär, in den 1920er Jahren Anhänger der
Sinowjew-Opposition und später Wirtschaftsfunktionär, war einer der Angeklagten im 1. Moskauer
Schauprozess.
252 In der in Moskau herausgegebenen deutschen Fassung der Prozess-Stenogramme findet sich
eine entsprechende Stelle nicht, ebenso wenig in der russischen Veröffentlichung. (Prozessbericht
ueber die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums, verhandelt vor
dem Militaerkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR, 19. – 24. August 1936, gegen G. J.
Sinowjew [...], Moskau, Volkskommissariat fuer Justizwesen der UdSSR, 1936). Das Zentralorgan der
KP Frankreichs, l’Humanité schrieb am 21.8.1936, daß der „neue Block“ der Trotzkisten-Zinovievisten
einstimmig nur noch den Terror und die Ermordung Stalins als Mittel zur Machterlangung angesehen
hätten („C’est Trotski lui-même qui dirigeait en liaison étroite avec la Gestapo l’activité des Trotskistes-
Zinoviévistes.“
253 Jacques Doriot (1898–1945, von einem Tiefflieger in Süddeutschland getötet). Zentrale Figur
des französischen Kommunismus, bevor er zum bedingungslosen Faschisten wurde. Als Abenteur-
ertyp und begabter Redner Führer der Kommunistischen Jugend in Frankreich in der ersten Hälfte
der zwanziger Jahre. „Bagarreur“ und „Held des Rif-Krieges“. Leitete dort den Widerstand gegen den
französischen Militäreinsatz gegen Abd-el Krim. Gewiefter Taktiker, „tacticien“. Bürgermeister von
Saint Denis bei Paris. Gegen die offizielle Komintern-Politik 1934, als er sich zum umjubelten Ver-
treter einer Politik der Einheitsfront mit den Sozialisten machte, noch bevor die Komintern selbst
auf den Volksfrontkurs umschwenkte. In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre Annäherung an den
deutschen Faschismus (Gotovitch/Pennetier: Dictionnaire biographique de l’Internationale commu-
niste; P. Robrieux, Histoire Intérieure, IV, 169–174).
Dok. 389: [Moskau?], 31.8.1936 1241
Beiliegend sende ich Ihnen den Wortlaut der entsprechenden Stelle im Bericht
der „Humanité“.
Es stellt sich heraus, dass Reingold ueberhaupt nicht diese Aeusserung getan hat.
Das geht aus folgendem hervor:
Genosse Tschernin, an den ich mich sofort wandte,254 teilte mir mit:
1. Der fragliche Bericht wurde an die „Humanité“ weder durch die „Runa“,255 noch
durch die hiesigen Parteikorrespondenten gesandt, von denen Tschernin jede Zeile
kontrolliert.
2. Der Bericht wurde nicht durch die „Tass“ gesandt.
3. Die „Humanité“ hat in Moskau ueberhaupt keinen eigenen Korrespondenten.
4. Tschernin hat persoenlich am ganzen Prozess teilgenommen und niemals meinen
Namen erwaehnen hoeren.
5. Tschernin ist der Ueberzeugung, dass diese Stelle des Berichts in Paris fabriziert
wurde, wahrscheinlich auf Grund von buergerlichen Pressemeldugen.
Es handelt sich also nicht nur um eine Verleumdung gegen mich, sondern um eine
direkte Faelschung des Prozessberichts. Ich weiss nicht, ob das auf einem techni-
schen Fehler, oder auf einer Provokation beruht.
Sie werden begreifen, dass mich diese Verleumdung aufs tiefste trifft, umso
mehr, als Gen. Kreps bereits unter Berufung auf das Zentralorgan der Kommunisti-
schen Partei Frankreichs die Frage meiner Teilnahme an den Verbrechen der Sinow-
jewbande in der Parteiorganisation des Verlages gestellt hat.256
254 Il’ja Černin (1893–1937, in der Sowjetunion hingerichtet) war ab 1928 stellvertretender Leiter der
Agitprop-Abteilung des EKKI und von 1935 bis 1937 Leiter des Pressesektors. Er wurde 1937 vom NKVD
verhaftet und höchstwahrscheinlich hingerichtet. (Siehe: Buckmiller/Meschkat: Biographisches
Handbuch, Datenbank).
255 Runa: Die Rundschau Nachrichten-Agentur der Komintern (RUNAG, später RUNA), mit Sitz in
Zürich, die als von Mitgliedern der KP der Schweiz aufgebaute Kooperative strukturiert war. Nach
der Herausgabe der Rundschau in Basel seit Juli 1932 funktionierte sie als internationale Agentur und
Herausgeber eines Pressedienstes, ausgestattet mit einer deutschen, englischen und französischen
Redaktion, der vor allem Meldungen aus der Sowjetunion, der Komintern und der Presse der
kommunistischen Parteien enthielt. Seit Mai 1933 wurde das Bulletin der RUNA herausgegeben.
Die RUNA sicherte die Pressekommunikation nach der deutschen Katastrophe, nach Abschluss des
Hitler-Stalin-Paktes wurde sie 1939 suspendiert. Zum Personal gehörten neben Jenny Humbert-Droz,
Hedy Hofmaier, Lily Glarner, Emmy Noetiger, Dora Staudinger, Hugo Stolle für das Sekretariat und
die Technik, Theo Pinkus, Nikolaus Kelen, Heinrich Kurella, Willi Trostel und Hans Bickel für die
Redaktionsarbeit (siehe: Bayerlein/Lasserre: Archives de Jules Humbert-Droz, IV, Dok. 553 u.a., S.
497f.; AFS, Fonds E 21, F 9638; Rudolf M. Lüscher, Werner Schweizer: Amalie und Theo Pinkus-De
Sassi. Leben im Widerspruch, Zürich, Limmat, 1994; T. Pinkus: An der Internationalen Pressefront.
256 Michail (Ichiel’) Evseevič Kreps (1895–1937, in Moskau als „Volksfeind“ erschossen) war
langjähriger Leiter der Editionsabteilung des EKKI; als solcher stellte er viele in Ungnade gefallene
Kommunisten als Übersetzer und Mitarbeiter ein. Auf dem VII. Weltkongress Delegierter mit
beratender Stimme und ab 13.10.1935 Leiter der Presse- und Propagandaabteilung, seit 1.11.1936 Leiter
der Verlagsgesellschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR.
1242 1933–1939
Die „Humanité“ ist kein beliebiges Blatt, sondern die autoritativste Zeitung der
Komintern in Westeuropa.
Gen. Tschernomordik, an den ich mich sofort wandte, lehnte es ab, in dieser
Sache irgendwelche Schritte zu ergreifen, sondern verweist mich an die IKK.
Selbstverstaendlich habe ich mich sofort an die IKK gewandt, aber es dauert dort
erfahrungsgemaess laengere Zeit, bis solche Angelegenheiten erledigt werden.
Deshalb wende ich mich unmittelbar an Sie mit der Bitte, dass diese Verleum-
dung sofort richtig gestellt wird.
Dazu bedarf es nur zweier Massnahmen, die sofort durchgefuehrt werden
koennen:
1) Die Feststellung, dass Reingold diese Aeusserungen auf dem Prozess nicht gemacht
hat, was sich ohne weiteres aus dem offiziellen Prozessbericht ergibt.
2) Die Feststellung, dass dieser Bericht in der „Humanité“ selbst fabriziert wurde
(Tschernin telefoniert taeglich mit der Redaktion).
Ich bitte Sie, werter Genosse Dimitroff, die Anweisung zu geben, dass diese beiden
Massnahmen sofort durchgefuehrt werden.
Sobald sich herausstellt, dass dieser Humanité-Bericht auf einer Mystifikation
beruht, bitte ich um die Veroeffentlichung einer redaktionellen Richtigstellung in der
„Humanité“.
Ich bedauere, dass ich Sie mit dieser persoenlichen Angelegenheit g[e]rade jetzt
belaestigen muss, aber es scheint mir nicht nur eine persoenliche Angelegenheit zu
sein. Solange diese Richtigstellung nicht erfolgt ist, trage ich auf Grund der verant-
wortungslosen Insinuation eines anonymen Zeitungsmitarbeiters vor allen Genossen
den Schandfleck eines Sinowjewagenten, der in aller Oeffentlichkeit mit Doriot und
Souvarine gleichgestellt wird. Ich kann mir keine groessere Schande vorstellen. Hier
wird an mir grosses Unrecht veruebt.257
Ich bin ueberzeugt, dass die Komintern und Sie persoenlich die Ehre jedes ein-
zelnen Genossen – auch wenn der die groessten Fehler begangen hat, wie ich in der
deutschen Frage – unter Ihrem Schutz stellen. Deshalb bitte ich um Ihr Eingreifen,
damit diese offensichtliche Falschmeldung rasch und klar widerlegt wird.258
257 In weiteren Materialien, die am 3.10.1936 von der Kaderabteilung des EKKI an das NKVD geschickt
wurden, hieß es ebenfalls: „Soweit uns bekannt ist, machte Reingold während des Prozesses die
Aussage, dass die Trotzkisten-Sinowjewisten sich mit Heinz Neumann in Verbindung setzen wollten.
Protestschreiben von Neumann an die IKK liegt im Durchschlag bei der Kaderabteilung.“ (Weber/
Mählert: Terror, S. 180).
258 Quer über der ersten Seite des Briefes vermerkte Dimitrov in russischer Sprache: „Gen. Černin.
Geben Sie sofort eine Erklärung. [Sign.] Dimitrov.“ Am 4.9.1936 antwortete Černin Dimitrov in dieser
Angelegenheit. In Wirklichkeit habe, so Černin, Rejngol’d tatsächlich so etwas auf dem Prozess gesagt.
In der Sowjetpresse sei dies verschwiegen worden, in der Auslandsmeldung der TASS hingegen nicht
(„selbstverständlich auf bestimmte Anweisung hin“). Neumann sei von ihm darüber selbstredend
nicht in Kenntnis gesetzt worden (RGASPI, Moskau, 495/73/209, 34–35). Am gleichen Tag wandte
Dok. 389: [Moskau?], 31.8.1936 1243
[hdschr.:] P.S. 1. Sept. Beiliegend sende ich Ihnen noch die Kopie eines Briefes,
den ich heute an den Gen. Manuilski [unleserl.] der Kaderabteiluing geschickt
habe.259
Das russische Politbüro beschließt am 21.8.1936 nach einer Anfrage der MOPR, „den Austausch von
Edgar André gegen in der UdSSR verhaftete Deutsche zu erlauben.“ Es handelt sich dabei um den
einzigen Beschluss dieser Art, der eruiert werden konnte.260 Der Beschluss wurde demnach nicht an
Dimitrov weitergeleitet.
Am 2.6.1936 hatte Dimitrov, der Generalsekretär der Komintern, Stalin schriftlich darum gebeten, ihm
regelmäßig die Protokolle des Politbüros, des Organisationsbüros (OB) und des Sekretariats des ZK
zukommen zu lassen, damit er nicht sich immer bei einzelnen Fällen an das ZK wenden müsste, wie
es bisher der Fall gewesen sei.261
sich Neumann erneut an Dimitrov mit Belegen und Erklärungsversuchen. U.a. vermutete er, mit dem
tschechischen Trotzkisten Alois Neurath verwechselt worden zu sein (ibid., 31–33). Neumann wurde
Mitte 1937 verhaftet, am 26.11.1937 erfolgte das Todesurteil (zu seinem Schicksal vgl. Dok. 413).
259 Ein mit dem vorliegenden Brief fast identisches Schreiben Neumanns an Manuilski wurde
beigelegt (RGASPI, Moskau, 495/73/209, 30–31).
260 RGASPI, Moskau 17/162/20, 56. Deutsche Erstveröffentlichung. In russischer Sprache publ.
in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 739. Auszüge wurden verschickt an
Stasova, Jagoda und Litvinov.
261 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 495/73/48, 51.
1244 1933–1939
Dok. 391
Biographische Profile über „Trotzkisten und andere feindliche
Elemente in der Emigrantengemeinschaft der deutschen KP“:
Memorandum der Kaderabteilung der Komintern
Moskau, 2.9.1936
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 495/74/124, 11–31. Das Dokument ist im Kominter-
narchiv weiterhin gesperrt. Deutsche Erstveröffentlichung. Teilpublikation in englischer Sprache in
Chase: Enemies, S. 163–174. Rückübersetzung aus der englischsprachigen Internet-Vollpublikation
von Chase: Enemies, http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm
262 Das vorliegende Memorandum der Kaderabteilung mit über 50 Namen kann als Modell für die
Verfolgungsstrategie und weiterer zur Selektion der zukünftigen Opfer angefertigten Listen gelten.
Es lässt den Schluss zu, daß die Repression der deutschen Politemigranten und KPD-Mitglieder in
der Sowjetunion tatsächlich bei denjenigen ansetzte, die jüdischer Herkunft waren, und bei denen
in der Durchforschung der Parteivergangenheit Abweichungen und Mitarbeit in oppositionellen
Strömungen, Gruppen wie den „Versöhnlern“, der „Rechtsopposition“ (Brandlerianern), der Linken
Opposition (Trotzkisten) oder den „Ultralinken“ Gruppierungen festgestellt wurden (etwas später
kamen die Sozialistische Arbeiterpartei, und die Gruppe „Neu Beginnen“ hinzu). In der Forschung
bleibt diese nun empirisch unterfütterte These einer früheren oppositionellen Orientierung
und Tätigkeit häufig unterbelichtet, womit auf die Auflösung der Rationale des Terrors und die
Rekonstruktion der transnationalen oppositionellen Netzwerke verzichtet wird. Häufig erscheint
dabei der „Trotzkismus“-Vorwurf als reines Phantasieprodukt von NKVD und Komintern („NKVD-
Phantasmen“, siehe: Müller: ‚Wir kommen alle dran’, S. 134). Tatsächlich gehörten oppositionelle
Abweichungen zur Normalität, besonders in den 1920er Jahren. Wilhelm Mensing hat versucht, die
Identität der Betroffenen genauer zu rekonstruieren (siehe: Wilhelm Mensing: NKWD und Gestapo,
http://www.nkwd-und-gestapo.de/index.html). Im hier in deutscher Übersetzung publizierten
Dokument wurden die biographischen Angaben in zwei Punkten überprüft und ggf. ergänzt bzw.
rekonstruiert: Neu recherchiert wurde die oppositionelle Vergangenheit der Betreffenden, darüber
hinaus wurde versucht, die mit Hilfe des NKVD konstruierten Urteilsbegründungen zu eruieren. Erst
mit den Anklagen und ihren Terrorismus- und Spionagevorwürfen überwiegt das fiktionale Moment
in der Verfolgungsstrategie. Aus den genannten Gründen ist die Annotation ausführlicher, als in
den anderen Teilen des Bandes (siehe hierzu auch den Text von Bayerlein in Bd. 1, S. 356f.). Müller
erwähnt das Memorandum und ordnet es zurecht in die Vorbereitung des NKVD-Direktbriefs Ežovs
vom 14.7.1937 ein, der die Unterdrückung der (ehemaligen) Oppositionellen im Umkreis der KPD weiter
ausdehnt: „Nach dem Erlaß des NKVD-Direktbriefs wurden deutsche Politemigranten, die bereits als
„Versöhnler“, „Brandler-Anhänger“, oder „Trotzkisten“ seit Jahren durch die KPD-Führung und durch
die Kaderabteilung des EKKI stigmatisiert waren, in der Folgezeit verhaftet.“ (Müller: Denunziation
und Terror, S. 47).
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1245
1936
An G. Sergeev263
Ausführung und Bericht
über die Ergebnisse der Überprüfung
der deutschen Emigranten.
9. 36. GD264
An: Gen. Dimitrov.
Gen. Manuilski
Gen. Moskvin.
Wir listen hier nur die typischen Fälle auf. Momentan wird die Arbeit an der Aufde-
ckung fortgeführt, und eine viel größere Anzahl dieser Art von Elementen ist bereits
aufgedeckt worden.
Černomordik /Černomordik/.265
5 Kop[ien]. mkh.
2. IX. 36
Streng geheim
MEMORANDUM
ÜBER TROTZKISTEN UND ANDERE FEINDLICHE ELEMENTE IN DER EMIGRANTEN-
GEMEINSCHAFT DER DEUTSCHEN KP
Unter den deutschen Emigranten in der UdSSR gibt es Personen, die in der KPD vor
ihrer Ankunft in der UdSSR als aktive Trotzkisten und Fraktionisten bekannt waren.
263 Aleksandr Petrovič Sergeev (geb. 1889). Bulgarischer Kommunist, Nach Emigration in die UdSSR
1927 Mitglied der VKP(b). Nach 1933 im EKKI-Sekretariat tätig, später als politischer Assistent für
Dimitrov.
264 Handschriftlich eingefügt.
265 Moisej Borisovič Černomordik (1889 Ekaterinoslav – 14.9.1937 Moskau, erschossen). Mitglied
der Bolschewiki seit Mai 1917, nach 1921 Parteifunktionär. 1931–1937 stellvertretender Leiter der
Kaderabteilung des EKKI. Verhaftet am 14.6.1937, erschossen am 14.7.1937.
1246 1933–1939
1) SOLOMON MUŠINSKIJ (SCALMOS)266, Mitglied der KPD seit 1921, aktiver Mitarbei-
ter von Ruth Fischer267-Maslow,268 Mitglied der Korsch-Opposition;269 Während seiner
Parteimitgliedschaft unterhielt er enge Beziehungen mit denjenigen, die als Ultra-
linke und Trotzkisten aus der Partei ausgeschlossen wurden. Bereits 1931 gab es in der
Partei ein Gerücht über ihn, dass sein Bruder ein Agent der polnischen ochranka war,
und dass er, zusammen mit seinem Bruder, in Chemnitz mit Kokain usw. handelte.
Laut der Deutschen Sektion, versuchte er, Aufträge für Parteiarbeit zu erhalten, was
ihm jedoch mit verschiedenen Begründungen wegen seiner geringen Glaubwürdig-
keit verweigert wurde.
Nach der Verhaftung von Berman-Jurin,270 erzählte seine Frau Sonja Fišman271
Koska272 (dem KPD-Mitglied), dass zum Zeitpunkt von Koskas Besuch in Berman-
Jurins Wohnung letzterer auf Russisch über Telephon mit Mušinskij gesprochen hatte
(Stsalmosh). Dies ist der Beweis für Mušinskijs Verbindung zu Berman-Jurin.
Mušinskij kam 1931 über die Handelsvertretung in die UdSSR, mit der er in Berlin
zusammengearbeitet hatte. Er wurde aus der VKP(b) ausgeschlossen. Er bat Koska
um eine Empfehlung, was dieser ablehnte.
266 Solomon Mušinskij (Ps. Franz Samusch) (1897 Polen – 1936 Sowjetunion). Der junge polnische
Jude gehörte 1924 der KPD-Linken an, und schloss sich später unter Berufung auf Rosa Luxemburg der
Korsch-Opposition an. Er wurde im Mai 1936 verhaftet und zum Tode verurteilt (siehe auch: Weber:
Zu den Beziehungen, S. 189).
267 Ruth Fischer, die KPD-Vorsitzende von 1924–1925, gehörte der Vereinigten Linken Opposition
und u.a. dem „Leninbund“ an.
268 Arkadi Maslow, einer der Haupttheoretiker und mit Ruth Fischer 1924–1925 Parteiführer der
KPD (siehe seine Briefe im 1. Teilband), gehörte 1928 kurzzeitig der trotzkistischen Opposition
(Leninbund) an. 1933 suchte er im französischen Exil gemeinsam mit Ruth Fischer den Kontakt zu
Trotzki, beide kooperieren zeitweise eng mit der Pariser exildeutschen trotzkistischen Gruppe der
Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD), die ihnen jedoch die Mitgliedschaft trotz einer
Empfehlung von Trotzki selbst zunächst verwehrten; auf Druck Trotzkis wurden beide schließlich im
März 1935 in das Internationale Sekretariat aufgenommen. Im April 1937 erfolgte aufgrund zahlreicher
vorangegangener Differenzen der Bruch mit den Trotzkisten; bereits im Herbst 1936 gründeten Fischer
und Maslow die „Gruppe Internationale/Marxisten-Leninisten“, die jedoch eine Kleinstgruppe ohne
nennenswerten Einfluß blieb (Kessler: Ruth Fischer, S. 280–283, 324–358).
269 Professor Dr. Karl Korsch (1889–1961) war Theoretiker und Inspirator der ultralinken
Oppositionsbewegung „Entschiedene Linke“ und der Zeitschrift Kommunistische Politik, später auch
Reichstagsabgeordneter und Mitglied der „Internationalen Kommunisten“ (siehe hierzu Dok. 150).
270 Konon Borisovič Berman-Jurin (Ps. Hans Stauer), Intellektueller jüdischer Herkunft. Er war KPD-
Agitpropleiter in Berlin-Brandenburg und später in der Organisationsabteilung der Komintern tätig.
Wegen „falscher Ansichten“ wurde er 1931 vom ZK der KPD gerügt. Verhaftung im Mai 1936, im 1.
Moskauer Prozess angeklagt der Planung eines Attentats auf Stalin zusammen mit Fritz David, im
direkten Auftrag Trotzkis, den er 1932 in Kopenhagen erhalten habe („terroristischer Akt“). Es folgte
das Todesurteil und die Erschießung (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S.893).
271 Zu Sonja Fišman siehe weiter unten im Dokument.
272 Willi Koska (1902–1943, in der Sowjetunion umgebracht) – Dreher, ZK-Mitglied der KPD, mit Hans
Stauer (d.i. Konon Berman-Jurin) befreundet. Koska erhielt im März 1937 eine Rüge seitens der IKK
wegen „Nachlassens der Parteiwachsamkeit“ (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 485f.).
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1247
Am 26. April 1936 übersandte der deutsche Vertreter [bei der Komintern] eine posi-
tive Empfehlung [über Mušinskij] als KPD-Mitglied an die Parteikontrollkommission,
die sich auf die positive Empfehlung [seiner] Parteizelle bezog. Sein Arbeitsort ist
unbekannt; vor kurzem lebte er in der Woh[nungs]-Koop[erative] „Mirovoj Oktjabrʼ“.
2) RUDOLF GERCEL273 – Mitglied der KPD seit 1919, vorher Mitglied der PPS274 und
der SPD. War vor 1933 aktiver Brandlerianer,275 was er in seiner Autobiographie ver-
schleiert hatte. Kam 1934 ohne Zustimmung der Partei aus Paris in die UdSSR. Seine
Adresse und sein Arbeitsplatz sind unbekannt.
3) HERBERT ENGELHARDT (WILHELM REISS)276 – seit 1924 Mitglied der KPD. Bekannt
als aktiver Fraktionist und Mitglied der ultralinken Gruppe in Sachsen. Von 1927–1928
Mitglied der Weddinger Opposition.277 Der Partei von Renner empfohlen, der wegen
Trotzkismus ausgeschlossen wurde. Kam 1931 in die UdSSR, wegen angeblichen Waf-
fendiebstahls verfolgt, erhielt jedoch keinen politischen Emigrantenstatus. Arbeitet
in einer Fabrik in Kolpino, Gebiet Leningrad.
4) NOA BOROWSKI278 – Mitglied der KPD seit 1919. Arbeitete in Chemnitz-Leipzig. Aus
der Partei 1929 als aktives Mitglied der Brandler-Gruppe ausgeschlossen; arbeitete in
273 Rudolf Gercelʼ (Ps.), d.i. höchstwahrscheinlich Gerszel Ryndhorn (Ps. Rundhorn, auch Herschel
Rindhorn, Mindsigorski) (1877 Żarnów, Gouvernement Radom (?), Polen – November 1937 Moskau,
erschossen). KPD-Mitglied 1919, Parteisekretär in Chemnitz, seit 1934 in der UdSSR. Parteiausschluss
am 21.6.37, im September 1937 verhaftet (Mensing: NKWD und Gestapo, http://www.nkwd-und-gestapo.
de/liste-b-n-draussen-2.html; Plener/Mussienko: Verurteilt zur Höchststrafe, S. 80; Chase: Enemies,
Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn10).
274 PPS (Abk.): poln. Polska Partia Socjalistyczna, Polnische Sozialistische Partei.
275 Anhänger von Heinrich Brandler, dem KPD-Parteiführer 1922–1924. Im Unterschied zu den linken
Oppositionsströmungen der KPD, erkannten die „rechtsoppositionellen“ Brandler-Anhänger, die sich
seit 1929 in der Kommunistischen Partei (Opposition) wiederfanden, das Dogma vom „Sozialismus in
einem Land“ weitgehend an und hielten sich bei der Kritik der Sowjetunion zurück.
276 Karl Herbert Engelhardt (Ps. Wilhelm Reiss, 1906 (1905?) Thekla bei Leipzig – nach 26.5.1938
Engels?, Sowjetunion, erschossen). 1924 KPD-Mitglied. Soll in den 1920er Jahren der Ultralinken in
Sachsen angehört haben. Arbeitete im MP-Apparat, 1930 Emigration in die UdSSR, arbeitete dort
im Ižorskij-Komplex in Kolpino bei Leningrad sowie für Intourist in Baku. Studium an der KUNMZ
1934–1936, danach in einem Reparaturbetrieb in Engels tätig. Am 5.2.1938 verhaftet, Todesurteil
am 26.5.1938 (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Engelhardt
[‚W. Reiss’], Herbert [Karl Herbert]“; Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/
Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn12).
277 Zur „Weddinger Opposition“ der KPD, die eine starke Arbeiterbasis besaß und auch in der Pfalz
verankert war, siehe Dok. 140.
278 Noah Isaakovič Borowski (1.10.1885 Peski bei Wolkowysk, Gouvernement Grodno, Russisches
Reich – 1944 Alma-Ata, nach Deportation). 1905 Mitglied des Jüdischen Arbeiterbunds, seit 1915 im
Spartakusbud, Gründungsmitglied der KPD. Übersetzer in der Profintern, Redakteur in der VEGAAR,
Herausgeber zahlreicher Parteipublikationen, u.a. Lenin-Übersetzer. 1929 Parteiausschluss wegen
Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei/ Opposition („Brandlerianer“). In der Sowjetunion aus
der VEGAAR entlassen infolge angeblichen Hineinschmuggelns oppositionellen Gedankenguts in die
1248 1933–1939
der Brandlerianer-Zeitung Arbeiterpolitik. 279 Vor seiner Ankunft in der UdSSR (d.h.
vor 1931), blieb er in engem Kontakt zur Brandlergruppe. Wieder zugelassen in der
KPD 1933. Während er für das Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter arbei-
tete und dort im Dezember 1934 Übersetzungen anfertigte, versuchte er, antiparteili-
che Ideen in Popovs Buch „Geschichte der VKP(b)“ einzubauen,280 wobei er die Teile
ausließ, die Kamenevs Verhalten während des Prozesses der Dumafraktion, seinen
Streikbruch im Oktober, etc. betrafen.281 Sein letzter Arbeitsort ist unbekannt; seine
Frau arbeitet noch immer für die Deutsche Zentral-Zeitung in Moskau.282
deutsche Ausgabe von Popovs „Geschichte der KPdSU“ (später erkannte ihm die IKK die Parteimit-
gliedschaft rückwirkend seit 1929 kurzerhand ab – siehe Chase: Enemies, S. 475). 1935–1937 Tätigkeit
im Turkstroj Trust. 1938 verhaftet, 1941 nach Alma-Ata deportiert (Weber/Herbst: Deutsche Kommu-
nisten, S. 135–136; Meschkat/Buckmiller: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Borowski,
Noah“).
279 Arbeiterpolitik war das Zentralorgan der Kommunistischen Partei (Opposition) (KPO/
„Brandlerianer“).
280 Popovs Buch: N. Popov [d.i. Nikolaj Nikolaevič Popov]: Grundriss der Geschichte der KPdSU (B),
Moskau-Leningrad, Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1934.
281 Prozeß der Dumafraktion: Die hier verzerrt wiedergegebene Episode der Parteigeschichte
bezieht sich auf das Jahr 1915, als ein politischer Prozess gegen inhaftierte bolschewistische Duma-
Abgeordnete, deren Vorsitzender Kamenev gewesen ist, organisiert wurde, da diese öffentlich gegen
den Krieg aufgetreten ist. Dabei wurde Kamenev zu lebenslanger Verbannung und Zwangsansiedlung
in Sibirien verurteilt, von wo er erst im März 1917 (gemeinsam mit Stalin und anderen) zurückkehren
konnte. Ganz im Gegensatz zur hier kolportierten Auffassung schrieb Lenin im März 1915 positiv,
der Prozess habe „ein in der internationalen sozialistischen Bewegung noch nie gesehenes Bild der
Ausnutzung des Parlamentarismus durch die revolutionäre Sozialdemokratie entrollt“ (Leo Trotzki:
Europa im Krieg, Übersetzung aus dem Russischen von Hannelore Georgi und Harald Schubärth,
Essen, Arbeiterpresse, 1997, S. 549f.). Mit dem „Streikbruch“ Kamenevs ist wohl seine und Sinowjews
öffentliche Ablehnung des bewaffneten Aufstandes im Oktober 1917 gemeint. Zur Biographie
Kamenevs siehe zuletzt: Jürg Ulrich: Kamenev: Der gemäßigte Bolschewik. Das kollektive Denken im
Umfeld Lenins, Hamburg, VSA, 2006, hier S. 73–84 u.a.).
282 Zur Deutschen Zentral-Zeitung, die infolge des stalinistischen Terrors 1939 eingestellt wurde, siehe:
Dok. 351.
283 Lew Süsskind (geb. 1898 in Polen). Schriftsteller jüdischer Herkunft, Mitglied der KPD seit 1930.
1937 vom NKVD verhaftet (Chase: Enemies, S. 496).
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1249
ist bekannt, dass Süsskind trotzkistische Reden im Berliner jüdischen Klub hielt,284
[und] in Dänemark trotzkistische Literatur erhielt und verteilte. Nach Süsskinds
Abreise aus Deutschland wurde eine Gruppe deutscher politischer Emigranten, der er
angehörte, wegen trotzkistischer Tätigkeit aus der Partei ausgeschlossen.
Nach seiner Abreise aus Deutschland reiste er legal von Kopenhagen nach Paris
und zurück durch Deutschland. Zur Zeit in Minsk.
6. PETTER, ERWIN285 – Mitglied der KPD von 1927 bis 1928, als Trotzkist aus der KPD
ausgeschlossen. Er nahm an der Attacke auf Wilhelm Pieck während dessen Rede
in Rathenau teil.286 Trotz seiner anhaltenden trotzkistischen Tätigkeit in der KPD
und trotz der Tatsache, dass sich das ZK der KPD in seinem Brief vom 10.1.1930 wei-
gerte, Petter eine Empfehlung an die VKP(b) zu geben, trat er der Partei bei, offenbar
während er in der „Mostremass“-Fabrik in Moskau arbeitete.287 An die Universität der
Westvölker geschickt, 288 die er 1934 abschloss.
Die Frage nach seinem Angriff auf Gen. Pieck wurde während der Säuberung an
der Universität aufgeworfen. Wie auch immer, in Anbetracht der Stellungnahme von
Gen. Pieck, dass dem keine Bedeutung beigemessen werden sollte, diskutierte die
Deutsch[e] Sektion die Frage nicht. Jüngst arbeitete [Petter] in Prokop’evsk im Kuzbass
als Instrukteur unter ausländischen Arbeitern. Im Oktober 1934 wurde, als Antwort
auf die Anfrage der übergeordneten Organisation, eine charakteristische [Bewertung]
von Petter abgegeben, die Obigem entsprach.
7) PETTER, MARGARETE – Mitglied der KPD, wie ihr Ehemann ein Trotzkist. Kam 1930
in die UdSSR, über die Berliner Handelsvertretung, am 6. August 1930. Das ZK der KPD
empfahl ihren Übergang in die VKP(b) als Kandidat. Wurde vom KPD-Vertreter [in der
Komintern] an die Universität der Westvölker entsandt. Nach der Ermordung des Gen.
Kirov erzählte sie einem Freund an der Universität: „Falls nur ein persönlicher Grund
hinter diesem Akt der Rache steckt, könnte es Eifersucht sein.“ Danach wurde sie
unverzüglich von der Schule entfernt. Ihr Arbeitsort ist unbekannt, die Adresse ist:
Moskau, Tjufelev proezd 3, Wohn. 42.
8) ERNST HESS (LEO ROTH)289 – Mitglied des KJV Deutschlands, aus dem KJVD 1926
wegen Trotzkismus ausgeschlossen. War zwischen 1926 und 1928 einer der Anführer
der Korsch-Opposition, nach der Spaltung des deutschen KJV [Mitglied der] Pappel-
platzgruppe.290 1929 zur KPD zugelassen; 1930 begann er im Untergrund-Apparat zu
arbeiten und danach im ZK der KPD.
Kam auf Anordnung des KPD[-Vertreters] im November 1935 in die UdSSR, um im
Apparat zu arbeiten. HESS ist mit der Tochter von Hammersteins291 verheiratet, eines
Generalobersts der Deutschen Reichswehr. Er empfängt Post aus dem Ausland über
die Adresse von Steinberg[er] Nati, 292 mit dem er enge Beziehungen unterhält.
289 Ernst Hesse (Ps.), d.i. Leo Roth (siehe Dok. 359b, 375a). Roth wurde Anfang 1936 aufgrund der von
Ulbricht angezettelten Auflösung des MP-Apparats nach Moskau transferiert, Arbeit als Metallarbeiter
und Referent der M-Schule der Komintern. Am 4.11.1936 verhaftet (22.11. nach Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 749), am 10.11.1937 zum Tode verurteilt und exekutiert wegen „Spionage“ und
„Vorbereitung von Terroranschlägen“ (Siehe auch Dok. 359b, 375a).
290 Pappelplatzgruppe: Eine KJVD-Gruppe am Pappelplatz im Berliner Prenzlauer Berg hatte 1926
(!) den Taktikwechsel der Verbandsführung in Richtung auf eine breite Ansprache neuer Mitglieder
und auch eine „Hinwendung zu Spiel, Sport und Tanz“ als „Verrat der historischen Aufgabe [...] –
der Führung des proletarischen Klassenkampfes“ kritisiert (SAPMO-BArch, RY 1/14/1/69, 73, zit.
in: Barbara Köster: „Die Junge Garde des Proletariats“. Untersuchungen zum Kommunistischen
Jugendverband Deutschlands in der Weimarer Republik, Phil. Diss., Universität Bielefeld, 2005, S.
166, http://d-nb.info/977852040/34).
291 Roth war mit Helga von Hammerstein, der Tochter des Generals Kurt von Hammerstein,
verheiratet. Gemeinsam mit ihren Schwestern Marie Louise und Marie Therese gab Helga geheime
Dokumente und Erkenntnisse aus der Reichswehrführung an die KPD weiter (siehe: Enzensberger:
Hammerstein oder Der Eigensinn.)
292 Steinberger Nati, d.i. Nathan Steinberger, Dr. phil. (16.7.1910 Berlin – 26.2.2005 Ost-Berlin),
Mitglied der jüdisch-sozialistischen, später der kommunistischen Jugendorganisation in Deutschland.
Seine Ortsgruppe wurde wegen ihrer Anhängerschaft zu Korsch zeitweilig ausgeschlossen. KPD-
Mitgliedschaft 1928. Kam im April 1932 mit seiner Frau Edith Steinberger in die Sowjetunion. Verhaftet
im April 1937 und wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“ zu lebenslänglicher
Verbannung verurteilt und bis 1955 in Magadan weggesperrt. Nach 1955 lehrte er in der DDR (Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 896f.).
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1251
10) Otto Knobel (Otto Bran[d]t)295 – ein früherer Arbeiter des KJV Deutschlands,
der für den Internationalen Jugendverlag in Deutschland arbeitete296 und der 1933
ohne die Zustimmung der Partei nach Paris emigrierte. [Ihm] wurde der politische
Emigrantenstatus nicht erteilt. Kehrte nach Deutschland zurück und emigrierte dar-
aufhin abermals. Stand in Paris mit Trotzkisten in Verbindung. Zog nach Kopenha-
gen, um zu arbeiten, wo er keine Verbindung zur Partei hatte und keine Verbindun-
gen mit der Emigranten-Gemeinschaft herstellte. Arbeitete in Kopenhagen im Verlag
von Wilhelm Reich,297 der wegen Trotzkismus aus der KPD ausgeschlossen wurde.
293 Das Internationale Agrarinstitut (IAI) wurde 1925 unter der Ägide der „Bauerninternationale“
(Krestintern) als Braintrust für die weltweiten Bauern- und landwirtschaftlichen Probleme in Bezug
auf die kommunistische Bewegung gegründet. 1940 geschlossen. Siehe: Bernhard H. Bayerlein: Bau-
ern und Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch? Materialien zur Geschichte der Bauerninternationale
und des Internationalen Bauernrats (IBR). In: The International Newsletter of Communist Studies On-
line XVI (2010), 23, pp. 114–126.
294 Gemeint ist das Institut der Roten Professur, siehe hierzu Dok. 301.
295 Otto Knobel (Ps. Otto Brandt) (8.2.1908 Schwerin – nach 22.6.1937 in der Sowjetunion
umgekommen) – technischer Redakteur, KPD-Mitglied seit 1929. Einer der Aktivisten des Sozialistischen
Schülerbundes (SSB) seit 1926, später der Kommunistischen Studentenfraktion der KPD (Kostufra)
und der Kommunistischen Jugendinternationale. Kam Anfang Juni 1935 in die UdSSR, u.a. Lehrer an
der Karl-Liebknecht-Schule in Moskau. Christopher Turner zufolge arrangierte Knobel 1933 ein Treffen
von Wilhelm Reich mit einigen Vertretern Trotzkis und ging dann zur Unterstützung Reichs zu ihm
nach Dänemark. Als enger Mitarbeiter gab er dessen Schrift „Die Massenpsychologie des Faschismus“
nach Frankreich und dort den trotzkistischen Gruppen weiter. Trotzki korrespondierte mit Reich, er
folgte seiner Analyse zumindest insofern, als er den in der Sowjetunion stattfindenden „sexuellen
Thermidor“ (Turner) anprangerte. Knobel wurde am 1.10.1936 verhaftet und am 22.6.1937 zu fünf
Jahren Arbeitslager verurteilt, wo er vermutlich umkam (siehe: Christopher Turner: Adventures in the
Orgasmatron. Wilhelm Reich and the Invention of Sex, New York, Farrar, Strauss and Giroux, 2011,
Anm. 59; Natalija Mussijenko, Alexander Vatlin: Schule der Träume. Die Karl-Liebknecht-Schule in
Moskau (1924–1938), Bad Heilbrunn, Verlag Julius Klinkhardt, 2005, S. 243).
296 Der Internationale Jugendverlag arbeitete als Nachfolger des von Münzenberg in Stuttgart
eingerichteten Internationalen sozialistischen Jugendverlags in den Jahren 1919–1921 im Auftrag
der im November 1919 gegründeten Kommunistischen Jugendinternationale, deren bekanntester
Repräsentant ebenfalls Willi Münzenberg war.
297 Wilhelm Reich (1897–1957) war als linker, die Gesellschaft insgesamt in den Blick nehmender
Psychologe und Psychotherapeut einer der bekanntesten Schüler Sigmund Freuds. KPD-Mitglied
1930, propagierte er psychosexuelle Aufklärung, gründete Beratungsstellen, organisierte sexuelle und
Hygieneerziehung und förderte die „Sexpol“-Bewegung als sympathisierende Peripherieorganisation
der KPD. Das Erscheinen der „Massenpsychologie des Faschismus“ im August/September 1933,
einer erstaunlich hellsichtigen Analyse des Hitler-Regimes, die bis heute unter psychoanalytischen
Publikationen ihresgleichen sucht, nahm die Parteiführung zum Anlass, seinen Ausschluss zu
betreiben (1934). Dem folgte der Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung,
weil er zu eigenständig und zu „links“ argumentierte. Bis 1941 war Reich der einzige Psychoanalytiker
weltweit, der sowohl gegen den Faschismus als auch gegen den Stalinismus Stellung bezog. In
seiner neuen Heimat, den USA, wurde er jahrelang bespitzelt, diffamiert und wegen angeblicher
1252 1933–1939
Gemäß seiner Aussage brach er mit Reich auf Grund persönlicher Differenzen. Aller-
dings reiste er laut einigen Parteigenossen mit Reichs Zustimmung nach Berlin und,
einen Monat später, gegen Ende 1935, kam er über Intourist in die UdSSR, ohne Ver-
bindungen und ohne die Erlaubnis der Partei. Er stand Reich so nahe, dass er [dessen]
Briefe an Trotzki las und ihm sogar selbst schickte.
11) LADISLAUS STERN (PAUL STEIN)298 – Ein Mitglied der KP Ungarns von 1918–21,
der KP Österreichs von 1922–29, der KP Deutschlands seit November 1929. Seit 1924
offenbarte er sich selbst als ein aktiver Trotzkist. Auf der Parteiversammlung 1927
protestierte er gegen den Ausschluss Trotzkis. Von 1928–29 arbeitete er mit der trotz-
kistischen Gruppe von Jakob Frank,299 Iza Strasser,300 Raisa Adler zusammen.301 Auf
Parteiversammlungen sprach er offen als Trotzkist, verteidigte die Theorie der per-
manenten Revolution und stand auf Seiten der Plattform der russischen Oppositi-
on.302 In dieser Zeit sandte er persönlich ein Paket Bücher an Trotzki. Im Juni 1929
Scharlatanerie vor Gericht gezerrt, seine Bücher wurden zum zweiten Mal verbrannt; er starb am
3.11.1957 im Gefängnis, vermutlich an Herzversagen. Siehe zuletzt: Andreas Peglau: Unpolitische
Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort von
Helmut Dahmer und einem ausführlichen Dokumentenanhang, Gießen, Psychosozial-Verlag, 2013
(Bibliothek der Psychoanalyse).
298 Ladislaus Stern (Ps. Paul Stein, Csillag) (26.3.1900, Budapest – 1899 laut Chase – nach September
1937 in der Sowjetunion), Redakteur und Journalist; als solcher für die KP Ungarns in Wien tätig.
1928/1929 der linksoppositionellen Gruppe Raissa Adlers, der Frau des Individualpsychologen Alfred
Adler, zugehörig. KPD-Mitglied 1929, in Berlin für die Publikationen der Internationalen Roten Hilfe
tätig. Im Januar 1932 Emigration in die UdSSR. Im September 1937 vom NKVD verhaftet, zu 10 Jahren
Arbeitslager verurteilt, wahrscheinlich in der Sowjetunion umgekommen.
299 Jakob Frank (Ps. Max Gräf) – geboren in Litauen, Mitglied der KP Österreichs, dort Kontakte zur
trotzkistischen Linksopposition, war 1929 kurzzeitig Sekretär Trotzkis. Er stand in den Diensten der
GPU (Wolfgang Alles: Zur Politik und Geschichte der deutschen Trotzkisten ab 1930, Köln, Neue ISP
Verlag, 1994, S. 20f.).
300 Isa Strasser (29.3.1891 Coburg – 24.8.1970 Wien). Mit ihrem Mann Josef Strasser Mitbegründerin
der KP Österreichs. 1923 Mitglied der VKP(b), 1924–27 im Frauenreferat der Profintern tätig,
sympathisierte mit Trotzki, mit dem sie korrespondierte; aus der KP Österreichs ausgeschlossen,
später schriftstellerisch und als Krankenschwester tätig (siehe Buckmiller/Meschkat: Biographisches
Handbuch, Datenbank, Eintrag „Strasser, Isa, geb. von Schwartzkoppen“).
301 Raissa Adler (1872–1962), Frau Alfred Adlers, Frauenrechtlerin und Revolutionärin, Mitglied der
KP Österreichs. Maßgeblich in der Internationalen Arbeiterhilfe tätig. Mitglied der KP Österreichs.
1930 als Trotzkistin ausgeschlossen, 1934 Wiederaufnahme, 1935 Emigration in die USA. Ihre älteste
Tochter Valentine, die als Nationalökonomin in Moskau arbeitete, wurde Opfer der stalinistischen
Säuberungen (Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hrsg.): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich.
Leben. Werk, Wirken, Wien u.a., Böhlau, 2002, S. 12–13).
302 Gemeint ist die zum XV. Parteitag der VKP(b) (Dezember 1927) im Sommer 1927 erarbeitete, im
September vorgelegte und ursprünglich nur für Parteimitglieder vorgesehene Plattform der Vereinig-
ten Opposition als Gemeinschaftswerk von Trotzki, Sinowjew, Kamenev, Smilga, Pjatakov u.a., nach
der Zahl der Erstunterzeichner auch als „Erklärung der Dreizehn“ bekannt. Darin präsentierte die
Opposition eine umfassende Kritik an der Politik der Parteiführung. Im internationalen Maßstab wur-
den Stalin und die Komintern für ihre desaströse China- und England-Politik sowie für die Verfolgung
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1253
12) SOBOLEVIČ A. (ABRAŠA, SENIN)303 – nach eigener Aussage Mitglied des kommu-
nistischen Jugendverbandes Litauens seit Beginn 1921; gemäß Stellungnahme vom
18. Juni 1931 allerdings seit 1920–21. Einigen Quellen zufolge führte er eine desorga-
nisierende Tätigkeit im KJV Litauens durch und besaß den Ruf „eines Unruhestifters
mit einem Hang zur Abenteuerlust“. Mitglied der KPD seit 1924. Er behauptet, dass
seine trotzkistischen Aktivitäten 1929 begonnen hätten, doch nach unseren Quellen
schloss er sich den Trotzkisten viel früher an und wurde 1929 aus der KPD als Trotzkist
ausgeschlossen. 1927 reiste Sobolevič aus Deutschland in die UdSSR, vermutlich, um
Kontakte zu den russischen Trotzkisten herzustellen. 1928 boten er und der Trotzkist
der linken Oppositionellen (u.a. Urbahns, Fischer, Maslow) kritisiert. Die Parteiführung weigerte
sich, die Parteimitglieder mit der Plattform bekanntzumachen, sodass die Opposition sie konspira-
tiv drucken und vertreiben musste, was ihren Wirkungsradius minimierte und die Verhaftung vieler
Oppositioneller mit sich brachte. In deutscher Sprache erschien die Plattform erstmals im November
1927, gefolgt von einer französischen und englischen Übersetzung. Eine weitere deutsche Ausgabe
erschien 1929, allerdings unter dem Titel „Die wirkliche Lage in Russland“ und lediglich unter Trotzkis
Namen, was Trotzki, mit dem die Publikation nicht abgesprochen war, dazu brachte, sich von dieser
Veröffentlichung zu distanzieren (siehe: Ulf Wolter (Hrsg.): Die Linke Opposition in der Sowjetunion
1923–1928. Bd. 5: 1926–1927, Berlin, Olle & Wolter, 1977, S. 328–329, dort der Text der Plattform nach
dem „Raubdruck“ von 1929: Ibid., S. 330–466; für eine reichlich annotierte Veröffentlichung des Ent-
wurfs der Plattform nach einem Exemplar aus dem Trotzki-Archiv siehe: Trotzki: Schriften, Bd. 3.2, S.
891–1009).
303 Sobolevič A., d.i. Adolfas Sobolevičius (Ps. Abraša, Abraham, Adolf Senin, Jack Soble) (15.5.1903
– 15.3. nach Weber/Herbst – Wolkowysk, Gouvernement Grodno – September 1962 London, Selbst-
mord). Journalist und Ökonom. 1921 Mitglied der KP Litauens, dann der KP Frankreichs. 1929/1930
Ausschluss als Mitglied der trotzkistischen Opposition, Kontakte mit Trotzki. 1931 Wiederzulassung,
nach eigenen Aussagen seitdem sowjetischer Agent, besonders in den USA eingesetzt zur
Ausspionierung der trotzkistischen Bewegung u.a. 1932 Tätigkeit in der Profintern und als Herausgeber
der deutschsprachigen Zeitung Das neue Dorf, Charkow. 1934 VKP(b), 1936 als „militanter Trotzkist“
ausgeschlossen, beide Brüder überstanden jedoch die Säuberungen. Sein Bruder war Ruvinas/Rubin
Sobolevičius (Ps. Roman Well, Robert Soblen). (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch,
Datenbank, Eintrag „Sobolevicius, Adolfas“; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 1010).
1254 1933–1939
Frank aus Wien (ursprünglich ebenfalls aus Litauen) der KP Litauens ihre Dienste an,
doch zu diesem Zeitpunkt wurde Sobolevičs Freund Glavatsky aus der KP Litauens
ausgeschlossen.
Frank und Sobolevič protestierten gegen diesen Ausschluss und es stellte sich
heraus, dass Sobolevič 1928 bereits nach Litauen gereist war, um Kontakt mit litau-
ischen Trotzkisten aufzunehmen. Sobolevič lieferte Beiträge zu trotzkistischen Zei-
tungen in Deutschland und Frankreich, reiste in die Türkei, um Trotzki zu sehen,
und kehrte nach Deutschland zurück, wo er trotzkistische Gruppen in verschiedenen
Städten organisierte, darunter Leipzig. Er reiste abermals mit Intourist in die UdSSR
und veröffentlichte danach eine Reihe gegenüber der UdSSR feindlicher Artikel in
einer trotzkistischen Zeitung. Seine Frau, die für Intourist arbeitete, half ihm die
UdSSR ins Ausland zu verlassen.
1932 veröffentlichten Sobolevič und sein Bruder (Ruvim Sobolevič, Roman Vellʼ)
einen Artikel gegen Trotzki in der trotzkistischen Presse und versuchten darauf-
hin, erneut wieder der Partei beizutreten. Sobolevič kam 1932 in die UdSSR, trat der
VKP(b) bei (unter Rückdatierung seiner Parteimitgliedschaft auf 1931) und arbeitete
als ein Redakteur von Das Neue Dorf in Charkow.
Im April 1934 sandte die Kaderabteilung Gen. Škirjatov304 einen Bericht über die
trotzkistischen Aktivitäten der Sobolevičs sowie Hinweise von Gen. Angaretis über
die unkorrekten Informationen in Sobolevičs Autobiographie.305 Zur gleichen Zeit
schickte die Kaderabteilung alle notwendigen Informationen über Sobolevič an die
zuständigen Organe. Nach dem Dezember 1935 [stellten] diese Organe neue Nachfor-
schungen [an]. Die Kaderabteilung sandte den zuständigen Gremien eine Aussage
von Ludwig Brucker306 zu, die Sobolevič als einen Agenten Trotzkis entlarvte. Darin
wird unter anderem erwähnt, dass laut Sobolevič „der Alte (Trotzki) ihm weiterhin
auf die alte Weise vertraut.“
Das weitere Schicksal von Sobolevič, der im Februar 1936 in Charkow aus der
Partei ausgeschlossen wurde, ist uns unbekannt.
304 Matvej Fjodorovič Škirjatov (1883–1954), ein enger Helfer Stalins, war stellvertretender
Vorsitzender des ZK der VKP(b) und Mitglied der Kommission für Parteikontrolle des ZK der VKP(b).
305 Angaretis (Ps.), d.i. Zigmas Aleksa (1882–1940 erschossen), litauischer Sozialdemokrat seit 1906,
1918 Mitbegründer der KP Litauens, war von 1926 bis 1936 Sekretär der Internationalen Kontroll-
Kommission (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Aleksa, Zigmas“).
306 Zu Ludwig Brucker s.u..
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1255
13) GRUSS, BORIS307 – seit 1912 Mitglied des Poalei Zion.308 Seit 1925 Mitglied der KPD,
1929 ausgeschlossen, weil er ein Trotzkist war. Arbeitete in Leipzig. Die Deu[tsche]
Sektion hält die Information über seine Wiederaufnahme in die KPD 1932 für eine
Fälschung. Auch wenn die Wiederzulassung von Grüss und anderen dem sächsischen
Bezirk wurde, wurde Grüss nicht zugelassen, weil er Pole war und nie KPD-Mitglied.
Die [deutsche] Sektion betrachtet Grüss B. als ein unglaubwürdiges Element und die
von ihm vorgelegten Informationen als nicht glaubhaft (aus einem Dokument der
deu[tschen] Sektion).
Soweit die Zusammenfassung seitens der deu[tschen] Sektion, die wir vor kurzem
erhielten. Im Juli 1935 wurde, als Antwort auf eine Anfrage der Parteikontrollkom-
mission, unter Verweis auf Heckert, der den Fall detaillierter kennt, der deu[tschen]
Sektion des EKKI berichtet, dass Grüss seit 1925 Mitglied der KPD war und 1929 als
Trotzkist ausgeschlossen wurde.
Grüss kam im November 1933 in die UdSSR, mit einem vom Konsul in Prag ausge-
stellten Visum, ohne Kenntnis der Partei. Laut der deu[tschen] Sektion, arbeitet er im
Mostorg309 und lebt in Moskau, Vorovskogo Str. 5, Wohn. 9.
14) PAUL WEISS310 – ein Mitglied der KPD von 1924 bis 1930. Die Partei wusste von
seiner rechten Position in der Vergangenheit, nach dem VI. Kongress [der Komin-
tern]. Am 15. Mai 1930 traf WEISS mit Zustimmung des ZK der KPD ein und wurde
307 Gruss: D.i. Boris Grüss, geboren in Brody, Polen. 1922 Emigration nach Deutschland, 1925 KPD-
Mitgliedschaft und -Arbeit in Leipzig. 1929 als Trotzkist ausgeschlossen, 1932 Wiederzulassung und
über die Tschechoslowakei in die Sowjetunion, dort als Pelzarbeiter tätig. Am 21.6.1937 aus der VKP(b)
ausgeschlossen, vermutlich in den Säuberungen umgekommen (Mensing: NKWD und Gestapo, http://
www.nkwd-und-gestapo.de/liste-b-n-draussen-1.html; Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.
yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn33).
308 Zur linkszionistischen Poalei Zion siehe Dok. 189.
309 Mostorg: Eine Moskauer Kaufhauskette.
310 Der 1905 geborene, aus Ungarn stammende Berliner Musiker und Komponist Paul Weiss
(ungarische Schreibweise: Weisz, im Russischen als Pavel Filippovič Vejs bekannt) war ein Schüler des
Komponisten Paul Hindemith und Aktivist der Arbeitersänger- und Agitpropbewegung. Er emigrierte
bereits 1930 nach Moskau und war stellvertretender Vorsitzender des Internationalen Musikbüros,
der 1932 gegründeten Musiksektion des Internationalen Revolutionären Theater-Bundes (IRTB).
Weiss wirkte als Popularisierer Hanns Eislers, u.a. hielt er im November 1930 in der Musiksektion der
Kommunistischen Akademie den ersten Vortrag in der UdSSR über Eisler. Weiss wurde bereits 1934
verhaftet und erst 1956, schwer versehrt, aus dem Lager befreit. 1957 von der Partei rehabilitiert und
erst 1965 in den sowjetischen Komponistenverband wieder aufgenommen, durfte er erst 1969 aus der
Verbannung in Uchta (Sowjetrepublik Komi) nach Moskau übersiedeln, wo er sich als Theoretiker
der musikalischen Früherziehung einen Namen machte. Die im Dokument aufgeführten politischen
Verstrickungen von Weiss sind in der Forschungsliteratur nicht überliefert. Zu seiner Biographie
siehe: Eckhard John: Vom Traum zum Trauma. Musiker-Exil in der Sowjetunion. In: Hanns-Werner
Heister, Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen (Hrsg.): Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die
internationale Musikkultur, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1993, S. 255–278;
Vladimir Frumkin: Iz lagerja smertnikov – s ljubov’ju. In: Zametki po evrejskoj istorii (2007), Nr. 2,
http://berkovich-zametki.com/2007/Zametki/Nomer2/Frumkin1.htm.
1256 1933–1939
15) ELŽERS ALBERT (LEO BERMAN),314 – Berman-Jurins Bruder, Mitglied des “Poalei
Zion” von 1917–1928, Mitglied der KPD seit 1927. Kam im April 1933 mit einer Handels-
delegation in die UdSSR. Stand in Verbindung mit Fritz David [d.i. Il’ja-David Krugl-
janskij] und Berman-Jurin. Hatte in der Vergangenheit als Instrukteur für kulturelle
Massenarbeit im VCSPS315 gearbeitet; wurde im August 1933 dort entlassen. Seine alte
Adresse (1933) ist: Černigovskij per[eulok] 9, Wohn. 13.
311 David Rjazanov, urspr. Name Gol’dendach (10.3.1870 Odessa, Ukraine – 21.1.1938, in Saratov
erschossen), russischer Revolutionär, Historiker und führender sowjetischer Marxforscher und
-übersetzer. Seit 1887 in der revolutionären Bewegung, Mitbegründer der russischen Sozialdemokratie
und früher Kritiker Lenins; im deutschen Exil zeitweise Sekretär Kautskys. Im August 1917 schloss sich
Rjazanov den Bolschewiki an, setzte sich jedoch weiterhin für Presse- und Meinungsfreiheit und den
Verzicht auf politische Gewalt ein. In der frühen Sowjetunion war Rjazanov Leiter des 1921 von ihm
gegründeten Marx-Engels-Instituts, unterhielt enge Beziehungen zur westlichen Marxforschung und
erwarb umfangreiche Bestände zur Geschichte der Arbeiterbewegung. In seinem Institut verschaffte
er vielen in Ungnade gefallenen Kommunisten Arbeit, so etwa August Thalheimer. Während Rjazanov
sich nicht offen zugunsten der linken Opposition positionierte, half er vielen exilierten und verfolgten
Oppositionellen, verhalf ihnen zu Übersetzungsaufträgen und bewahrte ihre Privatarchive in seinem
Institut auf. Im Februar 1931 als „verdeckter Menschewik“ abgesetzt, verhaftet und nach Saratov
verbannt, 1937 erneut verhaftet, 1938 zum Tode verurteilt und erschossen. Siehe zu seiner Biographie
und seinem Wirken: Hecker: Rjazanov und die erste MEGA; Colum Leckey: David Riazanov and Rus-
sian Marxism, In: Russian History/Histoire Russe (1995), H. 2, S. 127–153; Jakov G. Rokitjanskij: Guman-
ist oktjabr’skoj epochi. Akademik D.B. Rjazanov. Social-demokrat, pravozaščitnik, učenyj, Moskva,
Sobranie, 2009.
312 Gosizdat (Abk.): Russ. Gosudarstvennoe izdatelʼstvo. Sowjetischer Staatsverlag, gegründet 1921.
313 Dabei handelte es sich entweder um die Kommission des EKKI zum Kampf gegen Krieg, die
Zweite Internationale und Faschismus oder um die Ständige Kommission zur Popularisierung der
Errungenschaften beim Politsekretariat des EKKI in den Jahren 1933–1935.
314 Albert Elgers (Ps.), d.i. Leo Berman. Weitere Angaben zum Leben du Schicksal des Bruders von
Konon Berman-Jurin sind nicht überliefert.
315 VCSPS (Abk.): Russ. Vsesojuznyj central’nyj sovet professional’nych sojuzov (Allsowjetischer
Zentralrat der Gewerkschaften).
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1257
16) NATAN NEJMAN316 – Mitglied der KPD seit 1923. Kam im Dezember 1934 in die
UdSSR und ihm wurde der Emigranten-Status verweigert. In seinem Empfehlungs-
schreiben bezieht er sich auf Fritz David [d.i. Il’ja-David Krugljanskij], mit dem er
keinerlei Parteikontakte haben konnte. Er gelangte in die UdSSR über die deutsche
Sektion dank Fritz David [d.i. Il’ja-David Krugljanskij]. Arbeitete im wissenschaftli-
chen Forschungsinstitut der OGIZ, Valovaja [Str.] 28.317
17) HOFFMAN, INGA318 – die Frau von N. Lurʼe,319 Mitglied der KPD seit 1926. Kam 1932
mit ihrem Mann N. Lurʼe – Hans Wolf – in die UdSSR. Hinsichtlich ihrer Arbeit in der
KPD weiß die deu[tsche] Sektion lediglich, dass sie eine Reihe von Parteiaufträgen
technischen Charakters durchführte. Für die VKP(b) besaß sie eine Empfehlung von
Leo Berman (Elžers, Albert).
18) SONJA FIŠMAN320 – Berman-Jurins Frau, Mitglied der KP Rumäniens von 1919–23.
Kam 1923 auf der Reise einer Handelsdelegation in die UdSSR. Die deu[tsche] Sektion
charakterisiert sie als eine aktive Parteiarbeiterin.
Der Kaderabteilung sind folgende Fakten bekannt: Als Fišman in Berlin war, trat
sie energisch dem Ausschluss eines Trotzkisten namens Rosov entgegen.
Ein gewisser Arnold Gubb, ein früheres KPD-Mitglied, das der Provokation ver-
dächtigt wurde und später seinen Weg in die SA fand, genoss ebenfalls Fišmans
Schutz.
316 D.i. Natan Abramovič Nejman (1897 Warschau – 5.11.1937 Butovo bei Moskau, erschossen).
Mitglied des „Bunds“ 1916, nach 1923 der KPD. August 1933 Emigration nach Paris, im Dezember in
die UdSSR. Dort Tätigkeit im Polygraphischen Institut, später im Verlag für Kinderliteratur in Moskau.
Verhaftung am 5.8.1937, wegen seiner Kontakte zu Fritz David (d.i. Ilʼja-David Krugljanskij) angeklagt der
„konterrevolutionären Tätigkeit“ und erschossen (Plener/Mussienko: Verurteilt zur Höchststrafe, S. 70).
317 OGIZ: (Abk.) Obʼʼedinenie Gosudarstvennych Knižno-žurnalʼnych izdatelʼstv, Vereinigung Staatlicher
Buch- und Zeitschriftenverlage. An der OGIZ existierten als angegliederte Institute das Kritisch-
bibliographische Forschungsinstitut, das Polygraphische Institut (Hochschule) und das Institut für
Redaktions- und Verlagswesen.
318 Inga Hoffman (Ps.), d.i. Necha Lurʼe (1910 Grodno – nach September 1936 Sowjetunion). KPD-
Mitglied 1926. 1932 Emigration in die UdSSR; als Frau von Natan Lurʼe verfolgt, im September 1936
verhaftet.
319 Natan Lurʼe (Ps. Hans Wolf) (1901 Lettland – 25.8.1936 Moskau, erschossen). Physiker, KPD-
Mitglied 1925. 1932 Emigration in die UdSSR, Tätigkeiten in Tscheljabinsk und Leningrad. Im ersten
Moskauer Prozess stütze er die Terrorismusanklagen gegen Sinowjew und Kamenev, am 25.8.1936
selbst als Mitglied einer „konterrevolutionären terroristischen Organisation“ exekutiert (vgl. Plener/
Mussienko: Verurteilt zur Höchststrafe, S. 62).
320 Sonja (Gertrude) Fišman (Fischmann) (1898 Kišinev (heute Chișinău), Bessarabien – 7.3.1939
Sowjetunion, erschossen). 1919 Mitglied der KP Rumäniens; nach 1923 der KPD. Kam im August 1933
mit Ihrem Mann in die Sowjetunion, dort arbeitete sie für die Zeitschrift Za industrializaciju. Als Frau
Berman-Jurins politisch verfolgt. Im November 1936 verhaftet und exiliert, am 21.3.1937 zu acht Jahren
Arbeitsbesserungslager verurteilt, am 7.3.1939 verurteilt zur Erschießung.
1258 1933–1939
19) HAUSCHILD, ROBERT (HAUS RUDOLF)326 – seit 1918 Mitglied der KPD. Zwischen
1924 und 1934 war er lose mit der Parteiorganisation und der Parteiarbeit verknüpft.
Unterhielt enge Verbindungen mit Trotzkisten und Brandlerianern. 1928 veröffent-
lichte er das militärisch-politisches Magazin Die Grüne Front. 327 Trotz einer Entschei-
321 Elfrida Goldzweig (Ps.), d.i. Elfrida Klege (geb. 1904), Stenotypistin, war von 1931 an KPD-Mitglied,
1932 Emigration in die UdSSR, Tätigkeiten im Sojuzpromeksport, Tekstilimport und im Marx-Engels-
Lenin-Institut. Inhaftiert im Lager 1938–1948, 1955 in die DDR (Chase: Enemies, Internetfassung,
http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn39).
322 IMEL – russ. Institut Marksa-Engelʼsa-Lenina CK VKP(b), das Marx-Engels-Lenin-Institut beim ZK
der VKP(b). Siehe Dok. 274.
323 Za industrializaciju („Für die Industrialisierung“) – Zeitung des Volkskommissariats für
Eisenmetallurgie, Moskau, erschienen von 1930 bis 1937.
324 Golda Fröhlich (geb. 1889) – KPD-Mitglied seit 1919; kam 1931 nach Moskau zu ihrem Mann Horst
Fröhlich, der im IMEL arbeitete. Horst Fröhlich wurde 1934 von der KPD zur Untergrundarbeit nach
Deutschland geschickt und dort 1935 verhaftet. Eine Initiative Anfang 1941, ihn durch Austausch aus
Deutschland freizubekommen, schlug aufgrund der ablehnenden Haltung Dimitrovs fehl, er kam
1943 in Auschwitz um. Golda Fröhlich wurde neuesten Forschungen zufolge nicht verhaftet, ihre Spur
verliert sich zum Zeitpunkt der Evakuierung (Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 160f.). Ihre beiden
Schwestern Johanna Wilke und Selma Gabelin wurden allerdings zunächst in Moskau verhaftet
(Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.
htm#_edn42).
325 Die Identitäten beider Personen lassen sich nicht zweifelsfrei eruieren.
326 Robert Hauschild (Ps. Rudolf Haus) (28.4.1900 Gera – nach 28.5.1937). Schriftsteller, Redakteur,
Militärspezialist. Beschuldigt, 1923 der „Brandler-Gruppe“ und später der „Korsch-Gruppe“ angehört
zu haben. In Moskau u.a. Redakteur der Deutschen Zentral-Zeitung und des Gegenangriff. Am 31.8.1936
verhaftet (nach Kaderakte 11.11.1936), am 28.5.1937 zu fünf Jahren Haft verurteilt; dann im Gulag
ermordet (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 350f.; Buckmiller/Meschkat: Biographisches
Handbuch, Datenbank, Eintrag „Hauschild, Robert“).
327 Grüne Front: Ein solches „militärisch-politisches Magazin“ ist nicht nachweisbar, möglicherweise
liegt hier eine Verwechselung oder eine Fehlinformation vor. Die „Grüne Front“ war ein Anfang 1929
gegründeter außerparlamentarischer, explizit antiliberaler und antimarxistischer Zusammenschluss
von Großagrariern, die sich von der sozialdemokratisch-liberalen Koalitionsregierung unter
Hermann Müller politisch nicht repräsentiert sahen (siehe: Heide Barmeyer: Andreas Hermes und die
Organisationen der deutschen Landwirtschaft. Christliche Bauernvereine, Reichslandbund, Grüne
Front, Reichsnährstand 1928–1933, Stuttgard, Gustav Fischer Verlag, 1971, S. 80–128). Weder ist etwas
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1259
dung des ZK der KPD hielt er die Zeitschrift mit Hilfe deutscher und ausländischer
Brandlerianer aufrecht. Von 1928–29 war er in der KPD als Versöhnler bekannt.
Laut G. Ercolis [d.i. Palmiro Togliatti] Sekretär G. Petterman328 äußerte Hauschild
in Unterhaltungen „Zweifel über die Möglichkeit, den Sozialismus in einem Land auf-
zubauen“, sprach „über die Möglichkeit eines Thermidors329 als Resultat der Dege-
nerierung der Herrschaft des Proletariats“, „über die Notwendigkeit, die KPD und
die Komintern zu ‚überholen‘, die ihre Unfähigkeit bewiesen haben, die Revolution
nach vorne zu bringen.“ „Zweifelte ernsthaft die Bedeutung und die Rolle Stalins an,
diskreditierte skrupellos Ernst Thälmann, genau so wie andere Genossen der Par-
teiführung.“ Gen. Petterman behauptet, dass Hausschild durchgehend Kontakt zu
zahlreichen oppositionellen Elementen in und um die Partei unterhielt, im Besonde-
ren zu Walter Frölich,330 Kurt Heinrich (Süßkind),331 Robert (Volk, Karl),332 Frenzel,333
Greve,334 Herbert,335 Bringdolg [d.i. Walter Bringolf] (Schweiz).336
über etwaige verdeckte KPD-Arbeit in der „Grünen Front“ bekannt, noch betätigte sich Hauschild als
Experte für Agrarfragen, noch gab die „Grüne Front“ ein Periodikum mit diesem Namen heraus.
328 Werner Petermann (1906–1942) – KPD-Mitglied seit 1926; 1931 zur Arbeit im EKKI abkommandiert.
Nach 1932 in der Leitung des Mitteleuropäischen Ländersekretariats des EKKI. Technischer Assistent
Togliattis nach dem VI. Weltkongress der Komintern. Am 11.11.1937 Parteiausschluss wegen
„ungenügender Wachsamkeit gegenüber den Volksfeinden“. Wiederaufnahme am 20.1.1938, verhaftet
am 27.3.1938, am 5.12.1940 zu fünf Jahren Haft verurteilt; am 24.7.1942 zum Tod durch Erschießen
verurteilt, exekutiert am 12.9.1942. (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 665).
329 Thermidor: Am 9. Thermidor des Jahres II nach dem französischen Revolutionskalender, dem
27.7.1794, wurde Robespierre im Revolutionskonvent verhaftet. Die „Thermidorianer“, zumeist Vertreter
des Großbürgertums, entsandten Truppen und richteten das Direktorium ein. Die reaktionären Kräfte
gewannen die Oberhand. Trotzki übernahm die Analogie zur Kennzeichnung des rückwärtsgewandten
Stalinismus, der unter der postrevolutionären Maske die Macht übernahm. Siehe: Leo Trotzki:
Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, in: Unser Wort, III (1935), Nr. 4, 6, 7 (Mai, Juni, Juli 1935);
breit annotiert in: Dahmer/Feikert/Lauscher u.a.: Leo Trotzki. Schriften 1, S.581–609.
330 Möglicherweise ist Paul Frölich gemeint.
331 Zu Heinrich Süßkind siehe Dok. 387.
332 Robert (Ps.), d.i. Karl Volk. Siehe Dok. 348. Von Zürich aus leitete Volk den kämpferischen Flügel
der oppositionellen „Versöhnler“. Später rettete er sich von Frankreich aus durch eine illegale Einreise
in die USA. Siehe auch Dok. 85 und 348.
333 Max Frenzel, führender „Versöhnler“, siehe Dok. 359a.
334 Willi Greve (Hans Ende). 1907 geboren, 1927 KPD-Mitglied, der sich den “Versöhnlern” anschloß.
Im Februar 1935 Parteiausschluß, da er angeblich im Interesse einer Fraktion gegen die Regeln der
Konspiration verstossen hätte (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/
Documents/doc20chapt4.htm#_edn47).
335 Möglicherweise Herbert (Ps.), d.i. Fichtenbog, Mitglied des KJVD, der wegen seiner schnellen
Freilassung nach Verhaftung durch die Gestapo im März 1933 unter Spitzelverdacht stand (Chase: Enemies,
Internetfassung). http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn48).
336 Bringdolg: D.i. Walter Bringolf (1.8.1895 Lörrach – 24.3.1981 Schaffhausen). Schweizer Sozialist
und Kommunist. Präsident der Stadt Schaffhausen, er stand in Verbindung zu den „Versöhnlern“ in
der KPD und begründete die „Rechte Opposition“ („Brandlerianer“) in der Schweiz. 1935 zurück zur
Sozialdemokratie (Bayerlein/Lasserre: Archives de Jules Humbert-Droz, II, S. 629; Peter Stettler: Die
Kommunistische Partei der Schweiz 1921–1931; ein Beitrag zur schweizerischen Parteiforschung und
1260 1933–1939
20) HAUSCHILD, HILDE (LOEWEN) 339 – Mitglied der KPD seit 1922. 1931 Instrukteurin
im östlichen Berliner Unterbezirkskomitee; sie arbeitete für das Magazin Die Grüne
Front, das von ihrem Mann herausgegeben wurde. In der Vergangenheit erhielt das
ZK der KPD die Aussage von Eigin, G. Schoenhaars technischem Sekretär,340 dass sie
„für den Klassenfeind arbeite“. 1930 versuchte sie, einige [Partei-]Arbeiter für das
Magazin ihres Mannes auszuspionieren (Verbindungen zur Polizei, etc). Zwischen
1928 und 1932 stimmte sie der Parteilinie nicht zu und gehörte den Versöhnlern an.
1933 (bereits in der UdSSR) wurde sie von der IKK wegen des Ausplapperns geheimer
Adressen ermahnt.
1934 antwortete die Deu[tsche] Sektion auf eine Anfrage der zuständigen Organe,
dass Hilde Hauschild von 1922 an Mitglied der KPD war, in die UdSSR mit Erlaub-
nis des ZK der KPD gekommen war und als Redakteur für das In[ternationale] Radio
arbeitet. Im Februar 1936 wiederholte sie dieselben Informationen und fügte hinzu,
dass sie eine aktive KPD-Arbeiterin war und von 1928–1930 den Versöhnlern ange-
hörte.
21) PAUL HEINZ341 (RAKOWS BRUDER),342 Mitglied der KPD, unterhält andauernde
Beziehungen zu seinem Bruder. Kam mit der OMS343 [in die UdSSR], arbeitet momen-
tan als Instrukteur für ausländische Arbeiter in Postyschewo (ehemals Grischino,
Zeche Nr. 1). Die KPD-Delegation erklärt, dass laut G. Stucke (Celʼner),344 der dorthin
kam, um Propagandaarbeit zu leisten, Paul Heinz zwei Pässe besitze – einen deut-
schen und einen britischen – [und] mit seiner früheren Untergrundarbeit und seinen
aktuellen Verbindungen zum NKVD prahle. „Ließ in einer Studiengruppe durch seine
Frau die Frage stellen, welche Fehler Thälmann 1932 beging.“
22) HEINZ MOLLER (ASIATICUS),345 kam mit einem polnischen Pass unter dem Namen
Schiff [in die UdSSR]. […] war 1927 wegen seiner trotzkistischen Position in der China-
341 Paul Rakow (Ps. Paul Heinz) (21.3.1901 Neubekum, Westfalen – 20.12.1937 Sowjetunion,
erschossen). Handelsangestellter. KPD-Mitglied 1919. Bis 1928 Parteiarbeit, dann im EKKI-Apparat.
Als OMS-Mitarbeiter u.a. in China, Studium an KUNMZ 1931–1934. 1934–1937 Instrukteur für
ausländische Arbeiter im Donbass. Am 15 April 1937 im Zusammenhang mit seinem Bruder verhaftet,
am 19.9.1937 zum Tode verurteilt. Am 20.12.1937 erschossen (Buckmiller/Meschkat: Biographisches
Handbuch,Datenbank, Eintrag „Rakov [‚P. Heinz’], Paul“).
342 Werner Rakow, (Ps. Felix Wolf) (30.8.1893 Adsel-Koikull, Livland, Russisches Reich – 14.9.1937
Moskau, erschossen). Buchhalter, Redakteur, Parteifunktionär, in Russland aufgewachsen. 1918 nach
Deutschland, Teilnahme am KPD-Gründungskongress. Zeitweise Leiter des Nachrichtenapparates der
KPD. Ausschluss 1933, jedoch 1934 wieder zugelassen. Im August 1937 vom NKVD verhaftet. Angeklagt
der Teilnahme an einer „konterrevolutionären terroristischen Organisation“; erschossen am 14.9.1937
(Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Rakov, Werner“).
343 OMS: russ. Otdel meždunarodnoj svjazi, die Internationale Verbindungsabteilung der Komintern.
344 Friedrich (Fritz) Stucke (4.4.1895 Bremen – 1937 Sowjetunion, erschossen). 1913–1918 SPD-
Mitglied, 1919 KPD. Einer der Herausgeber des Zentralorgans Die Rote Fahne. 1931 Emigration in die
UdSSR, u.a. Deutschlehrer am Institut der Roten Professur. Verhaftet am 27.4.1937. Zum Tode verurteilt
und erschossen am 26.10.1937 (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/
Documents/doc20chapt4.htm#_edn54 ).
345 Heinz Möller (Ps.), d.i. Moses Grzyb (weiteres Ps. Asiaticus) (1897 Tarnow – November 1941, Yi-
meng-Gebirge, Provinz Shandong, China). KPD-Mitglied seit 1919, Freund Karl Radeks. 1923 im EKKI-
Apparat, in der UdSSR RKP(b)-Mitgliedschaft und Tätigkeit für die Militäraufklärung (4. Abteilung/
GRU). 1924 in Deutschland, 1925–1927 nach China abkommandiert, nach Rückkehr Herausgeber
der Roten Fahne. Stellte sich auf die Seite Trotzkis in der chinesischen Frage 1927, 1929 wegen
Zugehörigkeit zu den „Versöhnlern“ und der „Brandlerianer“ ausgeschlossen. Nach 1932 in China,
ohne dass er zunächst wieder aufgenommen wurde. Überlebte wohl dank der russischen Dienste.
1941 von Dimitrov rehabilitiert; auch später noch von der KP Chinas hochgeehrt (siehe: Asiaticus
1262 1933–1939
frage ausgeschlossen worden. Ein aktiver Brandlerianer. Nach seinem Ausschluss aus
der Partei ging er nach China und arbeitete in Schanghai als Journalist. Laut Kader-
abteilung (der chinesischen Sektion), ging er nach China, um dort für die Zeitung
eines gewissen Isaacs zu arbeiten,346 der ein direkter Agent Trotzkis in China war (und
1935 nach Norwegen kam, um Trotzki zu sehen). Isaacs’ Zeitung China Forum wurde
eine Zeit lang in China als amerikanisch-chinesische Zeitung gedruckt, und Asiaticus
arbeitete dort. Die Zeitung wurde jedoch geschlossen, als sich das ZK der KP Chinas
von ihr distanzierte.
Asiaticus entkam mit Parteigeldern nach Norwegen. In seinem Gesuch, in dem
[er] um Wiederaufnahme bittet, listet [er] alle Zeitungen auf, für die er gearbeitet hat,
unterschlägt aber die oben genannten Fakten – die chinesischen Genossen teilen
mit, dass Asiaticus den Ruf als Polizeispitzel genießt. Die Tatsache, dass er in seiner
Aussage von seiner Verbindung zu und seiner Unterstützung durch die kommunisti-
sche Organisation Chinas spricht, spricht den chinesischen Genossen zufolge gegen
ihn, denn es sei bekannt, dass es in Schanghai nur eine Polizeiagentur gebe, die als
kommunistische Organisation getarnt sei. Arbeitete als Vollzeit-Korrespondent für
die Izvestija und TASS.
24) WALTER BOERNER348 – Mitglied der KPD von 1920 bis 1927. Verließ die Partei
wegen seiner ultralinken Position; trat 1929 erneut ein. Wurde im März 1933 verhaftet
(Ps.), d.i. Moses Grzyb: Von Kanton bis Shanghai. 1926–1927, Berlin-Wien, Agis, 1929; Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 607f.; Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank).
346 Harold R. Isaacs (1910–1986). Der US-Journalist arbeitete seit 1931 in China und gab die KP-
freundliche Zeitschrift The China Forum heraus. 1934 schloss er sich den chinesischen Trotzkisten an,
nach Rückkehr in die USA 1937 auch den US-amerikanischen linken Antistalinisten, beteiligte sich an
Socialist Appeal. In seinem weltberühmten Buch „The Tragedy of the Chinese Revolution“ (London,
Specker & Warburg, 1938, revised edition Stanford University Press, 1961) stellt er u.a. das Scheitern
von Stalins Politik in China kritisch dar (deutsche Übersetzung für 2013 angekündigt als Harold R.
Isaacs: Die Tragödie der chinesischen Revolution, Essen, Mehring-Verlag, 2012).
347 Max Weiss (1900 Goldlauter, Thüringen – ?, Sowjetunion). Werkzeugmaschinenarbeiter. Anfang
der 1920er Jahre Mitglied der ultralinken Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) (die
hier als „syndikalistisch-trotzkistische Organisation“ bezeichnet wird, als der Begriff „Trotzkismus“
nicht einmal als Feindbegriff existierte). Nach Emigration in die Sowjetunion Arbeit in Tula;
wahrscheinlich in den Säuberungen umgekommen (Siehe u.a., Kaiser: Russlandfahrer, S. 72).
348 Walter Boerner (30.9.1896 Seiffen, Kirchanschöring, Bayern – ca. 1940 Solikamsk). 1927 als
Anhänger Trotzkis aus der KPD ausgetreten, Wiedereintritt 1929. Emigration in die Sowjetunion im
Oktober 1935. Arbeit in einem Chemiekomplex in Aktjubinsk, Kasachstan. September 1937 Ausschluss
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1263
und kurze Zeit später entlassen. Im Mai erneut verhaftet und nach 14 Tagen erneut
entlassen. Der Provokation verdächtigt. Ist in der UdSSR angekommen.
27) WILLI RABE (MIT NAMEN PAWERA)356 – Arbeiter; Mitglied der KPD seit 1926. Seit
1930 arbeitet er im KPD-Apparat. Von 1930 bis Ende 1933 war er aktives Mitglied er
Versöhnlerfraktion, erhielt von ihnen finanzielle Unterstützung, nahm an allen Frak-
tionssitzungen teil. Als Kurier des ZK überwachte und gab er den gesamten Briefver-
kehr des ZK hinsichtlich der Versöhnler weiter. Kam 1933 in die UdSSR, studierte an
aus der KPD als „fremdes Element“ unter Verbot, die Sowjetunion zu verlassen. Bis 1940 Arbeit in
Kirovabad, dann in den Norden überstellt, wo er mit seinem Sohn im Arbeitslager umkam. Seine Frau
überlebte mit dem Sohn Rudolf Boerner und ging 1956 in die DDR (Chase: Enemies, Internetfassung,
http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn58; Müller: Herbert Wehner.
Moskau 1937, S. 261).
349 Josef Schweiger (geb. 1897 in Algdorf). Soll in den 1920er Jahren dem linksoppositionellen
„Leninbund“ angehört haben. Als Trotzkist aus der KPD ausgeschlossen. 1930 Wiederaufnahme, 1931
Emigration in die Sowjetunion, Arbeit in Charkov (Chase: Enemies, Internetfassung, Anm. 25).
350 Es handelt sich um die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD).
351 Zum Leninbund siehe Dok. 15.9.1927.
352 ChTZ (Abk.): Russ. für Charʼkovskij Traktornyj Zavod (Charkower Traktorenfabrik).
353 Ilʼja Jakovlevič Zarchin (Ps. Walter Berger, Erich Leutner) (geb. 4.2.1908 Riga). Aufgewachsen in
Russland, dann Lettland. 1927–1932 Angestellter bei der Sowjetischen Handelsvertretung in Deutschland
(Berlin). 1932 mit seiner Schwester Lisa in die Sowjetunion, 1933–1935 erneut in Deutschland mit
lettischem Pass. Nach Dezember 1936 als politischer Emigrant in die Sowjetunion; am 3.9.1936 KPD-
Ausschluss wegen Beziehungen zum „Trotzkisten“ Hans Stauer (K. Berman-Jurin). Im Juni 1937
Verhaftung, danach Verurteilung zu acht Jahren Haft. Am 20.2.1940 freigelassen, lebte zuletzt 1957 in
Riga (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Zarchin, Il’ja“).
354 Karl Hoeflich (1896 Budapest – 3.11.1937 Butovo bei Moskau, erschossen). Mechaniker,
Technologieingenieur, 1918 Mitglied der KP Ungarns, Teilnehmer der ungarischen Räterepublik, nach
1919 Mitglied der KPD, Angestellter bei der KPD-Reichs- und Landtagsfraktion in Berlin. Emigration in
die UdSSR 1933. Mai 1937 verhaftet, am 1.11.1937 zum Tode verurteilt und am 3.11.1937 erschossen wie
seine Frau, Gertrud Hoeflich (Plener/Mussienko: Verurteilt zur Höchststrafe, S. 45).
355 Lesoexport (Abk.): Die staatliche russische Holzexportfirma.
356 Willi Rabe (Ps.), d.i. Willi Pawera (3.12.1905 Jüterbog, Brandenburg – nach 1938? Sowjetunion?).
Textilarbeiter; KPD-Mitglied 1926. Laut Personalakte 1930 bis Ende 1933 ein „Versöhnler“, zugleich
Mitarbeiter des MP-Apparats. August 1933 Emigration in die UdSSR, dort Kontakte zu Fritz David,
(d.i. Krugljanskij). Nach Abschluss der KUNMZ im Dezember 1935 abkommandiert in die Moskauer
Bleistiftfabrik Sacco & Vanzetti. Verhaftet am 5.3.1938 und in das nordsibirische Norilsk exiliert
(Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Pawera, Willi“).
1264 1933–1939
der ILS. Verheimlichte der Partei gegenüber seine Tätigkeit für die Versöhnler und
wurde 1934 entlarvt.
Hatte Verbindungen zu Fritz David [d.i. Ilʼja-David Krugljanskij] seit [seiner]
Gewerkschaftsarbeit in Deutschland und unterhielt diese Verbindungen weiterhin in
Moskau. Bezog sich auf Fritz Davids Empfehlung und liest regelmäßig bei sich zu
Hause faschistische Presse. Seitdem gab [er] der Deutschen Abteilung keinerlei Erklä-
rungen zu seinen Beziehungen mit Fritz David [d.i. Ilʼja-David Krugljanskij] ab. Arbei-
tet in der Sacco und Vanzetti-Fabrik in Moskau.
29) EMIL POTRATZ (HERBERT KRAMER)359 – Mitglied der KPD seit 1920. Kam als Emi-
grant im Juni 1933 in die UdSSR. Er empfahl Alfred Kuhnt,360 bekannt aus dem Prozess
gegen die trotzkistisch-sinowjewistische Bande.
357 Nevijaševskij Fajbiš, d.i. Fajbiš Nevijašskij, Variante: Paul Newjaschski, (Ps. Paul Wiesenfeld)
(1898 Gorodnia, Ukraine, Russisches Reich – ?). Mitbegründer und später Leiter des Jüdischen
Arbeiterkulturvereins (siehe weiter oben) von 1924 bis 1933. 1933 in die UdSSR, Arbeit im Moskauer
Restaurant-Trust, nach Mai 1941 im Mosminvodtorg, der Moskauer Handelsgesellschaft für
Erfrischungsgetränke (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/Docu-
ments/doc20chapt4.htm#_edn66).
358 Ludwig E. Brucker – KPD-Mitglied 1920. Emigration in die Sowjetunion 1932, Arbeit als Ausbilder
für internationale Techniken im Textilkombinat Trechgornaja Manufaktura, Moskau. 1936 aus der
KPD ausgeschlossen.
359 Emil Potratz (Ps. Herbert Kramer, geb. 1888). SPD 1912, USPD 1917 und KPD 1920. Parteiaktivist
im Berliner Südwesten. Kam 1933 in die Sowjetunion. Wegen seiner Beziehung zu Alfred Kuhnt
verdächtigt, am 5.11.1936 verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Am 12.4.1941 an Deutschland
ausgeliefert, dort unter polizeiliche Überwachung gestellt.
360 Alfred Kuhnt (1904 Berlin – 16.8.1937, in Moskau erschossen). KPD-Mitglied seit 1923. Anhänger
Ruth Fischers, dann Mitglied der Reichsleitung der Linken Opposition der KPD. Parteiausschluss
1927, Wiederzulassung 1929. 1932 Teilnehmer an blutigen Straßenschlachten mit Nationalsozialisten.
Flucht in die UdSSR, Arbeit im Stalingrader Traktorenkombinat. Im Ersten Moskauer Prozess als
Kurier Trotzkis bezeichnet, 1936 verhaftet, am 16.8.1937 erschossen wegen Beteiligung an einem
„Terroranschlag“ gegen Stalin (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/
Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn69; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 513).
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1265
30) FRITZ PALENSCHAT361 – Seit 1922 Mitglied des KJVD, seit 1928 Mitglied der KPD.
1928 und 1930 arbeitete er in Untergrundorganisationen (in den Sturmtruppen und in
der Reichswehr). Kam in die UdSSR im Februar 1934, empfohlen von Ernst Mansfeld,362
der in der UdSSR verhaftet wurde. Vertrat in Gesprächen die Idee des individuellen
Terrors. Seine Frau reist regelmäßig nach Deutschland. Arbeitet im Stalinwerk in
Leningrad, lebt in: Kamennoostrovskij [rajon],363 Glavnaja alleja 49, Wohn. 16.
361 Fritz Palenschat (1905 Berlin – nach 8.12.1937 Leningrad, erschossen). Ingenieur. KJVD- und
KPD-Mitglied 1922, bekannt für seine radikalen Überzeugungen. 1924 wegen Sprengstoffdiebstahls zu
sechs Jahren Haft verurteilt, danach angeblich weiter für individuellen Terror. 1927 amnestiert, Arbeit
im KPD-Apparat. Im Februar 1934 mit Erlaubnis des ZK in die Sowjetunion, im Mai 1937 in Leningrad
verhaftet. Am 2.12.1937 zum Tode verurteilt (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/
annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn70; Plener/Mussienko: Verurteilt zur Höchststrafe,
S. 73).
362 Ernst Mansfeld (1908 Berlin – 1942 Sowjetunion). KPD-Mitglied 1928. 1933 Emigration in die
UdSSR, Regieassistent in der Tonkino-Fabrik Nr. 1, Mežrabpomfilʼm-Studio, Moskau. Vom Regisseur
Gustav von Wangenheim während der Dreharbeiten am Dimitrov-Film (siehe Dok. 392) denunziert,
verhaftet am 12.4.1936; verurteilt zu zehn Jahren Haft (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.
yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn71; Moritz Pirol: Halalí. Zehn Porträts,
Hamburg, Orpheus und Söhne Verl., 2009, S. 433).
363 Kamennoostrovskij: Leningrader residenzieller Stadtbezirk.
364 Hartmann: Möglicherweise ist Abram I. Gartman (Ps. Gutner) gemeint, Mitglied der KP
der Sowjetunion seit 1920, 1927–1928 Mitarbeiter der sowjetischen Militäraufklärung in China,
anschließend Auslandsressort der Pravda, 1930–1933 als Pravda-Journalist in Berlin, 1933–1935 dto. in
Shanghai (dort auch wieder im Auftrag der Militäraufklärung). Angaben über sein weiteres Schicksal
sowie seine eventuelle KPD-Mitgliedschaft sind nicht überliefert (siehe: V. M. Lur’e, V. Ja. Kočik: GRU.
Dela i ljudi, Sankt-Peterburg, Neva, 2002, S. 375).
365 Richard Paschke (Ps. Lindemann, 1901 Berlin – 29.3.1938 Moskau, exekutiert). Journalist. Seit
1919 USPD, 1922 KPD-Mitglied, im Berliner Büro der Pravda als Korrespondent beschäftigt. 1933 in die
UdSSR geschickt, Studium an der KUNMZ 1933–1935, später Mitherausgeber der Deutschen Zentral-
Zeitung in Moskau. Am 17.2.1938 verhaftet, der Spionage für Deutschland beschuldigt und am 29.3.1938
erschossen (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/
doc20chapt4.htm#_edn72; Plener/Mussienko: Verurteilt zur Höchststrafe, S. 73; Buckmiller/
Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Paschke, Richard“).
366 Zu Erich Wollenberg siehe Dok. 112.
1266 1933–1939
32) GINZBURG, MEER (KARSKI, PAUL)367 – Mitglied der KPD seit 1928. Kam 1931 mit
der Handelsdelegation in die UdSSR und wurde zur Arbeit an das Wissenschaftliche
Forschungsinstitut für das Außenhandelsmonopol368 entsandt. Wurde auf Empfeh-
lung des ZK der KPD 1931 zur VKP(b) transferiert. Laut kürzlich erhaltener Informati-
onen [und] gemäß der Aussage des KPD-Mitglieds Johanna Zorn369 war [er] der engste
Freund von Natan Lurʼe und besuchte N. Lurʼe inČeljabinsk.
Laut der Stellungnahme des Parteikomitees des Instituts für Außenhandel, wurde
[er] während der Überprüfung der Parteidokumente 1936 als fremdartiges Element
aus der Partei ausgeschlossen.
Auf der Grundlage der von der Deut[schen] Sektion zur Verfügung gestellten
Informationen antwortete die Kaderabteilung auf eine Anfrage der zuständigen
Organe vom 8. Mai 1934, dass er ein aktives Parteimitglied war und den Kampf gegen
die Trotzkisten und Brandlerianer geführt hat. Die Deutsche Sektion gab [ihm] eine
Empfehlung nicht nur am 22. Dezember 1931, sondern auch am 28. Januar 1936, basie-
rend auf der Angabe der [Partei]Zelle der Handelsvertretung, ohne sich überhaupt der
Mühe zu unterziehen, diese Information zu verifizieren.
Die Zusammenstellung von politischen Emigranten, die KPD-Mitglieder sind,
[und] die vom NKVD verhaftet wurden, macht das Ausmaß der [feindlichen] Sätti-
gung durch die deutsche Emigration in der Sowjetunion deutlich. Wir kennen bereits
etwa 50 Verhaftete.
Unter diesen Verhafteten befinden sich: Willi Leow,370 ein früheres Mitglied des
ZK der KPD und Parteimitglied seit 1920; sowie eine Anzahl von KPD-Mitgliedern,
367 Über Meer Ginzburg ist über die in dem Dokument angegebenen Daten bislang nichts bekannt.
368 Das Wissenschaftliche Forschungsinstitut für das Außenhandelsmonopol (russ. Naučno-
issledovatel’skij institut monopolii vnešnej torgovli) in Moskau bestand zwischen 1929 und 1939 und
befaßte sich mit Analysen und Prognosen im Bereich des Außenhandels.
369 Johanna Šmaeva, geb. Zorn (21.3.1908 Krefeld – ?). Ökonomin. KPD-Mitglied seit 1924. 1933
Emigration in die UdSSR. Tätigkeit im Gosplan und als Deutschlehrerin an der Pädagogischen
Hochschule Moskau. 1937 sowjetische Staatsbürgerschaft. Während des Krieges lebte sie in Baschkirien
und im Gebiet Kalinin (heute Tver’). 1955 Ausreise in die DDR (Buckmiller/Meschkat: Biographisches
Handbuch, Datenbank, Eintrag „Smaeva, geb. Zorn, Johanna“).
370 Willi Leow (25.1.1887 Brandenburg an der Havel – 3.10.1937 Engels, Sowjetunion, erschossen).
KPD-Mitglied 1918. Führer des Roten Frontkämpferbundes (RFB). 1929 Mitglied des ZK. 1928–1933 war
er derjenige Thälmann-Vertraute, über den es v.a. im Zusammenhang mit der Wittorf-Affäre immer
wieder Gerüchte über Veruntreuung und Mißwirtschaft gab, Reichstagsabgeordneter. Nach Hitlers
Machtübernahme Flucht nach Frankreich ohne Parteigenehmigung. Aus seiner Verantwortung
entlassen. 1935 in die UdSSR. Am 26.2.1936 in Engels verhaftet. Am 3.10.1937 wegen „Organisation einer
trotzkistisch-terroristischen Gruppe“ exekutiert. Sein Fall diente als „Nachweis“ der „terroristischen“
Verflechtung der Russlanddeutschen und der deutschen KPD-Emigranten und Kominternmitarbeiter
(siehe auch Dok. 216, 287; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 538–539).
Dok. 391: Moskau, 2.9.1936 1267
die seit 17–15 Jahren [sic] in der Partei gewesen sind, – Schuster,371 Demolski,372
Traubenberger,373 Mansfeld, Otto Unger,374 Erich Wendt,375 Nixdorf,376 Lülsdorf ,377
371 Schuster: Hier kommen mehrere Personen in Betracht, wie etwa der Autoschlosser Erich Schuster
(1891–?), KPD-Mitglied seit 1920, 1932 Stadtverordneter in Dresden, der 1934 nach KZ-Haft in die
Sowjetunion floh und im Mai 1936 verhaftet wurde, oder Karl Schuster (1879-?), ebenfalls KPD-Mitglied
seit 1920 und Funktionär in Sachsen, der 1934 ins Sowjetexil ging und Ende 1935 wegen „antisowjetischen
Handlungen“ verhaftet wurde (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag
„Schuster, Erich“ und „Schuster, Karl“). Nicht zu verwechseln mit Karl C. Schmidt, Ps. Schuster, der
erst 1938 verhaftet wurde (Plener/Mussienko: Verurteilt zur Höchststrafe, S. 90; Buckmiller/Meschkat:
Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Schmidt [‚Schuster’], Karl C.“).
372 Artur Demolski (8.3.1898 Ohra bei Danzig – nach Mai 1936, vermutlich in Engels erschossen).
KPD-Mitglied seit 1920, verantwortlicher Redakteur der Hamburger Volkszeitung. 1931 in die UdSSR
“wegen Pressevergehen und anderer Prozesse“ geflohen, 1931–1935 Arbeit bei der Deutschen Zentral-
Zeitung, ab 1935 im staatlichen Verlagshaus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, vermutlich
Beziehungen zu Leow. Im Mai 1936 in Engels verhaftet und höchstwahrscheinlich erschossen
(Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Demolski, Artur“).
373 Traubenberger: Richtig: Hermann Taubenberger (21.11.1892 München – 29.5.1937). KPD-Mitglied
1919. Wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik in Haft. 1922 freigelassen und erneut
verhaftet. Flucht in die Sowjetunion mit seiner Frau, dort Arbeit in Moskau und Stalingrad u.a. in
Militärbetrieben und im Obersten Rat für Volkswirtschaft (VSNCh). Gerügt wegen Teilnahme an
Gesprächskreis mit Wollenberg, Rakow, Hans Schiff, Karl Schmidt und Erich Tacke am 5.3.1933 mit
scharfer Kritik an der deutschen Parteiführung anlässlich der Reichstagswahlen. Am 17.9.1936 verhaftet
und wegen „Teilnahme an einer antisowjetischen terroristischen Organisation“ zum Tode verurteilt.
Seine Frau Elsa wurde 1936 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie reiste 1972 nach Westdeutschland aus
(Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.
htm#_edn79; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 920–921).
374 Otto Unger (Ps. Bork, 5.9.1893 Böllberg, Kreis Halle – 19.3.1938 Moskau, erschossen). Tischler,
Redakteur. 1911 zur SPD, KPD-Mitglied seit 1919, als einer der Führer des Kommunistischen
Jugendverbandes 1921 zum Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Jugendinternationale
(KJI) gewählt. 1928 als „Versöhnler“ nach der „Wittorf-Affäre“ aus den Parteifunktionen entlassen.
1934 Emigration in die UdSSR, dort Direktor der VEGAAR in Moskau. Im November 1937 vom NKVD
verhaftet, am 19.3.1938 zum Tode durch Erschießen verurteilt. Entgegen den Angaben im Dokument
dürfte er 1936 noch nicht verhaftet worden sein (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 958–960;
Buckmiller/ Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Unger [‚Bork’], Otto“).
375 Erich Wendt (20.8.1902 Leipzig – 8.5.1965 Ost-Berlin). KPD Mitglied seit 1922. Arbeitete zunächst
als Schriftsetzer u.a. für die Kommunistische Jugendinternationale (KJI). In der KPD wurde er zu den
„Versöhnlern“ gerechnet. 1931 Emigration in die USSR, bis 1936 angestellt in der VEGAAR in Moskau. Am
14.8.1936 im Hotel Lux verhaftet. Bis zum 14.7.1938 im NKVD-Gefängnis, dann freigelassen, Tätigkeit als
Übersetzer in der Deutschen Abteilung des All-Unions-Radios. 1947 Rückkehr nach Deutschland. Seit
1957 stellvertretender Kulturminister der DDR (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 1012–1013).
376 Zu Kurt Nixdorf siehe Dok. 369.
377 Lülsdorf, d.i. Barthel Lühlsdorf (1892 Köln – 1.8.1937 Moskau, erschossen). Ingenieur, seit 1923 KPD-
Mitglied, Angestellter der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin. Kam 1931 in die Sowjetunion, dort
im Volkskommissariat für Schwerindustrie und im Moskauer Institut für Maschinenfabrikprojektierung
(Mosgipromaš) beschäftigt. Am 22.2.1936 verhaftet. Angeklagt der Teilnahme an einer „antisowjetischen
terroristischen Organisation“, am 1.8.1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Vom NKVD
nachträglich als von Olberg an der Berliner Marxistischen Arbeiterschule rekrutierter trotzkistischer
1268 1933–1939
etc.; 10 Personen, die von 1919–1922 in der Partei waren. 12 Leute – von 1923 bis 1929,
etc.
Doch am wichtigsten ist, dass viele von diesen von der Deu[tschen] Sektion als
politische Emigranten, als Parteimitglieder für Arbeitsplätze empfohlen wurden und
die meisten von ihnen bis zum allerletzten Moment, bis zu ihrer Verhaftung, einen
guten Ruf innerhalb der Sektion besaßen.
Darüber hinaus erhält die Kaderabteilung weiterhin Informationen über eine
ganze Reihe von Individuen unter den deutschen politischen Emigranten, die ver-
dächtig sind, Verbindungen zu den Verhafteten unterhalten [oder] zu denjenigen,
denen unter dem Verdacht, der Gestapo zu dienen, der Prozess gemacht wird, die der
Provokation verdächtigt werden, etc. Die meisten dieser Leute halten sich zur Zeit in
der UdSSR auf.
1. KURT RICHARD BRUCH378 – seit 1924 Mitglied des KJVD, seit 1930 Mitglied der KPD.
Kam 1934 in die UdSSR; seine Frau ist nach Deutschland zurückgekehrt. Unter den
Materialien der Deu[tschen] Sektion gibt es die Information, dass er gemeinsam mit
einem gewissen BUCHZEMAN, der Gestapo-Agent in Chemnitz ist und zweimal aus
der Partei ausgeschlossen wurde, von der Chemnitzer Organisation vehement ver-
dächtigt wird, weil Bruch seinerzeit während einer Schlägerei zwischen Nazis und
Mitgliedern der Roten Front379 verhaftet und dann unverzüglich wieder entlassen
wurde.
Bruch hat eine Empfehlung von diesem selben Buchzeman.
2) JOSEF FORTUSADESKI380 – seit 1923 ein Mitglied der KPD, ebenfalls aus Chemnitz,
aber ursprünglich aus Cherson. Kam ohne Zustimmung der Partei in die UdSSR. Er
steht in permanenter Verbindung mit BRUCH und besitzt ebenfalls eine Empfehlung
des selbigen Buchzemans.
3) SKROBITSZ SAMUEL381 – ursprünglich aus Polen, Mitglied des Bunds seit 1912, seit
1932 Mitglied der KPD. War seit August 1934 in der Sowjetunion, gegen den Willen der
Partei. Kommunisten meiden ihn, weil der Grund seiner Ankunft unbekannt ist und
er Verdacht erweckt.382
4) OTTO GROSS383 – ein Kulak. Ist seit 1934 in der Sowjetunion, ohne Wissen der
Partei. Behauptet, seit 1922 ein KPD-Mitglied zu sein. Wurde dreimal [in Deutschland]
inhaftiert, [und] jedes Mal zügig entlassen. Er behauptet, dass sie während der letzten
Durchsuchung angeblich Parteimaterial bei ihm fanden; nichtsdestoweniger, hätte er
zu dieser Zeit keine Verbindungen zur Partei gehabt und überhaupt ist seine Partei-
mitgliedschaft zweifelhaft. Nach seiner Ankunft hier streute er falsche Gerüchte aus,
dass er zusammen mit Thälmann inhaftiert wurde, zum Tode verurteilt wurde und
noch am gleichen Tage entkam, etc.
5) HAMAN, ERNST384 – seit 1921 Mitglied der KPD. In der UdSSR seit 1931. Unterhält
enge Beziehungen zu OTTO BRESSEL, der wegen Brandlerismus und Veruntreuung
von Parteigeldern aus der Partei ausgeschlossen wurde, der eine Sturmtruppenein-
heit [SA] in Kiel organisierte385 und der in den letzten Jahren der Partei eine Menge
Schaden zugefügt hat.
6. KLAUS ELSA386 – kam 1932 in die UdSSR. Unterhält dauerhafte Verbindungen zur
deutschen Botschaft, von der sie faschistische Zeitschriften erhält. Sie hat in Hamburg
einen schlechten Ruf.
7. BAYER, SIMON387 – seit 1925 ein Mitglied der KPD, ursprünglich aus Wilno. Kam
1934 in die UdSSR, ohne Zustimmung der Partei. Vor seiner Ankunft hielt er sich in
Frankreich und England auf. Der Provokation verdächtigt.
8. VIKTOR ADAMCZAK388 – trat der KPD 1929 für einige Monate bei, um in die UdSSR
zu gelangen. Kam 1930 als ausländischer Arbeiter. Aus der Partei ausgeschlossen.
Einer der Anstifter konterrevolutionärer und antisowjetischer Stimmungen unter den
ausländischen Arbeitern (arbeitet im Donbass in einem Bergwerk in Grišino).389
In Anbetracht der Tatsache, dass es inakzeptabel ist, mit Berichten über diese Per-
sonen bis zur letzten Untersuchung ihrer Taten und sogar bis zur Feststellung ihres
augenblicklichen Aufenthaltsortes zu warten (der, in einigen Fällen, sogar der
Deut[schen] Sektion unbekannt ist), denken wir, dass es notwendig ist, über die drin-
gende Ermittlung durch die Miliz hinaus, einige bestimmte Schlussfolgerungen auf
der Grundlage dieses Materials zu ziehen.
Wie die oben genannten Fakten belegen, war die absolute Mehrheit der zuvor
genannten KP-Mitglieder in der Vergangenheit Trotzkisten und Brandlerianer, die
aus der Partei ausgeschlossen wurden und enge Kontakte zu den parteifeindli-
chen Elementen und den Personen unterhielten, die parteifeindliche Arbeit in der
UdSSR durchführten. Sie kamen zwischen 1931–1934, in den Jahren des anwachsen-
den Faschismus, der Aktivierung des Trotzkismus und dessen Umwandlung in eine
direkte Agentur des Faschismus. Tatsächlich kamen 1930 3 Personen, 1932 – 11 Perso-
nen, 1933 – 11 Personen, 1934 – 13 Personen, 1935 – 5 Personen.
Bereits jetzt, auf der Basis des existierenden Materials, ist es möglich, bestimmte
Verbindungen zwischen diesen Personen und deren bekannten Gruppierungen in
unserem Land nachzuweisen. In der Tat besteht eine Verbindung zwischen Fritz David
[d.i. Ilʼja-David Krugljanskij] und Berman-Jurin, und Leo Berman (Berman-Jurins
Bruder), Inga Hoffman [d.i. Necha Lurʼe] (Natan Lurʼes Frau), Solomon Mušinskij, der
mit Berman-Jurin in Moskau in Verbindung stand, Nata[n] Nejman, dessen Ankunft
in der UdSSR mit der Unterstützung Fritz Davids [d.i. Il’ja-David Krugljanskijs] über
die Deutsche Sektion ermöglicht wurde, Sonja Fišman – Berman-Jurins Frau, Sara
David,390 Ilʼja Sarchin – Berman-Jurins engstem Freund, Willi Rabe, der 1933 kam und
permanente Verbindungen mit Fritz David [d.i. Ilʼja-David Krugljanskij], Nevijaševskij
(Paul Weizenfeld) aufrechterhielt, und der eine Empfehlung von Fritz David [d.i. Ilʼja-
David Krugljanskij], Leo Berman und Emelʼ [d.i. Moisej Lurʼe] besitzt.
Andererseits empfahl Emelʼ [d.i. Moisej Lurʼe] Potratz, der im Juni 1933 ankam,
Alfred Kuhnt, der gewöhnlich Trotzkis Briefe nach Moskau brachte. Alfred Kuhnt
selbst, KPD-Mitglied von 1923–27, 1927 wegen der Teilnahme an den Aktivitäten des
trotzkistischen Zentrums ausgeschlossen und 1929 wieder in die KPD zugelassen,
kam 1932 als Emigrant in die UdSSR. Er behauptete, dass er wegen der Ermordung
eines Nazis angeklagt wurde, vermutlich in einem bewaffneten Zusammenstoß. Aller-
dings handelte es sich nicht um einen Zusammenstoß, sondern um ein Saufgelage.
Eine Gruppe von Emigranten aus Polen und Litauen, die aus verschiedenen Orten
kamen und unter verschiedenen Vorwänden der Deutschen Partei beitraten und
dadurch als politische Flüchtlinge in die UdSSR kamen, verdient Aufmerksamkeit. In
der Tat ist Leo Berman, Mitglied des Poalei-Zion zwischen 1917 und 1926, aus Minsk.
Hoffman Inga [d.i. Necha Lurʼe] ist aus Kowno; Natan Nejman ist aus Warschau, Noah
Borowski ist aus Peski, Rudolf Gercel, der zwischen 1912 und 1925 PPS-Mitglied war,
ist aus Żarnów. Sobolevič A. ist aus Litauen, Lev Süsskind ist aus Polen, Solomon
Mušinskij ist aus Polen, Nevijašskij (Paul Weizenfeld), ein Mitglied der Poalei Zion von
1917 bis 1920, ist ein litauischer Emigrant. Baer Sima ist aus Wilno. Skrobič Samuil,
ein Mitglied des Bundes von 1912 bis 1932, ist aus Polen. Einige dieser Personen sind
miteinander verbunden, wie oben dargestellt.
Eine erhebliche Anzahl dieser Personen hat sich in Moskau niedergelassen und
arbeitet in der Presse und dem Verlagswesen: Hauschild Robert für die Zeitung Izves-
tija; Weiss Paul im Musiksektor von Gosizdat; Sobolevič als Redakteur für die Zeitung
Das Neue Dorf. Lev Süsskind ist Schriftsteller, Noah Borowski [arbeitet] im Verlags-
genossenschaft ausländischer Arbeiter, seine Frau für die Deutsche Zentral-Zeitung;
Paul Stein für die Deutsche Zentral-Zeitung; Sonja Fišman für die Zeitung Za indust-
rializaciju; Hauschild Hilde ist eine Redakteurin beim Internationalen Radio; Natan
Nejman ist am wissenschaftlichen Forschungsinstitut der OGIZ [tätig]; Heinz Möller
(Asiaticus) arbeitet, laut seiner Aussage, als Vollzeit-Korrespondent für TASS und die
Izvestija; Hartman arbeitet für TASS.
Ein weiterer Teil arbeitet in Fabriken: Herber[t] Engelhard[t] – in einer Fabrik
in Kolpino, Gebiet Leningrad; Petter Erwin in Prokop’evsk, Kuzbass; Paul Heinz im
Donbass in einem Bergwerk in Grišino; Schweiger im Char’kover Traktorenwerk; Fritz
390 Sara David (Ps. Toni Stern) (18.11.1900 Gouvernement Černigov, Ukraine – nach 1936
Sowjetunion, verschollen). 1930 KPD-Mitglied. 1933 Emigration in die UdSSR, dort Mitarbeiterin an
der historischen Fakultät der Universität Moskau. Am 3.9.1936 als Frau Fritz Davids verhaftet. Aus
der Partei ausgeschlossen und verurteilt zu zwölf Jahren Arbeitsbesserungslager (Chase: Enemies,
Internetfassung, http://www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn93).
1272 1933–1939
391 Georg Blumfeldt (geb. in Revali, Preußen [sic]). Von Beruf Ingenieur. KPD-Mitglied 1931. Im
Herbst des Jahres in der Schweiz Mitglied der dortigen KP. Im März 1934 nach Moskau, dort am Bau
der Metro beteiligt. Am 21.6.1937 Parteiausschluss (Chase: Enemies, Internetfassung, http://www.
yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm#_edn94).
392 Metrostroj: 1931 gegründete Firma und Verwaltung „Metrobau“, die heute noch als Mosmetrostroj
besteht.
393 Fritz Weber (Ps.), d.i. Heinrich Wiatrek (1.7.1896 Gleiwitz – 29.10.1945 Bad Reiboldsgrün), war
1935–1937 KPD-Vertreter beim EKKI.
Dok. 392: [Moskau], 18.9.1936 1273
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschäftigte sich am 8.9.1936 mit dem Entwurf eines
kritischen Memorandums des sowjetischen Botschafters in Norwegen an die norwegische Regierung,
da sie Lev Trotzki Asyl gewährt hatte. Eine diesbezügliche Stellungnahme des norwegischen Justizmi-
nisters wurde als nicht der norwegisch-sowjetischen Freundschaft angemessen bezeichnet. Als öko-
nomische Sanktion wurden unverzüglich sowjetische Bestellungen in Norwegen in Höhe von 300.000
Rubeln storniert.394 Auf den Druck der Sowjetunion hin ließ die norwegische Regierung Trotzki unter
Hausarrest stellen, und konnte dann nach Mexico ausreisen.
Am 11.9.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, eine Sammelaktion für den
Kauf von Lebensmitteln für Kinder in Spanien durchführen zu lassen, Hauptzielgruppen sollten da-
bei Arbeiterinnen und Bäuerinnen sein. Zugleich sollte das Volkskommissariat für Außenhandel den
spanischen Kindern kostenlos 1500 Tonnen Zucker, 500 Tonnen Butter, 300 Tonnen Margarine, 250
Tonnen Kekse, 300 Tonnen Konserven, 100 Tonnen Kondensmilch und 50 Tonnen Bonbons zu Ver-
fügung stellen. Für den Transport der Lebensmittel nach Spanien sollte der Dampfer „Skvorcov“ zu
Verfügung gestellt werden.395
Dok. 392
Alfred Kurella über die „literarische Tätigkeit“ nach seiner
Entfernung aus der Kominternarbeit
[Moskau], 18.9.1936
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/205/6339, 351–352, hier: 352. Erstveröffent-
lichung.
Beilage 1
A. Kurella
Kurze Übersicht über meine Tätigkeit nach meiner Entfernung aus der Kominternar-
beit.
In den ersten Monaten nach März 1935 führte ich nur literarische Arbeiten aus.
Darunter:
Abschluss meiner Mitarbeit an dem Film „Kämpfer“ (Dimitrovfilm).396
Redaktion der Dokumente des Gen. Dimitrov vom Leipz[iger] Prozess.
umgebracht. Die Wiederentdeckung erfolgte 1962 (!) (siehe: Günter Agde: Kämpfer. Biographie eines
Filmes und seiner Macher, Berlin, Das neue Berlin, 2001).
397 Eine Leninbiographie erschien nicht, dafür eine Briefedition. Siehe: Henri Barbusse, Alfred
Kurella: Lettres de Lénine à sa famille, présentées par Henri Barbusse avec la collaboration de Alfred
Kurella. La traduction des lettres est due à Pierre Morhange et Michel Matvéev, Paris, Rieder, 1936.
398 Siehe: Henri Barbusse: Stalin. Eine neue Welt. Aus dem Französischen übersetzt von Alfred
Kurella, Paris, Ed. du Carrefour, 1935. In der Literatur findet sich verbreitet die Auffassung, Kurella
habe das Stalin und die UdSSR glorifizierende Buch nicht nur übersetzt, sondern auch zur weltweiten
Beeinflussung der Intellektuellen selbst geschrieben (siehe: Gerd Koenen: Die großen Gesänge: Lenin,
Stalin, Mao, Castro: sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorki bis Brecht, von Aragon bis
Neruda, Frankfurt am Main, Scarabäus bei Eichborn, 1987 (Überarb. und erg. Neuausg. 1991), S. 106ff.).
399 Malraux’ „Zeit der Verachtung“: erschien 1935 in Paris („Le temps du mépris“, Gallimard)
ebenfalls in der deutschen Übersetzung von Alfred Kurella (André Malraux: Die Zeit der Verachtung.
Autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von Alfred Kurella, Entwurf des Schutzumschlags
von John Heartfield, Paris, Éditions du Carrefour, 1935). In seiner Novelle problematisiert Malraux
die von Nietzsche positiv verkündete „Zeit der Verachtung“ unter Bezug auf den Faschismus negativ
(Joachim Leeker: Die Perspektive der Wirklichkeitsflucht im Romanwerk von André Malraux, Genf,
Librairie Droz, 1977, S. 30).
400 „Glocken von Basel“: Der Elsa Triolet gewidmete Roman von Louis Aragon: Die Glocken von Basel.
Übersetzung aus dem Französischen von Alfred Kurella, Paris, Éditions du Carrefour, 1936 (frz.: Les
cloches de Bâle, Paris, Denoël, 1934) übernahm den sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung
(siehe: Arno Münster: Antifaschismus, Volksfront und Literatur, Hamburg, VSA, 1977, S. 42–43).
401 VEGAAR: Die Kominternverlage im Ausland wurden durch die in Moskau ansässige
„Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR“ (VEGAAR) ergänzt, die jedoch ihre
äußere Unabhängigkeit von der Komintern behalten sollte (u. a. mittels eigener Rechnungslegung,
eines eigenen Budgets, das allerdings von der Geschäftsleitung des EKKI bestätigt und kontrolliert
wurde). Der am 27.3.1931 gegründete sowjetische Verlag mit internationaler Ausrichtung in Politik
und Literatur, auch mit einem internationalem Mitarbeiterstab von über 300 Personen (Direktor:
M.E. Kreps, stellvertr. anfangs Erich Wendt) war behördlich angesiedelt beim Volkskommissariat
für Volksbildung. Produziert wurden ca. 1.200 Titel in einer Gesamtauflage von 12 Millionen in den
Jahren 1931–1945 (siehe: Simone Barck: Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR
(VEGAAR). In: Barck/Schlenstedt/Bürger: Lexikon sozialistischer Literatur, S. 487–488; Günter Schick:
Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen der Verlagsgenossenschaft ausländischer
Arbeiter in der UdSSR Moskau, Leningrad, Berlin, 1992 (Bibliographische Beiträge zur Geschichte der
Arbeiterbewegung 10), hier auch weitere biographische Angaben).
402 Zentrale Staatsbibliothek für ausländische Literatur: 1921 als „neuphilologische Bibliothek“ beim
Volkskommissariat für Volksbildung gegründet, zwischen 1932 und 1948 Zentrale Staatsbibliothek für
ausländische Literatur der Sowjetunion, heute Allrussische Staatliche M.I.Rudomino-Bibliothek für
Ausländische Literatur.
Dok. 392: [Moskau], 18.9.1936 1275
cher Literatur auf Grund einer Direktive der Kommission der RKI-ZKK der KPdSU(B)
herangezogen. Bei dieser Arbeit entdeckte und signalisierte ich eine ganze Anzahl
konterrevolutionärer und schädlicher Werke. (Siehe meinen Bericht an die Partei
gruppe der Bibliothek vom Dezember 1935).403
Im November nahm ich, im Einverständnis mit der Leitung der KPD, die Stelle
eines Leiters des wiss[enschaftlich]-bibliographischen Sektors der Bibliothek an.
Als Mitglied einer Kommission des Narkompros untersuchte ich die ganze Tätigkeit
des Sektors und machte Vorschläge zur Reorganisation seiner Arbeit im Sinne seiner
Umstellung auf die Linie der Parteipolitik, auf die bessere Bedienung der Massen und
der Stachanovbewegung und auf die marxistische Verbesserung der bibliographi-
schen Arbeit.404 Auf Grund dieser angenommenen Pläne nahm ich die Reorganisa-
tion des Sektors vor, und leitete ihn bis jetzt, während dieser ganzen Zeit unterstützte
ich die Parteigruppe und den stellv. Direktor, Gen. Ondratschek (Mitgl. der KPdSU/B)
in ihrem Kampf gegen liberalistische und parteifremde Widerstände innerhalb der
Bibliothek.
Im Frühjahr 1936 wurde mir die Prüfung des Fonds der französischen Zeitschrif-
ten übertragen. Diese Arbeit ist noch nicht ganz abgeschlossen. Bisher konnte ich aber
bereits eine Reihe von parteischädigenden oder antisowjetistischen [sic] Materialien
entfernen, darunter offen trotzkistisches Material (alte Jahrgänge der „Clarté“).405
403 Die Konfiszierung nicht linientreuer Literatur aus öffentlichen Bibliotheken anhand von Listen,
die von der Zensurbehörde erstellt wurden, war in der Sowjetunion bereits seit den 1920er Jahren eine
gängige Praxis, die sich in den 1930er Jahren und vor allem im Großen Terror intensivierte (siehe:
Tat’jana Gorjaeva: Političeskaja cenzura v SSSR. 1917–1991 gg., Moskva, ROSSPEN, 2009, S. 82 u.a.).
404 Die Stachanov-Bewegung war eine von der Sowjetführung seit der zweiten Hälfte 1935 lancierte
Kampagne zur Steigerung der Produktivität durch Übererfüllung von Produktionsnormen. Ihr
Namensgeber, der Kohlebergbauarbeiter Aleksej Stachanov (1905–1977), soll in einer Schicht seine
Fördernorm um das beinahe Fünfzehnfache überschritten haben, wonach er von den sowjetischen
Medien zum nachahmenswerten Helden proklamiert wurde. Die an der nominell freiwilligen
Massenbewegung zur Planübererfüllung teilnehmenden „Stachanov-Arbeiter“ wurden durch
Privilegien bei der Versorgung belohnt. Die Bewegung wurde in der Nachkriegszeit aufrechterhalten
und fand Nachahmung in anderen Ostblockstaaten, etwa durch die „Hennecke-Bewegung“ in der DDR.
Siehe zur Gründungsphase Robert Maier: Die Stachanov-Bewegung, 1935–1938. Der Stachanovismus
als tragendes und verschärfendes Moment der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft, Stuttgart,
Steiner, 1990.
405 Die von Henri Barbusse, Raymond Lefebvre und Paul Vaillant-Couturier 1919 ins Leben gerufene
und als pazifistisch bis revolutionäre Kulturorganisation der Antikriegsavantgarde konzipierte
antimilitaristisch ausgerichtete Gruppe Clarté war vergleichsweise offen ausgelegt. Sie vereinigte in der
Zeitschrift gleichen Namens eine Reihe bekannter und höchst unterschiedlicher Künstler, u. a. Anatole
France, Stefan Zweig, Upton Sinclair, Romain Rolland, Jules Romains, Paul Vaillant-Couturier, Herbert
G. Wells (sowie auch Maler wie Pablo Picasso und Fernand Léger). Zu den deutschen Mitarbeitern
zählten Heinrich Mann, Fritz von Unruh, Ernst Toller und der postexpressionistische Lyriker Iwan Goll.
Die Clarté-Gruppe bildete ein wichtiges Vorfeld für transnationale Zusammenschlüsse kommunistischer
Literaten im Umfeld der Komintern (Bernhard Bayerlein: Von der Roten Literaturinternationale zu Sta-
lins Hofschreibern? Arbeitsmaterialien zu den Schriftstellerinternationalen, 1919–1943. In: The Interna-
tional Newsletter of Communist Studies Online XV (2009), Nr. 22, S. 203).
1276 1933–1939
Im Herbst 1935 wurde ich zum Leiter der methodischen Kommission des Eltern-
beirats der „Karl-Liebknechtschule“ gewählt. Diese Arbeit leite ich bis jetzt und war
bestrebt, zusammen mit den KPdSU-Genossen auf die Reinigung der pol[itischen]
Athmosphäre der Schule, die Verbesserung der Leitung, die Stärkung des Parteiein-
flusses auf Leitung und Pädagogen hinzuarbeiten.406
Im Winter 1935 fing ich an, mich stärker an der theoretischen Arbeit der deut-
schen Kommission des Schriftstellerverbandes zu beschäftigen, nahm an der
theor[etischen] Arbeitsgemeinschaft teil und hielt in ihr mehrere Referate.407 Wie ich
bereits auf der Versammlung der kom[munistischen] deutschen Schriftsteller gesagt
habe, muss ich mir aber den Vorwurf machen, nicht früher und nicht enger an der
laufenden politischen Arbeit der Gruppe teilgenommen zu haben.
Auskunft über meine Arbeit in der Bibliothek können erteilen: Die Parteigruppe
(Partorg. Gen. Spreizer) und der stellv. Direktor Gen. Ondratschek. Bibliothek, Stole-
schnikov Per[eulok] 2. Tel K 3-10 84.
Über meine Arbeit bei den Schriftstellern: Gen. J.R. Becher und Bartha.
Über meine Arbeit in der deutschen Schule: Gen. Schälicke.
Am 20.9.1936 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, auf die Entsendung einer von
Außenkommissar Maksim Litvinov und dem Sowjetbotschafter in Berlin, Jakov Suric, vorgeschlage-
nen Protestnote wie auch auf Wirtschaftssanktionen gegen Deutschland als Reaktion auf die antiso-
wjetischen Ausfälle des Nürnberger Parteitags der NSDAP im September 1936 zu verzichten.408 Suric
hatte nicht nur die persönlichen Angriffe auf Mitglieder der Sowjetregierung angeführt, sondern auch
auf das aggressive Auftreten der Nationalsozialisten zur Schaffung eines „internationalen Blocks ge-
gen die UdSSR“ hingewiesen und für eine „starke und heftige Antwort optiert, die Verständnis und
Zustimmung in einer Reihe von Staaten hervorrufen würde“.409 Gleichwohl setzte sich der das NS-
Regime schonende Kurs Stalins weiterhin durch.
406 Die Karl-Liebknecht-Schule wurde auf Initiative des Zentralbüros der deutschen Sektionen beim ZK
der RKP(b) in Moskau als deutschsprachige, reformpädagogische Schule gegründet. Kinder deutscher
und anderer ausländischer Kommunisten stellten einen großen Teil der Schüler, etwa Alfred Kurellas
Sohn Gregor. Nachdem bereits 1935–1936 einige nichtrussische Lehrer im Zuge von „Säuberungen“
aus der Schule entlassen wurden, wurde sie 1938 im Kontext der Unterdrückung „nationaler“
Bildungseinrichtungen in der UdSSR geschlossen (siehe: Mussijenko/Vatlin: Schule der Träume).
407 Die deutsche Kommission des sowjetischen Schriftstellerverbandes, auch „Deutsche (Länder-)
Sektion“ genannt, bildete „als Parteigruppe eine Unterorganisation in der Parteizelle des sowjetischen
Schriftstellerverbands“ (Reinhard Müller). Seit ca. August 1936 lief eine Untersuchung über das
„Verhalten der hier (in der Sowjetunion) lebenden deutschen Schriftsteller“. Das umfangreiche
Protokoll der im September 1936 stattfindenden geschlossenen Sitzungen siehe in: Müller: Georg
Lukács, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf u.a.: Die Säuberung; vgl. zu den Strukturen ibid., S. 9,
81f., 566 u.a.
408 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 78. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 341–342.
409 Dokumenty vnešnej politiki SSSR, Bd. XIX, S. 423, 762.
Dok. 393: Moskau, 29.9.1936 1277
Dok. 393
Beschluss des sowjetischen Politbüros zur Stigmatisierung
ehemaliger Oppositioneller als „Spione, Diversanten und
Schädlinge der faschistischen Bourgeoisie“
Moskau, 29.9.1936
[Beschlossen:]
a) Bis zuletzt hatte das ZK der VKP(b) die trotzkistisch-sinowjewistischen Schufte als
politischen und organisatorischen Stoßtrupp der internationalen Bourgeoisie ange-
sehen.
Die neuesten Fakten zeigen, dass diese Herrschaften noch tiefer gesunken sind und
dass man sie nun als Kundschafter, Spione, Diversanten und Schädlinge der faschis-
tischen Bourgeoisie in Europa betrachten muss.
Dok. 394
Vermerk Dimitrovs an Togliatti über „sofortige Maßnahmen“
für die bestmögliche Erkundung der tatsächlichen Lage in
Deutschland
Moskau, 1.10.1936
Ich halte es für unerlässlich, sofortige Maßnahmen für die bestmögliche Erkundung
der tatsächlichen Lage in Deutschland und vor allem der wahren Stimmungen der
Massen zu ergreifen. Man wird ein paar für diesen Zweck passende Personen finden
und sie für einige Zeit nach Berlin und in andere wichtige Orte des Landes schicken
müssen, um persönlich und unmittelbar alle möglichen Informationen, Stimmungen
und Eindrücke zu sammeln.411
Dies wird uns bei den bevorstehenden Besprechungen über die Fragen der deut-
schen Partei bedeutend helfen.412 D[imitrov]
411 Ein erstes Ergebnis solcher Erkundungen – unklar bleibt, ob dazu Personen ins Land geschickt
wurden, – bildete eine „Zusammenfassung, die im Sommer 1937 vorgelegt wurde“ (vgl. Dok. 402).
Weitere „zum Teil unter dem Einfluss feindlicher Ideologien“ entstandene Meinungen und Stimmungen
wurden später von Herbert Wehner zusammengefasst (siehe Dok. 433).
412 Nach einer Reihe von vorbereitenden Materialsammlungen und Berichten (siehe Dok. 402) setzte
das Sekretariat des EKKI am 7.2.1937 eine „Kommission zur deutschen Frage“ ein, die vom 9.2.1937 bis
mindestens zum 20.2.1937 tagte (ihre Tätigkeit wird im Folgenden dokumentiert, siehe Doks. 403b ff.).
Die Verhandlungen schlossen mit einer Resolution „zu den neuen Aufgaben der KPD“ (siehe Dok. 404).
Dok. 395: [Moskau?], 1.10.1936 1279
Dok. 395
Instruktion Dimitrovs zur Propaganda für die neue stalinsche
Verfassung der UdSSR
[Moskau?], 1.10.1936
Ich hoffe, dass im Zusammenhang mit der Annahme der Stalinschen Verfassung
durch den außerordentlichen Sowjetkongress414 bereits entsprechende Anweisungen
an die Parteien und die Presse erteilt wurden. Es handelt sich um ein historisches
Ereignis. Es muss so breit und geschickt ausgenutzt werden, dass die gesamte wild-
gewordene antisowjetische Kampagne tatsächlich auf Null reduziert wird. Zu diesem
Zweck ist es notwendig, unsere Presse- und Propagandaabteilung sowie die Gesamt-
heit unserer Verlage und Verlags-[unleserlich] zu mobilisieren.
Zusätzlich zum [Text] von Stalin, der in allen Sprachen gedruckt und massenhaft
vertrieben werden muss, ist es ebenfalls notwendig, eine Reihe von Broschüren her-
auszubringen, die die neue Verfassung als konkrete Verwirklichung der Prinzipien
des Kommunistischen Manifestes von Marx und Engels und der nahenden Befrei-
ung der [unleserlich] Werktätigen der ganzen Welt popularisieren. Dringend müssen
unsere ausländischen [Autoren?] [aufgestellt?], sowie mit dem ZK Kontakt aufgenom-
men werden, [unleserlich] mit den Genossen Steckij und [Tal’],415 zwecks Hilfestel-
lung seitens der sowjetischen Autoren in dieser [Angelegenheit?].
D[imitrov]
413 Nikolai Janson (1882–1938, in der Sowjetunion erschossen) war Mitglied der Zentralen
Kontrollkommission, später der zentralen Revisionskommission der VKP(b).
414 Am 25.11.1936 stellte Stalin als Vorsitzender des Verfassungsausschusses dem VIII. sowie
(außerordentlichen) Sowjetkongress die neue Verfassung der Sowjetunion dar, an der maßgeblich
Bucharin mitgearbeitet hatte. Eine Redaktionskommission mit 220 Mitgliedern fertigte bis zum 4.12.1936
(!) die endgültige Fassung. Als „demokratischste Verfassung der Welt“ sollte sie als Fassade vor allem
dem Westen gegenüber und als Repertoire für die cultural diplomacy dienen. Nach innen sollte die
seit 1935 durchgeführte, großangelegte Kampagne, die Millionen von Sowjetbürgern erreichte und
ihnen zumindest eine Möglichkeit gab, zu diskutieren und Änderungen zu formulieren, auch eine
versöhnlerische, pazifizierende Wirkung zeitigen, gerade angesichts des sich verschärfenden Terrors. Im
Text wurde auf das internationale revolutionäre Prinzip erstmals verzichtet, übrig blieb die „Solidarität mit
den Werktätigen aller Nationen“ als Topos (siehe für eine Eischätzung sowie Auszüge: Helmut Altrichter
(Hrsg.): Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod., Bd. I, Staat und Partei, München,
Deutscher Taschenbuch Verlag, 1986, S. 257–300; Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937, München,
Carl Hanser Verlag, 2008, S. 250–252; vgl. die Einleitungstexte von Drabkin und Bayerlein).
415 Aleksej (Alesis) Steckij (1896–1938, in NKVD-Haft) leitete zwischen 1935 und 1938 die
Agitpropabteilung des ZK der VKP(b), Boris Tal’ (1898 Baku–1938, in der Sowjetunion erschossen)
war 1935–1937 Leiter der Verlags- und Presseabteilung des ZK. Beide kamen im Großen Terror um.
1280 1933–1939
Am 11.10.1936 ermächtigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den sowjetischen Vertreter
im Londoner Nichteinmischungskomitee zum spanischen Bürgerkrieg, Ivan Majskij, eine Erklärung
abzugeben. Diese sollte darauf abzielen, dass, da die Nichteinmischung dauerhaft unterlaufen wür-
de, der spanischen Regierung das Recht eingeräumt werden sollte, selbständig Waffen einzukau-
fen.416 Erst Ende September 1936 erfolgte – nicht zuletzt auf Drängen der Komintern – ein Kurswech-
sel der sowjetischen Führung zugunsten der Intervention durch Waffen und internationale Freiwillige
im spanischen Bürgerkrieg.
Am 29.9.1936 hatte das Politbüro auf Anfrage des Volkskommissariats für Verteidigung die gehei-
me Bereitstellung von Waffen und Personal für Spanien beschlossen, was bisher gegenüber der spa-
nischen Regierung strikt abgelehnt wurde. Dem zugrunde lag ein vom Militärfunktionären Semen
Urickij und Abram Sluckij (Leiter der NKVD-Militäraufklärung) ausgearbeiteter Plan vom 14.9.1936. Im
Textbeschluß hiess es: „Den Operationsplan zur Bereitstellung von Personal und speziellen Maschi-
nen nach ‚X‘ zu bestätigen und dabei die vollständige Realisierung der gesamten Operation den Gen.
Urickij und Sudʼin zu übertragen.“417
Am 19.10.1936 folgte der Beschluss, die Goldreserven der spanischen Regierung „zur Aufbewahrung“
in Empfang zu nehmen und sie mit sowjetischen Schiffen aus Spanien in die UdSSR zu transportie-
ren.418
Am 23.10.1936 wurde Majskij instruiert, mit Entrüstung auf die deutschen Anschuldigungen (über
eine sowjetische Einmischung in Spanien) zu reagieren. Als Zusatz zur Erklärung vom 7.10.1936, die
auf der Erklärung von Kagan (im Komitee) aufzubauen hatte, sollte zum Ausdruck gebracht werden,
dass die sowjetische Führung keineswegs gewillt sei, eine Funktion des Komitees als Paravent für
die militärische Hilfe an die Aufständischen gegen die spanische Republik seitens einiger seiner Mit-
glieder mitzuverantworten. Falls die Verletzungen der Nichteinmischungserklärung nicht unmittelbar
unterbunden würden, sehe sich die Sowjetunion von den sich hieraus ergebenden Verpflichtungen
ihrerseits befreit.419 Eine Reihe weiterer Instruktionen an Majskij folgten nach einer Entscheidung des
Politbüros vom 21.11.1936.420
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 14.10.1936, vom Rest des deutschen
200-Millionen-Kredits zwei Schiffskatapulte im Wert von 450.000 Mark einzukaufen.421 Am 26.10.1936
folgte die Entscheidung, in Deutschland u.a. ein Minenboot einzukaufen.422
Am 9.12.1936 schlug das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion dem sowjetischen Botschafter in
Berlin, Jakov Suric vor, eine Einladung Görings zu einem Treffen anzunehmen.423
Dok 395a
„Reichen wir einander brüderlich die Hände zur Versöhnung zur
Versöhnung des deutschen Volkes“ – Aufruf des Zentralkomitees
der KPD.
15. Oktober 1936
Publiziert in: Die Rote Fahne, 1936, Nr. 8 (vor dem 15. Oktober 1936); ebenfalls in: Deutsche
Volkszeitung, Nr. 31, 31.10.1936. Abgedruckt in: Jörn Schütrumpf: Für die Versöhnung des deutschen
Volkes von Walter [Ulbricht]. Für Deutschland, für unser Volk. Ein bedeutsamer Aufruf des ZK der KPD.
In: Utopie kreativ, H. 71, September 1996, S. 36–40; ebenfalls in: Ursula Langkau-Alex: Deutsche
Volksfront, Bd. 3. Berlin, Akademie Verlag, 2005. S. 155‑162, hier auch unter Angabe der Weglassungen
und wenigen inhaltlichen Abweichungen im Text der Deutschen Volkszeitung.
424 Parallel zur Linie des „Trojanischen Pferdes“ des Eindringens in die NS-Massenorganisationen seit
1935 (siehe Dok. 363 u.a.) versuchte die KPD nun – im Gegensatz zur bisherigen Volksfrontlinie –sowohl
rhetorisch als auch konzeptionell noch weiter auf die Nationalsozialisten zuzugehen. Auf eine wirksame
Propaganda gegen Hitler und das NS-System wurde zum Teil ganz verzichtet, die als zentrale Feinde
nicht mehr thematisiert wurden. Das neue – insofern künstliche – Feindbild wurde allein auf die „3000
Millionäre“ übertragen und dabei der NS-Diskurs teilweise positiv aufgenommen. Grundsätzlich lag das
Dokument auf der neuen Kominternlinie, die Kominternspitze ruderte zwar später, nicht zuletzt wegen
der hier zum Ausdruck kommenden impliziten Versöhnungsabsicht nicht nur mit den nationalsozialisti-
schen Arbeitern, sondern mit dem NS-System selbst (wie auch wegen der Kritik seitens einiger Mitglieder
der KPD-Führung) wieder zurück, doch ähnliche Aufrufe wurden teilweise in noch stärkerem Duktus
auch in anderen faschistischen oder korporatistischen Diktaturen von den dortigen kommunistischen
Parteien, so in Portugal oder Italien, veröffentlicht. Was in Deutschland gemäß der neuen Sprachre-
gelung die „nationalsozialistischen Massen“ und die „Söhne des deutschen Volkes“ waren, stellten in
Italien die „Brüder in den schwarzen Hemden“ (italienisch: „Fratelli in camicia nera“) dar, die in natio
nalistischen Sprachpirouetten zum gemeinsamen Kampf mit den italienischen Kommunisten zur Ver-
wirklichung des faschistischen Programms von 1919 aufgerufen wurden („Appello ai fratelli in camicia
nera“, August 1936. „Kämpfen wir für die Verwirklichung dieses Programms (…) Faschisten der alten
Schule! Jugendliche Faschisten! Wir erklären hiermit, daß wir dazu bereit sind, mit Euch gemeinsam zu
kämpfen (…).“ „I comunisti fanno proprio il programma fascista del 1919, che è un programma di pace, di
libertà, di difesa degli interessi dei lavoratori (…). Lottiamo uniti per la realizzazione di questo program-
ma (…) Fascisti della vecchia guardi! Giovani fascisti! Noi proclamiamo che siamo disposti a combattere
assieme a voi.“, (http://www.alessandracolla.net/?p=105 (15.7.2013). Siehe auch Pietro Neglie: Fratelli in
camicia nera. Comunisti e fascisti dal corporativismo alla CGIL. 1928–1948, Bologna, Il Mulino, 1996. S.
256; hierzu ausführlicher im Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 335ff.
1282 1933–1939
Deutsches Volk!425
Vier Jahre sind vergangen, seit Hitler erklärte: Deutsches Volk, gib mir vier Jahre Zeit! Ich
will Deutschland zum Aufstieg und das deutsche Volk zum Wohlstand führen!426 ‑ Vier
Jahre hat das deutsche Volk hart gearbeitet und riesige Opfer gebracht. Viele Volksge-
nossen erwarteten daher, daß auf dem Nürnberger Parteitag427 nunmehr ein Programm
für das Wohlergehen des deutschen Volkes verkündet und daß der Grundsatz:
Deutsche Arbeiter!
Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Die Fabriken arbeiten, die
Schornsteine rauchen. Wir haben eine hochentwickelte Landwirtschaft. Der deutsche
Arbeiter ist wegen seiner Qualitätsarbeit in der ganzen Welt bekannt. Gegenwärtig
425 Die Umstände der Veröffentlichung des Aufrufs sind bisher noch nicht eindeutig aufgearbeitet.
Plausibel ist, dass es sich um die eigenmächtig von Ulbricht als hauptsächlichem Verfasser
vorgenommene Veröffentlichung eines im Grundsatz von der Parteiführung beschlossenen und auf
der Linie der Komintern liegenden Textes handelte. Zum nachfolgenden Herumlavieren der KPD- und
der Kominternspitze in dieser Angelegenheit siehe Dok. 402 u.a. (hierzu auch: Langkau-Alex: Deutsche
Volksfront, Bd. 2, S. 540ff.).
426 In einem per Rundfunk übertragenen „Aufruf an das deutsche Volk“ sagte Hitler am 31.1.1933:
„Die nationale Regierung wird das große Werk der Reorganisation der Wirtschaft unseres Volkes mit
zwei großen Vierjahresplänen lösen: Rettung des deutschen Bauern zur Erhaltung der Ernährungs-
und damit Lebensgrundlage der Nation. Rettung des deutschen Arbeiters durch einen gewaltigen und
umfassenden Angriff gegen die Arbeitslosigkeit. In 14 Jahren haben die Novemberparteien den deutschen
Bauernstand ruiniert. In 14 Jahren haben sie eine Armee von Millionen Arbeitslosen geschaffen. Die
nationale Regierung wird mit eiserner Entschlossenheit und zähester Ausdauer folgenden Plan
verwirklichen: Binnen vier Jahren muß der deutsche Bauer der Verelendung entrissen sein. Binnen vier
Jahren muß die Arbeitslosigkeit endgültig überwunden sein.“ (Deutsche Geschichte in Dokumenten
und Bildern, Deutsches Historisches Institut, Washington, Bd. 6, http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/
pdf/deu/DEST_APPEAL1933_GER.pdf).
427 Der Parteitag der NSDAP wurde vom 8. bis 14.9.1936 in Nürnberg abgehalten.
Dok 395a: 15. Oktober 1936 1283
steigen während der Konjunktur die Löhne in Frankreich, England, Amerika. Warum
sollen da die Löhne bei uns in Deutschland so niedrig bleiben wie in der Krisenzeit?
Die Arbeitskraft ist unser wertvollstes Gut. Wäre es deshalb nicht recht und billig,
daß wir deutschen Arbeiter an den gewaltig gestiegenen Erträgnissen der Wirtschaft
unseres Landes durch Erhöhung der Löhne teilnehmen? Der Zweck der Wirtschaft soll
doch das Wohl des Volkes sein.
Dr. Ley428 hat am 1. Mai 1935 die Einführung des gerechten Lohnes versprochen.
In Nürnberg wurde erklärt, daß Deutschland gleichberechtigt unter den Völkern
sei. Wäre es jetzt nicht erst recht die wahre Ehrung der Arbeit, eine Ehrung der Mühe
und des Schweißes der deutschen Arbeiter, wenn nunmehr der gerechte Lohn in
jedem Betrieb festgestellt und bezahlt würde? Kann es einen Aufstieg Deutschlands
geben, ohne daß die Arbeiter höhere Löhne bekommen?
Aber statt dessen verschlechtern die Unternehmer auf Grund ihres Herr-im-Hause-
Standpunktes die Löhne, drücken die Akkordsätze herab und sind so die alleinigen
Nutznießer unserer Leistungssteigerung. Wie ist eine solche Handlungsweise zu ver-
einbaren mit dem Paragraphen des Arbeitsgesetzes, in dem es ausdrücklich heißt,
daß die Ausnutzung der Arbeitskraft verhindert werden soll? In Nürnberg wurden die
berechtigten Lohnforderungen der Arbeiter mit dem Hinweis auf die Kosten der Rüs-
tungen abgelehnt. Wir deutschen Arbeiter wollen aber nicht den Krieg, sondern Frieden
und höhere Löhne.
Es wird Zeit, daß die Deutsche Arbeitsfront dafür eingesetzt wird, die Löhne der
Arbeiter entsprechend der Leistungssteigerung und Teuerung zu erhöhen. Sorgen wir
alle gemeinsam dafür, daß nun endlich ein gerechter Lohn bezahlt wird!
Volksgenossen!
Ohne ausreichende Ernährung ist eine gute Arbeit unmöglich. Unsere Frauen wissen,
wie schwer es bei dem Lebensmittelmangel ist, ein nahrhaftes Essen für ihren schwer-
arbeitenden Mann auf den Tisch zu stellen. Die Lebensmittelversorgung ist das erste,
was im Interesse der Arbeitskraft und der Volksgesundheit gesichert werden müßte.
Sind die jetzigen Ernährungsschwierigkeiten wirklich unvermeidlich?
Wir denken an das Jahr 1929. Damals war die Zahl der Beschäftigten noch größer,
die Löhne waren höher, Deutschland hatte auch nicht mehr Raum als heute und mußte
noch dazu Tribute zahlen ‑ und dennoch fehlte damals kein Fleisch, kein Fett, keine Eier.
Notwendig ist daher, daß auch heute soviel Lebensmittel eingeführt werden wie früher!
Muß das zur Verminderung der Rohstoffeinfuhr und damit zur Vermehrung der
Erwerbslosigkeit in Deutschland führen? Keineswegs.
Was könnte geschehen?
Bei einer entschiedenen Friedenspolitik könnte an Stelle der riesigen unproduk-
tiven Rüstungen, die eine besonders große Rohstoffeinfuhr erheischen, die Einfuhr
von Lebensmitteln und solchen Rohstoffen erfolgen, die zur Produktion für den
428 Robert Ley war „Reichsführer“ der Deutschen Arbeitsfront (DAF), siehe Dok. 363.
1284 1933–1939
Bedarf der Volksmassen und für Exportwaren verwendet werden. Wäre es nicht für
unser Volk nützlicher, wenn statt Granaten Wohnungen gebaut würden? Fehlen
nicht in Deutschland 1,6 Millionen Wohnungen, durch deren Bau friedliche Arbeit
für Hunderttausende geschaffen werden könnte? Wäre nicht die Verbesserung des
Lohnes der richtige Weg, um in Deutschland die Konjunktur wie in den anderen
Ländern zu beleben, indem mehr Nahrung, mehr Kleidung, mehr Schuhe, mehr
Möbel usw. gekauft werden könnten? Hätten nicht die Mittelständler durch diesen
erhöhten Konsum den großen Vorteil eines wachsenden Umsatzes? Wenn man den
Bauern wieder das Recht der freien Produktion und des Selbstmarkes gibt, werden
auch wieder mehr Lebensmittel auf den Markt kommen. Wäre es nicht auch möglich,
durch die Herstellung von freundschaftlichen Beziehungen zu den anderen Ländern
den friedlichen Austausch deutscher Qualitätswaren gegen Rohstoffe und Lebensmit-
tel zu erhöhen? Auf diesem Wege k[ö]nnten Arbeit u n d ausreichende Ernährung für
unser Volk geschaffen werden.
Es gibt keinen Aufstieg des deutschen Volkes ohne ausreichende Ernährung.
Wenn die oberen Zehntausend euch Volksgenossen sagen: „Ihr müßt euch einschrän-
ken, weil wir uns auf den Krieg vorbereiten müssen“ ‑ dann gebt zur Antwort: Wir
wollen keinen Krieg, wir wollen genügen Fleisch und Fett, wir wollen den Frieden.
Deutsche Bauern!
Euch wurden im Sofort-Programm der NSDAP von 1932 gerechte Preise und Brechung
der Zinsknechtschaft zugesagt. Es hieß dort
„Hebung des landwirtschaftlichen Preisstandes, Ausschaltung ungerechter
Verdienstspannen des Zwischenhandels, Herabsetzung der Zinslasten auf etwa die
Hälfte des bisherigen Zinses.“
Außerdem wurden euch in jenem Programm Entschuldung und billige
Betriebskredite in Aussicht gestellt. Wäre es nicht an der Zeit, das zu verwirklichen?
Wir sollten alle innerhalb des Reichsnährstandes verlangen, daß diese Forderungen
jetzt in die Tat umgesetzt und auf diese Weise die dringendsten Lebensinteressen der
Bauernschaft gegen die Monopolherren und Bankiers befriedigt werden.
Und wie steht es mit den Steuern, deutsches Volk?
Prüfe du, deutscher Arbeiter, du, deutscher Mittelständler, du, deutscher Bauer, ob
es heute nicht notwendiger denn je ist, den Programmpunkt 21 der NSDAP zu verwirk-
lichen, der lautet:
„Durchgreifende Umgestaltung des Steuerwesens nach sozialen, volkswirtschaftli-
chen Grundsätzen. Befreiung der Verbraucher von der Last der indirekten Steuern sowie
der Erzeuger von einengenden Steuern (Steuerverbesserung und Steuerbefreiung).“
Früher zahlte das Volk schon viel zu viel Steuern, aber jetzt, obwohl es keine Ver-
sailler Tributszahlungen mehr gibt, sind die Steuerlasten noch größer geworden. In
den letzten drei Jahren ist der Anteil der Massensteuern am Gesamtsteueraufkommen
von Dreifünftel auf Dreiviertel gestiegen.
Wo bleibt da die Steuergerechtigkeit?
Dok 395a: 15. Oktober 1936 1285
Der Fleischermeister Hintze muß sein Geschäft zusperren, da er nicht mehr die
Umsatzsteuer, Einkommenssteuer, die Bürgersteuer und die anderen vielen Abgaben
zahlen kann. Aber die Krupp, Thyssen, Siemens, Hösch,429 Springorum,430 Poens-
gen431 und die Bankiers häufen in ihrem hemmungslosen Egoismus zur selben Zeit
neue Millionen aus riesigen Rüstungsgewinnen an. Wie verträgt sich das mit dem
Punkt 16 im Programm der NSDAP?
„Wir fordern die Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seine Erhaltung.“
Sollte nicht endlich in den Innungen beraten werden, wie diese Forderung ver-
wirklicht werden kann? Denn
wie kann es einen Aufstieg Deutschlands geben, wenn der kleine Mann von schwe-
ren Steuern niedergedrückt wird?
Wenn das anders werden soll, dann müßte fest gegen die Großverdiener zuge-
faßt werden. Sie sind auch die neuen Kriegsgewinnler. Sie profitieren in der Zeit der
allgemeinen Entbehrung und Opfer gewaltig an der Aufrüstung. Ist es daher nicht
notwendig, daß auf sie der Punkt des NSDAP-Programmes
Beschlagnahme der Kriegsgewinne
jetzt angewendet wird? Ist es nicht im höchsten nationalen Interesse, daß die
eigennützigen Reichen zum Gemeinnutz des Volkes zahlen müssen und damit die
Steuerlasten für den Mittelstand, die Bauern und die Arbeiter fühlbar erleichtert
werden? Das würde dem Antrag der nationalsozialistischen Reichstagsfraktion vom
14. Oktober 1930 entsprechen, in dem es u. a. heißt:
„Der Reichstag wolle beschließen: das gesamte Vermögen der Bank- und Bör-
senfürsten [...], ferner der seit diesem Tage durch Kriegs-, Revolutions-, Inflations-
oder Deflationsgewinne erworbene Vermögenszuwachs wird zum Wohle der Allge-
meinheit entschädigungslos enteignet. Alle Banken, einschließlich der sogenannten
Reichsbank, sind ungesäumt in den staatlichen Besitz zu überführen.“
Wenn die Herren Krupp und Thyssen samt den anderen Industrie-, Bank- und Bör-
senfürsten sagen: „Ihr müßt Steuern zahlen, damit noch mehr gerüstet werden kann!“ ‑
dann antworten wir: Wir wollen weniger Steuern zahlen, denn wir sind für den Frieden.
Die Reichen sollen zahlen.
Deutsches Volk!
Wir alle wollen Wohlstand und Frieden, aber dunkle Kräfte sind am Werk, um
Deutschland in einen neuen Krieg hineinzutreiben. Es sind dieselben Kräfte, die uns
schon 1914 ins Unglück getrieben und die selber den Krieg gesund und reich überlebt
haben. Sie haben Deutschland schon einmal in die Katastrophe gehetzt, ‑ nun spielen
sie wieder ihr altes schmutziges Spiel mit den Volksinteressen, mit der nationalen
Existenz Deutschlands.
429 Hoesch AG: Neben Krupp und Thyssen das bedeutendste Stahlunternehmen im Ruhrgebiet.
430 Fritz Springorum (1886–1942) war Generaldirektor des Dortmunder Stahlunternehmens Hoesch
AG und zählte 1933 zu den prominenten NSDAP-Unterstützern unter den Industriellen.
431 Poensgen: Düsseldorfer Stahlunternehmen.
1286 1933–1939
Ein neuer Krieg wäre das furchtbarste Unglück, das unser Land treffen könnte.
Fliegerbomben und Giftgas würden ihr fürchterliches Vernichtungswerk in
unseren Städten vollführen. Mit unbarmherziger Hand würde der Tod in alle Fami-
lien greifen. Hunger mit Dörrgemüse, Rübenmarmelade und Brennesselsalat als Nah-
rungs-Ersatz würde wieder bei uns Gast sein.
Die anderen Völker hassen den Krieg, genau wie wir. Auch sie haben aus dem Welt-
krieg gelernt, daß ein sogenannter Sieg nur Wirtschaftskrise, Schulden, Arbeitslosig-
keit, Zerrüttung bedeutet. Auch die anderen Völker haben gelernt, daß es im Krieg nur
einen Sieger gibt: die Millionäre, die Rüstungsgewinnler, die Giftgas- und Kanonenkö-
nige. Wir wollen doch nicht unsere Hände nach fremdem Boden ausstrecken. Wir wollen
im eigenen Lande den Großverdienern, den Zitzewitzen die Möglichkeit nehmen, den
deutschen Lebensraum für ihre egoistischen Profitinteressen auszunützen.432
Das französische Volk, das sich eine Volksfrontregierung geschaffen hat, die
Völker der Sowjetunion, die ihr Land in Frieden weiter entwickeln und aufbauen
wollen, - sie alle wollen mit dem deutschen Volk in Eintracht leben. Welche Unter-
schiede auch gegenwärtig in den Regierungssystemen der Länder sind, ‑ der Friede
ist das Lebensinteresse aller Völker.
Was könnte Deutschland tun, um den Frieden zu sichern?
Wie könnte es das bestehende Mißtrauen zwischen Deutschland und den anderen
Staaten überwinden helfen? Ein gewaltiger Schritt im Interesse des Friedens wäre es,
wenn Deutschland heute allen Völkern, Frankreich, der Tschechoslowakei, der Sow-
jetunion u. a. erklären würde:
„Wir wollen nicht ein Stück fremden Bodens. Wir respektieren die Unabhängig-
keit und Sicherheit jedes anderen Volkes, so wie wir wollen, daß unsere Unabhängig-
keit und unsere Grenzen respektiert werden. Wir sind bereit, uns mit allen Völkern zu
einem Bündnis des Friedens zusammenzuschließen.“
Würden alle Mitglieder der Deutschen Arbeitsfront, der Innungen, des Reichs-
nährstandes und der Reichskulturkammer in diesem Sinne laut und deutlich ihren
Friedenswillen bekunden, - wer könnte da noch in der Welt an dem Friedenswillen
des deutschen Volkes zweifeln? Welchen gewaltigen Einfluß könnte heute Deutsch-
land in der Welt ausüben, wenn es seine Kraft für die friedliche Verständigung aller
Völker einsetzen würde!
Eine solche Politik würde den Ausbau der friedlichen Handelsbeziehungen mit
Frankreich, mit der Sowjetunion, mit Amerika, mit England, mit der Tschechoslo-
wakei und vielen anderen Ländern fördern. Eine solche Politik würde überflüssig
machen, immer neue Milliarden in den Aufbau der Ersatzmittel-Industrie zu stecken,
die künstlichen Produkte zum drei- bis zehnfachen Preis der natürlichen Rohstoffe
erzeugt und damit die allgemeine Preissteigerung antreibt.
Erinnern wir uns, daß die Sowjetunion dem deutschen Volke ein starker Verbün-
deter war, als Deutschland einst durch den Versailler Vertrag völlig isoliert in der Welt
dastand! Die Sowjetunion war der einzige Staat, der den Versailler Vertrag nicht aner-
kannte, durch die Verträge von Rapallo und Berlin Deutschland stärkte und durch
Milliardenaufträge in früheren Jahren vielen Hunderttausenden deutscher Arbeiter
friedliche Beschäftigung gab. Wer könnte wagen, Deutschland anzugreifen, wenn es
ein enges Freundschaftsbündnis mit der mächtigen Sowjetunion haben würde?
Wer verhindert eine solche Friedenspolitik in Deutschland?
Es sind dieselben reaktionären Kräfte, die den Lohn drücken und das Steue-
runrecht schützen. Es sind dieselben Kräfte, die dem Volke alles vorenthalten, was
es braucht. Es sind die Rüstungsgewinnler, die am letzten Krieg verdient haben und
hoffen, am nächsten Krieg zu verdienen. Es sind die oberen Zehntausend, die nach
Eroberung fremder Gebiete und nach militärischen Lorbeeren dürsten. Es sind die
3000 Millionäre und jene reaktionären Kräfte, die ihre Geschäfte besorgen.
Es sind die oberen Zehntausend, die in ihrer maßlosen Profitgier den Kreuzzug gegen
alle friedens- und freiheitsliebenden Kräfte in der Welt unternehmen wollen. Sie sind das
alte Unglück Deutschlands. Unter dem Kaiser Wilhelm nannten sie sich Monarchisten,
unter Ebert spazierten sie als Republikaner herum und jetzt nennen sie sich „Pgs“.433 Es
sind die Krupp, Thyssen, IG-Farben, Springorum, Siemens, Flick, Blohm u. a., die alten
Fürsten, Großagrarier, die reaktionären Generäle und die ganze hauchdünne Schicht der
oberen Zehntausend. Es ist jene Schicht, die immer oben blieb, wie das Rad sich auch
gedreht hat. Ob Krieg oder Inflation, Reparation oder Aufrüstung, ‑ sie haben immer pro-
fitiert! Je schlechter es dem deutschen Volke ging, desto bessere Geschäfte machten sie,
desto gefährlicher ihre Arbeit hinter den Kulissen gegen das Wohl des Volkes.
Die 3000 Millionäre mit dem alten Reaktionär Schacht an der Spitze, der im Jahre
1924 den Dawes-Tribut-Plan mitunterzeichnet hat, haben bisher rücksichtslos ihre
Vorrechte durchgesetzt.
Die 3000 Millionäre haben Deutschland schon einmal in die Niederlage getrieben.
Die 3000 Millionäre sind wieder an einem neuen Krieg interessiert, weil sie Milli-
arden an den Rüstungen verdienen.
Die 3000 Millionäre wollen die Löhne niedrig halten, denn desto höher ist dann
ihr Profit.
Die 3000 Millionäre wollen keine hohen Steuern zahlen, denn umso mehr muß
dann das Volk bezahlen. Diese 3000 Millionäre sind daran interessiert, daß niemand
den Mund auftut, um ihr dunkles Treiben zu enthüllen.
Die 3000 Millionäre sind Gegner der Ordnung und Sauberkeit in Deutschland,
denn ihre korrupten Interessenvertreter in den Ämtern sind solche Leute wie Kube,
die das Volksvermögen für ihren persönlichen Vorteil verludern.434
Die 3000 Millionäre verteilen die öffentlichen Aufträge unter sich und treiben
den Mittelstand in den Ruin.
Die 3000 Millionäre spielen eine Schicht des Volkes gegen die andere aus, denn
umso besser können sie dann oben bleiben und ihre Profite machen. Diese Reaktio-
näre sind gegen die Volksrechte, gegen die freie Meinungsäußerung des Volkes. In
ihrem Interesse werden deutsche Volksgenossen, Arbeiter, Mittelständler, Bauern in
Gefängnisse und Konzentrationslager gesperrt. In ihrem Interesse wird die Gewis-
sensfreiheit unterdrückt und werden die Rechte der christlichen Organisationen
beseitigt. Wurde nicht dadurch der Name Deutschlands in der Welt aufs schwerste
geschädigt?
Muß das alles so sein, deutsches Volk?
Wir können das ändern, alle zusammen. Welch eine Macht sind die Millionen des
Volkes gegen die dünne Schicht der 3000 Millionäre!
Wollen wir uns alle wieder versöhnen, damit des Volkes Wille oberstes Gesetz wird
und nicht der Wille von 3000 Millionären
Du, Nationalsozialist, du, Sozialdemokrat, du, Katholik, du, Kommunist, du, Arbei-
ter, du, Bauer, du, Handwerker, du, Wissenschaftler - haben wir alle, Söhne des deut-
schen Volkes, nicht die gleiche Sehnsucht nach einem Leben in Friede, Freude und
Wohlstand? Haben wir heute nicht gleich alle die gleichen Nöte?
Schließen wir treue Kameradschaft zur Verteidigung unserer Lebensinteressen
und des Friedens, zur Verteidigung Deutschlands gegen die raffende Oberschicht von
3000 Millionären!
Nationalsozialistische und nichtnationalsozialistische Werktätige haben sich in
der Vergangenheit hart bekämpft. Nationalsozialistische Volksgenossen, ihr habt
geglaubt, daß der deutsche Sozialismus auf diesem Wege erkämpft werden würde.
Vier Jahre sind vergangen. Was wurde von euerm Programm erfüllt? Was ist die
Ursache, warum ach so viele Versprechungen nicht erfüllt wurden? Es ist die Macht
der alten Reaktionäre, der Herren Industrie-, Bank- und Börsenfürsten, der Herren
von A[h]r und Halm,435 die dem Volke nehmen, was des Volkes ist. Sie sind die Nutz-
nießer der Zersplitterung des Volkes, des gegenseitigen Kampfes nationalsozialisti-
scher und nichtnationalsozialistischer Werktätiger.
Reichen wir einander brüderlich die Hände zur Versöhnung!
Im Kampfe gegen die 3000 Millionäre wirst du, deutsches Volk, erfolgreich sein,
wenn du gegen diese kapitalistischen Despoten das Freiheitswort unseres großen
deutschen Dichters Friedrich Schiller aus dem „Tell“: „Wir wollen sein ein einig
Volk von Brüdern ...!“ wahr machst. Wenn du die wahre Kameradschaft herstellst.
Westpreußen. 1936 wurde Kube, der als äußerst korrupt galt, aller Staats- und Parteiämter enthoben,
es wurden mehrere Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Später SS-Verantwortlicher im KZ Dachau, in
Weißrussland u.a. für die Brutalitäten gegen die Zivilbevölkerung verantwortlich.
435 Ahr und Halm: Nach dem Motto „Für Ahr und Halm“ des 1893 gegründeten Bundes der Landwirte
als Vertretung der ostelbischen Junker.
Dok 395a: 15. Oktober 1936 1289
Volksgenossen!
Wir deutschen Kommunisten sind die Partei des Volkes. Wir haben keine anderen
Interessen als das schaffende deutsche Volk. Wir wollen nichts anderes als den Wohl-
stand unseres Volkes und den friedlichen Aufstieg unseres Landes. Wir lieben unsere
Heimat. Wir lieben unsere Jugend. Darum wollen wir nicht, daß sie, die Blüte unserer
Nation, als Kanonenfutter verblutet.
Wir wollen, daß unsere Heimat stark und glücklich durch den Frieden wird und
nicht unglücklich durch einen Krieg.
Das Volk soll selbst entscheiden, welches die besten Wege zur Erhaltung des Frie-
dens sind. Wir Kommunisten sagen euch allen: Ohne den Kampf gegen die Millionäre
kann es keinen gesicherten Frieden, keine soziale Gerechtigkeit und auch nicht einen
Schritt zum Sozialismus geben!
Daher führen wir unseren alten Kampf gegen die alten Verderber Deutschlands, der
in Wahrheit ein Kampf für Deutschland ist.
Für Deutschland - das heißt: alles für die Erhaltung des Friedens!
Für Deutschland ‑ das heißt: alles für den Aufstieg und Wohlstand des Volkes!
Für Deutschland ‑ das heißt: für Ordnung und Sauberkeit im Lande!
Für Deutschland ‑ das heißt: Volksrechte gegen die reaktionären Vorrechte der Mil-
lionäre!
Für Deutschland ‑ das heißt: Versöhnung des Volkes gegen die Macht der 3000 Mil-
lionäre, gegen die Herrschaft der oberen Zehntausend!
Für Frieden, Freiheit, Wohlstand!
Für eine glückliche Zukunft des deutschen Volkes!
Dok. 396
Bohumír Šmeral über seinen Komintern-Auftrag in Paris zur
Abwicklung der Münzenberg-Verlage und Organisationen
Paris, 17.12.1936
2. Ich bin von Euch am 10/12 abgereist, bin über Stockholm am /12437 angekommen.
Am nächsten Tage habe ich erste Besprechung mit Willi [Münzenberg] gehabt. Er
rechnet mit seiner und seiner Frau Abfahrt zu Euch. Er zeigte selbst, dass er versprach
schon Ende November die Reise anzutreten, dies sei aber wegen den schon laufen-
den Arbeiten nicht möglich gewesen. Er fühle sich müde, wolle noch einen kurzen
Urlaub, wahrscheinlich 10 Tage, hier verbringen (er hat schon ein Zimmer bei Meer
gemietet), er werde mir alles freundschaftlich übergeben.438 Bei dieser Besprechung
habe ich den Eindruck gehabt, dass er ungefähr Mitte Jänner fahren koennte. Bei der
Abreise wollte er Euch telegraphieren, dass seiner Meinung nach durch diese Reise
seine Arbeit im Westen für sehr lange Zeit unmöglich wird. Bei seiner letzten Abwe-
senheit bei Euch stand über ihn in der hiesigen Presse, dass er in M[oskau] verhaftet
ist. Solche Kampagne wird sich seiner Meinung nach wahrscheinlich wiederholen.
Ich habe die Meinung ausgesprochen, es sei nicht zweckmäßig dieses zu telegra-
phieren, er koenne das nach Ankunft bei Euch mündlich sagen. Nach kurzer Über-
legung hat Willi erklärt, dass er meinen Standpunkt für richtig hält. Eben heute hat
Willi begonnen mich über die hiesige Lage dadurch [zu] informieren, dass er mir [...]
ausführliche Informationen über die in allen von ihm geleiteten oder koordinierten
Organen angestellten Menschen gab. Dabei hat er schon die Resultate der letzten
Prüfung der hiesigen Kader berücksichtigt. Ich werde Euch wahrscheinlich bald über
einige Änderungen informieren, die hier inbezug von Verwendung von einzelnen Per-
sonen notwendig werden. [...]
Am 28.12.1936 verabschiedete das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Erklärung zum spa-
nischen Bürgerkrieg, wonach beide Seiten auf „unspanische Elemente“ in ihren Reihen verzichten
sollten. In erster Linie zielte die Erklärung auf die italienischen und deutschen Freiwilligen auf Seiten
Francos ab, richtete sich jedoch potentiell auch gegen die Internationalen Brigaden.439
Drei Tage später, am 31.12.1936, beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, Lebensmit-
tel an Katalonien zu verkaufen. Zusätzlich sollten aus den „von den Werktätigen der UdSSR gesam-
melten“ Spendengeldern Lebensmittel nach Spanien geliefert werden.440
Am 3.1.1937 verfügte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dass der Moskauer Stadtsow-
jet dem Volkskommissariat für Verteidigung ein Kinderheim für 80–100 Spanienkinder zu Verfügung
stellen sollte. Diese Anzahl von Kindern (und nicht mehr) sollte in Spanien ausgewählt werden.1
Dok. 397
Aus der Mitschrift des Gesprächs Stalins mit Lion Feuchtwanger
über die Sowjetunion und die laufenden Schauprozesse
Moskau, 8.1.1937
Übersetzung
FEUCHTWANGER: Über den Prozess gegen Sinowjew u.a. wurde ein Protokoll veröf-
fentlicht. Dieser Bericht baute vor allem auf den Geständnissen der Angeklagten auf.
Zweifellos gibt es doch auch andere Materialien zu diesem Prozess. Könnte man diese
nicht ebenfalls veröffentlichen?
4 Der Prozess gegen Pjatakov und andere fand vom 23. – 30.1.1937 statt. Siehe hierzu Dok. 400.
5 In der unkorrigierten Fassung des Gesprächsprotokolls wurde der parteilose Feuchtwanger an
dieser Stelle als „Genosse“ tituliert (Maksimenkov: Bol’šaja cenzura, S. 459). Am 22.1.1937 beschloss
das Politbüro, Feuchtwanger gemeinsam mit dem dänischen Schriftsteller Martin Andersen Nexö am
Prozess teilnehmen zu lassen (RGASPI, Moskau, 17/162/20, 166).
6 Gemeint ist das Stück „Kalkutta, 4. Mai“, das Feuchtwanger zusammen mit Bertolt Brecht
geschrieben hatte (Kalkutta, 4. Mai. Drei Akte Kolonialgeschichte, Berlin, Drei Masken Verlag, 1925).
1294 1933–1939
oder vor dem Urteil dem Volk die Wahrheit sagen. Wenigstens eine gute Tat vollbrin-
gen – dem Volk helfen, die Wahrheit zu erfahren. Diese Leute haben ihre alten Über-
zeugungen fallen gelassen. Sie haben neue Überzeugungen.7 Sie denken, dass man in
unserem Land den Sozialismus nicht aufbauen kann. Dass das eine verlorene Sache
sei.
Sie denken, dass ganz Europa vom Faschismus erfasst wird, und wir, die sowjeti-
schen Menschen, untergehen werden. Damit die Anhänger Trotzkis nicht gemeinsam
mit uns untergehen, müssen sie mit den stärksten unter den faschistischen Mächten
Vereinbarungen treffen, um ihre Kader und die Macht, die sie mit Einverständnis der
faschistischen Staaten erhalten, zu retten. Ich gebe das wieder, was Radek und Pja-
takov heute unumwunden sagen. Sie haben Deutschland und Japan als die stärks-
ten faschistischen Staaten eingeschätzt. Sie haben mit Gas8 in Berlin und mit dem
japanischen Vertreter in Berlin Gespräche geführt. Sie kamen zu dem Schluss, dass
die Macht, die sie als Ergebnis der Niederlage der UdSSR im Krieg übertragen bekom-
men, dem Kapitalismus Zugeständnisse machen muss: Deutschland das Territorium
der Ukraine oder einen Teil davon abzutreten, Japan – den Fernen Osten oder einen
Teil davon, dem deutschen Kapital einen breiten Zugang zum europäischen Teil der
UdSSR, dem japanischen – zum asiatischen Teil, Konzessionen zu erteilen; die Kol-
chosen aufzulösen und der „privaten Initiative“, wie sie es nennen, freie Bahn zu ver-
schaffen; den Umfang des Schutzes der Industrie durch den Staat einzuschränken.
Einen Teil davon an Konzessionäre abzugeben. Das sind die Bedingungen der Ver-
einbarung, das sagen sie aus. Sie „rechtfertigen“ ein solches Abrücken vom Sozialis-
mus damit, dass der Faschismus ohnehin siegen werde, und diese „Zugeständnisse“
sollen das Maximum dessen, was übrig bleibt, erhalten. Mit einer solchen „Konzep-
tion“ wollen sie ihre Tätigkeit rechtfertigen. Eine idiotische Konzeption. Ihre „Kon-
zeption“ ist von der Panik angesichts des Faschismus inspiriert.
Jetzt, da sie alles durchdacht haben, halten sie all dies für falsch und wollen vor
dem Urteil alles aussagen und aufdecken.
FEUCHTWANGER: Meinen Sie nicht, dass wenn sie derart idiotische Konzeptionen
vertreten, man sie eher in ein Irrenhaus stecken sollte, anstatt sie auf die Anklage-
bank zu setzen?
STALIN: Nein. Es gibt nicht wenige Leute, die sagen, dass der Faschismus alles
erobern werde. Gegen diese Leute muss man vorgehen. Immer schon waren sie Panik-
7 Sie haben neue Überzeugungen: So im Text. Das „Neue“ soll sich wohl nicht auf die „Läuterung“ der
Angeklagten vor dem Tod beziehen, sondern auf die neue im Verhältnis zu ihrer alten revolutionären
Überzeugung. Stalin sprach hier äußerst wirr, möglicherweise hatte er nicht damit gerechnet, dass
Feuchtwanger solche Fragen stellen würde. Letzterer schrieb in seinem Reisebericht über Stalins Art
zu sprechen: „Stalin spricht unverziert und weiß auch komplizierte Gedanken schlicht auszudrücken.
Manchmal spricht er allzu schlicht [...]. Er hat vielleicht keinen Witz, aber sicherlich hat er Humor; es
kommt vor, dass sein Humor gefährlich wird. Ab und zu lacht er ein leises, dumpfiges, verschlagenes
Lachen.“ (Feuchtwanger: Moskau 1937, S. 82–83).
8 „Gas“, so im Text. Gemeint ist wohl Rudolf Heß.
Dok. 397: Moskau, 8.1.1937 1295
macher. Sie hatten Angst, als wir im Oktober die Macht an uns genommen haben, zu
Zeiten von Brest[-Litovsk], während der Kollektivierung. Nun haben sie Angst vor dem
Faschismus.
Der Faschismus ist Quatsch, eine zeitweilige Erscheinung. Sie sind in Panik ver-
fallen und aus diesem Grund kreieren sie solche „Konzeptionen“. Sie sind für die Nie-
derlage der UdSSR im Krieg gegen Hitler und die Japaner. Eben aus diesem Grunde,
als Anhänger einer Niederlage der UdSSR, haben sie die Aufmerksamkeit der Hitler-
leute und der Japaner auf sich gezogen, denen sie Informationen über jede Explosion,
über jede Schädlingstat übermitteln.9
FEUCHTWANGER: Um zum vergangenen Prozess zurückzukommen, so will ich anfüh-
ren, dass einige darüber verwundert sind, dass nicht einer, zwei, drei, vier, sondern
alle Angeklagten ihre Schuld eingestanden haben.
STALIN: Wie geht so etwas konkret vonstatten? Sinowjew wird beschuldigt. Er strei-
tet ab. Man nimmt eine Gegenüberstellung mit seinen ertappten und überführten
Anhängern vor. Der erste, der zweite, der dritte, sie überführen ihn. Dann ist er letzt-
endlich gezwungen, zu gestehen, da er bei Gegenüberstellungen mit seinen Anhän-
gern überführt wurde.
FEUCHTWANGER: Ich bin selbst davon überzeugt, dass sie tatsächlich einen Staats-
streich ausführen wollten. Doch hier wird zu viel bewiesen. Wäre es nicht überzeu-
gender, wenn man weniger beweisen würde?
STALIN: Es handelt sich nicht um ganz gewöhnliche Verbrecher. Sie besitzen noch so
etwas wie ein Gewissen. Nehmen Sie Radek. Wir haben ihm geglaubt. Sinowjew und
Kamenev hatten ihn längst angeschwärzt. Aber wir haben ihn nicht angerührt. Wir
hatten keine weiteren Aussagen, und was Kamenev und Sinowjew angeht, konnte
man davon ausgehen, dass sie absichtlich Leute anschwärzen. Doch einige Zeit
später haben neue Leute, zwei Dutzend aus den unteren Rängen, die teils verhaftet
wurden, teils freiwillig ausgesagt haben, ein Bild vom Umfang der Schuld Radeks
gezeichnet. Er musste verhaftet werden. Zunächst hat er alles hartnäckig abgestritten,
hat einige Briefe geschrieben, in denen er behauptete, er sei rein. Vor einem Monat
hat er einen langen Brief geschrieben, in dem er erneut seine Unschuld beteuerte.
Doch dieser Brief hat anscheinend nicht einmal ihn selbst überzeugt, und einen Tag
später gestand er seine Verbrechen und sagte vieles aus, was wir selbst nicht wuss-
ten.10 Wenn man sie fragt, warum sie gestanden haben, so ist die allgemeine Antwort:
9 „Der Faschismus ist Quatsch“: Über Stalins frappierende Einschätzung des Faschismus lässt
sich Feuchtwanger in „Moskau 1937“ denkbar knapp aus. Dort heißt es lediglich: „Er sprach von
der Panik, in welche Leute, die nicht zu Ende denken könnten, die faschistische Gefahr versetze.“
(Feuchtwanger: Moskau 1937, S. 83).
10 Radeks Geständnis, in dem er zur Zufriedenheit der NKVD-Beamten auch den Part der Anklage,
den eines „fiktiven Komplotts“ zu Papier brachte und die Hauptanklagepunkte, die Zusammenarbeit
mit Deutschland und Japan selbst formulierte, war angesichts der Tatsache ein wichtiger Erfolg
für Stalin, daß von den 89 alten Bolschewiki, die in die drei Prozesse involviert wurden, nur sechs
im Prozess erschienen oder gestanden (Fayet: Karl Radek, S. 702ff., S. 705, zit. Nach Pierre Broué:
1296 1933–1939
„Wir haben genug, unser Glaube an die Richtigkeit unserer Sache ist dahin, man kann
nicht gegen das Volk – diesen Ozean – vorgehen. Wir wollen vor unserem Tode dazu
beitragen, die Wahrheit aufzudecken, damit wir keine verfluchten Judasse werden.“
Das sind keine gewöhnlichen Verbrecher, keine Diebe, sie haben noch so etwas
wie ein Gewissen. Schließlich hat Judas, nachdem er Verrat begangen hatte, sich
anschließend erhängt.
FEUCHTWANGER: Das mit Judas ist eine Legende.
STALIN: Das ist keine einfache Legende. In diese Legende hat das jüdische Volk seine
große Volksweisheit hineingelegt.11
Dok. 398
Brief von Johannes R. Becher und Sándor Barta an den Sekretär
des sowjetischen Schriftstellerverbands über das drohende
Ende der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der
Sowjetunion
[Moskau], 9.1.1937
Wie wir von Gen. Krebs [d.i. Michail Kreps] erfahren haben, schlägt der Verlag Aus-
ländischer Arbeiter14 vor, im laufenden Jahr die Verlegung literarischer Werke einzu-
Entretien avec Vratchev. In: Cahiers Léon Trotsky, no 46, 1991, S. 3–12, hier S. 7). Tatsächlich ging
es dabei um einen Handel Stalins mit Radek um sein Leben. Feuchtwanger hielt dazu in „Moskau
1937“ fest: „Schließlich sprach er von Radek, dem Schriftsteller, dem Populärsten unter den Männern
des zweiten Trotzkistenprozesses, mit Bitterkeit und bewegt. Erzählte von seinen freundschaftlichen
Beziehungen zu diesem Mann. [...] Er erzählte von einem langen Brief, den Radek ihm geschrieben
und in dem er seine Unschuld mit vielen schlechten Gründen beteuert habe.“ (Feuchtwanger: Moskau
1937, S. 83). Radek, der beste Deutschlandkenner der Komintern und der VKP(b) wurde so im Prozess
nicht zu Tode verurteilt, später jedoch im Lager erschlagen..
11 Feuchtwanger dazu: „[U]nd es war seltsam, den sonst so nüchternen, logischen Mann diese
simpel pathetischen Worte sprechen zu hören.“ (Feuchtwanger: Moskau 1937, S. 83).
12 Verband der Schriftsteller der UdSSR (russ.: Sojuz pisatelej SSSR). Einheitsverband sowjetischer
Literaten, gegründet 1934 durch Dekret des ZK der VKP(b) vom 23.4.1932. Erster Vorsitzender (bis 1936)
war Maksim Gorʼkij.
13 Valerij Kirpotin (1898–1997), sowjetischer Literaturwissenschaftler und -funktionär, Sekretär
Gor’kijs, Sekretär des Orgkomitees des sowjetischen Schriftstellerverbandes.
14 Verlag ausländischer Arbeiter: D.i. die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR
(VEGAAR), siehe Dok. 392.
Dok. 398: [Moskau], 9.1.1937 1297
schränken oder sogar ganz einzustellen /[was] beispielsweise bereits für die ungari-
sche Literatur erfolgt ist/.
Im Jahre 1936 hat der Verlag Ausländischer Arbeiter seinen Plan zur bellet-
ristischen Literatur zu 50% erfüllt. Eine weitere Einschränkung der Herausgabe
deu[tscher] bel[letristischer] Literatur, gar nicht zu reden von ihrer völligen Einstel-
lung, wäre ein großer Fehler, vor allem zum jetzigen Zeitpunkt, da die Publikations-
möglichkeiten für antifaschistische deutsche Schriftsteller immer geringer werden,
während die Anzahl ihrer Werke immer weiter anwächst, vor allem der Schriftsteller,
die in der UdSSR leben.
Eine solche Maßnahme wäre für die antifaschistischen deu[tschen] Schriftstel-
ler, vor allem für diejenigen, die in der UdSSR leben, auch im materiellen Sinne ein
schwerer Schlag.
Es ist wichtig zu unterstreichen, dass unter solchen Bedingungen die Heraus-
gabe übersetzter Literatur derart eingeschränkt sein würde, dass fast nicht daran
zu denken wäre, Werke sow[jetischer] Schriftsteller, für die übrigens großer Bedarf
besteht, auf Deutsch herauszugeben.
Dies alles soll ausgerechnet in einer Zeit durchgeführt werden, in der die Situa-
tion der deutschen Emigrantenverlage in den Grundzügen folgendermaßen aussieht:
In der Emigration existieren folgende Verlage:
[hdschr.:] Oprecht in der Schweiz (Zürich)15
Querido in Amsterdam16
A. Lange “ “17
15 Gemeint ist der Zürcher Verleger, Buchhändler und Schauspieldirektor Emil Oprecht (1895–1952),
der 1933 den Europa-Verlag gründete, in dem neben politischer Literatur zahlreiche Exilautoren wie
Ernst Bloch, Bernhard von Brentano, Else Lasker-Schüler, Hans Habe, Heinrich Mann, Golo Mann,
Ignazio Silone verlegt wurden (siehe: Peter Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht und die
deutsche politische Emigration, 1933–1945, Zürich, Europa-Verlag, 1970).
16 Der Querido-Verlag an der Amsterdamer Keizersgracht war die deutschsprachige Abteilung des
Verlags “Querido’s Uitgiverij N.V.“, der dem niederländischen Sozialdemokraten Emanuel Querido
(1871–1943, im Vernichtungslager Sobibór, Polen) gehörte. Querido bot Anfang 1933 dem ehemaligen
Mitdirektor des Kiepenheuer-Verlags, Fritz Landshoff, an, die deutschsprachige Abteilung zu leiten,
die sich zum Spezialverlag für exilierte deutsche Autoren entwickelte. Bis zur deutschen Besetzung
1940 erschienen 124 Titel. Mit Autoren wie Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Klaus,
Heinrich und Thomas Mann, Anna Seghers, Albert Einstein, Max Horkheimer gilt der Querido-Verlag
als einer der wichtigsten Verlage des deutschsprachigen Exils. Landshoff gelang 1943 die Flucht
nach New York und der dortige Wiederaufbau, während Emanuel Querido 1943 zusammen mit seiner
Frau im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurde. Der Verlag stellte erst 1950 seine Tätigkeit ein
(Dieter Schiller: Verlage. In: Claus-Dieter Krohn, Patrick von zur Mühlen, Paul Gerhard u.a. (Hrsg.):
Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998,
S. 1122–1144, hier S. 1124–1125).
17 A. Lange: Der Allert de Lange Verlag wurde 1933 als Abteilung für deutsche Exilliteratur des
niederländischen Verlages Uitgeverij Allert de Lange gegründet. Der konservative Verlagsleiter
Walter Landauer bekundete die Absicht, keine kommunistischen Autoren zu drucken, doch Hermann
Kesten als sein Lektor, der relativ freie Hand bei ihrer Auswahl hatte, brachte auch Autoren wie Bertolt
1298 1933–1939
Malik in Prag18
Verlag Carrefour /Münzenberg/ in Paris.19
Von diesen Verlagen verdienen besondere Beachtung im Hinblick auf belletristische
Literatur nur:
Die Verlage Querido, Lange, Malik und Oprecht /der Verlag Carrefour gibt vor
allem politische Publizistik heraus/.
In den letzten Jahren mussten diese Verlage große Schwierigkeiten überwinden.
Das Auftauchen des gut getarnten faschistischen Verlages S. Fischer20 /
Berman[n]/ in Wien stellt für die oben erwähnten Verlage eine ernsthafte Konkurrenz
Brecht, Egon Erwin Kisch und Theodor Plivier im Verlagsprogramm unter. Bis zu seiner Liquidierung
im Mai 1940 durch die deutschen Besatzer brachte der Verlag 91 Titel heraus. Walter Landauer starb
1944 im KZ Bergen-Belsen (Schiller: Verlage, S. 1125–1126).
18 Der Malik-Verlag wurde von den Brüdern Wieland und Helmut Herzfeld (Letzterer wurde als
John Heartfield bekannt) 1917 in Berlin gegründet. Er wurde zum Sprachrohr der dadaistischen
Bewegung und nahm zugleich eine dezidiert kommunistische Ausrichtung an (die Herzfeldes waren
Gründungsmitglieder der KPD). Publiziert wurden u.a. zahlreiche Zeitschriften sowie Kunstmappen
von George Grosz. Nach der Schließung des Verlags durch die Nationalsozialisten 1934 verlegte
Herzfelde den Firmensitz nach London, betrieb ihn jedoch von seinem Prager Exil aus (wo er zwar
Asylrecht hatte, jedoch offiziell keinen Verlag betreiben durfte). Mit der Emigration Herzfeldes nach
New York 1939 wurde die Tätigkeit eingestellt. Nachfolgeverlag wurde der 1944 gegründete Aurora
Verlag (Schiller: Verlage, S. 1123–1124).
19 Der 1929 von Pierre Gaspard Levy gegründete Verlag Éditions du Carrefour gehörte zu den weltweit
führenden Verlagen für die künstlerische Pariser Avantgarde und gab die Zeitschrift Bifur heraus. Er
war unabhängig, selbst wenn die Komintern 1933–1936 einen Teil seiner Aktivitäten finanzierte. Was
die politische Publizistik anging, wurde er unter der Leitung von Babette Gross und Münzenberg zum
wichtigsten deutschen Exilverlag. Dort wurden nicht nur das „Braunbuch über Reichstagsbrand und
Hitlerterror“ verlegt, sondern auch die Schriften des Welthilfskomitees für die Opfer des Faschismus,
des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus und des Internationalen Antifaschistischen Archivs, bis
ihm durch die Komintern die finanzielle Unterstützung entzogen wurde, was das Ende bedeutete (siehe
die Anweisungen für Šmeral, Dok. 435). Der Komintern und der KPD war es zwar gelungen, die Éditions
finanziell auszutrocknen, nicht jedoch, sie zu übernehmen. Münzenberg organisierte daraufhin den Se-
bastian Brant-Verlag (Dok. 447, siehe: Jörg Thunecke: Willi Münzenberg und die Éditions du Carrefour.
1933–1937. In: Daniel Azuélos (Hrsg.): Lion Feuchtwanger und die deutschsprachigen Emigranten in
Frankreich von 1933 bis 1941. Lion Feuchtwanger et les exilés de langue allemande en France de 1933 à
1941, Bern e.a., Peter Lang, 2006, S. 377–398; Marie-Cécile Bouju: Le Livre comme arme de propagande.
Le cas des relations entre le Service d’édition de l’Internationale communiste et la France (1919–1939).
In: Communisme, n° 97–98, 2009, S. 7–23 (http://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00415948); Catheri-
ne Lawton-Levy: Du colportage à l’édition. Bifur et les Éditions du Carrefour, Pierre Levy, un éditeur au
temps des avant-gardes, Genève, Metropolis, 2004).
20 Faschistischer Verlag S. Fischer: Der in Ungarn geborene jüdische Verlagsgründer Samuel Fischer
(1886) und Gottfried Bermann Fischer (Bermann ist der Familienname seiner Frau) versuchten auch
nach 1933 die Autoren des seinerzeit wichtigsten deutschen Literaturverlags zu schützen und ihn in
Deutschland aufrechtzuerhalten. 1936 ging Gottfried Bermann Fischer nach Wien und gründete dort
gerade für die in Deutschland verbotenen Autoren (u.a. Thomas Mann, Hofmannsthal, Zuckmayer,
Wassermann, Döblin) den „Bermann-Fischer Verlag“. S. Fischer publizierte weiter in Berlin unter der
Leitung von Peter Suhrkamp nicht verbotene Autoren (u.a. Hermann Hesse). Nach überstürzter Flucht
Dok. 398: [Moskau], 9.1.1937 1299
dar. Der Verlag Oprecht muss als halbtrotzkistisch angesehen werden.21 Die Verlage
Querido und A. Lange schränken ebenfalls ihre Produktion ein.
Im Übrigen hat der Querido-Verlag sich schon mehrmals mit einem Vorschlag der
Zusammenarbeit an den Verlag der Ausländischen Arbeiter gewandt, anscheinend
jedoch ohne sichtbare Resultate.
Wir schlagen vor:
1. Eine Abteilung deu[tscher] Literatur beim OGIZ22 zu schaffen mit 30 Büchern im
Ges[amt]-Umfang von 600–700 S.
2. Die Weiterführung und, wenn möglich, die Erweiterung der von dem Verl[ag] Aus-
ländischer Arbeiter herausgegebenen deutschen antifaschistischen Bibliothek. Wenn
dies nicht möglich sein sollte, soll sie der Zeitschrift Internat[ionale] Literatur über-
geben werden.23
3. Man könnte, nach dem Vorbild populärer ausländischer Verlage, bei der bei uns
erscheinenden Zeitschrift I[nternationale ]L[iteratur] einen Verlag organisieren, der den
Abonnenten als Beilage pro Jahr 12 Bücher im Umfang von 240 S. unter dem [Reihen-]
Titel „Weltliteratur“ versenden würde.
Dieser Verlag würde internationale Literatur in deutscher Sprache drucken, und zwar:
4–5 Werke deu[tscher] Schriftsteller
3–4 “ sowjetischer
4–5 “ von Schriftstellern a[nderer] Länder.
Die deutsche Sektion des Verbandes der Sowjetschriftsteller der UdSSR bittet sie ein-
dringlich darum, sich dieser überaus wichtigen Fragen anzunehmen und uns über
die Resultate zu informieren.24
1938 aus Österreich wurde in Stockholm der Bermann-Fischer Verlag als Exilverlag, der u.a. Stefan
Zweig und Franz Werfel herausbrachte, neu gegründet; doch auch dort gab es Repressalien, sodass
er in die USA ging (siehe: Gottfried Bermann Fischer: Bedroht. Bewahrt. Der Weg eines Verlegers,
Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 1979).
21 Bei Oprecht erschienen u.a. Ignazio Silone, Ernst Bloch, Arthur Koestler, Else Lasker-Schüler,
Heinrich Mann, Alfred Polgar.
22 OGIZ (Abk.): Russ. Objedinenie Gosudarstvennych knižno-žurnalʼnych Izdatelʼstv, die Dachvereinigung
der sowjetischen Buch- und Zeitschriftenverlage.
23 Es dürfte sich um die antifaschistische Reihe „VEGAAR-Bücherei“ handeln, mit Erzählungen u.a.
von Seghers, Ottwalt, Langhoff u.a. Bis Ende 1937 erschienen 11 Titel, Ottwalt als Leiter wurde Ende
1936 verhaftet und kam 1943 in einem Lager bei Archangelsk um.
24 Auch Dimitrov nahm sich des Erhalts der Verlagsgenossenschaft an. Am 14.04.1937 bat er Andreev
um Geldmittel (16 Mio. Rubel) für den Verlag, vor allem für den Bau einer eigenen Typographie.
(RGASPI, Moskau, 495/73/50, 4–4v). Gleichwohl geriet auch die VEGAAR in die Krise. Insgesamt
wurde die Unterstützung der KP-freundlichen Exilverlage und Autoren im Zuge des Terrors radikal
und auf transnationaler Ebene beschnitten. Der im Folgenden publizierte Bericht von Willi Bredel
zeigt die sich seit 1938 verschärfende und europaweite Existenzkrise der antifaschistischen Literatur
durch die Maßnahmen Moskaus (siehe Dok. 451b).
1300 1933–1939
Am 14.1.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, einer internationalen Kontrolle
der spanischen Gewässer zuzustimmen; dies würde es den Aufständischen unmöglich machen, Han-
delsschiffe aufzuhalten.25
Dok. 399
Mitteilung des Gebietssekretärs von Saratov an Stalin über eine
von Willy Leow geführte „konterrevolutionäre trotzkistische
Organisation“ von Russlanddeutschen und KPD-Emigranten
Saratov, 18.1.1937
A[bsolut] geheim
25 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 161. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 347–348.
26 Autor des Briefes war Aleksandr Krinickij (1894–1937, erschossen), Parteimitglied seit 1915,
Teilnehmer der Oktoberrevolution in Tver’ und Inhaber diverser Staats- und Parteiämter in den
1920er Jahren; im April 1934 zum Ersten Sekretär des VKP(b)-Gebietskomitees von Saratov ernannt.
Nur wenige Monate nach dem Abfassen des vorliegenden Briefes, am 20.7.1937, wurde Krinickij selbst
verhaftet und am 30.10.1937 erschossen.
27 Austausch: Zur Kampagne um den Austausch der Parteidokumente, die im März 1936 anlief und
den Rest des Jahres andauerte. Siehe die Annotation zu Dok. 374.
28 D.i. Engels, die nach Friedrich Engels benannte Hauptstadt der am 28.8.1941 aufgelösten ASSR der
Wolgadeutschen.
29 Laut Protokoll des ZK-Plenums der VKP(b) im Februar/März 1937 richtete Stalin die
bedeutungsschwangere Frage an Krinickij: „Warum gibt es bei Ihnen in den deutschen Bezirken
Dok. 399: Saratov, 18.1.1937 1301
keine deutschen Sekretäre? Gibt es keine Deutschen mehr? (Gelächter).“ (Vatlin: Kaderpolitik und
Säuberungen, S. 80).
30 ASSRNP (Abk.): Russ. Avtonomnaja Sovetskaja Socialističeskaja Respublika Nemcev Povolž’ja,
Autonome Sowjetische Sozialistische Republik der Wolgadeutschen. Die Mitte der dreißiger Jahre als
vorbildlich geltende Republik der Russlanddeutschen entrichtete unter den in der UdSSR vertretenen
Nationalitäten einen der höchsten Blutzölle. Ein von Stalin persönlich vorbereiteter Beschluss des
Politbüros vom 20.7.1937 sah zunächst die Verhaftung aller Reichsdeutschen in rüstungsrelevanten
Betrieben vor. Der Ausführungsbefehl Ežovs vom 25.7.1937 betraf darüber hinaus „reichsdeutsche
Staatsbürger und ehemalige politische Emigranten, die die sowjetische Staatsangehörigkeit
angenommen hatten“ und bildete die Grundlage der später „gegen die Russlanddeutschen gerichteten
Massenoperation“ (Viktor Krieger: „Russlanddeutsche“ Beschlüsse des Politbüros des ZK der VKP(b)
in den Jahren 1920–1943. Eine Auswahl. In: The International Newsletter of Communist Studies Online
15 (2009), H. 22, S. 149–158, hier: S. 154).
31 Dmitrij D. Pavlov (1903–1937, in der Sowjetunion erschossen) war von 1932 bis 1934 Zweiter Sekretär
des VKP(b)-Gebietskomitees der Republik der Wolgadeutschen. 1934 wurde er nach Tadschikistan
versetzt, wo er die Landwirtschaftsabteilung der Partei leitete. Am 9.8.1936 verhaftet, erschossen am
4.9.1937.
32 Petr Zaluckij (1887–1937, in der Sowjetunion erschossen), seit 1905 in der revolutionären Bewegung
und Bolschewik seit 1911, war aktives Mitglied der Sinowjew-Opposition, später der Vereinigten
Opposition. Erklärte 1928 seinen Austritt aus der Opposition und hatte zwischen 1928 und 1932 diverse
Wirtschaftsposten in Saratov inne. Ende 1936 verhaftet, am 10.10.1937 erschossen. Der Oppositionelle
Davidovič ließ sich nicht zweifelsfrei identifizieren.
33 In der Akte befindet sich eine umfangreiche Liste der in der Republik der Wolgadeutschen
verhafteten Personen (RGASPI, Moskau, 17/120/290, 66–102). Dort werden zahlreiche Wolgadeutsche
1302 1933–1939
Am 20.1.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, das Budget des EKKI für An-
gelegenheiten der (Lehr-?)Kurse auf Kosten des Reservefonds des Rats der Volkskommissare auf
1.572.080 Rubel aufzustocken.35
Dok. 400
Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion zur
Planung des Zweiten Moskauer Schauprozesses gegen Pjatakov,
Radek, Sokolʼnikov, Serebrjakov u.a.
Moskau, 22.1.1937
169.– Über den Prozess in der Angelegenheit Pjatakov, Radek, Sokolʼnikov, Serebrjakov
u.a.36
36 Prozess: Es handelt sich um den 2. Moskauer Schauprozess vom 23. bis zum 30.1.1937.
37 Stickling: Der deutsche Ingenieur Emil Stickling (1889–1950), der 1930 als Bergbauspezialist in die
Sowjetunion ging, sowie der Schacht-Abschnittsleiter Leonenko gehörten zu den Hauptangeklagten
im Schauprozess von Novosibirsk (19.-22.11.1936). Nach einer Explosion im der Grube von Kemerovo im
September 1936 wurde in dem Prozess einer „konterrevolutionären trotzkistischen Diversanten-Gruppe“
vorgeworfen, die massenhafte Tötung von Grubenarbeitern herbeigeführt zu haben. Alle Angeklagten
erhielten das Todesurteil, das jedoch für Stickling, Leonenko und einen weiteren Angeklagten in zehn
Jahre Haft umgewandelt wurde. Lev Sedov, der Sohn Trotzkis, schätzte den Prozess von Novosibirsk
folgendermaßen ein: „Seine eigene Bedeutung ist gering, sein Hauptzweck ist, den Boden für den
bevorstehenden großen Prozess gegen Pjatakow–Sokolnikow–Radek [...] vorzubereiten.“ (Leo
Sedow: Rotbuch über den Moskauer Prozeß 1936, Frankfurt am Main, ISP, 1988, S. 103). Offensichtlich
sollten die beiden Verurteilten aus dem Prozess von Novosibirsk im hier geplanten Schauprozess als
Zeugen aussagen, wurden jedoch zurückgezogen. Aus welchem Grund dies bei Leonenko geschah,
ist unklar, bei Stickling geschah es jedoch offensichtlich, um ihn als deutschen Staatsbürger zum
Austausch zu Verfügung zu haben. Im Herbst des Jahres fanden inoffizielle Verhandlungen über einen
Gefangenenaustausch in Moskau statt, wobei Thälmann gegen Stickling ausgetauscht werden sollte. Die
von deutscher Seite von Botschafter von der Schulenburg geführten Sondierungen scheiterten jedoch.
Stickling, dem zunächst eine Befreiung zugesichert wurde, blieb in Haft und wurde erst Ende 1939
den deutschen Behörden übergeben (Mensing: Von der Ruhr in den GULag, S. 335–337; Elena Genina:
Ponjat’ sud’bu rabotavšego v Kemerove v 30-e g. nemeckogo inženera Emilja Štiklinga nevozmožno bez
osmyslenija v kontekste epochi. In: Kuzneckij kraj, 10.1.2000).
1304 1933–1939
38 Typologisch und hierarchisch lassen sich vier Gruppen von Angeklagten festmachen (siehe:
Broué: Les procès de Moscou, S. 35f.). Hauptangeklagte waren mit Pjatakov, Radek, Sokol’nikov
und Serebrjakov alte Bolschewki bzw. fähigste Umsetzer revolutionärer Strategie, neben ihnen
drei der historisch kämpferischsten Bolschewki, Muralov, Anführer der Roten Garde, die 1917 den
Kreml eroberte, Boguslavskij, Anführer der Partisanen im Bürgerkrieg, und Drobnis. Dazu eine Reihe
jüngerer Parteimitglieder und qualifizierter Arbeiter, die Ingenieure wurden (Šestov, Lifšic) sowie als
letzte Gruppe weitgehend unbekannte Nicht-Kommunisten wie Arnolʼd.
39 Am 23.1.1937 bat Dimitrov in einem Brief an Ežov und Talʼ um Passierscheine für den Sitzungssaal
für diverse Funktionäre, u.a. für Walter Ulbricht und Willy Bredel (RGASPI, Moskau, 495/73/50, 3).
40 Zu Boris Tal’ (1898–1938) siehe Dok. 395.
Dok. 401: Moskau, 24.1.1937 1305
Am 22.1.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, eine Delegation der spanischen
republikanischen Regierung einzuladen. Die Visite sollte jedoch propagandistisch nicht untermauert
werden, da dies die Position der spanischen Regierung in den Augen der westlichen Mächte hätte
schwächen können. Soweit bekannt ist, fand der Besuch letztendlich nicht statt.42
Dok. 401
Materialien der Kaderabteilung des EKKI (Mertens, Müller) über
die Situation der deutschen Politemigration in der Sowjetunion
Moskau, 24.1.1937
ak 10 Ex. 31.1–37.
Abs[olut] geheim.
41 Siehe: Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR: Prozeßbericht über die Strafsache des
sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums. Verhandelt vor dem Militärkollegium des obersten
Gerichtshofes der UdSSR, vom 23.–30. Januar 1937, gegen J. L. Pjatakow [...]; vollständiger steno
graphischer Bericht, Moskau, Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR, 1937.
42 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 167. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 348.
43 Dort handschriftlicher Eintrag: 24 ------ N 10401 31–I-37 [deutsch]: An Kaderabteilung zurück.
44 Georg Brückmann (1903–ca. 1942, in der Sowjetunion, Ps. Albert Müller), war Kaderleiter („Kader-
Müller“) der deutschen Vertretung in Moskau und Referent der Kaderabteilung des EKKI und seit 1936
Mitglied der Kommission zur Überprüfung der Politemigranten.
45 Grete Wilde (Ps. Mertens) (1904–ca. 1943/44, in der Sowjetunion) war Referentin der Kaderabteilung
des EKKI. Brückmann und Grete Wilde wurden am 5.10.1937 verhaftet und kamen in den Folgejahren in
den sowjetischen Lagern um (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 152, 615).
1306 1933–1939
Streng vertraulich!
46 Der 1937 verhaftete und 1938 erschossene Gevork Alichanov (geb. 1897) war zwischen 1931 und
1937 Leiter der Kaderabteilung des EKKI.
47 Einige Emigranten wandten sich, vor allem nachdem ihre Angehörigen verhaftet wurden,
an die deutsche Botschaft (siehe Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 153ff u.a.). Ein frühes und
prominentestes Beispiel war Max Hoelz, der, nachdem er die Hoffnung aufgegeben hatte, von Partei
und Komintern nach Deutschland geschickt zu werden (siehe Dok. 312a), sich im März 1933 mit einem
Mitarbeiter der deutschen Botschaft traf. Dieser schickte ihn jedoch wieder weg, weil er nicht glaubte,
dass er tatsächlich Hoelz vor sich hatte (siehe Plener: Max Hoelz, S. 48, 360).
Dok. 401: Moskau, 24.1.1937 1307
48 Gemeint sind die Universitäten, Schulen und Kurse der Komintern und die Tagungen des EKKI.
49 Lore, Erwin und Viktor: Es handelt sich um Christina (Änne) Kerff (Ps. Lore), Franz Schubert (Ps.
Erwin) und Leo Roth (Ps. Viktor), die wichtigsten Verantwortlichen des militärpolitischen Apparats
der KPD (zur bürokratischen Ausschaltung dieser Funktionäre siehe Dok. 375a).
50 Leow: Siehe Dok. 399.
1308 1933–1939
51 Zur Internationalen Leninschule, der „Kaderschmiede“ der sich stalinisierenden Komintern siehe
Dok. 206 und 218.
52 M-Schule: D.i. die Militärpolitische Schule der KPD in Moskau. Siehe hierzu Dok. 300.
53 MLSch.: russ. Abk. Meždunarodnaja Leninskaja Škola, Internationale Leninschule.
54 Richter: Wahrscheinlich Hermann Schubert (Ps. Max Richter), (26.1.1886 Lengefeld, Erzgebirge
– 22.3.1938 in Moskau erschossen). Schweizer – Fritz Schulte (Ps. Fritz Schweitzer) (28.7.1890 Hüsten,
Westfalen – 1943 im Gulag). Durch Folterungen gelähmt, wurde er 1938 verhaftet und 1941 zu acht
Jahren Haft verurteilt). Golz – wahrscheinlich Friedrich Fränken (Ps. Fritz Golz), (15.1.1897 Herrath bei
Düsseldorf – 3.7.1976 Düsseldorf); Herz, d.i. Fritz Heckert, Ps. Herzog (gestorben am 7.4.1936 Moskau);
Blank – wahrscheinlich Wilhelm Hermann (Ps. Erich Blank), (17.11.1897 Wiebelskirchen – 17.2.1945
Butzbach); Börner – wahrscheinlich Otto Wahls (Ps. Otto Börner, 4.1.1907 Hamburg – 2.4.1990, Ciudad
de Mexico) (zu den Angaben siehe: Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank;
Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten).
55 Einer Aussage Smoljanskijs vom 15.9.1937 zufolge gehörten 1933–35 „zur Gruppe Richter (Schubert)“
Schulte, Florin, Most [d.i. Heinrich Meyer], Birkenhauer und Keller [d.i. Johann Täubl] (Buckmiller/
Meschkat: Biographisches Handbuch, Eintrag „Schulte, Fritz“).
Dok. 401: Moskau, 24.1.1937 1309
Zu d) – Zu Elementen, die irgendwie verdächtig sind oder die in der Emigration in den
kapitalistischen Ländern zersetzend wirkten.
Wie schon erwähnt, hatte das ZK der KPD fast gar keine Kontrolle über die Ent-
sendung der Politemigranten, die in die SU geschickt wurden. Es konnte festgestellt
werden, dass selbst die Einreise der Politemigranten, die Ende 1936 in die SU kamen,
nicht von der Abwehrabteilung überprüft und vom ZK der KPD bestätigt wurden. Die
Rote Hilfe-Organisationen oder die deutschen Emigrantenleitungen in den kapitalis-
tischen Emigrationsländern sandten Emigranten in die SU. Einige Beispiele, welche
Elemente man durch die Emigration in die SU schickte:
Aus Kopenhagen:
Ende 1934 organisierte eine Reihe von Politemigranten in Kopenhagen eine
Bewegung gegen die dortige Emigrationsleitung. So wurde versucht, Genossen der
Emigrationsleitung zu erschiessen und das Archiv des dortigen Abwehrapparates
zu rauben.58 Einige dieser Elemente wurden aus der Partei ausgeschlossen. Die Emi-
4. Ueber die Hilfe der KPD bei der Entlarvung von Elementen, die sich als Politemigran-
ten in die SU eingeschmuggelt haben.
Es gibt Fälle, in denen die KPD geholfen hat, Elemente, die sich als Politemigran-
ten in die SU eingeschmuggelt haben, zu entlarven. Zum Beispiel:
a) Valentin Olberg – ein Angeklagter im trotzkistisch-sinowjewistischen Prozess, der
erschossen wurde.64
b) Budich, Willi – der mit Hilfe durch Verbindungen zu Göbbels aus der Haft entlassen
wurde.65
c) Die Verbindung des Trotzkisten und Antikomintern-Agenten Laslo in die SU.66
Aber die Hilfe könnte grösser sein. Zum Beispiel 1) zur Angelegenheit Werner
Hirsch,67 2) Herzog-Burg-König. Es wurde hier erst festgestellt, dass ein früherer ver-
antwortlicher Apparatarbeiter sich bei der Spionage-Abteilung der Gestapo bereit
erklärte, für sie zu arbeiten,68 – 3) Ottwald – Schriftsteller, der schon lange in Ver-
64 Valentin Olberg war für den sowjetischen Geheimdienst tätig, um oppositionelle kommunistische
Gruppen auszuspionieren (Siehe Dok. 386).
65 Willi Budich (16.4.1890 Cottbus – 1938 Sowjetunion, erschossen). Seit 1921 in der KPD, galt Budich
zurecht als einer der mutigsten und unerschrockensten Kommunisten. Nach Teilnahme am 1. Weltkrieg,
dann am russischen Bürgerkrieg auf Seiten der Bolschewki, einem MP-Kurs in der Sowjetunion,
mehrfachen Verletzungen nach Demonstrationen und Auseinandersetzungen in Deutschland und
Misshandlungen durch die SA in Zuchthaus und Konzentrationslager ging er in die Sowjetunion. Dort
wurde der Geh- und Sehbehinderte, der einen Arm verloren hatte, am 19.6.1936 vom NKVD unter der
Beschuldigung der Zusammenarbeit mit der Gestapo verhaftet und erschossen (siehe: Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 155f.).
66 Agent Laslo: D.i. Richard Lengyel (Ps. Raoul László, literarisches Ps. A. Rudolf), (5.9.1902 Reschitza,
Ungarn – 1940, in Frankreich tot aufgefunden). Ungarischer Journalist, Mitglied der KP Frankreichs 1931,
Emigration nach Moskau, dort Angestellter in der Roten Gewerkschafts-Internationale und sowjetischen
Institutionen. Konnte sich 1935 in die Schweiz absetzen und wirkte publizistisch mit an der Aufdeckung
der Hintergründe der Moskauer Prozesse (u.a. A. Rudolf: Abschied von Sowjet-Russland. Tatsachenroman,
Zürich, 1936). Nachdem Lengyels Schriften in André Gides Abrechnung mit der Sowjetunion zitiert
wurden, entfaltete die Komintern im Westen eine massive Verleumdungskampagne und brandmarkte ihn
als „Gestapo-Spitzel“, was auch auch die Distanzierung der Sozialdemokratie ihm gegenüber bewirkte.
Bereits vorher, Ende 1936, hatte die Exil-KPD einen Einbruch in Lengyels Prager Wohnung verübt; die
entwendeten Materialien wurden entstellt zitiert, um Lengyel als „Faschisten“ darzustellen. 1940 wurde
er in Südfrankreich tot aufgefunden. (Bayerlein: Résistants contre Staline, S. 44–46 u.a.; Peter Huber,
Hans Schafranek: Stalinistische Provokationen gegen Kritiker der Moskauer Prozesse. In: W. Neugebauer
(Hrsg.): Von der Utopie zum Terror. Stalinismus-Analysen, Wien, 1994, S. 97–134).
67 Der ehemalige Sekretär Ernst Thälmanns, Werner Hirsch (siehe Dok. 384) wurde am 4.11.1936 vom
NKVD verhaftet und einer terroristischen Verschwörung u.a. mit Erich Wollenberg angeklagt. Bei den
Verhören wie auch bei der Gerichtsverhandlung bestritt er jede Schuld, wurde jedoch zu zehn Jahren
Haft verurteilt und starb am 10.6.1941 im Moskauer Butyrka-Gefängnis an den Haftbedingungen
(Müller: Der Fall Werner Hirsch; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 379).
68 Herzog-Burg-König: Es handelt sich um Gustav König (1.6.1897 Berlin-Schöneberg-Herbst –
29.5.1937 in der Sowjetunion, erschossen). KPD-Mitglied seit 1920, maßgeblich an den Vorbereitungen
des Deutschen Oktober 1923 in Berlin beteiligt, AM-Tätigkeit im KPD- und Kominternapparat, nach
Inhaftierung in Deutschland 1934 Emigration in die Sowjetunion, dort zum zweiten Mal am 1.4.1936
verhaftet, am 29.5.1937 wegen seiner früheren Verbindungen zu Ruth Fischer, Maslow und Emelʼ
1312 1933–1939
dacht stand, für die deutsche Reichswehr Spionagearbeit zu leisten. Einen [sic]
Bericht über einen derartigen Verdacht lag schon seit vielen Monaten in Prag. Erst im
Januar ds.Js. erhielten wir ihn, Ottwald wurde im November 1936 verhaftet,69 4) dass
Schütz-Eberhard bei der Gestapo in Frankfurt Aussagen gemacht hat und sich ferner
bereit erklärte, für sie zu arbeiten. Er wurde in der Emigration aufgenommen und zur
Arbeit in die Handelsvertretung der SU in Paris vermittelt; 5) Schimanski, Fritz – erst
hier wurde festgestellt, dass er in Prag mit den Trotzkisten Ruth Fischer und Grylewitz
in Verbindung stand;70 6) dass Weyand, Peter – ein Mitglied der Pariser Emigrations-
leitung ohne Einverständnis mit der Partei in Paris mit Ruth Fischer – Eppstein71 –
Maslow, drei führende deutsche Trotzkisten, enge Verbindungen hatte.72
(Ps.), d.i. Moisej Lurʼe, zum Tode verurteilt und erschossen. Seine Frau Alma und Tochter Gerda sind
seitdem verschollen (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 472).
69 Ernst Ottwalt (Ps.), d.i. Ernst Gottwaldt Nicolas (1901–23.8.1943). Journalist, Schriftsteller. Als
Angehöriger der deutschen Schriftstellergruppe erfolgte aufgrund einer Namensverwechslung u.a. am
4.11.1936 die Ablehnung seiner Überführung in die VKP(b), im November 1936 zusammen mit seiner Frau
Traute Nicolas verhaftet. 28.1.1937 Ausschluss aus der KPD, 1939 Verurteilungen zu fünf Jahren Lagerhaft
(Müller: Die Säuberung, S. 68f., hier auf S. 552–556 das Dokument der Überführungskommission;
Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Nicolas, Ernst“).
70 Fritz Schimanski (1.7.1889 Tilsit – 22.11.1938 Sowjetunion, erschossen). Schlosser, 1911 SPD, 1921 KPD.
Als Anhänger Fischer-Maslows 1925 Kandidat des ZK; Mitbegründer des Leninbundes; 1934 Emigration
in die UdSSR, 1936 verhaftet. Nach Verurteilung wegen früherer Zugehörigkeit zum Leninbund am
22.11.1938 erschossen (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 784f.)
71 Eppstein, d.i. Eugen Eppstein (25.6.1878 Simmern, Hunsrück – März 1943, im Konzentrationslager
Lublin-Majdanek). Kaufmännischer Angestellter. 1914 SPD, dann Spartakusgruppe, Reichstags
abgeordneter; 1928 Austritt aus der KPD, Mitbegründer des Leninbunds, den er zusammen mit Ruth
Fischer und Arkadi Maslow wieder verließ, Emigration nach Frankreich, dort für die Linke Opposition
tätig, 1940 von der Gestapo verhaftet, dann aus dem Lager Drancy nach Majdanek geschafft (Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 229f.).
72 Es handelt sich um Peter Weyand (9.4.1896 Saarlouis – nach März 1941 in der Sowjetunion,
verschollen). Monteur, Angehöriger der Roten Marine in Bremen, 1913 SPD, 1919 KPD- Angehöriger
der Fischer-Maslow-Gruppe, seit 1925, so seine Aussage aus dem Jahr 1936, zu ihrer Ausspionierung
im Auftrag des ZK der KPD. Später Mitglied der Emigrationsleitung der KPD in Paris. Verhaftet am
9.9.1937, verurteilt zu fünfjähriger Lagerhaft am 15.3.1941, verschollen (Müller: Herbert Wehner, S. 281).
Dok. 401: Moskau, 24.1.1937 1313
Zu a) Trotzkisten:
Es gelang den Trotzkisten, von verschiedenen Ländern aus ihre Agenten einzu-
schmuggeln und Verbindungen zu organisieren, u.a.:
Berlin – David, Fritz [d.i. Ilʼja-David Krugljanskij], Lurʼe ([Ps.] Emelʼ); Stauer ([d.i.]
Berman-Jurin)
Paris – Weyand, Peter
Prag – Schimanski, Erdmann,73 Valentin Olberg.
Kopenhagen – Bergmann, Georg;74 Brand, Otto75
Inwieweit es den trotzkistischen Agenten gelungen ist, sich in die Parteiarbeit einzu-
schmuggeln, zeigt das Beispiel David und Bergmann, Hermann – der bis Anfang 1936
Leiter der Org[anisations]-Abt[ei]l[un]g der MOPR und zuletzt Angestellter im Volks-
kommissariat für Gesundheitswesen war.76
73 Erdmann: D.i. Joseph Erdmann (4.12.1904 Labischin, Posen – 7.8.1942?). Heizer und Schlosser,
1920 KPD-Mitglied; in Neukölln wegen Tätigkeit für die Linke Opposition im Mai 1927 aus der KPD
ausgeschlossen. Nach Freilassung aus KZ 1935 im illegalen Widerstand für die KPD, 1936 in die
UdSSR, dort Anfang November im Hotel Balčug verhaftet und wegen Verdachts auf Spionage für
Deutschland zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Vermutlich im Lager gestorben bzw. umgebracht
(Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 230f.).
74 Bergmann, Georg (Ps.), d.i. Antony/Anton Szana (28.12.1906 Temeswar, Österreich-Ungarn – 1945
Sowjetunion, im Lager umgekommen). Transportarbeiter; 1922 KJVD, 1927 KPD, 1933 ausgewiesen aus
Deutschland; nach Dänemark mit „speziellem Parteiauftrag“; 1935/1936 KUNMZ; bis Oktober 1936 als
Sekretär des deutschen Verlages der VEGAAR tätig; 12.10.1936 Verhaftung, von der Kaderabteilung als
aus Dänemark eingeschleuster trotzkistischer Agent bezeichnet; 4.8.1937 Verurteilung zu fünf Jahren
Lagerhaft (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Szana, Anton/
Antony“; Müller: Herbert Wehner, S. 279).
75 Otto Brand, d.i Otto Knobel. Siehe Dok. 391.
76 Zu Fritz David siehe Dok. 385. Hermann Bergmann (geb 1892), KPD-Mitglied seit 1920, arbeitete im
Nachrichtenapparat der Partei. Ab Februar 1936 in Moskau, dort tätig im Kommissariat für Gesund
heitswesen, im November verhaftet (Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank).
77 D.i. Abraham Brustawitzki, geb. 1909, wahrscheinlich 1936/1937 in der Sowjetunion getötet.
Polnischer Schriftsteller jüdischer Herkunft; 1931 KPD-Mitglied, 1932 in die UdSSR, dort in der
deutschen Länderkommission der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller
(MORP) beschäftigt; Feuilleton-Redakteur der Roten Zeitung. 1936 verhaftet. Kurz vor seiner eigenen
Verhaftung äußerte Ottwald in der zitierten Sitzung der deutschen Schriftsteller in Moskau: „Ich
lernte Brustawitzki hier in Moskau kennen und roch, dass er stank, ein Hund, der sich überall
hineindrängt.“ (Müller: Die Säuberung, S. 102ff., 204).
1314 1933–1939
Des weiteren gelang es, Elemente in der SU zu verhaften, die als Politemigranten
hierher kamen und mit der Deutschen Botschaft in Verbindung standen:
1) Holz, Adolf80 3) Schröder, Marga81
2) Speckmann82 4) Petratz83
78 Carola Neher (2.12.1905 München – 26.6.1942 Lager Solʼ-Ilezk, Gebiet Orenburg, Sowjetunion).
Schauspielerin, u.a. Berlin und Wien; Zusammenarbeit mit Brecht, berühmt für Ihre Rolle in der
„Dreigroschenoper“ (siehe: http://www.youtube.com/watch?v=jmJIIYRcMSY). 1933 Emigration
über Prag nach Moskau, von NS-Deutschland 1934 ausgebürgert. In Moskau im von Wangenheim
geleiteten „Deutschen Theater Kolonne Links“. Juli/August 1936 Verhaftung nach Denunziation durch
Wangenheim über ihr freundschaftliches Verhältnis zu Erich Wollenberg und Zenzl Mühsam sowie ihre
angeblich antisowjetische und trotzkistische Haltung. 16.7.1937 Verurteilung zu zehn Jahren Haft, dann
u.a. in der Lubjanka, Butyrka und den Lagern Kasan und Solʼ-Ilezk (Müller: Die Säuberung, S. 276f., 561;
zu Materialien aus ihrer Strafsache siehe Koljazin/Gončarov: „Vernite mne svobodu!“, S. 22–30.).
79 Georg Schmitt (geb. 1899), Schutzpolizist in Essen, „wg. Aufwiegelung zum Ungehorsam“ aus dem
Polizeidienst entlassen. 1920–1923 SPD-, seit 1923 KPD-Mitglied. Schmitt nutzte seine Polizeikenntnisse
als Funktionär im AM-Apparat, wurde 1932 aus Sicherheitsgründen in die Sowjetunion verlegt. In
Moskau Mitarbeiter der MOPR und dort für Politemigranten zuständig. 1936 verhaftet, blieb seitdem
verschollen. Anklage oer Urteil sind nicht bekannt (Mensing: Von der Ruhr in den GULag, S. 313–315;
Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank; siehe auch Dok. 399).
80 Adolf Holz, geb. 1896, KPD 1920, Drucker, Schriftsetzer. Für Die Rote Fahne tätig. 1932 als
Schriftsetzer in die Sowjetunion, dort Arbeit u.a. in Char’kov und Kiev, später Druckereidirektor,
Thälmann Rayon. Nach Ausreiseantrag im Mai 1936 verhaftet. Dezember 1937 Verurteilung in Stalino
zu zehn Jahren Lager, Mai 1940 Auslieferung an Deutschland, 1953 SED-Ausschluss (Mensing: NKVD
und Gestapo; In den Fängen des NKWD, S. 101.
81 Marga Schröder 28.1.1937 Parteiausschluss (In den Fängen des NKWD, S. 210).
82 Speckmann (Ps.), d.i. Karl Wernicke(?), geb. 1906, 28.1.1937 Parteiausschluss.
83 Petratz: D.i. Richard Petras (4.11.1905 Berlin – nach 29.4.1937 Sowjetunion, verschollen),
Vorzeichner. Flucht vor der Gestapo in die UdSSR, am 29.4.1937 wegen „Spionage, antisowjetischer
Propaganda und organisierter antisowjetischer Betätigung“ verhaftet (Weber: Weiße Flecken, S. 88f.).
Dok. 402: Moskau, 25.1.1937 1315
um sich, die dort ebenfalls verhaftet wurden. Sie führten dort antisowjetische Reden,
veranstalteten Saufabende.
Dok. 402
Materialen des zuständigen Komintern-Sekretärs Togliatti zur
deutschen Frage und zur neuen Versöhnungspolitik der KPD
Moskau, 25.1.1937
Werter Genosse:
Im Auftrage des Genossen Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti]86 stellen wir Ihnen beiliegend
folgende Materialien zur deutschen Frage zu:
Enthält:
- N. Varga: Zur Wirtschaftslage Deutschlands. Seiten 1–6
- Materialien zur Arbeit des PB der KPD. 7–11
- Stand und Entwicklung der Einheitsfront und der Volksfront. 12–29
- Beschlüsse und Massnahmen der KPD insbesondere auf Spanien. 30–40
- Zur katholischen Frage in Deutschland. 41–44
- Zur Propaganda der KPD. 45–47
- Unsere gewerkschaftlichen Aufgaben im Betrieb und D.A.F. 58–64
Die Teilnahme war in der Regel bedingt durch die Anwesenheit von PB-Mitglie-
dern an dem jeweiligen konkreten Tagungsort. In den Sitzungen standen folgende
Hauptfragen zur Debatte:88
[...] 3.) Für die Ausarbeitung eines Arbeitsplanes „über die Aufgaben in den wich-
tigsten Bezirken“ (23.4.36) wurden zwei Genossen verantwortlich gemacht. Ende des
vergangenen Jahres lag erstmalig der Arbeitsplan der operativen Leitung hier vor.
Konkretisiert wird er durch besondere Richtlinien für die Abschnitte Westen – Berlin
– Saargebiet und Baden-Pfalz.
88 Die Geschichte der operativen Auslandsleitung, dann Auslandssekretariat der KPD in Paris
(vorher Prag) wurde für die betreffende Periode noch nicht aufgearbeitet (zentrale Bestände dazu
sind im Bundesarchiv überliefert, siehe: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/273 ff., zur Wirkungsgeschichte
auch RY 1/I 2/3/287).
89 Nürnberg: Gemeint ist der „Reichsparteitag der Ehre“, abgehalten in Nürnberg vom 8. bis
14.9.1936. Neben der Verkündung des Zweiten Vierjahresplans zeichnete sich der bis dahin größte
NSDAP-Parteitag v.a. durch Angriffe auf den „Bolschewismus“ aus, wobei sich besonders Rosenberg
und Goebbels mit antisemitischen und antikommunistischen Statements hervortaten. Zum Kongress
wurde eine Propagandaausstellung eröffnet, die u.a. (retuschierte) Portraits von Sowjetführern,
erbeutete Waffen der Bayerischen Räterepublik und gezielt als minderwertig präsentierte sowjetische
Industrieprodukte beinhaltete (Hamilton T. Burden: Die programmierte Nation. Die Nürnberger
Reichsparteitage, Gütersloh, Bertelsmann, 1967, S. 175–198).
90 Die Linie der Versöhnungspolitik und die Hinwendung auf die (NS-)Massenorganisationen
sollte als eine aus dem Nürnberger Parteitag sich ergebende Konsequenz gemeinsam mit der
Volksfrontpolitik implementiert werden, gleichzeitig verhielt sich die sowjetische Führung um Stalin
und Molotov gegenüber NS-Deutschland eher vorsichtig und wiegelte Kritik am NS-Parteitag ab.
91 Das Versöhnungsnarrativ kulminierte im Aufruf „Für die Versöhnung des deutschen Volkes“ von
Ulbricht im Oktober 1936 (Siehe Dok. 402, vgl. den Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 332ff).
Dok. 402: Moskau, 25.1.1937 1317
Berlin aus ergriffen werden und in diesem Zusammenhang ein Schritt beim P[artei]
V[orstand| erfolgen und öffentlich zur ablehnenden Stellung des PV dann Stellung
genommen werden.“
Durchaus in derselben Linie der vom PB bereits seit Mitte Juli praktizierten Politik
liegt auch der Beschluss (21.9.) „die Partei soll die Erklärung der Arbeitsfrontmitglie-
der im Bergbau zur wirtschaftlichen Lage und den Forderungen der Bergarbeiter aktiv
unterstützen und die Vorbereitung einer Beratung der gewerkschaftlichen Vertreter
im Westen fördern.“ [...]
Am 30.10. beschloss das PB einen Brief an Thorez im Zusammenhang mit den
faschistischen Drohungen und seinem Auftreten am 10.10. [1936].92 Am 4.11. wurde
ein Bericht des Vertreters der KP Italiens über die Beschlüsse ihres ZK entgegenge-
nommen und eine „Diskussion über die volkssozialistischen Auffassungen“ geführt.
Am 10.11. wird „ein gemeinsamer Aufruf von KPD und KPI beschlossen“.93 [...]
Die Sicherung und Verbesserung der Konspiration im Apparat der Führung
beschäftigte am 23.7. das PB.
„Zur Verbesserung der konspirativen Tätigkeit der Partei (wurde [am] 30.7.
beschlossen) [...] die Dezentralisation auf dem Wege der Umstellung der Organisa-
tion auf Bildung von Gruppen in den Massenorganisationen sowie die Abwehr der
Gestapo-Methoden vorzunehmen. Und im Sinne eines „besseren Schutzes der Kader
und Sicherung der Organisation (die) Konzentration der Arbeit auf die Grossbetriebe
und Massenorganisationen durchzuführen.“
In Verbindung mit der Kampagne gegen den Trotzkismus beschloss das PB (16.10.)
eine „Ueberprüfung der Parteikader im Lande und in der Emigration“, die Kontrolle
dieser im September beschlossenen Massnahme durch besondere Instrukteure, eine
„Prüfung der Umgebung des PB und der Mitglieder des PB, sowie die Wiederbildung
einer Kader-Kommission,“ die letztere Arbeit durchführen soll.94
Nach einem Bericht (3.11.) über Kaderschutz und Abwehr soll „der Kaderschutz
den veränderten Bedingungen des antifaschistischen Kampfes angepasst“ und „die
Hauptorientierung gerichtet sein auf die Erziehung der Antifaschisten im Betrieb und
92 In einer Rede in der Mutualité wandte sich Thorez nicht nur erstmals scharf gegen die
Nichteinmischungspolitik der französischen Volksfrontregierung in Spanien, sondern auch gegen
einen Protest der Regierung Hitler beim französischen Außenministerium gegen seine Straßburger
Rede. Bei dieser Gelegenheit habe er nur an Hitlers Ausspruch erinnert: „Die Demokratie besteht
nur aus Lüge, ich hasse die Demokratie.“ (siehe: Die politischen Folgen der Thorez-Rede. In: Pariser
Tageszeitung, 3.11.1936).
93 Gemeinsamer Aufruf KPD-KP Italiens: Im November 1936 erschien ein gemeinsamer Aufruf der
kommunistischen Parteien Deutschlands und Italiens unter dem Titel: „Gegen die Kriegspolitik des
Faschismus. - Aktive Solidarität für den Freiheitskampf des spanischen Volkes.“ Im Folgejahr wurde
unter dem Titel „Nicht der Faschismus, sondern die Freiheit wird in Europa siegen!“ (30.9.1937) eine
Erklärung der Zentralkomitees der KP Deutschlands und der KP Italiens zur Zusammenkunft Hitler-
Mussolini veröffentlicht.
94 Damit setzte die KPD die Beschlusslage der Komintern um, siehe auch Dok. 376.
1318 1933–1939
95 DVZ (Abk.): Deutsche Volkszeitung. Das Wochenblatt der Deutschen/ La voix du peuple allemand,
Paris u.a. 1936–1939, als Nachfolgeorgan des in Prag erscheinenden Gegenangriff.
96 Unmittelbar nach seinem Putsch im Juli 1936 wandte sich Franco mit einem Hilfsgesuch an NS-
Deutschland. Zunächst unterstützte Hitler ihn mit Transportflugzeugen. Im August 1936 erfolgte dann
der Beschluss, mit Lufttruppen aktiv an Francos Seite im spanischen Bürgerkrieg zu intervenieren. Im
Herbst erfolgte die Entsendung der berüchtigten, aus 92 Flugzeugen bestehenden „Legion Condor“
nach Spanien, die bis zur Niederlage der Republik für Franco im Einsatz war (siehe: Robert H.
Whealey: Hitler and Spain. The Nazi Role in the Spanish Civil War 1936–1939, Lexington, University of
Kentucky Press, 1989). Wie die Westmächte hatte die Sowjetunion noch bis in den Herbst hinein eine
Nichteinmischungspolitik verfolgt. Am 29.9.1936 beschloss das Politbüro dann die Bereitstellung von
Waffen und Material, wenig später auch die Entsendung von Freiwilligen durch die Komintern (siehe
die Politbüro-Beschlüsse vom 29.9.1936, 11.10.1936 und folgende).
97 Aufruf zur Eingliederung deutscher Antifaschisten in den Kampf: Möglicherweise der Aufruf
„Internationale aktive Hilfe dem kämpfenden spanischen Volke. Das ZK der KPD an das spanische
Volk, an die Soldaten und Milizen!“.
98 Leopold Schwarzschild hatte als Herausgeber des seinerzeit bedeutendsten Zeitschrift des
deutschen Exils, des Neuen Tagebuchs, dezidiert gegen die Moskauer Prozesse Stellung bezogen
und daraus die Zerstörung der Volksfront von innen heraus abgeleitet. Siehe: Dieter Schiller: Die
Dok. 402: Moskau, 25.1.1937 1319
befasste sich als einzigen Tagesordnungspunkt mit dem „Bericht der Kaderkommis-
sion über trotzkistische Zusammenarbeit mit Antikomintern und über die Organisie-
rung der Versöhnler.“
b) Unser Verhältnis zum Prager Parteivorstand, seit der letzten Besprechung im Früh-
jahr 1936.
Am 7. März liess Hitler das Rheinland besetzen. Für den 29.3. setzte er Neuwahlen an.
Das ZK der Partei gab einen Aufruf heraus mit der zentralen Losung: „Für Frieden
und Freiheit“, während es im Text heisst:
„Die Herstellung der Einheitsfront der Arbeiterklasse, die Bildung der Volksfront
aller Hitlergegner schafft die Waffen zum Sturz Hitlers [...]
Wir reichen allen deutschen Volksgenossen, die gegen Hitler sind, die Hand.“ [...]
Etwa im April brachte die „Rote Fahne“ erstmalig eine Losung für ein demokra-
tisches Deutschland und den Vorschlag eines Nichtangriffspaktes, gerichtet an den
Prager Vorstand. Sie schrieb:
„Von entscheidender Bedeutung ist die Zusammenarbeit der beiden Arbeiterpar-
teien KPD und SPD. Das Zentralorgan der KPD hat sich erneut an den Parteivorstand
der SPD und an die sozialdemokratischen Gruppen gewandt, mit dem Vorschlag
gemeinsamer Beratungen aktueller Fragen, Zusammengehen von Fall zu Fall und
Vereinbarung eines Nichtangriffspaktes.
Wir sind bereit, mit allen antihitlerischen Kräften für ein demokratisches
Deutschland zu kämpfen.“ [...]101
Am 20. Juli 1936 übermittelte der Prager Vorstand gez. von Vogel,102 ein Schreiben
an das ZK der Partei, dem auszugsweise nachstehendes entnommen ist:
„Wir erhielten am Freitag durch Boten Abschrift eines Flugblattes, das zwischen
der Leitung der KP, SPD, den Gewerkschaften und Vertretern der Sportler in Berlin
vereinbart worden und zur Verteilung an die Olympiateilnehmer verteilt werden soll
mit einem Begleitschreiben der KPD. Wir haben von unseren Berliner Genossen über
das Zustandekommen einer solchen Vereinbarung keine Nachricht [...]. Auch wenn
dies der Fall sein sollte, würden wir es aus Gründen der Illegalität für inopportun
halten, von einer Vereinbarung zu sprechen. [...] Andererseits wäre es unseres Erach-
tens durchaus nicht glücklich, wenn von Euch oder von uns über eine Flugblattvertei-
lung berichtet würde [...].“103
Anlässlich des Prozesses gegen die trotzkistischen Konterrevolutionäre104 trat
eine Verstärkung der Spannung zwischen unserer Partei und dem Prager Vorstand
ein.
Der „Neue Vorwärts“ vom 30.8.1936 schrieb:
„In der Tatsache, dass Kommunisten gegen Kommunisten mit terroristischen
Mitteln kämpfen, und vor allem [in] dem blutigen Ausgang dieses Machtkampfes liegt
eine Verurteilung des Systems der Parteidespotie und der Despotie in der Monopol-
partei.“ [...]
Der nach dem Nürnberger Parteitag entstandenen Lage Rechnung tragend, gab
das ZK ein Communique heraus; es heißt dort:
101 Für ein demokratisches Deutschland: Damit definierte die KPD nach der „Brüsseler Konferenz“
im Oktober, auf der die Frage nicht entschieden wurde, die Regierungs- und Systemfrage neu.
102 Hans Vogel (1881–1945) war von 1931 bis 1933 Vorsitzender der SPD sowie von 1933 bis 1945
Vorsitzender des SPD-Exilvorstandes (Sopade). Zusammen mit Friedrich Stampfer war er 1935 in
Prag an den Einheitsfrontverhandlungen beteiligt (siehe Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, Bd. 1,
S. 301ff.).
103 Das spektakulärste Resultat der internationalen Protest- und Boykottbestrebungen gegen die
Olympiade 1936 in Berlin war ein gemeinsamer Aufruf der beiden größten Arbeitersport-Internationa-
len, der Sozialistischen Arbeiter-Sportinternationale und der Roten Sportinternationale, zum Boykott
der Olympiade als „Heerschau des Hitlerfaschismus“. Auch hier war Münzenberg der Vorreiter (siehe
einen von Breitscheid (SPD), Koenen (KPD) und Braun (SAPD Saar) unterzeichneten Aufruf von 1935.
Siehe: Langkau-Alex, Deutsche Volksfront 2, 294ff.; evtl.: Karl-Heinz Jahnke: Gegen den Missbrauch der
olympischen Idee 1936. Sportler im antifaschistischen Widerstand, Frankfurt am Main, 1972.
104 Der Erste Moskauer Prozess gegen „das trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum“
fand vom 19.–24.8.1936 gegen Grigorij Sinowjew, Lev Kamenev, Ivan Smirnov, Sergej Mračkovskij und
12 andere Funktionäre statt. Siehe Dok. 387.
Dok. 402: Moskau, 25.1.1937 1321
„Daher erfordert die Verteidigung der Lebensinteressen der Schaffenden die Ver-
söhnung der Massen des deutschen Volkes zum Widerstand gegen die 3.000 Millio-
näre. In diesem Kampf haben alle Schaffenden, ob Nationalsozialistischen [sic], Kom-
munisten, Sozialdemokraten oder Katholiken, das gemeinsame gleiche Interesse.
Alles für die Versöhnung des deutschen Volkes zur Erhaltung des Friedens, gegen
die Kriegstreiber, gegen die 3.000 Millionäre.“
Diesen Standpunkt präzisiert das Polbüro in der bekannten Plattform in der
„Roten Fahne“ Nr. 8 – „Versöhnung des deutschen Volkes.“ Es heisst dort:
„Wollen wir uns alle wieder versöhnen, damit des Volkes Wille oberstes Gesetz
wird und nicht der Wille der 3.000 Millionäre. Die zentrale Aufgabe der nächsten Zeit
besteht darin, dass sich überall Kommunisten und Sozialdemokraten über die Bildung
der Einheitsfront verständigen und gemeinsam in den aktuellen Lebensfragen des
deutschen Volkes, in Fragen des Friedens, des Lohnes, der Lebensmittelversorgung,
der Volksrechte eine solche Massenpolitik entwickeln, die unter Anknüpfung an die
nächsten Interessen der Werktätigen und an die nationalsozialistischen Verspre-
chungen die Massen in Bewegung bringen. Diese legale Vertretung der Interessen des
werktätigen Volkes ist der Weg der Aktivisierung der breiten Volksmassen.“105
Zu diesem Dokument liegen zwei Aeusserungen führender Genossen aus dem PB
bezw. den Grenzstellenleitern vor. Schwab schrieb am 18.11.:106
„An den Dokumenten begrüssen wir vor allem das rasche Reagieren unseres PB
als einen Versuch, das bisherige Hinterherdenken, wie es insbesondere vor Brüssel
der Fall war, zu liquidieren. Wir begrüssen sie weiter als Versuch, die Initiative zu
ergreifen bei der Neuaufrollung von Problemen und Fragen des gemeinschaftlichen
Kampfes.
Bei der Diskussion der Dokumente stellten wir hier sofort die Frage, in welchem
Verhältnis steht die neue Losung zur Frage der Volksfront und der Einheitsfront. Wir
kamen [...] zu folgendem Entschluss: An der grundsätzlichen Linie kann sich durch
diese Linie nichts ändern. Sie kann keineswegs an die Stelle der Volksfront treten, ja
sie kann wohl nicht einmal eine Ergänzung zu ihr darstellen.
Während Genosse Funk dagegen polemisierte und das PB von hier vorschlug,
vorläufig von einer Popularisierung abzusehen.“ [...]
113 Der erste nachweisbare Appell bzw. allgemeinere Aufruf der deutschen Volksfront „an das
deutsche Volk“ datiert jedoch erst vom 19. bzw. 21.12.1936 (s.u.). Es handelte sich dabei um ein
Kompromissdokument ohne konkrete Handlungsanweisungen und Perspektiven. Arbeitervertreter:
Gemeint sind damit wohl der Vertreter der Arbeiterparteien.
114 Gekürztes Volksfrontprogramm: Am 21.12.1936 verabschiedete der Volksfrontausschuss in Paris
einen Appell an das deutsche Volk unter dem Titel “Bildet die deutsche Volksfront! Für Frieden,
Freiheit und Brot!”. Darüber hinaus wurden die von den gebldeten Arbeitsausschüssen vorgelegten
Denkschriften “Hitlers Kriegs- und Interventionspolitik” und “Der Lohn der Arbeiterschaft im III.
Reich” veröffentlicht. Am 25. Dezember veröffentlichte die Pariser Tageszeitung den “Spanien-Aufruf
der deutschen Opposition”, eine Weihnachtsbotschaft des Volksfrontausschusses an das deutsche
Volk. Zur problematischen Wirkungsgeschichte schreibt Ursula Langkau-Alex: „In den ersten Wochen
des Jahres 1937 verfielen Volksfrontausschuß und Lutetia-Kreis in Lethargie. Die Diffamierung der
SAP als “Wortführerin„ der spanischen “trotzkistischen„ POUM in der Deutschen Volks-Zeitung trug
dazu ebenso bei wie die Spaltung der Auslandsorganisation der Partei selbst; Münzenbergs längere
Abwesenheit von Paris aufgrund einer Urlaubsreise und eines Sanatoriumsaufenthalts wegen
Herzneurose ebenso wie die Macht- und Richtungskämpfe in der Komintern- und der KPD-Führung
(...).“ (Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, II, S. 321).
115 Der Deutsche Weg war eine „katholische antifaschistische Exilzeitschrift“, hrsg. vom
Jesuiten Friedrich Muckermann, einem der herausragenden Publizisten im Widerstand gegen den
Nationalsozialismus. Siehe: Heinz Hürten „Der Deutsche Weg“. Katholische Exilpublizistik und
Auslandsdeutschtum. Ein Hinweis auf Friedrich Muckermann. In: Exilforschung. Ein internationales
Jahrbuch 4 (1986), S. 115–129.
116 An Heiligabend, dem 24.12.1936 veröffentlichten die deutschen katholischen Bischöfe den
„Hirtenbrief gegen den Bolschewismus“. Pflicht, sei es, „das Oberhaupt des Deutschen Reiches mit
allen Mitteln“ im Kampf gegen den Bolschewismus zu unterstützen: „Der Führer und Reichskanzler
Adolf Hitler hat den Anmarsch des Bolschewismus von weitem gesichtet und sein Sinnen und Sorgen
darauf gerichtet, diese ungeheure Gefahr von unserem deutschen Volk und dem gesamten Abendland
abzuwehren. Die deutschen Bischöfe halten es für ihre Pflicht, das Oberhaupt des Deutschen Reiches
in diesem Abwehrkampf mit allen Mitteln zu unterstützen, die ihnen aus dem Heiligtum zur Verfügung
stehen.“ Bereits am 19.8.1936 hatte das deutsche Episkopat Hitlers Außenpolitik und den Kampf
gegen den „ Bolschewismus “ im spanischen Bürgerkrieg unterstützt (Wolfgang Neugebauer (Hrg.):
1324 1933–1939
gewisse Führung der Katholiken im Auslande geschaffen wird, bezw. dass der „Neue
Weg“117 selbst mehr ein solches Zentrum um sich schafft.
Wenn der „deutsche Weg“ endlich beginnt, ökonomische Fragen zu behandeln,
werden zweifelsohne eine Reihe katholischer Gewerkschaftsleute mitarbeiten.
Genau so wichtig ist es, den hunderttausend Katholiken im Lande, die heute von
ihren Bischöfen verlassen sind, eine Richtlinie des Handelns zu geben. In der letzten
Nummer des „Deutschen Weg[s]“ (13.9.) sagte der D[eutsche]W[eg] richtig, dass es
heute im Lande wirkliche katholische Führer nicht gibt.“
Am 29.1.1937 entschied das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion auf Anfrage von Elena Stasova,
der Internationalen Roten Hilfe 10.000 Dollar für das Komitee zur Verteidigung des amerikanischen
Sozialisten Tom Mooney zu geben, der wegen eines Bombenanschlags in San Francisco seit über 20
Jahren unschuldig inhaftiert war.118
Dok. 403
Telegrafischer Gruß Lion Feuchtwangers an Stalin bei seiner
Ausreise aus der Sowjetunion
[Beim Verlassen der Sowjetunion, 6.2.1937]
An Genossen Stalin
Kreml. Moskau
Beim Verlassen der Union drängt es mich, Ihnen, dem würdigen Repräsentanten des
Sowjetvolkes, zu sagen, welch tiefes Erlebnis diese Reise in ihr Land für mich bedeu-
tet.119 Wer ihr Land und ihr Volk ohne Vorurteil betrachtet, muß freudig bewundern,
Handbuch der preußischen Geschichte. Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der
Geschichte Preußens, München, De Gruyter, 2001, S. 698f.).
117 Vermutlich irrtümlich für Der Deutsche Weg.
118 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 172.
119 In seinen Tagebüchern notierte Dimitrov unter dem 2.2.1937 zu einem Treffen mit Feuchtwanger,
also nach dem Gespräch Feuchtwangers mit Stalin: „2.2.37. – Feuchtwanger bei mir (Komintern).
(In Begleitung von Maria Osten). Den stärksten Eindruck hat auf ihn gemacht a) die Ausbildung
und der Wissensdurst der Jugend, b) der Plan zur Rekonstruktion von Moskau. Über den Prozeß: 1)
Diversionsakte, Spionage, Terror – sind bewiesen. 2) Bewiesen ist ebenfalls, daß Trotzki inspiriert und
geführt hat. 3) Übereinkunft von Trotzki mit Hess [Heß] und den Japanern ist nur auf den Aussagen
der Angeklagten begründet. – Es gibt keinerlei Beweise! 4) Die Tatsache, daß Radek und Sokolnikow
nicht zum Tode durch Erschießen verurteilt wurden, wird im Ausland als Beweis genutzt werden,
daß sie bewußt solche Aussagen machten, um ihr Leben zu retten. 5) Einen erschütternden Eindruck
hinterläßt das Geschimpfe gegen die Angeklagten. Das sind Feinde, die es verdienen, vernichtet zu
Dok. 403a: Moskau, 8.–11.2.1937 1325
was man in diesen zwanzig Jahren erreicht hat. Die menschliche Vernunft hat hier
einen ungeheuren Sieg errungen. Wer die Kraft und die Klugheit kennengelernt hat,
mit der Sie und Ihr Volk das Errungene verteidigen und ausbauen, verläßt die Union
mit der beglückenden Zuversicht, dass keine Macht der Welt im Stande ist, den Sozi-
alismus wieder zu vernichten, wie er hier verwirklicht wurde.
Lion Feuchtwanger
Am 19.2.1937 entschied das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, Emelʼjan Jaroslavskij 1000 US-
Dollar zu übergeben, um damit den Mitgliedsbeitrag (der sowjetischen Sektion?) im Internationalen
Freidenkerverband bezahlen zu können.120
Dok. 403a
„Ihr alle dort in der Komintern arbeitet dem Feind in die Hände...“
Stalins Drohung als Tagebuchnotiz Dimitrovs
Moskau, 8.–11.2.1937
Typoskript vom Autograph. Zentrales Parteiarchiv der BKP(b), Sofia, 146/2/3, 33. In deutscher
Sprache publ. In: Georgi Dimitroff. Tagebücher, I, S. 149.
8.2.1937
– Sitzung des Sekretariats.
Referat von Ulbricht über deutsche Angelegenheiten und Wahl der Kommission.121
10.2.37
– Deutsche Kommission.
11.2.37
– Deutsche Kommission. – Abends im Bolschoi-Theater. (Puschkin-Abend.)122
werden. Aber sie haben nicht aus persönlichen Interessen gehandelt, und hätten nicht als ‚Schüften,
Feiglinge, Reptilien‘ usw. bezeichnet werden dürfen. 6) Warum solch ein Lärm um den Prozeß. –
Unklar. Eine Atmosphäre außerordentlicher Unruhe unter der Bevölkerung geschaffen, gegenseitige
Verdächtigungen, Denunziationen usw. Der Trotzkismus ist tot, warum eine solche Kampagne?“
(Dimitroff: Tagebücher, Bd. 1, S. 148).
120 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 202.
121 Deutsche Kommission: Zu der von Dimitrov an diesem Tag in der Kommission gehaltenen Rede
siehe Dok. 403e.
122 Puschkin-Abend: Im Februar 1937 wurde der 100. Todestag des russischen Dichters Aleksandr S.
Puškin (1799–1837) in der gesamten Sowjetunion zehn Tage lang mit großem Pomp und einmaligem
Aufwand begangen. Dabei sollte Puškin als nationales Symbol reinstallliert und in stalinistischem
Sinne umgedeutet werden. Der Abend im Bolschoi-Theater war der Auftakt der Feierlichkeiten (siehe:
Karen Petrone: Life Has Become More Joyous, Comrades. Celebrations in the Time of Stalin, Bloom-
ington, Indiana University Press, 2000, S. 113–147; Schlögel: Terror und Traum, S. 198ff.).
1326 1933–1939
– Gespräch mit Stal[in] über den Beschluß des Präsidiums zur antitrotzkistischen
Kampagne.123
Stal[in] :
1) Sie lassen außer acht, daß die europäischen Arbeiter denken, alles rühre von der
Auseinandersetzung zwischen mir und Tr[otzki] und wegen St[alins] schlechtem Cha-
rakter her.
2) Man muß darauf hinweisen, daß diese Leute gegen Lenin gekämpft haben, gegen
die Partei zu Lenins Lebzeiten.124
3) Zitieren, was Lenin über die Opposition sagte: „Jegliche Opposition in der Partei
unter Bedingungen der Sowjetmacht, die beharrt auf [...] beharrt,125 gleitet ab in
Weißgardistentum.“126
4) Auf das Stenogramm des Prozesses verweisen. Die Aussagen der Angeklagten zitie-
ren.127
5) Ihre Politik und ihre Tätigkeit zur Vorbereitung der Niederlage der Sowjetunion
anprangern.
Der Beschluß taugt nichts. Ihr alle dort in der Komintern arbeitet dem Feind in die
Hände (...) [...]
Es lohnt nicht, einen Beschluß zu fassen; ein Beschluß ist eine verbindliche
Sache. Besser ist ein Brief an die Parteien.128
123 Am 5.2.1937 verabschiedete das Präsidium des EKKI einen Beschluss mit dem Titel „Die
Ergebnisse des Trotzkistenprozesses“. Darin übernahm das EKKI die mit Todesdrohungen
verbundene Kriminalisierung von Trotzkisten als Terroristen, Spione und Diversanten, für die „jeder
ehrliche Arbeiter eines beliebigen Landes […] nichts anderes als Entrüstung, Abscheu und Fluch
übrig haben“ könnte. Nach einer ausführlichen Nacherzählung der „Geständnisse“ der Angeklagten
(in einem „unter Wahrung aller denkbaren Garantie […] objektiven Verfahren“) und einem Exkurs
über das angebliche Wirken der Trotzkisten in verschiedenen Ländern schloß die Erklärung damit,
daß die „Zerschlagung des Trotzkismus (…) eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Sieg über
den blutigen Faschismus“ sei (RGASPI, 495/2/258, 22–31).
124 Siehe hierzu auch die ähnliche Argumentation Stalins in seinem Gespräch mit Feuchtwanger,
Dok. 397.
125 So im Original.
126 Stalin verweist auf die Reden und Diskussionsbeiträge Lenins auf dem X. Parteitag der RKP(b)
im März 1921 über die Einheit der Partei. Zitiert wird hier allerdings nicht Lenin, sondern Stalins
Auslegung der Beschlüsse. Vgl. Dimitroff: Tagebücher, I, S. 248.
127 Das Stenogramm des Prozeses wurde in der Sowjetunion zeitnah und in mehreren Sprachen
gedruckt. Die deutsche Ausgabe siehe: Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR: Prozeßbericht
über die Strafsache.
128 Zu einem möglichen Ergebnis dieser Aufforderung siehe das Dok. 414. Auch weiterhin blieb Stalin
mit den „antitrotzkistischen“ Beschlüssen des EKKI unzufrieden. So verwarf er am 11.11.1937 in einem
Gespräch mit Dimitrov einen Beschlussentwurf des EKKI zum Kampf gegen den Trotzkismus: „Das
kommt dabei heraus, wenn Leute in der Kanzlei sitzen und sich etwas ausdenken!“ Eine Verstärkung
des Kampfes einzufordern genüge nicht, „[d]ie Trotzkisten müssen gejagt, erschossen, vernichtet
werden.“ (Dimitroff: Tagebücher, I, S. 163–164).
Dok. 403b: Moskau, 9.2.1937 1327
Dok. 403b
Stenographische Diskussionsbeiträge in der Kommission zur
deutschen Frage des Komintern-Sekretariats
Moskau, 9.2.1937
Vertraulich.
Stenogramme
der vom Sekretariat des EKKI am 7. II. 1937 eingesetzten Kommission zur deutschen
Frage, Sitzung am 9. Februar 1937.
129 Bölke: D.i. Emilie Bölke (23.9.1901 Oberhausen – 27.11.1971 Berlin), die als Gehilfin des Leiters des
EKKI-Sekretariats in Moskau und als Stenotypistin arbeitete. Sie überlebte die Säuberungen.
130 Es handelt sich um Erna Petermann, geb. Saar (5.7.1904 Berlin – 1981 ebd.), die als Stenographin
und Übersetzerin in der Komintern arbeitete. Nach Verhaftung 1938 und der Haft überlebte sie
den Gulag, wo ihr Kind starb, und siedelte 1956 in die DDR über. Adele Schiffmann beschreibt
ihren Einsatz für die Mitgefangenen im Lager (siehe: Meinhard Stark: Deutsche Frauen im GULAG.
Individuelle Erfahrungen und Verhaltensformen im Haftalltag. In: Robert Streibel, Hans Schafranek
(Hrsg.): Strategie des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und GULag, Wien, Picus Verlag, 1996,
S. 168–205, hier S. 197, http://www.gulag.memorial.de/pdf/stark_frauen.pdf
1328 1933–1939
Dok. 403c
Fragenkatalog von Komintern-Sekretär Togliatti zur Situation in
der KPD
Moskau, 9.2.1937
Vertraulich!
1./ Über die allgemeine Einschätzung der Lage vom ökonomischen und politischen
Standpunkt, besonders um die Lösung zu finden, was das Hauptkettenglied jetzt
für die Partei ist. Das heisst, Einschätzung der ökonomischen und politischen Lage,
Schlussfolgerungen, nächste Perspektive. Einfluss der faschistischen Propaganda
und Agitation in den Massen und daraus die Schlussfolgerungen für unsere Partei.
2./ Die Hauptlosungen der Partei, d.h. die Frage des Kampfes zur demokratischen
Republik, die Bedeutung dieser Losung, die Aufgaben und Fragen der Einheit und
Versöhnung des deutschen Volkes, die deutsche Frage inbezug auf die Einheits- und
Volksfronpolitik in Deutschland.
3./ Die Durchführung dieser Politik in den Massenorganisationen des Faschismus,
besonders Lohnkämpfe, besonders die Arbeit in der deutschen Arbeitsfront, in Kraft
durch Freude, in den Sportorganisationen, wie ist diese Arbeit usw.
4./ Als besondere Frage die Probleme der Jugendarbeit, die Jugendorganisationen, die
Direktiven der Arbeit in den Jugendorganisationen.
5./ Die Propaganda der Partei, die „Rote Fahne“, illegale Propaganda und Broschü-
ren, Bücher usw., Radio, alles Probleme, die mit den Problemen der Partei verbunden
sind.
6./ Die organisatorischen Probleme, die Organisationsstruktur der Partei, Aufbau der
Partei, Ausbau der Partei in den faschistischen Massenorganisationen, Erfahrungen,
Erfolge und Misserfolge und Probleme der Kader.
Dann bleibt noch eine Gruppe von Fragen, die die Leitung der Partei betreffen und
besonders die Kaderfrage, die wir vielleicht in einer Unterkommission studieren
werden.
Das sind sieben Gruppen von Fragen.
Dok. 403d: Moskau, 11.2.1937 1329
Sind die Genossen damit einverstanden. Dann werden wir über jede Gruppe von
Fragen einen besonderen Meinungsaustausch machen und gewisse Schlussfolgerun-
gen ziehen. Das wichtigste ist, dass wir eine allgemeine Diskussion vermeiden, dass
wir zu jeder Frage das Wesentliche sagen und die Genossen sich ganz kurz äussern,
damit wir rasch die Fragen behandeln können.
Dok. 403d
Wilhelm Pieck über den Kampf gegen Hitler, den Charakter der
deutschen Bourgeoisie und die Kader in Deutschland
Moskau, 11.2.1937
[…] Vertraulich.
Die Partei hat Erfolge in der Annäherung an die sozialdemokratischen und kommu-
nistischen Arbeiter auf der Basis der praktischen Arbeit der Partei in den Betrieben.
Dort vollzieht sich die Herstellung der Einheitsfront, sogar die Verschmelzung der
faschistischen Arbeiter mit anderen.131
Warum sind wir bisher nicht besser vorwärts gekommen in der wirklichen Her-
stellung einer Leitung der Einheitsfront? Wir brauchen keine neuen Rezepte auszu-
denken, die Beschlüsse der Brüsseler Konferenz sind absolut richtig. […] Es steht
jetzt ein Problem, ob nicht auf Grund dieser Tätigkeit der Gruppen in der [Deutschen]
Arbeitsfront wider den Willen der Faschisten die Arbeitsfront zu einer Art Gewerk-
schaft gestaltet werden kann, nämlich ausgenutzt werden kann zu einem wirklichen
organisierten Kampf gegen das Unternehmertum.132
131 Verschmelzung der faschistischen Arbeiter mit anderen: Angesichts des Scheiterns der
Betriebspolitik der KPD dürften diese Behauptungen Piecks einer Überprüfung mit der Realität kaum
standhalten, siehe hierzu Dok. 376.
132 Mit ihrer gescheiterten Politik des Eindringens der KPD in die Deutsche Arbeitsfront isolierte
sich die Partei auch innerhalb des antifaschistischen Widerstands. Siehe: Andreas Herbst: Kommu-
nistischer Widerstand 1933–1945, http://www.ddr-biografien.de/00000095890f9bc01/00000095891
37ed36.html.
1330 1933–1939
(Zwischenruf Gen. Dimitroff: – Du brauchst nicht gegen solchen [sic] neuen Rezepte
zu sein, wenn diese neuen Rezepte etwas Neues geben können!)
Ich werde gleich sagen, warum ich das Wort Rezept gebrauche; weil ein Suchen
nach Rezepten da ist, als ob man etwas finden kann, um alle Schwierigkeiten zu
überwinden.
Warum kommen wir nicht vorwärts? Die Ursache ist, die Unsicherheit in der
Partei über die Durchführung dieser Linie. […] Die Komintern muss uns helfen, diese
Unsicherheit zu überwinden. […]
Eine grosse Schwierigkeit ist die politische Schwäche unserer Kaders [sic]. 70
Prozent unserer Kader im Lande haben von unserer Theorie keinen blassen Schimmer
und leben einfach von unserer Tagespolitik. Diese Tagespolitik ist heute viel schwie-
riger und komplizierter, sie können auf die Argumentation der Sozialdemokraten und
der Faschisten nicht genügend antworten.133
Dazu kommt die Schwäche der Führung. […]
[...] Die bevorzugte Stellung der Rüstungsindustrie schafft auch innerhalb der
Bourgeoisie grosse Gegensätze. Die deutsche Bourgeoisie ist nicht entschlossen, den
Krieg zu führen, sondern hat grosse Bedenken gegen die Provokationen Hitlers, die
Hitler zur Steigerung seines Prestige[s] braucht.
(Zwischenruf Gen. Varga: – Du meinst, die deutsche Bourgeoisie will keinen Krieg?)
Nein, jetzt nicht. Wo sind die Anzeichen dafür? Wir haben Unterlagen vorhanden,
dass die Reichswehrgeneralität gegen diese Provokationspolitik ist, die Hitler betreibt.
(Zwischenruf Gen. Varga: – Das heisst also, dass das heutige faschistische Regime
in Deutschland nicht das Regime der Grossbourgeoisie, der Finanzoligarchie ist,
sondern das Regime Hitlers?)134
Du sagst nicht, Hitler ist Schuld, sondern die Rüstungsindustrie ist schuld; Du drehst
das um.
Wir haben in Deutschland mit zwei Kräften zu rechnen. Wir haben mit dem
Finanzkapital zu rechnen, das gesehen hat, dass mit Hilfe der Weimarer Demokratie
die Massen nicht mehr beherrscht werden können. Aber das besagt noch nicht, dass
der Faschismus weiter nichts als ein Werkzeug ist. Er ist eine eigene Kraft; er muss als
selbstständige Kraft bewertet werden. Machen wir das nicht, werden wir den Faschis-
mus nie schlagen. Du versuchst, eine falsche Konsequenz in dieser Frage zu ziehen.
Wenn wir nicht vor den Massen den Hitlerfaschismus als verantwortlichen Faktor hin-
stellen, wie werden wir dann die Front gegen den Hitlerfaschismus schaffen? Gegen
133 Gewissermaßen als Bestätigung der Aussage Piecks siehe die Berichte aus Deutschland im Dok.
433.
134 Varga bezieht sich hier auf die Faschismusdefinition des VII. Weltkongresses der Komintern
(1935) als „offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten
imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Siehe Dok. 347, 350 u.a.
Dok. 403d: Moskau, 11.2.1937 1331
die Bourgeoisie – dagegen brauchten wir heute nicht aufzustehen; diese Front haben
wir geschaffen, solange es eine Arbeiterbewegung gibt. Es gibt bestimmte Schichten
des Finanzkapitals, die durch die Rüstungen für den Krieg besonders bevorzugt sind.
Meinetwegen. Aber zu sagen, dass die Leute den Krieg wollen, der ein Manöver ist,
bei dem sie alles verlieren können, das wäre ja dumm. Die Monopolstellung der Hit-
lerpartei kann abgebaut werden und eine gewisse Abschwächung des Hitlerregimes
erfolgen.
(Zwischenruf Gen. Losowski: – Sodass Hitler nicht die Interessen des Finanzkapitals
in Deutschland vertritt?)
Dann hast Du mich falsch verstanden. Ich sagte, dass er beauftragt ist, die Interes-
sen des Finanzkapitals zu vertreten. Aber die Dinge so zu vereinfachen, dass nur das
Finanzkapital verantwortlich ist und nicht der Hitlerfaschismus, das würde nur dem
Hitlerfaschismus zugute kommen. Man kann die Dinge nicht so vereinfachen: die
deutsche Bourgeoisie will den Krieg. Wenn sie ihn will, kann sie ihn morgen machen.
Die Regierung hat sie dazu, die den Krieg erklärt. Aber sie braucht die Massen.
(Zwischenruf Gen. Varga: – Meinst Du, dass gegen den Willen der Finanzoligarchie
Hitler diese Politik treiben könnte?)
(Zwischenruf Gen. Manuilski: – Genosse Varga, das Sekretariat ist sich klar darüber,
dass in Deutschland das Finanzkapital regiert. Gen. Pieck verneint diese Tatsache
nicht.)
Natürlich nicht. Ich stelle nur die Frage des Krieges. Wenn das deutsche Finanzka-
pital den Krieg will, kann es ihn jeden Tag durch Hitler erklären. Aber was ist ein
hemmender Faktor? Sie sind der Massen nicht sicher, und Hitler hat die Aufgabe vom
Finanzkapital die Massen kriegsfähig zu machen.
Wir müssen mit der Abschwächung der Monopolstellung der Hitler-Partei in
Deutschland rechnen. Es ist in der Bourgeoisie eine Tendenz vorhanden, die faschis-
tische Regierung stärker wieder mit anderen nichtfaschistischen Elementen zu durch-
setzen. Damit wird sich Hitler allmählich abfinden.
Es gibt einen grossen Konflikt zwischen Katholizismus und Hitlerpartei. Die
katholischen Massen gegen sich zu haben, bedeutet, ein Drittel des Volkes gegen sich
zu haben. Deswegen sieht die Bourgeoisie mit Unbehagen auf die Verschärfung des
Konfliktes zwischen Katholizismus und Kirche.135 Man könnte sagen; warum verbie-
tet sie das Hitler nicht. So liegen die Dinge aber nicht, dass sie ihm etwas verbieten
135 Fehler im Stenogramm. Gemeint ist der Konflikt zwischen Kirche und Regime.
1332 1933–1939
kann. Dazu hat sie die Kraft nicht, den Widerstand gegen die ganze Hitleranhänger-
schaft zu führen.
Die Frage der Demokratie: Der Terror ist systematischer geworden, nicht mehr so
chaotisch wie früher. Aber die Zwangswirtschaft schafft in der Basis des Faschismus
– Bauern und Mittelstand – eben den grossen Widerstand gegen diese Politik. Daher
muss das Hauptgewicht auf den Kampf für den Abbau der Zwangswirtschaft gelegt
werden, also auf eine Demokratisierung. Das Hauptkettenglied muss daher die Frage
des Kampfes um die materiellen Forderungen, des Kampfes um den Frieden, gegen
die Kriegspolitik, und des Kampfes um die Demokratie sein. Das sind die drei ent-
scheidenden Fragen, die heute das A und Omen [Omega] unserer Einheitsfrontpolitik
sind.
Wir konnten bisher das Misstrauen gegen die Kommunisten, dass sie doch für die
proletarische Diktatur sind, wenn sie die Losung der demokratischen Republik
stellen, nicht beseitigen. Natürlich, wenn wir für die demokratische Republik eintre-
ten, werden wir keine Demokraten. Wir kämpfen für die demokratische Republik als
eine Notwendigkeit für das deutsche Volk, damit es überhaupt wieder die Möglichkeit
bekommt, mit einzugreifen und mitzuwirken im Wirtschaftsprozess und in der poli-
tischen Gestaltung. Die demokratische Republik ist unser aktuelles Kampfziel und
nicht mehr. Hier sind bei uns Hemmungen vorhanden. Wir müssen klarlegen, dass es
keinen anderen Weg gibt als den Kampf für die demokratische Republik. Diese Frage
wird oft noch sektiererisch gestellt. Einen Beweis dafür haben wir in dem Aufruf, den
man herausgegeben hat.136
Als Antwort der Partei auf den Hitlerparteitag wurde ein Communique herausge-
geben. Allgemein war es passabel. Allerdings ist in einem Abschnitt die Losung der
Versöhnung gestellt. Das konnte eine falsche Formulierung sein. Dann kommt der
Aufruf.137 Was ist dabei die grosse Frage? Hier ist eine Veränderung unserer Taktik
und des strategischen Zieles vorgenommen worden. Mit diesem Aufruf wurde von der
Führung ein schwerer politischer Fehler gemacht. Ich sehe darin den Ausdruck der
Unsicherheit der Führung inbezug auf die Durchführung unserer politischen Linie.
Der Genosse Walter [Ulbricht] sagte, der Aufruf sollte gar nicht das zentrale
Problem stellen, sondern nur das Problem: wie kommen wir an die Massen heran?
(Zwischenruf Gen. Walter [Ulbricht]: – Wie erziehen wir die Massen zum legalen
Handeln in Teilfragen!)
136 Gemeint ist der Aufruf der Auslandsleitung der KPD „Versöhnung des deutschen Volkes für
Frieden, Freiheit und Wohlstand, gegen die 3000 Millionäre!“ vom Oktober 1936 (Jörn Schütrumpf: Für
die Versöhnung des Deutschen Volkes Von Walter (Ulbricht). Für Deutschland, für unser Volk. Ein be-
deutsamer Aufruf des ZK der KPD. In: Utopie kreativ, H. 71, September 1996, S. 36–40. Zum Kontext siehe
Langkau-Alex, Deutsche Volksfront, Bd. 2, S. 349f., S. 540–546, Bd. 3, S. 155–162). Siehe Dok. 395a.
137 Hier und im Folgenden geht es um den „Oktoberaufruf“ der KPD „An das deutsche Volk“.
Dok. 403d: Moskau, 11.2.1937 1333
Vielleicht, indem wir ihnen eine falsche Linie geben, ein irreales Ziel stellen? In
diesem Aufruf ist kein Wort vom Kampf gegen Hitler. Er ist tendiert in dem Kampf
gegen die 3000 Millionäre.138 Zwei Drittel des Aufrufes beschäftigen sich mit den Ver-
sprechungen des Hitlerfaschismus und dem, was er nicht erfüllt hat. Es kommt so
heraus, als ob Hitler es ehrlich gemeint hat, es aber nur noch [nicht] durchgeführt
hat. Der Aufruf ist schon proportionell falsch. Wenn darin zwei Drittel über die Ver-
sprechungen Hitlers sind – das ist Agitationsmaterial und nicht ein Aufruf, der die
politische Linie der Partei angeben soll. Auch in der Friedensfrage ist das so. Es ist
nicht die Frage gestellt, dass Hitler Kriegspolitik treibt, sondern dass die 3000 Milli-
onäre die Kriegspolitik treiben. Das ist falsch. Bei der ganzen Kriegspolitik ist Hitler
ein ganz entscheidender Faktor.
Die Losung: „Die Reichen sollen zahlen!“ das war in Frankreich richtig. Aber
in Deutschland steht folgendes: die Hauptlasten des Staates werden für Rüstungen
verbraucht. Selbst wenn die Bourgeoisie die Rüstungen aus eigenen Mitteln zahlen
müsste, würden wir gegen die Rüstungen sein, die Rüstungen sind viel wichtiger, als
die Frage, wer das bezahlt, weil die Rüstungen den Willen zum Krieg beweisen.
Die Losung der Versöhnung: Das ist absolut unangebracht. Das deutsche Volk
soll sich gegen die 3000 Millionäre versöhnen! Walter [Ulbricht] sagt, wir mussten
der Behauptung Hitlers, dass wir das Volk spalten, eine Losung gegenüberstellen. Wir
sagen doch: wir wollen die Einheitsfront und Volksfront schaffen zum Kampfe gegen
Hitler. Wir wollen nicht die Versöhnung des deutschen Volkes. In dem Aufruf ist nicht
einmal das Wort Einheits- oder Volksfront erwähnt. Das ist schon eine Veränderung
unserer Linie. Woher ist der Aufruf zu verstehen? Aus den Schwierigkeiten unterer
Arbeit im Lande. Die Genossen in der Führung werden sich nicht klar, wie wir diese
Schwierigkeiten überwinden können. Hier müssen wir Hilfe leisten.
Wir haben den Massen die Losung der demokratischen Republik nicht verständ-
lich gemacht. Und kaum, nachdem wir diese Losung ins Land geworfen haben,
kommen wir mit der neuen Losung: Kampf gegen die 3000 Millionäre. Das können
unsere Funktionäre nicht verstehen. Das ist unsere grosse Schwäche.
138 Nachdem die „3000 Millionäre“ als alleinige Schuldige dargestellt wurden, hieß es im Aufruf
weiter: „Muss das alles so sein, deutsches Volk? Wir können das ändern, alle zusammen. Welch eine
Macht sind die Millionen des Volkes gegen die dünne Schicht der 3.000 Millionäre! Wollen wir uns
alle wieder versöhnen, damit des Volkes Wille oberstes Gesetz ist und nicht der Egoismus von 3.000
Millionären.“ Siehe Dok. 395a.
1334 1933–1939
Dok. 403e
Aus den Stenogrammen der Kommission zur deutschen Frage:
Redebeitrag Dimitrovs
Moskau, 11.2.1937
[…] Vertraulich!
Genosse Dimitroff:
Ich bin vollständig einverstanden mit den wesentlichen Ausführungen der einzelnen
Gruppen. Die Reden haben gezeigt, dass noch einige Bemerkungen notwendig sind.
Es ist zu bedauern, dass wir nicht in der Lage sind, eine erschöpfende Einschätzung
der Lage zu geben. Diese Einschätzung der Lage ist leider unmöglich auf Grund der
Materialien, die wir schriftlich bekommen haben und auch unmöglich auf Grund
der Informationen, die wir im Sekretariat und in der Kommission erhalten haben. Es
ist notwendig, besser und gründlicher die Lage in Deutschland zu studieren, nicht
nur auf Grund offiziellen statistischen Materials (das ist auch notwendig), aber auf
Grund einer unmittelbaren Prüfung der verschiedenen Schichten im Lande, auf
Grund unmittelbarer Prüfung der Stimmung dieser Schichten. Die Stimmung ist nicht
gleichmässig und die Lage ist auch nicht gleichmässig. Die verschiedenen Schichten
der Arbeiterklassen haben unter der faschistischen Diktatur verschiedene Stimmun-
gen. Das ist auch eine Frage des Kleinbürgertums, eines grossen Teils der Bourgeoisie
und der Bauernschaft. Weiteres Studium ist unbedingt notwendig. Das ist eine der
wichtigsten Aufgaben unserer Parteileitung im Auslande und im Lande, in einer mög-
lichst kurzen Zeit ein solch gründliches Studium durchzuführen und eine genaue und
positive richtige Einschätzung zu bekommen, weil davon viel für unsere Politik und
unsere Taktik und unsere praktische Arbeit im Lande selbst abhängt.
Aufgrund des vorhandenen Materials halte ich aber eins für139 bestimmt. Es ist
jetzt die schwierigste Zeit für den deutschen Faschismus. Warum? Wie bekannt, ist
alles in Deutschland durch Hitler und das faschistische Regime auf die Vorbereitung
eines Eroberungskrieges eingestellt worden, und zwar von Anfang an. Hier liegt die
Hauptexistenzberechtigung des deutschen Faschismus. Das ist die extremste reaktio-
närste Gruppe des Grosskapitals, des Finanzkapitals und gleichzeitig der Rüstungsin-
dustrie. Aber die Lage nach vier Jahren ist jetzt so geworden:
1. die Schere berührt bereits die Haut der Millionenmassen in Deutschland.
Am Anfang der vier Jahre hat Hitlers Regime den Kleinbauern, Kleinbürgern,
Intellektuellen, verschiedenen Schichten der Bourgeoisie, besonders aber den Arbei-
tern, Kleinbürgern und der Bauernschaft die Wolle geschoren. Jetzt kommt diese
Schere aber schon auf die Haut.
Daraus erwachsen Unzufriedenheit, Misstimmung, Meckertum, Miesmacherei –
die grossen Voraussetzungen für die Massenbewegung gegen die faschistische Dikta-
tur – in den verschiedenen Schichten.
Ich betone noch einmal: Das ist nicht gleichmässig bei allen Schichten, z. B. nicht
so stark bei einer Schicht der Arbeiterklasse wie bei der anderen Schicht der Arbeiter,
bei den Mittelbauern nicht so stark wie bei den Landarbeitern.
Bei der Mittelindustrie ist es nicht so stark wie bei der Kleinindustrie. Bei der
Rüstungsindustrie existiert keine Unzufriedenheit, weil alles gut geht. Aber in ver-
schiedenen Branchen der deutschen Industrie ist diese Unzufriedenheit vorhanden.
2. Es kommt zu einer Erschöpfung der vorhandenen Rohstoffquellen und Mög-
lichkeiten im Lande selbst, was für die Rüstungsindustrie in bezug auf die Vorberei-
tung des Krieges eine entscheidende Bedeutung hat. So war es nicht 1933 und 1934
und 1935; sogar 1936 war es nicht so. Deswegen kommt dieser neue Vierjahresplan.
Deswegen ist Göring als kräftigster faschistischer Staatsmann Oberhaupt und Haupt-
durchführer dieses neuen Vierjahresplanes für die Vorbereitung und Beendigung der
Vorbereitung des Krieges. Das ist das zweite.
3. Wir haben schon die unmittelbare Engagierung des deutschen Faschismus in
Kriegsabenteuer. Das ist sehr kostspielig (und meiner Meinung nach nicht so unge-
fährlich), wie Spanien, wo er Summen gegeben hat, die in die Milliarden gehen. Das
ist eine große Last für die Finanz, für die Industrie und hauptsächlich selbstverständ-
lich für die Volksmassen in Deutschland. Und es gibt neue solche Vorbereitungen. In
der Tschechoslowakei sehen wir das, in Sudetendeutschland,140 in bezug auf Oester-
reich usw.141
4. Die faschistische Agression ist jetzt für andere Völker, für andere Länder viel
klarer geworden als im Anfang. Mit der Besetzung des Rheinlandes,142 mit der Einfüh-
rung des ständigen Heeres in Deutschland, mit diesen großen Aufrüstungen,143 mit
140 Hier sind möglicherweise die Wahlerfolge von Konrad Henleins Sudetendeutscher Partei ab 1935
gemeint.
141 Möglicherweise meint Dimitrov damit die Annäherung zwischen Österreich und Deutschland
infolge des sogen. „Freundschafts- und Normalisierungspaktes“ vom 11.7.1936, der einen weitreichenden
innen- und außenpolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Maßnahmenkatalog beinhaltete. U.a.
verpflichtete sich Österreich, inhaftierte Nationalsozialisten zu amnestieren und einige NS-Zeitungen
wieder zuzulassen. Für das autoritäre österreichische Regime war es ein Versuch, die Souveränität
zu bewahren, jedoch bereiteten gerade die Schwierigkeiten der Verhandlungen zur Umsetzung der
Vertragsmaßnahmen die Annexion Österreichs durch NS-Deutschland im März 1938 vor (siehe zuletzt:
Gabriele Volsansky: Pakt auf Zeit. Das Deutsch-Österreichische Juli-Abkommen 1936, Wien, Böhlau, 2001).
142 Gemeint ist die Entsendung von Truppenteilen der Wehrmacht in das zuvor entmilitarisierte
Rheinland am 7.3.1936.
143 Große Aufrüstungen: Nach ihrem Machtantritt setzte die NS-Führung dazu an, unter der Losung
der „Wiederwehrhaftmachung“ Deutschlands den Plan zum Aufbau eines 300.000–Friedensheeres
bis 1938 zu verfolgen. Im März 1935 wurde die allgemeine Wehrpflicht wiedereingeführt. Bereits
1336 1933–1939
der ganzen Außenpolitik hat die faschistische Regierung klar und deutlich gezeigt,
daß es sich um eine Eroberungspolitik und um einen Eroberungskrieg handelt für
neues Territorium und für Kolonien. Und hier ist eine große Koalition gegen diese
faschistische Agression im Entstehen, 1. Der Pakt zwischen Frankreich und der Sow-
jetunion; der Pakt zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion,144 und
starke Tendenzen, einen solchen Block von Ländern, von Großmächten zu schaffen,
die für die Erhaltung des Friedens in der jetzigen Situation sind, sind entstanden.
Also die Isolierung des faschistischen Deutschlands, des faschistischen Regimes ist
gewachsen und wächst weiter, trotz aller Verhandlungen, mit England zu Vereinba-
rungen zu kommen, einen Einfluß in der Tschechoslowakei zu bekommen (es gehen
auch verschiedene Verhandlungen mit gewissen tschechischen Leuten). Jedenfalls
bleibt die Tatsache, daß Deutschland und das deutsch[e] Volk sich unter dem faschis-
tischen Regime in Deutschland, unter dieser faschistischen Agression immer isolier-
ter fühlen. Und man kann ohne Uebertreibung sagen, daß, je kriegsmäßiger die Situ-
ation wird, umso schwieriger die Lage für den deutschen Faschismus sein wird. [...]
Ich möchte betonen, dass man davon ausgehen muss. Von dieser Tatsache
müssen wir in unserer Politik, in unserer Taktik, in unserer ganzen Arbeit und
unserem ganzen Kampf in Deutschland ausgehen. Es ist hier auch darum [sic], weil
90 % des deutschen Volkes in dieser Frage einig sein können, dass die überwiegende
Mehrheit der deutschen Nation an dieser Frage lebendig interessiert ist. [...]
Ist das klar für unsere Partei? Wenn man diese Richtlinien des Genossen Pieck
z. B. nimmt und die verschiedenen Beschlüsse des ZK nach der Brüsseler Konferenz,
kann man sagen, dass eine solche Orientierung besteht, aber mit viel Nebel, nicht
so klar, nicht so deutlich, wie es notwendig ist, dies als eine zentrale Frage, als ein
Hauptkettenglied zu betrachten und davon auszugehen. Das ist nicht der Fall und ich
muss den deutschen Genossen als Sekretär der Komintern sagen,145 es ist notwendig
mehr Klarheit zu bringen, mehr zu präzisieren und eine Reihe Schlussfolgerungen
daraus zu ziehen. Wir haben allgemein die Meinung, es besteht keine Differenz in
dieser Frage bei uns – ein plötzlicher Zusammenbruch des Faschismus in Deutsch-
land ist nicht zu erwarten. Das sagen und schreiben wir.
Ebenso sind wir darüber einer Meinung, daß eine Selbstabwirtschaftung des
Faschismus auch nicht zu erwarten ist. Gegen solche fatalistischen Einstellungen
müssen wir scharf, entschlossen auftreten.
Wenn man eine Analogie machen kann, dann kann man sagen, daß dieses
faschistische Regime in Deutschland, diese faschistische Diktatur etwas ähnliches
1934 erreichte das Reichsheer die Stärke von 250.000 Mann, nach einer erneuten Forcierung
im April 1936 waren es etwa 520.000 (siehe: Wilhelm Deist: Die Aufrüstung der Wehrmacht. In:
Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. I:
Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Stuttgart, DVA, 1979, S. 371–532).
144 Die sowjetisch-französischen und sowjetisch-tschechoslowakischen Beistandspakte wurden im
Mai 1935 abgeschlossen.
145 „sagen“ handschriftlich eingefügt.
Dok. 403e: Moskau, 11.2.1937 1337
ist – sagen wir: wie ein großer Felsblock. Dieser Block stürzt herunter, er fällt. Aber
es kommt nicht so plötzlich. Sogar bei einem Erdbeben, bei einer großen Erschütte-
rung kommt es auch nicht plötzlich. Das ist eine langwierige Sache. In der Natur ist
das selbstverständlich mit tausenden von Jahren zu messen. Bei der faschistischen
Diktatur ist das nicht der Fall – es ist ja kein Felsen im buchstäblichen Sinne. Aber
ein langwieriger Prozeß ist es doch, weil verschiedenartige, mannigfaltige, unterirdi-
sche Flüsse dieses Herunterfallen des Felsblockes vorbereiten. Viel Regen und starke
Winde und Einfluß der Sonne sind notwendig. Und plötzlich kommt dann der große
Felsblock herunter. Wir müssen verstehen, daß diese faschistische Diktatur, dieses
faschistische Regime nicht eine gewöhnliche militärische oder polizeiliche Diktatur
ist, eine vorübergehende für 1–2 Monate, für 1–2 Jahre, sondern sie hat eine gesell-
schaftliche Stütze durch eine Massenbewegung bekommen, sie ist durch ideologische
und politische Einflüsse auf verschiedene Volksschichten an die Macht gekommen.
Es ist aber etwas ähnliches wie ein solcher Felsblock, der durch mannigfaltige und
unterirdische Einflüsse, durch verschiedene Einwirkungen erschüttert und gestürzt
werden kann. Wir müssen uns also orientieren nicht auf so eine plötzliche oder sofor-
tige, durch nur ein Mittel, einen Weg, eine Bewegung zu erreichende Liquidierung der
faschistischen Diktatur, sondern auf eine Kombination der verschiedenen Strömun-
gen, Flüsse, Bewegungen, die für die Arbeiterschaft einen Charakter haben, für die
Bauernschaft ein bisschen anders, für das Kleinbürgertum wieder anders usw.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich in bezug auf einen Zwischenruf von Pieck fol-
gende Frage stellen: bedeutet Volksfront in Deutschland eine friedliche Liquidierung
des faschistischen Regimes?
Viele haben über unsere Volksfrontpolitik gesagt: Ach, da haben wir einen Schlüssel
zur Vermeidung der proletarischen Revolution gefunden.
Ohne Blutvergießen, ohne große Massenopfer werden durch diese Politik, durch eine
Volksfrontbewegung unsere unmittelbaren Ziele – sagen wir: demokratische Repu-
blik, Demokratie in Deutschland erreicht. Das ist aber nicht der Fall. Das entspricht
nicht dem Wesen dieser Politik und der Tatsache, daß der Klassenkampf ja nicht auf-
gehört hat. Er hat eine andere Basis bekommen, er hat andere Formen bekommen, und
an diesem Klassenkampf nehmen nicht nur die fortgeschrittenen Teile der Arbeiter-
klasse teil, sondern die überwiegende Mehrheit des Volkes. Und daß in Deutschland
die faschistische Klique und Krupp und Thyssen und alle anderen, die hinter dieser
Führerklique stehen, nicht ohne bewaffneten Kampf die Macht verlassen werden, das
soll für alle Demokraten, nicht nur für alle Kommunisten in Deutschland klar sein.
Also, der Sturz des faschistischen Regimes in Deutschland und einer Reihe
anderer faschistischer Länder wird unbedingt erfordern eine Revolution, aber unter
1338 1933–1939
diesen Verhältnissen eine Volksrevolution.146 Das ist der Unterschied. Eine Volks-
oder eine demokratische Revolution in der ersten Etappe. Ob diese hinüberwächst
in die proletarische Revolution hängt 50 % ab von den inneren Umständen und der
internationalen Lage in der gegebenen Situation.
Genossen, Spanien zeigt uns ganz klar diese Sache. Ohne eine solche Volksre-
volution wird die Abschaffung und Liquidierung des Hitlerregimes in Deutschland
nicht möglich sein. Dieser Standpunkt hat eine entscheidende Bedeutung: die Tat-
sache, dass eine solche Revolution ist nicht durchführbar [sic], ohne die Hauptmas-
sen der Nationalsozialisten für die Bewegung zu gewinnen auf die eine oder andere
Weise, durch diese oder jene Methode, durch diese oder andere Formen, ohne eine
Erschütterung im Lager des Faschismus selbst.
Also, wenn wir durch unsere Volksfrontpolitik, durch unsere Massenarbeit, durch
unseren Kampf in Deutschland das nicht erreichen können, d. h. nicht die überwie-
gende Mehrheit entscheidender Schichten der nationalsozialistischen Massen heran-
ziehen können in diesem großen Kampf, ist es unmöglich, eine siegreiche demokrati-
sche oder Volksrevolution in Deutschland durchzuführen.
Nun, kann man sagen, hier liegt meiner Auffassung nach die Bedeutung dieses
Streits, oder Polemik, oder Differenz um den Aufruf des ZK der Partei. Es wäre eine
falsche Fragestellung, wenn wir die Frage so stellen: entweder Kampf um den Sturz
der faschistischen Diktatur – oder Kampf um die Verteidigung der Interessen der
Volksschichten im Rahmen des faschistischen Regimes. Nicht: entweder – oder. Das
ist nicht dialektisch. Das entspricht nicht der Lage in Deutschland, sondern eins und
das andere richtig zusammenfassen, richtig koordinieren.
So hat niemand von unseren deutschen Genossen die Frage gestellt. Aber so ist
die Frage unter einer Anzahl von aktiven Genossen in Deutschland gestellt. Solche
Auffassungen bestehen. Darum sind solche Hindernisse und inneren Hemmnisse bei
der Durchführung der Volksfrontpolitik in den Reihen der deutschen Arbeiterklasse.
Ebenso ist eine falsche Fragestellung, wenn wir sagen: entweder – Volksfront
gegen Faschismus und für die Liquidierung der faschistischen Diktatur – oder:
gemeinsames Vorgehen in aktuellen Teilfragen mit nationalsozialistischen werktäti-
gen Anhängern. Entweder – oder. Das ist auch absolut nicht richtig. Nicht ein entwe-
der, nicht ein oder, nicht Ja oder Nein, sondern: das und das, Ja und ja. Dann gewinnt
man Proporzionen und eine richtige Koordination.
Die zweite Fragestellung, die auch ein wenig zum Ausdruck gekommen ist in der
jetzigen Polemik.
(Pieck: Nein, soweit ist noch alles richtig, aber kann die Volksfront und gemeinsamer
Kampf der faschistischen Massen geführt werden ohne Volksfront gegen den Faschis-
mus?)
146 Zum Thälmannschen Konzept der „ Volksrevolution“ und der Kritik daran, siehe u.a. Dok. 262.
Dok. 403e: Moskau, 11.2.1937 1339
Genosse Pieck und Gen. Florin haben unterstrichen, dass der Aufruf gibt eine neue
politische Linie der Partei [sic]. Die Genossen sagen, wir machen eine neue strategi-
sche Linie.147 Wenn das Tatsache wäre, dann wäre die Lage der Führung sehr bedenk-
lich und die Folgen daraus müssen eine Umänderung der Führung erforderlich
machen.
Ich habe heute wieder den Aufruf gelesen – wir können nicht von ihm begeistert
sein, aber es ist klar wie zweimal zwei vier ist, dass der Aufruf keine neue politische
strategische Line der Partei bedeutet.148 Nein, das stimmt nicht. Die Autoren dieses Auf-
rufes – das zeigt auch der Inhalt des Aufrufes – haben sich bemüht, eine neue prakti-
sche Anwendung der bekannten politischen Linie, der strategischen Linie der Partei
zu finden. Als einen solchen Versuch muß man den Aufruf betrachten. Aber Pieck
hat vollständig recht, wenn er signalisiert, daß durch diesen Aufruf oder durch eine
solche Fragestellung in gewissen Punkten, in gewissem Maße eine Abweichung von
der politischen Linie da ist und eine neue Linie entstehen kann. Und deswegen muß
man rechtzeitig Maßnahmen treffen. Die Signalisierung von Pieck in dieser Beziehung
ist richtig. Aber ein ablehnendes Verhalten gegenüber diesem taktischen Schritt von
Walter [Ulbricht] und andern Genossen, ein vollständig ablehnendes Verhalten, eine
Verurteilung als eine andere Linie oder eine Linie, die der Linie der Partei widerspricht
– das ist nicht richtig. Unsere Bemühungen sind auf die Schaffung einer Volksfrontbe-
wegung gegen den Faschismus gerichtet, von Kommunistischer Partei, Sozialdemokra-
tischer Partei und andern demokratischen Elementen in Deutschland. Die Volksfront-
bewegung in Deutschland soll also die Zusammenfassung aller demokratischen Kräfte
des deutschen Volkes zum Kampfe für eine demokratische Republik sein.149 Das ist die
sogenannte strategische Linie. Alle taktischen Maßnahmen, die in dieser Beziehung
helfen können, muß man unterstützen. Aber die bleibt. Gleichzeitig muß uns klar sein,
daß wir unter der Parole dieser Volksfrontbewegung nicht die großen Massen der nati-
onalsozialistischen Arbeiter, Angestellten, kleinen Leute usw. in Deutschland mit der
Losung „Nieder mit Hitler“ heranziehen können. Mit dieser Losung können Sie keine
Bewegung unter diesen Leuten schaffen. Das ist ausgeschlossen. Was ist notwendig?
(Und diesen Versuch macht – nicht geschickt, nicht glücklich – der Aufruf.) Wir wollen
Kommunisten, Sozialdemokraten und andere demokratische Elemente mit den natio
nalsozialistischen Massen zusammen für Lohn, gegen Steuerlasten, gegen die Teue-
rung, gegen die Kriegsabenteuer, gegen die Versendung von Kriegsmaterialien und Sol-
daten in Spanien zusammenfassen. Ist das möglich? Es ist möglich. Ist das notwendig?
147 Vermutlich die Linie des „Kampfes gegen die 3000 Millionäre“, siehe entsprechende Einwände
Piecks im vorherigen Dokument.
148 „bedeutet“ handschriftlich eingefügt.
149 Im kommunistischen Widerstand im Deutschen Reich konnte die Volksfrontperspektive und die
Losung der „demokratischen Republik“ kaum verankert werden; teilweise wurden diese offen als
reformistisch zurückgewiesen. Siehe hierzu Dok. 424.
1340 1933–1939
Absolut. Wir wollen das ganze deutsche Volk – außer dieser oberen bekannten Schicht,
die hauptsächlich faschistisch ist, zusammenfassen für einen großen Kampf zur Vertei-
digung des deutschen Volkes. Ist das möglich mit den nationalsozialistischen Massen
zusammen zu machen? Möglich. Ist es notwendig? Absolut notwendig. Widerspricht
das unserer Volksfrontpolitik? Es widerspricht nicht. Die Sache ist nicht die, die natio-
nalsozialistische Terminologie als Partei anzunehmen.150
Nicht die nationalsozialistische Terminologie, die die Massen irregeführt hat und irre-
führt, zur eigenen Terminologie machen: Dieses „Volksgenossen“ usw.151 So müssen
und werden sprechen die nationalsozialistischen Anhänger, die mit uns zusammen-
gehen, die immer unzufriedener mit dieser Politik werden, aber noch nicht vom Nati-
onalsozialismus als ganzes politisches und ideologisches System losgetrennt sind.
Sie werden so sprechen; „Volksgenossen“, sogar mit aller nationalsozialistischen Ter-
minologie; – aber nicht die Kommunisten, die Kommunistische Partei.
[…] Es ist nicht nur eine Frage der Terminologie, sondern auch politisch. Ich
glaube, wenn wir unter der faschistischen Regierung, unter der Herrschaft Hitlers uns
als Kommunisten bemühen, das ganze Volk zu versöhnen, so ist das nicht richtig,
sondern gefährlich. Was bedeutet Versöhnung. Mich interessiert wenig, was mit Ver-
söhnung die Genossen Pieck oder Florin meinen. Mich, die Partei interessiert, wie
diese Versöhnung die Sozialdemokraten, die Katholiken, das ganze Volk versteht. Es
ist klar, wo unsere Partei – um den Kampf gegen Hitler zu führen – eine Wendung
zur Versöhnung mit nationalsozialistischen Organisationen macht für unmittelbare
konkrete Interessen, so wird das verstanden werden – mit oder ohne Unterschrift der
Partei, das ist nicht unterschiedlich – wie es nicht verstanden sein soll. Das führt
Wasser auf die Mühlen des Faschismus. Wir wollen anders. Wir wollen aus anderen
Quellen Wasser für unsere Mühlen finden. So geht es nicht. Hier liegt der politische
Fehler in diesem Punkte, liegt der politische Fehler in den Aufrufen.
Das ist keine andere strategische Linie in dieser Frage, das ist eine Abweichung
von der strategischen Linie und in diesem Punkte liegt der politische Fehler, den aus-
zubessern leider so spät gemacht wird.
Genosse Pieck hat gesprochen gegen neue Rezepte. Ich habe gesagt, wir sind für
neue Rezepte, wenn sie nur gut sind und wir nehmen sie sofort.
Der VII. Kongress hat gute Beschlüsse gefasst. [...] Wir müssen unsere taktischen
Schritte in jeder konkreten Situation durchführen. Selbstverständlich, unbedingt,
sonst werden keine Fortschritte, keine Erfolge sein! Wir haben nicht nur gern – wir
lieben unsere deutsche Partei! Die deutsche Partei ist unser Stolz, sowohl als Partei
wie auch als Proletariat. Trotz alledem! Aber wir müssen doch kritisch sein. Die deut-
schen Genossen müssen sich in dieser Beziehung besonders kritisch verhalten! Wie
das kommt – historisch oder nicht historisch, ich weiss es nicht, man muss es unter-
suchen – aber Tatsache ist, dass in der deutschen Arbeiterbewegung mit ihrer 40
bis 50 Jahre alten Tradition – tief bis auf die Knochen ein Schematismus, Formalis-
mus, Mechanismus herrscht. Durch und durch! Sogar bei grossen opportunistischen
Tatsachen kann man in der deutschen Partei historisch fühlen solchen Schematis-
mus. Immer Pläne! Besonders in der Gewerkschaftsbewegung kann man das fühlen
– werden Pläne auf Stunden, sogar auf Minuten festgestellt. Das ist eine schlechte,
gefährliche Erbschaft, die unsere Partei mitbekommen hat. Und diese Erbschaft hat
uns viel, viel geschadet, in der Zeit der Weimarer Republik. Wir konnten damals nicht
alles richtig genug ausnutzen, nicht nur, weil oft unsere Parteieinstellung nicht richtig
war, sondern wir waren Gefangene des Schematismus. So muss das Schema sein –
und dieser Schematismus ist bis jetzt nach der Niederlage der Partei weiter gewesen.
Wieviel Stunden hat unsere operative Leitung z. B. für einen Arbeitsplan gebraucht!
Stellen Sie sich vor, daß im Auslande – nicht im Lande selbst; die Leute sitzen weit
von Berlin und Hamburg entfernt – ein ausführlicher Plan geschrieben wird, wie das
und das an diesem und diesem Datum, an diesem Tage, in diesem Monat gemacht
werden soll. Schematismus! Formalismus! Ihre Köpfe sind so mit Fesseln zusam-
mengedrückt durch diesen Schematismus. Vielleicht ist es ein bißchen grob. Aber
glauben Sie mir, ich habe diese Sache durchdacht. Ueber diese Sache habe ich auch
in Leipzig, in Moabit viel nachgedacht.152 Wie kommt das in die deutsche Partei und
in die deutsche Bewegung? Ich kann mich von einer solchen Schlußfolgerung beim
besten Willen nicht befreien, und ich bin überzeugt, daß das eine Tatsache ist. Hier
liegt eine große Schwäche der ganzen Partei und der Parteileitung.
Nehmen Sie z. B. die Frage des trojanischen Pferdes.153 Ich habe in meinem
Bericht darüber gesprochen. Ich und andere Genossen, die alle Fragen des Kongres-
ses bearbeitet und besprochen haben, die verschiedene Formulierungen gemeinsam
ausgearbeitet haben – niemand von uns hat daran gedacht, daß dieses trojanische
Pferd eine Losung sein wird. Hoch das trojanische Pferd!
Ich habe dieses klassische Beispiel damals ausgenutzt, um damit unsern revolutionä-
ren Kommunisten, die große Sektierer sind, zu zeigen: hier haben Sie ein historisches
Beispiel – Legende oder Wirklichkeit –, das ganz gut ist, um unsere Gedanken zu illus-
trieren. Ohne Skrupel, ohne Hemmungen gehen Sie als beste Revolutionäre, wie die
Leute damals mit diesem Pferd, hinein in die faschistischen Organisationen. Nicht in
152 Leipzig, Moabit: Dimitrov meint die Zeit seiner Inhaftierung im Zusammenhang mit dem
Reichstagsbrand-Prozess.
153 Zur Taktik des „Trojanischen Pferdes“, d.h. des Eindringens der KPD in die NS-Massenorganisa-
tionen, siehe grundlegend Dok. 383.
1342 1933–1939
die Kanzleien von Hitler und Goehring [sic], nicht in die Staatsführung, sondern in
die faschistischen Massenorganisationen. Stellen Sie sich nicht gleich vor als Kommu-
nisten und Revolutionäre! Schweigen Sie dort über dieses Thema! Stellen Sie sich als
Sympathisierende, selbst als Nationalsozialisten vor – und machen Sie die Sache der
Arbeiterbewegung, der Arbeiterklasse, der proletarischen Revolution! Und nehmen Sie
jetzt die Dokumente. Das trojanische Pferd! Die Taktik des trojanischen Pferdes! Das ist
die Hauptlosung. – Das geht nicht. Gegen diese Sache muß ein Kampf geführt werden.
Und mit dem Aufruf ist ein richtiger neuer taktischer Schritt gemacht. Nehmen Sie das
weg, was politisch nicht richtig, was politisch falsch und gefährlich ist. Nehmen Sie
die nationalsozialistische Terminologie weg – und was bleibt? Es bleibt ein Auftreten
der Kommunistischen Partei mit der Bereitschaft, zusammen mit den nationalsozia-
listischen Arbeitern, Angestellten, kleinen Leuten für die täglichen Lebensinteressen
und Rechte zu kämpfen; für die Selbstverwaltung in der „Arbeitsfront“, für die Selbst-
verwaltung in den Gemeinden, für Lohn, für das und das (ich brauche nicht alles, was
bekannt ist, anzuführen). Und damit im Zusammenhang: keine Soldaten und keine
Flotte nach Spanien, kein Geld für die spanischen Konterrevolutionäre, keinen Krieg!
Verständigung mit den Völkern Frankreichs, Englands, der Tschechoslowakei, der
Sowjetunion, mit allen Völkern! Verständigung! Wir brauchen nicht Spanien! Wir brau-
chen keine Kolonien in Südafrika oder Indien! Wir brauchen nicht einen Krieg mit der
Sowjetunion zu führen! Wir brauchen Brot, Freiheit, Unabhängigkeit, Glück! Wir sind
nicht gegen eine bewaffnete Macht unseres Volkes, nein, wir sind für eine Armee. Wir
müssen uns verteidigen. Aber wir müssen eine Volksarmee haben gegen den imperia-
listischen Feind. Wir sind nicht gegen die Reichswehr, als Reichswehr, wir sind nicht
gegen bewaffnete Kräfte des Volkes. Aber wir sind dagegen, die Kräfte des Volkes aus-
zunutzen. Und in diesem Zusammenhange müssen wir in unserer Agitation, in unserer
Propaganda, in unserer praktischen politischen Arbeit zeigen die Tatsachen. Tatsachen
sind vorhanden, dass niemand in der jetzigen Situation das deutsche Volk bedroht.
Niemand bereitet gegen das deutsche Volk den Krieg vor, d.h. der deutsche Faschismus
bereitet den Krieg vor. Wir haben bis jetzt keinen Vergleich zu der Lage der Massen in
der Sowjetunion unter der proletarischen Diktatur und der Sowjetdemokratie und der
Lage der Arbeiter, Bauern, Jugend, Frauen. Es war kein Vergleich – so ist es bei uns,
so dort. Wir müssen etwas mehr machen inbezug auf Vergleich der Lage der werktäti-
gen Schichten mit der Lage dieser Schichten in Frankreich. In Frankreich regiert und
herrscht der Kapitalismus. Jeder weiss das. Und doch ist dort eine Volksfrontbewegung
und eine Regierung, die sich auf die Volksfront stützt.154 Das ist sehr wichtig, das muss
154 Das im Juli 1934 geschlossene Bündnis der beiden großen Arbeiterparteien in Frankreich
wurde auf Drängen der Komintern und der KP durch die Radikale Partei, seinerzeit die stärkste
bürgerliche Partei in Frankreich, erweitert. Im Mai 1936 erfolgte der Wahlsieg der Volksfront und die
verspätete die Bildung der Regierung der „Front populaire“ am 5.6.1936. Die KPF gehörte der unter
dem Ministerpräsidenten Léon Blum gebildeten Regierung nicht an, die vor allem auf Druck der
sozialen Bewegungen und Streiks der Arbeiter historische Zugeständnisse wie die 40-Stundenwoche,
bezahlten Urlaub, Verstaatlichungen (SNCF) und Lohnerhöhungen machte. Seit Februar 1937 wurden
Dok. 403e: Moskau, 11.2.1937 1343
man aufzeigen: das hat das französische Volk erreicht. Das wirkt auf nationalsozialis-
tische Arbeiter und breite Schichten in Deutschland mehr, als ein Vergleich zwischen
Sowjetunion und Deutschland. Jeder wird sagen, von der Sowjetunion erwarten sie
nichts anderes. Dort sind andere Verhältnisse, dort war Lenin, dort ist Stalin, bei uns ist
das nicht der Fall. Was aber in Frankreich ist, kann auch durch Sturz des Hitlerregimes
in Deutschland erreicht werden.
Die nationalsozialistische Demagogie unter den Kleinbürgern und beim Bür-
gertum bewegt sich in der Weise, dass man erklärt: die Volksfront in Frankreich ist
bolschewistisch, in Frankreich wird eine bolschewistische Politik getrieben, Moskau
diktiert in Paris usw.
Wir müssen vor den Massen des deutschen Volkes aufzeigen, dass das nicht
den Tatsachen entspricht, dass die Volksfront, die Regierung, die gestützt ist auf die
Volksfront, keine bolschewistische sind, dass das nicht ein bolschewistisches Regime
ist. Es ist ein demokratisches Regime. Dieses Gespenst, diese Demagogie, das Klein-
bürgertum und verschiedene Schichten in Deutschland zu erschrecken, was die Nati-
onalsozialisten nach meiner Ansicht ausserordentlich geschickt machen, müssen wir
durch eine besondere spezielle Aufklärung beseitigen. Das ist eine ständige Frage.
Noch ein Wort zu diesem Aufruf. Ein solcher taktischer Schritt (ich möchte, daß
besonders Genosse Walter [Ulbricht] das richtig versteht) ist eine sehr wichtige Sache
für eine illegale Partei. Für die legalen Parteien gilt das auch, aber besonders für eine
illegale Partei. Solche neuen Schritte, taktischen Maßnahmen muß man immer erst
gut durchdenken, überlegen, richtig formulieren und dann zweitens die Partei vorbe-
reiten, nicht plötzlich wie eine Bombe vom Himmel in die Partei oder in die Massen
werfen! Dieser Aufruf ist herausgegeben und veröffentlicht ohne eine gründliche
Besprechung, Ueberlegung erstens in der Parteileitung selbst. Zweitens wäre es gar-
nicht schlimm gewesen, wenn die Genossen auch mit dem Sekretariat der Komintern
über diese Frage etwas gesprochen hätten. Sie sind selbstverständlich autonom auf
Grund der Beschlüsse des VII. Weltkongresses. Sie sind die unmittelbare operative
Leitung. Sie tragen die Verantwortung für die Partei. Aber die Partei braucht die Unter-
stützung der Internationale. Die Partei arbeitet und soll arbeiten im Einverständnis
mit der Internationale. Mit den anderen Parteien sollen sie sich auch verständigen
über eine solche Sache. Die können auch der deutschen Partei etwas helfen. [...] Man
muß überlegen, wie bei solchen schwierigen Verhältnissen wie in Deutschland die
Partei wirklich die Massen führen kann; nicht unmittelbar durch einen Kommunis-
ten an Ort und Stelle, sondern durch eine solche Beeinflussung. Die Geschichte der
bolschewistischen Partei gibt tausende und tausende Beispiele in dieser Beziehung.
jedoch der Reformprozeß zurückgedreht (siehe: Serge Wolikow: Le Front populaire en France, Brux-
elles, Editions Complexe, 1996; Pierre Broué, Nicole Dorey: Critiques de gauche et opposition révolu-
tionnaire au Front populaire. 1936–1938. In: Le Mouvement Social (1966), 54, 90–133).
1344 1933–1939
Dok. 403f
Redebeitrag Dimitrovs über den neuen Typus der Volksdemokratie
für Deutschland
Moskau, 20.2.1937
Dimitroff: – Die schlechteste Formulierung ist der Punkt über die demokratische
Revolution und die Volksrevolution.155 Hier muss man die Frage neu stellen und
anders formulieren. Es beginnt: „Es ist keineswegs zu erwarten (...)“ usw. bis (...)
“gestürzt werden kann“, das ist richtig. Dann kommt: „Die Revolution gegen Hitler-
faschismus kann aber nur eine demokratische, eine Volksrevolution sein (...)“ Das
ist keine Erklärung. Was ist faktisch? Abschaffung des faschistischen Regimes ist die
unmittelbare Perspektive. Nach diesem Kampf gegen Diktatur des Faschismus, Ver-
teidigung der Interessen der Massen. In der jetzigen Etappe ist notwendig, die Verei-
nigung aller Kräfte des deutschen Volkes, die kein Interesse am Weiterbestehen und
der Existenz der faschistischen Diktatur haben, selbst ein Teil der Bourgeoisie. Eine
solche Front des deutschen Volkes gegen faschistische Diktatur, gegen faschistischen
Regime kann nur einen Kampf führen um die demokratische Republik in Deutsch-
land. Dieser Kampf wird sich entwickeln zu einer Revolution gegen faschistische Dik-
tatur. Sie wird eine demokratische Revolution sein, weil die überwiegende Mehrheit
der Bevölkerung in Deutschland noch nicht reif ist zur unmittelbaren Errichtung der
proletarischen Diktatur. Eine solche Begründung muss vorhanden sein. Dann wird
auch klar sein, warum die Kommunistische Partei mit anderen Schichten für eine
demokratische Republik kämpft, um mit diesen vereinigten Kräften die demokrati-
sche Revolution durchzuführen. Wie das weitergehen wird in der Entwicklung, das
ist eine andere Frage. Wir müssen populär sagen, das Volk wird entscheiden, welche
Formen usw. Das ist eine andere Frage. Klar ist, dass diese deutsche demokratische
Republik eine antifaschistische sein wird, dass für Faschisten in dieser neuen demo-
kratischen Republik kein Platz vorhanden sein wird. Die unmittelbare soziale Basis
für den Faschismus wird erschüttert, die Wiederherstellung und Wiedererstarkung
des Faschismus wird nicht möglich sein. Das Volk wird einen überwiegenden Einfluss
auf diese Republik haben, die ausschliesslichen Privilegien des Finanzkapitals, des
Grosskapitals werden beschnitten werden.
Für uns als Kommunisten und kommunistische Leiter der Arbeitermassen soll
es klar sein, dass es durchaus möglich ist, in einer solchen Situation bei der Exis-
tenz eines solchen grossen Staates, wie die Sowjetunion, einen Kampf gegen den
Faschismus zu entwickeln. Es ist durchaus möglich, dass neben der Sowjetunion
155 Die „Kommission zur deutschen Frage“ diskutierte hier die Entwurffassung der Resolution „zu
den nächsten Aufgaben der KPD“ (siehe folgendes Dokument).
Dok. 403f: Moskau, 20.2.1937 1345
Am 13.3.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den in Westsibirien – in der Re-
gion zwischen dem Ural und dem Fluß Jenissej lebenden Ausländern (in erster Linie handelte es sich
dabei um Deutsche, Polen und Japaner) die Verlängerung ihrer Meldebescheinigung zu verweigern.
Dabei sollten diejenigen Ausländer, „die als Spione und Diversanten entlarvt werden“, verhaftet und
verurteilt werden. Die Fälle der in Westsibirien lebenden ausländischen Kommunisten und Politemi-
granten sollten einzeln von einer aus Elena Stasova, Jakov Agranov und Moskvin gebildeten Kommis-
sion untersucht werden.158
Am gleichen Tag wurde beschlossen, für die Reste des deutschen 15-Millionen-Kredits Matrizen für
die Druckerei der Leningradskaja pravda zu kaufen.159
156 Auslassung im Original.
157 Demokratische Länder neuen Typs: Hier wird von Dimitrov das nach 1945 allgemein gültige
Konzept der „Volksdemokratie“ vorformuliert, das im spanischen Bürgerkrieg erprobt und später
präziser definiert wird (vgl. Dok. 457). Zugleich signalisieren die Formulierungen für Deutschland
und Spanien den Bruch der Komintern und der kommunistischen Parteien mit ihrer revolutionären
Tradition (siehe: Fernando Claudin: La crise du mouvement communiste. Du Komintern au Komin-
form. Préface de Jorge Semprún. Traduit de l’espagnol par Carlos Semprun, Paris, Maspero, 1972).
158 RGASPI, Moskau, 17/162/20, 209.
159 APRF, Moskau, 3/64/664, 163. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 155.
1346 1933–1939
Dok. 404
Resolution des Komintern-Sekretariats zu den nächsten Aufgaben
der KPD, dem Kampf gegen Faschismus und Trotzkismus als
„Hauptkriegstreiber“
Moskau, vor dem 17.3.1937160
Vertraulich.
I. Die ganze innere und internationale Lage Hitlerdeutschlands zeigt nach vier Jahren
faschistischer Diktatur steigende Schwierigkeiten. Hitler treibt das deutsche Volk
zum Krieg. Die faschistische Politik der Vorbereitung eines Eroberungskrieges, die
die gesamte Wirtschaft und das Leben des deutschen Volkes diesem Ziel unterstellt,
hat die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage,
das Herabdrücken der Lebenshaltung aller werktätigen Schichten, die Unzufrieden-
heit der nationalsozialistischen Massen über die Nichteinhaltung der faschistischen
Versprechungen, die wachsende Isolierung Deutschlands zur Folge.
a) In den ersten Jahren seiner Herrschaft konnte der Faschismus die bestehenden
Rohstoffe, Gold- und Lebensmittelvorräte, die finanziellen Bestände der Sparkassen,
Versicherungen und Massenorganisationen, das beschlagnahmte Kapital jüdischer
Eigentümer ausnützen, um seine Kriegsrüstung unter der Maske der Arbeitsbeschaf-
fung durchzuführen.161 Während in den meisten kapitalistischen Ländern eine Ver-
besserung der wirtschaftlichen Lage bemerkbar ist, zeigt sich immer offener, dass
der Faschismus besondere Hindernisse für das wirtschaftliche Leben des kapitalis-
tischen Deutschlands schafft. [...] Je mehr er im Interesse seiner Kriegspolitik die
wirtschaftlichen und finanziellen Kräfte des Landes vergeudet, die Konsumtion der
Massen einschränkt, desto grösser werden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des
Hitlerfaschismus, der mit der Pistole in der Hand wirtschaftliche Hilfe und Anleihen
von den demokratischen Ländern fordert, um besser den Krieg gegen diese Länder
vorbereiten zu können.
160 Das Dokument, das als Ergebnis der Diskussion der „Deutschen Kommission“ (siehe Dok. 403f)
entstand, ist undatiert. Die Abschrift wurde am 9.3.1937 gefertigt (RGASPI, Moskau 495/18/1169, 1), die
maßgebliche Abschrift mit dem Aufkleber „OKONČATELʼNYJ TEKST“ („ENDGÜLTIGER TEXT“) wurde
am 17.3.1937 gefertigt.
161 Die Beschlagnahmung von jüdischem Kapitalbesitz erfolgte auf Grundlage einer Gesetzesiniti-
ative aus dem Frühjahr/Sommer 1933. Die eigentlichen Beschlagnahmungen begannen im Spätsom-
mer 1933. Sie bildeten eine der Maßnahmen des sog. „Judenboykotts“.
Dok. 404: Moskau, vor dem 17.3.1937 1347
162 Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften verlagerten sich die Regelungen zu Arbeitsbedin-
gungen und Löhnen zunehmend in die Betriebe. Durch vielfältige Mechanismen (etwa über die
Ideologie der „Volksgemeinschaft“, worüber Druck auf Arbeiter ausgeübt werden konnte) waren Be-
triebs- und Staatspolitik stark verzahnt, die Lohnentwicklung lag jedoch nicht komplett in der Hand
des NS-Staates, der ein totales Verbot von Lohnerhöhungen weder durchsetzen wollte noch konnte.
Die Bruttoarbeitsverdienste stiegen bis zum Kriegsanbruch kontinuierlich geringfügig an (siehe: Tilla
Siegel: Die gekaufte Arbeiterklasse? Lohnpolitik im nationalsozialistischen Deutschland. In: Gewerk-
schaftliche Monatshefte (1984), H. 9, S. 533–545).
163 Zur Unterstützung Francos durch Hitler siehe Dok. 402.
164 Deutsch-japanischer Vertrag: Gemeint ist der am 25.11.1936 abgeschlossene sogen. Antikomin-
ternpakt zwischen NS-Deutschland und Japan. Neben dem offiziell deklarierten Ziel der Bekämpfung
der Komintern beinhaltete ein geheimes Zusatzprotokoll die Verpflichtung, wohlwollende Neutralität
bei einem Angriff seitens der Sowjetunion zu bewahren und keine Verträge mit der Sowjetunion ab-
zuschließen, die dem widersprächen. Italien sollte sich erst im November 1937 dem Pakt anschließen,
die „Verständigung“ spielt auf die als „Achse Berlin–Rom“ bekannte Annäherung der beiden Mächte
ab Ende 1936 an.
1348 1933–1939
stürzen. Deshalb ist der Kampf für den Frieden, gegen die Kriegswirtschaft, gegen die
Eroberungspolitik, gegen die Intervention in Spanien das entscheiden[d]ste Ketten-
glied im Kampfe gegen den Hitlerfaschismus.
Das Sekretariat des EKKI stellt fest, dass diese entscheidende Erkenntnis noch
nicht zum Gemeingut der Partei und der deutschen Antifaschisten geworden ist, dass
bis heute noch starke Stimmungen vorhanden sind, dass unter den jetzigen Umstän-
den keine Massenbewegungen, keine erfolgreiche Massenarbeit und Massenpolitik
der Antifaschisten möglich seien und dass man nur passiv abzuwarten habe, bis
Hitler den Krieg in Europa beginnt, der zum Sturz des Hitlerregimes führen wird.
Solche Stimmungen sind schädlich, indem sie unter radikaler Maske die Massen in
Passivität halten und objektiv Hitlers Kriegspolitik erleichtern.
Das Sekretariat des EKKI stellt auch fest, dass der Kampf gegen die faschistische
Intervention in Spanien, in Deutschland selbst ungenügend geführt wurde.
III. Dem Faschismus ist es bis jetzt noch gelungen, sich eine grosse Massenbasis zu
erhalten und seinen terroristischen Apparat zu verstärken. [...] Teile der Arbeiter-
schaft und besonders die Jugend stehen unter dem Einfluss der sozialen Demagogie
und der faschistischen Ideologie überhaupt. [...] Wenn es noch nicht zu breiten Bewe-
gungen gekommen ist, so auch infolge des sektiererischen Unverständnisses in den
Reihen der KPD und der Antifaschisten gegenüber den neuen Bedingungen und den
veränderten Formen des Klassenkampfes und des antifaschistischen Kampfes.
Doch die Massen beginnen auf neue Weise zu handeln, indem sie im Rahmen des
faschistischen Regimes in den faschistischen Massenorganisationen selbst für ihre
wirtschaftlichen Interessen und ihre Rechte eintreten. Das wird auch begünstigt durch
die Verminderung der Arbeitslosigkeit und durch den Mangel an Facharbeitern. Die
nationalsozialistischen Massen setzen sich in stärkerem Masse für die Durchführung
der früheren Versprechungen des Faschismus ein. Es wächst die Erkenntnis über die
Möglichkeit, noch jetzt, trotz des faschistischen Regimes gewisse wirtschaftliche Ver-
besserungen zu erkämpfen. Die im wesentlichen gleichen sozialen Interessen und
gemeinsame Unzufriedenheit der antifaschistischen und der nationalsozialistischen
werktätigen Massen schaffen die Bedingungen solcher Bewegungen auf breitester
Basis.165
VI. Der Kampf um die Erhaltung des Friedens und für den Sturz Hitlers erfordert die
Vereinigung und Aktivisierung aller Kräfte des deutschen Volkes, die kein Interesse
am Weiterbestehen der faschistischen Diktatur haben. Daraus ergibt sich:
a) Der Faschismus hat alle Volksrechte und demokratischen Einrichtungen liqui-
diert. Als Vertreter der reaktionärsten Gruppen des Grosskapitals und des Gross-
grundbesitzes hat er Deutschland um Jahrhunderte zurückgeworfen. Es entsteht und
wächst eine tiefe Sehnsucht nach demokratischer Freiheit, die die Arbeiter, Bauern,
165 In der Endfassung wurden zwei Zeilen sinnentstellend vertauscht – die richtige Reihenfolge ist
rekonstruiert aufgrund der korrigierten Entwurfsfassung im Archiv (siehe RGASPI, 495/18/1169, 21).
Dok. 404: Moskau, vor dem 17.3.1937 1349
den Mittelstand, die Intelligenz und auch gewisse Kreise des Bürgertums erfasst. Die
Losung einer demokratischen Republik ist die Losung, die auf der jetzigen Etappe die
breitesten Massen des Volkes vereinigt. [...]
b) Die Einigung des Volkes gegen den Faschismus erfordert nicht nur die Einheit
der Arbeiterklasse und aller antifaschistischen Kräfte, sondern auch die Beteiligung
grosser nationalsozialistischer Massen. [...] Eine solche Massenpolitik ist unter den
gegenwärtigen Verhältnissen nur möglich auf der Basis der faschistischen Massen-
organisationen und unter Ausnützung jeder Funktion, wobei die Vertretung der täg-
lichen Interessen und Rechte in der Deutschen Arbeitsfront im Mittelpunkt stehen
muss. Auf diesem Wege wird es auch möglich sein, ein wirklich vertrauensvolles,
gemeinsames Handeln der Hauptmasse der Sozialdemokraten, Katholiken usw. mit
den Kommunisten herbeizuführen.
c) Ein konsequenter und erfolgreicher Kampf um den Frieden für die täglichen
Interessen der Massen, für den Sturz Hitlers, erfordert den Aufbau und die Stärkung
der Parteiorganisation, die der Motor des gesamten Massenkampfes ist. Sektierer-
tum und Schematismus, Unverständnis der veränderten Bedingungen des Kampfes
in Deutschland, sind noch bis heute grosse Hindernisse zur Durchführung der
Beschlüsse des VII. Weltkongresses und der Brüsseler Konferenz der KPD. Ausseror-
dentlich wichtig ist deshalb die ideologische Stärkung der Parteikader und die Schaf-
fung von solchen Parteiorganisationen und Parteileitungen, die die konsequente
Durchführung der Parteilinie sicherstellen.
V. Der Oktoberaufruf der Partei „An das Deutsche Volk“ war eine richtige Initiative
der operativen Leitung, die Taktik der Partei in der Richtung einer breiteren Massen-
politik zu entwickeln.166 Es war taktisch richtig, ausgehend von den gemeinsamen
Interessen des deutschen Volkes solche Forderungen, die die Lebensinteressen des
ganzen Volkes betreffen, in den Vordergrund zu stellen und die Möglichkeit und
Notwendigkeit des gemeinsamen Vorgehens des Volkes gegen die oberen kapitalis-
tischen Schichten und faschistische Bürokratie zu zeigen. Absolut notwendig ist das
Anknüpfen an die faschistischen Versprechungen, am den Weg zur Annäherung und
zum gemeinsamen Kampf mit den faschistischen Massen zu finden. Aber der Aufruf
geht weiter als dieses richtige Ziel, indem er die Losung der „Versöhnung“ des deut-
schen Volkes aufstellt, die im jetzigen Deutschland als politische Versöhnung mit der
Nationalsozialistischen Partei ausgelegt werden kann.
Das Sekretariat des EKKI stellt dabei fest, dass solche wichtigen taktischen
Schritte nur nach einer kollektiven Vorbereitung vom Zentralkomitee der Partei und
im Einvernehmen mit dem Sekretariat der Komintern unternommen werden sollen,
was in diesem Falle nicht geschehen ist.167
166 Oktoberaufruf: Gemeint ist der Aufruf der KPD „Versöhnung des deutschen Volkes für Frieden,
Freiheit und Wohlstand, gegen die 3000 Millionäre!“ vom Oktober 1936. Siehe Dok. 403 und folgende.
167 Zur Kritik am Versöhnungs-Aufruf der KPD siehe die Auseinandersetzung in den vorhergehenden
Dokumenten.
1350 1933–1939
VI. In der Herstellung der Einheitsfront und Volksfront hat die Partei im letzten Jahre
einige Teilerfolge errungen (Annäherung an die sozialdemokratischen Arbeiter in den
Betrieben und auch Zusammenarbeit mit einigen sozialdemokratischen Gruppen;
Zusammenarbeit im Ausland mit sozialdemokratischen Funktionären, Volksfrontauf-
ruf in Paris).168 [...]
Inbezug auf die verschiedenen Splittergruppen (SAP,169 Revolutionäre Sozia-
listen u. a.)170 sollen alle Anstrengungen gemacht werden, diese Gruppen und ihre
Anhänger für einheitliches antifaschistisches Handeln zu gewinnen. Dabei ist es
besonders notwendig, die konterrevolutionären trotzkistischen Elemente, die sich in
diese Gruppen einschleichen und sie benutzen, um ihr volksfeindliches Gift in der
Arbeiterbewegung zu verbreiten, schonungslos zu entlarven und sie als Agenten des
Faschismus aus der Arbeiter- und antifaschistischen Bewegung auszurotten.
Was den Kampf um die Wiederherstellung einer unabhängigen Gewerkschaftsbe-
wegung betrifft, ist in Deutschland eine feste Orientierung auf die Aktivisierung und
das gemeinsame Handeln der früheren Mitglieder des ADGB, der christlichen Gewerk-
schaften und der verschiedenen Angestelltenverbände zu nehmen.171 Die gewerk-
schaftliche Tätigkeit der Antifaschisten innerhalb der Deutschen Arbeitsfront ist die
Grundlage für die Schaffung einer einheitlichen gewerkschaftlichen Bewegung. Die
Kommunisten sind für die unbedingte gewerkschaftliche Einheit und arbeiten aktiv
168 Gerade aufgrund der von Ulbricht umgesetzten Moskauer Instruktionen und dem Terror
in der Sowjetunion geriet das Projekt einer deutschen Volksfront 1937 in eine Existenzkrise. Die
„Osterkonferenz“ des Volksfrontausschusses (10.-11.4.1937) war die erste und letzte gemeinsame
Konferenz mit den Sozialdemokraten und linken Sozialisten (Babette Gross). Sie beschloß eine
„Botschaft an das deutsche Volk“, die ein „sozialistisches Deutschland“ nach Hitler propagierte. Wie
viele Sozialdemokraten und unabhängige Sozialisten zog sich auch Münzenberg immer stärker aus
der Arbeit im Volksfrontausschuss zurück, der für Walter Ulbricht und die KPD-Leitung „nur noch
eine willkommene Basis (bildete), um sich an sozialdemokratische Gruppen im Reich zu wenden
und um von Kommunisten gebildete ‘Freundeskreise der Volksfront’ im Ausland zu gründen, in
denen Kommunisten das Wort führten.“ Am 16.11.1937 teilte der saarländische Sozialdemokrat
Max Braun dem KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck schriftlich den Beschluss der Nichtkommunisten
im Volksfrontausschuss mit, alle gemeinsamen Aktivitäten mit den Vertretern der KPD bis zur
Beseitigung der Ursachen der Konflikte ruhen zu lassen (siehe: Langkau-Alex: Deutsche Volksfront,
Bd. 2; Babette Gross: Willi Münzenberg, S. 305f.).
169 Gemeint ist die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD).
170 Die Revolutionären Sozialisten Deutschlands (RSD) waren eine linke Oppositionsgruppe
innerhalb des Prager SPD-Vorstandes. Die Gruppe, die effektive, in Deutschland wirkende
Widerstandsstrukturen aufgebaut hatte, setzte sich zeitweise für eine Aktionseinheit mit der KPD ein.
Als sich die RSD jedoch im September 1937 selbst auflöste, spielte neben dem Druck seitens der SPD
auch die Klage über die Undurchsichtigkeit der Manöver der KPD-Führung eine Rolle (siehe: Jutta
von Freyberg: Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Revolutionären Sozialisten Deutschlands vor
dem Problem der Aktionseinheit 1934–1937, Köln, Pahl-Rugenstein, 1973).
171 Vgl. Äußerungen der Komintern-Führung zur Zerstörung des ADGB, dessen Erben die Faschisten
und die Kommunisten sind, Dok. 328.
Dok. 404: Moskau, vor dem 17.3.1937 1351
für die Zusammenfassung aller gewerkschaftlichen Kräfte bei der GAD (Komotau)
und bei den gewerkschaftlichen Industriegruppenleitungen.172 [...]
VII. Um die entscheidende Kraft – die Arbeiterklasse – in Bewegung zu bringen, ist die
Entfaltung der Masseninitiative zur Vertretung der Arbeiterinteressen in der Arbeits-
front notwendig. Das erfordert weiter, dass die Kommunisten in den Betrieben und
innerhalb der DAF173 sich für ein kollektives Handeln aller Arbeiter und Angestell-
ten, für Erhöhung der Löhne, Erzielung von Teuerungsausgleichen, für Unfallschutz,
gegen Strafen, für kollektive Vertretung bei Festsetzung des Akkords oder Gedinges
durch Kameradschaftsvertrauensleute oder Kommissionen, für die Erweiterung der
172 Die Gewerkschaftliche Auslandsvertretung Deutschlands (abgek. GAD oder Geade, auch bekannt
als Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften, abgek. ADG) war die vom Remscheider SPD-
Politiker und DMV-Sekretär Heinrich Schliestedt (1883–1938) im tschechischen Chomutov (deutsch: Ko-
motau) 1935 aufgebaute Exil-Gewerkschaftszentrale, die – mit mäßigem Erfolg – als Link zwischen den
internationalen Gewerkschaftsverbänden und der illegalen Gewerkschaftsarbeit in Deutschland fun-
gieren sollte. Die Organisation distanzierte sich scharf von der KPD wie auch von linkssozialistischen
Gruppen wie „Neu Beginnen“. Als Schliestedt Ende 1935 einen Aufruf zur Zusammenarbeit aller exilier-
ter Gewerkschafter herausbrachte und daraufhin GAD-Landesgruppen in den Exilländern entstanden,
gründete sich im März 1937 als Konkurrenzverband zur französischen GAD-Landesgruppe der „Koordi-
nationsausschuss deutscher Gewerkschafter“, an dem auch RGO-Funktionäre, darunter Paul Merker,
teilnahmen. Somit unterstützten die Kommunisten, anders als im Dokument suggeriert, keineswegs die
Zusammenfassung der gewerkschaftlichen Kräfte unter dem Schirm der GAD. Der Koordinationsaus-
schluss, der im Gegensatz zur GAD die Untergrundarbeit in der Deutschen Arbeitsfront befürwortete,
geriet immer stärker in das Fahrwasser der KPD. Seine Tätigkeit wird in der Literatur unterschiedlich
dargestellt. Nach Willy Buschak zerbrach er bereits Ende 1937 und die GAD soll ihre Tätigkeit erheblich
reduziert haben, als Schliestedt im April 1938 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam („Die ADG,
die weiterhin existierte, ein Büro beim IGB unterhielt, das von Bruno Süß geleitet wurde, war nur noch
eine Exilvertretung.“). Es habe aber kein Geld mehr für illegale Arbeit gegeben (Willy Buschak: „Arbeit
im kleinsten Zirkel“. Gewerkschaften im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Hamburg, Ergeb-
nisse Verlag, 1993, S. 171–206 – hier auch das Zitat). Der Ausschuß bestand jedoch weiter (wie auch die
AdG), in dem der mit Münzenberg verbundene „oppositionelle“ Kommunist Walter Oettinghaus eine
führende Rolle übernahm. Seitens der AdG erfolgte infolge des Stalin-Hitler-Paktes am 26.8.1939 die
Aufforderung an alle nichtkommunistischen Mitglieder, den Koordinationsausschuss der Gewerkschaf-
ten zu verlassen, was jedoch von Oettinghaus und der „Münzenberg-Gruppe“ im Sinne einer zukünf-
tigen Einheitsgewerkschaft abgelehnt wurde (siehe: Uwe Schledorn: Der Reichstagsabgeordnete und
Metallgewerkschaftler Walter Oettinghaus: das Lebensbild eines westfälischen Arbeiterfunktionärs in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung, Ruhr-Univer-
sität Bochum, 1990, S. 147f. u.a.; mit Vorsicht: Horst Bednarek: Der Koordinationsausschuss deutscher
Gewerkschafter in Frankreich 1937. Der antifaschistische Kampf der Gewerkschafter und ihr Beitrag für
die Aktionseinheit der Arbeiterklasse. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14 (1966), S. 745–757).
173 Deutsche Arbeitsfront, 1933 gegründeter und mit den Mitteln der zerschlagenen Gewerkschaften
finanzierter NS-Einheitsverbund von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, in erster Linie zur Integration
der Arbeiterschaft in das NS-System, das sich propagandistisch auch „volksgemeinschaftlicher
Arbeiterstaat“ nannte. Der DAF gehörten zahlreiche Unterorganisationen an, darunter auch „Kraft
durch Freude“ (KdF). Reichsleiter war Robert Ley (1890–1945).
1352 1933–1939
Rechte der Amtswalter der DAF und der Vertrauensräte, für die Wahl derselben sowie
für die Mitgliederrechte in der DAF einsetzen.
Je mehr Funktionen in der DAF von antifaschistischen Gewerkschaftern und ehrli-
chen Vertretern der Arbeiterinteressen besetzt sind, umso leichter wird es möglich sein,
in und durch die Organisationen der DAF die Interessen der Arbeiter zu vertreten. Es ist
auch notwendig, in „Kraft durch Freude“ die kulturellen Interessen der Werktätigen zu
vertreten und die Veranstaltung der KdF zu beeinflussen, um sie zur Vertretung materi-
eller Forderungen der Arbeiter und Angestellten auszunützen (Zuschüsse für Urlaubs-
fahrten seitens der Unternehmer, das Recht der Beteiligung der Familie, verbilligte The-
aterkarten, Lieferung von Kleidung, Schuhzeug und Sportgeräten usw.).
VIII. Das Sekretariat lenkt die Aufmerksamkeit der Parteileitung auf die Notwen-
digkeit der Ausarbeitung einer konkreten Politik der Partei, um die überwiegende
Mehrheit der Landbevölkerung gegen die faschistische Kriegszwangswirtschaft zu
vereinigen. [...] Diese ganze Arbeit ist in den Organisationen des Reichsnährstandes
durchzuführen.
IX. Der Mittelstand, der am stärksten von der nationalen Demagogie und den Nazi-
Versprechungen beeinflusst war, leidet heute besonders stark unter den Lasten der
faschistischen Kriegswirtschaft (hohe Einkaufspreise, Steuererhöhung, Abgaben,
unerträgliche Kontrollmassnahmen). Es ist besonders notwendig zu verhindern, dass
Hitler die Unzufriedenheit und die Not des Mittelstandes für seine chauvinistische
Propaganda und Eroberungspolitik ausnützt. Die Forderungen des Mittelstandes in
ihren Innungen und anderen Organisationen sind zu einem wichtigen Bestandteil
des Kampfes der Volksfront zu entwickeln.
X. Die Umstellung der gesamten Parteipropaganda auf diese neuen Aufgaben der
Massenpolitik erfordert an erster Stelle, dass die Partei auf alle Fragen, die die Massen
bewegen, unmittelbar und konkret antwortet und die faschistische Argumentation
überzeugend widerlegt. In diesem Sinne ist die „Rote Fahne“ sowohl als Direktiv-
Organ wie als Organ zur Anleitung der Massen auszugestalten. Dazu ist auch eine
Reihe von Broschüren über die brennenden Fragen Deutschlands herauszugeben
und die Propaganda mit allen möglichen Mitteln (Radio usw.) zu betreiben. Ange-
sichts der Verbundenheit des konterrevolutionären Trotzkismus mit dem deutschen
Faschismus als dem Hauptkriegstreiber in der Welt, dem Todfeind der Sowjetunion
und des internationalen Proletariats, ist es eine besonders verantwortliche Aufgabe
des ZK der KPD, eine Aufklärungsarbeit zu leisten in der Partei, unter den sozialde-
mokratischen Massen wie unter allen Freunden des Friedens in Deutschland über
die volksfeindliche Rolle des Trotzkismus, der nicht nur die Völker der Sowjetunion,
sondern auch das deutsche Volk in ein blutiges Gemetzel stürzen will.174
174 Das „blutige Gemetzel“ erfolgte umgekehrt durch die sowjetischen Dienste und Repressionsorgane an
allen, die des Trotzkismus verdächtig waren. Auch global schickte man entsprechende Mordkommandos
Dok. 411: Moskau, 15.3.1937 1353
Dok. 411
Beschluss des Sekretariats zum Aufkauf der Pariser Tageszeitung
durch die Komintern bzw. die KPD
Moskau, 15.3.1937
2 Ex/Eb/Bö
15. 3. 1937
Streng Vertraulich!
Beschlussprotokoll
der Sitzung175 am 13.III.1937.
Anwesend: Dimitroff, Moskwin [d.i. Michail Trilisser], Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti],
Walter [Ulbricht], Eberlein.
Antrag:
Die Pariser/Zeitung käuflich zu erwerben und zu diesem Zweck 500.000 frz. Frc. zu
bewilligen.
Beschluss:
Unter der Kontrolle und Verantwortung des Sekretariats der KPD die „Pariser Tages-
zeitung“ geschäftlich und politisch als deutsche demokratische Zeitung im Auslande
zu sichern.176
aus, so wurde im Juni 1937 wurde der Revolutionär und Generalsekretär der POUM, Andres Nin im
spanischen Bürgerkrieg unter Beteiligung des NKVD und der Komintern ermordet. Siehe Dok. 414.
175 Die genaue organisatorische Provenienz geht aus dem Dokument nicht hervor. Es dürfte sich
jedoch um eine Sitzung des Sekretariats des EKKI gehandelt haben. Zur Analyse des Beschlusses
siehe: Bernhard H. Bayerlein, Maria Matschuk: Vom Liberalismus zum Stalinismus? Georg Bernhard,
Willi Münzenberg, Heinrich Mann und Walter Ulbricht in der chronique scandaleuse des Pariser
Tageblatts und der Pariser Tageszeitung. In: Francia, Forschungen zur westeuropäischen Geschichte,
Institut historique allemand/Deutsches Historisches Institut, Paris, XVII (2000), H. 3, S. 89–118.
176 Pariser Tageszeitung/Pariser Tageblatt: Das Pariser Tageblatt, le quotidien de Paris en langue alle-
mande (1, 12.12.1933–4, 14.6.1936) und die Pariser Tageszeitung, Quotidien Anti-Hitlérien (1, 12.6.1936–5,
18.2.1940) waren die wichtigste Tageszeitung der deutschsprachigen antifaschistischen Emigration.
Das Tageblatt galt als Aushängeschild und Paradepferd des deutschen Liberalismus. Mit der Deutschen
Volksfront sympathisierend, verkörperte die Pariser Tageszeitung dann zeitweise eine Symbiose von Libe-
ralismus und Stalinismus, blieb jedoch für alle Strömungen des Exils offen. Im Juni 1936 wurde der Besit-
zer Vladimir Poljakov mittels einer Diffamierungskampagne, eines maßgeblich von Kurt Caro und Georg
Bernhard betriebenen Putschs der Redakteure und eines Streiks der Setzer vertrieben. Das Blatt erschien
unter dem Namen Pariser Tageszeitung weiter. Drei Monate nach der Entscheidung der Komintern ging
sie an ein neuen Besitzer über, der gute Beziehungen zu moskautreuen Kreisen pflegte. Die Erforschung
der Begleitumstände ergab Querverbindungen zum Fall Münzenberg, das Ziel war, seinen Einfluß auf
die Zeitung zu beseitigen (siehe zum Skandal und seinen Folgen: Ursula Langkau-Alex: „... von entschei-
1354 1933–1939
[Sign.:] Ercoli
G. Dim[itrov]
M. Moskvin
dender Bedeutung ist, ob Münzenberg die Zeitung hat oder wir“. Neues zur Instrumentalisierung der
„Pariser Zeitung“ in der Auseinandersetzung zwischen dem Sekretariat des ZK der KPD in Paris und Willi
Münzenberg. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbe-
wegung 37 (2001), H. 1, S. 77–91; Bayerlein/Matschuk: Vom Liberalismus zum Stalinismus.
177 Georg Bernhard (20.10.1875 Berlin – 10.2.1944 New York), deutscher Wirtschaftspolitiker und
Publizist, 1914 Leiter (bis 1920 zusammen mit Hermann Bachmann) der Vossischen Zeitung als seriöses
Blatt des Ullstein-Verlages mit anfänglich prokaiserlicher Tendenz. Wirtschaftsredakteur bei Ullstein,
Sozialdemokrat, später DDP, Pressefunktionär, verwickelt in die Ullstein-Familienintrige 1930, die
ihm auch sein Reichstagsmandat für die DDP kostete. Gründer des Pariser Tageblatts im Dezember
1933. Nach dem von ihm verantworteten Putsch gegen den Verlagsleiter Vladimir Poljakov noch bis
Ende 1937 Chefredakteur, dann in mehreren Gerichtsverfahren verurteilt, danach hauptsächlich beim
jüdischen Weltkongress tätig.
178 „Friedensfreunde“: Eher informelle Gruppen bzw. Sektionen im Umkreis der Weltvereinigung
für Frieden (RUP).
179 „sind“ handschriftlich hinzugefügt.
180 Kallam, d.i. Albert Callam (geb. 1887), vor allem im Verlagswesen tätiger KPD-Funktionär. Galt
in leitenden Parteikreisen als Hugo Eberlein nahestehender „Versöhnler“. Trotz der Repression gegen
diese Gruppe wurde Callam im März 1937 die Ausreise aus der Sowjetunion gestattet. Callam war auch
für den Druck illegaler KPD-Zeitungen in Frankreich zuständig. 1941 nach Mexiko, 1946 mit Abusch
und Merker in die SBZ zurück.
181 Paul Bertz war leitend im Pariser ZK-Sekretariat tätig.
182 Handschriftlich ist folgender durchgestrichener Absatz eingefügt: „und nachdem das Sekretariat
der KI genaue Informationen darüber bekommen hat.“
183 Hugo Eberlein wurde bereits drei Monate später, am 26.7.1937, vom NKVD verhaftet und 1941 in
Moskau erschossen. Siehe auch Dok. 484.
Dok. 411: Moskau, 15.3.1937 1355
Am 15.3.1937 lehnte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen gemeinsamen Vorschlag der
Kommissariate für Transportwesen und Außenbeziehungen ab, den (wachsenden) deutschen Einfluss
in Nahen Osten zu bekämpfen.184
In Bezug auf einen von trotzkistischer Seite in der Tschechoslowakei geplanten Gegenprozess zu den
Moskauer Schauprozessen fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 15.3.1937 einen Be-
schluss. Man solle zwar keine Einmischung seitens der tschechischen Regierung verlangen, jedoch
zum Ausdruck bringen, dass die Abhaltung eines solchen Prozesses unerwünscht sei.185 Der Gegen-
prozeß fand schließlich nicht statt, nachdem auch in der Schweiz eine solche Initiative scheiterte,
erst im Rahmen der vom amerikanischen Philosophen John Dewey geleiteten Commission of Inquiry
int the Charge Made against Leon Trotsky in the Moscow Trials (Dewey Commission) gelang dann die
Durchführung eines international stark beachteten Gegenprozezesses (10.-17.4.1937), der mit dem
Verdikt „Not Guilty“ endete.
Am 23.3.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die Verhandlungen mit Polen über
die Flugverbindung Warschau-Moskau als unzweckmäßig zu betrachten. Polen sollte mitgeteilt werden,
die Sowjetunion sei an dieser Flugverbindung nicht interessiert.186 Auch mit den Deutschen sollte laut
Beschluss vom 15.4.1937 kein Vertrag über eine Luftlinie Moskau-Berlin abgeschlossen werden. Eine
positive Entscheidung hingegen fiel in Bezug auf eine Luftlinie Moskau-Stockholm über Riga.187
Am 4.4.1937 erfolgte ein Beschluss des Politbüros zu den deutschen Großfirmen DEMAG und Borsig:
Der Verlag „Meždunarodnaja kniga“, der anscheinend in seinen Printproduktionen Anzeigen beider
Firmen gedruckt hatte, wurde aufgefordert, das Geld an die Auftraggeber zurückzuzahlen und keine
weiteren solcher Moskauer Anzeigen zu drucken. Der Hintergrund war, dass beide Firmen im Prozess
gegen das „antisowjetische trotzkistische Zentrum“ beschuldigt wurden, eine „antisowjetische Orga-
nisation“ finanziert zu haben.188
Am 7.4.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, bis zu 1000 „Spanienkinder“ auf
Datschen am Schwarzen Meer unterzubringen.189
Für die Ausgaben der sowjetischen Delegation auf dem zweiten Internationalen Schriftstellerkon-
gress zur Verteidigung der Kultur im Juli 1937 in Valencia, Madrid, Barcelona und Paris wurden am
17.4.1937 seitens des Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion 15.000 Dollar bewilligt, davon 1000
Dollar für jedes Mitglied der Delegation incl. Reisekosten. Vom sowjetischen Schriftstellerverband
sollten 20.000 Dollar an den Kongress gespendet werden.190
Am 23.4.1937 nahm das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen (nicht überlieferten) Vorschlag
des Außenkommissars Maksim Litvinov im Zusammenhang mit der Ausweisung verhafteter Deutscher
an.191
Dok. 412
Brief Samuel Glesels („Gles“) an den Sekretär des Verbands der
Sowjetschriftsteller zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen
Moskau, 24.4.1937
192 Vladimir Stavskij (1900–1943), sowjetischer Schriftsteller und Literaturfunktionär. Von 1936 bis
1941 Generalsekretär des sowjetischen Schriftstellerverbands (unter den Vorsitzenden Aleksej Tolstoj
und Aleksandr Fadeev). Betätigte sich während des Großen Terrors als Denunziant anderer Literaten,
u.a. Osip Mandel’štams und Michail Šolochovs. 1943 als Kriegskorrespondent an der Front gefallen.
193 Samuel Glesel (Ps. Sally, auch Erich Gles), 1910 Chrzanów, Polen – 1937, in Leningrad erschos-
sen). In Deutschland aufgewachsen, 1924 KJVD-Mitglied, 1924–1930 Arbeiter in Metall- und Holzbe-
trieben. 1930 KPD und Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller, wo er Johannes R. Becher
kennenlernte. Im April 1932 kam er auf Einladung der Pädagogischen Hochschule nach Engels (ASSR
der Wolgadeutschen), wo seine Lebensgefährtin, Elisabeth Wellnitz, bereits als Lehrerin arbeitete. Da
Glesel jedoch keine Arbeit in Engels fand, ging er im selben Jahr nach Moskau und verschaffte von
dort für sich und seine Familie Wohnung und Arbeit in Leningrad. 1935 sowjetische Staatsbügerschaft
und Mitglied der „Leningrader Gruppe sowjetdeutscher Schriftsteller“ (siehe Glesels Autobiographie
in RGASPI, 495/205/4635, 1–7, eine Empfehlung von Becher Ebd., Bl. 13; neuerdings: Anja Schindler:
Samuel Glesel. „...dass ich endlich und mit ganzer Kraft für die Partei und die Sowjetunion gewirkt
und gestritten habe“. In: Hedeler/Münz-Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 57–63).
194 Ab Ende 1935 wurde der junge, aufstrebende Schriftsteller plötzlich zur Zielscheibe massiver
Angrife. Sein 1935 erschienener Erzählband „Deutschland erwacht. Geschichten aus dem ‚Dritten
Reich’“ wurde in der Deutschen Zentral-Zeitung vom 26.11.1935 von Otto Bork verrissen; sein im selben
Jahr erschienenes „Mai-Schauspiel in drei Akten: Verboten“ wurde von Erich Weinert (ebd., 24.5.1936)
unter dem Titel „Ein Schandfleck der deutschen Literatur“ vernichtend kritisiert (Schindler: Samuel
Glesel, S. 59). In einem Brief an die Redaktion der DZZ vom 30.7.1936 reagierte Glesel auf die Verrisse
und argumentierte u.a. damit, seine im Deutschen Staatsverlag in Engels herausgegebenen Bücher
seien nicht mit ihm abgesprochen und teilweise modifiziert worden, zudem sei ihre ursprüngliche
Rezeption durchaus positiv gewesen (RGASPI, 495/205/4036, Bl. 32, 35–37). Dennoch schloß ihn die
Leningrader Schriftstellergruppe aus. Wenige Tage darauf billigte jedoch die Deutsche Vertretung
in einem Schreiben an Glesel selbst den Ausschluss (Ibid., Bl. 22). In der Zwischenzeit wurde der
„Fall Glesel“ in der deutschen Kommission des sowjetischen Schriftstellerverbands diskutiert, in der
Diskussion wurde Glesel als Autor und Mensch fertiggemacht (Müller: Die Säuberung, S. 83ff, 334ff).
Im Mai 1937 fuhr Glesel nach Moskau, um die Vorwürfe gegen ihn abzuwehren, von wo er auch den
vorliegenden Brief schrieb (Vgl. Schindler: Samuel Glesel, S. 61).
Dok. 412: Moskau, 24.4.1937 1357
Selbstverständlich ist es für mich höchst wichtig, mich ebenfalls angesichts der
schweren und unbegründeten moralischen Anschuldigungen zu rehabilitieren. Doch
nun wurde allen anderen Beschuldigungen eine weitere hinzugefügt, nämlich die
schwerste: eine alte Verbindung zu Trotzkisten.
Ich habe nie bestritten, dass ich Schwankungen gehabt habe. Dies war in den
Jahren 1925–26, als ich 15–16 Jahre alt war. Damals versuchten mich Leute aus der
fraktionellen Gruppe Korschs zu „bearbeiten“. Diese Gruppe stellte sich lediglich viel
später auf die Positionen des Trotzkismus, bis dahin hatte ich jedoch jede Verbindung
mit ihnen abgebrochen.195 Unter dem Einfluss ihrer Propaganda hatte ich für einige
Zeit Schwankungen, worüber ich selbst seinerzeit in meiner Biographie der Komintern
Mitteilung erstattete. Jedenfalls bitte ich Sie, Gen. Stavskij, sich die Frage zu stellen:
Wie könnte ein 15–16-jähriger jungkommunistischer Arbeiter in den Jahren 1925–26 ein
überzeugter Trotzkist gewesen sein? Damals stellte doch der Trotzkismus als solcher
noch keine organisierte Kraft dar, und schon gar nicht kann man davon sprechen, dass
ein 15–16-jähriger Jugendlicher in einer kapitalistischen Umgebung immer durchgän-
gig standhafte, unverrückbare Überzeugungen besitzt.196 Ich bin bis zum heutigen Tage
Mitglied der deutschen Kompartei und war in dieser Angelegenheit von keinerlei Sank-
tionen betroffen, weder auf der Linie der Jugendorganisation, noch der der Partei.
Mir ist unklar, wie vom Verband der Sowjetschriftsteller von der Komintern erhal-
tene Informationen, die von mir seinerzeit gegenüber der Komintern gegeben wurden
und keinerlei Parteisanktionen zur Folge hatten, nun als Grund für meinen Aus-
schluss aus dem Verband der Sowjetschriftsteller herangezogen werden konnten.197
Eine andere Sache wäre es, wenn der Verband der Sowjetschriftsteller eigene Argu-
mente anführen könnte, die mich von diesem Standpunkt aus sowohl in meiner lite-
rarischen wie auch organisatorischen Tätigkeit diskreditieren könnten. Die von mir
geschriebenen sechs Bücher wie auch die 11 Jahre Parteiarbeit zeigen jedoch, dass ich
mit dem Trotzkismus nichts gemeinsam habe.198
Um einen Menschen des Trotzkismus zu beschuldigen, muss man, wie ich meine,
Gründe und Beweise haben. Ich bin davon überzeugt, dass bei der Untersuchung
meiner Angelegenheit meine völlige Unschuld bewiesen wird. Ich bitte Sie, die Unter-
suchung möglichst schnell durchzuführen. 199
Mit Gruß,
S. Gles200
Dok. 413
Instruktion des NKVD (Aleksandr Minaev) zur Verhaftung der
deutschen Kommunisten Max Richter, Heinrich Kurella, Fritz
Schulte, Hermann Remmele und Kurt Sauerland
Moskau, Anfang Mai 1937
Auskunft
‚Deutschland gestern und heute‘; ein Maidrama ‚Verboten‘; ein Buch ‚Deutschland erwacht‘; einen
Roman ‚Reinrassige an der Macht‘; augenblicklich arbeite ich an einem Antikriegs-Kinderbuch.“
(RGASPI, 495/205/4635, 7).
199 Auf der ersten Seite handschriftliche Resolution: „Gen. Barta. Man muss die Angelegenheit
Gles klären. 24/IV Stavskij“ und bereits vom 10.4.1937: „Gen. Barta! Wann bekomme ich von Dir eine
Schlussfolgerung zur Angelegenheit Gles? Warum ziehst Du diese Sache hin?“ (RGALI, Moskau,
631/12/145, 45). Währenddessen wandte sich Glesel am 5.5.1937 mit einem weiteren Brief an die Deutsche
Vertretung, in dem er die gegen ihn gerichteten Repressalien als Intrige von „Parteifeinden“ in Gestalt
bereits verhafteter deutscher Kommunisten in Leningrad darstellte und somit in den Leitdiskurs
des Großen Terrors einschrieb: „Warum haben Brustow, Pfeiffer, Jansen, Wischnak u.a. mit solchen
Methoden gegen mich gehetzt? Nicht aus persönlichen Gründen, sondern weil sie meine Wachsamkeit
störte, weil mein Kampf gegen die Verletzung der Linie der Partei und der Interessen der Sowjet-Union
durch dieses Gesindel, sie in ihrer Arbeit hinderte“ (RGASPI, 495/205/4036, 40). In demselben Brief
behauptete er, der Schriftstellerverband habe ihn rehabilitiert – was Barta in einem Brief an die Deutsche
Vertretung am 13.5.1937 scharf dementierte. Glesels Schreiben sei eine „Anmaßung“ (Ibid., Bl. 39).
200 Samuel Glesel wurde am 3.9.1937 in Leningrad verhaftet und am 5.11.1937 erschossen. Seine Frau
wurde nach Karaganda deportiert, sein Sohn Alex Glesel zwangsweise ins Bergwerk geschickt. Mutter
und Sohn durften erst 1955 in die DDR ausreisen. Der Sohn, wurde vom ZK der SED aufgefordert, über
das seiner Familie in der Sowjetunion Widerfahrene Schweigen zu bewahren (siehe: Andreas Herbst:
Das Schweigen der Eltern. Kinder von Kommunisten aus dem Sowjetexil erzählen aus ihrem Leben.
In: Neues Deutschland, 23.6.2010; Hedeler/Münz-Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 56).
Dok. 413: Moskau, Anfang Mai 1937 1359
Organisationsarbeit betreibt und daß er aus den ehemaligen Teilnehmern der von ihm
geleiteten Gruppe und anderer parteifeindlicher Gruppen eine antisowjetische Gruppe
in der KPD bildete.201 Gleichzeitig stellte Neumann zu den Trotzkisten eine Verbindung
her, insbesondere zum entlarvten Führer der antisowjetischen Organisation Leow-Hoff-
mann202 und führte unter den Mitgliedern seiner Gruppe eine Propaganda durch, die
vermuten läßt, daß Neumann seine Gruppe auf eine terroristische Tätigkeit vorbereitete.
In Zusammenhang mit der Verhaftung Neumanns sind die folgenden Teilnehmer
der von ihm geschaffenen antisowjetischen Gruppe zu verhaften:
1. Kurella, Heinz, Mitarbeiter der Presseabteilung des EKKI, Teilnehmer der Neumann-
Gruppe und ihr politischer Informant, der der Neumann-Gruppe Angaben über die
politische Lage in der Komintern übermittelte. Laut Aussagen ist Kurella Teilnehmer
der antisowjetischen Gruppe Neumanns.203 Er machte antisowjetische, trotzkistische
Erklärungen, in denen er die Verbindung der Trotzkisten mit der Gestapo rechtfer-
tigte, und er verdeckte die Tätigkeit Kippenbergers, der ehemaliger Leiter des Partei-
geheimdienstes der KPD und Agent des Nachrichtendienstes der Reichswehr war.204
2. Richter, Max [d.i. Hermann Schubert], geb. 1893, Mitglied des Exekutivkomitees der
IRH, früheres ZK-Mitglied der KPD und Vertreter der KPD bei der Komintern, während
seiner Parteiarbeit einer der Führer der „sektiererischen Gruppe“ in der KPD.205
3. Schulte, H. [d.i. Fritz Schulte], ehemaliges Mitglied des ZK der KPD, als Teilnehmer
der sog. „sektiererischen Gruppe“ in der KPD von der Parteiarbeit enthoben. Er ist
201 Heinz Neumann wurde kurz zuvor, am 27.4.1937 verhaftet. Zu seinem weiteren Schicksal siehe
Dok. 419.
202 Siehe Dok. 399.
203 Heinrich Kurella (1905–1937 in Butovo bei Moskau erschossen), KPD-Journalist und Bruder
Alfred Kurellas, war 1934 in die Sowjetunion gegangen und arbeitete in der Presseabteilung des EKKI.
Seit seiner Schweizer Emigration war er eng mit Heinz Neumann und Margarete Buber-Neumann
befreundet und brach diese Beziehungen auch nicht nach ihrer „Kaltstellung“ ab, weswegen die
IKK ein Parteiverfahren gegen ihn eröffnete. Am 30.12.1936 aus der KPD ausgeschlossen, bezichtigte
er sich in einer Erklärung an die IKK am 6.3.1937, ein „Fraktionsanhänger Neumanns“ zu sein und
„faktisch eine gegenüber der KPD-Führung und der KI feindliche Position“ bezogen zu haben. Am
19.10.1937 verhaftet, wurde Kurella am 28.10. zum Tode verurteilt und erschossen (Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 519; Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank).
204 Zu den Vorwürfen gegen Kippenberger siehe das Dok. 359a.
205 Hermann Schubert (Ps.: Max Richter, 1886–1938 in der Sowjetunion erschossen), KPD-
Abgeordneter des Preußischen Landtags und zeitweise Mitglied des ZK, kam im Dezember 1934
nach Moskau. 1935 war er kurzzeitig Nachfolger Fritz Heckerts als KPD-Vertreter beim EKKI, wurde
jedoch bereits infolge der „Brüsseler Konferenz“ aus den Parteiämtern gedrängt und arbeitete im IRH-
Apparat. Nachdem er sich u.a. geweigert hatte, die angebliche Verbindung von Trotzkisten zu Hitler
in der Propaganda auszunutzen, wurde Schubert am 15.5.1937 verhaftet und am 22.3.1938 erschossen
(Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 835–836; Reinhard Müller: Der Fall des „Antikomintern-
Blocks“. Ein vierter Moskauer Schauprozeß? In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung
(1996), S. 187–214, hier S. 204 u.a.).
1360 1933–1939
4. Remmele, Hermann, ehemaliges Politbüro-Mitglied des ZK der KPD und Führer der
sog. linken Opposition in der KPD. Er gehörte der antisowjetischen Gruppe Neumanns
an und unterhielt Verbindungen zur trotzkistischen Organisation Leow-Hoffmanns.207
206 Fritz Schulte (Ps.: Schweizer, 1890–1943), Mitglied des ZK der KPD und Reichsleiter der RGO, kam
im Dezember 1934 nach Moskau. Im Juni 1936 als Leiter der Agitpropabteilung der Profintern entlassen,
danach Arbeit in einem Moskauer Betrieb. Dem am 21.2.1938 verhafteten und infolge der Folterungen
gelähmten Schulte wurde u.a. vorgeworfen, die Einreise des „Gestapoagenten“ Werner Hirsch in die
Sowjetunion befördert zu haben. Am 7.4.1941 wurde er zu acht Jahren Lager verurteilt, wo er am 10.3.1943
starb (Müller: Der Fall des Antikomintern-Blocks, S. 202–204; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten,
S. 841).
207 Der seit 1933/34 von allen politischen Funktionen entbundene Remmele wurde am 15.5.1937
verhaftet – nur knapp zwei Monate, nachdem er Manuilski Belastungsmaterial gegen Bucharin geliefert
hatte (siehe Dok. 259). In der Anklageschrift wurde Remmele als „einer der aktiven Mitglieder“ einer
„von Pjatnitzki, Knorin und Béla Kun geleitete[n] antisowjetische[n] Spionage- und trotzkistische[n]
Organisation“ bezeichnet – das Konstrukt einer „kominternfeindlichen Verschwörung“, das, nachdem
Osip Pjatnitzki am 7.6.1937 verhaftet worden war, die Grundlage eines vierten Schauprozesses gegen
Komintern-Funktionäre hätte bilden sollen. Dieser kam allerdings nicht zustande, höchstwahrscheinlich
weil Pjatnitzki sich weigerte, das fabrizierte Geständnis zu unterzeichnen. Hermann Remmele wurde –
knapp sechs Monate nach der Hinrichtung Pjatnitzkis – am 7.3.1939 zum Tode verurteilt und erschossen
(Boris Starkow: Letzter Kampf eines Kominternsekretärs. Osip A. Pjatnitzki und der Moskauer Prozess
gegen die Komintern. In: The International Newsletter of Historical Studies on Comintern, Communism
and Stalinism I (1993/94), Vol. 3/4, S. 41–43; Id.: The Trial that Was Not Held. In: Europe-Asia Studies
(1994), Vol. 8, S. 1297–1315; Müller: Der Fall des „Antikomintern-Blocks“, S. 190; Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 722).
208 Der KPD-Parteiideologe Kurt Sauerland (siehe u.a. das Dok. 301), der seit August 1934 als Mitarbeiter
Béla Kuns in Moskau lebte, wurde am 15.5.1937 verhaftet, im Kontext des „Antikomintern-Block“-
Konstruktes am 22.3.1938 zum Tode verurteilt und erschossen (Müller: Der Fall des „Antikomintern-
Blocks“, S. 214; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 769).
209 Die Zustimmung zur Verhaftung wurde in einer handschriftlichen Resolution am 14.5.1937 erteilt.
210 „SSHA“ (Abk.): In der Quelle mißlungenes deutsches Akronym (SSHA = „Staatssicherheitshaupt-
amt“). Die Originalabkürzung ist GUGB (Glavnoe upravlenie gosudarstvennoj bezopasnosti), die zent-
rale Struktur innerhalb des 1934 gegründeten NKVD, die die eigentliche repressive bzw. geheimpolizei-
liche Arbeit erledigte.
Dok. 414: Moskau, 15.[21.?]5.1937 1361
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 3.5.1937 eine Kaderumstellung der sow-
jetischen Botschaft in Berlin. Georgij Astachov sollte nun bevollmächtigter Vertreter in Deutschland
werden, seine ehemalige Stelle als Leiter der Presseabteilung des Außenkommissariats sollte von
Evgenij A. Gnedin (der zwei Jahre später verhaftete Sohn von Alexander Parvus-Helphand) eingenom-
men werden. Der bisherige bevollmächtigte Vertreter, Jakov Suric, wurde nach Paris versetzt.211
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 3.5.1937, der baskischen Lokalregierung vor-
zuschlagen, mit eigenen oder vor Ort gecharterten Transportmitteln Kinder in die UdSSR zu bringen.212
Dok. 414
Das Komintern-Präsidium zur Bekämpfung von Trotzkisten als
„schuftiger, prinzipienloser Bande von Spionen, Diversanten,
Terroristen und Schädlingen“
Moskau, 15.[21.?]5.1937
„5“
6453/7/Da/
21.5.37
Vertraulich213
Faschismus gezogen hat,216 ist von gewaltiger Bedeutung nicht nur für die Kommu-
nistische Partei (Bolschewiki) der Sowjetunion, sondern auch für die kommunisti-
schen Parteien der kapitalistischen Länder und für die gesamte internationale Arbei-
terbewegung.
Die schuftige Spionage- und Schädlingsarbeit der Trotzkisten gegen den Sozia-
lismus und die Sowjetmacht in der UdSSR zugunsten der Gestapo und des japani-
schen Spionagedienstes steht im unzertrennlichen Zusammenhang mit der nieder-
trächtigen provokatorische Tätigkeit der Trotzkisten in der Arbeiterbewegung der
kapitalistischen Länder, wo sie, sei es in Gesellschaft und im Verein mit Agenten der
Polizei, oder als Agenten der Polizei, danach streben, im Auftrage des Faschismus
die Arbeiterbewegung zu desorganisieren, die Spaltung derselben zu vertiefen, die
Bildung einer Einheits- und Volksfront, dort wo sie angebahnt wird, zu hintertreiben
und dort, wo sie existiert, von innen [her]aus zu sprengen, wie z.B. in Spanien und in
Frankreich.217 [...]
Dabei muss im Auge behalten werden, dass Trotzki und die Trotzkisten, ebenso
wie alle Provokateure, ihre wahren Ziele, ihre Unterstützung des Faschismus in
dessen schändlichen Plänen durch eine „linke“ Phraseologie maskieren, wobei sie
sich nicht selten durch verlogene Berufungen auf Lenin decken. [...]
Der Hinweis des Genossen Stalin, dass die Kommunisten die Verwandlung der
Trotzkisten aus einer politischen Strömung in der Arbeiterklasse, welche er vor 7–8
Jahren war, in eine schuftige, prinzipienlose Bande von Spionen, Diversanten, Terro-
risten und Schädlingen übersehen haben,218 bezieht sich mit umso grösserer Berech-
versuchten sich zu verteidigen, wurden jedoch ständig durch ungehaltene Zwischenrufe Stalins und
seiner Gefolgsleute unterbrochen. Beide wurden bereits im Laufe des Plenums verhaftet, ebenfalls der
ehemalige NKVD-Leiter Jagoda. Eine deutschsprachige Zusammenfassung der Diskussionen, siehe
Hedeler: Chronik, S. 161–206. Zu den Stenogrammen und Materialien des Februar-März-Plenums 1937,
siehe: Materialy fevral’sko-martovskogo plenuma CK VKP(b) 1937 g. In: Voprosy istorii (1992), Nr. 2/3,
S. 3–43; Nr. 4/5, S. 3–36; Nr. 6/7, S. 3–29; Nr. 8/9, S. 3–29; Nr. 10, S. 3–36; Nr. 11/12, S. 3–19; (1993), Nr. 2,
S. 3–33; Nr. 5, S. 3–23; Nr. 6, S. 3–30; Nr. 7, S. 3–24; Nr. 8, S. 3–26; Nr. 9, S. 3–32; (1994), Nr. 1, S. 12–28; Nr.
2, S. 3–29; Nr. 6, S. 3–23; Nr. 8, S. 3–27; (1995), Nr. 2, S. 3–26; Nr. 3, S. 3–15; Nr. 4, S. 3–18; Nr. 7, S. 3–25;
Nr. 8, S. 3–25; Nr. 10, S. 3–28; Nr. 11/12, S. 3–24.
216 Trotzkistische Agentur des Faschismus: Am 2. März fällte das Plenum den Beschluss „Über die
Lehren der Schädlingsarbeit, der Diversion und Spionage der japanisch-deutschen trotzkistischen
Agenten“, worin die phantastischen Diversionsvorwürfe gegen die Oppositionellen aufgeführt und
entsprechende Sicherheitsmaßnahmen für Industrie und Transportwesen beschlossen wurden
(Voprosy istorii (1994), Nr. 10, S. 3–13). Am nächsten Tag wurde ein gleichnamiger Beschluss zum
Referat von Ežov gefällt, worin festgestellt wurde, die Verfolgung der „Volksfeinde“ sei vier Jahre zu
spät erfolgt und die mangelnde Wachsamkeit des NKVD kritisiert wurde (!) (Voprosy istorii (1995), Nr.
2, S. 22–26).
217 Im gesamten Dokument ist kein einziger konkreter empirischer Beleg für die geäußerten infamen
Behauptungen aufgeführt.
218 In seiner Rede in der Abendsitzung des 3. März referierte Stalin u.a. über den seiner Meinung
nach eingetroffenen Wandel im Trotzkismus: Dieser habe „aufgehört, eine politische Strömung in der
Arbeiterklasse zu sein“, die er „7–8 Jahre zuvor gewesen ist“. Stattdessen habe sich der Trotzkismus
Dok. 414: Moskau, 15.[21.?]5.1937 1363
tigung auf die Sektionen der K.I., als gerade in der kommunistischen Bewegung
der kapitalistischen Ländern die Ansichten weit verbreitet sind, welche den Trotz-
kismus bis jetzt für eine politische Strömung in der Arbeiterbewegung halten. Das
Präsidium des EKKI stellt fest, dass viele Funktionäre der kommunistischen Parteien
der kapitalistischen Länder, sowie auch Funktionäre der Komintern nicht die gebüh-
rende Wachsamkeit gegenüber dem Trotzkismus an den Tag gelegt und den Prozess
des Verwachsens des Trotzkismus mit dem Faschismus nicht rechtzeitig signalisiert
haben, obgleich alle Umtriebe der Trotzkisten die Uebereinstimmung der politischen
Haupteinstellungen des Trotzkismus und des Faschismus erkennen liessen; sie haben
auch nicht rechtzeitig bemerkt, dass die kapitalistische Welt und die faschistischen
Staaten in erster Reihe, zu neuen Kampfmethoden gegen die UdSSR und die interna-
tionale Arbeiterbewegung übergehen, im besonderen zum Ausbau ihres Netzes von
Spionen und Provokateuren durch Auffüllung desselben mit trotzkistischen Kadern.
Nur durch Abstumpfung der bolschewistischen Wachsamkeit gegenüber dem Klas-
senfeind lässt sich die Tatsache erklären, dass die langjährige, niederträchtige Ver-
leumdungskampagne der faschistischen Lumpen Trotzki, Souveraine [Souvarine],
Eastman gegen den Sozialismus und die kommunistische Weltbewegung nicht immer
in den Spalten der kommunistischen Presse die gebührende Abfuhr erfahren hat. 219
Nur durch die Schwächen unserer Aufklärungskampagne über die wahre konterrevo-
lutionäre Rolle des Trotzkismus ist es zu erklären, dass die POUM in Spanien trotz der
himmelschreienden Tatsachen des offenen Verrats ungehindert im Rücken der repu-
blikanischen Truppen operieren konnte und im Auftrage des faschistischen Komman-
dos konterrevolutionäre Putsche organisiert hat.220 [...]
„in eine zügel- und prinzipenlose Bande von Schädlingen, Diversanten, Spionen und Mördern
[verwandelt], die auf Anweisung der Aufklärungsorgane ausländischer Staaten handeln.“ (Voprosy
istorii (1995), Nr. 3, S. 5).
219 Der amerikanische Schriftsteller, Trotzki-Freund und -Biograph Max Eastman (siehe Dok. 129)
und der 1924 aus der Partei ausgeschlossene KPF-Mitbegründer und brillante Intellektuelle Boris
Souvarine (siehe Dok. 391).
220 Die Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) war eine 1935 aus zwei oppositionell-
kommunistischen Zusammenschlüssen gegründete revolutionär-marxistische Partei, die in der
Spanischen Republik und im Bürgerkrieg eine bedeutende Rolle spielte. In den von der POUM
aufgestellten Freiwilligenbrigaden kämpfte auch George Orwell, der in seinen Erinnerungen an
die Zeit in Katalonien auch die Verfolgungen beschreibt, denen die POUM seitens der Stalinisten
in Spanien anheimfiel (George Orwell: Mein Katalonien, Zürich, Diogenes, 1975). Die Komintern
beteiligte sich maßgeblich an der Hetze gegen die POUM. So bezichtigte die Rundschau die POUM der
„Waffenhilfe für den Faschismus“ (Hedeler: Chronik, S. 183). Während Orwell Glück hatte, wurde der
Generalsekretär der POUM, Andres Nin, 1937 Opfer eines von Komintern und NKVD durchgeführten
Meuchelmords (siehe: Reiner Tosstorff: Die POUM im spanischen Bürgerkrieg, Frankfurt am Main,
ISP, 1987; id.: „Ein Moskauer Prozess in Barcelona“. Die Verfolgung der POUM und ihre internationale
Bedeutung. In: Hermann Weber/Dietrich Staritz (Hrsg.): Kommunisten verfolgen Kommunisten,
Berlin, Akademie Verlag, 1993, S. 193–216).
1364 1933–1939
Unter Berücksichtigung der Lehren des Plenums des ZK der KPdSU sowie der
eigenen Erfahrung der Sektionen der KI im Kampfe gegen die provokatorische Tätig-
keit der Trotzkisten beschliesst das Präsidium des EKKI:
1. Den Sektionen der KI vorzuschlagen, einen systematischen Kampf sowohl auf Ver-
sammlungen als auch in der Presse gegen den Trotzkismus als Agentur des Faschis-
mus zu entfalten. [...]
2. In die Programme aller Parteischulen und der unter dem Einfluss der Kommunisten
stehenden Volksuniversitäten ist ein besonderer Kursus über den Kampf gegen den
Faschismus und dessen trotzkistische Agentur aufzunehmen. [...]
3. In allen Gliedern der Partei ist systematisch eine breite Propagandaarbeit in Wort
und Schrift zur Erläuterung der konterrevolutionären Rolle des Trotzkismus als
Agentur des Faschismus durchzuführen, wobei besonders Beachtung der argumen-
tierten Entlarvung der trotzkistischen „linken“ Phrase zu schenken ist, mit welcher in
Wirklichkeit die faschistische Zersetzungsarbeit der Trotzkisten in der Arbeiterbewe-
gung getarnt wird. [...]
4. Die Parteiorganisationen sind zu mobilisieren zur Aufdeckung von trotzkistischen
Elementen, die ihr prinzipielles Nichteinverständnis mit der Politik der Partei und der
Komintern in die Form von allerhand Vorbehalten in Bezug auf die taktischen Einstel-
lungen der Partei hüllen; [...]
5. Es ist eine Säuberung der Parteiorganisationen von doppelzünglerischen trotzkis-
tischen Elementen durchzuführen, die vom Klassenfeind zur Desorganisierung der
Kommunistischen Partei geschickt wurden. Frühere Trotzkisten, die durch ihre Arbeit
im Laufe einer Reihe von Jahren nicht den Beweis erbracht haben, dass sie aufrichtig
vom Trotzkismus abgerückt und der Partei und der Sache der Arbeiterklasse wirklich
ergeben sind, sind von verantwortlichen Posten abzusetzen.221
6. Den Zentralkomitees der kommunistischen Parteien wird vorgeschlagen, das
gesamte Personal der illegalen Apparate, welche die Technik der gesamten Geheim-
arbeit (Treffs, Chiffres, Adressen, Briefwechsel) bewerkstelligen, sorgfältig zu über-
prüfen und alle leichtsinnig angestellten Funktionäre durch untadelhafte, durchaus
erprobte und politisch qualifizierte Genossen zu ersetzen.
7. Den Zentralkomitees der kommunistischen Parteien wird die Pflicht auferlegt,
sofort die gesamte Buchführung über die Geldmittel der Partei zu prüfen und dabei
besondere Aufmerksamkeit auf die Feststellung von Fällen der Entwendung von Par-
teigeldern durch trotzkistische Spione zu lenken.
8. Den Vertretern der kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder beim
EKKI wird zur Pflicht gemacht, eine ernste Aufklärungskampagne gegen den Trotz-
kismus unter den in der UdSSR weilenden kommunistischen Emigranten durchzu-
führen. Zur Verstärkung des Kampfes gegen den Trotzkismus wird den KI-Sektionen
und ihren Vertretern beim EKKI zur Pflicht gemacht, im Laufe eines Jahres die Mas-
221 Siehe hierzu die „Vorarbeiten“ durch die Kaderabteilung der Komintern, Dok. 391.
Dok. 414: Moskau, 15.[21.?]5.1937 1365
+++
222 Massenrückkehr kommunistischer Emigranten: Hier erscheint das Motiv des Trotzkismus als
Rechtfertigung nicht nur für die Repression potentiell gefährlicher politischer Gegener, sondern für
die stalinistisch-ultranationalistische „Säuberung“ und Vertreibung ausländischer Minderheiten
insgesamt.
223 Die Internationale Lenin-Schule der Komintern (siehe u.a. Dok. 206) wurde in Folge des Terrors
und der Verhaftung der meisten Lehrkräfte kaum ein Jahr später, im Frühjahr 1938, geschlossen
(siehe: Köstenberger: Die Internationale Lenin-Schule, S. 287–309).
224 Zur Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter siehe Dok. 398.
1366 1933–1939
Zwecks Konkretisierung der Aufgaben des Kampfes jeder KI-Sektion gegen den Trotz-
kismus macht das Präsidium des EKKI allen KI-Sektionen zur Pflicht, die vorliegende
Resolution in allen Gliedern der Partei, angefangen von den höchsten Parteiinstan-
zen (Polbüro, Zentralkomitee) bis zur primären Parteiorganisation, durchzuarbeiten,
wobei zu berücksichtigen ist, dass der Kampf gegen den Trotzkismus keine vorüber-
gehende politische Kampagne, sondern eine tägliche und beständige Aufgabe jeder
Parteiorganisation und jedes Kommunisten, die Sache jeder Arbeiterorganisation ist,
der die Unantastbarkeit und Reinheit ihrer Reihen teuer ist, dass die Entlarvung des
Trotzkismus ein Bestandteil des Kampfes der Arbeiterklasse gegen Faschismus und
Krieg, für den endgültigen Sieg der Arbeit über das Kapital, für den Sieg des Sozialis-
mus in der ganzen Welt ist.
Am 17.5.1937 entschied das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, 3500 Tonnen Weizen nach Spa-
nien zu verschicken. Seitens des zentralen Vorrätekomitees (Komitet Zagotovok) sollte das Getreide
unverzüglich an das Außenhandelskommissariat abgegeben werden.225
Dok. 414a
Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion über die
Verbannung aller Oppositioneller in „nichtindustrielle“ Bezirke
Moskau, 23.5.1937
[Beschlossen:]
1. Alle aufgrund von Zugehörigkeit zu den Trotzkisten, Sinowjewisten, Rechten,
Dezisten,226 Šljapnikov-Anhängern227 und anderen antisowjetischen Formierungen
aus der VKP(b) Ausgeschlossenen aus Moskau, Leningrad und Kiev administrativ
in nichtindustrielle Bezirke der [Sowjet-]Union auszusiedeln und zur Ansiedlung an
bestimmte Ortschaften zu binden.
2. Selbe Maßnahmen gegen aus der VKP(b) für antisowjetische Handlungen (Ein-
schleppen feindlicher Ansichten in Unterricht und Presse) Ausgeschlossene zu ergrei-
fen.
3. Gegen alte Kaderarbeiter, die in Moskau, Leningrad und Kiev verwurzelt sind, die
seinerzeit in trotzkistisch-sinowjewistische Tätigkeit hineingezogen wurden, sich
aber nicht aktiv hervorgetan haben, die Verbannung nicht anzuwenden, sondern ihre
strenge Überwachung zu veranlassen.
4. Alle Familien derjenigen Trotzkisten, Sinowjewisten, Rechten, Dezisten und
Teilnehmer anderer antisowjetischer terroristischer und Spionageorganisationen,
die erschossen oder zu Haftstrafen von 5 Jahren und höher verurteilt wurden, aus
Moskau, Leningrad und Kiev in nichtindustrielle Regionen der [Sowjet-]Union auszu-
siedeln und zur Ansiedlung an bestimmte Ortschaften zu binden.
5. Die lokalen Machtorgane zu verpflichten, die arbeitsfähigen Mitglieder der ver-
bannten Familien bei der Arbeitsbeschaffung zu unterstützen und letztere mit Woh-
nungen zu versorgen.
6. Die Familien der Verbannten, die keine arbeitsfähigen Mitglieder haben, in staatli-
che Versorgung zu übernehmen.
7. Um der Wiedereinreise von Verbannten und ihrer Familien nach Moskau, Leningrad
und Kiev vorzubeugen, wie auch um die Ansiedlung der in Punkt 1 und 2 genannten
Kontingente in diese Städte nicht zuzulassen – den Milizorganen in Moskau, Lenin-
grad und Kiev zu gestatten, eine Registrierung aller Betreffenden, die von den Sank-
tionen betroffen sind, für eine Frist über 10 Tagen einzustellen.
Am 24.5.1937 legte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion seinen Mitgliedern eine Resolution
zur Abstimmung vor, wonach man davon Kenntnis erhalten habe, dass der alte Bolschewik Jan Rudzu-
tak sowie Marschall Tuchačevskij an der Tätigkeit eines sogenannten „trotzkistisch-rechten Blocks“
beteiligt seien und Spionage zugunsten Deutschlands betrieben. Es wurde vorgeschlagen, beide aus
der Partei auszuschließen und dem NKVD zu überantworten. Am 25.–26.5. wurde der „Vorschlag“
angenommen.229
Am nächsten Tag (dem 27.5.1937) beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, aus dem
200-Millionen-Kredit in Deutschland Equipment für die Schwer- und Kriegsindustrie einzukaufen.230
228 Nikita Sergeevic Chruščev (1894 – 1971), der spätere Erste Sekretär des Zentralkomitees der VKP(b)
und Partei- und Regierungschef der UdSSR, war seit 1934 Mitglied des ZK und 1935 Erster Sekretär des
Moskauer Gebiets- und und Stadparteikomitees bevor er 1938 Erster Sekretär des ZK der KP der Ukraine
wurde. Er war vollständig in die stalinistische Terrorpolitk integriert, leitete jedoch 1956 auf dem 20. Par-
teitag die (begrenzte) Entstalinisierung ein und setzte sich vom Personenkult ab (Hildermeier: Geschich-
te der Sowjetunion, S. 757ff. u.a.; neuerdings: Jean-Jacques Marie: Khroutchev. La réforme impossible,
Paris, Payot, 2010).
229 RGASPI, Moskau, 17/3/987, 79. Publ. in: Chlevnjuk/Kvašonkin/Košeleva (Hrsg.): Stalinskoe
politbjuro, S. 156.
230 RGASPI, Moskau, 17/162/21, 51.
1368 1933–1939
Dok. 415
Einladungsliste und Bewertungen der zum Revolutionsjubiläum
nach Moskau eingeladenen Schriftsteller
Moskau, 1.6.1937
Im Zusammenhang mit dem 20. Jahrestag der Oktoberrevolution232 ist es höchst not-
wendig, folgende ausländische Schriftsteller zur Feier in Moskau mit anschließender
Reise durch die UdSSR für eine Dauer von bis zu vier Wochen einzuladen:233
231 Teilweise unleserliche handschriftliche Resolution in russischer Sprache auf der ersten Seite:
„Kopie ver[schickt] in 2 Ex. an den Sekr[etär] des Schriftstellerverbands [...] Sablovskij [...] seinem
Vor[sitzenden?]“.
232 1937 jährte sich die Oktoberrevolution zum 20. Mal, was mit einer unionsweiten Kampagne ge-
feiert wurde. Allerdings erschwerte der Große Terror die Festvorbereitungen: Verhaftungen schlugen
Breschen in die Festkomitees, festliche Sammelbände mussten zwecks Säuberung von „Volksfeinden“
immer wieder neu konzipiert werden (Schlögel: Terror und Traum, S. 448ff.; Malte Rolf: Das sowjeti-
sche Massenfest, Hamburg, Hamburger Edition, 2006, S. 103–104, 204–205).
233 Die Initiative der Einladung ging von der Komintern aus. Am 26.5.1937 schrieb Dimitrov an Andrej
Andreev und schlug vor, im Laufe des Jahres 1937 namhafte kommunistische und sympathisierende
Schriftsteller einzuladen, die über die „Sommer- und Herbstfeierlichkeiten“ in der UdSSR bleiben und
darüber schreiben würden. Die Listen sollten von den KP-Vertretern zusammengestellt werden, die
die Verhandlungen mit den Schriftstellern führen, die Drucklegung der Zeitungsberichte bewerkstel-
ligen, und „dabei die entsprechende politische Kontrolle verwirklichen“ sollten. Die Einladung sollte
offiziell von VOKS und Goslitizdat ausgehen (RGASPI, Moskau, 495/73/50, 11).
Dok. 415: Moskau, 1.6.1937 1369
234 Die zweite Ehefrau Romain Rollands (siehe Dok. ) war die Russin Marie Romain Rolland
(„Macha“), die halbfranzösische Witwe eines russischen Adeligen.
235 Louis Aragon (ursprüngl. Name Louis Andrieux, 1897 Paris – 1982 ebd.). Französischer Schrift-
steller, Dichter, Publizist und Herausgeber. Schloss sich in seiner surrealistischen Phase 1927 der KP
Frankreichs an, brach dann jedoch mit seinem Freund André Breton und arbeitete in den 1930er Jah-
ren für die Parteizeitung l’Humanité. Dabei nahm er den sozialistischen Realismus auf und verteidigte
den Stalinismus. Zu dieser Zeit Direktor der KP-Abendzeitung Ce soir (1937–1953). Setzte sich seit den
1960er Jahren stärker vom Stalinismus ab. Vor allem seine von Jean Ferrat, Léo Ferré u.a. in Chansons
umgesetzten lyrischen und kämpferischen Gedichte drangen tief in die französische Volkskultur ein.
236 Elsa Triolet (1896 Moskau – 1970 Saint-Arnould-en Yvelines), Schriftstellerin, Ehefrau und Muse
Louis Aragons, Mitglied der KP Frankreichs.
237 Moussinac, d.i. Léon Moussinac (1890 Laroche-Migennes – 1964 Paris), Journalist, Historiker und
Filmkritker, KPF-Mitglied, aktiv in der Association des Ecrivains et Artistes Révolutionnaires (AEAR).
238 René Blech, Schauspieler, u.a. Madame Bovary (Jean Renoir, 1934), Novellist, KPF-Mitglied.
239 Jean Cassous (1897 Deusto – 1986 Paris), Schifsteller, Kunstkritiker, Bricht mit der KPF nach dem
Stalin-Hitler-Pakt, kämpfte in der Résistance.
240 André Malraux (1901 Paris – 1976 Créteil), Schrifsteller, Regisseur und Politker. Schlüsselroman
„L’espoir“. KPF-Mitglied, bricht nach dem Stalin-Hitler-Pakt mit der Partei, schloss sich De Gaulle an,
nach dem Krieg unter letzterem französischer Kultusminister.
241 Julien Benda (1867 Paris – 1956 Fonteny-aux-Roses), französischer Philosoph und Schriftsteller,
unabhängiger Denker („Der Verrat der Intellektuellen“), wandte sich vom Stalinismus ab, Autor der
„Die Zukunft“ (Münzenberg/Koestler/Thormann).
242 Antonio Machado (1875 Sevilla – 1939 Collioure), spanischer republikanischer Lyriker und
Dramatiker der „Generación del 98“. Trat noch 1938 der KP Spaniens bei.
243 Bergamín, d.i. José Bergamin (1895 Madrid – 1983 San Sebastián), spanischer linkskatholischer
Schrifsteller, der KP Spaniens nahestehend, organisierte u.a. den Internationalen Schriftstellerkongress
zur Verteidigung der Kultur (Valencia, 1937).
244 Ramón Sender (1901 Chalamera, Huesca –1982 San Diego, USA). Spanischer Journalist und
Schriftsteller, an der Front im Bürgerkrieg, sympathisierte mit den Anrcho-Syndikalisten, stellte sich
1936/1937 gegen die KP Spaniens.
245 Rafael Alberti (1902 El Puerto de Santa Maria – 1999 Ebd.). Spanischer Schriftsteller, Dichter,
gehörte der „Generación del 27“ an. Mitglied der KP Spaniens, mehrere Besuche in der Sowjetunion.
246 Maria Teresa León (Logroño – 1988 Madrid). Spanische Schriftstellerin, Theater- und Kulturakti-
vistin, während des Bürgerkriegs Sekretärin der KP-nahen Alianza de Escritores Antifascistas (AEA),
Ehefrau Rafael Albertis.
247 Arturo Serrano Playa (1909 San Lorenzo del Escorial, Spanien – 1979 Santa Barbara, Kalifornien).
Spanischer Schrifsteller, einer der „romaceros de la guerra civil“.
248 César Muñoz Arconada (1898 Astudillo – 1964 Moskau). Spanischer Schriftsteller, Dichter und
Journalist. Seit 1931 Mitglied der KP Spaniens. 1936 Literaturredakteur der Parteizeitung Mundo Obre-
ro, 1939 Exil in der Sowjetunion.
249 Zu den aufgeführten deutschen Schriftstellern siehe weiter unten.
1370 1933–1939
USA: Paul de Kruif250 – Michael Gold251 – Ernest Hemingway252 – OʼNeill253 – Pearl [S.]
Buck254 – Malcolm Cowley255 – Langston Hughes.256
ENGLAND: Forster257 – Frank Pitcairn258 – Rosamond Lehmann259 – Steven Spender260
– John Strachey.261
AUSTRALIEN: Katharine Susannah Prichard.262
250 Paul de Kruif (1890 Zeeland, Michigan – 1971 Holland, Michigan), US-amerikanischer Mikrobio-
loge und Schrifststeller, zeitweilig „fellow traveller“ der KP, vor allem durch sein Buch „Mikrobenjä-
ger“ (deutsch: 1927) bekannt, einer populären Darstellung der Bakteriologie.
251 Michael Gold, ursprüngl. Name Itzok Isaac Granich (1894 New York – 1967 Terra Linda, Kali-
fornien), US-amerikanischer Literaturkritiker und Schrifsteller (Bestseller: „Juden ohne Geld“, Berlin
1931). Bis an sein Lebensende der KP der USA verbunden.
252 Ernest Miller Hemingway (1899 Oak Park, Illinois – 1961 Ketchum, idaho). US-amerikanischer
Journalist und Schriftsteller, Literatur-Nobelpreis 1954. Seine Novelle des spanischen Bürgerjkriegs
„Wem die Stunde Schlägt“ (1940) wurde zum Welterfolg, in der KP-Presse jedoch kritisiert. Anfangs
loyal, dann zunehmend kritisch gegenüber der kommunistischen Politik.
253 O’Neill, d.i. Eugene Gladstone O’Neill (1888 New York – 1953 Boston), irisch-amerikanischer
Schrifststeller und Dramatiker, 1936 Nobelpreis für Literatur. Seit 1936 in der KP-Presse dafür kritisiert,
daß er den Weg des Dramatikers der Arbeiterklasse verlassen habe.
254 Pearl S. Buck (1892 Hilsboro, West Virgina – 1973 Danby, Vermont), in China aufgewachsene US-
amerikanische Schrifstellerin. Pullitzer- und Nobelpreis (1938). Ihr Roman „Die gute Erde“ (1931) war
für das westliche Chinabild bestimmend. U.a. gegen die Apartheid engagiert.
255 Malcolm Cowley (1898 Belsano, Pennsylvania – 1889 New Milford, Connecticut). US-amerika-
nischer Journalist, Literaturkritiker und Schriftsteller der „Lost Generation“. Mitherausgeber des
linksunabhängigen Magazins The New Republic, 1935 League of American Writers, aus denen er 1940
wegen der Nähe zur KP der USA wieder austritt.
256 Langston Hughes (1902 Joplin, Missouri – 1967 New York). US-amerikanischer Schriftsteller und
Bürgerrechtler für die schwarzen Amerikaner. Der KP nahestehend.
257 Forster, d.i. Edward Morgan Forster (1879 London – 1970 Coventry). Englischer Schriftsteller, be-
kannt geworden durch sein Portrait des kolonialen Indien („ A Passage to India“/ 1924). Engagiert in
humanitären und Menschenrechtsbewegungen.
258 Frank Pitcairn (Ps.), d.i. Claud Cockburn (1904 Peking – 1981). Irischer Journalist und Schriftstel-
ler, im spanischen Bürgerkrieg Korrespondent im Auftrag der KP-Zeitung Daily Worker), Mitglied der
Internationalen Brigaden, befreundet mit dem Pravda-Chefredakteur Michail Koltsov.
259 D.i. Rosamond Lehmann (1901 Bourne End, Buckinghamshire – London 1990). Britische Schrift-
stellerin, Novellistin. Zeitweise mit Larence Richard Philipps verheiratet, Baron und Mitglied der KP.
Engagiert in den antifaschistischen Kampagnen.
260 Stephen Spender (1909 London – 1995 ibid.). Englischer Schriftsteller, Poet und Essayist. Mitglie-
der der KP, schrieb zunächst noch Apologien der Moskauer Prozesse und ging dann nach Spanien.
Nach dem Stalin-Hitler-Pakt Abkehr vom Stalinismus (zusammen mit Arthur Koestler u.a.: „The god
that failed“, 1949).
261 John Strachey (1901 nahe Guildford, Surrey – 1963 London). Englischer sozialistischer Intellek-
tueller, Publizist, Theoretiker zwischen Marxismus und Sozialdemokratie (The Theory and Practice
for Socialism, 1936). Nach Protest gegen den Stalin-Hitler-Pakt von der Komintern als „Renegat“ be-
handelt.
262 Katharine Susannah Prichard (1883, Levuka, Fidschi – Greenmound, Australien). Australische
Journalistin und Schriftstellerin, Beschrieb u.a. das Schicksal der Ureinwohner („Coonardoo“, 1929),
Von Gründung an blieb sie lebenslang Mitglied der KP Australiens.
Dok. 415: Moskau, 1.6.1937 1371
263 Charles Bouchet. Es handelt sich um Charles Beuchat (1900 Soulce – 1981 Porrentruy, Schweiz).
Kosmopolitischer Intellektueller, Lehrer mit Beziehungen zur Pariser Literaturszene.
264 Mao Dun, eigentl. Name Shen Dehong (1896 Wuzhen, China – 1981). Chinesischer Journalist,
Literaturkritiker und Schrifststeller, seit Gründung 1921 aktiv für die Kommunistische Partei, später
geachteter Literaturfunktionär. Trug maßgeblich zur internationalen Verbreitung der chinesischen
Literatur bei.
265 Nordahl Grieg (1902 Bergen – 1943 Kleinmachnow). Norwegischer Journalist und Schriftststeller,
Dramatiker und Romanschriftsteller, Korrespondent in China, in den 1930er Jahren Anchluß an die
KP Norwegens, 1937 als Korrespondent in Spanien, verteidigt den Stalinismus, im Zweiten Weltkrieg
als mitfliegender Kriegsreporter beim Angriff auf Berlin abgeschossen.
266 Martin Andersen Nexö (1898 Christianhavn, Kopenhagen – 1954 Dresden). Dänischer Schrifstel-
ler, seit 1920 Mitglied der KP Dänemarks; mit Lion Feuchtwanger international propagandistisch zur
Verteidigung der Moskauer Prozesse eingesetzt. Auf Einladung von Max Seydewitz 1952 Übersiedlung
in die DDR.
267 Theun de Vries (1907 Veenwouden – 2005 Amsterdam). Niederländischer Schriftsteller, Dich-
ter, Journalist und kommunistischer Politiker. 1936 Eintritt in die KP der Niederlande, mit der er 1971
brach.
268 Pablo Neruda (1904 Parral – 1973 Santiago de Chile), chilenischer Schriftsteller, Dichter und Di-
plomat. U.a. mexikanischer Konsul während des spanischen Bürhgerkriegs (España en el corazón,
1937), rettete er zahlreiche Flüchtlinge. Unterstützte den mexikanischen Maler Siqueiros, der 1940
ein Attentat auf Trotzki organisierte. 1945 Mitglied der KP Chiles, schrieb Oden an Stalin (1953) und
denunzierte Schriftstellerkollegen. 1971 Nobelpreis für Literatur.
269 Roberto (recte Raúl) Gonzalez Tuñon (1905 Buenos Aires – 1974 ebd.). Argentinischer Journalist
und Schriftststeller. Korrespondent im Chacokrieg und im spanischen Bürgerkrieg. Gründungsmit-
glied der chilenischen Sektion der Alianza de Intelectuales para la Defensa de la Cultura (AIDC), der
Komintern nahestehend.
270 Mancisidor, d.i. José Mancisidor (1894 Veracruz – 1956 Nuevo León), Mexikanischer Schriftststel-
ler, Historiker und linker Politiker der Republik, einer der Schrifststeller der mexikanischen Revoluti-
on. Traf 1936 mit Staatsoberhaupt Kalinin in Moskau zusammen, Mitglied er KP-nahestehenden Liga
de Escritores y Artistas Revolucionarios (LEAR).
271 Kristo Belev d.i. Hristo Velev? Nicht zu eruierende Person.
272 Stojanov, d.i. möglicherweise Kosta Angelov Stojanov (K.S. Kostov), 1876 Varna – 1945 Sofia),
Bulgarischer dramatischer Schauspieler.
273 Grubešlieva, d.i. Marija Ivanovna Grubešlieva (1900 Kjustendil–1970 Sofia). Bulgarische Schrift-
stellerin, Dichterin. Nahm 1937 u.a. am Internationalen Kongress zur Verteidigung der Kultur teil,
offiziell seit 1944 Mitglied der KP Bulgariens. Galt nach 1945 als Vorreiterin der bulgarischen sozialis-
tischen Poesie.
1372 1933–1939
ANHANG: Charakteristika.
274 Ladyslav Novomeský (1904 Budapest – 1976 Bratislava). Slowakischer Schrifsteller, Dichter, Pu-
blizist und kommunistischer Politiker. Schrieb Poesie, befaßte sich jedoch auch mit proletarischer
Literatur. Seit 1925 Mitglied der KP der Tschechoslowakei, nach 1945 ZK-Mitglied. Protestierte gegen
die Normalisierung nach 1968.
275 S.K. Neumann, d.i. Stanislav Kostka Neumann (1875 Prag – 1947 ebd.). Tschechischer Publizist
und Schrifststeller, Dichter, ursprünglich Anarchist, profilierter Verteidiger der tschechischen Natio-
nalkultur, unterstützte die Gründung der KP der Tschechoslowakei nach der Oktoberrevolution, an-
fangs für die Arbeiterkultur, später dem sozialistischen Realismus folgend.
276 Pišek, d.i. wahrscheinlich Antonin Matej Piša (1902–1966). Tschechischer Redakteur und Schrift-
steller. Redakteur der Parteizeitung der KP der Tschechoslowakei Právo Lidu.
277 Generalsekretär des Schriftstellerverbandes war bis 1941 Vladimir Stavskij.
278 In dieser Periode lebte Heinrich Mann in einem „imaginären Dreieck (...) zwischen Paris (Po-
litik), Nizza (Lebenstraum) und Moskau (Utopie) (Manfred Flügge). Im August 1936 veröffentlichte
Heinrich Mann in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Ausschusses zur Vorbereitung einer deut-
schen Volksfront einen Aufruf „Für die spanische Freiheit, gegen Hitlers Umtriebe in Spanien“. Doch
auch ihm gelang es nicht, die Volksfrontinitiative zu retten, nach mehreren Versuchen ging er weiter
mit Pieck und Ulbricht zusammen. Aufgrund seiner abgehobenen Sicht der Sowjetunion konnte er
sich nicht vom Stalinismus lösen (hierzu: Manfred Flügge: Heinrich Mann. Eine Biographie, Reinbek
bei Hamburg, Rowohlt, 2006, S. 305ff., 327ff. u.a.; siehe auch Dok. 429).
279 Es handelt sich um: Egon Erwin Kisch: Eintritt verboten. Roman, Zürich-Prag, Universum Büche-
rei, 1934; Id.: Geschichten aus sieben Ghettos, Amsterdam, de Lange, 1934; Id.: Landung in Australi-
en, Amsterdam, Allert de Lange, 1937.
Dok. 415: Moskau, 1.6.1937 1373
280 Kisch, KPD-Mitglied seit 1929, wandte sich auch während des Terrors und der Schauprozesse
nicht von der Politik Stalins ab und trat durch die Angriff auf André Gide nach der Veröffentlichung
seines sowjetkritischen Buches hervor (siehe: Markus G. Patka: Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben
eines streitbaren Autors, Wien u.a., Böhlau, 1997, S. 303–310).
281 Bereits 1931 wurde der Roman in der Sowjetunion gedruckt (Moskau, Zentralverlag, Allukraini-
sche Abteilung, 1931).
282 „Die Gefährten“ erschien als erster Roman von Anna Seghers kurz vor dem Machtantritt Hitlers
bei Gustav Kiepenheuer in Berlin.
283 „Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932“ erschien als zweiter
Roman von Anna Seghers 1933 bei Querido in Amsterdam.
284 „Der Weg durch den Februar“ erschien 1935 in Paris in den Editions du Carrefour.
285 Die Linkskurve. Die literarisch-kritische Zeitschrift wurde vom Bund Proletarisch-Revolutionärer
Schriftsteller Deutschlands, der kommunistischen Schriftstellerorganisation, herausgegeben und
erschien in Berlin und Weimar im Internationalen Arbeiterverlag bzw. im Aufbau-Verlag in den Jahr-
gängen 1 (1929) – 4 (1932). Herausgeber waren Johannes R. Becher, Kurt Kläber, Andor Gábor, Hans
Marchwitza, Ludwig Renn und Erich Weinert. Ihr Ziel war die Herausbildung einer „marxistisch-le-
ninistischen“ Literaturtheorie und die Umsetzung einer solchen Literaturpolitik (siehe: Frank Rainer
Scheck (Hrsg.): Erobert die Literatur! Proletarisch-revolutionäre Literaturtheorie und -debatte in der
Linkskurve 1929–1932, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1973; Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie.
Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, Neuwied-Berlin, Luchterhand, Neu-
wied, 1971 (collection alternative. 1) (Sammlung Luchterhand. 19)).
286 Gemeint ist Lion Feuchtwanger.
1374 1933–1939
steller.287 Sie ist verheiratet mit Dr. Johann Radványj [László Radványi] /Parteiname
Johann Schmidt/, Organisator und Leiter der „Marxistischen Arbeiterschulen in
Deutschland“.288 Mitglied der Kompartei Ungarns seit 1921, später Mitglied der KPD.289
4. GUSTAV REGLER – Mitglied der KPD /vermutlich seit 1928/.290 Lebte lange Zeit
in Südfrankreich, trat in Berlin erst im Jahre 1932 auf. Im Jahre 1931 brachte er das
Buch „Wasser, Brot und Geschosse“ heraus, einen Roman, in dem er das Schicksal
des Lumpenproletariats beschreibt.291 Im Jahre 1933 emigrierte er nach Paris, nahm
an der Wahlkampagne im Saarland teil und schrieb den Roman „Saar im Feuer“.292
287 Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) bestand seit den 1920er Jahren und wurde 1933
als Verband der „nichtgleichgeschalteten Schriftsteller“ durch Rudolf Leonhard und Alfred Kantoro-
wicz neugegründet. Die Organisation fußte auf der französischen Sektion (zugleich Pariser Ortsgrup-
pe), weltweit bestanden Landesgruppen. Gegen die als Fraktion innerhalb des SDS (Ehrenpräsident
Heinrich Mann, Rudolf Leonhard als Präsident, Anna Seghers, Kisch, Becher, Kantorowicz als Vor-
standsmitglieder) wirkende KPD-Einflussnahme bildete sich 1937 der Bund Freie Presse und Literatur,
zugleich behielten innerhalb des SDS Münzenberg und Otto Katz weiterhin bleibenden Einfluss. Im
Oktober 1939 erfolgte die Auflösung durch die französischen Behörden mit der Begründung, es han-
dele sich um eine „Sowjetagentur“ (siehe: Dieter Schiller: Schutzverband Deutscher Schriftsteller,
Sektion Frankreich (SDS). In: Barck/Schlenstedt/Bürger: Lexikon sozialistischer Literatur, S. 424–427;
Id.: Der Pariser Schutzverband Deutscher Schriftsteller (Société allemande des gens de lettre, siège
Paris). Eine antifaschistische Kulturorganisation im Exil. In id.: Der Traum von Hitlers Sturz. Studien
zur deutschen Exilliteratur 1933–1945, Frankfurt am Main u.a., Peter Lang, 2010, S. 85–104; siehe auch
Dok. 370).
288 Die Marxistische Arbeiterschule (MASCH) wurde Ende 1925 von der KPD-Bezirksleitung Groß-
Berlin als „eine Art marxistische Volkshochschule“ gegründet, bis 1932 kamen Provinzfilialen in über
60 Städten hinzu. Die formell überparteiliche Schulungseinrichtung bot mit über 30 Lehrfächern ein
breites Bildungsangebot an, das nicht nur marxistische Theorie und die Geschichte der Arbeiterbe-
wegung einschloss, sondern auch Fremdsprachen, Naturwissenschaften, Stenographie und Buchhal-
tung. Erster Direktor war Johann Schmidt (d.i. László Radványi), der Ehemann von Anna Seghers. Im
März 1933 wurde die MASCH verboten, ihre Einrichtung und Archiv zerstört (siehe: Carsten Krinn:
Zwischen Emanzipation und Edukationismus. Anspruch und Wirklichkeit der Schulungsarbeit der
Weimarer KPD, Essen, Klartext, 2007, S. 456–469).
289 Anna Seghers (1900 Mainz– 1983 Berlin) trat nach eigenem Bekunden „etwa 1928“ in die KPD
ein. In den Augen des stalinschen Regimes konnte Seghers dadurch positiv aufgefallen sein, dass sie
auf dem Schriftstellerkongress von 1935 das Engagement von Magdeleine Paz für den in der Sowjet-
union verfolgten Victor Serge öffentlich zurückwies. Zu den Schauprozessen und dem Großen Terror
äußerte sie sich allerdings öffentlich nicht. Eine Grußbotschaft Seghers’ an die Sowjetunion zum 20.
Jahrestag der Oktoberrevolution, die 1937 in der Internationalen Literatur abgedruckt wurde, ist in
einem erstaunlich ambivalenten Ton gehalten (siehe: Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine
Biographie 1900–1947, Berlin, Aufbau-Verlag, 2000, S. 190, 302–305).
290 Gustav Regler (1898 Merzig – 14.1.1963 Neu-Dehli) trat 1928 der KPD bei. 1936 war er in Moskau an
der Redigierung des Protokolls des Ersten Moskauer Prozesses beteiligt. Seine Abkehr vom Stalinis-
mus erfolgte 1939 nach dem Stalin-Hitler-Pakt, sein Parteiaustritt 1942 im mexikanischen Exil (siehe:
Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 707–708; Günter Scholdt: Gustav Regler. Odysseus im La-
byrinth der Ideologien. Eine Biographie in Dokumenten, St. Ingbert, Röhrig UniversitätsVerlag, 1998).
291 D.i. „Wasser, Brot und blaue Bohnen“, 1932 in der Universum-Bücherei für Alle, Berlin.
292 D.i. „Im Kreuzfeuer. Ein Saar-Roman“.
Dok. 415: Moskau, 1.6.1937 1375
293 Die Saat“. Roman aus den deutschen Bauernkriegen“ erschien 1936 bei Querido in Amsterdam.
294 Máté Zalka, urspr. Name: Béla Frankl (1896 Matolcs, Ungarn–1937 Huesca, Spanien), ungari-
scher Schriftsteller und Revolutionär. Kommandierte als General Paul Lukács die XII. Internationale
Brigade in Spanien und starb bei einem Bombardement.
295 Es handelte sich um die Tochter Heinrich Vogelers, Marie Luise, genannt Mieke (Marie Luise
Vogeler-Regler (1901 Worpswede– 1945 San Angel, Coyoacán, Mexico).
296 Oskar Maria Graf (1894 Berg – 1967 New York) hielt sich im Sommer 1934 für neun Wochen in der
Sowjetunion anlässlich des 1. Allunionskongresses der sowjetischen Schriftsteller auf und verfasste
einen weitgehend unkritischen Reisebericht. Dieser wurde zwar erst aus dem Nachlass veröffentlicht,
doch propagierte Graf nach seiner Reise auf öffentlichen Versammlungen im Westen ein positives
Sowjetbild. Kritische öffentliche Äußerungen zum stalinschen Terror sind nicht überliefert, von der
Sowjetunion rückte Graf erst in der Nachkriegszeit ab (siehe Gerhard Bauer: Gefangenschaft und Le-
benslust. Oskar Maria Graf in seiner Zeit, München, Süddeutscher Verlag, 1987, S. 262–267).
297 Internationale Literatur. Aus dem Vestnik inostrannoj literatury hervorgegangen, war die Inter-
nationale Literatur (1931 noch unter dem Titel Literatur der Weltrevolution) eine sowjetische Litera-
turzeitschrift, die von 1931 bis 1945 in vier Sprachen (russisch, deutsch, französisch und englisch,
ab 1935 zusätzlich chinesisch) herausgegeben wurde. Herausgeber bis 1935 war die Internationale
Vereinigung revolutionärer Schriftsteller. Die deutsche Ausgabe, die sich von den anderen Ausgaben
merklich unterschied und ab Januar 1937 den Untertitel Deutsche Blätter trug, wurde faktisch von der
deutschen Sektion des sowjetischen Schriftstellerverbands herausgegeben, verantwortlicher Redak-
teur war ab 1936 Johannes R. Becher.
298 Das Wort wurde (auf Beschluss des sowjetischen Volkskommissariats für Erziehung vom
19.2.1936) von 1936 bis 1939 in Moskau herausgegeben und galt als Literaturzeitschrift der Volksfront.
Auch hier war die deutsche Sektion des Schriftstellerverbandes maßgeblich beteiligt. Herausgeber
waren Willi Bredel, Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger. Zum Vergleich beider Zeitschriften siehe:
Angela Nuß-Michel: Die Moskauer Zeitschriften „Internationale Literatur“ und „Das Wort“ während
der Exil-Volksfront. 1936–1939. Eine vergleichende Analyse, Frankfurt am Main e.a., Peter Lang, 1987.
1376 1933–1939
299 Brechts Verhältnis zu den Moskauer Prozessen war höchst ambivalent. Bereits 1935 hatte er als
gefeierter Autor zusammen mit Margarete Steffin die Sowjetunion besucht und kam dort mit Viktor
Šklovskij, Sergej Tret’jakov und anderen Vertretern der Avantgarde in Kontakt. Zu den Schauprozes-
sen 1936 verhielt sich Brecht apologetisch und äußerte in einer privaten Unterhaltung mit einem ame-
rikanischen Trotzkisten über die Angeklagten, „je unschuldiger sie sind, desto mehr verdienen sie
es, zu sterben“ (was Brecht-Biograph Jan Knopf (Bertolt Brecht, S. 319) jedoch als „zynisch-satirische
Stellungnahme“ verstanden wissen will). Als der Terror sich auf Brechts persönliche Bekannte aus-
weitete, scheint er seine zynische Einstellung teilweise revidiert zu haben, zumal er durch die Reise
Margarete Steffins in die Sowjetunion 1937, wo sie sich einer medizinischen Behandlung unterzog,
von der bedrückenden Atmosphäre in Moskau und der Verhaftung seiner Freunde informiert war. Er
versuchte erfolglos, Feuchtwanger dazu zu bewegen, sich für die verhaftete Carola Neher einzuset-
zen, und betrauerte in dem Gedicht „Ist das Volk unfehlbar?“ (1939) die Hinrichtung seines „Lehrers“,
des „großen, freundlichen“ Tret’jakov, und zweifelte die Schuld der Terroropfer an. Trotzdem brachte
es Brecht nie fertig, die Schauprozesse und den Terror öffentlich anzuprangern oder gar mit dem
Stalinismus zu brechen (vgl. Knopf: Bertolt Brecht, v.a. S. 248, 316–320, 325–329; John Fuegi: Brecht
and Company. Sex, Politics and the Making of the Modern Drama, New York, Grove Press, 1994, v.a.
S. 341–362).
300 In der Rubrik „An den Rand geschrieben“ erschien in der März-Ausgabe von Das Wort der unsig-
nierte Beitrag „Eine neue Barriere gegen den Krieg – zum Moskauer Prozeß gegen die Trotzkisten“, in
dem in verhältnismäßig nüchterner Weise die Ergebnisse des Prozesses geschildert wurden. Nachste-
hend veröffentlicht wurden „teilweise stark gekürzt, in der sowjetischen Presse erschienene Aufsätze
der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Andersen Nexö und Willi Bredel“. Der Beitrag des Letzteren,
der den Prozess als Abwehr der Sowjetunion gegen „faschistische Söldnerheere“ darstellte und die
„Schurkereien“ der Angeklagten brandmarkte, ist möglicherweise der im Dokument erwähnte Bei-
trag, da er sich gegenüber der sowjetischen Hetze der Zeit relativ „zahnlos“ ausnimmt (siehe Das Wort
(1937), H. 3, S. 100–103).
301 Sämtliche Schriften Brechts wurden in NS-Deutschland verboten, sein Name befand sich auf
der unmittelbar nach der Machtübernahme erstellten „schwarzen Liste“, die die Grundlage für die
öffentlichen Bücherverbrennungen im Zuge der „Aktion wider den undeutschen Geist“ im Mai 1933
bildete. Es ist also davon auszugehen, dass auch seine Werke verbrannt wurden. Brecht verfasste im
Jahr 1938 eine lyrische Satire unter dem Titel „Die Bücherverbrennung“, worin der Protagonist, ein
exilierter Dichter, dessen Werke von der Verbrennung ausgenommen waren, von den Nationalsozia-
listen fordert: „Tut mir das nicht an! Laßt mich nicht übrig! [...] Ich befehle euch, verbrennt mich!“
Brecht bezog sich hier allerdings nicht auf sich selbst, sondern auf Oskar Maria Graf, dessen Bücher in
der Tat nicht verbrannt, sondern vom NS-Regime als empfehlungswürdig behandelt wurden, worüber
sich der Autor aus dem Exil in Solidarität mit seinen verfolgten Schriftstellerkollegen in einer öffent-
lichen Stellungnahme empört hatte (vgl. Jan Knopf: Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten,
München, Hanser, 2012, S. 272).
302 Brechts „Dreigroschenroman“ erschien 1937 in einer autorisierten Übersetzung von Valentin
Stenič im Verlag Goslitizdat.
Dok. 415: Moskau, 1.6.1937 1377
Bert Brecht ist ein Freund des aktiven Trotzkisten Korsch und lebt in Kopenha-
gen, ebenfalls ist seine Frau Margarete Steffin303 mit Korsch befreundet.304 Sie sind
Freunde von Sergej Tretʼjakov.305
Am 16.6.1937 wurden dem sowjetischen Gewerkschaftsverband seitens des Politbüros des ZK der KP
der Sowjetunion 240.000 Rubel für den Transport von Spanienkindern in die UdSSR bewilligt. Später
erfolgte eine weitere Mittelzuweisung über 350.000 Rubel.306
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 22.6.1937 Direktiven für Ivan Majskij zur
sowjetischen Haltung im Londoner Nichtinterventionskomitee. Die Frankisten sollten aufgefordert
werden, Handelsschiffe auf offener See nicht anzugreifen, andernfalls sollte es eine internationale
Strafexpedition geben. In den englischen Vorschlag, eine gleiche Anzahl Freiwilliger und internatio-
naler Kämpfer auf beiden Seiten aus Spanien abzuziehen, sollten die marokkanischen Truppenteile
der aufständischen Putschisten integriert und dabei das Prinzip der Proportionalität beachtet wer-
den. Allgemein sollte jedoch vermieden werden, von sowjetischer Seite allzu aktiv im Komitee auf-
zutreten.307
Da Deutschland sich geweigert habe, Industrieausrüstungen auf Kredit zu verkaufen, entschied sich
das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 5.7.1937, nach dem 30.7. von der Nutzung der verblei-
benden Reste des 200-Millionen-Kredits Abstand zu nehmen.308
303 Die Schauspielerin Margarete Steffin war nicht Brechts Ehefrau, sondern seine Geliebte.
304 Der dissidente Marxist Korsch und Brecht waren sich 1928 zum ersten Mal begegnet und waren
später im dänischen Exil eng verbunden. Brecht sah in Korsch seinen wichtigsten Lehrer neben dem
ebenfalls dissidenten Theoretiker Fritz Sternberg. Korsch übte einen großen Einfluss auf Brechts
Marxismusverständnis und auf seine Ästhetik aus (siehe: Knopf: Bertolt Brecht, S. 302–309; Douglas
Kellner: Brecht’s Marxist Aesthetic. The Korsch Connection. In: Betty Nance Weber, Hubert Heinen
(Hrsg.): Bertolt Brecht. Political Theory and Literary Practice, Athens, The University of Georgia Press,
1980, S. 29–42; zu Sternberg siehe: Fritz Sternberg: Der Dichter und die Ratio. Erinnerungen an Ber-
told Brecht. Hrg. Von Hega Grebing, Berlin, Suhrkamp, 2014 (Bibliothek Suhrkamp).
305 Sergej Tret’jakov (1892–1937, in Moskau erschossen), sowjetischer Bühnenschriftsteller und Li-
teraturtheoretiker, Vertreter des Futurismus. Enge Zusammenarbeit mit Meyerhold, Eisenstein und
Majakovskij. Enge Kontakte mit deutschen linken Künstlern und Literaten, geschätzt und bewundert
von Benjamin und Brecht. Im Juli 1937 während einer Behandlung aus dem Kreml-Krankenhaus her-
aus verhaftet, als „japanischer Spion“ zum Tode verurteilt und am 10.9.1937 erschossen (für eine Kurz-
biographie und Dokumente aus seiner Strafsache siehe: Koljazin/Gončarov: „Vernite mne svobodu!“,
S. 46–69).
306 RGASPI, Moskau, 17/162/21, 83, 162.
307 RGASPI, Moskau, 17/162/21, 86.
308 RGASPI, Moskau, 17/162/21, 91.
1378 1933–1939
Dok. 416
Beschluss des EKKI-Sekretariats zur erneuten Wiederbelebung der
Befreiungskampagne für Ernst Thälmann
Moskau 5.7.1937
Endgültiger Text309
Beschluß des Sekretariats310 vom 11. Juli 1937311 zur Wiederbelebung der Befreiungs-
kampagne für Ernst Thälmann, zur juristischen Vorbereitung seiner Verteidigung
und zur Reorganisierung der Leitung der Befreiungskampagne.312
1. Die Wiederbelebung der Befreiungskampagne für Ernst Thälmann soll durch eine
Bewegung für die Freilassung der seit Aufrichtung der Hitlerdiktatur als Geiseln der
Hitlerregierung eingekerkerten Antifaschisten erfolgen. Im Rahmen dieser Bewegung
soll entsprechend der politischen Bedeutung von Ernst Thälmann für die deutsche
Arbeiterbewegung und für den Kampf um Frieden und Demokratie der Kampf um
seine Freilassung in den Vordergrund gestellt werden. Dabei soll besonders die Ver-
schlechterung des Gesundheitszustandes von Ernst Thälmann und anderer eingeker-
kerter Antifaschisten hervorgehoben und der Kampf um die Gewährung von Kranken-
kost, Überführung in ein Sanatorium, Haftunterbrechung und andere Erleichterungen
geführt werden.313
2. Die Reorganisation der Führung der Kampagne soll dadurch herbeigeführt werden,
dass das „Internationale Befreiungskomitee für Thälmann und alle eingekerkerten
Antifaschisten“ (Thälmannkomitee)314 mit der „Permanenten Europäischen Kom-
len Roten Hilfe finanziert. (siehe Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, Bd. 2, S. 213; Gilbert Badia: Le
Comité Thaelmann. In: Badia/Jolly/Mathieu: Les bannis de Hitler, S. 199–259).
315 Ende 1936 wurde wiederum unter Beteiligung Münzenbergs die Ständige Kommission für eine
politische Vollamnestie in Deutschland mit Hauptsitz in Paris und Brüssel (Commission permanente
pour l’Amnistie générale des emprisonnés politiques en Allemagne/ Permanent Commission on
General Amnesty for the Political Prisoners in Germany/ Sekretäre: Eliane Brault, Armand Abel) mit
dem Internationalen Befreiungskomitee für Thälmann und alle eingekerkerten Antifaschisten vereint
(Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, Bd. 2, S. 225ff.).
316 Friedrich Roetter, ein jüdischer, ehemals deutschnational gesinnter Rechtsanwalt, war einer der
wenigen Anwälte, die im Auftrag von Rosa Thälmann bereit waren, die Verteidigung ihres Ehemannes
zu übernehmen. Er nahm Kontakt zum Thälmann-Komitee auf und schmuggelte die Anklageschrift
gegen den KPD-Führer ins Ausland, die ein anderer Anwalt, Fritz Ludwig, besorgt hatte. Nach
Roetters Rückkehr aus Paris, wo er sich mit einem Mitglied des Komitees getroffen hatte, wurde er
von der Gestapo verhaftet. Nachdem er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes aus der Haft
entlassen wurde, floh er über die Tschechoslowakei nach Frankreich und hielt europaweit Vorträge
über Thälmanns Situation. 1939 wanderte Roetter in die USA aus, wo er für das Amt für strategische
Dienste (OSS) arbeitete und bis zu seinem Tod 1953 Politikwissenschaften in New Jersey lehrte (siehe:
Stefan König: Vom Dienst am Recht. Rechtsanwälte als Strafverteidiger im Nationalsozialismus, Berlin,
de Gruyter, 1987, S. 80–82; Ernst Siefel, Frank Mecklenburg: Deutsche Juristen im amerikanischen Exil
1933–1950, Tübingen, Mohr, 1991, S. 157).
1380 1933–1939
6. Die juristische Vorbereitung der Verteidigung von Thälmann für den Fall eines Pro-
zesses soll von Dr. Roetter bis Ende 1937 beendet sein, wobei folgende Aufgaben zu
lösen sind:
a) Die Anfertigung eines juristischen Pla[e]doyers auf Grund der bekanntgewor-
denen Anklage und der sonst gegen Thälmann von der Hitlerregierung erhobenen
Beschuldigungen.317
b) Die Herausgabe der von Dr. Roetter vorbereiteten Broschüre über den Inhalt
der Anklageschrift und ihrer Widerlegung. Die Broschüre soll noch durch die Behand-
lung einer Reihe anderer schwerer Justizverbrechen der Hitlerregierung erweitert
werden.318
7. Es ist eine politische Broschüre herauszugeben, in der die Anklageschrift in allen
ihren Konstruktionen als politisches Machwerk der Hitlerregierung aufgezeigt und
offensiv gegen die vom Hitlerfaschismus vor und nach Aufrichtung der faschistischen
Diktatur begangenen Verbrechen Stellung genommen wird. Die Broschüre soll eine
gründliche Materialsammlung enthalten, die sowohl in der Befreiungskampagne als
auch im Falle eines Prozesses verwandt werden kann. Vor der Drucklegung dieser
Broschüre sollen die beiden Juristen über die in der Broschüre behandelten juristi-
schen Angelegenheiten gehört werden.
8. Es sind eine Reihe kürzerer Artikel fertigzustellen, in denen einzelne faschistische
Anklagepunkte entlarvt und der Nachweis erbracht wird, dass die Thälmann unter-
stellten Verbrechen gerade von den Faschisten begangen wurden. Es ist ferner her-
vorzuheben, dass von der Hitlerregierung seit mehr als vier Jahren eine grosse Anzahl
von antifaschistischen Kämpfern als Geiseln in den Kerkern festgehalten werden. In
einer Broschüre sollen die einzelnen Fälle unter Charakterisierung der einzelnen
Genossen ausführlicher behandelt werden.
9. Alle in der Beratung gemachten Vorschläge für die Wiederbelebung der Kampagne
und für die Arbeit der neuen Leitung sollen dieser als Material überwiesen werden.
10. Genossin Schorr ist beauftragt, in Gemeinschaft mit dem Gen. Šmeral und Walter
[Ulbricht] dafür Sorge [zu] tragen, dass [die] vorstehenden Massnahmen eingeleitet
und durchgeführt werden. Sie ist persönlich vor dem Sekretariat des EKKI verant-
wortlich für die weitere Entfaltung der Thälmann-Kampagne.319
5.7.37
317 In Moskau wurde die Gegenkampagne geplant, nachdem Teile der im Büro des Pflichtverteidigers
abgeschriebenen Anklageschrift vom 17.12.1934 in der internationalen Presse veröffentlicht wurden.
Siehe SAPMO-BArch, NY 4003/70; 4003/46, Bl. 282–433.
318 Gemeint ist wohl Friedrich Roetters Broschüre „Might is Right“, London, Quality Press, 1939 (dt.:
Das Recht des Stärkeren) unter Übernahme des Titels des von Ragnar Redbeard (Ps.) 1890 veröffent-
lichten Pamphlets „Might is Rigt. The Survival of the Fittest“.
319 Punkt 10 handschriftlich von Dimitrov anstelle des folgenden durchgestrichenen Textes eingefügt:
„Die Leitung der Internationalen Roten Hilfe im Auslande ([Tom] Bell, Bonetti) soll in Gemeinschaft mit
dem Genossen Šmeral und Walter [Ulbricht] dafür Sorge tragen, dass die vorstehenden Maßnahmen
eingeleitet und durchgeführt werden.“
Dok. 417: [Paris], 14.7.1937 1381
[sign.] G. Dimitrov
Pieck
Gotwald [Klement Gottwald]
M. Moskwin [d.i. Michail Trilisser]
Am 7.7.1937 befugte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den sowjetischen Botschafter in
London Ivan Majskij, das Marineabkommen mit Großbritannien zu unterzeichnen. Es wurde am 17.7.
abgeschlossen und beinhaltete gegenseitige Rüstungslimits für Kriegsschiffe.320
Dok. 417
Brief Wili Münzenbergs an Stalin über das verschwörerische
Vorgehen Ulbrichts
[Paris], 14.7.1937
Deutsche Erstveröffentlichung. Rückübersetzung aus dem Französischen nach der Publikation (ohne
Signatur) in: Stéphane Courtois (Hrsg.): Dossier Willi Münzenberg. In: Communisme (1994), Nr.
38/39, S. 45–55.
Hitlers, nach der folgenden militärischen Wiederbewaffnung sowie nach der (bis zu
einem gewissen Grad erfolgreichen) Politik der Schaffung eines faschistischen Welt-
blocks und nach der zögerlichen Haltung der westeuropäischen Staaten erhöhte sich
in außergewöhnlicher Weise die Bedeutung Deutschlands für die historische Debatte,
das sich auf eine neue Teilung der Macht zwischen den Staaten der Welt und zwi-
schen den Klassen der großen imperialistischen Staaten vorbereitet und damit zu
einem entscheidenden Faktor der Weltpolitik geworden ist.
Aufgrund dieser Situation kommt der deutschen kommunistischen Partei als viel-
leicht die größte Partei nach der KPdSU(b) (die kommunistische Partei, die Sie so bril-
lant und mit so großem Erfolg geführt haben) in der Tat eine unmittelbare Mission zu.
Im Herbst 1936 habe ich in einer Broschüre über den „Propagandaauftrag der
KPD“ 322 diese enorme und täglich wachsende Verantwortung unserer Partei und
die Sicherheit ihrer Politik unterstrichen, deren theoretische und ideologische Reife
und revolutionären Mut ihrer Kader (in die man Vertrauen haben kann), wovon mög-
licherweise die Entscheidung über den Ausgang eines neuen Krieges abhängt und
[was] in jedem Fall Einfluss auf seine Dauer haben wird.
Meine Vorschläge haben sehr wohl die platonische Zustimmung der deutschen
an der Spitze stehenden Genossen gefunden, sie wurden jedoch in keinster Weise
in Betracht gezogen und hatten keine Folgen. Dies ist der Grund, warum ich immer
weniger mit meinen Genossen einverstanden bin (und diese Meinungsunterschiede
haben sich während der letzten Wochen noch verstärkt), denn die Politik, die augen-
blicklich durchgeführt wird, im Besonderen durch die Führung in Paris,323 halte ich
für schädlich, gefährlich und fatal für die revolutionäre Antihitlerbewegung und die
Gesamtheit der internationalen Bewegung.
Da die anormale Organisation der Führung unserer Partei (die Ihnen bekannt ist)
– (es gibt kein Pol-Büro, nur einen Präsidenten und einen Sekretär und gerade mit
dem Sekretär habe ich Meinungsunterschiede) die Lösung von Differenzen unmög-
lich macht, wende ich mich an Sie und bitte Sie, die (für die Gesamtheit der internati-
onalen kommunistischen Bewegung) wichtige Frage der KPD (Deutsche Kommunisti-
sche Partei) und ihrer Politik in Betracht zu ziehen.
Ich glaube, dass ohne die Aktivität und die tägliche Propaganda zu vernachläs-
sigen, die Kadererziehung einer wirklich bolschewistischen Partei in Deutschland
selbst, die tägliche Politik und geschickteste Taktik die große strategische Mission
unserer Partei sein müssen, wobei eine Möglichkeit des kommenden Krieges, in
Betracht gezogen werden sollte – selbst wenn sie unwahrscheinlich ist –, in jedem
Fall die Möglichkeit – die man sicherlich annehmen muss –, dass das Hitler-Regime
bemüht sein wird, seinen durch einen ausländischen Krieg unvermeidbaren Sturz
zu verhindern. Wenn allerdings diese Vorstellung exakt ist, muss das erste und
wichtigste Gesetz für die Partei sein, alle Aktionen, die Aktivität und Propaganda
auf Grundlage dieser Vorstellung zu entscheiden, die zentral ist und die als Krite-
rium gelten muss. Es handelt sich im Besonderen darum, den Millionen Deutschen
in Deutschland und im Ausland in deutlicher Form verständlich zu machen, dass
unsere Partei und nur unsere Partei den kommenden Krieg vorausgesehen und die
sich daraus ergebende Taktik ausgegeben hat.324 Heute müßten die Hauptregeln der
Parteitaktik die folgenden sein: Alle Kräfte, die gegen das Regime und die Hitlerregie-
rung eingestellt sind, und dabei zählen weniger die Interessen, Motive und Absich-
ten, die dies bewirken, seien es ökonomische oder industrielle, religiöse Gründe usw.,
müssen gegen das Hitlerregime benutzt werden um mit den anwachsenden Kräften
für eine demokratische Bewegung, die Idee einer Deutschen Volksfront zu propagie-
ren, mit den sozialistischen Kräften zu einer Einheitsfront zu kommen, dies selbst auf
Kosten anderer Vorteile, was die Fragen der täglichen Taktik angeht, um schließlich
die Isolierung zu überwinden, die uns zur Untätigkeit verdammt, und insofern nicht
neben der deutschen antifaschistischen Volksbewegung zu marschieren, sondern in
dieser Bewegung, Einfluss auf ihre Entwicklung zu erhalten, sowie als aktivste, beste,
stärkste und klarste Kraft auf ihre Führung. Die erste Aufgabe, die schwierigste und
die an Konsequenzen reichste, die unsere Partei heute erfüllen muss, ist von daher: Die
Möglichkeit, dass das Hitlerregime einen Ausweg in einem Krieg sucht, vollständig zu
stören und, wenn möglich, vollständig zu verhindern, dies unter Anwendung aller prak-
tischen Mittel und mit der Hilfe aller Gruppierungen und Personen aus dem In- und
Ausland. Und falls dies nicht ausreichend ist, dann in der Bewegung der Kräfte, die zu
dieser Aufgabe bestimmt sind, eine Vorbereitung [durchführen], die nach der Erklärung
eines Krieges in kürzestmöglicher Zeit ein Maximum aller Antihitlerkräfte in einer revo-
lutionären Bewegung [vereint], um das Hitlerregime zu stürzen.325
Ich hatte und habe immer noch den Eindruck, dass ein solcher Vorschlag für
die deutsche kommunistische Partei nicht nur auf einer persönlichen Einschätzung
beruht, sondern vollständig mit der Weltpolitik übereinstimmt, die Sie so großartig
geführt haben, genauso wie mit den Entscheidungen des VII. Weltkongresses der
Kommunistischen Internationale.
Es ist um so unverständlicher, dass trotz der Einschätzung der Situation und der
unzweideutigen Stellungnahme der KPD hier nichts zur Erfüllung dieser Aufgabe
getan wurde, ja im Gegenteil, man dem zuwiderhandelt. Wenn ich nun in einigen
Zeilen einige Bestrebungen angebe, die ich persönlich geleistet habe, so geschieht
dies nicht, weil ich es bin, der dies geleistet hat, sondern um zu beweisen, dass diese
entscheidende Aufgabe heute bis zu einem gewissen Grad für die kommunistische
Bewegung als ganzes durchgeführt werden kann. [...]
All dies wird heute nicht nur in Frage gestellt, sondern ist bereits zu einem Gutteil
auf Jahre hinaus hoffnungslos zerstört.
Ein wertvolles Vertrauen ist verloren. Verbindungen sind auf alle Zeit gebrochen
und zerstört, wir sind heute isolierter als wir es jemals gewesen sind, und der Kampf
gegen Hitler und seine trotzkistischen Agenten der Gestapo ist schwieriger als vorher.
Ich erhebe gegen den Genossen Walter Ulbricht (den Sie kennen und den Sie
verurteilt haben, allerdings in einer noch zu sanften Weise)326 den Vorwurf und
die Anklage, bewusst oder unbewusst, durch Dummheit oder Schlimmeres, diesen
schädlichen Rückschritt in der Vereinigung und der Erprobung der revolutionären
Kräfte bewirkt zu haben, die in Opposition zu Hitler stehen. Er ist hier der einzige
Chef, der entscheidet. Er entscheidet, befiehlt, gibt Direktiven aus und beschließt die
organisatorischen Maßnahmen. Alle Versuche, die ich unternehmen konnte, sei es,
um die praktischen Ungerechtigkeiten wieder gerade zu rücken, oder die politischen
Fragen zu klären, waren erfolglos. Im Interesse der Partei und der erreichten Positi-
onen habe ich mit Energie versucht, meine Zweifel und meine Gegenargumente ein-
zubringen. Das Ergebnis war, dass man von diesem Zeitpunkt an in einer wirklich
üblen Weise mit solchen Vorbehalten und mit solchen Methoden zu handeln begann,
dass es mir schwerfällt, zu glauben, man könne so nur durch Dummheit handeln. Ich
führe im Folgenden einige Fakten auf.
[...] Das schlimmste ist die absolut absurde Methode (es sei denn, es handele sich
um eine unbewußte), alles und jeden „trotzkistisch“ zu nennen: die Sozialistische
Arbeiterpartei, ohne hier die Parteiführung der Deutschen Sozialdemokratischen
Partei, die Gruppe von Strasser,327 die Katholiken und andere, morgen vielleicht
326 Ulbricht wurde wegen des von ihm stammenden Aufrufs des ZK der KPD zur „Versöhnung des
deutschen Vokes“ auch von der Kominternführung kritisiert. Die „Versöhnung“ dürfe nicht als „Ver-
söhnung mit der Nazi-Partei“ verstanden werden. Der Aufruf Dok. 395a enthalte – so Dimitrov – „kein
Wort vom Kampf gegen Hitler“ (Dok. 403d, siehe auch Schütrumpf: Versöhnung der antifaschisti-
schen und nationalsozialistischen Massen, weitere Literatur im Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 334).
327 Otto Strasser (1897–1944), bildete u.a. mit seinem Bruder Gregor bis 1930 den sozialrevoluti-
onären Flügel der NS-Bewegung. Die von ihm gegründete „Schwarze Front“ warf Hitler Verrat am
nationalsozialistischen Gedankengut vor und war aktiv am Widerstand beteiligt. Siehe: Wolfgang
Abendroth: Das Problem der Widerstandstätigkeit der „Schwarzen Front“. In: Vierteljahrshefte für
Zeitgeschichte 8 (1960), H. 2, S. 181–187
Dok. 417: [Paris], 14.7.1937 1385
328 Der ehemailige Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970), der im Namen des Zentrums für das
Ermächtigungsgesetz Hitlers stimmte, suchte zwar noch Verbindungen im Exil, war jedoch politisch
nicht mehr aktiv.
329 Otto Wels (1873–1939), der 1933 im Namen der SPD das Ermächtigungsgesetz Hitlers ablehnte,
gehörte dem sozialdemokratischen Parteivorstand im Exil (SOPADE) an (seit 1938 in Paris). Dr. Carl
Spiecker (1888–1953) war ein Weimarer Zentrumspolitiker und linksrepublikanischer Kontrahent
Brünings. Er gründete zusammen mit Otto Klepper 1936/1937 im Exil die Deutsche Freiheitspartei,
die sich als nationale Freiheits- und Widerstandsbewegung verstand und die auch von Münzenberg
gefördert wurde. Siehe: Astrid von Pufendorf: Otto Klepper. 1888–1957, Deutscher Patriot und
Weltbürger, München, Oldenbourg, 1997 (Studien zur Zeitgeschichte. 54).
330 Zur weiteren Entwicklung siehe die folgende Münzenberg-Korrespondenz.
1386 1933–1939
Dok. 418
Operativer Befehl des sowjetischen Volkskommissars für innere
Angelegenheiten über Spionage- und Diversionstätigkeit seitens
des deutschen Generalstabs und der Gestapo in der Sowjetunion
Moskau, 25.7.1937
In russischer Sprache publ. in: A. Ja. Razumov (Hrsg.): Leningradskij martirolog 1937–1938: kniga
pamjati žertv političeskich repressij, Bd. 2: Oktjabrʼ 1937 goda, Sankt-Peterburg, Izdatelʼstvo
Rossijskoj nacionalʼnoj biblioteki, 1996, S. 452f. In deutscher Sprache publ. in: Weber/Mählert:
Terror, S. 165–166.
STRENG GEHEIM
OPERATIVER BEFEHL
DES VOLKSKOMMISSARS FÜR INNERE ANGELEGENHEITEN DER UdSSR
Agentur- und Untersuchungsmaterialien der letzten Zeit beweisen, daß der deutsche
Generalstab und die Gestapo in großem Umfang Spionage- und Diversionstätigkeit in
den wichtigsten Unternehmen, vorrangig der Rüstungsindustrie, organisieren, wofür
sie die dort vorhandenen Kader deutscher Staatsbürgerschaft nutzen.
Die Agenten unter den deutschen Staatsangehörigen, die schon jetzt Sabotage-
und Diversionsakte leisten, richten ihr Hauptaugenmerk auf die Organisierung von
Diversionsakten für die Zeit des Krieges und bereiten die Diversionskader auf diese
Ziele vor.331
Zur vollständigen Unterbindung dieser Tätigkeit des deutschen Nachrichten-
dienstes BEFEHLE ICH:
1. Innerhalb von drei Tagen nach Erhalt dieses Befehls sind genaue Listen folgender
deutscher Staatsbürger anzufertigen und mir zu überstellen:
a) Listen derjenigen, die in Rüstungsbetrieben arbeiten oder in Betrieben mit Rüs-
tungsabteilungen, gemäß beigefügtem Fabrikverzeichnis.
331 Der Befehl erfolgte als Ausführung einer auf einen kleinen Zettel gekritzelten Anweisung Stalins,
die dem Politbüroprotokoll der Sitzung vom 20.7.1937 beigelegt war und im Moskauer Präsidentenarchiv
überliefert ist: „Alle Deutschen in unseren Rüstungsbetrieben, halbmilitärischen und Chemiewerken,
in Elektrokraftwerken und auf Baustellen in allen Gebieten sind alle zu verhaften“. Dies war der
Anfang der sog. „Deutsche Operation“ des NKVD. (Nikita Ochotin, Arseni Roginskij: Zur Geschichte
der „Deutschen Operation“ des NKWD 1937–1938. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung
(2000/2001), S. 89–125, hier S. 89). Die Verhaftungen begannen in der Nacht vom 29.7.1937 auf dem
gesamten Gebiet der Sowjetunion. Insgesamt wurden in diesem Rahmen 1937 und 1938 69 000–73
000 Deutsche verurteilt (ebd., S. 121).
Dok. 418: Moskau, 25.7.1937 1387
7. Täglich gegen zwölf Uhr sind mir der Gang und die Ergebnisse der Operation sowie
alle Untersuchungsmaterialien der vergangenen vierundzwanzig Stunden telegra-
phisch zu übermitteln.
8. Der Befehl ist über Telegraph in Kraft zu setzen.
Dok. 419
Rundschreiben des Auslandssekretariats der KPD über die
„Wühlarbeit“ der „Banditen und Verräter“ in Deutschland,
Spanien ...
[Paris?], 31.7.1937 [Ende Juli 1937]
Typoskript in deutscher Sprache. SAPMO-BArch, Berlin, NY 4036/495, Bl. 454–459. Publ. in: Reinhard
Müller: Herbert Wehner. Moskau 1937, Hamburg, Hamburger Edition, 2004, S. 421–429.
Vertraulich!
Liebe Freunde!
Wir bitten Euch dringend, nachfolgendes Schreiben sehr ernstlich zu studieren und
vor allem für Eure praktische Arbeit Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wir geben
Euch diese Unterlagen zur internen Information und mündlichen Weiterleitung an
die Funktionäre und Freunde im Lande.332
Der Prozess gegen die trotzkistischen Banditen und die Verräter Tuchatschews
ki333 und Konsorten, die versuchten, mit Hilfe des deutschen und japanischen Faschis-
mus einen Interventionskrieg gegen die SU vorzubereiten, haben blitzartig die Metho-
332 Am 8. Juni 1937 wurde in einer Sitzung des Pariser Sekretariats der KPD festgelegt: „4 [d.i. Her-
mann Nuding] soll ein Rundschreiben an die Gr. St. [Grenzstellen der KPD] machen, in dem das Ma-
terial über Gestapo, Trotzkisten, sowie Versöhnler verarbeitet wird.“ SAPMO-BArch, RY1 I 2/3/273, BI.
181. In der nächsten Sitzung beschloss man, dass in diesem Rundschreiben Max Frenzel genannt wer-
den sollte (BI. 186). Nuding zog für das Rundschreiben als“ Material“ offensichtlich auch einen Zusa-
menstellung Herbert Wehners über die „trotzkistische Wühlarbeit“ heran. Auf dieses Rundschreiben
des Sekretariats zum Trotzkismus wies auch Wilhelm Pieck hin, vgI. SAPMO-BArch, NY 4036/558, BI.
137. Er erhielt dieses Rundschreiben am 7. August 1937 in Moskau.
333 Michail Tuchačevskij (1893–1937, in Moskau erschossen), legendärer sowjetischer Militärführer
im Bürgerkrieg wie auch im sowjetische-polnischen Krieg; seit 1936 stellvertretender Volkskommissar
für Verteidigung. Er wurde am 22.5.1937 verhaftet, als Anführer einer angeblichen „antisowjetischen
trotzkistischen Militärorganisation“, gemeinsam mit anderen Armeeführern vor ein Militärtribunal
gestellt, verurteilt und am 22.6.1937 erschossen. Die von ihm im Auftrag von Lenin und Trotzki
geknüpften Kontakte zur Reichswehr in den 1920er Jahren wurden im Nachhinein nach dem Drehbuch
Stalins als „trotzkistisch“ und als „Zusammenarbeit mit der Gestapo“ kriminalisiert.
Dok. 419: [Paris?], 31.7.1937 [Ende Juli 1937] 1389
den der trotzkistischen Agenten des Faschismus beleuchtet. Wie ihre Pläne realisiert
werden sollten, das zeigt der Putsch der POUM in Barcelona und die Intervention der
faschistischen Banditen in Spanien. Mit Hilfe der verschiedensten Splittergruppen,
vor allem ihrer Agenten in der SAP, führen die Trotzkisten ihre Zersetzungsarbeit auch
in den Reihen der deutschen Antifaschisten bis hinein in die SPD und einzelner Grup-
pierungen derselben.
In seiner grossen Rede auf dem ZK-Plenum der KPdSU hat der Genosse Stalin
klar und eindeutig die ganze Gefährlichkeit dieser Banditen aufgezeigt.334 Zehntau-
sende braucht man, um einen Dnjeprostroi zu bauen,335 wenige nur sind notwendig
zu seiner Vernichtung. Werden in Deutschland nicht ebenso die mühevollen Fort-
schritte der Einheits- und Volksfront durch die Zersetzungsarbeit der trotzkistischen
Agenten, denen die Gestapo auf dem Fusse folgt, gefährdet? Das Beispiel des Genos-
sen Stalin muss jedem Freund vor Augen gehalten werden, damit er die ganze Gefahr
sieht und begreift, dass keine Loyalität, keine Duldsamkeit gegen die Feinde, ganz
gleich, unter welcher Maske sie auftreten, erlaubt ist und dass die Wachsamkeit so
gesteigert werden muss, damit es keinem dieser Elemente gelingt, sich in unseren
Reihen festzusetzen.
Manche Genossen glauben, dass durch Verbesserung der praktischen Arbeit die
Trotzkisten am besten entlarvt werden. Diese Genossen sehen nicht die Tatsache,
dass der Trotzkismus keine politische Strömung in der Arbeiterbewegung ist, sondern
zum Verbündeten des Faschismus wurde und deshalb auch nicht mit politischer
Plattform und politischer Argumentation in unseren Reihen auftritt, sondern alles
tut, um sogar mit Hilfe richtiger praktischer Arbeit seine feindlichen Massnahmen
besser tarnen und vorbereiten zu können.336 Es genügt also nicht eine gute praktische
Arbeit, sondern es muss ein systematischer politisch-organisatorischer Kampf gegen
den Trotzkismus und gegen alle Beziehungen zu Trotzkisten geführt werden. [...]
Unter welcher Maske und in welchen Formen sie sich zeigen, dafür nachfolgende
Beispiele:
334 Die Rede Stalins auf dem Märzplenum des ZK der VKP(b) (23.2.-5.3.1937), leitete den darauf-
folgenden Massenterror an und lieferte die politische und ideologische Grundlage. Gestützt auf die
Ergebnisse der ersten Schauprozesse, zeichnete Stalin das Bild einer die Sowjetunion umspannen-
den „Schädlingsarbeit“ und geißelte die Partei für mangelnde Wachsamkeit. Siehe die deutsche
Volltextpublikation der Rede nebst Einleitung von Aleksandr Šubin in http://www.1000dokumente.
de/?c=dokument_ru&dokument=0022_sta. Zur Reaktion der Komintern auf das Märzplenum vgl.
Dok. 414.
335 Dnjeprostroi: Der 1932 am Fluß Dnepr errichtete Staudamm nebst Kraftwerk wurde als die große
Errungenschaft des ersten Fünfjahresplans gefeiert und galt auch weiterhin als das Prestigeobjekt der
stalinschen Industrialisierung (siehe: Klaus Gestwa: Technik als Kultur der Zukunft: der Kult um die
„Stalinschen Grossbauten des Kommunismus“. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 1, S. 37–73).
336 Anknüpfung an eine Aussage Stalins aus seiner Rede auf dem Märzplenum, wonach „die
heutigen Schädlinge und Diversanten [...] schon längst aufgehört haben, eine politische Strömung
in der Arbeiterbewegung zu sein [und] sich in eine prinzipien- und ideenlose Bande berufsmäßiger
Schädlinge, Diversanten, Spione, Mörder verwandelt haben.“
1390 1933–1939
Die trotzkistischen Gestapoagenten: In der Rede des Genossen Stalin wird auf-
gezeigt, wie der Trotzkismus zu einer Agentur des Faschismus geworden ist. Nicht
nur die offenen Trotzkisten arbeiten in ihrem tiefen Hass gegen die Sowjetunion und
gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung mit den Faschisten zusammen, sondern
auch solche Splittergruppen wie die Brandleristen sinken immer tiefer auf diese
Position. Nicht unbewusst steht der Trotzkismus im Lager des Faschismus, sondern
bewusst sowohl in seiner Politik als auch in seinen Kampfesmethoden. Genau wie der
Faschismus ist der Trotzkismus gegen die Einheits- und Volksfrontpolitik der Werk-
tätigen. Er bezieht gegenüber der SU die gleiche Stellung wie der Faschismus. Der
Trotzkismus organisiert in gleicher Weise Attentate wie Hitler und Mussolini und er
organisiert sie gerade dort, wo Hitler und Mussolini nicht können in der Sowjetunion.
Hitler lässt Dollfuss meucheln, revolutionäre Arbeiter zu Hunderten legal ermorden,
die Trotzkisten ermorden Kirov, üben Terrorakte gegen Bergarbeiter in der Sowjet-
union und gegen friedliche Staatsbürger organisieren sie Eisenbahnunglücke. In
Spanien sehen wir die gleiche Arbeitsteilung zwischen Faschismus und Trotzkismus.
Während Hitler wehrlose Frauen und Kinder durch seine Flieger töten lässt, organi-
sieren seine trotzkistischen Banden in Barcelona den Aufstand gegen die spanische
Volksfront.
In Deutschland helfen sie mit, Jagd zu machen auf revolutionäre Arbeiter, denun-
zieren sie unsere Genossen auf der einen Seite der Gestapo und auf der anderen
Seite, wo die Freunde nicht mehr im Lande sind, werden unsere Genossen als Gesta-
poagenten denunziert, wie das die Frankfurter Trotzkistengruppe schon während
der Illegalität zum Zweck der Zersetzung gemacht hat. Wo sie im Lande nicht an die
Organisation herankommen, versuchen sie im Ausland durch offene Agenten an die
Parteiorganisation heranzukommen.
Die trotzkistische Gestapoagentin Watz, die offen zugibt, dass sie sich verpflich-
tet hat, für die Gestapo zu arbeiten, dass sie von der Gestapo Pass und Reisemöglich-
keit bekommen hat, um im Ausland ihr schändliches Werk weiterzuführen, wird von
den Trotzkisten in Prag offen in Schutz genommen. Leider haben sich auch sozialde-
mokratische Funktionäre von den trotzkistischen Agenten blenden lassen.337
337 Gestapoagentin: Margarete Watz (geb. 1901 in Riga), KPD-Mitglied seit 1930, gehörte der Lin-
ken Opposition an, sie arbeitete bei der deutsch-sowjetischen DEROP-Handelsgesellschaft in
Berlin und emigrierte 1936 nach Prag. Am 7.8.1936 wurde sie wegen der angeblichen Bekundung
der Zusammenarbeit mit der Gestapo sowie „trotzkistischer Beziehungen“ aus der KPD ausge-
schlossen. Margarete Watz protestierte in der Sozialistischen Warte, dem Exilorgan des linksso-
zialdemokratischen Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), gegen die in der kom-
munistischen Presse gegen sie gerichteten Verleumdungen und erzwang sogar in der Prager
Roten Fahne vor Gericht eine Gegendarstellung (Müller: Herbert Wehner. Moskau 1937, S. 423–424).
„In einem Fall hatte tatsächlich ein Kontakt zur Gestapo bestanden, aber – auf ausdrücklichen Par-
teibefehl. Es war die Doppelagentin Rita Watz, die noch im Reich von der Gestapo erpresst worden
war. Sie war KPD-Mitglied, bei der russischen Handelsvertretung angestellt und sollte Informationen
liefern. Die Partei beauftragte sie, den Kontakt zu halten. Als sie das nervlich nicht mehr durchhielt,
erlaubte ihr die KPD die Emigration. Bis sie Anfang 1937 in den Verdacht trotzkistischer Abweichun-
Dok. 419: [Paris?], 31.7.1937 [Ende Juli 1937] 1391
In Prag arbeiten die Trotzkisten in engster Verbindung mit dem Organisator der
Antikomintern, Laszlov alias Rudolf.338 Dieses Subjekt verstand es, mit Hilfe seiner
trotzkistischen Freunde erst in die SU zu kommen und dann seine Antikominternar-
beit unter dem Protektorat des Herrn von Kayserling339 und der Frau Deterding340 mit
Hilfe des Trotzkisten Wollenberg zu entfalten.
In Strasser haben die Trotzkisten einen neuen Bundesgenossen gefunden, der bis
in die Kreise emigrierter Katholiken vorgedrungen ist. Dort werden die Attentatspläne
geschmiedet, die Hitler gebraucht, um seinen Massenterror besser legalisieren und
durchführen zu können.341 Das jüngste Opfer dieser Banditen ist Helmut Hirsch.342
Von dort aus wird dann mit Hilfe aller reaktionären Elemente der Emigrationsländer
der Kampf gegen die Emigranten, gleich welcher Art und Richtung sie sind, geführt.
gen geriet, hatte man ihren Mut und ihre Einsatzbereitschaft gelobt, nun war sie eine faschistische
Agentin.“ (Evelyn Lacina: Emigration 1933–1945. Sozialhistorische Darstellung der deutschsprachi-
gen Emigration und einiger ihrer Asylländer aufgrund ausgewählter zeitgenössischer Selbstzeugnis-
se, Stuttgart, Klett-Cotta, 1982 (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte. 14), S. 258–259).
338 Laszlov alias Rudolf: D.i. Richard Lengyel (Ps. Raoul László, A. Rudolf). Zu seiner Biographie
siehe Dok. 401.
339 Hermann Graf Keyserling (1880–1946), deutschbaltischer Philosoph und Schriftsteller,
lebte seit 1919 in Deutschland und erhielt durch seine 1920 gegründete „Schule der Weisheit“ viel
öffentliche Aufmerksamkeit. In NS-Deutschland wurde er mit einem Publikationsverbot belegt. Ein
Bezug zur Antikomintern-Arbeit und zur publizistischen Tätigkeit von Richard Lengyel ist nicht
ersichtlich.
340 Lydia Deterding, Tochter eines zarischen Generals im Pariser Exil, war von 1924 bis 1936 mit Sir
Henri Deterding, dem Gründer des Shell-Konzerns, verheiratet, der seit den 1920er Jahren zahlreiche
antibolschewistische Unterfangen finanzierte, wobei er auch zu den finanziellen Förderern der NSDAP
gehört haben soll. Auch hier ist der Bezug zu Lengyel oder zur Anti-Komintern nicht ersichtlich.
341 Attentatspläne: Hier wurde der Versuch gemacht, sowohl den konservativen, als auch den
revolutionären Widerstand gegen Hitler zu diskreditieren, aktive antifaschistische Gruppen zu
„amalgamieren“ und sogar als Helfershelfer Hitlers zu denunzieren. Diese Linie wird im Zuge der
Verschärfung des stalinistischen Terrors noch weiter fortgeschrieben (siehe Dok. 446).
342 Der junge deutsch-jüdische Dichter Helmut „Helle“ Hirsch (1916–1937, in Deutschland hingerich-
tet) war Aktivist der „Deutschen Jungenschaft vom 1. November 1929“ (Abk. dj.1.11.), einer linken,
stark von der literarisch-künstlerischen Avantgarde beeinflussten Jugendbewegung. Im Oktober 1935
ging er ins tschechische Exil und stieß auf der Suche nach Widerstandsmöglichkeiten auf Otto Stras-
sers „Schwarze Front“. Im Dezember 1936 brach er im Auftrag der Organisation nach Deutschland
auf, um ein Sprengstoffattentat auf eine Säule des Reichsparteitagsgebäudes in Nürnberg durchzu-
führen. Er wurde allerdings von Gestapo-Spitzeln verraten, nach Stuttgart gelockt und dort verhaf-
tet. Da Hirsch aufgrund einer Emigrationsperiode seiner Eltern US-amerikanischer Staatsbürger war,
sorgte der Fall international für große Aufmerksamkeit. Trotz des Einsatzes des US-Botschafters bei
Hitler wurde Hirsch am 9.3.1937 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Regime nutzte den „Fall
Hirsch“, um die Verfolgung jüdischer Organisationen zu intensivieren. Siehe : Paulus Buscher: Hel-
mut „helle“ Hirsch – ein junger Jude und bündischer Künstler im Widerstand. In: Hinrich Siefken,
Hildegard Vieregg (Hrsg.): Resistance to National Socialism. Kunst und Widerstand. Forschungser-
gebnisse und Erfahrungsberichte. Third Nottingham Symposium, München, Iudicium Verlag, 1995, S.
113–169. Zur ambivalenten Haltung der KPD gegenüber Hirsch siehe Dok. 446.
1392 1933–1939
Aber auch in unserer Parteiorganisation suchen sie festen Fuss zu fassen. So bot
sich der Halbtrotzkist und ehemalige Versöhnler Larsen alias Blücher für Geschichts-
kurse an, wobei er versuchte, den jungen Genossen die Geschichte so darzustellen,
dass sie zu der Schlussfolgerung kommen müssen, die Parteipolitik sei falsch.343
Die sogenannten Versöhnler. Sie haben nichts mehr zu tun mit jener Opposition
innerhalb der Partei, die im Jahre 1928/29 sich mit eigener Plattform eine Niederlage
in der deutschen Partei holte. Nach ihrem eigenen Eingeständnis sind sie nicht nur
gegen die Beschlüsse des VII. Weltkongresses, sondern auch der Brüsseler Konferenz
und versuchen deshalb, in der Organisation eine eigene Organisation zu bilden. Ihr
Doppelzünglertum wird durch ihre eigenen Eingeständnisse am besten charakteri-
siert. [...]
Man muß sich fragen, was wollen diese Bankrotteure? In dem Moment, wo der
Trotzkismus als aktiver Helfer des Faschismus überführt ist, in dem Moment, wo
trotzkistische Banditen in der SU Attentate an ehrlichen Proletariern in den Bergwer-
ken überführt sind,344 in dem Moment, wo die trotzkistischen Banditen in Spanien
Franco Helfersdienste leisten, finden sie keine Worte gegen die Verbrecher, sondern
solidarisieren sich mit ihnen bis auf die Idee der Gründung einer neuen Internatio-
nale, wo sie glauben, zu spät zu kommen.
Wir haben auch die Tatsache zu verzeichnen, dass solche Elemente, die schon
früher, vor 1933, den Kampf gegen die Politik unserer Partei und gegen den Führer
der Partei, Genossen Thälmann geführt haben, wie z. B. Heinz Neumann, nach der
Niederlage 1933 völlig zersetzt wurden und aus diesem Grunde aus der Parteiarbeit
entfernt wurden. Jetzt hat Neumann seinen wahren Charakter enthüllt, indem er sich
mit Remmele und Schubert den trotzkistisch-faschistischen Elementen zum Dienste
für die Gestapo zur Verfügung stellte und damit zu einem feigen Verräter an der Arbei-
terklasse wurde.345 Einige solcher Elemente, die nicht mehr mit der Arbeit unserer
Partei und der revolutionären Bewegung verbunden waren, haben sich im Laufe der
Zeit mit allen möglichen faulen Elementen verbunden und sind bis zur Hilfeleistung
für faschistische gegnerische Agenten gesunken. Es genügt nicht, dass solche Ele-
mente aus der Kommunistischen Partei entfernt sind, sondern es ist notwendig, die
Arbeiterbewegung von ihnen zu säubern.
Für uns ergibt sich daraus die grosse Aufgabe, unsere Aufmerksamkeit auf allen
Gebieten verstärkt durchzuführen. Die erste Vorbedingung dazu ist, dass alle Freunde
das hier Aufgezeigte gut durcharbeiten und auf allen Gebieten zur Anwendung
bringen, denn nur dann ist eine Gewähr gegeben, dass den Feinden die Maske vom
343 Zu Heinrich Blücher (Ps. Larsen) dem Ehemann von Hannah Arendt, siehe Dok. 376a. Über
dessen Geschichtskurse berichtete Nuding bereits am 13. Januar 1937 in der Moskauer Kaderabteilung
(Müller: Herbert Wehner. Moskau 1937, S. 424).
344 Attentate in Bergwerken: Gemeint ist der Schauprozess 1936 im sibirischen Kemerovo um
angebliche Sabotage in einem Bergwerk. Siehe Dok. 400.
345 Weitere Dokumente aus dem Prozess gegen Heinz Neumann (Anklageschrift und Urteil vom
26.11.1937) siehe in Weber/Mählert: Terror, S. 180–185.
Dok. 420: Moskau, 1.8.1937 [August 1937] 1393
Gesicht gerissen wird und sie entlarvt werden, bevor sie ihr schändliches Handwerk
beginnen können.
Wegener346
Ende Juli 1937
Dok. 420
Beschluss des Kominternsekretariats über die Aufbewahrung
ausländischer Zeitungen im Kominterngebäude
Moskau, 1.8.1937 [August 1937]347
Typoskript mit handschriftlichen Verbesserungen und Einschüben (letztere sind als kursiviert sichtbar
gemacht), in deutscher Sprache RGASPI, 495/18/1227, 6 (Auszug). Erstveröffentlichung.
B1/4 Ex.
Auszug aus Protokoll Nr. 174 (A)
des Sekretariats des EKKI
1./ Zwecks Herstellung einer Kontrolle der richtigen Aufbewahrung und Rückgabe
der ausländischen nicht-kommunistischen Presse und Vermeidung eines möglichen
Verlustes oder Verlorengehens von ausländischen Zeitungen folgende Ordnung fest-
zulegen:
1) Das Hinaustragen von nicht-kommunistischen Zeitungen aus dem Gebäude ist
verboten;348
2) alle ausländischen nicht-kommunistischen Zeitungen werden in den Sekretaria-
ten und Abteilungen in geschlossenen Schränken aufbewahrt und nach Ablauf eines
Monats in die Zeitungs-Journal-Expedition zurückgegeben;
[handschriftlich gestrichen: 3) Ausschnitte aus den Zeitungen werden nur in
der Zeitungs-Journal-Expedition gemacht. Die Ausschnitte, die einer besonderen
346 Wegener (Ps.), möglicherweise Herbert Wehner; im Briefwechsel zwischen Franz Dahlem und
Paul Merker von 1968 (SAPMO-BArch, NY 4072/146, BI. 13–14) wird der Name „Wegener“ dem Po-
litbüro (Sekretariat) der KPD zugeordnet. Ebenfalls ist ein Schreiben des Pariser Sekretariats vom
3.11.1937 über die „Vorgänge im Volksfrontausschuss“ mit „Wegener“ unterzeichnet (SAPMO-BArch,
NY 4036/515, BI. 101) Vgl. Müller: Herbert Wehner. Moskau 1937, S. 429.
347 Nach Angabe in Protokoll des Sekretariats des EKKI vom 4.11.1937 RGASPI, Moskau 495/18/1227, 2.
348 Das Hauptgebäude der Komintern befand sich in der Mochovaja Str., Nr. 15, gegenüber der
Manežnaja, im Zentrum Moskaus.
1394 1933–1939
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 5.8.1937, 1000 Kinder aus der nordspa-
nischen Provinz Asturien in die Sowjetunion aufzunehmen. Die organisatorische Abwicklung wurde
dem NKVD-Vorsitzenden Nikolaj Ežov aufgetragen.349
Am 10.8.1937 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Text einer Antwort des
Vorsitzenden des sowjetischen Gewerkschaftsverbands Nikolaj Švernik an die sozialdemokratische
Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale. Darin wurde der Wille bekundet, auf die Herstellung der
Gewerkschaftseinheit hinzuarbeiten, sowie dazu eine Delegation des Internationalen Gewerkschafts-
bundes in Moskau zu empfangen.350
Dok. 422
Brief Dimitrovs an Stalin über angeblich defätistische
Stimmungen bei Thälmann im Gefängnis
[Moskau?], 21.8.1937
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 495/73/48, 82. Teilpublikation in: Fridrich Firsov:
Geheimtelegramme der Komintern im Spanischen Bürgerkrieg. In: Forum für osteuropäische Ideen-
und Zeitgeschichte 3 (1999), 1, S. 81–114, http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/docs/firsov.
htm
[hdschr.:] Kopie
1 Ex. Versandt an Gen. Ežov N.I.
351 In den unterschiedlichen Haftanstalten wurden Thälmann zumindest bis 1937/1938 gewisse
Sonderrechte eingeräumt, auch der Kontakt mit der KPD-Führung und Moskau blieb über seine Frau
Rosa erhalten. Politisch blieb er standhaft, 1939/1940 verfaßte er eine Vielzahl von Memoranden, die
seinen „Freund“ Stalin von seiner Parteitreue überzeugen sollten (Sassning: Rückblicke auf Ernst
Thälmann, S. 88f., 92f.).
352 Ernst Torgler (1893–1963) wurde 1935 aus der KPD ausgeschlossen mit der falschen Begründung,
er habe sich „gegen den Willen der Partei freiwillig dem Faschismus ausgeliefert“. Seine Verstrickung
mit den Nationalsozialisten infolge des Reichstagsbrandprozesses wirft noch Fragen auf (siehe:
Weber/Herbst, Deutsche Kommunisten, S. 940–942).
1396 1933–1939
Dok. 423
Protokoll der der Internationalen Kontrollkommission der
Komintern zum leichtfertigen intimen Umgang von Leo Flieg u.a.
Moskau, 23.8.1937
Abs[olut] geheim
PROTOKOLL N° 20
Der Sitzung des Kollegiums der IKK vom 23. August 1937
In der Zusammensetzung der Mitglieder der IKK Angaretis, Grzegorzewski [d.i. Fran-
ciszek Grzelszczak] und Dengel.
Tagesordnung:
353 Leo Flieg (1893 Berlin – 1939, Moskau), KPD-Mitglied seit 1918. Der Kassierer der KPD war nach
1933 technischer Sekretär des Politbüros, und vorher (1932) mit Neumann und Remmele verbunden
gewesen. In Moskau Verbindungsmann mit der KPD, OMS-Mitarbeiter. Ostern 1937 nach Moskau
einbestellt, wurde er im März 1938 vom NKVD verhaftet und ein Jahr später zum Tode verurteilt und
erschossen.
354 Juliane Klein, d.i. Liane Adelherd Klein, 1931 KJVd-Mitglied, soll 1934/35 Münzenberg und Flieg
belastende Mitteilungen geschrieben haben; in einer früheren Version hieß es, Lianes Vater sei ein
Spion Francos gewesen, den sie mit Informationen versorgt haben soll (Buckmiller/Meschkat: Biogra-
phisches Handbuch). Auch Münzenberg wurde mit ihr in Verbindung gebracht, als Vorwand, um ihn
beschuldigen zu können (Gross: Willi Münzenberg, S. 301).
Dok. 423: Moskau, 23.8.1937 1397
Flieg eine intime Beziehung mit der verdächtigen Person M. Miller /verhaftet vom
NKVD als Trotzkistin/.355
Anwesend: Gen. Pieck /EKKI/, Müller /Kaderabteilung/, Leo Flieg, Gen. Timm /
IKK/, Gen. Klassner /Übersetzer/.
BESCHLOSSEN: Wegen grober Verletzung der Konspiration und dem leichtfertigen
Umgang mit verdächtigen Frauen Gen. Leo FLIEG eine strenge Rüge auszusprechen.
[...]
355 M. Miller: Wahrscheinlich Wilhelmina (Minna) Müller, Geburtsname Magidson, später Slavucka-
ja, die geschiedene Frau des deutschen Kommunisten Kurt Müller (geb. 1905 in Riga), 1929 KPD, in der
Komintern 1926–1936 Mitarbeiterin des WEB (Berlin), der RGI, der KJI und des OMS (Moskau), 1936
verhaftet, 1946 auf Bitten Dimitrovs freigelassen, nach 1945 zeitweise Mitglied des ZK der SED, lebte
später in Westdeutschland.
356 Dragacevac (Ps.), d.i. Kosta Novakovič (1886 Cacak Serbien – 1939. Jugoslawischer Kommunist,
wahrscheinlich in der Sowjetunion umgekommen.
357 Milan Milanovic Gorkič (1904 Sarajewo, Bosnien–1937, aus Paris nach Moskau berufen und
erschossen). Langjähriger jugoslawischer Komintern-Emissär und Mitarbeiter, vor Tito 1932–1934
Generalsekretär der KP Jugoslawiens.
358 Večernjaja Moskva, Moskauer Abendzeitung.
359 Drenovskij (Ps.), d.i. Janko Jovanovič (1901 Ravnja, Bogatič, Serbien – 1939 in der Sowjetunion
erschossen). Jugoslawischer Kommunist, Mitarbeiter der Kaderabteilung der Komintern, sollte zum
Widerstand nach Jugoslawien geschickt werden, wozu es nicht mehr kam.
1398 1933–1939
Dok. 423a
Erklärung der Berliner Opposition der KPD an die KPD-Führung
[Paris], September 1937
Typoskript in deutscher Sprache. Archiv der BStU, Berlin, MfS HA IX/11 SV 1/81, Bd. 222, Teil 3,
000056. Erstveröffentlichung.
Genossen,
Wir überreichen Euch hiermit den „Offenen Brief der Berliner Opposition“,360 zu der
wir uns bekennen, deren Angehörige wir sind. Wir haben unseren gesamten Kampf,
vor und nach unserem Ausschluss aus der Pariser Organisation,361 in engster Zusam-
menarbeit mit den oppositionellen Genossen im Reich geführt. Wir haben uns bisher
darauf beschränkt, als Einzelpersonen aufzutreten; wir wollten, solange als nur
möglich, alles vermeiden, was zur Verschärfung der innerparteilichen Auseinander-
setzungen führen konnte. Aber jetzt, wo das ZK alle Grundsätze des Kommunismus
über Bord wirft, bleibt nichts übrig als die organisierte, offen auftretende innerpartei-
liche Opposition. Wir sind und bleiben ein Teil der Partei, eng verbunden mit illegalen
Parteikaders im Reich. Wir werden unseren Kampf in der Partei weiterführen, auch
wenn wir zeitweilig von der Partei-Emigrationsorganisation organisatorisch abge-
schnitten bleiben.
Dok. 424
„Leidenschaftlicher Protest gegen die politischen und
moralischen Auffassungen der Bürokratie“: Der Offene Brief der
„Berliner Opposition“ an die Mitglieder der KPD
O.O., September 1937364
Typoskript (Auszüge aus einer Broschüre), in deutscher Sprache, AHD, La Chaux-de-Fonds, ohne
Signatur. Auch: Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt, Deutsches Exilarchiv EB Kb 412. Publ. in:
Bayerlein/Lasserre: Archives de Jules Humbert-Droz, IV, S. 313–346.
Offener Brief der „Berliner Opposition“ an die Mitglieder der KPD, September 1937
(Auszüge).365
Unsere Partei, die KPD durchlebt gegenwärtig die grösste Krise ihrer Geschichte.
Die gegenwärtige Parteiführung hat die Prinzipien des Kommunismus aufgegeben
und versucht unsere Partei in den Sumpf des kleinbürgerlichen Opportunismus zu
stossen. Die Kommunistische Partei, welche im Kampfe um die Diktatur des Proleta-
riats geboren wurde, soll zu einer Organisation des Kampfes um die demokratische
Republik degradiert werden. Niemals noch in der Geschichte der revolutionären
Arbeiterbewegung gab es eine furchtbarere ideologische Entartung als gegenwärtig.
Man „verbrennt die alten Papiere“ nach dem berüchtigten Rezept der Reformisten.
Wer für die Diktatur des Proletariats und des Sowjetsystems als zentrale Losung
des Kampfes gegen den Faschismus eintritt, ist in den Augen der Liquidatoren ein
364 Datum im Annex vermerkt. Das 35seitige Dokument mußte stark gekürzt werden. Die vollständige
Fassung in: Bayerlein/Lasserre: Archives de Jules Humbert-Droz, IV, S. 313–346.
365 Die sozial- und politikgeschichtliche Bedeutung der „Berliner Opposition“ als parteiinterne, aus
den „Versöhnlern“ entstandene Oppositionsgruppe wurde in der Literatur bisher kaum gewürdigt.
Neben dem Offenen Brief gab ihr Auslandskomitee in den Jahren 1937/1938 die Kommunistische
Information heraus (neue Erkenntnisse hierzu erbringen Hans-Rainer Sandvoß: Die andere
Reichshauptstadt, S. 547ff. u.a., Reinhard Müller: Herbert Wehner, S. 504ff. u.a. und Bernhard H.
Bayerlein: Die unbekannte Geschichte der Versöhnler, bes. S. 336ff). Zum Dokument und dem hierin
beschriebenen grundlegenden Dilemma der KPD-Geschichte äußerte sich auch der Internationale
Sozialistische Kampfbund: „Wir glauben allerdings nicht [...], daß irgend etwas die Komintern vor
dem Untergang zu retten vermöchte, aber darum geht es auch gar nicht, sondern es geht darum, daß
die revolutionären Kämpfer innerhalb der Komintern für die Sache gerettet werden. Ob dies möglich
sei, ist in letzter Zeit oft bezweifelt worden, eben weil sich die Öffentlichkeit über die Krisen innerhalb
der Komintern kein richtiges Bild zu machen vermochte; man war gezwungen, die kommunistischen
Parteimitglieder immer mehr mit dem Apparat zu identifizieren und die Auffassungen des ZK im
wesentlichen auch für die Auffassungen der Mitgliedschaft zu halten. Der offene Brief der Berliner
Opposition ist angesichts dieser Sachlage von historischer Wichtigkeit: er ist ein leidenschaftlicher
Protest gegen die politischen und moralischen Auffassungen der Bürokratie.“ (E. Bredt: Kommunisten
gegen KP. In: Sozialistische Warte XIII (1938), Nr. 1, 7.1.1938, S. 21–24)
1400 1933–1939
„radikaler Schwätzer“. Wer gegen die Taktik der Volksfront ist, ist ein „Trotzkist“, ein
„Feind der Sowjetunion“.366
Genau dieselben, die von 1929 bis 1934 die Theorie und Politik des Sozialfa-
schismus und der RGO vertreten, die Avantgarde der deutschen Arbeiterklasse ihrer
Mehrheit gegenüberstellten und dadurch eine der Voraussetzungen für den Sieg des
Faschismus schufen, wollen gegenwärtig die Avantgarde an den Schwanz des libera-
len Reformismus ketten. Die Sektierer von gestern, sind die Liquidatoren von heute. Von
1929 bis 1933 brandmarkten sie jeden Oppositionellen, der es wagte, von Einheitsfront
mit der Sozialdemokratie auch nur zu sprechen – gegenwärtig versuchen sie jeden
aus der revolutionären Bewegung zu drängen, der ihre liquidatorische Koalitions-
politik mit den bankrotten, reformistischen Führern und verkrachten Liberalen und
verschämten Katholiken nicht mitmachen will. So wie vor dem Siege des Faschismus,
beanspruchen sie für sich die Unfehlbarkeit und Ausschliesslichkeit. Sie haben den
Kommunismus in Erbrecht genommen. Das, was sie tun, ist immer richtig. Ein Zweifel
daran ist nicht gestattet – bei Strafe des Bannfluches, der Verleumdung und Verfol-
gung. Was in der illegalen Bewegung vor sich geht, ist ihnen gleichgültig. Sie haben
einen „Apparat“ und eine Presse. Sie verhängen eine Zensur über Meinungen und
Wünsche der Parteimitglieder, die in Deutschland kämpfen. Diejenigen, die täglich
ihr Leben für die Partei und den Sozialismus einsetzen, haben nur dann ein Recht,
gehört zu werden, wenn ihre Meinung mit der des ZK übereinstimmt. Wagen sie es,
ein eigenes Bild von der Lage in Deutschland zu geben und eine andere Meinung
über die Taktik, die zum Sturze der Diktatur führt, zu äussern, so werden sie mundtot
gemacht – mit allen Mitteln, mit allen – ohne Ausnahme.
In den Emigrantengruppen wird gesiebt und gesäubert, gleichgültig, welche Ver-
dienste sich ein Kommunist in Deutschland im illegalen Kampf erworben hat.367 Er
wird als Paria behandelt, wenn er nicht bereit ist, alles zu vergessen, was unserer
Partei seit ihrer Geburt heilig war: das unbedingte Festhalten an den kommunisti-
schen Prinzipien, die revolutionäre Kameradschaftlichkeit, ein brüderliches, inner-
parteiliches Leben.
366 In der Parteipresse reagierte man auf die Vorwürfe der Berliner Opposition mit Diffamierungen:
“Unter der Führung des Abenteurers und Renegaten Karl Volk haben sie bei ihrem Versuch des
Eindringens in den Parteiapparat im Lande durch unkonspiratives Verhalten die Verhaftung von einer
Anzahl von Parteifunktionären verschuldet, da sie mit allen möglichen verfaulten und trotzkistischen
Elementen verbundenen waren.“ (Die deutschen Trotzkisten und die Gestapo. In: Die Internationale,
Sondernummer, August 1937).
367 Kontrolle in der Emigration: In der Literatur zum Exil blieben Hinweise auf die paradoxale Situ-
ation in der KPD-Emigration vielfach unbeachtet, die seinerzeit auch vom Internationalen Sozialis-
tischen Kampfbund hervorgehoben wurde und den antistalinistischen Umschwung in der Emigration
beförderten: “Es ergibt sich bei näherer Prüfung, daß gerade dort, wo angeblich die Konspirativität
eine Diskussion und Kritik nicht gestattete, in Deutschland selber, die innerparteiliche Demokratie
verwirklicht worden ist, während in der Emigration die freie Meinungsäußerung absolut geknebelt
wurde.” (H. West : Der Verfall der KPD. In: Sozialistische Warte 13(1938), S. 884 ff.; vgl. H. Weber:
Ursachen und Umfang der deutschen Emigration).
Dok. 424: O.O., September 1937 1401
368 Liquidatorisches ZK: „Wir wollen einmal unterstellen, dass wirklich die überwiegende Mehrheit
der illegalen Kommunisten oppositionell sind und dass die heutige Parteiführung nicht mehr die
Mitgliedschaft repräsentiert, aber das ZK repräsentiert nach wie vor die Partei. Sicherlich unter
völliger Mißachtung des ‚demokratischen Zentralismus’; aber das ZK verfügt über die ganze politische
und finanzielle Macht des Apparates; es stützt sich auf die Komintern und die Autorität der russischen
Regierung (E. Bredt: Kommunisten gegen KP. In: Sozialistische Warte 13(1938), Nr. 1, S. 21–24).
369 Siehe hierzu auch Dok. 434.
370 Ort im Ausland: Das „operative“ Politbüro in Paris, während die Parteiführung weiterhin in
Moskau angesiedelt war.
1402 1933–1939
schen Kurses erkannten. [...] Manchen schien es, als ob die Losung der Volksfront
nichts anderes ist, als eine populäre Übersetzung des notwendigen Bündnisses zwi-
schen der Arbeiterklasse und den werktätigen kleinbürgerlichen Schichten. Deshalb
stimmten viele oppositionelle Genossen auch der Losung der Volksfront zu. Erst
im Verlaufe der Verknüpfung dieser Losung mit der der Demokratischen Republik
erkannten sie die ganze Tragweite der opportunistischen Politik des ZK.371
Da nur ein kleiner, eben der organisierte Teil der Opposition imstande ist, durch
systematische Arbeit seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, schliesst sich die
Mehrheit der oppositionellen Kommunisten in ihren Zirkeln ab. Ulbricht drückt
das so aus: „Das Parteibewusstsein ist in diesen Gruppen nur schwach entwickelt.“
(Internationale, Nr. 3/4) Natürlich hat es auch Gründe konspirativer Natur, wenn viele
dieser Zirkel keine Verbindung mit dem „Apparat“ des ZK unterhalten. Die übergrosse
Mehrheit der illegalen Gruppen und Zirkel, aus denen die Partei gegenwärtig besteht,
schliesst sich ab, weil sie die ganze Politik der Parteiführung ablehnen. Die meisten
dieser Gruppen, die überhaupt kein illegales Material von der Partei erhalten, bilden
sich ihre politische Meinung selbst, verfolgen die Tagesereignisse, agitieren mit
eigenen Losungen, häufig mit selbsthergestelltem Agitationsmaterial, in dem man
vergeblich etwas von den demokratischen Losungen suchen würde. Sie lehnen den
Anschluss an jede andere Organisation ab, sie bleiben ihrer Partei, der KPD, durchaus
treu. Aber sie anerkennen nicht mehr das bürokratische Zentralkomitee und seine
„Allmacht“. Es wäre verfehlt, die oppositionelle Mehrheit der kommunistischen
Partei auf ein- und denselben politischen Nenner bringen zu wollen. Davon ist noch
keine Rede. Und dies ist bei der ganzen Lage in Deutschland, bei der ungeheuren
Kompliziertheit der politischen Meinungsbildung, unmöglich. Aber auf einen glei-
chen Nenner darf man sie bringen: Ablehnung jeder Art reformistisch-demokrati-
scher Politik und ihrer Volksfrontspielart, Erkenntnis, dass unsere Partei eine Reor-
ganisation an Haupt und Gliedern, eine wahre Wiedergeburt braucht, um den Sieg über
den Faschismus zu erringen.
Das ZK kontrolliert gegenwärtig nur einen kleinen Teil der organisierten Kom-
munisten. Aber selbst in diesem Teil ist die Opposition ziemlich stark. Das ZK selbst
wagt nicht in Deutschland seine ganze opportunistische Politik vor den Mitgliedern
zu vertreten. In der illegalen Literatur werden die opportunistischen Losungen mit
„revolutionären Arabesken versehen“. Die Instrukteure des Zentralkomitees in der
illegalen Bewegung machen selten einen Versuch, die „Linie“, die im Ausland for-
muliert wird, zu vertreten. [...] Man kann nicht bestreiten, dass das ZK der KPD vor
1933 mit seiner ultralinken Politik die politische Überzeugung der Parteimitglieder
371 Demokratische Republik: „Die neue Generallinie war für die kommunistische Emigration be-
deutsam, sie wurde aber von den Widerstandsgruppen in Deutschland, die zunehmend isoliert ope-
rierten, nur teilweise übernommen. Die Beschlüsse blieben offenbar vielfach unbekannt. Vor allem
akzeptierte der Widerstand die von der Brüsseler Konferenz festgelegte neue Taktik des ‚Trojanischen
Pferdes’ nicht (Weber: Kommunistischer Widerstand, S. 14f.).
Dok. 424: O.O., September 1937 1403
ausdrückte. In die Partei waren im Laufe der Krise 100 bis 150.000 Mitglieder einge-
treten, deren heisses revolutionäres Wollen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer poli-
tischen Erfahrung stand. Die ultralinke Politik mit ihrem Wortradikalismus, mit ihrer
sektiererischen Massenpolitik, die jeder systematischen und organisierten Arbeit in
den reformistischen Massenorganisationen aus dem Wege ging, die masslose Über-
treibung der wirklichen Erfolge der Bewegung und die Verkleinerung der Schwierig-
keiten des Kampfes entsprachen den Wünschen der unerfahrenen revolutionären
Arbeiter, die schnelle Erfolge sehen wollten. Indes hat sich seit 1933 die Zusammenset-
zung der Partei gründlich geändert. Aus einer Massenorganisation wurde unvermeid-
lich eine Kaderorganisation. An der aktiven, illegalen Arbeit kann sich nur ein kleiner
Bruchteil der legalen Parteiorganisation beteiligen. Neuaufnahmen in die illegale
Organisation können begreiflicherweise nur in Einzelfällen stattfinden. Jeder, der
einen Einblick in die Zusammensetzung der illegalen kommunistischen Gruppen hat,
weiss, dass jene Parteischichten, welche der Politik des ZK vor 1933 mit Überzeugung
folgten, in ihnen nur eine Minderheit darstellen. In manchen Parteibezirken gibt es
mit Ausnahme von alten, geschulten Kommunisten, die überwiegend oppositionell
sind, überhaupt keine illegalen Parteigruppen. Die revolutionäre Erfahrung beginnt
sich auch organisatorisch durchzusetzen.
Diese entscheidende Änderung der innerparteilichen Lage kommt jedoch in der
Politik des ZK überhaupt nicht zum Ausdruck. Man nimmt auf die politische Meinung
der illegalen Gruppen nicht die mindeste Rücksicht. Das ZK dekretiert gegenwärtig
seine Politik noch viel willkürlicher als in der ultralinken Periode. Die Aufhebung der
innerparteilichen Demokratie wird noch viel gründlicher durchgeführt. Von 1929 bis
1933, also in fünf entscheidenden und folgenschweren Jahren, gab es keinen einzigen
Parteitag.372 Jetzt ist es aber die „Konspiration“, die einen Parteitag unmöglich macht.
Nach dem VII. Weltkongress fand die Brüsseler Parteikonferenz statt, die einen Par-
teitag ersetzen sollte. Aber in Wirklichkeit waren die Delegierten dieser Konferenz,
soweit sie aus Deutschland kamen, vom ZK bestimmt worden. [...] Die Großbetriebs-
zellen, die die das Rückgrat der Berliner Organisation darstellen, waren nicht auf der
Brüsseler Parteikonferenz vertreten373. Aus einem einfachen Grunde: das ZK wußte,
dass es sich meist um oppositionelle Genossen handelte – Grund genug, um sie nicht
‚einzuladen’. In Wirklichkeit führt das ZK seine jeweilige Politik völlig unabhängig von
372 Der zwölfte als letzter abgehaltener Parteitag fand im Juni 1929 in Berlin-Wedding statt. Er bildete
den bisherigen Höhepunkt der ultralinken Taktik.
373 Großbetriebszellen Berlin: Der Historiker Hans-Rainer Sandvoß hebt einerseits Scheitern des
betrieblichen Widerstands seitens des offiziellen ZK hervor. Andererseits belegt er, daß „noch die
größten übergreifenden Erfolge in der Untergrundarbeit in Berliner Betrieben zur Mitte der dreißiger
Jahre (...) zwei kommunistische Tendenzen (zeigten), die konträr zur stalinistischen Generallinie der
KPD bzw. Kommunistischen Internationale lagen, (...) die unterdrückte innerparteiliche Fraktion der
gemäßigten ‚Versöhnler’, die auch illegale Betriebsgruppen bei Siemens organisierten“ (Sandvoß:
Die andere Reichshauptstadt, S. 546f. Hier wird jedoch die Berliner Opposition als ehemalige
Versöhnlergruppe nicht thematisiert).
1404 1933–1939
der Masse der illegalen Parteigenossen durch. Es kann seine politische Linie auch von
einem auf den anderen Tag ändern. [...]
Darin besteht das Neue in der innerparteilichen Lage. Der grösste Teil der illega-
len Organisation führt ein mehr oder minder selbständiges ideologischen Leben. Das
ZK der KPD hat durch seinen Sprung von der ultrasektiererischen zur ultra-opportu-
nistischen Politik die Verbindung mit den entscheidenden Teilen der Parteiorgani-
sation verloren. Vor den deutschen Kommunisten steht eine neue Aufgabe: sich eine
wirkliche Führung zu erkämpfen. Diese Aufgabe ist schwer. Die Organisation besteht
aus Hunderten von Einheiten, die nur zu einem geringen Teil miteinander verbunden
sind. Hinter dem gegenwärtigen ZK steht die Autorität der Exekutive der KI. Aber so
schwer die Aufgabe ist, sie muss gelöst werden. Denn die ganze Krise unserer Partei geht
von ihrer Führung aus, die sich seit 10 Jahren für „unersetzbar“ hält. [...]
Natürlich bedürfte es nur einer Handbewegung der Exekutive der KI, um diese
Führung verschwinden zu lassen. Es würde sich in unserer Partei niemand finden,
der ihr einen Nachruf schreiben würde. Genau so wenig, wie der ultralinken Mehr-
heit des Polbüros, die nach dem VII. Weltkongress ihrer Funktion enthoben wurde. Es
ist auch unzweifelhaft, dass diese Handbewegung früher oder später (wahrscheinlich
früher als später) kommen wird. Sie stand bereits im Sommer 1936 auf der Tagesord-
nung. Damit ist aber das Problem nicht gelöst. Die gegenwärtige Krise unserer Partei
kann nicht mehr auf die alte Weise gelöst werden. Es handelt sich diesmal nicht um
eine Kursänderung, um eine „Wendung“, sondern um eine völlige Erneuerung, um
eine Wiedergeburt unserer Partei. [...]374
Am 15.9.1937 genehmigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion der deutschen Seite, zwei zu
diesem Zweck gecharterte Tanker im Hafen von Batumi am Schwarzen Meer mit Erdöl zu laden. Bedin-
gung war eine Bezahlung des Öls im Voraus und die ausschließliche Verantwortung deutscherseits
für den Transport mit diesen Tankern.375
Gegen den Willen von Maksim Litvinov beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am
26.9.1937, die Flüchtlingshilfe des Völkerbundes zu boykottieren. Die Entscheidung erfolgte unter
dem Vorwand, dass auch weißgardistische Emigranten unterstützt würden.376
374 Der Annex des hier stark gekürzten Dokumentes enthält drei Teile, neben dem hier veröffent-
lichten Teil 2 „Die Methoden des ZK der KPD im Kampf gegen die parteitreue Opposition“, Teil 1: „Wie
denkt die illegale Organisation über die Taktik der Partei? und Teil 3 „Zu der Verleumdungskampagne
des Z.K. der K.P.D.“
375 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 5.
376 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 13.
Dok. 425: O.O. [Paris], 8.10.1937 1405
Dok. 425
Telegramm Willi Münzenbergs an Dimitrov zu seiner geplanten
Moskaureise
O.O. [Paris], 8.10.1937
SAPMO-BArch, ZPA, Berlin I 6/10/68, 55. Publ. in: Heinz Kühnrich: „Ein entsetzliches Mißverständnis“
– oder was eigentlich dahinter steckte: bisher unbekannte Schreiben Münzenbergs an Dimitroff,
Oktober 1937. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 34 (1992), H. 1, S. 66–82, hier S. 75.
Schroffheit Brief 17 betroffen stop377 um so mehr als erstmalige Einladung zur Aus-
sprache stop einzige Richtschnur Politik seit 1914 unwandelbare Treue Gruppe Lenin
Stalin und gerade letzte Zeit an entscheidenden Stellen gewirkt stop mein einziger
Stolz und Kraft gegen Jahrzehnte Hetze in und ausserhalb Partei restloses Vertrauen
dortiger Freunde378 stop Du sagtest März 36 niemand grösseres Vertrauen wie ich trifft
das heute nicht mehr zu379 und ist Formulierung richtig wiedergegeben und Du konn-
test ernstlich und nicht abstrakt wenn auch nur hypothetisch Namen mit Renegaten-
tum verbinden ist Weiterarbeit unmöglich stop werde bitten anderer Front arbeiten
oder politisch ausscheiden stop eintreffe um 20 dort380 Willi [Münzenberg]
Dok. 426
Alarmbrief der Kominternführung an das ZK der VKP(b) über
Handlungsunfähigkeit der Komintern infolge des Terrors
Moskau, 10.10.1937
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 17/120/259, 36–37 (eine identische Entwurfs-
fassung ist überliefert unter: 495/73/50, 25–26). Deutsche Erstveröffentlichung. In russischer
Sprache publ. in: Leonid G. Babičenko (Hrsg.): „Rjad sekcij Kominterna [...] okazalisʼ celikom v
rukach vraga“. In: Istoričeskij archiv (1993), Nr. 1, S. 220–221. In englischer Sprache publ. in: Chase:
Enemies, Doс. 40.
Moskau
10. Oktober 1937.
In letzter Zeit wurden durch die Organe des Narkomvnudel381 eine Reihe von Volks-
feinden entlarvt und eine verzweigte Organisation von Spionen im Apparat der Kom-
intern aufgedeckt. Als besonders stark infiziert382 hat sich die wichtigste Abteilung
der Komintern herausgestellt, nämlich der Verbindungsdienst,383 der nun vollständig
liquidiert werden muss, um unverzüglich mit der Neuorganisierung dieser Abteilung
durch neue, sorgfältig ausgesuchte und überprüfte Mitarbeiter zu beginnen. Wenn
auch in geringerem Umfang, haben sich andere Glieder des Komintern-Apparats
ebenfalls als infiziert erwiesen: Die Kaderabteilung, die politischen Assistenten der
Sekretäre des EKKI, Referenten, Übersetzer usw.
Außerdem wurde seitens der Leitung der Komintern eine Überprüfung des
gesamten Apparats vorgenommen, infolge dessen annähernd hundert Personen als
politisch nicht ausreichend vertrauenswürdig entlassen wurden.
In der Vergangenheit wurde der Apparat der Komintern vorrangig mit Kadern
ausländischer Komparteien aufgefüllt, vor allem der illegalen Komparteien, die über
große Emigrantenreserven in der UdSSR verfügten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass
eine solche Methode der Auffüllung unter den heutigen Bedingungen gefährlich und
schädlich ist, da sich eine Reihe von Sektionen der KI, wie beispielsweise die polni-
sche, als komplett in Feindeshand befindlich herausgestellt hat. Daher werden wir
die schwere Krise ohne die Hilfe des ZK der VKP(b) nicht überwinden können.
Wir bitten das ZK der VKP(b) darum, uns mit Personen, VKP(b)-Mitgliedern,
auszuhelfen; eine diesbezügliche Anfrage wurde von uns Gen. Malenkov übermit-
telt. Besonders nachdrücklich und dringend wird die Hilfe des ZK der VKP(b) in der
G. Dimitrov,
D. Manuilski
Dok. 427
Ultimative Aufforderung Georgi Dimitrovs an Willi Münzenberg,
sofort nach Moskau zu kommen
[Moskau], 10.10.1937
Deinen Brief vom 18. September habe ich erhalten.386 Keine Information von einem
gewissen Freund, weder telegraphisch noch mündlich, erhalten. Für Entscheidung
über Deine Frage und Deine zukünftige Arbeit ist nur eine einzige Instanz zuständig,
und diese Instanz ist das Sekretariat des EKKI. Eine richtige und endgültige Entschei-
dung durch das Sekretariat aber verlangt unbedingt Deine Anwesenheit hier und ent-
sprechende persönliche Aussprache. Der großer Fehler ist, daß Du nicht schon längst
hierhergekommen bist, trotz mehrmaliger, durch Dich selbst angekündigter Reisen
nach M[oskau].387 Es ist höchste Zeit, diesen Fehler wieder gutzumachen. Wir können
384 Der Brief wurde – in jeweils einem eigenen Exemplar – an Nikolaj Ežov, Andrej Ždanov und Andrej
Andreev verschickt. In der Entwurfsfassung (RGASPI, 495/73/50, 25) stehen diese drei Namen oberhalb
des Dokumententextes. Die Anfrage an Malenkov konnte in der russischen Veröffentlichung des
Dokuments nicht ermittelt werden. Am Schluss handschriftliche Resolution Andreevs: „Gen. Malenkov
zu beauftragen, in Monatsfrist eine Gruppe Mitarbeiter für das EKKI zusammenzustellen. Andreev.“
385 Handschriftlicher Eintrag: „Für Herfurt [d.i. Willi Münzenberg] – Flor [d.i. Bohumír Šmeral]. In
einem Brief Dimitrovs vom 11.10.1937 wies dieser den EKKI-Emissär Šmeral an, Münzenberg diesen
Brief zu übergeben. Auch sollten bereits „allmählich alle mit W[illi Münzenberg] verbundenen
Elemente entfernt werden.“ (RGASPI, Moskau, 495/73/76, 9.)
386 Dimitrov führte hier nicht das Telegramm Münzenbergs vom 8.10.1937 an (siehe Dok. 425), in
dem er sein weiteres politisches Leben von der Rücknahme bestimmter Invektiven abhängig macht
und seine Ankunft in Moskau für den 20.10.1937 ankündigt.
387 Münzenbergs letzte Reise nach Moskau erfolgte unter einem Vorwand, nach seinen Worten einer
„Flohknackerei“ (Babette Gross), als er vor die Internationale Kontrollkommission der Komintern
geladen wurde. Er habe zunächst in der Liga gegen Imperialismus, dann in Paris Liane Klein als
Stenotypistin beschäftigt, deren Vater ein Spion im Dienste Francos sei. Richard Gyptner verfasste dazu
einen belastenden Bericht. Vgl. Dok. 423.
1408 1933–1939
bei der geschaffenen Lage die Frage nicht weiter ohne Entscheidung lassen. Wenn
Du auch auf diese letzte Einladung aus irgendwelchen Gründen noch nicht kommen
wirst – was ich nicht annehmen will –, so wird das Sekretariat begreiflicherweise
die Konsequenzen ziehen und die Frage selbst ohne Dich erledigen, auf Grund der
Statuten der KI. Deswegen bitte ich, alles an Fl [Flor (Ps.), d.i. Bohumír Šmeral] zu
übergeben, was noch nicht übergeben ist, die notwendigen Mittel von ihm zu nehmen
und zu uns zu kommen.388 Du kannst selbstverständlich Gen. Babette mitnehmen.389
Visum ist für beide schon längst geschickt. Mit Gruß
Dok. 428
Anfrage Dimitrovs an den NKVD-Vorsitzenden Nikolaj Ežov
zur Überlassung der Archive der zwischenzeitlich verurteilten
Sinowjew, Radek, Kun u.a.
[Moskau], 11.10.1937
Absolut geheim
388 Wenig später, auf dem ZK-Plenum am 17.10.1937 sagte Dimitrov: „Die Angelegenheit Münzenberg
hat sich durch sein Verhalten sehr unangenehm entwickelt. Er ist noch einmal aufgefordert worden,
hierher zu kommen, andernfalls wird das Sekretariat in seiner Abwesenheit seine Angelegenheit
entscheiden. Es müsste geprüft werden, welche politische Fragen zu dem Streit zwischen ihm und
Walter [Ulbricht] geführt haben.“ (RGASPI, Moskau, 495/73/76, 22–26).
389 Gen[ossin] Babette: Die Lebensgefährtin Münzenbergs, Babette Gross (1898–1990) war die
Schwester von Margarete Buber-Neumann. Sie war nicht nur Geschäftsführerin des Neuen Deutschen
Verlags, sondern leitete 1933 auch die Universum Bücherei in der Schweiz und später die Editions du
Carrefour in Paris.
390 Aufgeklebter Zettel, Typoskript russisch: „Am 11/X-37 übergeben an Gen. Anvelt zur Versendung
über Gen. Max.“ Der Este Jaan Anvel’t (1884–1937, in der Sowjetunion erschossen) war Mitglied der
Internationalen Kontrollkommission der Komintern und an den stalinistischen „Säuberungen“
maßgeblich beteiligt. Im Dezember des Jahres wurde er selbst verhaftet und gestand unter Folter
(siehe u.a. Adibekov/Šachnazarova/Širinja: Organizacionnaja struktura, S. 146, 154).
Dok. 428: [Moskau], 11.10.1937 1409
Mit Genossengruß,
/G. DIMITROV/
11. Oktober 1937.
N° 657 / ld.
In einem Beschluss „Über Deutschland“ bestätigte am 23.10.1937 das Politbüro des ZK der KP der
Sowjetunion den Entwurf einer Antwort an das deutsche Außenministerium. Darin protestierte das
Volkskommissariat für Außenhandel gegen eine Steuernachzahlung in Höhe von 150.000 Mark, die
die deutschen Behörden von der sowjetischen Handelsvertretung forderten. Dies würde den Abma-
chungen des Handelsvertrags von 1925 widersprechen, die nach wie vor gültig seien.392
Am 4.11.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, auf der Schließung von fünf der
sieben deutschen Konsulate in der UdSSR zu bestehen, darunter auch des Konsulats in Leningrad.393
Am 9.11.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, das Deutsche Konsulat in Le-
ningrad „hinauszujagen“. Außenkommissar Litvinov wurde aufgefordert, diese Entscheidung „wider-
spruchslos“ auszuführen.394
391 Es ist nicht sicher, ob seinerzeit die Herausgabe der Dokumente seitens des NKVD erfolgte. Die
im Kominternarchiv überlieferten Bestände weise Lücken auf.
392 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 37; APRF, Moskau, 3/64/664, 220–221. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-
Berlin, III, Dok. 168.
393 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 50. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 355.
394 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 56.
1410 1933–1939
Dok. 429
„Vielleicht ist alles entsetzliches Mißverständnis“: Brief Willi
Münzenbergs an Dimitrov
O.O. [Paris], 29.10.1937
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau 495/74/127, Kopie in: SAPMO-BArch, RY 5/I
6/10/68, 56–62. Publ. in deutscher Sprache in: Kühnrich: „Ein entsetzliches Mißverständnis“, S.
75–82; in französischer Sprache publ. in: Courtois: Dossier Willi Münzenberg, S. 58ff.
Lieber Freund,
wenn ich heute noch einen Brief an Dich schreibe, so tue ich das zögernd und ungern
und in der sicheren Erwartung, daß es der letzte Brief vor einer mündlichen Ausspra-
che mit Dir ist.396 Mir ist das Briefeschreiben verdammt über, habe ich doch in den
letzten 30 Wochen mehr Briefe geschrieben, als in den 30 Jahren meiner Tätigkeit in
der sozialistischen Arbeiterbewegung. [...]
Den heutigen Brief schreibe ich, weil er vielleicht doch noch einige Tage vor mir
dort eintrifft und weil es mich drängt, Dir, was ich bereits telegrafisch tat, für Deine
Zeilen vom 10. Oktober zu danken und zu erklären, daß ich hoffe, Dich bald persön-
lich [zu] sehen.
In Deinem Briefe vom 10. Oktober schreibst Du, daß es ein Fehler gewesen sei,
nicht schon früher zu reisen und Du forderst mich auf, diesen Fehler durch eine
baldige Reise [wieder] gut zu machen.397 [...]
Vielleicht ist alles ein entsetzliches Mißverständnis, vielleicht wäre all das nicht
entstanden, wenn ich Dich im Oktober 1936 dort getroffen hätte und manches, was
mich seit dem Sommer 1936 bewegte, mit Dir hätte besprechen und klären können.
Das war aber leider nicht der Fall.
Erlaube mir, daß ich heute, wo es um alles geht, was mir das Leben wert und
teuer machte, was sein einziger Begriff und Inhalt seit über 30 Jahren war, wo all das
verloren zu gehen droht, offen und ohne Rückhalt spreche.
Es sind zwei Fragen, die mich erfüllen, quälen und die mich gehindert haben, wie
sonst Eurer Einladung sofort Folge zu leisten. Es ist die Frage unserer Taktik in der
deutschen Einheits- und Volksfront (wie überhaupt der Organisierung der deutschen
Revolution gegen Hitler) und eine persönlich-menschliche Frage.
Ich habe seit der Rückkehr Walters398 Alarm geschlagen, ich bin nicht müde
geworden, vor der von ihm betriebenen Politik zu warnen, die eine Abkehr von den
Beschlüssen der Brüsseler Konferenz und des VII. Weltkongresses bedeutet, die uns
– was ich im April voraussagte – zu einem Zerreißen der ersten Volksfrontansätze
führen mußte, zu einer neuen, noch vollkommeneren Isolierung als 1931–1932, zu
einem Abbruch aller Brücken zu Verbündeten und Bundesgenossen. Meine Befürch-
tungen sind leider nur allzu rasch allzu wahr geworden. Man hat gewütet, wie ein
Elefant in einem Porzellanladen. Man hat auf lange Zeit den Zugang und die Erschlie-
ßung zu anderen Schichten verschüttet, man hat durch die unsinnige Politik des
Kampfes gegen alle und alles, auf dem niedrigsten Niveau übelster Intrigen und
Polizeimethoden, sich in eine ausweglose Lage zu machtmäßig nicht unbedeuten-
den bürgerlichen und kirchlichen Kreisen hineinmanövriert, man hat die Stellung
des volksfrontfeindlichen SP-Parteivorstandes gestärkt, man hat durch eine geradezu
zügellose und dumme Hetze die Breitscheid-Braun-Gruppe399 von uns gestoßen, man
hat sogar Männer wie Heinrich Mann zu einer ablehnenden Haltung getrieben.400
Und dies in einer Zeit, wo die objektive Lage für den Gegner denkbar ungünstig, für
398 Rückkehr Walters: Damit ist offensichtlich die Rückkehr Ulbrichts aus Moskau nach der Sitzung
des Politbüros des ZK der KPD vom 28. Februar 1937 gemeint, die in Abstimmung mit dem Sekretariat
des EKKl eine Reorganisation der KPD-Führung vornahm. Das Sitzungsprotokoll dazu: „Die bisherige
Institution des Polbüros wird aufgehoben. Die Funktionen werden einem Sekretariat von 3 Genossen,
bestehend aus Ulbricht, Dahlem, Merker, übertragen, wobei Ulbricht verantwortlich für die Leitung
des Sekretariats gemacht wird. Bertz tritt als Kandidat in das Sekretariat ein und soll die Kaderfrage
und die Leitung des Apparates übernehmen. Ackermann wird zur engeren Mitarbeit im Sekretariat
bestimmt.“ Ulbricht erhielt damit nach der Auflösung des Politbüros die weitreichenden Vollmachten
eines Leiters des ZK-Sekretariats der KPD in Paris, die er dann auch gegen Münzenberg einsetzte
(IfGA, ZPA, I 2/3/20, 3a).
399 Gemeint sind die sozialdemokratischen Vertreter im Volksfront-Ausschuß, Rudolf Breitscheid und
Max Braun. Rudolf Breitscheid (1874–1944), Mitglied des Parteivorstandes der SPD im Exil (SOPADE),
Mitglied des Ausschusses zur Vorbereitung der Deutschen Volksfront; Max Braun (1892–1945),
Vorsitzender der Sozialdemokratischen Landespartei der Saar, Vorsitzender des Arbeitsausschusses
der Deutschen Volksfront.
400 Als einer der wenigen herausragenden Schriftsteller mit Weltgeltung blieb Heinrich Mann der
KPD und der stalinistischen Sowjetunion treu. In einem gemeinsam mit Max Braun, Georg Bernhard,
Emil Julius Gumbel, Georg Denicke, Jacob Walcher und Fritz Sternberg unterzeichneten Brief an das
ZK der KPD wandte er sich gleichwohl noch am 13.11.1937 gegen die Manöver Ulbrichts und forderte
„Wahrheit und Ehrlichkeit auch im Verkehr mit ihren Volksfrontpartnern“ (abgedruckt in: Kemper:
Heinrich Mann und Walter Ulbricht, S. 217–223).
1412 1933–1939
die Entwicklung einer geschlossenen Opposition günstig war und wo jeder Teil der
Opposition kräftig wächst und uns in wenigen Monaten kräftiger organisiert und
besser ausgerüstet als Partner gegenüberstehen wird.
Man hat den Kampf gegen Hitler, trotz verhältnismäßig großen technischen
Mitteln, Funktionären etc. – das ist meine feste Überzeugung – nicht nur nicht
gefördert, sondern auf das schlimmste gehemmt und erschwert. Genug davon. Ich
habe Euch darüber ausführlich geschrieben, andere Freunde haben Euch ausführ-
lich berichtet, die Tatsachen und Resultate einer verrückten sektiererischen Politik
sind Euch bekannt. Ich habe immer und immer wieder um Euer Interesse, Eure Auf-
merksamkeit, Hilfe und Unterstützung in diesem Kampf gegen die schädliche und
verderbliche Walter[-Ulbricht]-Politik gebeten. Es ist nichts geschehen. Ihr habt nicht
eingegriffen. Der Unfug geht weiter, der Unsinn treibt immer tollere Blüten, und der
Scherbenhaufen wird täglich größer. Aber nicht nur das. Ihr habt nicht nur gedul-
det, daß Walter die früher von mir geleitete Taktik in der Einheits- und Volksfront
vollständig änderte und früher erzielte Erfolge zerschlug, sondern auch, daß er mit
dem Kampf gegen die rechtsbürgerlichen Bundesgenossen, gegen die bürgerlichen
Teilnehmer in der Volksfront, gegen rechte und linke Sozialisten, gegen Intellektuelle
und andere, ebenfalls gegen mich einen ebenso niedrigen wie nichtswürdigen Kampf
inszenierte.[...]
Du bist informiert über die Anwürfe in der Presse von Doriot, Goebbels etc. über
Münzenberg, dem „Kassierer der Komintern mit den Millionenfonds“ etc. (Ich war
nie, selbst im kleinsten Verein nicht, Kassierer). Ich habe Euch darauf hingewiesen,
woher die Gerüchte kommen, wer sie fabriziert, wer sie lanciert. Ich habe gehofft,
daß Ihr eingreifen würdet, geglaubt, Ihr würdet wenigstens diese perfide Lüge für die
Zukunft verhindern.401 [...]
Was ich einfach nicht verstehe, worüber ich, bisher ohne Resultat, nachgrüble,
das ist der ungeheure Widerspruch, der besteht zwischen Deiner Einladung, der
Nachsicht, die ihr in meiner Reiseverzögerung geübt habt, in dem Angebot, eine neue
verantwortungsvolle Arbeit im Auslande zu übernehmen und der niederträchtigen,
gegen mich als Politiker, als Kommunist, als sozialistischen Revolutionär, als Mensch
gerichteten Hetze von Walter. Überlege: wie soll ich mir folgendes erklären:
Am 10. Oktober ladest [sic] Du mich zur Besprechung wegen einer neuen Arbeit
nach dort ein.402 Ungefähr am gleichen Tage verkündete der ehemalige Offizier, bis
1931 Mitglied einer faschistischen Terrorgruppe, Bruder des faschistischen Attentä-
ters und Rathenaumörders Ernst von Salomon, der bekannte Bruno von Salomon, der
im Winter wegen Spitzelverdacht in Madrid verhaftet war, in einer Parteizelle: „Wenn
401 In der Literatur wird dagegen auch das Narrativ des „roten Millionärs“ transportiert (siehe als
Beispiel: McMeekin: The Red Millionaire, zu den finanziellen Hintergründen besonders S. 163ff., 204ff.).
402 Siehe Dok. 427.
Dok. 429: O.O. [Paris], 29.10.1937 1413
403 Später kolportierte Münzenberg diese Aussage Bruno von Salomons folgendermaßen: „In
Moskau wäre Münzenberg schon lange erschossen, aber er wird seinem Schicksal nicht entgehen,
der Arm der GPU reicht sehr weit.“ (Dok. 442a). Bruno von Salomon (1900–1952) war der ältere Bruder
des Freikorpskämpfers Ernst und an der Ermordung des liberalen deutschen Außenministers Walther
Rathenau beteiligt. Er kam aus der nationalistischen, teilweise terroristischen Landvolk-Bewegung
und gehörte später dem Aufbruch-Kreis an. Münzenberg erwähnte häufiger die „Gruppe Ulbricht-
Salomon-[Bruno] Frei“(siehe auch Dok. 375a). Nach KPD-Eintritt und Emigration nach Frankreich
engagierte sich Salomon wie auch der ebenfalls aus der Landvolk-Bewegung stammende Bodo
Uhse für die Volksfront. Mit Unterstützung Ulbrichts wurde er zum Leiter der Freundeskreise der
Volksfront. U.a. sorgte er für einen Eklat, als er erklärt haben soll, daß Breitscheid und Braun sich
von der Komintern hätten kaufen lassen. (Kemper: Heinrich Mann und Walter Ulbricht, S. 140; hier ist
Kemper wohl ein Irrtum unterlaufen, statt „von der Komintern“ müsste es inhaltlich logischerweise
„von Münzenberg“ heißen; vgl. Dok. 442a).
404 Meine Mitarbeiter: Münzenbergs Sekretär war Hans Schulz (siehe Dok. 443). Sein wichtigster
politischer Mitarbeiter war der zu dieser Zeit bereits in sowjetischen Diensten stehende Otto Katz
(Ps. André Simone, 1885 Prag – 1952, in Prag hingerichtet). Er leitete nicht nur die antifaschistischen
Initiativen in den USA an (besonders in Holywood), sondern auch seit 1937 die von Münzenberg
zusammen mit dem Außenminister der spanischen Republik, Alvarez del Vayo, gegründete Agence
Espagne in Paris, die das Bulletin Agence Espagne. Informations Télégraphiques et Téléphoniques
De Dernière Heure herausgab. Wie Babette Gross berichtet, zahlte er „an französische Journalisten
erhebliche Summen für den Abdruck prosowjetischer und prokommunistischer Artikel.“ (Gross: Willi
1414 1933–1939
Fähigkeiten entfernt, sind mit dem Revolver herumgelaufen, um den Genossen Stalin
zu ermorden.
Was zum Teufel habe ich verbrochen, daß man in unbeschreiblich niedriger Weise
nach einem Leben harter und erfolgreicher Parteiarbeit gegen mich so hetzen darf?
Mitunter, wenn gerade wieder eine der tollsten Lügen zu meiner Kenntnis kommt, bin
ich nahe daran aufzuschreien und diese Giftküche infamster Lügen und Gerüchte an
den Pranger der ganzen Welt zu stellen. Nur mein Vertrauen zu Dir, zu dem Genossen
Stalin, zu den dortigen Freunden, zur Sache des Kommunismus hält mich davon ab
und Dein Brief vom 10. Oktober beweist mir, daß es berechtigt war.405
Ich wiederhole, was ich nur telegrafierte, ich will reisen. Ich bitte nur, und das
wirst Du, da Du es nicht aus meinen früheren Briefen lesen konntest, nach dem heuti-
gen verstehen, daß Ihr telegraphisch einem oder einigen Genossen das Mandat gebt,
um hier einige absolut notwendige Feststellungen zu treffen und sie so rasch wie
möglich an Ort und Stelle durchzuführen.
Vielleicht hast Du das schon angewiesen, vielleicht bin ich eher da, als dieser
Brief, aber ich mußte Dir das heute, besonders nach Deinem Brief vom 10. Oktober,
schreiben, weil es für mich unerträglich wäre, wenn Du in der Verzögerung meiner
Abreise andere Ursachen sehen würdest, als die, die wirklich vorhanden sind.
Dok. 430
„Jeden werden wir erbarmungslos vernichten“: Trinkspruch
Stalins für die Auslöschung aller „Feinde des Staates“, ihrer
Familien und Angehörigen
Moskau, Bolschoi-Theater, 7.11.1937
Eintrag im Tagebuch Dimitrovs in russischer Sprache. In deutscher Sprache publ. in: Bayerlein: Georgi
Dimitroff. Tagebücher I, S. 162.
Stal[in]:
Ich möchte einige Worte sagen, die vielleicht nicht sehr feierlich sind. Die russischen
Zaren haben viel Schlechtes getan. Sie haben das Volk ausgeraubt und geknechtet.
Sie führten Kriege und eroberten Territorien im Interesse der Gutsherren. Aber eine
große Sache haben sie vorzuweisen: sie haben ein Riesenreich zusammengezim-
mert – bis nach Kamtschatka. Wir haben diesen Staat als Erbe erhalten. Und wir Bol-
schewiki haben diesen Staat erstmals gefestigt, zu einem einheitlichen, unteilbaren
Staat, nicht im Interesse der Gutsherren und Kapitalisten, sondern zum Nutzen der
Münzenberg, S. 471; Jonathan Miles: The Nine Lives of Otto Katz. The Remarkable Story of a Commu-
nist Super-Spy, London, Bantam Press, 2010).
405 Siehe Dok. 427.
Dok. 430: Moskau, Bolschoi-Theater, 7.11.1937 1415
Werktätigen, aller Völker, die diesen Staat bilden. Wir haben den Staat so geeint, daß
jeder Teil, der von diesem allgemeinen sozialistischen Staat losgerissen würde, nicht
nur letzterem schaden würde, sondern allein auf sich gestellt auch nicht existieren
könnte und unvermeidlich unter ein fremdes Joch geraten würde.
Deshalb ist jeder, der versucht, diese Einheit des sozialistischen Staates zu zer-
stören, der danach strebt, einzelne Teile und Nationalitäten von ihm abzutrennen,
ein Feind, ein geschworener Feind des Staates, der Völker der UdSSR. Und wir werden
jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine
Sippe, seine Familie komplett vernichten. Jeden, der mit seinen Taten und in Gedan-
ken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden
wir erbarmungslos vernichten. Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer
Sippe – bis zum Ende!
Stal[in]:
Ich bin noch nicht fertig mit meinem Trinkspruch. Es wird sehr viel von großen
Führern gesprochen. Doch keine Sache siegt, wenn die Bedingungen hierfür nicht
gegeben sind. Dabei sind die mittleren Partei-, Wirtschafts- und Militärkader das
wichtigste. Sie wählen den Führer, sie erklären den Massen die Umstände, sie garan-
tieren den Erfolg der Sache. Auf diese mittleren Kader! Sie stehen im Hintergrund,
man bemerkt sie nicht.
Am 21.12.1937 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, das Abkommen über den Gü-
ter- und Geldverkehr mit Deutschland für das Jahr 1938 zu verlängern.406
406 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 93–94. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b)
– VKP(b) i Evropa, S. 356–357.
1938
Dok. 431
Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion zur
Fortführung der blutigen Säuberungen unter nationalen Gruppen,
Ausländern wie auch Sowjetbürgern
Moskau, 31.01.1938
Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 17/162/22, 114 und 17/162/22, 114. Deutsche
Erstveröffentlichung (1), Erstveröffentlichung (2). In russischer Sprache publ. in: Leonid Radzichovskij:
Bliznecy-bratʼja. In: Stolica (1992), Nr. 26, S. 6–7.
Auszug aus dem Protokoll Nr. 57 der Sitzung des Politbüros des ZK der VKP(b).
Beschluss vom 31.1.1938
1 Mit „Kontingenten“ sind hier nicht Planzahlen gemeint, sondern die zu „Spionen und Diversanten“
erklärten Vertreter nationaler Minderheiten als eine innerhalb der Letzteren ausgemachte Gruppe.
In einem Rundschreiben des NKVD von 22.8.1937 „Über die Ausländer“ hieß es: „Es ist festgestellt,
dass die überwiegende Mehrheit der in der UdSSR lebenden Ausländer eine organisatorische Basis
der Spionage und Diversion bilden.“ (Ochotin/Roginski: Zur Geschichte der Deutschen Operation,
S. 101). In der NKVD-Lexikologie sprach man auch von „nationalen Linien“ der Aktion und von
Verurteilungen im „Albumverfahren“ und durch „Sondertroikas“ (Ochotin/Roginski: Zur Geschichte
der Deutschen Operation, S. 117f.).
2 Charbiner: So nannte man die ehemaligen Angestellten und Arbeiter der Chinesischen Ost-
Eisenbahnlinie (russ. Abk. KVŽD) sowie Remigranten aus der Mandschurei, die zwar in ihrer Mehrheit
Russen waren, aber „weil sie […] außerhalb der sowjetischen Grenzen geboren und aufgewachsen sind,
(...) wie ‚ausländische‘ Bevölkerungsgruppen behandelt (wurden)“ (Viktor Krieger: „Russlanddeutsche“
Beschlüsse des Politbüros des ZK der VKP(b) in den Jahren 1920–1943. Eine Auswahl. In: The
International Newsletter of Communist Studies Online, Vol. XV (2009), Nr. 22, S. 149–158, http://www.
mzes.uni-mannheim.de/projekte/incs/home/data/pdf/INCS_22_ONLINE.pdf, S. 154f.).
Dok. 431: Moskau, 31.01.1938 1417
3. Dem NKVD der UdSSR wird vorgeschlagen, bis zum 15. April eine analoge Operation
durchzuführen, um die Kader der Bulgaren und Mazedonier, sowohl ausländischer
Untertanen als auch sowjetischer Staatsbürger, zu zerstören.3
Dok. 432
Memorandum des Sekretariats des ZK der KPD über die „partei-,
einheits- und volksfrontfeindliche Tätigkeit“ Willi Münzenbergs
Moskau, 31.1.19384
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau 495/205/7000 (5), 292. Mit dem Titel „Entwurf
zum Fall Münzenberg“ ist das Dokument auch im Nachlass von Wilhelm Pieck in SAPMO-BArch, NY
4036/515, 152–161 überliefert. Erstveröffentlichung.
Abschrift5
5 Ex./Pie.
13.2.39
Vertraulich!
Zum Fall Münzenberg.
Memorandum des Sekretariats des ZK der KPD vom Januar 1938.
Das Memorandum befasst sich weniger mit den politischen Abweichungen Münzen-
bergs von der Linie der Partei und der KI. Die Darstellung dieser Abweichungen ist
in verschiedenen Briefen des Sekretariats an den Parteivorsitzenden Gen. Pieck, an
das EKKI und an die IKK enthalten. Das Memorandum soll vielmehr eine Uebersicht
geben über die partei-, einheits- und volksfrontfeindliche Tätigkeit Münzenbergs, die
er zur Durchsetzung seiner Spaltungspolitik entfaltete.
Die Tätigkeit Münzenbergs gegen die KPD begann, soweit bisher festgestellt
werden kann, nach seiner Rückkehr aus Moskau im Herbst 1936. Sie lässt sich in fol-
gende Punkte einteilen:
1.) Tätigkeit zur Sprengung des Volksfront-Ausschusses;6
2.) Tätigkeit zur Schaffung neuer Parteigebilde, die sich gegen die KPD und gegen
die Volksfront richteten.7
4 Handschriftlicher Eintrag.
5 Handschriftlich: „116/12“.
6 Am 16.11.1937 teilte Max Braun dem KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck schriftlich den Beschluss der
Nichtkommunisten im Volksfrontausschuss mit, alle gemeinsamen Aktivitäten mit den Vertretern der
KPD bis zur Beseitigung der Ursachen der Konflikte ruhen zu lassen. Für die „Sprengung“ waren in erster
Linie Ulbricht und die Kominternführung verantwortlich, die eine modifizierte Volksfront verfolgten, bei
der ein einheitliches Vorgehen mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung nicht mehr im Zentrum
stand. Die Terrorpolitik Moskaus und die Skandale in der Emigration (Pariser Tagesszeitung u.a.) trugen
zum Bedeutungsverlust von KPD und Komintern bei. Seit 1937/1938 wurde die antistalinistische Wende
in der deutschsprachigen Emigration zum irreversiblen Prozeß (zu den Ulbricht- und Breitscheid
Korrespondenzen – aus dem Moskauer Sonderarchiv – sowie den Versuchen von Heinrich Mann und
Lion Feuchtwanger, die Volksfront zu retten, siehe: Kemper: Heinrich Mann und Walter Ulbricht).
7 Dies trifft eher auf Ulbricht zu, der die „Freunde der deutschen Volksfront“ zur Nachfolgeorganisa-
tion machen wollte.
Dok. 432: Moskau, 31.1.1938 1419
3.) Tätigkeit zur Durchkreuzung der Bemühungen des Sekretariats zur Sicherung
der „Pariser Tageszeitung“ als Organ der deutschen Volksfront.8
1. [...] Da es sich erneut erwiesen hatte, dass auf legalem Wege eine Sprengung
des Volksfrontausschusses an der Haltung der Vertreter der KPD scheitern musste,
da sich ausserdem die Unzufriedenheit über die Inaktivität des Ausschusses unter
den Freunden der Volksfront im Lande und in der Emigration deutlich bemerkbar
machte, da ferner alle Manöver Münzenbergs zur Schaffung neuer volksfrontfeindli-
cher Gebilde von der Partei durchkreuzt worden waren, da es auch für die SP[D]- und
SAP-Leute immer klarer wurde, dass Münzenberg in der Partei allein stand, hielt er
es für geraten, den Volksfrontausschuss durch eine Provokation zu sprengen, um sich
als unabkömmlicher Volksfrontpolitiker, der allein und mit Leichtigkeit alle vorhan-
denen Schwierigkeiten zu beseitigen in der Lage sei, zu präsentieren, oder aber eine
bessere Grundlage für seine Parteineugründung zu schaffen, im Falle des Misslin-
gens dieser Pläne und des Bruches mit der Partei. Die Provokation bestand in der von
Braun und Bernhard gegen den Vorsitzenden des Pariser Freundeskreises Salomon
erhobenen Beschuldigung, „dieser habe Heinr[ich] Mann und Breitscheid [als] von der
KPD gekauft bezeichnet.“9 Es ist interessant, dass solche Verleumdungen gegen Heinr.
Mann schon im Juni 1937 von Feinden der Volksfront wie Hirschberg-Antwerpen,10 mit
dem Münzenberg und Bernhard11 Beziehungen unterhielten, verbreitet wurden.12 [...]
Als weiterer Grund zur Sprengung des vorbereitenden Volksfrontausschusses
wurde ein Brief von Walter an Heinrich Mann angeführt. Darin wird Heinrich Mann
8 Unter „Sicherung der Pariser Tageszeitung“ wird hier der im Frühjahr 1937 beschlossene Aufkauf
der Tageszeitung mit Kominterngeldern durch die KPD verstanden, gegen den Münzenberg opponierte
(siehe den Beschluß, Dok. 411).
9 Die Äusserung Salomons wird in den Dokumenten unterschiedlich wiedergegeben; sie dürften
jedoch in erster Linie gegen Münzenberg gerichtet gewesen sein. Freundeskreis: Gemeint sind die
Freundeskreise der Deutschen Volksfront. Ziel der von Ulbricht, Salomon u.a. betriebenen Reaktivie-
rung der Volksfront durch die Freundeskreise war die „Einbeziehung der schweigenden Mehrheit der
unpolitischen Emigranten (...) und die Erweiterung über diese hinaus in die Reihen der Nationalsozi-
alisten hinein“ (Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, Bd. 2, S. 440). Wie Babette Gross schrieb, bildete
der Volksfrontausschuss für Ulbricht und die KPD-Leitung „(...) nur noch eine willkommene Basis,
um sich an sozialdemokratische Gruppen im Reich zu wenden und um von Kommunisten gebildete
‘Freundeskreise der Volksfront’ im Ausland zu gründen, in denen Kommunisten das Wort führten.“
(Gross: Willi Münzenberg, S. 449). Mit Hilfe der von den nichtkommunistischen Gruppen und Partei-
en boykottierten Freundeskreise versuchten Ulbricht u.a., eine sektiererische Organisation aufzubau-
en. Mit Salomon und Robert Breuer seien – so Münzenberg – die „politisch und in jeder Beziehung
(...) ungeeignetsten“ Personen an ihre Spitze gestellt worden.
10 Der Name war nicht zuzuordnen.
11 Bernhard, d.i. Georg Bernhard (siehe Dok. 411), der zunächst mit Münzenberg eng verbunden
war. Nach der gerichtlichen Untersuchung gegen ihn infolge des coups gegen den Verlagsleiter
Vladimir Poljakov und seiner Absetzung als Chefredakteur des Pariser Tageblatts hauptsächlich beim
jüdischen Weltkongreß tätig.
12 Nach einer anderen Lesart hätten sich Breitscheid und Braun – so sei es von Salomon kolportiert
worden – von Münzenberg „kaufen lassen“.
1420 1933–1939
13 Der ehemalige Pressechef von Reichskanzler Heinrich Brüning, Dr. Carl Spiecker (1888–1953) und
der ehemalige preußische Finanzminister Otto Klepper (1888–1957) gründeten Ende 1936 im Exil die
Deutsche Freiheitspartei (DFP) als konspirativ arbeitende Sammlungsbewegung von Oppositionel-
len vornehmlich bürgerlicher Herkunft; ihr Ziel war der Aufbau einer nationalen Freiheits- und Wi-
derstandsbewegung. Als einzige Oppositionsgruppe betrieb sie einen Seesender. Nach seinem Aus-
schluss aus dem ZK der KPD übernahm Münzenberg die Herstellung der von der DFP herausgegeben
„Deutschen Freiheitsbriefe“, die als Flugblätter für die illegale Verbreitung in Deutschland konzipiert
waren. Mit den Mitteln der Denunziation, Kriminalisierung und Veröffentlichung von Kontaktadres-
sen versuchte die KPD, die Tätigkeit der DFP zu unterbinden, allerdings ohne Erfolg. Münzenberg
arbeitete mit der DFP-Leitung zusammen (Beatrix Bouvier: Die Deutsche Freiheitspartei (DFP). Ein
Beitrag zur Geschichte der Opposition gegen den Nationalsozialismus, Univ. Diss., Frankfurt am Main
1969; Martin van der Ven: Ein Seesender gegen Hitler. Der Sender der Deutschen Freiheitspartei,
http://www.seesender.de/freiheitspartei.htm).
14 Dieser Abschnitt belegt die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung um die Pariser
Tageszeitung für beide Seiten und das antifaschistische Exil insgesamt. Entgegen der hier geäusserten
Sicht der KPD-Führung ging es darum, Münzenbergs und Bernhards Einfluß auf die Zeitung zu
verhindern. Der Beschluß zum Aufkauf der Zeitung durch die Komintern bzw. die KPD ist vom 15.3.1937
datiert (siehe Dok. 411; vgl. Bayerlein/Matschuk: Vom Liberalismus zum Stalinismus).
Dok. 432: Moskau, 31.1.1938 1421
der Zeitung und betrog damit die Partei. Es gelang ihm tatsächlich, die „Pariser Tageszei-
tung“ von Januar bis Juni in seinen Besitz zu bringen. M. verschwieg alle seine diesbe-
züglichen Massnahmen. Als die Zeitung im Juni in finanzieller Gefahr war und die Ver-
treter der Partei finanzielle Hilfe zusagten, gab M. die Zeitung preis und wollte sie lieber
bankrott gehen lassen, als mit Hilfe unserer Freunde erscheinen zu lassen. Er telegrafierte
ohne Wissen des Sekretariats nach Moskau, dass die Zeitungsverhandlungen gescheitert
wären. In Wirklichkeit waren die Verhandlungen nicht gescheitert, aber M. wollte die
weiteren Verhandlungen zwischen Somin15 und unseren Freunden unmöglich machen
und selbst von der KI einen Auftrag zu Verhandlungen und vor allem Geld haben. Bern-
hard forderte von uns sofort 70 000 Frcs zur Rettung der Zeitung. In Wirklichkeit war
dieses Geld bestimmt, die Zeitung endgültig in den Besitz von M. zu bringen. (70 000 Frcs
waren dem Besitzer Wolff als Abfindung versprochen worden).16 Münzenberg trägt die
Verantwortung dafür, dass die „Pariser Tageszeitung“ nunmehr an den Rand des Bank-
rotts gelangt ist. Wir verweisen betr. dieser Frage auf die vorhandenen Dokumente.
Schlussbemerkungen.
Die Ueberprüfung der parteifeindlichen Tätigkeit zeigt, dass er im Interesse der
Durchsetzung seiner Politik bereit war, mit sozialdemokratischen, bürgerlichen und
sogar mit trotzkistischen Elementen gemeinsame Sache zu machen. Er schreckte vor
keiner Handlung zurück, wenn sie ihm nur geeignet erschien, der Partei Schwierig-
keiten zu machen und ihre Einheits- und Volksfrontpolitik zu durchkreuzen.
Münzenberg betrog auch seine Bundesgenossen, wie er die Partei betrog. Er ver-
suchte, sie durch unwahre Behauptungen im Glauben zu erhalten, er, Münzenberg, werde
von der KI gestützt, das Sekretariat sei im Unrecht und versuche ihn, M., als Vertreter der
Partei zu erledigen. Zu diesem Zweck gab er seinen Bekannten den Inhalt von Briefen
Münzenbergs an Genossen Stalin und Dimitroff und Wilhelm Pieck zur Kenntnis.17
Es wäre falsch, zu behaupten, dass es ohne die parteifeindliche Tätigkeit Münzen-
bergs keine Differenzen mit den sozialdemokratischen und bürgerlichen Volksfront-
partnern gegeben hätte. Solche Differenzen hat es von Beginn der Zusammenarbeit
gegeben und wären sicher im Verlaufe des Jahres 1937 noch stärker in Erscheinung
getreten. Die Verschärfung der allgemeinen Situation, die Schwankungen der Linken
innerhalb der sozialistischen Internationale, die verstärkte trotzkistische Aktivität etc.
boten dafür alle Voraussetzungen. Die parteifeindliche Tätigkeit Münzenbergs hat es
jedoch vorübergehend verhindert, dass diese Differenzen in kameradschaftlicher Weise
und auf einer politischen Grundlage ausgetragen werden konnten. Es ist sein Verschulden,
15 Somin, d.i. Hugo Simon (1880–1950 ), linker Bankier, Förderer und Freund von Münzenberg
und Babette Gross, der von Frankreich aus die Anti-Hitleropposition unterstützte und neben der
Demokratischen Flüchtlingshilfe auch die Pariser Tageszeitung finanzierte.
16 Der der KPD-nahestehende Graphiker und Verleger Fritz Wolff (1887–1945) war Mitherausgeber
der Pariser Tageszeitung.
17 Ein wichtiger Teil der Briefe an Stalin und Dimitrov ist im vorliegenden Band abgedruckt. Siehe
zur Gesamteinschätzung auch den Beitrag von Bayerlein in Band 1, S. 337ff.
1422 1933–1939
dass die Auseinandersetzungen von Seiten der SP[D]- und SAP-Leute auf ein niederes
persönliches Niveau herabgedrückt wurden und dass sie zur vorübergehenden Lahm-
legung der Arbeit des zentralen Volksfrontausschusses geführt haben. Insbesondere,
dass auch Volksfront-Freunde, wie Heinrich Mann etc. in sie hineingezerrt wurden.
Durch die parteifeindliche Tätigkeit Münzenbergs wurden Breitscheid, Braun,
Greczinski18 etc. und die SAP-Leute in ihrer Einbildung, dass sie der KPD ihren Willen
und ihre Politik aufzwingen können, bestärkt. Die parteifeindliche Tätigkeit Münzen-
bergs und sein betrügerisches Verhalten gegenüber der Partei hat die Verwirrung in
der sozialdemokratischen Emigration und unter den antifaschistischen bürgerlichen
Kreisen verstärkt. Sie hat das Tempo der Entwicklung der Volksfrontbewegung im
Ausland vorübergehend vermindert und den Trotzkisten genutzt.19
Das Sekretariat hat versucht, den Auswirkungen der parteifeindlichen Tätigkeit
Münzenbergs entgegenzuarbeiten. Es ist ihm gelungen, die volksfrontmässige Arbeit
im Lande und in der Emigration wieder zu aktivisieren. Es ist ihm aber nicht gelungen,
die Lahmlegung der Tätigkeit des Volksfrontausschusses zu verhüten.20 Das hätte eine
rechtzeitige klare politische Auseinandersetzung mit Münzenberg in der Oeffentlich-
keit erfordert. Eine solche Auseinandersetzung mit Münzenberg hätte bei Breitscheid,
Braun, Bernhard etc., insbesondere aber bei Heinrich Mann bald Klarheit darüber
geschaffen, dass nicht M., sondern das Sekretariat die operative Führung der Partei ist
und hätte sie zu einer kritischeren Stellung Münzenberg gegenüber veranlasst.
Eine solche offene politische Auseinandersetzung mit M. konnte das Sekretariat
jedoch nicht rechtzeitig einleiten, da es in Uebereinstimmung mit dem Parteivorsit-
zenden Gen. Pieck das grössere Interesse daran hatte, alles zu vermeiden, was M.
veranlassen konnte, seine Reise nach Moskau endgültig abzulehnen.21 Das Sekreta-
riat hat auf die Verleumdungskampagne Münzenbergs gegen die Partei bis Juni nicht
geantwortet, sondern hat Direktiven in dieser Sache von zu Hause erwartet. Als es nach
der Junitagung des Volksfrontausschusses klar war, dass M. nicht zu einer Bespre-
chung nach Moskau fährt, hat das Sekretariat M. vorgeschlagen, er solle mit Walter
[Ulbricht] zur Aussprache zu Pieck reisen und es wurde ihm mitgeteilt, dass das Sekre-
tariat dafür ist, dass er nach der Aussprache zur Arbeit nach Westeuropa zurückkehrt.
Danach verschärfte M. den Kampf immer mehr und zwar in Formen persönlicher Ver-
leumdungen gegen Walter. Er unternahm alle Anstrengungen, einen eigenen Apparat
zum Kampf gegen die Partei aufzubauen, wobei er sich auf sein Vertrauen bei der KI
berief. Deshalb wurde es notwendig, öffentlich in Form der Buchbesprechung vor
Münzenbergs Prahlereien zu warnen.22 [...] Dass es ihm nicht gelang, die bürgerlichen
Kräfte zu beeinflussen, das geht aus der Ablehnung der namhaften Wissenschaftler
und sogar gegenüber der Gründung von Heinr. Mann hervor. Die bürgerlichen Kreise
wollen keinen „Münzenbergladen“ und auch nicht mit Bernhard gemeinsam an die
Oeffentlichkeit treten.
Münzenberg war es möglich, unter rücksichtsloser Durchbrechung jeder Partei-
disziplin, Breitscheid, Braun, Walcher, Bernhard und insbesondere auch Heinr. Mann
unter seiner Beeinflussung zu halten, sie gegen das Sekretariat einzustellen und die
Zusammenarbeit zu stören. So erreichte er auch, dass die Auseinandersetzungen, die
eigentlich zwischen dem Sekretariat und ihm geführt werden mussten, – soweit sie
von Seiten des Sekretariats nicht vollkommen vermieden werden konnten, mit Breit-
scheid, Braun, Bernhard etc. stattfanden.
Januar 1938
Am 11.2.1938 erlaubte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion neue Verhandlungen mit Deutsch-
land über einen von ihnen vorgeschlagenen 200-Millionen-Kredit. Die von der sowjetischen Seite
anvisierte Laufzeit sollte 7 Jahre betragen. Die einzelnen Volkskommissariate wurden aufgefordert,
Listen der von ihnen benötigten Güter einzureichen.23
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beriet am 28.2.1938 über den Dritten Moskauer Schau-
prozess gegen Nikolaj Bucharin, Alexej Rykov, Genrich Jagoda „und andere“. Festgelegt wurden die
Zusammensetzung des Militärgerichtskollegiums und der Termin des Gerichtsbeginns. Die Anklage-
schrift wurde zur Veröffentlichung beschlossen. Alle Erwähnungen ausländischer Regierungen und
ausländischer Repräsentanten in der UdSSR sollten hierin getilgt werden.24
Am 3.3.1938 hieß das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Vorschlag der deutschen Regie-
rung gut, die Konsulate in Kiev und Novosibirsk aufzulösen. Im Deutschen Reichsollten dafür die so-
wjetischen Konsulate in Hamburg und Königsberg geschlossen werden.25
22 Die negative Buchbesprechung betraf das Buch Münzenbergs „Propaganda als Waffe“, sie
erschien in der Deutschen Volkszeitung vom 7.11.1937.
23 APRF, Moskau, 3/64/665, 1. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 172.
24 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 141.
25 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 142.
1424 1933–1939
Am 3.3.1938 genehmigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion dem EKKI die Zahlung eines
Kredits von 50.000 Goldrubeln und 1.200.000 Rubeln, der auf das Budget für 1938 anzurechnen sei.26
Dok. 433
Meinungen und Stimmungen von KPD-Mitgliedern und
antifaschistischen Arbeitern. Aus dem Deutschen Reich
O.O., 4.3.1938
Streng vertraulich
Auszüge aus Berichten der KPD. über die Meinungen und Stimmungen von Mitgliedern
und antifaschistischen Arbeitern.
1.) Bericht aus Berlin, vom 10. September 1937: „Trotzkistenprozesse: Diese Prozesse
stossen sehr ab. Sie (gemeint sind die antifaschistischen Arbeiter) glauben nicht
alles, was darüber gesagt wird. Sobald die Russen aber aktiv auftreten, sei es in der
Frage China oder Spanien, ist die Sympathie auf ihrer Seite... Unter unseren Genossen
wird oft so diskutiert: Sind wir überhaupt noch eine kommunistische Organisation?
Sie unterhalten sich, was früher alles falsch gemacht wurde und glauben, dass wir
jetzt den Klassenkampfcharakter verwaschen durch unsere Volksfrontpolitik und den
Kampf um die demokratische Republik. Bei Remmele und Neumann können sie nicht
begreifen, dass das Lumpen geworden sind und fragen sich, wie war das möglich?“27
2.) Bericht aus Berlin, vom 30. August 1937: (Bericht eines Instrukteurs über einen
Besuch in Berlin) „Unser junger Freund leitete die Diskussion folgendermaßen ein:
wir haben in den letzten 2 Monaten die Materialien gelesen und Deine Ausführungen
bei dem letzten Besuch ausführlich durchdiskutiert. Wir stellten fest, dass wir uns
in einer ganzen Reihe von Fragen nicht klar sind. Vor allem in der Frage Volksfront
und demokratische Volksrepublik. Ich konnte zwar nicht alles begründen, stehe aber
nach wie vor auf dem Boden der Volksfront, erklärte er mir. Nachstehend die Beden-
26 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 142. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 764–765.
27 Vgl. eine ähnliche Einschätzung seitens der Berliner Opposition, Dok. 424.
Dok. 433: O.O., 4.3.1938 1425
ken des alten Freundes, die mehr oder weniger den jungen Freund mit beeinflusst
haben. Dieser alte Freund sagte folgendes zu mir: Nach Deinen letzten Ausführungen
war ich wie erschlagen. Ich konnte überhaupt nichts dazu sagen. Es war mir alles
vollkommen neu, nachdem wir doch über ein Jahr keine Verbindung gehabt haben.
In der Zwischenzeit habe ich versucht, mich neu zu orientieren, aber es gibt noch eine
grosse Lücke. Ich finde nicht die richtigen Zusammenhänge. Unsere Zweifel haben
wir für uns behalten und haben immer auf der Linie der Partei diskutiert. Wir haben
uns deshalb auf heute vorbereitet und wollen mit Dir alle Fragen, die die demokra-
tische Volksrepublik betreffen, diskutieren. Die Sozialdemokraten, mit denen ich
sprach, sagten: also haben wir doch immer Recht gehabt. Auf deren Urteil kann man
natürlich nicht so viel geben, denn sie sind ja alle mehr oder weniger verbürgerlicht
und betrachten das auch von anderen Gesichtspunkten aus. Alle unsere Genossen,
mit denen ich sprach, hatten dieselben Bedenken, wie ich. Es ist doch leichter, die
Massen gleich für unser Ziel, die Diktatur des Proletariats zu gewinnen, warum erst
noch eine Zwischenetappe schaffen? Das schiebt doch die Sache nur unnötig hinaus.
Wenn wir mit all den bürgerlichen Schichten zusammenarbeiten, werden wir da nicht
untergehen? Wo bleibt die Rolle des Proletariats? Wird der Kampf gegen den Kapi-
talismus vertagt? Ich sehe keinen richtigen Unterschied zwischen Weimar und der
kommenden Republik. Was für Garantien haben wir, dass die Sache nicht genau so
wieder abrutscht? Natürlich ist der Kampf um die demokratische Republik eine tak-
tische Frage, aber trotzdem, wenn wir auf der Volksfrontbasis siegen, wie wird die
Sache dann weiter gehen? Wird es dann nicht gleich Auseinandersetzungen geben?
Wenn es dann gleich Kämpfe innerhalb der Volksfront gibt, wozu gehen wir dann
erst zusammen? Für ein Zusammengehen mit Mittelstand und Bauern sind wir, dafür
sind wir ja auch früher eingetreten, aber mit der Kirche, diesen reaktionären Institu-
tionen? Was hat sich denn bei denen geändert? Sie sind manchmal gegen die Nazis,
aber doch nur aus religiösen Gründen. Das hat doch keinen richtigen Zusammenhang
mit unserem Kampfe...“
„In 80 (Stadtteil von Berlin) besteht eine Gruppe, die sich als UBL. bezeichnet.
Sie hat einige Verbindungen und kassiert ziemlich hohe Beiträge (3 Mark teilweise
im Monat). Der Aufbau ist nach Fünfergruppen vorgenommen. Sie sind gegen die
Volksfront und demokratische Republik eingestellt. Sonst sind sie sehr selbstherrisch
und lassen sich auch nicht von ihren Verbindungen hineinreden. Literatur haben sie
unsere.“28
28 UBL (Abk. für Unterbezirksleitung). Der einzige noch intakte Berliner Unterbezirk nach den
Schlägen der Gestapo in den Jahren 1935–1937 war der UB Adlershof, der seit Frühjahr 1938 von Otto
Nelte geleitet wurde. Illegale Betriebsaktivitäten wurden auch vom UB Moabit weitergeführt, dort
lag die Leitung jedoch bei den „Versöhnlern“, die aus Gründen der hohen Gefährdung grundsätzlich
keine Kontakte mit den noch verbliebenen Strukturen der KPD erlaubten (Sandvoß: Die andere
Reichshauptstadt, S. 451, 547ff.).
1426 1933–1939
3.) Brief aus Berlin, vom 7.Juli 1937: „Die Prozesse in der SU. werden als Zersetzungs-
symptome angesehen, auch von den als Antifaschisten bezeichneten Arbeitern.“
4.) Bericht aus Berlin, von Anfang September 1937: „Unterhaltung mit einem Reichs-
bannermann. – Er hat ein grosses Interesse für militärische Fragen. Er erzählte, dass
er vor kurzem die heftigsten Diskussionen mit alten führenden SPD.-Bonzen gehabt
habe, und dass er ihnen ihre pazifistische Politik zum Vorwurf gemacht hätte und
ihnen gesagt habe, dass sie die Jugend mit ihrer ganzen Romantik verdorben hätten.
‚Da kann man es erleben, dass diese alten Leute anfangen zu weinen.‘ ‚Warum haben
denn die Arbeiterführer nach dem Kriege nicht die Kraft aufgebracht, die Baltikumer
bei ihrer Rückkehr einfach umzubringen?29 Mit allen diesen Elementen hätte man
damals noch schnellen und kurzen Prozess machen können.‘ Dieser Reichsbannerar-
beiter ist Metallarbeiter und schilderte seine Beobachtungen folgendermassen: ‚Der
Metallarbeiter verdient zu viel an den Rüstungen und während des Krieges. Das ist
heute wieder so, wie in den letzten Kriegsjahren, wo der Metallarbeiter der Hemm-
schuh war; er weiss, er braucht nicht in den Krieg, wird zu Hause gebraucht, bekommt
hohen Lohn, kann unbegrenz[t] Ueberstunden machen, bekommt mit seiner Familie
die beste Verpflegung usw. Der deutsche Arbeiter ist bisher noch nicht in der Lage
gewesen, aus seiner politischen Ueberzeugung auch die harten Konsequenzen zu
ziehen; und es wird noch lange dauern, bis der deutsche Arbeiter diese Konsequenz
wirklich ziehen wird bis zum unerbittlichen Vernichtungskampf gegen den Gegner.‘ –
Heute kämpfen in der Internat[ionalen] Brigade sicher die Tüchtigsten und Fähigsten
aus der deutschen Arbeiterschaft, die gelernt haben, diese militärische Konsequenz
zu ziehen.30 Wenn man doch nur da draussen die fähigsten jungen Leute aus dem
Kampf herausziehen würde, um sie für uns zu schulen. Denn solche Menschen brau-
chen wir in der deutschen Arbeiterbewegung. Wenn doch nur der Krieg bald losgehen
wollte, das wäre die beste Schule.“ --
„Ueber den Moskausender hörte ich wieder eine Unterhaltung. Man freut sich
über sorgfältige Diskussionen zu der Frage: Wie ist es möglich, dass die Massen in
29 Baltikumer: Angehörige der nach dem Ersten Weltkrieg in Lettland und Litauen weiter gegen die
Sowjetunion kämpfenden deutschen Soldaten und der Freikorps.
30 Unter den ca. 40 Nationen bildeten die deutschen Feiwilligen der Internationalen Brigaden mit ca.
5000 von insgesamt ca. 40 000 antifaschistischen Kämpfern – vor allem Kommunisten, Sozialisten und
Anarchisten ein wichtiges Kontingent, mit zwei deutschen Bataillonen (Thälmann-Bataillon, Bataillon
Edgar André). Trotz zunehmender ideologischer Kontrolle durch kominterneigene und sowjetische
Dienste waren sie gerade für viele deutsche Kämpfer positiv eine Möglichkeit zum aktiven Kampf gegen
den Faschismus und eine Befreiung von politischer Verfolgung. Als „Armee der Komintern“ (Pierre
Broué) bildeten die Internationalen Brigaden erst- und letzmals eine internationalistische Freiwilligen-
(Teil-)armee. In den Einsätzen, zuletzt in der Ebro-Schlacht 1938, erlitten sie beträchtliche Verluste. Im
Herbst 1938 wurden sie im Gegensatz zu den auf der Seite der Putschisten kämpfenden italienischen
und deutschen Truppenteilen aufgelöst und aus Spanien abgezogen. Neuere Dokumente belegen ein
nur vorsichtiges, teilweise sogar widerstrebendes Engagement Stalins für die Internationalen Brigaden
(Broué: Histoire de l’Internationale Communiste, S. 685ff.).
Dok. 433: O.O., 4.3.1938 1427
Deutschland sich belügen lassen. Solche Sendungen geben viel Stoff zu Diskussio-
nen.“
5.) Bericht eines Instrukteurs, der eine Parteiorganisation im Sport in Berlin K[reuzberg]
besuchte, vom 20.VI.1937: „Die grössten Bauchschmerzen hatten unsere Freunde zu
den Prozessen in M[oskau]. Sie erzählten mir, dass sie am liebsten den Diskussio-
nen aus dem Wege gehen. Sie haben sich darüber gefreut, dass die Presse verhält-
nismässig kurz drüber schrieb und die Diskussionen ziemlich schnell abgeflaut sind.
Für unsere Freunde war es demoralisierend, dass solche Verräter so hoch aufsteigen
konnten, bis in die höchsten Funktionen. Ich musste mit ihnen noch mal sehr aus-
führlich die ganzen Prozesse und die Rolle dieser Agenten durchdiskutieren. Als ich
mit ihnen über die Aufgaben zur Schaffung der deutschen Volksfront sprach, äusser-
ten sie ihre Bedenken zur Volksfront in Frankreich. Das Kabinett Chautemps ist nach
ihrer Meinung eine Rechtsschwenkung und ein Uebergang zur Rechtsregierung.31 Sie
ziehen dabei die abstrakte Parallele des Uebergangs der Papenregierung zur Hitlerre-
gierung. Wir mussten über diese Dinge sehr lange und ausführlich diskutieren. Hier
macht sich die Beeinflussung durch das dauernde Lesen der faschistischen Presse
bemerkbar...“
6.) Bericht über die Tätigkeit einer seit 2 Jahren abgehangenen Parteigruppe, aus Berlin
vom 30. Juni 1937: „Ihre Informationen holen sie sich vor allem aus englischen und
französischen Zeitungen und entsprechenden Moskauer Sendungen, da die deutsche
gestört wird. In verschiedenen Zeiten, besondern während der Olympiade, s[a]ndten
sie durch die Post Flugblätter in deutscher und englischer Sprache an Journalisten
und beliebige Adressen. Sie sind der Meinung, dass sie sich schon entsprechend den
Beschlüssen des VII. Weltkongresses umgestellt haben. Das sieht folgendermassen
aus: Sie versuchen, die ehemaligen Mitglieder der Partei wieder in kleine Gruppen
ab und zu zusammen zu nehmen. Dort werden sie dann besonders über die aussen-
politische Lage informiert, und es wird ihnen frischer Mut eingepumpt. Da man aber
gleichzeitig versucht, die Freunde zu irgend einer illegalen Aktion (Malen oder Flug-
blattverteilung) zu überreden, gehen dieselben ihnen lieber in grossen Bogen aus dem
Wege. Die legale Arbeit und die Arbeit in den faschistischen Massenorganisationen
erkennen sie als notwendig an. Aber wie sollen wir die anderen Freunde davon über-
zeugen? Gerade wir haben bis zuletzt die Parolen der Partei befolgt und sind nicht
in die faschistischen Organisationen gegangen, während die anderen schon lange
drin waren.32 Wenn wir jetzt vor die anderen treten, s[a]gen die: Aha, da kommt Ihr
31 Das Kabinett des Radikasozialisten Camille Chautemps wurde mit Unterstützung der Linksparteien
am 22.6.1937 gebildet. Chautemps blieb auch Vize-Regierungschef unter den nachfolgenden Regierungen
Daladier und Reynaud und gehörte kurzzeitig der Regierung Pétains an.
32 Umfang und Tragweite der von Komintern und KPD-Führung geforderten Tätigeit der deutschen
Kommunisten in den NS-Massenorganisationen sind bisher empirisch nicht aufgearbeitet. Seitens
der Komintern wurde dies bereits seit 1933 gefordert; es ist zu vermuten, dass es sich bei denen, die
„schon lange drin waren“, um diese erste Phase handelte.
1428 1933–1939
auch schon. Wir müssen ihnen aber recht geben, während sie doch nur aus Feigheit
oder Sicherheitsgründen hineingegangen sind.... Nur der Freund aus dem Betriebe
hatte in Bezug auf legale Arbeit eine andere Meinung, das äusserte er durch Zustim-
mung zu meinen Ausführungen... Der Jugend-Freund wollte folgende Fragen von mir
beantwortet haben: Was für Bedeutung hat die Verschiebung der Neurathreise nach
London? Was für Einfluss hat der Fall von Bilbao33 auf die Entscheidung des Bür-
gerkrieges? Einschätzung des Regierungswechsels in Frankreich. Soll man auf jede
Verbreitung illegalen Materials verzichten? Wie verhindern wir in der sozialistischen
Gesellschaft erbkranken Nachwuchs, denn die Kranken haben ja eigentlich keine E[x]
istenzberechtigung, da sie der Gesellschaft nicht nutzen? Wie können solche Leute,
wie Tuchatschewsky, zu Verrätern werden?34 Sie waren über den wirklichen Sach-
verhalt vollkommen im Unklaren. Sie hatten Angst, dass in der SU wirklich etwas
los sei, da sie ja in der Presse nichts anderes lesen. Der Angestellten-Freund las die
Ueberschriften des Artikels in der DVZ. und sagte zu mir: ‚Jetzt ist mir alles klarer‘.“
7.) Bericht aus Berlin, vom 28. Juni 1937: „Die Gewerkschaftsgruppe bei der [...] will
keine direkte Verbindung zur Partei haben. Sie haben in fast allen Abteilungen Ein-
fluss. Ihre politischen Informationen entnehmen sie dem Radio und diskutieren
darüber. Bei diesen Diskussionen wird hauptsächlich die aussenpolitische Frage erör-
tert. Zur Volksfront stehen sie zwar positiv, doch sehen sie diese noch nicht als einen
Ausweg für Deutschland. Ihr Vorbild ist die Gewerkschaftsvereinigung in Frankreich
und in Spanien.35 Ihre gewerkschaftliche Tätigkeit im Betrieb üben sie dadurch aus,
dass sie den Arbeitern in allen Lohn- und Arbeitsfragen Auskunft geben und Rat ertei-
len. Unser Freund ist der Auffassung, dass diese Gruppe dabei die legalen Möglichkei-
ten zu wenig ausnutzt und vor allen Dingen ihre gewerkschaftliche Tätigkeit nicht in
die [Deutsche] Arbeitsfront verlegt.“
33 Fall von Bilbao: Am 17.6.1937 erreichten die Aufständischen Franco-Truppen die baskische
Hauptstadt Bilbao. Unterstützt durch schwere Artilleriebombardierung eroberten sie am 19.6.1937 die
von den baskischen Behörden evakuierte Stadt. Dies war der entscheidende Schlag zur Eroberung des
Nordens des spanischen Staats (“la conquista del norte“) im Frühjahr 1938.
34 Tuchatschewsky: Der legendäre stellvertretende Volkskommissar für Verteidigung und Marschall
der Sowjetunion, Michail Tuchačevskij, wurde nach schweren, von Stalin persönlich befohlenen
Folterungen durch Ježov und einem Scheinprozess am 12.7.1937 unter der Anklage der Kollaboration
mit der Reichswehr erschossen. Gerade der Marschall hatte frühzeitig und gegen die vorsichtige
Haltung des Stalinschen Politbüros vor den Angriffsplänen Hitlers gewarnt (siehe Dok. 419).
35 In Frankreich hatten sich die kommunistisch und syndikalistisch orientierte Confédération Générale
du Travail Unitaire (CGTU) und die sozialdemokratisch dominierte Confédération Générale du Travail
(CGT) 1936 durch einen Beschluß des Gewerkschaftskongresses in Toulouse wiedervereint. In Spanien
empfahl die KP Spaniens den Mitgliedern ihrer relativ einflusslosen Gewerkschaftsverbände 1935 sich
der mehrheitlich sozialistisch orientierten Union General de Trabajadores (UGT) anzuschließen. Die
in etwa gleichstarke anarcho-syndikalistische Gewerkschaftsföderation Confederación General del
Trabajo (CNT) existierte jedoch weiter.
Dok. 433: O.O., 4.3.1938 1429
8.) Bericht aus Berlin, vom 21. Juni 1937: „Als unser Freund Rohrleger kam, war seine
erste Frage: ‚Was ist in der SU. los? Warum diese Urteile? Unter unseren Kollegen
herrscht grosse Aufregung darüber. Gewiss, sie begreifen, dass man gegen Schädlinge
und Spione scharf vorgehen muss, aber Tuchatschewski hat doch noch vor kurzem
in der Oeffentlichkeit eine so grosse Rolle gespielt, und wir können nicht verstehen,
dass es so plötzlich kommt.‘ Seine zweite Frage war: ‚Was ist in Spanien?‘36 [...]“
9.) Bericht aus Süddeutschland, vom 9. Oktober 1937: „Ueber die Spanienfrage,
besonders über die Entwicklung der Kräfte auf der Volksfrontseite, herrschen bei
den Freunden im Lande grosse Unklarheiten. Sie glauben dort vielfach das, was die
faschistische Propaganda über die Anarchie, Niederschlagungsstimmung etc. auf der
Volksfrontseite und über die vorbildliche militärische Disziplin und Ueberlegenheit
auf Seiten der Faschisten meldet. Es gab darüber mit dem Freund eine lange Diskus-
sion. Tatsache ist dagegen, dass das Auftreten der SU. zur Konferenz von Nyon und
das Ergebnis der Konferenz ungeheuer stärkend auf die antifaschistischen Kreise ein-
gewirkt hat.“37
Am 13.3.1938 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die (nicht näher definierten)
seitens des deutschen Konsulats in Kiev geäußerten Beschwerden als ernstzunehmend einzuschät-
zen.38
Am 16.3.1938 beschloß das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, für „geheime Ausgaben“ der
Handelsvertretungen und Konsulate im Ausland für das Jahr 1938 1.500.000 Rubel zu assignieren.39
36 Was ist in Spanien?: In Spanien erfolgten nicht nur militärische Niederlagen der Republikaner.
Infolge der von der KP Spaniens und der Komintern betriebenen Absetzung des sozialistischen Minis-
terpräsidenten Francisco Largo Caballero und den Maiereignissen in Barcelona, die auf eine Provoka-
tion der katalanischen Sektion der Komintern mit dem Ziel der Zurückdrängung der als „Trotzkisten“
diabolisierten POUM und der Anarcho-Syndikalisten zurückzuführen waren, wurde die Linke unwi-
derbringlich gespalten. Die Niederlage der spanischen Republik bahnte sich an.
37 Konferenz in Nyon: Am 14.9.1937 wurde auf der in Nyon am Genfe See stattfindenen Konferenz ein
international gültiger Beschluß gegen die Piraterie im Mittelmeer gefaßt. Dieser war besonders gegen
das Mussolini-Regime gerichtet, das U-Boote ohne Hoheitszeichen im Mittelmeer zur Unterstützung
der spanischen Putschisten einsetzte.
38 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 150.
39 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 152.
1430 1933–1939
Dok. 434
Rechtfertigungsbericht von Jules Humbert-Droz über seine
Beziehungen zur „Gruppe der Rechten und der Versöhnler‘“
O.O.u.o.D., [nach dem 19.3.1938]
Während des 12. Plenums [des EKKI] hatte ich außerdem Gelegenheit, festzustellen,
daß meine alten Freunde meine Intervention nicht guthießen.41
In Moskau angekommen, traf ich vor dem Komintern-Gebäude Magyar, von
dem ich wusste, dass er in der sinowjewistischen Opposition war.42 Er unterbrach
mich sofort mit ziemlich heftigen Worten, deren Bedeutung mir erst später während
des Prozesses gegen die kriminelle Bande der Trotzkisten-Bucharinisten deutlich
wurde,43 als ihre Aktivität während dieser Periode demonstriert wurde. Er sagte mir:
„Sind Sie in der Schweiz verrückt geworden, eine politische Plattform vorzulegen, um
in den Kampf zu gehen? Mit diesen Leuten, mit denen diskutiert man nicht mehr!“44
40 In den 1930er Jahren und im Zweiten Weltkrieg gibt es teilweise obskure Phasen in der Biographie
des Schweizers Jules Humbert-Droz. So liegen widersprüchliche Angaben auch von ihm selbst
über seine Zugehörigkeite zur parteiinternen Opposition der „Versöhnler“ in der KPD vor (hierzu
ausführlicher Bayerlein/Lasserre: Archives de Jules Humbert-Droz, IV, S. S. 19–43; Id.: Die unbekannte
Geschichte der Versöhnler, S. 330ff.). Während seines letzten Moskau-Aufenthalts im Sommer 1938
wurde dem ehemaligen Komintern-Sekretär zunächst das Ausreisevisum versagt. Möglicherweise
wurde er zur Abfassung des vorliegenden Dokuments gezwungen. Nach einer Zeit der Unsicherheit
über sein Schicksal sagte er zu, nach Rückkehr in die Schweiz einen Artikel gegen den (seinerzeitigen
Freund) Bucharin zu schreiben.
41 12. Plenum: Das 12. EKKI-Plenum fand Ende August/Anfang September in Moskau statt.
42 Mag’yar (Ljudvig Mad’jar) wurde bereits 1935 als Sinowjewist verhaftet. Das Erschiessungsurteil
gegen ihn erging am 2.11.1937.
43 Bucharin-Prozeß: Der Dritte Moskauer Schauprozess gegen Nikolaj Bucharin – dem politischen
Mentor von Humbert-Droz, Alexej Rykov, Genrich Jagoda, Christian Rakovskij u.a. begann am 2.3.1938
und endete am 13.3.1938 zumeist mit Todesurteilen. Der Mitangeklage ehemalige Sowjetbotschafter
in Berlin, Nikolaj Krestinskij leistete offenen Widerstand gegen die Prozessmaschinerie, indem er
anfänglich nicht gestand, bzw. sein Geständnis widerrief.
44 Politische Plattform: Es handelte sich um eine von Humbert-Droz verfasste Resolution des 5.
ZK-Plenums der KP der Schweiz im Juni 1932 über “die internationale Situation und die Aufgaben
der internationalen kommunistischen Bewegung”. Nicht zuletzt, weil keine kommunistische Partei
mehr eine eigene Analyse zur internationalen Situation, geschweige denn gegen die offizielle
“Sozialfaschismuspolitik” vorlegen durfte, wurde das Dokument als “Internationale Plattform der
Dok. 434: O.O.u.o.D., [nach dem 19.3.1938] 1431
Nach diesem Versuch, als ich vollständig isoliert wurde, wurde ich aus der
Führung der Kommunistischen Partei eliminiert und heftig von der Kommunistischen
Internationale angegriffen, von der Parteipresse und in verschiedenen Resolutionen
der Organisationen.
Es war zu diesem Zeitpunkt, dass Hitler die Macht ergriff. Ich betrachtete dieses
Ereignis als eine schwere Niederlage der deutschen Arbeiterklasse und der revolutio-
nären internationalen Bewegung. Ich meinte, dass die in Deutschland verfolgte sek-
tiererische Politik eine der Ursachen für diese Niederlage war.
Es war zu dieser Zeit, dass in Zürich ein Vertreter der deutschen Versöhnler, Volk,
auftauchte.45 Er sprach ebenfalls von Niederlage und dem Teil der Verantwortung der
Politik der KI für diese Niederlage. Er betonte die Art, in der die KI meine Plattform
verurteilt und mich von der Arbeit eliminiert hatte, um mich dazu aufzufordern, die
fraktionelle Tätigkeit an der Seite der Versöhnler wieder aufzunehmen. Er sprach zu
mir von der Notwendigkeit, jetzt alle Anti-Hitler-Kräfte zu gruppieren und im Beson-
deren von der Notwendigkeit, mit den Trotzkisten und den Sinowjewisten zusam-
menzuarbeiten.
Ich erklärte mich damit einverstanden, den Kontakt mit der Versöhnler-Fraktion
wieder aufzunehmen, vom ersten Moment an jedoch stellte ich mich vehement gegen
jede Allianz und jeden Kontakt mit den Trotzkisten und den Sinowjewisten und ich
teilte diese Meinung sofort Heller46 und Holm mit, die in Zürich waren.47 Zürich wurde
zu einem Zentrum des Zusammenschlusses der Versöhnler.48 Während des Jahres 1933
Versöhnler” verurteilt. Abdruck in: Archives de Jules Humbert-Droz, III, S.316–341. Seine folgende
Unterwerfungserklärung siehe ebd., S. 341–343.
45 Die „Berliner Opposition“ um Karl Volk und Georg Krausz (in der auch Heinz Brandt Mitglied war)
setzte die Parteitradition der „Versöhnler“ fort (siehe Dok. 424). Bis auf den Unterbezirk Adlerhorst
wurden die meisten offiziellen Widerstandsgruppen bzw. Berliner Unterbezirke in den Jahren 1936–
1937 zerschlagen. „Noch die größten übergreifenden Erfolge in der Untergrundarbeit in Berliner
Betrieben zur Mitte der dreißiger Jahre zeigten zwei kommunistische Tendenzen, die konträr zur
stalinistischen Generallinie der KPD bzw. Kommunistischen Internationale lagen. Es handelte sich
um die unterdrückte innerparteiliche Fraktion der gemäßigten ‚Versöhnler’, die sich noch einen
gewissen Realismus bewahrt hatten (...)“ (Sandvoß: Die andere Reichshauptstadt, S. 546f., der jedoch
die Berliner Opposition bzw. die „radikalen“ Versöhnler nicht thematisiert).
46 Otto Heller (1897–1945, im Konzentrationslager Ebensee). Tschechisch-österreichisch-deutscher
Kommunist, Mitglied der KP der Tschechoslowakei, dann der KPD. Redakteur der Deutschen Zentral-
Zeitung in Moskau. Verschiedene Missionen in Frankreich und Spanien. Nach Internierung in der
französischen Résistance aktiv, starb im KZ Ebensee.
47 Hans Holm (1895–1981), Hamburger Sozialdemokrat, 1919 KPD, zeitweise Kominternfunktionär,
Leiter des “Neuen Deutschen Verlags” (Münzenberg) und der “Universum Bücherei für alle”.
“Versöhnler”, nach dem Krieg in der DDR Verlagstätigkeit, zugleich betroffen von Parteisäuberungen.
48 In Zürich fanden 1933 zwei „Versöhnlerkonferenzen“ statt (siehe hierzu: Bayerlein: Die unbekannte
Geschichte, S. 330f.).
1432 1933–1939
habe ich dort mehrere Male Volk, Baudisch,49 Otto Heller, Hans Holm, Hans Schröter,50
René Begun51, Paul Becker,52 Hans Glaubauf53 und einige Genossen aus Hannover und
Hamburg (Wessermann) [d.i. Hans Westermann].54 Darüber hinaus Winterfeld,55 den
mir Volk als denjenigen vorstellte, der die fraktionelle Arbeit finanzierte.56 Wir hatten
keine Verbindung mit ehemaligen Mitgliedern der Versöhnler-Fraktion, wie Eberlein,57
der von Volk als korrumpiert und wenig zuverlässig eingeschätzt wurde, und Süßkind,
der aus der Fraktion in Deutschland in Folge der Rivalität mit Volk ausgeschlossen
wurde.58 Volk wollte mich zu einer Art internationalem Sekretär der Fraktion machen
und bot mir einen regelmäßigen Lohn an – ich besaß damals keine bezahlte Aufgabe
und war ohne Arbeitslosenunterstützung. Ich habe es immer zurückgewiesen, ein
bezahlter Angestellter der Fraktion zu werden.
49 Paul Baudisch (1899–1977). Österreichischer Autor, Essayist und Drehbuchautor. Mitte der 1920er
Jahre KPD; Emigration über Wien, Frankreich nach Schweden. P.E.N.-Mitglied in Deutschland nach 1945.
50 Johannes Schröter (1896–1963). Deutscher Gewerkschafter. In der KPD „Polleiter“ in Halle, 1928
Reichstagsmitglied, spielte als „Versöhnler“ eine wichtige Rolle gegen Thälmann. Verheiratet mit
Henriette Begun. Später in Mexico und den USA.
51 Dr. med. René Begun, d.i. Henriette Schröter, geb. Begun (Ps. René) (geb. 1899). Bis 1933 KJVD-
Funktionärin, Emigration über die USA nach Mexiko, wo sie nach 1945 blieb.
52 Paul Becker: Möglicherweise Verwechslung mit Karl Albin Becker (1894–1942, in Deutschland
hingerichtet), 1912 SPD, 1919 KPD-Gründer und Parteiredakteur, anfänglich Wortführer der “Versöhnler”.
1941 von der Vichy-Regierung nach Deutschland ausgeliefert und nach Todesurteil hingerichtet.
53 Hans Glaubauf (1901–1942, in Deutschland hingerichtet). Deutsch-böhmischer Kommunist. Doktor
der Politikwissenschaft, Publizist. Seit 1924 Tätigkeit im Moskauer Marx-Engels-Insititut, teilweise auch
im Kominternapparat tätig. Später in Frankreich interniert, dann Feiwilliger der Tschechoslowakischen
Legion, nach Festnahme durch die Gestapo und politischem Prozess exekutiert.
54 Hans Westermann (1890–1935, im Konzentrationslager Fuhlsbüttel ermordet). Nach dem Ersten
Weltkrieg Anführer der revolutionären Seeleute in Hamburg. In der KPD zu den “Versöhnlern”
gerechnet. Nach 1933 im Widerstand, wird jedoch von der eigenen Parteiführung (Pieck) öffentlich
denunziert und daraufhin von den Nationalsozialisten verhaftet; nach erneuter Festnahme 1935 im
Konzentrationslager Fuhlsbüttel ermordet.
55 Robert David Winterfeld (Ps. Robert Gilbert) (1899–1978), Künstler, Chansonnier und Komponist,
Librettist. Sohn von Max Winterfeld (Ps. Jean Gilbert). Setzte sich vom Luxusleben seines Vaters ab,
komponierte Arbeiterlieder, die Operette „Das Weisse Rössl“ und Chansons, darunter einige Welthits
(„Liebling, mein Herz lässt Dich grüssen“). Emigration 1933 nach Wien, 1938 Frankreich, 1940 USA.
56 Robert Winterfeld finanzierte teilweise die Kommunistische Partei (Opposition), aber auch die
Gehälter von „Versöhnlern“ (J. Humbert-Droz: Mémoires, III, 88ff.).
57 Hugo Eberlein, der einzige KPD-Delegierte auf dem Gründungskongress der Komintern (siehe
seinen Bericht, Dok. 14) arbeitete als Beauftragter der Komintern für das Verlagswesen. Nach seiner
Flucht nach Moskau im August 1936 verhaftet. Nach wochenlangen Torturen 1939 Straflager Workuta,
nach Todesurteil im Oktober 1941 erschossen.
58 Heinrich Süßkind (siehe Dok. 387), einer der historischen Führer der „Versöhnler“; trotz „Kapitulati-
on“ 1935 wurde er von der KPD-Führung weiterhin kriminalisiert und ausgeschlossen, 1937 in der Sow-
jetunion erschossen (siehe: W. Pieck: Gegen die ‘versöhnlerischen’ Schmuggler. In: Die Kommunistische
Internationale (1935), H. 2, S. 154f.). Im November 1936 zusammen mit Béla Kun in Moskau verhaftet und
nach über einem Jahr grausamer Verhöre als „Trotzkist“ und wegen Verbindungen zur „Terrororganisa-
tion der Rechten“ am 3.10.1937 erschossen.
Dok. 434: O.O.u.o.D., [nach dem 19.3.1938] 1433
Während dieser Diskussion wurde ich im Allgemeinen durch Otto Heller, Hans
Schröter, Paul Becker, Hans Glaubauf unterstützt, während Baudisch und Winterfeld
den stärker fraktionistischen Standpunkt von Volk unterstützten. Ich bin der Über-
zeugung, dass Volk mit der Gruppe Neumann in Verbindung stand, die sich seinerzeit
in Zürich befand. Ich selbst, habe Neumann in Zürich nie gesehen und stand weder
direkt noch indirekt in Verbindung zu ihm.
Ich habe dagegen mehrere Male aus Gründen, die mit der Arbeit zu tun hatten,
Eberlein und Henry Kurella60 gesehen, der in der RUNA arbeitete und Neumann traf.
Mit Kurella habe ich niemals über Fraktionsarbeit gesprochen. Mit Eberlein habe
ich einige Male über die Arbeit der Versöhnler gesprochen. Ich habe darüber auch
59 Heinz Neumann wurde nach einer Kominternmission in Spanien 1933/1934 nach Zürich abgescho-
ben und Ende 1934 von der dortigen Fremdenpolizei in Abschiebehaft genommen. NS-Deutschand ver-
langte seine Auslieferung, bis die Sowjetunion, wo er zwei Jahre später erschossen wurde, ihm Asyl
anbot (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 634ff.).
60 RUNA: Die Rundschau-Nachrichten-Agentur, die von Zürich und Basel aus die Kominternzeitschrift
Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, das Nachfolgeorgan der Inprekorr,
sowie ein Pressebulletin herausgab (siehe: Irén Komját: Die Geschichte der Inprekorr. Zeitung der
Kommunistischen Internationale. 1921–1939, Frankfurt am Main, Verlag Marxistische Blätter, 1982
(Marxistische Paperbacks. Beiträge zur Geschichte, 104).
1434 1933–1939
mit Harry gesprochen, der seinerzeit für das ZK der italienischen Partei arbeitete.61
Mehrere Male habe ich mit Komjat gesprochen und dabei die Politik der KI energisch
kritisiert, ohne jedoch mit ihm über die Arbeit der Versöhnler zu sprechen.62
Volk hatte ebenfalls die Absicht, sich in Frankreich Doriot anzunähern, der sich
in Opposition mit dem ZK der französischen Partei befand. Ich habe ihn vor einem
solchen Vorgehen gewarnt und weiß nicht, ob ein solches erfolgt ist.63
Es war niemals die Rede von Verbindungen mit der Gruppe Bucharins, jedoch
bin ich heute der Überzeugung, dass die Vorgehensweisen, die von Volk anfangs 1933
versucht wurden, um mich in einen antistalinistischen Block mit den Trotzkisten und
Sinowjewisten einzubauen, von Bucharin inspiriert waren.64
Als ich zum 13. Plenum abreiste, sagte mir Volk, dass Magyar ein Vertrauens-
genosse sei, mit dem ich sprechen könnte.65 Auf dem 13. Plenum jedoch verteidigte
Magyar so vollständig die offizielle Linie der KI, dass ich davon ausging, dass Volk
sich geirrt hatte, und ich habe mit Magyar nicht über Fraktionsarbeit gesprochen.
Während des 13. Plenums wurde ich von zahlreichen Rednern direkt und häufiger
angegriffen: Manuilski, Knorin, die sich mit schwerwiegenden Drohungen an mich
wandten. Ich war der Überzeugung, dass meine fraktionelle Tätigkeit mit den Ver-
söhnlern dem EKKI bekannt war und dass diese Arbeit zu meinem Ausschluss aus der
61 Die Identität von „Harry“ ist nicht gesichert. Harry war das u.a. von Arthur Ewert (1890–1959)
benutzte Pseudonym (Harry Berger) der 1928 als “Versöhnler” Hauptgegner Thälmanns im Politbüro
der KPD war. Er wurde von der Komintern abgeschoben und u.a. nach China und Brasilien geschickt.
62 Aladár Komját (1891–1937). Ungarischer Journalist und Schriftsteller, 1918 Mitglied der KP Ungarns
und der KPD (1918), später der KP Frankreichs; 1925–1936 „erste und unentbehrliche Arbeitskraft“
(Julius Alpári) in der Inprekorr- bzw. Rundschau-Redaktion.
63 Jacques Doriot (siehe Dok. 389), zunächst umjubelter kommunistischer Bürgermeister von St
Denis als Vertreter einer Einheitsfront mit den Sozialisten. Nachdem er mit der Komintern in Konflikt
geraten war, gründete er nach Ausschluss die nationalistische, später profaschistische Französische
Volkspartei (Parti Populaire Français).
64 Dass Bucharin Inspirator eines solchen Blocks gewesen sei, gehört wohl in den Bereich der Feind-
konstrukte zur Präparierung des gefälschten 3. Moskauer Prozesses im März 1938 gegen 21 führende
sowjetische Kommunisten als Mitglieder eines „Blocks der Rechten und Trotzkisten“ (vgl. Die Beiträge
von Hermann Weber und Jakov Drabkin in Bd. 1). Andererseits gibt es Spuren eines umfassenderen
antistalinistischen Oppositionsblocks in der Sowjetunion aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre mit den
Hauptströmungen um Trotzki, Martem’jan Rjutin (der früher mit Bucharin verbunden war, vgl. Dok.
254) und Ivan Smirnov. Der französische Historiker Pierre Broué geht davon aus, dass die Aufdeckung
und Zerschlagung der Gruppe um Rjutin im Jahr 1932 Stalin und seine Kreise in Panik versetzt und sie
in ihrer teils paranoiden, teils real begründbaren Furcht bestärkt habe, dass die reumütigen ehemaligen
Parteioppositionellen aus den vorangegangenen Zeitabschnitten lediglich auf eine Gelegenheit gewar-
tet hätten, um ihre oppositionelle Tätigkeit fortzusetzen und ihn von der Machtposition zu verdrängen
(Broué: Histoire de l’Internationale Communiste, S. 711f., siehe zu den unterschiedlichen Forschungs-
thesen im Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 355f.; vgl. die Plattform des oppositionellen „Bundes der
Marxisten-Leninisten“ von 1932, Dok. 299).
65 13. Plenum: Gemeint ist das 13. EKKI-Plenum, das vom 28.11.-12.12.1933 in Moskau stattfand. Dort
wurde zwar ein verstärkter Kampf gegen den Faschismus gefordert, doch der Hauptschlag immer
noch gegen die Sozialdemokratie und den Trotzkismus als Hauptfeinde ausgerichtet.
Dok. 435: [Moskau], 20.3.1938 1435
Partei führen würde. Ich entschied folglich während des 13. Plenums mit jeder frak-
tionellen Bindung zu brechen und zur Parteidisziplin zurückzukehren. Bei meiner
Rückkehr in die Schweiz habe ich noch den Besuch von Baudisch empfangen, dem
ich erklärte, dass ich keine Fraktionsarbeit fortführen die Absicht hatte, die nur
dazu führte, uns aus der Partei ausschließen zu lassen und uns jede Möglichkeit zu
nehmen, eine Wendung herbeizuführen. [...]
Wie ich mich bereits vor mehreren Jahren von der Richtigkeit der Politik Stalins
in der Sowjetunion überzeugt hatte, trennte mich nichts mehr vom EKKI und vom ZK
der KP der UdSSR und es war voller Ehrlichkeit, dass ich die Arbeit in der Führung der
kommunistischen Partei der Schweiz und meine Zusammenarbeit mit der KI wieder
aufgenommen habe.66
Dok. 435
Anweisungen der Komintern an Bohumir Šmeral zur Liquidierung
der antifaschistischen Münzenberg-Verlage und Netzwerke
[Moskau], 20.3.1938
1/Bö
20.III.1938
Vertraulich!
[hdschr.:] Anweisungen für Gen. Šmeral.67
1./ Gen. Šmeral soll von nun an alle Beziehungen mit Willi Münzenberg abbrechen.
An den Büroräumen und an der „Edition“, die sich juristisch in den Händen von Mün-
zenberg befinden, soll er sich desinteressieren. Auch die in diesem Büro und in der
66 In der Folge seiner „Abschwörung“ wird Humbert-Droz auch in der KP der Schweiz weiter –
besonders von Karl Hofmaier – bekämpft; er verliert nicht nur seine Position an der Parteispitze,
und wird Anfang 1943 schließlich ausgeschlossen. Im gleichen Jahr tritt er in die Sozialistische Partei
der Schweiz ein und wird einer ihrer Zentralsekretäre (cf. Bayerlein/Studer: Jules Humbert-Droz. In:
José Gotovitch, Claude Pennetier: Dictionnaire Biographique du mouvement ouvrier international.
Dictionnaire biographique de l’Internationale communiste en France, en Belgique, au Luxembourg,
en Suisse et à Moscou. 1919–1943, Collectif éditorial Sylvain Boulouque, Michel Dreyfus, José
Gotovitch, Peter Huber, Mikhaïl Narinski, Claude Pennetier, Brigitte Studer, Henri Wehenkel, Serge
Wolikow, S. 339–343. CD in: Serge Wolikow: L’Internationale communiste (1919–1943). Le Komintern
ou le rêve déchu du parti mondial de la révolution, Iyry-sur-Seine, Editions de l’Atelier, 2010.).
67 Šmeral war bereits im Dezember 1936 im Auftrag der Komintern nach Paris geschickt worden,
um die Unternehmungen im Umkreis von Münzenberg zu kontrollieren, die entweder ihm übergeben
oder aufgelöst werden sollten. Personal sollte entlassen, unliebsame Personen „gesäubert“ werden
(siehe auch Dok. 396).
1436 1933–1939
Edition Carrefour noch angestellten Personen haben von nun an mit ihm nichts mehr
zu tun.68
2./ Gen. Thorez wird beauftragt,69 mit Heinrich Mann, Feuchtwanger, Langewin [d.i.
Paul Langevin],70 Francis Jourden [d.i. Jourdain],71 evtl. mit Pierre Cot72 zu sprechen,
um sie über die Lage von Münzenberg zu informieren und sie in entsprechender
Weise zu beeinflussen, damit die Liquidierung der Frage Münzenberg in der deut-
schen Volksfront, in den Kreisen der französischen Volksfront und in den verschie-
denen Komitees keine, oder möglichst geringe Reibungen hervorrufe. Aehnliche
Besprechungen soll Šmeral auch mit Breitscheid, Madame Duchene73 und Luis74
durchführen.
3./ vor seiner Abreise soll Šmeral mit den deutschen Genossen darüber sprechen, in
welcher Form die Liquidierung der Münzenberg-Frage in P[aris] behandelt werden
68 Gemeint sind die Editions du Carrefour (siehe Dok. 398), der von Münzenberg und Babette Gross
aufgebaute wichtigste literarische Exilverlag im Umkreis der Komintern.
69 Maurice Thorez (1900–1964) war der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs,
ähnlich wie sein älteres alter ego Ernst Thälmann zum sozialistischen Helden hochstilisiert („Sohn
des Volkes“). Er unterstützte 1934 die Einheitsfront von KPF und Sozialistischer Partei, wie auch die
Volksfrontregierung unter Léon Blum.
70 Paul Langevin (1872–1946) war ein französischer Physikprofessor, der u.a. mit Einstein
zusammenarbeitete. Als überzeugter NS-Gegner gründete er 1934 ein antifaschistisches Comité de
vigilance („Wachsamkeitskomitee“). Siehe: Bernadette Bensaude-Vincent: Langevin, Science et
Vigilance, Paris, Belin, 1987.
71 Francis Jourdain (1876–1958) war ein fortschrittlicher, modernistischer Designer, Maler, Graveur
und Architekt in Frankreich. Über den Anarchimus und Sozialismus gelangte er zur Kommunistischen
Partei und animierte seit 1932 mit André Gide, Louis Aragon und Paul Vaillant-Couturier die
Association des écrivains et artistes révolutionnaires (AEAR). Siehe: Arlette Barré-Despond, Suzannne
Tise: Jourdain, éditions du Regard, 1988.
72 Pierre Cot (1895–1977), Französischer radikalsozialistischer Politiker, der sich vom Anhänger der
Revanche-Politik im Ersten Weltkrieg nach links entwickelte und sich seit 1933 den Positionen der
Kommunistischen Partei annäherte. U.a. Luftfahrtminister in der Volksfrontregierung. Spätestens nach
seiner Emigration in die USA ist er für den sowjetischen Geheimdienst tätig, besonders im Umkreis
De Gaulles. 1953 erhielt er den Stalin-Preis (siehe: Herbert Romerstein, Eric Breindel: The Venona
Secrets. Exposing Soviet Espionage and America’s Traitors, Washington DC, Regnery, 2000, S. 56f.; die
Agentätigkeit wird bestritten in: Sabine Jansen: Pierre Cot, un antifasciste radical, Paris, Fayard, 2002).
73 Gabrielle Duchêne (1870–1954), französische Feministin, die eine Symbiose von Pazifismus und
(kommunistisch beeinflußtem) Antifaschismus verkörperte und als Gesellschaftsmodell anstrebte.
Als „fellow traveller“ der KPF war sie führend im Weltkomitee der Frauen gegen Krieg und Faschis-
mus tätig (Comité mondial des femmes contre la guerre et le fascisme, CMF). Siehe: Francis Jourdain:
Gabrielle Duchêne (1870–1954). In: La pensée. Revue du rationalisme moderne (1954), n° 58, 1954;
Emmanuelle Carle: Gabrielle Duchêne et la recherche d’une autre route. Entre le pacifisme féministe
et l’antifascisme, Univ. Diss., History Department, McGiII University, Montreal, 2005.
74 „Luis“ war das Pseudonym des Argentiniers Vittorio Codovilla (1894–1970), der bis 1941 in
höchst unterschiedlichen Missionen für die Komintern (möglicherweise auch für die sowjetischen
Dienste) und anschließend als Generalsekretär der KP Argentiniens tätig war. Er war ebenfalls für
Peripherorganisationen wie die Liga gegen Imperialismus, die Amsterdam-Pleyel-Bewegung und die
Internationalen Roten Hilfe zuständig (Lazitch/Drachkovitch: Biographical Dictionary, S. 180f.).
Dok. 435: [Moskau], 20.3.1938 1437
6./ Gemeinsam mit dem jetzt in Paris sich befindenden Genossen Raymond81 soll
Genosse Šmeral beschleunigt einen Antrag zur Umorganisierung, evtl. Uebersiedlung
des internationalen Zentrums für die Studentenarbeit (Gen. Victor) ausarbeiten82 und
dem Sekretariate vorzulegen.83
7./ Die Fragen der internationalen Zentren für die Jugendarbeit und der Gottlosenbe-
wegung werden nach Anhörung der hier anwesenden Genossen Marcel und Jansen
später entschieden.
8./ Mit dem Albaner Fundo (Trotzkist) soll Genosse Šmeral alle Beziehungen abbre-
chen. Šmeral und Richard sollen Fundo isolieren und sich mit anderen zwei in P[aris]
lebenden verlässlichen albanischen Freunden verbinden.84 Der alte Albaner Pejani
soll dazu gebracht werden, dass er möglichst bald nach Albanien übersiedele. Bis zu
dieser Uebersiedlung soll er als Politemigrant von der Pariser MOPR-Stelle in bisheri-
ger Höhe unterstützt werden.85
9./ Genosse Šmeral soll die Arbeit von Miglioli überprüfen. U. a. soll er feststellen,
wie es mit dem agrarischen Zentrum steht,86 warum das Journal nicht herausgegeben
wird, welches ist der wirkliche Standpunkt Migliolis zur Intervention des italienischen
und deutschen Faschismus in Spanien, welche Motive seinen Widerstand gegen RUP
und gegen die agrarische Kommission derselben bestimmen. Es ist Kurs darauf zu
halten, dass Miglioli nicht ganz selbständig arbeitet, sondern dass er einen festen,
ganz verlässlichen, nach Möglichkeit französischen Genossen neben sich bekommt.
10./ Der Genosse Šmeral soll überprüfen, ob die Liquidierung der Internationale der
Seeleute durchgeführt ist.87 Wenn zur endgültigen Liquidierung eine Hilfe notwendig
wäre, soll er sie bis zum Betrage von 3.000 frz. Franken selbst beschaffen.88 Wenn
bedeutend mehr notwendig wäre, ist Genosse Gaston verpflichtet, die notwendige
Deckung mit Hilfe von Maurice [Thorez] zu beschaffen.89
11./ In Anbetracht der ausserordentlichen Wichtigkeit der chinesischen Arbeit wird
die französische Partei verpflichtet, anstatt des Genossen Cogniot90 einen anderen
fähigen und autoritativen Genossen für die systematische verantwortliche Leitung
dieser Arbeit zu bestimmen. Mit Hilfe des Pariser Chinesischen Komitees soll
beschleunigt ein internationales Sekretariat in London gebildet werden.91 Das setzt
die Existenz eines chinesischen Komitees auch in England voraus. Solche Komitees
sollen auch in anderen wichtigen Ländern gebildet werden.
[hdschr.:] 20.3.38
D.Dimi[trov]
Gottwald
Agrarinstituts (F. Andreucci, T. Detti: Dizionario biografico, III, 460–469; A. Fappani: Guido Miglioli e
il movimento contadino, Roma, cinque lune, 1978).
87 Die Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter (ISH) (siehe Dok. 360) wurde offiziell am 27.5.1937
durch das EKKI-Sekretariat aufgelöst: „Since 1933, the former global network was barely functioning.
Most of the Inter-Clubs, apart from those in Marseilles, Rouen, Dunkirk, Rotterdam, New York, Copen-
hagen, Esbjerg and Stockholm, did not exist anymore due to the lack of financial support from the ISH
Secretariat. The final count-down of the ISH was not even documented. It seems that the ISH Secretariat
ceased to be in operation by mid-1936. In Moscow, the dissolution of the RILU Apparatus was reaching
its final act in 1937 (Holger Weiss: The Hamburg Committee, Moscow and the Making of a Radical Afri-
can Atlantic, 1930–1933, Part Two: The ISH, the IRH and the ITUCNW, CoWoPa Comintern Working Paper
20/2010, Abo Academy, https://www.abo.fi/student/en/media/7957/cowopa20weiss.pdf).
88 „Frz. Franken“ handschriftlich eingefügt.
89 Gaston (Ps.). Möglicherweise Georges Maranne (1888–1976); Maurice: Maurice Thorez.
90 Genosse Cogniot: D.i. Georges Cogniot (1901–1978). ZK-Mitglied der KPF und Parteivertreter bei der
Komintern 1936–1939, danach Chefredakteur der Parteizeitung l’Humanité. Cogniot kontrollierte im
Auftrag der Komintern die Ausländer in den Massenorganisationen (Gotovitch(Pennetier: Dictionnaire
biographique de l’Internationale communiste; CD in: Wolikow: L’Internationale communiste).
91 Pariser chinesisches Komitee: Im Zuge der Konstituierung der „antijapanischen Einheitsfront“ mit
der Kuomintang im Krieg gegen Japan wurden in Paris wie in London und New York Sektionen der
Vereinigung der Freunde des chinesischen Volkes aktiviert; darüber hinaus war Paris Sitz der Föderation
der Chinesischen Vereinigungen in Europa für die Rettung des Vaterlands (Fédération des Associations
chinoises en Europe pour le sauvetage de la patrie), die von der französischen Kommunistin Etienne
Constant geleitet wurde (siehe: Maitron/Pennetier: Dictionnaire Biographique, S. 144–146).
1440 1933–1939
Ein Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion vom 26.3.1938 beendete die über 10-jäh-
rige Existenz der Internationalen Lenin-Schule der Komintern. Begründet wurde die Schließung da-
mit, dass die Kader auch in ihren Heimatländern vorbereitet werden könnten. Alle Schüler sollten bis
zum 1. Juni abgeschoben werden.92
„Angesichts der Vernichtung Österreichs als eines selbständigen Staates“ beschloss das Politbüro
des ZK der KP der Sowjetunion am 27.3.1938, die sowjetische Botschaft in Wien aufzulösen. Auch als
Konsulat sollte sie nicht weitergeführt werden.93
Dok. 436
„Demoralisierung“ und „Gefühl völliger Hilflosigkeit“:
Eugen Vargas Brief an Stalin über Massenverhaftungen von
Politemigranten und den Ausländerhass in der Sowjetunion
[Moskau?], 28.3.1938
Werter Genosse!
Die Wirkung Ihres hervorragenden Briefes an Gen. Ivanov hat leider nicht lange
angehalten.96 Niemand spricht oder schreibt mehr über ihn. Statt der richtigen Kom-
92 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 158. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 765.
93 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 159. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 359.
94 Eine Teilübersetzung des Briefes erschien nach Redaktionsschluss des vorliegenden Bandes in:
Hedeler/Münz-Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 198–201.
95 Die Überschrift stammt von Varga. Darüber ist maschinenschriftlich vermerkt: „An Genossen
Stalin I.V. Kopie an Gen. Dimitrov. Kopie an Gen. Ežov.“
96 Gemeint ist der öffentliche Antwortbrief Stalins vom 12.2.1938 an Ivan F. Ivanov, einen Komsomol-
Propagandisten aus der Provinz. Ivanov hatte Stalin geschrieben, er werde, weil er Lenins Aussage
über die Notwendigkeit des Sieges des Sozialismus im Weltmaßstab zitiert habe, von seinen
Parteigenossen als „Trotzkist“ gebrandmarkt, da der Sozialismus doch bereits in der UdSSR aufgebaut
sei. Stalin bejahte in seiner Antwort, dass „die ernste Hilfe des internationalen Proletariats jene Kraft
ist, ohne die die Aufgabe des endgültigen Sieges des Sozialismus in einem Lande nicht gelöst werden
kann“ – wenn auch in Kombination mit der Stärkung der Verteidigungskräfte der Sowjetunion (J. W.
Stalin: Antwort an Genossen Iwanow Iwan Filippowitsch. In: Id.: Werke. Bd. 14: Februar 1934 – April
Dok. 436: [Moskau?], 28.3.1938 1441
1945, Dortmund, Verlag Roter Morgen, 1976, S. 91) ). Offensichtlich interpretierte Varga den Brief als
eine Wiedererstarkung des Internationalismus in der Stalinschen Politik, und erhoffte sich davon
eine größere Wertschätzung der ausländischen Kommunisten in der Sowjetunion.
97 Die ungarische Räterepublik vom März bis August 1919 unter der Führung Béla Kuns war nach
der Russischen Revolution die zweite Proklamierung eines sozialistischen, auf die Diktatur der Räte
gestützten Staates. Sie wirkte zunächst als Fanal für die europäische und Weltrevolution, wurde
jedoch dann im Zuge des ungarisch-rumänischen Krieges von rumänischen Truppen gestürzt.
1442 1933–1939
die Verurteilung ihrer Landsleute geschieht, verbreitet sich unter Ausländern in der
Sowjetunion eine gefährliche Atmosphäre der Panik. Viele erklären die Verhaftun-
gen damit, dass angesichts eines drohenden Krieges die Sowjetregierung nachhaltig
alle Ausländer interniert. „Alles ist nutzlos, wir werden alle interniert, es wäre ehr-
licher, wenn die Regierung uns offen dahin schicken würde, anstatt uns als Feinde
des Volkes zu brandmarken.“ Andere munkeln, dass der NKVD-Apparat immer noch
nicht völlig gesäubert sei und dass die Schädlinge, die früher die Verräter gedeckt
hatten, jetzt ihre Schädlingsarbeit durch die Verhaftung ehrlicher Revolutionäre
durchführen. „Selbst der ehrlichste ausländische Revolutionär kann sich seiner
Freiheit nicht sicher sein.“ Viele Ausländer packen jeden Abend ihre Sachen in der
Erwartung einer möglichen Verhaftung. Viele sind infolge der ständigen Angst halb
verrückt und arbeitsunfähig. Aus diesen Stimmungen folgt, dass die Verhaftung – im
Gegensatz zu einem Jahr vorher – nicht mehr als Schande, sondern als Unglück wahr-
genommen wird. Die Verhafteten werden nicht verachtet, sondern ihnen wird Mitleid
entgegengebracht!
Es ist klar, dass Menschen mit einer solchen Stimmung keine Kader in den schwe-
ren Heimsuchungen des kommenden Krieges sein können.
2) [sic] Den letzten und wichtigsten Teil bilden die Untergrundkader in den faschis-
tischen Ländern selbst. In ihren Reihen muss die allergrößte Verwirrung herrschen.
Sie erfahren über die Massenverhaftungen ihrer Landsleute in der Sowjetunion aus
den Briefen der Angehörigen und aus dem Ausbleiben von Briefen; aus bürgerlichen
Zeitungen; aus den übertriebenen Erzählungen der aus der UdSSR ausgewiesenen;
von Trotzkisten. Sie erhalten dafür keinerlei Erklärungen und können sie auch selbst
nicht finden.
Ich nehme das Beispiel Ungarn, das mir besser bekannt ist.
Die Genossen aus Ungarn erfahren aus der Sowjetunion, dass von den sich dahin
geretteten oder aus den Gefängnissen ausgetauschten Volkskommissaren der unga-
rischen Sowjetrepublik nur 4 in Freiheit sind, jedoch 10 verhaftet sind; dass von den
Gründern der ungarischen kommunistischen Partei (wenn ich mich nicht irre) nur 2
in Freiheit sind, dass einige Hundert ungarische Arbeiter, Politemigranten von der
Werkbank weg verhaftet wurden. Wie können sie sich das erklären?98
Können sie etwa annehmen, dass die ungarische proletarische Revolution von
den Feinden der Arbeiterklasse initiiert wurde? Oder sollen sie etwa denken, dass
der Aufenthalt in der Sowjetunion sie zu Schuften gemacht hat? Oder sollen sie den
Verleumdungen der Trotzkisten glauben, die ihnen zuflüstern, dass sie in der Sowje-
tunion von der „Reaktion“ verhaftet werden, weil sie Revolutionäre sind? Keine von
diesen falschen Erklärungen kann natürlich die Genossen in Ungarn befriedigen. Die
Verwirrung wird noch größer dadurch, dass jeder Verhaftete in Ungarn persönliche
98 Zum gezielten Terror gegen die Führer und Funktionäre der KP Ungarns siehe zuletzt: Gabor
Székely: Béla Kun, György Lukács, Imre Nagy und die Säuberungen in Moskau. In: Jahrbuch für
Historische Kommunismusforschung (2008), S. 329–338.
Dok. 437: Vor dem 23.4.1938 1443
Freunde und Bekannte unter den Arbeitern hat, die beim Ausbleiben jeglicher Infor-
mation in der Schuld der Verhafteten nicht überzeugt sind. Es ist natürlich, dass diese
Arbeiter in dieser Verwirrung sich von der Partei abwenden werden. Die Arbeit der
KP Ungarns und wahrscheinlich aller Untergrundparteien wird dadurch noch mehr
erschwert.
Was kann man tun, um der weiteren Erschöpfung und der Demoralisierung von
Kadern der Untergrundparteien ein Ende zu bereiten?
Natürlich kann keine Rede davon sein, bewusste Feinde zu schonen! Aber folgen-
des wäre möglich:
1) Eine sorgfältige, ohne Hast durchgeführte Überprüfung der verhafteten Auslän-
der, die einen Wert als Kader von Untergrundparteien darstellen könnten. Dazu sollten
die Komintern und die wenigen ausländischen Genossen, bei denen es keine Ver-
dachtsmomente gibt, die Möglichkeit haben, die Organe des NKVD bei dieser Arbeit
mit ihren Erklärungen zu unterstützen.
2) Die ausländischen Genossen in der Sowjetunion und in den faschistischen
Ländern müssen in irgendeiner Form von dieser Überprüfung in Kenntnis gesetzt
werden, um Verfallsstimmungen und Panik entgegenzuwirken.
3) Die Genossen bei uns und im Ausland müssen über belastendes Material in
Bezug auf die Bekanntesten der Verhafteten, die schon verurteilt sind, mittels Bro-
schüren und Vertrauensmeldungen informiert werden (natürlich solange es den lau-
fenden Ermittlungen nicht schadet).
4) Ihr Brief an Genossen Ivanov muss wieder auf die Tagesordnung gesetzt
werden, um dieser Welle des Ausländerhasses in der Sowjetunion entgegenzuwirken.
[sign.] E. Varga
Dok. 437
Bitte Piecks an Dimitrov, sich für die Freilassung von fünfzehn
verhafteten deutschen Kommunisten einzusetzen
Vor dem 23.4.1938
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/73/60, 28. In russischer Sprache publ. in:
Firsov/Endakova/Paradisova u.a.: Mužestvo protiv bezzakonija, S. 91.
Geheim
An Genossen Dimitrov
abteilung kein belastendes Material gegen diese.99 Was die Personen angeht, die
in der Liste unter den Nummern 1 bis 8 aufgeführt sind, so ist das ZK der KPD fest
davon überzeugt, daß sie keinerlei verbrecherische Handlungen gegen die Sowjet-
union ausführen konnten und keine Verbindungen zu feindlichen antisowjetischen
Elementen gehabt haben. Auch in Bezug auf die restlichen Personen, die uns weniger
gut bekannt sind, denken wir, daß sie ebenfalls unschuldig sind. Deswegen bitten
wir Sie, entsprechende Schritte zur Beschleunigung der Untersuchung im Bezug auf
diese Personen zu unternehmen, um ihre Freilassung zu beschleunigen.100
Mit Gruß
PIECK101
99 Als Anlage werden ausführliche Charakteristika von 15 Personen aufgeführt, darunter die des
stellvertretenden Leiters der EKKI-Verlagsabteilung Paul Schwenk (Ps. Scherber), H. Schmitt und der
beiden KPD-Zeugen des Reichstagsbrandprozesses, Willi Kerff und Walter Dittbender.
100 Pieck bemühte sich auch in der Folge um die Freilassung deutscher Kommunisten. In einem Brief
an Manuilski vom 28.5.1939 schrieb er: „Ich hatte am 5. April, im Einverständnis mit dem Genossen
Dimitroff, an den Genossen Berija die schriftliche Bitte gerichtet, mir eine Unterredung mit ihm zu
gewähren, in der ich ihm eine Reihe von Fällen verhafteter Emigranten vortragen wollte, von denen
ich und die anderen verantwortlichen deutschen Genossen in der Komintern überzeugt sind, daß sie
sich keiner verbrecherischen Handlung gegen die Sowjetunion schuldig gemacht haben. Ich hatte
ihm eine Liste von Namen dieser Emigranten mit beigefügter Charakteristik übermittelt. Leider habe
ich bis heute, obwohl nahezu zwei Monate verflossen sind, keine Antwort auf meine Bitte erhalten.
Da ich bereits im vorigen Jahr Mitte April mit dem gleichen Ersuchen mich an Jeschow gewandt hatte
und ebenfalls keine Antwort erhielt, so möchte ich mich in dieser Angelegenheit an den Genossen
Stalin wenden. Aber vielleicht ist es besser, wenn Du zunächst erst mit dem Genossen Berija sprichst,
ob er eine solche Unterredung mit mir machen will oder nicht. Die Angelegenheit ist sehr wichtig, und
ich bitte um Deine Hilfe.“, zit. in: Heinz Kühnrich: Zum Brief Wilhelm Piecks an Manuilski (1939). In:
Neues Deutschland, 12.1.1989, mit der Quellenangabe aus dem IML/Moskau 495/10–9/317, 20.
101 Dimitrov intervenierte für Dittbender beim NKVD, allerdings ohne Erfolg: Am 30.4.1939 informierte
der stellvertretende Vorsitzende des NKVD, Vsevolod Merkulov den Komintern-Generalsekretär, die
Angelegenheit könne nicht „revidiert“ werden (RGASPI, Moskau, 495/73/76, 30) – zwei Tage später
wurde Dittbender zum Tode verurteilt. Von den deutschen Kommunisten, für die sich Pieck und
Dimitrov einsetzten, wurden später lediglich drei freigelassen: Willi Kerff (1939), Harry Schmitt (1940)
und Paul Schwenk (1941).
Dok. 438: [Moskau], 26.4.1938 1445
Dok. 438
„Jeder im Ausland lebende Deutsche ein Gestapo-Agent“: Brief
von Dimitrov an Andrej Ždanov gegen die ausländerfeindlichen
Hetze im Journal de Moscou
[Moskau], 26.4.1938
Geheim
ZK VKP(b) An Gen. Ždanov
Mit Genossengruß,
/G. Dimitrov/
26. April 1938
102 Le Journal de Moscou war eine Wochenzeitschrift für Politik, Ökonomie und Literatur in
französischer Sprache, die in Moskau von 1934 bis 1939 herausgegeben wurde.
103 Im August 1935 wurde der damalige Redakteur des Journal de Moscou, S. Lukʼjanov verhaftet, ein
ehemaliger Emigrant. Ihm wurde vorgeworfen, Spione in der Redaktion geduldet zu haben (RGASPI,
Moskau, 558/11/743, 5–9. Publ. in: Chlevnjuk/Dėvis/Košeleva: Stalin i Kaganovič, S. 530–530). Stalin
monierte in einem Telegramm an Kaganovič die vom ZK nicht sanktionierte Verhaftung, schlug
jedoch den Schriftsteller A. Vinogradov als Nachfolger vor.
1446 1933–1939
Dok. 439
Bericht von Paul Jäkel („Dietrich“) über die Verhaftungen der KPD-
Emigranten in der Sowjetunion
Moskau, 29.4.1938
Streng vertraulich !
Am 27. März 1938 wurde der Frau des verhafteten Willi Kleist (Kerff),105 wohnhaft in
Moskau, Barikowskij Pereulok Nr. 6 von dem Parteisekretär eines Kriegsbetriebes,
Genossen Serdowskij u.a. erklärt:106
„Sie (die Frau Kleist) hätte es als Mitglied der KPdSU wissen müssen, dass alle
Deutschen in der SU Spione sind“.
Auf die Antwort der Genossin Kleist, dass ihr Mann kein Spion sei und im faschis-
tischen Deutschland im Konzentrationslager gesessen habe, wurde ihr von dem
betreffenden Parteisekretär gesagt:
104 Paul Jäkel (1890–1943), der Verfasser des Briefes, war vor 1933 führender KPD-Gewerkschafts-
funktionär in Deutschland, nach seiner Emigration in die Sowjetunion 1934 arbeitete er zunächst in
der Profintern, nach ihrer Auflösung in der Deutschen Vertretung beim EKKI, u.a. als Leiter der Ka-
derabteilung. Er überstand den Stalin-Terror, arbeitete im Krieg als Politinstrukteur unter deutschen
Kriegsgefangenen und starb im Februar 1943 in einem Kriegsgefangenenlager an Typhus (Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 409–410).
105 Willi Kerff (Ps. Kleist, 1897–1979), Lehrer und Kölner KPD-Funktionär, später Sekretär der Land-
abteilung des ZK der KPD, erster Ehemann von Änne Kerff. 1933 verhaftet, Zeuge im Reichstagsbrand-
prozess, nach Freilassung Emigration in die Sowjetunion und Arbeit in der Deutschen Vertretung des
EKKI. Am 24.3.1938 verhaftet, weigerte er sich trotz Folter, ein Geständnis abzulegen. Nachdem sich
Pieck und Dimitrov für ihn eingesetzt hatten (siehe Dok. 437), wurde Kerff 1939 freigelassen. 1947
Ausreise in die SBZ, 1952–1960 stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in Ost-Berlin
(siehe Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 442–443).
106 Willi Kerff war in zweiter Ehe mit der Russin Antonia Kerff-Kleist, geb. Šulkina (1903–1979),
verheiratet (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 443).
Dok. 439: Moskau, 29.4.1938 1447
„Ja, gerade die, die in den Konzentrationslagern gesessen sind, seien von den
Faschisten als Spitzel nach der SU geschickt worden ...“. „Wenn sie verhaftet sind,
können sie im Falle eines Krieges in der SU keinen Schaden anrichten.“
Dass diese Auffassung des Parteisekretärs der KPdSU Genossen Serdowskij nicht
vereinzelt dasteht, zeigt der Leitartikel des „Journal de Moscou“ in der Nr. 19 vom 12.
April 1938. Dort heisst es u.a.:
„In der Wirklichkeit nehmen alle japanischen Residenten im Ausland an der anti-
sowjetischen Spionage teil. Es wäre keinesfalls eine Übertreibung zu sagen, dass jeder
im Auslande lebende Japaner ein Spion ist, ebenso wie jeder im Auslande lebende
deutsche Staatsbürger ein Agent der GESTAPO ist“.107
Da u.a. auch die Zeitung „Journal de Moscou“ vor ihrer Herausgabe durch Glawlit
geprüft wird,108 ist anzunehmen, dass diese Auffassung „das alle im Auslande leben-
den deutschen Staatsbürger Agenten der GESTAPO sind“, eine offizielle ist.
Wenn man damit im Zusammenhang nachstehende Ziffern über die durchge-
führten Verhaftungen von Deutschen in der SU genauer betrachtet, kann man zu
der Meinung kommen, dass diese Zahlen in der gleichen Linie mit der Auffassung
des oben genannten Parteisekretärs und der Zeitung „Journal de Moscou“ liegen. So
wurden bis zum 28. April 1938 bei der Deutschen Vertretung beim EKKI 842 verhaftete
Deutsche gemeldet.109 Das sind aber nur solche Verhafteten, die bei der Deutschen
Vertretung beim EKKI registriert sind. Die wirkliche Zahl der verhafteten Deutschen
107 Zum ominösen Artikel im Journal de Moscou und der Kritik Eugen Vargas und Dimitrovs siehe
Dok. 438.
108 Glavlit, volle russische Bezeichnung Glavnoe upravlenie po delam literatury i izdatel’stv
(„Hauptverwaltung für Literatur- und Verlagsangelegenheiten“), war die von 1922 bis 1989 bestehende
sowjetische Zensurbehörde, die die Vorabzensur für Druckveröffentlichungen durchführte.
109 Die hier und im Weiteren geschilderten Zustände in der deutschen Emigration haben ihren
Ursprung u.a. in dem Brief Belovs (d.i. Georgi Damjanov), dem Leiter der EKKI-Kaderabteilung
seit 1937, an die Komintern-Führung vom 15.9.1937, der eine Generalüberprüfung aller deutscher
Politemigranten ankündigte: „Unverzüglich das zur Verfügung stehende Material über die deutschen
Politemigranten bis zu Ende prüfen [...]. In der Kommission für Politemigranten über das weitere
Schicksal eines jeden der hier aufgeführten Personen entscheiden.“ Dabei sollte eng mit den
sowjetischen Organen kooperiert werden: Man hatte „c) den Organen des NKVD Anweisung zu
geben, allen in der UdSSR belassenen Ausländern entsprechende Dokumente auszuhändigen, in
denen der Ort, wo sie wohnen dürfen, angegeben ist; d) den entsprechenden sowjetischen Organen
Anweisungen zu geben über Wohnort und Arbeitsvermittlung für Familienangehörige von Personen,
die das NKVD verhaftet hat.“ Bereits zu diesem Zeitpunkt war die materielle und psychische Lage
der politischen Emigranten extrem desolat, bedingt vor allem durch den massenhaften Verlust von
Arbeitsplätzen: „Fast überall entläßt man Ausländer und Personen ausländischer Herkunft. Es sind
vorliegenden Angaben zufolge im Marx-Engels-Lenin-Institut unlängst alle ausländischen Mitarbeiter
entlassen worden. Im Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik wurden unlängst 20 Stellen gekürzt,
in der Mehrzahl betraf es Ausländer und Personen ausländischer Herkunft. Auch in Betrieben werden
Ausländer entlassen.“ (RGASPI, Moskau, 495/10a/394, 43/47. Teilw. publ. in: Oleg Dehl: Deutsche
Politemigranten in der UdSSR: Von Illusionen zur Tragödie, in: Neues Leben, Moskau, 1996, H. 5, S. 7,
H. 6, S. 7, H. 7. S. 7–8; vollständig in: Utopie kreativ (1997), H. 75, S. 48–63).
1448 1933–1939
ist natürlich höher. Von Oktober 1937 bis Ende März 1938 betrug die Zahl der Verhaf-
teten 470. Allein im Monat März 1938 wurden rund 100 verhaftet. Am 9. März 1938
wurden aus dem Politemigrantenheim in Moskau 13, am 11. März 17 und am 12. März
12 Politemigranten verhaftet. Am 23. März wurden die letzten männlichen Politemig-
ranten aus dem PE-Heim verhaftet. (der Genosse Louis Ebner befand sich zu der Zeit
im Sanatorium.)110 In der Provinz, z.B. in Engels, ist kein einziger deutscher Genosse
mehr in Freiheit.111 In Leningrad betrug die Gruppe deutscher Parteigenossen Anfang
1937 rund 103 Genossen, im Februar 1938 waren es nur noch 12 Genossen.
Diese Zahlen wi[e]derspiegeln sich auch in der Beitragszahlung. Während Anfang
1937 rund 1300 KPD-Mitglieder ihre Beiträge an die Deutsche Vertretung beim EKKI ent-
richteten, gibt es jetzt nur noch 378 zahlende Mitglieder. Davon haben 17 in diesem Jahr
noch keine Beiträge bezahlt. Da wir auch sonst von diesen 17 nichts hören, wissen wir
nicht, ob sie überhaupt noch da sind. Dazu kommen noch 3 Genossen: Berta Köppe,
die seit Juli 1937, Elise Schütz und Erich Wundersee,112 die seit Ende 1937 nicht bezahlt
haben. Von den zahlenden Mitgliedern befinden sich 335 in Moskau (einschliesslich der
20 Genossen, die in diesem Jahr noch nicht gezahlt haben) und 43 in der Provinz. Davon
werden in Gruppenkassierung 129 erfasst. Alle anderen sind Einzelzahler. Die Beitrags-
einnahmen sind von 10.000 Rubel Anfang 1937 auf 3.000 Rubel im Monat April 1938
zurückgegangen. In diesem Jahr wurden eingenommen: Im Januar 6.783,40 Rubel, im
Februar 4.226,75 Rubel, im März 3.377,65 und im April 3.916,10 Rubel. Unter den Verhafte-
ten befindet sich eine bedeutende Anzahl Jugendlicher, die zum Teil noch Kinder waren,
als sie in die SU gekommen sind. So u.a. der Sohn des Genossen Max Maddalena,113 der
Sohn des Genossen Heinrich Schmitt,114 beide Söhne von Max Seydewitz usw.115
110 PE-Heim: Gemeint ist das Politemigranten-Wohnheim der MOPR in Moskau, in dem ständig
ca. 200 Personen lebten (siehe Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 28). Louis Ebner war Leiter der
Einrichtung (Meschkat/Buckmiller: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Ebner, Louis“).
111 Zur Verfolgung deutscher Politemigranten in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen
siehe u.a. Dok. 399.
112 Erich Wundersee (1889–1979), Angestellter der Parteischule der Komintern, wurde erst nach dem
deutschen Angriff auf die Sowjetunion, am 23.6.1941 verhaftet. Bis 1949 im Lager, konnte er erst 1957 in die
DDR ausreisen (Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 166; Hedeler/Münz-Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 242).
113 Der Sohn Max Maddalenas, Max Maddalena jun. (1917–1942, in sowjetischer Verbannung), kam über
die Vermittlung der IRH nach Moskau, wurde dort am 12.3.1938 als angebliches Mitglied der „Hitlerjugend“
verhaftet, zunächst wieder freigelassen, doch im September 1941 erneut festgenommen wegen
„antisowjetischer Agitation“. Zu fünf Jahren Verbannung nach Sibirien verurteilt, starb er am 14.7.1942.
114 Harry Schmitt (1919–1999), der Sohn Heinrich Schmitts, kam 1933 mit der Familie in die
Sowjetunion und arbeitete als Schlosser in einer Forschungseinrichtung. Am 17.2.1938 verhaftet, nach
schweren Folterungen zu 5 Jahren Lagerhaft verurteilt. 1940 nach Intervention Dimitrovs und Piecks
entlassen (siehe Dok. 437), kämpfte er als Freiwilliger in der Roten Armee, nach dem Krieg Funktionär
der westdeutschen KPD, später Leiter der geheimen Militärorganisation („Gruppe Ralf Foster“) der
DKP (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 807).
115 Die Söhne von Max Seydewitz, Frido (geb 1919) und Horst (1915–1997) wurden 1938 vom NKVD
verhaftet und zu Lagerhaft verurteilt – ersterer in Vorkuta, letzterer auf Kolyma. Sie kehrten 1948 bzw.
1949 in die SBZ zurück (Hedeler/Münz-Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 239).
Dok. 439: Moskau, 29.4.1938 1449
Man kann sagen, dass über 70% der Mitglieder der KPD verhaftet sind. Wenn die
Verhaftungen in dem Umfang wie im Monat März 1938 ihren Fortgang nehmen, so
bleibt in drei Monaten kein einziges Parteimitglied mehr übrig. Von den 841 Verhafte-
ten sind 8 Genossen wieder aus der Haft entlassen worden.
116 In einem Brief an den „Werten Genossen Stalin“ schrieb Ella Henrion, die Frau des verhafteten
Kaderreferenten der KPD Georg Brückmann: „Ich möchte einmal ganz offen die Stimmung unter den
deutschen Genossen schildern. Ich denke, daß ich damit nichts Schlimmes tue. Es gibt fast keine
deutsche Familie, die nicht irgendwie von Verhaftungen betroffen ist. Sei es der Mann, Vater, Bruder,
Sohn, die Mutter, Frau, Schwester oder vielleicht ein sehr guter Freund oder Kollege. Vor ungefähr
zweieinhalb Jahren begannen die Verhaftungen. Wenn nicht persönlich, so waren dem Namen nach
die Banditen David [d.i. Ilʼja-David Krugljanskij], Emel [d.i. Moisej Lurʼe], und andere den deutschen
Genossen bekannt. Diese Verhaftungen haben niemand von den Genossen erschreckt, denn mehr
oder weniger waren – wenn auch nicht ihre größten Verbrechen – so doch die Abweichungen und
unkommunistischen Handlungen dieser Volksfeinde bekannt. Dann setzten weitere Verhaftungen
ein. Manche davon waren überraschend, aber jeder war der Meinung, es hat bestimmt seine
Richtigkeit, unschuldige Leute werden nicht verhaftet. Vor ungefähr einem Jahr begannen nun
die Massenverhaftungen. Täglich erfuhr man neue Namen. Man staunte: Der auch und der auch?
Aber jeder war überzeugt, sie haben sicher etwas getan. Viele Genossen haben sich nicht gescheut,
einzugestehen, daß sie nachts, wenn schwere Schritte zu hören waren, Herzklopfen bekamen. Als
die Verhaftungen immer weitergingen, entstanden – ungelogen – eine allgemeine Angst. Und jeden
Tag: Hast du schon gehört, der auch! Jetzt ist die Stimmung unter den deutschen Genossen so: Sie
stehen den vielen Verhaftungen völlig ratlos gegenüber. Sie sagen: Es kann unmöglich sein, daß die
deutsche Partei in ihren Reihen so viele schlechte Elemente hatte, daß alle Verschickten wirklich
Spione, Konterrevolutionäre usw. sind. [...] Ganz offen sagen die Genossen: Es gibt keinen Zweifel,
wir kommen alle dran.“ (29.10.1938, ohne Quellenangabe publiziert in: Müller: Menschenfalle, S.
144–145).
117 Paul Schwenk (1880–1960), stellvertretender Leiter der EKKI-Verlagsabteilung, gehörte zu
denjenigen verhafteten deutschen Emigranten, für die sich Pieck und Dimitrov eingesetzt hatten
(siehe Dok. 437). Er wurde 1941 freigelassen und arbeitete anschließend u.a. beim Deutschen
Volkssender (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 859).
118 Hans Hausladen (1901–1938, in der Sowjetunion erschossen), Referent bei der Profintern
und im Zuge ihrer Auflösung arbeitslos geworden, wurde 1937 verhaftet; Walter Dittbender (1891–
1450 1933–1939
demann berichtete uns folgendes Erlebnis: An dem Tage, an dem Paul Reiter [d.i. Paul
Richter] verhaftet wurde,119 wollte der Genosse Wiedemann die Familie Reiter zufällig
besuchen.120 Im Haus wurde er von den Mitbewohnern des Hauses, in dem Reiter
wohnt (russische Genossen), aufgehalten und ihm gesagt, er solle nicht zu Reiter
gehen, die Beamten der NKWD seien bei Reiter. Genosse Wiedemann hat gewartet,
bis Reiter abtransportiert war und begab sich dann zur Frau des verhafteten Reiter. In
Reiters Wohnung waren eine Anzahl Frauen aus dem Hause, die die Frau des verhaf-
teten Reiter getröstet und erklärt haben, sie solle es sich nicht schwer machen und sie
werden ihr helfen. Unter den Russen sei der Umfang der Verhaftungen viel grösser.
Hier zeigt sich die gegenteilige Einstellung der Sowjetbürger zu Angehörigen
verhafteter Deutscher. Im vergangenen Jahr wurden die Angehörigen der verhafteten
Deutschen in Moskau noch als Faschisten und Spione beschimpft.121
Im Politemigrantenheim hatten Mitte März dieses Jahres einige Genossen und
Genossinnen schon ihre Koffer gepackt und warteten voll Angst und Schrecken auf
ihre Verhaftung. Einige Frauen, deren Männer verhaftet sind, so u.a. die Frau von
Prof. Felix Halle,122 hat am 11. Oktober 1937 und die Frau Gertrud Mühlberg (Olbrisch)
Anfang März 1938 Selbstmord verübt.123 Ein Teil der Frauen und Kinder der Verhafte-
ten sind buchstäblich am Verhungern. Die zahlreichen Briefe und Hilferufe, die täglich
bei der Deutschen Vertretung beim EKKI eingehen, geben ein erschütterndes Bild.
1939, in der Sowjetunion erschossen), MOPR-Funktionär für Politemigration und als Leiter der
„Überführungskommission“ selbst an Parteisäuberungen beteiligt, wurde im März 1938 inhaftiert.
Obwohl sich Pieck und Dimitrov auch für sie eingesetzt hatten (siehe Dok. 437), wurden beide zum
Tode verurteilt und erschossen (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 189–190, 352).
119 Paul Richter (Ps. Reiter, 1897–1938, in der Sowjetunion), KPD-Mitglied seit 1919, 1936–1937 Gehilfe
im Sekretariat Wilhelm Florins, wurde im März 1938 verhaftet und zu „zehn Jahren mit Schreibverbot“
verurteilt; er starb (erschossen?) am 16.10.1938. Seine Ehefrau war Martha Richter. (Buckmiller/
Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Richter, Paul Wilhelm“).
120 Möglicherweise Herbert Wiedemann, ein österreichischer ML-Student, der 1938 in Moskau der
KPD beigetreten war (Ibid., Eintrag „Wiedemann, Herbert“).
121 Dies korrespondiert mit der zeitgleichen Beobachtung Eugen Vargas, die Verhaftungen würden
„nicht mehr als Schande, sondern als Unglück wahrgenommen“ werden (siehe Dok. 436).
122 Felix Halle (1884–1937, in der Sowjetunion erschossen) war einer der prominentesten Anwälte
der KPD und der Roten Hilfe Deutschlands (siehe Dok. 136). Nachdem er im Pariser Exil federführend
im „Thälmann-Komitee“ aktiv war, reiste er Anfang 1937 in die Sowjetunion ein, wurde im August
verhaftet und am 5.11.1937 erschossen. Seine Ehefrau und Privatsekretärin Ruth-Emmy Halle (1886–
1937) beging nur wenige Tage später Selbstmord (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 341–342).
123 Gertrud Mühlberg war die Ehefrau von Hans Ohlrich (1898-?), eines KPD-Arbeiters, der
als Schlosser bei der AEG durch Betriebsspionage einen entscheidenden Anteil am Aufbau der
sowjetischen Wolframindustrie hatte. Unter dem Namen „Rudolf Mühlberg“ reiste er 1926 in die
Sowjetunion aus, wo er weiterhin als Fachmann für Wolframdraht im Moskauer Elektrokombinat
arbeitete. Er wurde am 27.8.1937 verhaftet, zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, und durfte, erst 1955
entlassen, in die DDR ausreisen. Seine Frau beging aus Verzweiflung über die Verhaftung ihres
Mannes im März 1938 Selbstmord, indem sie sich aus dem 4. Stock des Elektrokombinaz-Wohnheims
stürzte (siehe Žuravlev: „Ich bitte um Arbeit“, S. 139, 182 u.a.).
Dok. 439: Moskau, 29.4.1938 1451
Im Büro der Deutschen Vertretung beim EKKI sind Verzweiflungsszenen der Frauen
von Verhafteten eine allgemeine Erscheinung. Einige Frauen wollen sich im Büro der
Deutschen Vertretung beim EKKI aus dem Fenster stürzen. Taube, Gertrud hatte die
Absicht ihr Kind unter die Strassenbahn zu werfen und Selbstmord zu begehen.124
Sonja Garelik, deren Mann in Swerdlowsk verhaftet ist, äusserte dieselben Absichten.
Immer und immer wieder beteuert ein Teil der Frauen und Angehörigen von Verhaf-
teten bei der Deutschen Vertretung beim EKKI schriftlich und mündlich, dass ihre
Männer unschuldig verhaftet und nichts Unrechtes getan hätten. Einige führen die
Ursachen der Verhaftungen auf lügenhafte Denunzierungen zurück, andere sprechen
die Vermutung aus, dass der deutsche Faschismus seine Hand im Spiele hat und der
versucht, mit Hilfe von Jagoda-Elementen Teile der Kader der KPD zu vernichten.125
Am 21. Februar 1938 wurde in Moskau bei der Familie Reiter der 24jährige Sohn
Horst verhaftet. Bei der Verhaftung bezw. Haussuchung machten die Genossen
Beamten der NKWD die Feststellung, dass ausser dem Sohn Horst noch der Sohn
Walter zur Familie Reiter gehört. Der Sohn Horst wurde abtransportiert und als Wache
ein Genosse von der NKWD zurückgelassen. Nach ca. 2 Stunden kam einer der Genos-
sen der NKWD zurück und es wurde auch der Sohn Walter verhaftet.
Walter Dittbender sagte vor seiner Verhaftung (ich glaube es war im Februar
d[iese]s J[ahre]s) zu mir u.a.:
„Wir beide (Dittbender und Dietrich [d.i. Paul Jäkel]) wissen zu viel. Erst werde ich
(Dittbender) verhaftet, dann führst Du (Dietrich [d.i. Paul Jäkel]) meine Arbeit weiter,
dann wirst Du verhaftet.“
Die Frauen Mukulies und Harms (deren Männer im Kaukasus verhaftet sind)
sagten am 4. April d[iese]s J[ahre]s bei ihrem Besuch im Büro der deutschen Vertre-
tung beim EKKI u.a.:126
„Warum verhaften sie bloss die Proleten und nicht euch (d.h. die führenden
Genossen). Warum hilft die Partei nicht, wenn soviel Unrecht geschieht?“
Die Genossin Röhrs:127
„Zu was zahlen wir Beiträge an die Partei, wenn sie uns nicht hilft?“
124 Gertrude Staak (Ps. Trude Taube, 1908–1942, im Gulag), seit 1927 in der KPD und 1930 bis 1933
Sekretärin Ernst Thälmanns, ging 1933 in die Sowjetunion und arbeitete dort im Volkskommissariat
für Außenhandel. Am 21.12.1937 wegen „Verlust wichtiger Dokumente“ aus der KPD ausgeschlossen,
im September 1941 verhaftet und zu 5 Jahren Lagerhaft verurteilt, starb am 28.7.1942 im Gulag.
Vater ihres Kindes war ein Vertreter der jugoslawischen Komintern-Sektion (Buckmiller/Meschkat:
Biographisches Handbuch, Eintrag „Staak, Gertrude“).
125 Der ehemalige, von Ežov abgelöste NKVD-Chef Genrich Jagoda wurde im März 1937 verhaftet und
gehörte zu den Hauptangeklagten des Dritten Moskauer Schauprozesses (2.-13.3.1938).
126 Die Identität von Mukulies konnte nicht ermittelt werden. Erna Harms (geb. 1902), Schreibkraft
im EKKI, war die Ehefrau des polnischen Kommunisten Gustaw Rwal, der Ende 1937 verhaftet und
1938 erschossen wurde. Harms selbst wurde 1938 verhaftet, ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt
(siehe Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Harms, Erna“).
127 Ida Röhrs war die Ehefrau des im Januar 1938 verhafteten Willi Röhrs (Hedeler/Münz-Koenen,
„Ich kam als Gast“, S. 237).
1452 1933–1939
Die Genossin Maria Kramer, deren Mann in Spanien kämpft, kam aufgeregt ins
Büro und erklärte:128
„Gebt mir die Möglichkeit zu Genossen Stalin und Dimitroff zu kommen. Ich will
ihnen sagen, dass die deutschen Genossen, die sie so lange kennt, unschuldig ver-
haftet sind.“
Und so weiter.
Es bedarf wirklich grosser Anstrengungen, um die Genossen von der Richtigkeit
der Massnahmen der Sowjetorgane zu überzeugen. Aber im Allgemeinen ist aus den
Gesprächen zu ersehen, dass das Vertrauen zur Partei und auch zu den Sowjetorga-
nen zurückgeht.
Im Politemigrantenheim erhalten seit Mitte April 1938 die Frauen der Verhafte-
ten wie Linke, Else;129 Leschner, Anni;130 Sorgatz, Anni;131 Lotzkat, Erna;132 Hagel,
Marie133 und in Zukunft auch Finkemeier, Gertrud keine Essenkarte.134 Die Kinder
dieser Frauen erhalten die Essenkarte weiter. Im Allgemeinen verkaufen die Frauen
ihre Habseligkeiten um leben zu können. [...]135
128 Maria Kramer, d.i. wahrscheinlich Martha Golke (Ps. „M. Kramer“ , 1913–1993), die Tochter
Arthur Golkes (vgl. Buckmiller/Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Golke,
Martha“). Angaben zu ihrem Ehemann ließen sich nicht ermitteln.
129 Elsa Linke (geb 1901) war die Ehefrau des thüringischen Textilarbeiters Emil Linke (1901–1938),
der im Februar 1938 vom NKVD verhaftet und im August erschossen wurde. Elsa wurde 1941 mit
ihren Kindern nach Kasachstan deportiert, 1947 durfte sie nach Deutschland ausreisen (Buckmiller/
Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Einträge „Linke, Elsa“ und „Linke, Emil“).
130 Anni Leschner war die Ehefrau von Paul Schäfer, des Mitbegründers der KPD-Ortsgruppe Erfurt,
der am 11.3.1938 verhaftet und am 26.7.1938 als „deutscher Spion“ erschossen wurde (Hedeler/Münz-
Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 232; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 774.
131 Die Näherin Anna Sorgatz (geb. 1892) war die Ehefrau des Berliner KPD-Funktionärs Alfred
Sorgatz (1891–1938), der im März 1938 verhaftet und im selben Jahr erschossen wurde; seine Frau
wurde 1941 aus Moskau verbannt, sie durfte 1955 in die DDR ausreisen (Buckmiller/Meschkat:
Biographisches Handbuch, Datenbank, Einträge „Sorgatz, Anna“ und „Sorgatz, Alfred“).
132 Erna Lotzkat war die Ehefrau des KPD-Mitglieds Kurt Lotzkat, der 1937 vom NKVD verhaftet und
am 18.9.1938 an die Gestapo ausgeliefert wurde (Hedeler/Münz-Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 233;
Hans Schafranek: Zwischen NKWD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer An-
tifaschisten aus der Sowjetunion an Nazideutschland 1937–1941, Frankfurt am Main, ISP, 1990, S. 42).
133 Marie Hagel war mit dem 1938 verhafteten Politemigranten Franz Hagel verheiratet (Hedeler/
Münz-Koenen: „Ich kam als Gast“, S. 228).
134 Gertrud Finkemeier (geb 1903) war die Ehefrau von Heinrich Finkemeier (1902-?), Arbeiter und
ehemaliges DVP-Mitglied, der 1931 heimlich zur KPD wechselte und 1933 Polleiter des Unterbezirks
Oberhausen wurde. Finkemeier wurde im Februar 1938 in Moskau verhaftet und blieb seitdem
verschollen; seiner Ehefrau mit ihren beiden Kindern wurden die Lebensmittelkarten entzogen, das
jüngere Kind starb. Im Juli 1938 wurde sie von den sowjetischen Behörden zur Ausreise gezwungen
und kam mit Hilfe des deutschen Konsulats im August 1939 in Oberhausen an (Mensing: Von der Ruhr
in den GULag, S. 212–213).
135 Unter der Überschrift „Nachstehend eine Aufstellung von Politemigranten, die zurzeit noch
keine Arbeit haben“ folgt eine Liste von 39 Personen, 22 von ihnen im Politemigrantenheim, sechs in
Dok. 439: Moskau, 29.4.1938 1453
Nachsatz:
Zu den Verhaftungen: Nachdem eine Anzahl Genossen nach Spanien kommandiert
waren, kamen einige Genossinnen zu uns und teilten uns mit, dass die NKWD bei
ihnen gewesen sei, um ihre Männer zu verhaften. Die betreffenden Genossen waren
aber bereits nach Spanien abgefahren. (z.B. Genosse Alfred Fendrich).
------
Da ich euch bisher dieses ganze vorstehende Material mündlich nicht uebergeben
konnte, halte ich es für meine Pflicht, euch schriftlich davon Mitteilung zu machen.
3 Exempl.
Die/He.
Am 29.4.1938 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit einer Anfrage des Außen-
kommissariats zur Situation von Ausländern in der Sowjetunion. Das NKVD wurde angehalten, über
die Verhaftung von ausländischen Staatsbürgern das NKID in Kenntnis zu setzen. Für den Fall, dass
das NKVD Zweifel an der ausländischen Staatsbürgerschaft habe, seien dem Außenkommissariat ent-
sprechende Belege zu übergeben. Falls Ausländer, die lange in der UdSSR gewohnt haben oder sogar
in der Sowjetunion geboren wurden, ausgewiesen werden sollten, müsse ihnen eine vernünftige Frist
zur Klärung ihrer Angelegenheiten eingeräumt werden.136
Ebenfalls am 29.4.1938 wurde Außenkommissar Maksim Litvinov seitens des Politbüros des ZK der KP
der Sowjetunion ermächtigt, den vom Völkerbund ausgearbeiteten Entwurf einer Konvention zur Ver-
hütung und Bekämpfung des Terrorismus zu unterzeichnen (das Abkommen scheiterte schließlich).137
der „MOPR-Datsche Leningrader Chaussee“, vier in der „MOPR-Datsche Perlowka“ und sieben in der
„MOPR-Datsche Illinskaja“.
136 RGASPI, Moskau, 17/162/23, 23.
137 RGASPI, Moskau, 17/162/23, 23. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 359–360.
1454 1933–1939
Dok. 440
Brief Piecks an Dimitrov zur Kürzung der Finanzmittel für die KPD
durch die Komintern
[Moskau?], 17.5.1938
17.5.38
PS: Vom Vorjahre haben wir noch 5000 Dollar zu erhalten – davon könnte der einma-
lige Zuschuß für die Schulen genommen werden.
Dok. 441: Moskau, 21.5.1938 1455
Dok. 441
Beschluss der Komintern zum Bericht der KPD und zur Kritik an
der Arbeit der Parteiführung im Lande
Moskau, 21.5.1938138
„5“
4287/5/Bö
17.VI.1938
Streng vertraulich!
1.) Das Sekretariat des EKKI billigt im Wesentlichen das von der deutschen Delegation
ausgearbeitete Dokument über die Lage Deutschlands und über die politische Linie
der KPD. Das Sekretariat unterstreicht besonders die grosse internationale Verant-
wortung der Kommunistischen Partei Deutschlands für die Mobilisierung und Zusam-
menfassung der Kräfte der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes im
Kampfe gegen die Kriegs- und Eroberungspolitik des Hitlerfaschismus, insbesondere
gegen seine militärische Intervention in Spanien, gegen seine Annexion Oesterreichs
und gegen die Bedrohung der Tschechoslowakei139 Der internationale Kampf gegen
diese Kriegs- und Eroberungspolitik wird umso erfolgreicher sein, je mehr er sich auf
den Kampf der deutschen Massen gegen den Hitlerfaschismus und für die Erhaltung
des Friedens stützen kann.
2.) Unter besonderer Ehrung der von den Faschisten ermordeten und eingekerkerten
antifaschistischen Kämpfer anerkennt das Sekretariat den grossen Heroismus und
den eisernen Willen, mit dem die Kader der Partei im Lande ihre Agitation und ihren
Kampf gegen den Hitlerfaschismus und ihre Arbeit zur Mobilisierung und Sammlung
der werktätigen Massen für den gemeinsamen Widerstand und Kampf gegen das Hit-
lerregime und seine verbrecherische Kriegs- und Eroberungspolitik durchführen. Das
Sekretariat nimmt zur Kenntnis die Mitteilungen der deutschen Delegation über die
Fortschritte, die die Partei in der letzten Zeit in ihrer Arbeit, in der Festigung ihrer
Kader und ihren Verbindungen im Lande gemacht hat.
Aber in Anbetracht des faschistischen Krieges gegen das spanische Volk, der
gewaltsamen Unterjochung des österreichischen Volkes und der unmittelbaren
Bedrohung der Tschechoslowakei durch den Hitlerfaschismus und der durch die
faschistische Kriegsprovokation hervorgerufenen akuten Gefahr eines neuen Welt-
krieges hält das Sekretariat diese Fortschritte der Partei und die von der Parteifüh-
rung unternommenen Massnahmen zur Aufklärung und Mobilisierung der Massen
für völlig ungenügend. Bei aller Berücksichtigung der durch den faschistischen Terror
geschaffenen äusserst schweren Bedingungen, unter denen die Kader der Partei ihre
Arbeit im Lande leisten müssen, stellt das Sekretariat fest, dass die Arbeit grössere
Erfolge hätte bringen müssen, wenn die Parteiführung den Kadern im Lande mehr
geholfen hätte, die Möglichkeiten und Gelegenheiten der Mobilisierung und Samm-
lung der Massen besser auszunützen.
Das Sekretariat anerkennt die umfangreiche Arbeit, die von der Parteiführung in der
Propaganda, in der Beeinflussung der Kader und der Festigung der Verbindungen im
Lande geleistet wurde. Aber diese Arbeit der Parteiführung lässt nicht erkennen, dass sie
die ungeheure Gefahr für das deutsche Volk richtig einschätzt und die sich daraus erge-
benden Verpflichtungen der Partei richtig versteht. Es mangelt dieser Arbeit die rechtzei-
tige politische Initiative, die genügende politische Aktivität und eine klare Perspektive,
wodurch die Parteiführung behindert ist, die Entwicklung vorauszusehen, die verbreche-
rischen Anschläge des Hitlerfaschismus rechtzeitig den Massen zu signalisieren und ent-
sprechende Kampfmassnahmen dagegen vorzubereiten. Es fehlt die Konzentration der
Kräfte der Partei und der Massen auf die wichtigsten und entscheidendsten Punkte des
Kampfes gegen den Hitlerfaschismus besonders auf die schwachen Punkte, die er in der
Durchführung seiner Innen- und Aussenpolitik hat. Den vom Faschismus angewandten
Methoden des Massenbetruges, den von ihm angewandten chauvinistischen und sozial-
demagogischen Argumenten wurde in der Propaganda nicht in einer den Massen genü-
gend verständlichen und überzeugenden Sprache und Argumentation entgegengetreten.
Es ist der Parteiführung auch noch nicht gelungen, die gesamten Kader der Partei
von dem revolutionären Zweck der Einheits- und Volksfrontpolitik, welche auf die
Sammlung der Massen zum Sturze des Hitlerfaschismus und zur Verhinderung des
Krieges gerichtet ist, so zu überzeugen, dass sie aus vollster Ueberzeugung von dem
revolutionären Inhalt dieser Aufgabe ihre ganze Kraft für das Zustandekommen der
Einheitsfront mit den Sozialdemokraten und der Volksfront einsetzen. Auch hat die
Parteiführung nicht genügend beharrlich auf die Schaffung von festen Stützpunk-
ten ihrer Arbeit im Lande hingewirkt, die von grösster Bedeutung für den Fall eines
Krieges sein werden.140
140 „(...) in der Realität war der Kontakt zu den kommunistischen Gruppen [im Reich] immer stärker
verloren gegangen bzw. ließen sich die verbliebenen Kreise und kleinen Zellen immer schwerer orten,
geschweige denn vereinnahmen und steuern.“ (Sandvoß: Die andere Reichshauptstadt, S. 444).
Dok. 441: Moskau, 21.5.1938 1457
In dem Bestreben, der Partei und ihrer Führung zu helfen, ihre grosse historische
Aufgabe in der Sammlung und Führung der Massen zum Sturze des Hitlerfaschismus
und der Verhinderung seiner Kriegsverbrechen zu erfüllen, weist das Sekretariat mit
allem Ernst auf diese Schwächen der Arbeit der Partei und ihrer Führung hin und
stellt vor ihr unter Hinweis auf die besondere Verantwortung des Sekretariats des ZK
der KPD für diese Schwächen der Partei die Aufgabe:
a) Alle Kräfte sind auf die Durchführung der in der Resolution der deutschen
Delegation gestellten Aufgaben, insbesondere auch die Sammlung der Massen in der
Einheits- und Volksfront für den Kampf gegen die faschistische Aggression, gegen
die Intervention des Hitlerfaschismus in Spanien, gegen die Annexion Oesterreichs
und gegen die Bedrohung der Tschechoslowakei und der anderen demokratischen
Grenzstaaten Deutschlands, gegen die Hetze und Provokationen des Hitlerfaschis-
mus gegenüber der Sowjetunion zu konzentrieren.
b) Mit diesem Kampfe ist der Kampf gegen die faschistische Ausbeutung und
Knechtung des deutschen Volkes, gegen den faschistischen Terror und für die Befrei-
ung der politischen Gefangenen, besonders des Genossen Ernst Thälmann, zu ver-
binden.
c) Gegenüber der Tendenz, die objektiven Schwierigkeiten der Organisierung des
Kampfes, der Sammlung der antifaschistischen Kräfte, der Festigung der Kader und
der Verbindungen im Lande zu überschätzen und die dafür vorhandenen Möglichkei-
ten zu unterschätzen, ist eine ständige ernste Selbstkritik der Parteiführung und der
Parteikader im Lande an ihrer Arbeit dringend erforderlich.
d) Besonders wichtig ist die allseitige Förderung der selbständigen Initiative und
selbständigen Orientierung der Kader im Lande.
3.) Das Sekretariat hält eine Reorganisierung der Parteileitung der KPD für notwendig
mit dem Kurs auf die Verlegung der operativen Leitung ins Land. In das ZK der KPD
sollen nach Möglichkeit frische, erprobte Kräfte aus dem Lande kooptiert werden. Das
ZK selbst soll mehr als bisher an der Ausarbeitung der politischen Linie der Partei
kollektiv teilnehmen.141
4.) Das Sekretariat billigt den Kurs auf die Zusammenfassung der antifaschistischen
Kräfte aus den Reihen der deutschen Emigration in der Form von Einheits- und Volks-
frontausschüssen. Jedoch können solche Einheits- und Volksfrontausschüsse im
Ausland nur als Hilfsorgane und keineswegs als führende Organe der Einheits- und
Volksfrontbewegung im Lande selbst betrachtet werden.
141 Bis zum Ende der NS-Diktatur scheiterte die KPD-Führung daran, eine operative Landesleitung
aufzubauen. Selbst die häufiger von der Auslandsleitung in Stockholm initiierten Versuche, Instruk-
teure ins Land zu schicken, scheiterten in den meisten Fällen. Der letze, von Amsterdam aus ernsthaft
betriebene Vorstoß scheiterte mit der Verhaftung Wilhelm Knöchels Anfang 1943 (Herbst: Kommunisti-
scher Widerstand).
1458 1933–1939
5.) Der Kampf gegen die Fremdherrschaft des Hitlerfaschismus in Oesterreich macht
eine enge politische und organisatorische Zusammenarbeit der KPD und KPOE not-
wendig, worüber sich die beiden Parteiführungen verständigen sollen. Die politische
und organisatorische Selbständigkeit beider Parteien soll aber bis auf weiteres auf-
rechterhalten bleiben.
Durch einen Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion vom 26.5.1938 wurden die am
31.1.1938 beschlossenen (blutigen) Säuberungen unter den nationalen Gruppen in der Sowjetuni-
on, sowohl Ausländern als auch Sowjetbürgern, im Schnellverfahren und unter dem Deckmantel des
Kampfes gegen sog. „Spionage-Diversions-Kontingente“ bis zum 1.8.1938 verlängert. Betroffen wa-
ren „Personen polnischer, deutscher, lettischer, estnischer, finnischer, bulgarischer, mazedonischer,
griechischer, rumänischer, iranischer, afghanischer, chinesischer Nationalität, sowie Charbiner“.142
Am 27.6.1938 verabschiedete das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Reihe von Direktiven
an den sowjetischen Vertreter im Londoner Nichteinmischungskomitee Samuil Kagan. Er sollte im Na-
men der Sowjetunion Unwillen darüber bekunden, für die Kontrolleure aufkommen zu müssen, die in
den spanischen Häfen für die Rückführung der ausländischen Kombattanten eingesetzt werden soll-
ten. Man würde jedoch der Übernahme von 1/6 der Kosten zustimmen. Die Kosten für die Unterbrin-
gung der Freiwilligen in Lagern sollten von der spanischen Regierung und Franco getragen werden.143
Dok. 442
Brief Ulbrichts an Dimitrov über die Tätigkeit der Internationalen
Roten Hilfe, nachdem „jetzt weniger deutsche Genossen in
Moskau zu betreuen sind“
Moskau, 1.7.1938
Nach der Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich fasste das Politbüro des ZK der KP der
Sowjetunion am 4.7.1938 den Beschluss, die Handelsvertretung in Österreich zu schießen und mit
der deutschen Regierung in Verhandlungen zu treten bezüglich der Ausdehnung des sowjetischen-
deutschen Handelsabkommens auf österreichisches Territorium .146
Am 22.8.1938 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion das Budget der Komintern für
das Jahr 1938 in Höhe von 1.342.447 Goldrubeln und 11.916.000 Tscherwonzenrubeln. Darüber hinaus
wurden der Komintern für die Deckung der Schulden aus dem Vorjahr 277.289 Goldrubel bewilligt.147
Dok. 442a
Rekursbrief Münzenbergs an Dimitrov gegen seinen KPD-
Ausschluss und die „Verschwörung“ Ulbrichts
O.O. [Paris?], 30.8.1938
Werter Genosse!149
Mitte Mai 1938 erschien in der „Deutschen Volkszeitung“ und in der „Pariser Tages-
zeitung“ der Beschluss des Zentralkomitees der KPD „in Sachen Münzenberg“.150 In
146 APRF, Moskau, 3/64/665, 17. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 179.
147 RGASPI, Moskau, 17/162/23, 144. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 770.
148 Das Typoskript enthält einige handschriftliche Ergänzungen und Korrekturen sowie zahlreiche,
später vorgenommene handschriftliche Einklammerungen, Unterstreichungen, Nummerierungen etc.
149 Beigefügt war das folgende Anschreiben: „Werter Genosse. In der Beilage mein Rekursschreiben
an die KI. Ich werde eine Kopie senden an den Genossen St[alin]. Einen persönlichen Brief an den
Genossen Dimi[trov] lasse ich in den nächsten Tagen abgeben und bitte ebenfalls um Weitergabe.
Besten Gruss. [Sign.] Wilh[elm] M[ünzenberg].“
150 Am 22.5.1938 veröffentlichte die Deutsche Volkszeitung einen Beschluss der KPD, Münzenberg
wegen „Verstößen gegen die Grundsätze der Partei“ und „Verletzung der Parteidisziplin“ aus dem
ZK der KPD auszuschließen und ihn aller Funktionen zu entheben. Das ZK der KPD habe ein Unter-
suchungsverfahren bei der Internationalen Kontrollkommission (IKK) der Komintern beantragt. Die
ausführliche Begründung lautete: “Münzenberg hat Intrigen gegen die Parteiführung und gegen die
Volksfrontpolitik der Partei, deretwegen er schon früher eine Parteistrafe erhielt, fortgesetzt und hat
in seinem politischen Verhalten gegen die elementarsten Grundsätze der Kommunistischen Partei
verstoßen. Münzenberg hat sich geweigert, wichtigen Beschlüssen der Partei nachzukommen. Die
gegen Münzenberg vorliegenden weitergehenden Anschuldigungen wegen Doppelspiel gegenüber
Dok. 442a: O.O. [Paris?], 30.8.1938 1461
dem bürgerlichen Blatt „Pariser Tageszeitung“ brachte der Polizeispitzel Caro, den
ich 1931 fristlos aus der „Welt am Abend“ entlassen musste, weil er für die deutsche
Polizei in der KPD und den „Münzenberg-Unternehmungen“ spitzelte,151 später seine
Tätigkeit für ähnliche Institutionen fortsetzte und gleichzeitig der Vertrauensmann
der Gruppe Ulbricht-Salomon-Frei war,152 den Beschluss mit der bewusst irreführen-
den Überschrift: „Münzenberg ausgeschlossen“.Erst einige Tage später wurde mir
der Beschluss brieflich zugestellt. Nach dem Wortlaut des Beschlusses durfte ich
auf weitere Mitteilungen, besonders auf einen substanzierten Bericht mit konkre-
ten Angaben über den Charakter der angeblichen „Verstösse gegen die elementaren
Grundsätze der Partei“, über die angeblichen unzulässigen Beziehungen und im
Besonderen auf die Eröffnung der beschlossenen Untersuchung, die von mir bereits
im Juli 1937 durch meinen Brief an den Genossen ... 153 und durch meinen Brief an
das Sekretariat der Kommunistischen Internationale gefordert war, hoffen. Nachdem
diese bis heute nicht geschehen ist, kann ich nur zu dem mir bekannt gegebenen
und in der „Deutschen Volkszeitung“ und der „Pariser Tageszeitung“ veröffentlichten
Beschluss Stellung nehmen.
Hiermit reiche ich gegen den Beschluss des Zentralkomitees der KPD beim Sekre-
tariat der Kommunistischen Internationale offiziell Rekurs ein. Ich stelle an das
Sekretariat der KI den formalen Antrag, den Beschluss aufzuheben und meine Rechte
der Partei und den Volksfrontpartnern der Partei durch bewußte Durchkreuzung der Volksfrontpolitik
der Partei und der für einen Kommunisten unzulässigen Verbindungen bedürfen dringend der Unter-
suchung. Da sich Münzenberg unter haltlosen Vorwänden der Verantwortung vor der Parteiführung
entzieht, hat diese bei der IKK beantragt, das Verfahren gegen Münzenberg durchzuführen.“
151 Der deutsch-jüdische Journalist Kurt Michael Caro (Ps. Manuel Humbert, 1905–1979) war neben
Georg Bernhard prägende Figur der Pariser Tageszeitung, er gilt als Urheber der Verleumdung und den
Putsch gegen den ersten Besitzer des Pariser Tageblatts/Pariser Tageszeitung, stand Ulbricht nahe und
verteidigte in seinen Artikeln die Moskauer Prozesse. Bis 1933 Chefredakteur der populären Berliner
Volkszeitung, arbeitete er nach dem Zweiten Weltkrieg als Beamter für das Foreign Office und u.a.
als Redakteur der Weltwoche in Zürich. Im Buch Manuel Humbert: Hitlers „Mein Kampf“. Dichtung
und Wahrheit. Paris, 1936, stellte er kritisch Hitlers Rassentheorie in Frage. Die Spitzelvorwürfe
Münzenbergs liessen sich bisher nicht verifizieren (Bayerlein/Matschuk: Vom Liberalismus zum
Stalinismus, S. 97 u.a.).
152 Frei, d.i. Bruno Frei, ursprünglicher Name Benedikt Freistadt (1897–1988), österreichischer
antifaschistischer Autor und Journalist („Die Männer von Vernet“ (1944), „Carl von Ossietzky“ (1966))
war unter Münzenberg Herausgeber der Welt am Morgen, später des Gegen-Angriff und Anhänger
bzw. Bewunderer Stalins. Noch in den 1970er Jahren wurde – besonders von anarchistischer Seite –
der diffamierende Charakter zahlreicher Äußerungen bzw. Schriften Freis öffentlich kritisiert (siehe
Hans-Peter Duerr, Augustin Souchy: Stalinismus und Anarchismus in der spanischen Revolution oder
Bruno Frei und die Methode der Denunziation, Berlin, Karin Kramer Verlag 1973). Seinerzeit hatte Frei
bspw. 1937 im KPD-Organ Deutsche Volkszeitung die Mitglieder des Bundes Freie Presse und Literatur
(BFPL) – darunter waren Alfred Döblin, Bruno Frank, Leonhard Frank, Konrad Heiden, Iwan Heilbut,
Hermann Kesten, Klaus Mann, Valeriu Marcu, Walter Mehring, Joseph Roth – als “gleichgeschaltete
Söldner der Goebbels-Propaganda” bezeichnet (zit. in Schiller: Der Traum von Hitlers Sturz, S. 151).
153 Der Name ist ausgelassen. Es handelt sich um den Brief an Stalin vom 14.7.1937 (Dok. 417).
1462 1933–1939
als Mitglied des Zentralkomitees der KPD wieder herzustellen. Ich motiviere diesen
Antrag sowohl mit formalen als auch mit sachlichen Gründen.
Der Beschluss wirft mir Intrigen gegen die Parteiführung und gegen die Volks-
frontpolitik der Partei vor, wofür ich bereits früher einmal eine Parteistrafe erhalten
hätte und behauptet, dass ich in meinem politischen Verhalten fortgesetzt gegen die
elementarsten Grundsätze der Partei verstossen habe. Ich erkläre diese Vorwürfe für
unberechtigt und unbegründet und fordere, was ich bereits im Mai, November und
Dezember 1937 getan habe, eine Untersuchung mit Zeugeneinvernahme und Gegen-
überstellungen zur Klärung aller Vorwürfe und Anklagen, die gegen mich erhoben
worden sind.
Der Beschluss steht im schärfsten Widerspruch zu den statuarischen Bestimmun-
gen der KPD und der KI. Nach dem klaren Wortlaut der Statuten der Partei und der KI
kann ein verantwortlicher Funktionär seiner Funktion nur von einer übergeordneten
Instanz enthoben werden, in diesem Falle also nur von einem Parteitag resp. einer
Parteikonferenz der KPD oder von der KI. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf
hin, dass ich vom letzten ordentlichen Parteitag der KPD, dem sogenannten Weddin-
ger Parteitag 1929 in das ZK der Partei und von der Brüsseler Parteikonferenz im Jahre
1935 in die von dieser Konferenz geschaffene Leitung gewählt wurde.154
Wenn ich ausser den entscheidenden sachlichen Gründen auch die formalstatuari-
sche Begründung mit heranziehe, dann auch deshalb, weil diese Frage zu einer eminent
wichtigen politischen Frage in unserer Partei geworden ist. Ich bin der Meinung, dass
bei allen Einschränkungen, die die streng illegale Arbeit unserer Partei notwendig
macht, ein Minimum von Parteidemokratie und gewisse Normen des Parteirechts erhal-
ten bleiben müssen, wenn der kommunistische und leninistische Begriff der Partei
überhaupt gelten soll. Diese Frage ziehe ich auch deshalb heran, weil nicht nur ich dar-
unter gelitten habe, dass in der Ulbrichtperiode das Parteistatut wie ein Sieb durchlö-
chert wurde, sondern auch Dutzende und Dutzende anderer Parteigenossen mit guten
Leistungen und langjähriger Mitgliedschaft ohne Untersuchung, ohne ein normales
Parteiverfahren, ohne die Möglichkeit einer Gegenüberstellung, einer Aussprache
und Klärung vor einer mehrköpfigen Parteikommission zu haben, gemassregelt, ihrer
Funktionen enthoben, „abgehängt“ oder aus der Partei ausgeschlossen wurden. Dass
selbst unter den schwersten Bedingungen ein Minimum von Parteidemokratie erhalten
werden kann, beweist die Geschichte der Bolschewistischen Partei. Ich befürchte, dass
die Partei nicht jene Menschen heranschulen kann, die notwendig sind, um den Kampf
siegreich zu bestehen, wenn dieser Notwendigkeit nicht entsprochen wird. Auf alle
Fälle müsste erreicht werden, dass nicht ein Einzelner über das Schicksal eines Partei-
genossen und seinen Ausschluss, das heisst mitunter über Tod und Leben entscheidet,
sondern eine mehrköpfige Parteikommission und die Parteileitung. Wie wir überhaupt
bei unserer Stellung als Partei zu den Genossen als Menschen mehr das Wort Stalins
berücksichtigen müssen, der den Menschen mit Recht als das kostbarste Gut bezeich-
154 Der „Weddinger Parteitag“ der KPD 1929 war der vorläufige Höhepunkt der ultralinken Taktik.
Dok. 442a: O.O. [Paris?], 30.8.1938 1463
net und das Wort Dimitroffs, der unter dem stürmischen Beifall des VII. Weltkongres-
ses die Bürokratie in der Partei und der Roten Hilfe als ein Verbrechen geisselte. Aber
gerade auf diesem Gebiet wurde von der Ulbricht-Gruppe auf das schwerste gesündigt.
So wahr es ist, dass trotz aller Motorisierung und Technisierung der Kriegsmaschine der
Krieg von lebendigen Menschen entschieden wird, so wahr ist es, dass auch die prole-
tarische Revolution nur von lebendigen Menschen, die von der Richtigkeit ihrer Ideen
gläubig beseelt sind, gewonnen werden kann. Ohne diese Gläubigkeit, ohne seelisch
begeisterte Menschen kann keine Schlacht, besonders nicht im Bürgerkrieg gewonnen
werden. Karl Marx formulierte die Voraussetzungen einer siegreichen Revolution mit
folgenden Worten:
„Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein
Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment,
worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit
ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt
wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und
Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das
soziale Herz ist.“155 [...]
Es ist wahr und ich habe das sofort in allen meinen Briefen and die KI zugege-
ben, dass ich in dem aufgezwungenen Kampfe mit der Gruppe Ulbricht mir Fehler
und schwere Verstösse gegen die formale Parteidisziplin habe zuschulden kommen
lassen, aber ich wurde dazu, wie ich noch ausführen werde, gezwungen und zwar
nicht nur aus wichtigen politischen und für die kommunistische Bewegung entschei-
denden Gründen, sondern auch aus einer organisatorischen Notwehr. Die Gruppe
Ulbricht hatte in ihrem Kampfe gegen mich jedes Gesetz und jedes Recht des nor-
malen Parteilebens aufgehoben, trotzdem ich damals unbestritten noch Mitglied des
Zentralkomitees unserer Partei und, wie Euch bekannt ist, mit verantwortungsvol-
len internationalen Arbeiten betraut war. Ulbricht hat unmittelbar und als erster die
Differenzen aus dem engen Kreis des Sekretariats in die breite Parteimitgliedschaft
getragen, hat durch seine Beauftragten, die Genossen Mercker und Siegfried Rädel
in Funktionärversammlungen und Zellensitzungen unwahre und verleumderische
Beschuldigungen gegen mich verbreiten lassen.156 Ulbricht hat die gleichen unwah-
ren Beschuldigungen in illegalen Rundschreiben an alle Grenz- und Reichsstellen
verbreitet. In der „Deutschen Volkszeitung“ hat Ulbricht unwahre Behauptungen und
155 Siehe: Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosphie. In: Karl Marx/ Friedrich Engels
- Werke. (Karl) Dietz Verlag, Bd. 1, Berlin (-Ost), 1978. S. 378–391, hier S. 388. Das Zitat Münzenbergs
wurde geringfügig entsprechend des Originaltextes korrigiert.
156 Gen. Mercker, d.i.: Paul Merker (siehe Dok. 240). Siegfried Rädel (1893–1943, im Konzentrations-
lager hingerichtet) hatte 1935 gemeinsam mit Ulbricht und Paul Bertz den Leiter des illegalen KPD-
Apparats, Hans Kippenberger, denunziert. Im französischen Exil 1936 Gründer der Sozialvereinigung
deutscher politischer Emigranten. Trotz Verleihung der sowjetischen Staatsbürgerschaft im März 1941
wurde er nicht mehr vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet und 1943 in Berlin-Plötzensee
hingerichtet (siehe auch Dok. 359a; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 696f.).
1464 1933–1939
Artikel zum Abdruck bringen lassen, u.a. eine falsche Behauptung über meine Stel-
lung zu dem Problem der „Freundeskreise der deutschen Volksfront“.157 Gleichzeitig
verweigerte mir Ulbricht trotz wiederholten Verlangens die Möglichkeit, mich in den
Parteikörperschaften, in denen die Beschuldigungen vorgebracht wurden, zu äussern
und mich zu rechtfertigen. Ulbricht verweigerte mir die Aufnahme von berichtigenden
Artikeln in der „Deutschen Volkszeitung“, sogar knappe, tatsächliche Feststellungen.
Ulbricht hat über die Parteikreise hinaus den Angriff gegen mich in Kreise von
Parteilosen getragen. Sofort nach seiner Rückkehr hat er in Gesprächen mit dem ehe-
maligen preussischen Finanzminister Klepper und anderen Mitteilungen über „meine
Abberufung und politische Erledigung“ gemacht.158 In einer Funktionärsversammlung
der Pariser Freundeskreise hat Ulbricht vor Parteilosen und in Anwesenheit von Polizei-
spitzeln die verleumderische Beschuldigung gegen mich wiederholt und geduldet, dass
unter dem Beifall des Spitzels Fischer und anderer der Trotzkist Venedey in dieser Ver-
sammlung ausrufen konnte:159 „Wir wissen, warum wir Münzenberg ausgeschlossen
haben“ und Ulbricht hat diesem Ausspruch seinen eigenen Beifall nicht versagt. Das
geschah am Sonntag den 31. Oktober 1937! Ulbricht hat jeden und jeglichen Rechtsbe-
griff der Parteimitgliedschaft gegen mich annulliert. Er hat in der Parteimitgliedschaft,
in den Zellen und den für ihn erreichbaren Kreisen von Parteilosen eine Diffamierungs-
kampagne eröffnet mit dem klaren Ziel, wie er dies selbst zugegeben hat, mich nicht
nur aus der Partei und der Internationale herauszuintrigieren, aus der Partei und der
Internationale, die ich selbst mitbegründet habe, sondern auch meinen Namen als
revolutionären Kämpfer und aktiven Antifaschisten, den ich mir in meiner nunmehr
mehr als dreissigjährigen Zugehörigkeit zur Arbeiter- und freiheitlichen Bewegung
erworben habe, zu vernichten. Darüber kann kein Zweifel bestehen.
Ulbricht hat sich wiederholt gegenüber Parteigenossen und Parteilosen unmiss-
verständlich ausgesprochen, dass es gelte, mich zu erledigen oder, wie es der Genosse
Hugo Gräf im Sommer 1937 dem Genossen Klinke gegenüber formulierte:160 „Mün-
zenberg wird in diesem Jahre erledigt werden“ oder wie es der Genosse Mercker im
Frühjahr 1938 gegenüber Heinrich Mann ausgedrückt hat: „Münzenberg wird auf alle
Fälle von uns ausgeschlossen“ oder wie es der Vertrauensmann Ulbrichts und der
von ihm als Repräsentant der Partei für die Volksfront bestimmte Bruno von Salomon
erklärte, man würde „mich hinmachen“ und gegenüber Anderen: „In Moskau wäre
Münzenberg schon lange erschossen, aber er wird seinem Schicksal nicht entgehen,
der Arm der GPU reicht sehr weit“
Der KI ist das umfangreiche Material bekannt, welches beweist, dass diese
Gruppe bei der Erreichung dieser Aufgabe vor keinem Mittel und keiner Intrige
zurückschreckte. Am kennzeichnendsten für das ganze Treiben gegen mich ist, dass
Ulbricht bereits im Juni 1937 in einer Konferenz der politischen Leiter der Partei, die
aus den verschiedenen Ländern nach Paris gerufen waren, mitteilte, sie sollen die
Grenz- und Reichsstellen informieren, dass Münzenberg innerhalb von sechs Wochen
aus der Partei ausgeschlossen sei. Das geschah also in einer Zeit, als man mir noch
keinerlei Disziplinvergehen vorwerfen konnte und als alle Mitteilungen von der KI
dahingehend lauteten, dass ich zur Übernahme einer grossen, verantwortlichen poli-
tischen Arbeit nach dort gerufen sei. Allein diese Tatsache beweist, dass Ulbricht
nach seiner Rückkehr systematisch und planmässig versucht hat, mich um jeden
Preis aus der Partei herauszudrängen.
Diese Intrigen und der nichtswürdige Versuch dieser Gruppe, mich als Kommu-
nisten auszuschliessen und ein Lebenswerk von über 30 Jahren revolutionärer Tätig-
keit mit Lügen, böswilligen Erfindungen und Verleumdungen zu vernichten, wobei
diese Gruppe jede Norm des Parteilebens und der Parteigepflogenheiten aufgegeben
hatte, haben mich zu diesem Notwehrkampf gezwungen, der nur auf dem Platze zu
führen war, auf dem die Angriffe gegen mich geführt worden sind.
In diesem Kampfe wurden die Traditionen des Rechtes, der innerparteilichen
Demokratie und des ganzen Parteibegriffes nicht von der Gruppe Ulbricht vertreten,
sondern dafür habe ich in meinem Kampfe gekämpft, und nichts ist unwahrer und
unbegründeter als die Behauptung, dass ich seit 1937 die Tendenz gehabt hätte von
der Partei und der KI wegzustreben. Für meine Treue und Ergebenheit gegenüber
der KI zeugen nicht nur die Anerkennungen und Beschlüsse der Komintern bis in
das letzte Jahr in Verbindung mit dem Weltfriedenskongress,161 sondern dafür gibt
es in wörtlichem Sinne tausende von Beweisen, und wenn es noch eines Beweises
bedurfte, dann ist es der giftigste Hass und die Wut, mit der der faschistische Gegner
161 Von „bis in ...“ an handschriftlich eingeklammert. Auf dem groß angelegten, fast pompösen
Weltfriedenskongress vom 3.-6.9.1936 in Brüssel mit etwa 5.500 Delegierten aus allen Teilen der Welt
wurde gleichwohl die antifaschistische Propaganda nicht zum zentralen Thema, sondern dem Frie-
densmotiv untergeordnet. Hauptforderungen waren “Frieden durch den Völkerbund”, “kollektive
Sicherheit” und “unteilbarer Frieden”. Der Kongress fand unter Ausschluss einer Delegation der
deutschen Anti-Hitler-Opposition statt, die ein Memorandum überreichen liess und separat tagte.
Nach dem Kongress referierte Münzenberg auf einer Plenarsitzung des Weltkomitees, wo er leise Kri-
tik anklingen ließ.
1466 1933–1939
meine Arbeit von jeher ausgezeichnet hat. Eine solche Behauptung, dass ich die KI
verlassen wollte, wäre der Versuch der grössten Fälschung und Entstellung tatsäch-
licher Begebenheiten. Nicht ich wollte von der Partei und der KI weg, sondern die
Gruppe Ulbricht-Salomon-Frei162 hatte es sich zu einer Art Lebensaufgabe gemacht,
mich aus der Partei und der KI durch Intrigen, Organisierung von Gerüchten, Herstel-
lung gefälschter Dokumente und unwahre Behauptungen aus der KPD und der KI zu
entfernen und gleichzeitig meinen Namen als Antifaschisten zu diffamieren. Ich war
stets mit der KI auf das Engste verbunden und auf das Engste mit der Partei gerade in
jenen Tagen, da ich annehmen durfte, dass mit durch meine Arbeit die ersten grossen
Einheits- und Volksfronterfolge im Westen zu verbuchen waren. [...]
Ebenso unwahr wie die falsche Behauptung, ich hätte gegen die Parteiführung
intrigiert ist die Behauptung, ich hätte in meinem Verhalten gegen die elementars-
ten Grundsätze der Partei verstossen. Diesen Vorwurf erhebe ich in vollem Umfange
und mit grösstem Nachdruck gegen Ulbricht und seine Gruppe, wie ich das bereits
in meinen Briefen an den Genossen [...]163 und an den Genossen Dimitroff aus den
Jahren 1937/38 getan habe.164 Wenn irgend jemand durch sein politisches Verhal-
ten gegen die kommunistischen Grundsätze verstossen hat, so sind es Ulbricht und
Genossen, die durch ihre Tätigkeit die theoretische Arbeit unserer Partei auf den
Hund gebracht haben, ihre politische Stosskraft auf das Schwerste geschwächt und
das Ansehen und die Autorität auf unüberbietbare Weise geschädigt haben. In dem
oben angeführten Dokument und später habe ich wiederholt gefordert, dass unsere
Partei der wissenschaftlichen und theoretischen Arbeit mehr Raum gibt, mehr Auf-
merksamkeit widmet. Das ist bis heute nicht der Fall. Ich habe die Vertiefung der
wissenschaftlichen Analyse des Hitlersystems, seines ökonomischen Inhaltes und
besonders des Prozesses der Veränderung, in dem es sich befindet, die Untersuchung
und Enthüllung des ideologischen und politischen Ueberbaus des Naziregimes und
im besonderen die Herausarbeitung nicht nur der taktischen Lehren für den Kampf zu
seiner Vernichtung, sondern auch der grossen Konturen für den ökonomischen, poli-
tischen, staatsrechtlichen und kulturellen Inhalt eines neuen Deutschland gefordert.
Ich habe selbst versucht, auf einem Teilgebiet neue Erscheinungen der Propaganda
zu untersuchen und, wenn auch vielleicht unzulänglich, diese Probleme neu zu
stellen und zu lösen versucht, eine Arbeit, die bei einer Neuauflage des Buches noch
verbessert und vertieft werden wird.165 Meine Anregungen hinsichtlich der theoreti-
schen Arbeit wurden nicht beachtet und mein erster eigener Versuch wurde mit den
wildesten und ungerechtesten Angriffen beantwortet, indem man den Inhalt meines
Buches fälschte, während man gleichzeitig die „Weltbühne“ anwies, eine Kritik des
Stampferschen Buches: „Die Geschichte der deutschen Republik“ zurückzustellen,
und wo durch Bruno Frei das trotzkistische Buch des ehemaligen Naziredakteurs und
Reichstagskandidaten (...)166 -zeitung“ gross angepriesen wurde.
Gleich gross waren meine Gegensätze zu der Ulbricht-Gruppe in der gesamtpo-
litischen Einstellung der Partei. Ich war und bin der Meinung, dass die KPD, wenn
sie ihre Aufgaben erkennt und zu lösen versteht, von der grössten Bedeutung nicht
nur für die europäische, sondern für die Weltpolitik ist, und dass sie bei allen ihren
politischen Massnahmen und Aktionen von der Erkenntnis ausgehen muss, dass
sie in kürzester Zeit allein oder in Gemeinschaft mit anderen Gruppen die Macht in
Deutschland übernehmen wird. [...]
Aber gerade weil ich überzeugt bin, dass keine andere Partei als die KPD, wenn
sie ihre geschichtliche Aufgabe versteht und ihr gerecht wird, auf Grund der objekti-
ven Verhältnisse, ihrer Geschichte, ihrer Traditionen und in Verbindung mit der KI
und der UdSSR den ersten Anspruch auf die Führung der deutschen antifaschisti-
schen Bewegung zu erheben hat, kämpfe ich für eine Politik der Partei, die ihr Aner-
kennung und Autorität einbringt und sichert. Dazu aber ist ein klares Programm in
der Aussen- und Innenpolitik notwendig. [...]
In diesem Zusammenhang muss ich mich mit aller Leidenschaft wenden gegen
den Versuch, der gemacht wurde und dann wieder vergessen werden sollte, mich einer
sowjetfeindlichen Haltung oder Stellungnahme zu beschuldigen. Meine Stellung zu
dieser Frage ist eindeutig und klar. Als erster deutscher Sozialist habe ich mich 1915
mit Lenin und der Bolschewistischen Partei verbündet. 1919 bin ich gegen den Willen
des Spartakusbundes, gegen Pieck und Eberlein für die Gründung der Kommunisti-
schen Internationale eingetreten. Wenn ich nicht irre, wurde ich von Lenin als einzi-
ger deutscher Sozialist namentlich zur Gründung der KI eingeladen.167 Ich hatte 1921,
in einer schweren Periode, das Vertrauen, die Hilfsaktion für die UdSSR im Auslande
zu organisieren.168 Ich habe in innerparteilichen Konflikten keinen Moment gezögert,
mich von alten, menschlich nahestehenden Freunden zu trennen, wie Brandler und
andere, als sie eine antisowjetische Stellung bezogen. Als erster und einziger habe
ich an der bekannten Berliner Parteikonferenz, an der Genosse Manuilski teilgenom-
men hat, den Kampf gegen die Gruppe Ruth Fischer eröffnet, als sie in eine antirussi-
sche Linie einschwenkte.169 Ich habe im Jahre 1926 als erster mit dem Genossen Thäl-
mann den Kampf gegen die Sinowjewgruppe in Deutschland organisiert und meine
Artikel in der von mir herausgegebenen Zeitschrift „Der Rote Aufbau“ und „Unsere
Zeit“ gegen den Trotzkismus sind Beweis genug für den eindeutigen Weg, den ich in
allen diesen Frage gegangen bin.170 Dies dokumentierte auch der Gegner, sowohl der
faschistische, als auch der trotzkistische, der mich erst kürzlich neben Kolzow als den
„verbrecherischsten stalinistischen Agenten“ im Auslande bezeichnete.171
Ich habe aber diese meine Kampfgemeinschaft immer so verstanden, wie ich sie
seit 1915 gelebt habe, als engster Freund und Verbündeter, aber eben als Freund und
Verbündeter und ich glaube, was 1915, 1921 und später richtig war, ist heute noch
notwendiger. Nur eine solche Stellung macht es möglich, nicht nur Unterstützung
zu empfangen, sondern den Freunden Hilfe zu geben und ermöglicht uns als deut-
sche kommunistische Bewegung gleichzeitig, neben den kommunistischen Freunden
169 Parteikonferenz: Münzenberg meint hier wohl den X. KPD-Parteitag, auf dem Manuilski bei seiner
Rede gestört und ausgebuht wurde, während – so Nikolaj Bucharin – Ruth Fischer „alle ziemlich
terrorisiert(e)“ (Dok. 129).
170 Der Rote Aufbau erschien als periodisches, theoretisches Organ der Internationalen Arbeiterhilfe
für Politik, Literatur, Wirtschaft, Sozialpolitik und Arbeiterbewegung seit 1929. Unsere Zeit erschien mit
dem Untertitel Halbmonatsschrift für Politik, Literatur, Wirtschaft, Sozialpolitik und Arbeiterbewegung
– revue mensuelle als Organ des „Exekutiv-Komitee(s) der Internationalen Arbeiterhilfe für
Sowjetrußland“ von Juni 1933 bis ca. August 1935 u.a. in Paris und Basel. Seine Feindschaft gegen
Trotzki hat Münzenberg scheinbar nie aufgegeben. Trotzkis Forderung einer Einheitsfront von KPD
und SPD zur Verhinderung der Machtübernahme Hitlers hatte er im Roten Aufbau noch am 15.
Februar 1933 als “faschistische(n) Vorschlag einer Blockbildung der KPD mit der SPD” bezeichnet.
Dies sei – so Münzenberg – die “schlimmste, gefährlichste und verbrecherischste Theorie”, die dieser
“konterrevolutionäre Faschist” seit Jahren aufgestellt habe. Die “Kommunistische Partei und die von
ihr geführte millionenstarke rote Einheitsfront” sei die einzige Waffe gegen die Nationalsozialisten.
Entsprechend war Trotzkis Verhältnis zu Münzenberg, auch nach der Abwendung des Letzteren vom
Stalinismus, stets von Mißtrauen geprägt. Siehe: Pierre Broué: Lew Dawidowitsch Trotzki und Willi
Münzenberg. In: Tania Schlie, Simone Roche (Hrsg.): Willi Münzenberg (1889–1940). Ein deutscher
Kommunist im Spannungsfeld zwischen Stalinismus und Antifaschismus, Frankfurt am Main u.a.,
Lang, 1995, S. 155–160.
171 Michail Kol’cov (1898–1940, nach Todesurteil in der Sowjetunion erschossen, nach anderen
Quellen Tod 1942 im Gulag), Mitglied der RKP(b) seit 1918, war ein international bekannter sowjeti-
scher Journalist und Leiter der Auslandsabteilung des sowjetischen Schriftstellerverbands. Ab 1936
war er in Spanien, seine Berichte aus dem Bürgerkrieg prägten nachhaltig die Spanien-Wahrnehmung
in der sowjetischen Gesellschaft. 1938 aus Spanien abberufen, im Dezember als angeblicher Spion
verhaftet und erschossen. Literarisch verewigt wurde Kol’cov in der Figur des „Karkow“ in Ernest He-
mingways „Wem die Stunde schlägt“. Seine Lebensgefährtin war die deutsche KPD-Journalistin Maria
Osten. Zu Kol’covs Rolle in Spanien siehe: Paul Preston: We Saw Spain Die. Foreign Correspondents in
the Spanish Civil War, London, Constable, 2008, S. 173–212.
Dok. 442a: O.O. [Paris?], 30.8.1938 1469
jene gewaltigen sozialistischen und demokratischen Kräfte in der Welt für den Sturz
Hitlers zu mobilisieren, auf die zu verzichten eine Idiotie und ein Verbrechen wäre.
Wir müssen immer wieder beachten: das Schicksal Deutschlands wird nicht in Paris
und Moskau, sondern in Berlin entschieden, und in einem gleich starken Masse, wie
es die spanische Volksfrontregierung tut, muss es unsere Aufgabe sein, eine Politik
zu betreiben, die uns die Unterstützung aller freiheitlichen Kräfte für den deutschen
Befreiungskampf sichert.
Gleich unbefriedigend wie unsere aussenpolitische Stellungnahme und Aktivität
ist unsere Stellungnahme gegenüber den innerpolitischen Fragen. Die Erklärungen,
die wir bisher abgegeben haben, dass wir für die Demokratie sind, weil die Massen für
die Diktatur nicht reif sind, können missverstanden werden und machen die sozialis-
tischen und demokratischen Partner mit Recht oder Unrecht misstrauisch. [...]
Bekanntlich wurden die Differenzen politisch ausgelöst durch meine Rede auf
der Volksfrontkonferenz im April 1937. Das Referat erschien als Broschüre, wurde
aber von der Ulbrichtgruppe unterdrückt, weil ich darin angeblich der Einheitsfront
und den sozialistischen Problemen zu viel Raum gegeben hätte.172 Diese Behauptung
deutet die Meinungsverschiedenheiten an, die in diesen Fragen zwischen Ulbricht
und mir bestanden. Ulbricht war der Meinung, dass in einer Volksfront alle antihitle-
rischen Kräfte von den linkesten bis zu den rechtesten Oppositionsgruppen vereinigt
sein müssen und hat das 1935 am krassesten gegenüber Breitscheid geäussert, als er
sagte, man müsse eine Volksfront von den Kommunisten bis zu Otto Strasser schaffen.
Gegen eine derartige Formulierung hatte ich und habe ich die stärksten Bedenken.
Ich halte sie für unmöglich und verwirrend. Man muss zwischen der Einheitsfront
und der Volksfront unterscheiden. Mit einzelnen Vertretern bestimmter bürgerlicher
Gruppen ist vielleicht eine Volksfront möglich, andere bürgerliche Gruppen werden
getrennt wirksamer operieren können und andere, wie z.B. Monarchisten und ähn-
liche, können überhaupt nur ausgenützt werden. Was ich aber besonders gefordert
habe, war, dass, bevor man eine Volksfront mit dieser oder jener Gruppe bildet, die
Einheitsfront vorher geschaffen werden muss. Der Ausgangspunkt aller Einheitsver-
handlungen muss nach wie vor die Einheitsfront sein, was ich in meiner Rede stark
unterstrichen hatte. Ich bin auch heute nach wie vor der Meinung, dass man alles
hätte darauf konzentrieren müssen und heute noch konzentrieren muss, die Einheits-
front zu schaffen. Bekanntlich führten meine Bemühungen 1935/36 zu den ersten,
hoffnungsvollen Beziehungen zwischen uns und den Sozialisten. Wenn es uns nicht
gelingt, mit den entscheidenden sozialistischen Gruppen in eine feste Einheitsfront
zu kommen, wird eine deutsche Volksfront unmöglich sein. [...]
172 Es handelt sich um die „Osterkonferenz“ des Volksfrontausschusses vom 10.-11.April 1937,
die erste und einzige Konferenz der deutschen Volksfront und der deutschen Opposition (Babette
Gross). Sie beschloß eine “Botschaft an das deutsche Volk”, die ein “sozialistisches Deutschland”
nach Hitler propagierte. Auf der Konferenz brach erstmals der Dissenz zwischen Walter Ulbricht
und Münzenberg auf,
1470 1933–1939
startbereit“ dienten als die wichtigsten Unterlagen für die Stellungsnahme der anti-
hitlerischen Kräfte im Kampfe gegen die wachsende Kriegsgefahr.175 Ich habe später,
als nichts mehr zu enthüllen war, sondern das Naziregime im Gegenteil versucht hat,
mit unvollendeten Kriegsvorbereitungen zu bluffen, versucht, den Bluff zu enthül-
len, besonders durch die Bücher: Henry: „Feldzug gegen Moskau?“, „Propaganda
als Waffe“176 und zuletzt durch das Buch von Werner „Der Aufmarsch zum zweiten
Weltkrieg“.177 Ich habe gleichzeitig darauf hingewiesen, wie notwendig es ist, in dem
Kampf zur Verhinderung des Krieges alle antihitlerischen Kräfte einzusetzen und
jeden Riss und jede Möglichkeit zu benutzen. [...]
Ich habe mich mit diesen Feststellungen und Vorschlägen nicht begnügt, sondern
nach Massgabe der vorhandenen Kräfte, früher gestützt auf den Apparat, später allein
in dieser Richtung gearbeitet und dies war, wie Ihr wisst, die einzige Tätigkeit, die
ich 1937/38 zu entwickeln versucht habe. Ich habe bei meiner Einstellung zu diesem
175 Die teilweise aufwändig mit Tafeln und fotographischen Karten ausgestatteten Bände wurden ver-
mutlich mit Hilfe der seitens des sowjetischen Politbüro bewilligten Unterstützung für die Antikriegsli-
teratur produziert (siehe Politbürobeschluss vom 21.6.1935). In einer deutschen Übersetzung erschien
Dorothy Woodman (d.i. Albert Schreiner): Hitler rearms. An Exposure of Germany’ War Plans, London,
John Lane, 1934. Die deutsche Ausgabe siehe: Dorothy Woodman: Hitler treibt zum Krieg. Dokumenta-
rische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen. Herausgegeben von Dorothy Woodman, Sekretärin
der englischen Union für demokratische Kontrolle. Aus dem Englischen übertragen von Franz Obermei-
er, Paris, Editions du Carrefour, 1934, 503 Seiten (Nachdruck Köln, Pahl-Rugenstein, und Röderberg-
Verlag, Frankfurt am Main, 1979). Ebenfalls in englischer und französischer Übersetzung erschien A.
Müller: Hitlers motorisierte Stossarmee. Heeres- und Wirtschaftsmotorisierung im dritten Reich, mit
zahlreichen Bildern, Karten und Tabellen und einem Anhang über die Militarisierung der entmilitari-
sierten Zone, Paris, Editions du Carrefour, 1936, 220 Seiten. Der dritte Titel ist Dorothy Woodman: Hitlers
Luftflotte startbereit, Paris, Editions du Carrefour, 1935, 181 S.
176 Das Buch „Propaganda als Waffe“ erschien im September 1937 im Verlag Editions du Carrefour
in Paris und Anfang 1938 in französischer Übersetzung bei Sebastian Brant. In diesem Plädoyer für
eine konsequente Bekämpfung Hitlers mit den Mitteln der modernen Propaganda führt Münzenberg
aus: „Eine Offensive der Gegenpropaganda ist nicht nur als nächster Zug in dem großen geschicht-
lichen Ringen zwischen den faschistischen Unterdrückern und den Unterdrückten notwendig, son-
dern birgt, wie zahlreiche Beispiele bereits zeigen, die Möglichkeit des Erfolges und Sieges in sich.“
Münzenberg berief sich dabei auf das Diktum Thomas Manns: ‘Wir haben es erlebt, daß es falsch ist,
den Mächten des Bösen und der Gewalt allein die Offensive zu überlassen, es ihnen zu überlassen,
die Mittel moderner Propaganda zu ihrem menschenfeindlichen Nutzen zu verwenden. Die Weltlage
verlangt, daß der Geist seiner angeborenen Milde und Lässigkeit zum Trotz zu kämpfen und sich
zu wehren lernt.’ Seine Schlußfolgerung: „Auf dem Schlachtfeld der Propaganda hat die für den ge-
samten antihitlerschen Kampf gültige Forderung eine besondere und aktuelle Bedeutung: Angreifen,
Angreifen und nochmals Angreifen.” 1958 schreibt Kurt Kersten in einem “testamentarischen Brief”,
dass er das Buch verfasst habe, was Münzenbergs Sekretär Hans Schulz wiederum bestritt. Ulbricht
meinte zum Buch lapidar, das Wesen des Faschismus sei nicht verstanden worden (Dok. 446; Schil-
ler: Der Traum von Hitlers Sturz, S. 25 u.a.; vgl. Propaganda als Waffe, http://blogs.taz.de/schroeder-
kalender/2008/03/14/propaganda-als-waffe-2/).
177 Es handelt sich um die Veröffentlichungen: Ernst Henry (d.i. Semion Rostovskij): „Feldzug gegen
Moskau?, Paris, Editions du Carrefour, 1937 und Max Werner (d.i. Alexander Schifrin): Der Aufmarsch
zum zweiten Weltkrieg, Strasbourg, Sebastian Brant, 1938.
1472 1933–1939
Problem und bei der Verwirklichung dieser Aufgabe nicht nur nicht die Zustimmung
und Unterstützung der Ulbricht-Gruppe gefunden, sondern nur grösste Behinderung
und Erschwerung. [...]
Ein charakteristisches Beispiel für die falsche und pseudo-antinationalistische
Taktik ist der im Sommer 1938 erfolgte Versuch zur Bildung eines sogenannten
Friedenskomitees.178 Es ist heute die Frage zu überlegen, ob eine Aenderung des
Beschlusses zweckmässig ist, der 1936 gefasst wurde und wonach (gegen meinen
Vorschlag) Emigrantenvertretungen in die RUP-Organisation nicht aufgenommen
werden sollten. Vielleicht ist heute die Lage einen andere und man muss zu einem
neuen Beschluss kommen. Man kann aber m. E. ein solches deutsches Komitee nur
schaffen, wenn an seiner Spitze die besten und stärksten Namen stehen, die heute
das andere Deutschland verkörpern. Namen wie Thomas Mann, Fritz von Unruh,179
Feuchtwanger, Heinrich Mann, Terviranus [d.i. Treviranus] mit den besten sozialis-
tischen und kommunistischen Namen.180 Unmöglich aber war es (und es bedeutete
keine Unterstützung des Kampfes gegen Hitler, sondern unbewusst aber tatsäch-
lich eine Unterstützung für ihn), dass man der RUP und der Weltfriedenskonferenz,
Lord Cecil,181 Pierre Cot,182 Jouhaus [d.i. Jouhaux] etc.183 als deutsches Friedensko-
mitee Personen präsentierte, die durch ihre frühere kriegshetzerische Politik auf das
schwerste belastet und an deren Spitze man einen Rudolf Leonhardt stellte, einen
Mann, der über 10 Jahre in Frankreich lebt, keine Beziehungen zu der Arbeiterbewe-
gung oder antifaschistischen Organisationen hatte und mehr eine unglückliche als
eine glückliche Erscheinung darstellt.184 War es schon ein Fehler, dass man Leon-
hardt zum Präsidenten dieses Komitees machte, so war es ein Verbrechen, dass man
den Kriegshetzer Robert Breuer, der während des Krieges die Aufteilung Frankreichs
predigte („Glockenbreuer“) als zweiten Vertreter dort nominierte,185 als dritten Ver-
treter einen Mann namens Zienau nahm, der von der SPD bereits im Jahre 1937 als
Spitzel entlarvt wurde186 und weiter die Frau des Sozialdemokraten Geyer, gegen den
man erst kürzlich im Zusammenhange mit dem Moskauer Prozess die schwersten Vor-
würfe erhoben hatte.187 Hinzu kam noch der deutsche Schriftsteller Kerr, der in der
deutschen Kriegshetzliteratur von 1914 bis 1918 den Vogel abgeschossen hat. In dem
mit Unterstützung des Reichskriegsministeriums herausgegebenen Sammelwerk:
„Was wir vom Weltkriege nicht wissen“, haben die deutschen Generäle sich die billige
Demagogie gemacht, die Allianz der Welt gegen Deutschland 1918 auf die kriegshet-
zerische Propaganda der Kerr und Genossen zurückzuführen.188 [...]
Ich zweifle nicht daran, dass, nachdem die von mir geforderte und von der KI
beschlossenen Untersuchung durchgeführt sein wird und die Komintern, die sow-
jetrussischen Genossen und die antifaschistische Öffentlichkeit erfahren werden, in
welch nichtswürdiger Weise versucht wurde, mich politisch zu meucheln, der formale
Disziplinbruch eine mildere Beurteilung erfahren und mir wieder die Möglichkeit
gegeben wird, mit gewohnter Aktivität und Initiative, die meine Parteitätigkeit aus-
zeichnet, weiter in der KPD und der Komintern kämpfen zu können.
Ich bitte nur um eine Beschleunigung der von mir so oft geforderten Untersu-
chung an Ort und Stelle, der Prüfung aller erfundenen Vorwürfe und Beschuldigun-
gen mit Einvernahme von Zeugen und Gegenüberstellungen, darüber hinaus aber
auch um Durchführung des Untersuchungsverfahrens, das ich in meinen Briefen
vom 2. November 1937 und vom 15. Dezember 1937 als Mitglied der KPD und ihres
Zentralkomitees gefordert habe. Ich bitte um die Eröffnung einer innerparteilichen
Diskussion im Rahmen der gegebenen und möglichen innerparteilichen Demokratie
über die Parteipolitik und Taktik der letzten Jahre, um eine Parteikonferenz und Stel-
lungnahme der KI vorzubereiten, sowie um eine Überprüfung derjenigen erfolgten
Massregelungen und Ausschlüsse von Mitgliedern aus der Partei, die im letzten Jahre
erfolgt sind.189
Mit Parteigruss
(sign.): Willi Münzenberg190
Am 20.9.1938 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Antwort auf eine Anfrage
des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš zur Haltung der Sowjetunion gegenüber dem
deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei (der am 15.3.1939 tatsächlich erfolgte, nach der Be-
setzung des Sudetenlandes im Oktober 1938). Darin hieß es, man könne bestätigen, dass die UdSSR
im Falle einer deutschen Aggression der Tschechoslowakei helfen werde, falls Frankreich ebenfalls
zur Hilfe käme oder falls Beneš an den Völkerbund appellieren sollte.191 Tatsächlich kamen weder
Frankreich, noch die Sowjetunion der Tschechoslowakei zu Hilfe.
Am 3.11.1938 verabschiedete das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Text eines Kommuni-
qués an die polnische Regierung, worin diverse Maßnahmen im Sinne einer guten Zusammenarbeit
zum Ausdruck gebracht wurden.192
Am 24.11.1938 nahm das Politbüro den „freiwilligen“ Rücktritt Nikolaj Ežovs von seinem Posten als
Volkskommissar für Inneres an. Der gefürchtete NKVD-Chef wurde von Lavrentij Berija abgelöst und
nach seiner Verhaftung im Februar 1940 erschossen.193
Im Zuge einer temporären Verbesserung der Beziehungen zu Polen beschloss das Politbüro des ZK
der KP der Sowjetunion am 27.11.1938 eine Reihe polenfreundlicher Maßnahmen. So wurde das Kom-
missariat für Außenhandel damit beauftragt, eine Ausweitung des Handels vorzunehmen. Die Zug-
verbindung Kiev-Szepetówka sollte wieder aufgenommen werden. Nikita Chruščev wurde beauftragt,
den polnischen Friedhof in Kiev restaurieren zu lassen, dem Moskauer Stadtrat wurde nahegelegt, die
geplante Umwandlung des katholischen Kirchenbaus in einen Club nicht zu vollziehen, sondern im
Gegenteil der Gemeinde bei der Suche nach einem Priester behilflich zu sein.194
189 Das geforderte Untersuchungsverfahren fand nicht statt, noch weniger eine innerparteiliche
Diskussion oder eine Parteikonferenz. In der bis 1939 dauernden bürokratischen „Untersuchung“ der
Internationalen Kontrollkommission setzte sich naturgemäss der Standpunkt Ulbrichts durch (hierzu
Dok. 443, 446).
190 Angehängt ist ein elfseitiger Anhang mit personellen und politischen Interna zur Kaderpolitik
unter der Ägide Ulbrichts und der „Benutzung von übelbeleumdetsten Elementen und Spitzeln im
innerparteilichen Kampf und gegen Volksfrontpartner“. U.a. monierte Münzenberg, dass er eine
Untersuchung zum Fall der Pariser Tageszeitung eingefordert habe, diese jedoch nicht durchgeführt
worden sei.
191 RGASPI, Moskau, 17/162/24, 5–6. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 363.
192 RGASPI, Moskau, 17/162/24, 38, 48. Publ. in: Ibid., S. 364–365.
193 RGASPI, Moskau, 17/3/1003, 34, 82–84. Publ. in: Chlevnjuk/Kvašonkin/Košeleva: Stalinskoe
politbjuro, S. 168–171.
194 RGASPI, Moskau, 17/162/24, 63.
Dok. 443: [Paris], 15.12.1938 1475
Am 6.12.1938 erlaubte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion dem Volkskommissariat für Au-
ßenhandel, das am 1.3.1938 abgeschlossene Handelsabkommen mit Deutschland für das kommende
Jahr 1939 zu verlängern.195
Dok. 443
Telegramm Münzenbergs an Dimitrov: Für volle Einsicht in die
gegen ihn gerichteten Anklagen und Diffamierungen
[Paris], 15.12.1938
Telegramm – Dimitrov
Bestätige Erhalt Brief 29. November.196 Verlange einmal mehr Ansuchen zu akzeptie-
ren, das ich vor fast zwei Jahren gemacht habe und, um aufzuklären und [die Ange-
legenheit] zu beschleunigen, hier Feststellungen der Tatsachen durchzuführen, und
dies vor dem vereinbarten Zeitpunkt.197
Im besonderen, verlange ich, meinen ehemaligen engsten Mitarbeitern Dolivet,198
Martha Stascheck, Hans Schulz,199 Fritz Granzow, Else Lange zu erlauben, wie auch
den nichtkommunistischen, jedoch in die Diskussion implizierten Personen, wie
[Rudolf] Breitscheid, Heinrich Mann, [Lion] Feuchtwanger, Professor Marek,200
195 RGASPI, Moskau, 17/162/24, 65; APRF, Moskau, 3/64/665, 23. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-
Berlin, III, Dok. 186.
196 Der Brief sollte als Lockmittel funktionieren, um Münzenberg nach Moskau zu holen. Stalin
hatte jedoch bereits am 11.11.1937 befohlen, ihn nach Moskau zu holen, um ihn dort zu verhaften. Zu
Dimitrov sagte er: „Münzenberg ist ein Trotzkist. Wenn er herkommt, werden wir ihn sofort verhaften.
– Geben Sie sich Mühe, ihn hierher zu locken.“ (Dimitroff: Tagebücher, I, S. 165).
197 Gemeint ist wohl der Zeitpunkt seiner Reise nach Moskau, zu der Münzenberg sich grundsätzlich
bereiterklärt hatte.
198 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Louis Dolivet (1908–1989), der nach 1945 Filmproduzent wurde,
in Diensten der sowjetischen Geheimdienste stand, um Münzenberg auszuspionieren.
199 Der langjährige Sekretär Münzenbergs der Bank- und Krankenkassenangestellte und spätere
Lebensmittelkaufmann Hans Schulz (1904–1988) war seit 1923 KPD-Mitglied; seit Ende der 1920er
Jahre für die IAH tätig, 1931 für die IAH in Moskau. Emigrierte im Februar 1933 nach Paris, ging
1938/1939 den Weg Münzenbergs zur „Zukunft“ und den Freunden der sozialistischen Einheit
Deutschlands mit. Seit 1944 für die Sozialdemokratie aktiv, nach 1945 Beauftragter der französischen
Besatzungsbehörde für die Wiederherstellung des Geburtshauses von Karl Marx und des Marx-
Museums in Trier (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 343).
200 Professor Marek: D.i. Prof. Dr. Siegfried Marck, Deutsch-jüdischer Philosoph, Hochschullehrer
in Breslau (1889–1957). SPD-Mitglied, engagiert für einen freiheitlichen Sozialismus als Synthese
konservativer, liberaler und sozialistischer Konzepte. 1933 Emigration nach Frankreich, 1934
Dozent in Dijon, 1937 Plädoyer für eine grössere Unabhängigkeit gegenüber Kommunisten, 1938 mit
1476 1933–1939
[Emil J.] Gumbel, [Georg] Bernhard, [Max] Braun, gegenüber dem Genossen [Georges]
Cogniot oder anderen von Ihnen mandatierten Personen Aussagen zu machen. Ver-
lange mit besonderem Nachdruck, mir Möglichkeit zu geben, von den Dossiers Kennt-
nis zu erhalten, die Ihnen durch meine Feinde in der Partei übermittelt wurden sowie
es zu ermöglichen, vor meiner Abfahrt, die Fakten, Dokumente, und gegebenenfalls,
die durch Zeugen gemachten zweckdienlichen Aussagen zur Verfügung zu stellen.
Erinnere daran, daß du in Leipzig, berechtigterweise, darüber Beschwerde einge-
legt hast, daß man Dir die Anklageschrift erst einige Wochen vor dem Prozeß zugäng-
lich gemacht hatte.201 Was mich betrifft, so will man sie mir einzig erst im Laufe der
Prozedur selbst zur Kenntnis bringen, während meine Feinde alle Briefe kennen, die
ich Ihnen übermittelt habe. Nur wenn Zeugenaussagen, Gegenüberstellungen, die
Vorlage des notwendigen Materials erlaubt werden, ermöglicht man die für eine defi-
nitive Klärung notwendigen Bedingungen, könnte ich daran glauben, daß man die
tatsächliche Wahrheit herstellen könnte.
Ich zweifle nicht daran, daß du mir hilfst, mir zumindest annähernd eine Vertei-
digung zu ermöglichen, so wie ich sie für dich durch mein Handeln und den Gegen-
prozeß vom Herbst 1933 abgetrotzt habe, während deines Leipziger Prozesses.
Willi
15-12-38.
Am 29.12.1938 gewährte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion Georgi Dimitrov auf seine Bitte
hin 23.500 Dollar für die Arbeit der Internationalen Roten Hilfe (MOPR).202
Münzenberg in Die Zukunft, 1939 in die USA, dort Mitglied der Association of Free Germans (Albert
Grzesinski). Mitbegründer des Roosevelt-Collegs, 1955 Gastprofessur in Bonn (Roswitha Grassi, Peter
Richart-Willmes: Denken in seiner Zeit. Ein Personenglossar zum Umfeld Richard Hönigswalds,
Würzburg, Königshausen & Neumann, 1997, S. 83f.; Schiller: Der Traum von Hitlers Sturz, S. 240;
Thomas Keller: Deutsch-Französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten
der Zwischenkriegszeit, München, Wilhelm Fink Verlag, 2001, bes. S. 312–330).
201 In Leipzig: Anspielung auf den Reichstagsbrandprozess 1933 mit Dimitrov als dem
Hauptangeklagten der Nationalsozialisten.
202 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/162/24, 71. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.:
Politbjuro i Komintern, S. 771.
Dok. 443a: O.O.u.o.D. [Aus dem Internierungslager, Ende 1938] 1477
Dok. 443a
Grußbotschaft deutscher Spanienkämpfer an ihre Angehörigen in
der Sowjetunion zum Neujahrsfest
O.O.u.o.D. [Aus dem Internierungslager, Ende 1938]
Unsere Lieben.
Wir, Eure Maenner, haben uns zusammengefunden, um einen gemeinsamen Brief an
Euch zu schreiben. Vor allem wuenschen wir Euch gute Feiertage.
Zwei Jahre sind es her, dass wir Euch verlassen haben. Wir gingen nach Spanien,
um dem heldenhaften spanischen Volke zu helfen in seinem Kampfe gegen den
internationalen Faschismus. Wir wollen heute Euch Frauen unseren heissen Dank
aussprechen fuer die Opfer, die Ihr gebracht habt. Schwer war die Zeit der Trennung
fuer Euch. Viele Schwierigkeiten haben sich ergeben. Aber immer wieder habt Ihr
verstanden sie zu ueberwinden. Ihr habt Euch wuerdig gezeigt als Frauen von Frei-
heitskaempfern, die alles, selbst Ihr Leben eingesetzt haben fuer die grosse Sache der
Freiheit. Ihr habt die Losung unserer „Passionaria“ Euch zu eigen gemacht, die den
spanischen Frauen sagte, dass es besser sei stehend zu sterben, als knieend zu leben.
Ihr habt Euch ein Beispiel genommen an den grossen Heldentaten, die die Frauen
in Spanien vollbringen. Dieses Verstaendnis fuer die Notwendigkeit Eurer Opfer gab
Euch die Kraft, diese schweren Tage durchzuhalten.
Wir standen an der Front bis zu dem Beschluss der spanischen Regierung, alle
auslaendischen Freiwilligen zurueckzuziehen. Jeder stand auf dem Posten wo er hin-
gestellt wurde, als Soldat, Offizier oder Kommissar. Jeder gab sein Bestes fuer diesen
grossen Kampf. Viele von uns haben mit ihrem Blut die heilige spanische Erde getra-
enkt.
Wir haben einige unserer besten Kameraden verloren, denn jeder Kampf kostet
Opfer. Diese Helden leben in unserem Herzen fort. Und wir werden ihr Vermaechtnis
erfuellen. Manche unserer teueren Genossinnen haben in Spanien ihren Mann verlo-
ren. Wir stellen Euch die grosse Aufgabe:
Nehmt Euch dieser Frauen an, ebenso wie ihrer Familien. Sie haben die groessten
Opfer gebracht, sie haben ihren Mann, die Kinder ihren Vater verloren. Diese Frauen
brauchen nicht nur wirtschaftliche Hilfe, denn wir wissen, dass dafuer gesorgt wird.
Und in den schwersten Stunden war es fuer uns ein grosser Trost, zu wissen, dass
unsere Familien sicher geborgen sind in unserem Vaterland, in dem Vaterland des
Weltproletariats, der Sowjetunion. Unsere Frauen sollen sehen und fuehlen, dass der
grosse Kampf uns alle zu einer unzertrennbaren Einheit zusammengeschweisst hat;
1478 1933–1939
nehmt die Witwen unserer unvergesslichen Helden noch enger in Eurem Kreis auf,
helft ihnen ihren Schmerz zu ueberwinden!
In nicht ferner Zeit werden wir Spanien verlassen. Wir freuen uns vom ganzen
Herzen, Euch unsere Lieben in die Arme schliessen zu koennen. Und selbst wenn es
auch noch einige Zeit dauern sollte bis [wir] uns wiedersehen, so werdet Ihr das ver-
stehen; davon sind wir ueberzeugt.
In wenigen Tagen begehen wir in dieser so ereignisreichen Zeit die Jahreswende.
Freude erfuellt unsere Herzen zu wissen, dass Ihr [mit] den Millionen Gluecklichen
des Sowjetlandes diese Feier begeht. Stolz erfuellt uns, dass wir diese Feier gemein-
sam mit unseren spanischen Kampfgefaehrten verbringen werden.
Ein Prosit-Neujahr auf unser baldiges Wiedersehen!
Ein Prosit-Neujahr auf die weiteren Erfolge und zu einem noch gluecklicheren
Leben in unserer geliebten Sowjetheimat!
Ein Prosit-Neujahr auf den Sieg des heroisch kaempfenden spanischen Volkes!
Salud! Eure Maenner und Kampfgefaehrten: […]203
Liebe Frauen!
Wenn hier auf unserem Kollektivbrief noch nicht alle Eure Maenner unterschrieben
haben, so seid nicht besorgt, das kommt daher, dass wir noch nicht alle vollzaehlig
hier in diesem Lager versammelt sind. […]204 Wir ersuchen das [sic] beiliegender Brief
an die unterstehenden Adressen versandt wird: […]205
Am 7.1.1939 beauftragte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion das Außenkommissariat, mit
einer Demarche bei der ungarischen Regierung wegen des geplanten Beitritts des Landes zum An-
tikominternpakt vorstellig zu werden. Im Falle eines tatsächlichen Beitritts sollten die jeweiligen
diplomatischen Vertretungen in Budapest und Moskau aufgelöst werden. Für diesen Fall sollte der
ungarischen Regierung vorgeschlagen werden, die weiteren Beziehungen zur UdSSR über die diplo-
matischen Vertretungen in Warschau oder Ankara abzuwickeln.1
Dok. 444
Der Sekretär der Internationalen Kontrollkommission an Dimitrov
zum Schicksal von Anna Etterer und Franz Huber
Moskau, 8.1.1939
„26“
L/2/tb.
S[treng] geheim
In einer Erklärung teilt Huber mit, er habe seine Frau immer für eine gute Kom-
munistin gehalten, und darin bestätige ihn nochmals ihre von ihm erhaltenen Briefe
aus ihrem Verbannungsort.
Das der IKK vorliegende Material zu Anna Etterer und Franz Huber lässt sich ver-
kürzt folgendermaßen zusammenfassen:
5 „Huber“ handschriftlich.
Dok. 444: Moskau, 8.1.1939 1481
Was für ein Schlag war es allerdings für mich, als ich am 16.VII. zu 5 Jahren Verban-
nung in ein Arbeitslager für konterrevolutionäre Tätigkeiten [verurteilt] wurde (...) Ich
kann dir sagen, dass mich der Umstand aufrechterhält, dass ich immer als eine klas-
senbewusste Kommunistin gehandelt habe, dass ich hier unschuldig einsitze (...).“
Franz Huber schilderte seine Vermutungen über mögliche Gründe, die Anlass zur
Verhaftung seiner Frau gewesen seien:
B) Die Zimmernachbarin von Huber führt, seiner Meinung nach, eine vertrauensun-
würdige Lebensweise und könnte Falsches denunziert haben (diese Nachbarin nutzt
ihr Zimmer als Reserve, während sie an einem anderen Ort wohnt; in diesem Zimmer
wird sie von einem Mann unbekannter Herkunft besucht und tippt währenddessen
die ganze Zeit etwas auf ihrer Schreibmaschine).
Wir befinden es für zweckmäßig, vor den zuständigen Staatsorganen die Frage
nach der Überprüfung der Materialien zum Fall Anna Etterer aufzuwerfen.
Auf Vorschlag Maksim Litvinovs votierte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 18.1.1939
für einen Besuch des PArteiführers der französischen Sozialisten, Léon Blum, in die Sowjetunion. Der
Besuch fand letztendlich nicht statt.6
Am 21.1.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, von Finnland Garantien dafür
zu verlangen, dass kein dritter Staat die zu Finnland gehörenden Åland-Inseln gegen die Sowjetunion
militarisieren werde. Anlass waren Bestrebungen Finnlands und Schwedens, die 1922 abgeschlos-
sene Konvention zur Demilitarisierung der Inseln vom Völkerbund aufheben zu lassen (was im Mai
1939 abgelehnt wurde). Angesichts der Meldung in einer schwedischen Zeitung, Finnland hätte einige
Inseln bei Kotka den Deutschen verkauft, wurde beschlossen, eine Erklärung zu verlangen.7
Am gleichen Tag forderte das Politbüro die Volkskommissare auf, binnen einer dreitägigen Frist Listen
der über die deutschen Kredite zu beschaffenden Waren für ihre Kommissariate einzureichen.8
6 RGASPI, Moskau, 17/162/24, 85. Publ. in: Adibekov/Di Bʼjadžo/Gori u.a.: Politbjuro CK RKP(b) –
VKP(b) i Evropa, S. 368.
7 RGASPI, Moskau, 17/162/24, 86. Publ. in: Ibid., S. 368–369.
8 APRF, Moskau, 3/64/665, 25. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 188.
1482 1933–1939
Das russische Politbüro beschloss am 2.2.1939 die „Rückreise“ von 300 „vom EKKI als Freiwillige
nach Spanien geschickten“ Spanienkämpfern aus Frankreich (wo sie höchstwahrscheinlich in La-
gern weggesperrt wurden). Berija und Litvinov wurden beauftragt, alle anfallenden Fragen zu klären.
Weiterhin sollte ca. 300 sudetendeutschen Kommunisten die Einreise in die Sowjetunion gestattet
werden. Ihre Identität sowie ihre Einteilung zur Arbeit in sowjetischen Betrieben und Behörden soll-
te durch eine Kommission (Mitglieder: Malenkov, Dekanozov, Švernik und Bogdanov), sichergestellt
werden. Der Beschluss erfolgte auf Bitten Dimitrovs, da ihnen „die unmittelbare Gefahr“ drohe, an die
Gestapo übergeben zu werden und dort erschossen zu werden“.9
Dok. 446
Brief Ulbrichts an die Internationale Kontrollkommission der
Komintern zum Parteiausschluss Willi Münzenbergs
[Moskau], 10.2.1939
streng vertraulich.10
11.2.39/Pis.
6 Ex.
I. Münzenbergs Kampf gegen die Partei und gegen die Einigung der antifaschistischen
Kräfte. [...]
Münzenberg, der stets seine Tätigkeit unabhängig von der KPD führte, hat unter den
komplizierten Verhältnissen des Kampfes gegen den deutschen Faschismus, den
Glauben an die deutsche Arbeiterklasse verloren und ist unter dem Druck antimarxis-
tischer Einflüsse ideologisch entartet.
Das zeigte sich offener, als etwa seit Ende 1936 Schwierigkeiten des Kampfes der
Volksfront in Spanien und Frankreich eintraten und Kräfte der französischen und
englischen Bourgeoisie den Kampf gegen die Volksfrontpolitik, gegen die KP und
gegen die Bündnispolitik der SU verschärften.
Zu dieser Zeit erfuhr Münzenberg, dass sein internationaler Verbindungsapparat
liquidiert werden sollte und er war über die Nachprüfung seiner Beziehungen durch
9 Typoskript in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 495/74/541, 56; No 490. 2.––28.2.1939 Beschluss
des PB der VKP(b) aus Protokoll Nr. 86 (gesonderte Nummer): Punkt 99. Deutsche Erstveröffentlichung,
in russischer Sprache publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 772–773.
10 Handschriftlich: „115/12“.
Dok. 446: [Moskau], 10.2.1939 1483
die KI empört. Sein Bestreben, unabhängig von Moskau zu sein und sein persönliches
Geltungsbedürfnis, wurde von feindlichen Kräften, die mit Spionagestellen verbun-
den waren, ausgenutzt zum Kampf gegen die KPD. Münzenbergs persönliches Inter-
esse, die Interessen gewisser Spionagestellen, sowie einiger Sozialdemokraten und
einiger bürgerlicher Personen, fielen zusammen. (Münzenberg-Braun-Spiecker). Es
kommt hinzu, dass alle Agenten die mit Hilfe Münzenbergs in die verschiedenen Insti-
tutionen gekommen waren, befürchteten, dass sie ohne Münzenberg Schwierigkeiten
in ihrer Tätigkeit bekommen würden. Sie hatten ein spezielles Interesse am Kampf
gegen das Sekretariat des ZK der KPD.
Münzenberg begann mit Hilfe bürgerlicher, sozialdemokratischer und trotzkisti-
scher Beziehungen in der gegnerischen Presse mit der Kampagne gegen die KPD. Die
sozialdemokratische Gruppe Braun-Breitscheid-Dekker [Decker]11 stellte im Einver-
nehmen mit Münzenberg politische Forderungen an die KPD. Sie forderte, dass das
ZK der KPD nicht direkt mit sozialdemokratischen Gruppen in Deutschland zusam-
menarbeiten soll, sie wandten sich gegen das Einheitsfrontangebot der KPD an den
Parteivorstand der SPD und forderten die Einstellung unseres Briefwechsels mit der
Berliner sozialdemokratischen Leitung. Gleichzeitig lehnten sie eine Zusammenar-
beit der Spanienhilfe ab, und wandten sich gegen einen Vorschlag an die Katholiken
und an die „Freiheitspartei“ zur Zusammenarbeit.12
Münzenberg liess durch Braun und Bernhard den vorbereitenden Pariser Volks-
frontausschuss sprengen und zerstörte den bisher gemeinsam von Sozialdemokraten
und Kommunisten herausgegebenen Pressedienst „Deutsche Information“.13
Münzenberg hatte sich hinter dem Rücken der Partei eine zeitlang in den Besitz
der „Pariser Tageszeitung“ gesetzt und versuchte von der Partei und der KI Geld für
diesen Zweck zu erhalten. Auf diese Weise sollte die Partei obendrein Münzenberg
eine Zeitung zum Kampf gegen die KPD sichern. (Trotz der Forderung der Partei, dass
11 Georg Decker war das Pseudonym des Moskauer Soziologieprofessors Georgij (Jurij) Denike (1887–
1964), Menschewik, aktiver Teilnehmer der Revolution von 1905. 1920 trat Denike eine Stelle in der
Berliner Sowjetvertretung an. Er weigerte sich 1925, zurückzukehren, wurde zum Emigranten und
schrieb fortan für die deutsche sozialdemokratische wie auch exilmenschewikische Presse. 1933 nach
Paris, ab 1941 in den USA (siehe Genis: Nevernye slugi, S. 34–35).
12 Die KPD warf den Sozialdemokraten – z. Tl. durchaus berechtigt – ihre mangelnde Solidarität für
die Opfer des spanischen Bürgerkriegs vor.
13 Dagegen schrieb Rudolf Breitscheid am 3.12.1937 an Heinrich Mann: „Es sind eine Reihe von
Gruenden, die mich veranlassen, meine Beziehungen zu den ‚Deutschen Informationen’ zu loesen.
(...) Was mich dann noch besonders in meinem Entschluss bestaerkt hat, war der Artikel, den Dimitroff
zum zwanzigsten Jubiläum der Sowjet-Union geschrieben hat. Seine sonderbare Behauptung, das
Bekenntnis zur Demokratie müsse mit dem Bekenntnis zum Stalinismus Hand in Hand gehen,
seine Angriffe gegen den ‚Sozialdemokratismus’ im allgemeinen und seine wider fuehrende
Persoenlichkeiten der II. Internationale gerichteten Verleumdungen haben mir bewiesen, dass die
massgebende Persoenlichkeit der Komintern, was die Idee der Volksfront anbelangt, den Standpunkt
verlassen hat, der auf dem VII. Weltkongress eingenommen worden war.“ (publ. in: Kemper: Heinrich
Mann und Walter Ulbricht, S. 230f.; zu den Deutschen Informationen siehe Dok. 435).
1484 1933–1939
der trotzkistische Spion Maslow nicht mehr in der Zeitung schreiben solle erhielt er
sogar, wie sich später herausstellte, festes Honorar).14
Münzenberg versucht in seinem Brief an das EKKI vom 30. August 1938, sein
Liquidatorentum unter der Maske des Kampfes gegen das Sektierertum zu verde-
cken.15 Demgegenüber besagen die Tatsachen:
Münzenberg verhinderte die Gewinnung weiterer Kräfte für den vorbereitenden
Volksfrontausschuss und sabotierte jeden Schritt der auf die Schaffung einer Basis der
Volksfrontbewegung im Lande gerichtet war. Im Interesse seiner persönlichen egois-
tischen Interessen und seiner Loslösung von der Partei, möglichst ohne sich zu iso-
lieren, wollte er sich als Führer der deutschen Volksfrontbewegung durchsetzen. Als
ich unter diesen Umständen Heinrich Mann vorschlug, eine richtunggebende Rede
im Ausschuss zu halten, die auch eine gute Wirkung hatte (siehe „Deutsche Volks-
zeitung“ Nr. 16 vom 18. April 1937) waren Münzenberg und Breitscheid gegen diese
Popularisierung von Heinrich Mann.16 Sie waren sogar dagegen, dass der „Freiheits-
sender“ dem vorbereitenden Volksfrontausschuss zur Verfügung gestellt wurde.17 [...]
Als Ulbricht in einem Brief an Heinrich Mann vorschlug mit Hilfe von Thomas
Mann eine breitere Zusammenkunft von Sozialdemokraten, Intellektuellen, Katholi-
ken und Kommunisten vorzubereiten,18 vertiefte Münzenberg gewisse Reibungen zwi-
schen Heinrich Mann und Thomas Mann und zerstörte diesen politisch richtigen und
zeitgemässen Plan. Der Vorschlag von Ulbricht an die Sozialdemokraten, gemeinsam
mit uns [die] Spanienhilfe durchzuführen19 wurde von Münzenberg sabotiert. [...]
20 Sozialdemokratische Konzentration: D.i. Recte die Sozialistische Konzentration. Auch hier ent-
spricht die Darstellung Ulbrichts nicht den historischen Tatsachen. Die Sozialistische Konzentration
war eine Initiative der Gruppe Neu Beginnen – unterstützt u.a. vom ehemaligen Sozialdemokraten Paul
Hertz – und der Revolutionären Sozialisten Deutschlands, die im Sinne eines „Festhalten(s) an den his-
torischen Aufgaben des Proletariats“ das Programm einer „antifaschistischen Revolution“ realisieren
sollte. Implizit war sie auch gegen die einschränkende KPD-Losung der demokratischen Republik ge-
richtet. Siehe: Peter-Michael Gawlitza: Die sozialistische Konzentration: Über Bestrebungen zur Samm-
lung der politisch und organisatorisch zersplitterten deutschen Sozialdemokratie in der Emigration
zwischen November 1937 und August 1938, Berlin, Akademie der Wissenschaften der DDR, Dissertation
A, 1986.; Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, Bd. 2, S. 22, S. 434f.
21 Paul Hertz (1886–1961), deutsch-jüdischer sozialdemokratischer Politiker, nach 1933 Mitglied des
SPD-Exilvorstands (SOPADE). Er schloß sich 1938 „Neu Beginnen“ an. Nach dem Krieg u.a. lange
Jahre Innensenator in Berlin (siehe: Ursula Langkau-Alex: Paul Hertz (1888–1961). Realpolitiker im
Dienste der sozialdemokratischen Utopie. In: Peter Lösche, Michael Scholing, Franz Walter: Vor dem
Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin, Colloquium Verlag, 1988, S.
145–169).
22 Handschriftlich hinzugefügt: „siehe Anlage“. Offensichtlich ließ Dimitrov den Brief Münzenbergs
an Ulbricht weitergeben, der ihn wiederum an Heinrich Mann schickte.
1486 1933–1939
[...] Das war auch notwendig, um die trotzkistischen Elemente, die unter der Bezeich-
nung „Berliner Opposition“ auftraten, zu isolieren.23 Das Sekretariat des ZK der KPD
hatte genügend Anzeichen dafür, dass der Angriff der rechten sozialdemokratischen
Führer gegen die Einheitsfront, der Versuch verschiedener sozialdemokratischer
Gruppen zur Zusammenfassung von Antifaschisten unter Einbeziehung eines Teiles
der Trotzkisten, das Auftreten Münzenbergs und der Versöhnler (Gruppe Volk-Gräf)24
in unmittelbarem Zusammenhang stand. Durch die Verbindungen Münzenbergs
in der Partei und durch „Versöhnler“ die geschickt getarnt im Funktionärkörper
der Partei in der Emigration arbeiteten, sollten die Bedingungen für den innerpoli-
tischen Kampf geschaffen werden. Das veranlasste das Parteisekretariat zu einer
erneuten Ueberprüfung der Parteimitglieder und Leitungen nicht nur, wie Münzen-
berg behauptet, über ihre Vergangenheit, sondern über ihre gegenwärtige politische
Arbeit und ihre Meinung über die verschiedenen politischen Fragen. Dabei wurden in
mehreren Leitungen Funktionäre festgestellt, die für feindliche Gruppen („Versöhn-
ler“, „Milesgruppe“25) arbeiteten. Die verschiedenen mit den Trotzkisten mehr oder
weniger eng verbundenen Gruppen spekulierten auf den Kampf von Münzenberg
gegen die Parteiführung. Das Parteisekretariat musste unter diesen Bedingungen
nicht nur die Mitarbeit Münzenbergs überprüfen, sondern auch seine Verbindungs-
leute von den Parteiverbindungen entfernen.26
Es geht im Falle Münzenberg nicht um Fragen der Vergangenheit Münzenbergs,
sondern um seine gegenwärtigen Beziehungen zu Trotzkisten und anderen Spionen
und zu sonstigen Gegnern der Partei. In diesem Zusammenhang ist es wichtig fest-
zustellen, dass die Hetze gegen Ulbricht kurze Zeit nach seiner Ankunft in Paris in
der Rechtszeitung „Matin“ begann und gleichzeitig von Münzenberg, Schwarzschild,27
dem Mitarbeiter des französischen II. Büros,28 Max Braun und dem Menschewik
Decker geführt wurde.
23 Hier setzen sich Ulbrichts inhaltliche Verdrehungen fort. Die „Berliner Opposition“ war keine
trotzkistische Initiative, sondern bildete sich um die noch verbliebene KPD-Parteioppostion der
„Versöhnler“ um Karl Volk. Siehe Dok. 423a und 424.
24 Gruppe Volk-Gräf: Zu Volk siehe auch Dok. 348.
25 Milesgruppe: Die Gruppe „Neu Beginnen“, auch Leninistische Organisation (ORG/LO). Eine vor
allem in die SPD und SOPADE hineinwirkende Kadergruppe für eine neue revolutionäre Partei gegen den
Kurs von SPD und KPD um Walter Loewenheim (Ps. Miles), aus der eine Reihe bekannter Intellektueller
stammen (Karl Frank, Ossip K. Flechtheim, Richard Löwenthal). Siehe als programmatische Grundlage:
Miles (Walter Löwenheim), Neu Beginnen! Faschismus oder Sozialismus, Karlsbad 1933; vgl. Walter
Loewenheim: Geschichte der Org [Neu Beginnen] 1929 - 1935. Eine zeitgenössische Analyse. Hrsg. von
Jan Foitzik. Berlin, Edition Hentrich, 1995.
26 „fernen“ handschriftlich.
27 Zu Leopold Schwarzschild, dem Herausgeber des Neuen Tagebuch, siehe Dok. 402.
28 II. Büro: „Deuxième Bureau“, die Bezeichnung für den Militärischen Auslandsnachrichtendienst
Frankreichs.
Dok. 446: [Moskau], 10.2.1939 1487
34 Karl Gröhl, Ps. Karl Friedberg, später Karl Retzlaw (1896–1979); deutscher Publizist und sozialistischer
Politiker, KPD-Funktionär. Mitglied des Spartakusbundes, später im Nachrichtenapparat der KPD tätig
(siehe seinen Brief zum Militärprogramm der KPD 1924, Dok. 104). Mitarbeiter in Münzenbergs Neuem
Deutschen Verlag, als Reaktion auf die Katastrophe von 1933 und der weiterhin guten Beziehungen
zwischen der Stalinschen Sowjetunion und Hitlerdeutschland 1933 Anschluss an die trotzkistischen
Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD). Im Exil Mitarbeit bei der Zeitschrift Freies
Deutschland (Max Siewers); geheime Missionen zur Verhinderung von deutschen Waffentransporten
nach Spanien (siehe: Karl Retzlaw: Spartakus – Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines
Parteiarbeiters, Frankfurt am Main, Verlag Neue Kritik, 1971; Peter Bernhardi (Hrsg.): „Der Sozialismus
ist human, ist demokratisch oder er ist gar nicht.“ Zum 100. Geburtstag des Sozialisten Karl Retzlaw,
Frankfurt am Main, Arbeitskreis Karl Liebknecht, 1996).
35 Der hier von Ulbricht denunzierte „radikale Pazifist“ (Ursula Langkau-Alex) Berthold Jacob (1898-
–1944, in NS-Haft) war neben seiner journalistischen Tätigkeiten an der Arbeit des Volksfrontausschusses
beteiligt. Er wurde aufgrund seiner Veröffentlichungen über die Militarisierung des NS-Regimes und
die geheimen Aufrüstungen von den Nationalsozialisten im März 1935 in der Schweiz entführt. Als
der Fall international Schlagzeilen machte, wurde er wieder in die Schweiz freigelassen, von dieser
jedoch dann nach Frankreich abgeschoben. Nach einer späteren erneuten Entführung starb er nach
langer NS-Haft. Siehe: Berthold Jacob: Das neue deutsche Heer und seine Führer: Mit einer Rangliste
des deutschen Heeres und Dienstaltersliste (nach dem Stande von Mitte August 1936), Paris, Éditions
du Carrefour, 1936; Jost N. Willi: Der Fall Jacob-Wesemann (1935/1936). Ein Beitrag zur Geschichte der
Schweiz in der Zwischenkriegszeit, Bern-Frankfurt am Main, Lang, 1972.
36 Gemeint ist neben Jacob Walcher der Luxemburg-Biograph Paul Frölich (KPD, später KPO).
37 Das von Fenner Brockway und Julián Gorkin geleitete „Londoner Büro“ vereinigte von 1932 bis
1940 eine Reihe unabhängiger linkssozialistischer und revolutionärer Parteien aus Deutschland,
Frankreich, Spanien, Großbritannien, Österreich, Norwegen, Palästina u.a. Auch die POUM gehörte
ihm an (Willy Buschak: Das Londoner Büro. Europäische Linkssozialisten in der Zwischenkriegszeit,
Amsterdam, Stichting IISG, 1985 (Sozialhistorische Quellen und Studien. 1)).
Dok. 446: [Moskau], 10.2.1939 1489
38 Hier beteiligte sich Ulbricht an der Hetze gegen die POUM (Partido Obrero de Unificación
Marxista, „Arbeiterpartei der marxistischen Vereinigung“, siehe Dok. 414). Der Regisseur Ken Loach
hat den antifaschistischen Kämpfern der POUM, darunter George Orwell, mit seinem Film „Land and
Freedom“ (1995) ein Denkmal gesetzt.
39 Luís Araquistain Quevedo (1886–1959), spanischer sozialistischer Schriftsteller und Politiker.
Als Botschafter der spanischen Republik in Frankreich und Freund des auf Betreiben der
Kommunistischen Partei 1937 abgesetzten Ministerpräsidenten Largo Caballero organisierte er den
illegalen Waffennachschub aus Frankreich für die spanische Republik (siehe: J. F. Fuentes: Luis
Araquistáin y el socialismo español en el exilio. 1939–1959, Madrid, Biblioteca Nueva, 2002).
40 Die Internationale (Sondernummer, August 1937) enthielt u.a. den Artikel: „Die deutschen
Trotzkisten und die Gestapo“ mit zahlreichen empirisch unbelegten Invektiven und Denunziationen.
In einem weiteren Artikel von Philipp Dengel kommt die von Stalin geforderte terroristische
Komponente dieser „Trotzkisten“-Verfolgung zum Ausdruck: „Ebenso wie die Bucharinschen Banditen
sich in der Sowjetunion mit den Trotzkisten verbunden hatten, arbeiten auch die Brandleristen
und die Versöhnler faktisch mit den Trotzkisten zusammen. Ihre Verleumdung der Sowjetunion
unterscheidet sie nur in äusseren Worten, sie kämpfen wie die Trotzkisten gegen die Volksfront,
sie verteidigen die spanischen trotzkistischen Verbrecher, Brandler und Versöhnler haben in der
Sowjetunion mit trotzkistischen, Bucharinschen und anderen sowjetfeindlichen Verbecherbanden
zusammengearbeitet.“ (publ. in: Bayerlein/Lasserre: Archives de Jules Humbert-Droz, IV).
41 „und unsere“ handschriftlich unterstrichen.
1490 1933–1939
war mit der Gestapo organisiert gewesen. Auch eine tschechoslowakische amtliche
Stelle hatte vorher von der Sache Kenntnis.42 Der Verbindungsmann Münzenbergs zu
Strasser war der frühere Staatssekretär Spiecker, ein Katholik. Dieser propagierte mit
Berufung auf „Wilhelm Tell“ diesen individuellen Terror und suchte Geldquellen für
ein Flugzeugattentat auf Berchtesgaden.43
Es kam hinzu, dass ausländische Spionagestellen an Kommunisten herangetre-
ten waren mit der Aufforderung, in Deutschland für sie zu arbeiten und hierzu ihnen
Material zu liefern. Von den sozialdemokratischen Grenzsekretären erklärten einige
offen, dass sie ihre Berichte an die ausländischen Nachrichtenstellen verkaufen.
Das waren die politischen Gründe für die Erklärung des ZK in der festgestellt
wird, dass das sogenannte Attentat von Hirsch von Gestapoagenten organisiert war.
Gleichzeitig mussten wir in getarnter Form auch gegen die Spionagetätigkeit für aus-
ländische bürgerliche Regierungen Stellung nehmen. Deshalb wurde es in der Erklä-
rung so dargestellt, dass hinter der Aufforderung zu Nachrichtenbeschaffung die
„unter den verschiedensten Flaggen“ erfolgte, die Gestapo steht. Deutlicher durften
wir öffentlich nicht werden. Die Beschwerde Münzenbergs über unsere Erklärung
gegen die Provokation als Waffe des Faschismus zwingt zu der Frage: Welches Inter-
esse hatte Münzenberg, die Wachsamkeit der Partei einzuschläfern?
3.) Kaderfragen.
Münzenberg versucht die materiellen Versorgungsschwierigkeiten der Genossen in der
Emigration für seinen Kampf gegen die Partei auszunutzen. Gerade in dieser Bezie-
hung wurde 1937 eine Ueberprüfung durchgeführt, um soweit wie möglich die Genos-
sen mit Hilfe der KP des betreffenden Landes, die Genossen in Arbeit zu bringen und
ihre materielle Lage zu verbessern. Obwohl Münzenberg Mitglied der Anerkennungs-
kommission für Emigranten war, hat er sich nie um die Emigration gekümmert. [...]
42 Zum „Fall Hirsch siehe Dok. 419. Helmut Hirsch wurde nicht nach Stuttgart, sondern nach Fürth
bzw. Nürnberg gesandt, allerdings auf dem Weg nach Stuttgart gelockt und dort verhaftet. Wie aus
den nach 1990 getätigten Auskünften eines ehemaligen Mitarbeiters des illegalen KPD-Apparats
in Prag zu entnehmen ist, war es die Prager KPD-Leitung selbst, die die „Schwarze Front“ bei der
tschechoslowakischen Staatspolizei denunzierte, da sie von der Unterwanderung der Strasser-
Organisation durch die Gestapo ausging. Infolge der Denunziation wurde Otto Strasser kurzfristig
verhaftet (siehe Buscher: Helmut „helle“ Hirsch, S. 158–160).
43 Zu Otto Strasser siehe Dok. 244 und Dok. 417; ebd. zum ehemaligen Zentrumspolitiker Carl Spiecker.
Für die Unterstützung individueller Attentate durch Spiecker (unter Berufung auf Wilhelm Tell soll er
„diesen individuellen Terror“ unterstützt haben (!), gibt es keinen Hinweis (siehe: Der Fall Hirsch. In:
Deutsche Volkszeitung v. 1.5.1937 Nr. 18). „Die energische Widerstandstätigkeit der Strasser-Gruppe
veranlasste die Gestapo zu der Behauptung, dass die missglückten Attentate auf Hitler, die 1936 der
jüdische Student Helmut Hirsch und 1938 zwei Männer namens Döpking und Kremin unternommen
hatten, von Otto Strasser dirigiert worden seien. Das Gleiche wurde von dem Attentat am 8. November
1939 im Münchener Bürgerbräukeller, das durch Elser angeblich durchgeführt wurde, behauptet.“
(Abendroth: Das Problem der Widerstandstätigkeit, S. 186–187).
Dok. 446: [Moskau], 10.2.1939 1491
44 Beide, Bucharin und Münzenberg, äußerten sich in dramatischer Form über die Haltung der KPD,
die gerade der ideologischen und mentalen Beeinflussung der Bevölkerung durch die NS-Propaganda
nichts wirkungsvolles entgegensetze (siehe Dok. 379 u.a.).
45 Karl Otto Paetel (1906–1975), der „nationalrevolutionäre Protagonist der deutschen Jugendbewe-
gung“, ein Journalist und Politiker, der Beziehungen zum ISK und zu Münzenberg hatte. Maßgeblicher
Vertreter der Bündischen Jugend und der Freischar. Seine „Schriften der jungen Generation“ und seine
Tätigkeit seit 1933 war auf die Beeinflussung der Hitlerjugend als Reservoir für eine Anti-Hitler-Opposi-
tion gerichtet. Sein Ziel war ein Bündnis aller linken Gruppierungen als „Front deutscher Sozialisten“
und „Gruppe sozialistische Nation“. Autor der Neuen Weltbühne (1933f.) und der Zukunft (1938ff.) (Peter
Steinbach, Johannes Tuchel: Lexikon des Widerstands, München, C.H. Beck, 1998, S. 152f.; vgl. Karl O.
Paetel: Jugend in der Entscheidung. 1913–1933–1945, Bad Godesberg, Voggenreiter, 1963).
1492 1933–1939
etwas darüber wissen. Er bestritt überhaupt etwas mit Strasser zu tun zu haben, wozu
ich bemerkte, dass doch viele mit Strasser sprechen, wogegen an sich nichts einzu-
wenden sei.
/Ulbricht/.10.2.1939
Anlagen:46
1.) Rede Heinr. Mann (DVZ v. 18.4.37 No. 16)
2.) Der Fall Hirsch (DVZ v. 1.5.1937 No. 18)
3.) ZK der KPD warnt vor Provokationen (DVZ v. 11.7.37 No. 28)
4.) Zu W. Münzenbergs Buch „Propaganda als Waffe“ (DVZ v. 7.11.37 No. 45)
5.) Die junge Garde v. Novbr./Dezbr. 1937
Am 27.2.1939 genehmigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Unterstützung in Höhe
von 5 Millionen Francs für die Hilfe an spanische Flüchtlinge. Die Summe sollte an den spanischen
Botschafter in Paris, Marcelino Pascua, überwiesen werden.47 Am 26.3.1939 wurde bis zu 500 in
Frankreich internierten Spaniern die Einreise in die UdSSR gestattet.48
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei beschloss das Politbüro des ZK der
KP der Sowjetunion am 23.3.1939, die sowjetische Botschaft in Prag aufzulösen und sie in ein Gene-
ralkonsulat umzuwandeln.49
Am 4.4.1939 schlug das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion dem Volkskommissariat für Finanzen
vor, betreffs des Haushalts des EKKI für das Jahr 1939 einen Kredit in Höhe von 200.000 Goldrubeln
und 2 Millionen Rubeln in Sowjetwährung zu eröffnen.50
Dok. 447
Schreiben Wilhelm Piecks an den Vorsitzenden des
Schriftstellerverbands, über den Verlag „10. Mai“ und den Wunsch
Heinrich Manns, in die Sowjetunion überzusiedeln
[Moskau?], 11.4.1939
11.4.39
Vertraulich!
der Sowjetschriftsteller nach der Sowjetunion einzuladen.54 Heinrich Mann hat den
Wunsch geäussert sich in der Sowjetunion niederzulassen. Ich bin der Meinung,
dass wir diesem Wunsche entgegenkommen sollen, aber dazu ist natürlich in erster
Linie die Regelung seiner Wohnungsfrage notwendig. Auch dafür hat Genosse Šmeral
einen Vorschlag gemacht, der auch für andere nach der Sowjetunion übersiedelte
Schriftsteller und Wissenschaftler in betracht kommt.55 Ich bin auch mit diesem
Vorschlage durchaus einverstanden und bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung zu
diesen Vorschlägen. Ich höre, dass in den nächsten Tagen eine kleine Delegation vom
Verbande der Sowjetschriftsteller nach Paris fährt, und ich würde es sehr begrüssen,
wenn noch die Gelegenheit wäre, dass ich mit Ihnen über die verschiedenen Fragen,
die die emigrierten deutschen Schriftsteller angehen, sprechen könnte.56
54 Über diese Unterredung schrieb Šmeral an Dimitrov am 13.4.1939. Er habe „sachlich“ von Aleksej
Tolstoj gefordert: „1) die Schriftsteller sollen Heinrich Mann einen dauernden Aufenthalt hier
ermöglichen (das ist der jetzige Standpunkt des Gen. Pieck); 2.) sie sollen einen Betrag bis zu 20.000
fr. Frc. monatlich in Valuta zur Verfügung stellen, aus dem denjenigen deutschen antifaschistischen
Schriftstellern, die an grösseren Werken arbeiten, eine regelmässige Monatshilfe bis zu 2000 Frc.
gegeben werden könnte.“ (RGASPI, Moskau, 495/73/70, 30).
55 Bereits am 14.10.1938 hieß es, Manns Tochter und ihre Mutter hätten sich dazu entschlossen, in
die UdSSR „mit ihrer gesamten Einrichtung“ überzusiedeln und dazu die Bibliothek Heinrich Manns
sichern zu wollen (RGALI, Moskau, 631/11/429, 7). Kurz nach dem hier abgedruckten Brief Piecks an
Fadeev, am 23.4.1939, wurde Heinrich Mann im Namen des Schriftstellerverbands in die UdSSR ein-
geladen. Das Visum liege bereits in Paris (so nach RGALI, Moskau, 631/11/429, 9). Mann bedankte
sich am 3.5. für den Erhalt eines “unbefristeten Visums” und hoffte, wie er aus Paris schrieb, davon
“in jedem Zeitpunkt” Gebrauch machen zu können Paris (RGALI, Moskau, 631/11/429, 11). Noch im
Mai fuhr er jedoch in die USA und danach nicht mehr in die Sowjetunion, möglicherweise, weil er
von dort eine diplomatische Nachricht erhalten hatte, daß er für die gemeinsame Sache im Westen
wichtiger sei, als nur als Emigrant in der Sowjetunion, möglicherweise, weil er von Frankreich aus
noch die letzten Rettungsversuche der Volksfront unterstützen wollte (vgl.: Flügge: Heinrich Mann,
S. 384ff.; siehe auch Heinrichs Manns Sympathiekundgebung für die Sowjetunion im Schreiben an
den Schriftstellerverband vom 15.7.1939 (Dok. 454). Mann blieb dann bis zum letzen Moment nach der
deutschen Besetzung in Frankreich, bis er sich in der akuten Bedrohungssituation zusammen mit
seiner Frau Nelly, seinem Bruder Golo, Franz und Alma Mahler-Werfel mit Hilfe von Varjan Fry zu Fuß
über die spanische Grenze und dann bis Lissabon durchschlug, und sich dort im Oktober 1939 nach
New York einschiffte.
56 Vgl. hierzu die Beschwerde Bredels und anderer über die Einschränkungen der publizistischen
Tätigkeit, Dok. 451b.
57 Russ. dob[avočnyj] – Klappe. Anschl. handschr. Vermerk russisch: „An Gen. Ajler. [unleserlich]
Bitte um eine Übersetzung [Sign.]“.
Dok. 448: 14.4.1939 1495
Dok. 448
Schreiben Bohumir Šmerals an Dimitrov über Briefe von Thälmann
und Barbusse und weitere Archivmaterialien der Komintern
14.4.1939
An Genossen Dimitroff!
Ich habe drei Mappen mit Materialien übernommen, um sie durchzusehen und zu
bestimmen, was mit ihnen geschehen soll.
1. Ich mache Sie zuerst auf zwei Dokumente aufmerksam, die Sie besonders inte-
ressieren können. Es ist erstens darin ein umfangreicher, mit eigener Hand geschrie-
bener Brief von Thälmann aus dem Gefängnis, 40 eng beschriebene Zeilen. Für mich
ist es schwer, das Manuskript zu entziffern, wenn Sie aber ein Resume haben wollen,
würde ich solches mit Hilfe eines deutschen Genossen (vielleicht Klassner58 oder (...))
ausarbeiten. Thälmann beginnt mit der Mitteilung der Tatsache, dass er am 9. Januar
1934 zur Gestapo überführt war.59
Zweitens ist dort ein ausführlicher (48 maschinenschriftliche Seiten) Bericht –
von Barbusse eigenhändig unterschrieben über die damalige Lage in der internationa-
len antifaschistischen Bewegung. Diese Berichte hat Barbusse kurz vor seinem Tode
hier in Moskau dem EKKI-Sekretariat übergeben.60
2. Den grössten Teil der Materialien bilden die mit der Lage der KPD in den letzten
Monaten 1934 und Anfang 1935 zusammenhängenden Dokumente (Berichte einzel-
ner Bezirke, Brief des Genossen Pieck über die Lage der deutschen Emigranten in
Frankreich, Besprechungen mit Bezirksfunktionären, Korrespondenz zwischen PB
und Dahlem und Ulbricht, Beschluss über Ausschluss von Torgler, eine Reihe von
Dokumenten, zusammenhängend mit damals in der Schweiz verhafteten Heinz
Neumann, Briefe von Roland über den Stand der Gewerkschaftsarbeit, über Verhaf-
tungen, Memorandum der B.L. Berlin vom 26.9.34, Besprechung mit Stampfer in Prag,
Untersuchung des Falles August Kreuzburg [Creutzburg],61 [durchgestr.: Besprechung
58 Klassner (Ps.)., d.i. Paul Wandel (1905–1995), 1926 KPD-Mitglied, 1933 Kursant und Parteisekretär
an der Internationalen Leninschule in Moskau, Sekretär Piecks, später deutscher Leiter an der
Kominternschule in Kusnarenkovo, hoher DDR-Funktionär, 1975 Karl-Marx Orden.
59 Thälmann-Brief: Wahrscheinlich der im Gefängnis Moabit 1934 geschriebene „gekürzte
Lebenslauf“ zur Vorbereitung des erwarteten Prozesses (siehe SAPMO-BArch NY 4003, 1, 1ff.).
60 Ein solcher Bericht von Barbusse konnte bisher nicht eruiert werden.
61 August Creutzburg (1892–1941, auf Befehl Stalins 1941 im Gefängnis Orlov erschossen), Lackierer,
1908 SPD, seit 1919 hauptamtlicher USPD-, ab 1920 KPD-Funktionär. 1934 von der Partei in die
Emigration nach Amsterdam geschickt, wurde Creutzburg im Februar 1935 von der niederländischen
Polizei verhaftet und nach Frankreich abgeschoben. Er ging über Frankreich in die Sowjetunion,
1496 1933–1939
der Reisetechnik,] Berichte über hergestellte illegale Materialien, der Fall Hirsch,62
ein längerer handschriftlicher Brief von Octavio (?) an Pjatnitzki,63 über Polemik zwi-
schen Sauerland und Alpari64 u. a.
3. Einen dritten Teil des Materials bilden verschiedene von Münzenberg hierher
geschickte Briefe, heute ohne Bedeutung. Es sind einige Zettel da, die daran erinnern,
dass im Februar 1935 Udeaun (Dolivet) hier in Moskau war.65 Er war hauptsächlich mit
Béla Kun verbunden. Pjatnitzki ersucht in einer Randbemerkung Knorin, er möge ihn
rasch empfangen, Knorin bemerkt am Rande des Dokumentes, dass er die Bespre-
chung am 2. 2. 35 durchgeführt hat.
4. Den vierten Teil der Materialien bilden die mit den Finanzen verbundenen
Dokumente (Prospekte der Budgets des W[eltfriedens]K[ongresses], Frauen, Studen-
ten).
5. Schliesslich ist da eine Anzahl von kleinen Zetteln, mit denen sich verschie-
dene Genossen im Zusammenhang mit der laufenden Arbeit an Pjatnitzki (teilweise
auch Heimo) gewandt haben.
Ich beantrage:
Diese Materialien ins Archiv zu übergeben. Ich bitte um Ihre Direktive, ob Sie einver-
standen sind und ob ich die Uebergabe durchführen soll.
Ich bemerke, dass noch ein grösseres Paket mit Materialien vorhanden ist, das
ich vorläufig noch nicht durchlesen konnte.
/Šmeral/
14.4.1939
Dok. 449
Stellungnahme der KPD-Vertretung in der Komintern an den
sowjetischen Schriftstellerverband über eine Broschüre Emil
Ludwigs gegen den drohenden Krieg
O.O.u.o.D. [Moskau, nach dem 23.4.1939]
66 Es handelt sich um: Emil Ludwig: Die neue heilige Allianz. Über Gründe und Abwehr des drohen-
den Krieges, Strassburg, Sebastian Brant, (1938).
67 Dazu schrieb Ludwig unter der Überschrift „letzter Weg zur Rettung“: „Nach dem Charakter und
Lage der Deutschen ist der Krieg von Innen her durch eine Revolution nicht mehr zu verhüten. Um
1498 1933–1939
Im Zuge der Absetzung Maksim Litvinovs als Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten und
seiner Ersetzung durch den Nicht-Juden Molotov beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjet-
union am 3.5.1939 eine „Säuberung“ des Apparats des Außenkommissariats. Eine Kommission, zu-
sammengesetzt aus Lavrentij Berija, Georgij Malenkov, Vladimir Dekanozov und Čečulin, sollte „im
Apparat des NKID Ordnung schaffen“. Dies sollte vor allem seinen „geheimen Teil“ betreffen.70
ihn von aussen unmöglich zu machen, sehe ich das letzte Mittel in einer neuen Heiligen Allianz,
geschlossen von den drei mächtigen Demokratien der Welt.“ (ibid., S. 40).
68 Dr. Fritz Sternberg (1895–1963) war ein deutscher Ökonom, Publizist, marxistischer Theoretiker
und linkssozialistischer Politiker der SAP, 1930–33 Mitarbeiter der Weltbühne, 1933 Emigration CSR,
Österreich, Schweiz, 1936 Frankreich, 1939 USA. Der von der KPD als “Faschist” verunglimpfte Stern-
berg muß nach Hermann Weber als theoretischer Stammvater eines von Marx inspirierten demokrati-
schen Sozialismus angesehen werden. U.a. war er Lehrer und Inspirator Bertold Brechts (siehe: Fritz
Sternberg: Erinnerungen an Bertold Brecht. Ergänzt und kommentiert von Helga Grebing, Berlin,
Suhrkamp, 2014 (Bibliothek Suhrkamp. 1488)).
69 Nach einem Protest des Autors Emil Ludwig an den sowjetischen Schriftstellerverband bog die
Internationale Kontrollkommission der Kommission die Kritik an der Broschüre in ein Urteil gegen
Münzenberg als Verleger um (siehe Dok. 450).
70 RGASPI, Moskau, 17/162/25, 28a.
Dok. 450: Moskau, 16.6.1939 1499
Am 8.5.1939 entschied das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, 1000 „Spanienkinder“ aus
Frankreich in die UdSSR aufzunehmen, die „niños de la guerra“.71 Auf Anfrage des EKKI beschloss das
Politbüro außerdem am 9.6.1939, dem Gesuch einer Gruppe spanischer republikanischer Offiziere im
sowjetischen Exil stattzugeben und sie in die sowjetische Militärakademie aufzunehmen.72
Unter den „Fragen des Volkskommissariats für auswärtige Politik“ beschloss am 12.5.1939 das Polit-
büro des ZK der KP der Sowjetunion, das sowjetische Konsulat in dem nun zu Deutschland gehören-
den Memel (lit.: Klaipėda) zu liquidieren.73
Am 15.6.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die Einstellung der Deutschen
Zeitung zu veranlassen. Dabei handelte es sich um die ursprünglich für die Russlanddeutschen konzi-
pierte Deutsche Zentral-Zeitung, deren letzte Ausgabe einen Monat später erschien.74
Dok. 450
Urteil der Internationalen Kontrollkommission der Komintern über
die Beschwerde des deutschen Schriftstellers Emil Ludwig
Moskau, 16.6.1939
KOMMUNISTISCHE INTERNATIONALE
INTERNATIONALE KONTROLL-KOMMISSION
Nr. 18
Auszug aus dem Protokoll der Sitzung der IKK vom 14. Mai 1939
Behandelt: Beschlossen:
ANGEHÖRT: Über den Brief des Gen. Fadeev – Verband Sowjetischer Schriftsteller.
Gen. Fadeev teilte in dem Brief an Gen. Dimitrov mit, dass der deutsche Schriftsteller
Ludwig Emil in seinem Appell an die Internationale Kommission des Verbands sow-
jetischer Schriftsteller dagegen protestiert, dass in dem Beschluss der IKK zur Sache
Münzenberg das Buch Ludwigs als „das deutsche Volk schmähend“ charakterisiert
wird.75
Gen. Fadeev bittet darum, zu überprüfen, ob eine solche gegen Ludwig erhobene
Beschuldigung seine Richtigkeit hat.
BESCHLOSSEN: Gen. Dengel soll beauftragt werden, eine Rezension des Buches „Die
neue heilige Allianz“ von Ludwig vorzubereiten, in welcher gezeigt werden würde,
dass gerade Münzenberg, der Literatur ohne das Wissen der Parteileitung und gegen
den Willen der Parteileitung herausgegeben hatte, ein trotzkistisches Buch verlegte,
welches das deutsche Volk in seinem Kampf gegen das faschistische Hitlerregime
verleumdet; und dass, obgleich man Ludwig nicht als Gegner der antifaschistischen
Bewegung betrachten kann, in seinem Buch „Die neue heilige Allianz“, das von Mün-
zenberg in einem von der Partei kontrollierten Verlag herausgegeben wurde, objektiv
antihistorische und für die antifaschistische Bewegung schädliche Behauptungen
enthalten sind.76 Der Beschluss des IKK ist nur gegen Münzenberg gerichtet, der, zu
jener Zeit noch als Mitglied der KPD, anstatt auf die Autoren in einem für die anti-
faschistische Bewegung nützlichen Sinne einzuwirken, in seinen antiparteilichen
Bestrebungen solche Bücher herausgegeben hat.
Gen. Šmeral und Šejnman sollen beauftragt werden, eine Antwort an Fadeev im
Sinne dieses Beschlusses zusammenzustellen.
Sekretariat IKK.77
DER SEKRETÄR DES IKK:
/FLORIN/
Dok. 451
Vorschläge Ulbrichts an die Komintern gegen die NS-Propaganda
über den angeblichen Terror gegen Deutsche in Polen
[Moskau], 15.6.1939
Die deutsche Presse wie auch das Radio führen eine systematische Kampagne über
den angeblichen Terror gegen Deutsche in Polen. Eine ähnliche Kampagne wurde
seinerzeit gegen die Tschechoslowakei geführt. Damals haben wir die faschistischen
Lügen in resoluter Weise über das Moskauer Radio entlarvt. Jetzt können wir aus den
Berichten, die aus Deutschland eintreffen, sehen, daß die faschistischen Lügen über
den „Terror gegen Deutsche in der Tschechoslowakei“ eine Wirkung auf die breiten
Massen, in erster Linie auf die Soldaten, ausgeübt haben. Gegenwärtig antworten wir
nicht über das Moskauer Radio auf die faschistischen Lügen anläßlich der Lage der
Deutschen in Polen, da die Genossen beim Radio keine Materialien zur Verfügung
haben.78
Ich schlage vor, gemeinsam mit den polnischen Genossen und dem Narkom-
indel79 festzustellen, in welchen Fällen man auf die faschistischen Lügen antwor-
ten soll, die dafür prädestiniert sind, eine wichtige Rolle in der Provozierung eines
faschistischen Krieges gegen Polen zu spielen.
Am 21.6.1939 fällte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion weitere Entscheidungen über die Ein-
reise von in Frankreich internierten Spanienkämpfern. Zusätzlich zu dem bereits bewilligten Kontin-
gent sollten 30 spanische Lehrer, bis zu 100 Mütter von bereits in die UdSSR transportierten Kindern,
bis zu 150 kriegsversehrte Interbrigadisten sowie bis zu 30 spanische Piloten und „Aktivisten“ in die
Sowjetunion einreisen dürfen. Die Internationale Rote Hilfe und der sowjetische Gewerkschaftsver-
band wurden beauftragt, ihre Aufnahme vorzubereiten.80
78 Nach der antipolnischen Wende der NS-Führung setzten zwar zwar Schikanen von polnischer
Seite gegen Einrichtungen der deutschen Minderheit ein, die von der NS-Propaganda verbreiteten
Gräueltaten und existenzbedrohlichen Übergriffe enstammten jedoch, wie bereits im Falle der Su-
detendeutschen vor der militärischen Betzung, der NS-Propaganda. Insofern waren die Vorschläge
Ulbrichts im Sinne der Antikriegspropaganda zutreffend (siehe zum Hintergrund: Hermann Graml:
Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte 1939, München, Oldenbourg, 1990, S. 200f. (Quellen
und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 29)).
79 Narkomindel: D.i. das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten.
80 Typoskript, russisch. RGASPI, Moskau, 17/162/25, 77–78.
1502 1933–1939
Dok. 451b
Willi Bredel über die Einschränkungen der antifaschistischen
Verlage im Westen und die Folgen für die deutsche Exilliteratur
[Moskau, Juli 1939]
Typoskript in deutscher Sprache. Akademie der Künste, Berlin, Willi-Bredel-Archiv, 765. Russische
Übersetzung nachgewiesen in: RGALI, Moskau, 631/14/454, 1–5. Erstveröffentlichung.
Ich möchte in kurzen Zügen von der Situation der antifaschistischen deutschen Lite-
ratur, insbesondere von der Lage der deutschen kommunistischen und volksfront-
freundlichen Schriftsteller berichten, von ihren Arbeiten, ihren Möglichkeiten und
ihren Schwierigkeiten. Zu Ihrer Information einige Worte vorauf.81
Im Mai 1937 fuhr ich auf Vorschlag des Sowjetschriftsteller-Verbandes als Dele-
gierter zum Internationalen Schriftsteller-Kongress nach Madrid.82 Nach Beendigung
des Kongresses blieb ich (im Einverständnis mit der deutschen Partei und der Vertre-
ter der Komintern) in Spanien, trat in die Internationale Brigade und wurde Kommis-
sar des Thälmann-Bataillons.83 Im Frühjahr 1938 schrieb ich in Barcelona mein Buch
„Begegnung am Ebro“,84 fuhr alsdann auf Wunsch der Partei nach Paris und schrieb
dort an einer Geschichte der 11. Internationalen Brigade in Spanien.85 Ich arbeitete
81 Der undatierte Bericht wurde nach der Rückkehr Bredels nach Moskau im Juli 1939 abgefasst und
dürfte an das Politbüro der KPD gerichtet worden sein. Eine maschinenschriftliche Übersetzung ins
Russische ist im Bestand der Abteilung für Auslandsbeziehungen des Verbands der Schriftsteller der
UdSSR im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst überliefert, vermutlich zu Händen Apletins
und/oder dem Sekretär Aleksandr Fadeev (RGALI, Moskau, 631/14/454, 1–5).
82 Nach dem Pariser Kongress (21.-25.6.1935) folgte 1937 der Zweite Internationale Schriftstellerkon-
gress zur Verteidigung der Kultur, organisiert von der Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der
Kultur. Er begann am 3.7.1937 in Valencia, am 4.7.1937 fuhren die 80 Kongressteilnehmer nach Madrid,
später nach Barcelona. Der Kongress endete in Paris. Teilnehmer waren unter anderem André Malraux,
Octavio Paz und Pablo Neruda. Im Mittelpunkt stand das Bekenntnis zum Kampf gegen den Faschis-
mus als Bedrohung für die Menschheitskultur. Über 80 Schriftsteller und Kulturschaffende trafen sich,
um ihre Solidarität mit der spanischen Republik zu bezeugen, trotz vielfacher Bedenken wegen des
vorhandenen Übergewichts der KP-nahen Strömungen. Angesichts des Fortgangs des Bürgerkriegs
und des Terrors in der Sowjetunion war der Enthusiasmus jedoch verflogen (die Kongressdokumenta-
tion siehe: Luis Mario Schneider, Manuel Aznar Soler: II Congreso Internacional de Esritores Antifas-
cistas (1937), Ponencias, documentos, testimonios, Valencia, Generalitat Valenciana, 1987).
83 Das Thälmann-Bataillon war Teil der XI. Internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg.
Der Schriftsteller Ludwig Renn war Kommandeur des aus ca. 1500 deutschsprachigen Kommunisten
gebildeten Bataillons aus Deutschland, der Schweiz und Österreich.
84 In seinem Erlebnisbericht „Begegnung am Ebro“ (Willi Bredel: Begegnung am Ebro. Aufzeichnungen
eines Kriegskommissars, Paris, Editions du 10. Mai, 1939) schilderte er den Alltag der Internationalen
Brigaden (nachgedruckt in: Willi Bredel: Spanienkrieg. Bd. 2, Berlin-Weimar, Aufbau-Verlag, 1977, S.
7–186).
85 Bredels Geschichte der XI. Brigade erschien erst nach seinem Tod (Willi Bredel: Spanienkrieg. Bd.
1: Zur Geschichte der 11. Internationalen Brigade, Berlin-Weimar, Aufbau Verlag, 1977).
Dok. 451b: [Moskau, Juli 1939] 1503
daran von Juli 1938 bis Juli 1939 und lernte als Mitarbeiter in Paris und Vorstandsmit-
glied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Paris die Lage und die Tätigkeit
der deutschen Schriftsteller in der Emigration kennen.86 Davon möchte ich berichten.
Sie wissen, dass es keine Emigration gibt, in der der literarische Sektor so stark
vertreten ist, wie in der deutschen. Tatsächlich sind die namhaftesten deutschen
bürgerlichen Schriftsteller ins Exil gegangen und nahezu ausnahmslos sämtliche
kommunistisch organisierte Schriftsteller; letztere waren bereits in der Zeit von der
Hitlerdiktatur in Deutschland an Zahl beträchtlich, waren aber damals infolge einer
sektiererischen Politik nicht imstande, die Aufgaben, die vor ihnen standen, zu erfül-
len. Als ein besonderes Charakteristikum kommt hinzu, dass die deutsche Sozialde-
mokratie in der Emigration nicht einen einzigen deutschen Schriftsteller auf ihrer Seite
hat, einige, die sich in Deutschland zu ihr zählten, haben sich gleichgeschaltet und
schreiben für den Hitlerfaschismus.
Nun sind aber in der deutschen Emigration in den letzten Jahren Gefahren ent-
standen, die nicht nur auf den antifaschistischen Kampf zurückwirken, nicht nur eine
mühevolle jahrelange Arbeit zur Gewinnung bürgerlicher Schriftsteller illusorisch
machen können, sondern sich unmittelbar in eine antibolschewistische Politik und
Kulturpolitik auswirken.
Die kommunistische Literatur in der deutschen Emigration war nie sonderlich
stark an Verlagen oder Publikationsmöglichkeiten; ihre Stärke war seit je ihre ideo-
logische und künstlerische Kraft, die in ihren Büchern, die starken, mitreissenden
Impuls im Kampfe gegen den Hitlerfaschismus hatten, zum Ausdruck kamen. Kom-
munistische Schriftsteller wie Ludwig Renn, [Wolfgang] Langhoff,87 Billinger [d.i.
Paul Massing],88 Bredel waren in Hitler-Konzentrationslagern und haben darüber
geschrieben.89 Wesentlich aber war, dass die literarischen Arbeiten jener Schriftstel-
ler, die den faschistischen Konzentrationslagern entrannen, dazumal noch in Emig-
rationsverlagen herauskommen konnten. Heute gibt es in der Emigration keinen einzi-
gen linksorientierten literarischen deutschen Verlag mehr.90
Heute bestehen davon nur noch die beiden bürgerlichen Verlage. Für den Editions
Carrefour-Verlag, den Willi Münzenberg dazumal leitete, gibt es jetzt den von Mün-
zenberg ins Leben gerufenen Sebastian Brant-Verlag, der in seiner Produktion partei-
und sowjetfeindlich ist. Nicht nur die kommunistischen, sondern alle linken Schrift-
steller in der Emigration haben also so gut wie keine Verlagsmöglichkeiten mehr, und
so kommt es, dass namhafte kommunistische Schriftsteller für amerikanische oder
englische Verleger schreiben und auch gezwungen sind, deren Wünschen Konzessio-
nen zu machen.
Als ich im vorigen Jahr aus Spanien nach Paris kam und diese Lage vorfand,
schrieb ich im Einverständnis mit dem Pol-Büro der deutschen Partei an den damali-
gen Leiter der ausländischen Kommission des Sowjetschriftsteller-Verbandes, Michail
91 Die meisten der Spanienberichte der von Bredel genannten Schriftsteller konnten nicht mehr
zeitnah auf deutsch veröffentlicht werden. Ludwig Renns Bericht (Der spanische Krieg, Berlin Ost,
1955) wurde in der DDR nur zensiert veröffentlicht; ungekürzt erstmals, herausgegeben von Günther
Drommer, Berlin, Das Neue Berlin, 2006); Gustav Regler: The Great Crusade, New York, Longmans,
1940 (deutsch erst: Das große Beispiel. Roman einer Internationalen Brigade, Köln, Kiepenheuer &
Witsch, 1976). Kischs Reportage erschien 1938 (Egon Erwin Kisch: Soldaten am Meeresstrand. Eine
Reportage, Valencia, Semana Gráfica, 1938).
92 Zu Máté Zalka und Gustav Regler im Spanischen Bürgerkrieg siehe Dok. 415.
93 Zum „Querido-Verlag“, Amsterdam, der als wichtigster Verlag für deutsche Exilliteratur gilt, siehe
Dok. 398.
94 Zum Allert de Lange-Verlag siehe ebd.
95 Zum Malik-Verlag der Brüder Herzfelde ebd.
96 Zu den von Münzenberg und Babette Gross geleiteten Éditions du Carrefour ebd.
Dok. 451b: [Moskau, Juli 1939] 1505
Geplant war, dass der monatliche Zuschuss von 10.000 Francs, (der angesichts der
wachsenden Teurung in Frankreich erhöht werden sollte), ein Jahr erfolgen sollte,
dann sollte der Verlag aus eigenen Mitteln bestehen können.109 Verlagsleiter war der
Sekretär der Association, Genosse Aragon. Auf seinen Namen wurde der Verlag in
das französische Handelsregister eingetragen. Für die deutschen Freunde machte ich
97 Gemeint ist die Internationale Schriftstellervereingung zur Verteidigung der Kultur (ISVK) (frz.
Association Internationale des Écrivains pour la Défense de la Culture (AIEDC), die die Internationalen
Kongresse zur Verteidigung der Kultur durchführte (siehe: Dok. 451b).
98 Mit dem „Münzenberg-Verlag“ ist wohl der weiter oben erwähnte Sebastian-Brant-Verlag in
Straßburg und Paris gemeint.
99 Zum Verlag „10. Mai“ siehe auch Dok. 447.
100 Nur die beiden ersten der folgenden Titel sind im Verlag 10. Mai erschienen.
101 Heinrich Mann: Mut, Paris, Ed. du 10 Mai, 1939.
102 Begegnung am Ebro. Aufzeichnungen eines Kriegskommissars (1939).
103 Seghersʼ „Das siebte Kreuz“ wurde erst 1942 in Mexiko veröffentlicht (Anna Seghers: Das siebte
Kreuz. Ein Roman aus Hitlerdeutschland, México D.F., El Libro Libre, 1942).
104 Ein Roman von Hans Marchwitza unter diesem Titel konnte nicht eruiert werden.
105 Eine Veröffentlichung von Hermann Kesten unter diesem Titel konnte nicht eruiert werden.
106 Ein Sammelband mit Arnold Zweigs Erzählungen wurde erst nach 1945 in der DDR realisiert.
107 Ein solcher Band von F. C. Weiskopf konnte nicht eruiert werden. Möglicherweise ist das Buch
über die „tschechoslowakische Tragödie“ gemeint, das Weiskopf unter dem Pseudonym „Pierre Buk“
veröffentlichte (Pierre Buk: La Tragédie tchécoslovaque. De septembre 1938 à mars 1939. Avec des
documents inédits du livre blanc tchécoslovaque, Paris, Éd. du Sagittaire, 1939).
108 Eine solche Veröffentlichung von Egon Erwin Kisch konnte nicht eruiert werden.
109 Anmerkung im Original: „Abrechnungen liegen vor; 2 Bücher, Druckkosten gezahlt, an die
Autoren folgende Honorare gezahlt: Heinrich Mann 6000 Francs, Willi Bredel 3000 Francs.“
1506 1933–1939
auf Wunsch des Pol-Büros der deutschen Partei die Lektorarbeiten, selbstverständ-
lich ehrenamtlich, und Maria Osten, Kolzows Freundin, die von ihm in der Associa-
tion angestellt war,110 half bei den technischen Arbeiten. Von diesem Verlag sind die
ersten beiden Bände erschienen, dann kam Kolzows Absetzung111 und auch dieses
Projekt konnte seither nicht fortgeführt werden, weil keine Geldmittel mehr zur Ver-
fügung gestellt wurden.112
Von den beiden ersten Büchern aber, die in einem für die Emigration sehr billigen
Preis von 15 Francs erschienen, sind bisher über 3000 Exemplare verkauft, was für die
Emigration sehr viel ist und zeigt, wie nötig dergleichen billige und linke Bücher sind.
Nun fehlt also nach wie vor jede Verlagsmöglichkeit für kommunistische Schrift-
steller in der Emigration und darüber hinaus für alle die eine entschieden linke
Haltung einnehmen; (der Verlag Prometée, Strassburg, gibt nur noch politische Bro-
schüren heraus.)113 Die Schriftsteller sind daher von vornherein darauf angewiesen,
wollen sie gedruckt werden, die Wünsche bürgerlicher Verleger zu berücksichtigen.
Aber nicht nur diese Verlagsmisere ist eine ständig wachsende Gefahr für die
antifaschistische Arbeit in der Emigration, sondern überhaupt die Frage der Publika-
tionsmöglichkeiten in periodischen Zeitschriften. Zahlenmässig und auch qualitativ
sind die kommunistischen Schriftsteller innerhalb der deutschen antifaschistischen
Literatur und Publizistik stark vertreten, aber in ihrem ideologischen Einfluss auf die
sympathisierenden und bürgerlichen Schriftsteller sind sie enorm gehindert durch
den Umstand, dass ihnen nicht ein einziges eigenes und zahlungskräftiges Publikati-
110 Maria Osten (urspr. Name: Maria Greßhöner) (1908–1942, in der Sowjetunion als Spionin
erschossen), deutsche Journalistin und Schriftstellerin. KPD-Mitglied seit 1926, wählte ihren
Schriftstellernamen als Zeichen ihrer Sympathie für Russland. Engagierte sich in den Pariser
kommunistischen Exil-Literaturinitiativen. Seit 1932 Lebensgefährtin von Michail Kol’cov. Zu Osten
siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 656–657.
111 Michail Kolʼcov wurde am 14.12.1938 in der Sowjetunion verhaftet und 1940 erschossen
(siehe Dok. 442a). Maria Osten reiste ihm in die UdSSR hinterher, da sie seine Verhaftung für ein
„Missverständnis“ hielt. Im Juni 1941 selbst verhaftet, wurde sie am 8.8.1942 als „deutsche Spionin“
zum Tode verurteilt und erschossen (ebd.; für ihre Verhörprotokolle und weitere Materialien aus ihrer
Strafsache siehe: Koljazin/Gončarov: „Vernite mne svobodu!“, S. 284–301).
112 Im April 1939 hatte die KPD-Führung die Beendigung der Verlagstätigkeit beschlossen. Siehe
Dok. 447.
113 Verlag Prometée: Es ist strittig, ob die Editions 1933 gegründeten Editions Prométhée – wie die
Editions du Carrefour und die Editions Sebastian Brant, von Münzenberg kontrolliert wurden. Namens-
geber war jedenfalls die von ihm in Berlin u.a. gegründete Filmproduktionsfirma Prometheus-Film.
Prométhée (seit 1933 in Straßburg, 1938 in Paris) war als explizit politischer Verlag enger mit der KPD
und der Komintern verzahnt, hier erschien das Zentralorgan der Komintern Die Kommunistische Inter-
nationale. Der Verlag produzierte insgesamt 160 Bücher und Broschüren und „wurde dann als Verlag
der Komintern aufgelöst. Der Grund könnte in dem von der französischen Regierung nach dem Stalin-
Hitler-Pakt verfügten Verbot [der] KPF im September 1939 liegen“ (Jean Michel Palmier: Einige Bemer-
kungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs, in: Schlie/ Roche: Willi Münzenberg, S. 52;
Werner Abel, Esther Winkelmann, Raimund Waligora Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil, http://
www.münzenbergforum.de/wp-content/uploads/2013/12/IWMF_Buchverlage-im-Exil.pdf, S. 14f.).
Dok. 451b: [Moskau, Juli 1939] 1507
onsorgan mehr zur Verfügung steht, hingegen die bürgerlichen und trotzkistischen
Gruppen mehrere Zeitschriften und Zeitungen besitzen. Es gibt in der deutschen Emi-
gration in Paris an bemerkenswerten Zeitschriften und Zeitungen:
114 Deutsche Volkszeitung: Gemeint ist die Deutsche Volkszeitung. Einziges unabhängiges Wochenblatt
aller Werktätigen, Prag, dann von März 1936 – August 1939, das als Das Wochenblatt der Deutschen/
La voix du peuple allemand und Nachfolgeorgan des Gegenangriff vom ZK der KPD hauptsächlich in
Paris herausgegeben wurde.
115 Zur Weltbühne und Neuen Weltbühne siehe Dok. 330.
116 Joseph Bornstein (1917–1952), herausragender antifaschistischer Journalist der Weimarer
Republik, mit Paul Levi verbunden. Herausgeber des Neuen Tagebuchs, Januar 1939 bis Februar 1940
Chefredakteur der Pariser Tageszeitung, Freund Joseph Roths. Vor seiner Migration in die USA 1941
kämpfte er in der französischen Armee.
117 Das neue Tage-Buch, linksrepublikanische Wochenzeitschrift, Paris 1933–1940, hrsg. von
Leopold Schwarzschild. Nachfolgeorgan des Tage-Buch (1920–1933), stand in Konkurrenz zur Neuen
Weltbühne, und wurde zur wichtigsten Exilzeitschrift, vor allem, seit die Neue Weltbühne in das
Fahrwasser der KPD geraten war. Höhepunkte der Zeitschrift waren die Faschismusanalysen und
die Stalinismuskritik, die – auch durch die Gründung des Bundes Freie Presse und Literatur – die
antistalinistische Wende in der deutschsprachigen Emigration beförderte.
118 Sozialistische Warte. Blätter für kritisch-aktiven Sozialismus, linkssozialistische Monats- und
später Wochenzeitschrift, Paris 1934–1940, hrsg. von Willi Eichler. Organ des Internationalen
Sozialistischen Kampfbunds (ISK).
119 Die Zukunft, “Ein neues Deutschland, ein neues Europa”, Organ der Deutsch-Französischen
Union, Straßburg und Paris (1938–1940). Von Münzenberg herausgegeben, trug sie unter den Chefre-
dakteuren Arthur Koestler, Hans Siemsen, Werner Thormann zu den letzten Vereinigungsbemühun-
gen der Anti-Hitleropposion vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bei (nur die KPD schloß sich selbst
aus). Zu ihren Autoren gehörten Fritz Sternberg, Max Beer, Max Braun, Julius Deutsch, Alfred Döblin,
Kurt Kersten, Otto Klepper, Rudolf Leonhard, Emil Ludwig, Ludwig Marcuse, Martin Niemöller, Walter
Oettinghaus, Joseph Roth und Manès Sperber. In der Zukunft ging zugleich die Zeitschrift Die deutsche
Freiheit auf. Beide griffen anfangs auf den gleichen Autoren- bzw. Artikelpool zurück (siehe: Thomas
Keller: Das rheinisch-revolutionäre Europa. Die Exilzeitschrift „Die Zukunft“ (1938–1940). In: Michel
Grunewald (Hrg.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933–1939) / Der Europadiskurs
in den deutschen Zeitschriften (1933–1939), Bern e.a., Lang, 1999, S. 63–93; Ursula Langkau-Alex: „Die
Zukunft“ der Vergangenheit oder „Die Zukunft“ der Zukunft? Zur Bündniskonzeption der Zeitschrift
zwischen Oktober 1938 und August 1939. In: Hélène Roussel, Lutz Winckler (Hrg.): Deutsche Exilpres-
se und Frankreich 1933–1940, Bern e.a., Lang, 1992, S. 123–156.).
120 Maß und Wert. Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur erschien im Verlag Emil Oprecht in
Zürich, 1937–1940. Herausgeber waren Thomas Mann und Konrad Falke, Redakteure waren Ferdinand
1508 1933–1939
Bisher erschien allmonatlich „Das Wort“, in Moskau, von Brecht, Feuchtwanger und
Bredel redaktionell gezeichnet.121 Seit Kolzows Absetzung ist diese Zeitschrift liqui-
diert worden.
So gibt es also in deutscher Sprache für die linken deutschen Schriftsteller nur
noch die „Internationale Literatur“.122
Für kommunistische und sympathisierende Schriftsteller in der Emigration gibt
es so gut wie keine Publikationsmöglichkeiten, sie sind mundtot, einige bisher stark
mit uns sympathisierende Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf,
Alfred Döblin, Thomas Mann und andere arbeiten daher in letzter Zeit aktiver an der
von Willi Münzenberg herausgegebenen Zeitschrift „Die Zukunft“ mit. Thomas Mann
ausserdem auch an der antibolschewistischen Wochenschrift „Das Neue Tagebuch“,
das von Schwarzschild herausgegeben wird. Welche politischen Gefahren diese Lage
in sich birgt, brauche ich nicht aufzuzeigen.
Dabei waren noch niemals in den Jahren der Emigration im Ausland die politi-
schen Möglichkeiten für die Sowjetunion und den Kommunismus erfolgreich zu arbei-
ten so gross, wie gerade in diesem Augenblick. Und in einer solchen Situation sind die
deutschen kommunistischen und links eingestellten Schriftsteller und Journalisten
fast stumm gemacht: Zeitungen und Zeitschriften in Paris haben von Volkszeitung und
Weltbühne abgesehen die Trotzkisten und die Bürgerlichen. Das ist eine Situation, die
nicht nur die Schriftstellergenossen ungeheuer verstimmt und deprimiert, sondern
auch in ihrer politischen Haltung Schwankungen hervorrufen kann. Denn hinzu
kommt doch, dass sie, da sie an den trotzkistischen und münzenbergianischen Unter-
nehmungen nicht mitarbeiten (die gute Honorare an ihre Mitarbeiter zahlen), bittere
Not leiden.
Lion und Golo Mann Mitarbeiter war u.a. Walter Benjamin. Mit der Zeitschrift manifestierte Thomas
Mann sein politisch-publizistisches Engagement im Exil.
121 Das Wort. Literarische Monatsschrift, Moskau, Juli 1936 – März 1939, hrsg. von Bert Brecht, Lion
Feuchtwanger und Willi Bredel. Siehe Dok. 415.
122 Internationale Literatur: Unter verschiedenen Namen figurierende, auf ausländische Literatur
spezialisierte literarische Monatszeitschrift, erschienen in Moskau. Gegründet 1891 als Vestnik inost-
rannoj literatury, 1933 umbenannt in Internacionalʼnaja literatura (deutsch: Internationale Literatur).
Erschien in russischer, französischer, englischer und deutscher Sprache. Bis 1935 Zentralorgan der
Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller, anschließend des sowjetischen Schriftstel-
lerverbands. 1943 geschlossen, 1955 wieder gegründet als Inostrannaja literatura. Siehe auch Dok. 415.
Dok. 451b: [Moskau, Juli 1939] 1509
ten und noch in diesem Jahre drei oder vier Bücher herauszubringen. Die Manuskripte
liegen vor. Es fehlen lediglich die seit Januar nicht mehr gezahlten Zuschüsse.123
3.) Auf die russischen Verlage einzuwirken, dass sie nicht nur an die grossen bürgerli-
chen Schriftsteller Honorare in Valuta schicken, sondern auch den kommunistischen
Schriftstellern, wie Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Hans Marchwitza, Bodo Uhse,
F.C. Weiskopf, und anderen.
Die deutschen antifaschistischen Schriftsteller bilden im geistigen Leben der
Emigration eine bedeutende Macht. Nach allen Berichten zu urteilen ist es tatsächlich
Thomas Mann, der neben Albert Einstein in der amerikanischen Öffentlichkeit das
antifaschistische Deutschland vertritt. In Frankreich erfüllen diese Aufgabe neben
Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger auch die Genossen Anna Seghers und Egon
Erwin Kisch und Schriftsteller wie Alfred Döblin und René Schickele, auf die unser Ein-
fluss schon stärker war und die heute von Münzenberg missbraucht werden. Durch
eine aktivere und planvollere, und vor allem verständnisvollere Literaturpolitik (und
mit etwas gar nicht) übermässig grosser Hilfe, könnten die kommunistischen Schrift-
steller zusammen mit allen Schriftstellern, die ehrliche und gutwillige Anhänger der
antifaschistischen Einheit sind der münzenbergischen Spaltungspolitik, den trotz-
kistischen Verleumdungen und der bürgerlichen Indifferenz bedeutend erfolgrei-
cher entgegentreten. Sie könnten einen noch viel wesentlicheren Faktor abgeben in
der Herstellung der Einheit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und der
Bildung einer deutschen antifaschistischen Volksfront.
Ich habe frei und offen meine Meinung über diese Fragen dargelegt, wie ich es
für meine Pflicht halte, nachdem ich zwei Jahre im Ausland war. Empfangen Sie,124
123 Zum weiteren Schicksal des Verlags 10. Mai siehe auch: Schiller: „Wir konnten nicht mit dem
K-Unglück rechnen...“. Der Verlag 10. Mai in Paris. In: Exil 24 (2002), Nr. 2, S. 35–43.
124 Der Text bricht an dieser Stelle ab. In der russischen Übersetzung fehlt dieser Halbsatz, stattdessen
steht als Schlußformel: „Mit bestem, Gruß, Ihr Willi BREDEL“ (RGALI, Moskau, 631/14/454, 5).
1510 1933–1939
Dok. 452
„Starrheit, bürokratische Tendenzen, Kommandeur-Methoden,
krankhafter Ehrgeiz (...) bei Genossen Ulbricht“: Wilhelm Florins
Bemerkungen an die Kaderabteilung der Komintern
Moskau, 2.7.1939
2. Juli 1939125
Streng vertraulich!
125 Davor handschriftlicher Eintrag: „V u/d tov. Ulbrichta“ („In die Kanzlei des Gen. Ulbricht“).
126 Dieses erstaunliche Dokument Florins, das er nicht ausschließlich aus eigenem Antrieb verfaßt
haben dürfte, stützt die Vermutungen, nach denen auch Ulbricht „gesäubert“ werden sollte. Ulbricht
soll noch versucht haben, sich dafür bei seinem nach Herbert Wehner „intimen Gegner“ Florin
zu rächen, dieser starb jedoch bereits 1944 in Moskau (Helmut Müller-Enbergs: Der Fall Rudolf
Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni, Berlin, Ch. Links Verlag, 1991, S. 190).
Dok. 452: Moskau, 2.7.1939 1511
127 Siehe zur Kritik an Ulbrichts spalterischer Taktik in der Gewerkschaftsfrage Dok. 203 u.a.
128 Ulbricht intrigierte seinerzeit gegen den 1933 als Nachfolger Thälmanns zum Parteivorsitzenden
bestimmten John Schehr, der Anfang 1934 von der Gestapo erschossen wurde. Siehe Dok. 375a.
129 Zur weiteren oppositionellen Tätigkeit der „Versöhnler-Gruppe“ siehe Dok. 424 u.a.
130 Siehe die Berichte Ljudvig Mad’jars über die Situation in Deutschland, Dok. 286, 289.
131 Lex Breuer war der Parteiname von Adolf Ende (1899–1951), Journalist und Parteiredakteur, als
ehemaliger Versöhnler mit Paul Dietrich in Saarbrücken und Prag Herausgeber der 1. Serie der Deut-
schen Volkszeitung (siehe Dok. 451b), KPD-Aktivist in Südfrankreich und Teilnehmer an der Résis-
tance, 1946 Chefredakter Neues Deutschland, dann Parteiausschluß wg. angeblicher Verstrickung in
den Fall Noel Field.
1512 1933–1939
ist heute noch Redakteur, obwohl bereits vor einem Jahr beschlossen wurde, daß er
entfernt werden solle. Ein gewisser Stefan (war schon einmal aus der Partei auf Grund
seines parteifeindlichen Verhaltens als Mitglied der „Versöhnler“-Gruppe im Jahre
1928 ausgeschlossen worden) wurde damals auch als Redakteur herangezogen.132
Max Schröder (über den es auch Angaben gibt bei der Kader-Abteilung über
seine parteifeindliche Tätigkeit als „Versöhnler“) wurde als Vertreter der Partei nach
Amerika geschickt.133 Die Übergabe der „Roten Fahne“ an Hirsch, was Ulbricht ener-
gisch betrieb, wurde nur dadurch verhindert, weil inzwischen Hirsch schon keine
Ausreisegenehmigung aus der Sowjetunion mehr bekam. Wie wir daraus ersehen, ist
der Vorschlag am Block halbwegs durchgeführt worden.
7.) Genosse Walter Ulbricht hat vor allem nach dem 7. Weltkongreß bis zum Jahre
1938 auf Grund der Lage in der Partei und seiner Kommandierung als verantwortlicher
Leiter des Sekretariats im Ausland immer die Initiative in Kaderfragen genommen
und auch die Hauptverantwortung für die Kaderpolitik getragen. Die meisten Ent-
scheidungen über die Verwendung der Kader wurden in Paris getroffen. Aber Genosse
Ulbricht hat sich, das muß gesagt werden, zum mindesten als sehr blind gezeigt. Das
geht aus vielem hervor. Bis heute ist mir noch nicht ganz klar, wer 1935 den Trotzkis-
ten David134 als Mitarbeiter für die Parteiführung vorgeschlagen hat. Bisher war es
nicht möglich, das genau festzustellen. Aus der Tatsache, daß Walter Ulbricht zur
literarischen Arbeit David eng heranzog, schlußfolgerte ich bisher, daß Ulbricht den
Vorschlag, David als Mitarbeiter bei der Führung zu verwenden dem Genossen Pieck
gemacht hat. So brachte Ulbricht auch den Trotzkisten Gerber, der hier verhaftet ist,
als einen Mitarbeiter in die Führung. Nur so konnte Gerber auch in die Redaktion
der K.I. gelangen.135 Genosse Ulbricht hat in Paris Reinhardt136 zum Redakteur der
„Roten Fahne“ gemacht. Über Reinhardt gibt es Unterlagen bei der Kader-Abteilung,
die zeigen, welche Vergangenheit dieser Mensch hat. Ulbricht hat sich dafür einge-
132 Stefan: Wahrscheinlich ein (emaliger) Hamburger Versöhnler, der mit Hans Westermann
verbunden war (Bayerlein/Lasserre: Archives de Jules Humbert-Droz, IV, S. 26ff., 577.
133 Max Schröder (1900–1958) war seit 1932 KPD-Mitglied und arbeitete als Intellektueller am
Braunbuch mit. 1936–1939 Geschäftsführer der Deutschen Informationen in Paris, dann nach New
York (im Parteiauftrag?). 1946 Cheflektor des Aufbau-Verlags.
134 Der „Trotzkist“ David, d.i. Ilʼja-David Krugljanskij wurde bereits 1936 in der Sowjetunion hinge-
richtet, er war enger Mitarbeiter Wilhelm Piecks. Siehe Dok. 386.
135 Dr. Phil. Rudolf Gerber (richtiger Name: Schlesinger, 1901–1969) war seit 1922/1923 KPD-
Mitglied, Autor theoretischer Beiträge in der Parteizeitung, 1935 in der Sowjetunion Redakteur
der deutschsprachigen Ausgabe der Zeitschrift Die Kommunistische Internationale, mit Fritz David
verbunden. 1936 Parteiausschluß, später Emigration nach Schottland, in Glasgow Professor und
Leiter des Institute of Soviet and Eastern Studies (Weber/Herbst: DeutscheKommunisten, S. 291).
136 Reinhardt (Ps.): Ernst Reinhardt war das Pseudonym von Alexander Abusch (1902–1982), als
Parteijournalist Redakteur zahlreicher KPD-Pressorgane. Seit 1919 KPD-Mitglied, im französischen
Exil Mitarbeiter des Politbüros der KPD in Paris und Chefredakteur der Roten Fahne. In der DDR als
Jude und Westemigrant gefährdet und in der Noel Field Affäre abgesetzt, später doch Kulturminister
und ZK-Mitglied.
Dok. 452: Moskau, 2.7.1939 1513
setzt, daß damals Leo Flieg (hier verhaftet) wieder zur Arbeit herangezogen wurde
in der Nähe der Parteiführung.137 Es gibt noch viel mehr solche Beweise, daß Walter
Ulbricht nicht genügend wachsam war.
So nahm er als Leiter des Sekretariats in Paris einen Verbindungsmann zur Frau
von Thälmann, der sicherlich nicht genügend erprobt und geprüft war und von dem
Genossen von Paris vor 2 Monaten mitteilten, daß er sich als ein sehr verdächtiges,
wahrscheinlich mit der Gestapo verbundenes Element (also Provokateur) erwiesen
habe.138 Genosse Ulbricht hatte uns gesagt, der Mann sei geprüft und erprobt und als
sehr zuverlässig zu betrachten. Ich kenne den Menschen bis heute weder dem Namen
nach noch persönlich. Über diese ganze Angelegenheit müssen so wie so nähere Aus-
künfte von der deutschen Partei eingefordert werden.
Um noch ein Beispiel zu nennen: Als im Jahre 1935 ein Mitglied der Partei
Schenk139 in Verdacht geriet, unsauber geworden sein und eine Prüfung des Falles
durch mich gefordert wurde, ergab sich folgendes: Es war ein begründeter Verdacht,
daß der Mann nicht in Ordnung war. Beweise im einzelnen waren noch schwerlich
zu bringen. Schenk erhielt wegen politischen Verfehlungen nach der Untersuchung
eine Rüge. Aber die Untersuchung fand unter dem Odem innerparteilicher Reibun-
gen statt, was die gründliche sachliche Prüfung erschwerte. Genosse Ulbricht vertrat
nämlich die Meinung, die Anschuldigungen gegen den Menschen seien der Ausdruck
einer innerparteilichen Intrige von Kippenberger. Auch wenn die Anwürfe von Kip-
penberger kamen, es waren ja Fakte, so mußte diese Angelegenheit ernst genommen
werden. Der Mann blieb, auch nachdem er eine Rüge erhielt, durch den Liberalis-
mus in unseren Reihen, in der vertrautesten Funktion als zentraler Techniker (zen-
traler Leiter illegaler Druckereien, Druckschriften und des Transportes). Nach etwa
3 Monaten zeigte sich, daß der Mann ein großer Lump und Verräter war und ausge-
schlossen werden mußte.
Genosse Ulbricht hat auch meiner Meinung nach manchmal die Initiative genom-
men, Genossen zu verteidigen, wo statt der Verteidigung die Initiative in der Richtung
der Hilfe für eine Prüfung hätte gehen müssen. Ich denke dabei zum Beispiel daran,
daß er den Genossen Koska vor der I.K.K. verteidigt hat,140 die unter der Führung
137 Leo Flieg wurde eta zu dieser Zeit in Moskau erschossen, siehe Dok. 423.
138 Möglicherweise handelt es sich um die Vorbereitung einer Geldübergabe an Rosa Thälmann
in Hamburg, die durch einen Mittelsmann, einen „Studenten“ erfolgen sollte. Siehe hierzu die
chiffrierten Telegramme der Komintern in: Bayerlein/Narinski/Studer/Wolikow: Moscou-Paris-Berlin,
S. 121 u.a.
139 Schenk (Ps.), d.i. Wilhelm Kox (1900–1940), 1934 einer der „Reichstechniker“ der KPD, von Saar-
brücken aus; im März 1935 wegen „Sabotage der Parteiarbeit“ nach Paris beordert, 1936 ausgeschlos-
sen. Lehnte „Bewährungseinsätze“ ab und kehrte nach Deutschland zurück, nach mehreren Verhaf-
tungen 1940 in Berlin-Plötzensee hingerichtet
140 Der ehemalige Generalsekretär der Roten Hilfe Deutschlands, Willi Koska, wurde zunächst in
einem Verfahren der IKK 1935 freigesprochen, dann jedoch 1937 in der Sowjetunion verhaftet. Zur
„Angelegenheit Koska“ siehe Dok. 375.
1514 1933–1939
des Volksfeindes Anwelt tagte, der sicherlich kein Interesse daran hatte, das Mate-
rial gegen Koska sachlich zu prüfen.141 Aber das vorliegende Material bei der I.K.K.
besagt, daß dieser Genosse nicht als vertrauensvolle Person gelten kann. Der Genosse
Ulbricht hatte sich damals für den Genossen eingesetzt, weil er ihn unbedingt zur
Arbeit nach Paris holen wollte. Das Urteil der alten I.K.K. in diesem Falle kann nicht
als maßgebend betrachtet werden.
So gibt es auch Fällte, wo Genosse Ulbricht leichtfertige Rekommendationen
gegeben hat. Es gibt einen Fall, wo er einem Parteigenossen eine ausgezeichnete
Charakteristik ausgestellt hat für eine Beschäftigung am Radio. Das ist der Genosse
Singer, über den dem Genossen Ulbricht bekannt ist, daß Singer schon von der Partei
einmal ernsthaft bestraft worden ist und daß man auch dann, wenn er verwendet
wird, immer jene Stelle, die ihn verwendet, informieren muß, damit Singer einer
gründlichen Kontrolle unterworfen bleibt.142
Woraus erkläre ich die mangelnde Wachsamkeit, die Sorglosigkeit bei Genossen
Ulbricht? Meiner Meinung nach hängt das zusammen mit einer gewissen Krankheit,
von der Ulbricht behaftet war und zum Teil auch heute noch ist. Schon auf dem Ber-
liner Parteitag des Bezirks Berlin 1932 wurde Genosse Ulbricht durch den Genossen
Thälmann öffentlich wegen dieser Krankheit scharf kritisiert. Starrheit, bürokrati-
sche Tendenzen, Kommandeurmethoden, krankhafter Ehrgeiz sind wohl die Grund-
ursachen der mangelnden Wachsamkeit bei Genossen Ulbricht.
Als Genosse Ulbricht als leitender Sekretär des Auslands-Sekretariats der K.P.D.
durch den Genossen Dahlem abgelöst wurde, geschah das im Zusammenhang mit
einer Kritik des Sekretariats der Komintern an der Arbeit des Genossen Ulbricht,
wobei ich darauf verweise, daß auch der Genosse Dimitroff die von mir hier charak-
terisierte Krankheit des Genossen Ulbricht fast in den gleichen Worten kritisierte, wie
das seinerzeit der Genosse Thälmann gemacht hat.
Allerdings scheint es, daß auch der Genosse Ulbricht aus all den Ereignissen in
unserer Partei, in anderen Parteien, in der Sowjetunion gewisse Lehren gezogen hat.
Das zeigte sich meiner Meinung nach im Falle der Entlarvung Münzenbergs als Par-
teifeind. In diesem Falle war Genosse Ulbricht aktiv an der Entlarvung Münzenbergs
beteiligt.
Schlußfolgernd sage ich: Genosse Ulbricht hatte absolut kein richtiges Verständ-
nis für eine bolschewistische Kaderpolitik für eine Erziehung oder Umerziehung von
Kadern und er war, wie das erwiesen ist, sehr blind gegenüber der Tätigkeit der Feinde.
141 Anwelt, d.i. Jaan Anvel’t (1884–1937, in der Sowjetunion erschossen), 1920–1937 Mitglied des
ZK der KP Estlands, überprüfte als leitendes Mitglied der Internationalen Kontrollkommission der
Komintern die internationalen Kader, bevor er selbst verhaftet wurde.
142 Rudolf Singer (1915–1980), 1932 KJVD, 1933 KPD. Nach Verhaftung und Haft im Deutschen
Reich Exil in der Schweiz, dort auch Lagerhaft. Nach 1945 in der DDR wichtige redaktionelle und
Rundfunktätigkeiten. 1966–1971 Chefredakteur Neues Deutschland.
Dok. 453: Moskau, 17.6.1939 1515
Dok. 453
Stellungnahme der Internationalen Kontrollkommission der
Komintern zu den Anschuldigungen gegen Ulbricht
Moskau, 17.6.1939
Behandelt:
Ueber die Anschuldigungen, die Münzenberg in seiner Appellation an das EKKI gegen
den Genossen ULBRICHT erhoben hat. – Genosse Ulbricht hat die IKK gebeten, die
Anschuldigungen Münzenbergs gegen ihn zu prüfen.143
143 Als Beilage zum Protokoll versandte die IKK ein von Wilhelm Florin unterzeichnetes Schreiben
an das ZK der KPD, in dem um weitere Hilfe bei der Aufklärung gebeten wurde: „Wir ersuchen das
Z.K. der K.P.D. über alle von Münzenberg verdächtigten Elemente in der deutschen politischen
Emigration Feststellungen zu erheben, ob sie noch innerhalb der Emigration tätig sind und ob die
Anschuldigungen von Münzenberg begründet sind. [...] Die I.K.K. hält es für notwendig, dass der
ganze Komplex der Fragen, der im Zusammenhang mit dem Fall Münzenberg aufgerollt wurde,
äusserst bald untersucht werde und dass Sie uns das Ergebnis so rasch wie möglich übermitteln.
Es ist möglich, dass bei der Durchsicht der von Münzenberg übermittelten Briefe von uns die eine
oder die andere Frage übersehen wurde. Wir bitten Sie, falls Sie bei der Ueberprüfung dieses ganzen
Komplexes auf solche Fragen stossen, uns davon Mitteilung zu machen und uns über das Ergebnis
Ihrer Untersuchung informieren.“ (RGASPI, Moskau, 495/205/700 (4), 377).
1516 1933–1939
Dok. 454
Brief Heinrich Manns an den Sekretär des Schriftstellerverbandes,
Michail Apletin, zur Sympathiebekundung an die Sowjetunion und
seine Honorare
Nizza, 15.7.1939
Autograph in deutscher Sprache. RGALI, Moskau, 631/11/429, 17; Anhang 1: Ibid., 631/11/429, 18–19;
Anhang 2: Ibid., 631/11/429, 20–21. Erstveröffentlichung.
worin ich die Frage so einfach wie möglich darstellte. Auch die gebotene Literatur
muss vor allem volkstümlich sein. Das ist dort bei Ihnen ein weiter Begriff geworden.
So schöne Verse wie die von Becher können glücklicherweise von sehr vielen genos-
sen werden. Ich weiss nicht, ob eine neue, umgewertete Darstellung der deutschen
Geschichte Ihren Plänen entspräche, und ob Sie den begabten Walter Mehring für
geeignet halten. Er hat schon die Chronik einer Familie, „Müllers“, geschrieben. Er
spricht davon, in diesem Sinn fortzufahren.147
Ich sollte vielleicht nicht Sie, sondern Herrn Anissimow mit meinen Angelegen-
heiten befassen?148 Herr Anissimow fragte mich im Juni, ob ich 5000 Rbl. erhalten
habe. Seit 27.III.39 ist keine grössere Zahlung bei mir eingegangen. Ich fürchte, dass
die Anweisung übersehen oder der Chèque der Pariser Bank verloren sein könnte.
Überdies handelt es sich nicht nur um diese Rate. Wenn ich recht verstanden habe,
sollte auch der Vorabdruck meines Romans in der „Int[ernationalen] Lit[eratur]“
mir honoriert werden, und sogar das Buch wäre ausserhalb der Gesamtausgabe zu
honorieren. Verzeihen Sie, wenn ich irre. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie oder Herr
Anissimow die Sache aufklären und ordnen möchten.
Die Thesen zu den Berichten von Molotow und Shdanov auf dem XVIII. Parteitag sind
zu meiner Kenntnis gelangt und haben mich in mehreren Hinsichten lebhaft berührt.
Man liest: „Von Grund auf hat sich die Arbeiterklasse verändert“, und: „Von Grund
auf hat sich die Bauernschaft verändert.“ Wodurch? Sie sind „befreit von jeglicher
Ausbeutung“. Für westliche Ohren sind das ferne Klänge. Hier wird so viel nicht ver-
langt; ein Mindestmass sozialer Gerechtigkeit wäre die grossartigste Eroberung.
Nun sehe ich, dass die Sowjet-Union noch nicht zufrieden ist, sondern „in öko-
nomischer Beziehung die entwickeltsten kapitalistischen Länder Europas und die
Vereinigten Staaten von Amerika einzuholen und zu überholen“ gedenkt. Mich inte-
ressiert am meisten, wie wird die Antwort: „Den Konsum des Volkes um das Andert-
halb- bis Zweifache heben.“ Das will man besonders erreichen „durch die vermehrte
Erzeugung von Massenbedarfsartikeln und Nahrungsmittelprodukten“. Sehr lehr-
reich, denn anderswo geschieht das Gegenteil. Alle Bedürfnisse des Volkes werden
147 Walter Mehring (1896–1981), bedeutender satirischer Schriftsteller der Weimarer Republik und
als solcher der NSDAP verhasst, veröffentlichte 1935 im österreichischen Exil den satirischen Roman
„Müller: Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler“, in dem er die „Ahnenforschung“ und
die Geschichtsmythen der Nationalsozialisten der Lächerlichkeit preisgab. Nach heftigen Protesten
des deutschen Botschafters in Wien, Franz von Papen, setzte die österreichische Regierung den Autor
unter Druck, so dass er das Buch im gleichen Jahr zurückziehen musste. Später Autor und Mitarbeiter
der „Zukunft“.
148 Ivan Anisimov (1899–1956), sowjetischer Literaturwissenschaftler und -funktionär, war ab 1939
Leiter der Abteilung für Allgemeine Literatur im Moskauer Institut für Weltliteratur. Er war zuständig
für Kontakte mit westlichen Literaten.
1518 1933–1939
Heinrich Mann
Am ersten Mai feiert die Welt der Schaffenden den Frieden und die Macht der Arbeit,
die einzig wirkliche Bürgschaft des Friedens.
Wenn die Arbeiter und die Bauern, mit den Intellektuellen, die Macht haben
werden, nur dann wird die Kriegsdrohung, die jetzt den Geist der westlichen Natio-
nen verwirrt und schwächt, von Europa entfernt sein: die Menschheit wird aufatmen.
Das Beispiel der Sowjet-Union beweist, dass ein Staat, der seinen Bürgern gerecht
werden will, nicht daran denkt, andere Staaten zu überfallen und von der Karte zu
streichen. Angreifen, das tun volksfeindliche Regierungen; um sich zu halten, müssen
sie die Gewalt, der ihre eigene Bevölkerung unterworfen ist, über die Grenzen tragen.
Das deutsche Volk empfindet gar keine Vorliebe für die internationalen Verbre-
chen seiner Staatslenker, für die Annektion Oesterreichs oder der Tschechoslowa-
kei. Es hat ohne Freude diesen angeblichen deutschen Siegen zugesehen, die ganze
Verantwortung überliess es dem nationalsozialistischen Klüngel. Das deutsche Volk
sieht, wie es einem ungerechten, ungeheuerlichen Kriege entgegengeführt wird. Es
muss fürchten zu scheitern und alles zu verlieren, sogar seine Unabhängigkeit als
Nation.
Beim Nahen der Katastrophe verdoppelt sich in allen werktätigen Klassen der
Hass gegen das Regime. Deutschland weiss, dass nur der Sturz des Regimes es retten
kann. Noch ist man nicht zum Äussersten entschlossen, das ist aber unerlässlich. Der
bestehenden Macht den Gehorsam zu verweigern, liegt nicht in den Gewohnheiten
eines Volkes, das noch niemals ernstlich Revolution gemacht hat.
Dennoch beginnt dasselbe Volk zu begreifen, welche Rolle ihm aufgenötigt wird
und welches Schicksal ihm bevorsteht. Der Nationalsozialismus ist die gefährlichste
Waffe des Weltkapitalismus. Der ist beim ärgsten Verrat angelangt, er opfert das
Leben der Völker, nicht ausgenommen die Nation, die er für seine Zwecke benutzt.
Dok. 455: [Berlin], 2.8.1939 1519
Höchst dringend ist es, die Deutschen dahin zu bringen, dass sie endlich selbst
die Verantwortung übernehmen und aufstehen gegen den öffentlichen Feind, der sie
missbraucht für ihren eigenen Ruin und den Ruin der gesamten Civilisation. Der erste
Mai soll die Welt der Schaffenden daran erinnern, dass es nur ein einziges wirksames
Mittel gibt, Frieden unter den Menschen zu stiften.
Tut alles was in Eurer Macht steht, damit die Deutschen ihre Revolution bekom-
men! Um diesen Preis hat die Welt den Frieden.
(Erscheint ausserdem in „Isvestija“. Bitte sich mit dieser Zeitung über den gleichzeiti-
gen Abdruck zu verständigen.) M.
Am 20.7.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, im Rahmen des Haushaltes für
1939 dem EKKI einen Kredit in Höhe von 300.000 Goldrubeln und 2 Millionen Tscherwonzenrubeln
zur Verfügung zu stellen.149
Dok. 455
Aufzeichnungen des sowjetischen Gesandten in Berlin, Georgij
Astachov, über seine Gespräche mit Ernst von Weizsäcker und
Außenminister Ribbentrop
[Berlin], 2.8.1939
Typoskript in russischer Sprache.150 AVP RF, Moskau, 3/64/673/49–52, 53–59. In russischer Sprache
publ. in: Dokumenty vnešnej politiki SSSR, XXII.1, S. 566–569. In deutscher Sprache publ. in:
Besymenski: Stalin und Hitler, S. 205–209.
[...] Ich hätte schon gern gewußt und zweifellos sei auch für Moskau von Interesse,151
in welchen Formen sich die deutsche Regierung die Verbesserung der Beziehungen
vorstelle und ob sie schon konkrete Vorschläge dafür haben.152
re gegenüber dem sowjetischen Handelsvertreter Babarin: „In diesem Augenblick beginnt vielleicht
eine neue Phase der deutsch-sowjetischen Beziehungen.“ (zur Vorbereitungsphase des Paktes siehe:
Besymenski: Stalin und Hitler, S. 213ff., hier S. 216).
153 Zur „neutralen“ Berichterstattung der Pravda siehe im Beitrag von Bayerlein in Bd. 1, S. 261f., 277ff.
Dok. 455: [Berlin], 2.8.1939 1521
ausgeprägt nationale Prinzip, das der Politik des Führers zugrunde liege, sei dann der
Politik der UdSSR nicht mehr diametral entgegengesetzt.
„Sagen Sie, Herr Geschäftsträger“, sprach er mich in verändertem Ton, gleich-
sam inoffiziell, an, „haben Sie nicht auch den Eindruck, daß das nationale Prinzip in
Ihrem Lande das internationale zu überwiegen beginnt? Das ist eine Frage, die den
Führer brennend154 interessiert ...“
Ich antwortete, bei uns stehe das, was Ribbentrop internationale Ideologie
nennt, in voller Übereinstimmung mit den richtig verstandenen nationalen Interes-
sen des Landes. Man sollte nicht davon sprechen, daß das eine Element das andere
verdrängt. Die „internationale Ideologie“ habe uns geholfen, die Unterstützung der
breiten Massen Europas zu gewinnen und die ausländische Intervention zurückzu-
schlagen, d.h., sie trug zur Erfüllung gesunder nationaler Aufgaben bei. Ich führte
noch einige ähnliche Beispiele an, denen Ribbentrop lauschte, als höre er das alles
zum ersten Mal. Danach wiederholte er seine Bitte, Sie über all das zu informieren
und ihm mitzuteilen, ob die Sowjetregierung einen konkreteren Meinungsaustausch
für wünschenswert halte. Zum Abschied betonte er noch einmal, daß bei derartigen
Gesprächen Diskretion gewahrt werden müsse und man sich jeglicher Sensationsha-
scherei enthalten sollte. Betont höflich geleitete er mich bis zur Tür und wünschte mir
alles Gute.
Astachov
Am 3.8.1939 verfügte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, E. I. Babarin als sowjetischen
Handelsvertreter in Berlin einzusetzen. Er nahm bereits an den Gesprächen mit der deutschen Seite
vom 26.7.1939 teil155
154 In der russischen Ausgabe von Besymenskis Buch heißt es an dieser Stelle statt „brennend“ „am
meisten“.
155 RGASPI, Moskau, 17/3/1013, 63.
Teil 5: 1939–1943
Stalin-Hitler-Pakt, Angriff auf die Sowjetunion und
Neuausrichtung von Komintern und KPD
im Zweiten Weltkrieg
Dok. 456
Die Komintern zur „antisowjetischen Kampagne im
Zusammenhang mit den Verhandlungen zwischen der UdSSR und
Deutschland“
Moskau, 22.8.1939
BESCHLOSSEN:
1. Den Parteien wird empfohlen, gegen die bürgerliche und sozialdemokratische1
Presse in die Offensive zu gehen und dabei folgendermaßen zu argumentieren:
a) Der eventuelle Abschluß eines Nichtangriffspaktes zwischen der UdSSR und
Deutschland schließt die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Abkommens zwi-
schen England, Frankreich und der UdSSR nicht aus, um die Aggressoren gemeinsam
zurückzuschlagen. 2
b) Ausgehend von den Interessen des Sozialismus und der Sache des Friedens
betreibt die UdSSR eine selbständige Politik, deren Grundsätze Gen. Stalin auf dem
XIII. Parteitag formuliert hat.3
c) Die UdSSR ist ein entschiedener Gegner der Aggressoren, ein Freund des
tschechoslowakischen Volkes und der Spanischen Republik, die von England und
Frankreich im Stich gelassen worden sind. Sie verteidigt die Völker, die für ihre Unab-
hängigkeit kämpfen. Seit vielen Monaten versucht sie ein Abkommen mit England
und Frankreich über gemeinsame Aktionen gegen die Aggressoren zu erzielen. Die
englische und die französische Regierung haben die Verhandlungen bewusst hinge-
zogen und wollten sie als Mittel nutzen, um einen Kompromiß mit Deutschland auf
Kosten der UdSSR zu erreichen. Unter ihrem Einfluß hat Polen eine mögliche wirk-
same Hilfe der UdSSR zurückgewiesen.4 Die Männer von München5 – Chamberlain
und Bonnet – sind das Haupthindernis für ein Abkommen zwischen England und
Frankreich einerseits sowie der UdSSR andererseits.
d) Die Bereitschaft der UdSSR, mit Deutschland einen Nichtangriffspakt zu
schließen, hilft den kleinen baltischen Nachbarstaaten und trägt zur Sicherung des
allgemeinen Friedens bei.
e) Damit vereitelt die UdSSR die Pläne bürgerlicher, reaktionärer Kreise und der
Kapitulanten der Zweiten Internationale, die die Aggression gegen die Länder des
Sozialismus lenken wollen.
protokoll verbunden war, das u.a die Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der
Sowjetunion regelte. Zu den Reaktionen und Veränderungen innerhalb der internationalen kommu-
nistischen Bewegung durch den Paktabschluß und zu den folgenden Dokumenten siehe: Bayerlein:
Stalin, der Verräter bist Du, S. 103ff.
3 „XIII. Parteitag“ ist ein Druckfehler im Dokument. Es handelt sich um den XVIII. Parteitag der
VKP(b), vom 10. bis zum 21.3.1939. Im Rechenschaftsbericht des ZK der VKP(b) erklärte Stalin: „Die
Aufgaben der Partei auf dem Gebiet der Außenpolitik bestehen in folgendem: 1. auch in Zukunft eine
Politik des Friedens und der Festigung sachlicher Beziehungen mit allen Ländern zu betreiben; 2.
Vorsicht an den Tag zu legen und den Kriegsprovokateuren, die es gewohnt sind, sich von anderen
die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, nicht die Möglichkeit zu geben, unser Land in Konflikte
hineinzuziehen; 3. die Kampfkraft unserer Roten Armee und unserer Roten Kriegsmarine mit allen
Mitteln zu stärken; 4. die internationalen Freundschaftsbeziehungen mit den Werktätigen aller Län-
der, die am Frieden und an der Freundschaft zwischen den Völkern interessiert sind, zu festigen.“ (J.
Stalin: Fragen des Leninismus, Moskau, Verlag für fremdsprachige Literatur, 1947, S. 692).
4 Am 11.8.1939 hatte die Sowjetunion Polen bei Verhandlungen auf militärischer Ebene in Moskau
angeboten, die polnische Westgrenze mit großem militärischen Aufgebot gegen eine deutsche
Aggression zu schützen – allerdings unter Einräumung eines Durchmarschrechtes für sowjetische
Truppen auf polnischem Territorium, und dies jederzeit, unabhängig von einer deutschen Aggression.
Dies war für die polnische Führung nicht hinnehmbar. Am 21.8.1939 wurden die Verhandlungen
vertagt und nach dem Abschluss des Stalin-Hitler-Pakts schließlich abgebrochen.
5 Männer von München: Gemeint ist das Münchner Abkommen vom 30.9.1938..
Dok. 456: Moskau, 22.8.1939 1527
f) Die UdSSR entzweit6 die Aggressoren, bekommt die Hände frei, um gegen die
Aggression Japans vorzugehen und dem chinesischen Volk zu helfen.7
g) Verhandlungen mit Deutschland können schließlich die Regierungen Eng-
lands und Frankreichs dazu bewegen, von hohlen Worten zum raschen Abschluß
eines Paktes mit der UdSSR zu kommen.
Bei alledem sind die Parteien darauf hinzuweisen, daß der Kampf gegen die
Aggressoren, besonders gegen den deutschen Faschismus, mit gesteigertem Einsatz
fortgesetzt werden muß.
Gen. MARTY wird beauftragt, in diesem Sinne einen Artikel für die Zeitschrift
„K[ommunistische] I[nternationale]“ zu schreiben.8 [...]
22.8.39
Generalsekretär des EKKI: [Sign.] /G. DIMITROV/
Als Revision eines Beschlusses vom 26.8.1939 entschied das Politbüro des ZK der KP der Sowjetuni-
on am 2.9.1939, Aleksej Škvarcev als Bevollmächtigten Vertreter, Amajak Kobulov als Zweiten Rat und
Vladimir Pavlov als Sekretär der Bevollmächtigten Vertretung der UdSSR in Deutschland einzusetzen.9
Am 2.9.1939 ernannte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion Ivan Majskij, Aleksandra Kollontaj
und Mark Gelʼfand zu sowjetischen Vertretern auf der Septembersession des Völkerbundes.10
Am 2.9.1939, einen Tag nach dem deutschen Überfall auf Polen, befasste sich das Politbüro des ZK
der KP der Sowjetunion mit den Fragen der Radiosender. Es wurde beschlossen, neue Sendeanlagen
in Sibirien und im Fernen Osten zu errichten, die zum Hauptziel hatten, antisowjetische Radiosen-
dungen zu stören, jedoch auch die Bevölkerung mit Rundfunk zu versorgen. Das Volkskommissariat
für Verbindungswesen wurde angewiesen, diese insofern geheimen Sendeanlagen nicht beim Berner
Internationalen Rundfunkbüro oder bei anderen internationalen Stellen zu registrieren. Auch sollte
das Volkskommissariat binnen 15 Tagen eine Maßnahmenliste zur Bekämpfung antisowjetischer Ra-
diosendungen aus dem Ausland erstellen.11
Dok. 457
Vorschläge Walter Ulbrichts zu den Änderungen der Politik der
KPD-Politik nach dem Stalin-Hitler-Pakt
Moskau, 9.9.1939
Welche Aenderungen der Politik der KPD ergeben sich aus der Veränderung der
Lage.12
1./ Der Ausbruch des imperialistischen Krieges zwischen Deutschland, England,
Frankreich und Polen einerseits und der Kampf der sozialistischen Sowjetunion um
den Frieden andererseits, zeigen den werktätigen Massen, dass die sozialistische
Sowjetunion das einzige Land ist, das konsequent für den Frieden und für den Fort-
schritt der Menschheit kämpft.13
Die Komintern war bestrebt, durch den Kampf um die Volksfont und die Schaf-
fung der internationalen Aktionseinheit dem Vordringen der faschistischen und
reaktionären Kräfte einen starken Wall entgegen zu setzen und einen neuen Typus
der demokratischen Republik zu erkämpfen.14 Durch diese Politik wurden grosse
Fortschritte in der Stärkung der Aktionskraft der Arbeiterklasse und der Einigung der
Werktätigen gegen den Faschismus und gegen die kapitalistische Reaktion erreicht.
Das beweist der heroische Kampf der spanischen Volksfront und die internationale
Solidarität zur Unterstützung dieses Kampfes. Es gelang jedoch infolge des reaktio-
nären einheitsfeindlichen Verhaltens der rechten sozialdemokratischen Führer und
der Führung der II. Internationale nicht, Spanien zu retten und in Frankreich und
England eine solche Veränderung der Klassenkräfte zu erreichen, durch die die reak-
12 Veränderung der Lage: Gemeint ist der Abschluß des Stalin-Hitler Pakts und der Beginn des
Zweiten Weltkriegs.
13 Am Morgen des 1.9.1939 griff Deutschland ohne vorhergehende Kriegserklärung Polen an („Fall
Weiß“). England und Frankreich als Schutzmächte Polens forderten ultimativ den Rückzug deutscher
Truppen und erklärten Deutschland schließlich am 3.9.1939 den Krieg. Im Westen begann der bis zum
Beginn des Westfeldzugs am 10.5.1940 währende „Sitzkrieg“ („drôle de guerre“). In Vorbereitung
des Einmarsches der Roten Armee in Ostpolen am 17.9.1939 wurden die kommunistischen Parteien
dahingehend instruiert, keinerlei Solidarität mit Polen zu üben (Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist
Du, S. 126–127).
14 Die Losung der „demokratischen Republik“ für ein Deutschland nach Hitler wurde von der KPD
im Rahmen der Volksfrontpolitik im Juni 1936 aufgestellt. Die Losung der „demokratischen Republik“
wurde im Frühjahr 1937 zur „demokratischen Volksrepublik“ erweitert, wobei die Entwicklung in Spa-
nien als Vorlage diente (siehe: Arnold Sywottek: Deutsche Volksdemokratie: Studien zur politischen
Konzeption der KPD 1935–1946, Düsseldorf, Bertelsmann, 1971, S. 63ff.; vgl. Dok. 403F).
Dok. 457: Moskau, 9.9.1939 1529
15 Die Sowjetunion selbst war Mitglied des Nicht-Interventionskomitees und verweigerte bis
September 1937 Waffenhilfe an die Republikaner; die französische Sozialdemokratie unter Léon Blum
unterstützte offiziell die Nichtintervention und organisierte zugleich den geheimen Waffenschmuggel
nach Spanien.
16 Gemeint ist das Münchener Abkommen 1938.
1530 1939–1943
2./ Durch den imperialistischen Krieg einerseits und die Siege des Sozialismus und
die Friedenspolitik der Sowjetunion andererseits, vollziehen sich in Deutschland
Veränderungen im Denken der werktätigen Massen in folgender Richtung: Das Land
des Sozialismus erweist sich als das einzige Land das konsequent für den Frieden
kämpft, weil in der SU der Kapitalismus vernichtet ist und damit die Ursachen der
imperialistischen Politik. Die Stellung der Sowjetunion gegen Versailles17 und der
Kampf der deutschen Kommunisten in früheren Zeiten für das Bündnis mit der Sow-
jetunion, trägt jetzt Früchte. Es gibt jetzt die Möglichkeit, legaler Propaganda für den
Sozialismus.18 Die vom Faschismus aus demagogischen Gründen genährten antika-
pitalistischen Stimmungen gegen den „liberalen Kapitalismus“ und gegen die kapita-
listischen Demokratien Westeuropas, wirken jetzt gegen den Faschismus selbst und
begünstigen die Propaganda für den Sozialismus.
Nach den Erfahrungen der Kriegsintervention Hitlers in Spanien,19 der Annektion
Oesterreichs und der Tschechoslowakei20 und im jetzigen Krieg wächst in den Volks-
massen die Erkenntnis, dass der Faschismus Deutschland nicht stark und glücklich
macht, sondern ins Unglück gestürzt hat. Der parasitäre Charakter der faschistischen
Herrschaft und die Verfaulungserscheinungen des Kapitalismus, die besonders durch
die Kriegswirtschaft offener sichtbar werden, schaffen günstigere Bedingungen für
den Kampf gegen das Grosskapital. Da sowohl die Arbeiter durch die verschärfte Aus-
beutung, wie die Bauern durch die Kriegszwangswirtschaft des Reichsnährstandes
und der Mittelstand unmittelbarer als früher von der Volksausplünderung durch das
Finanzkapital getroffen werden, deshalb sind heute günstigere Bedingungen für den
Kampf gegen die Herrschaft des Grosskapitals und für den Sozialismus, als früher. Bis
in die Kreise der werktätigen Nazis wurde über die Frage diskutiert, „Brauchen wir
Unternehmer“. Es kommt hinzu, dass im zweiten imperialistischen Krieg die Massen
empfänglicher sind für den Kampf um die Beseitigung der Ursachen des Krieges,
damit sich die Entwicklung von 1918 bis 1939 nicht wiederholt.
3./ Für die Politik der KPD ergibt sich daraus: die Partei muss mit einem Manifest
hervortreten zur Rettung des deutschen Volkes durch den Kampf um den Frieden, der
nur herbeigeführt werden kann durch den Sturz der faschistischen Kriegsverbrecher,
durch die Beseitigung der Macht des Grosskapitals.21 Frieden kann nur geschlossen
werden durch eine Regierung der Arbeiter und Bauern, dadurch dass das werktätige
Volk selbst die Geschicke Deutschlands in seine Hände nimmt.
Zur Erreichung dieses Zieles ist es notwendig, die Arbeiterklasse und die Volks-
massen zum Kampf gegen den Feind im eigenen Land und für die Niederlage des Hit-
lerregimes im Kriege zu mobilisieren, weil dadurch der Freiheitskampf des deutschen
Volkes erleichtert wird.
Um die Massen zur Aktion zu führen, ist es notwendig, vor allem an ihre Friedens-
sehnsucht anzuknüpfen und alle Fragen des Lohnes, der Lebensmittelschwierigkei-
ten, des faschistischen Terrors, der Bevorzugung der faschistischen Parasiten zum
Anlass zu nehmen, um die Massen zu passiver Resistenz, zu Streiks und Demonstra-
tionen zu bringen.
Gleichzeitig ist es notwendig, entschiedener gegen den grossdeutschen Chauvi-
nismus, für die nationale Unabhängigkeit, für das Selbstbestimmungsrecht der vom
deutschen Faschismus unterdrückten Völker zu kämpfen und für die Stärkung der
Freundschaft des deutschen Volkes mit der sozialistischen Sowjetunion.
Um die breitesten Massen unter den Losungen Frieden, Freiheit und Brot zum
Kampf mobilisieren zu können, ist es notwendig, dass sich die Partei konzentriert auf
die Schaffung der Aktionseinheit der Arbeiter und auf die Schaffung des Bündnisses
mit den Bauern. Unsere Taktik muss berücksichtigen, dass die Schaffung der Akti-
onseinheit die Verschärfung des Kampfes gegen die rechten sozialdemokratischen
Führer und ihre Isolierung notwendig macht und dass angesichts der Veränderungen
in der Arbeiterklasse vor allem die Sozialdemokraten und früheren Gewerkschaft-
ler für die Aktionseinheit gewonnen werden müssen, aber auch breitere Massen der
bisher parteilosen Arbeiter und auch bisher unter nationalsozialistischem Einfluss
stehende Arbeiter die jetzt gegen das Hitlerregime Stellung nehmen. Angesichts der
Bedeutung der Bauernfrage und der besonderen Schwächen unserer Partei und der
deutschen Arbeiterklasse auf diesem Gebietet, ist es notwendig, dass die Partei mit
einem Aktionsprogramm für die Bauern auftritt.
Die Durchführung dieser neuen Aufgaben macht es noch dringender, dass die
Partei in den Reihen ihrer Anhänger und unter den revolutionären Arbeitern eine sys-
tematische Ueberzeugungsarbeit über die Rolle der Kommunistischen Partei und die
Bedeutung ihrer organisatorischen Stärke durchführt. Das bedeutet keine Abschwä-
chung, sondern im Gegenteil eine Förderung des Kampfes um die Schaffung einer
einheitlichen revolutionären Partei der deutschen Arbeiterklasse. Notwendig ist,
die bisherigen Unklarheiten zu korrigieren, die darin bestanden, dass verschiedene
21 Der Diskurs zur Rettung des deutschen Volkes wurde seit 1943 vom Nationalkomitee Freies
Deutschland (NKFD) übernommen..
1532 1939–1943
Genossen der Meinung waren, die Einheitspartei könne auf der Basis des Kampfes
gegen Hitler und für eine demokratische Republik geschaffen werden.22 Nicht durch
Verschweigen unserer Ziele, sondern durch Verstärkung der marxistisch-leninis-
tischen Propaganda wird es am ehesten gelingen die fortgeschrittensten Teile der
Arbeiterklasse für die Schaffung einer einheitlichen revolutionären Partei des Prole-
tariats zu gewinnen.
U[lbricht].
9.9.39/6 Ex./Bi
Dok. 458
„Der Verräter, Stalin, bist Du!“: Münzenbergs Artikel „Der
russische Dolchstoss“ als Reaktion auf den Stalin-Hitler-Pakt
Paris, 22.9.1939
In deutscher Sprache publiziert in: Die Zukunft, Paris, Nr. 3, 22.9.1939. Neu veröffentlicht in Bayerlein:
Der Verräter, Stalin, bist Du!, S. 148–149, in russischer Übersetzung von Kirill Levinson in: Bernchard
Bajerljajn: „Predatel’ – ty, Stalin!“. Komintern i kommunističeskie partii v načale Vtoroj mirovoj vojny
(1939–1941): utračennaja solidarnostʼ levych sil, Moskva, ROSSPEN, 2011, S. 164–166.
22 Der Abschnitt suggeriert, daß die Einheitspartei als neues Ziel gerade nicht im Kampf gegen Hitler
und für eine demokratische Republik erreicht werden könnte.
23 Am 16.9.1939 unterzeichneten die Sowjetunion und Japan einen Waffenstillstand, der dem seit
1938 schwelenden japanisch-sowjetischen Grenzkonflikt ein Ende setzte. Ein sowjetisch-japanischer
Nichtangriffspakt wurde erst 1941 unterzeichnet.
24 Sowjetischer Überfall auf Polen: Als Konsequenz des geheimen Zusatzprotokolls des Paktes mit
Hitler marschierte die Sowjetunion am 17.9.1939 in Ostpolen ein. Deutschland und die Sowjetunion
arbeiteten ein gemeinsames, am 19.9.1939 in der Pravda veröffentlichtes Kommuniqué aus, in dem die
Präsenz der Armeen beider Staaten in Polen mit der Notwendigkeit erklärt wurde, „Ruhe und Ordnung
herzustellen, und der Bevölkerung Polens zu helfen, die Bedingungen seines staatlichen Daseins neu zu
regeln“. Am 22.9.1939 trafen sich die deutschen und sowjetischen Armeen bei Lublin; am nächsten Tag
Dok. 458: Paris, 22.9.1939 1533
verkündete Molotov im Rundfunk zur Begründung des Einmarsches, es sei die Pflicht der Sowjetunion,
„ihren ukrainischen und bjelorussischen Brüdern, die Polen bewohnen, die Hand zur Hilfe zu reichen“
(Die Welt, 23.9.1939). Die kommunistischen Parteien wurden in der Folge darauf ausgerichtet, das nun
als Staat liquidierte Polen als ausbeuterisches Völkergefängnis zu verdammen (siehe: Bayerlein: Der
Verräter, Stalin, bist Du, S. 129). Den Ton hatte Stalin bereits am 9.9.1939 vorgegeben, als er Komintern-
Generalsekretär Dimitrov erklärte, Polen sei „ein faschistischer Staat, der Ukrainer, Weißrussen usw.
knechtet“ (Bayerlein: Georgi Dimitroff. Tagebücher, I, S. 273–274).
25 „Der Frieden ist tödlich für den Hitlerismus“ – Titel eines Artikels von Romain Rolland in der
Kominternzeitschrift Monde aus dem Jahre 1933 („La Paix est mortelle pour lʼhitlérisme“, Monde,
24.3.1933).
26 Garantie für Polen und Danzig: Am 31.3.1939 hatten die Regierungen Großbritanniens und
Frankreichs verkündet, im Falle eines Angriffes Deutschlands auf Polen dem Aggressor den Krieg zu
erklären, was am 3.9.1939 auch geschah.
1534 1939–1943
27 Bereits am 3.9.1939 erging an sowjetische Truppen in Weißrussland und der Ukraine der Befehl zur
Herstellung der Kampfbereitschaft. Nachdem am 6.9.1939 die Generalmobilmachung ausgerufen wurde,
erfolgten zwischen dem 8.9. und dem 13.9.1939 Truppenverlegungen an die sowjetische Westgrenze.
28 Blutiges Henkerwerk in Polen: U.a. gab die Sowjetunion über den Rundfunksender Minsk den
deutschen Fliegern beim Bombardieren polnischer Städte Navigationshilfe. Siehe: Johann Wolfgang
Brügel: Stalin und Hitler: Pakt gegen Europa, Wien, Europaverlag, 1973, S. 107–108.
29 Freunde der sozialistischen Einheit Deutschlands: Von Münzenberg nach seinem Bruch mit der
KPD am 1.5.1939 in Paris gegründete Gruppe, „die [...] – „für eine sozialistische Demokratie, für einen
freiheitlichen Sozialismus!“ eintrat, als Keimzelle einer künftigen reformierten und vom Stalinismus
befreiten „deutschen Einheitspartei der Arbeiterklasse“. Ihr Name wurde später von Ulbricht für die
SED usurpiert („Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“). Führende Mitglieder waren die ehema-
ligen KPD-Mitglieder und Gewerkschafter Walter Oettinghaus, Peter Maslowski und Grete Hahne, und
linke Sozialisten wie Jakob Altmaier und Hans Siemsen; die „Münzenberg-Gruppe“ wurde von den im
französischen Lager Gurs internierten Spanienkämpfern der “9. Kompanie” unterstützt und lieferte
eine sowohl diskursive wie auf die Praxis orientierte Vorlage für eine neue Dynamik im Exil. Sie war
an der „Zukunft“ beteiligt und gab die Beilage Deutsche Arbeiterbriefe heraus. (Die Zukunft, 26.1.1940,
19.5.1939; Babette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart, Deutsche Verlags-
Anstalt, 1968, S. 324; Nelles: Die Unabhängige Antifaschistische Gruppe 9. Kompanie, S. 71ff.).
30 Siehe: In der Freiheitsfront für die Einheitspartei. Ein offener Brief. In: Die Zukunft, 28.8.1939.
Dok. 458: Paris, 22.9.1939 1535
Heute sind die Feinde der Freiheit und des Friedens klar erkenntlich, scharf, wie
im Scheinwerferlicht. Niemand kann sich mehr täuschen. Allzu lange wurden Milli-
onen getäuscht und darunter nicht die schlechtesten, jedenfalls die opferwilligsten.
Allzu viele sinnlose Opfer sind für diese Täuschung gefallen, jahrelang, vor wenigen
Wochen noch, gestern noch.
Machen wir die äussersten Anstrengungen, um zu verhindern, dass der Moloch
noch weitere Opfer fordert.
Die Folgen des schändlichsten Verrates sind heute noch unabsehbar. Es ist der
schwerste Schlag, den die Arbeiterbewegung und die Front des Friedens und der Frei-
heit erhalten hat.
So schwer und so ernst auch die Folgen dieses Überfalles sind, eins ist damit ein-
getreten, die Fronten sind klar geworden.
Frieden und Freiheit müssen verteidigt werden gegen Hitler und gegen Stalin,
der Sieg muss gegen Hitler und gegen Stalin erkämpft und die neue, unabhängige
Einheitspartei der deutschen Arbeiter im Kampfe gegen Hitler und gegen Stalin
geschmiedet werden.
Kein Zaudern und kein Schwanken gilt mehr, kein Ausweichen ist mehr möglich.
Es gibt nur noch ein Hüben und Drüben.
Mit doppeltem Recht gilt heute, was wir vor wenigen Wochen schrieben:
„Die Stellung des Feindes ist klar. Der Feind steht in Deutschland. Er heisst Hitler
und sein System. Gegen diesen Feind, gegen diesen Todfeind des deutschen Volkes
und der Freiheit auf der Welt, gilt es verstärkt zu kämpfen. Und
Hitlers Feinde sind unsere Freunde und
Hitlers Freunde sind unsere Feinde.“
Jahrelang hat eine ausgehaltene Presse gehetzt und verleumdet, hat hunderte
von niederträchtigen Lügen verbreitet, tausende tapfere Arbeiter verdächtigt, keine
Nummer der „Volkszeitung“31 erschien, die nicht hundertmal wiederholte: „Nieder
mit dem Schädling. Nieder mit dem Verräter.“32
Heute stehen in allen Ländern Millionen auf, sie recken den Arm und rufen, nach
dem Osten deutend:
Am 22.9.1939 setzte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Ingenieure Georgij P. Budjakov
und Ivan S. Kormilicyn als stellvertretende Handelsbevollmächtigte in Deutschland ein.33
31 Gemeint ist die Deutsche Volkszeitung, zuletzt vom ZK der KPD in Paris herausgegeben.
32 Münzenberg bezieht sich hier auf die als „Schädlinge“ und „Verräter“ verfemten Angeklagten der
stalinistischen Schauprozesse in Moskau und der im Terror umgebrachten deutschen Kommunisten.
33 APRF, Moskau, 3/64/639, 160–162. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 221.
1536 1939–1943
Dok. 459
Der Pressechef der Komintern, Bedřich Geminder über die
Situation der Juden in den von der Sowjetunion „befreiten“
Gebieten
[Moskau], 26.9.1939
An Gen. Dimitroff
Obwohl wir fast das gesamte Material aus der Sowjetpresse über die b[e]freiten
Gebiete34 in unserer telegrafischen Berichterstattung ausnützen, erhalten wir unun-
terbrochen Telegramme von den Redaktionen35 mit Sonderwünschen über aus-
führlichere Beschreibung der Lage in diesen Gebieten nach dem Einzug der Roten
Armee. Solche Telegramme erhielten wir vor allem von Oslo und New York. Von der
„Morningfreiheit“, der jüdischen Tageszeitung der KPUSA,36 erhielten wir schon 6
Telegramme mit der Forderung Materialien über die jüdische Bevölkerung in den
befreiten Gebieten zu senden.37 Heute richtete auch „D[aily ]W[orker]“, bzw. unsere
Presseagentur in New York das gleiche telegrafische Verlangen.38 Die Sowjetpresse,
34 Befreite Gebiete: Gemeint sind die von der Sowjetunion besetzten Ostgebiete Polens.
35 Der tschechische Kommunist Bedřich Geminder (Ps. Fridrich, 1901–1952, in der Tschechoslowakei
hingerichtet) leitete seit Januar 1938 den Pressesektor der Presse- und Propagandaabteilung des EKKI.
36 Morning Freiheit, auch Morgn Freyheyt: 1922 von der jüdischen Sektion der KP der USA gegründete
Tageszeitung, 1988 eingestellt.
37 Jüdische Bevölkerung: Von der Sorge um das Schicksal der Juden auf dem Territorium des
ehemaligen polnischen Staates und der Hoffnung auf rettende Maßnahmen seitens der Sowjetunion
zeugen zahlreiche überlieferte Eingaben an Molotov. So bat bspw. am 12.1.1940 eine Gruppe von
mehrheitlich jüdischen Bürgern aus dem Gebiet Bialystok in einem Schreiben an Molotov den von
ihnen so titulierten „Vater und Befreier“, etwas zur Rettung von 300 Menschen zu unternehmen, die
von den Deutschen verschleppt worden waren. (RGASPI, Moskau, 82/2/1465, 44). Tatsächlich gab es
Grund zur Sorge um die jüdische Bevölkerung auf dem sowjetischerseits „befreiten“ Territorium, deren
Sicherheit vor den Deutschen keineswegs gegeben war. So war es Praxis der deutschen Okkupanten,
Juden aus Westpolen auf das russisch besetzte Territorium abzuschieben. Die sowjetische Verwaltung
dachte jedoch nicht daran, die auf diese Weise den Deutschen entkommenen Juden in Schutz zu
nehmen, sondern schickte sie schlichtweg zurück. Der Staatsekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von
Weizsäcker, hielt im Dezember 1939 nach einem Gespräch mit Feldmarschall Wilhelm Keitel folgendes
fest: „Die Abschiebung von Juden in das russische Gebiet vollziehe sich [...] nicht so anstandslos,
wie es anscheinend erwartet wurde. Praktisch gesprochen gehe die Sache so vor sich, daß z. B. an
einem stillen Ort im Walde tausend Juden über die russische Grenze abgeschoben würden; 15 km
davon kämen sie wieder zurück, wobei der betreffende russische Befehlshaber den deutschen nötigen
wolle, den Schub wieder aufzunehmen.“ (Kurt Pätzold, Günter Rosenfeld (Hrsg.): Sowjetstern und
Hakenkreuz 1938 bis 1941. Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, Berlin, Akademie-
Verlag, 1990, S. 279 (nach ADAP, D, VIII, S. 384).
38 Daily Worker: Tageszeitung der KP der USA, New York, gegründet 1924.
Dok. 460: [Moskau], 28.9.1939 1537
auch die ukrainische und jüdische, bringt bisher nichts über die Juden. Wir haben
uns schon an jüdische Schriftsteller gewandt, die erklären jedoch, dass sie auch nicht
über derartiges Material verfügen. In diesem Zusammenhang möchte in [ich?] die
Frage aufrollen, ob nicht die Möglichkeit besteht einen Sonderkorrespondenten für
die Berichterstattung an unsere Presse (selbstverständlich über unsere Kontrolle) in
die befreiten Gebiete zu entsenden.
Friedrich39
Dok. 460
Nicht publizierter Entwurf eines Aufrufs der KPD mit der
Aufforderung zum Sturz der Hitlerdiktatur
[Moskau], 28.9.1939
„5“
8205/7/F
Abschrift
28.9.1939.
Vertraulich!
39 Hdrschr. Vermerk von Dimitrov in russischer Sprache: „Gen. Friedrich [unleserl.] aus diesem
Anlass einen Brief an das ZK (Gen. Ždanov) [geschickt]. GD 29.9.39“.
40 Der Entwurf des Aufrufs wurde von Wilhelm Pieck vorbereitet und am 25.9.1939 Dimitrov überge-
ben. Das Dokument ist auf den 1.9.1939 datiert, wurde jedoch viel später verfasst. Der erwähnte Krieg
Englands und Frankreichs gegen Deutschland wurde erst am 3.9.1939 erklärt. Auch sind zahlreiche
Wendungen aus der Direktive der Komintern an alle kommunistischen Parteien zum „imperialisti-
schen“ Charakter des Krieges übernommen (siehe Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 126–127),
die erst am 8.9.1939 verfasst wurde. Eine Kehrtwende im Sinne des Stalin-Hitler-Pakts konnte die
KPD noch nicht vollziehen; so ist im Dokument weiterhin vom Hitlerfaschismus als Hauptfeind des
deutschen Volkes die Rede. Es ist unwahrscheinlich, daß der Aufruf überhaupt publiziert wurde. Am
1.10.1939 beriet das EKKI-Sekretariat über das Dokument und beschloss, es gründlich umzuarbeiten
und es im Namen der KPs Deutschlands, Österreichs und der Tschechoslowakei herauszugeben. Eine
Kommission, bestehend aus Klement Gottwald, Wilhelm Pieck und Friedl Fürnberg sollte den Text
umarbeiten (RGASPI, Moskau, 495/18/1294, 64). In der Endversion vom 23.10.1939 figurierten dann
nicht mehr die Begriffe „Hitlerismus“ oder „Faschismus“, sondern es war nur noch vom „deutschen
Großkapital“ die Rede. Die Stoßrichtung war nun “gegen den imperialistischen Krieg” gerichtet, “für
die soziale und nationale Befreiung der Völker”. Der deutsche Imperialismus sollte durch ein Zusam-
menrücken „national-sozialistischer, sozialdemokratischer, katholischer und kommunistischer Ar-
1538 1939–1943
beiter“ niedergeworfen werden. Hierzu ausführlicher: Fridrich Firsov: Archivy Kominterna i vnešnjaja
politika SSSR v 1939–1941 gg. In: Novaja i novejšaja istorija (1992), Nr. 6, S. 23–24.
41 Der Unternehmer Albert Vögler, Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke AG in Düsseldorf,
gehörte zu den Industriellen, die Hitlers Machtantritt finanziell unterstützten.
42 1931 lebten 739.000 Angehörige der deutschsprachigen Minderheit in Polen. Nach Hitlers Macht-
antritt wurden als Reaktion auf die deutsche Bedrohung die vom Versailler Vertrag verbrieften Min-
derheitenrechte der Deutschen als Folge der Polonisierungspolitik der polnischen Regierung teil-
weise ausgehebelt. Die Nationalsozialisten ihrerseits versuchten dagegen erfolgreich, die deutschen
Verbände in Polen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Auf dem Hintergrund des 1934 abgeschlos-
senen polnisch-deutschen Nichtangriffspakts ließen die polnischen Behörden diese Unterwanderung
zum Teil geschehen. Ab Anfang 1939 kam es zu antideutschen Ausschreitungen in Polen, was von
der NS-Propaganda aufgegriffen wurde. Auch nach dem deutschen Überfall hielt sich dieser Topos
als Kriegsbegründung: So zeigten deutsche Wochenschauen im September 1939 bspw. brennende
deutsche Bauernhöfe in Polen. Siehe: Albert S. Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen
Minderheit 1918–1939, Wiesbaden, Otto Harrassowitz Verlag, 1998, S. 298ff., S. 338ff.
Dok. 460: [Moskau], 28.9.1939 1539
Der Krieg geht um die Neuverteilung Europas und der Kolonien, um die Vorherr-
schaft in Europa. Es ist ein imperialistischer Raubkrieg der am Kriege beteiligten Kapi-
talmächte.
Je länger der Krieg dauert, umso höher steigen ihre Millionengewinne. Ihr sollt
Euer Blut und Euer Leben opfern, damit die Kapitalisten ihren Reichtum vermehren
und ihre Herrschaft erweitern.
Ihr müsst diesem Verbrechen ein schnelles Ende bereiten.
Entlarvt die Kriegsverbrecher hüben und drüben, macht ihnen die chauvinisti-
sche Verhetzung der Völker unmöglich!
Kämpft gegen alle Einschränkungen und Verschlechterungen Eurer Ernährung
und Bekleidung! Kämpft um mehr Brot, Butter, Fleisch für Euch und Eure Kinder!
Kämpft gegen die Arbeitsantreiberei und Lohndrückerei! Kämpft um höhere Löhne
und Verkürzung der Arbeitszeit! Kämpft um den Achtstundentag!
Kämpft um ausreichende Unterstützung der Familien der zum Kriegsdienst ein-
gezogenen Soldaten!
43 Aufrufe zur Desertion als Teil des Widerstandes lehnte die KPD strikt ab, gegen weite Teile des
Pazifismus und des Widerstands. Auf den 4.10.1939 datiert ist bspw. ein Aufruf des deutschen Dichters
Fritz von Unruh an die deutschen Soldaten, der im April/Mai 1940 als Flugblatt in einer Auflage von
über 100 000 hinter den deutschen Angriffslinien in Frankreich abgeworfen wurde. Im Schlusssatz
werden die Soldaten aufgefordert, „den Kriegstreibern in die Arme zu fallen und sich mit denen zu
verbrüdern, die ebenfalls für die Freiheit kämpfen. Mit der abschliessenden Losung: „Der Feind steht
nicht am Rhein, der Feind sitzt in Berlin“, wird die Analogie zu Karl Liebknechts Haltung im Jahre
1914 offensichtlich. „Das Hitlersystem ist nicht die Knochen eines einzigen deutschen Soldaten wert.
Denkt an alle Leiden und Schrecken seit 1933, gedenkt der Verfolgten, Eingekerkerten, Erschlagenen
und heimlich Ermordeten. Die Stunde der Abrechnung ist gekommen! Sagt Euch los von den Brand-
stiftern und Tyrannen. Fallt den Kriegstreibern in die Arme. Bekennt Euch zu unserem Volke und zu
Deutschland. Verbrüdert Euch mit denen, die wie wir für die Freiheit kämpfen. Kameraden erkennt:
Der Feind steht nicht am Rhein, der Feind sitzt in Berlin.“ (Karlheinz Lipp: „Der Feind sitzt in Berlin“.
Ein Flugblatt und seine Geschichte. Fritz von Unruhs Aufruf an die deutschen Soldaten vom 4. Sep-
tember 1939. In: Praxis Geschichte, Heft 4, 2009, S. 50–51).
1542 1939–1943
eigenen Land und die Verbrüderung der Soldaten an den Fronten wird diesem Kriegs-
verbrechen ein Ende machen.
Es lebe die Aktionseinheit des werktätigen Volkes Deutschland gegen den Hitler-
faschismus und den deutschen Imperialismus!
Krieg dem imperialistischen Kriege und den Kriegstreibern!
Es lebe die Freundschaft des deutschen Volkes mit dem mächtigen Sowjetvolke!
Nieder mir den Hetzern gegen die Sowjetunion!
Es lebe die internationale Solidarität der Werktätigen aller Länder! Es lebe die
Völkerverbrüderung gegen Faschismus und Imperialismus!
Es lebe die sozialistische Revolution!
Hoch der Sozialismus!
1. September 193944
Zentralkomitee
der Kommunistischen Partei Deutschlands
(Sektion der Kommunistischen Internationale)
Am 29.9.1939 ratifizierte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen sog. sowjetisch-estni-
schen Beistandspakt, der am Vortag in Moskau abgeschlossen wurde.45
Am 2.10.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Ausweitung der Kompe-
tenzen der Presseabteilung des Außenkommissariats, dem nun die Leitung aller Auslandsrubriken
in zentralen Presseorganen und Radiosendungen obliegen sollte. Die Publikation von Artikeln „zu
den Fragen des internationalen Lebens und der Außenpolitik der UdSSR“ sollte forciert werden; unter
anderem sollte die Auslandsrubrik der Gewerkschaftszeitung Trud erweitert werden, um eine „nicht
offiziöse Beleuchtung der sowjetischen öffentlichen Meinung zu internationalen Fragen in ihren ver-
schiedenen Facetten“ zu produzieren.46
Am 2.10.1939 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit dem Schicksal der an-
läßlich der Besetzung Ostpolens zu Kriegsgefangenen gemachten Angehörigen der polnischen Streit-
kräfte. Unter anderem wurde beschlossen, polnische Offiziere und Polizisten in einem gesonderten
Lager zu internieren.47Am 3.10.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, den
Feldgerichten an der ukrainischen und weißrussischen Front zu erlauben, Todesurteile an Zivilisten
und ehemaligen Offizieren der polnischen Armee zu vollstrecken.48
Am 8.10.1939 traf das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Reihe von Beschlüssen zur per-
sonellen Besetzung der für die neue, durch die Aufteilung des polnischen Staatsgebiets entstandene
Dok. 461
Aufzeichnungen Ulbrichts zur „Wirkung des Nichtangriffspaktes in
Berlin“
[Moskau], 17.10.1939
Aus den vorliegenden Berichten unserer Instrukteure über die Massenstimmung bei
Bekanntgabe des Paktes geht hervor, dass die Autorität der Sowjetunion und des
Kommunismus gewachsen ist. Zunächst knüpften die revolutionären Arbeiter daran
an, dass durch den Pakt die ganze antibolschewistische Hetze des Faschismus wie-
derlegt wurde und dass die SU für den Frieden ist. Zunächst wehrten sie sich gegen
die Demagogie der Nazis. In Berlin und Umgebung hingen riesengrosse Plakate mit
Bildern des Genossen Stalin und von Ribbentrop mit Texten wie: „Die Sowjetunion
schlägt sich zur Achse“ oder „Zwei Diktatoren erkennen die Gefahr“.52 Schwankun-
gen traten ein in der Frage, dass durch den Pakt die Aggression Hitlers gegen Polen
53 „Heil Moskau“ war nicht nur eine Paraphrasierung des Hitlergrußes, sondern der Rückgriff auf
kommunistische Grußformeln der späten 20er Jahre, als Parolen wie „Heil Sowjet“ zum Repertoire
der KPD gehörten (siehe Eumann: Eigenwillige Kohorten, S. 195).
54 Gemeint ist der XVIII. Parteitag der KP der Sowjetunion (10.–21.3.1939), siehe Dok. 456.
55 Der sogenannte Antikominternpakt wurde am 25.11.1936 zwischen Deutschland und Japan ge-
schlossen, offiziell um den Kampf gegen die Aktivitäten der Komintern zu koordinieren. Ein Zusatz-
vertrag beinhaltete auch den gegenseitigen Verzicht auf vertragliche Vereinbarungen mit der Sowjet-
union, was durch den Abschluss des Stalin-Hitler-Paktes gebrochen wurde. 1937 schloss sich Italien
dem Antikominternpakt an, im Frühjahr 1939 Mandschukuo, Franco-Spanien und Ungarn. Nach dem
Pakt schien sogar ein Beitritt der Sowjetunion zum Antikomintern-Pakt im Rahmen des Möglichen; so
kolportierte Joachim von Ribbentrop am 24.8.1939 bei seinem Moskaubesuch ein angeblich in Berlin
kursierendes Gerücht, Stalin bzw. die Sowjetunion selbst werde dem Antikominternpakt beitreten
(siehe: Brügel: Stalin und Hitler, S. 88–90). Eine tatsächliche Sondierung der UdSSR in Richtung auf
einen Beitritt zum 1940 als „Dreierpakt“ wiederbelebten Antikominternpakt erfolgte während Mo-
lotovs Reise nach Berlin im November 1940 und ist auch in den Tagebüchern Dimitrovs belegt (vgl.
Besymenski: Stalin und Hitler, S. 326f.; Dimitroff: Tagebücher, I, S. 321f.).
56 Der Pakt gilt als endgültiges Abrücken von den internationalistischen Prinzipien der Sowjetunion
zugunsten nationaler und imperialer Interessen, was nicht nur von NS-Seite, sondern auch von der
Dok. 461: [Moskau], 17.10.1939 1545
der Sitzung einer Berliner Parteileitung äusserte sich der verantwortliche Genosse für
den Pakt und begründete das mit der Stalinrede auf dem XVIII. Parteitag. Ein anderes
Leitungsmitglied sagte, dass der Pakt für die SU richtig ist, um Chamberlain und
Daladier zu zeigen, dass die SU nicht gewillt ist, für sie in den Krieg zu ziehen. „Aber
für Polen und für uns ist jetzt eine schwierige Lage eingetreten“.
Ein drittes Leitungsmitglied erklärt: „Es ist nicht leicht, sich sofort ein Bild von
all dem Geschehenen zu machen. Aber eins dürfen wir nicht verlieren, den Glauben
an unser Vaterland, die Sowjetunion. Wir dürfen keine Angst vor den Schwierigkeiten
haben, noch nie hatten wir eine so gute Gelegenheit, so offen für die SU einzutreten.
Hitler ist doch als Lügner entlarvt.“ Ein anderes Leitungsmitglied erklärte nach einer
Ansprache: „Wir möchten erklären, dass wir als Gruppe des KJV57 unbedingtes Ver-
trauen zur Politik der SU und insbesondere zum Genossen Stalin haben.
Aus vielen Aeusserungen von Arbeitern geht hervor, dass sie zunächst vor allem
die Nazilügen entlarvten, indem sie hervorhoben, dass jetzt die faschistische Presse
das Gegenteil von dem über die SU schreibt, was sie bisher geschrieben hat. Ein Arbei-
ter sagte: „Ich denke, die Russen haben nichts zu fressen und Stalin sei ein Räuber?
Da kann man mal wieder sehen, wie gelogen und betrogen wird. Wir tun gut, uns mit
den Russen zu verbinden, von uns bliebe ja doch blos Asche übrig, wenn wir auch
noch die Russen gegen uns hätten. Ich war schon immer für die Russen. Frieden, das
weiss ich schon lange“. Ein Parteigenosse: Und wenn die ganze Welt gegen die SU ist,
für mich gibt es kein Wanken. Die Politik der SU ist die Politik der Komintern und da
darf es für uns Kommunisten keine Zweifel geben.
In der Sitzung einer Berliner Parteileitung wurde sofort zum Pakt Stellung genom-
men. Der Instrukteur erklärte, welch grosse Möglichkeiten jetzt im Kampf gegen das
Hitlersystem und für die Popularisierung des Sozialismus bestehen. „Ueberall, wo
man sich über die SU unterhält, müssen wir eingreifen, Fragen stellen, sich sehr
eingehend über das Wirtschaftsleben der SU informieren. Wir müssen die früheren
Nazilügen gegen die SU widerlegen“.
In einem Rüstungsbetrieb gab es folgende Unterhaltung zwischen dem Vertrau-
ensrat und einem Arbeiter: Vertrauensrat: „Ich bin ja auch nur gezwungen in der
NSDAP, jeder will doch gerne seinen Arbeitsplatz erhalten, wenn er eine Familie hat,
ich war ja niemals einer von den Scharfen“. Arbeiter: „Na, Maxe, brauchst ja keine
Angst zu haben, gegen die kleinen Nazis sind wir loyal“.
In einem Berliner Lokal sitzen Bauarbeiter von der Nord-Süd-Bahn.58 Der Wirt
sagt: „Hoffentlich verwirklichen sie auch das Programm der KPD“. – Die Arbeiter:
„Na, da kannst Du lange darauf warten“. Sie sprachen über die Kommunisten, als ob
die KPD niemals verboten war.
Vielfach wurde auch anders diskutiert und gesagt, man könne nicht verstehen,
dass die SU mit Deutschland einen Pakt abschliesst. Aber nach einigen Tagen legte
sich auch diese Verwirrung. Ein Bauer sprach davon, dass es ein Glück sei, dass die
Russen mit uns einen Pakt abgeschlossen haben. Er begründet es damit, dass wir
Haue gekriegt hätten „dass uns ein für allemal die Lust vergangen wäre, andere
Völker zu überfallen“.
Auf die überzeugten Nazis wirkte der Pakt wie eine kalte Dusche, das sei Verrat
am Naziparteiprogramm. Ein Nazi sagte: „Da haben wir die Russen ja schön herein-
gelegt“. Ein anderer Nazi antwortet: „Quatsch, die Russen haben uns hereingelegt,
wir sind doch nach Moskau gegangen“. Aus einem Bericht über den Erntehilfsdienst
deutscher Studenten59 wird gesagt, dass ein Junker sich gegenüber Studenten über die
Stimmung der Bauern folgendermassen äusserte: „Die Bauern in meiner Umgebung
sind grosse Freunde der SU. Sie sind fast alle Kommunisten oder denken wenigstens
so. In ihren Gesprächen kommt immer wieder zum Ausdruck, dass nur recht bald die
Zeit kommen möge, wo sie mein Gut aufteilen können. Wenn sie abends zusammen-
kommen, ist das das Hauptthema. Auch sonst schimpfen sie über alles.
17.10.1939/6 Ex/Bi.
Auf Vorschlag des NKVD-Vorsitzenden Lavrentij Berijas beschloss das Politbüro des ZK der KP der
Sowjetunion am 13.10.1939, die ca. 33.000 polnischen Soldaten, die aus dem nun von Deutschland
besetzten Teil Polens stammten, in der nächsten Zeit an Deutschland zu übergeben und Verhandlun-
gen in diesem Sinne zu führen.60
Am 15.10.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, eine Gruppe von Spezia-
listen nach Deutschland zu entsenden, um „neue technische Errungenschaften der Deutschen in
Schiffsbau, Artillerie, Schiffstechnik, Panzerung, wie auch zur Eisenmetallurgie, darunter zur Mecha-
nisierung des Erzabbaus, vor allem zur Stahlherstellung ohne Verhüttungsprozess, in Erfahrung zu
bringen“. Über die Möglichkeiten, in den betreffenden Bereichen Bestellungen aufzugeben, seien
Erkundungen einzuziehen.61
Am 19.10.1939 ratifizierte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den am 4.10. geschlossenen
„Deutsch-sowjetischen Freundschafts- und Grenzvertrag“ einschließlich der Zusatzprotokolle zur
Aufteilung Ostmitteleuropas.62
59 Erntehilfe: Studentische Erntehilfsdienste waren Bestandteil des nach dem Gesetz zur Arbeits-
pflicht 1935 geschaffenen Reichsarbeitsdienstes unter Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl.
60 APRF, Moskau, 3/162/26, 71. Publ. in: Kostjuško: Materialy „osoboj papki“, S. 96–97.
61 RGASPI, Moskau, 17/162/26, 73.
62 RGASPI, Moskau, 17/3/1015, 22; APRF, Moskau, 3/64/674, 47. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin,
III, Dok. 232.
Dok. 462: [Moskau], 21.10.1939 1547
Am 20.10.1939 legte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Zusammensetzung der sowje-
tischen Delegation in der neu geschaffenen deutsch-sowjetischen Evakuierungskommission fest.63
Am gleichen Tag beschloss das Politbüro, der Komintern bis Ende 1939 einen Kredit von 3.500.000
Tscherwonzenrubel und 200.000 Goldrubel zu gewähren.64
Dok. 462
Anweisungen der KPD-Führung zu den Aufgaben der Partei unter
den neuen Bedingungen des Paktes
[Moskau], 21.10.1939
Vertraulich65
Brief der Parteileitung an die Leitungen und Funktionäre der K.P.D. im Lande über die
Aufgaben der Partei.66
21.10.1939
Liebe Freunde,
In den Berichten, die uns in letzter Zeit zugingen, sind verschiedene Fragen aufge-
worfen worden, die im Artikel des Genossen Dimitroff67 und auch in der gemeinsamen
Erklärung der Kommunistischen Parteien Deutschlands, Oesterreichs und der Tsche-
choslowakei68 grundsätzlich beantwortet werden. In diesem Brief an die Parteilei-
tungen und Funktionäre im Lande wollen wir einige Aufgaben unserer Partei näher
erläutern.
neben der Freiheit des deutschen Volkes die Selbstbestimmung der Österreicher, Tschechen, Slowa-
ken und Polen. Wahrscheinlich sollte der Aufruf deshalb wieder zurückgezogen werden, doch die
Entscheidung des EKKI-Sekretariats erfolgte offenbar zu spät, um eine Veröffentlichung noch zu ver-
hindern (hierzu Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 184–186).
Dok. 462: [Moskau], 21.10.1939 1549
69 Vermutlich gegen Willi Münzenberg gerichteter Vorwurf, im Zusammenhang mit den völlig un-
berechtigten Beschuldigung der Sabotage der Volksfront, die seinerzeit gegen ihn erhoben wurden.
1550 1939–1943
klasse vor die historische Aufgabe der Beseitigung des Kapitalismus und der Verwirkli-
chung des Sozialismus.
Die gegenwärtige Lage bringt eine wesentliche Veränderung im Denken der breiten
Massen mit sich. Grosse Teile der früheren sozialdemokratischen Arbeiter und
Gewerkschaftler, sowie viele katholische Arbeiter fühlen sich enger mit der sozialisti-
schen Sowjetunion verbunden und ihr Wille zum Kampf gegen den imperialistischen
Krieg und für den Sozialismus wächst. Die sozialistischen Ideen dringen bis tief in die
Reihen der Jugend- und Naziwerktätigen ein. Die Gewinnung dieser breiten Kreise der
Werktätigen für den gemeinsamen Kampf um den Sozialismus ist durch die Zerstö-
rung der Grundlage der antibolschewistischen Ideologie des „Nationalsozialismus“
erleichtert.
Unter diesen Bedingungen muss die Partei ihre Kraft darauf konzentrieren, die
Aktionseinheit der Arbeiter herzustellen, die Sozialdemokraten, Gewerkschafter,
christliche, parteilose und nationalsozialistische Arbeiter, für den gemeinsamen
Kampf mit der KPD und für die sozialistische Sowjetunion zu gewinnen und die reakti-
onären früheren führenden Kräfte der SPD und der früheren bürgerlichen Parteien,
die auf den englischen Imperialismus spekulieren, zu isolieren, sie als Verräter zu
bekämpfen. [...]
Die Erfüllung dieser Aufgaben erfordert die systematische geduldige Arbeit in den
faschistischen Massenorganisationen, insbesondere in der DAF und in den Organisa-
tionen des Reichsnährstandes.70 Der Umschwung, der sich bei vielen nationalsozia-
listischen Anhängern vollzieht, gibt die Möglichkeit, größere Kreise von „national-
sozialistischen“ Funktionären zu beeinflussen und für den Kampf um ein neues, ein
sozialistisches Deutschland zu gewinnen. [...]
leiten. Es ist notwendig, Arbeiter, die sich im Kampfe bewährt haben, für die Partei zu
gewinnen und dadurch die Parteizellen zu stärken und die Zahl der Parteigruppen zu
vermehren. Von größter Bedeutung für die Führung des Massenkampfes [sic] ist die
Herausgabe illegaler vervielfältigter Flugblätter und Zeitungen durch die Parteileitung
im Lande.71 Diese illegalen Zeitungen sind gleichzeitig ein organisatorisches Mittel,
einen Kreis von Sympathisierenden um die Partei zu bilden.
Vor der KPD steht in der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus die Aufgabe, die
Arbeiterklasse zum Kampf um den Sozialismus zu einigen und in diesem Kampfe zu
führen. Durch die größte Kampfinitiative, durch bolschewistische Festigkeit, durch
die Meisterung des Marxismus-Leninismus muß sich in dieser historischen Situation
jeder Kommunist bewähren.
71 Eine Parteileitung im Lande gab es nicht, genausowenig wie den hier beschworenen Massen-
kampf.
1552 1939–1943
Dok. 463
Über die Stimmungen in Deutschland nach dem Stalin-Hitler-Pakt
(aus den Deutschland-Berichten der Sopade)
[Paris], [24.10.1939]
72 „Sopade“ war die Bezeichnung für die Exilleitung der SPD in Prag (1933–1938), Paris (1938–1940)
und London (1933–1945). Nachdem die meisten SPD-Führer nach Hitlers Machtantritt mithilfe der su-
detendeutschen Sozialdemokraten ins Prager Exil gegangen waren, kam es zum Bruch mit der Berliner
Führung, die sich zunächst Illusionen über die Möglichkeit einer Weiterarbeit in Hitlerdeutschland
gemacht und Hitlers außenpolitischer „Friedensresolution“ vom 17.5.1933 zugestimmt hatte. Die So-
pade unterhielt mittels eines Systems von „Grenzsekretären“, die von grenznahen Gemeinden aus
Kontakte ins Land knüpften, ein wirksames geheimes Informations- und Widerstandsnetzwerk. Aus
den auf diese Weise erhaltenen politischen und wirtschaftlichen Nachrichten setzte die Sopade die
sog. „Deutschland-Berichte“ zusammen (auch als „Grüne Berichte“ bekannt), die von 1934 bis 1938
in Prag und von 1938 bis 1940 in Paris herausgegeben wurden. Ihre Zielgruppe waren Sozialisten
im Ausland wie auch Untergrund-Kader in Deutschland. Die Berichte erschienen zeitweise zweispra-
chig (deutsch und englisch), und erreichten eine Auflage von bis zu 1700 Exemplaren (siehe: Marlis
Buchholz/Bernd Rother: Einleitung. In: Id. (Hrsg.): Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle
der Sopade 1933–1940, Bonn, J.H.W. Dietz Nachf., 1995, S. XII-IL; Werner Plum (Hrsg.): Die „Grünen
Berichte“ der Sopade. Gedenkschrift für Erich Rinner, Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung, 1984).
73 Ähnliches wurde im Sopade-Bericht Nr. 9 vermerkt, den wiederum Walter Ulbricht am 3.1.1940
(äußerst selektiv) in einen internen Komintern-Bericht umformulierte. Dort hieß es: „Sogenannte
Sympathisierende [der KPD] sind fertig mit dem Kommunismus. Die ehemaligen Funktionäre der
KPD jedoch sind nach Ueberwindung der ersten Ueberraschung nach wie vor von der Weisheit und
Grösse Stalins überzeugt. Sie glauben, dass nun der Bolschewismus erst recht in Deutschland zur
Macht kommen würde. Sie glauben einfach an die unüberwindliche Kraft des Bolschewismus, dem
Deutschland sich nicht mehr entziehen könne.“ (RGASPI, Moskau, 495/10a/424, 185). Im Sopade-
Dok. 463: [Paris], [24.10.1939] 1553
Bericht wurde diese Passage durch den folgenden, von Ulbricht nicht zitierten Satz eingeleitet: „Am
verrücktesten steht es bei den ehemaligen Kommunisten selbst.“ (Siehe: Deutschland-Berichte [der
Sopade] VI (1939), Nr. 9, S. A12.
74 Die oberschlesische Industriestadt Zabrze wurde 1915 in „Hindenburg“ umbenannt. Die sich dort
befindliche Hedwigswunschgrube war Teil der Borsig-Werke.
75 Freigewerkschaftler: Gemeint sind hier die ehemaligen Mitglieder des von den Nationalsozialisten
verbotenen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB).
76 Gemeint ist die von der KPD als „Roter Volksentscheid“ propagierte, gescheiterte Abstimmung
vom 9.8.1931 für die Auflösung des preußischen Landtages. Siehe Dok. 264–269.
1554 1939–1943
Stalin ein Zeichen der großen Schwäche des Systems, die Hitler zu diesem verzweifel-
ten Schritt genötigt hat.
Berlin, 1. Bericht: Das deutsch-russische Abkommen und die Fahrt Ribbentrops nach
Moskau kam allen zunächst wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es ist keine Über-
treibung, wenn man sagt, daß die meisten zunächst regelrecht die Sprache verloren
hatten. In den nächsten Tagen konnte man dann den Eindruck gewinnen, daß jene
SA-Leute, die ehemals dem Roten Frontkämpfer-Bund angehört hatten, den Auftrag
hatten, die neue Wendung der Nazipolitik in den Betrieben zu feiern. Sie fanden aber
eigentlich nirgends die Kraft dazu. Ein solcher ehemaliger RFB-Mann, der später beim
SA-Sturm Maikowski77 war, sagte: „Ich bezweifle sehr, daß hier Stalin etwas für uns
erreicht hat. Hitler ist doch so eng mit dem Kapital verbunden, daß er, wenn wir jetzt
etwa hier Sowjets bilden wollten, die ganze Armee gegen uns loslassen würde, wie
damals 1919 in Bayern.“78
Viele ehemalige Gewerkschaftler empfinden das Abkommen als eine Bestätigung
ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Kommunisten und sagen: „Wir haben doch
immer gewußt, daß die Brüder noch einmal zusammengehen werden. Wenn es einmal
wieder Demokratie gibt, werden sie wenigstens gleich beide erledigt sein.“ Es hat aber
auch regelrechte Wutausbrüche gegen die kommunistischen Drahtzieher gegeben, und
wer jetzt im Betrieb sich als Verfechter des deutsch-russischen Paktes bekennt, fällt bei
den alten Arbeitern radikal ab, ganz gleich, ob es sich bei dem Russenfreund um einen
Provokateur oder um einen ehrlich überzeugten Kommunisten handelt.
Es wird jetzt sehr viel mit Provokateuren gearbeitet, die die abenteuerlichsten
Gerüchte in die Welt setzen. So wollen einige wissen, Dimitroff sei bereits in Berlin
eingetroffen und die Nazis wollten den deutschen Arbeitern die Deutsche Arbeits-
front79 „wiedergeben“.
2. Bericht: Es ist erstaunlich, mit welchem Mißtrauen man in Deutschland der neuen
Freundschaft Hitler-Stalin begegnet. Je mehr die offizielle Propaganda von der russi-
schen wirtschaftlichen Hilfe spricht, desto stärker werden die Zweifel, ob man nicht
hereingelegt sei, ob Stalin nicht nur dem Hitler Mut machen wollte zum Absprung
in den Krieg und ihn nun im Stich ließe. Diese Zweifel kommen aus der nazistischen
Bevölkerung. Unsere eigenen Leute und auch Kommunisten, die an die russische
Mitwirkung innerhalb der Friedensfront der Westmächte glaubten, äußern derartige
Zweifel nicht, sondern sind vom 100%-igen Verrat Stalins überzeugt.
77 Die SA-Standarte 1 war nach Hans Eberhard Maikowski benannt, einem NS-„Märtyrer“ und Füh-
rer des „SA-Sturms 33 Berlin Mitte“, auf dessen Konto zahlreiche politische Morde der frühen 1930er
Jahre gingen. Maikowski wurde bei einer Straßenschlacht im Anschluss an den NS-Fackelzug zur
Feier der „Machtergreifung“ Hitlers am 30.1.1933 erschossen und wie Horst Wessel zum NS-Helden
stilisiert (siehe: Sauer: Goebbels’ Rabauken, S. 139).
78 Gemeint ist die Bayerische Räterepublik 1919, die von Regierungstruppen und Freikorps brutal
niedergeschlagen wurde. Zum Ablauf der Räterepublik siehe Dok. 13.
79 Siehe hierzu Dok. 462.
Dok. 463: [Paris], [24.10.1939] 1555
Rheinland-Westfalen: Die Kommunisten fühlen sich betrogen und sie bringen in den
Unterhaltungen im Betrieb oft deutlich zum Ausdruck, daß die Vereinbarung Hitler-
Stalin eine furchtbare Enttäuschung für sie ist. Sie sehen alles grau in grau, weil sie
nun alle ihre Hoffnungen auf die Zukunft begraben müssen. Mancher von ihnen hatte
noch immer den Traum von der Diktatur des Proletariats nicht aufgegeben. Sie sind
jetzt ganz fassungslos.
Jetzt erfährt auch die ablehnende Haltung der ehemaligen Sozialdemokraten bei
all den früheren Einheitsfrontsmanövern in den Augen der Kommunisten ihre Recht-
fertigung. Das Ansehen der Sozialdemokraten ist mit einem Schlage ganz erheblich
gestiegen und oft sagt man ihnen, daß die Demokratie wohl doch das Beste sei.
Immerhin gibt es auch heute noch Leute, die die Politik Rußlands für richtig
halten und die die Schuld an einer Fortsetzung des Krieges den Westmächten
zuschieben möchten. Eine solche Haltung macht aber auf die deutsche Arbeiterschaft
im allgemeinen keinen Eindruck mehr. Im Gegenteil: Man flüstert sich zu, daß diese
Propagandisten offenbar im Dienste der Gestapo stünden. Es handelt sich dabei fast
ausschließlich um ehemals führende KPD-Leute. Die Opposition gegen Hitler hat mit
Leuten dieser Art nichts mehr gemein.
Nur wer unter der Hitlerdiktatur leben muß, kann diesen Verrat in seiner ganzen
Gemeinheit beurteilen. Auch unter den Nichtkommunisten gab es Leute, die außen-
politische Hoffnungen auf Rußland gesetzt hatten. Jetzt empfinden sie nicht nur
bittere Enttäuschung, sondern sagen auch: Hitler ist Stalin und Stalin ist Hitler, beide
sind einander wert. Eins ist sicher: In Deutschland wird der Kommunismus im Innern
keine Gefahr mehr bedeuten. [...]
Am 27.10.1939 beauftragte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Hauptverwaltung der
Zivilluftflotte, Verhandlungen mit der Lufthansa zwecks Einrichtung einer Luftlinie Moskau-Berlin auf-
zunehmen.80
Am 10.11.1939 bildete das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion eine Kommission „zur Verwen-
dung der Arbeitskraft von Flüchtlingen“, die aus dem deutsch besetzten Territorium Polens in die
Sowjetunion geflohen waren. Der nicht zu verwendende Teil der Flüchtlinge sollte zurückgeschickt
werden.81
Während der Verhandlungen mit Finnland im Oktober-November 1939 veränderte Stalin seine Politik
gegenüber der orthodoxen Kirche. Das Politbüro verabschiedete eine an Berija adressierte Instrukti-
on, in der es fortan für „inopportun“ gehalten wird, „die Praxis der Organe der NKVD der UdSSR be-
züglich der Verhaftungen von Angehörigen des orthodoxen Kultes und der Verfolgung von Gläubigen
fortzusetzen“. Damit wurde explizit die Instruktion Lenins über „den Kampf gegen die Popen und die
Religion“ aufgehoben.82
Dok. 464
Vorschläge der Komintern zur engeren Zusammenarbeit von KPD,
KP Österreichs und KP der Tschechoslowakei
[Moskau], 22.11.1939
Vorschläge
Zur Organisierung der Arbeit der K.P.D., K.P.Oe. und K.P.Tsch.
1.) Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg im Zusammenhange mit der Tat-
sache der Annektion Oesterreichs und der Tschechoslowakei durch den deutschen
Imperialismus erfordert eine engere Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe der
Kommunistischen Parteien Deutschlands, Oesterreichs und der Tschechoslowakei.
Die allgemeine Linie des Kampfes dieser drei Parteien wird durch die gemeinsame
Deklaration dieser Parteien „Gegen den imperialistischen Krieg – für den Frieden und
die Freiheit der Völker“ gegeben.83 Darüber hinaus müssen die einzelnen Parteien
ihre Taktik den besonderen Bedingungen ihrer Länder anpassen.
2.) Für die kollektive Lösung wichtiger Probleme, für die Koordinierung der Arbeit
der einzelnen Parteien und für die Sicherung der Einheitlichkeit ihrer Politik wird
ein neu[n]gliedriger „gemeinsamer Ausschuss“ der drei Parteien geschaffen. Jede
Partei delegiert in diesen „gemeinsamen Ausschuss“ je drei führende Genossen. Der
gemeinsame Ausschuss hat seinen Sitz in M[oskau].
3.) Darüber hinaus hat jede einzelne Partei ihre eigene Auslandsleitung, deren Sitz
ebenfalls M[oskau] ist. Um die einzelnen Parteien miteinander möglichst eng vertraut
zu machen, delegieren die einzelnen Parteien gegenseitig je einen Genossen in die
Auslandsleitung der Bruderpartei.
4.) Im neutralen Ausland werden Hilfsstellen der drei Parteien für die Arbeit im
Land geschaffen. Ihre Aufgabe ist es, Verbindungen ins Land zu schaffen und aus-
zubauen, Publikationen im Ausland herauszugeben und sie ins Land zu schaffen zu
schaffen, der Organisation im Lande alle mögliche Hilfe angedeihen zu lassen und
als Verbindungsstellen zwischen den Auslandsleitungen in M[oskau] und dem Lande
zu dienen. Diese Hilfsstellen sind verpflichtet, sich gegenseitig zu unterstützen bei
strenger Beachtung der konspirativen Regel.
5.) Um die Verbundenheit der drei Parteien nach aussen zu demonstrieren und
gemeinsame Probleme publizistisch zu bearbeiten, wird die „Internationale“ als
gemeinsames Organ der drei Parteien herausgegeben.84
6.) Eine der dringendsten Aufgaben der KPD und KPOe ist die Schaffung der Partei-
leitung im Lande selbst sowie auch die Herausgabe eines illegalen Zentralorgans der
Partei im Lande. Die KPTsch. ist verpflichtet, alles zu unternehmen, damit die beste-
hende Parteileitung im Lande gesichert und aktionsfähig bleibt und weitere Verbin-
dungen mit dem Lande ausgebaut werden.85
Dok. 465
Von Walter Ulbricht zusammengestellte Stimmungsberichte aus
dem Deutschen Reich
[Moskau], 23.11.1939
23.11.39
7 Ex/Si. Vertraulich!
Wir erhalten von unseren Genossen aus dem Lande Mitteilungen über die Stimmun-
gen in verschiedenen Kreisen der Bevölkerung. Im Nachfolgenden einige Auszüge aus
diesen Berichten.
84 Die Internationale war die 1915 von Rosa Luxemburg und Franz Mehring begründete, ab 1919 als
theoretisches Organ der KPD erscheinende Zeitschrift. In der Emigration wurde sie zunächst in Prag,
dann in Paris bis 1939 weitergeführt. Die Wiedergeburt der Zeitschrift unter Beteiligung der „drei
Parteien“ erfolgte nicht, wie auch die gesamte anvisierte Zusammenarbeit der deutschen, österrei-
chischen und tschechischen kommunistischen Partei nicht systematisch anlief. In der KPD-Führung
wurden Bedenken laut, „österreichisiert“ zu werden (vgl. Dok. 467).
85 Im Unterschied zur KPD besaßen sowohl die KP der Tschechoslowakei, als auch die KP Österreichs
funktionierende Inlandsleitungen.
86 Elbing (heute poln. Elbląg), Kleinstadt an der Ostseeküste.
1558 1939–1943
Russen in Polen gebessert. Man glaubt allgemein, dass die Russen eins Tages auch
gegen Hitler marschieren werden.
Die Jugend Elbings ist fast durchweg beim Militär. Die Stimmung der eingezo-
genen jungen Soldaten ist recht zuversichtlich. Bei solchen Soldaten, die aus Polen
zurückgekommen sind, ist die Stimmung noch siegessicherer. Sie sind der Ansicht,
dass der Krieg nicht lange dauert und siegreich für Deutschland endigt.
Nach Abschluss des deutsch-sowjetischen Paktes bestand über denselben Ver-
wirrung. Zunächst begannen viele Werktätige damit, den Widerspruch zwischen
der bisherigen Lügenpropaganda gegen die Sowjetunion und den jetzt in der Presse
veröffentlichten Tatsachen festzustellen. Sie wiesen darauf hin, dass demnach alles,
was gegen die SU gesagt worden sei, Lüge ist. Manche Sozialdemokraten äusserten:
Jetzt hat Eure SU, auf die wir noch gebaut haben, uns auch noch im Stich gelassen.
Allmählich wurden die Probleme klarer. „Dass die SU den Westimperialisten die Kas-
tanien aus dem Feuer holen würde, habe ich nie erwartet. Aber warum dann Nicht-
angriffspakt?“ Als man diesen Freund gründlich informiert hatte, schrieb er: „Jetzt
gelesen, dann kam der Krieg. Habe alles verstanden. Polen, das eine Kluft zwischen
dem deutschen Volke und der SU aufreissen sollte, wird zur Brücke. Jetzt geht es um
den Sozialismus gegen die westkapitalistischen Mächte.“ (Kommunisten in Deutsch-
land im Zuchthaus:) „Der Pakt war nur im Moment überraschend. Er ist richtig und
wirkt beschleunigend.“87
Aus Dessau wird berichtet: „Die Naziredner in den Betrieben gehen immer damit um,
dass mit einem baldigen Frieden gerechnet werden könne. Die Kräfte in England, die
den Frieden wollen, seien sehr am Werke. England müsse nur noch ein bisschen ‚so
tun‘. In Wirklichkeit sei England sehr dankbar, dass der Führer die englischen Städte
noch nicht habe mit Bomben belegen lassen. Dem Führer sei von seinen englischen
Freunden mitgeteilt worden, dass der Krieg für Polen gar nicht begeistert geführt
werden [sic]“.
Ein Bürger äusserte Mitte Oktober folgendes: „Neben den Ernährungs- und Roh-
stoffschwierigkeiten wird in der Bevölkerung am meisten über die Politik der Sowje-
tunion diskutiert und zwar in einem für die Hitlerregierung ungünstigen Sinne. Die
für Hitler mildeste Auffassung ist die, dass die Sowjets nur die Konsequenz aus dem
Verhalten der Westmächte gegenüber Spanien, CSR usw. gezogen haben. Am meisten
wird darauf hingewiesen, welche schwere politische Niederlage die Liquidierung des
Nazieinflusses im Baltikum und das Vordringen des Bolschewismus in der Westuk-
raine für Hitler und besonders für Ribbentrop bedeutet, die beide einst gerade diese
Gebiete zur politischen und militärischen Basis gegen die SU ausersehen hatten. In
Offizierskreisen sagt man, militärisch und politisch sei der Russenpakt eine einzig-
87 Zu den Reaktionen von KPD-Mitgliedern in deutschen Gefängnissen auf den Stalin-Hitler-Pakt,
siehe zuletzt: Wolfgang Leonhard: Der Hitler-Stalin-Pakt. Zeitzeugen erinnern sich. In: Bayerlein, Der
Verräter, Stalin, bist Du, S. 9–41.
Dok. 465: [Moskau], 23.11.1939 1559
artige Dummheit Ribbentrops, die er noch einmal teuer bezahlen müsse. Statt ein
wirkliches Bündnis mit der SU zu erreichen, habe Ribbentrop das Dritte Reich an
Stalin auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, dafür seien schon die errichteten sow-
jetischen Luft- und Flottenstützpunkte im Baltikum88 und die Bolschewisierung der
Westukraine und Westweissrusslands89 genügender Beweis. Man müsse schon heute
aus Furcht vor den Russen zuviel Truppen im Osten lassen, die bei einer Offensive im
Westen fehlen würden“.
88 Am 28.9.1939 schloss die Sowjetunion mit Estland, am 5.10.1939 mit Lettland Beistands- und Stütz-
punktabkommen ab, denen ein verstärkter Druck seitens der SU auf die Vertragspartner vorherge-
gangen war. Mit Litauen wurde fünf Tage später, am 10.10.1939, ebenfalls ein Vertrag abgeschlossen,
der dem Land ihre alte, seit 1922 zu Polen gehörende und nun sowjetisch besetzte Hauptstadt Vilnius
zurückgab, es jedoch zur Stationierung sowjetischer Truppen und Flugplätze zwang.
89 Am 26.10.1939 proklamierte eine Volksversammlung in der von sowjetischen Truppen besetzten
Westukraine, ein ehemals ostpolnisches Territorium, die Angliederung an die Ukrainische SSR. Ähn-
liches erfolgte am 30.10.1939 in Westweißrussland (Ostpolen), mit dem Gebiet um Bialystok, das an
die Weißrussische SSR angeschlossen wurde.
90 Eine Truppenbegegnung zwischen Wehrmacht und Roter Armee fand 22.9.1939 bei Lublin statt.
Auch wurde am gleichen Tag in Brest eine gemeinsame Parade der Roten Armee und der Wehrmacht
unter der Führung von General Heinz Guderian und Brigadekommandeur Semen Krivošein abgehal-
ten. Krivošein soll bei dieser Gelegenheit einen Trinkspruch „auf die beiden Führer – gemeint sind
Hitler und Stalin –, die aus dem Volke kommen“ ausgestoßen und deutsche Journalisten für die Zeit
„nach dem Siege über das kapitalistische Albion [Großbritannien]“ nach Moskau eingeladen haben
(Georg Schmidt-Scheeder: Reporter der Hölle. Die Propaganda-Kompanien im 2. Weltkrieg. Erlebnis
und Dokumentation, Stuttgart, Motorbuch Verlag, 1977, S. 101).
1560 1939–1943
was man im hitlerischen Heere nicht kennt. Ein Hafenarbeiter in Hamburg sagte:
„Der Pakt sei kein Pakt Stalins mit Hitler, sondern mit dem deutschen Volke gegen
Hitler, denn je näher die Rote Armee käme, desto zuversichtlicher könnte die deut-
sche Arbeiterklasse an ihrer eigenen Befreiung arbeiten“.
Ein Sozialdemokrat berichtet: „Soldaten berichteten, dass, als ihr Regiment bei
Brest-Litowsk stand, ständige Diskussionen unter vielen deutschen Soldaten geführt
wurden ob man nicht zur Roten Armee überlaufen solle. ‚Dann sind wir aus dem
Dreck heraus und brauchen nicht für Hitler zu sterben!‘ Man gab diesen Gedanken
aber wieder auf, ‚man kann nicht wissen, was die jetzt mit uns machen‘.“ [...]
Ein Bürger berichtet: In den Betrieben nimmt der Rohstoffmangel zu. Die Unter-
nehmer, deren Fabriken mit Kriegsmaterialherstellung betraut sind, werden immer
wieder bei den Behörden vorstellig, weil sie infolge Mangels an Rohstoffen und wegen
der an Qualität schlechten Ersatzstoffe die Lieferfristen nicht einhalten können. Oft
müssen die Behörden sogar nachgeben und die Lieferfristen verlängern.
Ein Kommunist berichtet über den Inhalt der Opposition: „Gegen die Nazis
wächst der Hass nicht so sehr, aber gegen die ‚Wirtschaftsführer‘ und Direktoren, die
in jedem Betrieb in den Generalkommandos und in anderen Kommandohöhen als
Reserve-Offiziere und ‚Wirtschaftsberater‘ die entscheidensten Posten besetzten. ‚Das
sind dieselben Kreise, die uns im Weltkrieg ausgeplündert haben‘ sagt man“.
Ueber den Widerstand in den Lohnfragen wird von Mitte September aus Sachsen
berichtet: „Die Unzufriedenheit wächst noch deswegen, weil keine Zuschläge für
Ueberstunden und Sonntagsarbeit mehr bezahlt werden, sodass der Verdienst noch
geringer wird. Die Arbeiter arbeiten immer langsamer, mit der Begründung, sie
könnten bei der schlechten Ernährung nicht genügend leisten“.
Von Anfang November wird aus Hannover berichtet: „Die industrielle Arbeits-
leistung geht rapide zurück, obwohl die Werkmeister mit Anzeige wegen Sabotage
drohen. Klagen der Unternehmer über den Leistungsrückgang liegen nun allen Indus-
triezweigen vor. Bei den Gummiwerken wird entweder das Soll eingehalten und dann
ist die Arbeit schadhaft – oder die Arbeitsleistung liegt bis zu 30% unter dem Soll“.
Ein Bürger äusserte Ende September: Zum ersten Male ist eine zunehmende und
sehr ernste Besorgnis auch in schwerkapitalistischen Kreisen festzustellen. In diesen
Kreisen wächst von Tag zu Tag die Furcht vor dem Bolschewismus. Man beginnt auf
einen Sieg der Westmächte zu hoffen, damit in Deutschland nicht der Bolschewis-
mus siegt, denn nach Meinung dieser Kreise ist ein Bündnis des bolschewistischen
Deutschland mit der Sowjetunion unüberwindlich und die Klassenherrschaft der
Kapitalisten auch in Deutschland für immer dahin“.
Dok. 466: Moskau, 26.11.1939 1561
Dok. 466
Aus einer Rede Kaganovičs im Volkskommissariat für
Verkehrswesen über die kriegerischen Ziele der Sowjetunion
Moskau, 26.11.1939
Gen. KAGANOVIČ. Was die internationale Lage angeht – was soll ich Euch die Vor-
geschichte der Frage erzählen? Ihr kennt unseren Streit. Wir wollen die Sicherheit
Leningrads gegenüber Finnland verteidigen. Wir müssen diese Grenze befestigen,
denn die Grenze befindet sich einen Kanonenschuss von Leningrad entfernt. Eine
unmögliche Sache ist das. Wir haben sie [die Finnen] mit entsprechenden Forde-
rungen konfrontiert, wovon Gen. Molotov gesprochen hatte, haben Verhandlungen
geführt, sie jedoch haben sich verweigert, eine riesige Armee bei sich mobilisiert, die
ganze Zeit spielen sie sich auf und benehmen sich frech.91 Jetzt kam es zum Zwischen-
fall an der Grenze.92 Ganz dicht an der Grenze haben sie eine bewaffnete Armee auf-
gestellt, ohne besondere dringliche Gründe. Es ist klar, dass wenn die Armee schon
mobilisiert ist – und da gibt es ja ziemlich viele Provokateure, Weißgardisten gibt
es da –, sie [die Provokateure?] provoziert haben. Genaue Angaben habe ich noch
nicht. Hier wurde berichtet, dass wir ihnen unsererseits eine entsprechende Note
vorgelegt haben, der Text der Note wird wahrscheinlich morgen abgedruckt.93 Wir
haben verlangt, dass sie ihre Armeen abziehen und von ihrer niederträchtigen Politik
der Provozierung eines Krieges abrücken. Sie sind doch Spielzeug in den Händen der
Engländer, in den Händen der Imperialisten überhaupt. Finnland selbst hat keiner-
91 Am 5.10.1939 wurden Vertreter Finnlands nach Moskau einbestellt, denen, ebenso wie den bal-
tischen Staaten ein Beistandspakt aufgezwungen werden sollte. Allerdings schaffte es Finnland, im
Gegensatz zu den baltischen Staaten, sich dem sowjetischen Druck dadurch teilweise zu entziehen,
dass es parallel eine verdeckte Mobilisierung durchführte. Die Verhandlungen scheiterten, die So-
wjetunion griff am 30.11.1939 das Nachbarland an (siehe Max Jakobson: Diplomatie im Finnischen
Winterkrieg 1939/40, Wien-Düsseldorf, Econ, 1970, S. 130ff.; Ohto Manninen, Nikolaj I. Baryšnikov:
Peregovory osen’ju 1939 goda. In: Oleg A. Ržeševskij, Olli Vehviläinen (Hrsg.): Zimnjaja vojna 1939–
1940. Političeskaja istorija, Moskva, Nauka, 1998, S. 113–130).
92 Am 26.11.1939 kam es zu einem Zwischenfall in der Nähe des karelischen Grenzdorfs Mainila. Die
sowjetische Seite erklärte, sie sei von Finnland aus beschossen worden, und verwarf den Vorschlag
der finnischen Seite, den Vorfall von einer neutralen Kommission aufklären zu lassen. Die „Schüsse
von Mainila“ sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt (siehe Jakobson: Diplomatie im Finnischen
Winterkrieg, S. 180ff.; Nikolaj I. Baryšnikov, Ohto Manninen: V kanun Zimnej vojny. In: Ržeševskij/
Vehviläinen: Zimnjaja vojna, S. 131–141, hier S. 136f.).
93 Am Abend des 26.11.1939 überreichte Molotov dem finnischen Botschafter Aarno Yrjö-Koskinen
eine Protestnote wegen des Grenzzwischenfalls von Mainila, worin die finnische Regierung aufgefor-
dert wurde, ihre Truppen um 25 Kilometer zurückzuziehen (Izvestija, 27.11.1939). Die finnische Seite
lehnte ab und beharrte auf einer neutralen Klärung des Vorfalls, woraufhin Molotov in einer weite-
ren Note vom 28.11.1939 den finnisch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1932 aufkündigte (Izvestija,
29.11.1939). Siehe Jakobson: Diplomatie im Finnischen Winterkrieg, S. 180–188.
1562 1939–1943
lei Unabhängigkeit, es erhält von wem auch immer Direktiven, und wir können eine
solche Lage nicht auf sich beruhen lassen. Das wäre von unserer Seite sehr falsch. In
historischer Sicht entspricht das nicht der Stärke und der Macht unseres Staates. So
ein kolossaler Staat hat sich erhoben. Wir haben die Westukraine und Westweißruss-
land angegliedert. Estland hat einen Vertrag mit uns abgeschlossen, der für uns ziem-
lich günstig ist. Lettland und Litauen ebenfalls.94 Unsere Einheiten sind dort, und sie
[die baltischen Staaten] spielen sich auf, und stellen die Sache auch noch so dar, als
ob wir ihnen die Selbständigkeit, die Unabhängigkeit wegnähmen. Das ist durchweg
eine Lüge. Niemand nimmt ihnen die Unabhängigkeit weg. Wir selbst gaben ihnen
die Unabhängigkeit. Unter dem Zaren waren sie Untergebene, unter dem Bolschewis-
mus jedoch bekamen sie Freiheit und Unabhängigkeit. Wir fordern ein gesetzliches
Recht ein – die Grenze von Leningrad wegzurücken, die Möglichkeit zu haben, die
Inseln zu befestigen,95 um die Zugänge zu Leningrad und Kronstadt zu sichern, und
sie [die Finnen] wehren sich dagegen, indem sie eine Armee mobilisieren, in der sich
eine gehörige Anzahl von Weißgardisten befindet. Wir können dies nicht dulden, und
überhaupt haben wir Angaben, wonach diese Regierung in einer ziemlich schwan-
kenden Lage ist. Sie hat viele Leute mobilisiert, hat aber nichts, um sie zu ernähren
und anzuziehen, Geld hat sie nicht so viel, sie hat die Leute von ihren Familien weg-
gerissen, einen großen Teil der Bevölkerung evakuiert, aber das Volk versteht nicht,
warum. Sie wissen, dass die Bolschewiki ihnen die Freiheit gegeben haben, dass es
unter dem Zaren eine Kolonie gewesen ist. Und plötzlich tritt eine solche Regierung
gegen die Bolschewiki auf, gegen die elementaren loyalen Vorschläge, die wir ihnen
gemacht haben, die noch bescheidener waren, als die gegenüber Estland und Lett-
land. Das Volk versteht es nicht und die Lage dort ist sehr schwankend. Deswegen
entschlossen sie sich zu diesem Abenteuer. Wenn sie sich aber auf ein Abenteuer ein-
lassen, so lassen wir uns jedoch nicht auf ein Abenteuer ein. Die Ereignisse haben
gezeigt, dass wir keine Abenteuer unternehmen, und dass, wenn es sein muss, wir
ernsthaft und beharrlich handeln.
Ich kann jetzt nichts Bestimmtes sagen, das eine oder andere kann ich Euch nicht
mitteilen, doch ich kann mir denken, dass wenn diese Lumpen, diese Hanswürste,
wie heute in der Pravda über den Premierminister K. [d.i. Aimo Cajander] geschrieben
94 Zu den Verträgen der Sowjetunion mit den baltischen Staaten siehe Dok. 465.
95 Die Forderung der Sowjetunion bei den am 12.10.1939 in Moskau begonnenen Verhandlungen zwi-
schen der UdSSR und Finnland lautete auf Abtretung aller Inseln im Finnischen Meerbusen sowie der
Hafenstadt Koivisto/Björkö (heute russ. Primorsk) an die UdSSR (Jakobson: Diplomatie im Finnischen
Winterkrieg, S. 142–143).
Dok. 466: Moskau, 26.11.1939 1563
wurde,96 wenn sie uns herausfordern, dann denke ich, dass, wenn es sein muss, sich
keiner von Euch drücken wird (stürmischer Applaus).97
Wir müssen bereit sein, denn nicht wir entscheiden, es entscheiden die standfes-
ten Menschen, mit festem Willen, mit festem Rückgrat. Das Schicksal des Landes liegt
in sicheren Händen, so dass wir Eisenbahner uns zusammen mit allen Werktätigen in
dieser Frage auf die zuständigen Instanzen verlassen können – auf die Regierung und
das Politbüro des ZK der Kommunistischen Allunions-Partei der Bolschewiki (stürmi-
scher Applaus).
Was den Rest betrifft, so ist unsere internationale Lage jetzt sehr gut, sicher
und stabil. Wir haben innerhalb kurzer Zeit derartige Siege errungen, dass es sich
nur schwer vorzustellen lässt. Der Sinn dieser Siege besteht nicht nur darin, dass
wir die Westukraine und Westweißrussland der Sowjetunion angeschlossen haben,
nicht nur darin, dass wir unsere Position gewaltig gestärkt haben. Nein, der histo-
rische Sinn dieser Ereignisse besteht darin, dass die Sowjetunion eine völlig neue
Lage, eine neue Linie in die gesamte Geschichte der internationalen Beziehungen,
der internationalen Diplomatie und der Politik hineinbringt. Während in den impe-
rialistischen Staaten vernichtet wird...98 nehmt jede beliebige Aktion, die die impe-
rialistischen Regierungen unternommen haben, sie waren von Blut begleitet, von
kolossalen Opfern, angefangen mit Abessinien99 und abschließend mit den übrigen
Unternehmungen, die jede einzelne imperialistische Großmacht initiiert hat. Bei uns
verhält es sich komplett umgekehrt. Wir agieren friedlich, und haben dabei unsere
Verteidigungsstellung gestärkt wie noch nie, wir haben die Grenze weiter von Lenin-
grad wegbewegt, haben diese angrenzenden Länder faktisch zu unseren Verbünde-
ten gemacht. Sollte etwas passieren, werden sie uns verteidigen. Wenn es sein muss,
werden wir auf einem Territorium kämpfen – haltet es für fremd oder nicht – jeden-
falls auf einem Territorium, das es bis vor kurzem [für uns] nicht gegeben hat.
Unsere gesamte Politik ist eine Politik der Stärkung unserer Verteidigung, eine
Politik der Befestigung unserer Grenzen, es ist eine Stalinsche Politik, die bedeutet,
96 Der Botaniker und Politiker der Nationalen Fortschrittspartei Aimo Kaarlo Cajander (1879–1943)
war von 1937 bis 1939 finnischer Premierminister. Die Pravda publizierte am 26.11.1939 einen Leitarti-
kel unter dem Titel „Ein Hanswurst auf dem Posten des Premiers“. Darin wurde der Premierminister
in drastischen Worten verhöhnt, u.a. wurde ihm vorgeworfen, gegen den „Willen des finnischen Vol-
kes“ die Verhandlungen mit der UdSSR sabotiert zu haben und ein Verehrer des russischen Zarismus
zu sein (Šut gorochovyj na postu prem’era. In: Pravda, 26.11.1939.
97 Nachdem die Sowjetunion am 29.11.1939 die diplomatischen Beziehungen zu Finnland abgebro-
chen hatte, kostete der damit begonnene „Winterkrieg“ (finn.: talvisota) die Rote Armee aufgrund des
erbitterten Widerstands der Finnen und der überlegenen Ausbildung der finnischen Truppen hohe
Verluste, und trug, verbunden mit dem Ausschluss der UdSSR aus dem Völkerbund, zu ihrem wei-
teren Prestigeverlust in der Weltöffentlichkeit bei. Erst am 13.3.1940 wurde ein Friedensabkommen
unterzeichnet, mit territorialen Verlusten für Finnland.
98 So im Original. Vermutlich brach hier der Gedankengang Kaganovičs ab.
99 Abessinien: Gemeint ist der italienische Überfall auf Abessinien 1935. Siehe Dok. 370, sowie die
Politbürobeschlüsse vom 4.10.1935, 11. und 14.12.1935 u.a.
1564 1939–1943
fest, sicher, ruhig, ohne Hysterie, ohne Hetze, ohne Eile die eigene Linie umzusetzen,
und dabei eine Position nach der anderen zu verteidigen. Wir hoffen, mit dieser Posi-
tion die Lage zu konsolidieren. Die internationale Lage ist gut. Wir standen kurz davor,
in einen großen Krieg hineingezogen zu werden. Wir wären jetzt aktive Kriegsteil-
nehmer. Die Engländer und Franzosen hätten abseits gestanden, hätten zugeschaut
und von Flugzeugen Flugblätter abgeworfen, doch vielleicht hätten sie nicht einmal
Flugblätter geworfen. Sie wollten uns in einen Krieg hineinziehen, damit wir uns an
den Deutschen den Kopf stoßen, aber die Sache ging so aus, dass die imperialistischen
Mächte [sich be]kämpfen,100 und wir zuschauen, und dabei schauen wir nicht nutzlos
zu, sondern reißen uns dieses und jenes unter den Nagel.101
Das heißt, unsere Politik ist richtig, und deswegen muss man diese Politik bis
zum Ende fest, auf bolschewistische Art, unterstützen, und ich denke, dass die Eisen-
bahner diese Politik unterstützt haben, unterstützen und unterstützen werden, denn
es ist die Politik STALINS, die Politik der Partei, die Politik unserer geliebten Regie-
rung.
(Applaus).
Gen. BABAJCEV102 – Wir sind in der allergünstigsten Lage, weil es in keinem einzi-
gen Land des Kapitals einen solchen Minister gegeben hat und gibt, wie bei uns in
der Sowjetunion für den Eisenbahnverkehr den Volkskommissar der Verkehrswege
Lazarʼ Moiseevič Kaganovič.
(Applaus).
100 Die Vorstellung, die Sowjetunion könne, nicht zuletzt dank des Nichtangriffs- und Freund-
schaftspaktes mit Deutschland, im europäischen Krieg die Rolle des profitierenden Dritten einneh-
men, äußerte Stalin bereits am 9.9.1939 in einer Unterredung mit Dimitrov, Molotov und Ždanov. Seine
krude Argumentation wird von Dimitrov in den Tagebüchern folgendermaßen wiedergegeben: „Der
Krieg wird zwischen zwei Gruppen von kapitalistischen Staaten geführt. [...] Wir haben nichts dage-
gen, daß sie kräftig aufeinander einschlagen und sich schwächen. – Nicht schlecht, wenn Deutsch-
land die Lage der reichsten kapitalistischen Länder (vor allem Englands) ins Wanken brächte.“ (Di-
mitroff. Tagebücher, I, S. 273–274).
101 Für den Einmarsch der Sowjetunion in Polen traf dieser Ausspruch auch im konkret-materiellen
Sinne zu. So besprach das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 10.10.1939 die Frage der
„Kriegstrophäen der Polen-Kampagne“. Die Befehlshaber der ukrainischen und weißrussischen
Fronten wurden aufgefordert, Listen der entsprechenden „Trophäen“ zusammenzustellen, insbeson-
dere „Waffen, Munition, Eigentum der [von den Deutschen versenkten] Pinsker Militärbinnenflotte,
Ausrüstung von Kriegsbetrieben, Autos, Motorräder und Fahrräder, Pferde, Gegenstände der Güter-
versorgung und des Trosses, Treibstoff für Flugzeuge und Autos, militärische Reparaturbasen und
-werkstätten usw.“ (RGASPI, Moskau, 17/3/1015, 10).
102 Wahrscheinlich I.F. Babajcev, Leiter des nach Kaganovič benannten Lokomotivdepots in Moskau
(vgl. http://rgakfd.altsoft.spb.ru/showObject.do?object=1811896980 ).
Dok. 467: Moskau, 29.11.1939 1565
Dok. 467
Diskussionsbeitrag Dimitrovs in der Kommission des
EKKI-Sekretariats über die Fehler der KPD
Moskau, 29.11.1939
Vertraulich!
Sitzung der Kommission des
Sekretariats des EKKI103
am 29.XI.1939
Kl/Bö./1 /Diskussion/104
Genosse Dimitroff:
Es ist begreiflich, dass im Zentrum unserer Diskussion gerade die Frage der KPD
steht.105 [...] Fast sieben Jahre nach dem Hitlers Umsturz sind verflossen und man
kann feststellen, dass nur ein ganz kleiner Teil der Kader der KPD renegiert ist.106 [...]
Und ein anderer Teil der Kader in den Gefängnissen und Konzentrationslagern, an der
Spitze unser Genosse Thälmann, stehen fest wie ein Felsen. [...] So stehen Hunderte
unserer Genossen, aktive Kämpfer der KPD, die sechs bis sieben Jahre in den Gefäng-
nissen und Konzentrationslagern sitzen, treu zur Kommunistischen Partei, treu zur
Kommunistischen Internationale, treu zum Kommunismus. Diese Partei, Genosse
Pieck, liebt die Kommunistische Internationale nicht weniger als der Genosse Pieck
und die deutschen Kommunisten selbst. Wir sind stolz auf die deutsche Kommunisti-
sche Partei, aber das kann nicht verhindern, sondern das verpflichtet, die wahre Lage
der Partei zu sehen, besonders in der jetzigen Situation des Krieges im Zusammen-
hang mit den großen Prozessen, die innerhalb Deutschlands sich entwickeln, ist die
grosse Aufgabe der Partei gestellt.
103 An anderer Stelle wird die Kommission als „Kommission des Sekretariats zur Frage der KPD,
KPOE. und KPTsch.“ bezeichnet (RGASPI, Moskau, 495/18/1298, 109).
104 Die Überschrift ist aus der unkorrigierten Version des Stenogramms (RGASPI, Moskau,
495/18/1298, 144) übernommen. Die im weiteren verwendete korrigierte Version des Stenogramms
trägt weder Datum noch Überschrift.
105 Auf der Sitzung des EKKI-Sekretariats vom 23.11.1939 stand lediglich die Frage „Betr. KPD,
KPTsch. und K.P.Oe.“ auf der Tagesordnung. Nach Berichterstattung durch Arndt (Ps.), d.i. Karl
Mewis, Wilhelm Pieck, Klement Gottwald, Johann Koplenig, Otto Ditman und Fritz Schalek wurde die
Verlagerung der Frage in eine „breite Kommission“ beschlossen (RGASPI, Moskau, 495/18/1298, 2).
Diese tagte am 27. und 29.11.1939, und förderte eine für Komintern-Verhältnisse stark emotionalisierte
Debatte zutage, v.a. um die Fehler und Versäumnisse der KPD drehte. Teilnehmer waren u.a. Jenő
Varga, Dimitrov, Pieck und Johann Koplenig (RGASPI, Moskau, 495/18/1298, 109ff).
106 renegiert ist: Soll heißen „abgeschworen“ hat, zum „Renegaten“ geworden.
1566 1939–1943
Wir müssen offen sagen, dass die Lage der deutschen Partei in der jetzigen Situ-
ation eine sehr ernste ist. Es ist in keinem Zusammenhang mit Pessimismus, wenn
wir diese Tatsache feststellen und offen die grossen Schwächen der deutschen Partei
sehen. Sie hat Fehler gemacht. Soll man das kritisieren? Muss man das kritisieren?
Selbstverständlich. Ohne ernste Kritik und Selbstkritik kann die Partei aus dieser
Lage nicht herauskommen. Besonders bedauere ich, in gewissem Sinne glaube ich
sagen zu können empörend, ist die Haltung der deutschen Genossen zur Kritik zu
sehen [sic], besonders des Genossen Pieck,107 eine Haltung, die aufgebaut ist auf die
Konstruktion, dass in der K.I., in unserer Leitung Tendenzen sind, die KPD, die glor-
reiche KPD, die KPD, die wir schätzen, die wir lieben, zu degradieren, die Parteifüh-
rung zu diskreditieren, evtl. sogar die Parteiführung, wenn wir das so sagen wollen,
zu österreichisieren.108
Weiter: Gegen die KPD geht ein Kampf – Genosse Pieck hat das zu meiner grossen
Überraschung ausgesprochen – ein Kampf gegen die KPD und darum haben Genosse
Pieck und andere deutsche Genossen sich auf eine Verteidigungsfront gestellt und
belegen vor unserem Sekretariat wie vor einem Gericht, dass die Lage der Partei nicht
so schlecht ist, dass die Tätigkeit der Partei nicht zufriedenstellend ist, aber auch
nicht schlechter wie bei anderen Parteien. Und dann kommt eine Offensive gegen
die „Gegner“, gegen die tschechischen und österreichischen Genossen. Front gegen
Front. Wir haben so etwas nach dem VII. Kongress109 – glaube ich – zum ersten Male
erlebt. So etwas ist bis jetzt noch nicht dagewesen. [...]
Es ist etwas besonderes in Deutschland. Ich sage offen, die Frage ist so, dass man
nicht nur die Grundfragen der Existenz und des weiteren Ausbaus der Partei stellen
und über sie sprechen muss, sondern Alarm schlagen und beunruhigt sein [muss].
Aber das haben wir nie gesehen. Es ist eine gewisse Selbstzufriedenheit vorhanden.
Ich frage zum Beispiel unsere deutschen Genossen: Was charakterisiert eine Partei,
die als Partei lebt und als Partei arbeitet? Die deutsche Partei existiert. Wenn jemand
sagt, dass die Partei verschwunden ist, so ist das eine Unwahrheit und Verleumdung.
Die deutsche Partei existiert als einzelne Mitglieder, einzelne Kommunisten, die ver-
streut im ganzen Lande sind und die nicht verbunden sind mit einer festen Organi-
sation unter einer festen Leitung.110 Stimmt das oder nicht? Das stimmt. Man muss
107 Wilhelm Piecks handschriftliche Notizen über die Sitzung sind überliefert. Siehe: SAPMO-BArch,
Berlin, Nachlass Pieck, NY 4036/540, 166–172. Auszugsweise publ. in: Bayerlein: Der Verräter, Stalin,
bist Du, S. 209–210.
108 Hiermit gemeint sind die Befürchtungen in der KPD-Führung, gegenüber der österreichischen
KP benachteiligt zu werden. Zur von der Komintern geforderten, jedoch kaum umgesetzten Zusam-
menarbeit zwischen der deutschen, österreichischen und tschechischen KP siehe Dok. 464.
109 Vom VII. Weltkongress (1935) sind solche Auseinandersetzungen nicht überliefert. Vermutlich eine
Anspielung Dimitrovs auf die Auswechselung leitender Komintern-Kader seit dem VII. Weltkongress.
110 Auch das Geheime Staatspolizeiamt stellte in einem Bericht diesbezüglich fest: „Es fehlt den
noch vorhandenen und ohne organisatorischen Zusammenhalt in Verbindung stehenden kommu-
nistischen Kreisen jede einheitliche Ausrichtung.“ (SAPMO-BArch, Berlin, R 58/3070, 13. Zit. nach:
Dok. 467: Moskau, 29.11.1939 1567
dialektisch sein. Sie existiert und ist doch keine richtige Partei, keine organisierte
Partei. Die Partei hat deswegen keine einheitliche politische Linie. [...] Eine Leitung,
ein politischer Kopf im Lande selbst, abgesehen davon, wo er ist, ob in Berlin oder in
einer anderen Stadt, ob in einer Wohnung oder in einem Keller [...] – das haben wir
nicht. Es gibt eine Leitung im Ausland, Instrukteure, die aus dem Lande kommen,
Instruktionen übergeben und bekommen. Ich sage, es ist einer der grössten Fehler
der führenden Genossen, die im Auslande sind, dass [...] sie, nachdem die Lage sich
geändert hatte und die Verhältnisse anders geworden waren, es nicht ermöglichten,
eine Leitung im Lande zu organisieren.111 Die Führer im Ausland sind auf der Linie
des geringsten Widerstandes weitergegangen. Stimmt das oder nicht? Muss man
das kritisieren? Muss man das feststellen und eine Lehre daraus ziehen? Ich glaube,
darüber ist, meiner Meinung nach, jede Diskussion ausgeschlossen. Das muss man
zugeben und die Konsequenzen daraus ziehen.
Es wurde über grosse Bewegungen gesprochen, die im Lande stattgefunden
haben. Erstens darf man nicht übertreiben, – es waren nicht so grosse Bewegungen;
zweitens haben die Kommunisten bestimmt daran teilgenommen und mitgemacht,
aber die Partei als Partei – nicht; drittens, alle diese Bewegungen, über die berichtet
wurde, haben vorwiegend wirtschaftlichen Charakter gehabt. Es gab in diesen 6–7
Jahren in Deutschland keine politische Bewegung gegen den Faschismus.112 Stimmt
das oder nicht? Ich glaube, es stimmt. Wir brauchen hier keine Zitate aus Artikeln
oder anderen Sachen und Dokumenten, um das zu beweisen. [...]
Ich frage weiter: Niemand kann uns bestimmt sagen (leider auch die deutschen
Genossen haben diese Informationen nicht – meiner Meinung nach müssten sie sie
haben), wie viel[e] unserer Genossen, wie viel[e] Leute in den Gefängnissen und
Konzentrationslagern sitzen.113 Da sitzen gewöhnlich nicht einfache Genossen. Ich
Kinner: Der deutsche Kommunismus, III, S. 97). Zur Fragmentierung der Kommunisten in Hitler-
deutschland und den Schwierigkeiten, Komintern-Richtlinien an die Kommunisten in Deutschland
zu kommunizieren, siehe auch Dok. 433.
111 Dimitrov unterstellt hier, dass sich die Lage für die KPD durch den Stalin-Hitler-Pakt objektiv
zum Positiven verändert habe.
112 Vermutlich meinte Dimitrov das Ausbleiben einer politischen Massenbewegung gegen das Hit-
lerregime. Mit dieser Aussage, die die KPD diskreditieren sollte, negierte Dimitrov gleichzeitig den
Widerstand, der nicht von den verbliebenen KPD-Strukturen ausging. Zur Veranschaulichung der
Breite des politischen Widerstands in Berlin trotz aller Begrenzungen siehe neuerdings: Sandvoß: Die
„andere“ Reichshauptstadt.
113 In den Jahren 1933/34 wurden 60.000 Kommunisten verhaftet und 2000 von ihnen ermordet,
1935 gab es 15.000 Festnahmen von Kommunisten. Von 1933 bis Ende 1935 wurden fast 3000 Pro-
zesse gegen mindestens 18.243 Kommunisten geführt. Von den 300.000 KPD-Mitgliedern im Jahr
1932 waren 150.000 mehr oder weniger lange in Haft (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 20;
Herbst: Kommunistischer Widerstand). Von September bis November 1939, also während der Laufzeit
des Nichtangriffs- und Freundschaftspakts mit Hitlerdeutschland wurden immer noch 3037 Personen
„wegen marxistischer Betätigung im weiteren Sinne“ festgenommen (Kinner: Der deutsche Kommu-
nismus, III, S. 96).
1568 1939–1943
114 Gemeint ist der „Kurze Lehrgang“ (Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion
(Bolschewiki). Kurzer Lehrgang, Moskau, Verlag für Fremdsprachige Literatur, 1939), dessen illegaler
Verbreitung seitens der Komintern unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Im
Direktivbrief der KPD zum Stalin-Hitler-Pakt vom 21.10.1939 hieß es dazu: „Die Arbeiterklasse kann
diese historische Aufgabe nur erfüllen, wenn sie sich leiten lässt von der einzigen fortschrittlichen
Theorie, von der Theorie des Marxismus-Leninismus. Deshalb ist die weiteste Verbreitung und Durch-
arbeitung der „Geschichte der WKP (B)“ die vordringlichste Aufgabe. [...] Wir schlagen vor, das Studi-
um möglichst in kleinen Zirkeln durchzuführen und durch Abschreiben und Vervielfältigen einzelner
Abschnitte des Buches die weitere Verbreitung zu organisieren.“ (RGASPI, Moskau, 495/10a/317, 116).
Auch Schriften Stalins sollten verstärkt auf diese Weise (!) verbreitet werden, siehe Dok. 481.
115 Gemeint ist der Stalin-Hitler-Pakt.
Dok. 467: Moskau, 29.11.1939 1569
sprechen, über den Sozialismus diskutieren.116 Die Grösse dieser Tatsache kann man
nicht richtig genug einschätzen, so grosse Möglichkeiten sind für die Kommunisti-
sche Partei durch diesen historischen Akt geschaffen. Es ist ohne Zweifel, dass ein
Teil von Anhängern der nationalsozialistischen Partei, werktätige Elemente, solche
Elemente, die unter dem Einfluss des Faschismus gewesen sind, sich unter dem Ein-
fluss des deutsch-sowjetischen Paktes, unter dem Einfluss der Popularisierung der
Sowjetunion und des Sozialismus auf die Sowjetunion, auf den richtigen, den wahren
Sozialismus, auf ein Zusammengehen in zukünftigen Kämpfen mit den Kommunisten
und der Kommunistischen Partei orientieren. [...]
Ich glaube, in dieser Etappe des Kampfes steht nicht die Frage des Sturzes von
Hitler. Anstatt solcher Losungen muss man den englischen Imperialismus entlarven
und bekämpfen, die Freundschaft zwischen dem deutschen Volk und der Sowjetunion
vertiefen. Man muss berücksichtigen, dass für das Hitlerregime der deutsch-sowjeti-
sche Pakt eine Konjunktursache ist, nicht aus tiefster Ueberzeugung erfolgte und bei
der ersten Möglichkeit evtl. eine neue Wendung in der deutschen Politik durchaus
möglich ist. Die Garantie gegen eine solche Wendung in der deutschen Politik ist die
Kraft der Arbeiterklasse, die Kraft des deutschen Volkes und seiner Freundschaft mit
der Sowjetunion. [...]
Weiter. Im Hitlerdeutschland ist alles auf das sogenannte Führerprinzip aufge-
baut. [...] Gegen dieses Führerprinzip des faschistischen Regimes soll man die Massen
mobilisieren, für die Selbstverwaltung, für die freie Organisation, eigene Massenorga-
nisationen – Florin hat darüber gesprochen – bis zu politischen, selbständig gewähl-
ten Organen, ohne Sturz des nationalsozialistischen Systems. Dann, Freilassung der
gefangenen Kommunisten bis zur Legalisierung, freie Hand und Tätigkeit der Kom-
munistischen Partei. Das propagieren, dafür Massen gewinnen, dafür kämpfen, dafür
eine Reihe Nationalsozialisten zu gewinnen [...].
Erlauben Sie mir noch ein paar Worte über die gegenseitigen Beziehungen der
drei Parteien.117 Ich habe schon gesagt, für eine Vereinigung der drei Parteien, eine
einheitliche Partei zu schaffen, ist es noch zu früh. Das kann nur schädlich sein.
Erstens: Das sogenannte Grossdeutschland ist ein provisorisches. Wie lange bleibt
dieses „Grossdeutschland“ ist eine Frage. Zweitens: Die Lage in den drei Ländern
ist ganz verschieden, die Aufgaben in diesen Ländern sind ebenfalls verschieden,
spezielle Aufgaben für die deutsche Partei, für die österreichische und die tschechi-
sche Partei. Drittens muss man vor Augen haben: die deutsche Partei ist die Partei
der Arbeiterklasse der herrschenden Nation. Begreiflich ist das Misstrauen unter den
Massen und der Arbeiterklasse, unter den Kommunisten sogar, in der Tschechoslo-
wakei und in Oesterreich. Die Vereinigung der drei Parteien bei einer solchen Lage
wird nicht die eigene Partei stärken, sondern schwächen. [...]
Die Verbindungen sind praktisch zwischen dem Ausland und Deutschland abge-
rissen, das muss man sagen. Die Verbindungen müssen wir in allernächster Zeit
wieder herstellen.118
Am 4.12.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, die in Westweißrussland und
der Westukraine lebenden polnischen Wehrbauern mit ihren Familien durch das NKVD ins Innere der
Sowjetunion deportieren zu lassen, um sie bei Waldarbeiten einzusetzen.119
Am gleichen Tag beschlossen wurde die Zuteilung von 3 Millionen Rubel aus dem Reservefonds des
Rats der Volkskommissare an Otto Kuusinen – vermutlich für die Bedürfnisse der von ihm geführten
Marionettenregierung der sowjetfreundlichen „Finnischen Demokratischen Republik“ in Terijoki.120
Am 11.12.1939 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss zur Einrichtung
eines neuen Laboratoriums am Lenin-Mausoleum, vor allem um die Balsamierungs- und Konservie-
rungstechniken einer neuen Generation von Forschern zu vermitteln.121
Am 16.12.1939 behandelte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Havarie des Passagier-
dampfers „Indigirka“. Das Schiff, das größtenteils befreite GULAG-Häftlinge an Bord hatte, fuhr am
13.12.1939 an der japanischen Küste vor Hokkaido gegen ein Riff, als es auf dem Weg von Magadan
nach Vladivostok war. Über 740 Menschen starben, 430 Menschen wurden von den Japanern gerettet.
Das Politbüro beschloss, eine Delegation von Spezialisten an die Unglücksstelle zu entsenden, um
den Zustand des gestrandeten Schiffs zu untersuchen. Die geborgenen Leichen der Passagiere soll-
ten in Anwesenheit des sowjetischen Vertreters in Japan kremiert und die Urnen nach Vladivostok ge-
bracht werden. Für die Kremierung wurden am 22.12.1939 der sowjetischen Botschaft in Japan 50.000
Yen zugeteilt. Den japanischen Behörden übergab man am 29.1.1940 nach langen Verhandlungen
105.000 Yen für die Bergungsarbeiten.122
118 In einer Gegenrede wehrte sich Wilhelm Pieck gegen Dimitrovs Vorwürfe. Er war offensichtlich
erzürnt und sprach vom „Herunterreißen einer Parteiführung“, was mit einer „kameradschaftliche[n]
Kritik“ nichts mehr zu tun habe (siehe: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 209–210).
119 Kostjuško: Materialy „osoboj papki“, S. 98.
120 RGASPI, Moskau, 17/162/26, 120.
121 RGASPI, Moskau, 17/162/26, 138, 148–149.
122 RGASPI, Moskau, 17/162/26, 139, 154; 17/162/27, 4. Siehe auch: Kvašonkin/Košeleva/Rogovaja u.a.:
Sovetskoe rukovodstvo, S. 402.
Dok. 468: Moskau, 21.12.1939 1571
Dok. 468
Grußadresse des ZK der KPD an Stalin zu seinem 60. Geburtstag
Moskau, 21.12.1939
Zu Deinem sechzigsten Geburtstage senden wir Dir im Namen aller deutschen Kom-
munisten und im Namen unseres seit fast sieben Jahren in Deutschland eingeker-
kerten Genossen Ernst Thälmann die herzlichsten brüderlichen Grüsse. Wir verehren
in Dir den engsten und schöpferischsten Mitarbeiter unseres teuren Lenin bei der
Organisierung der Grossen Sozialistischen Oktoberrevolution, des Aufbaus der Sow-
jetmacht und ihrer Verteidigung gegen die äusseren und inneren Feinde. Wir vereh-
ren in Dir den Lenin unserer Tage,123 den Organisator des Sieges des Sozialismus in
der Sowjetunion, den grossen Führer, Lehrer und Freund des Weltproletariats. Unter
Deiner genialen Führung haben die Bolschewistische Partei und das grosse Sowjet-
volk in grandiosem Arbeitsheroismus den Sozialismus verwirklicht und damit den
Beweis erbracht, [zu] welcher gewaltigen Leistung die Arbeiter und Bauern in ihrer
Zusammenarbeit fähig sind, wenn sie von den Fesseln der kapitalistischen Unter-
drückung und Ausbeutung befreit sind und wenn sie eine feste bolschewistische
Führung haben. Strahlend steht vor den Massen die neue Welt des Sozialismus, die
Sowjetunion, in der Glück und Wohlstand, nationale Freiheit und Kultur und wahre
Demokratie zum Gemeingut Aller geworden sind und immer höher entfaltet werden,
steht die Sowjetunion, die der wahre Freund aller Völker, der Schützer ihrer nationa-
len Selbständigkeit und Freiheit ist.
Teurer Genosse Stalin! Wir verehren in Dir den Mitschöpfer und Wahrer der Lehre
unseres teuren Lenin, die Du durch Deine grossen theoretischen Leistungen am
Werke des Marxismus-Leninismus weiter entwickelt hast. Du hast diese Lehre den
123 Das Bild von Stalin als „Lenin unserer Tage“ wurde von Henri Barbusse in seinem apologeti-
schen Buch „Stalin – eine neue Welt“ (1935) geprägt. Dort heißt es im Schlusskapitel: „Die Toten leben
nur auf der Erde weiter. Lenin ist überall da, wo es Revolutionäre gibt. Aber man kann sagen: nirgend-
wo ist der Gedanke und das Wort von Lenin so gegenwärtig, wie in Stalin. Er ist der Lenin unserer
Tage.“ (Henri Barbusse: Stalin. Eine neue Welt. Aus dem Französischen übersetzt von Alfred Kurella,
Paris, Éditions du Carrefour, 1935, S. 279). Nachdem Gorʼkij kein Stalin-Biograph werden wollte, ge-
dachte man diese Rolle Barbusse zu. Sein Buch, das 1935 in mehreren Sprachen und in hoher Auflage
erschien, wurde jedoch nicht wieder aufgelegt. Rogovin führt als Grund die Erwähnung einer Vielzahl
von später ermordeten Kommunisten an (Vadim Rogovin: Vor dem grossen Terror. Stalins Neo-NÖP,
Essen, Arbeiterpresse Verlag, 2000, S. 333).
1572 1939–1943
Millionen und Abermillionen Arbeitern in der ganzen Welt zum Bewusstsein gebracht
und in ihnen den Glauben an ihre Kraft und ihren Sieg gestärkt.
Teurer Genosse Stalin! Wir verehren in Dir den grossen Freund des werktätigen
deutschen Volkes. Der unter Deiner Initiative zustande gekommene Freundschafts-
pakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland ist das Ergebnis Deiner weisen und
konsequenten Friedenspolitik, durch den nicht nur der von den englischen und fran-
zösischen Imperialisten gewollte Krieg zwischen den Völkern der beiden Staaten ver-
hindert, sondern auch die Grundlage für eine dauernde feste Freundschaft zwischen
dem Sowjetvolke und dem deutschen Volke geschaffen wurde, dem in allen seinen
grossen Nöten zu helfen Du immer bereit warst. Wir geloben Dir, alles zu tun, dass
die werktätigen Massen Deutschlands den Freundschaftsvertrag zu ihrer ureigensten
Sache machen und nicht zulassen, dass er, von wem auch immer, untergraben und
zerstört wird.
Lieber Genosse Stalin! Wir deutschen Kommunisten haben das tiefe Herzensbe-
dürfnis, Dir, unserem Lehrer und Führer, an Deinem sechzigsten Geburtstage für alles
das zu danken, was Du uns, unserer Partei und den werktätigen Massen Deutsch-
lands durch Dein Werk gegeben hast. Du stehst vor uns als das leuchtende Vorbild
eines wahrhaft revolutionären Kämpfers. Wir streben darnach, so zu werden wie Du.
Wir wollen, so wie Du, konsequent und aufopferungsvoll kämpfen für die Verwirkli-
chung der Lehre von Marx-Engels-Lenin-Stalin.
Wilhelm Pieck.
Am 22.12.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Einrichtung einer regulä-
ren Flugverbindung zwischen Deutschland und der UdSSR in Zusammenarbeit zwischen Aeroflot und
Lufthansa. Sowjetischerseits sollte die Verbindung mit vier Douglas DC-3-Maschinen bewerkstelligt
werden.125
124 Auf der EKKI-Sekretariatssitzung vom 20.12.1939 wurde ebenfalls eine in ähnlich heroisierenden
und apologetischen Tönen gehaltene Grußadresse an Stalin zu seinem sechzigsten Geburtstag ver-
abschiedet, die um einiges ausführlicher ausfiel und positiv auf die Sowjetisierung der polnischen
Ostgebiete und den sowjetischen Angriff auf Finnland einging. Unterzeichnet wurde sie von Georgi
Dimitrov, José Diaz, Dolores Ibárruri, Klement Gottwald, Dmitrij Manuilski, André Marty, Wilhelm
Pieck, Walter Ulbricht, Johann Koplenig, Zhou Enlai, Vasil Kolarov und Michal Wolf [d.i. Mihály Far-
kas] (siehe: RGASPI, Moskau, 495/18/1301, 35–39).
125 RGASPI, Moskau, 17/162/26, 153–154.
Dok. 469: [Moskau], 22.12.1939 1573
Dok. 469
Brief Gustav Sobottkas an das EKKI über die Verhaftung seines
Sohnes in der Sowjetunion und die Lebenssituation seiner
kranken Frau
[Moskau], 22.12.1939
Werte Genossen!
Am 8. Dezember 1939 musste ich meine Frau in die Heilanstalt für Geisteskranke,
Kaschenko,126 bringen. Sie war seelisch vollkommen zusammengebrochen und sah in
jedem Menschen einen Feind. Ich kenne meine Frau seit ihrem 17. Lebensjahr, jetzt ist
sie 52. Seit 31 Jahren sind wir verheiratet. Seit 1909 bin ich und seit 1910 meine Frau
politisch organisiert127 und seit Bestehen der Kommunistischen Partei Deutschlands
deren Mitglieder. Wir haben als Funktionäre der sozialistischen Arbeiterbewegung
manche schwere Zeiten durchgemacht. Nie hat meine Frau irgendwelche Verzweif-
lung gezeigt; sie stand in allen Kämpfen tapfer an meiner Seite. Im März 1933, als ich
auf Wunsch der Komintern Deutschland verliess,128 setzte sie tapfer als Kassiererin
ihrer Parteizelle in Berlin-Oberschöneweide ihre Arbeit fort. Als drei Monate später
unsere beiden Söhne verhaftet und ins Konzentrationslager geworfen wurden, auch
da liess sie den Mut nicht sinken.129 Durch Zeitungsverkauf erwarb sie sich ihren
126 Kaschenko: Nach dem russischen Revolutionär und Psychiatrie-Reformer Petr P. Kaščenko (1859–
1920) benannte psychiatrische Klinik in Moskau.
127 Gustav Sobottka (1886–1953), ein Veteran der deutschen Arbeiterbewegung, trat als Bergarbeiter
1909 in den Bergarbeiterverband ein, 1910 in die SPD, 1913 war er bereits Parteivorsitzender in Eickel.
1920 kam er über die USPD zu KPD, war von 1921 bis 1932 Mitglied des Preußischen Landtags und
übernahm zentrale Funktionen in der RGO (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 879). Sobottka
heiratete die Dienstmagd Henriette, geb. Schantowski (1888–1971), im Jahre 1909; 1910 trat sie in die
SPD ein (Mensing: Von der Ruhr in den GULag, S. 155).
128 Sobottka emigrierte im Frühjahr 1933 zunächst nach Saarbrücken und war Vorsitzender der In-
ternationalen Konferenz der Bergarbeiter. Anschließend ging er 1935 nach Paris, von wo aus er mit
seiner Familie im November des Jahres nach Moskau emigrieren konnte (Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, 880).
129 Sobottkas Söhne Bernhard (1911–1945) und Gustav jun. (1915–1940) wurden im August 1933 ver-
haftet und blieben bis Ende 1933 in Konzentrationslagern inhaftiert. Bernhard blieb in Deutschland
und arbeitete illegal für die KPD, wurde 1943 wiederholt verhaftet und zu fünf Jahren Haft verur-
1574 1939–1943
Unterhalt und unterstützte ihre Söhne im Konzentrationslager. Ja, als ich selbst
im Sommer 1933 als Angestellter der Profintern eine zeitlang keine Geldmittel zum
leben hatte und mich im Saargebiet befand, stellte meine Frau mir ihre Spargroschen
zur Verfügung, damit ich meine Arbeit fortsetzen konnte. Im August 1933 wurde sie
selbst von den Faschisten verhaftet, doch nach vier Wochen Haft wieder entlassen.
Sofort setzte sie ihre Parteiarbeit fort, bis im April 1934, als ihr die Gestapo den Zei-
tungsverkauf entzogen hatte und ein zweiter Haftbefehl gegen sie erlassen wurde,
folgte sie mir nach dem Saargebiet und später nach Paris. Auch hier war das Leben
für sie nicht leicht; der Sprache unkundig, stets auf der Suche nach einer illegalen
Wohnung, jeden Augenblick gewärtig zu sein von der Polizei angehalten und verhaf-
tet zu werden, war wenig erfreulich. Doch meine Frau ertrug alles und lies nie den
Mut sinken. Als Kommunistin hielt sie fest an ihrer Ueberzeugung; oft sagte sie: Wir
müssen alles durchhalten, einmal wird die Arbeiterklasse siegen, dann wird es auch
für alle besser.
Und diese tapfere Frau, die niemals krank war, bricht jetzt verzweifelt am Leben
zusammen.
Im Dezember 1935 kam sie mit mir und ihrem jüngsten Sohn nach der Sowjetuni-
on.130 Hier fing sie an sofort die Sprache zu erlernen, sodass sie bald besser russisch
sprach wie ich. Sie lernte in Sanitätskursen, die im Klub „Ernst Thälmann“ abgehal-
ten wurden,131 besuchte die Kurse für Parteigeschichte, um ihr Wissen zu vervoll-
kommnen und sich so besser in die Reihen der Sowjetbürger einzureihen.
Dasselbe tat unser Sohn. Er arbeitete im Werk NATI.132 In einem Jahr erlernte er
die russische Sprache, besuchte neben seiner Fabrikarbeit die Rabfak133 und später
Abendkurse in einem Moskauer Institut. Es war für uns Eltern eine Freude zu sehen,
teilt. 1945 von britischen Truppen aus dem Gefängnis befreit, starb er wenige Monate später an den
Haftfolgen. Gustav jun. hingegen zog mit seinen Eltern 1935 nach Moskau (Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 880).
130 Gustav Sobottka jun. war bereits seit 1923 Mitglied der KPD-Kinderorganisation, mit 14 Jahren
war er Gruppen-Polleiter im KJVD. Bei seiner Einreise transportierte Sobottka jun., der mittelerweile
den Parteinamen „Hans Boden“, trug, als Kurier Dokumente der Roten Gewerkschafts-Internationale
in die Sowjetunion (Mensing: Von der Ruhr in den GULag, S. 155–156; Buckmiller/Meschkat: Biogra-
phisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Sobottka, Gustav“).
131 Der 1923 gegründete Deutsche Kommunistenklub in Moskau wurde Anfang der 1930er Jahre in
„Klub ausländischer Arbeiter ‚Ernst Thälmann‘“ umbenannt, ab November 1937 schlicht Ernst-Thäl-
mann-Klub. Der Klub hatte mehrere nationale Sektionen, deren zahlenmäßig größte die deutsche
war. Für die deutschsprachige Emigration war die Einrichtung ein wichtiges kulturelles und soziales
Zentrum. Mit der Verhaftung seines letzten Leiters, Albert Zwicker, wurde die Existenz des Klubs mit
Anfang 1937 fast 2000 Mitgliedern beendet (siehe: Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 30).
132 NATI: russ. Abk. „Naučnyj avtotraktornyj institut“ („Wissenschaftliches Forschungsinstitut für
Automobile und Traktoren“), 1925 gegründete Forschungs- und Entwicklungsanstalt, die einen klei-
nen Versuchsbetrieb hatte. Gustav Sobottka jun. arbeitete dort als Schlosser.
133 Rabfak: Kurzform für russ. „Rabočij fakulʼtet“ (Arbeiter-Fakultät), in den 1920er–1930er Jahren
ein Netz sowjetischer Bildungseinrichtungen zur Vermittlung von Mittelschulbildung an Arbeiter.
Dok. 469: [Moskau], 22.12.1939 1575
wie schnell sich der Junge von 20 Jahren in die neuen Verhältnisse einlebte.134 Nie
beschwerte er sich. Von Kind an als Kommunist erzogen, zeigte er volles Verständnis
für manche Schwierigkeiten, die sich hier und da zeigten. Wenn wir zu Hause mal
über Arbeitsverhältnisse sprachen, so äusserte er sich stets nur lobend über seine
Arbeitskollegen, seinen Meister und die Parteiorganisation des Betriebes. Oft sprach
er mit mir oder der Mutter über die Bereitwilligkeit seines Meisters und seiner Arbeits-
kollegen, die ihm bei der Arbeit halfen, damit er bald das Handwerk des Mechani-
kers erlerne. Nie hörten wir auch nur ein Wort von ihm, das auch nur einen Zweifel
an seiner ehrlichen aufrichtigen kommunistischen Gesinnung zugelassen hätte. Die
Mutter war stolz auf ihren Sohn, den sie als einzigen bei sich hatte, während die
anderen ihrer zwei Kinder im faschistischen Deutschland verblieben waren.
Dann kam das erste Unglück. In der Nacht vom 4. zum 5. März 1938135 wurde
unser Sohn verhaftet.136 Als bei seinem Fortgang aus unserer gemeinsamen Wohnung
die Mutter weinte, sagte mein Sohn zu ihr: „Weine nicht Mutter, ich war in Deutsch-
land von Faschisten verhaftet. Hier sind es Genossen mit denen ich gehe und da ich
ein reines Gewissen habe bin ich überzeugt, dass der Irrtum bald aufgeklärt wird und
ich wieder zurückkomme.“ Als mein Sohn fort war, sagte meine Frau zu mir: „Ich bin
überzeugt, er ist unschuldig, denn so spricht ein Verbrecher nicht zu seiner Mutter“.137
134 Sobottka beschönigt hier den Lebenslauf seines Sohnes. Sobottka jun. besuchte neben der
Lehre in der Traktorenfabrik die an der KUNMZ angeschlosene deutschsprachige Rabfak. Als diese im
Herbst 1937 geschlossen wurde, konnte er wegen seiner mangelnder Russischkenntnisse weder eine
russischsprachige Rabfak noch ein privates Lehrinstitut besuchen, wonach sein Vater für ihn eine
Privatlehrerin engagierte. Auch sonst war seine Integration in die sowjetische Politik, um die er sich
sehr bemühte, wenig erfolgreich: Weder sein Antrag zur Überführung in die VKP(b) im Januar 1936
noch ein Antrag zum Übertritt in die sowjetischen Staatsbürgerschaft im November desselben Jahres
waren erfolgreich (Mensing: Von der Ruhr in den GULag, S. 158–159).
135 Laut Weber/Herbst und Mensing erfolgte die Verhaftung in der Nacht vom 4. auf den 5.2.1938
(siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 880; Mensing: Von der Ruhr in den GULag, S. 159).
136 Laut Mensing war Sobottka jun. wenige Stunden vor der Verhaftung in eine Auseinandersetzung
mit dem Leiter des Moskauer Ernst-Thälmann-Klubs verwickelt, der ihm und weiteren jungen Deut-
schen den Eintritt verweigerte und sie angeblich ans „Naziagenten“ beschimpfte (Mensing: Von der
Ruhr in den GULag, S. 159). Der letzte Leiter des Ernst-Thälmann-Klubs, Albert Zwicker, wurde nur we-
nige Tage später, am 16.2.1938, selbst verhaftet, wonach der Klub aufgelöst wurde (vgl. Weber/Herbst:
Deutsche Kommunisten, S. 1065; Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 30). Es ist daher denkbar, dass
die Auseinandersetzung nicht mehr mit Zwicker, sondern mit einem sowjetischen Beamten, der die
Auflösung des Klubs in die Wege leitete, geführt wurde.
137 Gustav Sobottka jun. wurde vom NKVD als angebliches Mitglied einer Hitlerjugend-Organisation
verhaftet. Das „Hitlerjugend“-Komplott war ein Konstrukt des NKVD, das die Vorgabe umsetzte, eine
nationalistische Organisation unter jungen deutschen Politemigranten „aufzudecken“, wie dies eine
im Zuge der Entstalinisierung abgegebene Erklärung eines ehemaligen NKVD-Mitarbeiters bezeugt:
„Ich halte es für möglich, daß es unter den verhafteten jungen Deutschen einige der Sowjetunion
feindlich gesinnte Elemente gab. Aber der überwiegende Teil von ihnen wurde grundlos verhaftet. [...]
Im Ganzen war die Organisation ‚Hitler-Jugend‘ [...] künstlich geschaffen.“ (Tischler: Flucht in die Ver-
folgung, S. 106–109). Siehe auch: Dehl: Verratene Ideale, S. 169–278; Hans Schafranek: Am Beispiel
1576 1939–1943
Von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt, überwandt die Mutter verhältnismäs-
sig schnell den Schmerz in dem Glauben an seine baldige Rückkehr und die Gerech-
tigkeit der Sowjetjustiz.
Bei der Verhaftung sagte uns der NKWD-Beamte, dass wir nach etwa 5 Tagen
nach der Lubjanka 14138 kommen sollten, da würden wir erfahren, wo unser Sohn ist.
Zuerst ging ich dorthin. Die Auskunft, die ich erhielt, war: „Wir wissen von nichts,
gehen Sie zum Taganka-Gefängnis“.139 Die Mutter ging dorthin. Die Antwort war,
„hier ist er nicht, gehen Sie zu Matrosnaja Tichina“.140 Von Matrosnaja Tichina wurde
die Mutter zum Prokuror141 Dimitrowka 18 geschickt142 – „Kommen Sie nach 14 Tagen
wieder, dann erhalten Sie Auskunft“ – . Nach 14 Tagen: „Gehen Sie zu Arbatskaja 37,
dort erhalten Sie Auskunft“.143 Dort wissen sie wieder von nichts – „Gehen Sie zum
Kusnetzki Most 24,144 die müssen es wissen“. Die wissen auch von nichts. So ging
es neun Monate lang. Wir schrieben an die Prokuratur,145 an die NKWD – die Briefe
wurden nicht beantwortet. So war der Sohn spurlos verschwunden.146
Erst ungefähr Ende November 1938 wurde ich telefonisch von der NKWD abends
spät angerufen. Man sagte mir, dass unser Sohn uns grüssen lässt und bittet die
Mutter, ihm Wäsche und einige Kleidungsstücke, sowie etwas Geld zu bringen. Wir
sollten die Kleidungsstücke am nächsten Tage punkt 12 Uhr mittags an den Eingang
des NKWD-Gebäudes bringen. Die Mutter brachte die Sachen hin. Dort wurden die
Sachen abgenommen. Auf die Frage, wo der Sohn sich befände, erhielt sie nur die
Antwort, es ginge ihm gut. Es wurde ihr verboten, irgend jemand von dieser Sache
etwas mitzuteilen.
Nach diesem Geschehnis weinte die Mutter mehrere Tage. Sie war der Meinung,
dass der Sohn verschickt worden sei. Dann beruhigte sie sich wieder; es ist unmög-
lich, dass er verschickt ist, er ist unschuldig, er muss wieder kommen. Das war ihr
fester Glaube.
der Moskauer Hitler-Jugend (1938). Mechanismen des Terrors der stalinistischen Geheimpolizei. In:
Jahrbuch Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1999), S. 124–160.
138 In der Bolʼšaja Lubjanka, Hausnummer 14, befand sich das Hauptquartier des NKVD.
139 Das Moskauer Taganskaja-Gefängnis, 1804 erbaut, war Haftort vieler Bolschewiki vor der Revo-
lution. Im „Großen Terror“ als Haftanstalt berüchtigt, wurde es 1958 abgerissen.
140 Matrosnaja Tichina: Richtig: Matrosskaja Tišina – Moskauer Untersuchungsgefängnis in der
gleichnamigen Straße.
141 Prokuror (russ.): Staatsanwalt.
142 Dimitrowka 18: In der Bolʼšaja Dmitrovka, Hausnummer 18, befand sich vermutlich die Auskunfts-
stelle oder das Sprechzimmer der Staatsanwaltschaft. Die Behörde selbst befindet sich (auch heute
noch) im Gebäude schräg gegenüber, Hausnummer 15a (in unmittelbarer Nachbarschaft zum RGASPI).
143 Arbatskaja 37: Im Arbat (so der korrekte russische Straßenname), Hausnummer 37, befand sich
das Revolutionäre Militärtribunal des Moskauer Bezirks.
144 In der Straße Kuzneckij Most, Hausnummer 24, befand sich die Auskunftsstelle des NKVD.
145 Prokuratura (russ.): Staatsanwaltschaft.
146 Am 27.8.1938 schrieb Henriette Sobottka an Stalin und beklagte sich über die Ungewissheit über
den Aufenthaltsort ihres Sohnes (siehe Müller: „Wir kommen alle dran“, S. 128).
Dok. 469: [Moskau], 22.12.1939 1577
Im Januar 1939 erfolgte wiederum ein Anruf von derselben Stelle. Man verlangte
wiederum einige Sachen und etwas Geld. Die Mutter brachte es wieder zur selben
Stelle. Aber in welchem Gefängnis ihr Sohn war, erfuhr sie auch jetzt nicht. Doch
hatte sie die Gewissheit, dass er noch in Moskau war. Erneut ging sie von einer Stelle
zur anderen, von einem Gefängnis zum anderen um zu erfahren, wo ihr Sohn ist und
um ihm etwas Geld einzahlen zu können. Doch alle Bemühungen waren vergeblich.147
Erst im Januar148 1939 erhielt sie in der Matrosnaja Tichina die Auskunft, dass
unser Sohn im Gefängnis Taganka sitzt, dass ein Prozess aus Mangel an Material
nicht stattfinden könnte, aber über seine Entlassung hätte nicht mehr der Prokurator,
sondern eine besondere Kommission zu entscheiden. Diese Auskunft gab der Mutter
neue Hoffnung. Sie ging zum Taganka-Gefängnis, um Geld für ihren Sohn einzuzah-
len. Aber hier sagte man ihr wiederum, er sei nicht da. Erst nach einem erneuten
Vorstelligwerden in der Matrosnaja Tichina und einem Telefonat dieser Stelle mit dem
Tanganka-Gefängnis wurde erklärt, ja, er ist da, und Geld wurde für ihn angenom-
men. Nun hoffte die Mutter, dass ihr Sohn bald zurückkommt. Anfang August wurde
ihr dann mitgeteilt, dass ihr Sohn ins Budirki-Gefängnis149 überführt sei. Doch jetzt
trat eine Änderung im Verhalten meiner Frau ein. Sie ging nicht mehr zum Budirki-
Gefängnis, sondern sagte mir „Gehʼ Du jetzt hin und zahle für ihn Geld ein“, was ich
alle 14 Tage tat und ihr die Nachricht brachte, dass er noch da ist. In der ganzen Zeit
hoffte sie, dass ihr Sohn zum 7. November, zum XXII. Jahrestag der Oktoberrevolution
zu Hause sein würde. Man feiert doch ein Fest, da wird auch mein unschuldiger Sohn
entlassen – von diesem Glauben war sie überzeugt.
In dieser Situation kam ein neuer schwerer Schlag.
Am 4. November ds. Js. lief unsere Aufenthaltsgenehmigung ab. Bereits am 23.
Oktober ersuchte ich, mir und meiner Frau eine neue Aufenthaltsgenehmigung für
Moskau zu geben. Es wurde mir versprochen, dass am 29. Oktober das Dokument fertig
sein würde. Am 29. Oktober wurde mir jedoch mitgeteilt, dass es erst am 4. November
fertig sein würde und am 4. November erklärte mir der Leiter der Auslandabteilung,
dass mir und meiner Frau ein Aufenthalt in Moskau nicht mehr gewährt werden würde,
sondern wir sollten um mindestens 100 km von Moskau entfernt einen Ort suchen, für
den wir dann Aufenthaltsgenehmigung erhielten. Da ich im Alter von 54 Jahren und
meine Frau von 52 Jahren stehen, die letzten 20 Jahre meines Lebens in gewerkschaftli-
cher, politischer wie journalistischer Arbeit bestand, hätte ich ausserhalb Moskaus an
irgend einem kleinen Ort keine Lebensmöglichkeit. Ich sagte deshalb dem Beamten,
dass meine Ausweisung aus Moskau gleichbedeutend ist mit dem Entzug jeglicher
147 Die geschilderte quälende Ungewissheit der Sobottkas ob des Haftorts ihres Sohnes und das end-
lose Umherziehen von einem Moskauer Gefängnis zum anderen war nicht singulär, sondern gehörte
zum Alltag der Angehörigen von Verhafteten während des Großen Terrors. Es findet sich als häufiges
Motiv in den Memoiren dieser Zeit.
148 Handschriftlich durchgestrichen: „Juni“.
149 Budirki-Gefängnis: Richtig: Butyrka-Gefängnis. Untersuchungsgefängnis in Moskau in der Novo
slobodskaja Straße, Hausnummer 45. Eines der ältesten und berüchtigtsten russischen Gefängnisse.
1578 1939–1943
Lebensmöglichkeit. Der Beamte sagte mir, dass er sich daran nicht stören könne, er
hätte seine Gesetze. Nach längerer Aussprache schliesslich sagte er, wenn ich von der
Organisation, die mich nach Moskau gerufen habe eine Bescheinigung beibringe, in
der die Organisation für mich bittet, mir in Moskau Aufenthalt zu gewähren, dann
würde das geschehen. Hierauf wandte ich mich sofort an die Komintern, deren Kader-
abteilung eigentlich über mich zu bestimmen hat. Dort erhielt ich am 4. November
und später am 9. November die Mitteilung, dass man für mich Aufenthalt in Moskau
beantragt habe und die Angelegenheit erledigt würde. Auf dem Passamt jedoch sagte
man mir, dass sie nichts erhalten hätten. Als ich am 16. November noch keine Auf-
enthaltsgenehmigung erhielt, wandte ich mich erneut telefonisch an den Genossen
Ulbricht.150 Der gab mir die kurze Antwort „Wir können dem Beamten keine Vorschrif-
ten machen“. In den 6 Wochen, vom 23. Oktober bis 7. Dezember, musste ich sieben Mal
zur Passtelle und jedes Mal nach längerem, stundenlangen Warten fortgeschickt mit
der Mitteilung, dass die Angelegenheit noch nicht erledigt sei.
Als ich am 19. November immer noch keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten
hatte, wandte ich mich persönlich an den Genossen Losowski, der seit 20 Jahren nicht
nur mich persönlich kennt, sondern auch meine Arbeit, da ich unter seiner Leitung
längere Jahre gearbeitet habe. Am 22.November teilte mir Genosse Losowski mit, dass
er die Angelegenheit erledigt habe und ich würde mit meiner Frau die Aufenthaltser-
laubnis erhalten. Diese Mitteilung beruhigte meine Frau sehr. Als ich jedoch am 25.
November wieder auf dem Passbüro erschien wurde mir mitgeteilt, dass die Ange-
legenheit noch nicht erledigt sei und es wurde mir eine weitere Frist von 10 Tagen
gestellt. Als meine Frau das erfuhr, sagte sie mir, jetzt glaube ich an nichts mehr, jetzt
glaube ich auch nicht, dass unser Sohn entlassen wird und ich glaube auch nicht,
dass wir Aufenthaltsgenehmigung in Moskau erhalten.
Alle meine Versuche, meine Frau zu trösten, scheiterten, sie wurde immer schwer-
mütiger und Anfang Dezember machten sich Anzeichen einer schweren Krankheit
bemerkbar.
Am 6. Dezember sagte meine Frau, jetzt muss der Sohn wieder zurückkommen,
wenn er heute nicht kommt, dann kommt er nicht mehr, dann bleibt für mich nichts
anderes übrig, als nur zu sterben. Am 7. Dezember verschlechterte sich ihr Zustand
und am 8. Dezember musste ich sie in das Krankenhaus Kaschenko bringen, wo sie
zurzeit schwer krank darnieder liegt.
Ich weiss nicht, durch wessen Schuld die Verzögerung der Ausstellung einer
Aufenthaltsgenehmigung für mich und meine Frau verursacht wurde, ob ich von der
Kaderabteilung der deutschen Sektion der Komintern eine unrichtige Antwort erhal-
ten habe oder ob der Vorsteher des Passbüros die Angelegenheit hinauszögerte. Doch
bin ich der festen Ueberzeugung, dass die Befürchtungen meiner Frau, jetzt im Winter
auch noch das Dach über dem Kopf zu verlieren, die schwere Krankheit hervorgeru-
fen haben. Dies umsomehr, als bereits im Juni 1938 der Vorsteher des Passamtes mir
150 Die Stellungnahme Walter Ulbrichts zum Brief Sobottkas siehe Dok. 470.
Dok. 469: [Moskau], 22.12.1939 1579
auf einmal erklärte, dass von mir und meiner Frau überhaupt keine Akten vorhanden
wären darüber, wie und woher wir nach Moskau gekommen wären und da wir keinen
Nationalpass hätten,151 würde man uns aus Moskau ausweisen. Erst auf ein von mir
an den Genossen Dimitroff gerichtetes persönliches Schreiben erhielten wir dann
Aufenthaltsgenehmigung. Einige Zeit später machte man die Genehmigung des Auf-
enthalts für meine Frau von der Aufnahme einer Arbeit abhängig. Meine Frau erfüllt
auch diesen Wunsch und nahm Arbeit in der Fabrik „Oktober-Revolution“ an.152 Die
Wiederholung der Drohung jetzt, hat meiner Frau, im Zusammenhang mit der Ange-
legenheit ihres Sohnes den letzten Stoss gegeben und sie zur Verzweiflung getrieben.
Als wir am 7. Dezember wiederum nach 2½ stündigem Warten endlich unsere
Aufenthaltsgenehmigung erhielten, da war es schon zu spät. Zu Hause angekommen,
sagte ich meiner Frau „Siehst Du, es wird doch alles wieder gut, für ein ganzes Jahr
hast die Aufenthaltsgenehmigung“. „Ja“, sagte meine Frau, „für ein Jahr, und was
dann, dann wiederholt sich dieselbe Quälerei. Was haben wir denn verbrochen, dass
man uns so behandelt. Haben wir nicht unser ganzes Leben für die Arbeiterbewegung
gearbeitet, haben wir nicht alles geopfert. 20 Jahre hast Du für die Sowjetgewerk-
schaften gearbeitet. Die russischen Genossen sind zu uns in die Wohnung gekommen
als wir noch in Deutschland waren, sie haben mit Dir alle Arbeiten besprochen. Du
hattest keine Zeit, weder für die Familie noch für Urlaub, nur Arbeit für die Partei,
und jetzt hat man [für] Dich keine Arbeit. Deinen Sohn hat man verhaftet, Dich aus
der Arbeit geworfen, noch nicht mal die Putjowka153, die man Dir erst versprochen,
hat man Dir gegeben. Nein, so behandelt man keine Menschen, die 30 Jahre für die
Arbeiterbewegung gearbeitet haben, so behandelt man Verbrecher und wenn wir Ver-
brecher sind, dann soll man uns totschlagen, aber nicht so behandeln.“
Das war der Verzweiflungsausbruch einer Irren. Aber leider Genossen, ist es
Wahrheit.154 Deshalb teile ich Ihnen als Führer der Kommunistischen Internationale
dies mit.
Es war eine Ungerechtigkeit, dass man mich entliess, als mein Sohn verhaftet
wurde. Drei Tage vorher wurde mir vom Genossen Gottwald, der damals Sekretär der
Komintern war, gesagt, dass, wenn auch die Büros für Internationale Verbindungen,
wo ich Sekretär war, aufgelöst würden, man für mich andere Arbeit genügend habe.155
151 Die Familie Sobottka wurde im April 1937 von den deutschen Behörden ausgebürgert und besaß
somit keine gültigen deutschen Pässe (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 880; Mensing: Von
der Ruhr in den GULag, S. 159).
152 Vermutlich ist die Textilfabrik „Oktjabrʼskaja revoljucija“ bei Moskau gemeint.
153 Putjovka (russ.): Reisegenehmigung, Geleitschein für Kuraufenthalte u.ä.
154 Nach Interpretation von Carola Tischler postulierte Sobottka die von seiner Frau geäußerte Kri-
tik an den Zuständen als „Verzweiflungsausbruch einer Irren“, da ihm andernfalls die eigene Partei-
disziplin verboten hätte, solche Vorwürfe gegen die Sowjetunion zu erheben (Tischler: Flucht in die
Verfolgung, S. 119).
155 Büro für internationale Verbindungen: Gemeint ist die Internationale Verbindungsabteilung der
Roten Gewerkschaftsinternationale, die Ende Dezember 1937 aufgelöst wurde.
1580 1939–1943
Fünf Tage später erklärte mir der Genosse Walter Ulbricht, dass meine Beschäftigung
nicht mehr in Frage käme.
Wäre meine tapfere Frau nicht auch eine fürsorgliche Hausfrau gewesen, dann
hätten wir nach 30jähriger Arbeit für die Arbeiterbewegung und nach 20jähriger
Arbeit als Funktionäre der Kommunistischen Partei und Kommunistischen Inter-
nationale verhungern können, niemand hätte danach gefragt.156 Ja, Genossen, es
ist bitter, das auszusprechen, aber als Kommunist bin ich verpflichtet, Euch das in
diesem Schreiben zu sagen.
Im November 1936 waren die Führer der französischen Bergarbeiter hier in
Moskau. An einem Empfangsabend, den die Sowjetbergarbeiterverbände zu Ehren
der Delegation veranstalteten, nahm auch ich teil. Bei der Vorstellung der einzel-
nen Genossen sagte der Vertreter der Sowjetbergarbeiterverbände: „Das ist Genosse
Sobottka, ein deutscher Emigrant, der bei uns Arbeit und Wohnung erhalten hat“.
Darauf erwiderte der Präsident der französischen Bergarbeiterföderation,157 Vigne:
„Nun, wir kennen den Genossen Sobottka und sein Verhältnis zu den Sowjetge-
werkschaften. Wir haben in Frankreich sechs deutschen Bergarbeiterfunktionären
Wohnung und Arbeit besorgt und wenn Genosse Sobottka mal nach Frankreich
kommen sollte, so werden wir auch ihm helfen, trotz den Gegensätzen, die zwischen
uns bestanden haben.“ Ich habe über dieses Angebot damals gelacht. Doch 15 Monate
später hatten die Sowjetgewerkschaften keine Arbeit mehr für mich. Der Mohr hat
seine Schuldigkeit getan, er kann gehen!
Da hier im Hause, wo ich wohne, sehr oft französische Genossen verkehren,
muss Vigne von meiner Arbeitslosigkeit erfahren haben, denn im Frühjahr 1939 liess
er mir durch einen Genossen, der aus Nordfrankreich hier in Moskau war einen Gruss
bestellen. Wenn ich keine Arbeit hätte, sollte ich nach Frankreich kommen, er würde
mir helfen, Arbeit zu finden. Ich weiss nicht, ob das Ironie, Verhöhnung oder ehrliche
Absicht war. Aber eins weiss ich, Genossen, dass ich auf Grund meiner 30jährigen
Arbeit in der Arbeiterbewegung in jedem Lande eine Unterstützung gefunden hätte.
Die schweren seelischen Kämpfe, die auch ich infolge meiner Entlassung,
Behandlung und wenn auch unausgesprochenen Beschuldigung, der Vater eines
faschistischen Spions zu sein, durchmachte, blieben meiner Frau nicht verborgen.
Auch sie trugen zu ihrer Verzweiflung bei.
Jetzt steht es seit langem fest, dass mein Sohn unschuldig ist, Mitte September
erfuhr ich von dem ersten Sekretär des Woenni Tribunal,158 Arbatskaja 37, dass die
Sache meines Sohnes dort zur Nachprüfung läge. Ich ersuchte einen Advokaten, den
156 Eine Ironie des Schicksals ist, dass Gustav Sobottka zwei Jahre zuvor in einer Broschüre den Wohl-
stand der sowjetischen Arbeiter angepriesen hatte (Gustav Sobottka: Leben und Wohlstand der Berg-
arbeiter in der Sowjetunion, Strasbourg, Éd. Prométhée, 1937).
157 Pierre Vigne war der sozialistische Generalsekretär der Fédération nationale des mineurs, der fran-
zösischen Bergarbeiterföderation, der später das Vichy-Regime untertützte.
158 Voennyj tribunal (russ.): Militärtribunal. Gemeint ist das Revolutionäre Militärtribunal des Mos-
kauer Bezirks.
Dok. 469: [Moskau], 22.12.1939 1581
Genossen Rusakow, falls ein Prozess stattfindet, vor dem Gericht die Verteidigung
meines Sohnes zu übernehmen. Als meine Frau erkrankte, bat ich den Advokaten,
da ich selbst nicht hingehen konnte, bei dem Woenni Tribunal nochmals vorstellig
zu werden und zu bitten, die Erledigung der Sache doch zu beschleunigen, da von
der Entlassung meines Sohnes das Leben meiner Frau abhängt. Am 11. Dezember
erhielt ich den Bescheid, dass das Woenni Tribunal keinen Prozess machen könnte,
die Sache würde anderweitig entschieden und zwar mit ziemlicher Gewissheit in dem
von mir gewünschten Sinne, positiv.159
Aber es vergeht Tag um Tag und es wird nichts entschieden. Inzwischen windet
sich die Mutter voll Schmerzen und verlangt verzweifelt nach ihrem Sohne. Noch am
18. Dezember sagte mir die Aerztin, dass durch ein Wiedersehen der Kranken mit
ihrem Sohne eine entscheidende Wendung in ihrem Zustand eintreten würde. Aber
was ist zu tun, wenn die Menschen anstelle des Herzens einen Stein tragen. 160
Damit Genossen, will ich schliessen, ich habe keine besondere Bitte an Sie. Ich
wollte Ihnen nur mitteilen das Schicksal eines Parteiarbeiters nach 30jähriger Tätig-
keit für die sozialistische Arbeiterbewegung, nach fast 20jähriger Tätigkeit für die
Kommunistische Internationale und die Sowjetgewerkschaften.
159 Daraufhin, am 13.12.1929, schrieb Sobottka einen Brief an Vyšinskij, in dem er den Sachverhalt
ähnlich wie im vorliegenden Dokument, jedoch knapper und weniger emotional, darlegte. Er appel-
lierte an den Staatsanwalt, die Überprüfung der Angelegenheit seines Sohnes zu beschleunigen. Der
Brief ist abgedruckt in: Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 1–2; Dehl: Verratene Ideale, S. 248–251.
160 Gustav Sobottka jun. wurde schwer gefoltert und nach langem Widerstand am 9.3.1938 zu einer
frei erfundenen, sich selbst und andere belastenden Aussage gezwungen, die er jedoch am 29.12.1938
schriftlich widerrief. Er bestätigte den Widerruf am 4.2.1939, worauf die Anklage gegen ihn dem Mi-
litärkollegium zur Überprüfung übergeben wurde. Während seine Eltern im Juni 1939 die unrichti-
ge Auskunft erhalten hatten, es werde gegen ihren Sohn mangels Belastungsmaterial keinen Pro-
zess geben, beschloss das Militärkollegium im Oktober, der Anklageschrift stattzugeben. Sobottka
jun. wurde jedoch davon nicht in Kenntnis gesetzt und weiter in Haft gehalten, sein letztes Gesuch
um Akteneinsicht stammt vom 13.4.1940. Er starb am 22.9.1940 in Haft. (Mensing: Von der Ruhr in
den GULag, S. 160–165). Gustav Sobottka sen., der über einen freigelassenen Häftling davon erfuhr,
wandte sich an die „Organe“ sowie an Dimitrov, um die Todesursache in Erfahrung zu bringen und
den Leichnam zur Beerdigung zu erhalten. Am 2.4.1941 schrieb Dimitrov an den NKGB-Vorsitzenden
Vsevolod Merkulov, um sich für die Bitte Sobottkas einzusetzen. Merkulov antwortete am 23.5.1941,
Sobottka sei eine Bescheinigung über die Todesursache seines Sohnes überreicht worden, die Leiche
sei jedoch bereits kremiert. Am 16.6.1941 ließ Dimitrov über andere deutsche Kommunisten Sobottka
davon in Kenntnis setzen (siehe: Lebedeva/Narinskij: Komintern i Vtoraja mirovaja vojna, I, S. 214).
1582 1939–1943
Dok. 470
Stellungnahme Ulbrichts an Dimitrov, Manuilski und Pieck zum
Hilferuf Sobottkas
[Moskau], 25.12.1939
Liebe Genossen!
Zum Brief des Genossen Sobottka möchte ich [einige] Ergänzungen machen:
1./ Seit der Verhaftung seines Sohnes ist Gen. Sobottka so deprimiert, dass er nur noch
wenig arbeitsfähig ist. Nachdem das Sowjetgericht ein Verfahren gegen den Sohn des
Gen. Sobottka abgelehnt hat und die Untersuchung in den Händen der NKWD liegt,
ohne dass bisher eine Entscheidung erfolgte, es sich aber um mehrere ähnliche Fälle
handelt, wäre es notwendig, dass ein Mitglied des ZK der WKP (B) diese Fälle nach-
kontrolliert.
Gegen Gen. Sobottka wurde in Verbindung mit der Verhaftung seines Sohnes von
einem Parteigenossen eine Beschuldigung erhoben, die wir nachgeprüft haben mit
dem Resultat der Rehabilitierung des Gen. Sobottka.161
2./ Genosse Sobottka wurde im Zusammenhang mit der Liquidierung der RGI162 von
WCSPS entlassen. Meines Erachtens war es politisch nicht zulässig, dass WCSPS
einen alten führenden Gewerkschaftsfunktionär in dieser Weise entlässt, ohne ihm
vorher andere Arbeit zu besorgen.
Wir haben Gen. Sobottka dazu verholfen, dass er Artikel für Ino-Radio schrei-
ben kann.163 Mit dem Honorar dieser Artikel konnte er leben. Als die Mitarbeit infolge
Aenderung des Inhaltes der Sendungen nicht mehr möglich war,164 und als wir keine
161 Die Art der Beschuldigung ist nicht bekannt, bei Weber/Herbst ist lediglich eine „Parteiprüfung“
erwähnt, der Sobottka nach seiner Entlassung aus dem VCSPS (dem Zentralrat der sowjetischen Ge-
werkschaften), wo er als Referent gearbeitet hatte, unterzogen wurde (Weber/Herbst: Deutsche Kom-
munisten, S. 880).
162 Die Rote Gewerkschafts-Internationale wurde im Dezember 1937 statutenwidrig und heimlich
aufgelöst, nachdem ihr Apparat durch den Terror bereits dezimiert worden war; das Vermögen der
RGI sowie ihr Archiv und die Bibliothek fielen an die Komintern (Tosstorff: Profintern, S. 696–707).
163 Ino-Radio: Abkürzung für russ. inostrannoe radio („Auslandsrundfunk“), fremdsprachiger so-
wjetischer Rundfunk, dessen deutsches Programm, in dem zahlreiche deutsche Kommunisten tätig
waren, als „Radio Moskau“ bekannt war. Zeitweise arbeiteten mehr als zehn nationale Sektionen mit
eigenen Redaktionen im Ino-Radio. Wegen zu hitlerfreundlichen Sendungen kam es ab 1939 zu Pro-
testen aus der Komintern; die Verbindungen zum sowjetischen Rundfunkkomitee kamen im Herbst
1939 fast völlig zum Erliegen.
164 Änderung des Inhalts der Sendungen: Gemeint ist die Aufgabe der antifaschistischen Stoßrich-
tung sowjetischer Rundfunkpropaganda infolge des Stalin-Hitler-Paktes. Allerdings konnte Sobottka
Dok. 470: [Moskau], 25.12.1939 1583
Möglichkeit sahen, ihm Arbeit zu besorgen, habe ich ihm vorgeschlagen, dass wir für
ihn Personalpension beantragen.165 Das ist auch geschehen.
3./ Ich hörte von anderen Genossen über Schwierigkeiten der materiellen Lage des
Gen. Sobottka. Darauf habe ich ihm vorgeschlagen, dass wir uns bei der MOPR dafür
einsetzen wollen, dass er reguläre Unterstützung als Politemigrant erhält, bis zur
Erledigung seines Antrages auf Personalpension. Gen. Sobottka lehnte das ab mit der
Begründung, dass er vorläufig einigermassen durchkommen könne.
Als wir hörten, dass sich seine materielle Lage verschlechtert hat, haben wir ihm
aus der Parteikasse am 8. Oktober 300 Rbl. und am 3. Dezember 300 Rubel gegeben
und gleichzeitig bei der MOPR Gewährung von Politemigrantenunterstützung bean-
tragt.
nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wieder für das Ino-Radio als „Kommentator und
Sprecher, u.a. Arbeitersendungen, spätestens seit Juni 1941“ arbeiten (Conrad Pütter: Rundfunk
gegen das „Dritte Reich“. Ein Handbuch. Unter Mitwirkung von Ernst Loewy und mit einem Beitrag
von Elke Hilscher, München u.a., K.G.Saur, 1986, S. 264).
165 Eine sogenannte Personalrente (russ. personalʼnaja pensija) wurde in der Sowjetunion Persön-
lichkeiten mit besonderen Verdiensten als arbeitsunabhängige Rente verliehen.
166 Gustav Sobottka war nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion u.a. als Instrukteur in
Kriegsgefangenenlagern tätig. Im Mai 1945 kehrte er als Leiter der 3. „Initiativ-Gruppe“ nach Deutsch-
land zurück, wo er später hohe Posten in der SBZ/DDR-Brennstoffindustrie innehatte. In seinem in
der DDR verfassten Lebenslauf gab er an, beide Söhne seien in NS-Haft verstorben (Mensing: Von der
Ruhr in den GULag, S. 165). Aufgrund seiner Erfahrungen in der Sowjetunion „soll er Stalin insgeheim
so sehr gehaßt haben, daß er über dessen Tod am 5. März 1953 noch jubelte, aber vor Aufregung einen
Tag später selbst starb.“ (Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 880).
1584 1939–1943
Am 27.12.1939 nahm das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion das Einverständnis Deutschlands,
bis zu 60.000 Flüchtlinge (aus dem sowjetisch besetzten Polen) auf sein Territorium zurückführen zu
lassen, mit Wohlwollen zur Kenntnis. Im Gegenzug wurde beschlossen, 14.000 Flüchtlinge aus den
deutschen Gebieten Polens zu übernehmen. Zur Aufnahme dieser Flüchtlinge wurde vom Politbüro
am 30.12.1939 eine Kommission gebildet.167
Am 29.12.1939 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion erneut über die Zwangsum-
siedlung polnischer Wehrbauern aus den ehemals polnischen, nun sowjetischen Gebieten, unter an-
derem nach Sibirien.168
Dok. 471
Politische Plattform der KPD als Ergebnis der Beratungen der
deutschen Kommission der Komintern in Moskau
[Moskau], 30.12.1939
Bö/6
8.I.1940.169
Vertraulich!170
171 Der deutsche Großindustrielle Fritz Thyssen (1873–1951), der seinerzeit die NSDAP finanziert
hatte und seit 1931 ihr Mitglied war, verweigerte als Reichstagsabgeordneter seine Zustimmung zum
Krieg gegen die Westmächte und emigrierte als Gegner der Nationalsozialisten im September 1939 in
die Schweiz.
1586 1939–1943
Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit der Entfaltung einer breiten
Volksbewegung – Arbeiter, Bauern, Handwerker, werktätige Intelligenz –, der Volks-
front von unten für die Festigung und Vertiefung der Freundschaft mit der Sowje-
tunion, zur Sicherung der nationalen Freiheit und Unabhängigkeit des deutschen
Volkes. Diese dritte Front innerhalb des deutschen Volkes wird sich aber nur im
Kampfe für die politischen Rechte des werktätigen Volkes, für die Verbesserung seiner
Lebenshaltung, für die Abwälzung der Kriegslasten auf die Schultern der Reichen
und gegen jede soziale und nationale Unterdrückung entfalten. Dieser Kampf muss
gegen das herrschende Regime gerichtet werden, weil dieses den werktätigen Massen
in ihrem Kampfe um diese Forderungen entgegentritt und damit zugleich die Wider-
standskraft des deutschen Volkes gegen den aggressiven Kriegsplan des englischen
und französischen Imperialismus und den Kampf gegen die Feinde der Freundschaft
mit der Sowjetunion und die Helfershelfer des englischen und französischen Imperi-
alismus in Deutschland schwächt. Indem die werktätigen Massen ihren Kampf gegen
die zwei Fronten in Deutschland führen, muss das Schwergewicht dieses Kampfes
auf die Verhinderung des Kriegsplanes des englischen und französischen Imperia-
lismus und auf den Schlag gegen die Feinde des deutschen Volkes gelegt werden,172
die in Deutschland den sowjetisch-deutschen Freundschaftspakt zerstören wollen,
den englisch-französischen Kriegsplan gegen das deutsche Volk unterstützen und
das deutsche Volk in das grösste Unglück eines Krieges mit dem grossen Sowjetvolke
stürzen wollen.
Die Taktik der Partei muss ferner darauf gerichtet sein, die werktätigen Massen
dafür vorzubereiten, dass sie unter keinen Umständen einen Bruch des Freund-
schaftspaktes mit der Sowjetunion zulassen und dass sie in einer im Zusammenhang
mit der Entwicklung des Krieges eintretenden Krise des gegenwärtigen Regimes in
Deutschland imstande sind, das Schicksal des deutschen Volkes und die Verteidi-
gung des Landes gegen die Kriegspläne der englischen und französischen Imperialis-
ten in ihre Hände zu nehmen.
Bei dieser taktischen Orientierung der Partei ist es besonders wichtig und notwen-
dig, dass sie eine unermüdliche und systematische Propaganda für den Sozialismus
und eine ständige Popularisierung der Grundsätze der marxistisch-leninistischen
Theorie führt und die werktätigen Massen im Geiste des proletarischen Internatio-
nalismus und der Kampfverbundenheit der deutschen Arbeiterklasse mit der Arbei-
terklasse der anderen kapitalistischen Länder, vor allem Englands und Frankreichs
erzieht.
Ausgehend von dieser taktischen Orientierung steht vor der Partei in der gegenwärti-
gen Situation als Hauptaufgabe: Die Organisierung des Kampfes für die Beendigung
172 Hier und im Folgenden wird die sprachliche Anpassung der KPD an den nationalsozialistischen
Sprachgebrauch besonders deutlich.
Dok. 471: [Moskau], 30.12.1939 1587
des Krieges, die Befestigung und Vertiefung der Freundschaft des deutschen Volkes
mit der Sowjetunion, die Verhinderung des Kriegsplanes der englischen und franzö-
sischen Imperialisten, die Stärkung der politischen und organisatorischen Kraft der
werktätigen Massen innerhalb Deutschlands. Aus dieser Hauptaufgabe ergeben sich
die folgenden weiteren Aufgaben:
2. Gründliche Aufklärung der werktätigen Massen über die Sowjetunion, über ihre kon-
sequente Friedenspolitik, über die Verwirklichung des Sozialismus, über die Stalin-
sche Verfassung der sozialistischen Demokratie, über die nationale Freiheit und das
Zusammenleben der Völker im Lande des Sozialismus, über die wirtschaftliche und
militärische Stärke der Sowjetunion und den Charakter der Roten Arbeiter- und Bau-
ernarmee. Es ist den werktätigen Massen die völlige Uebereinstimmung ihrer Interes-
sen mit denen der Sowjetunion und ihrer Aussenpolitik nachzuweisen, um dadurch
den Massen die gewaltige Bedeutung des Freundschaftspaktes zu erklären und die
Freundschaft der Massen zur Sowjetunion zu festigen und zu vertiefen.
3. Die Organisierung des Kampfes gegen die politische Entrechtung der werktätigen
Massen und des Kampfes für ihre politischen Rechte.
Dem werktätigen Volke, dem im Kriege die schwersten Opfer und Entbehrungen
auferlegt sind, werden von dem herrschenden Regime alle Rechte vorenthalten, über
die Lebensfragen des Volkes seine Meinung zu sagen und in Versammlungen oder in
der Presse seine berechtigten Forderungen zu vertreten. Wer aber dem werktätigen
Volke seine Rechte vorenthält, untergräbt damit die nationale Existenz des deutschen
Volkes. Die Rechtlosigkeit des werktätigen Volkes in Deutschland benutzt der engli-
173 De facto entsprach dies einer positiven Würdigung der von den Nationalsozialisten gegen Fritz
Thyssen unternommenen Maßnahmen, dessen Vermögen wegen seiner Kritik an Hitlers Außenpolitik
konfisziert wurde.
1588 1939–1943
sche Imperialismus dazu, seine wahren Kriegsziele unter der Maske des „Kampfes für
die Demokratie“ zu tarnen und die chauvinistische Verhetzung gegen das deutsche
Volk mit der Behauptung zu betreiben, das deutsche Volk sei unfähig, seine Geschi-
cke selbst zu leiten und müsse deshalb unter eine „Erziehungsdiktatur“ der soge-
nannten „westlichen Demokratien“ gestellt werden.
Deshalb muss besonders jetzt im Kriege der Kampf um die politischen Rechte
des werktätigen Volkes geführt werden, für das Recht der freien Meinungsäusserung
in Wort und Schrift, für die Selbstverwaltung der Gemeinden durch die von den
Massen gewählten Personen ihres Vertrauens, für die Wahl der Vertrauensräte in
den Betrieben und der Funktionäre in den Massenorganisationen, für die Rechte der
Arbeiter, Bauern, Handwerker, werktätigen Intelligenz und Soldaten.
Es darf nicht länger sein, dass Männer wie Ernst Thälmann und tausend andere,
die stets für die Freundschaft zwischen dem deutschen Volke und den Sowjetvölkern,
gegen den Imperialismus und das Versailler Diktat gekämpft haben, noch immer ein-
gekerkert sind. Es muss der Kampf für ihre Freilassung mit grösster Entschiedenheit
geführt werden.
4. Die Organisierung des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung und für das
Selbstbestimmungsrecht des österreichischen, tschechischen, slowakischen und pol-
nischen Volkes.
Eng verbunden mit dem Kampfe der werktätigen Massen für ihre politischen
Rechte in Deutschland muss der Kampf gegen die nationale Unterdrückung des öster-
reichischen, tschechischen, slowakischen und polnischen Volkes durch den deut-
schen Imperialismus und der Kampf für ihr volles Selbstbestimmungsrecht geführt
werden. Die Germanisierungs- und Ausplünderungsmassnahmen in den annektier-
ten Ländern und die Propaganda des grossdeutschen Chauvinismus sind nur Wasser
auf die Mühlen der kriegerischen Aggression des englischen und französischen
Imperialismus, erzeugen nur bittere Feindschaft in diesen Völkern gegen das deut-
sche Volk und hindern den gemeinsamen Kampf der deutschen, österreichischen,
tschechischen, slowakischen und polnischen Arbeiterklasse gegen Imperialismus
und Kapitalismus. Unmittelbar ist der Kampf zu führen für die Zurückziehung der
Gestapo und der SS, für die Freilassung der Gefangenen, Liquidierung der Konzentra-
tionslager und für die volle Selbstverwaltung des Volkes und Entfaltung seiner nati-
onalen Kultur.
5. Die Organisierung des Kampfes gegen die grosskapitalistische Ausbeutung und für
die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der werktätigen Massen.
Die grosskapitalistischen Kräfte wälzen die ganze Last des Krieges auf die Schul-
tern der werktätigen Massen. Die nationalsozialistische Behauptung, dass in Deutsch-
land fortschrittliche soziale Verhältnisse beständen, dass eine gleichmässige Vertei-
lung der Lasten erfolgte, dass keine Kriegsgewinne zugelassen würden, dass es einen
deutschen Sozialismus gäbe, entspricht nicht den Tatsachen. Es ist notwendig, den
Massen den Widerspruch zwischen den nationalsozialistischen Behauptungen und den
Dok. 471: [Moskau], 30.12.1939 1589
Tatsachen zum Bewusstsein zu bringen, den Schwindel über die angebliche „Volks-
gemeinschaft“ zu enthüllen und den Kampf um die Verbesserung der Lebenshaltung
der werktätigen Massen und um die Erhaltung der Volksgesundheit zu führen.
a) Gestützt auf die zähe Arbeit in den Massenorganisationen ist auf Grund der
Verteuerung und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ein entschlossener Kampf
der Arbeiter zu führen für Loherhöhungen, für Weiterzahlung der Lohnzuschläge
und Einhaltung der Urlaubsbestimmungen, für Verkürzung der Arbeitszeit, für den
Gesundheitsschutz der Frauen und Jugendlichen, für die Einhaltung der Jugend-
schutzbestimmungen, für ausreichende Versorgung der Betriebsarbeiter, Angestell-
ten und selbständigen Werktätigen; gegen die ungerechte Verteilung der Waren, wie
sie in der bevorzugten Belieferung der besitzenden Kreise zum Ausdruck kommt.
Kampf für die Freizügigkeit der Landarbeiter und der Verbesserung ihrer Löhne und
Arbeitsbedingungen.
b) Tatkräftige Unterstützung der Forderungen der Klein- und Mittelbauern im
Reichsnährstand174 auf Streichung der Pacht- und Zinsrückstände und Aussetzung
dieser Zahlungen für die Dauer des Krieges, auf Herabsetzung der Steuern, auf das
Mitbestimmungsrecht der Bauern in den Organisationen des Reichsnährstandes
und den ihnen unterstellten Genossenschaften usw., auf Aufhebung aller Gesetzes-
verordnungen, durch die die Bauernwirtschaft zugrundegerichtet und durch die die
armen und mittleren Bauern minderen Rechtes gegenüber den Grossgrundbesitzern
gemacht, die nachgeborenen Kinder der Erbhofbauern völlig enterbt und entrechtet
werden,175 gegen die Bevorzugung der Grossagrarier bei der Versorgung mit Lebens-
und Futtermitteln.
Ferner muss der Kampf geführt werden für die Zuteilung von Boden an die Klein-
bauern auf Kosten des Grossgrundbesitzes, für die Gewährung ausreichender zinslo-
ser Kredite und anderer staatlicher Unterstützungen zur Technisierung der Bauern-
wirtschaft.
c) Tatkräftige Unterstützung der Forderungen der Handwerker, Kleingewerbe-
treibenden und Kleinhändler auf Schutz ihres Eigentums und ihrer Betriebe, für eine
gerechte Auftragsverteilung und Rohstoffversorgung, auf Streichung rückständiger
Kapitalzinsen und Steuern, auf Senkung der Steuern und Erleichterung der Mietzah-
lungen.
d) Kampf gegen die vielen, die werktätigen Massen besonders belastenden Steuern,
Sammlungen und Abgaben (Winterhilfe176 etc.) und Verwandlung dieser Steuern,
Sammlungen und Abgaben in Sonderabgaben und eine progressive Besteuerung und
6. Die entscheidende Kraft in allen diesen Kämpfen ist die Arbeiterklasse, deren poli-
tische und organisatorische Kraft auf das Höchste gesteigert werden muss. Deshalb
ist die wichtigste Aufgabe die Schaffung der Aktionseinheit durch die Gewinnung de
sozialdemokratischen Arbeiter und der nationalsozialistischen Werktätigen für den
gemeinsamen Kampf.177
Die sozialdemokratischen Arbeiter sind jetzt infolge der durch den Krieg geschaffe-
nen Situation und der sich daraus ergebenden Aufgaben vor die verantwortungsvolle
Entscheidung gestellt: entweder gemeinsam mit den Kommunisten die Einheitsfront
von unten zu schliessen, einzutreten für den gemeinsamen Kampf, für eine Volksfront
der Arbeiter, Bauern, Handwerker und werktätigen Intelligenz, für die aktive Freund-
schaft mit der sozialistischen Sowjetunion und sich zu trennen von den sowjetfeind-
lichen, reaktionären sozialdemokratischen Führern – oder mitschuldig zu werden an
der Verwirklichung der Raubpläne der englischen und französischen Imperialisten
und der reaktionären Pläne des deutschen Grosskapitals.
Die infolge des sowjetisch-deutschen Nichtangriffs- und Freundschaftspaktes
auch in den nationalsozialistischen Werktätigen begonnene Orientierung auf die
Freundschaft mit der Sowjetunion eröffnet grosse Möglichkeiten ihrer Gewinnung und
Einreihung in die gemeinsame Kampffront mit den kommunistischen und sozialdemo-
kratischen Arbeitern gegen den Raubplan des englischen und französischen Impe-
rialismus, gegen die mit ihm verbundenen grosskapitalistischen Landesverräter in
Deutschland, gegen die Herrschaft des Grosskapitals und für die Stärkung der politi-
schen und organisatorischen Kraft der werktätigen Massen innerhalb Deutschlands,
um dadurch eine feste Garantie für die Erhaltung und Vertiefung der Freundschaft
zwischen der Sowjetunion und Deutschland zu schaffen.
Es ist notwendig, die nationalsozialistischen Massenorganisationen zu Stützpunk-
ten des Kampfes für die Lebensinteressen der werktätigen Massen zu machen, festen
Kurs zu nehmen auf die Gesinnung der unteren Funktionäre in den nationalsozialis-
tischen Massenorganisationen und auf die Wahl solcher Werktätiger als Funktionäre
solcher Organisationen, die ehrlich für die Interessen der Werktätigen eintreten.
Mit aller Schärfe hat der Krieg vor die Arbeiterklasse die Aufgabe gestellt, in den
Kampf der werktätigen Massen die Massen der Jugend einzubeziehen, die durch die
177 Die nachfolgenden Absätze bis Punkt 7 wurden in der DDR-Publikation des Dokuments ausgelas-
sen (vgl.: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, V, S. 532–535).
Dok. 471: [Moskau], 30.12.1939 1591
„Hitlerjugend“178 und den „Bund deutscher Mädchen“179 zur Mobilisierung des Hin-
terlandes eingesetzt werden. Die Arbeiterklasse setzt sich entschieden für die wirt-
schaftlichen und sozialen Forderungen der Jugend ein und hilft ihr tatkräftig, den
richtigen Weg zur Erfüllung ihrer sozialistischen Ideale zu beschreiten, um zu verhin-
dern, dass breite Massen der Jugend unter den Einfluss des Chauvinismus in Gegen-
satz zu den werktätigen Massen gebracht werden.
7. Die führende Rolle der Kommunistischen Partei in allen diesen Kämpfen ist eine unbe-
dingte Notwendigkeit, die sich die Partei durch ihre Massenarbeit verschaffen muss. Je
tiefer sich die Partei in den Massen verankert, je aktiver sie den Kampf für die Interes-
sen der werktätigen Massen führt, umso stärker wird sie von den Massen selbst unter-
stützt und gegen Terrormassnahmen geschützt werden, desto eher wird die Partei
zu halblegaler Tätigkeit übergehen können und sich schliesslich die volle Legalität
erkämpfen. Diese Perspektive erfordert von der Partei die aufmerksame Beachtung
jeder wichtigen Veränderung in der Lage, damit die Kader rechtzeitig und richtig auf
sie reagieren.
Vor der Partei steht die Aufgabe des Aufbaues einer festen Parteiorganisation im Lande
mit einheitlichen Leitungen welche, auf das Engste mit den Massen verbunden, die
politische Linie und die Aufgaben der Partei im Lande durchführen.
Die Parteileitungen sind verantwortlich für die einheitliche politische Orientie-
rung der Kader auf der Grundlage der Beschlüsse des ZK und der Komintern. Es sind
ernste Anstrengungen notwendig, um die ideologischen Unklarheiten zu überwin-
den, die sich aus der nicht genügenden Beachtung der Veränderungen in der Lage
und aus dem Mangel an kollektiver Durcharbeitung der politischen Fragen in der
Parteiorganisation und aus der Vernachlässigung der ideologischen Erziehung der
Kader ergeben haben. Die in der Partei bestehenden Tendenzen von Spekulationen
auf spontane Entwicklung der Ereignisse, Beschränkung auf Flüsterpropaganda und
Berichterstattung, opportunistische Unterschätzung der Möglichkeiten zur Schaf-
fung einer festen Parteiorganisation, mangelhafte Verbindung zu den Massen durch
Vernachlässigung de Arbeit in den Massenorganisationen, müssen gründlich über-
wunden werden.
178 Hitlerjugend (HJ), 1926 gegründete Jugendorganisation der NSDAP, 1933 bis 1945 einzige legale
Jugendorganisation in Deutschland und seit 1936 Zwangsorganisation für Jugendliche zwischen 10
und 18 Jahren, mit bis zu neun Millionen Mitgliedern, die auf Grund der sog. Jugenddienstpflicht
daran teilnehmen mussten. Der Bund Deutscher Mädel (BdM) mit dem Jungmädelbund (JM) wurde
zum weiblichen Zweig der HJ. Langfristig diente die HJ der Heranführung der männlichen Jugendli-
chen an die Wehrpflicht.
179 Bund deutscher Mädchen: Richtig: Bund deutscher Mädel (BdM), 1930 gegründeter weiblicher
Zweig der Hitlerjugend, in dem ab 1936 Pflichtmitgliedschaft für alle „arischen“ Mädchen und jungen
Frauen bestand. Aufgabe des BdM war eine ideologische Führung und Schulung als Vorbereitung auf
ihre zukünftige Rolle in NS-Deutschland.
1592 1939–1943
Die Durchführung der Aufgaben der Partei ist in erster Linie von der sorgfältigen
Auswahl der Kader, ihrer systematischen marxistisch-leninistischen Erziehung und
von der kühnen Heranziehung neuer Kräfte abhängig. Zur Stärkung der Parteiorga-
nisation ist eine systematische Werbung erprobter Arbeiterkader notwendig. Es gilt,
einen grossen Kreis von Sympathisierenden um die Partei zu scharen. Die Parteiorga-
nisationen sind verantwortlich für den Aufbau des Kommunistischen Jugendverban-
des innerhalb der H.J.180 und des BdM181 und für die ständige Anleitung und Unter-
stützung seiner Arbeit und für die ideologische Erziehung seiner Mitglieder.
180 Hitlerjugend.
181 Bund deutscher Mädel.
1940
Am 8.1.1940 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion weitreichende Propagandamaß-
nahmen zum 16. Todestag Lenins. Neben einer großen Presse- und Filmkampagne wurden das Marx-
Engels-Lenin-Institut (IMEL) sowie der Staatsverlag mit der Herausgabe der vierten Auflage von Lenins
gesammelten Werken beauftragt, die bis zum Juli 1942 abgeschlossen sein sollte.1
Gemeinsam mit dem Rat der Volkskommissare beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion
am 10.1.1940 den Export von sowjetischen Kinofilmen nach Deutschland. Beide Teile der Kinoserie
„Petr I.“ (1937/38, Regie: Vladimir Petrov) sollten für 20.000 Mark an einen deutschen Verleih gehen,
wobei man sich bereiterklärte, die beiden Teile zusammenzufügen und den Film neu deutsch synchro-
nisieren zu lassen. Der 1939 neu fertiggestellte Film „Minin und Požarskij“ (Regie: Vsevolod Pudovkin)
sollte den Deutschen für 15.000 Mark überlassen werden.2
Am 17.1.1940 entschied das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über das Schicksal der „aktiven
Angehörigen konterrevolutionärer, rechtstrotzkistischer, Verschwörer- und Spionagegruppen im Um-
fang von 457 Personen“. Gegen 346 von ihnen sollte das Todesurteil vollstreckt werden, die restlichen
Personen sollten mit Haftstrafen von mindestens 15 Jahren belegt werden.3
Am 26.1.1940 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, bei den Handelsvertretungen in
Italien, Deutschland und den USA spezielle Büros für Luftfahrttechnik einzurichten.4
Am 16.2.1940 entsprach das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion der Bitte Dimitrovs, Franz Rá-
kosi zwecks Wiedersehen mit seinem Bruder, dem ungarischen KP-Führer Mátyás Rákosi, eine Reise
nach Ungarn zu genehmigen.5 Am 18.3.1941 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion,
56 ungarische Fahnen aus der Revolutionsperiode von 1848 an die ungarische Botschaft zu überge-
ben. Dabei handelte es sich um eine Gegenleistung für die Befreiung von Mátyás Rákosi aus ungari-
scher Haft,6 der bereits Anfang November 1940 in der Sowjetunion eintraf.
Dok. 473
Schreiben der sowjetischen Militäraufklärung an Dimitrov über die
Unterstützung von Rosa Thälmann und die Treue ihres Mannes zur
Sowjetunion
[Moskau], 17.2.1940
Autograph in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 495/73/86, 32–33. In deutscher Sprache publ. in:
Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“, S. 198. In russischer Sprache publ. in: Lebedeva/Narinskij:
Komintern i Vtoraja mirovaja vojna, I, S. 270–271.
PERSÖNLICH
ABS[OLUT] GEHEIM
An Dimitrov G.M.
Auf Ihre Anweisung hin wurde eine Geldübergabe an die Frau von E. Thälmann orga-
nisiert. Das Geld ist übergeben worden. Der zurückgekehrte Genosse7 erzählte über
das Treffen mit Rosa Thälmann8 Folgendes:
Auf die vereinbarten Parolen hin bestätigte Rosa ihre Identität und sagte, daß
sie Ernst zweimal im Monat sehe, Ernst sei nicht gebrochen.9 Auf die Frage nach dem
russisch-deutschen Pakt habe er gesagt, das sei sehr gut.10
Man kam zu Ernst mit dem Vorschlag, ein Papier zu unterschreiben, ein Doku-
ment, das den Kommunismus verhöhnt und seine Abkehr vom Kommunismus ver-
7 Zurückgekehrter Genosse: Es dürfte sich um Olga Muth (Ps. Ollo) gehandelt haben, die Kinderfrau von
Ruth Werner, die im Auftrag der sowjetischen Militäraufklärung Rosa Thälmann Geld überbrachte (siehe:
Sassning: Zur NS-Haftzeit Ernst Thälmanns, S. 53). Auch die finnische Kommunistin Irja Nousiainen (Ps.
Strand) war in dieser Sache als Kurier tätig (Siehe: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 197).
8 Rosa Thälmann, die Frau Ernst Thälmanns, besuchte ihren Ehemann ungefähr dreiwöchentlich
im Gefängnis und bewerkstelligte damit indirekt die Kommunikation mit der KPD-Exilführung. Der
Kurier Edwin (Ps.), d.i. Walter Trautzsch, versorgte sie mit Geld und Nachrichten für Thälmann. Als
Trautzsch im Februar 1939 verhaftet wurde, wandte sich Rosa am 8.11.1939 an die sowjetische Bot-
schaft in Berlin, um Geld für ihren Lebensunterhalt zu erhalten und Briefe Thälmanns, v.a. an Sta-
lin, zu überbringen, wurde dort jedoch zunächst abgewiesen. Am 26.11.1939 kritisierte Molotov das
Verhalten der Botschaft und genehmigte eine Zuteilung über 2000 Mark, die am 28.11. übergeben
wurden. Die Unterstützung erfolgte nun parallel über Kanäle der Komintern und der sowjetischen
Militäraufklärung (siehe: Sassning: Zur NS-Haftzeit Ernst Thälmanns, S. 52ff; Bayerlein: Der Verräter,
Stalin, bist Du, S. 196–198).
9 Zu den Befürchtungen sowjetischerseits, Thälmann könnte „gebrochen“ werden oder sei zumindest
defätistischen Stimmungen verfallen, siehe Dok. 422. Laut einem Eintrag in den Notizen Wilhelm
Piecks vom 4.12.1939 wurde Thälmann via TASS-Telegramm sogar für tot erklärt (Siehe: Bayerlein: Der
Verräter, Stalin, bist Du, S. 197).
10 In einem an Stalin übermittelten Brief Thälmanns vom 5.3.1940 gab er zwar keine persönliche Mei-
nung über den Pakt ab, sah ihn jedoch zweifellos als positive Tatsache: „Hitler und Ribbentrop sind
ehrlich und aufrichtig für die Fortsetzung und weitere Festigung der Freundschaft zwischen Deutsch-
land und der Sowjet-Union.“ (Bayerlein, Der Verräter, Stalin, S. 199).
Dok. 473: [Moskau], 17.2.1940 1595
kündet, weil seine Freunde sich entschlossen hätten, ihn in Stich zu lassen. Als
Antwort darauf nannte er die Namen der Führer und des höchsten Führers (gemeint
ist Gen. Stalin) und sagte, daß diese Freunde ihn nie verlassen werden.11
Rosa hatte Angst, die ganze Summe anzunehmen, weil die Polizei ihre Geldange-
legenheiten vollständig kontrolliere, sie behielt nur 1100 Mark (von 2500 Mark). Rosa
teilte mit, daß sie manchmal Geld von Sympathisanten aus anderen Ländern bekäme,
darunter aus Stockholm.12
Unser Resident berichtet, daß er die Möglichkeit habe, noch einmal Geld zu
übergeben, und ich bitte Sie, mir mitzuteilen, wie man im Zusammenhang mit Rosas
Aussage verfahren soll.
Mit Gruß
[Sign.:] Proskurov13
N° 229984 ss.
17.2.40.
Am 19.2.1940 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, der Komintern Geldmittel und
Baumaterial für die Grundsanierung und den Ausbau der Gebäude der Geschäftleitung des EKKI zu-
zuteilen.14
11 Im Brief vom 5.3.1940 schrieb Thälmann: „Von dem aktiven Eingreifen meiner russischen Freunde
verspreche ich mir den einzigen und allein ausschlaggebenden Erfolg zu meiner baldigen Freilassung.“
Stalin allerdings versah den Brief mit dem Vermerk „ins Archiv“ und bemühte sich nicht weiter. Nach
Meinung russischer Historiker wollte er die Freundschaft mit NS-Deutschland nicht durch derartige
Bemühungen trüben, zumal Thälmann für ihn im Gefängnis politisch nützlicher gewesen sei als in
Moskau (siehe: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 198–199). Am 15.10.1941 schließlich ging
Stalin im Gespräch mit Dimitrov auf Distanz zu Thälmann: „Er ist kein prinzipientreuer Marxist, und
seine Briefe zeugen vom Einfluss der faschistischen Ideologie. [...] Sie werden ihn nicht umbringen,
weil sie offensichtlich hoffen, ihn sich bei Bedarf als ‚vernünftigen‘ Kommunisten zunutze machen zu
können...“ (Ibid.)
12 Im Brief vom 5.3.1940 erwähnte Ernst Thälmann die „Geldsumme einer dänischen Genossin über
einen Verlag in Stockholm (400 schwedische Kronen = 236,50 RM.) an meine Frau“, die als legale Über-
weisung zur „Beruhigung“ der Gestapo beigetragen habe (Wolfram Adolphi, Jörn Schütrumpf (Hrsg.):
Ernst Thälmann: an Stalin. Briefe aus dem Zuchthaus 1939 bis 1941, Berlin, Dietz, 1996, S. 59). Aber auch
der illegale Geldtransfer an Rosa Thälmann wurde über Stockholm abgewickelt. Von der Komintern-
Funkstelle Stockholm ging u.a. das folgende Telegramm vom 28.2.1940 bei der Komintern ein: „Rosa
Thelman hat Empfang Karin [d.h. US-Dollar] bestatig[t]. Sollen wir noch verschicken.“ (RGASPI, Mos-
kau, 495/184/2 (Eingang 1940), 17. Publ. in: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 198).
13 Ivan Proskurov (1907-in der Sowjetunion 1941 erschossen), ehemaliger Militärpilot und Spanien-
kämpfer, war von 1939 bis 1941 Leiter der sowjetischen Militäraufklärung.
14 RGSAPI, Moskau, 17/3/1020, 9. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 784.
15 RGASPI, Moskau, 17/162/27, 44.
1596 1939–1943
Am 27.2.1940 behandelte das Politbüro die Ansprüche ausländischer Privatpersonen und Unterneh-
men im Zusammenhang mit der Nationalisierung ausländischen Eigentums auf dem Territorium der
Westukraine und Westweißrusslands. Diesbezüglich wurde eine Note an die deutsche Botschaft for-
muliert, worin die Nationalisierung als unumkehrbar deklariert wurde, da sie von der Westukraine
und Westweißrussland beschlossen worden sei, noch bevor die Territorien in den Bestand der UdSSR
eingingen.16
Dok. 474
Beschluss der „Mitglieder des ZK der KPD“ zur Parteitätigkeit im
Ausland
[Moskau], 28.2.1940 (Datum des Begleitbriefs)
28.2.40
schaft mit der sozialistischen Sowjetunion und für die Herbeiführung einer inneren
Neuordnung Deutschlands durch den Kampf um die Rechte des werktätigen Volkes.
Unsere Berichterstattung über Deutschland muß die wirkliche Stimmung im
deutschen Volke wiedergeben. Wir wollen nichts veröffentlichen, was den engli-
schen Plan fördert. Unsere Berichterstattung soll zeigen: die Sympathie und die
Freundschaft der Massen mit der SU – ohne Übertreibung und bare Erfindung; die
Feindschaft gegen Thyssen und die Agenten des britischen Imperialismus,26 die For-
derungen, die im Interesses des Volkes liegen, die demokratischen Forderungen, die
Verteidigung der unterdrückten Völker, den Internationalismus der Arbeiter, ihren
Willen zum Frieden.
Die Berichte sollen zeigen, dass die deutschen Arbeiter und Bauern unter den
Verhältnissen des Krieges für ihre Rechte kämpfen, dass sie aber keinerlei Illusionen
über ihr Los haben, das sie im Falle des Gelingens des englischen Planes erwartet.
Diese Berichte sollen zeigen, dass die Massenbewegung für den Frieden in England
und der USA in Deutschland ein Echo finden und dass sich die fortgeschrittenen Teile
der deutschen Arbeiter brüderlich verbunden fühlen mit diesen gegen den Imperi-
alismus und für Frieden kämpfenden Arbeiter[n]. Die englischen Kriegsorganisato-
ren glauben, daß mit dem Wachstum innerer Schwierigkeiten in Deutschland jener
Teil der deutschen Bourgeoisie die Oberhand bekommt, der zu einer Kapitulation vor
dem englischen Imperialismus bereit ist und der dem sowjetisch-deutschen Freund-
schaftspakte fanatisch gegenübersteht. Die englischen Imperialisten glauben im
Zusammenhang mit wachsenden inneren Schwierigkeiten in Deutschland dem deut-
schen Volke einen imperialistischen Gewaltfrieden aufzuzwingen. Wir wollen aber
im Interesse der Weltarbeiterklasse und des deutschen Volkes und der europäischen
Völker einen solchen imperialistischen Gewaltfrieden verhindern. Darum geht der
Kampf der Arbeiter und Bauern für den Frieden in Deutschland auf andere Weise vor
sich, als wie in England und Frankreich. Die revolutionären Arbeiter in Deutschland
sind daher nicht an der Erzeigung aller und jeder Schwierigkeiten interessiert, die
eine baldige Kriegsniederlage Deutschlands herbeiführen würden.27
Es wäre sehr wichtig, daß deutsche Schriftsteller in der Emigration, Sozialde-
mokraten und andere deutsche Emigranten durch kurze Artikel, durch Briefe usw.
entschieden im Ausland als die Vertreter des deutschen Volkes gegen die Politik der
Hilferding und Stampfer und gegen die Stellungnahme verschiedener katholischer
Führer auftreten. Das Auslandsbüro soll den Freunden in den einzelnen Ländern kon-
krete Vorschläge mitteilen.
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 2.3.1940 eine Reihe von repressiven Maß-
nahmen zur „Sicherung der Staatsgrenze“ auf dem ehemals polnischen Territorium. Alle Anwohner
innerhalb von 800 Metern zur Grenze sollten umgesiedelt, ihre Häuser abgerissen werden. Außerdem
sollten bis zum 15.4.1940 alle Familien internierter polnischer Soldaten nach Kasachstan deportiert
werden, wobei die „böswilligen“ unter ihnen zu verhaften seien. Ebenfalls sollten alle Prostituierten
aus dem Grenzgebiet deportiert werden. Denjenigen Flüchtlingen aus dem deutsch besetzten Teil
Polens, die in der Sowjetunion bleiben wollten, sollte untersagt werden, sich innerhalb der nächsten
fünf Jahre näher als 100 km von der Grenze entfernt anzusiedeln. Die Flüchtlinge, die in den deutsch
besetzten Gebieten abgewiesen wurden, sollten dagegen in „nördliche Gebiete“ zu Holz- und ande-
ren Arbeiten deportiert werden.28
Auf Anfrage des NKVD beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 5.3.1940 auf Vor-
schlag von Lavrentij Berija, die Angelegenheiten von 14.700 gefangenen ehemaligen polnischen
Offizieren, Polizisten und anderen höheren gesellschaftlichen Rängen, sowie von 11.000 unter Spi-
onageverdacht und ähnlichen Beschuldigungen inhaftierten Polen, „in einem Sonderverfahren zu
bearbeiten, unter Anwendung der Höchststrafe – der Erschießung.“. Das – erst Mitte der neunziger
Jahre bekannt gewordene – Dokument, mit dem das Massaker von Katyn angeordnet wurde, trägt die
Unterschriften von Stalin und Kliment Vorošilov. Michail Kalinin und Lazarʼ Kaganovič stimmten dem
Beschluss nachträglich zu.29
Das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion beschloss am 13.3.1940 eine Auswechselung des stell-
vertretenden Militärattachés der UdSSR in Deutschland, Michail V. Beljakov, durch Jurij G. Bažanov.30
Am 15.3.1940 beschloss das Politbüro, die in Brest vomNKVD internierte militärische Besatzung ei-
nes Flugzeugs vom Typ Junkers 34, das die sowjetische Lufthoheit verletzt hatte, nach Deutschland
zurückkehren zu lassen, sowie den Deutschen das Flugzeug nach einer Reparatur zurückzugeben.31
Am 5.4.1940 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Entwurf einer Direktive über
die „Anwendung von Waffen durch die Grenzschutztruppen an der sowjetisch-deutschen Grenze“.
Darin hieß es u.a., dass hierbei stets darauf zu achten sei, dass keine Geschosse auf deutschem
Boden niedergehen.32
Am 10.4.1940 setzte das Politbüro V.I. Smirnov als stellvertretenden Kriegsmarine-Attaché der UdSSR
in Deutschland ein.33
Am 11.4.1940 befasste man sich mit der Gültigkeit standesamtlicher Verfahren in den ehemals polni-
schen Gebieten und ihrer Kontrolle durch das NKVD, an das auch alle standesamtlichen Dokumente
und Archive zu übergeben seien.34
28 RGASPI, Moskau, 17/162/27, 48–49. Publ. in: Kostjuško: Materialy „osoboj papki“, S. 99–100.
29 RGASPI, Moskau, 17/162/27, 50; APRF, F. 3, Paket N 1. Publ. in: Ibid., S. 100–102.
30 RGASPI, Moskau, 17/3/1020, 45.
31 RGASPI, Moskau, 17/162/27, 52; APRF, Moskau, 3/64/678, 84. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin,
III, Dok. 267.
32 RGASPI, Moskau, 17/162/27, 73, 81.
33 RGASPI, Moskau, 17/3/1021, 88.
34 RGASPI, Moskau, 17/3/1021, 91.
1600 1939–1943
Dok. 475
Chiffretelegramm an die Komintern-Funkstelle Brüssel für die
Kader der KPD und der KP Österreichs in Belgien und Frankreich
[Moskau], 16.4.1940
Typoskript, französisch. RGASPI, Moskau, 495/184/3 (Ausgang 1940), 112. In deutscher Sprache publ.
in: Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“, S. 233. In französischer Sprache publ. in: Bernhard H.
Bayerlein, Mikhail Narinski, Brigitte Studer, Serge Wolikow (Hrsg.): Moscou-Paris-Berlin, 1939–1941.
Télégrammes chiffrés du Komintern, Paris, Tallandier, 2003, S. 211.
[An:] Marcel [d.i. Eugen Fried]. Wir sind dagegen, daß sich die österreichischen und
deutschen Führer in Agen [Belgien] freiwillig den Behörden von Agen stellen. Krebs
[d.i. Othmar Strobel], Pohl [d.i. Alfred Klahr] und Schacht [d.i. Fritz Heinrich] müssen
in der Illegalität bleiben und, wenn möglich, ausreisen. Die anderen Österreicher
sollen sich, wenn möglich, ins Land [nach Österreich] zurückbegeben. Ein Teil der
deutschen Führungsfunktionäre soll illegal über Digne [die Niederlande] ins Land
[nach Deutschland] zurückkehren.
Die anderen gehen, wenn möglich, legal über Digne ins Land zurück. Jene, gegen
die schwerwiegende Urteile vorliegen, bleiben illegal in Agen [Belgien].
35 Im Zusammenhang mit dieser Rückkehrdirektive erhob Franz Dahlem in den 1950er Jahren schwe-
re Vorwürfe gegen Ulbricht und die Moskauer Parteiführung. In seinen handschriftlichen Notizen
heißt es, auf Anweisung Ulbrichts sei die Arbeit der Auslands-Abschnittsleitungen nach Deutsch-
land eingestellt und ihre Mitglieder den Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien unterstellt
worden. Am 26.3.1954 notierte er: „Demgegenüber bin ich gezwungen die Frage der Richtigkeit oder
Unrichtigkeit der Einschätzung der Perspektive der Entwicklung in Deutschland nach Abschluß des
deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes zu stellen, wie sie Gen. Ulbricht Anfang 1940 von Moskau
aus als Direktive an verantwortliche Funktionäre der KP Deutschlands in Skandinavien, Frankreich
und Belgien sandte: daß nämlich die Voraussetzungen einer halblegalen und vielleicht legalen Arbeit
der Kommunisten in Hitlerdeutschland sich entwickeln werden, und daß deshalb alle Politemigran-
ten, die bei ihrer Rückkehr nicht mehr als 4 Jahre Gefängnis zu erwarten hätten, veranlaßt werden
sollen, sich legal nach Deutschland repatriieren zu lassen. Diese Frage hat zu großen Diskussionen
unter den Tausenden Häftlingen auch im Lager Vernet geführt und erst nach mehrfacher Bestätigung
von Seiten höchster Parteileitungen über die Richtigkeit der Direktive wurde mit meiner Zustimmung
eine Anzahl unbelasteter Spanienkämpfer veranlaßt, sich freiwillig zur Rückkehr nach Deutschland
zu melden, um dort in die DAF einzutreten und die antifaschistische Arbeit zu organisieren. Die über-
wältigende Mehrheit der übrigen Genossen, meist ehemalige Parteifunktionäre, führten einen heroi-
schen Kampf gegen die Auslieferung nach Deutschland. Die Geschichte hat bewiesen, daß eine der-
artige Perspektive der Entwicklung in Deutschland sich als ein Irrtum erwiesen hat.“ (Franz Dahlem:
Weiteres Beweismaterial zur Aufdeckung der Falschheit der gegen mich erhobenen Verdächtigungen
und Verleumdungen, Berlin, 26.3.1954, SAPMO-BArch, Berlin, DY 30/9975, 105–106; zit. in Bayerlein:
Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 133f.; vgl. Bruno Frei: Die Männer von Vernet: ein Tatsachenbericht,
Hildesheim, Gerstenberg, 1950; RGASPI, Moskau, 17/3/1023, 8).
Dok. 476: [Moskau], 6.6.1940 1601
Am 17.4.1940 befürwortete das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Abschluss einer Konven-
tion zwischen der UdSSR und Deutschland über die Richtlinien zur Untersuchungen und Beilegung
von Grenzzwischenfällen und -konflikten. 36
Am 10.5.1940 behandelte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Frage der Kosten für die
Demarkation der neuen sowjetisch-finnischen sowie der sowjetisch-deutschen Grenzen. Für die De-
markation letzterer wurden zusätzlich 352.105 Rubel zu Verfügung gestellt.37
Dok. 476
Deklaration der KPD zum Vormarsch Hitlers in Westeuropa
[Moskau], 6.6.1940
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/15/274, 226–229. Russische, mit 24.5.1940
datierte Variante: RGASPI, Moskau, 495/10a/317, 22–27. Erstveröffentlichung des deutschen
Originaltextes. Rückübersetzung aus dem Russischen auszugsweise publ. in: Bayerlein: „Der
Verräter, Stalin, bist Du!“, S. 266–267. Verkürzt und entstellend publ. in: Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung, V, S. 537–538. In russischer Sprache publ. in: Lebedeva/Narinskij: Komintern i
Vtoraja mirovaja vojna, I, S. 347–352.
( Sonderinformation )
36 APRF, Moskau, 3/64/674, 104. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 271.
37 RGASPI, Moskau, 17/3/1023, 8.
38 Die russische, im Komintern-Archiv überlieferte Fassung des Dokuments wurde mit dem Satz „Aus
einem Dokument, das von Kommunisten in Deutschland verbreitet wird“, eingeleitet (RGASPI, Mos-
kau, 495/10a/317, 22). Allerdings wurde dieses Dokument nicht in Deutschland, sondern in Moskau
von Wilhelm Pieck und führenden Funktionären von KPD und Komintern am Ende der zweiten Mai-
dekade verfasst, ungefähr zeitgleich mit der Deklaration der KP Frankreichs „Wir klagen an!“. Zahl-
reiche Formulierungen in den beiden Dokumenten stimmen überein. So wird in beiden Erklärungen
betont, dass die Kommunisten des jeweiligen Landes ebenso gegen die imperialistischen Kriegsziele
ihrer „eigenen“ Kapitalisten und Ausbeuter kämpften wie die Kommunisten der Länder, die gegen sie
Krieg führten. Die Erklärung wurde von Georgi Dimitrov, Manuilski und Ivan Stepanov zur Kenntnis
genommen und am 10.6.1940 Stalin, am 11.6.1940 auch Molotov und Ždanov zugeschickt (siehe Dok.
477). Bereits am 4.6.1940 hatte Dimitrov an die schwedischen Kommunisten die Anweisung übermit-
1602 1939–1943
Der imperialistische Krieg ist in eine neue Etappe eingetreten und hat sich auf weitere
Länder ausgedehnt. Die imperialistischen Machthaber beider Seiten treiben ihre Mil-
lionen-Armeen, zusammengesetzt aus Arbeitern und Bauern, in die Hölle der Materi-
alschlachten. Sie haben begonnen, das Hinterland durch Fliegerbomben zu verwüs-
ten.
Der imperialistische Krieg hat seine Logik: Die Imperialisten auf beiden Seiten
suchen militärische Vorteile zu erringen und günstige strategische Positionen zu
erobern. Zu diesem Zwecke haben sie bereits eine Reihe kleiner Völker in den Krieg
hineingezwungen und Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Luxemburg zu
ihrem blutigen Kriegsschauplatz gemacht.39 Der Völkermord hat sich auf die blutge-
tränkten Felder Frankreichs ausgedehnt.40
Die deutschen Kommunisten haben in Uebereinstimmung mit den französischen
und englischen Kommunisten von Anfang an gegen diesen imperialistischen Krieg
und für den Frieden gekämpft. Die Kommunisten wandten sich von Anfang an die
Ausbreitung dieses ungerechten Krieges, gegen die Hineinziehung neutraler Länder
in diesen Krieg, gegen die Vergewaltigung der kleinen Völker. Verantwortlich und
schuldig für dieses unerhörte Blutvergiessen und Massenmorden, für die schreckli-
chen Verwüstungen sind die grosskapitalistischen Kriegstreiber auf beiden Seiten.
Die deutschen Kommunisten kämpfen gegen die imperialistischen Kriegsziele
ihrer „eigenen“ Kapitalisten und Ausbeuter, wie die englischen und französischen
telt, die Erklärung in der Welt und der Ny Dag zu veröffentlichen (RGASPI, Moskau, 495/184/9 (Aus-
gang 1940), 96).
39 Am 9.4.1940 marschierte die deutsche Wehrmacht in Dänemark und Norwegen ein („Unterneh-
men Weserübung“). Am 10.5.1940 griffen Hitlers Truppen die Niederlande, Belgien und Luxemburg
an („Fall Gelb“).
40 Am 14.5.1940 überschritten deutsche Truppen die Maas, und es begann die für die sowjetische
Führung unerwartet schnelle Eroberung Frankreichs („Fall Rot“). Anlässlich der Schlacht von Dün-
kirchen (26.5.–5.6.1940) wurden das britische Expeditionskorps sowie große Teile der französischen
Armee von der Wehrmacht eingekesselt. Die Stadt wurde schließlich besetzt, über 300.000 britische
und französische Soldaten konnten nach Großbritannien evakuiert werden. Am 14.6.1940 fiel Paris.
Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Paul Reynaud, der für die Fortsetzung der Verteidigung
Frankreichs mit englischer Unterstützung plädiert hatte, im Kabinett jedoch keine Mehrheit gewin-
nen konnte, wurde sein Stellvertreter Philippe Pétain Ministerpräsident und schloss den Waffenstill-
stand von Compiègne ab. Die französische Kapitulation am 22.6.1940 hatte zu Folge, daß 60% des
französischen Territoriums unter deutsche Besatzung kam und der Rest von einer Kollaborations-
regierung unter Marschall Pétain mit Sitz in Vichy verwaltet wurde. Der Frankreichfeldzug war für
Deutschland damit abgeschlossen. Während des Feldzugs verübte die deutsche Wehrmacht auch
Kriegsverbrechen, wie etwa das Massaker in Vinkt (130 getötete Zivilisten) und in Wormhout (zwi-
schen 80 und 97 getötete britische und französische Kriegsgefangene). Mehrere tausend Senegalesen
und andere koloniale Soldaten in der französischen Armee wurden nach ihrer Gefangennahme getö-
tet. Auch setzte bald in Zusammenarbeit mit den französischen Polizeibehörden die Verfolgung und
Deportierung von Juden ein.
Dok. 476: [Moskau], 6.6.1940 1603
41 Nur von hier an wurde das Dokument (ebenfalls auszugsweise) in der offiziellen DDR-Dokumen-
tensammlung zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung veröffentlicht (siehe: Geschichte der
deutschen Arbeiterbewegung V, S. 537–538).
1604 1939–1943
Imperialismus. Die verruchten Verräter an der Sache der Arbeiterklasse treten für die
Verschärfung, Ausbreitung und Verlängerung des Völkergemetzels ein.
Die deutschen Arbeiter und Werktätigen, die selbst gegen die Versklavung
anderer Völker durch den deutschen Imperialismus sind, kämpfen gleichzeitig gegen
die verbrecherische Politik der deutschen reaktionären sozialdemokratischen Führer,
die für den Sieg des englisch-französischen Imperialismus arbeiten. Die Behauptung,
dass der Sieg der englisch-französischen Imperialisten den deutschen Arbeitern und
Werktätigen die Freiheit bringe, ist ein zynischer Betrug. Die reaktionäre englische
und französische Bourgeoisie, die fünfhundert Millionen Kolonialvölker [sic] in Skla-
verei hält, die das eigene werktätige Volk immer schärfer unterdrückt und terrorisiert,
der der Sozialismus in der Sowjetunion zutiefst verhasst ist, kämpft für ihre impe-
rialistischen Ziele, um die Aufrechterhaltung und Verstärkung ihrer Weltherrschaft,
nicht aber um die Freiheit anderer Völker und sie hasst und fürchtet den wirklichen
Freiheitskampf des werktätigen deutschen Volkes. Der Frieden, die Freiheit und der
Aufstieg der deutschen Arbeiter und aller Werktätigen können niemals an der Seite
des englischen Imperialismus erreicht werden, sondern nur im Kampfe gegen jeden
Imperialismus und in der Solidarität mit der Arbeiterklasse der anderen Länder,
besonders im brüderlichen Kampfbündnis mit der Arbeiterklasse Frankreichs und
Englands.
[...] Um die werktätigen Massen in den Dienst ihrer imperialistischen Raubin-
teressen zu stellen, behaupten die Machthaber in Deutschland demagogisch, dass
Deutschland siegen müsse, damit der sogenannte „deutsche Sozialismus“ voll ver-
wirklicht werden könne. Die deutschen Werktätigen erinnern sich, was aus ähnli-
chen Versprechungen im ersten Weltkriege geworden ist und haben am eigenen Leibe
bereits verspürt, was dieser „deutsche Sozialismus“ der deutschen Monopolkapita-
listen ist. [...]
Einem Regime, das Tausende und Abertausende der besten Kämpfer für Frieden,
Freiheit und Brot, darunter Ernst Thälmann, den Führer unserer Partei, in Zuchthäu-
sern gefangen hält, können die Arbeiter kein Wort glauben. Selbst diese barbarische
Unterdrückung wird das Volk nicht hindern, seiner Abscheu gegen den imperialisti-
schen Krieg, seinem Willen zum Frieden Ausdruck zu geben. Aber die rasche Errin-
gung des Friedens erfordert den unerschrockenen Kampf für die Beseitigung der
Rechtlosigkeit des werktätigen Volkes. Wenn das werktätige Volk selbst über sein
Schicksal entscheiden kann, dann wird es bald zum Frieden kommen. Dazu ist not-
wendig die Sammlung der Kraft der Arbeiterklasse, die Schaffung der Aktionseinheit
der Arbeiter und das Bündnis der Arbeiterklasse mit den anderen werktätigen Massen
zu einer mächtigen Volksbewegung. [...]
Die deutschen Kommunisten erklären, dass die Völker aus diesem schrecklichen
Krieg herauskommen können und ein solcher Frieden erreicht werden kann durch
den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse aller Länder und durch die Solidarität
mit dem grossen Lande des Sozialismus.
Dok. 477: Moskau, 10.6.1940 1605
Dok. 477
Fragen Dimitrovs und Manuilskis an Stalin zu den politischen
Losungen der KPD
Moskau, 10.6.1940
An Genossen STALIN
42 Dimitrov legte dem Brief den Entwurf einer Deklaration der KP Frankreichs bei, deren Hauptpunk-
te er im hier nicht publizierten Teil des Briefes darlegte
43 Siehe Dok. 476.
44 Die hier zum Ausdruck kommende Vorsicht bei der Bewertung des deutsch-französischen Krieges
durch die beiden Verantwortlichen der Komintern war bezeichnend für die fortgeschrittene Unter-
ordnung der Komintern unter die sowjetischen Interessen und den Verlust einer selbst minimalen
Handlungsfreiheit.
1606 1939–1943
Wir bitten Sie, Genosse Stalin, uns Ihre Ratschläge und Direktiven zu erteilen.
Mit Genossengruß,
G. DIMITROV
D. MANUILSKI
Am 5.6.1940 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit der Aufteilung der Bezirke
der deutschen Konsulate in der UdSSR sowie der sowjetischen Konsulate in Deutschland: das Lenin-
grader Konsulat sollte für das Leningrader Gebiet, das Konsulat in Vladivostok für das Pomorʼe-Gebiet
und das Konsulat in Batumi für Georgien zuständig sein. Von sowjetischer Seite sollte das Konsulat in
Königsberg für Ostpreußen und Danzig, das Konsulat in Wien für die Wiener Region und das Konsulat
in Prag für das Protektorat Böhmen und Mähren zuständig sein.45
Dok. 478
Argumentationshilfe der Führung der KP Frankreichs zur
Kontaktaufnahme mit den deutschen Besatzungsbehörden in
Paris
[Paris], 20.6.1940
Autograph, französisch. Archives de la ville de Paris, carton 1466 W 1, scellés 1 (Provenienz: Préfecture
de police, cabinet de E.F. Lafont, commissaire de police, PV du 21 juin 1940, affaire Tréand, Ginollin,
Schrodt et Roux). Deutsche Erstveröffentlichung. In französischer Sprache publiziert in: Jean-Pierre
Besse, Claude Pennetier: Juin 40. La négociation secrète. Les communistes français et les autorités
allemandes, Ivry-sur-Seine – Paris, Les Éditions de lʼAtelier/Èditions Ouvrières, 2006, S. 10–13.
3) [sind] nicht vor der Diktatur [des] Juden M[andel] und des Verteidigers der engli-
schen kapitalistischen Interessen zurückgewichen
Mut [der] französischen Pariser Arbeiter, und wenn es französische oder Pariser
Arbeiter sind, ist es die KPF
4) [Wir] Sind eine Kraft, wir49 repräsentieren sie, wir repräsentieren eine Kraft, die
über die französischen Grenzen hinausgeht
verstehen Sie? Hinter uns [steht] die UdSSR
das ist eine Macht, die UdSSR
Sie haben dem Rechnung getragen
[der] deutsch-sowjetische Pakt beweist das. Man macht einen Pakt nicht mit Schwäch-
lingen jedoch mit starken Menschen
[Wir] waren mit dem D[eutsch-] S[owjetischen] Pakt einverstanden
unser Kampf gegen Bonnet, Dal[adier] , Ray[Reynaud] , Man[del] , das hat Ihren Sieg
erleichtert
unsere Verteidigung des Pakts
das hat Ihnen Vorteile verschafft
für die UdSSR haben wir gut gearbeitet, folglich indirekt für Sie [...]
Wenn Sie die Huma[nité] verbieten,50 zeigen Sie, dass Sie gegen die Arbeiter- und
kleinbürgerlichen Massen Frankreichs kämpfen wollen, dass Sie die UdSSR in Paris
bekämpfen wollen.
6) Ich wiederhole Ihnen, was ich Ihnen gesagt habe wenn Sie [sie erscheinen] lassen,
verpflichten wir uns nicht dazu, das Lob Hitlers und der UdSSR anzustimmen, jedoch
dazu, nichts gegen Sie [zu unternehmen]
[Wir] verpf[lichten] uns zu schweigen
Jean-Pierre Besse, Claude Pennetier: Juin 40. La négociation secrète. Les communistes français et les
autorités allemandes, Ivry-sur-Seine – Paris, Les Éditions de lʼAtelier/Èditions Ouvrières, 2006.
48 Der Jude Mandel: Der konservative Politiker Georges Mandel war in der Regierung Paul Reynaud
von Mai bis Juni 1940 Innenminister und für das Parteiverbot der KPF mitverantwortlich. Wegen seiner
jüdischen Abstammung wurde Mandel im Laufe seiner Karriere von verschiedenen Seiten angefeindet,
ein derart offen antisemitischer Angriff stellte seitens der KP gleichwohl eine neue Qualität dar.
49 Die Passage „werden es bleiben“ ist durchgestrichen.
50 Infolge des Scheiterns (oder des Abbruchs) der Verhandlungen im August 1940 zwischen der
KPF und der deutschen Besatzungsbehörde (Otto Abetz) blieb die Humanité während der deutschen
Besatzung verboten und wurde weiter illegal hergestellt und verbreitet (lʼHumanité clandestine). Erst
nach der Befreiung von Paris am 22.8.1944 konnte die Zeitung wieder legal erscheinen.
1608 1939–1943
wir wollen alles, damit die Massen keine schmerzhaften Vorkommnisse erleiden, [um]
ihnen zu helfen durch Ihre Zusammenarbeit, wenn Sie wollen: Flüchtlinge, Kinder51
wir werden nichts für Sie tun jedoch nichts gegen Sie
bitten Sie um die Erlaubnis, uns unter Franzosen auszusprechen [...]
In dem Maße, in dem Sie uns nicht erlauben, [die] Massenbewegung zu kanalisieren,
die sehr radikal daherkommen kann, weil es in den Pariser Herzen bewahrt wird,
dass es sich um die deutsche Invasion handelt
Diese Feinde, die wir vorher hatten, Kleinbürgerliche und Bürgerliche und selbst
andere können sich hinter uns stellen, sollten Sie uns verfolgen, sollten Sie uns ins
Gefängnis stecken, sollten Sie uns erschießen [...]
wenn Sie [dies] ändern wollen, [liegt es] an Ihnen, sie [die Orientierung] darzulegen
[liegt es] an Ihnen, uns am Erscheinen der Huma[nité] zu hindern
haben Erfahrung [der] belgische[n] Freunde, sehr freundlich, unsere belgischen
Freunde, Voix du peuple52 ist 3–4 Tage erschienen, man hat ihnen immer wieder
gesagt, bis morgen
mit uns nicht
wir sind nicht die belgische Partei wir sind Paris53
Wenn54 Sie dieser Linie gegen [die] Arbeiterklasse folgen wollen, die man nicht von
der KP trennen kann, werden alle dies erfahren.
Schlussfolgerung
10) Sind Sie mit der von uns übernommenen Verpflichtung einverstanden oder nicht
Keine Antwort [oder] wenn Sie uns sagen, in einigen Tagen, werden wir dies als nega-
tive Antwort auffassen
LʼHuma[nité] wird morgen herauskommen
Sie können mich verhaften, mich erschießen, unsere Verkäufer erschießen
Sie sind die Leiter, wir jedoch sind die Arbeiterklasse, wir können noch etwas bewirken
51 Die deutsche Armee in Frankreich produzierte bzw. trieb einen Flüchtlingsstrom vor sich her, der
sich nach der Besetzung von Paris Richtung Süden ergoss.
52 La voix du peuple, Zentralorgan der KP Belgiens.
53 Im Unterschied zur KP Frankreichs fand die 1939 ca. 10000 Mitglieder zählende, vom Komintern-
delegierten Andor Berei in Brüssel geführte KP Belgiens einen „modus vivendi“ mit den deutschen
Behörden (José Gotovitch). Zumindest ein Teil ihrer Presse (La voix du peuple in Brüssel, Uilenspiegel
in Antwerpen) konnte frei erscheinen und Parteilokale blieben geöffnet. Die Zusammenarbeit mit den
Nationalsozialisten funktionierte so gut, dass es im Juni 1940 Julien Lahaut, dem KP-Abgeordneten
von Seraing und späteren Ehrenpräsidenten der Partei, gestattet wurde, in Frankreich für die Rück-
kehr belgischer Flüchtlinge, besonders der Arbeiter, zu werben, die für die Erhöhung der Produktion
unter deutscher Besatzung notwendig waren (siehe: Rudi van Doorslaer: De Kommunistische Partij
van België en het Sovjet-Duits niet-aanvalspakt tussen augustus 1939 en juli 1941, Brussel, Frans Ma-
sereel Fonds, 1975, S. 132ff.; José Gotovitch: Du Rouge au Tricolore. Les communistes belges de 1939 à
1944. Un aspect de lʼhistoire de la Résistance en Belgique, Bruxelles, 1992, S. 83f., 87ff.; Bayerlein: Der
Verräter, Stalin, bist Du, S. 272–273).
54 Schreibfehler: „Ci“ statt „Si“.
Dok. 479: [Moskau], [23.6.1940] 1609
Am 22.7.1940 beauftragte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den sowjetischen Geschäfts-
träger in Deutschland, Aleksandr Škvarcev damit, beim Außenministerium in Berlin den Wunsch
vorzubringen, die Handelsvertretung in Belgien weiterhin (also nach dem Einmarsch der Deutschen)
betreiben zu können.56
Dok. 479
Vorschläge der Komintern zur Einrichtung einer Telegrafenagentur
in den baltischen Ländern
[Moskau], [23.6.1940]
1. Zur Bedienung der Arbeiterpresse in den baltischen Laendern und zum Eindrin-
gen in die gewerkschaftliche Presse der skandinavischen und der Balkanlaender, die
keinen direkten Kontakt mit Moskau wuenschen und zur Entlastung der Moskauer
2. Als geeignetester Ort fuer diese Agentur ist Riga anzusehen als die Stadt mit der
entwickeltsten Arbeiterbewegung, einer ziemlich entwickelten Presse und einem
starken Radiosender, der Telegramme selbst nach Amerika uebermitteln kann.
Eventuell kaeme noch Tallin in Frage, wo die Presse ebenfalls sehr entwickelt ist,
aber die Moeglichkeiten direkter Telegrammsendungen viel geringer und die Arbeit
einer Telegrafenagentur daher schlecht zu rechtfertigen ist. (Selbst wenn die Agentur
keine Telegramme versendet, muss ihr Sitz so gewaehlt sein, dass sie nicht nur ueber
Moskau arbeiten kann.)
3. Die Telegraphenagentur muesste ein Bulletin von bescheidenem Umfang vor allem
ueber die Fragen der internationalen Arbeiterbewegung und den Kampf gegen den
Krieg herausgeben, das in deutsch, eventuell russisch und in der Landessprache oder
englisch veroeffentlicht werden sollte. Die Herausgabe des „Kunst und Kulturbulle-
tins“ in deutscher Sprache oder zumindest sein Vertrieb in diesen Laendern wuerde
der Agentur Zutritt zu den Pressekreisen schaffen, die fuer die Organisierung der
Agentur eine grosse Bedeutung haben koennen.
4. Bei der Organisierung der Arbeit ist in Betracht zu ziehen, dass die Redaktionen in
diesen Laendern die Sowjetpresse am dritten Tag bekommen, also sehr rasch gearbei-
tet werden muss. Darum muesste das in den Laendern verbreitete Material vor allem
internationale Fragen behandeln, die die breite Arbeiterpresse interessieren.
Am 29.7.1940 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion jüdischen Flüchtlingen aus
dem „ehemaligen Polen“, die in Litauen festsaßen und sich ins Ausland begeben wollten, den Transit
durch die UdSSR in Gruppen zu 50 bis 100 Personen zu gestatten.60
Am 14.8.1940 bestimmte das Politbüro die Zusammensetzung der Delegation für die Verhandlungen
mit dem deutschen Reichsverkehrsministerium zwecks Einrichtung eines regulären Eisenbahnver-
kehrs zwischen Deutschland und der Sowjetunion.62
Am gleichen Tag wurden dem Volkskommissar für die Marine Geldmittel zugeteilt, um den in Deutsch-
land erworbenen Kreuzer „Lützow“ aufzurüsten.63
Am 17.8.1940 fasste das Politbüro einen Beschluss über sog. „Vaterlandsverräter“. Ein solcher „Ver-
rat“ wurde als „Flucht ins Ausland auf dem Land- oder Luftweg“ definiert. Unter anderem wurde gegen
die Delinquenten ein beschleunigtes Verfahren bei Militärtribunalen, die Mitbestrafung von Familien-
angehörigen sowie die Verkündung von Todesurteilen in den militärischen Einheiten beschlossen, in
denen solche „Verräter“ gedient hatten. Zugleich wurde angemahnt, „undisziplinierte und moralisch
schwankende“ Soldaten nicht in der Nähe der Landesgrenzen einzusetzen.65
Dok. 480
Chiffretelegramm von Sven Harald Linderot an Dimitrov über die
Verhaftungswelle deutscher Emigranten in Dänemark
[Stockholm], 22.8.1940
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/184/2 (Eingang 1940), 184. Deutsche Erstveröf-
fentlichung. In französischer Sprache publ. in: Bayerlein/Narinskij/Studer u.a.: Moscou-Paris-Berlin,
S. 287.
Dokumententext
Dimitroff.
Hundert deutsche Emigranten in Danemark [sic] verhaftet davon achtzehn Kommu-
nisten. Einer sozi [sic] und zwei Kommunisten nach Deutschland verschickt.66 Ein[er]
von uns geht nach Norwegen wo führende Genossen verhaftet sind.67
Auf eine Anfrage des EKKI hin beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion am 23.8.1940,
dass die sich auf dem Territorium der UdSSR befindlichen Angehörigen der Mitglieder der ehemaligen
Internationalen Brigaden undKämpfer der spanischen republikanischen Armee Anspruch auf reguläre
Soldatenrenten hätten.68
Am 24.8.1940 bewilligte das Politbüro einen Beschluss des Rats der Volkskommissare über den
deutsch-sowjetischen Grenzverlauf anstelle der ehemaligen Grenze zwischen der UdSSR und (dem
nicht mehr existierenden) Litauen.69Am 28.8.1940 wurde die deutsch-sowjetische Konvention zur
Beilegung von Grenzkonflikten auf die neue Grenze ausgedehnt.70
66 Nach der Besatzung Dänemarks durch Hitlerdeutschland am 9.4.1940 behielt das Land seine Sou-
veränität und territoriale Integrität, musste jedoch innenpolitische Zugeständnisse an die Besatzer ma-
chen. Dazu gehörten mehrere Verhaftungswellen in der deutschen politischen Emigration, die auf deut-
sches Verlangen hin von der dänischen Polizei unternommen wurden. Besonders die Kommunisten
waren davon betroffen. Im Juni 1940 begannen Auslieferungen politischer Emigranten nach Deutsch-
land, auch wurden zahlreiche Emigranten in dänischen Internierungslagern inhaftiert (Einhart Lorenz:
Dänemark. In: Krohn/von zur Mühlen/Gerhard u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S.
204–207; Helmut Müssener: Deutschsprachiges Exil in Skandinavien: „Im Abseits...“ Die Gastländer Dä-
nemark, Norwegen, Schweden. In: German Life and Letters 51 (2003), 2, S. 302–323).
67 Der Großteil der KPD-Emigranten floh nach dem deutschen Überfall am 9. 4.1940 nach Schweden,
Verhaftungen „führender Genossen“ der KPD in Norwegen sind nicht überliefert (vgl. Einhart Lorenz:
Exil in Norwegen. Lebensbedingungen und Arbeit deutschsprachiger Flüchtlinge 1933–1943, Baden-
Baden, Nomos Verlagsgesellschaft, 1992, S. 315–326).
68 RGASPI, Moskau, 17/3/1026, 99. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern,
S. 787–788.
69 RGASPI, Moskau, 17/3/1026, 99; APRF, Moskau, 3/64/674, 157. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Ber-
lin, III, Dok. 289.
70 APRF, Moskau, 3/64/674, 154. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 290.
Dok. 481: Moskau, 3.9.1940 1613
Am 23.8.1940 beriet das Politbüro über die Kostenaufstellung der „besonderen Ausgaben“ der Ko-
mintern für das laufende Jahr. Die entsprechende Summe wurde auf 12.000.400 Tscherwonzenrubel
festgelegt.71
Dok. 481
Chiffretelegramm der Komintern an die Funkstelle Amsterdam für
die KPD
Moskau, 3.9.1940
In deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/184/1 (Ausgang 1940), 62. In deutscher Sprache publ.
in: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 298. In französischer Sprache publ. in: Bayerlein/
Narinskij/Studer u.a.: Moscou-Paris-Berlin, S. 295.
Direktion [d.i. Daan Goulooze] für Alfred [d.i. Wilhelm Knöchel]. Du sollst I.W. Stalin
kurze Lebensbeschreibung72 abschreiben und Funktionären ins Land geben. Mit Hilfe
hiesigen Freunden das Buch in Kleindruck herstellen und verbreiten im Lande.73 Mit-
teilt sofort über getroffene Maßnahmen. Wilhelm [Pieck].
Am 19.9.1940 bewilligte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion 5 Millionen Rubel aus dem Re-
servefonds des Rates der Volkskommissare zur Verfügung des Hauptbevollmächtigten des Deutschen
Reiches für die Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien und der Nordbukowina, die infolge des
Paktes zu sowjetischen Territorien erklärt und in die Ukrainische SSR eingegliedert wurden. Die Sum-
me sollte mit der Einbehaltung des Eigentums der Betroffenen verrechnet werden.74
Am 24.9.1940 ernannte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Mitglieder der sowjetischen
Delegationen in den gemischten deutsch-sowjetischen Kommissionen zur Umsiedlung der Deut-
schen aus den ehemaligen baltischen Staaten Litauern aus dem Memelgebiet infolge der Grenzver-
schiebungen.75
71 RGASPI 17/162/28, 76. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komintern, S. 788.
72 Die vom Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut erarbeitete, von Stalin selbst redigierte hagiogra-
phische Stalin-Biographie (russ. Erstausgabe: Kratkaja biografija I. V. Stalina, Moskva, OGIZ, 1939),
sollte von Wilhelm Knöchel vermutlich nach der 1940 erschienenen deutschsprachigen Ausgabe re-
produziert werden (siehe: Marx-Engels-Lenin-Institut, Moskau (Hrsg.): I. W. Stalin. Kurze Lebensbe-
schreibung, Moskau, Verlag für fremdsprachige Literatur, 1940).
73 Die Verbreitung stalinistischer Literatur in Deutschland wurde von der Komintern und der Exil-
KPD zunehmend als Panazee und Ersatzhandlung für den Widerstand gehandhabt (siehe hierzu auch
Dok. 467).
74 RGASPI, Moskau, 17/162/29, 12.
75 RGASPI, Moskau, 17/3/1027, 74, 77; 17/162/29, 13.
1614 1939–1943
Dok. 482
Brief Franz Dahlems aus dem Internierungslager Le Vernet
Le Vernet, 25.9.1940
Typoskript, vermutlich Abschrift. SAPMO-BArch, Berlin, RY 5/I 6/3/317, 55–59. Deutsche Erstveröf-
fentlichung. Auszugsweise in deutscher Sprache publ. in: Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“,
S. 331f.
76 Le Vernet war von 1918 bis 1948 ein Gefangenen- und Internierungslager im französischen Pyrenä-
envorland. Bereits nach dem 1. Weltkrieg für Kriegsgefangene in Betrieb genommen, wurde es unter
der Verwaltung der französischen Vichy-Behörden im Frühjahr 1939 zur Internierung von Spanien-
kämpfern und von Oktober 1939 an von „feindlichen Ausländern“ genutzt. Prominente kommunisti-
sche und linke Häftlinge waren Franz Dahlem, Gerhart Eisler, Lion Feuchtwanger, Bruno Frei, Paul
Frölich, Alfred Klahr, Arthur Koestler, Rudolf Leonhard, Luigi Longo, Paul Merker, Siegfried Rädel,
Heinrich Rau und Friedrich Wolf. Im Februar 1942 kam es aufgrund der schlechten Lagerbedingun-
gen zu einem Aufstand, der niedergeschlagen wurde und die Auslieferung der meist kommunisti-
schen Anführer der Internierten nach Deutschland zu Folge hatte. Von 1942 bis 1944 ließ die Vichy-
Regierung in Le Vernet verstärkt Juden internieren, um sie an Deutschland auszuliefern. Friedhof und
Bahnhof von Le Vernet sind heute als Denkmal konserviert.
77 Das Dokument enthält zwei Paraphen vom 24.3.1941 und 26.3.1941 sowie einen handschriftlichen
Eintrag „24.3.41“ und „Gen. Ercoli“ [d.i. Palmiro Togliatti]. Demnach ist der Brief erst im März 1941 an
das zuständige Sekretariat in Moskau gelangt.
78 Die besten Kader der Internationalen Brigaden: Am 1.9.1938 notierte Dimitrov in seinem Tagebuch:
„– mit Woroschilow gesprochen (telefonisch). (Mit der Auflösung der Internationalen Brigaden ein-
verstanden. – Sicherte Waffenhilfe zu).“ (Dimitroff: Tagebücher, Bd. 1, S. 172). Nach dem von der
spanischen Regierung Ende Oktober 1938 beschlossenen Rückzug der Internationalen Brigaden, der
im November 1938 eingeleitet wurde und besonders das am Ebro stehende republikanische Heer be-
trächtlich schwächte, sowie dem darauf folgenden chaotischen „zweiten Einsatz“ zur Verteidigung
Barcelonas konnte die Niederlage im spanischen Bürgerkrieg nicht mehr abgewendet werden. Der
Krieg forderte ca. 500.000 Menschenleben. Die heillose Flucht von über 300.000 Emigranten und ca.
30.000 Interbrigadistas (die „Internationalen“) endete für viele in den spanischen und französischen
„Konzentrationslagern“ (so der Sprachgebrauch der Komintern), in denen insgesamt ca. 275.000 Per-
sonen interniert wurden. Zur Auflösung der Internationalen Brigaden ist die Quellenlage noch unsi-
cher, vgl. Dallin/Firsov: Dimitrov and Stalin, S. 76f.
Dok. 482: Le Vernet, 25.9.1940 1615
79 Mitglieder der spanischen POUM (Partido Obrero de Unificación Marxista), einer linkssozialisti-
schen antistalinistischen Partei, die eine bedeutende Rolle im Spanischen Bürgerkrieg spielte. Die
POUM wurde von der KP Spaniens und der Komintern in exponierter Weise als Agenten des Faschis-
mus u.ä. diffamiert (siehe: Tosstorff: Die POUM im Spanischen Bürgerkrieg).
80 Mouchards (franz.): Spitzel, Aufpasser.
81 Mit „Freunde“ sind Kommunisten gemeint.
82 Auslassung im Original.
83 Am 26.8.1939 hatte die Komintern eine Direktive an die kommunistischen Parteien erlassen, um die
internationalen Freiwilligen, die nun infolge des Stalin-Hitler-Paktes zusätzlich bedroht waren, „zu ret-
ten und ins normale Leben einzugliedern“. Darin wurde u.a. auf die Gründung der von prominenten
Emigranten angeführten Komitees zur Freilassung der internierten Spanienfreiwilligen gedrungen. Die
Direktive ist noch im antifaschistischen Duktus gehalten. Für den Stalinismus bezeichnend ist die Kopp-
lung der (viel zu spät organisierten) Hilfskampagne an die Parteitreue bestimmter Gruppen. Nicht KP-
1616 1939–1943
II. Habe Mitteilung des Vaters [d.i. Georgi Dimitrov] so verstanden, daß für Jean [d.i.
Franz Dahlem] und Feld [d.i. Paul Merker] der direkte Weg nach Hause [nach Moskau]
unmöglich ist. Wir nehmen an, daß dasselbe für die zuletzt aktiven Kader gilt.84 Das
entspricht unserer eigenen Auffassung, da wir alles vermeiden wollen, was uns aus
irgendwelchen Gründen nach der erfolgten Befreiung von hier wieder auf ein Geleise
ausserhalb der alten Arbeit bringen könnte. Die Aussichten für das Wegkommen der
Kader hier sind sehr gering, nicht nur wegen dem für die Deutschen und Oesterreicher
geltenden Paragraphen 19.2 des Waffenstillstandsabkommens.85 Selbst Einzelne, die
Visen haben, können bisher nicht weg. Bitte diese Lage zu berücksichtigen. Betreffs
der Repatriierungsmöglichkeiten, wo die Direktiven mit der von uns eingehaltenen
Linie übereinstimmen, erfahrt ihr näheres mündlich. Ueber Stand und Möglichkeit
des Ausreisens bestimmter Kader nach Hause müssen wir konkreteres wissen. Bisher
haben wir besonders seit Anwesenheit des Sowjetdelegierten hier nur die Freunde
zur Einreichung von entsprechenden Anträgen veranlasst, die entweder Bürger [der
Sowjetunion] waren, bezw. von denen bereits solche Anträge früher liefen. Bei dieser
Frage auch die Genossinnen berücksichtigen, von denen die meisten im Konzent-
rationslager sind. Ihr erhaltet eine Liste jener Freunde, die überprüft sind und von
uns vorgeschlagen werden könnten. Nr. 11 wurde auf die Liste genommen, obwohl
der einzige Nichtgenosse, da er sich vor und während der Internierung sehr gut und
nützlich bewährt hat. Die Liste der Spanienfreiwilligen – fast alles Genossen – dient
zur Kenntnisnahme, wer jetzt noch alles im Lager ist. Personalnotizen von uns bezw.
Rückfragen werden wir mit Hilfe der Nummern erledigen.
III. Einige Informationen über die Ursache des falschen Schrittes unseres Hingehens
zur Registrierung der Ausländer am 7. September 1939, der zu unserer Festhaltung
konformen Lagerinsassen wurde die Unterstützung verweigert – bisweilen wurden sie auch öffentlich
denunziert, eine unter den herrschenden Umständen lebensbedrohliche Stigmatisierung (zur Direktive
siehe: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 115–116). Der Kampagne vorausgegangen war eine Kon-
ferenz des Internationalen Koordinations-, Informations- und Hilfskomitees für das Republikanische
Spanien in Paris (15.–16.7.1939). Hier engagierten sich Teilnehmer aus 34 Ländern für die Bürgerkriegs-
flüchtlinge, die Auflösung der Internierungslager sowie konkrete Hilfe für die in Spanien vor Gericht
gestellten Interbrigadisten wurde ein Hilfsfonds von 30 Millionen Francs eingerichtet.
84 Am 29.4.1940 wies Dimitrov Maurice Tréand und Eugen Fried telegrafisch an, dass die internier-
ten deutschen KP-Kader sich nach Schweden begeben sollten (siehe: Bayerlein/Narinskij/Studer:
Moscou-Paris-Berlin, S. 218), wozu es jedoch nicht kam. Dahlem erhielt im April 1941 die sowjetische
Staatsbürgerschaft, ihm wurde allerdings aufgrund eines Einspruchs von KPD-Seite die Aushändi-
gung des Passes verweigert. Im August 1942 wurde er an Hitlerdeutschland ausgeliefert, wo er bis zur
Befreiung durch die Alliierten im KZ Mauthausen inhaftiert blieb. Paul Merker hingegen gelang 1940
die Flucht aus dem Lager und 1942 die Ausreise nach Mexiko.
85 Punkt 19 des Waffenstillstandsabkommens zwischen Deutschland und Frankreich betraf die
„deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen“, die „unverzüglich den deutschen Truppen zu übergeben“
seien. Absatz 2 verpflichtete die Vichy-Regierung, eine Verbringung solcher Gefangener ins Ausland
zu verhindern (zum Text siehe: Dokumente über den Waffenstillstand mit Frankreich. In: Zeitschrift
für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1940), H. 10, S. 851–859, hier: S. 856).
Dok. 482: Le Vernet, 25.9.1940 1617
und Internierung führte.86 1./ Unser Aufenthalt bis zuletzt entsprang der Sorge, noch
bis zum letzten Moment das Land [Deutschland] zu informieren (Resolution zum sow-
jetisch-deutschen Nichtangriffspakt),87 alle Stellen abzuwickeln, zu sichern, und die
letzten Massnahmen zu treffen, das Land auf sich selbst zu stellen. Darauf können wir
mit ruhigem Gewissen zurückblicken.
2./ Auf Grund der Aussprache mit dem Freund, dem ich für Dich die Resolution
zum Pakt übergab, wo das Verbleiben in Frankreich für den Fall des Krieges noch
Perspektive war, verlangte ich von X.88 dringend Information, als Ende August das
Gesicht der Lage sich schnell änderte. Bei dem letzten Treff, Anfang September,
erhielt ich die Direktive „Nach der Haltung der französischen Freunde orientieren“.89
86 Am 4.9.1939 trat ein bereits vor der Kriegserklärung vorbereitetes Dekret der Regierung Daladier
in Kraft, nach dem alle 17–50jährigen Angehörigen Ausländer „die aus den Gebieten des Feindes“
stammten, sich in sog. „Sammelzentren“ registrieren lassen mussten. Gegen Widerstand in den ei-
genen Reihen forderte Dahlem dazu auf, dem Registrierungsbefehl zu folgen. Am 14.9.1939 wurde
diese Maßnahme auf die 50–65jährigen ausgeweitet. Zunächst wurden deutsche und österreichische
Staatsbürger (bis 50 Jahre) in Frankreich interniert, ob politische Exilanten, Hitler-Gegner oder nicht.
Entgegen der Moskauer Linie richtetete Dahlem mehrere Schreiben direkt an den französischen Mi-
nisterpräsidenten Daladier in denen er wie auch Münzenberg die Integration der KPD-Emigranten in
die französische Armee zur Bekämpfung Hitlers anbot bzw. forderte. In der KPD wurde er daraufhin
als Mitglied des Zentralkomitees suspendiert, über den Parteianwalt der KPF sollte Druck auf ihn
ausgeübt werden, damit er seine Erklärungen zurückziehe. Nach Kriegausbruch erließ die Komintern
an alle führenden KPD-Funktionäre in Frankreich die Direktive, sich in ein sicheres Land zu bringen.
Siehe: Peschanski: La France des camps, S. 99ff.; Bayerlein/Narinski/Studer/Wolikow: Moscou-Paris-
Berlin, S. 150 u.a.; Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 137.
87 Das Pariser Sekretariat der KPD erließ am 25.8.1939, anscheinend ohne Konsultierung mit der Ko-
mintern, eine Erklärung zum Nichtangriffspakt, die noch im alten Stil die traditionelle Forderung
„zum Sturz Hitlers und zur Erreichung eines freien Deutschlands“ aufrief. Der Text wurde 1939 nur in
kurzen Auszügen veröffentlicht, der volle Wortlaut erschien erst 1989 (siehe: Bayerlein: Der Verräter,
Stalin, bist Du, S. 131–133).
88 X.: Sehr wahrscheinlich Maurice Thorez, Generalsekretär der KP Frankreichs.
89 Dahlem beschrieb in einem späteren Kommentar die widersprüchliche Situation: „Auf dieser Ein-
schätzung des antifaschistischen Charakters des 2.Weltkrieges, wobei ich demselben Irrtum unterlag,
wie der Gen. Thorez, daß es in den ersten Septembertagen noch zu Verhandlungen der Westmächte
mit der Sowjetunion und doch noch zum Abschluß eines Vertrages der gegenseitigen Sicherheit vor
dem Aggressor und im Falle einer Aggression Hitlers zum Inkrafttreten des Bündnisses Polen-Frank-
reich und zum Kriege gegen das faschistische Deutschland kommen würde, entstand der Beschluß,
daß auch die wenigen Mitglieder der Auslandsleitung, die nicht zur legalen Politemigration gehör-
ten, sich in die Listen der Ausländer registrieren lassen, nachdem eine direkte operative Arbeit von
Frankreich nach dem Innern Deutschlands aufgrund der Bildung der Westfront nicht mehr möglich
war. Dieser Fehler entstand, nachdem ich auf Rückfrage beim Gen. Thorez am 1. September 1939 die
Antwort erhielt: Nach der Linie des ZK der KPF richten, konkret als ich am 2. September abends von
einem Mitglied des ZK der KP Frankreichs die Nachricht übermittelt erhielt, daß die kommunistische
Kammerfraktion am 3. September 1939 der Daladier-Regierung die Kriegskredite bewilligen werde
und danach alle Kommunisten, die Abgeordneten mit Gen. Thorez an der Spitze, als die besten Vater-
landsverteidiger zu ihren militärischen Einheiten einrücken werden. Das ist die Wahrheit. Ich rechne-
te damals mit einer ähnlichen Entwicklung, wie sie 1936 in Spanien eintrat, d. h. mit der Möglichkeit
1618 1939–1943
Dann wurde die Verbindung zu uns abgebrochen und funktionierte seitdem nicht
mehr. Eine andere Direktive hat mich nie erreicht, obwohl ich bis zum 6. September
zu erreichen war und dies indirekt weiterhin immer möglich gewesen wäre.
3./ Am 3. September erfuhr ich durch einen Freund – Abgeordneten – den ich auf-
suchte, dass die Kammerfraktion [der KPF] die [Kriegs-]Kredite bewilligen werde, und
dass M[aurice] T[horez] zur Truppe einrückt.
4./ Die Papiere für J[ean, d.i. Franz Dahlem] und F[eld, d.i. Paul Merker] erhielten
diese so spät, dass sie nicht nur nicht mehr brauchbar waren, sondern in der Situa-
tion als besonders gefährlich vernichtet werden mussten.
5./ Unter diesen Umständen: a) einer verwirrenden politischen Marschroute, die nicht
sofort als falsch erkannt wurde b) bei der Perspektive, dass Holland, Belgien, Schweiz
sofort Kriegsschauplatz werden würde und deshalb die Reise dorthin nicht zweck-
mässig sei, fassten wir den Beschluss zu manövrieren, um Zeit zu gewinnen in Frank-
reich zu bleiben und dann weiter zu sehen, was zu tun sei.
6./ Der Brief vom 4. September um Asylrecht ist der Ausdruck dieser Situation.90
Ebenso hatten wir die Illusion, dass die Registrierung der Ausländer nicht zur stän-
digen Festhaltung der Ausländer führen würde; wir hatten uns selbst ins Konzentra-
tionslager hineinmanövriert. Diese Einschätzung erwies sich als falsch, wir wurden
im Gegenteil, sofort einer Sonderabteilung übergeben.91 Der Brief vom 12. September
erfolgte als Protest und als Versuch, eine ministerielle Entscheidung in der Frage der
deutschen Politemigration zu erhalten.92 Am 16. September erfolgte Verhör von mir
in der Pariser Präfektur. Dort gab ich die programmatische Erklärung ab, wie sie im
einer antihitlerischen Tätigkeit der deutschen Politemigration in Frankreich.“ (zit. in Bayerlein: Der
Verräter, Stalin, bist Du, S. 137).
90 Am 4.9.1939 richtete Dahlem einen Brief an den französischen Premierminister Daladier, in dem
er gegen die drohende Internierung protestierte und das Recht der deutschen Emigration zur antifa-
schistischen Betätigung in Frankreich einforderte. Der Brief konnte bisher nicht eruiert werden. Nach
seiner eigenen Darstellung bat er darum, „(...) daß ihm und seinen politischen Feunden die Mög-
lichkeit zugestanden wird, in Frankreich eine unabhängige politische Arbeit gegen das Hitlerregime
unter den Bedingungen, die der Kriegssituation angepaßt sind, fortzusetzen.“ VKP(b) und Komintern
hatten jedoch den Antifaschismus infolge des Paktes bereits ad acta gelegt (Bayerlein: Der Verräter,
Stalin, bist Du, S. 134).
91 Die Internierung Dahlems erfolgte am 6.9.1939 (Heike Amos: Politik und Organisation der SED-
Zentrale 1949–1963: Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-
Apparat, Münster, Lit, 2003, S. 196).
92 In einem weiteren Brief an Daladier bekräftigte Dahlem am 12.9.1939 aus dem Sammellager heraus
seine Bitten und Forderungen vom 4.9.1939. Er beschwerte sich über die verschärften Bedingungen
seiner Internierung und der seiner politischen Freunde (SAPMO-BArch, Berlin, DY 30/9975, 73–74,
teilweise publ. in: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 135–136).
Dok. 482: Le Vernet, 25.9.1940 1619
Brief an den Innenminister vom 20. März 1940 wiederholt ist.93 Diese Linie entsprach
unserer Politik im Lager der 5.000 in Colombes94 und hatte zur Konsequenz die prak-
tische Haltung der antifaschistischen Kader in Frankreich zum Krieg und zur Sowjet-
union, die bekannt ist. Die Antwort der Regierung war unsere Internierung in Roland
Garros95 und Vernet.
7./ Seit September 1939 wurde nicht versucht, eine Verbindung mit uns aufzunehmen;
es kamen Gerüchte über die Verurteilung unserer Haltung (was noch zu verstehen
war) aber auch Gerüchte von einer Distanzierung uns gegenüber.96 Es blieb uns vor-
läufig nichts anderes übrig, als dies ruhig hinzunehmen. Wir führen den Zustand der
absoluten Passivität fast ein ganzes Jahr lang, den tausenden Antifaschisten im Camp
du Vernet97 gegenüber nicht nur auf die großen Schwierigkeiten, sondern auch auf
solche Einstellungen zurück. Das ist auch für alle hier anwesenden Mitglieder der
Sektionen eine Frage des Prestiges und der Autorität unserer verschiedenen Bruder-
parteien.
8./ Ueber meine spezielle Lage und Perspektiven (Nationalität) wird der Freund
berichten, ebenso über diejenige anderer Freunde. Wir nehmen an, dass Hala [d.i.
Amleto Locatelli?] geholfen wird nach Hause zu kommen, nachdem er zur Erholung
bei den Eidgenossen ist.
Herzliche Grüsse. Grüsse meinen Jungen von mir und seine Mutter, die ich alle 14 Tage
sehe, da jetzt Besucherlaubnis ist.98
Am 8.10.1940 legte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion neue Modalitäten für die Parteiorga-
nisationen der Kommunistischen Parteien Estlands, Lettlands und Litauens fest.99
93 Siehe: Berlin SAPMO-BArch, NY 4072/45/Bl. 35–39. Vgl. zum Ablauf: Amos: Politik und Organisati-
on der SED-Zentrale 1949–1963, S. 195ff.
94 In der Stadt Colombes bei Paris befand sich ein Internierungslager.
95 Das Tennisstadion Roland Garros (fr.: Stade Roland-Garros) im Westen von Paris wurde im Herbst
1939 zu einem Internierungslager umgebaut.
96 Die Erklärung vom 25.8.1939, und erst recht die Briefe Dahlems an Daladier, in denen er die Mög-
lichkeit eines antifaschistischen Einsatzes der Emigranten forderte, entsprachen nicht der neuen
Linie der Komintern nach Abschluss des Paktes mit Deutschland. Am 21.1.1940 forderte Dimitrov te-
legraphisch von Tréand, mittels eines Anwalts auf Dahlem einzuwirken, damit er seine Äußerungen
zurückziehe (Bayerlein/Narinskij/Studer u.a.: Moscou-Paris-Berlin, S. 150). Am 12.8.1940 wurde Dah-
lems Haltung von Moskauer ZK-Mitgliedern der KPD offiziell als „Kapitulation vor dem Klassenfein-
de“ verurteilt. Zum „Fall Dahlem“, auch im Lichte der Vorwürfe, die 1953 gegen ihn erhoben wurden,
und die fast zu einem Schauprozeß führten, siehe: Amos: Politik und Organisation, 188ff.).
97 Camp du Vernet (franz.): Lager von Le Vernet im französischen Pyrenäenvorland.
98 Franz Dahlems Frau Käte kam 1933 mit Tochter Luise und Sohn Robert nach Frankreich. Während
sich Robert 1935 in die Sowjetunion und Luise (als Frau von Karl Mewis) 1939 nach Stockholm be-
gaben, blieb Käte Dahlem in Frankreich und war von 1941 an in der Résistance aktiv (siehe: Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 142–143).
99 RGASPI, Moskau, 17/3/1028, 27.
1620 1939–1943
Am 11.10.1940 beschloss das sowjetische Politbüro zwecks Steigerung der Produktionsmenge von
Aluminium und Magnesium, Kommissionen von Experten nach Deutschland und in die USA zu ent-
senden.100
Qua Beschluss vom gleichen Tag wurde es dem Volkskommissariat für Textilwirtschaft gestattet, zwei
Spezialisten für die Dauer von zwei Monaten nach Deutschland zu entsenden.101
Auf Beschluss des Politbüros vom 25.11.1940 wurde der bisherige Bevollmächtigte Vertreter der
UdSSR in Deutschland, Aleksandr Škvarcev, durch Vladimir Dekanozov ersetzt.102
Am 30.11.1940 wurde ebenfalls durch einen Politbüro-Beschluss der Stabschef des Militärbezirks von
Charkow, V.I. Tupikov, als neuer Militärattaché bei der sowjetischen Vertretung in Deutschland ein-
gesetzt.103
100 APRF, Moskau, 3/64/670, 1. Publ. in: Sevostʼjanov: Moskva-Berlin, III, Dok. 298.
101 RGASPI, Moskau, 17/3/1028, 46.
102 RGASPI, Moskau, 17/3/1030, 33; APRF, Moskau, 3/64/638, 148. Publ. in: Ibid., Dok. 311. Aleksandr
Škvarcev wurde kurz darauf in der Sowjetunion umgebracht, Dekanosov wurde 1953 als Gefolgsmann
Berijas hingerichtet.
103 RGASPI, Moskau, 17/3/1030, 42.
1941
Dok. 483
Note Ulbrichts zur Lage der deutschen Politemigranten in der
Sowjetunion
[Moskau], 27.1.1941
Vertraulich! /3Ex/Bi.
Obwohl von den Werktätigen der Sowjetunion hohe Geldmittel für die Betreuung der
Politemigranten zur Verfügung gestellt wurden,1 ist infolge der falschen Methoden
der Arbeit der Mopr-Leitung und vieler Fehler in der Behandlung der Politemigran-
ten eine starke Stimmung gegen die Leitung der Mopr vorhanden. Genosse Bogda-
now und Genosse Sinekin2 fühlen sich nicht für die Politemigration verantwortlich,
sondern handeln nur als bürokratisches ausführendes Organ. Von Internationalis-
mus ist bei den genannten Genossen nicht viel zu merken.
1./ Die Genossen Bogdanow und Sinekin behandeln die Politemigranten nicht als
Kader der Partei, oder Genossen, die noch revolutionäre Aufgaben zu erfüllen haben,
oder die als langjährige Parteiarbeiter nur noch teilweise arbeitsfähig sind, sondern
meist als lästige Leute.
Die Situation unter den deutschen Politemigranten ist deshalb besonders schwie-
rig, weil wir verhältnismässig viele ältere Funktionäre haben und Frauen, die nur
teilweise arbeitsfähig sind. Dazu kommt, dass es viele Frauen von Verhafteten gibt.
Darunter sind gute Genossinnen.3 Auch ihnen und ihren Kindern verweigert die Mopr
1 Die sowjetische Sektion der Roten Hilfe (MOPR) war durch ihre hohen Mitgliederzahl die wichtigste
finanzielle Stütze der internationalen Aktivitäten der Roten Hilfe (vgl. Kurt Schilde: ‚Sanitätskolonne
im Klassenkampf‘. Die Internationale Rote Hilfe und ausgewählte nationale Sektionen im Vergleich.
In: Sabine Hering/Berteke Waaldijk (Hrsg.): Die Geschichte der Sozialen Arbeit in Europa. 1900–1960.
Wichtige Pionierinnen und ihr Einfluss auf die Entwicklung internationaler Organisationen, Opla-
den, Verlag Leske + Budich, 2002, S. 135–146, hier v.a. 143–144).
2 M.A. Bogdanov löste 1938 Elena Stasova als Vorsitzende des ZK der MOPR, der sowjetischen Sekti-
on der IRH, ab. In der Literatur sind keine weiteren Angaben zu ihm überliefert (vgl. Tischler: Flucht
in die Verfolgung, S. 194; Anatolij I. Avrus: MOPR v bor’be protiv terrora i fašizma 1922–1939, Saratov,
Izdatel’stvo Saratovskogo universiteta, 1976, S. 228). Über Sinekin waren Angaben über seine Lebens-
daten oder über seine Funktion in der MOPR nicht zu eruieren.
3 Zu Ulbrichts beschämender Denunziation eben derselben Frauen verhafteter KPD-Mitglieder siehe
Dok. 485.
1622 1939–1943
Hilfe, selbst wenn sie mit dem Mann schon seit 10 Jahren nichts mehr zu tun hatten.
Besonders starke Unzufriedenheit hat die Not einer Anzahl Kinder hervorgerufen.4
(Alles Tatsachenmaterial darüber haben wir mit konkreten Vorschlägen der Leitung
der Mopr übermittelt. Als das nicht genügte, haben wir Protokolle über die Lage ein-
zelner Politemigranten angefertigt und von drei Genossen unterschreiben lassen.)
2./ Es ist notwendig, festzulegen, dass die Leitung der Mopr für die Arbeitsbeschaf-
fung, für die materielle Hilfe und in gewissem Masse auch für die politische Entwick-
lung der Politemigranten verantwortlich ist. Darüber hinaus trägt sich auch die Ver-
antwortung für die anderen Emigranten, die aus verschiedenen Gründen nach der
Sowjetunion kamen, aber gegenwärtig nicht in ihr Land zurückkehren können. Die
Mopr soll mit Hilfe des Parteikomitees der WKP(B) im Betrieb und mit Hilfe des Mest-
koms5 dahin wirken, dass die Politemigranten enger mit dem Sowjetleben verbunden
werden und an der gesellschaftlichen Arbeit im Betrieb teilnehmen. Die politische
Schulung über die Fragen ihres Landes und das Studium der Geschichte der WKP(B)
soll unter verantwortlicher Leitung des Parteivertreters und im Einvernehmen mit der
Propagandaabteilung des EKKI geschehen. Die bereits begonnenen Konsultationen
sollen noch ausgebaut und auch noch mehr Schulungsmaterial an die in der Provinz
lebenden Genossen geschickt werden.
3./ Die Mopr soll alle Anträge der Politemigration möglichst selbständig erledigen. Bei
Zweifelsfällen soll sie nicht die Politemigranten an die Komintern verweisen, sondern
selbst bei der Kaderabteilung des EKKI oder beim Parteivertreter Informationen ein-
ziehen.
Da Genossen der Bruderparteien nicht mehr im Mopr-Apparat angestellt sind,
aber die dort beschäftigten Genossen die Politemigranten nicht genügend kennen,
sollen die Parteivertreter Genossen bestimmen, die in der Sprechstunde der Mopr
anwesend sind und die Mopr-Vertreter konsultieren, sowie bei der Erledigung schrift-
licher Anträge aus der Provinz mitberaten.
4./ Es ist notwendig, die Lage einer Reihe Politemigranten und Jugendlichen, die in
Moskauer Betrieben arbeiten über ihre materiellen Lebensbedingungen, Entwicklung
ihrer beruflichen Qualifikation, ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und ihre
politische Entwicklung zu überprüfen. Es ist zweckmässig dazu zeitweilige Kommis-
sionen zu schaffen, die ähnlich arbeiten wie jene Kommissionen die nach der Provinz
4 Eine Reihe von Fällen materieller Not von Kindern infolge von Verhaftungen ihrer Eltern in der
Sowjetunion sind überliefert, sofern sie nicht in NKVD-Waisenhäuser eingeliefert wurden. So schrieb
Dimitrov am 23.2.1939 an den stellvertretenden NKVD-Chef Vsevolod Merkulov, die drei Kinder des
1935 verstorbenen polnisch-litauischen Kommunisten Vincas Mickiewicz-Kapsukas seien nach der
Verhaftung ihrer Mutter „faktisch zu Straßenkindern geworden“ (RGASPI, Moskau, 495/73/76, 17–20).
5 Mestkom: Abkürzung für russ. mestnye komitety (Ortkomitees).
Dok. 483: [Moskau], 27.1.1941 1623
entsandt wurden.6 (Ein Vertreter der Mopr – dazu wäre Genosse Slepow geeignet7
– ein Vertreter von WCSPS, ein Vertreter der Kaderabteilung des EKKI und der betref-
fende Parteivertreter.) Diese Kommission, die im Auftrage des Moskauer Parteikomi-
tees arbeiten müsste, kann viele Fragen unmittelbar mit den zuständigen Organen im
Betrieb erledigen. Ausserdem ist notwendig, die Ueberprüfung der Lage eines Teiles
der Politemigranten, die als Heimarbeiter beschäftigt sind oder krankheitshalber nur
zeitweise arbeiten. Diese Massnahmen sind notwendig, um gewisse Fehler zu korri-
gieren und das bestehende Misstrauen gegen die Leitung der Mopr zu überwinden.
5./ Grosse Schwierigkeiten sind entstanden infolge von Fehlern in der Arbeitsvermitt-
lung. Zum Teil beruhen diese darauf, dass die Mopr nicht genügend Verbindungen
hat und deshalb Politemigranten zu Arbeiten vermittelt, zu denen sie physisch nicht
fähig sind. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Arbeitsvermittlung sich in den ein-
zelnen Fällen nicht wochenlang hinzieht. Das ist nur möglich, wenn die bei WCSPS
bestehende Kommission voll mitverantwortlich ist für die Arbeitsvermittlung für die
Emigranten. Ein Teil der Politemigranten weigerte sich, in die Provinz zu fahren, weil
sie nach kleinen Orten vermittelt wurden, wo die Lebensbedingungen schwierige
waren und sie infolge Sprachschwierigkeiten isoliert waren.
6./ Es ist notwendig, dass von Zeit zu Zeit Zusammenkünfte der Politemigranten der
einzelnen Länder durchgeführt werden, in denen solche Fragen behandelt werden,
über die sie im Betrieb nicht genügend informiert werden. (Das betrifft die Politemig-
ranten, die nicht an der Abendschule teilnehmen.)8
7./ Dem Komsomol sollte mitgeteilt werden, welche Jugendlichen von Politemigranten in
den einzelnen Betrieben und Schulen tätig sind, für deren Entwicklung der Komsomol
eine gewisse Verantwortung hat. Ausserdem ist es notwendig, diese Jugendlichen beson-
ders zusammenzufassen, um sie spez[iell] zu schulen über die Fragen ihres Landes.
8./ Eine Anzahl alte Parteifunktionäre sind Invalid. Die Genossen weigern sich
zumeist, in Invalidenheime zu gehen weil sie dort vielfach mit Schwerkranken
zusammen sind und sich isoliert fühlen. Schon vor einem Jahr wurde mit der Mopr
6 Nachdem Ende 1939 im Zusammenhang mit dem Pakt und dem Finnlandkrieg eine Reihe von Po-
litemigranten aus Moskau in die Provinz ausgesiedelt wurden, sandte die MOPR zwischen 1939 und
1941 mehrere Beauftragte dorthin, um ihre Lebenssituation und politische Haltung zu überprüfen
(siehe: Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 151–152).
7 Auch über Slepov und seine Funktion in der MOPR sind keine Angaben eruierbar. Die Übergabe von
Schlüsselpositionen in der wichtigsten Sektion der IRH an scheinbar marginale, mit der internatio-
nalen Bewegung nicht verbundene Funktionäre ist bezeichnend dafür, wie die einstmals populärste
sowjetische „freiwillige“ Massenorganisation der 1920er Jahre im Hochstalinismus an die Peripherie
rückte. Zur MOPR als sowjetischer Massenorganisation siehe: Il’ina: Obščestvennye organizacii, S.
112, 135–136 u.a.
8 Im Oktober 1940 wurden in den Räumen der MOPR Abendkurse für KPD-Mitglieder eingerichtet,
die von Ulbricht und Ackermann geleitet wurden und bis zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion
durchgeführt wurden (siehe: Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 162).
1624 1939–1943
besprochen, dass es notwendig ist, Räume zu beschaffen in denen die alten Genossen
untergebracht werden können.
9./ In Bezug auf das Kinderheim in Iwanowo9 müsste nachgeprüft werden, ob der
Direktor für diese Funktion geeignet ist; es müsste dafür gesorgt werden, dass die
Kinder in ihrer nationalen Sprache unterrichtet und über die Fragen ihres Heimatlan-
des informiert werden. Zum Beispiel gibt es im Kinderheim in Iwanowo eine deutsche
Genossin, die aber wahrscheinlich aus finanziellen Gründen nur teilweise für diese
Aufgabe ausgenutzt wird. Für die Jugendlichen, die im Emigrantenheim in Moskau
leben,10 müsste ein spezieller Genosse als Erzieher verantwortlich gemacht werden,
der im Heim wohnt.
Am 30.1.1941 wurde Lavrentij Berija vom Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion zum „Generalkom-
missar der Staatssicherheit“ ernannt.11
Dok. 484
Beschluss des Sekretariats zum Budget der Komintern für das Jahr
1941
[Moskau], Ende Januar 1941
I. Das Budget des EKKI für das Jahr 1941, vorgelegt von der Kommission unter Berück-
sichtigung der Änderungen, die von der Kommission und dem Sekretariat einge-
bracht wurden, in Höhe von 8.461.900 Rubel zu bestätigen für die Einzelposten:
9 Das Internationale Kinderheim in Ivanovo wurde im Mai 1933 von der MOPR eröffnet. Es beherberg-
te zunächst vor allem Waisenkinder von Antifaschisten aus Deutschland, Ungarn etc. und während
des Spanischen Bürgerkriegs verstärkt „Spanienkinder“. Das Kinderheim existierte, wenn auch nicht
unter der Ägide der MOPR, auch nach der Auflösung der Komintern weiter; es überlebte sogar die So-
wjetunion (siehe die zeitgenössische Schilderung: Fritz Beyes: Das Haus in der Sonne, Paris, Editions
Universelles, 1935).
10 Das Emigrantenheim der MOPR in Moskau wurde errichtet, um Emigranten, die ohne eine Kom-
mandierung der Komintern oder einer anderen Institution nach Moskau gekommen waren, einen
Wohnraum zu bieten. Es bot Platz für ungefähr 200 Personen (Siehe: Tischler: Flucht in die Verfol-
gung, S. 28).
11 RGASPI, Moskau, 17/3/1033, 31.
Dok. 484: [Moskau], Ende Januar 1941 1625
II. Den von der Kommission vorgelegten Finanzplan des EKKJI12 für das Jahr 1941 in
Höhe von 1.161,8 Tsd. Rub. (Eine Million Einhunderteinundsechzig Tausend Achthun-
dert Rubel) zu bestätigen.
[Sign.:] Dimitrov, Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti], Gottwald, Pieck, Marty, Dolores [Ibár-
ruri], Florin.
Am 3.2.1941 bestätigte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Ernennung Lavrentij Berijas
zum Volkskommissar für innere Angelegenheiten, sowie von Vsevolod Merkulov zum Volkskommissar
der Staatssicherheit, durch den Obersten Sowjet der UdSSR.13 Am 13.2.1941 wurden Berija und Lazarʼ
Kaganovič per Politbüro-Beschluss zu Mitgliedern des Wirtschaftsrates beim Rat der Volkskommissa-
re ernannt.14
Am 14.2.1941 wurde seitens des Politbüros der Verteilungsschlüssel für die 4. Ausgabe der Gesam-
melten Werke Lenins beschlossen. Zur Hälfte sollten die Bände in den Handel kommen, der Rest sollte
vorrangig Stadt-, Regional- und Hochschulbibliotheken zugeteilt werden.15
Dok. 485
Brief Ulbrichts an Dimitrov über angebliche antisowjetische
Aktivitäten der Frauen verhafteter deutscher Kommunisten
[Moskau], 28.2.1941
AN GENOSSEN BERIJA
Mit Genossengruß,
(G. DIMITROV)
28.2.1941
Anlage: Brief der Vertretung der KP Deutschlands beim EKKI, Brief von Beyes F.16
GEHEIM17
vorgehen, ist in der beiliegenden Mitteilung von Frida Beyes19 (wohnhaft Moskau 14,
Sokolnitscheskaja uliza, Haus 11, Wohnung 61)20 zu ersehen. Die Bemerkung des
deutschen Agenten, der sie aufsuchte, er befördere derartige Briefe persönlich bei
seinen Reisen zwischen Moskau und Berlin, um sie der Kontrolle zu entziehen, war
eindeutig provokatorisch gemeint.
Außerdem haben wir erfahren, dass Martha Kühne, die im Hotel Lux gewohnt hat,
am 17. Oktober nach Deutschland abgereist ist.21 Kurz bevor sie aufbrach, hielt sich am
Eingang des Seitenflügels des Lux längere Zeit ein elegant gekleideter Herr auf. Martha
Kühne sprach mit ihm, und er übergab ihr einen Brief. Es wurde festgestellt, dass der
Brief von Emmy Schweitzer (der Frau des Verhafteten Schulte) stammt, die nach Deutsch-
land zurückgekehrt ist.22 Der Brief war an Elfriede Franke23 adressiert, die bereits vor
mehreren Monaten in der deutschen Botschaft einen Antrag auf Rückkehr gestellt und
einen deutschen Pass erhalten hat (Wieso hat eine Gegnerin der Sowjetunion eigentlich
noch eine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau?). Der Mann, der den Brief übergeben
hat, logiert angeblich im Hotel Metropol und gibt sich als deutscher Ingenieur aus. Man
kann davon ausgehen, dass auch er privat Briefe befördert.
Im Wohnhaus des Elektrowerkes wohnt eine gewisse Baumert, die in Privatgesprä-
chen antisowjetische Propaganda betreibt.24 Da sie in Moskau weit verzweigte Verbin-
dungen unterhält, hat sie genügend Möglichkeiten, ihre antisowjetischen Ansichten
19 Frida Beyes, geb. Kupke (1903–1980), war die Frau des deutschen Kommunisten und Pädagogen
Fritz Beyes, der im August 1937 verhaftet und 1942 im Lager ermordet wurde. Sie wurde 1941 mit ihren
zwei Kindern nach Sibirien verbannt und kehrte 1947 in die SBZ zurück (siehe: Weber/Herbst: Deut-
sche Kommunisten, S. 113).
20 In den 1930er Jahren gab es in Moskau fünf Straßen mit der Bezeichnung „Sokolʼničeskaja ulica“.
Denkbar wäre die „5-ja Sokolʼničeskaja“, wo in Haus Nr. 11 laut Recherchen der Menschenrechtsorgani-
sation „Memorial“ ein KPD-Mitglied verhaftet wurde (siehe: http://mos.memo.ru/shot-58.htm#s1).
21 Martha Kühne (1888–1961), die Lebensgefährtin des 1938 erschossenen KPD-Funktionärs Bern-
hard Richter, war von 1933 bis 1937 Mitarbeiterin des Marx-Engels-Lenin-Instituts (Tischler: Flucht
in die Verfolgung, S. 45). Sie wurde nach ihrer Rückkehr nach Deutschland verhaftet und verbrachte
die weiteren Jahre in Gefängnissen und Lagern, zuletzt im KZ Ravensbrück, aus dem sie 1945 befreit
wurde (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 509).
22 Gemeint ist Gertrud Schulte, geb. Schorn, die Frau des KPD-Funktionärs und ehemaligen Reichs-
leiters der RGO Fritz Schulte. „Schweitzer“ war das Pseudonym Fritz Schultes auf der „Brüsseler Kon-
ferenz“ der KPD (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, 2008, S. 841). Von Emmy Schweitzer
ist ein Brief vom 2.2.1940 an die deutsche Vertretung im EKKI überliefert, worin sie ihren Schritt, bei
der deutschen Botschaft einen Pass zu beantragen, bereute und den Kontakt suchte. Da die deutsche
Vertretung offenbar nicht bzw. zu spät reagierte, reiste Schweitzer am 4.5.1940 (Datum laut Herbert
Wehner) nach Deutschland ab (siehe: Reinhard Müller: Die Akte Wehner: Moskau 1937 bis 1941, Ber-
lin, Rowohlt, 1993, S. 396–397).
23 Möglicherweise die Frau des deutschen Kommunisten Ernst Franke, der 1937 in der Sowjetunion
verhaftet wurde (siehe: Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 262).
24 Bei der „gewissen Baumert“ handelte es sich um Emilie Baumert, die Frau des 1938 in der So-
wjetunion erschossenen deutschen Kommunisten Wilhelm Baumert, die Ulbricht sehr wohl aus der
gemeinsamen Parteiarbeit in Deutschland kannte. Als die Baumerts 1932 in die Sowjetunion kamen,
war Ulbricht sogar derjenige, der für sie bürgte (siehe: Sergej Shurawljow: „Ich bitte um Arbeit in der
1628 1939–1943
Sowjetunion“. Das Schicksal deutscher Facharbeiter im Moskau der 30er Jahre. Aus dem Russischen
von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann, Berlin, Ch. Links Verlag, 2003, S. 139–140).
25 Emilie Baumert arbeitete bis 1937 in der Bibliothek der österreichischen Schutzbündler in Moskau,
denen nach 1934 in der Sowjetunion Exil gewährt wurde, wodurch sie einen großen Bekanntenkreis
hatte, „der sich vom normalen sozialen Umfeld der meisten Angehörigen der Ausländerkolonie deut-
lich unterschied.“ (ibid., S. 139).
26 Die Personalie ließ sich nicht eruieren. Möglicherweise handelt es sich um eine Angehörige Kurt
Gerberichs, eines Lehrers und Gemeindevorstehers, der nach Angabe einer Exilpublikation im Januar
1934 als Opfer der Nationalsozialisten „in den Selbstmord getrieben“ wurde (siehe: Katharina Schlie-
per (Hrsg.): Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Ein
Tatsachenbericht. Erweiterter Reprint der Originalausgabe von 1936 aus dem Pariser Exil, Hamburg,
Laika, 2012, S. 309).
27 Bühren: Russ. Transliteration: „Bjuren“. Nach Carola Tischler handelte es sich um Gertrud Büh-
ren (Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 153). Möglicherweise verwandt mit Friedrich und/oder Karl
Robert Bühren, die beide 1937 in der Sowjetunion umkamen (siehe: Meschkat/Buckmiller: Biographi-
sches Handbuch, Datenbank).
28 Vystavočnyj pereulok, heute: ulica Akademika Petrovskogo, Straße in Moskau in der Nähe des
Leninskij prospekt. In Haus Nr. 16a wohnten sehr viele Angehörige ethnischer Minderheiten (vor
allem Juden, Ungarn und Deutsche). Dementsprechend waren die Bewohner stark vom Terror betrof-
fen. Nach Angaben von Memorial wurden 30 Personen aus dem Haus hingerichtet (siehe: http://mos.
memo.ru/shot-1.htm#s6).
29 Der deutsche Kommunist Otto Ackermann (geb. 1891) wurde 1936 im Zusammenhang mit der
„Gruppe Willi Leow“ verhaftet. Siehe Dok. 399.
Dok. 485: [Moskau], 28.2.1941 1629
die sich Rothe [phon.] nennt. Kontakt zu Käthe Raab unterhält ebenfalls ein gewisser
Wulsch [phon.], der nach uns vorliegenden Informationen Agent ist.30
Die Agenten agitieren offenbar für die Rückkehr nach Deutschland, um dort antiso-
wjetische Propaganda zu verbreiten. Mit der Rückkehr soll bewiesen werden, dass ehe-
malige Kommunisten lieber in Deutschland als in der UdSSR leben. Zugleich will man
erreichen, dass die Frauen der Verhafteten bei ihrer Rückkehr nach Deutschland alle
möglichen Schauergeschichten über die Lage der Häftlinge in der Sowjetunion erzäh-
len. Wie Tatsachen zeigen, wird dies als Verfolgung der KP Deutschlands dargestellt.31
Bereits bei der Rückkehr der Frau des verhafteten Eberlein32 haben wir darauf hin-
gewiesen, dass es nach unserer Meinung in solchen Fällen falsch ist, die Ausreise zu
gestatten. In der Tat war diese Frau die erste, die dann weitere Rückreisen organisiert
hat. Wir sind der Meinung, dass man in jedem Einzelfall entscheiden muss, ob die
Ausreise gestattet wird oder nicht. Gegenwärtig haben solche Feinde noch Aufent-
haltsrecht in Moskau.33
Angesichts der Informationen über antisowjetische Propaganda in bestimmten
Kreisen und die Rückkehr nach Deutschland halten wir es für notwendig, die MOPR
darauf hinzuweisen, dass sie die Hilfeersuchen von Politemigranten sorgfältiger prüft,
damit Gegner keine Möglichkeit erhalten, die vorhandenen Schwierigkeiten auszunut-
zen. Unter den Frauen und Kindern von Verhafteten sind Frauen, die sich trotz ihrer
schwierigen Lage als gute Kommunistinnen erwiesen haben und weiterhin KPD-Mit-
glieder sind. Wir meinen, diese Frauen und Kinder sollte man wie Emigranten behan-
deln und sie nicht, wie das jetzt geschieht, zurückstoßen, weil sie früher mit einem Ver-
hafteten verheiratet waren oder eine gewisse Zeit in einer Beziehung zu ihm standen.34
Diese Information erscheint teilweise vielleicht nicht ganz verständlich, weil wir
die genannten Fälle nicht selbst gründlich prüfen konnten, denn alle diese Perso-
nen haben mit unseren Parteifunktionären nichts zu tun.35 Wir hoffen, dass diese
Angaben Anlass für weitere Ermittlungen in diesen Fällen geben.
Wir bitten die zuständigen Organe von diesen Sachverhalten zu informieren,
damit sie die Maßnahmen ergreifen können, die sie für notwendig erachten.36
Am 6.3.1941 fasste das sowjetische Politbüro einen Beschluss zur personellen Zusammensetzung
der sowjetischen Delegation in der russisch-deutschen Grenzkommission zur Neubestimmung des
deutsch-sowjetischen Grenzverlaufs vom Fluss Igorka zur Ostsee.38
Dok. 486
Referat Dimitrovs im Sekretariat des EKKI über die italienisch-
deutsche Frage und die Perspektiven einer europäischen
Revolution
[Moskau], 7.3.1941
Diskussion 10/Bö.
Genosse Dimitroff:
In der deutschen und italienischen Frage gibt es eine Reihe von taktischen Problemen,
die einer ernsten Prüfung bedürfen. Es wurde schon früher gesagt – und auch jetzt vom
Genossen Bianco, dass die Lage in Italien ganz verschieden ist von der Lage in Deutsch-
land und dass auch verschiedene Probleme stehen. Es war die Meinung vorhanden,
dass die deutsche Frage und die italienische separat von verschiedenen Kommissionen
behandelt werden sollten. Ich bin der Meinung, dass trotz der Verschiedenheit der Lage
und trotzdem verschiedene Probleme stehen, auch eine Reihe von wichtigen Fragen vor-
handen sind, die gemeinsam stehen für beide Länder in der jetzigen Situation, im jetzi-
gen Kriege und die Entwicklung in Italien kann bedeutend die Entwicklung in Deutsch-
land und umgekehrt beeinflussen. Darum sollten auch die Fragen der beiden Länder
Deutschland und Italien durch eine gemeinsame Kommission untersucht und bespro-
chen werden. Die Kommission soll die konkreten politischen Fragen der deutschen und
italienischen Partei separat behandeln. Die Kommission soll die Fragen der Perspektive
und andere grosse politische Fragen prüfen. In der Kommission selbst darf man nicht
den einfachen und geraden Weg suchen, wie Genosse Pieck und einige andere Genos-
sen hier erklärt haben.40 Man kann nicht die Lage, wie sie in dem jetzigen Kriege ist und
ausgehend von diesem Kriege so darstellen, dass man sich auf eine gemeinsame und
gleichzeitige europäische oder internationale Revolution orientieren müsse.
Es ist so, dass vielleicht einige von den Ländern, die an diesem Kriege teilnehmen,
weggehen, aus dem Kriege herausgehen durch Kämpfe und Bewegungen in diesen
Ländern selbst, ohne noch zu einer proletarischen Revolution zu kommen.41
Ob Mussolini durch eine proletarische Revolution oder auf eine andere Art
gestürzt wird, kann man jetzt nicht mit Bestimmtheit entscheiden. Viele ganz uner-
wartete Ereignisse sind möglich. Klar ist nur, dass die Kommunistische Partei alles tun
muss, um die Kräfte des Volkes gegen die Kriegsführung Italiens zu konzentrieren,
ausser dem Proletariat und der Bauernschaft, auch einen Teil der Bourgeoisie, auch
einen Teil der faschistisch orientierten Massen gegen die Weiterführung des Krieges
und die deutsche Vormundschaft mobilisieren. Notwendig ist, dass diese Kräfte einen
Kampf organisieren und alle Möglichkeiten der Entwicklung des Krieges ausnützen
zum Sturz des faschistischen Regimes und der Weiterentwicklung zum Siege einer
proletarischen Revolution.
Eine Reihe solcher Fragen inbezug auf die politische und taktische Orientierung
soll in der Kommission besprochen und geklärt werden und dann ein Dokument von
der italienischen Partei sowie von der deutschen Partei vorgelegt werden, das eine
Reihe konkreter Massnahmen für die Arbeit, die Entwicklung und die Festigung der
Parteien und des Kampfes in beiden Ländern festlegt.42
Dok. 487
Notizen Ulbrichts zur Diskussion im Kominternorgan Die Welt über
„Arbeiterklasse und Nation“
[Moskau], [19.3.1941]
In der „Welt“ vom 28. Februar 1941 teilt die Redaktion mit, dass in der Zeitschrift die
nationale Frage aufgerollt sei und spricht die Erwartung aus, dass viele Leser und Mitar-
beiter zu diesem Problem Stellung nehmen werden. Der Ausgang der Diskussion ist ein
Artikel von Genossen Seydewitz.45 Eine Diskussion in der Zeitschrift „Die Welt“ kann
sehr nützlich sein, wenn die Redaktion weiss, wohin sie mit der Diskussion will. Aus
42 Als Ergebnis der Diskussion wurden „Direktiven für die politische und organisatorische Arbeit der
KPI“ ausgearbeitet und am 24.4.1941 bestätigt. Darin wurde die KP Italiens aufgefordert, die Unzufrie-
denheit der Massen in einen politischen Kampf gegen das Mussolini-Regime umzulenken (RGASPI,
Moskau, 495/18/1331, 78–97).
43 Die Welt. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung. Bulletin der Kommunistischen
Internationale. Die Wochenzeitschrift der Komintern erschien von 1939 bis Mai 1943 in Stockholm.
Sie war in erster Linie für Deutschland, Dänemark und Norwegen konzipiert. Als Herausgeber des
Nachfolgeorgans der Rundschau fungierte der in Galizien geborene österreichische Kommunist Jakob
Rosner (Ps. Franz Lang, 1890–1970).
44 Auf dem Dokument befindet sich der folgende handschriftliche Vermerk Dimitrovs in russischer
Sprache: „Dringend Gen. Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti], Fürnberg, Friedrich [d.i. Bedřich Geminder]
zeigen. 20.3.41 GD“.
45 Max Seydewitz (1892 Forst, Lausitz – 1987 Dresden). Deutscher linker Sozialist und Publizist. Nach
SPD und SAP Mitte der dreißiger Jahre wurde er zum Exponenten der KPD-Vorstellungen in der “Deut-
schen Volksfront„. Der Artikel von Kraft (d.i. Max Seydewitz) wird hierin als „Beitrag des bekannten
sozialistischen Politikers Michael Kraft“ eingeführt. Im Artikel wird als Lehre aus den Fehlern der
Sozialdemokratie die zentrale Aufgabe der Arbeiterbewegung hervorgehoben, nicht nur den Feind im
Innern, sondern auch jeden Angriff ausländischer Imperialisten auf die Lebensinteressen des eigenen
Dok. 487: [Moskau], [19.3.1941] 1633
dem ersten Antwortartikel von Genossen Arndt [d.i. Karl Mewis] geht hervor, dass die
Redaktion mit ihm gesprochen hat.46 Diese „Diskussion“ wird jetzt geführt als persönli-
cher Meinungsaustausch zwischen Kommunisten. Eine Diskussion mit Seydewitz, der
uns sehr nahe steht, hat politisch nur einen Sinn, wenn der Zweck der Diskussion ist
mit seiner Hilfe die Sozialdemokraten zu überzeugen, d. h. gegen den falschen Stand-
punkt des Sozialdemokratismus in der nationalen Frage zu polemisieren.47
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die dortige Redaktion die Diskussion aus
freiem Ermessen begonnen hat. Durch die Art wie jetzt die Diskussion geführt wird,
kann die vorhandene Verwirrung nur vergrössert werden.
1. Bei der Frage der nationalen Interessen des deutschen Volkes muss davon ausgegan-
gen werden, dass Land und Volk durch diesen imperialistischen Krieg ruiniert werden.
Man muss anknüpfen an die unmittelbaren Interessen der Volksmassen in Deutsch-
land und kann nicht in den Mittelpunkt stellen die Frage der okkupierten Länder.
2. Muss hervorgehoben werden, dass das Hindernis für die Herbeiführung eines
Volksfriedens die imperialistischen Raubinteressen der herrschenden Klasse, die
Okkupation fremder Länder ist.
3. In dem Artikel wird nicht berücksichtigt, dass breite Massen Furcht haben vor einer
Zerstückelung Deutschlands. Es wäre wichtig im Zusammenhang mit dieser Frage an
die ausgezeichneten Erklärungen auf dem englischen Volkskongress48 anzuknüpfen
und zu betonen, dass die englischen Imperialisten nicht imstande sein werden, ihre
Volkes zurückzuschlagen (Michael Kraft: Beitrag zum Problem: Arbeiterklasse und Nation. In: Die
Welt 3 (1941), Nr. 4, 24.1.1941).
46 Der von der Parteiführung stark kritisierte Karl Mewis hatte in seiner Antwort an Seydewitz den
Standpunkt begrüßt. (K. Arndt: Zum Problem Arbeiterklasse und Nation. In: Die Welt 3 (1941), Nr.
9). Dort heißt es: „Es hat vielmehr den Anschein, als wolle Kraft der deutschen Arbeiterklasse eine
Gleichzeitigkeit des Kampfes gegen den „einheimischen“ und „ausländischen“ Imperialismus emp-
fehlen. In dieser abstrusen, jedoch typischen „Diskussion“ versucht Ulbricht implizit, entsprechend
der sowjetischen Außenpolitik und des Bündnisses der Sowjetunion mit Hitlerdeutschland die These
von England als zu bekämpfendem Feind zu stärken und die deutschen kriegerischen Besetzungen
anderer Länder zu verharmlosen.
47 Der frühere SPD-Politiker und SAP-Mitbegründer Seydewitz war 1933/34 im Prager Exil insgeheim
der KPD beigetreten. Ab September 1940 in Stockholm, wurde er von Hermann Matern zur Mitarbeit
an Die Welt herangezogen, wo er unter den Pseudonymen K. A. Frankenberg, Michael Kraft, M. Schö-
nerer und M. Kolbe schrieb (siehe: Michael F. Scholtz: Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nach-
exil und Remigration; die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in
der SBZ/DDR, Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2000 (Historische Mitteilungen – Beihefte 37), S. 373).
48 Volkskongress: Unter dem Motto einer „Volksregierung“ trat die von Denis Nowell Pritt reprä-
sentierte und von von der KP Großbritanniens dominierte Volkskongreßbewegung in den Jahren
1941/1942 (engl. „People‘s Convention“) gegen die Regierung der Reichen und für eine Verständigung
mit der Sowjetunion auf. Weitere Forderungen waren ein „Volksfriede“, Nationalisierungen und die
Unabhängigkeit Indiens. Das britische Kriegskabinett verbot daraufhin die Parteizeitung Daily Worker
mit der Begründung, sie agitiere gegen den Krieg und helfe Hitlerdeutschland. Die von der Labour
Party und dem TUC scharf bekämpfte Initiative wurde 1942 wieder aufgegeben.
1634 1939–1943
Armeen gegen ein von der kapitalistischen Herrschaft befreites Deutschland in Bewe-
gung zu bringen, gegen ein Deutschland, in dem das arbeitende Volk die Garantien
für einen Volksfrieden schafft.
4. Die Polemik richtet sich gegen eine Formulierung von Seydewitz die besagt, dass das
nationale Interesse des deutschen Volkes nicht nur den Kampf gegen die eigenen Aus-
beuter und Imperialisten, sondern auch gegen deren ausländische Gesinnungsgenos-
sen erfordert. Zweifellos ist die Formulierung nicht richtig, denn der Kampf wird nicht
„ebenso“ geführt. Es wäre aber auch falsch den Eindruck zu erwecken als ob wir in einer
Front stehen mit der englischen Propaganda. Wir führen eine selbständige Politik, die
den Interessen der deutschen Arbeiterklasse, des deutschen Volkes und dem internati-
onalen Proletariat entspricht. Wir müssen deshalb auch gegen eine gewisse englische
Propaganda Stellung nehmen, die in Deutschland unter den Sozialdemokraten, Katho-
liken und in der Intelligenz Anhänger zu gewinnen sucht für die Politik jenes Teiles der
Bourgeoisie, der eine Verständigung mit dem englischen Imperialismus erstrebt und
die Sowjetunion und den Bolschewismus als Hauptfeind betrachtet.49
5. Es wird gesagt, dass die Niederlage der Bourgeoisie nicht den Sieg der englischen
Imperialisten über Deutschland bringe, sondern erst die Mobilisierung aller nationa-
len Kräfte für die Verteidigung des Landes ermögliche. Diese Schiefheiten kommen
deshalb, weil die Frage des Kampfes um den Volksfrieden und die Erklärung welche
Kräfte diesen Volksfrieden erkämpfen und sichern müssen, nicht im Mittelpunkt
der Diskussion steht. Statt das herrschende Regime anzuklagen, dass es das Land
in den Ruin treibt, wird eine Verteidigung versucht und geantwortet, die Niederlage
der Bourgeoisie führe nicht zur Niederlage Deutschlands. Wir müssen davon ausge-
hen, dass das Land nur gerettet werden kann, wenn das arbeitende Volk selbst die
Geschicke des Landes in die Hand nimmt und im Kampf für einen Volksfrieden die
nationalen Interessen vertritt.
6. In der Einleitung des Artikels von Genossen Arndt wird zwar gesagt, dass Genosse
Seydewitz die Rolle der Sozialdemokratie im verflossenen Kriege nicht richtig darge-
stellt habe, aber es wird nicht konkret gegen diesen Sozialdemokratismus polemisiert.
49 Bereits Anfang 1940 erreichte ein Hetzartikel Walter Ulbrichts in der Auseinandersetzung über
den „englischen Imperialismus“ traurige Berühmtheit. Der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding hatte
im Neuen Vorwärts am 31.12.1939 leidenschaftlich für den Sieg Frankreichs und Englands gegen Hitler
und für die Ideale von Demokratie und Freiheit als Kriegsziele Stellung genommen. In einem Ant-
wortartikel in der Welt vom 9.2.1940 bezeichnete Ulbricht hingegen die Kriegspolitik Englands als
verbrecherisch, sie bringe schlimmeres Elend als der Dreißigjährige Krieg hervor. Des weiteren krimi-
nalisierte Ulbricht jeden, der gegen den sowjetisch-deutschen Pakt opponierte, als „Feind des deut-
schen Volkes und [...] Helfershelfer des englischen Imperialismus“. Besonders von sozialistischen
und sozialdemokratischen Kritikern wurde Ulbrichts Artikel als „Aufforderung zum Bruch der Solida-
rität“ mit allen illegalen Hitlergegnern und als endgültige Positionierung der KPD an der Seite Hitlers
gesehen, so mehrere linkssozialistische Exilorganisationen in einem am 31.3.1940 veröffentlichten
Aufruf (näheres zur Debatte siehe: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 222–226).
Dok. 488: [Moskau], 19.3.1941 1635
Der grösste Fehler ist, dass nicht Stellung genommen wird gegen die aussenpolitische
Orientierung der Sozialdemokratie und der USP[D]-Führung auf die kapitalistischen
Westmächte. Der Kampf der sozialdemokratischen Führung von 1917 bis 1932 gegen
ein festes Bündnis Deutschlands mit der Sowjetunion und ihre antisowjetistische Ein-
stellung auch während des Hitlerregimes, hat die Mächte von Versailles ermuntert
und hat die Reaktion im Inneren des Landes gestärkt.
Ich schlage vor der Redaktion Direktiven zu schicken,50 wie die Diskussion zu Ende
geführt werden soll und telegrafisch Anweisungen zu geben, dass bis zum Eintreffen
der Direktiven der nächste Artikel zurückgehalten wird.
Ulbricht
Dok. 488
Notizen Wilhelm Piecks über die Ankunft von Else und Friedrich
Wolf und die mögliche Hilfe für die in Frankreich internierten
Kommunisten
[Moskau], 19.3.1941
50 Dem Dokument ist ein Begleitschreiben von Friedrich (Ps.), d.i. Bedřich Geminder vorangestellt:
„Zum Schreiben des Gen. Ulbricht wurden flgd. Vorschläge dem Gen. Dimitroff unterbreitet. Zur Frage
Nation und Arbeiterklasse werden zwei Artikel von hier geschickt. Einer der diese Frage vom prinzipi-
ellen Standpunkt behandelt und der andere der diese Frage vom Standpunkt der deutschen Arbeiter-
klasse behandelt. Im nächsten Schreiben an Ericson [d.i. Arvid Wretling] wird die Redaktion auf die
Fehler im Artikel von Arndt [d.i. Karl Mewis] aufmerksam gemacht. Gen. Dimitroff hat diese Vorschlä-
ge zur Kenntnis genommen. 25.III.41 Friedrich.“ (RGASPI, Moskau, 495/73/102, 24).
51 Der Arzt und Schriftsteller Dr. Friedrich Wolf (1888–1953) wurde 1938 auf dem Weg nach Spanien
in Frankreich verhaftet und verbrachte 18 Monate in Internierung, bis er 1941 die sowjetische Staats-
bürgerschaft erhielt und in die Sowjetunion ausreisen konnte. Gemeinsam mit Wolf konnten am
18.3.1941 195 ehemalige Interbrigadisten und einige Emigranten in die UdSSR einreisen. Angesichts
der Gesamtzahl von ca. 150 000 internierten Spanienkämpfern und 10 000 - 12 000 KP-Kadern bedeu-
tete die Kampagne der Komintern für ihre Befreiung jedoch einen Fehlschlag (siehe hierzu: Werner
Abel: Das Ende des Spanischen Bürgerkriegs, die Kommunistische Internationale, die Sowjetunion
und das Schicksal der deutschen Interbrigadisten, Manuskript, S. 21, nach einem Bericht von André
Marty (Stand Januar 1941) in RGASPI, Moskau 495/2/287, S. 125–126).
52 Lombes: Eigentlich gemeint ist das Sport- und Fußballstadion von Colombes in Paris, in dem nach
Kriegsbeginn die nur aufgrund ihrer Nationalität unter Generalverdacht gestellten Deutschen und
österreichischen Exilierten registriert und eingesperrt wurden. Viele der „unerwünschten Auslän-
1636 1939–1943
8.10., befreit durch Intervention, nach 2 Tagen wieder verhaftet, zum Sammellager
Stadion Roland Garros53
12.10. Sammeltransport / 900 nach Vernet54
am 4.10.40 mit anderen, die ein Ausreisevisum hatten, nach Militärlager Carpiagne55
3.11.40 ins Überganglager Les Milles56
11.3.41 Abreise
der“ hatten sich freiwillig gemeldet, Dahlem hatte auch die KPD-Mitglieder dazu aufgefordert. Dieser
„Skandal“ der französischen Regierung und der französischen Polizei führte häufig dazu, daß die
Internierten ihrer Wertgegenstände und Unterlagen beraubt wurden (siehe Peschanski: La France des
Camps, S. 87f., der einen Augenzeugenberichts des Leutnant Dubuc zitiert). Die Ausreise von Wolf
erfolgte nach der Verleihung der sowjetischen Staatsbürgerschaft durch „Vermittlung sowjetischer
Stellen“ (Barth/Schweizer: Der Fall Noel Field, Bd. 1, S. 766).
53 Zum Pariser Rolan-Garros-Tennisstadion und seiner Nutzung als Sammellager siehe Dok. 482. Vgl.
Peschanski: La France des camps, S. 76ff.
54 Vernet: Zum Internierungslager Le Vernet siehe Dok. 482.
55 Carpiagne: Französisches Militärlager bei Aubagne (Region Provence-Alpes-Côte dʼAzur).
56 Das Gefangenenlager im Dorf Les Milles südlich von Aix-en-Provence wurde im Herbst 1939 von
der französischen Regierung errichtet, u.a. waren dort Lion Feuchtwanger und Golo Mann interniert.
Mitte Juni 1940 lebten dort 3000 Gefangene unter katastrophalen Bedingungen. Nach der Kapitulation
Frankreichs am 22.6.1940 wurden 2010 Gefangene aus dem Lager evakuiert, um sie vor den Deutschen
in Sicherheit zu bringen. Aufgrund von Gerüchten, sie würden den Deutschen ausgeliefert, versuchten
Flüchtlinge zu entkommen, was einigen auch gelang. Später wurden von Les Milles aus die Todeszüge
der Juden nach Auschwitz eingesetzt. Im Jahre 2011 wurde die nationale Gedenkstätte Les Milles mit der
restaurierten Ziegelei eröffnet, in der das Lager untergebracht war. Siehe: http://www.campdesmilles.
org/; André Fontaine: Le camp d’étrangers des Milles 1939–1943, Aix-en-Provence, Edisud, 1989.
57 Das „Camp de Gurs“ im Département Pyrénées-Atlantiques war das größte Internierungslager
Frankreichs. 1939 errichtet, wurde es zunächst für Interbrigadisten, baskische Nationalisten und deut-
sche Flüchtlinge genutzt, besonders auch für weibliche Internierte (u.a. waren die Totalitarismustheo-
retikerin Hannah Arendt und die Trotzki-Übersetzerin Alexandra Ramm, die Frau Franz Pfemferts, dort
interniert). Unmittelbar nach der Kapitulation Frankreichs verbrannte der Kommandant des Lagers die
Lagerakten und ließ die die ehemaligen Spanienkämpfer entkommen. Unter dem Vichy-Regime wurden
hier u.a. Juden aus Baden und dem Elsass interniert. Siehe: Claude Laharie: Gurs 1939–1945. Ein Inter-
nierungslager in Südwestfrankreich. Von der Internierung spanischer Republikaner und Freiwilligerder
Internationalen Brigaden bis zur Deportation der Juden in die NS-Vernichtungslager. Unter Mitarbeit
von Jacques Abauzit, Jean-Franpois Vergez und der Amicale du camp du Gurs. Übersetzt aus dem Fran-
zösischen und Anmerkungen: Cornelia Frenkel-Le Chuiton. Mit einem Anhang von Jürgen Stude, Karls-
ruhe, Evangelische Landeskirche in Baden; Biarritz, Atlantica (2008).
58 Einige der in Handarbeit von den Gefangenen angefertigten „Souvenirs“ aus den französischen Inter-
nierungslagern sind im Bestand des Revolutionsmuseums im RGASPI, Moskau, überliefert (Fonds 654),
darunter ein auf Knochen geschnitztes Bild eines Chors mit der Inschrift „Les jeunes Chanteurs – Camp de
Dok. 488: [Moskau], 19.3.1941 1637
Vorschläge des Genossen F. Wolf zur Hilfe für die in den Franz[ösischen] KZʼs [sic]
internierten Genossen / an Wilhelm Pieck
Am 22.3.1941 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, dass von nun an die Bevoll-
mächtigten Vertreter der UdSSR in Deutschland, der Türkei, Italien, Rumänien und Bulgarien alle Aus-
landsinstitutionen der UdSSR (Militärattachés, Handelsvertretungen etc.) zu leiten hätten.61
Am 2.4.1941 beriet das Politbüro über den Aufenthalt einer deutschen Luftfahrtkommission in der
UdSSR. Der Besuchsplan beinhaltete, dass den Deutschen sieben Fabriken gezeigt werden sollten.
Für den Besuch wurden 90.000 Rubel veranschlagt, ein Schlafwagen wurde zur Verfügung gestellt.62
Gurs“ („Die jungen Sänger – Lager Gurs“) (RGASPI, F. 654 KP 99329 RP 417; siehe mit Abbildungen weiterer
Exponate: Federalʼnoe archivnoe agentstvo (Hrsg.): La guerra civil en España. 1936–1939. Graždanskaja
vojna v Ispanii. 1936–1939 gg. Katalog vystavki, Moskva, Drevlechranilišče, 2007, S. 98–101).
59 Wahrscheinlich ein Bezug zu den von Wolf beschriebenen Hungerrebellionen im Lager Le Vernet
im Département Ariège, am Fuße der Pyrenäen im Winter 1940/1941 und am 19.3.1941. Dort war die Le-
benssituation besonders bedrohlich. Siehe die eindringliche Zeitzeugenschilderung der Zustände in
Le Vernet von Arthur Koestler, wo u.a. auch Paul Merker und Gerhart Eisler interniert waren (Koestler,
Arthur: Abschaum der Erde, S. 347–480).
60 Über einen Bestechungsversuch ist bisher nichts bekannt geworden. Dagegen habe es, seit einem
Jahr – wie es Dahlem in seinem hier publizierten Brief vom 25.9.1940 bitter festhielt, keinen Versuch
der Kontaktaufnahme seitens der Parteiführung gegeben (siehe Dok. 482). Vielleicht bezieht sich Pieck
auf den von Dahlem in seinen Memoiren angeführten Vorfall, daß ihm, den Lothringer, als er aus dem
Durchgangslager Colombes 1939 in die Präfektur gebracht wurde, die französische Staatsbürgerschaft
unter der Bedingung offeriert wurde, daß er mit Informationen diene (Dahlem: Am Vorabend, S. 445f.).
Dahlem wurde nicht befreit und im August 1942 an Hitlerdeutschland ausgeliefert und nach achtmo-
natiger Bunkerhaft in der Gestapozentrale bis 1945 im KZ Mauthausen interniert. Nachdem er 1945 mit
Pieck aus Moskau nach Berlin zurückkehrte, wurde er in der DDR seit 1950 schrittweise entmachtet.
61 RGASPI, Moskau, 17/162/33, 9, 38–41.
62 RGASPI, Moskau, 17/162/33, 99, 123–124.
1638 1939–1943
Dok. 489
Brief von Johannes R. Becher, Willi Bredel, Erich Weinert und
Georg Lukács an Dimitrov über den die Einschränkung der
Veröffentlichungsmöglichkeiten
Moskau, 10.4.1941
gez: Becher
Bredel
Weinert
Lukacs
Per Beschluss des Politbüros des ZK der KP der Sowjetunion wurde am 6.5.1941 Molotov als Vorsit-
zender des Rats der Volkskommissare durch Stalin ausgewechselt, während Molotov zu seinem Stell-
vertreter ernannt wurde.65
Am 10.5.1941 wurde beschlossen, in Deutschland Ausrüstung im Wert von 370.000 Rubeln für das
Versuchsinstitut der Luftstreitkräfte der Roten Armee einzukaufen.66
Am 4.6.1941 beschlossen das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion und der Rat der Volkskommis-
sare die Aufstellung einer polnischen Schützendivision innerhalb der Roten Armee, die sowohl aus
Polen, als auch aus polnischsprechenden Russen bestehen sollte.68
Am 14.6.1941 beschloss man, Caridad Mercader, die Mutter des Trotzki-Mörders Ramón Mercader,
Naum A. Ejtingon, der mit dem Leiter der Spezialabteilung des NKVD, Pavel Sudoplatov, den Mord plan-
te, u.a. für die Ermordung Trotzkis in Mexiko am 22.8.1940 mit dem Lenin-Orden auszuzeichnen.69
Dok. 489a
Weisung Stalins zur Auflösung der Komintern
[Moskau], 20.4.1941
In deutscher Sprache publ. in: Bayerlein: Georgi Dimitroff. Tagebücher, I, S. 374–375 und Id.; „Der
Verräter, Stalin, bist Du!“, S. 351–352.
– Es wurde auch auf meine Gesundheit getrunken. Aus diesem Anlaß sagte J[osef]
W[issarionowitsch] [Stalin]: Bei D[imitroff] in der Komintern treten Parteien aus
(Anspielung auf die amerikanische Partei).72 Das ist nicht schlecht. Im Gegenteil,
man sollte die kommunistischen Parteien zu völlig eigenständigen Parteien machen
anstatt zu Sektionen der KI. Sie müssen nationale kommunistische Parteien werden,
mit verschiedenen Bezeichnungen – Arbeiterpartei, marxistische Partei usw.73 Der
Name ist nicht wichtig. Wichtig ist, daß sie in ihrem Volk Fuß fassen und sich auf ihre
eigenen spezifischen Aufgaben konzentrieren. Sie müssen ein kommunistisches Pro-
gramm haben, müssen sich auf eine marxistische Analyse stützen, nicht immer nach
Moskau blicken, sondern die im jeweiligen Land anstehenden konkreten Aufgaben
selbständig lösen. Denn die Situation und die Aufgaben sind in den verschiedenen
Ländern völlig unterschiedlich. In England sind es diese, in Deutschland jene usw.
Wenn die kommunistischen Parteien auf diese Weise erstarkt sind, dann können sie
ihre internationale Organisation wiederherstellen.
Die Internationale wurde unter Marxʼ Zeiten in Erwartung der nahenden inter-
nationalen Revolution gegründet.74 Die Komintern wurde unter Lenin geschaffen,
ebenfalls in einer solchen Periode. Jetzt rücken nationale Aufgaben für jedes Land
in den Vordergrund. Daß jedoch die kommunistischen Parteien als Sektionen einer
internationalen Organisation, die dem Exekutivkomitee der KI unterstehen, ist ein
Hindernis …75
Halten Sie nicht an dem fest, was gestern war. Berücksichtigen Sie konsequent
die neuentstandenen Bedingungen …
Vom Standpunkt des Behördeninteresses (der KI) mag das unangenehm sein,
aber nicht diese Interessen sind ausschlaggebend!76
72 Das drohende Verbot der KP der USA durch das Jerry-Voorhis-Gesetz im Winter 1940/1941 veran-
lasste das EKKI, außergewöhnliche Schritte zu ergreifen und aus taktischen Gründen die formelle
Trennung der Partei von der Komintern gutzuheißen. Nachdem ein außerordentlicher Parteikon-
gress im November 1940 einen entsprechenden Beschluss gefasst hatte, traf das EKKI-Präsidium am
3.12.1940 eine diesbezügliche Entscheidung. Die Partei erhielt weiterhin Instruktionen der Komintern
(zum Beschluss des EKKI siehe: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 350–351).
73 Der Verzicht auf den Kommunismus in den Parteinamen kommunistischer Parteien war in der
Folge kennzeichnend für Parteineugründungen vor allem in Ost- und Mitteleuropa während und kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg. Als erste Partei setzte die KP Polens die neuen Namensvorgaben um, die
am 5.1.1942 als „Polnische Arbeiterpartei“ neugegründet wurde.
74 Gemeint ist die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), die „Erste Internationale“, die am
28.9.1864 in London gegründet wurde.
75 Vgl. hierzu die Ausführungen Stalins zur tatsächlichen Auflösung der Komintern zwei Jahre später
(siehe Dok. 522).
76 In vorauseilendem Gehorsam sprach am Tag darauf Dimitrov mit Palmiro Togliatti und Maurice
Thorez darüber, „ob das EKKI seine Tätigkeit als führende Instanz für die kommunistischen Partei-
en in der nächsten Zeit einstellen und einzelnen kommunistischen Parteien völlige Selbständigkeit
gewährt werden solle; ob man sie in wirkliche nationale Parteien der Kommunisten der einzelnen
Dok. 489a: [Moskau], 20.4.1941 1641
– Die Frage nach der Weiterexistenz der KI in nächster Zeit und nach neuen Formen
der internationalen Verbindungen und der internationalen Arbeit unter Bedingungen
des Weltkrieges ist klar und deutlich gestellt worden.77
Als erste Reaktion auf den deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22.6.1941 verfügte am glei-
chen Tag das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion die Mobilmachung in zahlreichen Regionen
der UdSSR und verhängte „in einigen Gegenden“ den Kriegszustand. Auch wurde die Einrichtung von
Militärtribunalen beschlossen.78
Länder umwandeln solle [...]. Anstelle des EKKI – ein Organ zur Information und ideologischen und
politischen Unterstützung der kommunistischen Parteien. Beide meinten, – so Dimitrov weiter – diese
Fragestellung sei im Grunde richtig und entspreche völlig der gegenwärtigen Situation der internati-
onalen Arbeiterbewegung.“ (Dimitroff: Tagebücher, Bd. 1, S. 375). Zur faktischen Auflösung kam es
allerdings erst im Mai 1943.
77 Alles deutet darauf hin, dass nicht die „Situation der Arbeiterbewegung“ u.ä. vorgeschobene
Gründe für diese Initiative Stalins ausschlaggebend waren, sondern seine Angst vor einem deutschen
Angriff. „Die Informationen über Hitlers Angriffspläne auf die Sowjetunion mußte Stalin seinerzeit
registriert haben. Aber selbst wenn er gewollt hätte, bestand im April und Mai 1941 keine Möglichkeit
mehr, an den militärischen Planungen der Sowjetunion Grundsätzliches zu ändern, um sich einem
deutschen Angriff entgegenzustellen. Wie ein von der Ausweglosigkeit der Situation Getriebener
schien Stalin nun neben anderen Konzessionen, besonders der wirtschaftlichen Hilfe an Deutsch-
land, weitere Zugeständnisse machen und die Komintern auflösen zu wollen.“ Ob ein solches „An-
gebot“ der NS-Führung kommuniziert wurde, ist unklar. Aus den Goebbels-Tagebüchern geht hervor,
dass man, da der deutsche Angriffsplan feststand, Offerten jeglicher Art zu diesem Zeitpunkt generell
nicht mehr beachtete (hierzu: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 350).
78 RGASPI, Moskau, 17/3/1041, 23.
1642 1939–1943
Dok. 490
Direktive Dimitrovs und Piecks an Wehner zum Angriff
Deutschlands auf die Sowjetunion
[Moskau], 22.6.1941
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/18/1335, 11. In deutscher Sprache publ. in:
Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“, S. 371. In russischer Sprache publ. in: Lebedeva/Narinskij:
Komintern i Vtoraja mirovaja vojna, II, S. 98–99.
Unter Bezugnahme auf die Erklärung der Sowjetregierung,80 so schnell wie möglich in
dortigen Presse Erklärung der KPD. veröffentlichen, dass Krieg gegen die Sowjetunion
das grösste Verbrechen an den nationalen Interessen des deutschen Volkes ist. Dieses
Verbrechen wurde von den Nazis seit längerer Zeit vorbereitet. Sowjetregierung hat
Nichtangriffspakt streng eingehalten und niemals etwas gegen das nationale Interesse
des deutschen Volkes unternommen, sondern stand immer an seiner Seite, besonders
gegen das Versailler Diktat. Sowjetunion führt vaterländischen Verteidigungskrieg.81
Krieg gegen das mächtige Land des Sozialismus ist Versuch der Faschisten, sich aus
der Sackgasse des imperialistischen Krieges zu retten, wobei sie das deutsche Volk
nur noch tiefer in den Krieg hineintreiben. Scharf entlarven den Betrug am deutschen
Volke durch faschistische Erklärungen zum Kriege. Schwergewicht legen auf Herbei-
führung offenen aktiven Widerstandes und Kampfeinheit gegen die faschistischen
Kriegsverbrecher. Das eigene Interesse des deutschen Volkes erfordert Vertiefung der
Freundschaft mit der Sowjetunion. Offen zum Sturz der faschistischen Machthaber
auffordern, die das deutsche Volk in den Abgrund stürzen. An Soldaten Aufforderung
richten, nicht gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Sich mit den werktätigen Massen in
den okkupierten Ländern solidarisieren und ihre Befreiungsbewegung unterstützen.
Stark hervorheben die Rolle und die Verantwortung der deutschen Arbeiterklasse bei
der Führung dieses Kampfes und auffordern, dass sie ihre Kräfte in jeder Form orga-
nisiert und die gemeinsame Kampffront aller Werktätigen schafft.82
Am 25.6.1941 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Beschluss über die Einzie-
hung der Radiogeräte der Bevölkerung. Diese waren innerhalb von 5 Tagen „zur vorübergehenden
Aufbewahrung bis zum Ende des Krieges“ an staatliche Stellen abzugeben. Erlaubt blieben lediglich
öffentliche Radiovorführungen „zu streng festgelegten Uhrzeiten“.84
Dok. 491
Telegramm von Maurice Thorez und André Marty an Jacques
Duclos über die Taktik der KP Frankreichs unter der deutschen
Besetzung
[Moskau], 25.6.1941
1. Es ist an der Zeit, direkten Kontakt zur Bewegung der Gaullisten85 zu suchen und
aufzunehmen, deren Anhänger begreifen, daß der heroische Kampf des sowjetischen
82 Als Resultat dieser Direktive verfasste die Moskauer Parteiführung der KPD einen auf den 24.6.1941
datierten Aufruf, in dem es u.a. hieß: „Unsere eigene Sache ist es, die von der Roten Armee siegreich
verteidigt wird. [...] Befreien wir uns aus den Klammern der unwürdigen, den Namen unseres Volkes
beleidigenden Herrschaft des blutbesudelten Faschismus! [...] Bildet um die Arbeiterklasse die Front
des werktätigen Volkes, die Schulter an Schulter mit den um ihre nationale Freiheit kämpfenden un-
terdrückten Völkern und mit allen anständigen fortschrittlichen Menschen der Welt für den Sieg der
Freiheit kämpft.“ (Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, V, S. 547–548). Doch dürfte dieser
Aufruf „nur wenige Antifaschisten in Deutschland und in den Exilzentren“ erreicht haben (Kinner:
Der deutsche Kommunismus, III, S. 152).
83 „Pieck, Paul“ von Dimitrov handschriftlich eingefügt.
84 RGASPI, Moskau, 17/3/1041, 27–28.
85 Anhänger von General Charles de Gaulle, Vorsitzender des „Nationalkomitees Freies Frankreich“
(France Libre), der seit seiner Proklamierung des bewaffneten antifaschistischen Widerstands am
18.6.1940 von London aus Befehlshaber der „Freien Französischen Streitkräfte“ wurde. Die ersten
Kontaktversuche der französischen Kommunisten mit De Gaulle scheiterten (siehe hierzu Dok. 493).
1644 1939–1943
Volkes gegen die Hitleraggression den Interessen des französischen Volkes entspricht
und die Befreiung Frankreichs vom Sieg der Sowjetunion abhängt. Zusammenarbeit
sollte auf folgender Grundlage angebahnt werden: Gemeinsamer Kampf für nationale
Befreiung.86 Gemeinsames Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind, den deutschen
Faschismus. Gegenseitige Hilfe in diesem gemeinsamen Kampf gegen die Besatzer,
gegen die Verräter Laval und andere, gegen die Clique von Vichy, gegen Pétain und
Darlan.87 Unnütz, jetzt Fragen nach Zukunft zu stellen, aber Selbständigkeit Partei
gewährleisten. In Öffentlichkeit umsichtig und zurückhaltend bleiben, um nicht
Gegner in die Hände zu spielen, in Praxis aber maximal [mit den Gaullisten] zusam-
menarbeiten. 88
86 Die Kontaktaufnahme der Kommunisten mit allen Anti-Hitlerregierungen wurde von Maßnahmen
unter der ideologischen Prämisse der „nationalen Fronten“ begleitet. Diese bedeuteten eine völlige
Umkehrung, die Dimitrov in einem Telegramm nach London vom 8.7.1941 folgendermaßen erklärte:
„In allen von Deutschland besetzten Ländern müssen die Kommunistischen Parteien unverzüglich
mit der Organisierung einer vereinigten nationalen Front beginnen, und zu diesem Zweck den Kon-
takt zu allen Kräften herstellen, die sich gegen das faschistische Deutschland auflehnen, ungeach-
tet ihrer politischen Orientierung und ihres Charakters.“ (RGASPI, Moskau, 495/184/4, 32–34. Publ.
in: Bayerlein/Narinskij/Studer u.a.: Moscou-Paris-Berlin, S. 454. Der Begriff der „nationalen Front“
wurde bereits am 26.4.1941 von Dimitrov verwendet, ebd., S. 402ff.).
87 Pierre Laval (1883–1945) war als Außen- und später Premierminister in der Kollaborationsregie-
rung von Vichy einer der stärksten Befürworter der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten.
François Darlan (1881–1941) war in der Vichy-Regierung Oberbefehlshaber der Streitkräfte; im No-
vember 1942 trat er auf die Seiten der Alliierten über, kurz bevor er im Dezember bei einem Attentat
erschossen wurde.
88 Zu den weiteren von der Komintern geforderten Bemühungen seitens der KP Frankreichs um Kon-
takte zu De Gaulle, siehe Dok. 493.
89 Handschriftlicher Vermerk in russischer Sprache: „An Gen. Clément [d.i. Eugen Fried] übermit-
teln. G.D. [Georgi Dimitrov]. Auf Anweisung von Gen. Sorkin nur Nr. 14 senden. D. M. [Dmitrij Manuil-
ski].“ Grigorij Sorkin war Leiter des Internationalen Verbindungsdienstes der Komintern.
Dok. 492: [Moskau], 1.7.1941 1645
Dok. 492
Anweisung Dimitrovs zur sofortigen Entsendung von KPD-Kadern
nach Deutschland
[Moskau], 1.7.1941
Autograph in deutscher Sprache. In deutscher Sprache publ. in: Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist
Du!“, S. 394.
An: Bernard [d.i. Eugen Fried] für Alfred [d.i. Wilhelm Knöchel], Amsterdam.
Alle geprüften deutschen Genossen und Genossinnen sofort ins Land für Organi-
sierung unmittelbarer Aktionen zur Unterstützung Rote Armee und Kampf für Sturz
Hitlers. Vor allem leitende Genossen ins Land.90
Schnellste Organisierung von Gruppen für spezielle Tätigkeiten und Zersetzungs-
arbeit.91
90 Eine Kommandierung „leitender Genossen“ nach Deutschland war illusorisch, von der Entsen-
dung eines leitenden KPD-Funktionärs ist auch in neueren Untersuchungen nicht die Rede. Als erster
Instrukteur des ZK der KPD nach dem deutschen Angriff ging Alfred Kowalke im Spätherbst 1941 nach
Berlin, wo er nach Eintreffen von Wilhelm Knöchel im Januar 1942 zu seinem engsten Mitarbeiter
wurde (siehe Dok. 509; Sandvoß: Die „andere“ Reichshauptstadt, S. 470; vgl. Peter Erler: Militärische
Kommandounternehmen: deutsche Polit-Emigranten als sowjetische Fallschirmagenten und Parti-
sanen 1941 bis 1945. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2000), 8, S. 79–101; Herbst:
Kommunistischer Widerstand).
91 Spezielle Tätigkeit: Die Komintern kooperierte eng mit dem NKVD und der Roten Armee, indem
sie Personal für klandestine Einsätze gegen den Gegner zu Verfügung stellte (siehe auch das Dok.
494). Ab August 1941 lernten 25 Emigranten aus Deutschland, Österreich und Ungarn, darunter neun
KPD-Mitglieder, in einem wahrscheinlich der Hauptaufklärungsverwaltung der Roten Armee unter-
stellten Kurs diverse Spionage-, Diversions- und Kampftechniken. Ebenfalls wurden im Juli Vertre-
ter der zweiten Generation deutscher Politemigranten zusammen mit ausgewählten sowjetischen
Komsomol-Angehörigen trainiert. Dies erfolgte in einer am 29.6.1941 formierten Spezialeinheit, der
Partisanen-Aufklärungsabteilung 9903, in einem vierzehntägigen Kurs im gleichen Arbeitsbereich.
Zum Einsatz deutscher Kommunisten als Fallschirmagenten kam es jedoch erst ab Mai 1942 (siehe
Erler: Militärische Kommandounternehmen, S. 82–83).
1646 1939–1943
Dok. 493
Brief Dimitrovs an Molotov und Berija zum Einsatz hinter den
feindlichen Linien und den nationalen Radioübertragungen
[Moskau], 1.7.1941
An Genossen MOLOTOV
An Genossen BERIJA
1) Wir schicken Ihnen eine Information über die Existenz von Personen, die unverzüg-
lich ins Hinterland des Feindes abgeworfen werden können. In dieser Angelegenheit
ist die Hilfe seitens des NKVD notwendig.92
2) Wir bitten Sie, die über Frage der geheimen Radiostation, die im Namen eines
freien Deutschlands zu den Deutschen sprechen soll, zu entscheiden. Der Sender
könnte ebenfalls zur Rundfunkübertragung für Rumänen, Finnen, Ungarn und Polen
benutzt werden. Mit der Organisierung dieser Radioübertragung sollen wir befasst
sein.93
3) Wir bitten Sie ebenfalls, über die englische Mission die Frage der Reise nach
England zu regeln, damit von dort Thorez, Marty und Raymond [Guyot] nach Frank-
reich übersetzen können. Sie rechnen damit, dass es ihnen, nachdem sie den Kontakt
mit de Gaulle aufgenommen haben werden, gelingen wird, ein starkes Militärkorps in
den Kolonien zu schaffen sowie innerhalb Frankreichs eine große Bewegung gegen
die Regierung Pétain-Darlan bis hin zum Bürgerkrieg hervorzurufen.94
1. Juli 1941.
Am 3.7.1941 befasste sich das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion mit mehreren Anfragen des Ex-
ekutivkomitees der Komintern. Dem EKKI wurden zur finanziellen Hilfe an die ausländischen kommu-
nistischen Parteien 200.000 Dollar zugeteilt, sowie zusätzlich eine Million Dollar für die KP Chinas.95
Als Folge des schnellen deutschen Vormarsches der deutschen Truppen fasste das Politbüro am
5.7.1941 gemeinsam mit dem Rat der Volkskommissare den Beschluss, die Archive des Rats der Volks-
kommissare, des ZK der Kommunistischen Partei, des Komsomol, der Kommission für Parteikontrolle,
der Komintern, des Marx-Engels-Lenin-Instituts und des NKVD aus Moskau nach Ufa zu evakuieren.
Die Verlagerung der Akten mitsamt den Panzerschränken sollte innerhalb von 5 Tagen abgeschlossen
sein.96
Dok. 494
Brief Dimitrovs an Berija über die Bildung illegaler Partei- oder
Partisanengruppen für Deutschland und andere Länder
[Moskau], 11.7.1941
An Genossen BERIJA
95 RGASPI, Moskau, 17/162/36, 41–42. Publ. in: Adibekov/Anderson/Širinja u.a.: Politbjuro i Komin-
tern, S. 798.
96 RGASPI 17/162/36, 41–42. Publ. in: Ibid., S. 798–799.
97 RKKA („Raboče-Krestʼjanskaja Krasnaja Armija“) ist die Abkürzung für „Rote Arbeiter- und Bau-
ernarmee“. Die Fünfte Verwaltung der Roten Armee war der mit Militäraufklärung befasste militäri-
sche Geheimdienst.
1648 1939–1943
98 Die Geheimdienste der Sowjetunion setzten im Laufe des Krieges über 3000 Fallschirmagenten in
nahezu allen okkupierten Ländern Europas ab. Hier ergab sich eine Möglichkeit zum aktiven Wider-
stand für ausländische Kommunisten. Dabei kooperierte man auch mit den Alliierten, insbesondere
mit Großbritannien. Bereits am 30.9.1941 wurde ein Abkommen zwischen dem NKVD und der briti-
schen Special Operations Executive (SOE) zur gemeinsamen subversiven Arbeit in Deutschland und
den okkupierten Ländern unterzeichnet. Die Gruppen hatten militärisch-technische Spionage- und
Diversionsaufträge oder sollten politisch tätig sein, etwa durch die Instruktion bestehender (illegaler)
kommunistischer Parteien, oder ggf. durch deren Neuaufbau (Polen, Iran u.a.). Die Rekrutierung,
Vorbereitung und Kommandierung solcher Agenten- und Politgruppen zum Einsatz hinter den feind-
lichen Linien in Deutschland, Polen, Ungarn, Bulgarien und anderen Ländern wurde zu einer der
Hauptaufgaben der Komintern im Zweiten Weltkrieg, in enger Zusammenarbeit mit dem NKVD und
der Militäraufklärung. Am 16.1.1942 teilte der Leiter der Kaderabteilung des EKKI Pantelejmon Gul-
jaev Dimitrov mit, dass mit Ivan Bolʼšakov, einem der Leiter der Militäraufklärung, vereinbart worden
sei, von der zweiten Februarhälfte bis Mitte April Kominterngruppen in diversen Ländern abzusetzen
(RGASPI, Moskau, 495/73/183, 10, publ. in: Lebedeva/Narinskij: Komintern i Vtoraja mirovaja vojna,
II, S. 186–187; zu den Fallschirmagenten siehe allgemein: Vladimir Chaustov: Operative Gruppen sow-
jetischer Fallschirmagenten in den Kriegsjahren. In: Hans Schafranek, Johannes Tuchel (Hrsg.): Krieg
im Äther: Widerstand und Spionage im Zweiten Weltkrieg, Wien, Picus Verlag, 2004, S. 153–164).
99 Auf dem Lehrplan der von der Komintern organisierten Kurse der als „Gruppe Guljaev“ titulierten
Fallschirmagenten standen die „Theorie und Praxis der Diversionsarbeit“ und „Lehrstunden zu Fra-
gen der Partisanenbewegung“, daneben auch politische Kurse (siehe: Brief von Plyševskij an Dimit-
rov, 2.8.1943, RGASPI, Moskau, 495/73/176, 59).
100 Am 15.7.1941 sandte Dimitrov folgendes Telegramm an die Funkstelle Amsterdam zur Weiter-
leitung an die kommunistischen Parteien: „In jetzige schicksalsschwere Zeit muss man alles daran
setzen, um entschlossene und wirksame Kampfhandlungen gegen Okkupanten rasch organisieren,
ohne Rücksicht auf Schwierigkeiten und Opfer. Informiere uns konkret über solche Aktionen.“ (RGAS-
PI, Moskau, 495/184/1 (Ausg. 1941), N° 502).
101 Deutsche Gruppe: Gemeint ist wahrscheinlich die Gruppe deutscher Politemigranten, die von der
Hauptaufklärungsverwaltung der Roten Armee ab Mitte August 1941 ausgebildet wurden. Historiker
Erler zufolge waren darunter neun KPD-Mitglieder: Erna Eifler, Wilhelm Fellendorf, Wilhelm Trapp,
Wilhelm Jakob Freund, Hugo (oder Willi) Boerner, Erwin Panndorf, Walter Gersmann, Josef Zettler
und Elsa Noffke (Erler: Militärische Kommandounternehmen, S. 82). Der erste Abwurf deutscher Kom-
munisten über feindliches Gebiet erfolgte in der Nacht vom 16. zum 17. Mai 1942, als Panndorf, Fel-
lendorf, Boener und Eifler über Allenstein (Ostpreußen) abgesetzt wurden. Zwei Tage später folgten
Freud, Trapp und Gersmann über Insterburg (ebenfalls Ostpreußen). Auch wurden im August bzw.
Oktober 1942 die Kommunisten Albert Hößler und Heinrich Koenen als Fallschirmagenten abgewor-
fen. Die im Jahr 1942 abgesetzten Agenten handelten stets im Auftrag von NKVD und roter Armee – für
die KPD wurden „Fallschirmspringer“ erst 1943 tätig. Außer Hößler, der zusammen mit dem Wider-
standskämpfer Hans Coppi wichtige Funksprüche in die Sowjetunion absetzen konnte, erfüllte nicht
zuletzt wegen einer dilettantischen Vorbereitung keiner der 1942 abgesetzten Fallschirmagenten die
ihnen anvertrauten Aufgaben. Zur Tätigkeit der deutschen Politemigranten als „Fallschirmagenten“,
siehe: Erler: Militärische Kommandounternehmen, S. 79–101; Johannes Tuchel: Das Ministerium für
Dok. 494: [Moskau], 11.7.1941 1649
aus zwölf, die ungarische aus zwölf, die für die Karpato-Ukraine aus sieben und die
bulgarische aus elf Personen.
Gleichzeitig läuft die Auswahl und Ausbildung der Gruppen für die zweite Staffel
sowie für weitere Länder.
Ich bitte Sie sehr, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, damit die bereitgestell-
ten Gruppen von Genossen so rasch wie möglich eingesetzt werden.
11.7.1941
Am 18.7.1941 fasste das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion einen Geheimbeschluss „zur Orga-
nisierung des Kampfes im Hinterland der deutschen Heere“. Darin wurde den regionalen und lokalen
Parteiorganisationen im Hinterland des von den Deutschen eroberten Sowjetterritoriums aufgetra-
gen, in den Untergrund zu gehen und die Destabilisierung der Verhältnisse zu koordinieren. Auf ihre
Initiative hin sollten Partisanentrupps gebildet und bewaffnet werden. Die Flucht von Parteikadern vor
den deutschen Truppen wurden dabei als Schande gebrandmarkt. 102
Staatssicherheit und die Fallschirmagenten der Roten Kapelle. Der Fall Albert Hößler. In: Schafranek/
Tuchel: Krieg im Äther, S. 56–77; Hans Schafranek: Die illegale Tätigkeit Franz Zielaskos im Ruhrge-
biet 1943. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiter-
bewegung XLI (2005), 4, S. 450–470; Perry Biddiscombe: „Freies Deutschland“ Guerrilla Warfare in
East Prussia. 1944–1945. A Contribution to the History of the German Resistance. In: German Studies
Review XXVII (2004), 1, S. 45–62.
102 RGASPI Moskau, 17/162/36, 55–57.
1650 1939–1943
Dok. 495
Fingierter Brief der Komintern: „Offener Brief an die deutschen
Offiziere“
O.O., Ende Juli 1941
Typoskript in deutscher Sprache. RGASPI, Moskau, 495/10a/471, 1–4. Vollständige deutsche Erstver-
öffentlichung. In deutscher Sprache auszugsw. publ. in: Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“, S.
398–399. In russischer Sprache publ. in: Lebedeva/Narinskij: Komintern i Vtoraja mirovaja vojna, II,
S. 135–140.
Wir kriegsgefangenen deutschen Offiziere können nicht länger schweigen. Wir halten
es für ein Gebot der Pflicht und der [Ehre],104 uns in tiefster Sorge um die Zukunft
unseres deutschen Vaterlandes an alle unsere Kameraden zu wenden, an alle deut-
schen Offiziere und an die ganze deutsche Armee. Uebereinstimmend kamen wir zu
der Auffassung, dass wir als deutsche Offiziere alles tun müssen, um von Deutsch-
land die grösste Katastrophe seiner Geschichte abzuwenden.
Diese Katastrophe hat mancher deutscher Offizier schon an dem Tage voraus-
geahnt, an dem Hitler zur Macht kam. Viele von unseren Kameraden werden sich
daran erinnern, welche bitteren Gefühle uns damals bewegten. Wir kannten die Nazi
als skrupellose Abenteurer von dunkler Herkunft. Aus allen Ländern waren sie nach
Deutschland gekommen, diese vaterlandslosen Gesellen.105 Für sie war Deutsch-
land einfach ein Sprungbrett ihres persönlichen Emporkommens. Es war für uns
ein beschämender Gedanke, vor einem Hitler oder Goering strammzustehen. Aber
damals lebte noch der greise Feldmarschall von Hindenburg und die Führung der
Armee lag in bewährten Händen.
Die Ereignisse nach der Machtergreifung der Nazi106 empfanden wir als entwürdi-
gend und empörend. Deutschlands Ansehen wurde durch die Folterung und Ermor-
dung wehrloser Menschen tief geschädigt. Die Gestapo zog den deutschen Namen in
den Schmutz. Aber wir bissen die Zähne zusammen und wollten mit Politik nichts
103 Der „offene Brief“ wurde im EKKI-Apparat verfasst, möglicherweise von Wilhelm Pieck, dessen
Korrekturen sich in der Vorlage befinden. „Auf Deutsch ist dieser Aufruf viel besser geschrieben, als
es die russische Übersetzung vermuten lässt. Wir versuchten den Brief in Tönen zu halten, welche
den Vorstellungen deutscher Offiziere entsprechen.“ (Manuilski im Begleitschreiben zum Brief an Lev
Mechlis, zit. in: Lebedeva/Narinskij: Komintern i Vtoraja mirovaja vojna, II, S. 21).
104 Wort nicht zu entziffern.
105 Der Begriff „vaterlandslose Gesellen“ wurde im deutschen Kaiserreich auf die Sozialdemokraten
und die Arbeiterbewegung angewendet, hier wohl als Anspielung auf Hitlers Herkunft aus Österreich.
106 Handschriftliche Anmerkungen von Dimitrov am Rand zwischen dem 2. und 4. Absatz: „Man
muß überprüfen, ob deutsche Offiziere die Nationalsozialisten als Nazi bezeichnen“. „Meiner Mei-
nung nach sehr gelungen. 30.7.41“.
Dok. 495: O.O., Ende Juli 1941 1651
zu tun haben. Wir trösteten uns damit, dass die Armee bekam, was sie brauchte. Wir
vertrauten dem Feldmarschall von Hindenburg, der nur schweren Herzens, wie wir
alle wussten, Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte.
Der Feldmarschall starb. Die Nazi schreckten nicht davor zurück, sein Totenbett
zu durchwühlen und das Testament zu entwenden, das Hindenburg der deutschen
Nation hinterliess. Nach vielen Tagen wurde der Öffentlichkeit ein gefälschtes Tes-
tament vorgelegt.107 Deutschland wurde von Hitler um das warnende Vermächtnis
des Feldmarschalls betrogen. Und Hitler riss die ganze Macht an sich. Ein Hitler als
oberster Kriegsherr, das war ein Schlag für die ganze Armee. Ihm den Eid zu leisten,
war für jeden Offizier von Tradition eine schwere Zumutung.
Hitler besudelte die Armee durch das Horst-Wessel-Lied.108 Dieses Kaschem-
menlied war ein Faustschlag gegen die ruhmvolle Tradition des Deutschlandliedes
und des Hohenfriedbergermarsches.109 Und jeder SS-Schnösel glaubte es wagen zu
dürfen, einen deutschen Offizier über die Achsel anzusehn.110 Zu uns in die Armee
kamen die Söhne ehrenhafter deutscher Familien, weil hier noch der alte deutsche
Geist herrschte. Sie wollten nichts mit dem Schmutz der SS und SA zu tun haben.
Aber Hitler wollte die deutsche Armee zum Werkzeug seiner Partei herabwürdigen.
Er wollte das Feldgrau der Wehrmacht, die sich vier Jahre lang im Weltkrieg geschla-
gen hatte, mit seinem schmutzigen Braun beflecken. Die verdientesten und tüchtigs-
ten Offiziere wurden kaltgestellt. Traditionslose Streber traten an ihre Stelle. In der
Luftwaffe errichtete Goering ein System der Korruption und des Grössenwahns. Nicht
nur dem ganzen deutschen Volk, sondern auch uns ehrenhaften Offizieren wurde die
Gestapo auf den Hals gesetzt.
Und dann kam der 30. Juni 1934. Schmachvoll wurden die Generale von Schlei-
cher und von Brodow [richtig: Bredow] ermordet.111 Damit nicht genug, versuchten die
Meuchelmörder den reinen Namen der Ermordeten zu verunglimpfen. In seiner Ehre
getroffen, bäumte das deutsche Offizierkorps sich auf und Hitler musste scheinbar
107 Gefälschtes Testament: Die neuere Historiographie ist der Auffassung, dass das von Hitler zeit-
verzögert publizierte Testament Paul Hindenburgs (das ohnehin in weiten Teilen von Vizekanzler von
Papen verfasst wurde) keine Fälschung ist; allerdings wurde ein Teildokument, in dem Hindenburg
die Restaurierung der Monarchie empfahl, von den Nationalsozialisten unterschlagen (zur Kontrover-
se um Hindenburgs Testament siehe: Horst Mühleisen: Das Testament Hindenburgs vom 11. Mai 1934.
In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte XL (1996), S. 355–371).
108 Das Lied „Die Fahne hoch“, auch als „Horst-Wessel-Lied“ bekannt, geschrieben und unter Rück-
griff auf populäre Volksmelodien vertont von Horst Wessel, war seit ca. 1929 Hymne der SA. Später
Parteihymne der NSDAP, wurde es nach 1933 de facto zur zweiten Nationalhymne Hitlerdeutschlands
(siehe Siemens: Horst Wessel, S. 80–84 u.a.). Zu Horst Wessel siehe Dok. 401.
109 Hohenfriedbergermarsch: Populärer Militärmarsch aus der Zeit Friedrichs II..
110 Über die Achsel ansehen: Jmd. geringschätzig ansehen (ohne sich dabei ganz umzudrehen).
111 General Ferdinand von Bredow und der ehemalige Reichskanzler General Kurt von Schleicher
wurden als Hitlergegner im Zuge des „Röhm-Putsches“ ermordet. Schleicher hatte u.a. Bredow damit
beauftragt, eine Krankenakte Hitlers aus dem Jahr 1918 zu besorgen, die ihn als Psychopathen aus-
wies (siehe Bernhard Horstmann: Hitler in Pasewalk, Düsseldorf, Droste, 2004).
1652 1939–1943
einen Rückzug antreten. Er hat sich dafür gerächt und Schritt für Schritt die hervor-
ragendsten militärischen Könner, die ehrenhaftesten Offiziere beseitigt und seinen
Kreaturen und Arschkriechern zu einem schwindelhaften Aufstieg verholfen. Jeder
Lausejunge von der SS schwamm obenauf, aber ein deutscher Offizier wie der weltbe-
rühmte Unterseebootskommandant Niemöller, der für jeden von uns ein Vorbild war,
wurde hinter Schloss und Riegel gesetzt.112 General von Fritsch, der fähigste Kopf der
Armee, ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, wurde nicht nur kaltgestellt; er hat
im polnischen Feldzug auf rätselhafte Weise den Tod gefunden.113 Wir glauben nicht
an einen Zufall. Wir kennen die Hand der Gestapo.
Es war für uns eine Zeit schwerer Gewissenskämpfe. Trotzdem schwiegen wir und
warteten zu. Es ging doch um Deutschland. Wir waren Soldaten und keine Politiker.
Aber wir sahen immer deutlicher, dass die abenteuerliche Politik Hitlers unser deut-
sches Vaterland in Gefahr brachte. Der Krieg musste kommen, aber Deutschland hatte
keine Freunde. Die Nazi waren in der ganzen Welt verhasst und dieser Hass schlug auf
Deutschland zurück. Das Bündnis mit dem faschistischen Italien war alles, was Hitler
zustandebrachte. Aber Italien kannten wir zur genüge.114 Und was uns Japan helfen
sollte, war für uns unbegreiflich. Was Deutschland unbedingt brauchte, war die Ver-
ständigung mit England und vor allem mit Russland. Ein Staatsmann wie Bismarck
hätte das erreicht, aber Hitler ist kein Bismarck, sondern ein Möchtegern. Seine
ganze Politik war auf Bluff aufgebaut. Er hat uns geblufft und er wollte die ganze Welt
bluffen. Die Folgen waren katastrophal.
Für uns war eines klar: Die deutsche Armee kann gewaltige Leistungen vollbrin-
gen und viele Fehler der Politik wettmachen – aber einen Zweifrontenkrieg kann sie
auf die Dauer nicht durchhalten. Unsere letzte Hoffnung war, dass Hitler wenigstens
das Versprechen halten werde, Deutschland in jedem Fall vor einem Zweifrontenkrieg
zu bewahren. Hitler hat auch dieses Versprechen gebrochen. Jetzt haben wir den
Krieg gegen England und gegen Russland. Das ist der helle Wahnsinn. An Russland
wird sich die deutsche Armee verbluten. Dieser Krieg ist aussichtslos. Er kann nur mit
einer Katastrophe enden, gegen die 1918 ein Kinderspiel war. Ein deutscher Offizier
steht auf seinem Posten und fällt – aber niemals darf Deutschland auf einem verlore-
nen Posten aufgeopfert werden. Deutschland kann diesen Krieg vielleicht noch einige
112 Der Theologe Martin Niemöller (1892–1984), seit 1933 Organisator des protestantischen Wider-
stands gegen Hitler („bekennende Kirche“), wurde 1937 verhaftet und blieb bis 1945 im KZ Sachsen-
hausen inhaftiert. Im 1. Weltkrieg gelangte er als U-Boot-Kommandant zu einiger Berühmtheit, verließ
allerdings bereits 1919 den Militärdienst und war, obwohl Freikorps-Mitglied 1920 (und NSDAP-Wäh-
ler von 1924 bis 1933), wohl kaum als Sympathieträger für deutsche Anti-Hitler-Offiziere zu nutzen.
Vgl. zu seiner Biographie: Matthias Schreiber: Martin Niemöller, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1997.
113 Generaloberst Werner von Fritsch (1880–1939) war seit 1934 Oberbefehlshaber des Heeres; mit
Werner von Blomberg gehörte er zu den Kritikern von Hitlers aggressiver außenpolitischer Strategie
und wurde durch eine Intrige und eine angebliche homosexuelle Affäre Anfang 1938 zum Rücktritt
gezwungen. Er fiel am 22.9.1939 bei Warschau.
114 Anspielung auf den Seitenwechsel Italiens im Ersten Weltkrieg 1915.
Dok. 496: [Moskau], 6.8.1941 1653
Zeit durchhalten – aber je länger wir durchhalten, desto schlimmer wird das Ende
sein. Der Gedanke an diese sinnlose Aufopferung der deutschen Armee ist einfach
unerträglich. Und darum wenden wir uns an euch, Kameraden, an die ganze deut-
sche Armee, bei der unser Denken und Fühlen weilt. Setzt eure Kraft, euren Mut und
eure Ehre darein, Schluss zu machen mit diesem verlorenen Krieg, ehe Deutschland
am Boden liegt.
Es ist uns heilig ernst damit, wenn wir euch sagen: Deutschland kann nur geret-
tet werden, wenn es so schnell wie möglich aus diesem Zweifronten- und aussichts-
losen Krieg herauskommt. Dieser Krieg ist Hitlers Sache, aber nicht unsere Sache.
In Deutschland werden sich Männer finden, die ihr Vaterland mehr lieben als sich
selbst, und die fähig sind Schluss zu machen mit den braunen Abenteurern. Wenn
Hitler stürzt, ist der Krieg zu Ende und Deutschland gerettet. Für diese Überzeugung
stehen wir ein mit unserem Namen und unserer Ehre als deutsche Offiziere.115
Am 12.8.1941 erließ das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion über den Rat der Volkskommissare
eine Amnestie für polnische Staatsbürger in sowjetischen Gefängnissen.116
Dok. 496
Bitte Dimitrovs an Georgij Malenkov um Aufstockung der Mittel für
die telegraphische Kommunikation der Komintern
[Moskau], 6.8.1941
6.8.41
Genossen Malenkov.
115 Die Zielsetzung des Dokuments, deutsche Offiziere für die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion
zu gewinnen, war zum Entstehungszeitpunkt illusorisch. Erst nach der Niederlage von Stalingrad
waren deutsche Offiziere zur Zusammenarbeit bereit. Siehe dazu auch Dok. 515.
116 RGASPI, Moskau, 17/3/1041, 72, 228.
117 Laut Beschluss des Sekretariats des EKKI von Ende Januar 1941 belief sich der Gesamthaushalt
der Komintern für das Jahr 1941 auf 8.461.900 Rubel. Bei den zusätzlich beantragten Mitteln handelte
es sich also um einen erklecklichen Betrag. Siehe: Beschluss des Sekretariats des EKKI (russisch),
1654 1939–1943
Dok. 497
Vorschläge Manuilskis an Berija und Lev Mechlis zur verschärften
Behandlung deutscher Kriegsgefangener
[Moskau], 15.8.1941
Im Auftrag des Sekretariats des ZK der VKP(b) wurde in eines der südlich von Rjazan’
liegenden Kriegsgefangenenlager118 eine Gruppe von Genossen geschickt, um die
Stimmungen unter den Kriegsgefangenen herauszufinden. In dieser Gruppe waren
auch drei Mitarbeiter der Institution, in der ich arbeite.119 Ich befinde es für notwen-
dig, das, was sie mir berichtet haben, Ihnen zur Kenntnis zu bringen.
Ende Januar 1941, RGASPI, Moskau, 495/18/1330, 35, veröffentlicht in: Lebedeva/Narinskij: Komintern
i Vtoraja mirovaja vojna, I, S. 498.
118 Südlich von Rjazan: Gemeint ist das Kriegsgefangenenlager Temnikov, das im Dezember 1939 zur
Unterbringung von finnischen Soldaten erbaut wurde. Allgemein existierten gegen Ende 1941 nur drei
Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion, die 9147 Gefangene beherbergten. Erst nach der Schlacht
um Stalingrad stieg die Zahl der Kriegsgefangenen rapide an (siehe: Jörg Morré: Hinter den Kulissen
des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943–1946,
München, R. Oldenbourg Verlag, 2001, S. 20–21; Stefan Karner: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefan-
genschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956, Wien u.a., R. Oldenbourg Verlag, 1995;
Andreas Hilger: Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik,
Lageralltag und Erinnerung, Essen, Klartext-Verlag, 2000).
119 Die betreffende Institution war die Komintern, die Mitglieder der Gruppe waren Walter Ulbricht
(KPD), Jan Šverma (KPTsch) und Ivan Draganov (Ps.), d.i. Boris Stefanov (KP Rumäniens). Die Kom-
mission war vom 4. bis 12.8.1941 im Kriegsgefangenenlager tätig.
Dok. 497: [Moskau], 15.8.1941 1655
120 Tatsächlich kam die deutsche Wehrmacht erst im Oktober-November 1941 näher an Moskau
heran. Der deutsche Artilleriebeschuss von Leningrad begann am 4.9.1941.
121 Die SA spielte in Hitlers Russlandfeldzug so gut wie keine Rolle (siehe: Peter Longerich: Die brau-
nen Bataillone. Geschichte der SA, München, C.H. Beck, 1989, S. 237f.).
122 Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion waren an die Disziplinarordnung und an
das Militärstrafrecht der Roten Armee gebunden (siehe: Hilger: Deutsche Kriegsgefangene, S. 121–122).
123 Im Großen und Ganzen waren die Lebensbedingungen deutscher Kriegsgefangener zwar etwas
besser als die regulärer GULAG-Häftlinge, jedoch weit von Milde und Humanität entfernt (als Über-
blick hierzu Hilger: Deutsche Kriegsgefangene).
1656 1939–1943
ten instinktiv hassen, oder für einfache deutsche Soldaten, die von den Faschisten
irregeleitet wurden, auch angebracht sein mag, so ist es unzulässig für faschistische
Banditen, die sich im Lager weiter so verhalten, als seien sie bei sich zu Hause. Dabei
ist zu bedenken, daß diese Art faschistischen Abschaums nur die Sprache der Gewalt
versteht und humane Behandlung als Zeichen unserer Schwäche ansieht.124
Ausgehend von dem Gesagten halte ich es daher für zweckmäßig:
a) faschistische Offiziere, Feldwebel, Flieger, die unsere Städte und Dörfer zer-
bombt haben, Mitglieder der Sturmabteilungen und der Hitlerpartei von der Masse
der Kriegsgefangenen in den Lagern zu separieren und unter Bedingungen zu halten,
wie sie die Antifaschisten in deutschen Konzentrationslagern ertragen müssen;
b) bei deutschen Kriegsgefangenen, die ihre faschistische Ordnung und ihren
verbrecherischen Krieg gegen die UdSSR nachdrücklich verteidigen, auf überflüssige
Humanität zu verzichten und sie so zu behandeln, wie sie es verdienen, indem man
sie in eine schwierigere Lage versetzt als die übrigen Gefangenen;
c) einfache Soldaten, die antifaschistische Stimmungen geäußert und sie durch
Taten unter Beweis gestellt haben, für die Posten von Lager- und Barackenältesten zu
benennen;
d) jeden Versuch von UdSSR-feindlicher Agitation durch strenge, der Kriegszeit
angemessene Maßnahmen in Übereinstimmung mit den sowjetischen Gesetzen zu
unterbinden.
(D. MANUILSKI)
15.8.1941
124 Zu dem in deutscher Sprache abgefassten Bericht der Kriegsgefangenen-Kommission, auf den
Manuilski sich hier (in durchaus tendenziöser Weise) bezieht, siehe RGASPI, Moskau, 495/18/1335,
80–91. Der nach Befragung von über 150 Kriegsgefangenen verfasste Stimmungsbericht offenbarte
eine mehrheitlich zwischen politischer Indifferenz und Hitler-Anhängerschaft stehende Haltung der
Soldaten. Dezidiert antifaschistische Aussagen waren minoritär. Der Bericht beinhaltete ebenfalls
aufschlussreiche Aussagen zur Motivierung der einfachen Soldaten für den Einmarsch in die Sowje-
tunion: „Viele sagten, es sei am 21. Juni vom Feldwebel oder vom Leutnant mitgeteilt worden, dass die
Rote Armee mit 160 Divisionen aufmarschiert sei. Die deutsche Armee müsse ihnen zuvorkommen.
Auf die Frage, ob sie bei ihrem Vormarsch auf Sowjetterritorium den Eindruck bekommen hätten,
dass die Rote Armee bereits mobilisiert und aufmarschiert sei, erklärten viele, dass sie einen solchen
Eindruck nicht hatten. Viele andere Soldaten erklärten, dass ihnen beim Antreten der Kompagnie in
der Nacht vom 21. zum 22. gesagt worden sei, es bestehe eine Vereinbarung zwischen der Sowjetre-
gierung und der deutschen Regierung über das Recht der deutschen Armee, durch eine bestimmte
Zone nach dem Irak zu marschieren. Auf die Frage, wie es möglich sei, dass deutsche Soldaten glau-
ben können, dass man ausgerechnet von Ostpreussen nach dem Irak marschiert, wussten sie keine
Antwort.“ (Ibid., Bl. 82). Vgl. Walter Ulbricht: Zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, II.2,
Berlin 1968, S. 245–253.
Dok. 498: [Ufa], 21.8.1941 1657
Dok. 498
Beschlüsse der Komintern zur Kriegsgefangenenarbeit
[Ufa], 21.8.1941
ANGEHÖRT:
1. (1538) Über die deutschen und rumänischen Kriegsgefangenen.
Information – Gen. Ulbricht, Draganov [d.i. Boris Stefanov] und Šverma.
Vortragender – Gen. Dimitrov.
BESCHLOSSEN:
1. Den von der Kommission, die das Lager für deutsche und rumänische Kriegsgefan-
gene besichtigt hat, gemachten Vorschlag über die Arbeit unter den deutschen und
rumänischen Kriegsgefangenen für richtig zu befinden.125
3. Es für zweckmäßig zu befinden, die Kommission nach einiger Zeit zur Besichtigung
von neu eingetroffenen Kriegsgefangenen zu kommandieren.127
125 Die Vorschläge Ulbrichts, des Leiters der entsprechenden Kommission (siehe Dok. 497) sahen
vor, die politische Arbeit unter den Kriegsgefangenen zu verstärken, einschließlich der Informierung
der Gefangenen über die Verluste der Wehrmacht, der Organisation von Kursen und Vorträgen für
Antifaschisten usw. Betont wurde die Notwendigkeit eines differenzierten Zugangs zu Kommunisten
und Antifaschisten einerseits und den Hitleranhängern andererseits. Letztere sollten keinesfalls als
Baracken- oder Gruppenälteste aufgestellt, sondern aus dem Lager entfernt werden (RGASPI, Mos-
kau, 495/18/1335, 78–79).
126 Zu den Informationen siehe Dok. 497.
127 Die Kommission hielt sich erneut im Oktober 1941 im Kriegsgefangenenlager Temnikov auf.
Siehe: Morré: Hinter den Kulissen, S. 23.
1658 1939–1943
Am 26.8.1941 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion, herausragende Partisanen für
ihren Kampf gegen Deutschland auszuzeichnen. Die Ankündigung erfolgte in der Pravda am nächsten
Tag.
Zugleich erfolgte ein Beschluss, die ethnischen Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen,
den Gebieten Saratov und Stalingrad zwangsumzusiedeln. Damit wurde eine der ältesten nichtrussi-
schen Sowjetrepubliken per Dekret aufgelöst.128
Am 12.9.1941 konkretisierte das Politbüro darüber hinaus die Modalitäten der Eingliederung der nach
Kasachstan deportierten Deutschen in die dortigen Kolchosen.129
Dok. 499
Begleitschreiben Dimitrovs an Molotov zum Aufruf des ZK der KPD
„An das deutsche Volk und die deutsche Armee“
[Moskau], 14.10.1941
An Genossen MOLOTOV.
Die deutschen Genossen befinden, dass man den Aufruf verwenden soll als ein
Dokument, das innerhalb Deutschlands geschrieben und verbreitet wurde. Wir sind
derselben Meinung.132
Mit Genossengruß,
14. Oktober 1941.
Dok. 500
Brief Dimitrovs an Stalin mit dem Vorschlag, die Komintern nicht
mehr offen in Erscheinung treten zu lassen
[Ufa], 31.10.1941
An Genossen Stalin.
S. 300–303 und Dok. 79, S. 550–553; Teilveröffentlichung ebenfalls in: Bayerlein: Der Verräter, Stalin,
bist Du, S. 441–443; in russischer Sprache publ. in: Lebedeva/Narinskij: Komintern i Vtoraja mirovaja
vojna, II, S. 154–160).
132 Im August 1941 hatte Dmitrij Manuilski den Text eines „Offenen Briefes an die deutschen Arbei-
ter“ an den ZK-Sekretär Aleksandr Ščerbakov geschickt. Dieser Text wurde daraufhin stark gekürzt
und in Einklang mit den Anweisungen Ščerbakovs umgearbeitet, daraus entstand der Aufruf „An das
deutsche Volk und die deutsche Armee“ (s.o.); das Urdokument siehe: RGASPI, Moskau, 495/10a/470,
472, ohne Paginierung, erwähnt in: Lebedeva/Narinskij: Komintern i Vtoraja mirovaja vojna, II, S.
159, Fn. 1).
133 Stalin brachte mehrere Korrekturen im Aufruf ein. In einem Gespräch mit Dimitrov meinte er
am 15.10.1941: „Der Aufruf ist gut gelungen. Wir werden ihn heute veröffentlichen. Er muß auch im
Radio gesendet werden als ein Dokument, welches bei dem gefallenen Unteroffizier Stolz gefunden
wurde...“ (Bayerlein: Georgi Dimitroff. Tagebücher I, S. 440). Der Aufruf wurde in der Pravda vom
16.10.1941 veröffentlicht und am selben Tag in deutscher Sprache im Ino-Radio gesendet. (Siehe:
Kinner: Der deutsche Kommunismus, III, S. 162). Ob er in deutscher Sprache veröffentlicht wurde,
scheint fraglich.
134 Verlegung des EKKI: Die Komintern wurde am 15.10.1941, da die deutschen Truppen immer näher
an Moskau rückten, nach Ufa (Baschkirien) und teilweise nach Kujbyšev (heute Samara, an der
Wolga) evakuiert. Siehe ausführlicher: Dimitroff: Tagebücher, Bd. 1, S. 440ff.; Bayerlein: Der Verräter,
Stalin, bist Du, S. 449f.
1660 1939–1943
Es erhebt sich die Frage, ob es zweckmäßig ist, all das in der gegenwärtigen Situ-
ation unter der Fahne der Kommunistischen Internationale zu regeln. Wäre es nicht
besser, wenn wir in Ufa nach außen hin als eine andere Einrichtung fungierten?
Ich persönlich bin der Meinung, dass wir jetzt keinen Anlass haben, die Kommu-
nistische Internationale besonders herauszustellen. Im Gegenteil, politisch wäre es
günstiger für uns, wenn wir unsere ganze praktische Zusammenarbeit mit verschie-
denen Institutionen nach außen unter einem anderen Aushängeschild, z. B. als Insti-
tut zur Erforschung internationaler Fragen betreiben könnten.
Ich bitte sehr um Ihren Rat und Ihre Weisung in dieser Frage.135
Mit Genossengruß,
G. Dimitrov
Dok. 501
Brief des Leiters des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes,
Pavel Fitins, an Dimitrov über den erfolgreichen Vollzug des
Geldtransfers für die KPD in Stockholm
Moskau, 30.12.1941
ABSOLUT GEHEIM
135 Am gleichen Tag schrieb Dimitrov ebenfalls an Andrej Andreev: „Bitte erwirken Sie so rasch
wie möglich Weisung des Gen. Stalin, denn die örtlichen Organe in Ufa drängen unentwegt darauf,
dass unsere Einrichtung die nötigen Formalitäten erledigt, ihre Mitarbeiter anmeldet usw.“ (RGASPI,
Moskau, 17/121/105, 42). In Ufa figurierte das EKKI als Rundfunkinstitut getarnt und wuchs im Laufe
des Jahres 1942 um mehr als die doppelte Belegschaftszahl an (404 Personen im Gegensatz zu 158 im
November 1941). Im Laufe des Jahres 1942 kehrten einzelne Strukturen des EKKI partiell nach Moskau
zurück, siehe Dok. 511. (Zu den Strukturen der Komintern in der Evakuierung siehe: Bayerlein: Trans-
nationale Netzwerke und internationale Revolution; Adibekov/Šachnazarova/Širinja: Organizacion-
naja struktura, S. 220ff.).
136 Über „Paul“ in Dimitrovs Handschrift: „KP Schwedens“.
137 Über „Nikolaj“ in Dimitrovs Handschrift: „KP Deutschlands“.
138 Am 15.11.1941 teilte Fitin Dimitrov mit, dass „Kurt“ (d.i. Herbert Wehner), dringend um Geldzu-
sendung gebeten habe: 2000 Kronen für unmittelbare und 20.000 für weitere Arbeit. „Paul“ (Ps.), d.i.
Dok. 501: Moskau, 30.12.1941 1661
[Sign.] (FITIN)
Sven Linderot, habe übermittelt, dass er die Direktive des EKKI erhalten habe und nun ebenfalls Geld
benötige, da er nur noch 5000 Kronen habe. Am 22.11.1941 bat Paul erneut um Geld, andernfalls werde
er die Arbeit komplett einstellen müssen. Er brauche für November und Dezember 40000 Kronen,
vor allem für die Herausgabe der Komintern-Zeitschrift Die Welt (RGASPI, Moskau, 495/74/578, 8–9).
139 Hdschr. Resolution Dimitrovs: „Gen. Sucharev, Sorkin, Mezis vorzulegen. 6.1.42. GD“. Als Lese-
vermerke folgen auf dem Dokument die Signaturen von Konstantin Sucharev (EKKI-Sachverwaltung),
Grigorij Sorkin (EKKI-Nachrichtenagentur SUPRESS) und Petr Mezis (Buchhalter des EKKI-Verbin-
dungsdienstes).
1942
Dok. 502
Beschluss der Komintern für eine Kampagne gegen die
Gräueltaten der Wehrmacht in der Sowjetunion
[Ufa], 9.1.1942
ANWESEND: Gen. Dimitrov, Manuilski, Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti], Pieck, Florin,
Wieden [d.i. Ernst Fischer].
ANGEHÖRT:
§ 1553. Über die Note Molotovs.1
BESCHLOSSEN:
1. Im Zusammenhang mit der Note des Gen. Molotov eine Kampagne im Ausland zu
entfalten gegen die unerhörten Bestialitäten der deutsch-faschistischen Armee in den
zeitweise okkupierten Territorien der Sowjetunion.
2. Eine Deklaration der in der UdSSR lebenden deutschen Personen des öffentlichen
Lebens zu veröffentlichen, in der sie die tiefste Empörung und ihren Protest gegen
die von den Hitlerbanden an der friedlichen sowjetischen Bevölkerung verübten Ver-
brechen zum Ausdruck bringen und an das deutsche Volk appellieren, dem Regime
des Hitlerbanditismus, das es in Verruf bringt, ein Ende zu bereiten und den Sturz
Hitlers zu erreichen, der das deutsche Volk zum Mittäter und Verantwortlichen für
diese Verbrechen macht. 2
1 Am 6.1.1942 wurde eine Note Molotovs mit dem Titel „Über den allgegenwärtigen Raub, die Aus-
plünderung der Bevölkerung und die ungeheuerlichen Bestialitäten der deutschen Machthaber in
den von ihnen besetzten sowjetischen Territorien“ an die diplomatischen Vertretungen aller Staa-
ten übergeben, mit denen die UdSSR Beziehungen unterhielt. Darin wurde festgestellt, dass die von
Deutschland okkupierten, nun wieder befreiten Territorien „das unerhörte Bild allgegenwärtigen
Raubes, allgemeiner Verwüstung, abscheulicher Gewalt, Schandtaten und Massenmorde, die von den
deutsch-faschistischen Okkupanten gegen die friedliche Bevölkerung verübt werden“, vermitteln.
Als Verantwortliche dafür wurde die NS-Regierung angeklagt. Die Note schloss mit dem Ausdruck
der Gewissheit, dass der Krieg nur durch eine völlige Vernichtung der Hitlertruppen enden könne
(Vnešnjaja politika Sovetskogo Sojuza v period Otečestvennoj vojny. Dokumenty i materialy, Bd. 1,
Moskva, OGIZ Gospolitizdat, 1946, S. 169–189).
2 Bereits die vorformulierten und rassistisch unterlegten Kriegsziele wie die Inkaufnahme des Hun-
gertodes großer Teile der Zivilbevölkerung zugunsten der Ernährung der Wehrmacht, die Verschlep-
Dok. 503: [Ufa], 10.1.1942 1663
3. Die Gen. Pieck, Wieden und Florin zu beauftragen, den Entwurf einer solchen
Deklaration vorzubereiten.
Dok. 503
Beschluss der Komintern zur Ausrichtung der Radiopropaganda
gegenüber Deutschland
[Ufa], 10.1.1942
Auf der Beratung vom 30.XII.1941 unter Teilnahme von Kommentatoren der sowje-
tischen fremdsprachigen Radiosendungen,3 sowie von verantwortlichen Leitern der
speziellen Radiosendungen4 stellt das EKKI fest:5
I) dass seit dem deutsch-faschistischen Überfall auf die Sowjetunion im Bereich der
antifaschistischen Propaganda und in erster Linie im Bereich der Radiopropaganda
eine große Arbeit geleistet wurde. Zugleich stellt das Sekretariat fest, dass unsere
Radiopropaganda sowohl was den Inhalt, als auch die Qualität betrifft, bei weitem
noch nicht als befriedigend betrachtet werden kann. [...] Deswegen befindet es das
Sekretariat des EKKI für notwendig, die Aufmerksamkeit auf die wichtigsten nächsten
Aufgaben dieser Propaganda zu richten, und zwar:
a) In erster Linie zur Zersetzung des Hinterlands der deutschen Armee, wie auch
des Hinterlands der italienischen, finnischen, ungarischen und rumänischen Armeen
beizutragen. [...]
pung der Einwohner als Zwangsarbeiter und die Erschiessung der Politkommissare bestimmten die
erste Kriegsphase. Von 1942 an erfolgten verstärkt Geiselerschiessungen und Ermordungen der Be-
völkerung einschließlich von Frauen und Kindern, die zumeist mit der Bekämpfung des Partisanen-
kampfes gerechtfertigt wurden. Die Ermordungen und der Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener
waren ohnehin die Regel, von ihnen starben bis Ende 1942 ca. eine Million. Weitere Opfer forderte die
Politik der verbrannten Erde beim Rückzug der Wehrmacht und – nicht zuletzt – der Genozid an den
sowjetischen Juden (siehe Ulrike Jureit, Jan Philipp Reemtsma (Hrg.): Verbrechen der Wehrmacht.
Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage, Hamburg,
Hamburger Edition, Hamburger Institut für Sozialforschung, 2002; Christian Streit: Keine Kameraden.
Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn, J.H.W. Dietz. Nachf., 1997).
3 Zum sowjetischen fremdsprachigen Rundfunk („Ino-Radio“), siehe Dok. 470.
4 Zur Entstehung der „speziellen“ Radiosendungen der Komintern, siehe Dok. 493.
5 Das Protokoll der entsprechenden Sitzung siehe: RGASPI, Moskau, 495/18/1335, 155.
1664 1939–1943
Kräfte des deutschen Imperialismus zerschlägt, macht die Rote Armee allen Nationen
der okkupierten Länder den Weg frei zu ihrer Befreiung vom Joch des Hitlerismus und
des Faschismus. [...]
II. Das Sekretariat stellt fest, das die Kommentare für das sowjetische Ino-Radio und
die speziellen Radiosendungen der Gesamtheit dieser Aufgaben noch nicht in aus-
reichender Weise entsprechen. Ein Teil der Redaktionen ist politisch schwach und
unterbesetzt, [und] reagiert nicht immer schnell genug auf die Ereignisse im [jewei-
ligen] eigenen Land. Das Sekretariat stellt fest, dass die Kommentare und Berichte
teilweise oberflächlich verfasst sind, die Argumentation und die Kritik der Argumente
des Feindes nicht genug durchdacht sind. Oft sind die Berichte und Kommentare
lediglich agitatorische Aufrufe, die jeglicher Argumentation entbehren; Informati-
onen aus den verschiedenen Ländern, Briefe von Soldaten und Kriegsgefangenen
sowie politisch wichtige Dokumente (der Aufruf des ZK der KPD,8 die Deklaration der
1589 deutschen Kriegsgefangenen10 u.a.) werden nicht genügend herangezogen; die
Notwendigkeit einer Anpassung der Propaganda an die Bedingungen jedes einzelnen
Landes wird nicht genügend berücksichtigt; in manchen Fällen werden unter Ein-
fluss der englischen Propaganda Überspitzungen in der Bewertung der Ereignisse an
der sowjetischen Front bemerkbar. Es stellt außerdem einen weiteren entscheiden-
den Mangel einer Reihe von Redaktionen dar, dass in ihren Redaktionsmappen kein
im Voraus vorbereitetes Material vorhanden ist, was eine gehetzte Arbeitsweise nach
sich zieht. [...]11
Am 18. sowie 20.1.1942 legte das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion den Ablauf der Feierlichkei-
ten anlässlich des 18. Todestags Lenins am 21.1. fest.12
8 Vermutlich ist der Aufruf des ZK der KPD vom 6.10.1941 gemeint. Siehe hierzu Dok. 499.
9 „156“ im Typoskript, handschriftlich in „158“ korrigiert.
10 Als Ergebnis des zweiten Besuchs der Komintern-Delegation im Kriegsgefangenenlager (siehe
Dok. 498) wurde ein „Appell an das deutsche Volk“ ausgearbeitet, der von 158 Kriegsgefangenen un-
terzeichnet und in der neugegründeten Kriegsgefangenenzeitung Das neue Wort abgedruckt wurde.
In dem Dokument, das die programmatische Basis der Antifa-Arbeit unter den Kriegsgefangenen
bis Ende 1942 darstellte, wurde der Sturz Hitlers zur Errichtung eines neuen, „freiheitsliebenden“
Deutschlands gefordert (siehe: Morré: Hinter den Kulissen, S. 23). Das Dokument ist abgedruckt in:
Sie kämpften für Deutschland. Zur Geschichte des Kampfes der Bewegung „Freies Deutschland“ bei
der 1. Ukrainischen Front der Sowjetarmee, Berlin(-Ost), Verlag des Ministeriums für Nationale Ver-
teidigung, 1959, S. 114ff.
11 In einem weiteren Punkt beschloss das Sekretariat Maßnahmen zur Behebung der aufgeführten
Missstände, darunter eine bessere Vernetzung der Mitarbeiter, die reibungslose Versorgung der Re-
daktionen mit Materialien sowie eine stärkere Zentralisierung der Arbeit.
12 RGASPI, Moskau, 17/3/1043, 41, 57.
1666 1939–1943
Dok. 504
Brief des Komintern-Verlagsleiters Konstantin Kasradze an
Dimitrov über Flugblattpropaganda und antifaschistische Literatur
[Moskau], 23.1.1942
23.1.194213
1. Vor einigen Tagen hatte ich von der 7. Abteilung17 den dort völlig ohne Bearbeitung
herumliegenden Sammelband über die Gräueltaten übernommen. Dort hätten zusätz-
13 Oben hdschr. Vermerk: „Den Gen. Manuilski, Ercoli [d.i. Palmiro Togliatti], Anvelt, Ponomarev
vorzuweisen. 4.2.42 G.D.“
14 Engels war der Sitz des „Deutschen Staatsverlags“. Der deutschsprachige Verlag musste nach dem
Angriff auf die Sowjetunion seine Tätigkeit einstellen. Vermutlich wurden seine Mitarbeiter vom „Ver-
lag für fremdsprachige Literatur“ der Komintern übernommen, der seinerseits Nachfolger des Kom-
intern-Verlags „Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR“ war (siehe Dok. 392).
Von 1942 an war er der einzige Verlag in der Sowjetunion, der deutschsprachige Bücher publizierte
(Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 46).
15 In einem weiteren Brief an Dimitrov vom 14.2.1942 beschrieb Kasradze die siebenstufige Arbeits-
weise der Flugblattherstellung im Verlag in der folgenden Weise: 1. Verfassen der Texte (wobei unter
den deutschen Kommunisten Erich Weinert, Friedrich Wolf und Willi Bredel als Autoren genannt wer-
den); 2. Übersetzung der von der Politischen Verwaltung der Roten Armee bewilligten Texte in andere
Sprachen; 3. Lektorierung; 4. Herstellung maschinenschriftlicher Kopien und Vorbereitung für den
Satz; 5. Satz und Endredaktion; 6. Künstlerische Gestaltung; 7. Lesedurchgang durch die Zensurbe-
hörde (glavlitovskaja čitka). Die fertig gesetzten Flugblätter wurden dann an den Militärverlag gege-
ben, kleinere Aufträge jedoch auch direkt in der Hausdruckerei gedruckt (siehe: RGASPI, Moskau,
495/73/140, 8–13).
16 Zu den Aufgaben des Kominternverlags gehörten auch die Übersetzung und redaktionelle Betreu-
ung marxistisch-leninistischer Standardwerke (siehe: RGASPI, Moskau, 495/73/140, 8–13).
17 7. Abteilung: Gemeint ist die 7. Verwaltung der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee, die
für die Frontpropaganda gegen den Feind zuständig war. Die 7. Verwaltung unterstand zwar der Roten
Armee, erhielt ihre Weisungen jedoch auch vom „Sowjetischen Büro für militärpolitische Propagan-
da“, das am 25.7.1941 als Koordinationsstelle zwischen der Roten Armee und VKP(b) gegründet worden
Dok. 504: [Moskau], 23.1.1942 1667
lich zu unseren Materialien noch weitere Dokumente hinzugefügt werden sollen. Sie
haben jedoch nichts getan. Nun habe ich eine spezielle Person dafür abgestellt, wir
selektieren Materialien (bis zu den letzten Tagen) und Dokumente, fügen ein speziel-
les Kapitel über den Vandalismus hinzu und bereiten verstärkt diesen Sammelband
vor. Hier werden beide Noten des Gen. Molotov eingefügt,18 sowie die folgenden vier
Sammelbandkapitel: 1) Gräueltaten und Gewalt gegen gefangene und verwundete Rot-
armisten, 2) Gräueltaten und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, 3) Plünderungen, 4)
Vandalismus. Wir haben mit Gen. Aleksandrov19 vereinbart, dass wir den Sammelband
gemeinsam m it Gospolitizdat20 herausbringen werden. Dieser wird ihn in russischer
Sprache drucken, während wir die Ausgaben in Englisch, Spanisch und in den Spra-
chen, die uns von „Meždunarodnaja Kniga“21 übermittelt werden, übernehmen. Sobald
der Sammelband endgültig fertig sein wird, werde ich ihn zu Ihnen herausschicken.22
2. Betreffs der Zeitschriften Inostrannaja Literatura.23 Bis jetzt haben wir noch nicht
das Material für die ersten Nummern des Jahres 1942 erhalten. Noch helfen wir Gos-
politizdat, die letzten Nummern für 1941 fertig zu stellen. Folgende nach Moskau
berufene Redakteure sind noch nicht eingetroffen: Becher (deu.), Stasova (engl. und
fr.) und Arconada (span.). Sobald sie eintreffen, werden wir sie zusammenrufen, uns
umfassend beraten und entscheiden, welche Zeitschrift wo gedruckt werden soll.24
war. Im Juni 1942 wurde das Büro in einen „Rat für militärpolitische Propaganda“ umgewandelt und
der Politischen Hauptverwaltung unterstellt. Vorsitzender des Rates war Politbüro-Kandidat Alek
sandr Ščerbakov, Mitglieder waren u.a. Dmitrij Manuilski und Lev Mechlis (siehe: Morré: Hinter den
Kulissen, S. 21, 28–29).
18 Zur Note Molotovs gegen die Gräueltaten der deutschen Besatzer, siehe Dok. 502.
19 Georgij Aleksandrov (1908–1961) war, nachdem er 1938–1939 die Verlagsabteilung des EKKI gelei-
tet hatte, von 1940 bis 1947 Leiter der Agitpropverwaltung des ZK der VKP(b).
20 Gospolitizdat, russ. Gosudarstvennoe izdatelʼstvo političeskoj literatury („Staatsverlag für politi-
sche Literatur“), sowjetischer Staatsverlag.
21 Siehe Dok. 489.
22 Am 16.2.1942 schrieb Kasradze an Dimitrov: „Den Band über die Gräueltaten mit Illustrationen
(über 100 sehr wichtige Fotodokumente und Faksimiles) haben wir an Gen. Aleksandrov abgegeben,
der ihn mit einem ähnlichen Sammelband, der auf seinen Vorschlag hin vom Gospolitizdat vorbe-
reitet wird, vereinigen will. Was daraus wird und wie schnell sie es machen – ich weiß es nicht. In
3 Tagen wird Gen. Ozorin Ihnen ein Exemplar unseres Sammelbandes zuschicken. Meiner Meinung
nach ist er ganz ordentlich geworden. [...] Zwei Exemplare habe ich nach Engels geschickt und dort
werden sie bereits ins Englische und ins Spanische übersetzt. Bis der Sammelband bewilligt ist,
sind die Übersetzungen fertig.“ (RGASPI, Moskau, 495/73/140, 5–7). Als Resultat der Vorbereitun-
gen erschien vermutlich der folgende Sammelband: Dokumenty obvinjajut. Sbornik dokumentov o
čudoviščnych zverstvach germanskich vlastej na vremenno zachvačennych imi sovetskich territori-
jach. Bd. 1, Moskva, OGIZ Gosudarstvennoe Izdatelstvo Političeskoj Literatury, 1943. Fremdsprachige
Ausgaben konnten nicht eruiert werden.
23 Zur Zeitschrift Inostrannaja Literatura (Ausländische Literatur) siehe Dok. 451b.
24 Laut einer Telefonnotiz Dimitrovs über ein Gespräch mit Kasradze vom 10.1.1942 hatte das ZK
der VKP(b) grünes Licht für die Herausgabe der Inostrannaja Literatura in vier Sprachen (englisch,
deutsch, spanisch und französisch) gegeben (RGASPI, Moskau, 495/73/183, 2).
1668 1939–1943
Möglicherweise werden wir alle Ausgaben in Engels drucken lassen, außer der deut-
schen, da hier in Moskau die zentralen Autoren- und Redaktionskader konzentriert
sind.
3. Von den deutschen Schriftstellern sind eingetroffen: Wolf, Weinert und Bredel. Gen.
Becher wurde angefordert. Alle sind in unserer Flugblattgruppe beschäftigt und arbei-
ten an einer deutschen Zeitung (sie verfassen Flugblätter, Zeitungsartikel usw.).25
4. Ich habe Gen. Weinert damit beauftragt, einen Sammelband der besten Werke deut-
scher antifaschistischer Schriftsteller für das Ausland, vor allem für England und
Amerika, zusammenzustellen. Mir scheint, dass es politisch sehr wichtig ist, gerade
jetzt und gerade deutsche Schriftsteller gegen den deutschen Faschismus in der inter-
nationalen Arena einzusetzen. Dies ist meiner Meinung nach wichtig, da erstens in
Gestalt dieser Schriftsteller die besten Söhne des deutschen Volkes gegen den deut-
schen Faschismus auftreten26 und die wahren Stimmungen des deutschen Volkes zum
Ausdruck bringen; zweitens wird das Auftreten deutscher antifaschistischer Schrift-
steller zur Zeit in gewisser Weise eindämmend auf die um sich greifenden Pogrom-
stimmungen gegen „die Deutschen“ an sich wirken, die im Ausland vorhanden sind.
Dabei habe ich ihm [Weinert] vorgeschlagen, den Sammelband nicht ausschließlich
und nicht in so starkem Maße aus bereits erschienenen Werken zu kompilieren,
sondern aus speziell für den englischen und amerikanischen Leser geschriebenen
[Werken]. Gen. Weinert versprach mir, einen solchen Sammelband innerhalb von 2–3
Wochen zu liefern. Wenn Sie es gutheißen, werden wir diese Idee verwirklichen.27 [...]
In jeweils einem Exemplar schicke ich Ihnen die Flugblätter, die seit dem 15. Dezem-
ber erschienen sind.28
Mit Genossengruß,
[Sign.] (K. Kasradze)
25 Ein von Willi Bredel und Erich Weinert verfasstes Flugblatt ist abgedruckt in: Walter A. Schmidt:
Damit Deutschland lebe: Ein Quellenwerk über den deutschen antifaschistischen Widerstandskampf
1933–1945, Berlin, Kongress-Verlag, 1959, S. 783–784.
26 Im russischen Original wird das deutsche Volk mit dem förmlicheren, den Staat bzw. das Land
markierenden Adjektiv „germanskij“ bezeichnet, während der deutsche Faschismus mit dem die Eth-
nie und die Sprache bezeichnenden und umgangssprachlicheren „nemeckij“ tituliert wird: „vystupa-
jut lučšie syny germanskogo naroda protiv nemeckogo fašizma“.
27 Dimitrov antwortete am 5.2.1942: „Es erweist sich als zweckmäßig, den Sammelband von Weinert
herauszugeben. Er ist erst in den Druck zu geben, nachdem Sie über seinen Inhalt berichtet haben.“
(RGASPI, Moskau, 495/73/183, 53). Die Arbeit gestaltete sich jedoch langwieriger, als von Weinert ver-
sprochen. Am 16.2.1942 teilte Kasradze Dimitrov mit: „Gen. Weinert ist bezüglich der Abgabe des Sam-
melbands mit Erzählungen deutscher antifaschistischer Schriftsteller stark im Verzug. Er zieht es die
ganze Zeit hin und wartet aus unerfindlichen Gründen auf die Ankunft von Gen. Becher.“ (RGASPI,
Moskau, 495/73/140, 5–7).
28 Die Anlagen sind nicht überliefert.
Dok. 505: [Moskau], 6.3.1942 1669
Am 4. und 16.2.1942 beschloss das Politbüro des ZK der KP der Sowjetunion weitere Modalitäten
zur Auszeichnung der im Hinterland der deutschen Truppen kämpfenden Partisanen mit Orden und
Medaillen.29
Dok. 505
Mitteilung Grigorij Sorkins an Dimitrov über die Verhaftung von
Herbert Wehner
[Moskau], 6.3.1942
N° 30.
6. März 1942.
Eing[ang]: N° 284.
Sp. N° 38.
AN DIMITROV.
In Stockholm wurde KURT [d.i. Herbert Wehner] verhaftet. Er ging in die Wohnung zu
WILLY [d.i. Josef Wagner], der vorher verhaftet wurde, um die Frau des Letzteren zu
sehen, und dort verhaftete ihn die Polizei. Die näheren Umstände werden noch geklärt.30
SORKIN.
Am 6.3.1942 traf das Politbüro eine Entscheidung zum „internationalen kommunistischen Frauen-
tag“, dem 8. März. Außerdem wurde über weitere Ordensverleihungen an Partisanen entschieden.31
Dok. 506
Beschluss der Komintern über die Kampagne zum 1 Mai 1942
[Moskau], 18.4.1942
Das Jahr 1942 muss das Jahr der Vernichtung des Hitlerfaschismus werden.33 Die hero-
ische Rote Armee, die Vorkämpferin für die Freiheit der Völker, hat den Mythos von
der Unbesiegbarkeit der faschistischen Armee zerstört. Die faschistische Kriegsma-
schine wurde durch schwere Schläge geschwächt und erschüttert.34 Die Stunde des
aktiven Handelns für alle freiheitliebenden Völker, für jeden freiheitliebenden und
fortschrittlichen Menschen ist gekommen.
Es gilt durch den gemeinsamen Kampf, durch Einsatz aller Kräfte und Mittel die
Pläne Hitlers für das Frühjahr und den Sommer 1942 zu vereiteln. Vorwärts zur ein-
heitlichen Offensive der Völker zur Vernichtung des Faschismus. Die beste Verteidi-
gung der eigenen Heimat ist die kraftvolle Offensive gegen Hitler. [...]
tig entfernt werden konnten. Nach Kenntnisnahme von Wehners Erklärung mit Informationen über
KPD-Funktionäre – (wie Scholz ausführt, allesamt auch der Gestapo bekannte Spitzenfunktionäre
außerhalb ihrer Reichweite) lehnte der für Wehner ursprünglich vorgesehene sozialistische Anwalt
Georg Branting die Verteidigung allerdings ab. In Moskau wurde Wehners Verhalten weiterhin als
„Verrat“ ausgelegt; am 6.6.1942 wurde er wegen „Parteiverrats“ aus der KPD ausgeschlossen (siehe
zuletzt: Scholz: Herbert Wehner in Schweden, S. 71–106; vgl. Müller: Akte Wehner, S. 401–406; Weber/
Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 1002–1003).
31 RGASPI, Moskau, 17/3/1043, 250, 251.
32 „1942“ handschriftliche Eintragung.
33 Die Komintern übernahm die Stalinsche Sichtweise vom Jahr 1942 als dem Jahr des Sieges über
den Hitler. Im Befehl vom 1.5.1942 proklamierte Stalin als Volkskommissar für Verteidigung: „Die
ganze Rote Armee muss danach streben, dass das Jahr 1942 zum Jahr der endgültigen Zertrümmerung
der faschistischen deutschen Truppen und der Befreiung des Sowjetbodens von den Hitlerschurken
wird!“ (Befehl des Volkskommissars für Verteidigung Nr. 150. In: J. Stalin: Über den Großen Vaterlän-
dischen Krieg der Sowjetunion, Berlin-Ost, Dietz, 1951, S. 53–64, hier S. 63–64).
34 Im November 1941 kam die deutsche Heeresgruppe Mitte (Generalfeldmarschall Fedor von Bock)
kurz vor Moskau zum Stillstand, im Dezember konnte sie den Angriff von sowjetischen Truppen unter
General Georgij Žukov abwehren. Die „Schlacht um Moskau“ war verloren, Hitler liess nun eine de-
fensivere Strategie umsetzen, um die Offensive auf den Süden zu konzentrieren.
Dok. 506: [Moskau], 18.4.1942 1671
1. Verbündete Länder
England. Der heldenhafte Kampf der Sowjetunion und der Roten Armee ist eine ent-
scheidende Hilfe für unser Land. Heute gilt es gemeinsam zu handeln und zu kämpfen.
Schulter an Schulter mit der heroischen Roten Armee wollen wir uns schlagen. Mit
der ganzen Macht unseres Landes vorwärts zum Kampf gegen den Hitlerfaschismus.35
Führen wir gemeinsam mit der Sowjetunion den tödlichen Schlag gegen Hitler,
Jeder Tag des Abwartens erschwert unseren Kampf. Verlorene Zeit ist soviel wie eine
verlorene Schlacht. Wenn wir nicht den Krieg verlieren wollen, müssen wir zum
aktiven Kampf übergehen. Nicht abwarten und zusehen, sondern zuschlagen, ist das
Gebot der Stunde. Wollen wir neue Bombardierungen unserer Städte verhindern,
wollen wir die Gefahr des Einfalls Hitlers in unser Land endgültig beseitigen, wollen
wir siegen und die Menschheit von der Hitlertyrannei befreien, so müssen wir jetzt
die zweite Front in Europa schaffen.36
Alle Kräfte für den Krieg, alles für den Sieg über Hitler im Jahre 1942. Weg mit
allen Hemmnissen und Hindernissen zur Steigerung der Produktion der Kriegsmittel.
35 Appelle zur Unterstützung der Roten Armee fielen nicht nur in kommunistischen Kreisen auf
fruchtbaren Boden und ließen den Stalinismus häufig vergessen. So schrieb etwa der Reformpädago-
ge Alexander S. Neill an den Psychoanalytiker Wilhelm Reich: „Wir sollten uns über den alten Juppa
Stalin nicht streiten. Alles ist in Bewegung und in ständiger Veränderung. Ich wollte ja nicht mehr
sagen, als daß das britische Publikum etwas Gedrucktes, das Stalin mit den beiden anderen Dikta-
toren in einen Topf wirft, zur Zeit nicht gut aufnehmen würde. Im Moment ist hier die Begeisterung
für Rußland riesengroß.“ (Beverly R. Placzek (Hrsg.): Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel
zwischen Wilhelm Reich und Alexander S. Neill 1936–1957, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1989, S. 104).
36 Bereits am 22.6.1941 erklärte Großbritanniens Premier Winston Churchill sich mit dem Abwehr-
kampf der Sowjetunion solidarisch und sagte jede Unterstützung seitens Großbritannien zu, worüber
am 12.7.1941 ein Bündnis zwischen der UdSSR und Großbritannien geschlossen wurde. Ein analoges
Bündnis schloss die Sowjetunion am 2.8.1941 mit den USA. Bereits am 18.7.1941 forderte Stalin von
den Westalliierten die Errichtung einer Zweiten Front in Frankreich oder Norwegen. Diese Forderung
wurde von der Sowjetunion laufend erhoben, jedoch beschränkten sich die Westalliierten zunächst
auf Materiallieferungen (siehe: Horst Boog u.a.: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart, Deutsche
Verlags-Anstalt, 1987, S. 939ff (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 4); Jochen P. Laufer,
Georgij P. Kynin (Hrsg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv
für Außenpolitik der Russischen Föderation, 4 Bde., Berlin, Duncker & Humblot, 2004–2012, Bd. I,
S. 589).
1672 1939–1943
Entfaltung der Initiative der Arbeiterschaft zur Verbesserung und Beschleunigung der
Produktion. Lasst die Vertreter der Arbeiter, lasst die Betriebskomitees mitwirken bei
der Hebung der Produktion, bei der Entfaltung aller noch nicht ausgenützter Reser-
ven.
In der Sowjetunion ist die entscheidende Front gegen Hitler. Die Rote Armee zer-
mürbt und zerschlägt die Armee Hitler-Deutschlands. Mehr Flugzeuge, Tanks, mehr
Waffen und Ausrüstungsgegenstände für die heroische Rote Armee. Gebt der Sowjet-
union alles, was sie in dem gigantischen Ringen mit Hitler braucht.37
Frauen, stellt Eure Kraft in den Kampf gegen die blutige Hitlerherrschaft, für die
Freiheit. Stellt Euch an den Platz der Männer in der Produktion. Organisieren wir die
Frauen in den Gewerkschaften. Gebt ihnen gleiche Rechte und sie werden mit Aufop-
ferung die Pflichten des antifaschistischen Kampfes auf sich nehmen.
Für Amerika sind ausserdem noch folgende Momente zu berücksichtigen:
Durch Organisierung der Arbeiterschaft und ihre Vereinigung zur Ausnützung
aller Kräfte in der Arbeit für die Kriegsproduktion. Stellen wir alle Sonderinteressen
zurück, keinen kleinlichen Organisationsstreit mehr.38 Einheitlich und geschlos-
sen stellt sich die Arbeiterschaft völlig in den Dienst des Freiheitskrieges gegen den
Faschismus.
Gegen die 5. Kolonne. Legt den Agenten Hitlers und Mussolinis das Handwerk
Weg mit den Saboteuren der Kriegswirtschaft, den Saboteuren des offenen aktiven
Kampfes gegen den Hitlerfaschismus. Gegen die verderbliche Theorie, Amerika nur
in Amerika selbst zu verteidigen. Der beste Schutz unseres Landes ist die Vernichtung
des Hauptfeindes, die Vernichtung Hitlers und seiner Clique.
2. Achsenländer
Deutschland. Hitlers Niederlage ist besiegelt. Er konnte nicht siegen, solange seine
Armee frisch und stark war, er konnte nicht siegen gegen England, er konnte nicht
siegen trotz der Ueberraschung der SU durch seinen Überfall. Er kann heute nicht
mehr siegen gegen die starke und grosse Sowjetunion, die vereinigt ist mit England
und Amerika, deren Kriegsproduktion ein Vielfaches der Deutschlands ist.
37 Durch ein Abkommen vom 1.10.1941 verpflichteten sich die USA und Großbritannien in der Folge
des Lend-Lease Act, von Oktober 1941 bis Juni 1942 monatlich 400 Flugzeuge, 500 Panzer, 5250 ande-
re Gefechtsfahrzeuge, 10.000 Lastwagen, 152 Fliegerabwehrgeschütze, 1256 Panzerabwehrgeschütze
sowie umfangreiche Rohstoff- und Nahrungsmittelmengen an die Sowjetunion zu liefern. Zunächst
liefen die Lieferungen langsam an, so wurden von Oktober bis Dezember 1941 gerade einmal 750
Flugzeuge, 501 Panzer und 8 Fliegerabwehrkanonen (von minderer Qualität) geliefert. Im Verlauf des
Krieges nahmen die Lieferungen umfangreichere Ausmaße an, wobei Transport- und Nahrungsmittel
eine größere Rolle spielten als Waffen. So erhielt die UdSSR im Verlauf des Krieges von den Westalli-
ierten 427 284 Lastwagen sowie 4,5 Millionen Tonnen Fleischkonserven (siehe: Boog u.a.: Der Angriff
auf die Sowjetunion, S. 491–492).
38 Diese Passage war als Appell an die breitgefächerte US-amerikanische Gewerkschaftsbewegung
zu verstehen, da die KP der USA alleine zu unbedeutend war.
Dok. 506: [Moskau], 18.4.1942 1673
Die rasche Niederlage Hitlers ist die Rettung für unser Land und unser Volk. Wer
unser Land liebt, wer ein wahrer Patriot ist, der wirkt für die rasche und vollständige
Niederlage Hitlers, die uns Friede und Freiheit bringt.
Keine sinnlose, verbrecherische Frühjahrsoffensive mehr.39 Sie kann keinen Sieg,
sondern nur noch Millionen Tote und Krüppel für Deutschland bringen. Setzt alles
ein, um die blutigen Pläne Hitlers für Frühjahr und Sommer zum scheitern zu bringen.
Sabotiert die Kriegsproduktion mit allen Mitteln. Sabotiert alle Massnahmen der
Nazi. Zerstört die Maschinen und ihr rettet zehntausenden Deutschen das Leben.
Maschinen können wir im freien Deutschland neu bauen, aber unsere toten Söhne,
Brüder und Männer können wir nicht mehr zum Leben erwecken. Die Arbeiterehre
verlangt heute nicht gute und rasche, sondern schlechte und langsame Arbeit. Nur
so dient ihr eurer Klasse und eurem Volk. Je mehr ihr sabotiert, umso rascher kommt
Ihr zu Friedensarbeit.
Frauen, schliesst euch zusammen, lasst eure Söhne und Männer nicht weiter hin-
morden. Lasst sie nicht an die Front. Verlangt ausreichende Lebensmittelrationen für
euch und eure Kinder.
Antifaschisten! Hitlers Kriegsmacht ist durch den Kampf der Roten Armee
erschüttert und geschwächt. Für Euch ist der Moment des Handelns gekommen.
Tretet aktiv vor die Arbeiterschaft, vor das Volk. Stellt euch an die Spitze der Sabotage
und des aktiven Kampfes gegen Hitler! Zeigt den Massen, dass nur die Niederlage und
der Sturz Hitlers Deutschland retten kann. [...]
3. Vasallen-Länder
Lasst nicht zu, dass die Söhne unseres Landes wie Vieh auf die Schlachtbank des hit-
lerischen Raubkrieges getrieben werden. Verhindert mit allen Mitteln ihren Abtrans-
port an die Front. Macht den 1. Mai zum Volkskampftag für die Freiheit und Unab-
hängigkeit unseres Landes. Geht in Massen auf die Strasse. Verlangt die Rückkehr
unserer Soldaten von der Front. Keinen Mann, keinen Handschlag, keine Erzeugnisse
unseres Landes für Hitler und seinen Raubkrieg. Hinaus mit den deutschen Truppen
aus unserem Lande.
Die rote Armee versetzt der Hitlerarmee einen schweren Schlag nach dem
anderen. Die faschistische Kriegsmaschinerie, die unsere Unabhängigkeit zerstört
hat, ist geschwächt und wird von Tag zu Tag noch mehr erschüttert. Das Schicksal
unseres Landes liegt in unseren eigenen Händen. Hitler will unser Land mit sich in
den Abgrund reissen. Wir müssen los von Hitler, weg von der Achse, die uns nur Tod
und Not, Hunger und Untergang bringt. Retten wir unser Land und unser Volk. [...]
39 Die „Frühjahrsoffensive“ Hitlers wurde propagandistisch als gescheitert dargestellt, was nicht
uneingeschränkt der Wahrheit entsprach. Siehe hierzu den Kominternbeschluss zur Neuausrichtung
der Propaganda infolge des „Scheiterns der Pläne Hitlers für eine ‚Frühlingsoffensive‘ infolge der ge-
waltigen Schläge der Roten Armee und des wachsenden Widerstandes der Völker der okkupierten
Länder“, Dok. 511.
1674 1939–1943
4. Okkupierte Länder.
Im Frühjahr und Sommer 1942 werden sich die entscheidenden Kämpfe entfal-
ten. Jetzt entscheidet sich auch unser Schicksal. Auf zum Kampf für unsere natio-
nale Befreiung. Der 1. Mai muss der Auftakt zur Volkserhebung in unserem Lande
werden.40 Entfacht den heiligen Krieg gegen Hitler und den Faschismus. Das Frühjahr
muss unsere Offensive bringen. Folgt dem Beispiel der heroischen Sowjetpartisanen
und der Partisanen Jugoslawiens.41 Sabotiert in den Betrieben, auf den Eisenbahnen,
überall – wo es den Okkupanten schadet. Gebt den Okkupanten kein Korn Getreide,
kein Erzeugnis eurer Produktion. Entfaltet die Partisanenbewegung gegen die Okku-
panten und ihre Lakaien. Kein Sohn unseres Volkes darf mehr passiv sein. Alle Pat-
rioten unserer Heimat müssen Soldaten im Kampfe gegen Hitler sein. Schliesst euch
zusammen zum einheitlichen Kampf des ganzen Volkes.
Keinerlei Hilfe für den räuberischen Krieg Hitlers! Kämpft für die Entfernung der
kriegstreiberischen faschistischen Agenturen. Hinaus mit den Hitler-Agenten aus
unserem Lande. Verteidigt mit aller Kraft die Freiheit und Unabhängigkeit unseres
Volkes, das Leben unserer Söhne und die Zukunft unserer Heimat.
40 Bereits am 30.12.1941 hieß es in einer Notiz für die Komintern-Radioredaktionen, eine wichtige
Aufgabe sei es, „mitzuhelfen, die Volksmassen in den okkupierten Ländern auf den entschlossenen
bewaffneten Aufstand gegen die Okkupanten vorzubereiten, der gleichzeitig mit dem Gegenangriff
der Roten Armee im Frühjahr erfolgen soll.“ (Zit. in: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S. 454).
Am 27.2.1942 warnte das EKKI die Parteien bereits davor, „auf eine Verbesserung der Situation zur
Aufnahme von bewaffneten Aktionen zu warten, indem hauptsächlich auf die Siege der Roten Armee
gewartet wird.“ (Zit. in: Natal‘ja Lebedeva, Michail Narinskij: Il Komintern e la seconda guerra mondi-
ale. Prefazione di Silvio Pons. Traduzione di Andrea Romano, Perugia, Guerra Edizioni, 1996, S. 105).
Mit Ausnahme von Jugoslawien entsprach die Realität in den okkupierten Ländern in keiner Weise
dem eher der Verzweiflung entsprungenen Appell des EKKI.
41 Die vom Generalsekretär der KP Jugoslawiens, Josip Broz Tito, angeführte Jugoslawische Volks-
befreiungsarmee leistete trotz ihrer schlechten Ausrüstung und Bewaffnung einen außergewöhnlich
erfolgreichen Widerstand gegen die deutschen Besatzer; bis Ende 1941 kontrollierte sie bereits ein
Drittel des jugoslawischen Territoriums. Obwohl die jugoslawischen Partisanen, wie im vorliegenden
Dokument, gerne von Komintern und Sowjetpresse als Helden proklamiert wurden, vermied es die
Stalin-Führung trotz Titos eindringlicher Appelle und eines gewissen Drucks seitens der Komintern,
sie logistisch und auch mit Waffen zu unterstützen (siehe: Bayerlein: Der Verräter, Stalin, bist Du, S.
437–439).
Dok. 507: [Moskau], 1.5.1942 1675
Dok. 507
Beschluss der Komintern zur weiteren Anti-Hitler-Propaganda der
KPD
[Moskau], 1.5.1942
ANGEHÖRT:
§ 1568. Fragen der Kompartei Deutschlands.
Referent Gen. PIECK.
An der Diskussion nahmen alle Anwesenden teil.
BESCHLOSSEN:
1. Die deutschen Genossen zu beauftragen, auf Basis eines Meinungsaustausches eine
Direktive für die weitere Antihitlerpropaganda und -agitation in Deutschland und in
der deutschen Armee auszuarbeiten, um die Zersetzungsprozesse im faschistischen
Lager zu beschleunigen und die Massen zum aktiven Kampf gegen die Fortsetzung
von Hitlers räuberischem Krieg und gegen die von ihm erklärte terroristische Offen-
sive gegen das deutsche Volk zu mobilisieren.
3. Sofortige Maßnahmen zu ergreifen zur Hilfe an die Partei im Land durch Menschen
und Material.42
42 Im Januar 1942 wurde der KPD-Instrukteur Wilhelm Knöchel von Amsterdam nach Berlin entsen-
det, im August 1942 kam der ehemalige hessische Landtagsabgeordnete Wilhelm Beuttel hinzu. Knö-
chel hatte zwar keine direkte Funkverbindung zu Moskau, dennoch konnte dank der Vermittlung der
Amsterdamer Zentrale des Komintern-Verbindungsdienstes unter Daan Goulooze eine Kommunikati-
on stattfinden. Der Aufbau einer KPD-Landesleitung schlug jedoch fehl, der schwerkranke Knöchel
wurde im Januar 1943 verhaftet und im Juli 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet (Herlemann:
Auf verlorenem Posten; Sandvoß: Die „andere“ Reichshauptstadt, S. 473ff.; Peukert: Die KPD im Wi-
derstand, S. 342 ff.; Herbst: Kommunistischer Widerstand).
1676 1939–1943
Dok. 508
Gesuch Walter Ulbrichts an die Kaderabteilung der Komintern zur
Befreiung von KPD-Mitgliedern aus sowjetischen Arbeitslagern
[Moskau], 15.5.1942
15.5.42./Bi
An die Kaderabteilung.
Wir geben Ihnen davon Kenntnis, dass eine Reihe weiterer Genossen in Arbeitslagern
eingezogen wurden43 und dort mit sowjetfeindlichen Elementen zusammenleben
müssen. Wir schlagen folgendes vor:
43 Arbeitslager: Von August 1941 an wurden Russlanddeutsche in der Sowjetunion in die sogenann-
ten „Arbeitsarmeen“ (trudarmii) zu Arbeitseinsätzen meist auf den dem NKVD unterstellten Baustel-
len zwangseingezogen. Für die Zwangsmobilisierten wurde die neue offizielle Kategorie der trudmobi-
lizovannye nemcy („arbeitsmobilisierte Deutsche“) eingeführt, die eine „Mischung aus Lagerhäftling,
Bauarbeiter und Militärangehöriger“ darstellte (Viktor Krieger). Dabei galt selbst eine Parteimitglied-
schaft nicht als Hindernis für eine Zwangsmobilisierung. In einigen Fällen wurden nicht nur Rus-
slanddeutsche, sondern auch deutsche Exilanten in die Arbeitsarmeen eingezogen – eine Maßnah-
me, gegen die die Komintern- und Exil-KPD-Führung opponierte, während sie die Einziehung der
Russlanddeutschen grundsätzlich für richtig befand (Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 186–193;
zu den russlanddeutschen Zwangsarbeitern siehe: Viktor Krieger: Personen minderen Rechts. Rus-
slanddeutsche in den Jahren 1941–46. In: Heimatbuch der Deutschen aus Russland (2004), S. 93–107).
44 Heini Wolf (Ps.), d.i. Heinrich Dollwetzel (1912–1966), wurde Ende 1938 nach seiner Rückkehr
aus Spanien, wo er Kommandeur einer Panzerkompanie der XI. Internationalen Brigade war, ver-
haftet und zu zwei Jahren Lager verurteilt. Nach seiner Freilassung arbeitete er als Metallarbeiter in
Čeljabinsk und wurde von dort zum Arbeitseinsatz zwangseingezogen (vgl.: Weber/Herbst: Deutsche
Kommunisten, S. 192).
45 Heini Wolf war von 1942 bis 1943 an der EKKI-Parteischule in Kušnarenkovo (siehe: Buckmiller/
Meschkat: Biographisches Handbuch, Datenbank, Eintrag „Dollwetzel, Heinrich“); zur Parteischule
siehe: Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 207–210).
46 Am 10.7.1942 beantwortete das NKVD die von Ulbricht initiierte Anfrage des Dimitrov-Sekretariats.
Über Wolf heißt es dort: „Der Politemigrant WOLF Heini lebt nach der Demobilisierung aus der Ar-
beitskolonne in der Stadt Tscheljabinsk.“ 1944–1946 war Heini Wolf Politinstrukteur in einem Kriegs-
gefangenenlager, 1946 bis 1948 Lehrer an der Antifa-Schule in Juža, heute im Gebiet Ivanovo (RGASPI,
Moskau, 495/73/141, 26).
Dok. 508: [Moskau], 15.5.1942 1677
2. Kiefel, Josef: geboren 1909, Mitglied der KPD seit 1929, hat bisher in einem Betrieb in
Kasan gearbeitet; ist Sowjetbürger. Wir ersuchen ebenfalls, Kiefel nach Ufa zu holen
und dort zu prüfen, ob er an der Schule teilnehmen kann. Früher galt er als entwick-
lungsfähiger Genosse, der eine gute Charakteristik von seinem Betrieb erhielt.47
3. Scheib, Peter: geboren 1902, Mitglied der KPD seit 1920. Er war Stachanowarbeiter48
und gehörte zu den besten Arbeitern des Betriebes. Sobald seine Adresse bekannt ist,
ersuchen wir ihn nach Ufa zu holen zur Prüfung, ob er an der Schule teilnehmen kann.49
Wir nehmen an, dass die Kaderabteilung den Brief des Genossen Dietrich [d.i. Paul
Jäkel] an die Kaderabteilung bekommen hat.50 Wir schlagen vor, bei folgenden Genos-
sen die Freilassung aus dem Arbeitslager zu befürworten:
2./ Charnetzki, Georg: Geboren 1891, Invalid, Mitglied der KPD seit 1919.52
3./ Peschky, Willy: geboren 1902, Mitglied der KPD seit 1928.53
47 Josef Kiefel (1909–1988) wurde 1944 als Partisan der Gruppe „Andreas Hofer“ in Polen eingesetzt.
Im Juli 1946 kehrte er nach Deutschland zurück und machte Karriere im MfS, wo er u.a. Leiter der HA
II (Spionageabwehr) und der Abt. 21 (Innere Sicherheit im MfS) wurde (siehe: Helmut Müller-Enbergs,
Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst: Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexi-
kon, Berlin, Ch. Links Verlag, 4. Ausgabe, 2006, Bd. I, S. 498).
48 Siehe Dok. 392.
49 Peter Scheib wurde unter der Nr. 93 auf einer am 19.11.1942 angelegten Liste der KPD-Parteireserve
geführt (siehe: RGASPI, Moskau, 495/73/147, 23v).
50 Paul Jäkel (Ps. Dietrich), der sich bereits 1938 für verhaftete KPD-Mitglieder eingesetzt hatte (siehe
Dok. 439), schrieb am 22.4.1942 an Togliatti und Vilkov und machte die Komintern auf die Lage der
zwangsmobilisierten KPD-Mitglieder aufmerksam. Dabei stellte er die Institution der Arbeitsarmeen
und die Zwangsmobilisierung der Russlanddeutschen jedoch nicht in Frage, sondern hob hervor, daß
die „Gleichstellung mit sowjetfeindlichen Elementen“ für deutsche Antifaschisten „entehrend und
herabwürdigend“ sei (siehe Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 188–189).
51 Über Vinzent Porombka (1910–1975) lautete die Auskunft des NKVD, er sei „zur Verfügung an den
Generalstab der Roten Armee überstellt worden“. (RGASPI, Moskau, 495/73/141, 26). Porombka wurde
am 22.4.1943 als Funker einer dreiköpfigen Gruppe in Ostpreußen per Fallschirm abgesetzt und konn-
te sich von der Gestapo unentdeckt bis zum Anrücken der Roten Armee halten (siehe: Müller-Enbergs
u.a.: Wer war wer in der DDR?, II, S. 788).
52 Über Georg Charnetzki ließen sich keine weiteren Angaben eruieren.
53 Wilhelm Peschky (1902–1943) war einer der Hauptangeklagten beim „Bülowplatz-Prozess“ (siehe
Dok. 275). Bei ihm haben Ulbrichts Bemühungen offenbar nicht gefruchtet, denn er starb im Mai 1943
gemeinsam mit seinem Sohn bei einem Grubenunglück in der Sowjetunion (Buckmiller/Meschkat: Bio-
graphisches Handbuch, Datenbank; Otto: Erich Mielke: S. 49, 246, dort ist der Unfall auf 1945 datiert).
54 Bernhard Lochthofen (geb. 1902 geb. in Gelsenkirchen), KPD-Mitglied seit 1930, Vetter des Jour-
nalisten und späteren ZK-Mitglieds der SED Lorenz Lochthofen. Ging 1931 in die Sowjetunion, nahm
1678 1939–1943
Am 15. und 18.5.1942 befasste sich das sowjetische Politbüro erneut mit der Verleihung von Orden an
die im deutschen Hinterland kämpfenden Partisanen.55
Dok. 509
Internes Bulletin des EKKI zur Information über die Lage der KPD
in Deutschland
[Moskau], 24.5.1942