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Hausmitteilung

8. Juli 2013 Betr.: Titel, Aufstände

U S-Präsident Barack Obama war in Tansania unterwegs, als er sich genötigt


sah, den SPIEGEL-Titel der vergangenen Woche zu kommentieren: „Die Ver-
einigten Staaten werden sich diesen Artikel anschauen und beschließen, wozu sie
sich äußern werden.“ Dieser Artikel – das war der Bericht darüber, wie umfassend
die USA in Deutschland und Europa Politik, Wirtschaft und Privatpersonen aus-
horchen und überwachen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bat die
Amerikaner „dringend um Aufklärung“. Die russische Zeitung „Kommersant“
schrieb: „Amerika muss sich für die Enthüllungen Edward
Snowdens verantworten. Der SPIEGEL-Artikel hat einen
riesigen Skandal entfacht.“ „Diese Vorgänge sind – sofern
sie sich als zutreffend erweisen – keineswegs hinnehmbar“,
monierte der französische Außenminister Laurent Fabius,
eine Empörung, die allerdings an Kraft verlor, als durch
„Le Monde“ bekanntwurde, dass der französische Geheim-
dienst ähnliche Programme betreibt wie der amerikanische.
Die Enthüllungen des ehemaligen US-Geheimdienstmannes
Edward Snowden, die der SPIEGEL publizierte, haben Ent-
setzen bei den Abgehörten, eine verschärfte Jagd der USA
SPIEGEL-Titel 27/2013 auf den Enthüller und weltweite diplomatische Verwick-
lungen ausgelöst. In dieser SPIEGEL-Ausgabe kommt nun
Snowden selbst zu Wort. Es handelt sich dabei um Auszüge aus seinen Antworten
auf einen ausführlichen Katalog von Fragen, die dem SPIEGEL vorliegen – Fragen,
die Snowden beantwortet hatte, bevor er sich zu den Veröffentlichungen bekannte.
Mittlerweile sind die Gesprächsprotokolle des Mannes, der die Weltpolitik zwischen
China, Russland, den USA und Südamerika bewegt, nach SPIEGEL-Einschätzung
ein Dokument der Zeitgeschichte (Seite 22).

K airo schien kurz vor einem Bürgerkrieg zu stehen, als das Ultimatum gegen
Mohammed Mursi auslief. Doch plötzlich schlug die Stimmung um in Hysterie
und Euphorie: Das Militär erklärte den Sturz des Präsidenten. Die SPIEGEL-Redak-
teure Ralf Hoppe und Daniel Steinvorth sprachen mit Islamisten, die zornig demon-
strierten; sie trafen unter konspirativen Umständen Tamarud-Aktivisten, Mitglieder
jener Gruppe, die den Volksaufstand in Gang gesetzt
hatten. Und sie interviewten Ägypter wie den IT-
Experten Mohammed Scharaf, der sich als Mitglied
der „Hisb al-Kanaba“, der „Couch-Partei“, bezeich- SCOTT NELSON FOR DER SPIEGEL

net – bisher unpolitische Bürger, ohne deren Hinwen-


dung zur Politik der Aufstand nicht möglich gewesen
wäre (Seite 74). Erstaunlich viele Frauen haben von
Anfang an mitdemonstriert. Eine von ihnen ist die
junge Ägypterin Nahla Enany, die Belästigungen
und Übergriffen trotzte und nun hofft, dass ihr Volk
„eine wirklich demokratische Regierung wählt“. Schröter, Enany in Kairo
Sie ist eine von fünf jungen, kämpferischen Frauen,
die ein sechsköpfiges SPIEGEL-Team begleitet hat. In Ägypten, Brasilien, Indien,
Kambodscha und Südafrika beobachteten Jens Glüsing, Bartholomäus Grill, Guido
Mingels, Friederike Schröter, Sandra Schulz und Barbara Supp eine neue Mädchen-
generation, die sich in politische Kämpfe einmischt oder selbst welche entfacht.
Mädchen wie die 14-jährige Bloggerin Isadora, die mit einem Aufschrei über die Bil-
dungsmisere in ihrem Land für Aufsehen sorgte – eine Rebellion, die bei den ganz
Jungen beginnt und schon das Leben der ganz Jungen verändern will (Seite 48).

Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 3
In diesem Heft
Titel
Wie Washington weltweit versucht,
den Lauschskandal einzudämmen .................... 14
Ex-Geheimdienstkontrolleur Claus Arndt
kritisiert die Schnüffelpraxis der Amerikaner
in Deutschland .................................................. 18
NSA-Enthüller Edward Snowden über die Macht
der Datenspione – und ihre willigen Helfer ...... 22
Der amerikanische Verschlüsselungsexperte
Jacob Appelbaum beschreibt das Drama der
Whistleblower ................................................... 24
Deutschland
Panorama: De Maizière Favorit für den Posten
des Nato-Generalsekretärs / Verfassungsschutz
warnt vor rechten Rockerbanden /
Zentralrat der Juden wirft Jewish Claims
Conference Vertuschung vor ............................. 10
Parteien: Die Union entdeckt den Datenschutz ... 28
Protestierende in Berlin
Finanzpolitik: Im SPIEGEL-Gespräch streiten
AfD-Chef Lucke und Linken-Vizin Wagenknecht
über den richtigen Weg aus der Euro-Krise ....... 29
Demokratie: Die SPD buhlt um Nichtwähler ..... 32
Behörden: Warum die Arbeitsagentur bei der Snowdens Enthüllung Seiten 14, 18, 22, 24
Vermittlung von Arbeitslosen versagt ............... 34 In einem über verschlüsselte E-Mails geführten Interview beschreibt der
Strafvollzug: Viele Häftlinge sind drogensüchtig geflohene Whistleblower Edward Snowden die Macht der US-Lausch-
und werden abhängig entlassen ........................ 36
behörde NSA, die Deutschen würden mit ihr „unter einer Decke stecken“.
Die Beichte eines Gefangenen, der im Knast
Washington versucht alles, um die Affäre klein zu halten – aber China
OLE SPATA / DPA

zum Junkie wurde ............................................. 38


Jugendhilfe: Der Anwalt umstrittener soll schon Kopien von Snowdens geheimen Daten haben.
Brandenburger Heime war gleichzeitig Leiter
der Beschwerdestelle für die Jugendlichen ........ 41
Terrorismus: Eine türkischstämmige Bäckerin
aus Stuttgart erfuhr, dass ihr
Laden vom NSU ausspioniert wurde ................ 42
Sicherheit: Das Geschäft mit dem Stromausfall ... 44 Süchtig entlassen Seiten 36, 38
Gesellschaft Viele Häftlinge nehmen im Gefängnis Drogen, es fehlt an Suchttherapien.
Szene: Panzer zerstören gefälschte Waren /
Ein Insasse erzählt, wie er hinter Gittern zum Junkie wurde – während seines
Konjunktur der Stechmücken ........................... 46 Hafturlaubs beraubte er eine Frau und verletzte sie schwer.
Eine Meldung und ihre Geschichte – wie ein
Kanadier in Berlin-Tegel
eine Abschiebung verhinderte .......................... 47
Rebellionen: Weltweit erheben sich junge
Frauen gegen Gewalt und Unterdrückung ........ 48
Homestory: Warum es einsam machen kann,
E-Mails zu schreiben und Handys zu benutzen ... 56
Der nächste Rüstungsflop Seite 60
Nach dem „Euro Hawk“-Debakel droht Minister de Maizière neues Ungemach.
Wirtschaft Das einstige Vorzeigeprojekt „Eurofighter“ verschlingt weitere Milliarden – bis
Trends: Nordstaaten verhinderten Zinssenkung / zur Bundestagswahl sollte eigentlich darüber geschwiegen werden.
Interne Ermittlung bei der Deutschen Bank ...... 58
Rüstung: Milliardengrab „Eurofighter“ ............. 60
Währungsunion: Geld allein kann Griechenland
nicht retten ........................................................ 64
Handel: H&M-Chef Persson verteidigt
im SPIEGEL-Gespräch die Textilproduktion
in Bangladesch .................................................. 66
Verglibberung
Konzerne: E.on muss seine ehrgeizigen Pläne
in Brasilien ohne Partner verwirklichen ............ 69
Affären: Wie eine Adlige wegen
der Meere Seite 94
eines Bankberaters viele Millionen verlor ......... 70 Giftige Quallen, in Massen
angespült an Urlaubsstrände,
Ausland verderben Feriengästen den
Panorama: Nato warnt vor Chaos in Libyen / Badespaß. Die Plagen sind
BJOERN GOETTLICHER / VISUM / DER SPIEGEL

Aufstand gegen Polizeiwillkür in der Ukraine ... 72 Symptom für ein größeres
Ägypten: Der Sturz Präsident Mursis – Problem: Überfischung und
Volksaufstand oder Militärputsch? .................... 74 Klimawandel tragen dazu
Interview mit dem Oppositionsführer
Mohamed ElBaradei .......................................... 76
bei, dass sich das Gallert-
Syrien: Kriegsmüde Dschihadisten lassen sich getier in den Ozeanen
im ruhigen Norden des Landes nieder .............. 79 verbreitet; vielerorts ver-
Brasilien: Protest gegen korrupte Politiker ........ 82 drängt es die Fische. Wie
Global Village: Wie eine Italienerin aus simplen Giftige Leuchtqualle lässt sich der Siegeszug der
Notizbüchern eine Weltmarke machte .............. 86 Quallen stoppen?
4 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Sport
Szene: Der Fotograf Firat Kara über
Begegnungen mit Bodybuildern und seinen
Bildband „Herkules“ / Die Sonderschichten
von Fußballprofis in der Sommerpause ............. 87
Fitness: Athletische Alte – unter Deutschlands
Senioren blüht die Sportbegeisterung ............... 88
Fußball: Hollands Nationalcoach Louis van Gaal
tritt für die Rechte Homosexueller ein .............. 91

Wissenschaft · Technik
Prisma: Sexübergriffe im Urlaub / Veraltetes
Impfschema bei Babys / Verspäteter Vogelzug ... 92
Ökologie: Quallenplagen verstören Touristen –
und nun auch Meeresbiologen .......................... 94
Internet: Wer den Datenkraken im
Netz entgehen will, nutzt Ixquick und
DuckDuckGo ..................................................... 98
Demonstranten in Kairo Geschichte: Sprachwissenschaftler enträtseln
die antike Kultur der Tocharer ........................ 100
Medizin: Riskante Therapie gegen
Bluthochdruck ................................................. 102
Im Namen des Volkes Seiten 74, 76 Frankfurter Flughafen: Wirbel landender
Jets decken Häuser ab ..................................... 104

MAGALI COROUGE / NEWS PICTURES


Die jungen Aktivisten der Protestbewegung Tamarud haben Millionen Tiere: Mysteriöses Fasanensterben ................... 105
Ägypter mobilisiert und so die Armee dazu gebracht, die erste frei
gewählte Regierung zu stürzen. Die Muslimbrüder sprechen von einem Kultur
Staatsstreich, die Demonstranten von der Abwendung einer Katastrophe. Szene: Amy Winehouse privat – eine
Ist das der Beginn eines Bürgerkriegs – oder einer echten Demokratie? Ausstellung in London /
Die Familie George verklärt ihren Schauspiel-
patriarchen Heinrich George ........................... 106
Metropolen: Wie aus Berlin nach der Wende
eine Weltstadt wurde ....................................... 108
Essay: Der Soziologe Heinz Bude
H&M-Chef will faire Mode Seite 66 über Deutschlands neue Rolle in der Welt ....... 114
Kino: Der bewegende Scheidungsfilm
Kann rasantes Wachstum nachhaltig sein? H&M-Chef Karl-Johan Persson „Das Glück der großen Dinge“ ........................ 116
meint: ja. Im SPIEGEL-Gespräch fordert er bessere Arbeitsbedingungen für Kunst: Ein bislang unbekannter Brief
Näherinnen in Bangladesch und ein Fair-Trade-Siegel für Textilien. von Joseph Beuys widerlegt
die Legende vom Kriegshelden ........................ 118
Bestseller ........................................................ 122
Popkritik: „Magna Carta Holy Grail“,
das neue Album von Jay-Z .............................. 124

Beuys, der Bruchpilot Seite 118 Medien


Trends: Warum Permira bei ProSiebenSat.1 über
1944 stürzte Joseph Beuys auf der Krim in einem Stuka ab. Nach dem Krieg die Börse aussteigt / Schöneberger moderiert
verklärte er den Vorfall, er wurde zur Legende. Nun taucht ein Feldpostbrief Gottschalk & Jauch .......................................... 125
des späteren Jahrhundertkünstlers auf – mit unbekannten Details. TV-Unterhaltung: Im Fernsehen wird so viel
gemordet wie nie zuvor ................................... 126
Internet: Ein Start-up hat eine Plattform für
politische Aktivisten entwickelt ...................... 129

Briefe .................................................................. 6
Die Lust am Impressum, Leserservice ................................. 130
Register ........................................................... 131

Morden Seite 126 Personalien ...................................................... 132


Hohlspiegel / Rückspiegel ................................ 134
Titelbild: Foto HANDOUT / REUTERS
Kein Tag ohne Krimi im
deutschen Fernsehen, vor
allem ARD und ZDF schi-
cken ständig neue Teams
auf Tätersuche. Besonders Der RoboProf
beim „Tatort“ sind die Ein- Ein Android unterrichtet
schaltquoten so gut wie lan- dänische Studenten. Zu-
ge nicht mehr. Psychologen dem im UniSPIEGEL: der
rätseln über das Grusel- Erfolg eines jungen Bürger-
bedürfnis der TV-Zuschauer, meisters, das Leiden eines
und in den Sendern regt impotenten Studenten
NDR / DPA

sich Kritik am kriminalis- „Tatort“-Szene mit Maria Furtwängler und ein Report über die
tischen Überangebot. härtesten Kampfsportler.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 5
Briefe

Ein amerikanischer Freund, der bisher alle


anwaltschaftlichen E-Mails automatisch
„Für mich ist Herr Snowden der mit dem Hinweis versehen hat, dass jede
Weitergabe von vertraulichem Inhalt an
Inbegriff von Zivilcourage. Als Verrat andere als den oder die Adressaten un-
zulässig ist, merkt jetzt an: „To the NSA:
empfinde ich eher die Tatenlosigkeit Don’t bother saving this message, it is
unserer Regierung, allen voran innocuous.“ (Bemühen Sie sich nicht, die
Nachricht zu speichern, sie ist harmlos.)
die von Frau Merkel, die nichts zum DAGOBERT LINDLAU, VATERSTETTEN

Schutz unserer Bevölkerung tut.“ Schon vergessen – Attentäter des 11. Sep-
FRANK WIDI, STUTTGART tember kamen aus Deutschland! Alle
publik gewordenen Warnungen vor ter-
SPIEGEL-Titel 27/2013 roristischen Anschlägen kamen nach
Warnungen ausländischer Geheimdienste
an die Öffentlichkeit. Die Ineffizienz
Nr. 27/2013, Allein gegen Amerika – genutzt werden können und die Kommu- deutscher Geheimdienste beschäftigt Un-
Edward Snowden: Held und Verräter nikation verhindert werden kann. Merkel tersuchungsausschüsse des Bundestags
mag Neuland betreten, aber ihre politi- und der Länder. Wer soll da Vertrauen in
Zum zweiten Mal verraten sche Naivität macht mir Angst.
HARALD WAGNER, KORNTAL (BAD.-WÜRTT.)
die Fähigkeiten deutscher Dienste oder
entsprechender politischer Handlungsfä-
Seit dem 11. September 2001 behandeln higkeit entfalten? – Ich nicht! Schutz vor
die USA ihre Besucher wie regelrechte Ich bin fassungslos. Aufgewachsen in den Terroranschlägen hat für mich Priorität!
Kriminelle. Sie bespitzeln die ganze Welt, Sechzigern, waren die USA für mich das GÜNTER KRUG, BERLIN
seien es Institutionen oder Privatper- Idealbild einer demokratischen Gesell-
sonen, unter welchen sich einige noch schaft. Was ist aus dem Amerika gewor- Solange Europa in Bezug auf die USA
ihre „Freunde“ nennen. Sie betreiben ein den, das sich totalitären Staaten entge- nicht mit einer Stimme spricht, können die
gesetzloses Gefängnis auf fremdem genstellte, was aus dem Amerika, dem USA die Europäer gegeneinander ausspie-
Territorium, führen Krieg mit ekelhaften len. Europa muss endlich erwachsen wer-
Feiglingsmethoden, verfolgen Leute wie den und sich von den USA emanzipieren.
Bradley Manning und jetzt Snowden, als MANFRED SOMMERFELD, HAMBURG
wären diese Menschen giftige Verräter,
die die Demokratie gefährden. Und was Die NSA respektive die USA sind gerade
tut Europa? Überhaupt nichts. dabei, Milliarden Dollar in den Sand zu
DR. CHRISTOPH BORD, GAILLAC (FRANKREICH) setzen: Terroristen werden nämlich in
MICHAELA REHLE / REUTERS

Zukunft nur noch mit Brieftauben kom-


Wenn unter dem Deckmantel der Terror- munizieren! Ergo sollte die NSA mit der
bekämpfung von den USA und Großbri- Zucht von Falken beginnen, die auf Tau-
tannien Wirtschaftsspionage betrieben ben spezialisiert sind. Weil es inkorrekt
wird, geht das uns alle etwas an, betrifft ist, sich auf spezielle Zielgruppen zu kon-
es doch auch Arbeitsplätze, den Wohl- zentrieren, wird eben die gesamte Erd-
stand unserer Gesellschaft. Ehemalige NSA-Abhöreinrichtung in Bad Aibling bevölkerung ausgespäht. Die Sammelwut
JÜRGEN STRAUB, STUTTGART der Geheimdienste, egal ob diese totalitär
wir in der Bundesrepublik die freieste oder demokratisch sind, ist paranoid: Sol-
Wer die Amis als Freunde hat, braucht Gesellschaft unserer Geschichte (mit) zu len sie unter ihrem Datenwust ersticken.
keine Feinde mehr. Es ist schade, dass es verdanken haben? Perdu? Mit dem Tot- JOCHEN JÄGER, MÜNCHEN
zu Apple, Microsoft, Google, Facebook schlagargument der gefährdeten nationa-
keine echten Alternativen gibt. Das len Sicherheit gewinnen Geheimdienste, Genau die Politiker jener Länder, welche
Schweigen unserer Politiker ist erschre- Militärs und die diesen traditionell be- Snowden ob seiner Enthüllung eigentlich
ckend und verräterisch zugleich. Über zu- sonders eng verbundenen ultrakonserva- zu Dank verpflichtet sein müssten, ver-
nehmenden Antiamerikanismus braucht tiven, ultrareligiösen Gesellschaftsschich- weigern ihm nun jedwede Unterstützung.
man sich nicht zu wundern. ten an Macht und Einfluss. Stattdessen verdrückt man schnell ein
MARKUS ROGLER, STUTTGART DETLEF HANZ, TROISDORF paar beschämend kleine Pflicht-Kroko-
dilstränen und zeigt keinerlei ernstzuneh-
Die massive Präsenz der NSA in Deutsch- Mein amerikanischer Schwiegersohn mende Anstalten, den milliardenfachen
land ist ein Anachronismus. Die Bundes- arbeitete jahrzehntelang bei der NSA in „Yes, we scan!“-Rechtsbruch zu stoppen
regierung sollte die USA auffordern, ihr Fort Meade. Er berichtete mir schon vor oder die Verantwortlichen zur Rechen-
NSA-Personal aus Deutschland abzuzie- mehr als 20 Jahren, dass die NSA alles schaft zu ziehen. Und so verrät die west-
hen. Deren Abhöreinrichtungen könnte ausspioniert, und da gab es noch keine liche Welt ihre Ideale zum zweiten Mal.
ja der BND übernehmen. Der wird zu- islamistische Bedrohung. KAI ROHRBACHER, HÜNENBERG (SCHWEIZ)
mindest demokratisch überwacht. KLAUS PÜLZ, GUNTERSBLUM
PROF. DR. WOLFGANG KARRER, OSNABRÜCK Wenn die NSA unser Privatleben, unsere
Wie naiv sind unsere Politiker eigentlich, Wirtschaft und Politik derart rücksichtslos
Ich wehre mich dagegen, dass meine oder stellen sie sich bloß so? Noch immer ausgespäht hat, war das total verantwor-
Regierung mich nicht vor den Daten- gilt die alte Erkenntnis: In internationalen tungslos. Sie hat geglaubt, dass wir für
übergriffen von „Freunden“ schützt. Das Beziehungen gibt es keine Freunde, son- eine scharfe Antwort zu schwach sind. Wir
Problem ist ja nicht nur, dass Daten ge- dern nur Interessen. sollten zeigen, dass man sich geirrt hat.
speichert werden, sondern auch, wie sie DR. KARL-HEINZ KUHLMANN, BOHMTE PROF. DR. HELMUT AUFENANGER, DÜSSELDORF

6 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Briefe

Nr. 26/2013, Die Wohnungsnot in Städten Als ehemalige Insiderin kann ich bestäti- Nr. 26/2013, Straßen, Schule, Netze –
beschränkt sich meist auf angesagte Viertel gen: ständig wechselnde Anweisungen wie sich Deutschland kaputtspart
der Zentrale, zumindest in Spezialabtei-
Stundenlang im Bus lungen zu wenige oder gar nicht qualifi-
zierte Teamleiter, die nach oben buckeln
Wie in Nordkorea
In Frankfurt gibt es zwischen den begehr- und nach unten treten. Unten, das sind
ten Stadtteilen mit hoher Lebensqualität die Vermittler, deren Ansehen im Team
und den Stadtteilen mit Makel nur sehr steigt, wenn sie die Anweisungen der
wenig Angebot. Wer also nicht in denen Zentrale strikt befolgen, trickreich mani-
mit Makel wohnen will, der konzentriert pulieren und dadurch hohe Zahlen auf-
sich aus gutem Grund auf die begehrten weisen, egal ob sie wirklich bedürftige
Stadtteile, denn sonst könnte man ja auch Kunden aus den Augen verloren haben.

RÜDIGER WÖLK / IMAGO


gleich im ländlichen Umland wohnen. DIANA ANDERS, BERLIN
HELGA WANDEL, FRANKFURT AM MAIN
Ihr Artikel bestätigt vieles, was wir als
Bei der Frage, warum junge Menschen kommunale arbeitsmarktpolitische Ak-
denn nicht in zentrumsferne Wohnsied- teure nur ahnten. Seit Einführung von
lungen ziehen wollen, wird außer Acht Hartz IV hat sich das Verhältnis von Autobahnbaustelle bei Dortmund
gelassen, dass es sich hier um eine Iden- Leistungen für die Aktivierung zu den
tität und Aufregung suchende Klientel Verwaltungskosten komplett gedreht. Deutschland spart sich nicht arm, sondern
handelt: Kein Student will nachts aus den KERSTIN THIELE, HENNIGSDORF (BRANDENBURG) es verschwendet sich arm. Während Auto-
Bars der Szeneviertel stundenlang mit ABS HENNIGSDORF GMBH bahnbrücken und Fahrbahnen bröckeln,
schlechten Bussen in seinen von Rentnern werden andernorts munter neue gebaut,
bewohnten Betonbunker fahren müssen. Die Ergebnisse des Bundesrechnungshofs als wäre Deutschland unendlich groß und
Und das ist absolut verständlich, bedeutet sind ernst zu nehmen. Ihre Darstellung als würde die Bevölkerung rapide wach-
doch selbst eine Entfernung von nur drei aber ist undifferenziert und ein Schlag sen. Das ist der eigentliche Skandal.
Bus- oder U-Bahnstationen nachts meis- ins Gesicht aller Mitarbeiter, die sich täg- FRANK MÖLLER, BERLIN
tens einen langen Fußmarsch. lich ehrlich bemühen, Arbeitssuchenden
FELIX RÜCHARDT, MÜNCHEN den Weg ins Erwerbsleben zu ebnen. Als nur noch katastrophal ist die Situation
ANNETT GRUNDMANN, BERLIN in NRW zu bezeichnen. Bahnhöfe großer
Städte wie Duisburg sind eigentlich nicht
Wir – die „Betroffenen“ und die, die mit mehr als solche zu bezeichnen. Bis auf
ihnen zu tun haben – wussten es schon Ausnahmen ist der Gesamtzustand der
lange: Ein sinnloser Kurs reiht sich an Stationen in dieser Region auf dem Stand
den nächsten, nur damit Leute wie von von vielleicht Nordkorea. Mit dem Auto
ANGELIKA WARMUTH / DPA

der Leyen ihre Sprüche ablassen können. macht es auch keinen Spaß, nahezu jede
Jeder weiß es, jeder spielt mit. Rheinbrücke ist schrottreif – und erst
DIPL.-PSYCH. HELGA SPECKMEIER, LANDSHUT einmal die innerstädtischen Straßen. Un-
kraut sprießt ungehindert an Autobahnen,
Landstraßen und auf den Verkehrsinseln
Demonstration in Hamburg Nr. 22/2013, In den achtziger Jahren und Randbegrünungen – passt schließlich
koordinierte ein pädophiler Straftäter die auch besser zu den Schlaglochpisten.
Die Forderungen nach Mietendeckelun- Schwulenvereinigung der Öko-Partei Wenn schon Elend, dann richtig!
gen, -preisbremsen, -wohnungszweckent- THOMAS BRINKMANN, ESSEN
fremdungsverbote und so weiter sind
Planwirtschaft, für die nicht der geringste
Erfundene Anschuldigungen Auf meinen Reisen bin ich früher mög-
Anlass besteht. In der Fläche liegt das In Ihrem Beitrag zitieren Sie die Schwu- lichst lange auf deutschem Gebiet geblie-
Potential! Wir dürfen die kleinen Städte lenzeitung „Rosa Flieder“, in der ich 1981 ben, weil die Straßen besser waren; heute
und Dörfer nicht zugrunde gehen lassen, beispielhaft für „im Knast“ befindliche versucht man, so schnell wie möglich die
indem wir sinnfrei und besinnungslos das „Freunde und Bekannte“ aus dem Umfeld Nachbarländer zu erreichen, weil fast alle
Geld in die Großstadtlagen umschütten. der Pädophilenbewegung erwähnt wurde. dort in besserem Zustand sind. Für Motor-
JOHANNES HAMPEL, BERLIN Tatsächlich saß ich damals über 13 Monate radfahrer sind die deutschen Straßen mit
in Untersuchungshaft. Im Zusammenhang zig langen und tiefen Schlaglöchern mitt-
mit meinem kinderrechtlichen Engage- lerweile lebensgefährliche Abenteuer.
Nr. 26/2013, Die Fehler der Arbeitsagen- ment in der Nürnberger Indianerkommu- FRANK ZIMMERMANN, WEDEMARK (NIEDERS.)
turen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ne war ich damals wegen Missbrauchsvor-
würfen in erster Instanz auch verurteilt Der Zahlmeister von heute wird der Hilfs-
Jeder spielt mit worden. In der Berufung wurde ich jedoch
freigesprochen. Die gegen mich erhobe-
bedürftige von morgen. Schon interessant,
dass die Problemstaaten Spanien und Ita-
Seit 2005 erleben wir, dass die kommunale nen Anschuldigungen mussten fallenge- lien deutlich höhere Anteile in Transport-
Betreuung arbeitsloser Menschen sicher lassen werden. Einer der Jugendlichen hat- Infrastruktur und Kinderbetreuung inves-
einige Chancen birgt, aber auch massive te erklärt, die Anschuldigungen gegen tieren. Die Politik hier legt mehr Wert auf
Probleme mit sich bringt. Für den Bereich mich erfunden zu haben, damit er nicht den äußeren Schein als auf die Wirklich-
Arbeitsmarkt ist das Leistungsangebot der in eine geschlossene Anstalt eingewiesen keit. Machterhalt geht vor Landeswohl.
Arbeitsagentur mit Abstand das Beste, würde. Ich distanziere mich entschieden MARTIN OPALA, HAMBURG
was in Deutschland verfügbar ist, und von jeder Missachtung der Kinderrechte
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
auch zahlreichen vergleichbaren Angebo- sowohl durch Pädagogen als auch durch Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
ten im Ausland überlegen. Pädophile. tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
ALEXANDER EISNECKER, KIRCHHEIMBOLANDEN ULLI RESCHKE, NÜRNBERG [email protected]

8 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Panorama

N AT O

Chancen für
de Maizière

HENNING SCHACHT
Verteidigungsminister
de Maizière in Berlin

Im Ringen um die Nachfolge von Nato-Generalsekretär Radoslaw Sikorski ist der US-Regierung zu unbequem, der
Anders Fogh Rasmussen gilt Bundesverteidigungsminister ehemalige italienische Außenminister Franco Frattini gilt als
Thomas de Maizière als aussichtsreichster Kandidat. In seinem Berlusconi-Mann und ist zudem kein amtierender Ressortchef
Ministerium, im Kanzleramt und auch im Nato-Hauptquartier mehr. Im Gespräch ist noch der belgische Verteidigungs-
wird nicht ausgeschlossen, dass der 59-Jährige nach der Bun- minister Pieter De Crem, der im Kreise der Nato-Mitgliedslän-
destagswahl Anspruch auf den im Sommer 2014 frei werden- der als einer der erfahrensten Politiker gilt. Gegen de Maizierè
den Posten anmeldet. Zwar haben auch andere Nationen hätte er aber trotzdem keine Chance, auch weil Deutschland
Interesse signalisiert, doch von allen bislang gehandelten der zweitgrößte Beitragszahler nach den USA ist. Der letzte
Kandidaten hätte der Deutsche die größten Chancen. Der Deutsche, der die Allianz führte, war von 1988 bis 1994 der
ehemalige polnische Verteidigungs- und jetzige Außenminister CDU-Außenpolitiker Manfred Wörner.

R A D FA H R E R
Rennräder bis zu elf Kilogramm, nicht
aber für Mountainbikes. Der Allge-
meine Deutsche Fahrrad-Club hält die
Verbotene Leuchten Neuregelung für „undurchdacht“. „Es
gibt auch viele Batterieleuchten, die
Auch nach einem Beschluss des Bun- abweichende Spannung haben und
desrats zur Aufhebung der Dynamo- nun nicht mehr benutzt werden
pflicht für Fahrräder bleiben viele Mil- dürfen“, klagt Rechtsreferent Roland
lionen Leuchten illegal. Auf Antrag Huhn. Kritik kommt ferner vom Lei-
Hamburgs hatten die Länder zwar ent- ter der Prüfstelle des Lichttechnischen
schieden, künftig ebenfalls Batterien Instituts der Universität Karlsruhe,
mit einer Nennspannung von sechs Karl Manz: „Die Verfasser der Neu-
Volt oder Akkus als Stromquellen zu- regelung kommen noch aus der Zeit
zulassen. Bei der geplanten Änderung der Glühbirne. Moderne LED benöti-
der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ord- gen viel weniger Strom.“ Zudem sei
nung wurde aber offenbar ein Satz ein moderner Dynamo die beste
übersehen, der vorschreibt, dass die Lösung für ein Rad, so Manz. Das
Beleuchtungsanlage fest am Rad ange- Institut hat im Auftrag des Bundes-
HORST RUDEL / IMAGO

bracht und ständig betriebsfertig sein verkehrsministeriums neue Fahrrad-


muss. Dadurch sind die weitverbreite- beleuchtungen untersucht. Minister
ten Stecklampen nach wie vor nicht Peter Ramsauer hat die Ergebnisse
zulässig. Eine Ausnahme gilt nur für aber bislang nicht veröffentlicht.
10 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Deutschland

ENTSCHÄDIGUNGEN GÜTERVERKEH R
Bremsen zum Jahr 2020 verboten und
durch Bremsklötze aus Verbundstoffen
ersetzt, die erheblich leiser im Betrieb
„Sträflicher Fehler“ Laute Bremsen sind. Das Vorhaben von Bundesregie-
rung und Deutscher Bahn, den Lärm
In der Jewish Claims Conference Der nordrhein-westfälische Verkehrs- im Güterverkehr bis 2020 zu halbieren,
(JCC) ist ein offener Streit über den minister Michael Groschek fordert ein geht nach Groscheks Überzeugung
Umgang mit einem Betrugsskandal um Verbot von Grauguss-Bremsen an Gü- nicht weit genug.
Entschädigungen für Überlebende des terwaggons. „Sie
Holocausts ausgebrochen. Der Gene- rauen die Räder
ralsekretär des Zentralrats der Juden auf und ver-
in Deutschland, Stephan Kramer, be- ursachen dadurch
klagt in mehreren E-Mails an JCC-Spit- einen hohen
zenfunktionäre in New York und in Lärmpegel“, sagt
einem Interview in der israelischen der Sozialdemo-
Tageszeitung „Jerusalem Post“, dass die krat, der die Bahn
JCC einen Bericht zu betrügerischen nach Schweizer

PATRICK LUX / AP
Machenschaften zurückhalte. Die Auf- Vorbild leiser
klärung des Skandals müsse der zen- machen will. Dort
trale Punkt der Vorstandssitzung sein, werden diese
die in dieser Woche in New York statt-
findet. Es wäre ein „sträflicher Fehler“,
Dinge „unter den Teppich zu kehren“,
schrieb Kramer vorige Woche an Arie V E R FA S S U N G S S C H U T Z
nach: So gebe es Aufnäher mit ver-
Bucheister, Stabschef bei der JCC. Die schiedenen Funktionsbezeichnungen
JCC-Zentrale bestreitet, die Vorfälle wie „General“, „President“, „Schrift-
vertuschen zu wollen. 2010 hatte die
US-Bundespolizei FBI mehrere Mit-
Rechte Rocker führer“ oder auch „Gauleiter“. „Wie
bereits an den vorhandenen Logo-
arbeiter der JCC festgenommen, die Die Innenminister der Bundesländer entwürfen ersichtlich, ist auch eine
Entschädigungen für Überlebende des sind von mehreren Landesverfassungs- europaweite Strukturausweitung ge-
Holocausts in Höhe von 42,5 Millionen schutzämtern in einem Lagebericht plant“, heißt es in dem Lagebericht.
Dollar in die eigene Tasche gesteckt über eine neue rechtsextreme Organi- Die „Brigade 8“ werde durch die zwei
haben sollen. Einige Beschuldigte in sationsform informiert worden. Da- rechtsextremistischen Musikbands
den USA wurden in- nach würden sich vor allem in Schles- „Endlöser“ und „Legion Germania“
zwischen zu Gefängnis- wig-Holstein, Bremen und Niedersach- unterstützt. Beziehungen bestünden
REMBARZ / DAPD / DDP IMAGES

strafen verurteilt. Die sen Rechtsextreme unter dem Namen auch zum Betreiber eines rechtsextre-
Gelder stammten aus „Brigade 8“ als Rockerclub zeigen. Die mistischen Internet-Versandhandels.
zwei Fonds für jüdi- Männer kleideten sich nach dem Vor- „Die Gruppe zeigt, dass das Klischee
sche Überlebende des bild klassischer Motorradclubs mit le- vom Glatzkopf mit Springerstiefeln
NS-Terrorregimes in dernen Westen. Auch in der Organisa- ausgedient hat“, sagt Sachsens Innen-
Kramer
Osteuropa. tion eiferten die Rechten den Rockern minister Markus Ulbig (CDU).

Qual der Wahl Anzahl der Parteien, die …


… sich für die jeweilige Wahl
beworben haben
Neben neun bereits im Bundestag oder in Landtagen vertretenen
Parteien sind folgende Vereinigungen zur Bundestagswahl
zugelassen:
Neben den 9 Parteien, die bereits im Ab jetzt … Demokratie durch Kommunistische Partei
Bundestag oder in einem Landesparla- 64 Volksabstimmung (Volksabstimmung) Deutschlands (KPD)
ment vertreten sind, dürfen 29 weitere Alternative für Deutschland (AfD) Marxistisch-Leninistische Partei
Vereinigungen bei der kommenden 56 58 Bayernpartei (BP) Deutschlands (MLPD)
Bundestagswahl antreten. Darunter Bergpartei, die „ÜberPartei“ (B) Nein!-Idee (Nein!)
sind die Alternative für Deutschland
47 49 Bund für Gesamtdeutschland (BGD) Neue Mitte (NM)
(AfD) und die Satire-Partei Die Partei. Bündnis 21/RRP (Bündnis 21/RRP) Ökologisch-Demokratische Partei
Der Bundeswahlausschuss hatte in der Bündnis für Innovation
(ÖDP)
vergangenen Woche erstmals nach neu- und Gerechtigkeit (BIG) Partei Bibeltreuer Christen (PBC)
en Regeln über die Zulassung von Par- 41 Bürgerbewegung pro Deutschland Partei der Nichtwähler
teien beraten, nachdem die Organisa-
38 (pro Deutschland) Partei der Vernunft (Partei der Vernunft)
tion für Sicherheit und Zusammenarbeit
30 32 29 Bürgerrechtsbewegung Solidarität Partei für Soziale Gleichheit, Sektion
in Europa das ursprüngliche Verfahren (BüSo) der Vierten Internationale (PSG)
kritisiert hatte. So besteht nun für Christliche Mitte (CM) Partei Gesunder Menschenverstand
… zugelassen wurden Deutschland (GMD)
abgelehnte Bewerber die Möglichkeit, Die Rechte
Die Republikaner (Rep) Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tier-
sich vor der Wahl beim Bundesver- schutz, Elitenförderung und basis-
fassungsgericht zu beschweren. Außer- Die Violetten (Die Violetten) demokratische Initiative (Die Partei)
dem muss die Nichtzulassung von einer Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Partei Mensch Umwelt Tierschutz
Zweidrittelmehrheit im Bundeswahl- Familien-Partei Deutschlands (Familie) (Tierschutzpartei)
ausschuss beschlossen werden. 1998 2002 20052009 2013 Feministische Partei Die Frauen (Die Frauen) Rentner Partei Deutschland (Rentner)

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Deutschland

S TA AT S B A N K

Geringes Vertrauen
in Spanien
Die staatliche KfW-Bank geht mit ih-
rem 800 Millionen Euro schweren Dar-
lehen an die spanische Förderbank ICO
weitaus höhere Risiken ein als bislang
bekannt. Auf der Verwaltungsratssit-

AXEL HEIMKEN / DAPD


zung der KfW in der vergangenen Wo-
che musste der Vorstand eingestehen,
dass die Staatsbank das Geschäft unter
normalen Umständen nicht machen
würde, da es viel zu risikoreich sei. Der Deutsche Soldaten in Afghanistan
Kredit werde nur vergeben, weil der
Bund für die komplette Summe hafte. BUNDESWEHR
Die Aussage ist auch deshalb brisant,
weil der spanische Staat wiederum voll
für die ICO-Bank bürgt. Das heißt: Die
KfW hat nur geringes Vertrauen in die
Kreditwürdigkeit Spaniens. Vorigen
Teure Einsätze
Donnerstag hatten Finanzminister Die Auslandsmissionen der Bundeswehr haben den deutschen Steuerzahler seit
Wolfgang Schäuble und Wirtschafts- 1992 knapp 17 Milliarden Euro gekostet. Das geht aus einer internen Berechnung
minister Philipp Rösler das Abkommen des Verteidigungsministeriums hervor, die ein Beamter des Hauses kürzlich Ver-
über das Globaldarlehen mit ihren tretern der Industrie präsentiert hat. Demnach war vor allem die Zeit zwischen
spanischen Amtskollegen in Berlin vor- 2010 und 2012 mit rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr besonders teuer. Nur im
gestellt. Die ICO-Bank soll die Mittel Jahr 2002, als die Bundeswehr ihren Afghanistan-Einsatz aufbaute, wurde mit
über die Hausbanken als zinsverbilligte 1,5 Milliarden Euro mehr ausgegeben. Die Summen beziffern dabei lediglich
Kredite an mittelständische Unterneh- die zusätzlichen spezifischen Kosten der Missionen. Der Sold der eingesetzten
men weiterleiten und so den Zugang zu Soldaten wird getrennt berechnet. Die Bundeswehr ist momentan mit etwa 6000
Krediten verbessern. Soldaten im Ausland vertreten. Die meisten sind in Afghanistan stationiert
(etwa 4400), gefolgt vom Kosovo (etwa 800).

BUNDESTAGSWAHL 2013 Die Union lag damals ähnlich weit vor Würfelspiel vor. Wenige Wochen spä-
der SPD wie heute, der Drops schien ter erhielt die SPD 34,2 Prozent, fast
Elf Wochen noch gelutscht. Ich bekam einen Kopfhörer
und durfte mithören, wie Herr E. von
so viel wie die Union, und ich nahm
mir vor, Umfragen fortan zu ignorie-
Forsa beim deutschen Volk durchrief, ren – ich gucke schließlich auch kein
Vorige Woche habe ich überlegt, einen um zu erkunden, wie es bald abstim- Astro-TV und war noch nie bei einer
81-tägigen Urlaub einzureichen, bis men werde. „Rufen Sie im September Kartenlegerin. Aber das Ignorieren
zum Tag nach der Wahl. Auf die Idee wieder an“, sagte ihm die erste Wäh- fällt schwer. Es ist, als wollte man das
brachten mich die Leute von Forsa, lerin. „Bis dahin ist mein Mann in Wetter oder Pep Guardiola ignorieren.
Emnid und Infratest dimap. Rot-Grün Polen.“ Herr E. tat mir schnell leid. Als Natürlich sind Umfragen im Grunde
habe keine Chance mehr, heißt ihre er seine Gesprächspartner fragte, wel- harmlos. Ärgerlich ist nur, wenn sie
Botschaft, das Rennen sei entschieden. ches politische Ereignis sie zuletzt zur politischen Verdummung beitragen.
Und die Leute von den Instituten müs- interessiert habe, musste er mehr- Wenn der Verweis auf Umfragen
sen es wissen. Sie telefonieren ja täg- mals den Sieg von Michael Schuma- die eigene Haltung ersetzt und
lich mit dem Wähler. Liegt die Union cher im letzten Formel-1-Rennen den gesellschaftlichen Diskurs
also wirklich uneinholbar vor der notieren. Ob sie ihre Wahlentschei- ersäuft. Wenn Umfragen als Ent-
SPD? Ist die Kanzlerschaft von Peer dung schon getroffen habe, wollte WAHL schuldigung dienen, sich nicht mit
Steinbrück so wahrscheinlich wie die er von einer älteren Dame wissen. 2013 den Argumenten und Program-
Meisterschaft von Eintracht Braun- „Gibt es schon wieder Wahlen?“, men eines Wahlkampfs zu beschäf-
schweig? Weshalb ich nun aber doch lautete die erste Antwort. Die zweite tigen – weil ja eh alles entschieden ist.
lieber keine Ferien mache, liegt daran, war nicht besser. „Also, beim letzten Warum ich trotzdem nicht mehr an die
dass es sich mit politischen Umfragen Mal hab ich PDS gewählt, aber diesmal große Aufholjagd der SPD glaube? Da-
so verhält wie mit Grillwürsten oder mache ich CDU. Oder SPD.“ Bei die- mals, 2005, hieß ihr Kandidat Gerhard
der Vergabe von Olympischen Spielen: ser Frage dürfe man nur eine Partei Schröder, heute heißt er Peer Stein-
Man möchte lieber nicht genau wissen, nennen, entschuldigte sich Herr E. brück. Das wird am Ende einen Unter-
wie sie zustande kommen. Im Sommer „Dann nehm ich CDU“, antwortete die schied von zehneinhalb bis elf Prozent-
2005 durfte ich einen Nachmittag im Dame. „Oder nein, SPD, nehmen Sie punkten ausmachen. Sagt mein Bauch.
Callcenter von Forsa verbringen, weni- SPD.“ Je länger ich zuhörte, desto Und der ist ähnlich verlässlich wie Um-
ge Wochen vor der Bundestagswahl. mehr kam mir Demokratie wie ein fragen. Markus Feldenkirchen
12
NSA-Rechenzentrum in Utah

Obamas Zwerge
Im Skandal um Amerikas Lauschangriff auf den Rest der Welt kuschen Regierungen
reihenweise vor Washington. Die Deutschen wollen von nichts gewusst
haben – dabei wird jetzt klar, dass die Geheimdienste beider Länder eng kooperieren.
TODD HIDO / EDGE REPS (O.); MARK WILSON / GETTY IMAGES (U.)

NSA-Chef Alexander in Washington


Titel

I
m sozialen Netzwerk LinkedIn plau- USA, jagt ihn auf der ganzen Welt, und Die Welt steht kopf, und auch Deutsch-
dern Menschen gern über ihre Arbeit. fast alle machen mit, vor allem der Rest land macht dabei keine gute Figur.
Sie wollen etwas loswerden oder su- des Westens. Christoph Heusgen, der außenpoliti-
chen einen neuen Job und berichten des- Snowden hockte am vergangenen Frei- sche Berater der Bundeskanzlerin, konn-
halb, was sie so gemacht haben oder ma- tag wahrscheinlich noch immer im Flug- te sein Wochenende abschreiben, als am
chen. Ein früherer „Signals Intelligence hafen von Moskau, im Transitbereich, in Samstag vor zwei Wochen die Enthüllun-
Supervisor“, ein Amerikaner, erzählt da einem Niemandsland, weil sich niemand gen die Runde machten. Am Sonntag rief
zum Beispiel leichtsinnig, dass er von Sep- traute, ihn aufzunehmen, auch Deutsch- er Phil Murphy an. Der scheidende US-
tember 2009 bis Oktober 2010 in Darm- land nicht, wo Snowden gern Asyl be- Botschafter in Berlin hatte sich auf eine
stadt gearbeitet habe. Er sei dafür zustän- kommen hätte. Woche voller Abschiedsfeierlichkeiten
dig gewesen, abgefangene ausländische Angst regiert gerade diese Welt, Angst eingestellt, doch davon war nun keine
Kommunikation zu sammeln, zu überset- vor dem Zorn der Vereinigten Staaten Rede mehr. Heusgen empfahl Murphy,
zen und zu verarbeiten. Der Mann war von Amerika, Angst vor Präsident Barack die beiden SPIEGEL-Geschichten sofort
also im Berufsfeld der Spionage tätig. Obama, der einst als Weltenretter begrüßt ins Englische übersetzen zu lassen und
Darmstadt ist dafür ein guter Standort, wurde. Kaum einer will es sich mit der dem Weißen Haus zu schicken.
denn hier in der Nähe findet sich das ge- politischen und wirtschaftlichen Super- Dann ließ Heusgen sich mit Tom Do-
heime Gebäude-Sammelsurium „Dagger macht verscherzen. nilon verbinden, dem Sicherheitsberater
Complex“, in dem vor allem Armee-Leu- Das wurde besonders deutlich, als ein des US-Präsidenten. Beide vereinbarten,
te der 66th Military Intelligence Brigade kleines Flugzeug über Österreich eine dass Obama spätestens nach der Rück-
arbeiten, das aber auch von der amerika-
nischen Lauschbehörde National Security
Agency (NSA) mitfinanziert wird. „Abhören von Freunden, das ist
Bei LinkedIn gibt es viele solcher Ein-
träge. Manche sind womöglich aufge-
inakzeptabel, das geht gar nicht.“
bauscht, aber in der Masse
entsteht ein recht gutes Bild kehr von seiner Afrika-Reise mit der
davon, wo amerikanische Ge- Kanzlerin sprechen sollte. Den Amerika-
heimdienstler in Deutschland nern musste mittlerweile klar sein, wie
operieren. verärgert die Deutschen waren.
Was bislang fehlt, sind Einen Tag später wurde Botschafter
Plaudereien darüber, ob und Murphy ins Auswärtige Amt geladen. Auf
wie eng sie mit Kollegen eine förmliche „Einbestellung“, die ulti-
vom Bundesnachrichten- mative Form diplomatischer Missbilli-
dienst oder vom Verfassungs- gung, hatte Berlin zwar verzichtet, aber
schutz zusammengearbeitet faktisch war das Gespräch mit dem zu-
haben. Aber es gibt aus ande- ständigen Abteilungsleiter kaum etwas
ren Quellen Hinweise, dass anderes. Merkels Regierungssprecher
man miteinander zu tun hat. Steffen Seibert wurde ungewohnt deut-
Und das stünde im Wider- lich: „Abhören von Freunden, das ist
spruch zu dem, was die Bun- inakzeptabel, das geht gar nicht.“
desregierung behauptet: dass Für Europa und die USA steht einiges
sie nichts weiß von den gro- auf dem Spiel. An diesem Montag begin-
ßen Lauschaktionen der Ame- nen die Verhandlungen über das geplante
rikaner bei den Verbündeten. transatlantische Freihandelsabkommen.
REUTERS

Der Fall Edward Snowden Snowden Die Schnüffelei der Amerikaner gefähr-
geht in die nächste Runde. det das Projekt. Auf Vorschlag des ame-
Zunächst hat der amerikani- rikanischen Justizministers werden nun
sche Computerexperte, der für die NSA Kehrtwende machen musste. An Bord wa- zwei europäisch-amerikanische Arbeits-
gearbeitet hat, offenbart, wie sich der ren der bolivianische Präsident Evo Mo- gruppen versuchen, parallel zu den Ver-
Geheimdienst in Datennetzen bedient. In rales und vielleicht ein Gespenst mit dem handlungen die Vorwürfe gegen die NSA
der vergangenen Woche wurde durch den Namen Edward Snowden. Mehrere euro- aufzuklären.
SPIEGEL bekannt, dass die USA auch päische Staaten verweigerten diesem Am vergangenen Mittwoch telefonier-
ihre Verbündeten ausspionieren lassen, kleinen, unbewaffneten Flugzeug Lande- ten Merkel und Obama. Beide waren da-
darunter Deutschland. Nun ist zu klären, oder Überflugrechte. In einigen Haupt- nach bemüht, den Streit runterzuspielen.
wie eng diese Verbündeten selbst in den städten hatten sie die Hosen gestrichen Es werde „Gelegenheit zum intensiven
Skandal verstrickt sind. Reine Unschuld voll, und höchstwahrscheinlich war Austausch über diese Fragen geben“, hieß
ist nicht zu erwarten. Snowden nicht einmal unter den Passa- es anschließend ebenso diplomatisch wie
Es gibt Zeiten, in denen klarwird, wie gieren. nichtssagend. Das dürfte kaum das er-
die Welt wirklich tickt, was ihre wahren Der Westen macht sich gerade lächer- sehnte Machtwort gewesen sein, das sich
inneren Gesetze sind. Dann fallen Schlei- lich durch Unterwürfigkeit, durch freiwil- nach einer Umfrage von Infratest Dimap
er, die Welt sieht plötzlich anders aus. Es lige Unfreiheit, durch den Verstoß gegen 78 Prozent der befragten Deutschen von
sind jetzt solche Zeiten. die eigenen Werte. Und er brüskiert dabei Merkel wünschen.
Ein Mann tut etwas, was in der besten noch Südamerika, das auch zum erwei- Im Kanzleramt zittern sie nun der
Tradition des Westens steht, was den Wes- terten Westen gezählt wird. Staaten wie nächsten Enthüllung entgegen, denn
ten so richtig erst begründet hat: Er klärt China oder Russland, stets im Visier west- längst spielt das Thema in den Wahl-
auf, er weist auf Missstände hin und öff- licher Moralexporteure, können hingegen kampf hinein. So versuchten die beiden
net Augen. Das hat Edward Snowden frohlocken: Der Aufklärer Snowden such- SPD-Rivalen Sigmar Gabriel und Peer
getan. Aber was geschieht nun mit ihm? te zuerst Zuflucht bei ihnen, nicht in den Steinbrück in seltener Einmütigkeit, Mer-
Die Führungsmacht dieses Westens, die Ländern, die auf die Freiheiten stolz sind. kel direkt anzugreifen. Es könne sein,
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 15
Titel

„dass sie mehr weiß, als bis- Aber Union und FDP dürf-
her bekannt geworden ist“, te nicht entgangen sein, dass
sagte der SPD-Kanzlerkan- die Abhörspezialisten aus
didat. den USA nach wie vor auf
Auch Snowden sagt, deut- deutschem Boden präsent
sche Behörden würden mit sind. Derzeit baut die NSA
der NSA „unter einer Decke unter ihrem Chef, General
stecken“ (siehe Interview Sei- Keith Alexander, ihre hiesige
te 22). Infrastruktur mit großem
Nachhaltiger als in der Aufwand aus.
NSA-Affäre hat aber noch Die wohl bekannteste Ab-
keine Bundesregierung ihre höranlage liegt im bayeri-
Ahnungslosigkeit zur Schau schen Bad Aibling. Sie ist im
gestellt. Seit nunmehr vier „Echelon“-Bericht hinrei-
Wochen weiß die Bundesre- chend beschrieben. Offiziell
gierung, dass sie nichts weiß. haben die Amerikaner den
Aber das immerhin konse- bayerischen Horchposten
quent. Dreimal tagte in dieser 2004 aufgegeben. Die weißen
Zeit das Parlamentarische Kuppeln des „Echelon“-Ab-
Kontrollgremium des Bun- hörsystems, die sogenannten
destags – dreimal zuckten Radome, ließen sie allerdings
hohe Regierungsvertreter stehen. Als das Gelände offi-
hinter verschlossenen Türen ziell zur zivilen Nutzung um-
mit den Schultern. gewidmet wurde, galt das
Der Verfassungsschutz und nicht für das Areal mit der
der Bundesnachrichtendienst: Lauschtechnik.
angeblich nicht im Bilde. Das Ein Verbindungskabel lei-
Kanzleramt: ahnungslos. Die tet seither die abgefangenen
Bundesjustizministerin: recht- Signale auf das Gelände der
schaffen empört, aber un- Mangfall-Kaserne, die ein
wissend. Der Bundesinnen- paar hundert Meter entfernt
minister: wusste nichts, stellte liegt. Hier residiert offiziell
trotzdem schon mal klar, dass die „Fernmeldeweitverkehrs-
die Datenfischerei der ameri- stelle der Bundeswehr“ – hin-
kanischen Freunde sicherlich ter dem Tarnnamen verbirgt

KATIEBAIR.COM / REUTERS
in Ordnung sein werde. Kritik sich der Bundesnachrichten-
daran, so Hans-Peter Fried- dienst (BND). In enger Ko-
rich (CSU), sei „Antiameri- operation mit einer Handvoll
kanismus“. Abhörspezialisten der NSA
Und so begann die hohe analysiert der deutsche Aus-
Zeit des Briefeschreibens. Computerexperte Snowden 2002: „Er ist eine heiße Kartoffel“ landsdienst seither Telefon-
Die Antworten, so sie denn gespräche, Faxe und alles,
erfolgten, machten allerdings auch nie- Schon einmal gab es in Deutschland und was sonst noch über Satelliten übertragen
manden schlauer. Die britische Regie- Europa Empörung über ein „globales Ab- wird. Offiziell gibt es weder den BND-
rung, besonders eifrig beim Mitschneiden hörsystem für private und wirtschaftliche Posten in Bad Aibling noch die Koopera-
des Internetverkehrs, ließ die deutsche Kommunikation“. Zwölf Jahre ist es her, tion mit den Amerikanern. In einer ver-
brüsk wissen, sie möge sich, bitte schön, dass ein Ausschuss des Europäischen traulichen Sitzung des Parlamentarischen
direkt an den Geheimdienst wenden. Die Parlaments einen fast 200 Seiten langen Kontrollgremiums räumte BND-Chef
Amerikaner zogen es bis Ende vergan- Bericht über das Spähsystem „Echelon“ Gerhard Schindler am vergangenen Mitt-
gener Woche vor zu schweigen. Obama vorlegte. woch die Zusammenarbeit mit dem US-
sagte Merkel wenigstens zu, die Vorwürfe In dem Bericht steht, „dass innerhalb Dienst allerdings ein.
zu prüfen und dann zu berichten. Das Europas sämtliche Kommunikation via Auch anderswo in Deutschland lau-
kann dauern. E-Mail, Telefon und Fax von der NSA re- schen die Amerikaner in die Welt hinein.
Anfang dieser Woche wird sich daher gelmäßig abgehört wird“. Die Rede ist In Griesheim bei Darmstadt betreibt die
eine deutsche Regierungsdelegation nach von einem Geheimdienstverbund der US-Armee einen streng geheimen Horch-
Washington bemühen. In Gesprächen mit USA, Großbritanniens, Kanadas, Austra- posten. Fünf Radome stehen am Rand
dem Heimatschutzministerium, der NSA liens und Neuseelands. „Wenn dann noch des August-Euler-Flugplatzes, versteckt
und der Regierung erhoffen sich die der routinemäßige Austausch von Roh- hinter einem Wäldchen. Wer am „Dag-
Vertreter des Kanzleramts, des Innen- material hinzukommt, dann entsteht eine ger-Complex“ vorbeifährt, wird von
und des Justizministeriums, des Auswär- völlig neue Qualität.“ Wachleuten kritisch beäugt, Fotografie-
tigen Amts sowie des Verfassungsschut- Die Abgeordneten empfahlen im Juli ren ist verboten.
zes und des Nachrichtendienstes Lernef- 2001 eine Reihe von Vorschriften und Ab- Im Innern werten Soldaten Informa-
fekte. Weil aber die Opposition sogleich kommen, um dem ganz großen Lausch- tionen für die Streitkräfte in Europa aus.
lästerte, die Koalition schicke nur Leute angriff in Europa Grenzen zu setzen. Die NSA unterstützt die Analysten, auch
aus der zweiten Reihe, entschied sich Zwei Monate später flogen Terroristen Mitarbeiter amerikanischer Sicherheits-
Friedrich hinterherzureisen. Flugzeuge ins New Yorker World Trade firmen arbeiten auf dem Gelände.
Aber ist die geradezu frivol vorgetra- Center, und einige der Attentäter hatten Der Bedarf an Daten ist offenbar so
gene Mein-Name-ist-Hase-Haltung auch in Deutschland gelebt. Die Kritik an groß, dass in absehbarer Zeit ein Umzug
glaubwürdig? Zweifel sind angebracht. „Echelon“ verstummte abrupt. bevorsteht. Im rund 40 Kilometer ent-
16 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
fernten Wiesbaden baut die gen. Aus bundesweit fünf
US-Armee ein neues Conso- Knotenpunkten schleust der
lidated Intelligence Center. Dienst Daten zur Auswer-
Für 124 Millionen Dollar ent- tung nach Pullach in die Zen-
stehen in der hessischen Lan- trale, auch in Düsseldorf und
deshauptstadt abhörsichere München. Die eigentliche
Büros und ein Hightech- Aufgabe für die Spezialisten
Kontrollzentrum. Sobald die der Abteilung Technische
Anlage in Wiesbaden fertig- Aufklärung beginnt aller-
gestellt ist, wird der „Dagger- dings erst im Anschluss an
Complex“ bei Darmstadt ge- den Zugriff: Aus dem gigan-
schlossen. tischen Datenmeer müssen
Die US-Armee vertraut bei sie jene Telefongespräche,
dem Neubau in Wiesbaden E-Mails oder anderen In-
nur auf Landsleute. Die Bau- ternetsplitter herausfischen,
firmen müssen aus den USA die vielleicht einen Atom-
stammen und sicherheits- schmuggel decouvrieren oder
überprüft sein. Selbst die Ma- einen Terrorplot von al-
terialien sollen aus den Ver- Qaida. Die „Analyse-Tools“
einigten Staaten importiert (Werkzeuge) für den großen
und auf ihrem Weg nach Lauschangriff auf das Daten-
Deutschland überwacht wer- meer sind komplexe und
den. Damit auch ja kein kostspielige Anlagen.
fremder Spion auf die Bau- Um den aus dem Nahen
stelle kommt, bewachen die Osten eingehenden Telefon-
Amerikaner das Areal rund und Internetverkehr auszu-
um die Uhr mit eigenen Si- werten, nimmt der BND die
cherheitsleuten. Hilfe der NSA in Anspruch.
Ist es wirklich vorstellbar, Die Amerikaner stellen den
dass die Bundesregierung Deutschen zum Beispiel Spe-
nichts weiß vom Treiben der zial-Tools zur Verfügung, die
NSA vor ihrer Haustür? Wie mit arabischen Suchbegriffen
ist dann zu verstehen, was arbeiten. Erhält der US-
Innenminister Friedrich vor- Dienst im Gegenzug Zugriff
vergangene Woche in einer auf die Daten? Die Bundes-
aktuellen Debatte des Bun- regierung bestreitet das: Eine
destags zur Ausspähaffäre Kooperation gebe es nur in
CARSTEN KOALL
sagte: „Deutschland ist glück- Form von „finished intelli-
licherweise in den letzten gence“, von fertigen Geheim-
Jahren von großen Anschlä- dienstberichten.
gen verschont geblieben. Wir BND-Zentrale in Berlin: Ohne Amerikaner auf einem Auge blind Das Verhältnis des deut-
verdanken das auch den Hin- schen Auslandsdienstes zur
weisen unserer amerikanischen Freun- eine Herzkammer. Hier treffen Glasfa- NSA ist allerdings deutlich enger als
de.“ Hinter Sätzen wie diesem verbirgt serkabel aus Osteuropa und Zentralasien öffentlich eingeräumt. In sogenannten
sich eine funktionale Sicht auf den Über- auf Datenleitungen aus Westeuropa. „Joint Operations“ gehen die Partner-
wachungsapparat der Supermacht: Was Auch E-Mails, Bilder, Telefonate und dienste in klar umgrenzten Einzelfällen
genau die NSA macht, ist zweitrangig – Tweets aus Krisenländern des Nahen und gemeinsam vor. Die Ziele liegen im Aus-
es zählt, was hinten rauskommt. Und das Mittleren Ostens kommen in Frankfurt land, zumeist mit Schwerpunkten wie
ist, wie Geheimdienstler halb verschämt vorbei. Terrorabwehr und Rüstungslieferungen.
einräumen, unverzichtbar. Internationale Provider unterhalten Am Horchposten in Bad Aibling arbei-
Ohne die Tipps der Amerikaner, heißt hier ihre digitalen Drehscheiben, die Te- tet ein NSA-Team eng mit den Geheimen
es, wäre man bei der Terrorbekämpfung lekom oder auch das US-Unternehmen des BND zusammen. Der BND nutzt Bad
womöglich auf einem Auge blind. Denn Level 3, das sich damit brüstet, einen Aibling unter anderem, um Thuraya-Sa-
tellitentelefone zu überwachen, die vor
E-Mails und Telefonate aus Krisenländern allem in den entlegenen Regionen Paki-
stans und Afghanistans eine Rolle spielen.
kommen in Frankfurt vorbei. Die Amerikaner unterstützen die Deut-
schen dabei. Ist es wirklich denkbar, dass
während das Bundesamt für Verfassungs- Großteil des weltweiten Internetverkehrs bei so viel Nähe der eine Partner nicht
schutz und der Bundesnachrichtendienst abzuwickeln. Für Geheimdienste wie den wusste, was der andere tat?
im Rahmen der G-10-Gesetzgebung BND oder die NSA ist Frankfurt eine un- „Wir haben bislang keine Erkenntnisse,
strengen Regeln unterliegen, arbeiten erschöpfliche Quelle für Informationen. dass Internetknotenpunkte in Deutsch-
ausländische Dienste auf deutschem Bo- Wie aus Unterlagen von Snowden her- land durch die NSA ausspioniert wur-
den – solange es dem Anti-Terror-Kampf vorgeht, greift die NSA jeden Monat in den“, sagt der Präsident des Bundesamts
dient – weitgehend unkontrolliert. Wie Deutschland auf eine halbe Milliarde für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg
weit das geht, wird am Beispiel Frankfurt Kommunikationsvorgänge zu, unter an- Maaßen. Auch Lauschangriffe der USA
am Main deutlich. derem in Frankfurt. auf die Bundesregierung seien ihm nicht
Im weltweit pulsierenden Strom digi- Auch der BND bedient sich hier. Er bekannt. Eine Projektgruppe unter Lei-
taler Daten ist Frankfurt so etwas wie darf bis zu 20 Prozent der Daten abzwei- tung des BfV-Spitzenbeamten Thomas
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Titel

solche Kontrolle war nicht möglich.


Die Datenmengen waren zu groß.
SPIEGEL: Konnten auch Telefonate von
Deutschen auf den Bändern sein?
Arndt: Wenn diese auf der abgehörten
Leitung ins Ausland telefonierten oder
auf dieser Leitung aus dem Ausland
angerufen wurden.
SPIEGEL: Teilten die Amerikaner mit,

JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL


wonach sie suchten?
Arndt: Nein, das hätte uns ja Einblick
in die Schwerpunkte ihrer Überwa-
chung geben können. Um den Schein
zu wahren, fügten sie eine Begründung
von einer halben Schreibmaschinen-
seite bei, dass das Abhören dieser Lei-
tung für die Sicherheit ihrer Truppen

„Sie sind der Hegemon hier“ in der Bundesrepublik wichtig sei.


SPIEGEL: Nach BND-Unterlagen über-
gab Pullach 1977 rund 10 000 G-10-Mel-
Der Ex-Bundestagsabgeordnete Claus Arndt, 86 (SPD), dungen. War das ungewöhnlich viel?
über seinen früheren Job als Geheimdienstkontrolleur und Arndt: Nein, das entsprach in meiner
den Informationshunger der Amerikaner Zeit der üblichen Menge. Wobei der
Begriff G-10-Meldung irreführend ist.
Schon das Abhören einer Leitung, was
SPIEGEL: Herr Arndt, Sie wurden zu Zei- Arndt: Nicht in der Bundesrepublik, ja viele Telefonate umfasst, kann da-
ten von Kanzler Kurt Georg Kiesinger aber in West-Berlin. Dort haben sich mit gemeint sein.
Mitglied der G-10-Kommission und die Amerikaner bis zum 3. Oktober SPIEGEL: 10 000 G-10-Meldungen könn-
schieden in der Ära von Gerhard 1990 benommen, als wären sie gerade ten Millionen Telefonate bedeuten?
Schröder aus. Haben die Amerikaner einmarschiert. Einmal meldete sich ein Arndt: Ja, wobei ich nicht glaube, dass
in diesen Jahrzehnten die Deutschen Mitarbeiter der Landespostdirektion die NSA diese Datenmengen auswer-
flächendeckend abgehört? Berlin. Ein US-Major hatte Streit mit ten konnte. Da wechseln ständig die
Arndt: Zunächst haben sich die Ameri- seiner Freundin und angeordnet, ihre Gesprächspartner. Eben sprach man
kaner aufgeführt wie eine Besatzungs- gesamte Post mitzulesen und ihre Te- rumänisch, dann deutsch, dann rus-
macht und jedermann abgehört, den lefonate abzuhören. Dem deutschen sisch. Ich wünsche allen viel Spaß, die
sie abhören wollten. Das änderte sich Beamten kam das spanisch vor, und so etwas auswerten wollen.
erst 1968 mit dem G-10-Gesetz. Für das er wollte wissen, ob er diesen Auftrag SPIEGEL: Woher nahmen die Amerika-
Abhören waren danach deutsche Stel- ausführen müsse. Ich habe ihm gesagt: ner das Recht, hier abhören zu lassen?
len zuständig. Die Amerikaner muss- „Es tut mir leid, aber Sie müssen das!“ Arndt: Das resultiert aus dem Zusatz-
ten beantragen, wenn Bundesnachrich- So war die Rechtslage. abkommen zum Nato-Truppenstatut
tendienst oder Verfassungsschutz für SPIEGEL: Neben dem Abhören einzel- von 1959. Danach ist die Bundesrepu-
sie lauschen sollte. ner Anschlüsse gab es die sogenannte blik zur Zusammenarbeit mit den USA
SPIEGEL: Wie lief das in der Praxis? strategische Aufklärung. Der Westen zum Schutze von deren Truppen ver-
Arndt: Für die Anschlüsse bestimmter wollte während des Kalten Krieges pflichtet. Man muss dazu wissen: Aus
Personen stellten US-Behörden beim herausfinden, ob ein Angriff drohte. amerikanischer Sicht gab es nichts, was
Innenminister einen Antrag. Der lei- Arndt: Die Amerikaner verlangten, dass nicht für die Sicherheit ihrer Truppen
tete ihn an uns weiter, und wir haben der Fernmeldeverkehr, etwa zwischen relevant war.
dann zugestimmt oder abgelehnt. Paris und Prag, angezapft wird, und SPIEGEL: Hätten Sie nicht einfach alle
SPIEGEL: Wie oft kam eine solche An- zwar rund um die Uhr. Zuständig ist Anträge zur strategischen Aufklärung
frage von US-Behörden? bei uns der BND. Er muss an einem ablehnen können?
Arndt: Das bewegte sich im zweistelli- Knotenpunkt des internationalen Te- Arndt: Die Amerikaner sind wild ver-
gen Bereich pro Jahr. lefonnetzes aktiv werden, etwa in sessen auf Informationen, und die Ame-
SPIEGEL: Haben Sie auch Anfragen ab- Hamburg. Da fallen riesige Datenmen- rikaner sind der Hegemon hier. Es ist
gelehnt? gen an. Zu meiner Zeit ging allein von nicht vorstellbar, dass man sich diesem
Arndt: Natürlich. Ich erinnere den Koch Hamburg wöchentlich ein Lkw mit innerhalb des Bündnisses verweigert.
eines amerikanischen Generals, der Anhänger voller Bänder in die BND- SPIEGEL: Hat die deutsche Einheit etwas
bei Gesprächen in der Küche oder Zentrale nach Pullach. an der Situation verändert?
beim Essen angeblich Geheimnisse SPIEGEL: Gab der BND die Bänder un- Arndt: Nein.
erfuhr und an die Russen verriet. Der gefiltert weiter? SPIEGEL: Dann ist die Bundesrepublik
Antrag war so allgemein gehalten, da Arndt: Ja, so sollte es zwar nicht sein. nur beschränkt souverän?
haben wir den Amerikanern ausrich- Vielmehr sollte der BND vorher kon- Arndt: Theoretisch sind wir souverän.
ten lassen: „Mit so etwas dürft ihr uns trollieren, ob die Bänder Informatio- Die Organe der Bundesrepublik haben
nicht kommen.“ nen enthielten, deren Weitergabe an das Zusatzabkommen ja gebilligt. In
SPIEGEL: Haben die Amerikaner trotz- die Amerikaner die Interessen der der Praxis sind wir es nicht.
dem Anschlüsse selbst überwacht? Bundesrepublik verletzten. Doch eine INTERVIEW: KLAUS WIEGREFE

18 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Haldenwang soll den Ein anonymer Diplomat
Snowden-Hinweisen nun erklärte in der Zeitung „Le
nachgehen. Monde“: „Wir haben nie
Am Ende ist es relativ auch nur einen Moment lang
unerheblich, ob der Abfluss gedacht, Snowden könnte in
deutscher Verbindungsdaten dem Flugzeug sein.“ Die
nach Amerika aufgeklärt Franzosen behaupten nun, es
werden kann oder nicht, habe sich um ein Miss-
denn allzu harsche Kritik verständnis gehandelt. Die
müssen die Amerikaner nicht zuständige Behörde habe
fürchten. „Wir sind erpress- fälschlicherweise geglaubt,
bar“, sagt ein hochrangiger zwei „Falcons“ seien auf dem
Sicherheitsbeamter, „wenn Weg in den französischen
die NSA ihren Hahn zudreht, Luftraum, doch nur eines der
sind wir blind.“ Flugzeuge habe eine Geneh-
Die USA sind eben nicht migung gehabt. Aus techni-
einfach ein Freund, sie sind schen Gründen sei dann eine
ein Herrscher, mit dem man der beiden Maschinen ge-
befreundet sein kann oder stoppt worden, ohne dass
nicht. Dass mit einer Freund- jemand gewusst habe, dass
schaft oft auch Herrschaft Morales an Bord sei.
verbunden sein kann, zeigt Hollandes Genehmigung
der Fall Snowden so klar wie kam spät in der Nacht, zu
kaum ein anderer. Und inner- spät für Boliviens Staatschef.
halb des Falls Snowden zeigt Da das Flugzeug offenbar
die Odyssee von Evo Morales auch Italien nicht überfliegen
besonders deutlich, wie die durfte, fragte die Crew gegen
Herrschaftsverhältnisse sind. 21 Uhr in Wien nach einer
Die Reise des boliviani- Landeerlaubnis. Der Pilot
schen Präsidenten gehört zu sagte dem Lotsen: „Wir müs-
den bizarrsten Vorgängen der sen landen, weil wir keine
Weltpolitik. Sie kann noch korrekte Anzeige des Treib-
nicht zu Ende erzählt wer- stoffstands bekommen. Als
den, es gibt Lücken, es gibt Vorsichtsmaßnahme müssen
widersprüchliche Aussagen, wir landen.“ Die Erlaubnis
aber all das hätte wohl nicht kam bald, die „Falcon“ wen-

MAX SCHÄFER / DE-CIX


geschehen können, wenn dete über Obertauern um 180
nicht einige europäische Grad. Gegen 22 Uhr war Mo-
Politiker eine Menge Angst rales in Wien.
vor den Amerikanern hätten. Dort saß er über 13 Stun-
Am 28. Juni genehmigten Netzwerkverteiler in Frankfurt am Main: Unerschöpfliche Quelle den lang auf dem Flughafen
portugiesische Behörden ei- fest. Nach Angaben der
nen Reiseplan für eine „Dassault Falcon alternative Route in Betracht zu ziehen, bolivianischen Regierung verweigerte
900EX“ der bolivianischen Luftwaffe. und auf einem Vorgehen bestanden, das Morales zunächst eine Durchsuchung des
Das Flugzeug von Morales sollte bei sei- die portugiesische Souveränität verletzt Flugzeugs, die Beamten durften es aber
ner Reise nach Moskau auf dem Hin- und hätte“. schließlich doch betreten. Die Pässe aller
dem Rückweg einen Zwischenstopp in Selbst schuld also? Am Nachmittag des Insassen wurden überprüft. Morales habe
Lissabon einlegen, um zu tanken. Auf 2. Juli haben die Bolivianer in Madrid den Behörden versichert, dass Snowden
dem Hinweg ging alles glatt. Am 1. Juli angefragt, ob sie spanisches Hoheitsge- nicht an Bord sei. Seiner argentinischen
allerdings schickten die Portugiesen um biet überfliegen dürften, um einen Tank- Kollegin Cristina Fernández de Kirchner
16.28 Uhr einen Widerruf an die Bolivia- stopp in Las Palmas auf Gran Canaria sagte er am Telefon, eine Durchsuchung
ner: Kein Zwischenstopp auf dem Rück- einzulegen. Das sagt das spanische Au- lasse er nicht zu, „ich bin doch kein
flug, „aus technischen Gründen“, heißt ßenministerium auf Anfrage. Sofort habe Dieb“.
es in einer Darstellung des portugiesi- man beides genehmigt. Die Bolivianer Vor allem die Spanier bemühten sich,
schen Außenministeriums. Um 19.19 Uhr hätten sich dafür bedankt. die Krise zu lösen, verhandelten mit den
sei das Ersuchen der Bolivianer einge- Am 2. Juli hob Morales’ Maschine ge- Bolivianern, aber auch mit europäischen
troffen, das Verbot näher zu erläutern. gen 20.35 Uhr in Moskau ab, Ziel also Staaten. Der spanische Botschafter in
Um 21.10 Uhr habe man geantwortet: nun: Las Palmas. Doch eine Dreiviertel- Wien sprach bei Morales vor, der in der
Dem Überflug des portugiesischen Ter- stunde bevor der Flieger auf dem Weg VIP-Zone des Flughafens Schwechat auf-
rains stehe nichts im Wege, nur eine Lan- nach Las Palmas französischen Luftraum gehalten wurde. Morales erzählte später,
dung in Lissabon sei nicht möglich. Was erreichte, verwehrten die Franzosen den der spanische Botschafter habe ihm vor-
diese technischen Hindernisse gewesen Überflug. geschlagen, einen Kaffee in der „Falcon“
sein sollen, wollte das Ministerium bis- Präsident François Hollande sagte am zu trinken – wohl um zu kontrollieren,
lang nicht erläutern. folgenden Tag: „Es gab widersprüchliche ob Snowden an Bord versteckt werde.
Die Bolivianer hätten insistiert, ohne Angaben über die Passagiere an Bord. „Es stimmt nicht, dass Spanien um Er-
Erfolg. Das Ministerium „bedaure die Sobald ich erfuhr, dass es sich um die laubnis gebeten hat, das Flugzeug zu un-
Unannehmlichkeiten“, habe aber keine Maschine des bolivianischen Präsidenten tersuchen“, widersprach ihm Spaniens
Schuld, da „die bolivianischen Stellen fast handelt, habe ich sofort die Erlaubnis Außenminister José Manuel García-Mar-
24 Stunden lang nicht bereit waren, eine zum Überflug erteilt.“ gallo in Madrid. Später räumte er ein,
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 19
Einfluss, den Amerika, die bloßgestellte
Supermacht, trotz aller Empörung in der
Welt noch immer hat.
20 Asylanträge hat Snowden bisher ge-
stellt, mindestens 13 davon sind bereits
skeptisch sondiert oder abgelehnt worden,
unter anderem von Deutschland, Spanien
und Polen. In der Nacht zum vergangenen
Samstag hieß es aus Nicaragua, man kön-
ne Snowden Asyl geben – wenn die Um-
stände das zuließen. Kurz danach sagte
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro, er
wolle Snowden Asyl anbieten.
Mit Genugtuung nehmen die Ameri-
kaner zur Kenntnis, dass immerhin
Russlands Präsident Wladimir Putin die
Möglichkeit eines Asyls nur unter harten
Bedingungen erwägen würde. „Edward
Snowden ist eine heiße Kartoffel“, trium-
phiert Philip Crowley, Sprecher der ehe-
maligen Außenministerin Hillary Clinton.

HELMUT FOHRINGER / DPA


Niemand wolle ihn aufnehmen: „Wenn
die Musik ausgeht, will ihn kein Land auf
seinem Schoß sitzen haben.“
Nachdem die Regierung Obama zu-
nächst auf öffentliche Einschüchterung
Boliviens Präsident Morales in Wien: „Angriff auf ganz Lateinamerika“ setzte, entschärfte sie den Ton und hofft
nun offenbar auf Diplomatie. „Ich werde
man habe ihm gesagt, Snowden sei an Ecuador Snowden Zuflucht gewähre. Das keine Jets schicken“, um einen Hacker
Bord der „Falcon“. Wer das gesagt hat? halbstündige Telefongespräch sei „herz- zu fassen, versicherte Obama, aber das
„Geheim.“ Das ist ein Wort, hinter dem lich und respektvoll“ gewesen, versicher- heißt nicht, dass nun Milde gilt für
man manches verstecken kann. te Correa. Er werde Washington selbst- Snowden, der gerade 30 geworden ist.
Auf Anfrage der Bolivianer erneuerten verständlich konsultieren, bevor er eine „Öffentlich versucht die Regierung, die
die Spanier die Landegenehmigung für Entscheidung treffe. Sache herunterzuspielen“, sagt der ehe-
Las Palmas. Um 11.30 Uhr am 3. Juli star- Das Doppelspiel ist typisch für die Hal- malige Direktor der Nationalen Geheim-
tete das Flugzeug in Wien. Um 23.30 Uhr tung der meisten südamerikanischen Prä- dienste, Dennis Blair, „aber unterhalb der
Ortszeit kletterte der erschöpfte und sidenten: Sie nutzen das Tauziehen um Wasseroberfläche paddelt die Ente wie
übermüdete Präsident schließlich daheim Snowden, um sich vor ihren Anhängern wild.“ Jeder soll wissen, dass ein Freund
aus seinem Jet. Morales sagte: „Das Flug- als tapfere Kämpfer gegen die Gringos Snowdens kein Freund der USA sein
zeug eines Präsidenten ist wie eine flie- zu profilieren. Doch in Wirklichkeit sitzt kann.
gende Botschaft. Wenn man es festhält Washington am längeren Hebel. Obamas Leute fürchten, dass die Ent-
oder umleitet, ist das wie ein Attentat. Ecuador ist wirtschaftlich abhängig von hüllungen immer weitergehen – über vie-
Es war nicht nur ein Attentat auf unser den Amerikanern, Landeswährung ist der le Wochen. Snowden, so viel ist mittler-
Land, sondern auf ganz Lateinamerika.“ US-Dollar. Washington könnte das kleine weile klar, hat ein großes Archiv mitge-
Von Venezuela bis Feuerland ging ein Land in den Ruin zwingen. nommen: nicht nur eine Festplatte voll,
Aufschrei durch den Kontinent. „Wir Da ist man in Quito nicht besonders sondern gleich mehrere. Das Material,
dachten, der Kolonialismus sei überwun- scharf auf einen weiteren Staatsfeind der aus dem die bislang durch „Guardian“
den“, ätzte Argentiniens Präsidentin. Von USA. Julian Assange, der Gründer der und SPIEGEL publizierten Geschichten
einem „Angriff auf ganz Lateinamerika“ Enthüllungsplattform WikiLeaks, hat in stammen, umfasst nur einen Teil davon.
sprach Ecuadors Präsident Rafael Correa.
Die Brasilianerin Dilma Rousseff kritisier- Obamas Leute fürchten, dass die
te das Vorgehen der Europäer als „schwer-
wiegenden Verstoß gegen das internatio- Enthüllungen immer weitergehen.
nale Recht“, der die Verhandlungen über
ein Freihandelsabkommen mit der Euro- der ecuadorianischen Botschaft in Lon- Weitere spektakuläre Veröffentli-
päischen Union gefährden würde. don Zuflucht gesucht und lebt dort seit chungen würden aus Sicht der Ameri-
Auch Ecuadors Präsident Correa hat über einem Jahr aus Angst, von den Bri- kaner dauerhaften Flurschaden anrichten
in dieser Krise erst einmal großspurig rea- ten an die Schweden und von den Schwe- – zumal Snowdens Material mutmaßlich
giert. Als der demokratische US-Senator den an die Amerikaner ausgeliefert zu in Teilen nicht nur an die Öffentlich-
Bob Menendez drohte, Zollvergünsti- werden. keit, sondern womöglich auch in die
gungen zu blockieren, wenn Ecuador Nun jagt Washington schon zwei Auf- Hände der Chinesen und Russen gelangt
Snowden Asyl gewähren würde, kündigte klärer des Internetzeitalters. Jeder Tag, ist.
Correa das Abkommen: „Wir lassen uns den Edward Snowden im Transitbereich Die chinesische Regierung, heißt es im
nicht einschüchtern.“ des Moskauer Flughafens Scheremetjewo Umfeld des Weißen Hauses, habe bereits
Wenige Tage später ruderte er zurück. verbringt, jeder Fluchtweg, der ihm ver- signalisiert, dass sie eine Kopie des Ge-
Obamas Vize Joe Biden hatte ihn ange- baut wird, ist ein kleiner Sieg für die ame- heimdienst-Schatzes besitze – vermutlich
rufen und gewarnt, dass sich die Bezie- rikanische Diplomatie. Die Zahl der Tage, ohne Snowdens aktives Zutun, der sich
hungen zwischen Washington und Quito die seit seiner Ankunft in Russland ver- ausdrücklich nicht als Überläufer gerieren
„stark verschlechtern“ würden, wenn gangen sind, wird auch zum Maß für den wollte und nicht die Regierung eines an-
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deren Landes als Adressat suchte, son-
dern die kritische Öffentlichkeit.
Zugleich sollen die Chinesen in Wa-
shington aber auch versprochen haben,
dass sie nicht Teile der NSA-Dokumente
oder gar den gesamten Bestand publizie-
ren. Selbst unter Rivalen wie China, Russ-
land und den USA gibt es eine Art Kodex,
Streitfälle aus der Welt der Geheimdienste
nur im Ausnahmefall vor den Augen der
Weltöffentlichkeit auszutragen. Jede Re-
gierung weiß, dass sie in eine ähnliche Si-
tuation geraten kann. Dazu kommt, dass
die Geheimdienste ihr Wissen lieber für
sich behalten, als es auf dem Nachrichten-
basar zu präsentieren. Die Chinesen wer-
den die Dokumente genüsslich auswerten
und dann still ihre Schlüsse daraus ziehen.
Selbst für Putin gilt dieser Kodex. Seine
öffentliche Warnung, Snowden müsse da-
mit aufhören, den USA Schaden zuzufü-
gen, wird in Washington als Signal inter-
pretiert, dass die Russen ebenfalls kein
GETTY IMAGES

Interesse daran haben, die Praktiken der


NSA öffentlich zu sezieren.
In Wladimir Putins Brust schlagen im
Fall Snowden wohl zwei Herzen. Einer- Partner Obama, Merkel in Berlin: Der Westen macht sich lächerlich durch Unterwürfigkeit
seits sieht der ehemalige KGB-Auslands-
aufklärer im flüchtigen Amerikaner einen ger sich Snowden am Flughafen aufhält, ten. Und Landesverrat gelte, so Nikolaos
verachtenswerten Verräter, noch dazu ei- desto größer ist die Chance, dass Moskaus Gazeas, Fachmann für internationales
nen unberechenbaren Querkopf, der mit Geheimdienst-Hacker sich Zugang ver- Strafrecht an der Uni Köln, zumindest in
seiner Rebellion gegen staatliche Über- schaffen, selbst wenn Snowdens Rechner der deutschen Sicht als politische Straftat.
wachung auch zur Symbolfigur für Russ- gut gesichert sind. Er muss auch mal Wenn die US-Verfolger, was wahr-
lands Anti-Putin-Opposition taugen wür- schlafen, seine Situation dürfte ihn all- scheinlich wäre, ihr Auslieferungsbegeh-
de. Andererseits fiel Putin mit Snowden mählich zermürben. ren hinter unpolitischen Vorwürfen zu
ein Werkzeug in den Schoß, Amerika Wäre es da nicht ein menschliches Ge- verbergen suchten, würde ihnen auch das
eins auszuwischen. Endlich einmal steht bot, ihn aus seiner Lage zu befreien, zum nicht helfen. Wenn „ernstliche Gründe“
Washington und nicht Moskau am Pran- Beispiel durch Asyl in der Bundesrepu- zu dem Verdacht Anlass gäben, dass es
ger der westlichen Öffentlichkeit. blik? im Kern um eine politische Straftat gehe,
Hinter den Kulissen und fern der Schon morgen könnte Snowden vor so heißt es im Auslieferungsabkommen,
Schlagzeilen der Kreml-treuen Presse der Tür stehen. Eine Ausreise aus Russ- sei auch dies ein Auslieferungshindernis.
aber arbeitet Putin immer wieder prag- land muss nicht an seinem ungültigen Es gäbe also in Wahrheit einen Weg,
matisch mit Amerika zusammen: So fä- Reisepass scheitern. Die Russen könnten Edward Snowden nach Deutschland zu
delte Russlands starker Mann über einen ihn auch so ziehen lassen. holen und hierbleiben zu lassen. Man
Vertrauten die Milliardenallianz des rus- Mit einem Stempel und einer Unter- müsste es wollen, man müsste bereit sein,
sischen Ölgiganten Rosneft mit dem ame- schrift könnte der Flüchtling in das nächs- den Zorn der Amerikaner in Kauf zu neh-
rikanischen ExxonMobil-Konzern ein. te Flugzeug nach Berlin steigen und bei men.
Seit 2009 sind mehr als 400 000 amerika- der Ankunft Asyl beantragen. Zwar Aber das ist man nicht. Realpolitik
nische Soldaten und Armeeangestellte könnten ihn die deutschen Grenzwächter heißt jetzt, vor den Amerikanern zu ku-
über russisches Territorium nach Afgha- „zurückweisen“, aber das müssten sie schen. Deutschland ist eben abhängig, po-
nistan gebracht worden. Auch Russland nicht tun. Wahrscheinlicher wäre, dass litisch und wirtschaftlich von den Ameri-
mag nicht alle Brücken zum mächtigsten sie Snowden sofort in Gewahrsam näh- kanern, wirtschaftlich von den Chinesen,
Land der Welt abbrechen. men, weil die USA ein Festnahmeersu- die deshalb beim Thema Menschenrechte
Der Kreml scheint sich deshalb für ein chen geschickt haben. kaum noch Widerspruch aus Berlin hören.
Doppelspiel entschieden zu haben: Russ- Spätestens dann könnte die Bundesre- Deutschland ist ein Land, das sich nichts
land liefert Snowden nicht an Amerika gierung eingreifen und den Mann als traut. Der Fall Snowden zeigt auch, dass
aus und betont, dass der flüchtige Com- wichtigen Staatsgast gut bewacht in ei- Deutschland ein Zwerg des Weltgesche-
puterexperte sich ja gar nicht auf russi- nem ordentlichen Hotel einquartieren. hens ist. SVEN BECKER, THOMAS DARNSTÄDT,
schem Territorium, sondern nur in der So oder so würde ein Gericht zu prüfen JENS GLÜSING, HUBERT GUDE, FRITZ HABEKUSS,
KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN, MARC HUJER,
Transitzone des Flughafens aufhalte. beginnen, ob dem Antrag der Amerika- DIRK KURBJUWEIT, MATHIEU VON ROHR,
Auch der russische Geheimdienst habe ner, Snowden auszuliefern, entsprochen MARCEL ROSENBACH, MATTHIAS SCHEPP,
mit dem Mann keinen Kontakt, seine werden kann. JÖRG SCHINDLER, GREGOR PETER SCHMITZ,
Informationen seien am Ende gar nicht Erfahrene Richter, die sich regelmäßig CHRISTOPH SCHULT, HOLGER STARK,
HELENE ZUBER
so viel wert. „Das ist, wie ein Schwein mit solchen Angelegenheiten beschäfti-
zu scheren“, mit diesen Worten spielte gen, sind fast sicher, dass das Ausliefe-
Putin Snowdens Wissen herunter: „viel rungsbegehren als unzulässig abzulehnen Video: Clemens Höges über
Gequieke, aber wenig Wolle.“ wäre. Denn das deutsch-amerikanische den Fall Edward Snowden
Gleichwohl dürfte es ein russisches In- Auslieferungsabkommen verbietet eine spiegel.de/app282013snowden
teresse an seinen Laptops geben. Je län- Überstellung wegen politischer Strafta- oder in der App DER SPIEGEL

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Plakat von Snowden-Unterstützern in Hongkong

PHILIPPE LOPEZ / AFP


„Als Zielobjekt markiert“
Der Enthüller Edward Snowden über die geheime Macht der NSA

K
urz bevor Edward Snowden zum Im Zuge der Ermittlungen rund um die festzustellen, ob es sich wirklich um ei-
weltweit bekannten Whistleblo- WikiLeaks-Enthüllungen ist Appelbaum nen NSA-Whistleblower handelt. Wir
wer wurde, beantwortete er einen ins Visier amerikanischer Behörden ge- schickten unsere Fragen über verschlüs-
umfangreichen Katalog von Fragen. Sie raten, die Unternehmen wie Twitter und selte E-Mails. Ich wusste nicht, dass der
stammten unter anderem von Jacob Ap- Google aufgefordert haben, seine Konten Gesprächspartner Edward Snowden war
pelbaum, 30, einem Entwickler von Ver- preiszugeben. Er selbst bezeichnet seine – bis er sich in Hongkong der Öffentlich-
schlüsselungs- und Sicherheitssoftware. Haltung zu WikiLeaks als „ambivalent“ keit offenbarte. Er wusste auch nicht,
Appelbaum unterweist internationale – und beschreibt im Folgenden, wie er wer ich war. Ich hatte damit gerechnet,
Menschenrechtsgruppen und Journalis- dazu kam, Fragen an Snowden stellen zu dass es sich um jemanden in den Sechzi-
ten im sicheren und anonymen Umgang können: gern handeln würde.
mit dem Internet. Mitte Mai hat mich die Dokumentarfil- Das Folgende ist ein Auszug aus einem
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er merin Laura Poitras kontaktiert. Sie sag- umfangreicheren Interview, das noch
2010 bekannt, als er den WikiLeaks-Grün- te mir zu diesem Zeitpunkt, sie sei in weitere Punkte behandelte, viele davon
der Julian Assange als Redner bei einer Kontakt mit einer anonymen NSA-Quel- sind technischer Natur. Einige der Fragen
Hacker-Konferenz in New York vertrat. le, die eingewilligt habe, von ihr inter- erscheinen jetzt in anderer Reihenfolge,
Zusammen mit Assange und weiteren Co- viewt zu werden. damit sie im Zusammenhang verständ-
Autoren veröffentlichte er unlängst den Sie stellte dafür gerade Fragen zusam- lich sind.
Gesprächsband „Cypherpunks: Unsere men und bot mir an, selbst Fragen bei- Bei dem Gespräch ging es fast ausschließ-
Freiheit und die Zukunft des Internets“. zusteuern. Es ging unter anderem darum lich um die Aktivitäten der National
22 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Titel

Security Agency und um ihre Fähig- dann haben unsere höchsten Vertreter Tage, das mag vielleicht nicht nach viel
keiten. Es ist wichtig zu wissen, dass die- die Untersuchung einfach gestoppt. Die klingen, aber es geht eben nicht nur um
se Fragen nicht im Zusammenhang mit Frage, wer theoretisch angeklagt werden Verbindungsdaten. „Full take“ heißt, dass
den Ereignissen der vergangenen Woche könnte, ist hinfällig, wenn die Gesetze der Speicher alles aufnimmt. Wenn Sie
oder des vergangenen Monats gestellt nicht respektiert werden. Gesetze sind ein Datenpaket verschicken und wenn
wurden. Sie wurden in einer Zeit totaler gedacht für Leute wie Sie oder mich – das seinen Weg durch Großbritannien
Ruhe gestellt, als Snowden noch auf Ha- nicht aber für die. nimmt, werden wir es kriegen. Wenn Sie
waii war. Frage: Kooperiert die NSA mit anderen irgendetwas herunterladen, und der Ser-
Ich hatte zu einem späteren Zeitpunkt Staaten wie Israel? ver steht in Großbritannien, dann werden
noch einmal direkten Kontakt mit Snowden: Ja, die ganze Zeit. Die NSA hat wir es kriegen. Und wenn die Daten Ihrer
Snowden, an dem ich auch meine eigene eine große Abteilung dafür, sie heißt FAD kranken Tochter in einem Londoner Call
Identität offenbarte. Er hat mir damals – Foreign Affairs Directorate. Center verarbeitet werden, dann … Ach,
die Einwilligung gegeben, seine Aussagen Frage: Hat die NSA geholfen, Stuxnet zu ich glaube, Sie haben verstanden.
zu veröffentlichen. programmieren? (Jenes Schadprogramm, Frage: Kann man dem entgehen?
das gegen iranische Atomanlagen einge- Snowden: Na ja, wenn man die Wahl hat,

setzt wurde –Red.) sollte man niemals Informationen durch
Frage: Was ist die Aufgabe der National Snowden: Die NSA und Israel haben Stux- britische Leitungen oder über britische Ser-
Security Agency (NSA) – und wie ist de- net zusammen geschrieben. ver schicken. Sogar Selfies (meist mit dem
ren Job mit den Gesetzen in Überein- Frage: Welche großen Überwachungspro- Handy fotografierte Selbstporträts –Red.)
stimmung zu bringen? gramme sind heute aktiv, und wie helfen der Königin für ihre Bademeister würden
Snowden: Aufgabe der NSA ist es, von al- internationale Partner der NSA? mitgeschnitten, wenn es sie gäbe.
lem Wichtigen zu wissen, das außerhalb
der Vereinigten Staaten passiert. Das ist „Tempora saugt alle Daten auf –
eine beträchtliche Aufgabe, und den Leu-
ten dort wird vermittelt, dass es eine exis- egal worum es geht.“
tentielle Krise bedeuten kann, nicht alles
über jeden zu wissen. Und dann glaubt Snowden: Die Partner bei den „Five Eyes“ Frage: Arbeiten die NSA und ihre Partner
man irgendwann, dass es schon in Ord- (dahinter verbergen sich die Geheim- mit einer Art Schleppnetz-Methode, um
nung ist, sich die Regeln etwas hinzubie- dienste der Amerikaner, der Briten, der Telefonate, Texte und Daten abzufangen?
gen. Und wenn die Menschen einen dann Australier, der Neuseeländer und der Ka- Snowden: Ja, aber wie viel sie mitschnei-
dafür hassen, dass man die Regeln ver- nadier –Red.) gehen manchmal weiter als den können, hängt von den Möglichkei-
biegt, wird es auf einmal überlebenswich- die NSA-Leute selbst. Nehmen wir das ten der jeweiligen Anzapfstellen ab. Es
tig, sie sogar zu brechen. Tempora-Programm des britischen Ge- gibt Daten, die für ergiebiger gehalten
Frage: Sind deutsche Behörden oder deut- heimdienstes GCHQ. Tempora ist der ers- werden und deshalb häufiger mitgeschnit-
sche Politiker in das Überwachungssys- te „Ich speichere alles“-Ansatz („Full ten werden können. Aber all das ist eher
tem verwickelt? take“) in der Geheimdienstwelt. Es saugt ein Problem bei ausländischen Anzapf-
Snowden: Ja natürlich. Die (NSA- alle Daten auf, egal worum es geht und Knotenpunkten, weniger bei US-ameri-
Leute –Red.) stecken unter einer Decke welche Rechte dadurch verletzt werden. kanischen. Das macht die Überwachung
mit den Deutschen, genauso wie mit den Dieser Zwischenspeicher macht nachträg- auf eigenem Gebiet so erschreckend. Die
meisten anderen westlichen Staaten. Wir liche Überwachung möglich, ihm entgeht Möglichkeiten der NSA sind praktisch
(im US-Geheimdienstapparat –Red.) war- kein einziges Bit. Jetzt im Moment kann grenzenlos – was die Rechenleistung an-
nen die anderen, wenn jemand, den wir er den Datenverkehr von drei Tagen spei- geht, was den Platz oder die Kühlkapa-
packen wollen, einen ihrer Flughäfen be- chern, aber das wird noch optimiert. Drei zitäten für die Computer angeht.
nutzt – und die liefern ihn uns dann aus.
Die Informationen dafür können wir zum
Beispiel aus dem überwachten Handy der
Freundin eines verdächtigen Hackers ge-
zogen haben, die es in einem ganz ande-
ren Land benutzt hat, das mit der Sache
nichts zu tun hat. Die anderen Behörden
fragen uns nicht, woher wir die Hinweise
haben, und wir fragen sie nach nichts. So
können sie ihr politisches Führungsper-
sonal vor dem Backlash (deutsch etwa:
Rückschlag –Red.) schützen, falls heraus-
kommen sollte, wie massiv weltweit die
Privatsphäre von Menschen missachtet
wird.
Frage: Aber wenn jetzt Details dieses Sys-
tems enthüllt werden, wer wird dafür vor
Gericht gestellt werden?
ABACA / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Snowden: Vor US-Gerichte? Das meinen


Sie doch nicht ernst, oder? Als der letzte
große Abhörskandal untersucht wurde –
das Abhören ohne richterlichen Be-
schluss, das Abermillionen von Kommu-
nikationsvorgängen betraf – hätte das ei-
gentlich zu den längsten Haftstrafen der
Weltgeschichte führen müssen. Aber Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad in Atomanlage 2008: Schadprogramm von der NSA

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 23
Titel

Frage: Die NSA baut ein neues Datenzen- Frage: Helfen Privatunternehmen der doch sicher mehr Firmen dieser Art ge-
trum in Utah. Wozu dient es? NSA? ben, wenn die kollaborierenden Konzer-
Snowden: Das sind die neuen Massenda- Snowden: Ja. Aber es ist schwer, das nach- ne von den Kunden abgestraft würden.
tenspeicher. zuweisen. Die Namen der kooperie- Das sollte höchste Priorität aller Com-
Frage: Für wie lange werden die gesam- renden Telekom-Firmen sind die Kron- puternutzer sein, die an die Freiheit der
melten Daten aufbewahrt? juwelen der NSA … Generell kann man Gedanken glauben.
Snowden: Jetzt im Moment ist es noch so, sagen, dass man multinationalen Kon- Frage: Vor welchen Websites sollte man
dass im Volltext gesammeltes Material zernen mit Sitz in den USA nicht trauen sich hüten, wenn man nicht ins Visier der
sehr schnell altert, innerhalb von ein paar sollte, bis sie das Gegenteil bewiesen ha- NSA geraten will?
Tagen, vor allem durch seine gewaltige ben. Das ist bedauerlich, denn diese Un- Snowden: Normalerweise wird man auf-
Masse. Es sei denn, ein Analytiker mar- ternehmen hätten die Fähigkeiten, den grund etwa des Facebook-Profils oder
kiert ein Ziel oder eine bestimmte Kom- weltweit besten und zuverlässigsten Ser- der eigenen E-Mails als Zielobjekt mar-
munikation. In dem Fall wird die Kom- vice zu liefern – wenn sie es denn woll- kiert. Der einzige Ort, von dem ich
munikation bis in alle Ewigkeit gespei- ten. Um das zu erleichtern, sollten Bür- persönlich weiß, dass man ohne diese
chert, eine Berechtigung dafür bekommt gerrechtsbewegungen diese Enthüllun- spezifische Markierung zum Ziel wer-
man immer. Die Metadaten (also Verbin- gen jetzt nutzen, um sie anzutreiben. Die den kann, sind die Foren von Dschiha-
dungsdaten, die verraten, wer wann mit Unternehmen sollten einklagbare Klau- disten.
wem kommuniziert hat –Red.) altern we- seln in ihre Nutzungsbedingungen schrei- Frage: Was passiert, wenn die NSA einen
niger schnell. Die NSA will, dass wenigs- ben, die ihren Kunden garantieren, dass Nutzer im Visier hat?
tens alle Metadaten für immer gespei- sie nicht ausspioniert werden. Und sie Snowden: Die Zielperson wird komplett
chert werden können. Meistens sind die müssen technische Sicherungen einbau- überwacht. Ein Analytiker wird täglich
Metadaten wertvoller als der Inhalt der en. Wenn man auch nur eine einzige einen Report über das bekommen, was
Kommunikation. Denn in den meisten Firma zu so etwas bewegen könnte, wür- sich im Computersystem der Zielperson
Fällen kann man den Inhalt wiederbesor- de das die Sicherheit der weltweiten geändert hat. Es wird auch … Pakete
gen, wenn man die Metadaten hat. Und Kommunikation verbessern. Und wenn jener Daten geben, die die automati-
falls nicht, kann man alle künftige Kom- das nicht zu schaffen ist, sollte man sich schen Analysesysteme nicht verstanden
munikation, die zu diesen Metadaten überlegen, selbst eine solche Firma zu haben, und so weiter. Der Analytiker
passt und einen interessiert, so markie- gründen. kann entscheiden, was er tun will – der
ren, dass sie komplett aufgezeichnet wird. Frage: Gibt es Unternehmen, die sich wei- Computer der Zielperson gehört nicht
Die Metadaten sagen einem, was man gern, mit der NSA zu kooperieren? mehr ihr, er gehört dann quasi der US-
vom breiten Datenstrom tatsächlich ha- Snowden: Ja, aber ich weiß nichts von ei- Regierung. JACOB APPELBAUM,
ben will. ner entsprechenden Liste. Es würde je- LAURA POITRAS

„Wir sind alle verwundbar“


Der US-Aktivist und „Cypherpunk“ Jacob Appelbaum über die Enthüllungen
von Edward Snowden – und was sie bedeuten

V
or den Veröffentlichungen von hörde würde es einem Diktator ermögli- alle demokratischen Spielregeln ein
Glenn Greenwald, Laura Poitras chen, ein System totaler Tyrannei zu er- Netz annähernd globaler Überwachung
und Barton Gellman, in denen sie richten, gegen das niemand ankämpfen aufzubauen. Und das ist eben keine
Edward Snowdens Enthüllungen über die könnte. Damals war es allerdings noch Verschwörungstheorie, sondern ein Ge-
Verstöße gegen Menschenrechte detail- unvorstellbar, dass einige wenige Staaten schäftsmodell.
liert darlegten, wusste die Öffentlichkeit mit der Hilfe privater Firmen irgend- Diejenigen, die das wussten oder die
nur sehr wenig über die dunkle Realität wann in der Lage sein könnten, gegen es zumindest ahnten, aber auch dieje-
der weltweiten Überwachung. nigen, die dafür sorgen wollten, dass die-
Einen Vorläufer dessen, was wir gerade ses Thema offen diskutiert wird, wurden
erleben, gab es in den USA mit dem Se- in den vergangenen Jahren weitgehend
nator Frank Church in den siebziger Jah- ignoriert oder als Paranoiker bezeichnet.
re des vorigen Jahrhunderts. Er stieß da- Aber es gab sie, und es gab sogar zu
mals eine intensive Debatte um schweren viele, als dass man sie alle nennen könnte.
Machtmissbrauch bei Geheimdiensten Gruppen wie die Electronic Frontier
und bei der Bundespolizei an. Der Foundation oder die American Civil Li-
Church-Ausschuss untersuchte die Akti- berties Union sind längst nicht allen be-
vitäten der Central Intelligence Agency kannt. Auch Einzelkämpfer wie Mark
(CIA), der National Security Agency Klein, der eine Abhöranlage in einer Ein-
CARSTEN KOALL

(NSA) und des Federal Bureau of Investi- richtung des Telefonriesen AT&T ent-
gation (FBI). deckt hatte, kennen nur wenige. Die In-
Senator Church warnte damals das formationen, die Klein enthüllte, wurden
amerikanische Volk und die Welt vor Chiffrier-Experte Appelbaum heruntergespielt, dabei waren sie ein
der Macht der NSA. Er sagte, diese Be- „Bestätigung von ganz oben“ wichtiges Beispiel für das umfassende
24 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
SERGEI GRITS / AP / DPA

Bildschirm mit Snowden im Moskauer Flughafen: „Heute zieht beinahe jeder eine Datenspur hinter sich her, die manipuliert werden kann“

Spionageprogramm der NSA. Auch an- zige ist, der wegen dieser Folterpraktiken tung lieferte, die damit dann ihre kontrol-
dere Whistleblower, die als NSA-Ange- im Gefängnis sitzt. Er wurde inhaftiert, lierten Gesellschaften schufen, ausbauten
stellte Geheimnisse ihrer Behörde offen- weil er die Wahrheit enthüllt hat, wäh- und absicherten.
gelegt haben, wie Thomas Drake und rend es scheint, dass nicht ein einziger Während der Westen also in der Öf-
William Binney, werden durch die neuen Agent für seine Beteiligung an diesen fentlichkeit die totale Kontrolle über eine
Enthüllungen jetzt bestätigt – allerdings Folterprogrammen verurteilt wurde. Gesellschaft verurteilt, haben wir es ge-
nur indirekt und widerwillig. Es gibt einen Zusammenhang zwischen schafft, ein umfassendes Überwachungs-
Denn die Bestätigung kommt von ganz solchen Praktiken und den Überwa- system zu etablieren und zugleich von
oben, von Präsident Barack Obama chungsprogrammen, der nur wegen der der Warte der moralischen Überlegenheit
selbst. Er rechtfertigte die Überwachung, absoluten Geheimhaltung dieser Vorgän- aus zu argumentieren. Diese moralische
indem er alle Menschen als potentielle ge verborgen bleibt. Die illegalen, verfas- Überlegenheit mag hart erkämpft worden
Gefahrenquellen darstellte, die keinen sungswidrigen und unmoralischen Hand- sein, doch nun wird sie zum Gegenstand
US-amerikanischen Pass besitzen oder lungsweisen jener beinahe weltweit ope- öffentlichen Spotts, weil die Enthüllungen
nicht das Glück haben, auf US-amerika- rierenden Dienste geschehen ja nicht im Edward Snowdens das Ausmaß der Über-
nischem Boden zu leben. Eine Bestäti- luftleeren Raum. Genauso wenig, wie sie wachung eines jeden gewöhnlichen Bür-
gung kommt aber auch ausgerechnet von auf der Basis demokratischer Prinzipien gers offenlegen.
jenem Justizministerium, das so hart geschehen. Die Massenüberwachung von Mails
daran arbeitet, amerikanische Whistle- Diejenigen, die keine direkten Verbin- ruft Bilder von dampfenden Kesseln und
blower zu verfolgen. dungen zur NSA haben, wie beispielswei- von Geheimpolizisten hervor, die über
solchen Kesseln unermüdlich Briefe öff-
„Verschlüsselungs-Software kann uns helfen, nen. Zu Recht oder zu Unrecht hat ein
großer Teil der Weltbevölkerung gedacht,
eine Schleppnetzsuche zu verhindern.“ solche Zeiten lägen hinter uns. Schließ-
lich haben wir nicht für einen scheinbar
Dieses Justizministerium schreckt nicht se ich, wie der WikiLeaks-Gründer Julian allumfassenden Überwachungsstaat ge-
davor zurück, die Existenz von Menschen Assange und andere aus der Cypherpunk- stimmt und würden auch nicht dafür
zu bedrohen, die es gewagt haben, gehei- Bewegung wurden mit der Begründung stimmen. Und ganz sicher nicht für einen,
me Gesetze und die absolute Straflosig- verleumdet, uns fehle schlicht der Bezug der im Geheimen operiert, in dem auch
keit für die Ausführenden solcher Geset- zur Realität. Die angeprangerten Verstö- US-Bürger kaum eine Möglichkeit haben,
ze anzuprangern. ße gehörten, so hieß es, vielleicht in Nord- irgendjemanden zur Verantwortung zu
Etwa die Existenz von Leuten wie dem korea zur Realität, in Burma oder im au- ziehen.
ehemaligen CIA-Mann John Kiriakou, toritären, kommunistischen China – aber Wenn wir über das sogenannte „legale
der es gewagt hat, das sogenannte Wa- doch nicht im freien Westen. Selbst wenn Abhören“ nachdenken, nehmen wir ver-
terboarding aufzudecken, die Foltertech- dieser freie Westen genau jenen autoritä- nünftiger- oder unvernünftigerweise an,
nik des Dienstes – und der heute der Ein- ren Regimen die technologische Ausrüs- dass nur unsere Gerichte befugt wären,
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Titel

eine solche Verletzung der Privatsphäre mit der gezielten Überwachung oder der mit einem nahezu allumfassenden Zu-
zu genehmigen und damit ein grund- Informationsgewinnung per Schleppnetz. gang zu Informationen anfangen kann.
legendes, verfassungsgeschütztes Men- Die Erkenntnis, dass für einen Großteil Zugang zu Informationen, die übertragen
schenrecht einzuschränken. Eine Abhör- der Welt der gesamte Überwachungskom- oder gespeichert wurden ohne den
erlaubnis verlangt ein rechtsstaatliches plex und seine Ergebnisse in der Tat eine Schutz, den kryptografische Verfahren
Verfahren, schließlich sollte jede Form neue Realität darstellen, ist Snowden zu bieten, ist einfach ein zu einladendes Ziel,
von Kommunikationsüberwachung nicht verdanken. Und die Zyniker haben eben als dass irgendjemand widerstehen könn-
ohne guten Grund und nur unter recht- nicht recht, wenn sie behaupten, dass da- te. Und deshalb widerstehen die Geheim-
lichen Auflagen geschehen. Und wenn es gegen nichts getan werden könne. Der dienste auch nicht, sondern arbeiten in
eine solche Überwachung gibt, sollte sie Schleppnetzüberwachung kann man auf einem beispiellosen Umfang zusammen.
angemessen und ausgewogen sein. Hinter drei Arten begegnen. Sie handeln mit Daten, die zu sammeln
dieser Vorstellung steckt der Glaube, dass Als Erstes müssen wir uns klarmachen, für die beteiligten Behörden in ihren ei-
das Recht Überwachungsmaßnahmen ein- dass der gegenwärtige Zustand nicht die genen Ländern illegal wäre, die sie aber
schränkt und abwägt. Doch das ist ein natürliche Ordnung der Dinge ist. Wir soll- als Handelsobjekte den jeweils anderen
Trugschluss, der am besten als ein Vor- ten uns fragen, wie wir dazu stehen. Und anbieten können.
täuschen von Rechtsstaatlichkeit bezeich- wir sollten nicht nur im Blick behalten, Kryptografie, die Wissenschaft von Ver-
net werden kann. was nun bestätigt ist, sondern auch das, schlüsselung und Informationssicherheit,
Die Vorstellung, es sei in der Tat das was in Sachen Überwachung technolo- ist das Feld, auf dem Computersysteme
Recht, das darüber entscheidet, was pas- gisch in naher Zukunft möglich sein wird. und mathematische Formeln zusammen-
siert und wie es passiert, trifft nicht zu; Zweitens müssen wir verstehen, dass treffen, wobei Vertraulichkeit, Authentizi-
in Wirklichkeit ist es die Technologie, es nicht von Menschen gemachte Gesetze tät und Integrität einer Information her-
sind es die Hardware und die Codes. Die sind, welche die Technologie und die Ka- gestellt werden kann – um die Privatsphä-
Dienste wägen auch nicht amerikanische pazitäten eines technologischen Systems re zu sichern. Verschlüsselungs-Software
oder europäische Verfassungsgrundsätze einschränken können, allenfalls Natur- kann uns helfen, eine effektive Schlepp-
ab, bevor sie mit ihrer taktischen oder gesetze können das. Und es sind mathe- netzsuche zu verhindern. Sie erlaubt es
strategischen Überwachung beginnen, matische Formeln, die festlegen, was man außerdem, gewisse Formen von Manipu-
lation bei einer zielgerichteten Überwa-
chung zu erkennen. Normalerweise sollte
Freund hört mit Methoden zum Abhören von Glasfasernetzen man denken, dass solche Schutzmechanis-
men längst Teil der Informationsübertra-
gung sind. In Wahrheit sind derartige
Spleißen Übertragungssysteme wegen allzu großer
Die Glasfasern werden mit der Spleißmaschine getrennt Interessenkonflikte in voller Absicht mit
und mit Verbindungssteckern versehen. Dann kann ein Schwachstellen behaftet.
Lesegerät zwischengeschaltet werden. Die dritte Tatsache ist nur schwer ein-
– Die Verbindung muss unterbrochen werden, zugestehen. Wenn es um das „legale Ab-
was Verdacht erregen kann. hören“ geht, sind wir grundsätzlich alle
verwundbar. Wenn das FBI mein Telefon
abhört oder das von Journalisten der
Nachrichtenagentur AP – wie es das Wa-
Biegekopplung shingtoner Justizministerium vor kurzem
Das Licht folgt größtenteils der Kurve des Glasfaserkerns.
veranlasst hat –, dann ist letztlich jeder
Ein kleiner Teil strahlt aber über die Ummantelung hinaus
und kann aufgefangen und ausgewertet werden. Bürger verwundbar. Und diese Verwund-
barkeit reicht weit über die Grenzen
+ Biegekoppler gibt es ganz legal für ein
paar hundert Euro im Fachhandel für
Amerikas hinaus. Diejenigen, die sich an
Fernmeldetechniker. ohne Kontakt den Protesten in Iran beteiligt haben, wur-
Aus jedem Kabel strahlen minimale Lichtmengen, den überwacht mit Hilfe eines Systems,
+ Das Signal ändert sich
die sogenannte Rayleigh-Streuung. Hochempfindliche das ursprünglich für eine legale Über-
kaum wahrnehmbar.
Fotodetektoren fangen diese auf und verstärken sie. wachung entwickelt worden ist. Es wurde
+ Der Datenklau ist überhaupt nicht nachweisbar. später unter völlig anderen Umständen
eingesetzt – unter Umständen, in denen
es nicht mal einen Hauch von Respekt
vor Menschenrechten gab.
verdrillte Das ist ein Effekt, der breite soziale,
Stahlseile wirtschaftliche und sogar emotionale Fol-
gen hat und den wir gerade erst an-
fangen zu diskutieren. Wir haben die-
se Effekte noch nicht einmal richtig
Biegekoppler begreifen können, weil ihre wahren
für einfache Ursachen verdunkelt werden durch
Glasfaserkabel Lichtwellenleiter eine unverständliche Sprache, durch
stumpfsinnige technologische De-
tailversessenheit und natürlich
durch die obsessive Geheimniskrä-
merei der Dienste.
Ummantelung Deshalb ist dieser Mechanismus so
Das vom britischen Geheimdienst abgehörte aus Polyethylen schwer zu verstehen: Jedes Mal, wenn
Kabel zwischen Europa und den USA ist 5 cm dünn,
15000 Kilometer lang und enthält nur 8 Glasfasern.
Wasserbarriere Paraffin etwa die deutsche Regierung hier Kom-
aus Aluminium promisse eingeht, ist die amerikanische
26
CHAD BUCHANAN / GETTY IMAGES
Snowden-Unterstützer in Berlin: „Es ist Zeit, ihm politisches Asyl zu gewähren“

NSA in der Lage, den demokratischen tionen, die von allen möglichen Ge- das Schicksal von Joseph Nacchio und
Prozess in Deutschland zu unterlaufen. heimdiensten abgefangen werden. Das daran, dass die Manager wenig wussten,
Das haben Snowdens Enthüllungen zum macht das Schicksal von Joseph Nacchio dass sie möglicherweise keine Berechti-
„Boundless Informant“-System gezeigt: deutlich. gung für den Zugang zu diesem Staats-
Denn in den USA liegen in riesiger Zahl Als Chef der US-Telekommunikations- geheimnis hatten – oder es ihnen ver-
deutsche Verbindungsdaten vor, deren firma Qwest Communications Internatio- boten ist, darüber zu reden. Schließlich
Speicherung hierzulande nicht verfas- nal lehnte er eine Forderung der NSA ab, haben sogar amerikanische Kongress-
sungsgemäß ist. Kundendaten herauszugeben, das war mitglieder eingestanden, dass auch sie
Erschwerend wirkt sich dabei aus, dass bereits sieben Monate vor den dunklen im Dunkeln gelassen wurden, obwohl sie
der deutsche Bundesnachrichtendienst Ereignissen vom September 2001 in New Zugang zur höchsten Geheimhaltungs-
und andere europäische Nachrichten- York. Ein Gericht verurteilte ihn wegen stufe hatten.
dienste mit der NSA kooperieren. Dieje- Insider-Handels. Seine Unterstützer sind In den vergangenen Jahren haben wir
nigen also, deren Aufgabe es eigentlich überzeugt, dass dies geschah, weil er mehr und mehr Daten über diese Über-
ist, Deutschland, die Niederlande, Frank- nicht mit dem Dienst kooperierte. wachungsprogramme gesehen. Das ver-
danken wir Whistleblowern wie dem Sol-
„Wir leben in einem Goldenen Zeitalter daten Bradley Manning, dem eine lebens-
lange Haftstrafe droht, weil er uns die
der Überwachung.“ Details schwerer Staatsverbrechen ver-
raten hat – inklusive solcher über die Tö-
reich oder Spanien zu schützen, tauschen Nacchio saß bis zum Frühjahr im Gefäng- tung von Reuters-Mitarbeitern im Irak.
Überwachungsinformationen mit denen nis und ist nun immer noch im offenen Dank Snowden haben wir jetzt ein brei-
aus, die außerhalb europäischer Rechts- Vollzug. teres Verständnis von der Architektur
grundlagen die Bevölkerung dieser Län- Heute zieht beinahe jeder eine Daten- des sogenannten Sicherheitssystems –
der ausspähen. spur hinter sich her, die manipuliert und und damit eine bessere Grundlage, um
Wir haben erfahren müssen, dass wir verdreht werden kann. Firmenvorstände die längst überfällige Diskussion über un-
in einem Goldenen Zeitalter der Über- wissen um diese Machtdynamik, und nur sere alltägliche Überwachung und deren
wachung leben. Snowden hat Informatio- wenige wagen es aufzumucken – falls es Folgen zu führen.
nen bekanntgemacht, die weit über vor- überhaupt einige wagen und falls es über- Snowden hat schon jetzt viel bewegt.
herige Enthüllungen hinausgehen: Der haupt welche gibt, die das Spiel durch- Es ist Zeit für Staaten in aller Welt, ihm
Bauplan des Überwachungssystems, die schauen. politisches Asyl zu gewähren. Und es
Partner in diesem System und die Pläne Wenn wir die Dementis lesen, welche wäre Zeit für einen neuen Church-Aus-
für die Zukunft werden nun öffentlich er- die Firmenchefs von Google, Microsoft schuss, einen internationalen.
kennbar. und Co. nach der Enthüllung des Über- „Die Wahrheit wird herauskommen“,
Bei diesen Überwachungssystemen wachungsprogramms Prism abgaben, sagt Snowden, „man kann sie nicht
geht es nicht einfach nur um Informa- müssen wir immer an beides denken: an stoppen.“ 
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 27
Offenbar ist die CSU-Spitze sogar bereit,
die Vorschläge der alten Intimfeindin
Leutheusser-Schnarrenberger zu prüfen.
Erste öffentliche Signale sandte See-
hofer am Sonntag vor zwei Wochen. Die
FDP feierte 150 Jahre Liberalismus in
Bayern, und Seehofer lobte Leutheusser-
Schnarrenberger in höchsten Tönen – vor
allem wegen ihres anhaltenden Wider-
stands beim Thema Datenspeicherung.
„Das ist eine liberale Grundhaltung, die
mir Respekt abnötigt“, flötete er.
CSU-Innenpolitiker, die Leutheusser-
Schnarrenberger jahrelang bekämpft ha-

ULLSTEIN BILD
ben, schäumen. „Die CSU hat einen ein-
deutigen Parteitagsbeschluss für die Vor-
ratsdatenspeicherung, und dafür trete ich
Konservative Friedrich, Seehofer: Kampf ohne den Chef ein“, sagt Hans-Peter Uhl. Warum sonst
habe man auf dem Parteitag diese „über-
Das sperrige Wort Vorratsdatenspeiche- wältigende Mehrheit“ für das Datensam-
PA R T E I E N rung steht für das massenhafte Horten der meln gewonnen, gegen die Stimmen „nur
Verbindungsdaten von E-Mails, Telefon- von einem Dutzend Hanseln“?

Seehofers gesprächen und Internetnutzung für


die Strafverfolgung. Telekommunikations-
firmen speichern sie für ihre Rechnungen,
Stefan Müller, parlamentarischer Ge-
schäftsführer der CSU-Landesgruppe im
Bundestag, gibt sich dagegen kompro-

Fukushima Strafverfolger würden sie gern aussieben,


um Terroristen und Kriminelle zu lokali-
sieren. Datenschützer warnen, dann wäre
missbereit. Zwar ist er davon überzeugt,
dass eine Mindestspeicherfrist notwendig
sei: „Wie lange diese Frist sein muss, dar-
Der Datenskandal der USA treibt die Privatsphäre im Netz dahin. über kann man aber reden.“
den CSU-Parteichef zu un- Seit Jahren kämpft die Union für das Unterstützung für Seehofer kommt von
orthodoxen Schritten. Gegen seine Vorhaben, zumal Deutschland eine ent- den Netzpolitikern wie der stellvertre-
sprechende EU-Richtlinie umsetzen müss- tenden Generalsekretärin Dorothee Bär.
Partei und die CDU stellt er die te und wegen der Verspätung schon vor „Die Abhörskandale zeigen, dass auch
Vorratsdatenspeicherung in Frage. dem Europäischen Gerichtshof in Luxem- der Staat mit den Daten seiner Bürger
burg verklagt wurde. Bislang waren die sensibel umgehen muss.“ Ein „vernünf-

C
SU-Chef Horst Seehofer hat ein Fronten klar: Innenminister Hans-Peter tiger Ausgleich zwischen innerer Sicher-
untrügliches Gespür dafür, was das Friedrich inszenierte sich als Law-and-Or- heit und Datenschutz“ sei nötig, so Bär,
Volk will. Umfragen sind für ihn der-Mann. Justizministerin Leutheusser- „erst recht vor dem Hintergrund der neu-
Gesetz, auch traditionelle Überzeugun- Schnarrenberger, FDP, konnte als oberste en Erkenntnisse“.
gen seiner Partei sind nicht mehr viel Datenschützerin Punkte sammeln. Auch in der CDU kommt Bewegung
wert, wenn sich die Stimmung dreht. Die Jetzt steht fest: CSU-Mann Friedrich in die Debatte. Zwar dementiert Gene-
Studiengebühren und der Donauausbau kämpft ohne seinen Parteichef. Viele Si- ralsekretär Hermann Gröhe heftig, dass
wurden nach diesem Prinzip vor kurzem gnale verraten, wie sehr die Ausspähskan- es einen Kurswechsel gebe. Doch das
erst beerdigt. dale die alte Position der Unionsparteien findet offenbar nicht einmal die eigene
Jetzt macht sich Seehofer an die nächste durcheinanderwirbeln. So taucht der Parteispitze überzeugend. „Ich kann mir
Kursbegradigung. Es ist ein Schwenk, der Kampfbegriff „Vorratsdatenspeicherung“, gut vorstellen, dass wir unsere bisherigen
an der DNA der CSU rührt: Der Parteichef anders als noch im Koalitionsvertrag 2009, Antworten auf Fragen des Datenschutzes
stellt die harte Haltung seiner Partei bei im gemeinsamen Wahlprogramm nicht und der inneren Sicherheit neu justieren
der Vorratsdatenspeicherung auf den Prüf- mehr auf. Stattdessen ist jetzt von einer müssen“, sagt die stellvertretende CDU-
stand. „Vor dem Hintergrund der letzten „Mindestspeicherfrist“ die Rede, das Vorsitzende Julia Klöckner. Eine Kom-
Wochen ist auf strikten Datenschutz noch klingt freundlicher, meint aber dasselbe. mission aus Sicherheitsexperten und
größerer Wert zu legen“, sagt er. Doch Seehofer geht es nicht um Worte, Datenschützern könnte neue Vorschläge
Der Parteichef hat erkannt, wie sehr er fühlt die Stimmung. Zarte Andeutun- erarbeiten. „Das gilt auch für die Vor-
sich die innenpolitische Debatte durch das gen, dass ihm die Linie seiner Partei in ratsdatenspeicherung.“
massive Ausspähen deutscher Daten durch Datenschutzfragen nicht gefällt, gab es Der Koalitionspartner frohlockt. Es sei
amerikanische Geheimdienste verändert immer wieder. So plädierte er vor gut „außerordentlich erfreulich, dass es auch
hat. Der Datenskandal um die NSA ist zwei Jahren bei einem Netzkongress für in der Union immer mehr vernünftige
Seehofers Fukushima. Und wie nach der eine offene Debatte „ohne Scheuklap- Stimmen gibt“, sagt der FDP-Innen-
Atomkatastrophe von Japan gilt nun auch pen“. Er weiß, wie mies der Ruf seiner experte Hartfrid Wolff. Er hält Friedrich
für die Datensammelei: so weit wie mög- Partei im Netz ist. und Seehofer gleich das nächste Stöck-
lich aussteigen, und zwar am besten sofort. Heute wird er in kleinem Kreis noch chen hin. Die beiden müssten nun auch
Mit einer CSU, in der die innere Sicher- viel deutlicher. Bei den nächsten Koali- „Farbe bekennen und sich dafür einset-
heit alles und der Datenschutz fast nichts tionsverhandlungen will der CSU-Chef zen, dass die EU-Richtlinie zur Vorrats-
gilt, will Seehofer nicht in den Wahl- dafür sorgen, dem Datenschutz mehr Ge- datenspeicherung abgeschafft oder zu-
kampf gehen. Er kämpft bei der Land- wicht zu geben, heißt es. CSU-Strategen mindest überarbeitet wird“.
tagswahl am 15. September um die abso- überlegen sogar schon konkrete Planspie- Ob Seehofer das will, weiß derzeit nicht
lute Mehrheit in Bayern. Für Kleingeister, le für einen Kompromiss zum Datenstreit. mal er selbst. Doch die Operation Kurs-
die an Parteitagsbeschlüsse erinnern, hat So könnte Deutschland darauf dringen, schwenk hat begonnen. MELANIE AMANN,
er da kein Verständnis. die europäischen Vorgaben zu ändern. PETER MÜLLER, JÖRG SCHINDLER

28 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Deutschland

SPI EGEL-STREITGESPRÄCH

„Ach, Herr Lucke!“


Der Chef der konservativen AfD Bernd Lucke, 50, und Linkspartei-Vizin
Sahra Wagenknecht, 43, erklären die Euro-Rettung für gescheitert.
Wenn es aber um die Lösung der Krise geht, prallen ihre Vorstellungen aufeinander.
SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Sie haben vor
kurzem gewarnt: „Wer die Gründer der
Alternative für Deutschland (AfD) als
Populisten abstempelt, macht es sich zu
leicht. In vielen Punkten haben sie mit
ihrer Kritik an der Euro-Rettung recht.“
Hat sich Herr Lucke schon für die Wahl-
kampfhilfe bedankt?
Wagenknecht: Wahlkampfhilfe? Das ist ja
wohl ein Scherz. Nein, er hat sich nicht
bedankt.
Lucke: Das hole ich gern nach. Vielen
Dank, das ist sehr nett von Ihnen. Nicht
alle haben so fair über uns geredet.
SPIEGEL: Nehmen Sie das Dankeschön an?
Wagenknecht: Herr Lucke weiß, dass wir
viele Positionen der AfD für falsch halten.
Aber ihre Kritik an der Euro-Politik der
Regierung entspricht dem, was die Linke
seit Jahren vertritt. Nur weil Herr Lucke
aus einer anderen politischen Richtung
kommt, stelle ich mich doch nicht hin und
sage: „Alles falsch.“ Im Gegenteil: Es
spricht für die Linke, dass unsere Kritik
inzwischen von vielen übernommen wird.
Lucke: Sie überschätzen sich. Meine Euro-
Kritik stützt sich allein auf ökonomische
Erkenntnisse. Was die Linke dazu sagt,
habe ich nie verfolgt.
Wagenknecht: Dann sind wir unabhängig
voneinander zum gleichen Ergebnis ge-
kommen: Frau Merkels Politik rettet den
Euro nicht, sie zerstört ihn.
SPIEGEL: Warum?
Wagenknecht: Wir helfen den Krisenlän-
dern doch gar nicht. Milliarden Euro ha-
ben wir dafür verschleudert, marode Ban-
ken zu sanieren, statt ihre Eigentümer
und Gläubiger die Verluste tragen zu las-
sen. Und gleichzeitig diktieren wir den
Staaten brutale Kürzungsprogramme, die
sie in eine schwere Wirtschaftskrise stür-
zen, die zu noch höheren Schulden führt.
Lucke: Richtig. Und jetzt brauchen diese
Länder einen Schuldenschnitt. Dann ge-
hen Deutschland Dutzende Milliarden
Euro verloren. Aber es gibt auch einen
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

wichtigen Unterschied zwischen den Lin-


ken und uns.
SPIEGEL: Und der lautet?
Lucke: Die Linke will den Euro erhalten,
obwohl das Lohnsenkungen in Südeuro-
pa um rund 30 Prozent erforderlich
macht. Das ist aber politisch überhaupt Kontrahenten Wagenknecht, Lucke: „Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen“

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 29
nicht durchsetzbar. Deshalb wollen wir
eigene Währungen für die Krisenstaaten,
mit einer Abwertung können sie dann
wettbewerbsfähiger werden.
Wagenknecht: Nicht allein die südeuropäi-
schen Staaten sind an den jetzigen Pro-
blemen schuld, sondern auch Deutsch-
land. In der Lohnpolitik gibt es die gol-
dene Regel, dass die Gehälter so rasch
steigen sollten wie die Produktivität der
Arbeitnehmer.
SPIEGEL: Was in Südeuropa nicht der Fall
war.
Wagenknecht: Am meisten ist Deutschland
von dieser Regel abgewichen. Nach un-
ten. Inflationsbereinigt sind die Löhne
bei uns seit dem Jahr 2000 deutlich ge-
sunken. So ist es keine Kunst, Europa mit
Exporten zu überschwemmen. Daran
wird der Euro früher oder später zerbre-
chen. Um das zu verhindern, muss das
deutsche Lohndumping gestoppt werden.
XINHUA / EYEVINE

Lucke: Falsch. In Deutschland entsprechen


die Löhne ungefähr der Produktivität der
Arbeitnehmer. In Griechenland nicht.
Wenn die Linke hier die Gehälter in die Protestierende in Athen: „Daran wird der Euro früher oder später zerbrechen“
Höhe treiben will, verlieren auch wir
unsere Wettbewerbsfähigkeit. Das scha- vom Staat bezahlen. Wegen der schlech- Lucke: Diese Verelendungstheorie des Pro-
det uns, hilft aber nicht den Griechen. Es ten Einkommen konsumieren die Men- letariats hat noch nie gestimmt. In Wahr-
nützt Briten, Schweizern und Chinesen. schen auch weniger. Und darum impor- heit gibt es keinen Staat, in dem es den
Wagenknecht: Inzwischen kann selbst tieren wir so wenig. Als Ökonom müssten Menschen so gutgeht wie in Deutschland.
Frankreich mit den deutschen Dumping- Sie wissen, dass eine Politik der ständigen SPIEGEL: Frau Wagenknecht, wer Ihnen
löhnen nicht mehr konkurrieren. Ich woh- Exportüberschüsse Wohlstand reduziert. zuhört, kann den Eindruck gewinnen,
ne im Saarland und erlebe dort hautnah, Lucke: Falsch. Schauen Sie sich den Wohl- dass nicht Südeuropa das Problem der
wie viele französische Bauern aufgeben, stand in Deutschland doch an. Es spricht Währungsunion ist, sondern die Bundes-
weil es dort einen Mindestlohn von über nichts gegen hohe Exporte … republik. Warum fordern Sie dann nicht
neun Euro gibt, auf deutschen Feldern Wagenknecht: … wenn man entsprechend offen: „Deutschland raus aus dem Euro“?
aber nur fünf bis sechs Euro gezahlt wer- viel importiert. Wir Deutschen dagegen Wagenknecht: Weil es so simpel nicht ist
den. Jetzt exportieren wir auch noch Erd- setzen das Geld, das wir mit unseren Ex- und die Probleme nicht löst. Wir sind für
beeren und Spargel. portüberschüssen verdienen, in den Sand den Schlamassel auch nicht allein verant-
SPIEGEL: Wie wollen Sie gegensteuern? – indem wir es in US-Hypothekenpapiere wortlich. Nehmen Sie Griechenland, da
Wagenknecht: Wir müssen unser Wirt- oder griechische Staatsanleihen investie- gibt es eine korrupte Oberschicht, die in
schaftsmodell so umstellen, dass wir nicht ren. Das ist doch Irrsinn. die eigene Tasche gewirtschaftet hat und
mit möglichst geringen Löhnen auftrump- das noch immer tut. Da liegen die Ver-
fen, sondern wieder mit überlegener mögen, die für die Sanierung des Landes
Qualität. Wir haben ja auch schon vor „Die Linke versucht, mit ein
herangezogen werden sollten.
der Agenda 2010 exportiert. Damals wa- bisschen Populismus Lucke: Ich bin dafür, dass zunächst die
ren wir statt mit Billigausfuhren mit Südeuropäer ausscheiden. Man muss die
Hochtechnologie-Produkten erfolgreich. von der Anti-Euro-StimmungEuro-Zone geordnet auflösen, sonst ver-
Lucke: Wenn ein Land mit überlegener lieren wir hohe Forderungen im Ausland.
Qualität auftrumpft, dann doch Deutsch- zu profitieren.“ SPIEGEL: Das Geld ist doch auch dann weg,
land. Und dafür werden hier hohe Gehäl- wenn die Südeuropäer ausscheiden und
ter gezahlt. Von einem Billiglohnland Lucke: Wir exportieren viel, wir importie- ihre neuen Währungen massiv abwerten.
kann wirklich keine Rede sein. Unsere ren viel, und wir legen viel Geld im Aus- Lucke: Nein, unsere Forderungen lauten
Löhne zählen zu den höchsten Europas. land an – meistens rentabel. Davon pro- dann weiter auf Euro.
Wagenknecht: Das ist doch Quatsch. In der fitieren alle. Unserer Binnenkonjunktur Wagenknecht: Aber nur in der Theorie.
deutschen Industrie wird weniger bezahlt geht es gut. Die Länder können ihre Schulden doch
als in der französischen. Wagenknecht: Vielleicht nach dem Ifo-In- nicht mehr begleichen.
Lucke: Das bestreite ich. Aber die Höhe dex, aber nicht nach normalen Daten. Lucke: Doch. Wenn die Krisenstaaten
der Löhne ist nicht entscheidend. Wichtig Lucke: Doch, der Konsum ist eine wichtige nach der Abwertung wachsen, können
ist, ob sie der Produktivität entsprechen. Stütze der Konjunktur. sie ihre Schulden besser bedienen.
Da hat Frankreich ein Problem, während Wagenknecht: Die Binnenkonjunktur sorgt SPIEGEL: Herr Lucke, wenn Ihr Weg über-
unsere Arbeitnehmer gut verdienen, weil für weniger als ein Prozent Wachstum. zeugend wäre, müssten die Regierungen
sie leistungsfähig sind. Das ist ja eine großartige Stütze. Eine sol- der Krisenländer ihn doch längst gehen.
Wagenknecht: Wer in Werkverträge oder che Situation gab es früher nicht: Die Warum folgen sie Ihrem Ratschlag nicht?
Leiharbeit gedrängt wurde, verdient mi- Reallöhne sind massiv gesunken, mehr Lucke: Noch bleiben sie im Euro, weil man
serabel. Große Exportkonzerne beschäf- als jeder fünfte Beschäftigte arbeitet im die Hand nicht beißt, die einen füttert.
tigen Leute für acht Euro pro Stunde und Niedriglohnsektor, der Konsum stagniert, Frau Wagenknecht hat ja recht, dass es
lassen sich einen Teil der Lohnkosten es wird kaum investiert. eine komische Fütterung ist, weil sie nicht
30 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Deutschland

den Menschen hilft, sondern den Banken. rungsunion. Es darf aber keine gemein- Bundestagswahl zusammen bei gerade
Aber wenn die Länder auf sich selbst ge- same Haftung geben – weder über Ret- einmal zehn Prozent. Könnte es sein, dass
stellt wären, weil sie keine Hilfen mehr tungsschirme noch Euro-Bonds. Sonst Sie die Geisterfahrer sind?
bekämen, würden sie aussteigen. sollten wir lieber alle zu nationalen Wäh- Lucke: Wir liegen in Umfragen bei drei
Wagenknecht: Viele Menschen in Süd- rungen zurückkehren. Prozent, so schlecht ist das nicht. Schließ-
europa haben natürlich Angst um ihre Er- SPIEGEL: Transferzahlungen und die Über- lich kennen uns viele Menschen noch
sparnisse. Außerdem kommt der Auf- nahme von Schulden drohen doch so nicht. Das wird sich im Wahlkampf än-
schwung, den Herr Lucke hier prognosti- oder so. Kaum jemand glaubt, dass Grie- dern. Aber es gibt auch ein kommunika-
ziert, nicht automatisch. Griechenland chen, Portugiesen, im Zweifel selbst die tives Problem. Die Euro-Krise ist sehr
hat derzeit kaum Produkte, die es expor- Iren ihre Verpflichtungen langfristig be- kompliziert. Ein beträchtlicher Teil der
tieren könnte. Dafür würden sich die Im- dienen können. Bevölkerung folgt trotz großer Verunsi-
porte extrem verteuern, etwa von Nah- Lucke: Bestimmte Transfers können wir cherung noch der Bundesregierung. Dass
rungsmitteln. Also gäbe es Inflation. nicht mehr verhindern, das stimmt. Nach wir viele Menschen noch nicht mit unse-
Trotzdem kann man zu dem Schluss kom- der Bundestagswahl werden die Steuer- ren Argumenten erreichen, heißt nicht,
men, dass ein Austritt besser wäre, als zahler in Mitteleuropa ein böses Erwachen dass sie falsch sind.
sich auf Dauer der Diktatur der Troika haben. Aber bislang drohen überschau- SPIEGEL: Sehen Sie das auch so, Frau Wa-
zu unterwerfen. bare Verluste, weil die Krisenländer alle genknecht?
Lucke: Die Türkei hat doch nicht viel bes- klein sind. Nur stehen die großen Staaten Wagenknecht: Natürlich wird die Linke bei
sere Produkte als Griechenland, boomt längst vor der Tür, sei es Italien oder Frank- der Bundestagswahl keine absolute Mehr-
dank ihrer eigenen Währung aber. reich. Spanien hat sogar schon angeklopft. heit holen. Aber mit uns gibt es wenigs-
SPIEGEL: Wir haben eine andere Erklä- Das weist alles in die falsche Richtung. tens eine Partei im Bundestag, die dem
rung, warum die Währungsunion noch SPIEGEL: Frau Wagenknecht, als Linke ha- verrückten Euro-Kurs der Regierung wi-
hält: Die Lage des Euro ist nicht ganz so ben Sie doch gegen Transfers von Reich derspricht und nicht wie Union, SPD,
dramatisch wie von Ihnen dargestellt. Die zu Arm bestimmt nichts einzuwenden, Grüne und FDP einfach alles abnickt.
Löhne in Südeuropa sinken längst – und oder? Lucke: Nur haben Sie keine eindeutige
die Abwertung zeigt erste Erfolge. In Wagenknecht: Wir haben aber das Gegen- Position. Lafontaine und Sie wollen zu
Griechenland boomt der Tourismus, Por- teil: Transfers von Arm zu Reich. Das nationalen Währungen zurück, aber der
tugal und Irland exportieren mehr, in Geld der Steuerzahler fließt zu Banken Rest der Linken ist für den Euro. Ihre
Spanien sinkt die Arbeitslosigkeit. War- und Multimillionären. Von den über 200 Partei wird eben nicht primär als eine
um sollte der Euro auf diesem Weg nicht Milliarden Euro, die Griechenland in den Anti-Euro-Bewegung wahrgenommen,
doch gerettet werden können? vergangenen drei Jahren an Hilfen be- sondern als SED-Nachfolgerin.
Lucke: Sie interpretieren die Daten falsch. kommen hat, sind weit über hundert Mil- Wagenknecht: Ach, Herr Lucke! Für so
SPIEGEL: Oder Sie? liarden Euro für Zins- und Tilgungszah- plump habe ich Sie nicht gehalten.
Lucke: Nein. In einer Rezession wird we- lungen an die Gläubiger des Landes ge- Lucke: Der Lackmustest in der Euro-Frage
niger importiert. Natürlich verbessert sich flossen, dazu kommen 50 Milliarden Euro ist die AfD: Je erfolgreicher wir sind, desto
dann die Handelsbilanz. Dadurch ist aber für die Rekapitalisierung der Banken. Da- schneller steuern die anderen Parteien um.
nichts besser geworden. Auch bei der mit haben wir die griechische Oligarchie SPIEGEL: Wenn jemand gegen den Euro
Produktivität ist der Zuwachs vor allem durchgefüttert, während die Bevölkerung ist, könnte er aber auf die Idee kommen,
kosmetisch. In einer Wirtschaftskrise wer- verarmt. Das ist alles das Ergebnis der er sei bei der Linken besser aufgehoben.
den die unproduktivsten Arbeitnehmer absurden Euro-Politik von Merkel. Schließlich hat sie schon 1998 im Bundes-
entlassen. Also steigt die durchschnitt- Lucke: Und von Gabriel, Trittin und Brü- tag gegen die Euro-Einführung gestimmt.
liche Produktivität der verbleibenden derle. Lucke: Aber jetzt will die Linke den Euro
automatisch an. Aber dieser Effekt wird Wagenknecht: Richtig. Von allen Parteien erhalten. Lesen Sie das Wahlprogramm.
durch Millionen Arbeitslose erkauft. außer der Linken. Wagenknecht: Wir sind im Gegensatz zur
Wagenknecht: Selbst in Irland, das immer Lucke: Und der AfD. AfD keine schlichte Anti-Euro-Partei.
als Musterstaat hingestellt wird, ist nichts SPIEGEL: Sie wähnen sich beide auf der Wer soziale Gerechtigkeit will, kann nur
auf gutem Wege. Der Staat ist wegen der richtigen Spur, aus Ihrer Perspektive sind die Linke wählen.
Bankenrettung bankrott, es wird nicht alle anderen Geisterfahrer. Die Zustim- Lucke: Die Linke versucht lediglich, mit
investiert, der Wohlstand hat sich drama- mung für Ihre Euro-Politik ist aber gering, ein bisschen Populismus von der Anti-
tisch verringert. Ihre Parteien liegen in den Umfragen zur Euro-Stimmung in der Bevölkerung zu
SPIEGEL: So düster Sie die Lage auch zeich- profitieren.
nen, Ihre Forderungen werden doch der- SPIEGEL: Das heißt: Die Linken sind die
zeit erfüllt: Sie, Frau Wagenknecht, ver- virtuellen Populisten und Sie die richti-
langen höhere Löhne in Deutschland, Sie, gen?
Herr Lucke, wollen eine interne Abwer- Lucke: Unfug. Das heißt, dass die Linke
tung, also sinkende Löhne und Preise in nur vorgibt, gegen die Euro-Rettung zu
den Krisenländern. Beides passiert. sein. Eigentlich will sie die Arbeitsmarkt-
Lucke: Ich will gerade nicht, dass die An- reformen zurücknehmen und die Sozial-
passung allein über eine interne Abwer- ausgaben steigern. Davon erhofft sie sich,
tung erfolgt. Das notwendige Ausmaß dass beim Euro alles bleiben kann, wie
wäre für die Betroffenen unzumutbar. es ist.
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

Deshalb wäre es besser, wenn die Süd- Wagenknecht: Dass sich in anderen Berei-
länder ausscheiden dürften. chen alles ändert, ist doch Voraussetzung
SPIEGEL: Und was passiert mit der verblei- dafür, dass der Euro so bleiben kann, wie
benden Euro-Zone? er ist. Ohne Änderungen etwa auf dem
Lucke: Jeder Staat soll austreten können, Arbeitsmarkt und in der Lohnpolitik wird
dann spricht nichts gegen eine Rest-Wäh- die Währungsunion scheitern.
Wagenknecht, Lucke, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Herr Lucke,
* Sven Böll und Christian Reiermann in Berlin. „Zum gleichen Ergebnis gekommen“ wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 31
Deutschland

D E M O K R AT I E

Der Weckruf
Entscheiden die Nichtwähler die Bundestagswahl? Die Sozial-
demokraten wollen die Politikmüden an die
Urne locken und hoffen, so Kanzlerin Merkel zu entthronen.

J
ohannes Pflug weiß, wie man Wähler Gut möglich, dass bei der Bundestags- wähler eher weiblich als männlich, eher
gewinnt, so viel ist sicher. Mit 29 Jah- wahl im September in ganz Deutschland ostdeutsch als westdeutsch und eher jün-
ren eroberte er einen Sitz im Stadtrat Duisburger Verhältnisse herrschen. Das ger als älter. Man findet sie in Plattenbau-
von Duisburg, später saß der SPD-Mann Meinungsforschungsinstitut Forsa warnt, ten, nicht in Villenvierteln. Sie verdienen
18 Jahre lang im Landtag von NRW. 1998 die Wahlbeteiligung könne erstmals seit weniger als aktive Wähler, sind schlechter
schaffte er den Sprung in den Bundestag, dem Krieg unter 70 Prozent fallen. Da- ausgebildet und öfter arbeitslos. Sie bli-
dort vertritt er seither als direkt gewählter mals mussten die Deutschen das demo- cken pessimistisch in die Zukunft.
Abgeordneter seine Heimatstadt. kratische Wählern erst neu lernen. Jetzt Da ist die Rechnung für die SPD klar:
Pflug ist 67 Jahre alt, in Sachen Wahl- trainieren sie es sich wieder ab. Das sind unsere Leute. „Nichtwählen ist
kampf hat er schon alles ausprobiert. 18 Millionen Nichtwähler gab es bei eine soziale Frage“, schärft Generalsekre-
Er stapfte durch Schrebergärten, klingel- der Bundestagswahl 2009, das ist ein tärin Andrea Nahles ihrem Team ein. „Wir
te an Türen, verteilte Skatkarten mit Alarmsignal für den Zustand der Demo- wissen, dass ein Drittel der Nichtwähler
SPD-Logo. Als der Handballverein Ham- kratie im Land. Gleichzeitig sind die für die Parteien nicht mehr erreichbar
born 07 seinen 100. Geburtstag feierte, Nichtwähler aber auch der Jackpot für sind“, heißt es in einem Strategiepapier
hielt er als örtlicher Abgeordneter natür- die Bundestagswahl. Wenn es eine des Willy-Brandt-Hauses. Um alle
lich die Festrede. Es ist ein mühsames Partei schafft, ihn zu knacken, dann anderen, so die Parole von Nahles,
Geschäft. winkt der Wahlsieg. Vor allem die kümmert sich die SPD. Die Wahl-
Gewiss, Pflug hat seinen Stimmkreis SPD, gefangen in miesen Umfrage- kampf-Chefin führt die Sozialdemo-
immer souverän gewonnen, Duisburg ist werten, will die Wahlverweigerer kraten in die größte Mobilisierungs-
eine SPD-Hochburg. Aber mit jeder Wahl aufwecken. Sie hofft, so Kanzlerin WAHL kampagne ihrer Geschichte.
wird es schwieriger, die Leute an die Urne Angela Merkel doch noch gefähr- 2013 Wenn es gelingt, die Wahlbeteili-
zu holen. „Viele kriegen gar nicht mehr lich zu werden. gung im Vergleich zu 2009 deutlich
mit, dass Wahltag ist“, klagt Pflug. „Sie Die Frage ist aber, ob die Parteien anzuheben, so das Kalkül im Willy-Brandt-
hören auf allen Ebenen auf zu wählen.“ Nichtwähler überhaupt erreichen können. Haus, ist ein rot-grüner Wahlsieg vielleicht
Als die Duisburger nach dem Love-Pa- Eine Reihe von Studien befasst sich mit doch möglich. Im Strategiepapier heißt es:
rade-Drama vor zwei Jahren einen neuen dem Nichtwähler, er ist ein gut erforsch- „Viele klassische SPD-Wähler sind 2009
Oberbürgermeister wählen sollten, rap- tes Wesen. Die Konrad-Adenauer-Stif- nicht wählen gegangen, weil sie wütend
pelte sich nur jeder Vierte auf. Bei der tung hat eine Untersuchung vorgelegt, die auf die SPD waren … Das sind keine
letzten Bundestagswahl hatte der Wahl- Bertelsmann-Stiftung auch, das Mei- Nichtwähler, die nie wieder zur Wahl ge-
kreis Duisburg II die niedrigste Beteili- nungsforschungsinstitut Forsa gleich zwei. hen werden. Das sind Leute, die die SPD
gung in Westdeutschland: 59,9 Prozent. Glaubt man den Demoskopen, sind Nicht- mögen und wählen wollen.“
32 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Nichtwähler dieser Sorte haben nichts Unterschiede mehr zwischen CDU und
gegen die Demokratie. Sie müssen oft SPD erkennen. „Mir erschiene es fast
nur viel existentiellere Fragen klären als unseriös, eine Partei auszuwählen. Wahr-
die Wahl zwischen Schwarz oder Rot. scheinlich sollte ich die Wahlprogramme
Etwa wie lang ihr Job noch hält oder wie lesen, um die Nuancen zu verstehen.“
sie ihre Schulden tilgen sollen. Aber Uhlig hat eine Patchwork-Familie
Die Meinungsforscher streiten, ob die und sieben Mitarbeiter zu unterhalten.
Parteien an die Nichtwähler herankom- Er hat für so etwas keine Zeit.
men können. Mal werden sie als „poli- „Elite-Nichtwähler“ nennt der Politik-
tisch durchaus interessiert“ und mobili- wissenschaftler Armin Schäfer vom Köl-
sierbar bezeichnet (Forsa). Die Konrad- ner Max-Planck-Institut Leute wie Uhlig.
Adenauer-Stiftung sagt dagegen, man Menschen, die aus politischen Gründen
könne nur Wähler für eine Partei gewin- nicht wählen, die sich aber nicht durch
nen, nicht aber für die Wahl an sich. ein kurzes Gespräch an der Wohnungstür
Diese Analyse passt wunderbar zur bekehren lassen. Sie lügen auch lieber,
Wahlkampfstrategie der CDU. „Es gibt als sich zu erkennen zu geben. Auch
nicht den einen thematischen Schlüssel, Nichtwähler Uhlig will seinen wahren Na-
mit dem die Parteien Nichtwähler errei- men lieber nicht gedruckt lesen.
chen“, sagt CDU-Generalsekretär Her- Die Szene der bekennenden Wahlboy-
mann Gröhe. In der CDU spricht es nie- kotteure ist winzig. Der Soziologe Harald
mand offen aus, aber die Konservativen Welzer zählt dazu; in Talkshows wagt
setzen dieses Jahr ganz unverblümt dar- sich auch manchmal ein Anwalt oder
auf, die Wähler einzuschläfern. Das Kal- Unternehmensberater vor. In gebildeten
kül dabei ist einfach: Weil bürgerliche Kreisen sorgt es für Aufsehen, wenn man
Wähler disziplinierter sind als die des lin- demonstrativ Abstand nimmt von demo-
ken Lagers, profitiert vor allem die Union kratischen Rechten und bürgerlichen
von einem konfliktarmen Wahlkampf. Pflichten. Es ist ein hübscher Tabubruch.
Sobald es aber Themen gibt, über die Elite-Nichtwähler haben ihren Montes-
CARSTEN REHDER / PICTURE ALLIANCE / DPA

heiß diskutiert wird, steigen die Werte quieu oder Machiavelli gelesen, sie
der SPD. schimpfen auf verkrustete Apparate und
Deshalb versucht die CDU, nahezu alle die Political Correctness der Parteien.
strittigen Themen abzuräumen oder glatt- Deshalb hätten Elite-Nichtwähler we-
zuschleifen. Ob Frauenquote, Mindest- nig gemein mit der Masse der Demo-
lohn oder Mietpreisbremse – die Unter- kratiemüden, sagt Armin Schäfer. Sie
schiede zur SPD sind nur mit der Lupe seien zu gut informiert und zu engagiert.
Kommunalwahl-Plakate in Flensburg im Mai sichtbar. Für die CDU mag die Strategie Immerhin: „Sie leisten ihren Beitrag zur
klug sein, für die Demokratie ist sie fatal. Demokratie, ohne zu wählen.“ Allein
Denn es sind längst nicht mehr nur die weil sie sich an der Debatte über Politik
Für Nahles geht es bei der Bundestags- Armen und Abgehängten, die sich von beteiligen. Die größten Chancen bei
wahl vor allem darum, die Kluft zwischen der Demokratie abwenden. Auch Heinz Elite-Nichtwählern haben denn auch
der SPD und abtrünnigen Anhängern zu Uhlig zum Beispiel, Akademiker und Un- Protestparteien. Je weniger sie wie eine
schließen. Da aber viele Nichtwähler über ternehmer, wählt inzwischen wieder wie Partei wirken, desto besser. Die Piraten
klassische Medien wie Zeitung oder „Ta- zuletzt bei der DDR-Volkskammerwahl mobilisierten bei der letzten Wahl zum
gesschau“ gar nicht mehr erreichbar sind, im Jahr 1986: ungültig. Damals wie heute Berliner Abgeordnetenhaus 23 000 Nicht-
ruft Nahles zum Haustür-Wahlkampf. macht der 57-jährige Sachse einen dicken wähler, 70 000 bei der Landtagswahl in
Ihre Truppen sollen ab August an fünf Strich über den Wahlzettel und sorgt da- NRW und 8000 im Saarland. Auch die
Millionen Türen klopfen, in Dreier-Teams, für, dass keiner seine Stimme bekommt. Euro-kritische Alternative für Deutsch-
sechs Wochen lang in jedem Wahlkreis, „Ich könnte auch daheimbleiben am land, frisch zugelassen zur Bundestags-
am besten von 17 bis 19 Uhr. Da ist der Wahlsonntag“, sagt Uhlig. „Aber ich will wahl, setzt auf die Mobilisierung der
Nichtwähler statistisch gesehen daheim. den Parteien zeigen, dass mich keine Wahlmuffel.
„Ein Programm dieser Größe könnte überzeugt.“ Der Unternehmer, der sich Vor allem hofft aber die „Partei der
die Union jetzt gar nicht mehr auf die als „eher links“ bezeichnet, kann keine Nichtwähler“ im Herbst auf ihre Chance.
Beine stellen“, frohlockt man im Willy- Ihr Chef, Werner Peters, ist ein 70-jähri-
Brandt-Haus. 61 Compañeros wurden ge- Nichtwähler vorn ger Hotelier aus Köln. Seit 1983 kämpft
schult, sie sollen ein Netz von Freiwilligen Ergebnis der letzten Bundestagswahl er gegen das „Parteiendiktat“. Seine ei-
über alle Wahlkreise spannen. Eine Soft- in Prozent aller Wahlberechtigten gene Partei wurde vor 15 Jahren zuletzt
ware kalkuliert den „Mobilisierungsin- zur Bundestagswahl zugelassen. Dann
an 100 fehlende
dex“ jedes Bezirks. Den Aktivisten gibt Prozent: Sonstige schlummerte sie ein. Nun hat Peters sie
die SPD gar nicht erst Inhalte mit, sogar wiederbelebt. „Die Bürger sehnen sich
die Kandidaten-Namen sollen sie nicht 29,2 nach einer Partei, die andere Parteien in
sagen. Sie sollen lieber Fragen stellen. Frage stellt.“ Die Nichtwähler-Truppe for-
Führt die Strategie ans Ziel? Der Ab- 23,6 dert bundesweite Volksentscheide und
geordnete Pflug hat an Tausende Duis- strengere Verhaltensregeln für Politiker.
burger Türen geklopft, dabei hat er eine 16,1 Sachpolitik interessiert Peters nicht.
Sache gelernt: „Es bringt nix.“ Es klinge Vielleicht ist dies sogar für Demokra-
zynisch, sagt er. „Aber die Nichtwähler, 10,2 tiemüde zu wenig. Die Nichtwählerpartei
die ich kenne, lassen sich nur brachial
8,3 7,5 jedenfalls feierte ihren größten Erfolg bei
mobilisieren. ,Geht wählen, sonst reißen der Bundestagswahl 1998. Da holte sie in
die eure Häuser ab‘ – das zöge vielleicht.“ CDU/CSU SPD FDP Linke Grüne NRW 6827 Stimmen. MELANIE AMANN

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 33
Deutschland

Die Arbeitsvermittler verschieben ihre


Kunden gern in sogenannte Qualifizie-
BEHÖRDEN rungsmaßnahmen, dann gelten sie für de-
ren Dauer nicht als arbeitslos. Was aber,

„Wir spielen Unternehmen“ wenn 49 Prozent der „Maßnahmen zur


Aktivierung und beruflichen Eingliede-
rung nicht verbindlich in der Eingliede-
rungsvereinbarung festgelegt“ waren, wie
Erst der Rechnungshof, jetzt die Innenrevision: Wieder bekommen die Revisoren herausfanden? Die Antwort
die Arbeitsagenturen ein mieses Zeugnis. Mit dem Um- geben sie gleich mit. Es bestehe das Risi-
ko, „dass die Notwendigkeit … ggf. nicht
denken tut sich der Vorstand schwer, allen Versprechen zum Trotz. gegeben und damit die Teilnahme an der
Maßnahme nicht zulässig war“. Im Klar-
text: Für fast die Hälfte der Teilnehmer
an BA-Weiterbildungsmaßnahmen war
unklar, ob diese ihnen helfen würden, ei-
nen Job zu finden. Es ging wohl nur dar-
um, sie aus der Statistik zu schieben.
Ähnlich düstere Zustände fanden die
Prüfer bei den Stellengesuchen von jun-
gen Menschen, die auf eine Lehrstelle
hofften. Fast die Hälfte ihrer Gesuche
wurde nur intern oder gar nicht veröf-
fentlicht – und damit Ausbildungsbetrie-
ben bewusst vorenthalten. Eine „plausi-
ble Begründung dafür fehlte in 93 Prozent
der Fälle“, wie die Revisoren feststellten.
Die Folge sei, dass die Vermittlungschan-
cen derjenigen, die eine Ausbildung be-
ginnen wollen, „eingeschränkt werden“.
Als eine der Hauptursachen für das Vor-
gehen sahen die BA-Kontrolleure „über-
wiegend Eigeninteressen der Arbeitsagen-
turen bei der Zielerreichung“.
Die Agenturen nahmen also schwerver-
mittelbare Kunden, die eine Ausbildung
beginnen wollen, erst gar nicht in den Pool
CHANDRA MOENNSAD / BFA

jener auf, für die sie eine Stelle suchten.


Auf diese Weise konnten sie dann für die
anderen, die es in den Pool geschafft hatten,
eine hohe Vermittlungsquote erreichen, an
der sie wiederum gemessen werden.
BA-Vorstände Becker, Weise, Alt: „Pfeifen Sie Ihre Zahlenknechte zurück“ Nach dem Bekanntwerden des Rech-
nungshofberichts hatte BA-Chef Frank-

W
as würde Volkswagen-Chef Mar- das zweite Halbjahr 2012, der dem Vor- Jürgen Weise gesagt, man sei auf die Pro-
tin Winterkorn sagen, wenn fast standstrio Frank-Jürgen Weise, Heinrich bleme „intern schon viel früher aufmerk-
ein Drittel seiner Autos mit Feh- Alt und Raimund Becker seit Mai vorliegt. sam geworden“ und habe „mit einem Pro-
lern vom Band liefe? Hastig zusammen- Alle sechs Monate erstellen die hauseige- gramm reagiert, das sich den veränderten
geschraubt, nur damit eine große Stückzahl nen Prüfer einen solchen Pannenreport, Bedingungen am Arbeitsmarkt anpasst“.
in der Bilanz steht? Wahrscheinlich würde doch als hätte es keinen in der Behörde Doch die BA-Revisoren haben in ihrem
Winterkorn hart durchgreifen. Vielleicht interessiert, weisen die „geprüften Ein- Bericht vom Mai keine Hinweise für ein
täte er auch gar nichts mehr, weil er gefeu- zelaspekte über einen Zeitraum von zwei Umdenken erkennen können: „Wie be-
ert wäre. Dann nämlich, wenn herauskäme, Jahren gleichbleibende Fehlerschwer- reits im letzten Berichtszeitraum ist er-
dass er diese Praxis sogar vorgegeben hätte. punkte auf“, so das ernüchternde Urteil. neut auffällig“, so die jüngste Schlussfol-
Die Führung der Bundesagentur für Ar- Die Arbeitsagenturen unterbreiteten zu gerung, „dass in einigen Dienststellen
beit (BA) hält ihren eigenen Laden zwar oft „nicht passgenaue Vermittlungsvor- trotz eingeleiteter Maßnahmen keine
für ein ähnlich effizientes Unternehmen schläge“. Eigentlich die Kernkompetenz bzw. keine nachhaltige Verbesserung der
wie den Autokonzern – doch bei der BA der BA, so wie es die Kernkompetenz Betreuungsqualität von Arbeits- und Aus-
sind diese Fehlerquoten normal. Den Be- von Volkswagen ist, technisch einwand- bildungsstellen erreicht werden konnte“.
leg dafür lieferte der Bundesrechnungs- freie Autos auszuliefern. Dass der BA-Vorstand in Wahrheit
hof mit seinem Prüfbericht, der schwere Bei der Arbeitsagentur aber sehe man nicht viel ändern will, zeigt auch ein
Mängel in der Arbeitsvermittlung nach- das nicht so eng – Hauptsache, die inter- Schreiben an den Bundesrechnungshof
wies (SPIEGEL 26/2013). Nun zeigt sich, nen „Zahlen, Rankings und Quoten“ sei- (BRH) vom 8. Februar 2013.
dass der BA-Vorstand schon lange gravie- en erfüllt, sagt ein BA-Insider, der ano- Auf elf Seiten führt die BA-Zentrale
rende Probleme kannte: aus Berichten nym bleiben will. Regelmäßig würden aus, warum sie die Kritik der Prüfer an
der eigenen Revisionsabteilung. Nur be- „frisierte Zahlen an das Arbeitsministe- ihrer Arbeit eigentlich total daneben fin-
heben wollte er sie offenbar nicht. rium geliefert“, so der Mitarbeiter, der det. Sie pocht auf das „Führen über quan-
Dass sich die Hausspitze jahrelang stur sich vom „Sozialarbeiter zum Statistik- tifizierte Ziele“; das sei „einer der Eck-
gestellt hat, zeigt ein interner Report für fälscher“ degradiert sieht. pfeiler der Führungsphilosophie der BA“.
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Bei konkreten Vorwürfen wird die Der Vorsitzende des Hauptpersonal- nur der Rechnungshofbericht zeigt. Im Ok-
Hausspitze dann bockig. Die Kritik: Es rats, Eberhard Einsiedler, mahnte schon tober 2012 hat Einsiedler erneut Fehlent-
gehe zu sehr darum, Zahlenerfolge für 2009 ein Umdenken an. Damals schrieb wicklungen aufgezeigt. Vermittlungsvor-
das Controllingsystem zu produzieren, zu er an Weise, es entstehe der Eindruck, schläge seien „mehr Masse statt Klasse“.
Lasten etwa der Vermittlung von Arbeits- „als wäre nicht die Arbeit ‚am und mit Ihre Gesamtzahl sei zwischen 2007 und
losen. Die Antwort: „Die BA teilt nicht den Kunden‘ unser Kerngeschäft, sondern 2011 um das Zweieinhalbfache auf knapp
die Auffassung des BRH …“ Ein weiterer Controlling, Qualitätsmanagement und 19 Millionen jährlich angestiegen, der An-
Vorwurf: Ein Großteil der Kräfte werde Steuerung. Letzteres geschieht anschei- teil der erfolgreichen Vorschläge bewege
auf Top-Kunden konzentriert, die nahtlos nend immer mehr zum Selbstzweck“. sich aber mit 2,1 Prozent „konstant auf nied-
von einem Job in den nächsten vermittelt Die BA sei – angetrieben durch die rigem Niveau, mit fallender Tendenz seit
werden sollen; das sei nicht im Sinne der Zentrale – total übersteuert. „Es muss Jahren“. Der Hauptpersonalrat ätzt: „Wir
Kundschaft insgesamt. „Die BA teilt nicht Schluss sein mit dem Zahlenfetischismus! spielen Unternehmen, und das mit erhebli-
die Auffassung des BRH …“ Ich bitte Sie dringend, pfeifen Sie Ihre chem Aufwand. Aber wir sind weder die
Selbst die Rüge, dass zu viele Arbeits- Deutsche Bank noch Porsche, noch Aldi.“
lose in die unsichere Zeitarbeit vermittelt Dahinter steckt die Frage, ob die BA
würden, kontert die BA im Februar noch „Da werden erwachsene nicht endlich wieder mehr auf Qualität
lapidar: „Beschäftigungsverhältnisse bei Menschen angebrüllt, statt Quantität achten sollte. Auf jene
Zeitarbeitsunternehmen sind in der Regel Arbeitslosen, die älter sind und es schwer
sozialversicherungspflichtig und damit im weil ihr Team 0,2 Prozent am Arbeitsmarkt haben. Oder die einen
Grundsatz nicht weniger werthaltig ein- zu schlechten Schulabschluss haben, um
zustufen.“ Hatte Weise nicht öffentlich unter dem Zielwert war.“ eine Lehrstelle zu bekommen. Fragen, die
behauptet, man nehme die Kritik des auch der Rechnungshofbericht aufwirft.
Rechnungshofs „sehr ernst“? Zahlenknechte zurück und schaffen Platz In der BA hat man sich die Antworten
Die Führung der BA scheint sich von für eine Führungskultur, die die Erbrin- offenbar schon selbst gegeben, in einem
ihren eigentlichen Aufgaben entfremdet gung echter Arbeitsergebnisse fördert.“ „Maßnahmenkatalog zur Outputsteige-
zu haben. Das Klima in der Behörde Wenn die erwarteten Teamergebnisse rung“ aus diesem Jahr. So als hätte es nie
scheint vergiftet, die Kluft zwischen der nicht erreicht würden, müssten andere einen Rechnungshofbericht gegeben,
Zentrale und den Agenturen kaum noch mehr bringen, damit das Gesamtergebnis heißt es dort, es müsse eine „Fokussie-
überwindbar. „Jede Woche werden wir der Agentur stimme. „Solch einen rung“ auf die „Betreuung marktnaher
gebrieft“, beschreibt etwa ein Teamleiter Schwachsinn braucht man nicht zu steuern TOP-Kunden in potentialträchtigen Bran-
seinen Alltag, „da werden erwachsene – der steuert sich selbst, nämlich gegen die chen“ geben. Einsicht sieht anders aus.
Menschen angebrüllt, weil ihr Team 0,2 Wand“, so Einsiedlers Fazit. Doch der JÜRGEN DAHLKAMP, YASMIN EL-SHARIF,
Prozent unter dem Zielwert war.“ Appell bewirkte offenbar wenig, wie nicht JANKO TIETZ
Deutschland

Laut Stöver spritzen bis zu 30 Prozent


der männlichen und mehr als 50 Prozent
STRAFVOLLZUG der weiblichen Häftlinge Drogen – dazu
kommen jene, die kiffen oder Crack rau-

„Tickende Zeitbomben“ chen. Eine Studie in Nordrhein-Westfalen


ergab, dass rund 45 Prozent der Gefan-
genen Drogen nehmen oder früher mit
Drogen zu tun hatten.
In Gefängnissen gehören Drogen zum Alltag. Süchtige Häft- Der ehemalige Häftling Richard E., 46,
linge werden nach ihrer Entlassung häufig wieder kennt die Wege des Stoffs von draußen
nach drinnen. Er hat ein paar Jahre we-
kriminell. Experten fordern Methadon für die Abhängigen. gen Diebstahls, Betrugs und Drogenbe-
sitzes abgesessen. Seit Lebensmittelpake-

I
hre Schreie drangen zur Mittagszeit chen Knästen wird der Konsum offenbar te in Hamburg verboten worden seien,
aus einem Café an einer mehrspurigen stillschweigend geduldet – auch weil bene- werde der Stoff über die Mauern gewor-
Straße in Hamburg. Als ein Anwohner belte Insassen weitaus leichter zu bewa- fen, in Gras eingewickelt, in aufgeschnit-
durch die Fenster in den Gastraum des chen sind als Männer auf Entzug. tenen Tennisbällen versteckt, sagt E, der
„Lissabon“ schaute, sah er eine Frau in In der JVA Werl, wo Mahfouz einsaß, heute keine Drogen mehr nimmt.
ihrem Blut liegen. wusste man von seiner Sucht. Man gewähr- Die Alternative dazu seien Kuriere: In
Die Ärzte in der nahegelegenen Not- te ihm Hafturlaub, obwohl das damit ver- seltenen Fällen seien dies korrupte Be-
aufnahme konnten Maria V. wiederbele- bundene Risiko bekannt war: dass Mah- amte, ehrenamtliche Sozialarbeiter oder
ben, am Körper der 58-jährigen Wirtin fouz draußen klauen, rauben, dealen könn- bestechliche Anwälte, weitaus häufiger
zählten sie mehr als zwölf Einstiche eines te, um seine Gier nach Drogen zu stillen. aber Bekannte und Verwandte, insbeson-
Steakmessers. Die Fahndung nach dem Es scheint notwendig, den Fall Mahfouz dere Freundinnen und Ehefrauen. „Bei
Täter verlief ergebnislos – obwohl die Kri- als Fehler des Systems zu begreifen. einem Zungenkuss ist schnell was weiter-
po am Tatort die Quittung einer Telefon- Vor knapp zwei Jahren einigten sich gegeben oder bei einer Umarmung in den
karte gefunden hatte. Sie gehörte Nadiem zehn Bundesländer auf einen Musterent- Hosenbund gesteckt“, erklärt E.
Ralf Mahfouz, einem 42-jährigen
Mörder, der aus einem Haft-
urlaub nicht zurückgekehrt war.
Vier Tage nach dem beinahe
tödlichen Überfall im März, bei
dem der Räuber 200 Euro erbeu-
tete, erschien ein Mann in einer
dünnen Jacke in der Kanzlei des
Lübecker Rechtsanwalts Frank-
Eckhard Brand. Der Besucher
machte einen gepflegten Ein-
druck, dem Anwalt fielen nur
die geschwollenen Hände auf,
der Unbekannte musste sich lan-
ge in der Kälte aufgehalten ha-
ben. Er legte eine chromfarbene
JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL
Plastikpistole auf den Tisch und
sagte: „Ich will mich stellen.“ Es
war Nadiem Ralf Mahfouz.
Der Anwalt begleitete ihn zur
Polizei, Mahfouz gestand dort die
Attacke auf Maria V. Dass der
Fall Mahfouz nicht als Nummer Ehemaliger Häftling Richard E. vor dem Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel, Durchsuchung einer Haftzelle mit
in der Polizeilichen Kriminalsta-
tistik verschwand, liegt an 49 engbeschrie- wurf für Strafvollzugsgesetze. Der Wäl- Die größten Mengen, sagen Experten,
benen DIN-A4-Seiten. Nach seiner Verhaf- zer ist insgesamt 164 Seiten stark, Details kämen über das sogenannte Bodypacking
tung hat Mahfouz im Hamburger Unter- der Besuchspraxis und der Häftlingsklei- in die Gefängnisse. Häftlinge, die in der
suchungsgefängnis seine Geschichte auf- dung werden geregelt. Um die Drogen- Lockerung sind – auf Freigang oder im
geschrieben. Er erzählt, wie er vor mehr problematik geht es nur am Rande. Urlaub –, kaufen draußen ein, verschlu-
als 20 Jahren als Kiffer seine Haft antrat, „Es gibt kein einziges drogenfreies cken die Päckchen oder führen sie ein,
wie er hinter Gittern zum Junkie wurde Gefängnis in Deutschland“, sagt der vaginal oder rektal. Verhindern lässt sich
und begann, mit Drogen zu handeln. Kriminalpsychologe Rudolf Egg, aber diese Methode des Einschleusens kaum.
Der SPIEGEL druckt Auszüge dieses Be- darüber spreche niemand gern: „Das Drogenspürhunde dürfen an Menschen
kenntnisses (Seite 38). Denn Mahfouz’ Ge- wird unter den Teppich gekehrt.“ Politi- nicht eingesetzt werden. Kontrollappara-
ständnis ist auch ein Dokument des Schei- ker wollten die Erwartungen der Bürger te erwiesen sich als untauglich.
terns des deutschen Strafvollzugs. Der Text nicht enttäuschen, meint der Frankfurter Das Drogengeschäft im Knast ist ein
bezeugt, wie trotz eines strengen Drogen- Suchtforscher Heino Stöver, und das er- Tauschhandel. Bezahlt wird mit allem,
verbots das Geschäft mit illegalen Betäu- zeuge einen Druck auf die Gefängnisse. was man besitzen darf (Schmuck, Uhren),
bungsmitteln in fast jeder Justizvollzugs- „Jedes Wort zum Drogenkonsum in was man im JVA-Kaufladen erwerben
anstalt (JVA) floriert. Haschisch, Heroin Haftanstalten käme dem Eingeständnis kann (Tabak, Kaffee) – oder mit Sex.
oder die Ersatzdroge Subutex bestimmen gleich, seinen Laden nicht im Griff zu Durchsuchungen der Zellen seien sel-
den Alltag vieler Eingeschlossener. In man- haben.“ ten. Und wenn jemand zur Urinprobe zi-
36 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
tiert werde, so E., bestünden vielfältige Hoffnung, würden sie keine Verbrechen kann der geschlossene Vollzug allein
Möglichkeiten, diese zu manipulieren. begehen, um an Drogen zu kommen. nicht leisten.“
Hinter Gittern gebe es einen Markt für Zwar gibt es eine Uno-Resolution, nach Im Fall Mahfouz habe die JVA Werl
sauberen Urin. „Den füllst du zum Bei- der Gefangenen die gleiche gesundheit- kurz vor dem Hafturlaub vier unan-
spiel in eine leere Pulle Nasenspray, liche Versorgung zusteht wie Menschen gekündigte und überwachte Drogentests
klemmst die unter den Schwanz – fertig.“ in Freiheit – rund 75 000 Abhängige sind gemacht, die allesamt negativ gewesen
Er grinst. „Du darfst nur nicht vergessen, hierzulande in einer substitutionsgestütz- seien, man könne Mahfouz nicht als
den Urin vorher anzuwärmen.“ ten Behandlung. Doch ob ein Häftling mit schwerstabhängig bezeichnen.
Deutsche Politiker müssten sich häu- Ersatzstoffen wie Methadon versorgt wird, In einem internen Bericht des Ministe-
figer mit Fachleuten aus der Praxis obliegt der Entscheidung des Gefängnis- riums heißt es, dass in der „Gesamt-
unterhalten, mit Karlheinz Keppler bei- arztes. Und nicht alle JVA-Mediziner, be- bewertung“ aller Begutachtungen „keine
spielsweise, der seit 1991 als Arzt im klagt Stöver, „sind suchtmedizinisch qua- offensichtlichen Fehleinschätzungen oder
Frauengefängnis Vechta tätig ist. Wenn lifiziert“. Zwischen den rund 180 Vollzugs- grobe handwerkliche Schwächen erkenn-
der Mediziner die drängendsten Proble- anstalten gibt es große Unterschiede in bar“ seien. Es habe keine Anhaltspunkte
me benennt, setzt er zu einem Stakkato der Substitutionspraxis. Nordrhein-West- für ein „derart gravierendes Versagen des
an: „Erstens: Wenn es hier mal eine Raz- falen gehört zu den fortschrittlicheren Gefangenen“ gegeben.
zia gibt, wird sofort alles die Toilette run- Bundesländern: In den vergangenen vier Mahfouz selbst sah sich wohl anders.
tergespült. Zweitens: Im Gefängnis stei- Jahren stieg die Zahl der Substituierten Am 18. Dezember 2012 schrieb er einen
gen viele auf harte Drogen um, weil diese von rund 150 auf 1380. Brief an den Anstaltsarzt in Werl, wies
schwerer im Urin nachzuweisen sind als „Die Gefahr, dass suchtkranke Men- auf sein massives Drogenproblem hin und
Cannabis. Drittens: Der Konsum wird ris- schen wieder rückfällig werden, ist bat, zum Substitutionsprogramm zugelas-
kanter, weil die Häftlinge alles nehmen, enorm“, warnt Stöver. „Wenn sie nie- sen zu werden. Es war eine Art Hilferuf
alles mischen, was sie in die Hände be- mand an die Hand nimmt, sind das ti- („Ich merke, dass ich wieder depressiv
kommen.“ ckende Zeitbomben.“ und manchmal auch aggressiv werde“).
Dieses Risiko wachse noch dadurch, Eine solche Zeitbombe war auch Mah- In seine JVA-Akte wurde der Brief offen-
dass vier von fünf Injektionen mit nicht- fouz. 1993 war er wegen gemeinschaft- bar nicht aufgenommen. Der Arzt habe
sterilen Spritzen gesetzt würden: „Manch- lichen Mordes an einer Taxifahrerin zu ihm mitgeteilt, wenn das Schreiben offi-

VOLKER HARTMANN / DAPD


ROGGENTHIN.DE

Drogenspürhund, NRW-Justizminister Kutschaty: „Ehrlich sagen, dass es keine absolute Sicherheit gibt“

mal teilen sich 30 Insassen eine Spritze, lebenslanger Haft verurteilt worden. Er ziell würde, könne er seinen Urlaub ver-
die sogenannte Stationspumpe.“ Laut hätte wohl nach 15 Jahren entlassen gessen, so erzählt es Mahfouz.
Keppler helfe es auch nichts, verdächtige werden können. Dagegen sprach jedoch, Das Verhalten zeige, wie „die Insassen
Hafturlauber nach der Rückkehr stärker dass er regelmäßig Drogen konsumierte. in den Gefängnissen mit ihren Problemen
zu kontrollieren, weil dann diejenigen zu Mahfouz sollte sich bei einer Lockerung alleingelassen werden“, sagt Mahfouz’
Kurierdiensten genötigt würden, die mit seines Vollzugs bewähren. Eine Gutach- Anwalt Brand. Das NRW-Ministerium be-
Drogen nichts zu tun haben wollten. terin hielt ihm seine Bereitschaft, die teuert, der Anstaltsarzt habe „zu keinem
Wenn aber nicht verhindert werden Drogenproblematik behandeln zu lassen, Zeitpunkt Hinweise für einen fortgesetz-
kann, dass Gefängnistore durchlässig sind zugute. Sie hielt die Haftlockerung für ten, regelmäßigen und exzessiven Dro-
für Drogen aller Art: Muss man den vertretbar. genkonsum feststellen können“.
Kampf dann aufgeben? Mitnichten, sagt Man müsse „den Mut haben“, sagt Vergangene Woche wurde Mahfouz die
Heino Stöver, der Suchtexperte aus Frank- NRW-Justizminister Thomas Kutschaty, Anklage wegen versuchten Mordes in Tat-
furt. Seine Alternative: die Häftlinge häu- „ehrlich zu sagen, dass es keine absolute einheit mit schwerem Raub und gefähr-
figer als bisher mit legalen Ersatzstoffen Sicherheit geben kann.“ Kutschaty ver- licher Körperverletzung zugestellt. Im
zu behandeln – „so wie wir es außerhalb teidigt die Praxis, die Gefangenschaft Herbst wird er in Hamburg vor Gericht
der Knastmauern tun“. Entlassene Ab- erst zu lockern und dann zu therapie- stehen. Er wird womöglich für immer hin-
hängige könnten in Freiheit weiterthera- ren: „Der Weg aus den Drogen geht nur ter Gittern bleiben. UDO LUDWIG,
piert werden. Ohne Suchtdruck, so die über eine vernünftige Therapie, und die BARBARA SCHMID, ANTJE WINDMANN

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Deutschland

„Die Birne dicht“


Der Häftling Nadiem Ralf Mahfouz berichtet, wie er im Knast zum Junkie und Dealer wurde.

Mahfouz wurde am 3. Juli 1970 in Cottbus Ich stieg ins Haschgeschäft ein, kaufte ruck, zuck mit dem Hausarbeiter warm
geboren. Seine ersten vier Lebensjahre ver- von Mithäftlingen 30 Gramm für 600 (Hausarbeiter sind Häftlinge, die als Hilfs-
brachte er in einem Heim. Dann wurde er Mark. Wenn du auf Zack bist, ist es leicht, kräfte von der JVA bezahlt werden –
adoptiert, sein Vater war ein gebürtiger an das Zeug zu kommen. Ich verkaufte Red.). Der brachte von jedem Langzeit-
Syrer. Schon als Jugendlicher klaute Mah- 15 Gramm in Päckchen für 40 Mark pro besuch so an die hundert Gramm Hasch
fouz, brach Autos auf, brach in Kneipen Gramm. So konnte ich die andere Hälfte mit. Fest liierte Langzeitgefangene durften
ein, beging seinen ersten Raub. Mit 16 Jah- behalten. Ich kiffte jeden Tag und soff nämlich über die Besuchszeiten hinaus in
ren kam er in ein Jugendgefängnis, von da mir zweimal die Woche einen. speziellen Räumen ihren Partner für drei
an waren Tage in Freiheit die Ausnahme. Da das Geschäft in dieser Zeit über Stunden im Monat ungestört empfangen.
Er saß in den Justizvollzugsanstalten (JVA) den Einkauf lief, hatte ich manchmal für Außerdem holte ich alle zwei Monate
Herford, Iserlohn und Heinsberg ein, meist 2000 bis 2500 Mark Tabak und Kaffee in für einen Zuhälter aus Essen sonntags 100
wegen Einbruchs oder Dieb-
stahls. Untersuchungshaft ver-
brachte er in Bochum und
Bielefeld. Nach seiner letzten
Haftentlassung zog es Mah-
fouz zu einem Kumpel nach
Wuppertal. Als ihnen das Geld
ausging, beschlossen sie, eine
Taxifahrerin auszurauben. Als
die 33-Jährige um Hilfe schrie,
stachen sie mit einem Messer
auf die Frau ein und warfen
sie in die Wupper. Sie starb.
Mahfouz wurde wegen Mor-
des zu lebenslanger Freiheits-
strafe verurteilt. Zu diesem
Zeitpunkt war er gerade 23
Jahre alt. Während eines Haft-
urlaubs im März dieses Jahres
stach er die Wirtin eines Cafés
nieder.

I
ch weiß, dass ich aus mei-
nem Leben was hätte ma-
chen können. Stattdessen
habe ich mir viel Scheiß er-
DOMINIK ASBACH / LAIF

laubt. Ich bekomme meine


Straftaten nicht mehr zu-
sammen; es müssen Tausen-
de Ladendiebstähle, Haus-
und Wohnungseinbrüche ge-
wesen sein. Aber den größ- Justizvollzugsanstalt Werl: „Wenn du auf Zack bist, ist es leicht, an das Zeug zu kommen“
ten Fehler habe ich in Haft
begangen: Da habe ich mit den harten der Zelle (Tabak und Kaffee sind in JVA Gramm aus der Kirche, die auf dem Ge-
Drogen angefangen. eine Art Währung – Red.). lände des Knasts steht. Er hatte sie beim
Meine Knastkarriere im Erwachsenen- Vor Kontrollen hatte ich keine große Eheseminar dort deponiert.
strafvollzug begann 1993 in Hagen, kurz Angst. Knackis haben viel Zeit, um sich In der JVA Münster war es noch ein-
darauf überstellte man mich in die JVA Verstecke zu überlegen. Und Suchhunde facher für mich: Die Gefangenen konnten
Werl. Dort gab es damals nur Langzeit- kommen nur ein- bis zweimal pro Jahr viele Urlaube machen. Mit fast jedem
strafen ab fünf Jahren. Ich kam in die Kü- in den Knast. Ich bin in 20 Jahren nur Ausgang kam das Zeug in den Knast.
che, arbeitete in der Kartoffelschäle. Da einmal richtig gefilzt worden. Für meine Ausbildung zum Koch kam
waren mit sechs Mann 120 Jahre Knast Ende 1994 wechselte ich auf die Schul- ich danach vorübergehend in die JVA Gel-
vertreten. Werl war berüchtigt, stellte sich abteilung. Der Liftkurs sollte mich auf den dern. Dort gab es mehr Drogen, als ich je-
aber als harmlos heraus, ich brauchte Realschulabschluss in der JVA Münster mals im Knast gesehen habe. Preiswertes
mich nicht schlagen, musste einfach nur vorbereiten. Auf dem Schulflügel lief das Hasch in super Qualität und jede Menge
geradeaus sein. Haschgeschäft noch besser. Ich wurde dort Heroin und Kokain. Ich war in kürzester
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Zeit der beste von den acht Azubis. Nach Schuld an allem ist die riesengroße Tag an wohl. Das Beste war: Ich saß an
drei Monaten rief mich der Ausbilder zu Langeweile. Ich kenne Jungs, die wie ich einer neuen super Quelle für Hasch. Es
sich. Er sagte, dass ich das Niveau halten erst im Knast auf die harten Drogen ge- gab dort einen Türken, Mehmet, 150 Kilo-
solle, dann könne ich als Lehrgangsbeglei- kommen sind, weil das Leben drinnen so gramm schwer. Als wir die ersten 100
ter bleiben. Das einzige Problem waren eintönig und langweilig ist. Gramm zum Abpacken geschnitten hatten,
die Drogen. Nachdem ich Koks probiert 2004 setzte mir ein Psychologe die Pis- holte er noch mal 200 Gramm hervor. So
hatte, verweigerte ich eine Urinkontrolle. tole auf die Brust. Ich sollte auf die PGS viel Hasch hatte ich noch nie auf einmal
Ich musste unterschreiben: Sollte ich noch (Psychotherapieabteilung für Gewalt- gesehen. Ich lebte wie die Made im Speck.
mal auffallen, würde die Ausbildung be- und Sexualstraftäter –Red.). Ich wollte Mitte des vergangenen Jahrzehnts ge-
endet und ich zurückverlegt. mich eigentlich nicht so sehr mit mir und wann in Werl Heroin die Oberhand. Weil
Ich hatte bis dahin knapp acht Jahre meinen Taten auseinandersetzen. Die Al- es nur noch wenig Hasch gab, nahm ich
gekifft, und das nicht wenig für Knastver- ternative wäre gewesen, erst mal keine ab und zu Heroin – hörte aber wieder
hältnisse. Silvester, nach zehnmonatiger Chance auf Entlassung zu haben. auf. Ich wollte auf keinen Fall süchtig auf
Ausbildung, nahm ich mir vor, ganz auf- In der PGS-Abteilung musste man über das Scheißzeug werden.
zuhören. Ich verkaufte den Rest, den ich seine Kindheit reden, was mir generell In der weiteren Therapie ging es speziell
noch hatte. Zehn Tage habe ich geschafft. sehr schwerfällt. Meine Adoptivmutter um meine früheren Taten, vor allem um
Montags war der Ausbilder nie da, hatte eine sadistische Ader. Sie schlug mir meine schwerste: Als ich wieder mal aus
dann hatte ich frei. Er hatte mich gewarnt, mit dem Gürtel auf den Po oder mit dem dem Gefängnis kam, fuhr ich nach Wup-
dass die mich zur Urinkontrolle holen wer- Plastiklöffel auf die Hände. Vor lauter pertal zu meinem Kumpel Musa. Wir woll-
den. Am Morgen legte mir ein Mithäftling Angst machte ich oft ins Bett. Das blieb ten einen Überfall machen. Die letzten 20
gutes Hasch hin. Ich wurde schwach. Da natürlich nicht ungestraft. Außerdem Mark verzockten wir am Pokerautomaten.
ging die Tür auf: „Mahfouz, zur Urinkon- musste ich mit ihr Horrorfilme anschauen Gegenüber der Spielhalle war ein Taxi-
trolle.“ Was war ich nur für ein Idiot! und dabei ihre Füße massieren. stand. In einem Auto saß eine Frau am
Steuer. Musa nannte das
Fahrziel, und als wir ange-
kommen waren, bedrohte ich
sie mit einer Gaspistole und
nahm ihr das Portemonnaie
aus der Hand. Beim Ausstei-
gen schoss ich der Frau noch
ins Gesicht. Ich habe gedacht,
dass bei den Gaspatronen
nicht viel passieren kann und
wir ein bisschen Vorsprung
bekommen. Musa wollte aber
nicht abhauen. Er meinte,
dass wir zu schnell die Bullen
am Arsch hätten.
Wir haben die Taxifah-
rerin, nachdem wir sie mit
einem Messer verletzt hatten,
in die Wupper geworfen.
Mein Anwalt meinte, ich sei
nicht voll schuldfähig auf-
grund der Umstände, wie ich
POLIZEI HAMBURG / PICTURE ALLIANCE / DPA

aufgewachsen bin. Ich bekam


trotzdem lebenslänglich. Der
Richter meinte, ich solle eine
Ausbildung machen und wür-
de dann nach 15 Jahren wie-
der freikommen. Daraus wur-
de bekanntlich nichts.
Auch meine Therapie im
Werler Knast konnte ich
Hafturlauber Mahfouz nach der Bluttat im März vor Geldautomat: „Was habe ich für Scheiß gemacht?“ nicht zu Ende bringen. Ein
guter Kumpel, Chris, schleus-
Zur Strafe musste ich zurück nach Zwei Tage nach meinem 14. Geburtstag te Heroin für die russischen Gefangenen
Werl. Zur Begrüßung sagte der Flügellei- wechselte ich in ein Heim für Schwer- rein. Das war der Zeitpunkt, als ich rich-
ter (ein Vollarsch), ich solle die nächsten erziehbare. Wenn ich Kinder mit ihren tig süchtig auf die Scheiße geworden bin.
zehn Jahre Frikadellen drehen. Das tat Eltern sah, wurde ich traurig. Einmal Alle zwei Wochen kamen 30 bis 40
ich dann auch erst mal. kaufte ich mir in einer Apotheke eine Pa- Gramm, und die Hälfte war für uns.
Ich fing an, ab und zu mit Heroin zu ckung Thomapyrin, angeblich für meine Als Chris und ich einmal erwischt wur-
handeln; so konnte ich leichter meinen Mutter. Ich dachte, mit 20 Stück müsste den, kam ich in Einzelhaft. Das war übel:
Haschkonsum finanzieren. Wir rauchten ich tot sein. Ich habe mir die Seele aus Ich schwitzte und fror gleichzeitig. Ich
uns in dieser Zeit die Birne dicht. In Werl dem Leib gekotzt, aber am nächsten Mor- saß den halben Tag auf Toilette mit
gab es immer Möglichkeiten, über die Be- gen lebte ich immer noch. Durchfall. Ich kotzte, bis nur noch Gal-
sucher Drogen reinzubekommen. Andere Über all das sollte ich nun in der PGS- lenflüssigkeit kam. Ich wurde depressiv
Wege, wie über Beamte oder das Werfen Abteilung in Werl reden. Das war schwie- und litt an Schlaflosigkeit. Ich habe in
über die Mauer, habe ich da nie gesehen. rig, aber ich fühlte mich dort vom ersten zwei Wochen vielleicht zwei Stunden
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Deutschland

geschlafen. Ab und zu bekam ich mal ein vorbereitung machen und anschließend Der Bereichsleiter meinte aber, dass
Päckchen am Fenster oder in der Kirche. 18 Monate Therapie. Laut Plan wäre ich man jetzt so viel Arbeit in mich hinein-
Aber das hielt nur eine Stunde. 2013 nach 20 Jahren entlassen worden. gesteckt habe, nun solle ich auch nach
Nachdem ich noch zweimal Arrest Auf G4 lag ich mit 13 anderen Süch- Münster in die Drogentherapie. Mein
wegen verweigerter Urinkontrollen be- tigen zusammen. Selbst wenn ich gewollt zweiter Urlaub sollte einen Monat später
kam, hörte ich wirklich auf. Ich zog mei- hätte, war es praktisch unmöglich, auf sein, im Februar. Ich versuchte wirklich
nen Affen durch und machte wie irre der Abteilung sauber zu bleiben. Es geht aufzuhören. Eine Woche vor dem Urlaub
Sport. Ich sah nach sechs Monaten richtig da nur um Drogen. Man musste jede Wo- habe ich aufgegeben.
durchtrainiert aus. Manche meinten, dass che mit einer Urinkontrolle rechnen. Ich fuhr also nach Münster und wusste,
ich Anabolika nehmen würde, was Aber es gibt Tricks: Man trinkt zwei Stun- dass es der letzte Urlaub für lange Zeit
Quatsch war. Ich hatte nur meine Sucht den vor der Kontrolle sechs Liter warmes sein würde. Nach 30 Jahren aber riecht
verlagert. Wasser, dann pinkelt man auch nur noch Freiheit verdammt verlockend. So kam
Ich nahm ein Jahr lang kein Heroin. Wasser. Oder man gibt die Pisse von je- mir der Gedanke, meinen Urlaub quasi
Meine Urinkontrollen waren alle sauber, mand anderem ab. zu verlängern. Ich fuhr nach Süddeutsch-
und ich wurde in den offenen Bereich Irgendwann wurde entschieden, dass land und dealte. Dann erfuhr ich, dass
verlegt. Dort kann man sich zwischen 6 ich zunächst Begleitausgang bekommen die Bullen mich bereits suchen. Ich färbte
und 21 Uhr frei bewegen. Eine Gutachte- sollte und zwei Wochen später Haft- mir meine Haare schwarz, richtete sie mit
rin meinte, dass von mir keine Gefahr urlaub; danach sollte ich in die Therapie Haargel ein bisschen auf, noch eine Brille
mehr ausgehe, noch mal schwere Straf- nach Münster. Nun musste ich ganz für 50 Euro – und ich sah anders aus.
taten zu begehen. Vermutlich kam durch schnell sauber werden. Im Urlaub süchtig Aber ich musste mir etwas einfallen
die Gespräche mit ihr der Suchtdruck wie- zu sein wäre schlecht gewesen – wo hätte lassen, um wieder an Geld zu kommen.
der hoch. Jedenfalls wurde ich von einem ich die Drogen herbekommen sollen? Ich fuhr nach Hamburg. Es war kalt und
Tag auf den anderen rückfällig. Und ich wusste, dass ich direkt danach schneite. Ich war am Ende, mir war alles
Es kam dann noch eine Droge dazu: zur Urinkontrolle muss – da gab es keine egal. Dann sah ich dieses Café. Ich be-
Subutex. Das ist eine Ersatzdroge für He- Chance zu bescheißen. Doch mit dem stellte einen Kaffee. Als die Bedienung
roin, die ins Gefängnis geschmuggelt Aufhören wurde es nichts. Ab dem drit- ihn brachte, zog ich meine Spielzeug-
wird. Die Tablette wird zerdrückt, durch ten Tag ging’s immer richtig ab: Durchfall, pistole aus der Jacke. Dann weiß ich nur
noch, dass sie mir in die linke Hand ge-
bissen hat. Die Erinnerungen, wie ich auf
die Frau eingestochen habe, sind weg.
Was hatte ich für einen Scheiß gemacht?
Geldbörsen mit 200 Euro mitgenommen
und dafür vielleicht einen Mord begangen.
Als ich später versuchte, mit den gestoh-
lenen Bankkarten Geld abzuholen, habe
ich die falschen Nummern eingetippt.
Ich war schockiert, als ich am nächsten
Tag las, dass ich mehr als zwölfmal zuge-
stochen haben soll. Ich dachte an Selbst-
mord, aber hing doch irgendwie an mei-
nem verschissenen Leben. Also habe ich
mich gestellt.
Ich weiß, dass ich meine Drogensucht
mit meiner angeschlagenen Psyche erst
einmal nicht in den Griff bekomme. Ich
hoffe nun, endlich mal in ein Suchtpro-
TVNEWSKONTOR

gramm zu kommen. Die Anstalt hätte mir


längst einen Riegel vorschieben müssen,
was meine Geschäfte angeht. Es war doch
Gewaltopfer Maria V., Helfer in Hamburg: Mit einem Steakmesser niedergestochen offensichtlich, dass ich konsumiere. Ich
habe von 600 Euro im Monat höchstens
die Nase gezogen. Mit einem halben Päck- Schüttelfrost, Rückenschmerzen. Nur ein- 100 Euro für mich ausgegeben. Der Rest
chen war man einen ganzen Tag drauf. mal bin ich bis zum vierten Tag gekom- ging für Drogen drauf.
Die erste positive Urinkontrolle ging men. Ich mache mir nichts vor: Sollte ich
noch glimpflich aus. Da ich viel getrun- So bin ich dann in den Ausgang – und noch mal entlassen werden, dann als alter
ken hatte, waren die Werte gering. Ich war schön dicht auf Subutex. Ich fuhr mit Opa. Die Sicherungsverwahrung ist mir
erzählte, ich hätte nur ein paar Schmerz- zwei Begleiterinnen nach Münster zum wohl sicher. Statt an Gott glaube ich mehr
mittel genommen. Chance e. V. für Haftentlassene. Nach der an das Schicksal. Manche Menschen ha-
Irgendwann entstand im Rahmen mei- Rückkehr am folgenden Abend in Werl ben Glück im Leben: gutes Elternhaus,
nes Vollzugsplans die Idee, dass ich in musste ich eine Urinprobe abgeben, die Familie, Kinder, und alles läuft gut. Dann
der JVA Münster eine Drogentherapie natürlich positiv war. Ich ging davon aus, gibt es Menschen, die es nicht ganz so
machen sollte. Da ich zu lebenslänglich dass sich der Urlaub erledigt hatte. Des- einfach haben, aber trotz Schicksalsschlä-
ohne besondere Schwere der Schuld ver- halb habe ich dem Anstaltsarzt einen gen normal leben. Und hin und wieder
urteilt worden war, wäre ich normaler- Brief geschrieben und mich ein zweites gibt es Menschen, wie ich einer bin.
weise nach 15 Jahren entlassen worden, Mal fürs Methadonprogramm beworben. Ich halte mich nicht für böse und ge-
also im Juni 2008. Aber daran war nicht Methadon als Ersatzdroge nimmt dir fährlich, trotz allem, was ich gemacht
zu denken. den Druck, weil man nicht mehr hinter habe. Gefährlich bin ich nur, wenn Situa-
Im Mai 2010 zog ich in die Abteilung den Drogen herjagen muss und man sich tionen auf mich zukommen, mit denen
G4 um. Ich sollte da ein Jahr Therapie- nicht mehr in der Illegalität bewegt. ich nicht umgehen kann.
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JUGENDHILFE

Anwalt beider
Seiten
In Brandenburger Heimen sollen
Jugendliche misshandelt worden
sein. Der Leiter der Beschwerde-
stelle vertrat jedoch zugleich
die Interessen der Betreiber.

C
hristian Bernzen ist eine Stütze
der Gesellschaft. Der 50-jährige
Rechtsanwalt gilt als einer der
RAINER WEISFLOG / DER SPIEGEL

führenden Experten für Jugendhilferecht


in der Bundesrepublik, hat eine Profes-
sur für rechtliche Grundlagen der sozia-
len Arbeit inne, ist Schatzmeister der
SPD-Landesorganisation Hamburg und
Mitglied im vornehm-hanseatischen
Übersee-Club. Auch in der Weizsäcker-
Kommission zur Zukunft der Bundes- Haasenburg-Heim in Neuendorf: Knochenbrüche durch Gegenwehr?
wehr, im Zentralkomitee der deutschen
Katholiken und anderen ehrenamtlichen Anwalt des Betreibers ist, sondern auch mitbestimmt. Da ist es aus seiner Sicht
Gremien war oder ist Bernzen aktiv. Beistand der Jugendlichen sein sollte. logisch, dass seine Kanzlei „Bernzen
Doch einer seiner vielen Posten könnte Bis vor einem halben Jahr war er näm- Sonntag“ die Haasenburg in vielerlei
nun seinem Ruf nachhaltig schaden. Ak- lich Vorsitzender einer Kontrollkommis- Hinsicht vertritt – nicht nur vor Gericht.
ten legen den Verdacht nahe, dass der sion, die Beschwerden der jugendlichen Auch als Berater ist sie dem Unter-
Spitzenjurist nicht immer sauber unter- Heimbewohner prüfen und sicherstellen nehmen verbunden. Bernzen Sonntag
schieden hat – zwischen dem, was man soll, dass ihnen in den Häusern der Haa- handelte für die Haasenburg sogar aus,
vielleicht gerade noch darf, und dem, was senburg kein Unrecht geschieht. welche Tagessätze die Jugendämter der
man besser lässt. Dass sie in den Heimen anständig be- Firma zahlen müssen. Zwischen 300 und
Die Papiere dokumentieren Bernzens handelt wurden, bezweifeln mittlerweile 500 Euro pro Tag und Bewohner hat
fragwürdige Rolle in einem Fall, der seit nicht nur ehemalige Zöglinge. Die Staats- Bernzens Kanzlei für die Haasenburg
Wochen Schlagzeilen macht: Ehemalige anwaltschaft Cottbus ermittelt wegen des herausgeholt. Allein die Stadt Hamburg,
Insassen von Erziehungsheimen der Verdachts der gefährlichen Körperverlet- aus der viele Problemkinder kommen,
Haasenburg GmbH, die in Brandenburg zung und der Misshandlung von Schutz- überwies von 2008 bis Mai 2012 mehr als
drei Heime betreibt, haben in der „taz“ befohlenen. Am vergangenen Donners- vier Millionen Euro an den Heimbe-
schwere Vorwürfe erhoben: Zwecks Dis- tag durchsuchten Polizisten die Heime treiber.
ziplinierung hätten sie stundenlang auf des Unternehmens in Müncheberg, Jes- Der durchschnittliche Tagessatz lag
Liegen festgeschnallt verharren müssen. sern und Neuendorf. 2012 bei 373,54 Euro. Andere intensiv-
Andere berichten von körperlichen Über- Martina Münch (SPD), die branden- pädagogische Einrichtungen berechnen
griffen des Personals. Drei weibliche In- burgische Jugendministerin, setzte eine zwischen 250 und 320 Euro – so der Ham-
sassen hätten dabei Knochenbrüche er- „Untersuchungskommission zur Untersu- burger Senat in seiner Antwort auf eine
litten. In internen Protokollen der Betrei- chung der Vorfälle in den Einrichtungen Kleine Anfrage des FDP-Bürgerschafts-
ber heißt es, die Mädchen hätten sich die der Haasenburg GmbH“ ein: „Es geht um abgeordneten Finn-Ole Ritter.
Frakturen durch Gegenwehr bei soge- Vorwürfe massiver Menschenrechtsver- Bernzen räumt ein, dass das Haasen-
nannten Begrenzungsmaßnahmen selbst letzung.“ Die Kommission soll sich auch burg-Mandat zu den größeren seiner
zugefügt. mit zwei Todesfällen beschäftigen, die Kanzlei zählt. Auch sein Bruder Hinrich
Auch Bernzen, Anwalt der Haasenburg Staatsanwälte vor Jahren als unverdächtig verdient Geld mit dem Betreiber. Er
GmbH, weist die Vorwürfe zurück: „Kör- eingestuft hatten. macht PR und Pressearbeit für das Un-
perliche Begrenzung kann und darf nie- Bernzen hält die Anschuldigungen für ternehmen. Kann ein Mann, der mit ei-
mals eine erzieherische Maßnahme sein. „derzeit nicht plausibel“, sieht sie „als nem Heimbetreiber so eng verbandelt ist
Sie ist ein letztes Mittel zur Gefahrenab- Munition in einem ideologisch gefärbten und von ihm profitiert, gleichzeitig eh-
wehr, um eine Eigen- oder Fremdgefähr- Streit“ zwischen jenen, die im Rahmen renamtlicher Vorsitzender einer angeb-
dung der Bewohner zu vermeiden.“ der Hilfe zur Erziehung „jede Form von lich unabhängigen Kontrollkommission
Schöne Worte, doch schwer zu glau- Freiheitsentzug“ ablehnten, und jenen, sein, bei der sich Insassen über Missstän-
ben – nicht nur, weil „körperliche Begren- die darin ein „Mittel zur Ermöglichung de im Heim beschweren?
zung“ verharmlost, was Jugendlichen von Erziehung“ für schwer gestörte oder Nach landläufigen Maßstäben nicht –
dabei angetan wird: massive Gewalt, traumatisierte Jugendliche sähen. zumal die Kommission in Absprache mit
beispielsweise wenn vier erwachsene Bernzens Stimme hat Gewicht im Ju- dem Betreiber eingerichtet worden war.
Männer einen Widerspenstigen zu Boden gendhilferecht. Seine Veröffentlichungen Bernzen rechtfertigt sich, er habe „diese
drücken und festhalten. Noch problema- haben die Diskussion zum Thema frei- ehrenamtliche Tätigkeit stets von“ seiner
tischer aber ist, dass Bernzen nicht nur heitsbegrenzende Heimunterbringung „anwaltlichen Sachbearbeitung getrennt
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 41
Deutschland

TERRORISMUS

Die Überlebende
Der Nationalsozialistische Untergrund hatte noch weitere Opfer
ausspioniert. Eine türkische Bäckerin aus Stuttgart
erfuhr erst vor einem Jahr von den Plänen – und ist traumatisiert.

MARCO-URBAN.DE
H
anife Ceylan hat nie daran gezwei- „Gutes Objekt und geeigneter Inhaber“,
felt, dass Stuttgart ihre Heimat ist. steht etwa neben der Adresse eines Ge-
Jurist Bernzen: Zahlreiche Ehrenämter Die Tochter türkischer Gastarbei- schäfts in Dortmund. Zur Anschrift eines
ter zog mit 15 Jahren in die deutsche Au- türkischen Imbisses wurde notiert: „Gu-
ausgeübt“. Die „Geschäftsstelle der tomobilstadt. Hier fand sie die Liebe ihres ter Weg von dort weg!“ Und an anderer
Kontrollkommission“ sei, wie er einer Lebens, schloss einen Bausparvertrag ab, Stelle: „Guter Sichtschutz. Person gut,
Richterin am Oberlandesgericht Ham- schickte ihre drei Kinder in einen deut- aber alt (über 60).“
burg erklärte, „an die Katholische Hoch- schen Kindergarten und später an die Uni- Auf einer CD, die Fahnder aus den ver-
schule für Sozialwesen in Berlin ange- versität. Ihr Schwäbisch ist besser als ihr kohlten Überresten bargen, sind Fotos
gliedert“. Türkisch. gespeichert. Sieben davon konnten die
Das ist nicht nur eine eigenwillige Ar- Doch nach 33 Jahren in Deutschland Beamten Straßen in Stuttgart zuordnen,
gumentation, sondern im Fall des ehe- überlegt Hanife Ceylan, die in Wirklich- sie entstanden offenbar im Juni 2003, als
maligen Heimkinds Michel W. auch nach- keit anders heißt, ihren deutschen Pass der NSU bereits vier Morde begangen
weislich falsch. Der heute 16-Jährige war wieder abzugeben. hatte.
im Mai 2011 per Gerichtsbeschluss zur „Das Papier kannsch de Hase füttern“, Die Bilder zeigen türkische und italie-
„geschlossenen Unterbringung“ in ein sagt sie. Sie steht in einer Kittelschürze nische Lebensmittelgeschäfte, Restau-
Haasenburg-Heim eingewiesen worden. hinter dem Tresen ihrer Bäckerei in der rants, belebte Straßenabschnitte, Haus-
Ein Jahr später schrieb der Junge einen Stuttgarter Innenstadt, belegt Brötchen eingänge. Auf mehreren der Bilder po-
Brief an den Vorsitzenden der Kontroll- mit Schnitzeln, sortiert Rosinenschnecken siert „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“,
kommission, Prof. Dr. Christian Bernzen. in die Regale und sagt: „Für die war ich so heißt es in den Akten, Uwe Böhnhardt.
Darin beklagte er sich – unter anderem – nie eine richtige Deutsche.“ Er lehnt lässig an einem Mountainbike,
über eine Erziehungsmaßnahme, die er einen dunklen Rucksack auf dem Rücken,
einer Anwältin so schilderte: eine Baseballkappe auf dem Kopf, die
„Ich saß hinter meinem Bett und habe In ihrem zweiten Leben Sonne scheint. Ein Terrorist auf Städte-
geweint. Da kamen zwei Erzieher und gibt es schlaflose Nächte tour. Im Hintergrund ist das Geschäft von
wollten mich hochziehen, und dann habe Hanife Ceylan zu sehen.
ich die Hand weggezogen, weil ich nicht und viele Fragen: Warum Die Ermittler nehmen die NSU-Noti-
wollte, dass sie mich anfassen, und dann zen ernst. So ernst, dass sie im Sommer
haben die mir den Arm umgedreht, den ich? Warum ich nicht? 2012 Hanife Ceylan und ihren Mann ins
Alarmknopf gedrückt, und dann kamen Polizeipräsidium Stuttgart vorladen. Es
die anderen und haben mich am Boden Mit „die“ meint Ceylan die Mitglieder ist der Tag, an dem das Leben von Hanife
festgehalten. 15 bis 20 Minuten lang.“ des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ Ceylan in Deutschland in ein Davor und
Am 30. Mai 2012 teilte Kontrollkom- (NSU): Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und ein Danach zerbricht.
missionschef Bernzen dem Jungen mit, Uwe Böhnhardt. Die beiden Männer er- Das Davor beginnt im Sommer 1980.
eine Kollegin werde sich der Sache an- mordeten am helllichten Tag neun Men- Ceylan folgt als junge Frau ihrer Mutter
nehmen. Der Brief kam nicht von der schen, nur weil sie ausländische Namen aus einem türkischen Dorf nach Deutsch-
Katholischen Hochschule, sondern auf trugen. Hanife Ceylan weiß, dass auch ihr land. Ihre Eltern gehören zur ersten Ge-
Papier der Kanzlei Bernzen Sonntag. Name heute auf dem Gedenkstein in neration von Gastarbeitern. Sie sind
Ein halbes Jahr später schreibt der Nürnberg stehen könnte, der an die NSU- dankbar für ein Deutschland, das ihnen
Vorsitzende der Kontrollkommission, Opfer erinnert. Sie denkt oft darüber Arbeit gibt und ein neues Leben, das bes-
diesmal in seiner Rolle als Haasenburg- nach, warum sie davonkam – und andere ser ist als zu Hause. Hanife Ceylan wächst
Anwalt, an das Brandenburgische Ober- nicht. Sie sucht nach einer Erklärung. mit dieser Dankbarkeit den Deutschen
landesgericht. Betreff: die „Familiensache „Wenn der liebe Gott nicht will, dass die gegenüber auf.
des minderjährigen Michel W.“. Bernzen dich töten, dann können die versuchen, Sie putzt Toiletten, wischt Büroräume.
gibt an, dass er „als ausschließlicher Sach- was sie wollen“, sagt sie. Sie arbeitet in einer Metallfabrik am
bearbeiter“ seiner Kanzlei „die Haasen- Im November 2011 zündete Beate Fließband und in einer Konditorei. Sie
burg GmbH“ in diesem Fall vertrete. Zschäpe das Haus an, in dem sich die verdient ihr eigenes Geld. Sie heiratet,
Mit den Dokumenten konfrontiert, Gruppe versteckt hatte. In den Trüm- ihr Mann stammt aus der Türkei.
räumt Bernzen ein: „Rückblickend ist es mern der abgebrannten Wohnung in „Deutschland war gut zu uns“, sagt Cey-
sicher ein Fehler gewesen, den Vorsitz Zwickau fanden Polizisten Fotos, Stadt- lan.
der Kontrollkommission zu übernehmen, pläne und Adresslisten mit Namen und 1993 eröffnen die Ceylans einen Gemü-
aber es war schwer, geeignete Leute zu Geschäften, die Menschen ausländischer seladen in der Stuttgarter Innenstadt. Ihre
finden.“ Herkunft gehörten. Die Notizen zeigen, Mitarbeiter sind Italiener, Russen und
Michels Beschwerden wurden von der wie das Trio Dutzende Orte und Perso- Griechen. Blonde Kassiererinnen stehen
Kontrollkommission als unbegründet zu- nen ausgespäht hatte – als mögliche An- hinter der Theke. Die deutschen Nachbarn
rückgewiesen. GUNTHER LATSCH schlagsziele. kaufen gern bei den Ceylans ein. Ihr Mann
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verkauft Schweinefleisch, trinkt Schnäpse Wäre sie dessen erstes weibliches Opfer der Bäckerei anbrachte, weil Geschäfte
mit seinen Kunden. „Richtig kultimulti geworden? Hanife Ceylan glaubt, dass von Türken ja potentielle Anschlagsziele
war das“, sagt Ceylan über jene Zeit. die gutbesuchte Fußgängerzone oder die seien.
Der Gemüseladen wird ein Treffpunkt Straßenbahn sie vielleicht vor den An- Heute nimmt Hanife Ceylan Antide-
im Kiez. Bei Hanife Ceylan lassen die Leu- griffen bewahrt hat. pressiva, schläft maximal vier Stunden,
te anschreiben, sie gibt dem Obdachlosen Ihren deutschen Freunden hat Ceylan ab dem Morgengrauen wandert sie ruhe-
in der Straße Leberkäsbrote, sie rundet nichts erzählt. Sie will kein Mitleid. los durch die Wohnung. „Meine Mutter
für Stammkunden die Preise ab. Ihre Kin- Doch zu Hause reden sie über kaum braucht eine Therapie“, sagt ihr ältester
der wachsen im Geschäft auf, machen ihre etwas anderes. Die Familie glaubt, sich Sohn. Keiner habe nach dem Gespräch
Hausaufgaben zwischen den Tomatenkis- an den Tag zu erinnern, von dem die bei der Polizei Hilfe angeboten. „Wir
ten. Hanife Ceylan ist jetzt Chefin, sie Beamten sprachen. Es war in jenem brauchen ja kein Sondereinsatzkomman-
schafft Arbeitsplätze, zahlt Steuern. Sie Sommer, in dem Ceylans Tochter Abitur do, aber etwas Beruhigung für meine Mut-
hat das Gefühl, diesem Land etwas zu- machte, als ein Mann auf dem Rad an ter.“ Er überlegt, ob die Familie einen
rückgeben zu können. Hanife Ceylan reist ihrem Laden vorbeifuhr, Bilder schoss neuen Namen annehmen sollte.
mit ihrer Familie um die Welt, bei den und behauptete, es sei für die Lokal- Hanife Ceylan träumte früher von ei-
Grenzkontrollen ist sie stolz, wenn sie zeitung. nem freistehenden Haus für ihre Familie.
ihren deutschen Pass vorzei- „Heute würde ich nur noch
gen kann. in einem Haus leben, wo
Als der Gemüseladen viele Deutsche wohnen“,
nicht mehr läuft, schließt sie sagt sie. Sie spürt eine Bit-
ihn und eröffnet eine Bäcke- terkeit, die sie vorher nie ge-
rei. Sie spielt nie mit dem kannt hat: Wenn Menschen
Gedanken, Deutschland zu in eine TV-Kamera sagen,
verlassen. das sei doch alles nicht so
Bis zu jenem Tag, an dem schlimm gewesen mit „die-
dieser Brief in ihrem Post- sen Döner-Morden“. Wenn
kasten liegt, im Sommer die deutsche Justiz türki-
2012. schen Journalisten keinen
Die Polizei will sie und Platz im Verhandlungssaal
ihren Mann befragen. Das des NSU-Prozesses reser-
Gespräch dauert knapp 30 viert. Die Ceylans glauben
Minuten. Sie erinnert sich nicht, dass das Verfahren
nur noch an Satzfetzen. Sie Gerechtigkeit bringen wird.
soll Fragen beantworten, Mi- „Die haben auch meine
nuten nachdem sie erfahren Welt zerstört“, sagt Hanife
hat, dass die Mörder sie im Ceylan über den NSU.
Visier hatten. Dass ihr Ge- Die Politiker müssten
schäft vom NSU ausgespäht doch etwas tun. Warum küm-
worden war, wie jene der an- mert sich nicht die Kanz-
deren Ladenbesitzer, die Op- lerin persönlich um diese
fer der Mordserie wurden. rechtsradikalen Gruppen?
Niemand kann bislang Denn da draußen, da ist
sagen, wie konkret die Plä- sich Hanife Ceylan sicher,
ne des Trios wirklich waren. gibt es noch andere, Freun-
Wie häufig sie sich an ihren de, Nachahmer, Unterstüt-
rassistischen Phantasien er- zer von Mundlos, Böhn-
götzen wollten, ohne eine hardt, Zschäpe, die vollen-
Tat vorzubereiten. den wollen, was die Terro-
Die Polizisten fragen: risten begonnen haben. Des-
Konnte man Sie von drau- halb besteht das Leben der
ßen gut beobachten? Haben Ceylans seit diesem Tag bei
ARNE DEDERT / DPA

Sie einen Mann auf einem der Polizei aus Vorsicht und
Fahrrad bemerkt, der Ihren Verboten, deshalb soll nie-
Laden fotografierte? Sie mand ihren Namen wissen.
schüttelt den Kopf. In diesen „Du darfst Sonntag nicht
Minuten bei der Polizei lö- Gedenktafel für Opfer des NSU in Wiesbaden: „Auch meine Welt zerstört“ allein in den Laden, du hast
sen sich in ihr 32 Jahre Ge- schwarze Haare“, sagt die
wissheit über ihre deutsche Heimat auf. Ihr Mann erinnert sich an einen ande- Mutter zu ihrem Sohn, der helfen will.
Nach dem Gespräch schicken die Beamten ren Tag, als ein Fremder im Hinterhof Auch zur Frühschicht lässt sie niemanden
die Ceylans nach Hause. Sie sollen ihre stand, der zwar eine Kiste Bier bestellte, allein aufschließen. Im Winter ist der La-
Kinder fragen, ob die etwas bemerkt hät- aber dann einfach verschwand. Und da den von innen abgeriegelt, bis es hell
ten, damals, vor neun Jahren. war dieser Passat, mit einem Kennzei- wird. Aber Hanife Ceylan ist überzeugt:
Im zweiten Teil von Hanife Ceylans chen aus einer ostdeutschen Stadt, der Selbst wenn die Polizei immer auf der
Leben in Deutschland gibt es schlaflose lange vor dem Laden parkte. Straßenseite gegenüber stünde, könnte
Nächte und viele Tränen. Sie fragt sich: Am Küchentisch der Ceylans hat die niemand sie schützen. Auch der Adler
Warum ich? Warum ich nicht? Wenn sie Angst inzwischen einen festen Platz, sie auf ihrem deutschen Pass wäre nichts
die Augen schließt, sieht sie ihren Namen gehört zu ihrem Alltag. Wie vergangenes wert. „Wenn der liebe Gott will, dass die
in einer Reihe stehen mit denen der Er- Jahr, als ihre Vermieterin, die nichts von uns töten, dann kann uns niemand ret-
mordeten des NSU. der Ausspähung ahnt, Rauchmelder in ten.“ ÖZLEM GEZER, SIMONE KAISER

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 43
Deutschland

SICHERHEIT

Dosenbrot und Kurbellampe


Das Misstrauen gegenüber der Energiewende wächst.
Katastrophenschützer, Unternehmen und besorgte Bürger trainieren
bereits für den Ernstfall: das Überleben ohne Strom.

G
erhard Spannbauer ist ein Mann, An manchen Tagen drängen auch gi-
der mit dem Schlimmsten rechnet, gantische Windstrommengen von der
schon aus geschäftlichen Gründen. norddeutschen Küste in die Netze – doch
In seinem Ladenlokal in Gauting bei Mün- wohin damit? Die größten Stromabneh-
chen und übers Internet verkauft er Rog- mer sitzen nicht im Norden, sondern eher
genbrot in Dosen, haltbar bis 2015, Hart- im Westen und Süden der Republik, und
kekse aus Sojaprotein, haltbar bis 2028, es mangelt an Starkstromleitungen, die
Notfalltoiletten mit Zubehör. Auch die in die Regionen verbinden.
Tarnfarben lackierte Armbrust Barnett Das System ist nah an der Belastungs-
Quad 400, Schussweite 70 Meter, hat grenze. Bereits im März habe es eine Rei-
Spannbauer im Angebot, denn nach dem he „schwer beherrschbarer Situationen“
Tag X müsse man sich auf Plünderer ge- gegeben, so die Bundesnetzagentur in ih-
fasst machen. Die Armbrust sei eine „ef- rem „Kurzbericht zur Systemsicherheit“.
fektive Waffe, um Störenfriede auf Ab- In einigen Regionen gebe es „großen An-
stand zu halten“, heißt es in seinem Ver- lass zur Sorge“, insbesondere in Süd-
kaufskatalog. deutschland. Der Ausbau der erneuer-
Spannbauer handelt mit Produkten, baren Energien wird zum Stresstest
die in einer Welt ohne funktionierende für die überkommene Netzinfrastruktur
Stromversorgung das Überleben sichern und für das Nervenkostüm verängstigter
sollen, und seine Geschäfte gehen gut. Bürger.
Täglich fährt ein Laster auf dem Hof des Jochen Homann, Chef der Netzagentur,
Survival-Shops vor, um Pakete mit Petro- sagt zwar, er rechne nicht mit einem
leumkochern und kurbelbetriebenen Ta- Blackout, schon gar nicht mit einem, der
schenlampen abzuholen. „Die Nachfrage Tage oder gar Wochen anhält. Dennoch
ist groß“, sagt Spannbauer, der deutschen legte er seinen Mitarbeitern nahe, sich
Energiewende sei Dank. stärker als bislang mit den möglichen Fol-
Seit die Bundesregierung begonnen gen zu beschäftigen. Die Notstromversor-
hat, Atomkraftwerke durch Solardächer gung der Behördenzentrale wurde auf sei-
und Windräder zu ersetzen, geistert eine ne Order hin überprüft und ausgebaut.
Schreckensvision durchs Land: Was, Homann hat ein Buch gelesen, das ihn
wenn der Strom ausfällt? Behörden ar- beeindruckt hat: „Blackout“ von Marc
beiten Einsatzpläne für einen Blackout Elsberg. Hinter dem Pseudonym steckt
aus. Polizei und Feuerwehr üben für den Marcus Rafelsberger, ein Österreicher, der
Ernstfall. Unternehmen investieren Mil- mäßig erfolgreiche Kriminalromane ver-
lionen in Notstromaggregate. öffentlichte, bevor ihm die Idee kam, das
Glücklich, wer über einen geräumigen Thema Stromausfall in einem 800-Seiten- Stromausfall in New York 2012, Survival-Experte
Keller verfügt. Das dem Innenministe- Endzeitthriller zu verarbeiten. In seiner
rium unterstellte Bundesamt für Bevöl- Version versinkt binnen weniger Tage die natürlich sehr genutzt“, sagt Rafelsberger,
kerungsschutz und Katastrophenhilfe rät halbe Welt in Chaos und Aufruhr, weil ein eher besonnen wirkender 46-Jähriger,
jedem Bürger, sich einen „14-tägigen sich Computer-Hacker über das labile der nach eigener Aussage persönlich we-
Grundvorrat“ an Lebensmitteln anzule- Stromsystem hermachen. Das Buch ist der über einen Vorrat an Hartkeksen
gen, die ohne Tiefkühltruhe haltbar sind, ein Bestseller. Die deutsche Auflage liegt noch über eine Armbrust verfügt.
darunter 4,6 Kilogramm Getreide und bereits bei über 130 000 Exemplaren. Die Blaupause für sein Buch stammt
Kartoffeln, 5,6 Kilogramm Gemüse und Fachleute bescheinigen Rafelsberger aus offizieller Quelle. Bereits 2011 legte
Hülsenfrüchte sowie 24 Liter Getränke. alias Elsberg, bei allen dramaturgischen das Büro für Technikfolgen-Abschätzung
Tatsächlich ist das Risiko eines Strom- Übertreibungen, gründlich recherchiert zu beim Deutschen Bundestag eine Studie
ausfalls im Zuge der Energiewende ge- haben. „Die Auswirkungen eines Black- zum möglichen Verlauf eines Stromaus-
stiegen, zumal jetzt im Sommer, wenn outs werden hier gut dargestellt“, lobt falls in Deutschland vor. Der Bericht
aus heiterem Himmel viel Solarstrom in Netzagenturchef Homann. Das Bundes- selbst liest sich wie ein Thriller: „Die
die Leitungen schießt. Um die Spannung amt für Bevölkerungsschutz und Kata- Wahrscheinlichkeit eines lang andauern-
konstant zu halten, müssen die konven- strophenhilfe lud den Romanautor zu ei- den Stromausfalls mag gering sein“, heißt
tionellen Kraftwerke dann ganz schnell ner Podiumsdiskussion ein, ebenso ein es da. „Träte dieser Fall aber ein, kämen
heruntergefahren werden – bis das nächs- vom Innenministerium unterstützter Zu- die dadurch ausgelösten Folgen einer na-
te Tiefdruckgebiet heraufzieht. Dann kunftskongress und mehrere Stromver- tionalen Katastrophe gleich.“
wird der Strom aus anderen Kraftwerken sorger. „Die Diskussion um die Energie- Das Szenario für den Bundestag sieht
plötzlich wieder dringend gebraucht. wende hat dem Verkauf meines Buchs so aus: In den ersten Stunden ohne Strom
44 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Dabei fanden Wissenschaftler der Berliner
Hochschule für Wirtschaft und Recht zu-
sammen mit Polizei und Feuerwehr heraus,
dass tatsächlich nur wenige Tankstellen in
der Lage wären, bei einem Stromausfall
weiter Benzin und Diesel zu liefern.
Zu ähnlich beunruhigenden Resultaten
kam vor einigen Monaten ein Workshop
„Operative Vorbereitung auf Stromausfäl-
le“ des Fraunhofer-Instituts für Ange-
wandte Informationstechnik. Die Krisen-
pläne sollten überdacht werden. Schon
die Verständigung der Rettungseinheiten
sei mitunter ein Problem. Sollten größere
Regionen betroffen sein, „stellen sich un-
mittelbar Fragen nach öffentlicher Ord-
nung und Erhalt der gesellschaftlichen
und industriellen Rahmenbedingungen“,
hieß es in einer Erklärung.
Kein Wunder, dass sensible Naturen
nervös werden. In Internetforen und bei
sogenannten Krisenstammtischen tau-
schen sich Menschen aus, die gerüstet
sein wollen. Sie nennen sich „Prepper“,

WOLFGANG MARIA WEBER / DER SPIEGEL


in Anlehnung an das englische Verb „pre-
pare“, „vorbereiten“. Wie viele Prepper
es gibt, lässt sich nicht beziffern, denn sie
geben sich nicht gern zu erkennen. Von
Teilen der Öffentlichkeit werde man lei-
der nicht immer für voll genommen, klagt
ein Forumsteilnehmer.
Den letzten Massenzulauf hatte die
Prepper-Bewegung in Vorbereitung auf
den Weltuntergang, den der Maya-Kalen-
der für Dezember vergangenen Jahres
vorsah. Nachdem der ausblieb, gilt nun
der Stromversorgung größte Besorgnis.
Die Szene teilt sich in zwei Lager: Die
„Camper“ wollen sich im Ernstfall in
einem Versteck einigeln und Vorräte
FRANK MAY / PICTURE-ALLIANCE / DPA

bereithalten. Die „Bushcrafter“ hingegen


stellen sich auf ein Leben in der Wildnis
IWAN BAAN / GETTY IMAGES

ein. Sie lernen Angeln und Jagen und be-


schäftigen sich mit Pflanzenkunde, um
essbare Wildkräuter erkennen zu können.
Für Oktober ist ein Deutschland-Tref-
fen geplant. Es geht um Fragen von gro-
ßer Tragweite: Braucht man eine Waffe
Spannbauer, Thrillerautor Rafelsberger: Glücklich, wer über einen geräumigen Keller verfügt und, wenn ja, welche? Lohnt sich ein So-
larkocher? Wie hält man sich körperlich
kommt es wegen der Ampelausfälle zu ken werden können. Lebensmittel wer- für den Ernstfall fit, und wo bleiben Le-
zahlreichen Verkehrsunfällen. Die Mobil- den knapp. Nur wenige Kühllager könn- bensmittel länger frisch? Prepper aus
funknetze sind teilweise überlastet. Die ten die Notstromversorgung länger als 48 Norddeutschland fuhren bereits vergan-
Kühlung in Supermärkten fällt aus, Auf- Stunden aufrechterhalten, heißt es in dem genes Jahr für einige Tage ins Grüne, um
züge bleiben stecken. In Wasserwerken Bericht. Bundeswehr-Kekse zu essen und sich dar-
und Krankenhäusern stellen mit Diesel Ab dem dritten Tag zerfällt die öffent- in zu üben, ein Lagerfeuer ohne Hilfsmit-
betriebene Stromaggregate eine Notver- liche Ordnung. Fernseher und Radio blei- tel zu entzünden.
sorgung sicher – für etwa 24 Stunden. ben stumm, sofern sie nicht mit Batterie Auch Spannbauer, der Händler von
Am zweiten Tag müssten die Genera- betrieben werden. Telefon und Internet Survival-Produkten aus Gauting, ist vor-
toren mit Diesel befüllt werden, doch der funktionieren nicht. bereitet. Er hat Vorräte gebunkert. Am
Nachschub stockt. Die elektrisch betrie- Dem Leser von Rafelsbergers Endzeit- Tag X wird er seine Frau und die beiden
benen Zapfsäulen an den Tankstellen ge- thriller läuft an dieser Stelle ein wohliger Kinder ins Auto setzen und sein Versteck
ben nichts her. Liegengebliebene Autos Gruselschauer über den Rücken. Gerüchte ansteuern. Wo es liegt, soll niemand wis-
und Lastwagen verstopfen die Straßen. verbreiten sich, womöglich sind Atom- sen. Seine Familie wäre sonst in Gefahr.
Weil viele Menschen Kerzen aufstellen, kraftwerke havariert, es herrschen Miss- „Wer nicht vorgesorgt hat, wird schauen,
brechen vermehrt Wohnungsbrände aus. trauen, Panik. Das Bundesforschungsmi- wo es was zu holen gibt“, sagt er. „Und
Schweine, Rinder und Hühner in Massen- nisterium nahm die Bedrohung immerhin dann stehen sie plötzlich alle bei mir vor
tierhaltung erkranken und verenden, so ernst, dass es eine Studie zum Thema der Tür.“ ALEXANDER NEUBACHER,
ebenso Milchkühe, die nicht mehr gemol- Treibstoff-Notversorgung in Auftrag gab. TOBIAS SCHULZE, MICHAEL STÜRZENHOFECKER

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 45
Szene

Was war da los,


Herr Blancaflor?
Ricardo Blancaflor, 59, Direktor der Be-
hörde für geistiges Eigentum auf den Phil-
ippinen, über die Lust an der Zerstörung:
„Wenn man mit einem Panzer über
Sonnenbrillen fährt, hört sich das an,
als würden Gläser der Reihe nach von
einem Tisch fallen. Das haben mir zu-
mindest die Leute gesagt, die auf der
Straße standen. Ich hing seitlich an
dem Fahrzeug, wegen des lauten Mo-
tors habe ich nicht viel gehört. Wir
machen diese Zerstörungszeremonie
einmal pro Jahr. Eine Stunde lang fah-
ren wir mit dem Panzer über gefälsch-
te Sonnenbrillen und Medikamente,
wir werfen nachgemachte Bücher und
CDs in einen Schredder. Taschen und
Kleider zerschneiden wir. Tausende
Filipinos verlieren jedes Jahr ihren Job,
weil der Markt mit gefälschten Pro-

ERIK DE CASTRO / REUTERS


dukten überschwemmt wird. Die Son-
nenbrille, die ich trage, ist in Ordnung.
Ich habe sie in einem vertrauenswür-
digen Geschäft gekauft.“ Blancaflor (l., mit Sonnenbrille)

Wo lauern unsere Feinde, Frau Luckas?


Monique Luckas, 38, arbeitet beim gen werden könnten. Durch die Glo- 2000 Quadratkilometern, in dem die
Leibniz-Zentrum für Agrarlandschafts- balisierung verändert sich auch die neue Art heimisch ist. Sie kann das
forschung in Müncheberg. Das Institut Mückenwelt. Wir haben schon die erste West-Nil-Virus übertragen. Aber
erstellt gemeinsam mit dem Bundes- neuangesiedelte Art entdeckt. bisher tut sie das nicht, keine Sorge.
forschungsinstitut für Tiergesundheit SPIEGEL: Gefährlich? SPIEGEL: Wie kommt die Asiatische
einen „Mückenatlas“ für Deutschland. Luckas: Es ist die Asiatische Busch- Buschmücke nach Köln?
mücke. Im vergangenen Sommer beka- Luckas: Vermutlich über den Gebraucht-
SPIEGEL: Wohin in Deutschland sollte men wir aus dem Köln-Bonner Raum reifenmarkt. Alte Reifen werden impor-
ich im Sommer nicht reisen, wenn ich sieben, acht Exemplare eingeschickt. tiert und hier für den Straßenbau ver-
mich vor Mücken fürchte? Unser Team hat Proben genommen, wendet. Vor dem Transport lagern sie
Luckas: Die Hochwassergebiete sind etwa in den Gießkannen auf Fried- in Asien draußen, bei Regen legen
sehr mückenreich. Aber auch überall höfen. Wir fanden ein Gebiet von Mücken dann darin Eier ab.
sonst muss man mit Stichen rechnen. SPIEGEL: Sie bitten die Bürger, Ihnen
Es ist ein überaus mückenfreundliches tote Mücken zu schicken. Warum?
Jahr. Erst gab es viel Regen, das Was- Luckas: Wir können dadurch etwas ler-
ser stand lange, dann wurde es warm: nen über Population und neue Arten.
Idealbedingungen für die Vermehrung. Am besten fängt man die Mücke mit
SPIEGEL: Sie erfassen die Insekten im einem Marmeladenglas, friert sie über
ganzen Bundesgebiet. Was wollen Sie Nacht ein und packt sie in eine
über die deutsche Mücke lernen? Streichholzschachtel. Bitte nicht tot-
Luckas: Es gibt nicht eine, sondern 49 schlagen, dann können wir sie nicht
Stechmückenarten, die hier bisher be- identifizieren. Auf unserer Website
kannt waren. Die häufigste ist die Cu- gibt es ein Einsendeformular.
lex pipiens, die Gemeine Stechmücke. SPIEGEL: Was hat man davon?
Jahrzehntelang wurden die Mücken Luckas: Wir schicken jedem Einsender
R. NAGEL / WILDLIFE

von der Forschung kaum beachtet, eine E-Mail, in der steht, was das für
aber nun ist eine Inventur wichtig. eine Mücke war. Wo brütet sie, wo ist
Schon um einschätzen zu können, wel- Gemeine Stechmücke sie heimisch? Was kann man tun,
che neuen Krankheitserreger übertra- wenn man sich von ihr belästigt fühlt?
46 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Gesellschaft

Ausgecheckt
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Wie ein Kanadier in Tegel eine Abschiebung verhinderte

F
rançois-Xavier Sarrazin, 38, ein Fo- Er las darauf, dass ein Flüchtling nach um die Ecken, als wäre hier Wunderland.
tograf aus Kanada, beschließt, einen dem Dublin-II-Verfahren in das EU-Land „Berlin“, sagt er. „Berlin, Berlin, Berlin.“
Menschen zu retten. Er sitzt in ei- abgeschoben werden kann, das er auf sei- Das Einzige, was Sarrazin in dieser
nem Internetcafé in Kreuzberg, seine Fin- ner Flucht zuerst betreten hat. Er hatte Stadt je gestört hat, war ein Aufkleber,
ger klopfen auf die Tasten, nun braucht aber auch gehört, dass Manir nicht nach auf dem stand: „Kein Sex mit Sarrazin“.
Sarrazin nur noch ein Flugticket und et- Ungarn will, wo die Bedingungen für ihn Sarrazin findet, jeder Mensch sollte,
was Mut. noch schlechter sind. Sarrazin konnte das wenn er möchte, in diesem Wunderland
Er ruft die Seite von Air Berlin auf, er verstehen. Er fand, dass Deutschland, das leben können. Auch Usman Manir.
wählt den Abflughafen Berlin-Tegel, den Land, das ihn so freundlich aufgenommen Als Sarrazin am 20. Juni in das Flug-
Zielflughafen Budapest. Zwischen beiden hatte, auch diesen Mann empfangen sollte. zeug steigt, sieht er einen Mann in der
liegen 712 Kilometer, 85 Minu- letzten Reihe sitzen. Er sucht
ten Flugzeit. Es ist ein Linien- seinen Blick.
flug – aber auch ein Abschie- Er fragt: „Sind Sie Manir?“
beflug, der von Usman Manir, „Yes“, sagt Usman Manir.
einem Mann aus Pakistan. Sarrazin geht zu seinem
Der Flug hat die Nummer Platz. Er reißt ein Blatt Papier
AB 8636. Sarrazin bucht ein aus seinem Notizbuch und
einfaches Ticket. Er hat be- schreibt mit Kugelschreiber
schlossen, dass es an der Zeit eine Botschaft darauf. Das Flug-
sei, Deutschland, seinem Ein- zeug rollt los. Sarrazin steht
wanderungsland, ein Zeichen auf. Er bleibt im Gang stehen.
zu geben. Er weigert sich, der zwei-

CARSTEN KOALL/ DER SPIEGEL


Um 7.30 Uhr am nächsten fachen Aufforderung eines Ste-
Morgen geht Sarrazin, ein wards, er möge sich hinsetzen,
Mann mit Bartschatten und Folge zu leisten. Er zeigt sein
breiten Schultern, durch die Papier, darauf steht: „For hu-
Sicherheitskontrolle am Flug- manitarian reasons I refuse to
hafen Tegel. Es dauert nicht lan- let this airplane depart without
ge; Sarrazin hat kein Gepäck Sarrazin vor Flüchtlingscamp in Berlin-Kreuzberg Usman Manir being taken off.“
dabei. Er setzt sich auf einen Aus humanitären Gründen
Plastikstuhl und wartet auf den würde er dieses Flugzeug nicht
Aufruf zum Boarding, der Ab- starten lassen. Zumindest nicht
flug soll um 8.35 Uhr sein. mit Manir an Bord.
Draußen fährt ein Polizeiwa- Die Passagiere schauen ihn
gen vor. Sarrazin weiß, wer an. Er erklärt, dass er kein Ter-
zwischen den Polizisten sitzt: rorist sei. Dass es um Menschen-
Usman Manir. rechte gehe. Ein Mann sagt:
Sarrazin kontrolliert seine At- Aus der Online-Ausgabe der „taz“ „Halt’s Maul“, die anderen
mung. Er will wie ein Reisender schweigen. Der Pilot hält an.
wirken, ruhig, voller Vorfreude. Die Polizei holt die Männer her-
Ein Urlauber, so soll es sein. aus, Manir geht vor Sarrazin.
Er kennt Manir nicht. Aber er hat von Sarrazin kommt aus Montreal in Que- Der Flug AB 8636 startet an diesem
ihm gehört. Ein Bekannter, Aktivist bei bec, er lebt seit 18 Monaten in Kreuzberg. Morgen mit zehn Minuten Verspätung.
einer Flüchtlingsorganisation, hat ihm Ma- Er hat ein Künstlervisum und verkauft Sarrazin wollte Manir Deutschland zu
nirs Geschichte erzählt. seine Fotos am Maybachufer, Bilder von Füßen legen. Er wollte, dass Manir ein
Sarrazin erfuhr, dass Manir, 27, vor den Felsen, Pferden und Männern. Viel Weit- glücklicher Migrant würde, wie er. Dass
Taliban aus Pakistan geflohen sei. Dass winkel, ein stiller, scheuer Blick. Sarrazin er eines Tages Ja sagen könne, wenn eine
er nach Ungarn kam, wo ihm, bei einem ist Diplomatensohn, er hat in 20 Ländern Stadt sich ihm anböte. Manir brach, als
Überfall im Lager Debrecen, ein Mann gelebt. Sein Bewegungsprofil wäre das ei- er im Polizeibus saß, zusammen.
so lange auf den Kopf trat, bis sein Schä- nes Flummis. In Berlin, sagt er, sei ein Er kam zurück nach Eisenhüttenstadt.
del brach. Er hörte, dass Manir seitdem Knoten geplatzt. Das erste Mal Heimat, Der Termin seiner Abschiebung wurde
auf einem Ohr taub ist und Panikattacken ein 18 Monate währender Rausch. auf den 11. Juli verlegt, sagt sein Anwalt,
hat; dass er weiter nach Deutschland floh Wenn Sarrazin durch diese Stadt läuft, er möchte sie mit Hilfe eines ärztlichen
und im Abschiebegefängnis Eisenhütten- sieht es aus, als bewege er sich auf einem Gutachtens verhindern.
stadt landete, in Brandenburg. glücklichen Trip. Er trägt Turnschuhe Sarrazin läuft weiter durch Kreuzberg,
Als Sarrazin früh am Morgen in den ohne Strümpfe, die Jeans hochgekrem- berauscht von diesem Ort. Manchmal
Terminal kam, gaben Aktivisten ihm ein pelt, er isst Pizza New York Style im „Vil- hat er jetzt Angst, dass er abgeschoben
Flugblatt mit Manirs Geschichte. la di Wow“, er trinkt Club-Mate und biegt wird. KATRIN KUNTZ

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 47
Gesellschaft

REBELLIONEN

Malalas Schwestern
Im vergangenen Herbst wurde eine 15-jährige Bloggerin in Pakistan niedergeschossen,
weil sie das Recht auf Bildung forderte. Nun kämpfen Mädchen weltweit
gegen Gewalt und Unterdrückung – das Porträt einer jungen, globalen Bewegung.

F
ür Diya begann der Aufstand in In- zusammensaß. Sie mochte Salman Khan, will sich nicht verstecken. Diyas Familie
dien an dem Tag, als sie bei der Poli- den Bollywood-Star, sie mochte sein Lä- ist arm, sie sind Dalit, „Unberührbare“,
zei saß, ein verschüchtertes 13-jäh- cheln. Das war im April. tiefer kann man im indischen Kasten-
riges Mädchen, und einen Satz fand für das Jetzt im Mai will Diya lernen, wie man wesen nicht stehen. Der Mann, der Diya
Unsagbare: „Er hat mir Falsches angetan.“ einem Mann die Nase bricht. Sie will ler- die Kindheit nahm, war Alkoholiker,
Sie schwieg nicht, obwohl der Mann ge- nen, wie man einen Mann ohnmächtig ohne Frau, ohne Arbeit. Aber er stammte
sagt hatte: „Wenn du mich verrätst, töte schlägt, ihm die Hoden zertritt und einen aus einer höheren Kaste. Dalit-Mädchen,
ich deinen Bruder.“ Sie sagte aus. Schlüssel ins Auge rammt. Sie will lernen, glaubte er, kann man benutzen. So war
Über jenen Abend, als sie losgelaufen wie man einen Mann tötet. es früher immer gewesen, doch diesmal
war, ein Kind mit Spängchen im Haar, ei- Diya heißt sie seit jenem Abend, als irrte er sich.
nen Blecheimer in der Hand. Ein paar der Mann im Dorf sie packte und in den Früher hätte Diyas Vater sie wahr-
Schritte waren es nur von Diyas Haus Hof eines leerstehenden Hauses zerrte, scheinlich nicht gedrängt, die Wahrheit
zum Wasserhahn des Dorfes, die Eltern als er seinen Mund auf ihren presste, so zu sagen, früher wären sie wahrscheinlich
hatten sie geschickt. Diya wollte schnell dass ihr nicht einmal Luft blieb zum nicht zur Polizei gegangen. Aber es ist
zurück sein. Die Stunden vor dem Schla- Schreien. Es ist ein Name, hinter dem sie viel passiert in den Monaten zuvor, in In-
fengehen waren die schönsten am Tag. sich verstecken soll. Niemand darf die dien, und nicht nur dort.
Diya liebte die Geschichten, die der Fern- Identität einer Geschändeten öffentlich Geschichten gehen um die Welt, die
seher abends erzählte, wenn die Familie machen, so will es das Gesetz. Diya aber von dieser Welt als barbarischem Ort er-
48 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
ursache bei weiblichen Teenagern sind
Komplikationen bei der Geburt.
Gordon Brown, der ehemalige briti-
sche Premierminister, hat dazu eine Stu-
die vorgelegt, seit seinem Abschied aus
dem Amt beschäftigt er sich mit Kinder-
rechten. Er sieht schon so etwas wie eine
Kinderrechtsbewegung: Zum ersten Mal,
schreibt Brown, seien es nicht die Erwach-
senen, sondern die Mädchen selbst, die
sich als Motoren ihrer Bewegung verste-
hen. Mädchen, die sich einmischen in
politische Kämpfe oder die selbst solche
Kämpfe entfachen. Nach den Schüssen
auf Malala formulierte Brown: „Für jede
Malala, auf die geschossen wird, um sie
verstummen zu lassen, gibt es jetzt Tau-
sende Malalas, die man nicht mehr zum
Schweigen bringt.“
Malala wird am Freitag dieser Woche
vor der Uno sprechen. Eine Uno-Petition
für Mädchenbildung geht um die Welt,
„I am Malala“, heißt der Aufruf, er wird
gehört. Eine „Generation Malala“ ist her-
angewachsen, Mädchen und junge Frauen
wie Diya in Indien, Isadora in Brasilien,
Valentini in Südafrika, wie die Kambo-
dschanerin Sina, wie Nahla in Ägypten.
Eine Generation, die es nicht mehr für
selbstverständlich halten will, dass ihre
Weiblichkeit sie in Lebensgefahr bringt –
der Beginn eines Aufstands? Oder gar ei-
ner Revolution?
Indien jedenfalls hat sich radikal ver-
ändert in den vergangenen Monaten.
Nach dem Martyrium jener jungen Frau
namens Jyoti, die von sechs Männern in
einem Bus gefoltert und vergewaltigt wur-
de und später in einem Krankenhaus
starb, brach plötzlich Wut aus über Dinge,
DANIEL BEREHULAK / GETTY IMAGES / DER SPIEGEL

die lange alltäglich waren. Plötzlich


schrieben die Zeitungen ständig über das
Leid von Indiens Töchtern: Vierjährige
vergewaltigt, Fünfjährige vergewaltigt.
Plötzlich drängten die Frauen auf die Stra-
ße, Zehntausende, überall. In Delhi über-
rannten Frauen die Behörden mit Anträ-
gen auf einen Waffenschein. Im Bundes-
Kampfsportgruppe „Rote Brigade“ im indischen Lucknow staat Bihar stürzten sich Frauen auf einen
Mann, rasierten ihm Haare, Augenbrauen
und Schnurrbart ab. Es hieß, er habe sei-
zählen und ausgerechnet von Kindern, Was alltäglich ist, wird übersehen, schrei- ne neunjährige Tochter vergewaltigt. Bis
die sich dagegen wehren. Die Geschichte ben die amerikanischen Autoren Nicholas hin zum Lynchmord ging der Aufruhr: In
von Malala, der 15-jährigen Bloggerin Kristof und Sheryl WuDunn in ihrem einem Slum in Mumbai brachten vier
aus Pakistan, die ihre Lust zu lernen mit Buch „Die Hälfte des Himmels“. „Wir Frauen einen Mann um, den sie als Täter
zwei Kugeln im Kopf bezahlte, überlebte Journalisten sind meistens darauf bedacht, betrachteten, als dieser nackt aus seiner
und weiter zu ihrem Kampf für Mädchen- gut über Ereignisse des Tages zu berichten, Hütte kam.
bildung steht. Die „Wedding Busters“ in übergehen aber Dinge, die jeden Tag pas- So sind indische Frauen zu Rächerin-
Bangladesch, das sind Minderjährige, die sieren – wie die alltägliche Grausamkeit nen geworden, die nicht mehr glauben,
durch die Dörfer ziehen, um Kinder vor gegenüber Frauen und Mädchen.“ dass die Männer im Dienste des Staates
Zwangsehen zu bewahren. Kenianische Frauen verschwinden – 60 bis 100 Mil- sie vor anderen Männern beschützen.
Mädchen, die sich der Genitalverstüm- lionen fehlen, nach Schätzungen von Ent- Diya, die in dieser rohen Zeit groß
melung verweigern, obwohl sie fürchten wicklungspolitikern. Weil sie abgetrieben wird, sitzt auf dem Bett in einem kleinen
müssen, dass ihre Familie daran zer- wurden. Oder weil sie an Vernachlässi- Haus in Lucknow, der Hauptstadt des
bricht. gung gestorben sind. Weil sie die Geni- Bundesstaates Uttar Pradesh, ihre staksi-
Das Erschrecken in den Ländern des talverstümmelung nicht überlebt haben gen Beine hängen von der Kante. Sie
Westens mischt sich mit Irritation. oder die häusliche Gewalt. Oder weil sie schaut die Mädchen an, die in den Raum
So schlimm ist es? im Kindbett sterben, während sie selbst stürmen, sie sind 14, 16, 17 Jahre alt. Sie
So schlimm ist es, immer noch. noch Kinder sind. Die häufigste Todes- nennen sich „Rote Brigade“ und sind eine
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 49
Kampfsportgruppe. Sie tragen lange, rote Roten Brigade auch. Die Gruppe will ihr
Hemden. Rot sei die Farbe für Gefahr Bücher und eine Schuluniform besorgen,
und Kampf, sagen sie. die sie sich sonst nicht leisten könnte. Der
Sie erzählen vom Schulleiter, der ei- Mann, an jenem Abend im April, hatte
nem Mädchen an die Brüste fasst, von versucht, Diya die Zukunft zu nehmen.
der Schulkameradin, die vergewaltigt Die Mädchen versuchen, ihr eine andere
wird und danach nie wieder in die Schule Zukunft zu geben.
kommt. Sie erzählen, wie sie sich wehren.
Zwei Jahre lang hatten die Mädchen Politik mit dem Computer:

JENS GLÜSING / DER SPIEGEL


mit Worten kämpfen geübt, hatten ihrer Rebellion in Brasilien
Anführerin zugehört, einer 25-Jährigen, Für Isadora begann der Aufstand in Bra-
die sie „große Schwester“ nennen. Fragt, silien im vorigen Sommer, als ihre Schwes-
hatte die große Schwester ihnen aufge- ter von einem schottischen Mädchen er-
tragen, fragt eure Eltern: Warum be- zählte, das sein fieses Schulessen fotogra-
kommt mein Bruder mehr Essen als ich? fierte, die Fotos ins Netz stellte und Klicks
Warum kriegt er Milch und ich nicht? Bloggerin Isadora aus aller Welt bekam.
Warum darf er weiter zur Schule gehen Bewunderung und Hass Isadora Faber, 14 Jahre alt, ist Blogge-
und ich nicht? rin und Facebook-Kind, sie bekommt
Seit Januar üben sie Kung-Fu, und milie Diya nächstes Jahr verheiraten, mit Nachrichten mit. Sie weiß von Jyoti in
Diya gehört jetzt dazu. Diyas Vater hatte 14 Jahren, so wie es in Indien oft noch Indien, und natürlich weiß sie auch von
die Anführerin der Roten Brigade ange- üblich ist. Doch seit sich der Mann an Malala. Als sie auf Facebook von den
rufen. Diyas Vater dachte, vielleicht könn- Diya verging, redet niemand mehr über Schüssen erfuhr, schrieb sie in ihren Blog:
ten die Mädchen irgendwie helfen. eine Hochzeit. Es wird schwer sein, einen „Ich habe mir nie vorstellen können, dass
Die Gruppe hält zusammen, über Kas- Mann zu überzeugen, dass er ein geschän- es zu diesem Punkt kommen könnte.“
tenschranken hinweg, das ist ungeheuer- detes Mädchen nimmt. Und dann machte sie weiter.
lich für Indien. Das hilft, das neue Leben Diya muss ein neues Leben finden. Es „Klassentagebuch“ heißt der Blog von
zu ertragen. Das alte Leben passt nicht fängt damit an, dass sie wieder zur Schule Isadora Faber ganz harmlos, „Diário de
mehr zu Diya. Eigentlich wollte die Fa- gehen wird, so wie die anderen von der Classe“, er hat 600 000 Leserinnen und

Die Welt der Frauen ÄGYPTEN KAMBODSCHA

Parlamentssitze 2 18
Anteil der Frauen
in Prozent, 2012 DEUTSCHLAND
99 60
32
Festnetz- und
Mobiltelefon 66 250
Verträge je 100 184
Personen, 2010

7 41 33
Müttersterblichkeit
je 100000 Lebend-
geburten, 2010 43* 59* 12
7
Jugendliche Mütter
Geburten je 1000 Frauen
(15 bis 19 Jahre), 2012
96 97

Schulabschluss
sekundar, Prozent
der über 25-Jährigen,
Frauen Männer 2006 bis 2010
INDIEN
BRASILIEN
11
10 SÜDAFRIKA

41 64
126
109 200
56
300 75
76
50 27* 50*

69 72 * Schätzung
Quellen: Uno, Weltbank

50 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Gesellschaft

Leser, hat ihr Bewunderung und Hass bei zu Unrecht an den Pranger gestellt. Eine für kluge Widerworte gegen die Männer-
Schülern, Eltern und Lehrern eingebracht. Lehrerin erstattete Anzeige wegen Ver- regierung, sie stammt aus einer Township
Und Morddrohungen, auch das. leumdung. Mitschüler bedrohten Isadora. und hat es nach ganz oben geschafft. Va-
Isadora geht in die achte Klasse der Vier Wochen später flogen Steine über lentini hatte ihr Bild aus Zeitschriften ge-
Schule „Maria Tomázia Coelho“ in Flo- die Mauer ihres Elternhauses. Ihre Groß- schnitten, weil diese Politikerin, abgese-
rianópolis im Süden Brasiliens und ist mutter wurde an der Stirn getroffen, die hen von Michelle Obama, ihr wichtigstes
eine Berühmtheit, durch ihren Blog und Wunde musste genäht werden, die Täter Vorbild war. Zwei sternenferne, unwirk-
ihre Wut. entkamen unerkannt. Im Februar schick- liche Idole, denen ein Landarbeiterkind
Ein Mädchen in Jeans, T-Shirt und ro- te ihr jemand unter falschem Namen eine normalerweise nie begegnen würde.
ten Turnschuhen, das mit den Eltern und Morddrohung via Facebook: „Halte die Und da stand dieses Vorbild plötzlich
der Großmutter und seinem Pudel in ei- Augen schön geöffnet, wenn du aus dem im Zimmer, es war zu einer Hochzeitsfei-
nem Flachbau in einem Mittelschichts- Haus gehst“. Sie erstattete Anzeige, die er in dieses Hotel gekommen, und fragte
viertel von Florianópolis lebt. Und einen Polizei ermittelt. Valentini aus: Wie alt bist du? Welche
Laptop und ein Handy besitzt, das sind Sie hat eine große Sache in Gang ge- Sorgen hast du? Welche Wünsche?
die Mittel, mit denen es Lehrer und Bil- bracht, viel zu groß eigentlich für ihr Al- Valentini ist 17 Jahre alt, ein Mädchen
dungspolitiker quält. ter. Ein Kind der digitalen Moderne, das in braun-gelber Schuluniform, das eben
Brasilien, ein „Schwellenland“, wie es die Macht der Medien nutzt für eine Re- erhitzt vom Unterricht heimkommt, mit
heißt. Eine aufstrebende Wirtschafts- bellion, wie es sie früher nicht gab. einem Bus aus der nächsten Kleinstadt.
macht, wo die Dinge scheinbar Es ist schön, wo Valentini lebt,
in Ordnung waren, aber in Wirk- eine Apfelplantage im größten
lichkeit sind sie es nicht. Isadora Obstanbaugebiet Südafrikas,
ist ein global sozialisiertes Kind, das Äpfel für den Export produ-
das die Band Nirvana liebt und ziert, „Pink Lady“ für Europa.
„CSI: Miami“ guckt. Sie blickt Das Landgut Montieth gehört
hinaus in die Welt und ver- einem wohlhabenden weißen
gleicht, und was sie zu Hause Farmer, ihre Eltern arbeiten für
sieht, gefällt ihr nicht. Es gefällt ihn, jeder arbeitet für ihn. Es
immer mehr jungen Menschen gibt wenige Alternativen für
nicht, wie man nun auf Brasi- „coloureds“, wie das in Südafri-
liens Straßen sieht. ka heißt, für Farbige wie Valen-
Das Land gibt Milliarden tini Valentine und ihre Familie.
für die Fußballweltmeisterschaft Sie weiß nicht mehr genau,
2014 und Olympia 2016 aus, 20 wann es war, irgendwann letztes
Milliarden Euro mindestens, und Jahr zur Erntezeit, als sie mor-
die staatlichen Schulen verrot- gens zum Bus ging, die Obst-
ten. Wer kann, schickt seine Kin- baumreihen entlang, und sah,
der auf Privatschulen. Isadora wie Apfelpflückerinnen Äpfel
besucht die öffentliche Schule, sortierten. Und dachte: Ich will
die einzige in ihrem Viertel, und nicht leben wie die.
mit ihrem Handy nahm sie die Nicht wie diese Tagelöhnerin-
Missstände auf: die kaputte Tür nen, schuftend für den Boss, ver-
zum Mädchen-WC. Die Strom- gewaltigt vom Ehemann, der zu
kabel des kaputten Ventilators, viel trinkt. Nicht wie diese Frau-
TOBY SELANDER / DER SPIEGEL

die offen aus der Decke hingen. en, die nichts anderes als den
Das zerbrochene Fenster eines Alltag auf der Farm kennen. Die
Klassenzimmers. Die herunter- arm sind und dumm gehalten
gekommenen Sportanlagen, die werden und schon in jungen Jah-
längst hätten gestrichen werden ren resignieren.
müssen, der Maler war bezahlt, Die Farm, sagt sie, sei wie
aber nie erschienen. Das Chaos Schülerin Valentini: Aufstand im Apfelland eine Falle und dass viele das
in der Mathe-Stunde, wo die nicht merkten, oder nicht früh
Schüler über die Bänke turnten, während Auch weil Mädchen wie Isadora so genug. Warum hat sie es gemerkt? Viel-
der Lehrer tatenlos zusah. jung sind, sind sie etwas Besonderes. Des- leicht weil sie eine Mutter hat, die sich
Am 11. Juli vergangenen Jahres startete halb wird ihre Botschaft weitergetragen, bis ins Büro hochgearbeitet hat und der
sie das Diário de Classe. Nach drei Wochen von den lokalen Medien zu den nationa- Tochter empfiehlt: Geh deinen Weg!
hatte sie 3000 Leser. Viele schickten Fotos len zu den internationalen, man hört jetzt Oder weil sie diese eine junge Lehrerin
und Berichte von ihrer eigenen Schule. auch in den USA, in Europa von Isadora hat, eine engagierte unter vielen Gleich-
Bilder von zerstörten, verfallenden, über- Faber. gültigen, die das Selbstwertgefühl der
schwemmten Gebäuden, von Prügeleien Die „Financial Times“ hat sie zu den Mädchen stärkt: Glaubt an euch!
und Vandalismus im Klassenzimmer, von 25 einflussreichsten Menschen in Brasi- Es wirkt sich aus, dass immer mehr
weinenden und schreienden Lehrern. Die lien gezählt. Mädchen zur Schule gehen, weltweit und
Lokalzeitungen berichteten über Isadora, auch in Südafrika. Bildung bringt Hunger
Fernsehteams kreuzten vor ihrer Schule auf. Flucht vor der Farm: auf Bildung. Bildung bringt das Wissen:
Die Direktorin räumte Versäumnisse ein. Bildungshunger in Südafrika So, wie es ist, muss es nicht sein.
Nach zwei Monaten hatte Isadora Für Valentini begann der Aufstand in Süd- Aber wie dann?
30 000 Leser und heftige Diskussionen afrika, als sie ein Gästezimmer putzte Bildung, als Globalisierung von Wissen,
über die Bildungsmisere auf ihrem Blog, und plötzlich vor Lindiwe Mazibuko bringt neue Ideen. Bringt Nachrichten
und bei den Kritisierten regte sich der stand. Vor der Oppositionschefin im süd- über Länder, in denen Frauen Staats-
Zorn. Lehrer beschwerten sich, sie würden afrikanischen Parlament, die bekannt ist chefinnen sind, in anderen dürfen sie
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 51
Gesellschaft

nicht einmal Auto fahren. Es gibt unzählig kannte, das zwölf Jahre alt war und selbst gefangen war, liegt der Strich für
viele Vorstellungen, wie das Leben einer schwanger wurde, was aus ihm geworden die Bauarbeiter, Lastwagenfahrer, Hand-
Frau zu verlaufen habe, was zählt? Uni- ist, sagt sie nicht. „So etwas darf nicht pas- werker, Sex für drei Dollar, die Puffs sind
verselle Werte, können die existieren? sieren. Das darf einfach nicht passieren.“ Bretterverschläge, vorn eine Karaoke-Bar
Die Hoffnung darauf gibt es spätestens Ein zwölfjähriges Mädchen kann sich zur Tarnung. Sina verteilt Kondome und
seit der Aufklärung, seit 1791 die fran- meist nicht wehren. So stark der Kopf Seifen, sie drückt den Frauen Zettel in
zösische Frauenrechtlerin Olympe de auch sein mag, der Körper ist zu schwach. die Hand, darauf die Kontaktdaten der
Gouges, als Antwort auf die in der Fran- Stiftung, der sie ihre eigene Befreiung
zösischen Revolution deklarierten „Men- Aufklärung auf dem Straßenstrich: verdankt, „Somaly Mam Foundation“.
schen- und Bürgerrechte“, eine „Erklä- Kondome für Kambodscha Somaly Mam, die aus der Sexsklaverei
rung der Rechte der Frau und Bürgerin“ Für Sina Vann begann der Aufstand in entkam, ist die Gründerin der Stiftung
schrieb: „Die Frau wird frei geboren und Kambodscha, als sie befreit wurde, mit und eine Brücke nach draußen, zur west-
bleibt dem Mann an Rechten gleich. Die 15, nach drei Jahren Sklaverei. Jetzt läuft lichen Welt. Fotos zeigen sie zusammen
Frau hat das Recht, das Schafott zu be- sie durch die Nacht und sucht nach sich mit der Schauspielerin Meg Ryan, mit der
steigen; sie muss gleichermaßen das Recht selbst. Designerin Diane von Fürstenberg, mit
haben, die Tribüne zu besteigen …“ Nach Mädchen, wie sie selbst eines war, der Sängerin Queen Latifah.
Die Festschreibung gibt es seit 1948, als sie sucht nach „gebrochenen Frauen“, Es gibt reichlich Fürsprecherinnen für
die Vereinten Nationen die Allgemeine wie die Kambodschaner ihre Huren wört- die Mädchen, sie geben ihren Namen, ihr
Erklärung der Menschenrechte Gesicht und manchmal ihre
publizierten, die für alle Men- Anwesenheit. Auf glamourösen
schen gelten soll: „ohne irgend- Konferenzen wie dem „Women
einen Unterschied, etwa nach in the World Summit“ treten Grö-
Rasse, Hautfarbe, Geschlecht“. ßen wie Chelsea Clinton, Meryl
Es ist kein völkerrechtlich bin- Streep, Angelina Jolie gleich im
dender Vertrag, nur ein Orien- Dutzend auf, um für die Sache
tierungskanon, aber einer, den der Geschundenen zu werben.
ein Mädchen in der Schule ken- „Girls not Brides“, „Girl Rising“,
nenlernt. „Girl Up“, speziell um Mädchen-
In einer guten jedenfalls. Vie- rechte kümmert sich eine wach-
le Schulen sind nicht gut in Süd- sende Zahl von Organisationen.
afrika, auch Valentinis Schule Die Autoren Kristof und
nicht, findet sie. WuDunn, die Somaly Mams
Im vergangenen Sommer, als Stiftung lange schon unterstüt-
die Unzufriedenheit an ihr nag- zen, sehen es so: „Im 19. Jahr-
te, erfuhr sie von einem Treffen hundert galt die Sklaverei als die
von Landarbeiterinnen und fuhr größte moralische Herausforde-
mit. Dort stieß sie zum ersten rung. Im 20. Jahrhundert war es
Mal auf rebellische Mädchen, der Kampf gegen den Totalita-
die sich trauten, eine Meinung rismus. Wir glauben, in unserem
zu haben und laut zu sein. Die jetzigen Jahrhundert wird es der
Mädchen fragten sich: Warum Kampf für die Gleichheit der
ist das Leben so schwer? Wie Geschlechter in den Entwick-
BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

können wir das ändern? Er fühlt lungsländern sein.“


sich gut an, sagt sie, dieser neue Nicht alle denken so mora-
Gedanke: Ich bin nicht allein. lisch. Der moderne Kapitalis-
Das hier ist unsere Rebellion. mus verspricht ökonomische
Man kann Valentini nun auf Modernisierung, wenn man zu-
Podien sitzen sehen, glühend nächst einmal die Frauen befreit.
vor Stolz, wie sie die Schulmi- Weltbank-Ökonomen betrach-
sere beklagt, 200 Mädchen vor Prostituierten-Befreierin Sina: Hilfe für „gebrochene Frauen“ ten „Investitionen in die Bildung
sich, sie stellen Forderungen auf, von Mädchen als die ertrag-
dann tanzen sie und singen Lieder aus lich nennen, srey kouc. „Weil es nicht so reichsten, die in Entwicklungsgebieten
dem Kampf gegen die Apartheid, ballen bleiben darf, wie es ist“, hat der Dolmet- machbar sind“. Das amerikanische „Cen-
die Faust. scher einen ihrer Sätze übersetzt. Weil ter for Injury Prevention and Control“ hat
Valentini nennt sich und ihre Mitstrei- sie etwas dagegen tun will, dass in Kam- kühl errechnet, dass häusliche Gewalt
terinnen „Survivors“, Menschen, die eine bodscha jeden Tag Mädchen, wie sie ei- mehr als vier Milliarden Dollar an Behand-
aussichtslose Lage überstehen. Denn so nes war, verkauft und zur Prostitution ge- lungskosten verursacht. Goldman Sachs
erscheint vielen die Lage: aussichtslos. zwungen werden. stellte fest: „Ungleichheit der Geschlechter
Sie hat Chancen, bessere, als ihre Mut- Die gebrochenen Frauen sind leicht zu schadet dem ökonomischen Wachstum.“
ter, Großmutter und Urgroßmutter sie finden. Es gibt Tausende von ihnen in Das mag befremdlich ökonomistisch
hatten. Sie hat die Mittel, sich mit ihren Phnom Penh, und jetzt, da Sina zu ihnen klingen, aber es hilft. Es bringt Aufmerk-
Freundinnen zu vernetzen, per SMS oder kommt, treten sie auf hohen Absätzen samkeit und Geld.
über Mxit, ein soziales Netzwerk, das vie- aus dem Schatten von Hauseingängen, Es hilft Sina Vann und ihrer Organisa-
le Jugendliche in Afrika nutzen. aus dem Dunkel von Parkplätzen, und tion, sie kann den Mädchen von Heimen
Sie weiß mehr. Sie ist Teil der Welt, immer lächeln sie das berühmte, grund- der Stiftung erzählen und dass sie dort in
viel mehr, als es ihre Mutter und ihre lose Lächeln der Khmer. Man müsse die- Sicherheit sind. Dass man dort lesen und
Großmutter waren. sen Frauen in die Augen blicken, sagt schreiben lernen könne, eine Ausbildung
Aber eine Angst ist geblieben. Valenti- Sina, „denn die Augen lächeln nicht“. zur Näherin oder Kosmetikerin machen,
ni spricht von einem Mädchen, das sie Hier, im Viertel Tuol Kork, wo sie einst dass es genug Essen gebe.
52 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Sina Vann, die junge Frau, die von der zerrten am Shirt, drückten sie zu Boden. demokratische Rechte kämpfte, für die
Leibeigenen zur Rebellin wurde. Gekid- Nahla Enany und ihre Mutter waren von Frauen, für alle. Männer und Frauen Seite
nappt mit zwölf Jahren aus ihrer Heimat Männern eingekreist, „sie würgten uns, an Seite, es war – revolutionär.
Vietnam. Von Menschenhändlern über die es war die Hölle“. Und dann war Konterrevolution. Die
Grenze nach Kambodscha verschleppt, Nahla steigt in die Metro Richtung Muslimbrüder wurden auch deswegen ge-
wo Vietnamesinnen begehrte Ware sind, Tahrir-Platz, erzählt von der Hölle, die wählt, weil sie auf die traditionelle, die
wegen ihres hellen Teints, je weißer, je sie an jenem Januartag erlebt hat, und patriarchalische Mehrheit im Land setzen
teurer. Mit Drogen betäubt, nackt und zieht wieder los. Sie hat sich umgezogen, konnten, auf das alte Denken: dass ehr-
blutend auf einem Bett in Phnom Penh bevor sie losging. Sie wählte Schwarz, bare Frauen auf der Straße nichts zu su-
aufgewacht, ihre Jungfräulichkeit war für um weniger aufzufallen: schwarze Trai- chen haben, und wenn, dann nur gut ver-
ein paar hundert Dollar an einen Sextou- ningshose, schwarzes T-Shirt, Turnschu- hüllt. Und dass man sie bestrafen darf,
risten verkauft worden, Sina weiß nicht, he. Trotzdem wird sie angestarrt. In der wenn sie sich nicht an Regeln halten, be-
aus welchem Land er kam. Eingesperrt, Bahn, weil ihr dunkelbraunes Haar auf grabschen, belästigen, erniedrigen.
gefesselt, geschlagen. Vier oder fünf wei- die Schulter fällt, als Einzige im Frauen- Es wurde gefährlich für Ägyptens Frau-
tere Male als Jungfrau verschachert, an waggon trägt sie weder Kopftuch noch en, auf der Straße, in der Metro, vor al-
kambodschanische Kunden, die nicht Nikab. Auf dem Tahrir-Platz, weil das lem auf Demonstrationen. Während der
merkten, dass ihre Vagina nur zugenäht Shirt hauteng sitzt und nur knapp die 18 Revolutionstage wurde von keinen
war, beliebte Praxis, Hauptsache, es blu- Schultern bedeckt. Übergriffen berichtet. Dann aber wurde
tet. Mit Elektroschocks gefoltert, es schlimmer als zuvor. 99,3 Pro-
wenn sie sich weigerte, Freier zu zent der Frauen geben an, sexu-
bedienen, Elektroschocks haben ell belästigt worden zu sein.
den Vorteil, dass sie die Mäd- Männer sind es, die Frauen
chenkörper äußerlich nicht wert- auf dem Tahrir-Platz begrab-
mindernd beschädigen. Gepei- schen, entblößen, erniedrigen
nigt, entrechtet, entmenschlicht. wollen und ihre Macht brutal
Durch eine Polizeirazzia, von demonstrieren.
Somaly Mam bewirkt, kam sie Männer sind es, die als Lehrer
frei. Sina bekam ein Zuhause, die Mädchen wie Valentini klein
schöpfte Hoffnung, erhielt Bil- halten wollen, „glaubt ihr, ihr
dung und schloss sich später könnt uns die Welt erklären?“,
dem Kampf ihrer Retterin an. 29 hört sie, wenn sie widerspricht.
ist sie heute und wieder einmal Männer sind es, denen Mäd-
für diese Stiftung unterwegs. chen wie Sina Vann in Kambo-
„Bist du freiwillig hier?“, fragt dscha ausgeliefert sind, in diesem
Sina ein Mädchen mit schläfri- verrohten, vom Krieg traumati-
gen Augen. Es nickt. „Gibt man sierten Land. In dem rund 70 Pro-
dir Drogen? Wirst du geschla- zent der Männer den ersten Sex
gen?“ Wenn ihr bei diesen Ge- bei einer Prostituierten erleben.
sprächen besonders gravierende In dem Gruppenvergewaltigung
Fälle zu Ohren kommen, Fälle fast schon als eine Art Freizeit-
von Folter, Fälle von verkauften vergnügen gilt. Fünf Prozent der
Minderjährigen oder Kleinkin- Kambodschaner geben an, sie
SCOTT NELSON FOR DER SPIEGEL

dern, manche erst drei Jahre alt, hätten das schon einmal prakti-
dann informiert sie die Polizei, ziert.
und wenn sie Glück hat, wird Als ob Männer eben Monster
mal ein Puff ausgehoben. wären, so klingt das, aber so ein-
Neu ist, dass Sina und ihre Mäd- fach ist es nicht. Es ist nicht so,
chen jetzt auch Männer aufsu- dass Männer grundsätzlich die
chen, potentielle Freier, anspre- Feinde und Frauen grundsätz-
chen, aufklären. Mädchen, die Demonstrantin Nahla: Seite an Seite mit Männern lich die Verbündeten der Mäd-
Männer belehren: eine Revolution. chen wären.
Mit schnellen Schritten läuft Nahla Es gibt Männer als Helfer, die auf dem
Ohne Schleier auf dem Tahrir-Platz: über den Platz, sie ignoriert die Blicke Tahrir-Platz versuchen, Frauen vor dem
Feminismus in Ägypten der älteren Männer, die auf den Mäuer- Mob in Sicherheit zu bringen. Es gibt
Für Nahla begann der Aufstand in Ägyp- chen in der Hitze sitzen. Sie ignoriert die Männer in Indien, die ihre Wut über Ver-
ten auf dem Tahrir-Platz, und dort geht jungen Kerle, die in Gruppen um sie her- brechen gegen Mädchen auf die Straße
er weiter, lebensgefährlich manchmal, so umspringen, nach ihr greifen, sie anglot- tragen. Es gibt Männer wie Malalas Vater,
wie am 25. Januar 2013, dem zweiten zen. Die Blicke, sagt sie, nehme sie nicht der sein Kind ermutigt hat. Männer, die
Jahrestag der ägyptischen Revolution. mehr wahr. Die Sätze, die man ihr hin- ihre Tochter, ihre Schwester, ihre Frau als
Massen, Zehntausende waren auf dem terherruft, höre sie nicht mehr. wertvollen Menschen ansehen.
Platz und viele darunter, die diese Re- Sie geht auf drei ältere Frauen zu. Eine Und es gibt Frauen, die verantwortlich
volution bekämpfen wollten, die der von ihnen, ebenfalls in Schwarz, mit Bob- dafür sind, wenn ein Mädchen am Leben
Frauen vor allem. Vielleicht waren es Frisur und Goldschmuck, ist ihre Mutter, zerbricht. Kambodschanerinnen, die ihre
Zivilpolizisten, vielleicht aufgeputschte unterwegs auf einer der vielen Demon- Töchter wie Nutzvieh in die Stadt ins Bor-
Zivilisten, fremde Männer jedenfalls, sie strationen, die letztlich den Abschied des dell verkaufen. Frauen in Afrika, die ihre
griffen Frauen an, betatschten sie, von Präsidenten Mursi bringen werden. Töchter der Genitalverstümmelung un-
Vergewaltigungen hörte man später. Nah- Seit Beginn der ägyptischen Revolution terwerfen. Frauen in aller Welt, die ihre
la, 24, war eine der Jüngsten auf dem sind Mutter und Tochter auf fast jeder Töchter in Zwangsehen nötigen, und oft,
Platz, Männer fassten ihr in die Hose, Demonstration, Teil des Protests, der um wenn die Tochter vor einem gewalttäti-
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 53
Gesellschaft

gen Ehemann flüchtet, jagen sie die Toch- sie, als Kind, auf die geschwollene Wange abend, der den Sturz des Staatsober-
ter zu ihm zurück. ihrer Mutter zeigte und dachte, die Mutter haupts verkündete, konnte sie im Jubel
Es gibt viele Gründe dafür, dass Frauen hätte ein Bonbon im Mund. Aber das war kaum verstehen.
für ihre Töchter zur Bedrohung werden. nicht der Grund für die Schwellung. Noch
Mütter tun das, weil sie verroht oder von oft erlebte sie, wie ihr Vater ihre Mutter Still, laut, digital:
der Armut zermürbt sind, weil sie den- schlug, ihre Geschwister und auch sie die Mittel der globalen Revolution
ken, dass ein Mädchen im Bordell immer- selbst. Es ist eine neue Rebellion, mit neuen Mit-
hin etwas verdiene. Nader Enany, der Vater, 65 Jahre alt, teln; Handy, Internet, Weltöffentlichkeit.
Oder weil in Gesellschaften, in denen sagt: „Ägypten hat andere Probleme als Das Ziel gibt es schon lange, und immer
eine Frau allein nichts wert ist, eben nur die Rechte der Frauen.“ noch ist es Utopie: dass eine Frau selbst-
die Ehe bleibt, weil diese Mütter also mei- Im gemeinsamen Wohnzimmer ist er verständlich bestimmen darf über ihren
nen, dass sie der Tochter mit einer erzwun- in einen schweren Sessel eingesunken. Körper und ihren Kopf. Lernen, was sie
genen Heirat einen Gefallen tun. Es kann Nader Enany kämpfte bereits in den sieb- will, und lieben, wen sie will.
schwierig sein für eine Frau, sich von bru- ziger Jahren gegen Sadat und saß mehr- Neu ist, dass schon Mädchen um den
talen Praktiken zu lösen, wenn sie denkt: mals im Gefängnis. Er hat im Textilexport Platz auf der globalen Bühne kämpfen.
Ich habe das alles duchgemacht. Wenn ich viel Geld verdient, doch damit ist es lange Dass sie es wagen, Pläne zu haben. Eine
jetzt zulasse, dass es nicht so sein muss, vorbei, jetzt hat er Mühe, die private Uni- andere Welt zu wünschen und sie für vor-
habe ich mein Leben weggeworfen. versität für seinen Sohn zu bezahlen. Die stellbar halten, sogar das.
Es ist besonders schwer für Ihre Chance: Das ist der Glau-
muslimische Frauen, die Tradi- be im modernen Kapitalismus,
tion zu überwinden, Nahla weiß dass die soziale Modernisierung,
es gut. Sie hat an der Amerikani- die sie wollen, die wirtschaft-
schen Universität von Kairo stu- liche Modernisierung voran-
diert, sie verdient in einer Firma treibt.
ihr eigenes Geld, aber allein woh- Ihre Mittel: eine stille Revolu-
nen darf sie nicht, und sie muss tion, so wie Sinas Umerziehung
abends um 22.30 Uhr zu Hause der Männer. Eine digitale, so
sein, wie es ihr Vater verlangt. wie Isadora mit ihren Klicks.
Nahla demonstriert weiter, sie Oder eine laute, wie die von
bloggt weiter über die Lage der Diya, Valentini und Nahla, die
ägyptischen Frauen. Die Frauen man auf der Straße hört.
machen ihre Anklagen öffent- Was sie brauchen, damit der
lich, im Fernsehen und im Inter- Aufstand gelingt, sind Vorbilder,
net, schaffen Netzwerke und wie Valentini in Südafrika sie
Hilfsprojekte. Die Frauen haben hatte, moderne Werkzeuge, wie
sich getraut, für eine neue Poli- Isadora in Brasilien sie benutzt.
tik und eine neue Gesellschaft Sie brauchen das Gefühl von
auf die Straße zu gehen, und die Solidarität, wie Diya in Indien
Welt weiß, dass sie es tun. Es sie erlebte, und einen histo-
gab die junge Frau mit dem blau- rischen Moment, der überlie-
UNIVERSITY HOSPITALS BIRMINGHAM / DPA

en BH, ihr Leiden ging als Video ferte Rollenbilder verblassen


um die Welt. Wie ein Dutzend lässt, so wie bei Nahla in Ägyp-
Soldaten ihr auf dem Tahrir- ten. Manchmal brauchen sie
Platz die schwarze Abaja vom auch einfach die Hilfe von an-
Leib rissen, wie sie entblößt und deren, die sie befreien. Ohne
misshandelt, wie sie beinahe er- Hilfe wäre Sina in Kambodscha
schlagen wurde. noch immer die Sklavin der
Für die Aufständischen ist es Männer.
ihr Mut, der im Gedächtnis Sina Vann sagt, sie will wei-
bleibt. Für die Konservativen ist Vorbild Malala: Lernen trotz Lebensgefahr termachen, es gibt so viele ge-
es ihre Verkommenheit. Was brochene Frauen.
hatte sie auf dem Tahrir-Platz zu suchen? Bildung der Tochter ist ihm nicht wichtig, Valentini sagt, sie will später auf dem
In einer Studie des „Pew Research Cen- immerhin hat er sie geduldet. Er duldet Land leben und Sozialarbeiterin sein.
ter“ wurden kürzlich Muslime in diversen auch das politische Engagement seiner Isadora will Journalistin werden, sie
Ländern zu ihren Einstellungen befragt. Frau und seiner Tochter, er sagt nicht, will „die Wahrheit wissen“, so sagt sie.
Nur etwa die Hälfte der Ägypter fand, warum. Ist er innerlich zerrissen? Duldet Nahla sagt, sie will am liebsten im Aus-
eine Frau dürfe selbst bestimmen, ob sie er es hilflos? Hat er etwas gelernt? Er sagt land studieren.
ein Kopftuch trägt oder nicht – in Tune- es nicht. Nach einer langen Pause spricht Diya sagt, sie will gern weiter zur Schu-
sien und Marokko fanden das über 80 er. „Ägypten hat eine andere Mentalität. le gehen und Polzistin werden, später.
Prozent. Sie soll sich scheiden lassen dür- Ägypten hat die Religion.“ Was er von Dann kommen die geschändeten Mäd-
fen, fanden drei Viertel der Tunesier und den Vorstellungen seiner Tochter hält? chen zu ihr, und sie hilft. JENS GLÜSING,
Marokkaner, während es nur 22 Prozent „Ich weiß nichts von ihren Vorstellungen.“ BARTHOLOMÄUS GRILL, GUIDO MINGELS,
FRIEDERIKE SCHRÖTER,
Zustimmung in Ägypten waren. Eine Nahlas Vorstellungen haben dafür ge- SANDRA SCHULZ, BARBARA SUPP
Frau soll ihrem Mann gehorchen, fanden sorgt, dass sie keine Ruhe geben kann.
in allen drei Ländern rund 90 Prozent der Dass sie wieder draußen war, seit vergan-
befragten Männer und Frauen. genen Freitag, auf dem Platz und am Prä- Video-Spezial:
Nahla sagt, eine normale ägyptische sidentenpalast, um gegen Mursi und die Der Aufstand der Mädchen
Ehe könne sie sich nicht vorstellen. Sie Muslimbrüder zu demonstrieren. Die Er- spiegel.de/app282013aufstand
erinnert sich noch an den Tag, an dem klärung des Armeechefs am Mittwoch- oder in der App DER SPIEGEL

54 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Gesellschaft

Hallo?
HOMESTORYWarum man als Mensch,
der E-Mails schreibt, einsam wird

E
s gibt ein Loch in meinem Leben, in das schaufle ich täg- auch, dass sie bitte ein wenig schneller
lich Worte hinein, Ideen, Gedanken, ich schaue ihnen reagieren sollen, ich komme mir dann
nach, wie sie fallen, und warte, ob ich etwas höre, einen zwar vor wie ein Zwölfjähriger, der Pro-
Ton, einen Hall, eine Reaktion, aber das Loch bleibt schwarz fessor spielt: Ich spreche ihnen das meis-
und stumm. tens auf die Mailbox oder schicke die An-
Da rufe ich meinen Freund A an, der nicht an sein Handy regung als SMS oder als Mail – und höre
geht, weil niemand mehr an sein Handy geht, ich spreche ihm nichts zurück.
auf seine Mailbox – und höre nichts zurück. Da schicke ich „Du glaubst noch an Mails?“, fragte mich
meiner Kollegin B eine SMS, in der ich ein paar Anregungen ein befreundeter Journalist, den ich seit
gebe für Themen – ich höre nichts zurück. Da schreibe ich Tagen zu erreichen versuchte, mit einem
meinem Freund C eine Mail, weil wir gemeinsam an einer Ton, als sei er schon weiter auf der Leiter
Sache arbeiten wollten – ich höre nichts zurück. der Erkenntnis. „Ich bekomme so viele
Was nun beginnt, ist die Dramaturgie von Ärger, Geduld Mails“, sagte er, „ich lese sie gar nicht mehr.“
und Selbstbefragung. Die ersten Stunden sind noch einfach, Das wird ja oft gesagt: dass wir „i-crazy“
ich freue mich ja schon, dass ich ein paar der in meinem Kopf werden vor lauter Smartphones, Facebook,
tobenden Gedanken hinaus in die Welt gebracht habe, und SPIEGEL ONLINE, dass unser Hirn das alles nicht mehr schafft,
warte. Dann werde ich kurz und rasch sauer, weil ich es an- dass wir mit den Maschinen verwachsen, dass wir Werkzeuge
strengend finde, daran zu denken, eine stockende Unterhaltung der Technik werden und nicht umgekehrt.
in Gang zu halten: Was wollte ich noch mal sagen, worum ging Für mich klingt das wie eine Ausrede. Sicher hat sich absurd
es? Das schlechte Gedächtnis ist der Feind der Geduld. viel verändert in der Art, wie wir mit anderen in Kontakt
Die setzt aber schließlich doch ein, es gibt sicher gute Gründe, treten. Sicher hat sich das Konzept von Präsenz radikal ge-
dass sich A, B und C nicht melden, was weiß ich denn von wandelt, und wir wissen mehr über den Krieg im Südsudan,
deren Leben, die haben Pläne zu schmieden, Konferenzen zu wenn wir wollen, als über die Gesundheit unseres Schwieger-
halten, Familien zu ernähren. Also einatmen, ausatmen, mor- vaters. Sicher gibt es eine Avantgarde, die sich von dem, was
gen ist auch noch ein Tag. Nach 24 Stunden ist der allerdings man in den achtziger Jahren „Kommunikation“ nannte, eman-
vorbei – und nun beginnt das schwierigste Stadium dieser ein- zipiert hat und Handys und Computer nutzt, um eine Mauer
seitigen Einsamkeit, die Selbsterforschung. Was habe ich falsch zwischen sich und der Welt zu errichten, eine Art digitales
gemacht, habe ich schlecht über sie geredet, sind sie sauer? Kloster.
Irgendein Schlupfloch des Selbstzweifels ist immer offen. Aber erklärt die angebliche Überforderung wirklich schon
Den Gedanken, dass mich niemand mehr mag, verwerfe ich die Unhöflichkeit, den beiläufigen Narzissmus und die in der
rasch, aus Selbstschutz und weil das keine Grundlage sein kann Konsequenz stumme Verachtung, die darin liegt, in diesem
für weitere Freundschaft, Freude, Zusammenarbeit: Ich wun- Fall mich so lange auf eine Antwort warten zu lassen?
dere mich jetzt über die anderen – und denke mir ganze Ge- Ich habe da eine andere Theorie. Ich glaube, dass die Men-
schichten aus, warum sie nicht antworten, ich sehe A, B und C schen die Logik der Technik in ihr Leben gelassen haben und
vor mir, ihr Gesicht, wie sie in ihren Wohnungen stehen, wie nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was sie denken, und
sie sich durch die Schatten bewegen, in ihrem Schweigen. dem, was sie tun. Wenn A also meinen Anruf abhört, denkt er,
Ich bin nun ganz auf mich zurückgeworfen – was eine merk- er sollte mich zurückrufen, und indem er das denkt, hat er im
würdige Wirkung hat in diesem Zeitalter der Hyperkommuni- Grunde schon mit mir gesprochen. Für ihn ist die Sache erledigt.
kation: Je mehr geredet, geschrieben und getwittert wird, desto Der Gedanke hat die Tat ersetzt. Sitzen wir nicht alle längst
gellender ist die Stille, desto epischer entfaltet sich die Ruhe. im Kopf unserer Mitmenschen?
Denn die Geschichten in meinem Kopf gehen ja weiter, sie Manche nennen diesen Schwindelzustand die Postmoderne.
nehmen eine eigene Realität an, je länger sich die anderen Ich würde eher sagen, dass wir in der Apple-Moderne leben,
nicht melden – und sie haben dann, wenn sie sich doch melden, die sich, und das ist jetzt gar nicht kulturpessimistisch gemeint,
ein eigenes Gewicht, von dem ich mich und sie befreien muss, die sich dadurch auszeichnet, dass sich Allgegenwart und
weil die anderen ja nicht wissen, dass ich schon seit Tagen Solipsismus zu etwas verbinden, was man die digitale Unver-
grüble, was ich falsch gemacht habe. bindlichkeit nennen könnte.
Sie sind arglos. Sonst wären sie Sadisten. Auch diese Option Die Menschen, das darf man nicht vergessen, werden durch
ILLUSTRATION: THILO ROTHAKER FÜR DEN SPIEGEL

bedenke ich und verwerfe sie wieder, weil es zu traurig wäre, die Maschinen nicht anders. Sie werden eher mehr wie sie
dass ich mit Sadisten befreundet bin. Ab und zu sage ich ihnen selbst. Sie zeigen sich in ihrer Müdigkeit, in ihrer Zerstreutheit,
in ihrer Faulheit – was ja alles wunderbare Zustände sind, wenn
man nicht gerade mit ihnen arbeitet oder redet.
Je mehr geredet, Die Schönheit der Maschine könnte nun sein, dass sie offen-
legt: Wie wir miteinander umgehen, rücksichtsvoll, höflich,
geschrieben, getwittert wird, respektvoll zum Beispiel – die Technik ist hier nicht der Feind,
die Technik ist ein Mittel für den Menschen.
Im Grunde, das haben Sie schon richtig verstanden, würde
desto gellender ist die Stille. ich mich freuen, wenn A mal wieder anruft. GEORG DIEZ

56 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Trends
Draghi
ÖL

Bremse für
Fritten-Diesel
Die börsennotierte Petrotec AG in Bor-
ken muss mit einem Rückschlag bei ih-
rer bislang unumstrittenen Biodiesel-
Produktion rechnen. Das Unterneh-
men wandelt Brat- und Frittierfett aus
Restaurants oder Burger-Filialen zu
Biodiesel um und verkauft den so
gewonnenen Sprit an die Mineralöl-
wirtschaft. Im vergangenen Jahr erziel-
te Petrotec einen Umsatz von rund 166
Millionen Euro. Doch das lukrative
und umweltschonende Geschäftsmo-
dell ist durch eine EU-Neuregelung ge- EZB
fährdet. Der zuständige Ausschuss will
Mittwoch eine entscheidende Richtlinie
ändern: Bislang hatte die Mineralöl-
wirtschaft Vorteile, wenn sie recyceltes Konflikt um
PETER DEJONG / AP / DPA

Frittenfett kaufte. Auf die dem Sprit-


produzenten vorgeschriebene Biodie-
sel-Quote von mehr als sechs Prozent
wurde Frittenfett doppelt angerechnet.
Zinsentscheid
Begründung: Ohne Recycling müsse
das Altöl aufwendig entsorgt werden –
in Deutschland sind das 300 000 Ton- Die Entscheidung der Europäischen sich aber auf ein ungewöhnlich deut-
nen pro Jahr. Doch mit der Sonderbe- Zentralbank (EZB), den Zinssatz bei- liches Versprechen: Die EZB werde die
handlung soll bald Schluss sein. Die zubehalten, wurde alles andere als har- Zinsen „für einen längeren Zeitraum“
EU will Biodiesel aus Frittenfett künf- monisch getroffen. Vielmehr waren in niedrig halten, sagte Draghi im An-
tig gleich behandeln wie Sprit aus der Ratssitzung vergangene Woche schluss an die Sitzung. Mit der klaren
Rapspflanzen, die auf subventionierten heftige Diskussionen losgebrochen. Ansage reagierte er auf die Politik der
Agrarflächen angebaut werden. „Nicht Chefvolkswirt Peter Praet hatte eigent- US-Notenbank Fed: Diese will ihre
nur für Petrotec wäre das ein schwerer lich einen Vorschlag zur weiteren Ab- ultralockere Geldpolitik beenden, was
Schlag“, klagt Vorstand Jean Scemama, senkung des Zinses auf 0,25 Prozent Turbulenzen an den Finanzmärkten
auch die Umwelt würde darunter leiden. vorbereitet – offenbar unterstützt von ausgelöst hat. Denn wenn Notenban-
EZB-Chef Mario Draghi. Doch sieben ken weniger Geld in die Finanzwelt
Ratsmitglieder, vor allem aus den pumpen, stecken Investoren auch weni-
Nordstaaten, argumentierten heftig da- ger Geld in Staats- und Unternehmens-
gegen. Darunter waren nicht nur der anleihen. Diese sogenannte Zinswende
deutsche Bundesbank-Chef Jens Weid- machte sich zuletzt schmerzhaft bei
mann und der Niederländer Klaas den Preisen für Papiere der Euro-Süd-
DAVID HECKER / DAPD / DDP IMAGES

Knot, sondern auch das deutsche Mit- länder bemerkbar. „Draghis Aussage
glied des geschäftsführenden Direkto- hat jetzt die Unsicherheit beseitigt,
riums, Jörg Asmussen. Am Ende setz- dass die EZB dem amerikanischen
ten sie sich durch, die Endabstimmung Vorbild folgen könnte“, sagt Clemens
verlief einstimmig: Der Zins bleibt vor- Fuest, Chef des Zentrums für Europäi-
erst auf dem ohnehin schon niedrigen sche Wirtschaftsforschung. „Das war in
Niveau von 0,5 Prozent. Man einigte der aktuellen Situation sicher richtig.“

M A N A G E R G E H Ä LT E R
Dollar Umsatz im vergangenen Jahr um 16 Prozent hoch-
geschossen. Durchschnittlich erhielten die Bosse ein Gehalts-
paket von 15,1 Millionen Dollar. Auf Platz eins steht Oracle-
Die Gier hält an Gründer Larry Ellison, der mit 96,1 Millionen Dollar 24 Pro-
zent mehr aus seiner Software-Firma zog als im Vorjahr.
Das Vorhaben, dass Aktionäre bei der Festlegung der Den zweiten Platz hält Richard Bracken vom Krankenhaus-
Vorstandsgehälter in Zukunft mäßigend eingreifen, scheint betreiber HCA (38,5 Millionen Dollar), gefolgt von Walt
zumindest in den USA kläglich gescheitert. Wie die Bera- Disneys Robert Iger (37,1 Millionen Dollar). Um 219 Prozent
tungs- und Analysefirma Equilar für die „New York Times“ explodiert sind die Bezüge der Nummer vier: Mark Parker,
ausrechnete, sind die Bezüge der obersten 200 Firmenchefs Chef des Sportartikelherstellers Nike, erhielt im vergange-
von Aktienunternehmen mit mindestens einer Milliarde nen Jahr 35,2 Million Dollar für seine Bemühungen.
58 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Wirtschaft

DEUTSCH E BANK FREIHANDEL

Interne Ermittlung Indien fürchtet EU-Importe


Die Deutsche Bank lässt intern untersu- Das angestrebte Freihandelsabkom-
chen, ob sie in zweifelhafte Aktien- men zwischen der EU und Indien
Deals verwickelt war und deshalb Är- könnte am bevorstehenden Wahl-
ger mit der Staatsanwaltschaft bekom- kampf auf dem Subkontinent schei-
men könnte. Dabei geht es konkret um tern. Seit 2007 verhandeln Brüssel und
schnelle Handelsgeschäfte rund um Neu-Delhi über eine drastische Redu-
den Dividendenstichtag von Unterneh- zierung der Zölle auf die meisten Wa-
men. Über Jahre hinweg sollen sich ren. Beide Seiten hätten ihre Positio-
Banken und Investoren zusammenge- nen zwar „extrem angenähert“, sagte

MASSIMILIANO CLAUSI / LAIF


tan haben, um so Steuererstattungen ein indischer ranghoher Regierungsver-
zu erschleichen. Bei der HypoVereins- treter dem SPIEGEL in Delhi. „Aber
bank ermittelt seit einiger Zeit die Ge- es gibt eine winzige Kluft, und die er-
neralstaatsanwaltschaft Frankfurt; das weist sich als äußerst schwierig.“ Die
Geldinstitut betont die konstruktive Zeit für eine Einigung wird knapp,
Zusammenarbeit mit den Behörden. denn die indischen Politiker wappnen
Bei der britischen Barclays Bank unter- sich für die Parlamentswahl 2014. Die Einkaufszentrum in Neu-Delhi
suchen die zuständigen Steuerbehör- Europäer drängen die Nation mit
den einen ähnlich lautenden Verdacht; ihren 1,2 Milliarden Einwohnern vor zent anheben, trifft damit aber im Par-
die Bank erklärt, sie habe stets im Ein- allem zu drastischen Zollsenkungen lament auf heftigen Widerstand. Ein
klang mit den Gesetzen gehandelt. In bei Autos, Wein und Milchprodukten. solches Abkommen dürfe Delhi nicht
Finanzkreisen heißt es, die Ermittler Zweiter Hauptstreitpunkt ist der indi- unterzeichnen, warnt Praveen Khan-
hätten weitere Geldinstitute im Visier, sche Versicherungsmarkt, der für aus- delwal, Generalsekretär der Confede-
viele von ihnen prüften sich derzeit ei- ländische Anbieter nur schwer zugäng- ration of All India Traders: „Indien
genständig, um gegebenenfalls Selbst- lich ist. Bislang dürfen sie nur maxi- kann dabei nur verlieren. Wir kämp-
anzeige zu erstatten. Zu denen gehört mal 26 Prozent der Anteile an lokalen fen schon gegen die chinesische Kon-
auch die Deutsche Bank, die dabei mit Versicherern halten. Die indische Re- kurrenz, wie sollen wir gegen ver-
einer großen Wirtschaftskanzlei zusam- gierung will diese Grenze auf 49 Pro- mehrte Importe aus der EU bestehen?“
menarbeitet. Einen „rauchenden Colt“
habe sie bislang nicht gefunden, heißt
es im Umfeld, die Untersuchungen dau-
ern jedoch an, auch die Finanzaufsicht QUERSCHNITT
BaFin lässt sich auf dem Laufenden hal-
ten. Nach bisherigen Erkenntnissen
geht die Bank nicht davon aus, dass
Steuerrückzahlungsverpflichtungen gel-
Know-how
tend gemacht werden. Anwälte schät-
zen, dass in den Jahren 2007 bis 2010
vom Lande Hamburg 33
bis zu fünf Prozent der Finanzvermö- Über 1100 Unterneh-
gen reicher Deutscher in die sogenann- men in Deutschland
ten Cum-Ex-Geschäfte investiert wur- gelten als Weltmarkt-
den, um von einer mittlerweile ge- führer. Mehr als 20
schlossenen Gesetzeslücke zu profitie- Prozent von ihnen be-
ren. Seit einigen Jahren hält der Fiskus finden sich in länd-
die erschlichenen Ausschüttungen je- lichen Gebieten, der
doch zurück. Der Drogerie-Unterneh- Großteil davon in Süd-
mer Erwin Müller hat deshalb die deutschland. Darunter
Schweizer Bank Sarasin verklagt, weil sind viele traditionelle
er sich von ihr betrogen fühlt. Sarasin Familienunternehmen
weist die Vorwürfe zurück. wie etwa der Spezia-
list für Montage- und Selb 4
Befestigungsmaterial
Würth in Künzelsau. Nürnberg 16
H. FOERSTER / BLOOMBERG VIA GETTY IMAGES

Künzelsau 5
Deutsche Weltmarktführer 2011 Heilbronn 16
in einer (sehr) in einer (sehr)
peripheren Gemeinde zentralen Gemeinde
Albstadt 4
Anzahl der
Unternehmen: 1 5 10 30 Biberach an der Riß 4
Quellen: WeissmanGruppe für Familienunternehmen; München 30
Leibniz-Institut für Länderkunde (Nationalatlas aktuell)
Deutsche-Bank-Zentrale in Frankfurt am Main

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 59
Wirtschaft

RÜSTUNG

Der Unglücksvogel
Der Rüstungskonzern EADS hat beim Bau des
„Eurofighters“ offenbar geschlampt. Auf den Staat
kommen milliardenschwere Mehrkosten zu. Die Bürger
sollten das erst nach der Bundestagswahl erfahren.

ADRIAN DENNIS / AFP

60 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
E
s ist ein Vorfall, den die Bundeswehr das jedenfalls ist wohl der Plan des Ver- Vorgänger des „Eurofighters“ Anfang der
lieber geheim gehalten hätte: Am teidigungsministeriums. Die Akte ist ge- achtziger Jahre konzipiert wurde – da-
27. Juli 2007 schießt ein „Eurofigh- schlossen. Eine weitere Befassung mit dem mals war Helmut Kohl gerade Kanzler
ter“ im Tiefflug über den Fliegerhorst Thema „ist derzeit nicht erkennbar“, er- geworden –, sicherte die Industrie zu, ihn
Neuburg in Oberbayern, plötzlich erblickt klärt das Wehrressort. zu einem Stückpreis von 65 Millionen
der Pilot einen Vogelschwarm vor sich. Auch EADS mag die Regierung nicht Mark zu bauen. Von da an ging es mit
Rasch will er seinen Flieger, Kennzei- in die Bredouille bringen und will vorerst den Kosten stetig bergauf.
chen 30+39, zur Seite ziehen, um den Tie- keine neue Offerte vorlegen. Das Unter- Anfang der neunziger Jahre war schon
ren auszuweichen. Doch mit einem Mal nehmen hat kein Interesse daran, den oh- von 130 Millionen Mark die Rede, und als
rollt sich die Maschine um 90 Grad uner- nehin schon angeschlagenen Minister Tho- der Haushaltsausschuss des Bundestags
wartet stark zur Seite. Einfach so, ohne mas de Maizière erneut in Schwierigkei- 1997 endgültig beschloss, die Maschine zu
dass der Pilot ihr einen entsprechenden ten zu bringen. Die Opposition dagegen bestellen, legte er eine neue Obergrenze
Steuerimpuls gegeben hätte. will Klarheit: „Es droht nach dem ,Euro fest: 180 Stück sollten höchstens 11,8 Mil-
Panik macht sich im Tower breit, denn Hawk‘ ein weiteres Rüstungsdebakel auf liarden Euro kosten. In dem Preis war
der Jet rast auf den Turm zu. Erst in letz- Kosten der Steuerzahler“, sagt der SPD- schon berücksichtigt, dass die Flieger tech-
ter Sekunde bringt der Pilot das Flugzeug Verteidigungspolitiker Rainer Arnold. nisch abgerüstet sind. So wollte der da-
wieder unter Kontrolle. Der Untersu- Der Preis für den „Eurofighter“ schießt malige Verteidigungsminister Volker Rühe
chungsbericht des Militärs spricht von auch deshalb in die Höhe, weil offensicht- verhindern, dass der Preis für den Jäger
einem „bank angle overshoot“, einer lich bei der Produktion in bisher nicht ge- immer weiter in die Höhe steigt.
Überdrehung des Neigungswinkels. Wei- kanntem Maße geschlampt wurde. Es half nichts: 2004 wurde die Preis-
ter heißt es im schönsten Verwaltungs- Einen Einblick in die wohl chaotische obergrenze für die Gesamtbestellung wie-
deutsch: „Das unerwartete Verhalten“ Produktion des Kampfflugzeugs gewäh- der um 250 Millionen Euro erhöht, inzwi-
hätte zu einem „Verlust des Luftfahrzeugs
führen“ können. Mit anderen Worten:
Um ein Haar wäre der Jet in einem Feu-
erball aufgegangen.
Ein Fehler in der Software war schuld,
und das war nicht der einzige Mangel, der
bei den „Eurofightern“ gefunden werden
sollte. Das größte europäische Rüstungs-
projekt stand von Anfang an unter keinem
guten Stern. Seit 25 Jahren entwickelt und
produziert der heutige Rüstungskonzern
EADS mit europäischen Partnern das Flug-
zeug. Es soll den Beweis liefern, dass nicht
allein die Amerikaner in der Lage sind,
Hightech-Kampfjets zu bauen.
Schon die Tatsache, dass der Flieger in
Deutschland einst „Jäger 90“ hieß, zeigt
das ganze Desaster. Als sich die Entwick-
lung so dramatisch verzögerte, wurde das
Kampfflugzeug in „Eurofighter“ umge-

CHRISTIAN THIEL
tauft, und selbst heute, im Jahr 2013, hat
die Bundeswehr noch längst nicht alle der
ursprünglich anvisierten 180 Jets auf dem
Platz stehen. Minister de Maizière: Ein weiteres Rüstungsdebakel
Nun belegen interne Dokumente, dass
die Probleme mit dem Flugzeug viel gra- ren nun Dokumente von Bundeswehr schen hieß der Kanzler Gerhard Schröder.
vierender sind als bisher bekannt. Zudem und EADS-Konzern, die dem SPIEGEL Im aktuellen Haushaltsentwurf für das
wird die Bundeswehr nach Berechnungen vorliegen. Das Missmanagement ging so Jahr 2013 werden die Kosten mit fast 17
des SPIEGEL am Ende dieses Jahres weit, dass die Bundeswehr dem EADS- Milliarden Euro angesetzt.
bereits 14,5 der rund 14,7 Milliarden Euro Werk im oberbayerischen Manching zum Das allerdings ist noch eine Rechnung
ausgegeben haben, die der Bundestag 1. Oktober 2008 die Zulassung als Luft- mit den günstigsten Annahmen. Auch die
bislang für die Beschaffung bewilligt hat. fahrtbetrieb der Bundeswehr nicht ver- werden nicht reichen, das weiß wohl auch
Wenn das Geld alle ist, werden aber längerte. Angela Merkel. Denn die letzten 37 Ma-
weder die geplanten 180 noch die 143 bis- Was wie ein nüchterner Verwaltungs- schinen, die die Bundeswehr bekommt,
her bestellten „Eurofighter“ ausgeliefert vorgang klingt, kann ernste Konsequenzen gehören zu denen, die über die aufwen-
sein – sondern nur 108. EADS wird nicht haben. Denn auch nach dem Verlust der digste Technik verfügen. Es sind Jets mit
kostenlos weiterproduzieren. Zulassung wurden weiter Flieger in Dienst einer „Mehrrollenfähigkeit“, die sowohl
Selbst die Bundeswehr kalkuliert be- gestellt, die Bundeswehr als Abnehmer Luftangriffe fliegen als auch feindliche
reits mit 16,8 Milliarden Euro bis zum der Maschinen prüfte angeblich ein biss- Maschinen abfangen können.
Jahr 2018. Dann sollen aber erst 143 Flug- chen genauer und erteilte dann doch den Doch genau diese Version des „Euro-
zeuge geliefert sein. Die letzten Jets der Zulassungsstempel. Rechtlich ist das fighters“ wird auch die teuerste sein. Die
sogenannten Tranche 3 B kosten extra. höchst umstritten. Sollte ein „Eurofighter“ Bundeswehr steht vor einem Dilemma.
Fällig würde ein weiterer hoher Milliar- über Deutschland abstürzen, könnten Ge- Einerseits ist kaum noch Geld da. Ande-
denbetrag. richte zu dem Ergebnis kommen, dass die rerseits will sie keinesfalls auf die mo-
Bis zur Wahl am 22. September sollten Maschinen niemals hätten abheben dürfen. dernste Variante des „Eurofighters“ ver-
den Bürgern die wahren Kosten für den Der „Eurofighter“ ist eine Geschichte zichten. Offiziell sagt das Verteidigungs-
„Eurofighter“ offenbar verborgen bleiben; aus gebrochenen Versprechen. Als der ministerium nun, über einen Kauf der
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 61
Luftfahrtbetrieb der Bundeswehr. Schon
damals drohten die Prüfer, nur dann die
Zulassung zu verlängern, wenn eine lange
Mängelliste abgearbeitet würde.
Doch trotz der Ermahnungen passierte
wenig. Am 31. März 2006 hob ein „Euro-
fighter“ mit Kennzeichen 98+03 zum
Flug in die Luftwaffenwerft Jever ab.
Was der Pilot nicht ahnte: Der Bolzen,
der das Bugfahrwerk in seiner Veranke-
rung hielt, war nicht korrekt arretiert.
Während des Fluges rutschte der Bolzen
immer weiter aus seiner Halterung. Als
der ahnungslose Kampfpilot aufsetzte,
hing das Fahrwerk bereits schief unter
dem Jet. Der Pilot hatte Glück, das Fahr-
werk knickte nicht ein.
EADS meldete den Vorfall zunächst
nicht, berichtet ein Insider. Doch die Flug-
aufsicht der Luftwaffe erhielt einen Hin-
weis. Sofort wurde die gesamte „Euro-
fighter“-Flotte am Boden festgesetzt. Die
Ursache war schnell gefunden. Der Bol-
zen war stümperhaft montiert. EADS
wurde dazu verdonnert, den gesamten
Produktionsprozess zu durchleuchten.
Kleinlaut musste das Unternehmen in
einem Memorandum vom 27. April 2006
einräumen: „Es handelt sich um Arbeits-
fehler, Bewertung: sorglose Unachtsam-
keit.“ Der Vorfall hatte weitreichende Fol-
gen. Die Produktion musste angehalten,
alle bislang produzierten Maschinen
TOBIAS HASE / PICTURE-ALLIANCE/ DPA mussten auf einen solchen Montagefehler
untersucht werden.
Die Kosten für die Schlamperei der bei-
den Mitarbeiter trug: der Steuerzahler.
Denn die EADS-Kontrolleure konnten,
welch Wunder, keine grobe Fahrlässigkeit
erkennen und sparten so ihrer Firma viel
Geld. Denn der „Eurofighter“-Vertrag
„Eurofighter“-Produktion in Manching: Stümperhaft montierte Bolzen legt fest, dass der Hersteller nur bei gro-
ber Fahrlässigkeit für Produktionsmängel
Tranche sei noch nicht entschieden: „Der- Grund haben dürfte: Bei der Produktion haften muss.
zeit wird das weitere Vorgehen abge- wurde offensichtlich geschlampt. Und da- Im Laufe der Zeit wurde der Ton zwi-
stimmt“, heißt es in einer Stellungnahme für tragen sowohl EADS als auch die schen EADS und der Bundeswehr schrof-
des Hauses. Doch erst Ende Juni präsen- Bundeswehr die Verantwortung. Denn fer. Die Firma beklagte sich im Berliner
tierte der stellvertretende Abteilungslei- EADS hat die Probleme im Werk Man- Verteidigungsministerium über die peni-
ter für Beschaffung im Ministerium ver- ching lange Zeit nicht in den Griff be- blen Prüfer des Beschaffungsamts. Die
blüfften Industriellen die alte, neue Stück- kommen. Und die Bundeswehr hat zu Prüfer wiederum monierten, dass sie
zahl: 180. lange die laxe Fertigungsmoral bei EADS manche mangelhafte Maschinen bis zu
Zwar gibt es den Plan, jene Maschinen toleriert. dreimal nachprüfen müssten. Mal leckten
zu verkaufen, die zuerst an die Luftwaffe Für die Kontrolle von EADS ist das die Tanks, dann öffnete sich auf dem Weg
ausgeliefert wurden. Das würde ein paar Wehrbeschaffungsamt in Koblenz zustän- zur Startbahn das Kabinendach wie von
hundert Millionen in die Kasse zu spülen. dig. Die mit 9600 Mitarbeitern größte Geisterhand.
Aber die Jets sind mittlerweile veraltet, Bundeswehrbehörde unterhält Außenstel- Welch schlechte Qualität die „Euro-
und das Interesse der Nato-Partner ist über- len an den großen Produktionsstätten fighter“ aus dieser Zeit haben, zeigt sich
schaubar. deutscher Rüstungsfirmen, unter ande- aus einer internen Aufstellung aus Öster-
Hinter den Kulissen schieben sich die rem beim EADS-Werk im oberbayeri- reich. Die dortige Luftwaffe bekam 15
Beteiligten schon jetzt die Schuld für das schen Manching. „Eurofighter“ der ersten Generation zwi-
drohende Debakel zu. Bei EADS heißt es, Schon bald nachdem die ersten „Euro- schen 2007 und 2009 geliefert, die zum
alles sei so teuer geworden, weil die Luft- fighter“ das Werk verließen, stießen die großen Teil für die Bundeswehr bestimmt
waffe dauernd neue Extrawünsche ange- Beamten dort auf Probleme. So hielten sie waren. Bis zum Mai 2011 zählte ein Mit-
meldet habe. Das Verteidigungsministe- am 23. August 2004 fest, dass in dem Werk arbeiter 68 Defekte an den Fliegern, die
rium weist alle Verantwortung von sich speziell ausgebildete Mitarbeiter fehlten, zu Notfällen geführt hatten.
und hält die Inflation für den Schuldigen. die jeden einzelnen Produktionsschritt des So stellte sich heraus, dass die Höhen-
Verschweigen aber wollen beide Sei- hochkomplexen Kampfjets beaufsichtigen. messer „Fehlanzeigen“ bis zu 60 Meter
ten, dass die Preisexplosion beim „Euro- Ohne funktionierendes Qualitätsmanage- produzierten – im Ernstfall kann das für
fighter“ auch einen ganz einfachen ment erlischt die Zulassung als anerkannter den Piloten tödlich sein. Die Österreicher
62 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
forderten eine F-4 „Phantom“ der deut-
Wirtschaft

Doch mit dem Entzug der Zulassung


schen Luftwaffe an. Die Maschine sollte brachten sich auch die Prüfer in eine de-
Der digitale
zwei fehlerhafte „Eurofighter“ begleiten, likate Lage. Denn sie agierten am Rande
damit man die Anzeige der Höhenmesser der Legalität: Sie stempelten etliche „Eu-
vergleichen könne. Doch dann kam etwas rofighter“ für den Dienst in der Luftwaffe
SPIEGEL
dazwischen: Die Elektronik eines „Euro- ab, obwohl der Hersteller wegen seiner
fighters“ pumpte das Kerosin falsch um. Unzuverlässigkeit keine Zulassung mehr
Der Flieger geriet gefährlich aus dem besaß.
Gleichgewicht. Absturzgefahr. EADS be- Die Kampfjets bekamen reguläre Kenn-
streitet dem SPIEGEL gegenüber, dass zeichen: 30+45, 30+15, 31+22. Damit don-
Qualitätsmängel am eigenen Produkt fest- nerten sie über Deutschland und wurden
gestellt wurden. sogar auf eine Luftfahrtshow nach Un-
Die deutschen Prüfer sind über die garn geschickt. Glücklicherweise unfall-
berichteten Mängel an den österrei- frei. Sonst hätten Richter wohl anschlie-
chischen Maschinen gut im Bilde. Denn ßend die Umstände der Zulassung zer-
das Berliner Verteidigungsministerium pflückt.
hatte sie als kleine industriepolitische Die Prüfer im Wehrbeschaffungsamt
Fördermaßnahme dazu verdonnert, die wissen um die heikle Rechtslage. Sie haf-
Stückprüfung für die Österreicher zu ten persönlich für die Unterschriften, die
übernehmen. sie nach einer Endprüfung jedes „Euro-
Im Wehrbeschaffungsamt reifte die Ent- fighters“ unter die Papiere setzen. Man-
schlossenheit heran, EADS erstmals rich- che drohten damit, ihre Zustimmung zu
tig die Zähne zu zeigen. Am 30. Septem- verweigern. Auch für den Staat ist das
ber 2008 ließ die Bundeswehr die Zulas- Risiko groß: Denn die Bundeswehr muss
sung des Werks Manching als anerkann- im Gegensatz zu zivilen Luftfahrtbetrie-
ter Luftfahrtbetrieb auslaufen. In einem ben in unbegrenzter Höhe für alle Schä-
Schreiben vom März 2009, adressiert an den aus einem Unfall geradestehen. Ein
den Chef der EADS Deutschland Military besorgter Beamter schrieb dazu in einem
Air Systems, Bernhard Gerwert, wies das internen Vermerk: „Wenn ein Bundes-
Koblenzer Amt auf „erhebliche Fehler wehr-Luftfahrzeug abstürzt und erhebli-
und Mängel im Qualitätsmanagementsys- che Drittschäden verursacht, die auf eine
tem“ hin. entzogene Zertifizierung zurückgeführt
In Sprechvorlagen für den Behörden- werden könnten, haftet der Bund in je-
leiter finden sich konkrete Zahlen. Dem- dem Fall vollumfänglich.“
nach seien „im Fertigungsablauf bei der Die Vorgesetzten in Wehrbeschaffungs-
Endprüfung 35 Mängel festgestellt und amt und Verteidigungsministerium igno-
dokumentiert“. 49 Fehler weise das Qua- rierten den Vermerk. Denn das Ministe-
In dieser Ausgabe:
litätsmanagement innerhalb von sieben rium wollte das Kampfgerät haben, auf
Monaten auf. Teufel komm raus. In den Fliegerhorsten
In der Falle
Im Schreiben an Gerwert resümierten wartete man schon sehnsüchtig auf den Video über die Flucht des
die Koblenzer Kontrolleure deshalb auch: „Eurofighter“, der die über 30 Jahre alten NSA-Whistleblowers Edward Snowden
„Der gegenwärtige Zustand ist sowohl aus „Phantom“-Jäger des amerikanischen
luft-, haftungs- und zulassungsrechtlicher Rüstungskonzerns McDonnell Douglas Der Mädchen-Aufstand
Sicht seitens des Auftraggebers nicht wei- ablösen soll. Video-Spezial über die globale
ter hinnehmbar.“ Man solle die Flugzeuge einfach etwas
genauer prüfen und dann zulassen, wurde Emanzipation junger Frauen
angeordnet. Bis zum 6. April 2011 soll
Fehlstart dieser Zustand nach dem SPIEGEL Senioren in Turnschuhen
93,5 vorliegenden Dokumenten angehalten Video über Sportler jenseits der 70
Kostenexplosion beim
Eurofighter-Projekt, Mio. € haben, Bundeswehr und EADS bestreiten
Anschaffungspreis je Flugzeug das.
(geplante Stückzahl: 180) Das Verhältnis zwischen EADS und
Verteidigungsministerium ist vergiftet.
Das liegt auch daran, dass EADS es ver- Die neue Art zu lesen.
65,8 steht, Vorschriften zu umgehen und die
Beamten zu provozieren. Mit zusätzlichen Hintergrundseiten.
Mio. € Vor einiger Zeit, so berichtet man sich
33,2 in Koblenz, schaute ein potentieller Käu- Mit exklusiv produzierten Videos.
fer aus dem Ausland im Werk Manching
Mio. € vorbei. Dummerweise soll nur ein Flug- Mit 360°-Panoramafotos, interaktiven
(65 Mio. DM) zeug der Bundeswehr im Hangar gestan- Grafiken und 3-D-Modellen.
1997 den haben, und dem habe auch noch der
Der Haushalts- Zulassungsstempel gefehlt. Die Testpilo- Alles immer schon ab Sonntag 8 Uhr!
ausschuss ten der Bundeswehr sollen sich geweigert
beschließt die 2013 haben zu fliegen. Da habe sich kurzer-
80er Jahre Anschaffung Planung hand ein EADS-Pilot den Vogel ge-
Planung einer bereits laut
bei Projekt- abgespeckten Haushalts- schnappt und eine Showrunde gedreht.
beginn Version. entwurf OTFRIED NASSAUER, GORDON REPINSKI,
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Wirtschaft

WÄ H R U N G S U N I O N

Vergiftetes System
Die Griechen sparen so drastisch wie kaum ein anderes Euro-
Krisenland, dennoch scheint ein neuer Schuldenschnitt unaus-
weichlich. Mit Geld allein ist dem Land allerdings nicht zu helfen.

S
telios Stavridis hat mit dem Verkauf ab. Sie fürchtet, dass der Reformeifer in
von Swimmingpools viel Geld ver- Griechenland schwindet, wenn der finan-
dient, jetzt, findet er, muss er sein zielle Druck nachlässt. Denn mit Geld al-
unternehmerisches Talent der Rettung sei- lein ist dem Land nicht zu helfen. Zwar
ner Heimat widmen. bemängelt selbst der IWF die verheeren-
Der 66-jährige Manager mit den aristo- den Auswirkungen der Sparprogramme
kratischen Zügen leitet seit kurzem die auf die Wirtschaft des Landes. Doch das
griechische Privatisierungsagentur, die ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich
Hunderte staatlicher Grundstücke, Fir- hat Griechenland zwar seine Ausgaben
men, Yachthäfen und Flughäfen zu Geld drastisch gekürzt – aber die Sanierung
machen muss. des Staatsapparats stockt. Das verhindert
Stavridis ist innerhalb eines Jahres auch den wirtschaftlichen Erfolg.
schon der dritte Mann in diesem Job, doch Als die Beobachter der Troika 2010 das Trotz Sparbemühungen …
seine professionelle Zuversicht schmälert erste Mal ins Land kamen, waren sie Griechenlands Staatsausgaben, in Mrd. €
das nicht. Er habe gerade „exzellente“ selbst überrascht, wie überreguliert die Quelle: EU-Kommission
Gespräche mit den Beobachtern vom In- Wirtschaft war und wie ineffizient der ge- 125
ternationalen Währungsfonds (IWF), von samte Staats- und Justizapparat. Nicht 118 2009 114
der EU-Kommission und der Europäi- einmal das kalkulierte Staatsdefizit für 106 2008 2010 108 106
2007 2011 2012
schen Zentralbank geführt, die regelmä- 2009 stimmte: Aus 6 Prozent wurden bei 94
ßig die Fortschritte des Landes prüfen. nochmaligem Nachrechnen erst 12,7 und 2006 87
2013
Dieser sogenannten Troika musste er schließlich sogar 15,6 Prozent.
allerdings beichten, dass seine Behörde Sechs Sparpakete später wird das Mi-
die gesetzten Ziele dieses Jahr wohl nicht nus dieses Jahr voraussichtlich auf rund
einhalten kann. Der Verkauf vier Prozent sinken. Dafür
des nationalen Gasversorgers zollen die Euro-Partner dem
an den russischen Gazprom- konservativen Premier Anto-
Konzern ist in letzter Minute nis Samaras Respekt. „Die
geplatzt, nun steht auch noch aktuelle Regierung ist endlich
der sicher geglaubte 652-Mil- fest entschlossen, Ordnung in
lionen-Euro-Deal für den Wettanbieter den Staat zu bringen“, lobt Panos Car-
Opap auf der Kippe, weil der Käufer sich vounis, Repräsentant der EU-Kommis-
über den Tisch gezogen fühlt. sion in Athen, den Landsmann. „Es geht
Die veranschlagten 2,6 Milliarden Euro voran.“
wird Stavridis dieses Jahr damit wohl Der Staat habe endlich ein vollständiges
kaum an den Staat überweisen können. Bild seiner Einnahmen und Ausgaben,
Wegen solcher Schwierigkeiten fehlt im Samaras habe außerdem die Reform des
Finanzierungsplan für Griechenland nun Gesundheitswesens vorangebracht. Auch
schon wieder jede Menge Geld, alles in der Arbeitsmarkt sei radikal umgekrem-
allem 11,1 Milliarden Euro bis 2015. pelt worden. Die teuren Flächentarifver-
Dabei haben die Euro-Partner Grie- träge sind jetzt Geschichte, die Abfin-
chenland schon Hilfszusagen von über dungsregeln bei Entlassungen lockerer.
230 Milliarden Euro gemacht, die Staats- Noch im Frühjahr sah es wegen solcher
ausgaben wurden zudem um Dutzende Erfolge so aus, als sei das Land aus dem
Milliarden zusammengestrichen. Grie- Gröbsten heraus. Die Lohnstückkosten,
chische Wirtschaftsvertreter sind über- die als Indiz für die Wettbewerbsfähigkeit
zeugt: Ohne erneuten Schuldenschnitt eines Landes gelten, waren infolge der
kann das Land nicht überleben. Lockerungen am Arbeitsmarkt um zehn
Das Thema ist politisch heikel, vor al- Prozent im Vergleich zu 2007 gesunken.
lem in Deutschland. Denn ein solcher Großkonzerne wie Unilever, Philip Mor-
Schnitt träfe dieses Mal auch die öffentli- ris und Hewlett-Packard kündigten große
chen Gläubiger, die inzwischen 80 Pro- Investitionen an.
zent der griechischen Staatsschulden hal- Übermütig sprach Samaras bei einem
ten. Ein großer Teil der deutschen Hilfs- Besuch in Peking von seiner „grie-
kredite wäre damit unwiederbringlich weg. chischen Erfolgsgeschichte“.
Noch lehnt Bundeskanzlerin Angela Doch die nach außen getragenen Sa-
Merkel einen Schuldenschnitt energisch nierungserfolge gehen im Innern des Lan-
64 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Griechische Ferieninsel Santorin

des vor allem auf Kosten der kleinen Leu- für die Prozedur versandete. Der Grund
te. Ein paar hundert Meter vom Büro des für diese Zurückhaltung sind Männer wie
EU-Vertreters Carvounis entfernt hat sich Odysseas Drivalas: Der braungebrannte
vergangenes Jahr ein Rentner aus Geld- ehemalige Verwaltungsbeamte ist Chef
not sogar erschossen. Die Haushaltsein- der Dachgewerkschaft der Staatsbediens-
kommen brachen, Umfragen zufolge, seit teten Adedy. Er steht damit rund 400 000
Krisenbeginn um fast 40 Prozent ein. 64 Mitgliedern vor und hält es schlicht für
Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos, einen „Mythos“, dass der Staat zu viele
und das Gesundheitswesen steht nach Mitarbeiter habe. „Wir planen bald einen
mehreren Sparrunden kurz vor dem Kol- neuen Generalstreik.“
laps. In vielen öffentlichen Krankenhäu- Eigentlich müsste man Männer wie ihn
sern müssen Patienten Bandagen und in den Reformprozess einbeziehen, doch
Tupfer privat besorgen und sich von ihren die Chancen stehen schlecht. Viele Ge-
Verwandten pflegen lassen, weil Kran- werkschafter unterstützen die linke Sy-
kenschwestern fehlen. riza-Partei, deren Chef Alexis Tsipras da-
MARO KOURI / POLARIS / STUDIO X Die Troika hat angesichts solcher Zu- vor warnt, Griechenland zur „deutschen
stände oft gebeten, die Reichen und Pri- Kolonie“ zu machen.
vilegierten stärker an der Finanzierung Die teils grotesken Zustände in Grie-
des Staates zu beteiligen. Doch vor deren chenlands Behörden sind eine Haupt-
einflussreichen Lobbygruppen schreckt ursache dafür, dass es der Wirtschaft so
auch die Regierung Samaras zurück. schlecht geht. So sollte ein 2010 einge-
Die mächtigsten Unternehmer des Lan- führtes „Fast track“-Verfahren Unterneh-
des etwa, die griechischen Reeder, tragen mern binnen 60, und später sogar binnen
wenig zur Gesundung des Landes bei. 45 Tagen zu allen Genehmigungen ver-
Ihre üppigen Einkünfte aus der Schiff- helfen. Doch drei von vier Großinvesto-
… steigende Schuldenlast fahrt sind jedenfalls steuerfrei. ren, die dieses Procedere durchlaufen ha-
Staatsverschuldung, in Prozent des BIP „Unser politisches System ist vergif- ben, kämpfen bis heute um ihre Projekte.
200 tet“, fasst Antigone Lyberaki, Wirt- „Man hat die Schnelligkeit, mit der
schaftsprofessorin an der Panteion Uni- solche Reformen durchgeführt werden
175 versität in Athen, die Probleme zusam- können, überschätzt“, sagt Paul Mylonas,
175 men. Jahrzehnte, in denen Schmiergelder Chefökonom der National Bank of
und politische Beziehungen wichtiger wa- Greece. Vor allem hat man wohl die Wi-
ren als jede Leistung, hätten den Staats- derstandskräfte des alten Systems unter-
150 apparat und die Wirtschaftsstruktur zer- schätzt.
stört, findet die 54-Jährige. An Ideen, wie man das Land aufbauen
Schulden-
schnitt Mächtige Lobbygruppen konnten über könnte, mangelt es nicht: Ökonom My-
125 Jahre Privilegien erstreiten, die sie nun lonas etwa ist überzeugt, dass sich der
108 erbittert verteidigen. Als der Staat etwa Dienstleistungsbereich rund um die
Quelle: EU-Kommission die überteuerten Lizenzen für Lkw-Fah- Schifffahrt stark ausbauen ließe. „Logis-
100 rer abschaffen wollte, legten die Laster- tik, Versicherungen, Lagerung“, lauten
fahrer den gesamten Verkehr des Landes seine Stichworte. EU-Vertreter Carvounis
2006 07 08 09 10 11 12 2013 lahm, das Militär musste die Versorgung will, dass sich die Tourismusbranche mehr
der Krankenhäuser sichern. um Kulturinteressierte oder Mountain-
Es war nur eine von Hunderten zähen bike-Fahrer kümmert. Das Land sei
Syriza-Chef Tsipras Auseinandersetzungen um die schrittwei- „sechs Monate im Jahr fast leer“.
se Liberalisierung der vollkommen über- Doch solche Pläne lassen sich nur in
regulierten Wirtschaft. sehr langen Zeiträumen realisieren. „90
In der aufgeblähten Verwaltung etwa Prozent der Firmen haben nur drei bis
verdanken viele Beamte ihren Job eher fünf Mitarbeiter“, sagt Mylonas, „auf die-
politischen Gefälligkeiten als ihren Kom- ser Basis können wir nicht wettbewerbs-
petenzen, auch Premier Samaras hob fähig sein.“
nach seinem Amtsantritt mehrere Ver- Berechnungen der Troika über die
bündete aus seinem Heimatwahlkreis künftige Entwicklung wirken da wie Kal-
Messenien in führende Positionen. kulationen aus Wolkenkuckucksheim.
Bis 2015 soll der Beamtenapparat nun 2017 soll das Land 3,5 Prozent Wachstum
um 150 000 Stellen schrumpfen. 15 000 Be- generieren. 2022 sollen die Schulden von
amten sollen zudem durch junge, gutqua- derzeit 175 Prozent des BIP auf „deutlich
lifizierte Leute ersetzt werden. Doch an unter“ 110 Prozent sinken.
Entlassungen wagten sich die Regieren- Selbst Chef-Privatisierer und Profi-Op-
den lange nicht heran. timist Stavridis gesteht ein, dass er und
Stattdessen wurden Frühpensionierun- seine Landsleute „gewaltige Probleme“
gen befördert und 2000 Staatsdiener in hätten. „Aber ich bin 100 Prozent sicher,
eine sogenannte Mobilitätsreserve ge- dass wir gewinnen werden.“ ANNE SEITH
steckt; sollte nach einem Jahr für sie kein
LOUISA GOULIAMAKI / AFP

neuer Job gefunden sein, müssten sie


endgültig gehen, lautete das Versprechen Lesen Sie im nächsten Heft:
an die Troika. Doch für alle fand sich Portugal galt lange als Musterknabe unter
eine neue Aufgabe. Die versprochene Su- den Krisenländern. Doch die Angst
che nach weiteren 12 500 Staatsdienern vor einer Staatspleite ist zurückgekehrt.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 65
Karl-Johan Persson
MARKUS MARCETIC / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL

steht seit 2009 an der Spitze von


H&M. Der 38-jährige Enkel von
Firmengründer Erling Persson
treibt die Expansion des schwe-
dischen Konzerns voran. Weltweit
existieren 2908 Filialen, auch für
Marken wie „COS“, „& Other
Stories“, „Monki“ und „Weekday“.

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Konsum ist etwas Gutes“


H&M-Vorstandschef und -Miteigentümer Karl-Johan Persson über
die Verantwortung der Textilhandelskette für die Arbeitsbedingungen in Bangladesch
und den Widerspruch zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit

SPIEGEL: Herr Persson, H&M bezeichnet etwa 700 Menschen. Warum hat H&M und die Unternehmen dort – enger zu-
sich selbst als verantwortliches Unterneh- das Abkommen erst jetzt unterschrieben? sammengebracht.
men. Haben Sie über Ihre Verantwortung Persson: Das ist das erste Abkommen die- SPIEGEL: Sie lassen Ihre Zulieferbetriebe
nach der Katastrophe von Bangladesch ser Art. Ein solcher Schritt ist nur sinn- regelmäßig durch firmeneigene Kontrol-
neu nachgedacht? Dort starben beim Ein- voll, wenn viele – am besten alle – Un- leure prüfen, wie etwa 2009 die Firma
sturz des Rana-Plaza-Komplexes in Dha- ternehmen ihn mitgehen. Das war zuvor Garib & Garib in Bangladesch. Dort wa-
ka mit fünf Textilfabriken mehr als 1100 nicht der Fall. Aber wir haben bereits ren Feuerlöscher nicht zugänglich, H&M
Menschen. vorher viel getan. Wir haben mehr als ließ trotzdem weiterproduzieren. Ein
Persson: Nein. H&M hat nicht im Rana 500 000 Texilarbeiter in Feuer- und Si- Jahr danach kam es dort zu einem Brand
Plaza produzieren lassen. Wir versuchen cherheitsmaßnahmen geschult, das ist mit 21 Toten …
seit vielen Jahren, die Bedingungen in Teil unseres Verhaltenskodexes. Und wir Persson: … das war ein Desaster. Wir hat-
der Textilbranche zu verbessern. Die haben die Namen unserer 800 Zuliefer- ten dort einmal kontrolliert und auf Bes-
furchtbare Katastrophe in Bangladesch betriebe veröffentlicht und damit erst- serung gedrungen. Wir trennen uns erst
hat jetzt bewirkt, dass wir als erstes Un- mals für Transparenz gesorgt. Das Pro- von unseren Zulieferern, wenn sie bei ei-
ternehmen ein Brandschutzabkommen blem ist ein anderes. Wir haben es in ner zweiten Kontrolle auffallen. Vielleicht
unterzeichnet haben, dem sich inzwi- Bangladesch mit einem korrupten Sys- hätten wir in diesem Fall besser prüfen
schen viele andere angeschlossen haben. tem zu tun: Die zusammengestürzte müssen. Aber hätten wir diese Fabrik ver-
SPIEGEL: Das hätten Sie doch viel früher Fabrik war für weniger Stockwerke ge- lassen sollen? Ich glaube nicht, das hätte
tun können. Seit 2006 starben allein bei nehmigt, als es tatsächlich waren. Die niemandem genutzt. Weil die Fabrik si-
Bränden in Bangladeschs Textilfabriken Katastrophe hat nun alle – die Regierung gnalisiert hat, dass sie die Situation ver-
66 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Wirtschaft

bessern will, haben wir sie nach dem Un- Für eine unqualifizierte Näherin sind bis SPIEGEL: Warum verlangen Sie von Ihren
glück häufiger besucht. zu 100 Überstunden im Monat nötig, um Zulieferern nicht, höhere Löhne zu zah-
SPIEGEL: Es gab erschütternde Fotos der diesen Lohn zu erzielen. len, wenn man sich schon nicht über ei-
Toten aus dem Rana-Plaza-Building. Was Persson: Die Asia-Floor-Wage-Definition nen höheren staatlichen Mindestlohn ei-
lösen diese Fotos bei Ihnen aus? ist umstritten. Wir halten uns an das „Fair nigen kann? Sie sind der größte Einkäufer
Persson: Menschen sind gestorben. Das ist Wage Network“. Die haben 200 H&M- in Bangladesch. Sie haben die Macht.
furchtbar. Es ist schwer für mich, das an- Zulieferer und ihre Einkommensstruktu- Persson: Ich würde sofort einen H&M-
gemessen zu beantworten. Aber mich be- ren sowie Überstundenregelungen unter- Aufschlag zahlen und hätte gern ein fai-
wegt das genauso wie Sie. sucht. Es ist schwierig herauszufinden, res Lohnsystem für die gesamte Branche.
SPIEGEL: Was wird Sie das Brandschutz- was ein existenzsichernder Lohn ist. In der Praxis aber arbeiten die Menschen
abkommen kosten? SPIEGEL: Auch die Näherinnen, die in Ih- in einer Fabrik vielleicht zu 10 Prozent
Persson: 500 000 Dollar jährlich. Es läuft rem Auftrag arbeiten, werden nach einem für uns, die übrigen 90 Prozent für an-
über fünf Jahre, also insgesamt 2,5 Mil- täglich vorgegebenen Produktionsziel be- dere Unternehmen. Wenn nur wir mehr
lionen Dollar. zahlt. Warum ist es so schwierig, den Min- für unseren Teil der Waren zahlen, um
SPIEGEL: 500 000 Dollar sind nicht mal destlohn zu erhöhen oder aber einen fes- damit höhere Löhne zu ermöglichen,
0,0025 Prozent Ihres jährlichen Umsatzes. ten Monatslohn einzuführen? wäre das schwierig zu handhaben. Wir
Mehr ist Ihnen Verantwortung nicht wert? Persson: Dann bliebe vielleicht H&M in haben außerdem ein anderes Problem:
Persson: Das ist nur eine von vielen Akti- Bangladesch, aber Tausende andere Ein- Die Kunden denken, ein Shirt, das für
vitäten. Wir sind unter anderem der größte käufer würden sich woanders eindecken. 9,90 Euro verkauft wird, muss im Ge-
Abnehmer von biologischer Baumwolle. Das wäre ein Desaster für Bangladesch. gensatz zu einem für 49,90 Euro unter
Wir beschäftigen mehr als hundert Men- Hier gibt es rund 3,5 Millionen Textilar- ganz schlimmen Bedingungen hergestellt
schen, die sich nur mit Nachhaltigkeits- beiter, davon sind etwa 80 Prozent Frau- worden sein. Dabei stammt es aus der-
aspekten befassen. Wir gehen äußerst re- en. In 4500 Textilfabriken werden 20 Mil- selben Fabrik.
striktiv mit Chemikalien in Kleidung um.
Wir sind das erste Mode-Unternehmen, das Planet H&M
gebrauchte Kleidung wieder einsammelt Produktionsstätten
und einem Recycling zuführt. Und wir wol- unabhängiger Hersteller ialen
*
len bis 2015 CO2-neutral produzieren. 2908: Fil
SPIEGEL: Das klingt ambitioniert. davon d
tschlan
Persson: Das ist es auch. Deshalb ärgert 410 Deu
SA
es mich, wenn H&M als verantwortungs- 3 Schweden 268 U britannien
ß
233 Gro 2012
loser Billigheimer dargestellt wird. Wir
Niederlande 2 1 Lettland
M rd . € Umsatz
organisieren Programme, um den Dialog 1 Polen 16,3 eiter
zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten 4 Ukraine
104 0 00 Mitarb
zu fördern. Wir klären Textilarbeiter über Italien 25
24 Rumänien
ihre Rechte und Mindestlöhne auf. Mit 27 Bulgarien
18 Portugal Südkorea 37
unserem Einfluss vor Ort können wir für
Griechenland 3 262 China
einen echten Wandel sorgen. Es gibt wohl 194 Türkei
kaum eine andere Firma, die so langfristig Tunesien 5
nachhaltig denkt und investiert. Pakistan 8
SPIEGEL: Mit dem Brandschutzabkommen
165 Bangladesch
Ägypten 4
lösen Sie eigentlich nur eine Selbstver- Indien 104 11 Vietnam
ständlichkeit ein: sichere Arbeitsplätze Thailand 1
für die Näherinnen. Die restlichen Pro- Kambodscha 34
bleme bleiben – Zwangsarbeit, Überstun-
den, niedrige Löhne. Wann waren Sie das Sri Lanka 31
letzte Mal in Bangladesch? Indonesien 56
Persson: Im vorigen September. Ich habe * inkl. Franchise-Nehmer
die Premierministerin Scheich Hasina ge-
troffen und verlangt, dass die Mindestlöhne liarden Dollar Umsatz gemacht, 80 Pro- SPIEGEL: Die „Kampagne für Saubere Klei-
nicht nur angehoben, sondern jährlich neu zent der Exporte sind Textilien. dung“ hat ausgerechnet, dass ein T-Shirt
überprüft werden. Diese Forderung von SPIEGEL: Glauben Sie ernsthaft, andere gerade mal zwölf Cent mehr kosten wür-
uns ist nicht neu, wir haben bereits 2006 Unternehmen würden wegen so geringer de, wenn die Mindestlöhne in Bangla-
einen Brief an die Regierung geschrieben Mehrkosten den Produktionsstandort desch verdoppelt werden würden, weil
und höhere Mindestlöhne gefordert. 2010 wechseln? die Lohnkosten nur ein bis drei Prozent
haben wir diese Forderung wiederholt, der Persson: Das ist nicht so einfach, wie es des Endpreises ausmachen. Warum sor-
Mindestlohn wurde damals verdoppelt. vielleicht klingt. In der Textilindustrie ver- gen Sie angesichts solch marginaler Zu-
SPIEGEL: Der Mindestlohn beträgt umge- dienen die Angestellten schon heute besser satzkosten nicht für bessere Löhne?
rechnet etwa 30 Euro im Monat. Wissen als in der Landwirtschaft, auch Lehrer oder Persson: Noch einmal: Wir besitzen keine
Sie, wie viele Überstunden eine Näherin Ärzte bekommen kaum mehr. Würde man eigenen Fabriken, zahlen also die Löhne
machen muss, um den Lohn zu erzielen, den Lohn signifikant anheben, würde das nicht. Es muss eine Gesamtlösung geben.
damit sie eine vierköpfige Familie ernäh- gesamte Einkommensgefüge durcheinan- Es bringt nichts, wenn nur wir allein besser
ren kann? dergeraten. Gleichzeitig bitten Entwick- zahlen. Alle Einkäufer müssen an einem
Persson: Es gibt mehrere Definitionen, lungshelfer mich immer wieder, die Pro- Strang ziehen. Wenn wir die Zulieferer zu
welcher Lohn zum Lebensunterhalt be- duktion nach Afrika zu verlagern, die Men- 100 Prozent auslasten würden, ginge das
nötigt wird. schen dort würden die Jobs dringend be- vielleicht. So ist es aber in der Realität nicht.
SPIEGEL: Die Organisation „Asia Floor nötigen. Wenn ich das täte, würde das dort Wir haben bislang nur vier Fabriken, die
Wage“ sagt, dass ein existenzsichernder die Armut schmälern, okay. Ich wette, in ausschließlich für uns arbeiten. Dort pro-
Lohn bei etwa 120 Euro im Monat liege. Bangladesch käme sie schlagartig zurück. bieren wir auch einiges aus. Eine fünfte Fa-
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 67
günstiger zu verkaufen, dem Prinzip von
Nachhaltigkeit entgegensteht?
Persson: Nein. Konsum ist etwas Gutes.
Kein Unternehmen der Welt würde sich
mit weniger Absatz, weniger Kunden,
weniger Arbeitsplätzen zufriedengeben,
nur weil das gut für die Umwelt ist.
Wachstum ist ein Antreiber. Man muss
den Prozess nur gestalten, der Profit muss
nachhaltig erwirtschaftet werden. Unsere
Kunden sollen sich sicher sein, dass das
bei H&M an erster Stelle steht.
SPIEGEL: Die deutsche Eco-Fashion-Firma

ABIR ABDULLAH / PICTURE ALLIANCE / DPA


Hess Natur verkauft ihre T-Shirts für 19,95
Euro und verdient daran nur 28 Cent.
H&M verkauft T-Shirts für 4,95 Euro. Wie
viel verdienen Sie daran?
Persson: Das weiß ich nicht. Aber unser
durchschnittlicher Gewinn liegt bei mehr
als zehn Prozent. Firmen wie Hess Natur
beziehen keine so großen Mengen wie
Ausgebrannte H&M-Zulieferfabrik Garib & Garib 2010 in Bangladesch: „Das war ein Desaster“ wir. Sie sorgen auch nicht für so viele
Jobs weltweit. Dennoch: Auch wir haben
brik ist gerade im Aufbau. Dort werden be- SPIEGEL: Das Kampagnennetzwerk „Avaaz“ das Ziel, komplett faire Mode herzustel-
reits höhere Löhne gezahlt, und dort wird hat Sie vor kurzem in einer Anzeige abge- len. Mir schwebt ein weltweit gültiges
nur ökologische Baumwolle eingesetzt. Das bildet, auf der auch eine trauernde Frau Siegel für die Branche vor, ähnlich wie
ist keine Mumbo-Jumbo-Folklore, was wir aus Bangladesch zu sehen war. Die Frage das Fair-Trade-Siegel beim Kaffee. Nur
da machen. Wir meinen es ernst. lautete: „Enough Fashion Victims?“ Was wer sich an definierte Standards bei Löh-
SPIEGEL: Interessieren sich Kunden zu we- geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie so nen, Umwelt und sozialen Aspekten hält,
nig für die Herkunft ihrer Kleidung? etwas sehen? soll es an seine Textilien hängen dürfen.
Persson: Am liebsten würde ich an jedes Persson: Als weltweit agierendes Unter- Dann können die Kunden entscheiden,
Kleidungsstück unseren Nachhaltigkeits- nehmen sind wir nun mal eine Zielschei- wo und was sie kaufen.
report hängen. Denn je mehr der Kunde be. Das finde ich zwar unfair, weil wir SPIEGEL: Haben nicht gerade Sie die Kun-
weiß, desto größer wird der Druck auf im Gegensatz zu vielen anderen hart an den erst dazu erzogen, immer schneller
Firmen, die ihrer Verantwortung nicht Verbesserungen arbeiten. Gemessen an zu konsumieren? H&M bietet jeden Tag
nachkommen. Insofern ist der öffentliche anderen Ungerechtigkeiten, die es welt- neue Kleidungsstücke in seinen Geschäf-
Druck gut. Das zwingt uns, mehr zu ma- weit gibt, ist das aber marginal, und ich ten an. Wer braucht das?
chen. Ich gebe zu, vor 20 Jahren hatten kann gut damit leben. Persson: Das ist eine philosophische Frage.
weder wir noch andere Firmen das The- SPIEGEL: Es wurde zum Boykott von H&M 99 Prozent der Dinge des Alltags benöti-
ma Nachhaltigkeit auf dem Radar, weil aufgerufen. Spüren Sie Auswirkungen? gen wir nicht, den regelmäßigen Friseur-
der Druck fehlte. Aber die Fortschritte Persson: Nein. Wir hatten bisher ein gutes besuch genauso wenig wie neue Klei-
seither sind enorm – zumindest für uns. Jahr, obwohl die Textilbranche als Gan- dung. Was hieße es denn, wenn wir alle
SPIEGEL: Kam es für Sie nie in Frage, eige- zes gerade Probleme hat. Dennoch ist 20 Prozent weniger konsumieren? Es
nen Fabriken aufzubauen? es natürlich nicht hilfreich, wenn zum würde bedeuten: 20 Prozent weniger
Persson: Nein, das wäre ein komplett an- Boykott aufgerufen wird. Deshalb spre- Jobs, 20 Prozent weniger Steuern, 20 Pro-
deres Geschäftsmodell. Unser Geschäft chen wir auch mit kritischen Institutio- zent weniger Geld für Schulen, Ärzte,
ist Design und Handel, darin haben wir nen oder Nichtregierungsorganisationen. Straßen. Die Weltwirtschaft würde zu-
lange Erfahrung, darauf wollen wir uns Viele von denen sagen, wir machen ei- sammenbrechen. Ich bin der festen Über-
fokussieren. Kaum ein Händler hat eige- nen guten Job. Ist er perfekt? Nein. Aber zeugung, dass die Welt durch Wachstum
ne Fabriken. Das muss aber kein Nachteil die Kunden müssen verstehen, dass das heute besser ist als vor 20 Jahren. Und
sein. Wir haben trotzdem Millionen Men- ein langfristiger Einsatz von unserer sie wird in 20 Jahren besser sein als
schen Jobs gegeben, die vor 20 Jahren Seite ist. heute.
noch in Armut lebten. Das ist phantas- SPIEGEL: Liegt das nicht auch daran, dass SPIEGEL: Würden Sie im Zweifel dennoch
tisch. Wir sorgen für ein besseres Leben. die Geschäftsphilosophie von H&M, also auf Wachstum und Gewinn verzichten,
SPIEGEL: Jetzt tun Sie so, als hätten Sie immer schneller, immer mehr und immer um nachhaltiger zu werden?
keine ökonomischen Interessen, sondern Persson: Das ist eine schwierige Frage. Ich
MARKUS MARCETIC / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL

wären eine Charity-Organisation. könnte Ihnen jetzt sagen, wir investieren


Persson: Nein, da verstehen Sie mich morgen fünf Milliarden Euro in Nachhal-
falsch. Wir sind ein profitorientiertes und tigkeit. Würde das etwas bringen? Ja,
wettbewerbsfähiges Unternehmen. Wir denn wir glauben, dass Wachstum, Profit
sind aus vier Gründen in Bangladesch und Nachhaltigkeit keine Gegensätze
oder China: geringe Kosten, gute Quali- sind. Aber wir wollen sowohl ein faires
tät, Nachhaltigkeit und Marktnähe. Trotz- als auch profitables Unternehmen sein,
dem ist es für mich kein Widerspruch, denn sonst könnten wir keine neuen Fi-
kostengünstig zu produzieren und Wohl- lialen eröffnen, keine Designs mehr pro-
stand vor Ort zu schaffen. duzieren, keine neuen Jobs schaffen.
H&M gäbe es bald nicht mehr.
* Mit den Redakteuren Janko Tietz und Susanne Amann Persson beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Herr Persson, wir danken Ihnen
in Stockholm. „Keine Mumbo-Jumbo-Folklore“ für dieses Gespräch.
68 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Wirtschaft

sche Zeitungen formulierten es drasti- Brasilien auserwählt hatte. Das boomen-


KONZE RNE scher: Jahrelang habe Batista den Inves- de Schwellenland Brasilien, so Batistas
toren „Luft in Tüten“ verkauft, nun er- Versprechen an Investoren, werde in den

Flucht nach halte er die Quittung.


Auch die gemeinsam mit E.on ge-
haltene Stromtochter MPX drohte in den
nächsten Jahren neue Kraftwerke brau-
chen. Viele davon werde MPX mit Un-
terstützung der Regierung bauen.

vorn Strudel zu geraten. Da half es auch nicht,


dass E.on seinen Anteil bereits im März
von knapp 12 auf rund 36 Prozent aufge-
Rund 350 Millionen Euro für einen An-
teil von knapp zwölf Prozent schienen
Teyssen ein vertretbarer Preis, um in ei-
Zusammen mit einem Milliardär stockt und den Brasilianern weitere 700 nem solchen Wachstumsmarkt dabei zu
verfolgte E.on in Brasilien ehrgei- Millionen Euro überwiesen hatte. Der sein, auch wenn die Firma damals noch
zige Pläne. Die muss der Energie- damals gefasste Plan, über eine Kapital- nicht viel vorzuweisen hatte.
erhöhung Geld an der Börse zu beschaf- Dafür trumpfte Batista bei der Vertrags-
versorger nun allein umsetzen, der fen, um die Expansionsziele der Strom- unterzeichnung mächtig auf. Der E.on-
Partner steckt in Schwierigkeiten. tochter zu finanzieren, „war mit Batista Chef durfte den im Wohnzimmer des Mil-
und den Problemen in seinem Firmenim- liardärs geparkten 450 000 Euro teuren

B
örsenankündigungen und Presse- perium nicht mehr umzusetzen“, sagt McLaren-Mercedes-Sportwagen bestau-
erklärungen waren bereits geschrie- nen. Dazu gab es Champagner,
ben, lediglich Daten, genaue Sum- Samba-Rhythmen und signierte
men und die Uhrzeit mussten noch ein- Trikots der brasilianischen Fuß-
gesetzt werden. Bis vier Uhr morgens saß balllegenden Pelé und Cacau.
in der Nacht zum Donnerstag ein ganzes Er habe den „idealen Partner“
Team von Spezialisten in der Düsseldor- für das Geschäft in Brasilien ge-
fer Zentrale des Energiekonzerns E.on funden, frohlockte Fußballfan
bereit, um die frohe Kunde aus Brasilien Teyssen damals. Selbst jetzt, da
möglichst schnell an Aktionäre und Fi- Batista weg ist, will er von „Auf-
nanzmärkte zu verteilen. schneiderei oder windigen Ge-
Doch die Lateinamerikaner ließen sich schäften“ nichts wissen – schon
Zeit. Erst am Donnerstag, kurz vor Mit- gar nicht in Bezug auf die Strom-
tag, kam die erlösende Mitteilung aus Rio tochter MPX. „Das Geschäftsmo-
de Janeiro. E.on, hieß es darin, habe sich dell“, sagt Teyssen, sei „nach wie
zusammen mit anderen Partnern zu einer vor überzeugend und bietet die
Kapitalerhöhung von rund 270 Millionen Chance auf Wachstum und Ge-
Euro bei seiner brasilianischen Stromtoch- winne“. Nur müsse man die Sa-
ter MPX entschlossen. Rund 135 Millionen che nun eben selbst machen.

RICARDO MORAES / REUTERS


davon werde der Düsseldorfer Energieriese In Russland habe man gezeigt,
kurzfristig aufbringen. Gleichzeitig lege dass E.on zu solchen Geschäften
der bisherige Aufsichtsratschef und Fir- in der Lage sei. Dort hat der
mengründer Eike Batista seine Ämter bei Konzern in den vergangenen
MPX mit sofortiger Wirkung nieder. Jahren rund fünf Milliarden
„Das ist ein Befreiungsschlag“, freute Euro in den Aufbau neuer Kraft-
sich E.on-Chef Johannes Teyssen in Lon- werke investiert, in diesem Jahr
don, wo er mit Siemens-Chef Peter Lö- erhalte er aus der russischen Ge-
scher einen großen Offshore-Windpark sellschaft, so Teyssen, immerhin
einweihte. Denn für die Wachstumspläne rund 400 Millionen Euro allein
des Firmenlenkers war der frühere brasi- an Dividenden.
lianische Multimilliardär und Inhaber Ähnlich erfolgreich soll das
eines riesigen Firmenimperiums in den Geschäft nun auch in Brasilien
vergangenen Wochen und Monaten zu laufen. Das Management wurde
einem ernsthaften Risiko geworden. neu aufgestellt, als Aufseher setz-
Noch im vorigen Jahr hatte das US-Ma- te Teyssen mit E.on-Vorstand
ROLF VENNENBERND / DPA

gazin „Forbes“ den Brasilianer mit deut- Jørgen Kildahl einen engen Ver-
scher Abstammung zum siebtreichsten trauten ein.
Mann der Welt erkoren. Inzwischen hat An der Strategie der Firma soll
er rund zehn Milliarden Dollar und damit sich nichts ändern. MPX will in
mehr als die Hälfte seines Vermögens ver- ganz Brasilien Windparks und
loren. Der Börsenwert seiner Öl-und-Gas- MPX-Gründer Batista, E.on-Chef Teyssen Kraftwerke bauen. Lediglich
Firma sank seit 2011 zeitweise um 98 Pro- Zum ernsthaften Risiko geworden beim Tempo muss E.on mögli-
zent – Batistas Versprechen zu künftigen cherweise ein paar Abstriche ma-
Umsätzen und Gewinnen hatten sich als Teyssen. Und so beschloss der deutsche chen. Kapazitäten von 20 Gigawatt, das
allzu windig erwiesen. Manager, die Flucht nach vorn anzutreten entspricht einer Leistung von 20 Atom-
Als dann auch noch Rating-Agenturen und Batista aus seiner eigenen Firma zu kraftwerken, wollte MPX in kürzester
die Kredite seines Unternehmens auf verbannen. Damit hat E.on zumindest Zeit aufbauen und damit zum Marktfüh-
Ramschniveau absenkten, musste Batista für eine Übergangszeit faktisch die Füh- rer in Brasilien aufsteigen.
in immer kürzeren Abständen immer grö- rung bei MPX in Brasilien übernommen – Doch diese Ankündigung, sagt Teyssen
ßere Teile seines Vermögens verkaufen. ein Schritt, der so nie geplant war. vorsichtig, „stammt noch aus der Zeit
Finanzmärkte und Investoren, sagt Eigentlich war Teyssen überglücklich, von Batista“. Soll heißen: Sie war, wie so
Teyssen, hätten einfach kein Vertrauen als Batista ihn im Jahr 2012 als Junior- vieles, vielleicht ein wenig übertrieben.
mehr in den Geschäftsmann. Brasiliani- partner für die „gewaltigen Aufgaben“ in FRANK DOHMEN

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 69
nehmsten Adressen für die Geldvermeh-
rung gehobener Kreise. Die Bank soll zu-
geschaut haben, wie ihr Kundenbetreuer
die reiche Dame ins Desaster stürzte.

TOM HUBER / 13 PHOTO / DER SPIEGEL (O.); MIT SLOAN (L.); DANIEL REINHARDT / PICTURE ALLIANCE / DPA (M.); FRANK MÜLLER / ACTION PRESS (R.)
Ende Mai ist der Prozess in Boston mit
einer Anhörung angelaufen; er verspricht
nicht nur einen hässlichen Streit um
schnödes Geld, über das man in diesen
Kreisen eigentlich nicht redet. Er ver-
strömt auch den unangenehmen Geruch
von Zank, zerbrochener Freundschaft
und verlorenem Ansehen.
Die Klägerin Corinna von S. kommt
aus Meggen, einem Dorf am Vierwald-
stätter See, bekannt für seine niedrigen
Steuersätze und eine umso höhere Mil-
lionärsdichte. Allerdings gehört sie zu der
Sorte reicher Menschen, von denen Leser
des „Goldenen Blatts“ noch nie gehört
haben, was auch daran liegen kann, dass
Rothschild-Bank in Zürich: Eine der vornehmsten Adressen der Geldvermehrung Frau S. bis 2002 nicht mal selbst etwas
von ihrem wahren Reichtum gehört hatte.
Erst nach dem Tod ihrer Mutter, so die
Klageschrift, habe sie erfahren, dass einer
ihrer Vorfahren nicht nur ein Pionier des
Chemieriesen Ciba-Geigy war. Er hatte
auch ein Aktienpaket der Firma hinter-
lassen, deren Nachfolger heute Novartis
heißt. Wert: rund 200 Millionen Euro.
Mit dem SPIEGEL wollte Corinna von
S. nicht reden; glaubt man ihren Beratern,
hat sie allein schon die Anfrage so ener-
viert, dass sie tagelang verstört gewesen
sei. Das passt in das Bild, das ihre Anwäl-
Beklagter Preston, Investoren Prinz zu Schleswig-Holstein, Henkel: Großes versprochen te auch vor Gericht zeichnen wollen: auf
der einen Seite eine naive, schüchterne
Frau, auf der anderen ausgefuchste Profis
A F FÄ R E N auf der Jagd nach „stupid money“, dem
Geld der Dummen.

Alchemie für Reiche Auf der anderen Seite des Falls – und
des Atlantiks – steht John T. Preston, als
Kopf diverser Firmen, in die das Geld aus
der Schweiz floss. Für einen Mann, der win-
Erregung in feinsten Kreisen: Ein Rothschild-Berater soll dige Geschäfte gemacht haben soll, hat er
eine adlige Kundin in Deals getrieben haben, bei exzellente Referenzen: Bis in die Neunziger
war er Direktor am MIT in Cambridge, der
denen sie 44 Millionen Dollar verlor. Nun klagt sie in den USA. wohl renommiertesten Technischen Hoch-
schule der Welt. Preston kümmerte sich

S
chwer zu sagen, wann die Millionä- Faszinierend. Erst recht, weil der Fir- um die Vermarktung dessen, was MIT-For-
rin Corinna von S. anfing, an das menchef um Verständnis bat, dass sie kein scher herausfanden. In seinem Lebenslauf
Wunder der Alchemie zu glauben, Stück Papier über die angebliche Pionier- tauchen auch Auftritte als Sachverständiger
an die Verwandlung von Schrott in kost- tat mitnehmen dürfe. Alles topsecret. im US-Kongress auf, dazu Jobs für das US-
bares Metall. Und dass man sein Geld Und zweitens war da laut Klage im Jahr Verteidigungsministerium und die Nasa.
kaum besser anlegen kann als in eine Fir- 2006 noch ein Treffen: Gerade als Corinna Bekannt war er allerdings auch für eine
ma, die diese Wundertechnik beherr- von S. zum AOM-Chef vorgelassen wurde, Vorlesung, bei der er Studenten in die
schen soll. Aber zumindest enthält die ließ der sich von einem Security-Experten „Elevator Speech“ einführte. Also in die
Schadensersatzklage, die ihre Anwälte beraten. Wie Corinna von S. das damals Kunst, sich an mögliche Geldgeber heran-
jetzt beim Superior Court von Massachu- verstand – verstehen sollte? –, ging es um zuwanzen, sie für ein Projekt zu begeis-
setts eingereicht haben, zwei Hinweise, die Sicherheit des Managers. Worauf er tern, wenn man dafür nur so viel Zeit hat,
wie es so weit kommen konnte. achten müsse, wenn er in Kürze welt- wie die Fahrt mit ihnen im Aufzug dauert.
Der erste: Zwischen 2004 und 2006 be- berühmt sei, wegen dieser grandiosen Er- Und weil Start-ups meist kaum Geld ha-
suchte Corinna von S. ein Labor in Fall findung, die alles verändern werde. ben, lernten sie als goldene Regel für
River, USA – ein Labor der Firma AOM, Klingt wie eine Räuberpistole? Mag Cocktailpartys, auf denen man wichtige
in die sie so viel Geld steckte. Sie bekam sein, aber eine mit großem Kaliber. Denn Leute trifft: nie die Party selber schmei-
zwei Bröckchen überreicht, auf einem der Verlust, den die Schweizer Adlige in ßen. „Never spend your own money.“
Aufkleber stand in Rot: „Mit diesem einem US-Firmengestrüpp erlitten hat, Als Preston dann 1999 mit einem Part-
Metall, aus einem der ersten AOM-Expe- liegt laut Klage bei 44 Millionen Dollar. ner die AOM gründete, verließ er sich of-
rimente, ist es der Menschheit erstmals Und für den Schaden soll die Rothschild- fenbar auf beides, sein Renommee und
gelungen, ein Element umzuwandeln.“ Bank in Zürich mithaften, eine der vor- seine goldene Regel. Preston versprach
70 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Wirtschaft

Großes. In der Klage ist tatsächlich von Offenbar glaubte auch der Baron an Nicht nur Corinna von S. ließ sich kö-
„Alchemie“ die Rede. Eine Art elektro- die Erfolgsstory. Sonst hätte er sich – laut dern. Als Anleger mit dabei in Prestons
magnetische Maßschneiderei, bei der nor- Klage – kaum mit Anteilen bezahlen las- Firmengeflecht waren nun auch Wasch-
malen Metallen erstaunliche Eigenschaf- sen, die sich später als so gut wie wertlos mittelmilliardär Christoph Henkel, der
ten angehext werden sollten. Kupfer wür- herausstellten: Die AOM-Aktien der mit P. verschwägerte Christoph Prinz zu
de magnetisch werden, Eisen so hart wie Schweizer Adligen, einst für 14 Millionen Schleswig-Holstein, eine Kölner Bankiers-
Diamanten. 100 Millionen Dollar sei AOM Dollar gekauft, würden ihren Anwälten gattin. Damals alles Gläubige John Pres-
wert, behauptete Preston 2003 laut Klage. zufolge heute noch 53 000 Dollar bringen. tons, heute vermutlich eher seine Gläu-
Damit überzeugte er den deutschstäm- Auch nachdem sich Baron von P. 2006 biger, wie Corinna von S. Denn NC 12,
migen Investment-Experten Johan von selbständig gemacht hatte, arbeitete er die frühere Texas Syngas, musste Insol-
der Goltz, der mit seiner Firma in Boston weiter als Anlageberater der Millionärin. venz anmelden, und über CET, die frü-
Risikokapital einsammelt. Von der Goltz Und auch die Rothschild-Bank blieb of- here AOM, schrieb Preston 2011 selbst:
hatte die nötigen Beziehungen zu Geld- fenbar im Geschäft: Zu Terminen für sei- „Entweder ist die Firma eine große Sum-
gebern in Europa. Schon kurze Zeit spä- ne Kundin fuhr der Baron angeblich wei- me Geld wert oder gar nichts.“
ter machte er Preston mit einem Freund ter in die Bank; eine Visitenkarte wies Die meisten Investoren wollen sich
bekannt: Wilfrid Baron von P., 71, alter dazu nicht äußern. Der Kölner Bankiers-
deutscher Adel, verheiratet mit einer ge- ANZEIGE frau ist die Sache heute unangenehm:
borenen Prinzessin zu Schleswig-Hol- „Ich habe auch Geld verloren“, sagt sie
stein, die wiederum befreundet war mit nur. Die Privatbank Rothschild weist im
Corinna von S. Adel unter sich. Fall Corinna von S. alle Vorwürfe „kate-
Man kennt sich, vertraut sich, verlässt gorisch zurück“. Man werde sich „dage-
sich auf die Ehre des anderen. Baron von gen mit allen uns zur Verfügung ste-
P., damals Direktor bei der Privatbank henden Mitteln wehren“. Zu einzelnen
Rothschild in Zürich, hatte mit Corinna Sachverhalten könne man sich wegen des
von S. noch keine Geschäfte gemacht. laufenden Verfahrens aber derzeit nicht
Aber kaum dass sie 2002 geerbt hatte, äußern. Preston und Baron von P. rea-
sollte sich das ändern. Baron von P. hatte gierten nicht auf eine SPIEGEL-Anfrage.
einen heißen Tipp für sie: AOM. Anders Investment-Experte von der
Zunächst lagen die Novartis-Aktien der Goltz: Preston habe ihn einst von „tech-
reichen Dame aber noch bei einer ande- nisch hochinteressanten Möglichkeiten“
ren Bank. Glaubt man ihren Anwälten, überzeugt. Heute würde er aber nie mehr
machte Baron von P. Druck, einen Teil in eine Preston-Firma investieren; er
zu verkaufen. Das „Klumpenrisiko“ sei habe selbst Geld verloren. Und über den
zu groß, sie solle ihr Vermögen streuen. Baron sagt er: „Das war ein enger
Den Erlös überwies Corinna von S. zur Freund.“ Betonung auf „war“. Corinna
Rothschild-Bank, wie empfohlen. Dort von S. tue ihm leid.
eröffnete sie sechs Konten, jedes für eine Ein Prüfbericht, den die Anwälte der
andere Anlagestrategie. Für die riskan- Millionärin 2011 bei einer Beraterfirma
teste, Unternehmensbeteiligungen, soll- in Auftrag gaben, kam zu vernichtenden
ten höchstens 5 Prozent verwendet wer- Ergebnissen: Baron von P. habe Informa-
den. Am Ende, so die Klage, seien daraus tionen von Preston meist nur mündlich
40 Prozent geworden. erhalten, allerdings auch mal Telefonkon-
Anfang 2004 kaufte Corinna von S. ferenzen geschwänzt. „Das Fehlen eines
zum ersten Mal AOM-Aktien, für zehn Investorenprospektes und unabhängiger
Millionen Dollar. Preston hatte ihr angeb- Prüfungen“ seien „Stopp-Zeichen“, die
lich versichert, die AOM-Technik stehe P. nicht beachtet habe. Und AOM und
knapp vor der Marktreife; noch ein Test, CET seien in Wahrheit nie über Forschun-
dann sei es so weit. Doch so wenig sie je gen im Frühstadium hinaus gekommen,
einen Prospekt oder Geschäftspläne ge- Texas Syngas und NC 12 kaum weiter.
sehen haben will, so wenig soll die Bank Preston sagte den Prüfern, er wünsche
die Firma durchleuchtet haben, klagt sie sich nichts sehnlicher als Erfolg für seine
heute. Im Gegenteil: Berater P. habe so- Firmen. Die Prüfer unterstellen ihm keine
gar gesagt, das sei unnötig. Betrugsabsicht, wohl aber, dass er vor lau-
Selbst dann, als er ihr 2006 nahelegte, ter Technikbegeisterung seine Pflicht ver-
noch mal vier Millionen in die Firma zu ihn laut Klage als „Berater von Roth- gessen habe, „offensichtliche Probleme
stecken. Da stand AOM angeblich immer schild“ aus. An den Geschäften mit korrekt zu lösen“. Zu denen gehörte dem-
noch kurz vor dem Durchbruch; Preston Corinna von S. soll Rothschild über die nach auch eine „unglaublich hohe Geld-
soll den Firmenwert inzwischen sogar mit Jahre 450 000 Franken verdient haben. verbrennungsrate“, etwa für Jahresgehäl-
500 Millionen Dollar beziffert haben. Wie es um die US-Anlage stand, soll ter von 500 000 Dollar und mehr.
Die Anwälte der Millionärin erklären Corinna von S. dagegen niemand verra- Im Superior Court, Raum 1309, wies
die Vorliebe ihres Beraters für AOM da- ten haben. 2010 brauchte Preston erneut der Richter nun Ende Mai die Rothschild-
mit, dass Baron von P. auf beiden Seiten frisches Geld für die AOM, die er inzwi- Bank an, interne Papiere herauszurücken.
kassiert haben soll: Erst habe er sich von schen in CET umgetauft hatte. Kein gutes Der Anwalt des Barons argumentierte da-
seiner Kundin zehn Prozent ihrer AOM- Zeichen. Doch da hatten Preston und der gegen, das US-Gericht sei nicht zuständig.
Aktien übertragen lassen – als Belohnung, Baron den Blick der Millionärin längst Ob das der Richter auch so sieht, wird
dass er die AOM ausfindig gemacht habe. auf andere Firmen gelenkt: wieder Pres- sich wohl im August zeigen. Beim nächs-
Dann soll er auch von Preston noch AOM- ton-Firmen, denen angeblich ein raketen- ten Treffen im Kampf um Geld und Ehre.
Aktienoptionen im Wert von 250 000 Dol- hafter Aufstieg bevorstand, mit Namen JÜRGEN DAHLKAMP, JÖRG SCHMITT,
lar angenommen haben. wie Texas Syngas oder NC 12. SEBASTIAN SCHNEIDER

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 71
Panorama

LI BYEN HONDURAS lichkeit vor. Das Projekt, Mitte Juni


A t l a n t i k von Nicaraguas Parlament bewilligt,
soll 40 Milliarden Dollar kosten und
Nato warnt vor Anarchie N I C A R A G U A wäre eine Alternative zum 99 Jahre
alten Panamakanal, der gerade für
Mana-
Libyen stehe knapp zwei Jahre nach gua
Nicaragua-
mehr als fünf Milliarden Dollar er-
Bluefields
dem Sturz des Diktators Muammar See Drei mögliche weitert wird. Der Nicaragua-Kanal
al-Gaddafi vor dem Zerfall – warnt Punta Gorda Varianten zum solle deutlich breiter und tiefer wer-
eine Nato-Delegation, die Ende Juni Rivas San Juan Kanalbau durch den – und sei damit geeignet, viel
das Land bereiste. „Alle Parteien in Nicaragua größere Schiffe aufzunehmen, so
Libyen sind der Ansicht, dass die der- San José Wang. „Die Aussichten sind gut
zeitige Lage des Landes fragil und un- Panamakanal und werden jeden Investor zum
haltbar ist“, heißt es in dem vertrau- Colón Lächeln bringen.“ Allerdings
lichen Bericht der Delegation, der dem COSTA RICA wäre die neue Wasserstraße mit
Panama-Stadt
SPIEGEL vorliegt. „Armee und Poli- 286 Kilometern auch mehr als
zei sind derzeit nicht in der Lage, die Pa z i f i k dreimal so lang wie der Panama-
P A N A M A
Sicherheit zu garantieren“, so die Ab- 100 km
kanal und würde, wie Umwelt-
gesandten. In Libyen befinde sich 2011: 14 684 schützer kritisieren, wohl durch
„das weltweit größte ungesicherte Ar- Panamakanal- den Nicaragua-See führen, die größ-
senal von Waffen“, darunter Minen, Schiffspassagen te Süßwasserreserve Zentralamerikas.
Munition sowie tragbare Flugabwehr- Wang behauptet, die Bewohner der
systeme. „Die Unfähigkeit der liby- Kanalzone freuten sich auf die Jobs,
schen Behörden, die Kontrolle über W E LT H A N D E L
die der Bau bringe. Bei einem Besuch
das Staatsgebiet herzustellen, hat es hätten sie ihn mit „China!“- und
kriminellen und anderen bewaffneten „Kanal!“-Rufen begrüßt. Ende 2014
Gruppen einschließlich transnatio-
nalen Dschihadisten-Netzwerken er-
Chinesischer Kanal soll Baubeginn sein. Nicaraguas links-
gerichteter Präsident Daniel Ortega –
laubt, Libyen als Basis oder Transit Der Mann, der eine neue Ära im Welt- mit dessen Sohn der Investor be-
für militärische Aktivitäten zu nut- handel heraufbeschwört, ist 40 Jahre freundet ist – verfolgt mit dem Kanal
zen“, heißt es weiter. Der libysche alt, lebt mit Mutter, Bruder und auch ein politisches Ziel: Wangs Firma
Außenminister Mohammed Imhamid Tochter in Peking und hat Chinesische soll die Konzession für 50 Jahre erhal-
Medizin studiert. Wochenlang war ten, das ist eine Provokation für die
über Wang Jing spekuliert worden, US-Regierung. Denn damit würden
nun stellte sich der Multimillionär, der Nicaragua und eine chinesische Firma
einen neuen Kanal zwischen Pazifik einen Engpass des Welthandels kon-
und Atlantik bauen will, der Öffent- trollieren.

UKRAINE
Nikolajew die 18-jährige Oksana
Makar vergewaltigt, angezündet und
ISMAIL ZETOUNI / REUTERS

auf einem Baugelände zurückgelassen.


Flammende Wut Obwohl die Frau drei Wochen später
starb, erhob die Staatsanwaltschaft
Eine Vergewaltigung – ausgerechnet nicht einmal Anklage. Zwei Täter sind
durch Polizisten – hat landesweite Em- Söhne ehemaliger, aber immer noch
Milizionäre in Tripolis pörung und eine Debatte über Behör- einflussreicher Regierungsbeamter.
denwillkür ausgelöst. Zwei Männer wa- Erst nach Protestmärschen in Kiew
Abd al-Asis wird mit den Worten zi- ren in dem südukrainischen Ort Wradi- und Nikolajew wurden die Männer zu
tiert, Libyen werde zu einem „geschei- jewka über eine Frau hergefallen, ein hohen Haftstrafen verurteilt.
terten Staat“ („failed state“), wenn Taxifahrer schaute seelenruhig
die internationale Gemeinschaft nicht zu. Weil die örtliche Polizei ihre
eingreife. Die Regierung in Tripolis Kollegen zunächst unbehelligt
hat die Nato gebeten, den Aufbau ei- ließ, versammelten sich rund
ner bis zu 35 000 Mann starken Natio- tausend Einwohner vor dem Re-
nalgarde zu unterstützen. Doch die vier. Sie warfen Steine und
Militärexperten aus Brüssel äußern steckten das Gebäude in Brand.
Zweifel an dem Konzept. Sie bemän- Der Oppositionspolitiker und
geln, dass die neue Truppe direkt dem Boxweltmeister Vitali Klitschko
libyschen Premierminister unterste- sagte, der Fall sei ein „Weckruf
hen soll. Zudem müssten auf jeden für die Gesellschaft“. Immer
GLEB GARANICH / REUTERS

Fall die regierungskritischen Revolu- wieder werden in der Ukraine


tionsgarden mit einbezogen werden. ähnliche Skandale bekannt:
„Sie zu ignorieren ist vollkommen un- Polizisten oder Politiker bege-
realistisch.“ Aber es mangle den Re- hen Verbrechen – und bleiben
gierungsstellen an der „Fähigkeit, Rat straffrei. Im März vergangenen
anzunehmen und umzusetzen“. Jahres hatten drei Männer in Protest gegen Polizeiwillkür in Kiew

72 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Ausland

ANTONIO BRONIC / REUTERS


Neuer Vorposten Kroatien lässt seine Polizisten mit sogenannte Balkanroute. Über diese schaffen Schmuggler
modernen Nachtsichtgeräten ausstatten. Denn seit das Land illegale Einwanderer und Drogen nach Europa. Kroatien ist das
vor einer Woche der Europäischen Union beigetreten ist, hat 28. EU-Land. Nach dem Zerfall Jugoslawiens hatte es die
es 1350 Kilometer EU-Außengrenzen zu bewachen. Jenseits Unabhängigkeit erkämpft. Heute setzt sich Zagreb dafür ein,
davon liegen Bosnien, Serbien und Montenegro – und die dass auch der Ex-Feind Serbien der EU beitreten kann.

PA K I S TA N
Amtszeit 1999 anstieß.
Damals scheiterte er am
Widerstand des pakistani-
Gegen die Extremisten schen Militärs. Diesmal
provoziert Sharif den Un-
Unter dem neuem Premier Nawaz mut heimischer Extremis-
Sharif könnten sich die Beziehungen ten: Pakistan dürfe keinen
zu Indien entspannen. Um einen Frie- Strom von Indien kaufen,
densprozess in Gang zu bringen, ver- fordert Hafis Said, Chef
einbarten Sharifs außenpolitischer der islamistischen Organi-
Berater und Indiens Außenminister sation Jamaat-ud-Dawa.
am Rande einer Konferenz südostasia- „Indien produziert Strom
tischer Staaten in Brunei, enger zu- mit pakistanischen Flüssen
GAILLARD / LE FIGARO MAGAZINE / LAIF

sammenarbeiten zu wollen. Spätestens und bietet uns diesen dann


im September könnten auch Sharif zum Kauf an.“ Said gilt
und der indische Premier Manmohan mit als Drahtzieher des
Singh zusammenkommen. Sharif will Terroranschlags auf die in-
mit Indien über den Kauf von Strom dische Metropole Mumbai
verhandeln. Mit seinen Signalen der 2008; für seine Ergreifung
Versöhnung knüpft der Premier an haben die USA eine Beloh-
den legendären Friedensprozess von nung von zehn Millionen
Lahore an, den er in einer früheren Militärzeremonie an der indisch-pakistanischen Grenze Dollar ausgesetzt.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 73
KHALIL HAMRA / AP / DPA
Einsatz gegen Anhänger der Muslimbrüder in Kairo: „Wir sind die Opfer eines kriminellen Staatsstreichs“

ÄGYPTEN

Revolution reloaded
Volk und Militär haben zusammen die Regierung von Präsident Mursi gestürzt.
Ein Zeichen fehlender Demokratie – oder genau das Gegenteil? Der Aufstand
aus Sicht einer Tamarud-Aktivistin, eines Unpolitischen und eines Muslimbruders.

E
ntschuldigung, Jasmin, eine Frage: tern, am Mittwochabend, haben sie end- gelandet waren. Sie waren aufgedreht, und
Wie legitim ist so eine Revolution, lich gesiegt. sie feierten Mahmud Badr, ihren gewählten
wenn das Volk die Armee herbei- Bis vier Uhr morgens tanzten, sangen, Anführer, der hinter Armeechef Abd al-
zwingen muss? Das kommt einem doch jubelten sie vor dem Präsidentenpalast in Fattah al-Sisi saß, als dieser die entschei-
vor wie auf dem Spielplatz, auf dem einer Kairo, danach gingen sie zusammen in die denden Worte in die Kameras sprach: Prä-
Streit anfängt, weil er weiß, dass der konspirative Wohnung, die sie vor zwei sident Mohammed Mursi habe die Forde-
Lärm den großen Bruder herbeiruft? Monaten gemietet hatten, im obersten Ge- rungen des Volkes enttäuscht, er werde
Eine wichtige Frage, sagt Jasmin al- schoss eines zehnstöckigen Hauses, kein durch den Verfassungsrichter Adli Mansur
Guschi, auch ihre Freunde finden das, Namensschild an der Tür. Nur neun Men- ersetzt; es solle bald gewählt werden, bis
sehr wichtige Frage, klar, auf jeden Fall. schen wussten, dass hier die Revolution dahin würden Technokraten regieren.
Man wird sie später beantworten, okay? wohnte, sagt Jasmin. Sie nennen die Woh- Ein Symbol für diesen Umsturz war
Dies ist nicht der Moment für schwie- nung „Control Room“, hier stehen immer das, wie sie da saßen: in der Mitte der
rige Fragen, nicht jetzt, nach getaner Re- noch ihre Computer, hier haben sie einen General, um ihn herum der koptische
volution. In den vergangenen Wochen Teil der Unterschriftenlisten versteckt. Papst, der Großscheich der islamischen
hat die sanfte, schöne Jasmin ein Dut- In der Nacht nach dem Sieg waren sie Azhar-Universität, der Friedensnobel-
zend Mal ihr Leben riskiert, sie wäre froh und erleichtert, erzählt Jasmin, allein preisträger Mohamed ElBaradei – und
beinahe im Gefängnis gelandet, und ges- schon deshalb, weil sie nicht im Gefängnis eben er, Mahmud Badr, Anführer der
74 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Ausland

rebellischen Jugend. Er trat gleich nach seines bisherigen Lebens markiere – und Am Tag nach Mursis Sturz haben die
dem General ans Rednerpult und hielt den Anfang eines neuen. Sharaf gehörte Muslimbrüder sich zurückgezogen in
eine bewegende Ansprache. bis dahin zum unpolitischen Bürgertum, Viertel wie Nasr City, eine Hochburg der
Doch was genau ist an diesem Abend er war einer von jenen, die vorwurfsvoll, Islamisten im Nordosten von Kairo. Schät-
geschehen? Wie soll man es nennen, wenn auch scherzhaft „Hisb al-Kanaba“ zungsweise 7000 Menschen haben sich
wenn Volk und Militär zusammen die Re- genannt werden, die Kanapee-Partei. Die, vor der Moschee am Platz Rabaa al-Ada-
gierung stürzen? Ist das ein Zeichen man- die nur auf dem Sofa sitzen und Politik wija versammelt, sie haben Zelte aufge-
gelnden demokratischen Bewusstseins – den anderen überlassen. „Aber in den baut, eine ganze Zeltstadt, denn sie wol-
oder genau das Gegenteil? vergangenen zwei Monaten habe ich viel len bleiben. Vor allem Männer sind da,
Irgendwann wurden die Rebellen gelernt: Ich muss mich einmischen. Un- von jung bis greisenhaft, alle mit stren-
schließlich doch müde in ihrem Control bedingt! Sonst geht mein Land vor die gem Gesicht, viele tragen Bauhelme, hal-
Room. Draußen war es wieder hell ge- Hunde. Wir durften Ägypten nicht den ten Baseballschläger und kräftige Stöcke
worden, um acht Uhr legte sich Jasmin Muslimbrüdern überlassen.“ in den Händen. Überall hängen Plakate,
al-Guschi dann in eines der Feldbetten, die ihren gestürzten Präsidenten zeigen.
die sie dort aufgestellt hatten. Ihr letzter Einer der Männer ist Fahmi Fausi, 45
Gedanke, bevor sie die Augen schloss: Jahre alt, Buchhalter. Er ist kräftig, bärtig,
Wir können alles erreichen. er trägt eine blaue Baseballkappe. Und er
Jasmin al-Guschi ist eine junge Frau ist wütend. „Die ganze Welt soll es wis-
aus Kairo, 25 Jahre alt, freundlich, unauf- sen“, sagt er. „Sie haben uns keine Chance
fällig. Sie trägt ein helles Kopftuch, hat gegeben, das Militär, die Christen, die
einen Freund, liebt Verdi-Opern und Agenten des Auslands und die Anhänger
Beethoven-Sonaten, den ägyptischen des alten Regimes, die Tamarud unterwan-
Schauspieler Adil Imam, außerdem Al dert haben. Wir Muslimbrüder sind die
Pacino, Robert De Niro und Gamal Abd Opfer eines kriminellen Staatsstreichs.“
al-Nasser, den einstigen Präsidenten und Während Fausi erzählt, reihen sich hin-
Volkshelden. „Ich fürchte, ich habe einen ter ihm etwa hundert Männer auf, davor
durchschnittlichen Geschmack“, sagt sie. ein Einpeitscher mit Megafon. „Wir wol-

MAGALI COROUGE / DER SPIEGEL


Doch Jasmin al-Guschi hat die vielleicht len einen islamischen Staat!“, ruft er. Die
größte friedliche Protestbewegung der ara- Männer brüllen: „Wir wollen einen isla-
bischen Welt mitbegründet: Tamarud, Re- mischen Staat! Einen islamischen Staat!“
bellion. Dabei waren sie am Anfang nur Drei Ägypter, grundverschieden: Jas-
neun junge, wütende Ägypter aus der Mit- min al-Guschi, die Tamarud-Aktivistin;
telschicht, doch sie rekrutierten Helfer, Mohamed Sharaf, der wachgerüttelte Bür-
organisierten, planten monatelang. Am ger; und schließlich Fahmi Fausi, der ver-
Ende brachten sie angeblich 22 Millionen bitterte Muslimbruder. Sie kennen sich
Unterschriften gegen Mursi zusammen nicht, aber sie haben in den vergangenen
und rund drei Millionen Menschen auf die Tagen und Wochen mit verteilten Rollen
Straße – und sie brachten damit das Militär das Schicksal Ägyptens mitbestimmt.
dazu, im Namen des Volkes zu putschen. Ohne die zu allem entschlossenen Ak-
Präsident Mursi, ein Muslimbruder, ins tivisten von Tamarud hätte Mohamed Sha-
Amt gewählt vor einem Jahr, wurde abge- raf sich niemals aufgerafft, auf dem Tah-
setzt und in Hausarrest genommen; meh- rir-Platz zu demonstrieren und den Sturz
rere Anführer der Bruderschaft wurden Mursis zu fordern. Er wäre nicht auf den
vorübergehend verhaftet, ihre Sender ab- Gedanken gekommen, dass er sein Leben
geschaltet, ihre Zeitungen nicht gedruckt. ändern müsse. Ohne Sharaf und all die
Verwirrte westliche Politiker kritisier- anderen unpolitischen, empörten Bürger
ten die Mittel, aber lobten den Zweck; wäre Tamarud wiederum nur eine Clique
scheuten das Wort Putsch und sprachen von Träumern aus irgendeinem Internet-
MAGALI COROUGE / DER SPIEGEL

lieber von einer Militärintervention, un- café geblieben. Und ohne die Allianz von
ternommen, um Schlimmeres zu verhin- Tamarud und der Kanapee-Partei wären
dern. Seit Ende Juni, zählte Human Rights die Muslimbrüder wohl noch an der Macht
Watch, sind mindestens 39 Ägypter bei – und Fahmi Fausi ein glücklicher Mann.
Straßenkämpfen ums Leben gekommen. Er hätte aufsteigen können in der straffen
Während Jasmin al-Guschi den halben Hierarchie der Bruderschaft, mit Aussicht
Tag nach der Revolution verschläft, wäh- auf mehr Geld und mehr Ansehen.
rend „Apache“-Hubschrauber über den Die Geschichte dieser drei Ägypter ist
Nilbrücken kreisen, die Luftwaffe ihre die Geschichte einer zurückeroberten Re-
Kampfflugzeuge über Kairo hinwegdon- volution oder die eines Putsches – je nach
nern lässt, geht Mohamed Sharaf pünktlich Perspektive. Diese Geschichte begann mit
um neun Uhr morgens ins Büro. Sharaf ist einem „Tag der Wut“ am 25. Januar 2011,
DANIEL STEINVORTH / DER SPIEGEL

ein Mann von Anfang vierzig, fröhlich, ge- sie fand ihren ersten Höhepunkt am 11.
mütlich, Vater zweier Söhne, Computer- Februar 2011, dem Tag, an dem Präsident
experte. „Ich war ein ganz normaler, harm- Husni Mubarak vom Militär zum Rücktritt
loser Bürger“, sagt er. „Bis gestern.“ gezwungen wurde, und dann, vergangene
Die Nacht von Mittwoch auf Donners- Woche, ihren zweiten Höhepunkt, als sein
tag verbrachte Sharaf vor dem Fernseher, Nachfolger gestürzt wurde. In der Zwi-
er erklärte seinen Jungs die Politik, dis- schenzeit gab es ein Verfassungsreferen-
kutierte mit seiner Frau. Er sagt, es sei Mursi-Gegner Guschi, Sharaf, -Anhänger Fausi dum, eine Parlaments- und eine Präsident-
die Nacht gewesen, die für ihn das Ende „Ich war ein normaler Bürger – bis gestern“ schaftswahl, es gab Millionenproteste und
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 75
Ausland

„Wir hatten keine andere Wahl“


Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei, 71, über die Hintergründe des Militärputsches

SPIEGEL: Herr ElBaradei, Sie haben die unerlaubten Waffenbesitz. Und die isla- SPIEGEL: Gibt es einen Fahrplan für die
autoritäre Herrschaft Mubaraks be- mistischen TV-Stationen wurden ge- Übergangszeit?
kämpft. Jetzt stehen Sie Schulter an schlossen, weil sie die Menschen auf- ElBaradei: Spätestens in einem Jahr soll-
Schulter mit den Militärs, die den gewiegelt haben. Ich fordere zudem seit te es demokratische Wahlen geben.
demokratisch gewählten Präsidenten Tagen, dass wir die Bruderschaft in den Wir brauchen eine neue Verfassung,
Ägyptens gestürzt haben. Darf ein Frie- Demokratisierungsprozess miteinbe- die nicht missbraucht werden kann, die
densnobelpreisträger mit putschenden ziehen. Niemand darf ohne triftigen Gleichheit und Freiheit jedes Einzel-
Generälen paktieren? Grund vor Gericht gestellt werden. Ex- nen festschreibt. Daran werde ich mit-
ElBaradei: Lassen Sie mich gleich eines Präsident Mursi muss mit Würde be- arbeiten. Und wir brauchen funktio-
klarstellen: Dies war kein Staatsstreich. handelt werden. Das sind die Vorausset- nierende Institutionen, unabhängige
Mehr als 20 Millionen Menschen sind zungen für eine nationale Versöhnung. Gerichte, Gewaltenteilung.
auf die Straße gegangen, weil es so SPIEGEL: Viele befürchten das Gegen- SPIEGEL: US-Präsident Barack Obama
nicht mehr weitergehen konnte. Ohne teil. Im vergangenen Jahr haben auch und sein Außenminister John Kerry
die Absetzung Mursis Sie vor der Gefahr eines haben Sie angerufen. Sehen die beiden
hätten wir uns auf einen Bürgerkriegs gewarnt. in Ihnen den kommenden Präsidenten?
faschistischen Staat zu- ElBaradei: Gerade um ElBaradei: Ich habe versucht, sie von
bewegt, oder es wäre zu eine blutige Konfronta- der Notwendigkeit der Absetzung
einem Bürgerkrieg ge- tion zu verhindern, war Mursis zu überzeugen. Aber ich sehe
kommen. Es war eine das Eingreifen des Mili- mich nicht in der Rolle des künftigen
schmerzliche Entschei- tärs nötig. Auch wenn Staatschefs. Ich möchte meinen Ein-
dung. Sie war außerhalb die Emotionen hochko- fluss nutzen, um die Ägypter zusam-
DANA SMILLIE / POLARIS

des legalen Rahmens, chen: Ich hoffe, dass die menzubringen und miteinander zu ver-
aber wir hatten keine an- Gefahr eines Bürger- söhnen.
dere Wahl. kriegs gebannt ist. SPIEGEL: Bundesaußenminister Guido
SPIEGEL:  Soll das die SPIEGEL:  Unterschätzen Westerwelle spricht von einem „schwe-
Botschaft sein: Die Stra- Sie da nicht die Empö- ren Rückschlag für die Demokratie“.
ße ist wichtiger als das Oppositioneller ElBaradei rung der Muslimbruder- Wie wollen Sie das verlorene Vertrau-
Parlament? schaft und deren Millio- en Ihrer Partner im Westen zurückge-
ElBaradei: Nein. Aber wir hatten gar kein nen Anhänger? Warum sollten sie noch winnen?
Parlament, sondern nur einen Präsiden- Interesse an Wahlen haben? ElBaradei: Die Deutschen sollten Ver-
ten, der zwar demokratisch gewählt ElBaradei: Ägypten ist in der Tat zutiefst ständnis für uns haben. Sie wissen, wie
war, aber autokratisch regierte und ge- gespalten. Ohne Aussöhnung haben wir schwierig es ist, nach einer Diktatur
gen den Geist der Demokratie verstieß: keine Zukunft. Die Muslimbrüder sind eine Demokratie aufzubauen – und
Mursi hat sich mit der Justiz angelegt, ein wesentlicher Bestandteil unserer sie waren als Erste kritisch gegenüber
die Medien gegängelt, die Rechte von Gesellschaft. Ich hoffe sehr, dass sie an Mursis antidemokratischer Politik. Ich
Frauen und religiösen Minderheiten den nächsten Gesprächen teilnehmen. erinnere nur an die Mitarbeiter der
ausgehöhlt. Er hat sein Amt miss- SPIEGEL: Vertrauen Sie nicht zu sehr politischen Stiftungen in Ägypten, die
braucht, um seine Muslimbrüder an die dem Militär, das ja in der Vergangen- gerade vor Gericht gezerrt wurden.
Schaltstellen zu befördern. Er hat alle heit oft eigene Interessen verfolgt hat? Wir hoffen auf finanzielle Hilfe aus
universalen Werte mit Füßen getreten. ElBaradei: Das Militär hat sich diesmal Berlin und auf Rat beim Aufbau un-
Und er hat das Land wirtschaftlich end- nicht an die Macht gedrängt. Es hat serer Institutionen. Am wichtigsten
gültig in den Ruin getrieben. kein Interesse, in der Politik offensiv ist es, den jungen Menschen, die so
SPIEGEL: Wie immer Sie das Vorgehen mitzumischen. Die Generäle sind sich zahlreich und mutig für mehr Demo-
rechtfertigen, demokratisch ist es nicht. bewusst, dass sie eine historische Mit- kratie auf die Straße gegangen sind,
ElBaradei: Sie dürfen nicht Ihre hohen schuld tragen an dem Desaster, in dem eine wirtschaftliche Perspektive zu
Maßstäbe an ein Land anlegen, auf das Land jetzt steckt. Deshalb spreche geben.
dem Jahrzehnte der Autokratie lasten. ich die Armee auch nicht frei von Ver- SPIEGEL: Falls die Muslimbrüder bei der
Unsere Demokratie steckt noch in den antwortung. nächsten Wahl antreten und gewin-
Kinderschuhen. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, als Feigen- nen – würden Sie einen von ihnen an
SPIEGEL:  Beginnt nun eine Hexenjagd blatt missbraucht zu werden? der Spitze des Staates akzeptieren?
auf die Islamisten? ElBaradei: Das ist keine Frage des blin- ElBaradei: Ja, wenn die Muslimbrüder
ElBaradei: Dazu darf es nicht kommen. den Vertrauens. Das nächste Treffen sich zur Demokratie bekennen und
Das Militär hat mir versichert, dass vie- mit den Generälen ist schon verein- durch eine Verfassung und ein Par-
le Meldungen über Verhaftungen nicht bart, sie hören mir immerhin zu. Meine lament so eingebunden sind, dass
stimmen, die Zahlen weit übertrieben rote Linie ist: Ich lasse mich mit nie- sie ihre Macht nicht wie Mursi miss-
sind. Wo es zu Festnahmen gekommen mandem ein, der Toleranz und Demo- brauchen.
ist, soll es triftige Gründe geben, etwa kratie missachtet. INTERVIEW: DIETER BEDNARZ, ERICH FOLLATH

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nicht, wem der beiden sie ihre Stimme ge-
ben sollten, also enthielten sie sich. Doch
sie akzeptierten das Ergebnis, so ist das
nun mal in der Demokratie, dachten sie.
„Aber Mursi hat dramatische Fehler ge-
macht“, sagt Mohamed Sharaf. „Und
wenn du merkst, dass der Pilot sein Flug-
zeug nicht fliegen kann, musst du ihn aus
dem Cockpit holen. Du kannst nicht sa-
gen: Lasst ihn, er hat einen Arbeitsvertrag
für vier Jahre!“ Ägypten, finden die bei-
den Kollegen, sei kein Flugsimulator.
Nach der Befreiung von der Herrschaft
der Muslimbrüder kommen nun die

LOUAFI LARBI / REUTERS


Mühen der Ebene: Die Tamarud-Aktivis-
ten um Jasmin al-Guschi müssen ihre
smarten Guerilla-Techniken alltagstaug-
lich machen, sie dürfen sich nicht zerrei-
ben lassen. Die Partei der Couch-Potatoes
Verletzter Mursi-Anhänger nach Protesten: „Wir werden unsere Seelen und Leben opfern“ darf nicht wieder in den alten Trott ver-
fallen – Mohamed Sharaf und Hussam
Dutzende Tote, wilde Streiks und blinde ich sagte zu ihr, wir können uns da nicht Hussain müssen sich ihr politisches Ver-
Gewalt. Und doch ist diese Geschichte raushalten, wir müssen unseren Beitrag antwortungsgefühl erhalten. „Meine Frau
noch längst nicht zu Ende. leisten. Es ist unsere Demokratie, die wir will jetzt einer Partei beitreten“, sagt
„Jetzt geht es erst richtig los“, sagt Mo- erst noch gestalten müssen.“ Hussain. „Das ist zwar nichts für mich,
hamed Sharaf. Es ist der Morgen nach Die Ehefrauen der beiden, Lehrerin die aber ich werde sie unterstützen.“
der Revolution. Er sitzt mit seinem Kol- eine, Anwältin die andere, haben noch Und die Muslimbrüder? Sie müssen
legen Hussam Hussain im Büro. Eigent- vor einem Jahr Mohammed Mursi ge- eine neue Rolle finden. Wollen sie nicht
lich müssten sie arbeiten, aber sie sind wählt. Sie hielten ihn für unbestechlich, in Sektierertum verfallen, dann müssen
aufgewühlt. Sharaf überlegt, ob er am weil fromm, vor allem aber für unbelastet, sie sich von Verschwörungstheorien und
Nachmittag noch auf den Tahrir geht; im Unterschied zu dem Gegenkandidaten Allmachtsphantasien verabschieden. Ihr
Hussain war in der Nacht zuvor dort, mit Ahmed Schafik, einem ehemaligen Muba- Part ist der schwierigste. Denn Fahmi
seiner Frau, die erst Angst hatte. „Aber rak-Mann. Sharaf und Hussain wussten Fausi und seine Leute haben noch nicht
Ausland

begriffen, dass Ägypten sich geändert Drei Fehler lasten Jasmin al-Guschi,
hat. Dazu kommt noch: Es darf nun kein Mohamed Sharaf und viele andere De-
Chaos ausbrechen, damit sich die Armee monstranten den Muslimbrüdern an.
bald wieder in ihre Kasernen zurückzieht Erstens: Mursi habe jede Gelegenheit
und das Regieren den Zivilisten überlässt. genutzt, seine Gefolgsleute im Staats-
Doch das wird nicht einfach sein, man apparat, in den Medien, der Justiz und
sieht das bereits am Freitag, zwei Tage Polizei unterzubringen – ohne sich um
nach dem Freudentaumel. ihre Kompetenz zu scheren. „Es zählt für
Zehntausende Mursi-Anhänger ziehen uns, ob jemand ein Problem lösen kann“,
da zum Tahrir-Platz, aufgewiegelt von sagt Mohamed Sharaf, „und nicht, ob er
Mohammed Badi, dem Chef der Bruder- frömmlerisch ist.“ Der Tiefpunkt, ergänzt
schaft, der zuvor auf einer Kundgebung Jasmin al-Guschi, war Mursis Versuch im
gerufen hatte: „Wir werden für Mursi un- November 2012, eine islamische Verfas-
sere Seele und unser Leben opfern.“ Mo- sung durchzusetzen.
lotow-Cocktails fliegen, es fallen Schüsse, Zweitens: seine Unfähigkeit, die Nation
es gibt Schlägereien überall in der Stadt. zu vereinen; das Fehlen jeglicher Sensi-
17 Tote werden allein bis Mitternacht ge- bilität. Als der neue koptische Papst sein
meldet. Das Beispiel Algerien macht jetzt Amt antrat, blieb Mursi demonstrativ
öfter die Runde, auch dort gewannen die fern. Er ließ zu, dass islamistische Predi-
Islamisten die Wahl, putschte die Armee, ger gegen Christen, Schiiten und Liberale
es begann ein Bürgerkrieg mit Zehntau- hetzten. Und er ernannte ein Mitglied
senden Toten. Sicher, Ägypten ist nicht der radikalen Gamaa al-Islamija zum
Algerien. Aber die Polarisierung ist groß, Gouverneur von Luxor, ausgerechnet, da-
und niemand weiß, was die Muslimbrüder bei hatte die Terrorgruppe doch dort einst
tun werden: Nehmen sie an Wahlen teil? Anschläge auf Touristen verübt.
Gehen sie wieder in den Untergrund? Drittens: die Wirtschaft. „Natürlich
Wird es Anschläge und politische Morde konnte Mursi die Korruption von Jahr-
geben, wie schon früher einmal? zehnten nicht über Nacht beseitigen“,
Jasmin al-Guschi und ihre Mitstreite- sagt Sharaf. „Aber was tat er? Gar nichts.
rinnen Sara Kamal und Mai Wachba sit- Die Muslimbruderschaft ist selbst eine
zen bei McDonald’s im Stadtteil Dokki, korrupte Mafia, das haben wir in diesem
nicht weit vom Tahrir-Platz entfernt. Sie Jahr gelernt.“ Benzin wurde knapp, es
trinken Tee und essen Erdbeerjoghurt, gab oft keinen Strom. Das ägyptische
arabische Popmusik plärrt aus den Laut- Pfund fiel, die Preise für Brot und alles
sprechern, ihre Laptops sind aufgeklappt. andere stiegen.
Jasmin, noch mal die Frage: Wie legi- Die Ursachen hierfür liegen in der Ge-
tim ist eigentlich eine Revolution, die schichte der Bruderschaft, 1928 gegründet,
dazu das Militär braucht? seither größtenteils im Untergrund tätig,
„Das ist ein wichtiger Punkt, wir haben taktierend, aber mit einer geheimbünd-
ganz zu Anfang immer wieder darüber lerischen Märtyrer-Mentalität. Viele ihrer
diskutiert. Aber das ist sehr theoretisch. Mitglieder und Anführer saßen im Ge-
Die Realität dagegen sah so aus: Wir hat- fängnis, daher das ständige Denken in
ten nichts, die Muslimbrüder hatten den Kategorien von „die“ und „wir“.
Staatsapparat auf ihrer Seite. Die Armee „Man kann mit den Muslimbrüdern
einzubinden, das war für uns die einzige nicht normal reden, ihre Weltsicht ist
Option.“ Sie schiebt ihren Joghurt beisei- abgeschottet, überall wittern sie eine
te. „Ganz ehrlich, viele von uns haben Verschwörung“, sagt Jasmin al-Guschi.
Mursi anfangs eine Chance gegeben, aber „Noch dazu glauben sie, im Auftrag Got-
wir wurden schnell enttäuscht.“ tes zu handeln – das macht sie unbelehr-
Mohammed Mursi wurde Ende Juni bar.“ Dieser Argwohn sei wie eine an-
2012 im zweiten Wahlgang gewählt, in ei- steckende Krankheit, „er hat sich in der
ner Stichwahl, für ihn stimmten 51,7 Pro- ganzen Gesellschaft verbreitet“.
zent. Die Beteiligung war jedoch gering, Die jungen Frauen von Tamarud dis-
nur etwas über die Hälfte aller wahlbe- kutieren leidenschaftlich und laut, ihre
rechtigten Ägypter gab ihre Stimme ab. Stimmen sind heiser vom Singen und
Stellt man noch dazu in Rechnung, dass Schreien. Ab und zu schaut einer der Gäs-
viele nur aus Protest für ihn stimmten, te von seinem Milchshake auf, da steht
weil der Gegenkandidat ein Mubarak- plötzlich der Geschäftsführer am Tisch,
Mann war, hat tatsächlich nur etwa ein angespannt, unwirsch. Die Frauen sollten
FOTOS: MAGALI COROUGE / DER SPIEGEL

Viertel der Wähler den Muslimbruder gehen, sofort, bei McDonald’s seien poli-
wirklich gewollt. Eine Mehrheit auf dem tische Diskussionen unerwünscht.
Papier, formal korrekt, von Mursi genutzt Die drei jungen Frauen zögern einen
als moralischer Freibrief. Und er hat es Moment, dann klappen sie ihre Laptops
geschafft, in nur einem Jahr eine überwäl- zu. Sie stehen auf, würdigen den Mann
tigende Mehrheit gegen sich aufzubringen. keines Blickes, gehen hinaus.
Deswegen ist die Frage nach der Legi- Warum lasst ihr euch das gefallen, Jas-
timität dieses Putsches so kompliziert, sie min?
lässt sich nur beantworten, wenn man Protestierende Hussain, Kamal, Wachba „Es gibt Wichtigeres“, sagt sie.
dieses zurückliegende Jahr betrachtet. „Es ist unsere Demokratie“ RALF HOPPE, DANIEL STEINVORTH

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Ausland

SYRIEN

Disneyland für Dschihadisten


Im ruhigen Norden sammeln sich die ausländischen Islamisten, die lieber „Counter-Strike“
spielen, als in den Krieg zu ziehen. Sie streiten sich,
ob Rauchen erlaubt ist – und kämpfen eher gegeneinander als gegen das Regime.

zer des ersten Cafés Qaida-Fahnen über


den Computern aufhängte, als Treuebe-
kenntnis für die Stammkundschaft. Seit-
dem läuft das Geschäft, trotz zunehmen-
der Konkurrenz. Die martialisch ausstaf-
fierten Kunden schwärmen ihren Freun-
den daheim im Skype-Chat von Atmih
vor: Hier sei das Paradies! Die Mieten bil-
lig, Wetter und Essen gut, man könne be-
waffnet herumlaufen und mit etwas Glück
sogar eine Frau finden. Nachts klingt die
Kakophonie der Kämpfe bis auf die Stra-
ße, wenn mehrere Dschihadisten gleich-
zeitig „Counter-Strike“ spielen. Der hei-
lige Krieg ist in Atmih ein Kostümspekta-
kel, und jeder kann sich fühlen, als sei er
dabei – ohne dass es weh tut.
Sogar die örtlichen Geschäftsleute er-
freuen sich an ihrer fanatischen Kund-
schaft. Im Handy-Shop sagt der syrische
Verkäufer: „Alle paar Tage kommt ein
Mann aus Dagestan hierher, erst hat er
ein Samsung Galaxy gekauft, eine Woche
später ein iPad, danach ein noch neueres
Samsung Galaxy. Der hat bestimmt über
Radikaler Abu al-Banat im Hinrichtungsvideo: Drei Männern den Kopf abgehackt tausend Dollar hier ausgegeben.“
Wozu seien die Ausländer überhaupt

A
tmih sieht aus, als drehte hier je- Krieg haben die ausländischen Dschiha- in Atmih, fragt ein entnervter Komman-
mand gerade einen Qaida-Spiel- disten ausgerechnet einen der ruhigsten deur der Freien Syrischen Armee (FSA)
film: Neuankömmlinge mit Roll- Flecken des Landes zu ihrem Zentrum aus der Gegend: „Wenn sie hergekommen
koffern suchen ihre Emire, auf der Dorf- gemacht. Oder eben gerade deshalb. sind, um zu kämpfen – bitte schön, da
straße sind Afrikaner und Asiaten zu Denn sind sie erst mal hier, wollen viele geht’s zur Front.“ Er zeigt nach Osten.
sehen, Männer mit schulterlangem Haar von ihnen gar nicht mehr weg. Eigentlich ist Atmih Transitstation der
in afghanischer Tracht führen ihre Ka- Das türkische Mobilnetz funktioniert Dschihadisten, die zumeist über den na-
laschnikows spazieren. Am Kebab-Stand hervorragend, die Läden führen afghani- hen türkischen Flughafen in Hatay anrei-
mischt sich ein Dialekt Nordenglands mit sche Pakhul-Wollmützen, Qaida-Kappen sen. Die einen bleiben in der Region, die
arabischen Einsprengseln: „Subhanallah, und knielange schwarze Hemden aus der- anderen ziehen weiter nach Aleppo, in
Bro, I asked for Ketchup.“ Russisch ist zu bem Stoff wie in den pakistanischen Stam- die Berge von Latakia, nach Rakka im
hören, Aserbaidschanisch, der kehlige mesgebieten. Neue Restaurants haben auf- Osten, wo auch immer die unübersicht-
Akzent der Saudi-Araber. gemacht, das Büro „International Con- liche Frontlinie gerade verläuft.
Das einst verschlafene Schmugglernest tacts“ bucht Flüge, tauscht saudische Rial, Manch ein syrischer Rebell schließt sich
direkt an der türkischen Grenze ist zum britische Pfund, Euro und Dollar. Die Apo- den Dschihadisten an, aber vielen sind die
Mekka für Dschihad-Reisende aus aller theke bietet „Miswak“ an: faserige Holz- Ausländer unheimlich. Und selbst wenn
Welt geworden. Vor einem Jahr trafen stäbchen aus Pakistan, mit denen auch der diese gegen Regimetruppen kämpfen, wie
SPIEGEL-Reporter hier einen der ersten Prophet Mohammed seine Zähne geputzt der tschetschenische Kommandeur Abu
ausländischen Kämpfer in Syrien, einen haben soll. Der Gebrauch erhöhe den Umar al-Schischani, wundern sich FSA-
jungen Iraker, der sagte, er sei Wert des folgenden Gebets um Kommandeure: Wozu habe Schischani die
gekommen, um die Diktatur das 70fache, verspricht die Pa- Munition inklusive Flugabwehrraketen er-
zu stürzen. Inzwischen haben ckungsaufschrift. beutet, wenn er sie doch nicht einsetze?
sich mehr als tausend Dschi- Atmih Weil all die Dschihadisten Sie fürchten, die Dschihadisten könnten
hadisten in und um Atmih nie- SYRIEN nach Hause telefonieren, mai- ihre Waffen gegen die FSA-Rebellen oder
dergelassen, nirgendwo in Sy- len und chatten wollen, eröff- für Terroranschläge weltweit einsetzen.
Damaskus
rien sind mehr auf so dichtem nete Mitte Juni das dritte Inter- „Wir hoffen, dass die Dschihadisten
Raum versammelt. Mitten im netcafé. Woraufhin der Besit- nach dem Sturz Assads wieder gehen“,
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 79
Ausschnitte aus Propagandavideos ausländischer Dschihadisten, die in der Umgebung von Atmih in Nordsyrien aktiv sind

sagt Luftwaffenoberst Hassan Hamada, übereinander herzuziehen, sich zu spal- tretender Anführer Mohammed al-Dschu-
der vor einem Jahr in die Schlagzeilen ten und gelegentlich zu befehden. Allein lani vor drei Monaten dem Qaida-Führer
geriet, weil er sich samt seiner MiG-21 in und um Atmih existieren Mitte Juni Aiman al-Sawahiri die Treue geschworen
nach Jordanien absetzte, und nun im FSA- mindestens fünf Dschihadisten-Gruppen: hat. Denn von Sawahiri hält das Fußvolk
Führungsstab in Nordsyrien sitzt. ‣ „Daula al-Islam fi al-Irak wa bilad al- in Syrien wenig, aus mehreren Gründen:
Doch noch kämpfen sie zusammen, Scham“, der „Islamische Staat im Irak Der Ägypter gilt als wenig charismatisch,
noch gibt es ein Nebeneinander von und in Syrien“, mit über 200 Anhän- und es ist ihm zwar gelungen, sich aus sei-
Dschihadisten und Säkularen. In Atmih gern, Tendenz steigend; nem Versteck im afghanisch-pakistani-
werden weiterhin Musik-CDs verkauft, ‣ „Dschaisch al-Ansar wa al-Muhadschi- schen Grenzgebiet zum Nachfolger von
Frauen gehen nach wie vor in Hosen auf rin“, die „Armee der Unterstützer und Osama Bin Laden küren zu lassen, aber
die Straßen. Das liegt daran, dass es hier Hinzugekommenen“, mit etwa 170 seither schafft er es nicht, das Terror-Kon-
kein Machtvakuum gibt wie 2003 im Irak. Männern; glomerat zusammenzuhalten, so dass an
Stattdessen existiert ein kompliziertes ‣ „Abu al-Banat“, eine Gruppe, die sich den Rändern neue Gruppen wachsen.
Gefüge von lokalen Räten, FSA-Brigaden nach ihrem Emir benannt hat und fast Dazu kommt, dass Dschihad-Pilger ei-
und gemäßigten Islamisten, mit denen nur aus Tschetschenen, Dagestanern nen Führer haben wollen, der ihnen sagt,
sich die Radikalen arrangieren müssen. und Aserbaidschanern besteht, etwa wo es langgeht. Einen Emir mit Haut und
Fragt man die Zugereisten nach ihren 70, Tendenz fallend; vor allem Haaren, der persönlich Befehle
Plänen, kommt Syrien nur als Etappe vor: ‣ „Abu Musab al-Dschasairi“, benannt gibt und Urteile spricht. Die Nusra aber
„Dschihad erst hier, bis zum Sieg! Danach nach ihrem algerischen Gründer und hat keinen solchen Emir. Mohammed al-
werden wir den Irak, Libanon und Paläs- Finanzier, mit rund 60 Anhängern; Dschulani kennen die meisten nur aus
tina befreien“, zählt ein junger Araber ‣ „Dschabhat al-Nusra“, die „Beistands- Videos, mit einer blechern verzerrten
aus Großbritannien auf. Israel ist auf ei- front“, mit rund 100 Kämpfern. Stimme und gepixeltem Gesicht. Unter
nen hinteren Platz gerutscht, Schiiten sind Nusra ist die undurchsichtigste der Frak- Mitgliedern heißt es immer wieder, man
nun die wahren Feinde: Muslime zwar, tionen – und sie ist dabei zu zerfallen, kenne einen, der einen kenne, der den
aber für die sunnitischen Radikalen hier nachdem ihr nur virtuell in Erscheinung Emir getroffen habe – aber geht man dem
sind sie schlimmer als jeder Ungläubige.
So reden sie in Atmih. Doch bereits in
der Stadt Daret Azze, 25 Kilometer ent-
fernt, verblasst ihr Einfluss. Versuche von
Dschihadisten, hier die Macht zu über-
nehmen, wurden von der FSA abgeblockt.
Nun stehen beide Gruppen in wechseln-
den Schichten an den Kontrollposten.
Aber als der Stadtrat um Hilfe bat bei der
Reparatur einer Wasserleitung, hätten die
Dschihadisten nur mit den Schultern ge-
zuckt. „Die wollen die halbe Welt er-
obern“, sagt Ahmed Raschid, Anwalt und
Ratsmitglied. „Aber sie würden schon an
einer Kleinstadt scheitern.“
In Atmih proben sie derweil das Leben
wie zu Zeiten des Propheten, allerdings
mit Facebook und „Counter-Strike“. Auf
ungewollte Art ähnelt die Szenerie den
Anfängen des Islam, als drei der ersten
vier Kalifen nach dem Tod des Propheten
mit Gegnern aus den eigenen Reihen ran-
gen: Alle Radikalen in Atmih wollen ei-
nen Gottesstaat – was die einzelnen Grup-
pen aber nicht davon abhält, fortwährend Waffenlager eines tschetschenischen Kommandeurs: „Wir hoffen, dass sie bald wieder gehen“

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nach, verlaufen die Spuren im Sand. Meh- sam den Kopf ab und hält diesen dann
rere Aussteiger von Nusra aus Aleppo, als Trophäe in die Kamera.
Idlib und Damaskus gaben in den vergan- Veröffentlicht wurde das Video erst
genen Monaten an, niemand habe den jetzt, eigentümlicherweise ausgerechnet
Mann je gesehen oder gar gesprochen. auf Syria Tube, einer PR-Seite des Re-
Außerdem, sagt ein Syrer, der von Nus- gimes. Laut Legende zeigt es die Ent-
ra auf Daula umgestiegen ist, seien Letz- hauptung dreier christlicher Priester
tere „cooler“. Man dürfe dort rauchen, so- Ende Juni im Ort Rassania, was umge-
lange es keiner sehe. Das ist ein großer hend verbreitet wurde von der katholi-
Wettbewerbsvorteil in der kettenrauchen- schen Nachrichtenseite Agenzia Fides,
den syrischen Rebellenszene. Zigaretten die schon früher erfundene Gräuelge-
sind bei den Dschihadisten normalerweise schichten lanciert hat.
tabu, denn „Rauchen vertreibt die Engel Tatsächlich zu sehen ist die Ermordung
und verzögert unseren Sieg“, zitiert der angeblicher Assad-Getreuer, im April, im
Aussteiger seinen ehemaligen Nusra-Emir. Lager von Abu al-Banat – auch wenn
Während viele der syrischen Nusra- unbekannt ist, wer die drei wirklich waren
Gefolgsleute zu gemäßigten Gruppen ab- und was sie getan hatten. Denn Abu al-
gewandert sind, haben sich die Ausländer Banat „war Richter und Ankläger in ei-
dem Daula angeschlossen, nem“, erinnert sich ein
der zur stärksten Gruppe Aussteiger. Die Dorfbe-
im Norden geworden ist. wohner seien entsetzt ge-
Der radikalste Emir im Selbst die Radi- wesen, erzählt ein Mann
Norden jedoch ist Abu al- kalen hatten aus dem Nachbarort: „Egal
Banat, ein früherer russi- was die drei getan haben,
scher Offizier aus der Kau- genug und setz- Menschen sind doch keine
kasus-Republik Dagestan, Schafe, die man schächtet.“
der zum Islam konvertiert ten den Emir fest. Nach den Morden begann
ist und seither Anhänger ein Exodus, nur etwa 70
wie Jünger um sich schart. Anhänger blieben.
Er spricht zwar nur radebrechend Ara- Offenbar aber fanden die anderen
bisch, erklärte aber Nusra und die ande- Dschihadisten einmütig, die Enthauptun-
ren Dschihadisten-Gruppen kurzerhand gen gingen zu weit – und beschlossen in
zu „Kufr“, zu Ungläubigen, weil sie sich der Nacht zum Samstag vor einer Woche
nicht seinem Befehl unterwarfen. eine seltene Kooperation: Ein tschetsche-
Im Frühjahr zog der selbsternannte nischer Daula-Kommandeur rückte mit
Emir aus Atmih mit seinen Anhängern einer Schar Schwerbewaffneter in Masch-
ins neun Kilometer entfernte Dorf Masch- had Ruhin ein und erklärte Abu al-Banats
had Ruhin, das er durch bewaffnete Kon- Horrorherrschaft für beendet. Dessen ver-
trollposten abriegeln ließ und in sein per- bliebene Anhänger ergaben sich ohne Wi-
sönliches Emirat verwandelte. derstand, er selbst und zwei Gehilfen wur-
Im April ließ er dann auf dem Dorf- den abgeführt. Alle Zufahrtswege waren
platz drei Männer köpfen. Gerade tauch- während der Aktion abgeriegelt worden,
te das Video der bestialischen Hinrich- um zu verhindern, dass andere Dschiha-
tung auf: Begafft von einer Menge, dar- disten dem Emir zu Hilfe kommen könn-
unter auch Kinder, spricht ein verzottelter ten – doch es kam niemand.
Mann in gebrochenem Arabisch in die Der führungslose Rest von Abu al-
Kamera, es ist Abu al-Banat. Neben ihm Banats Dschihadisten-Truppe soll in den
kauern die drei Männer gefesselt am Bo- folgenden Tagen seine Sachen gepackt
den. Ein Gehilfe hackt mit einem Messer und das Dorf verlassen haben.
erst einem, dann dem zweiten Mann lang- CHRISTOPH REUTER

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Ausland

BRASILIEN

Sturm auf die Bastille


Das Volk ist erwacht und richtet seinen Zorn gegen eine
politische Klasse, die arrogant und korrupt ist – und den
Reichtum des Landes verschwendet. Von Matthias Matussek

I
n den Tagen, in denen der brasiliani- „Aber du kannst doch nicht die ganze
sche Fußball starb, wurde die brasilia- Menschheit erziehen, das dauert Jahre“,
nische Demokratie geboren. Das wäre wirft Sylvia, die Hausfrau, ein.
ein hübscher erster Satz, allerdings Erregter Wortwechsel. Weiter. Rodrigo
stimmt er nur halb, denn die Seleção, die findet, man müsse etwas gegen die wie-
Nationalmannschaft, spielt prächtiger als derkehrenden Überschwemmungen im
erwartet während des Confed-Cups, der Landesinneren unternehmen. Lúcio will,
Generalprobe für die Weltmeisterschaft. dass die vertriebenen Obdachlosen wie-
Sie hat es aber auch leichter als die De- der in die leerstehenden Häuser zurück-
mokratie. Sie spielt nach Regeln, an die kehren dürfen. Rentner Renato will hier
sich alle halten müssen, und sie kann Er- eigentlich nur Bananen essen, er nimmt
gebnisse vorweisen. Die Demokratie da- sich die dritte, und die alte Lourdes aus
gegen ist endlose Fummelarbeit, und stän- Vidigal möchte, dass ihr Haus repariert
dig ändern sich die Regeln. wird, weil der Nachbar ihre Wände beim
Die wichtigste Regel im Moment ist die Umbau eingerissen hat.
Einhaltung der Redezeit, hier in Leblon- Vor allem aber soll der Gouverneur
Ipanema, auf den teuersten Quadratme- endlich erklären, warum der Staat für die
tern Rio de Janeiros, vielleicht ganz Bra- Renovierung des Maracanã-Stadions so
siliens, wo die Demonstranten vor dem viel Geld zahlt – dabei sollte doch kein
Haus des Gouverneurs ihre Zelte aufge- einziger Real an Steuergeldern ausgege-
stellt haben. Eine Art brasilianisches Oc- ben werden. Mittlerweile geht der Zu-
cupy. Drei Minuten, sagt Bruno, der die schuss in die Hunderte Millionen. Die Lis-
Stoppuhr laufen lässt, dann aber souverän te ist lang. Demokratie ist schwer, und es
ignoriert. hat sich einiges angesammelt.
Über die Felsen am Ende der Bucht „Falls die Seleção in ihrem Bus vorbei-
sind die Lichter der Favela Vidigal ge- kommt, lasst euch nicht ablenken“, be-
streut wie Sternenstaub, vom Meer her schwört Bruno. Man ist sich hier einig:
weht eine sanfte Brise und vom Kiosk Fußball ist Opium für das Volk. Fußball
der scharfe Geruch eines Churrasco, doch ist Verlegenheit, ist ein Zeichen der Un-
vor den Zelten wird debattiert wie derzeit reife. Dass der Volksaufstand ausgerech-
überall im Land. Brasilien ist erwacht, net ein brasilianisches Fußballfest nutzt,
und das Volk stellt Forderungen. ist nicht ohne Ironie. Möglicherweise aber Protestierende vor Finale des Confed-Cups in
Das Volk hier besteht aus ein paar hat er auch mit der Arroganz der Fifa zu
Kunststudenten, einigen Hausfrauen und tun, die unten im Copacabana Palace am Das hier ist der Brasilianische Frühling,
Rentnern. Luiza singt sonst Jazz und schimmernden Pool feiert; sie steht für eine Bewegung ohne Anführer, organi-
wohnt in der neureichen Barra, Bárbara alles, was schlecht ist am Fußball, für Kor- siert über die sozialen Netzwerke, das ist
schreibt Gedichte, ihre Eltern sind Pro- ruption, Verschwendung und Zynismus. ihre Stärke. Aber können Facebook-Netz-
fessoren, und Jair, der Rasta aus Bahia, Milliarden für Stadien, die keiner werke Politik gestalten?
schwört, er werde „sterben für die Sache“. braucht, nur um Brasilien glänzen zu las- Sie können jedenfalls Druck machen.
Alle applaudieren hingerissen, allerdings sen? Ein Stadion in Manaus am Amazo- Und sie zeigen durchschlagende Wirkung,
weiß noch keiner, was die Forderungen nas, einer Stadt ohne Fußballmannschaft denn sie mobilisieren die Straße.
eigentlich sind. Das soll dieser Kreis er- in der ersten Liga, so heiß, dass der
mitteln, den sie „Aquárius“ nennen.
Freie Aussprache. Der junge Feuer-
wehrmann Álvaro, den sie mit 13 Kolle-
Asphalt von der Straße schmilzt? Fast je-
der Bundesstaat solle ein Stadion haben,
hatte die Regierung von Luiz Inácio Lula
W as am 6. Juni mit einem Marsch
von gerade mal 500 Menschen, die
gegen die Erhöhung der Fahrpreise pro-
gen während der gewalttätigen Proteste da Silva beschlossen, und die Gelder da- testierten, in São Paulo begann, hat sich
ein paar Tage zuvor ins Hochsicherheits- für flossen reichlich – statt in Schulen, zu einem Flächenbrand des Unmuts aus-
gefängnis Bangu 1 gesteckt hatten, for- Straßen, Krankenhäuser. geweitet. Am 17. Juni marschierten be-
dert seine Wiedereinstellung sowie bes- Wohl deshalb hatte Padre José Roberto, reits über 200 000 Menschen in Rio de
sere Bezahlung und Ausbildung der Mi- bärtig und bullig, in seiner Predigt in Rio Janeiro, Belém und rund 20 anderen
litärpolizei! de Janeiro ironisch ausgerufen: Großer Städten, am 20. Juni waren 1,4 Millionen
Häh? Erstaunen in der Runde. Álvaro Vater Fifa, nimm du unsere Bedürftigen Protestierende in über 120 Städten un-
begründet: Bessere Bildung macht besse- und Kranken, und heile sie. Und die Gläu- terwegs. In Brasília, der Hauptstadt, tanz-
re Menschen. bigen hatten verstanden und gelacht. ten sie auf dem Dach des Kongresses,
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IMAGO
Rio de Janeiro: Dass der Volksaufstand ausgerechnet ein Fußballfest nutzt, ist nicht ohne Ironie

die ganze Welt kennt mittlerweile diese Die Regierung überschlägt sich förmlich Tatsächlich scheint die PT völlig ab-
Bilder. Es sind die Tourneedaten einer in diesen Tagen. gehoben zu haben. Allein der aufge-
Volkserhebung, die die Zeitungen so stolz Allerdings laufen gegen fast 200 Abge- blähte Staatsapparat mit seinen 39 Mi-
präsentieren wie die Siege der Seleção. ordnete Ermittlungsverfahren. Einer ist nisterien verschlingt 100 Milliarden Euro
Das Volk ist in Bewegung, und die Politik unter Mordverdacht, weil er seinen poli- pro Jahr. Rousseff gibt pro Friseurbesuch
hat Angst. tischen Gegner mit einer Kettensäge zer- 214 Euro aus. Wieso, fragen die Leute?
Präsidentin Dilma Rousseff wurde aus- legt haben soll. Der andere hat zehn Mil- Hat sie Haare aus Gold, seit sie Präsi-
gepfiffen während der Eröffnung des Con- lionen Dollar, gedacht für ein Straßen- dentin ist?
fed-Cups, ihre Popularität stürzte um 27 projekt, ins Ausland geschafft. Wieder
Prozentpunkte ab. Sofort versprach sie
in einer Fernsehansprache Reformen und
stellte ein Plebiszit in Aussicht. Die Fahr-
einer hat drei Priester, die sich für die
Landlosen einsetzten, entführen lassen.
Der Kongress ist heute in Brasilien die
I n einer vornehmen Dinnergesellschaft
in den Hügeln des Jardim Botânico
beugt sich der Staatsrechtler Carlos Bo-
preiserhöhungen wurden zurückgenom- wohl am meisten verachtete Institution. lonha über sein Kristallglas und erklärt,
men, genauso ein skandalöses Gesetzes- Das Magazin „Veja“ zeigt ihn auf einer wie undurchführbar das von Dilma Rous-
vorhaben, das Straffreiheit für korrupte Klippe, Abgeordneten-Ratten fallen in den seff angekündigte Plebiszit sei. Und wie
Abgeordnete ermöglichen würde. Auf ei- Abgrund, während von der anderen Seite sehr es einem Staatsstreich von oben
nen Schlag sollen 19 Milliarden Euro für Demonstranten hineindrängen. „Vielleicht nahekäme. Venezuelas einstiger Links-
öffentlichen Transport lockergemacht niemals zuvor war Brasilien unter dem populist Hugo Chávez hat vorwiegend
werden. Und gerade ist der erste korrupte Kommando von Leuten, die so überheb- mit Plebisziten regiert.
Abgeordnete inhaftiert worden, der sein lich waren wie Lula, Dilma Rousseff und Schwere Zeiten für die Arbeiterpartei
Verfahren drei Jahre hinausgezögert hat. die Barone der PT“, schreibt „Veja“. PT. Sie sitzt im Glashaus, und sie kann
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FELIPE DANA / AP / DPA
Demonstranten am Ipanema-Strand: Sie klauen alle, die da oben, egal welches Parteibuch sie in der Tasche haben – heißt es auf der Straße

nicht mit Steinen schmeißen. Ja, die Lin- Auto haben, sondern eines, in dem alle Gegen das Elend gibt es allerdings seit
ke, die traditionelle Vertretung des Vol- den öffentlichen Transport benutzen kön- einigen Jahren auch die UPP, die Nach-
kes, ist an der Macht, doch nicht erst seit nen.“ Tatsächlich wirken die vollgestopf- barschaftspolizei, die nun zumindest für
der Verstrickung der Regierung Lulas in ten Busse in den aufgerissenen Straßen Sicherheit sorgen soll auf einem der einst
einen Bestechungsskandal ist diese tradi- von Rio wie Gefangenentransporte. gewalttätigsten Hügel von Rio. Seit die
tionelle Allianz gebrochen und das Ver- Elitetrupps der BOPE, diese schwarz uni-
trauen verspielt. Und Vertrauen war doch
immer ihr Kapital!
Jetzt heißt es auf der Straße: Sie klauen
M ein Gott, er ist so schön, dass die Au- formierten Außerirdischen, die Herrschaft
gen tränen, dieser Blick von der An- des „Comando Vermelho“ gebrochen und
höhe der Küstenstraße Avenida Niemeyer die Drogenbosse vertrieben haben, wird
alle, die da oben sind, egal welches Par- über das Meer. Unten am Ipanema-Strand der Hügel für die Mittelklasse interessant.
teibuch sie in der Tasche haben. Es geht vor dem Occupy-Lager spielen die Vol- Spekulanten kaufen Grundstücke auf; der
in diesen Tagen um einen fundamentalen leyballmannschaften. Marcus hier oben Blick ist einfach unwiderstehlich.
Vertrauensbruch. Eine neue Zivilgesell- am Kiosk spielt den Klassiker „País Tro- Auf einer Mauer ist noch ein Graffito
schaft wehrt sich gegen das Prinzip Poli- pical“, eine Alte singt mit. Das alles soll aus den alten Tagen zu sehen, das sich
tik, gegen die Parteienvertretung, gegen nun nicht mehr gelten? Das soll nun falsch einer der Bosse bestellt hatte: Es zeigt
die Fäulnis der Institutionen. sein? ihn als Kapitalisten mit Zigarre. Nun sitzt
Fußball? Ein Lacher. Samba? Hör mir Ist es nicht. Nur das gönnerhafte Grin- der Boss im Gefängnis, und die Jungs, die
auf. Karneval? Vergiss es. sen, das diese Folklore begleitete in der auf dem ummauerten Fußballplatz mit
Die Gastgeberin, eine Professorin, for- Vergangenheit, ist verschwunden. Den ein paar Kampfhundwelpen spielen, hal-
dert einen neuen Sturm auf die Bastille. Brasilianern hängen in diesen Tagen die ten wenig von den Polizisten, die hier
Ein junger Unternehmer spricht über die eigenen Klischees zum Hals heraus. mit umgehängtem Sturmgewehr patrouil-
enormen Steuern und die wenigen Leis- In der Favela Vidigal ein paar Kurven lieren.
tungen, die der Staat im Gegenzug liefert. weiter, gleich gegenüber vom Sheraton- „Es ist vielleicht sicherer geworden für
Alle sind sich einig: Der Gigant Brasilien, Hotel, in dem die Seleção abgestiegen ist, die Touristen und die Spekulanten, aber
die mächtige Wirtschaftslokomotive, ist wird der Besucher mit einer Weisheit für uns hat sich nichts geändert“, sagt Fe-
in Fahrt gekommen in den vergangenen empfangen, schwarz auf türkisfarbenen lipe, der seine blutige Nase abtupft, weil
Jahren, allerdings sind die Gleise verrottet, Kacheln: „Alle Menschen wollen von Na- ihm einer der Hunde die Pratze überge-
das Stellwerk ist veraltet, das Personal aus tur aus den Weg zum Guten finden. Alle zogen hat. Blöde Töle, böser Blick, Blut
den feudalen Zeiten. Tatsächlich schaffen sind von Natur aus mit den gleichen Rech- tropft. Die Bosse sind weg, sagt Felipe,
die Autos heute in den verstopften Innen- ten ausgestattet.“ Als Autor steht Aristo- aber Drogen sind noch immer leichter zu
städten von Rio oder São Paulo im Durch- teles darunter. besorgen als Brot. Gut, es ist ruhiger ge-
schnitt genau das Tempo der Kutschen – Das Pathos und das Ideal gehören so worden, früher wurden hier Verräter in
rund 18 Kilometer pro Stunde. Das Land sehr zur sentimentalen Propaganda Bra- Autoreifen verbrannt, aber sonst?
durchläuft vielleicht keine Revolution, siliens wie seine zynischen Politiker. Hier Die UPP-Polizisten werden regelmäßig
aber eine Modernisierungskrise. sollen sie die Herzen in der Favela höher- ausgewechselt, um Korruption zu verhin-
Ein weißbärtiger Arzt zitiert den schlagen lassen. Gegen das Elend gibt es dern. Aber Felipe glaubt nicht, dass es
Spruch, den er auf einer Demonstration zwar kein vernünftiges Abwassersystem funktioniert. Nach der WM werde alles
gesehen hat: „Ein wahrhaft entwickeltes und keine Ärzte, aber die moralische Auf- wieder wie zuvor. Nicht nur in Brasília
Land ist keines, in dem die Armen ein rüstung. im Kongress wird geklaut, alle haben Teil
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YASUYOSHI CHIBA / AFP
Blick von einer Favela auf das Maracanã-Stadion in Rio: Gegen das Elend gibt es zwar kein Abwassersystem, aber moralische Aufrüstung

am „Jeitinho“, an der Kultur der Durch- Die Demonstranten marschieren weiter. sind 74 Prozent der Bevölkerung dafür,
stecherei; jeder macht seinen Schnitt. Fürs Endspiel vor dem Maracanã sind zur dass die Drahtzieher des Bestechungs-
Sicherheit 6000 Militärpolizisten zusam- skandals sofort ins Gefängnis wandern.

M arco Túlio Zanini, ein junger Be- mengezogen worden. Sicher sind immer
triebswissenschaftler, der in Deutsch- einige wenige Militante unter den Demon-
land studiert hat, hat die BOPE-Einheiten strierenden. Doch vor allem die Mittelklas- K einer aus den Occupy-Zelten in Ipa-
nema hat hingeschaut, als die Seleção
untersucht. In einer aufsehenerregenden se zeigt mit ihren weitgehend friedlichen ins Maracanã zum Finale einlief. Nur Jair,
Studie ist er zu dem Befund gelangt, dass Protesten, dass sie nicht nur nach Kühl- der Rastamann, der für die Sache sterben
ausgerechnet sie, diese schwerbewaffnete schränken und Autos verlangt, sondern wollte, war plötzlich abtrünnig.
Schocktruppe mit den hinter einem To- nach den Rechten einer Bürgergesellschaft, An der Copacabana sind nur zwei Kios-
tenkopf gekreuzten Pistolen im Wappen, die für ihre Steuern Gegenleistungen for- ke mit Fernsehern bestückt. Im „Sindica-
von Idealen beseelt ist. „Die Jungs tun dert: ein vernünftiges Gesundheitssystem, to“ dagegen, einer Churrascaria an der
ihren Job nicht für Geld, sondern sie füh- Straßen, Nahverkehr, Schulen. Promenade, haben sich ein paar Dutzend
len sich als Missionare.“ Einsatzbereit- Ironischerweise war es gerade die re- Fans zusammengefunden. Sie haben kaum
schaft, Opfermut, Korpsgeist. Womöglich gierende Arbeiterpartei, die dachte, es Platz genommen, als Fred, der neue Bom-
die einzige staatliche Institution, von der sei mit dem Ankurbeln des Konsums ge- ber der Nation, sich durchrammelt in den
sich das sagen lässt. Das muss sich doch tan. Doch mittlerweile macht das Wirt- Strafraum der Spanier und im Liegen ver-
auch auf andere Bereiche übertragen las- schaftswunder schlapp. Die Staatsver- wandelt. Das zweite Tor von Neymar ist
sen. Eine Sturmtruppe als Modell? Wie schuldung ist laut der Tageszeitung „O spektakulär, der Jubel schwillt an. Sie spie-
verzweifelt muss die Lage sein! Globo“ so hoch wie seit 18 Jahren nicht, len gut, die Brasilianer, schlank, ideen-
Sie haben aufgeräumt in der Stadt, un- die mehrheitlich staatliche Ölfirma Petro- reich, schnell. Sie haben sich zurückgemel-
ter José Mariano Beltrame, dem Sicher- bras praktisch bankrott, die Inflation det im Weltfußball. Nach dem 3:0 gibt es
heitschef Rios, der von außen kam und wächst. Auch das Volk hat Angst. stehend Applaus. Fußball funktioniert.
niemandem etwas schuldete. Beltrame ist Nichts jedoch hatte die Öffentlichkeit Doch nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
sauber, und seine Jungs sind es auch, in den letzten Jahren so bewegt wie die Das gilt ganz besonders für den endlo-
glaubt Zanini. Anhörungen zum „Mensalão“-Skandal, sen Prozess der brasilianischen Demokra-
Das zentrale Thema des Wissenschaft- einer kriminellen Operation, mit der die tie, in der es offenbar auch künftig nicht
lers ist Vertrauen, in der Wirtschaft und Regierungspartei PT in Zusammenarbeit ohne Doppelpässe und taktische Winkel-
in der Politik. Seine letzte Veröffentli- mit Staatsbetrieben mehrere Abgeordnete züge abgeht. Für diese Woche haben die
chung heißt „Führung durch Werte“. geschmiert hatte, um lukrative Großpro- Gewerkschafter, die meisten PT-Mitglieder,
Doch die Werte sieht er durch die Auf- jekte durch den Kongress zu schleusen. einen Generalstreik angekündigt. Brasi-
stiegsgesellschaft in den letzten Jahren Ausgerechnet Joaquim Barbosa, den liens Arbeiterpartei mobilisiert gegen sich
zerrieben, verantwortlich ist ausgerechnet noch Lula ins oberste Gericht geholt hat- selbst, um erneut in Führung zu gehen.
Lulas linke Wirtschaftswunderpartei PT. te, verlangte in einer Brandrede, den Mal sehen, wer gewinnt.
„Man kann nur hoffen, dass die Protes- Schweinestall auszumisten. Barbosa wird
te anhalten, denn sie sind Ausdruck der seither als Held gefeiert. Einer, der für Video: Matthias Matussek über
Bürgergesellschaft“, sagt Zanini. Sie sind die Werte der Demokratie steht. Er wür- den Brasilianischen Frühling
Trainingseinheiten, demokratische Wach- de sofort gewählt werden, wenn er kan- spiegel.de/app282013brasilien
samkeitsübungen. didierte, sagen die Leute. Mittlerweile oder in der App DER SPIEGEL

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Ausland

MAILAND Geschichten im Maulwurfsfell


GLOBAL VILLAGE: Eine Italienerin erfindet jene Notizhefte neu, die schon der
Reiseschriftsteller Bruce Chatwin nutzte – und bringt ihre Firma an die Börse.

M
oleskine, haucht Maria Sebre- klagt, dass ihm seine Kladden fehlen. Er Sie reiste nach Paris, fand aber weder
gondi, mit französischer Beto- kaufte sie stets in der Pariser Rue de l’An- die Papeterie noch Spuren des Lieferanten
nung. „Der Name stammt von cienne Comédie, doch dann starb der ein- aus Tours. Also ging sie in Museen und
ihm, wir mussten ihn nur übernehmen.“ zige Lieferant aus Tours. Maria las: „Mei- Archive, sah alte Skizzenbücher von Ma-
Moleskine, Maulwurfsfell, das legendäre nen Pass zu verlieren war das Geringste tisse und Picasso, sah Fotos, auf denen Er-
Notizbuch, das der britische Reiseschrift- aller Übel – ein Notizbuch zu verlieren nest Hemingways Notizbücher abgebildet
steller Bruce Chatwin so taufte, weil sein eine Katastrophe. In den rund zwanzig waren, alle klein und schwarz, alle ähnlich.
Einband aus schwarz glänzendem Wachs- Jahren, in denen ich gereist bin, verlor Damals verfasste sie das Faltblatt, das heu-
tuch gemacht war. Daumendick, die ich nur zwei. Eins verschwand in einem te jedem Moleskine beiliegt. Es erzählt
Seiten kariert, liniert oder blanko, zu- afrikanischen Bus, das andere entwende- von großen Künstlern, die alle das „legen-
sammengehalten von einem Gummi, im te die brasilianische Geheimpolizei.“ däre Moleskine“ benutzten. Es klingt wie
hinteren Einband eine Tasche, in die man Maria bewunderte diesen ruhelosen ein Versprechen, dabei ist es eine ausge-
getrocknete Blätter stecken kann, Vi- Weltenwanderer. In London war er Auk- dachte Geschichte. Ein simples, überteu-
sitenkarten, Haarlocken, ertes Notizbuch – eine ge-
Glücksbringer. niale Marketing-Idee.
Chatwin soll unzählige So kommt es, dass eine
dieser Bücher besessen ha- Italienerin einer vermeint-
ben, er kaufte sie in einer lich französischen Erfin-
Pariser Papeterie, reiste mit dung zu Weltruhm verhilft,
ihnen nach Feuerland, Af- ausgerechnet zu einer Zeit,
ghanistan und Australien. in der Papier totgesagt wird.
Immer schrieb er seinen Na- Fast 20 Jahre später ge-
men auf die erste Seite und hört Moleskine Finanzinves-
dazu, wie viel Finderlohn er toren, 15 Millionen Notiz-
zahlen würde, sollte das bücher wurden im vergan-
Buch abhandenkommen. So genen Jahr in 90 Ländern
zumindest geht die Legende. verkauft. 78 Millionen Euro
„In einer Welt, die tippt Umsatz, die Wachstumsra-
und wischt und doppel- ten sind zweistellig. Nur
klickt, ist dieses Buch sehr Chatwin hat nichts von die-
altmodisch“, sagt Sebregon- ser Wiedergeburt; er starb
di. Die Römerin, 64, Typ bereits 1989 an Aids.
MOLESKINE

Donna Leon, sitzt in einer „Una bella storia“, sagt


Gerberei im Bahnhofsvier- Maria Sebregondi: eine ita-
tel von Mailand. Die Wände Unternehmerin Sebregondi: Accessoire für moderne Nomaden lienische Geschichte über
sind azurblau gestrichen, es kreatives Unternehmertum,
riecht nicht mehr nach Le- nicht ganz der Wahrheit ent-
der; es duftet, sagt Sebre- sprechend, aber schön. „Un-
gondi. Sie steckt ihre Nase in die Seiten tionator bei Sotheby’s; Frauen wie Män- sere Rache dafür, dass Frankreich die
ihres Moleskine: „Es duftet nach vergilb- ner sollen verrückt nach ihm gewesen ,Mona Lisa‘ geklaut hat“, sagt ihr Presse-
ten Büchern, frischem Brot und Kindheit.“ sein. In Patagonien suchte er nach dem sprecher und lacht. „Dabei ist Moleskine
Vor ihr auf dem Tisch liegen zwei Brontosaurus und machte daraus einen zu 100 Prozent chinesisch, denn wir pro-
Notizbücher, mit winziger Handschrift be- Roman; in Australien schrieb er über den duzieren dort, weil das billiger ist und die
schrieben, rote und schwarze Tinte, dane- Gesang der Aborigines. Chinesen bereits Pinsel und Tinte benutz-
ben zwei Smartphones, die würdigt sie kei- Maria Sebregondi dachte: Seine Ge- ten, als wir noch Felshöhlen bemalten.“
nes Blickes. „Und beachten Sie diesen schichten sind phantastisch, sie klingen Seit April ist Moleskine an der Mailän-
elfenbeinfarbenen Schimmer“, sagt sie, nach Fernweh und Sehnsucht. Machen der Börse. Nur drei anderen Italienern
blättert durch das Büchlein, als wäre es ein wir unsere eigene Geschichte daraus. Es gelang das in letzter Zeit, Lapo Elkann
Daumenkino, und lauscht seinem Klang. waren die neunziger Jahre, es war die mit Brillen, Salvatore Ferragamo mit Bal-
Maria Sebregondi hat Soziologie stu- Zeit der Billigflieger und der Buchhand- lerinas und Brunello Cucinelli mit Kasch-
diert und erfolgreich die 68er hinter sich lungen, die nicht mehr mit Büchern, son- mir. Ansonsten: Krise und Kapitalflucht,
gebracht. Im Sommer 1995 segelte sie mit dern mit Geschenkartikeln Geld mach- Braindrain, Trübsal.
Freunden vor der tunesischen Küste. Ei- ten. Dazu passte dieses Notizheft, ein Es läuft gut für Moleskine, im Sommer
ner, Francesco, handelte mit T-Shirts und „Accessoire für den modernen Noma- werden weitere Bahnhofsläden eröffnet,
Geschenkartikeln in Mailand, träumte den“, so nannte sie es. Ihr Freund, sagt und Maria Sebregondi wird sie noch ein
vom Erfolg, er bat Maria um eine Idee. sie und lächelt, habe damals nur die Au- paarmal erzählen müssen: die schöne Ge-
Sie las an Deck Chatwins „Traumpfa- genbrauen gehoben; die Genialität ihrer schichte vom Maulwurfsfell und ihrem
de“, immer wieder die Stelle, an der er Idee begriff er erst später. tunesischen Segeltörn. FIONA EHLERS

86 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Szene Sport

KRAFTSPORT

„Breit wie hoch“


Der Hamburger Fotograf
Firat Kara, 40, über seine
Begegnung mit Bodybuil-
dern und den Bildband
„Herkules“

SPIEGEL: Was fasziniert Sie so an Män-


nern mit Muskelbergen?
Kara: Die Besessenheit, mit der diese
Sportler an ihrem Körper arbeiten. Ich
habe Typen gesehen, die waren genauso
breit wie hoch, andere, die praktisch nur
aus reiner Muskelmasse bestanden.
SPIEGEL: Die Verwandlung beruht in der
Regel auch auf dem ausgiebigen Konsum
von Anabolika. Stört Sie das nicht?
Kara: Für mich ist das, was diese Leute
machen, Kunst. Die Sportler, die ich foto-
grafiert habe, haben normale Gesichter.
Ihre Muskulatur aber wirkt, als gehörte
sie nicht zu ihrem Körper, als trügen sie
ein Kostüm. Ich hatte manchmal das Ge-
fühl, ich sei in eine andere Welt geraten.
SPIEGEL: Sie waren bei Meisterschaften
in Los Angeles und in Deutschland. Die
meisten Fotos entstanden hinter der
Bühne. War es schwer, an die Darsteller
heranzukommen?
Kara: Eher nicht. Die meisten wollen sich
ja zeigen. Wenn die eine Kamera sehen,
begeben sie sich sofort in Pose.

Firat Kara: „Herkules“. Verlag Seltmann + Söhne,


Lüdenscheid; 80 Seiten; 39 Euro. Bodybuilder

TRAINING
Spielpause beim Hamburger SV mit die ersten zwei Wochen des Sommer-
Übergewicht auf die Waage stieg urlaubs darf gefaulenzt werden, dann
(„Bin ganz schnell wieder runter“), folgt Gymnastik für Bauch- und Rü-
Fußfesseln im Urlaub wirkte der niederländische National-
spieler etwas aus der Zeit gefallen.
ckenmuskulatur, am Ende sind
Steigerungs- und Intervallläufe täg-
Vor den Gefahren von Sommerspeck „Dass ein Profi gleich mit mehreren liche Pflicht. Die Profis bekommen
nach den Ferien sind die wenigsten Kilo zu viel aus dem Urlaub kommt, vor dem Urlaub Trainingspläne
gefeit. Als nun allerdings der Fußball- habe ich in den letzten sieben, acht sowie Pulsuhren mit GPS ausgehän-
profi Rafael van der Vaart nach der Jahren nicht erlebt“, sagt Christian digt, eine Art elektronische Fuß-
Kolodziej, seit 13 Jahren fessel – damit kann man nachträglich
Fitnesstrainer in der Bundes- die Belastung kontrollieren oder
liga, jetzt bei Eintracht Frank- sogar in Echtzeit die Laufstrecke am
furt, früher beim VfB Stutt- Computer beobachten. „Das mache
gart und bei Borussia Dort- ich aber nicht“, beteuert Kolodziej.
mund angestellt. Der Fußball Allerdings wird nach dem Urlaub der
ist schneller und athletischer Körperfettanteil gemessen. Die
geworden, die Spieler sind Profis wissen, wie sie sich zu ernähren
notgedrungen disziplinierter. haben. In Dortmund habe der Stür-
WEISS / EIBNER-PRESSEFOTO

Das Aufbautraining zum mer Marcio Amoroso wegen mut-


Saisonstart ist intensiver und maßlich undisziplinierter Nahrungs-
beginnt früher – nämlich aufnahme einst nach dem Urlaub
schon im Urlaub. Die Faust- Gichtanfälle bekommen, erinnert
Hoffenheimer Fußball-Profis regel bei der Eintracht wie bei sich Kolodziej, doch „diese Zeiten
den meisten Clubs: Maximal sind einfach vorbei“.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 87
Sport

FITNESS

Im Land der wilden Alten


Vier Millionen Senioren machen Sport im Verein, nie war die Generation der
über 60-Jährigen so fit wie heute. Deutsche Rentner rennen, radeln
oder machen Triathlon – und übertreffen mit ihren Leistungen oft sogar die Jungen.

M
it kräftigen Ruderschlägen zie-
hen die Männer die Riemen
durch das Wasser. „Außenschul-
ter oben lassen, nicht im Rücken zusam-
mensacken“, brüllt der Trainer, der in ei-
nem Motorboot nebenherfährt.
Es ist sechs Uhr morgens, der Achter
des Ruderklubs Favorite Hammonia trai-
niert auf der Hamburger Außenalster. Die
Herren im Boot, weiße Bärte, alle um die
70 Jahre alt, haben einen roten Kopf und
Schweißperlen auf der Stirn. Profis, die
bei Olympia starten, rudern mit rund 42
Schlägen in der Minute. Die Hamburger
Senioren, Weltmeister in ihrer Altersklas-
se, schaffen immer noch 35 Schläge pro
Minute.
Nach dem Training sitzt Horst Poschar-
sky, 73, klein, kräftig, eine runde Brille
auf der Nase, beim Frühstück im Vereins-
heim. Er rudert im Boot auf der Position
zwei, er ist für das Gleichgewicht des
Achters zuständig. 16 Kilometer sind er
und seine Kameraden an diesem Morgen
gerudert. Poscharsky ist erschöpft, aber
zufrieden.
Früher arbeitete er als Creative Di-
rector in einer Werbeagentur. Täglich
zehn Stunden im Büro, auch am Wochen-
ende. Zum Ausgleich ging er ab und zu
joggen, mehr war nicht drin.
Seit er in Rente ist, hat Poscharsky viel
Zeit. Er überlegte, ob er promovieren soll-
te. „Doch dann merkte ich, dass ich ei-
gentlich nicht schlauer werden möchte.
Mir wurde klar, dass ich mehr davon
habe, meine Körperlichkeit zu genießen.“
Er begann zu rudern, das hatte er als
Student schon gemacht. Poscharsky trai-
niert jetzt sechsmal in der Woche, neben
dem Rudern macht er Lauf- und Kraft-
training. Er führt ein Trainingstagebuch,
macht Belastungstests, überprüft seine
Laktatwerte und betrachtet seine Leis-
tungskurven, um noch besser zu werden.
FOTOS: DIRK KRÜLL / DER SPIEGEL

Er isst mittags Salat, abends Fleisch, sel-


ten Süßigkeiten, um sein Idealgewicht
von 70 Kilogramm zu halten.
„Ich bin so fit wie nie zuvor“, sagt Po-
scharsky, „ich fühle mich wie ein 60-Jäh-
riger, höchstens.“
Deutschland ist das Land der Senio-
Triathlet Klittich: „Ich habe keine Lust, auf einer Kreuzfahrt dahinzuvegetieren“ rensportler. Nie zuvor waren die Alten
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Seniorensportler Weisbarth, Sauer: Experten haben lange unterschätzt, was der Körper im Alter noch alles leisten kann

so gut in Form. Jeder fünfte deutsche ler Ingo Froböse spricht von einer „zwei- fährlich, Weisbarth hat keine Angst. Er
Rentner treibt mehrmals in der Woche ten Pubertät“. Der Hormonhaushalt ver- macht bis zu 40 Trainingssprünge am Tag.
Sport. Über vier Millionen der über 60- ändere sich, „im Kopf werden die Men- „Blaue Flecken sind normal, man wächst
Jährigen sind im Verein aktiv, das sind schen kirre, sie sind aufgekratzt und in die Gefahr rein“, sagt er.
rund dreimal mehr als noch 1990. fragen sich: Was kommt als Nächstes in Noch vor zwei Jahrzehnten haben Ärz-
Nordic Walking oder Aquagymnastik meinem Leben? Ein Motorrad? Ein neues te und Wissenschaftler Rentnern empfoh-
sind beliebte Leibesübungen bei Senio- Haus? Eine neue Sportart? Alles ist jetzt len, sich zu schonen, Kräfte zu sparen.
ren, die in Form bleiben wollen. Doch möglich“. Jetzt zeigt sich, dass die Experten lange
vielen aus der Generation Ü-60 reicht es Heinz Weisbarth ist 78 Jahre alt. Er unterschätzt haben, was der Körper im
heute nicht mehr, nur mit der Schwimm- lebt allein, vor zehn Jahren starb seine Alter noch alles leisten kann.
nudel zu planschen. Sie suchen im Ruhe- Frau. Er liest nur selten ein Buch, geht Forscher der Sporthochschule Köln ha-
stand nicht die Ruhe – sondern die Her- nicht in die Oper, den Fernseher schaltet ben die Zeiten von knapp einer Million
ausforderung. er so gut wie nie ein. Weisbarths Leben jungen und alten Athleten verglichen, die
„Ich habe keine Lust, auf einer Kreuz- ist der Sport. Und er hat sich für eine bei Marathon- und Halbmarathonläufen
fahrt dahinzuvegetieren“, sagt Manfred Disziplin entschieden, mit der er sogar am Start waren. Das Ergebnis: Jeder vier-
Klittich, 76, aus Eschborn, der kürzlich halbstarke Jugendliche beeindrucken te Senior zwischen 65 und 70 Jahren ist
seinen zwölften Ironman-Wettkampf ab- kann. schneller als der durchschnittliche 20- bis
solviert hat: 3,9 Kilometer Schwimmen, Agrippabad in Köln, kurz nach elf Uhr 54-jährige Marathonläufer. Das bedeutet,
180,2 Kilometer Radfahren, 42,2 Kilo- morgens. Weisbarth, blaue Badehose, dass ein Viertel der Senioren vor den
meter Laufen. Die wilden Alten machen weißblonde Haare, macht am Becken- meisten jüngeren Läufern im Ziel ist.
Judo, Karate, Gewichtheben. Selbst Grei- rand 20 Klappmesser und 20 Liegestütze, „Früher stand in den Lehrbüchern,
se suchen noch den Reiz des Wettkampfs: er dehnt seine Füße, überstreckt die Ze- dass wir mit zunehmendem Alter schwä-
Bei der deutschen Leichtathletik-Meis- hen wie eine Ballerina. Dann beginnt die cher und kränker werden und es ab 26
terschaft der Senioren, bei der jedes Jahr Show. Jahren abwärtsgeht. Heute wissen wir,
rund 3000 Athleten starten, wird es ab Weisbarth klettert den siebeneinhalb dass das ein Irrtum ist“, sagt Klaus-
2014 eine Altersklasse für über 90-Jährige Meter hohen Sprungturm hinauf, er Michael Braumann, Präsident der Deut-
geben. drückt das Kreuz durch, breitet die Arme schen Gesellschaft für Sportmedizin und
„Sich zu vergleichen, der Stärkere sein aus und springt. Prävention. „Muskeln können in jedem
zu wollen, das hat etwas Juveniles“, er- Eineinhalbfacher Salto mit ganzer Alter wachsen, Kraft und Ausdauer kön-
klärt Ruderer Poscharsky. „Wir haben als Schraube. Weisbarth dreht nicht weit ge- nen in jedem Alter trainiert werden.“
junge Kerle Armdrücken und Wettrennen nug, kommt leicht schräg auf, Wasser Der Körper braucht im Alter zwar län-
gemacht. Und wir wollen dieses Kräfte- spritzt. Als er auftaucht, flucht er: „Schei- ger, um sich nach der Belastung zu rege-
messen auch auf unsere alten Tage, weil ße, explosiver abspringen, Junge.“ Nächs- nerieren, Senioren müssen nach dem
es uns wieder an unsere Kindheit erin- ter Versuch. Sport längere Pausen einlegen. Doch ab-
nert. Wir alten Säcke benehmen uns Als Jugendlicher hat Weisbarth mit gesehen davon, können sie genauso in-
manchmal ja auch wie Kinder.“ dem Wasserspringen begonnen, 1957 tensiv trainieren wie Mittzwanziger.
Der typische deutsche Seniorensport- wurde er deutscher Meister vom Zehn- Manfred Klittich, der Ironman aus
ler ist gebildet und wohlhabend. Es sind Meter-Turm. Der Sport hat ihn sein Leben Eschborn, machte sich während seiner
eher die Männer, die als Rentner noch lang nicht losgelassen. Inzwischen ist Jahre als Ingenieur bei AEG und Daimler
mal richtig angreifen. Viele entdecken Weisbarth ein Exot unter den Senioren- nie viel aus Sport. Kurz nachdem er in
den Sport erst im Alter für sich, sie be- sportlern, bei internationalen Wettkämp- Rente gegangen war, erkrankte seine
greifen die Rente als Start in einen neuen fen in seiner Altersklasse hat er nie mehr Mutter an Demenz. Klittich dachte sich,
Lebensabschnitt. Der Sportwissenschaft- als zehn Gegner. Turmspringen ist ge- falls es nun auch mit ihm bald bergab
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Sport

gehen sollte, hätte er neben seinem Beruf möchte er sich nochmals für Hawaii qua- Der Anteil der über 60-Jährigen in
nichts vom Leben gehabt. lifizieren. Er trainiert gerade 25 Stunden Deutschland liegt heute bei 26 Prozent.
„Ich erschrak“, sagt er. „Ich fing von in der Woche. „Viel Leiden bedeutet viel Im Jahr 2030 werden 36 Prozent der Be-
einem Tag auf den anderen ein neues Le- Belohnung“, sagt er. völkerung Senioren sein. Schon aus Grün-
ben an.“ Oft ist es die Angst vor Krankheiten, den des demografischen Wandels ist es
Er begann, regelmäßig zu joggen, er die Senioren dazu bringt, Sport zu trei- für die Politik daher ein Staatsziel, mög-
lief und lief und startete schon bald bei ben. Es hat sich herumgesprochen, dass lichst viele Rentner zum Sport zu bringen,
einem Marathon. Doch er wollte mehr. sich Bewegung lohnt. Schwedische For- damit sie lange fit und gesund bleiben.
Klittich nahm Schwimmunterricht, kauf- scher an der Universität Uppsala fanden Denn rüstige Rentner sparen viel Geld:
te sich ein Rennrad, wurde Triathlet, erst heraus, dass sportlich aktive Senioren Für einen gesunden Mann von 50 Jahren,
auf der Kurzstrecke, dann auf der Mit- eine um 3,8 Jahre höhere Lebenserwar- so hat das Robert-Koch-Institut hochge-
telstrecke. tung haben als untrainierte Gleichaltrige. rechnet, muss die Krankenkasse 300 Euro
Irgendwann reichte ihm auch diese Be- Es hat sich aber auch der Blick auf die im Jahr einplanen. Ein gleichaltriger Dia-
lastung nicht mehr. Er trat bei Ironman- letzte Lebensphase gewandelt. Altern betiker mit schlechten Gefäßen verur-
Wettbewerben an und qualifizierte sich wird nicht mehr wie noch bis in die neun- sacht Kosten von 20 000 Euro. Viele Kas-
für Hawaii. Das Rennen auf Big Island ziger Jahre hinein mit körperlichem Ver- sen haben Bonusprogramme für Senio-
ist so etwas wie der Mount Everest der fall gleichgesetzt. Heutige Senioren nut- ren, die sich regelmäßig in Form halten.
Triathleten. zen ihren Lebensabend dazu, gegen den Vereine und Verbände kreieren immer
neue altersangepasste Angebote, um
Sportmuffel vom Sofa zu kriegen.
Die klassische Sitzgymnastik ist out.
Heute bieten Clubs Kurse an wie Aerobic
50 Plus, bei denen die Teilnehmer zu Mu-
sik aus den siebziger Jahren auf die Step-
per steigen. Es gibt Yoga für Senioren
oder Kurse in Tai-Chi. Der neueste Trend
ist Aqua-Spinning. Dabei strampeln die
Sportler auf einem Hydro-Rad, das mit-
ten im Schwimmbecken steht.
Ruderer Poscharsky würde sich bei sol-
chen Trimmspielarten erst recht alt füh-
len. Er braucht den Wettkampf, will sich
auspowern bis zum Umfallen.
Er steht am Ufer der Dove Elbe, eines
Nebenarms der Elbe im Südosten Ham-
burgs, und legt sich ein Stück Trauben-
zucker auf die Zunge. Seine Teamkame-
raden saugen Powergel aus Plastikfläsch-
chen. Die Männer bereiten sich auf ihren
DIRK KRÜLL / DER SPIEGEL

ersten wichtigen Wettkampf der Saison


vor. Die Rallye auf der Dove Elbe ist eine
Langstreckenregatta, 13 Kilometer, über
1600 Ruderschläge.
Schon nach 500 Metern bricht beim
Hamburger Ruderteam: „Ein Puls von 170, 6500 Kalorien verbraucht“ Achter aus Hamburg einem Ruderer eine
Strebe am Ausleger, auf dem der Riemen
Klittich kämpfte sich durch meterhohe drohenden Verfall anzukämpfen. Der aufliegt. Für einen kurzen Moment ver-
Wellen im Pazifik, beim Radfahren blies Traum von den jungen Alten ist nicht liert das Team seinen Schlagrhythmus,
ihn der Gegenwind fast aus dem Sattel. mehr unrealistisch. das Boot kippelt.
Mit Beinen wie aus Holz rannte er bei 40 Erika Sauer fing auch erst mit 46 Jahren Nach 54 Minuten und 26 Sekunden
Grad Celsius durch dampfende Lava- mit Leichtathletik an. Die heute 73-Jäh- kommt der Achter ins Ziel, der Schlag-
felder. Als er ins Ziel kam, bekam er eine rige hält den Weltrekord im Siebenkampf mann bekommt einen Hustenanfall,
Blumenkette um den Hals gehängt. Seine in ihrer Altersklasse. Ihre stärkste Diszi- Poscharsky legt den Kopf in den Nacken
Zeit: 14 Stunden und 48 Minuten. plin ist der Weitsprung, ihre Waden sind und stöhnt. Dann wirft er einen Blick auf
In der Szene ist der Oldie berühmt für so dick und durchtrainiert, als wäre sie seine rechte Handfläche. Es haben sich
seine Willensstärke. Bei einem Wettkampf Bergsteigerin. Sauer ist Deutschlands er- sieben Blasen gebildet, drei davon sind
vor zwei Jahren schleppte sich Klittich folgreichste Seniorenathletin, sie gewann aufgeplatzt, an seinem kleinen Finger
trotz Leistenbruchs und Bandscheiben- 36 Goldmedaillen bei Europameister- läuft Blut nach unten.
vorfalls ins Ziel. Ein anderes Mal traf ihn schaften und 18 bei Weltmeisterschaften. „Ein Puls von 170, 6500 Kalorien ver-
beim Schwimmen ein Konkurrent mit „Vor 20 Jahren wurden wir dafür aus- braucht“, sagt Poscharsky später. Ein gu-
dem Fuß am Hals, Klittich verlor das Be- gelacht, dass wir Alten Sport treiben“, ter Tag, auch wenn es nur zu Platz zwei
wusstsein und musste gerettet werden. sagt Sauer. Nun bekomme sie ständig gereicht hat.
Später diagnostizierten die Ärzte, dass er Ehrenpreise verliehen und Einladungen Dann geht er los und besorgt Bier für
wohl einen Herzstillstand erlitten hatte. zu Podiumsdiskussionen geschickt. „Wir seine Mannschaft. LUKAS EBERLE
Klittich ist ein Sportextremist. Schwer sind jetzt wichtig“, sagt sie. Mit den Leis-
zu sagen, ob das, was er seinem Körper tungen, die Senioren im Sport erbringen, Video: Turmspringer Heinz
zumutet, noch gesund ist. Vor einem Jahr „zeigen wir, dass wir auch im Alter noch Weisbarth beim Training
stürzte er im Training vom Rad, brach selbständig sein können und wertvoll für spiegel.de/app282013turmspringer
sich den Oberschenkelhals. Trotzdem die Gesellschaft“. oder in der App DER SPIEGEL

90 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
FUSSBALL

Rockende
Grachten
Der niederländische National-
trainer Louis van Gaal demonstriert
für die Rechte von Homo-

HARTMAN / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF


sexuellen. Jetzt sollen auch die
Deutschen Farbe bekennen.

D
as Boot, das bei der schrillen Pa-
rade durch die Grachten Amster-
dams für die größten Beifallsstür-
me der mehr als 300 000 Schaulustigen
sorgte, trug das Abzeichen des niederlän- Amsterdamer Parade Gay Pride 2010: „Meilenstein für die internationale Bewegung“
dischen Verteidigungsministeriums. An
Deck standen junge Männer in Uniform: nale Schwulen- und Lesbenbewegung“. Doch die Angst, dass sich der DFB ganz
homosexuelle Soldaten, die – mit dem Die Grachten, prophezeit sie, „werden ausklinkt, greife um sich, sagt der Nie-
Segen der Armeeführung – erstmals an rocken“. derländer Robert Thewessen, der seit
der Amsterdamer Schwulen- und Lesben- Den Rummel um die holländische zwei Jahren den Berliner Christopher
parade Gay Pride teilnahmen. Das war Parade wollen Schwulenorganisationen Street Day mitorganisiert.
im Sommer 2009. auch hierzulande nutzen, um den Deut- Mit dem Rückenwind aus Holland wol-
Die Hauptattraktion dieses Jahres bei schen Fußball-Bund (DFB) wieder stärker len die Veranstalter nun einen neuen An-
dem Bootskorso durch die Kanäle Amster- in ihren Kampf gegen Ausgrenzung und lauf nehmen und den DFB zur Teilnahme
dams, einem der bedeutenden Homo- Diskriminierung einzubinden. Das En- an der nächsten Berlin-Parade einladen,
sexuellen-Happenings Europas, wird eine gagement, das der frühere Verbandsprä- es müsse ja kein Wagen sein. Zwanziger
orangefarbene Barkasse mit den Groß- sident Theo Zwanziger begann, habe seit sei „das Gesicht der Kampagne“ im Fuß-
buchstaben KNVB sein. Das steht für dessen Rückzug spürbar abgenommen, ball gewesen. Doch „künftig kann das ja
Koninklijke Nederlandse Voetbal Bond, beklagt Torsten Siebert, Leiter des Ber- auch der Bundestrainer sein“, findet The-
den Königlichen Niederländischen Fuß- liner Projekts „Soccer Sound“ gegen wessen.
ballverband. Prominentestes Gesicht an Homophobie im Fußball. Seit Anfang ver- Während zum Gay Pride in Amster-
Bord: Nationalcoach Louis van Gaal. gangenen Jahres, seit einem Dialogforum dam die gesellschaftlichen Organisatio-
Die Zusage des früheren FC-Bayern- über sexuelle Identitäten in der Sport- nen Schlange stehen – angeblich gab es
Trainers, bei der bunten Homosexuellen- schule Hennef, habe man vom DFB „so zuletzt über 200 Anfragen für 75 Boote –,
Party Anfang August mitzuschippern, ist gut wie nichts mehr gehört“, sagt Siebert. müsse man in Deutschland betteln. „Da
ein deutliches Signal. Denn auch in den Zwanziger hatte das Aufweichen von geht Gesellschaftspolitik langsamer“,
für ihre Weltoffenheit und Toleranz ge- Homophobie zu einem sozialen Kern- meint Thewessen.
rühmten Niederlanden gehören homopho- thema des Verbands gemacht. Es gab Der DFB wehrt sich gegen den Vorwurf
be Sprüche und Gesänge in Aktionsabende, einen Runden des Desinteresses. Gegen die Diskrimi-
Fußballstadien zum Alltag, kein Van Gaal Tisch vor einem Länderspiel nierung Homosexueller werde weiter mit
schwuler Profikicker hat bis- in Hamburg, die DFB-Kultur- gleichem Schwung gearbeitet, heißt es in
lang sein Coming-out gewagt. stiftung ließ ein Theaterstück der Frankfurter Verbandszentrale, wenn
Stattdessen halten sich gegen Diskriminierung auffüh- auch vielleicht weniger offen mit Worten
HOCHZWEI / SYNDICATION / IMAGO

selbst krudeste Vorurteile am ren. Beim Berliner Christo- als früher. Zum Beispiel stehe der Leit-
Leben. Noch im vorigen Som- pher Street Day, dem Fest- faden für Vereine kurz vor der Fertigstel-
mer irritierte Frank de Boer, und Demonstrationstag von lung. Eine Kommission hatte zehn Mona-
der Trainer des Rekordmeis- Lesben, Schwulen, Bisexuel- te lang an dem Papier zum Umgang mit
ters Ajax Amsterdam, seine len und Transgendern, stand Coming-outs im Fußball gearbeitet, nun
Landsleute mit einer Bemer- Zwanziger vor zwei Jahren ist eine ganze Informationsbroschüre
kung über die vermeintliche als Laudator auf der Bühne. „Fußball und Homosexualität“ dabei her-
Unsportlichkeit von Schwulen. Und beim Kölner Christopher ausgekommen – „20 bis 30 Seiten, im
Sie halte de Boers Äußerung „nicht Street Day sponserte der DFB über meh- Längsformat“, verrät Gunter A. Pilz, der
für schwulenfeindlich, sondern für ein- rere Jahre mit je 5000 Euro einen Parade- Vorsitzende der Arbeitsgruppe.
fältig“, sagt Irene Hemelaar, die Ver- wagen. Vielleicht hätte es weniger lange ge-
anstalterin des Amsterdamer Gay-Pride- Unter Zwanzigers Nachfolger Wolf- dauert, hätte man einfach abgeschrieben.
Events. De Boer, der sich öffentlich für gang Niersbach ist die Förderung ausge- Seit Herbst vergangenen Jahres liegt der
seinen Kommentar entschuldigte, hatte laufen, Kölns Parade fand ohne Fußball- „Aktionsplan“ des niederländischen Ver-
Hemelaars spontane Einladung zur letzt- wagen statt. Das sei nicht schlimm, heißt bands mit dem Titel „Fußball für alle“
jährigen Amsterdamer Homosexuellen- es bei den Organisatoren, teilnehmende vor, zehn Seiten in Orange. Enthalten sind
Fete ausgeschlagen. schwul-lesbische Fußballfans seien ohne- Anleitungen für Trainer, wie das Thema
Auch deshalb wertet die 44-jährige Ak- hin jetzt so zahlreich, dass sie als Fuß- in Mannschaften behandelt werden soll.
tivistin die Zusage Louis van Gaals nun gruppe besser in den Umzug passten als Die Holländer waren wieder schneller.
als einen „Meilenstein für die internatio- auf einem Wagen mit begrenztem Platz. JÖRG KRAMER, MICHAEL WULZINGER

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 91
Prisma

Strandparty an der italienischen Adriaküste

Viele Reisende kehren offenbar einigermaßen verstört zurück aus


dem Urlaub in einer mediterranen Touristenhochburg. Eine Um-
frage eines Forscherteams vom Europäischen Institut für Präven-
tionsstudien unter mehr als 6500 britischen und deutschen Urlau-
bern ergab, dass eine von zehn Touristinnen in Südeuropa sexuell
belästigt wurde oder gar „unfreiwilligen Geschlechtsverkehr“ hat-
te, wie die Wissenschaftler im Fachblatt „Archives of Sexual Be-
havior“ berichten. Befragt hatten die Forscher Reisende im Alter
von 16 bis 35 Jahren, die von Urlaubszielen in Italien, Spanien,
Portugal, Zypern oder auf Kreta zurückkehrten. Ergebnis: Frauen
waren zwar häufigstes Opfer sexueller Nachstellungen, Männer
DANIELE MATTIOLI / ANZENBERGER

standen ihnen aber nicht viel nach, wenn sie schwul oder bisexu-
TOURISMUS
ell waren und den Urlaub auf Mallorca oder Kreta verbracht hat-
ten. Um solche Erlebnisse zu vermeiden, raten die Wissenschaft-
ler weiblichen wie männlichen Strandbesuchern zur Vorsicht:
Sexfallen am Mittelmeer „Wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass es diese Probleme
dort gibt – wir neigen dazu, den Urlaub stets nur in positivem
Licht zu sehen“, erklärt Teamleiter Amador Calafat.

ARCHÄOLOGI E
ens huldigt, aber auch schildert, wie TIERE
man das in allen Schichten der Hoch-
kultur verbreitete flüssige Nahrungs-
Göttliches Bier mittel herstellt. Neben Tipps gaben die
Forscher den Braumeistern auch die
Abflug verpasst
Archäologen vom Oriental Institute richtigen Tongefäße – Kopien von Gra- Vielen Singvögeln
der University of Chicago haben sich bungsfunden aus dem Irak. Mit den will es offen-
mit einer kleinen Brauerei im US- ersten Ergebnissen lässt sich derzeit bar nicht
Bundesstaat Ohio zu einem unge- noch kein moderner Gaumen ent- so recht
wöhnlichen Projekt zusammengetan: zücken: Der frühgeschichtliche Getrei- gelingen, ihre
Sie wollen Bier genau so brauen, wie desaft schmeckt leicht nach Essig. Flugpläne an den
es die Sumerer vor Tausenden Jahren Schuld sind Bakterien, die mangels Klimawandel anzu-
in Mesopotamien taten. Anleitungen moderner Reinigungsverfahren in den passen. Sie verlassen
für das Experiment holte sich das Töpfen gedeihen. Mehr Kostproben ihr Winterquartier
F1 ONLINE

Team von der um 1800 vor Christus des Trunks wollen die Hersteller laut zu spät, um im Früh- Purpur-
entstandenen „Hymne an Ninkasi“, „New York Times“ im Spätsommer auf jahr rechtzeitig im schwalbe
die der sumerischen Göttin des Brau- Veranstaltungen in den USA anbieten. Brutgebiet zu sein. Was
Ornithologen lange argwöhnten, lässt
sich jetzt belegen: Biologen von der
kanadischen York University rüsteten
SOZIOLOGIE
tus bewahren, wenn schon Großeltern Purpurschwalben mit Sensoren aus,
und Eltern zur beruflichen Elite zähl- um deren jährliche Wanderungen
ten. Nur 61 Prozent von ihnen gelang zwischen dem Amazonasbecken und
Stark durch Opa das dagegen, wenn erst den Eltern
der Sprung nach oben gelungen war.
den Fortpflanzungsgefilden im Nord-
osten der USA zu verfolgen. Die Flug-
Britische Enkelkinder haben eine Warum genau die Aufstiegschancen daten zeigen, dass die Vögel im ver-
mehr als doppelt so große Chance, es im britischen Klassensystem so gene- gangenen Jahr ihre Reisezeiten nicht
zu akademischen Berufen oder hoch- rationenübergreifend stabil sind, korrigierten, als der Frühling auf dem
karätigen Managerjobs zu bringen, wollen die Wissenschaftler demnächst nordamerikanischen Kontinent schon
wenn schon ihre Großeltern diesen in weiteren Untersuchungen klären. weit ins Land gegangen war und in
Aufstieg auf der sozialen Leiter ge- den Brutgebieten bereits Rekordtem-
schafft hatten. Der berufliche Status peraturen gemessen wurden. Das
der Großeltern väterlicherseits fiel falsche Timing könnte einer der Grün-
dabei etwas weniger ins Gewicht als de dafür sein, dass die Populations-
derjenige der mütterlichen Vorfahren. zahlen vieler Singvogelarten seit eini-
Diesen „Großeltern-Effekt“ haben ger Zeit sinken – vor allem bei jenen
jetzt Sozialwissenschaftler von der Spezies, deren Winter- und Sommer-
University of Oxford und der Durham reviere oft Tausende Kilometer
University bei der Auswertung von voneinander entfernt liegen. „Sie
über 17 000 britischen Lebensverläufen treffen so spät im bereits weit fortge-
entdeckt. Demnach konnten 80 Pro- schrittenen Frühling ein, dass sie das
zent der Enkel den privilegierten Sta- beste Nahrungsangebot für die Auf-
TOPFOTO

zucht ihrer Jungen verpassen“, erklärt


Englische Adelsfamilie mit Großvater 1925 Studienautor Kevin Fraser.
92
Wissenschaft · Technik

NASA
Erker mit Aussicht In einer verglasten Kuppel der Inter- zieht ungefähr 400 Kilometer unter ihm vorbei. In der
nationalen Raumstation ISS bieten sich dem Nasa-Astro- Schwerelosigkeit lassen sich auch mit dem 400-Millimeter-
nauten Chris Cassidy Motive, die Fotografen auf der Erde nur Teleobjektiv verwacklungsfreie Aufnahmen aus der Hand
im Traum mal erblicken. Die Oberfläche des Heimatplaneten machen. Kamera und Optik sind an Bord leicht wie eine Feder.

MEDIZIN
impfstoff, den es schon lange nicht
mehr gibt. Heute genügen zwei Imp-
fungen und eine Auffrischung. In
„Vielen geht es danach schlecht“ Skandinavien und in Österreich wird
das längst so praktiziert. In Deutsch-
Der Marburger Kinder- sind, die nicht geimpft werden können, land hat niemand ein Interesse daran,
arzt Stephan Heinrich etwa weil sie einen Immundefekt ha- das Schema zu ändern, weil Impfun-
Nolte, 57, über eine ben. Wir sollten aber auf Aufklärung gen extra vergütet werden. Die rund
verpflichtende Masern- und Information setzen. Eine Gesund- 600 000 überflüssigen Impfungen kos-
impfung und das ver- heitsdiktatur würde zu Protesten und ten die Kassen etwa hundert Millionen
altete Impfschema für Verweigerung führen. In Deutschland Euro pro Jahr.
Säuglinge werden Babys ohnehin zu häufig ge- SPIEGEL: Ist einmal zu viel impfen nicht
impft, was nicht zur Akzeptanz sol- besser als einmal zu wenig?
SPIEGEL: Bundesgesundheitsminister cher Maßnahmen beiträgt. Nolte: Impfungen sind ein großer Se-
Daniel Bahr erwägt eine Pflicht zur SPIEGEL: Es wird zu oft geimpft? gen. Wenn wir aber öfter impfen als
Impfung gegen Masern, weil immer Nolte: Ja, weil das derzeitige Impfsche- nötig, öffnen wir den Gegnern Tür
mehr Erwachsene erkranken. Greifen ma veraltet ist. Die Grundimmunisie- und Tor. Wir Ärzte sind verpflichtet,
Deutschlands Kinderärzte zu selten rung gegen Polio, Diphtherie, Tetanus, den Patienten nicht zu schaden. Es
zur Spritze? Keuchhusten, Haemophilus influenzae macht keinen Spaß, ein Baby zu imp-
Nolte: Aus epidemiologischer Sicht ist und Hepatitis B schreibt drei Impfun- fen. Eine intramuskuläre Injektion ist
eine möglichst flächendeckende gen im Abstand von vier bis acht schmerzhaft, vielen Kindern geht es
Masernimpfung sehr sinnvoll, weil bei Wochen sowie eine Auffrischung im danach schlecht. Sie kriegen Fieber,
einer hohen Immunität der Gesamt- Alter von etwa einem Jahr vor. Das schreien schrill oder sind apathisch.
bevölkerung auch diejenigen geschützt beruht aber auf einem Keuchhusten- Das macht den Eltern Angst.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 93
Nomura-Riesenquallen
und Taucher vor
der japanischen Küste

ÖKOLOGI E

Triumph der Glibbermonster


Quallenplagen an Stränden weltweit alarmieren nicht nur Touristen, sondern auch For-
scher: Verdrängt das Gallertgetier andere Meeresbewohner? Wie gefährlich ist
es fürs Ökosystem? Fest steht: Quallen profitieren von Überfischung und Klimawandel.
KYODO NEWS / ACTION PRESS

94 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Wissenschaft

W
enn der Meeresforscher Josep luca, die in den Wassern vor Barcelona dann einsammeln will, um sie im Labor
Maria Gili von seinem Büro auf lauert. Bis zu 400 Badende pro Tag muss- zu untersuchen, gehen sie leicht kaputt.
die Terrasse tritt, sieht er zu sei- ten Sanitäter des Roten Kreuzes in den Quallen im Aquarium zu züchten ist
nen Füßen das Menschengetümmel am vergangenen Tagen wegen Quallenverlet- ebenfalls ein kompliziertes Unterfangen.
Strand von Barcelona. Links schließt sich zungen verarzten. Unten, am Strand, So gibt es weltweit nur eine kleine Ge-
der Port Olímpic an, mit der Skulptur, die weht eine gelbe Warnflagge. Eine schep- meinde von Quallenkundigen.
Frank Gehry hier für die Olympischen Spie- pernde Lautsprecherstimme mahnt auf Gili kann nicht mehr genau sagen, war-
le von 1992 errichten ließ: ein gigantischer Spanisch, Französisch und Englisch, man um er sich damals entschied, ausgerech-
Fisch aus Stahl, der, im Sonnenlicht fun- möge sich vor den Quallen hüten. net Quallen zu erforschen. Vielleicht in-
kelnd, majestätisch aufs Mittelmeer blickt. „Am Mittelmeer sind wir an Quallen teressierten sie ihn, weil er mit ihnen
Aus heutiger Sicht muss man leider gewöhnt“, sagt Gili, 60, ein kleiner grau- aufgewachsen war, auf Mallorca. „Als ich
sagen: Der Stararchitekt hat aufs falsche haariger Mann. „Aber was wir seit eini- klein war, rieb mein Vater mich vor dem
Tier gesetzt. Der Fisch taugt nicht länger gen Jahren hier beobachten, ist nicht Baden immer mit Olivenöl ein, um mich
als ein Wahrzeichen Barcelonas. Denn mehr normal.“ Pelagia noctiluca beispiels- vor Quallenverletzungen zu schützen“,
was hier unter der glitzernd blauen Ober- weise schwimmt nicht selbständig aus erinnert er sich und lächelt. „Olivenöl ist
fläche vor der Küste treibt, sind immer dem offenen Meer an die Küste – sie wird der beste Schutz. Viel Sonnencreme hilft
weniger Fische, stattdessen, in riesigen von Wellen und Strömung angetrieben auch.“
Mengen: Quallen. und stirbt, wenn sie strandet. Dieses Un- Er und seine Kollegin Verónica Fuentes,
Blind, herz- und hirnlos wabern sie, glück widerfährt Leuchtquallen im Mit- 35, sind für die Durchführung des EU-
von Wellen und Strömungen gelenkt, auf telmeer etwa alle 10 bis 15 Jahre, so war Projekts in Spanien zuständig. Wichtig
die Küste zu, viele mit giftigen Tentakeln es jedenfalls früher. Nun aber: 2005, 2006, sei vor allem, die Menschen aufzuklären,
im Schlepp – nicht nur hier in Katalonien, 2007, 2011, 2012, 2013 – lauter Quallen- so Gili: „Wir sagen den Touristen, dass
sondern nahezu überall auf der Welt. Wer jahre. sie zu uns kommen sollen, weil das Mit-
das Pech hat, einer nesselnden Qualle in
die Quere zu kommen, dem macht sie
schmerzhaft klar, wer die neue Königin
der Meere ist. Gelegentlich enden solche
Begegnungen tödlich. Für den Menschen,
versteht sich.
Etwa zu jener Zeit, als Gehry seinen
Riesenfisch erschuf, begann Meeresfor-
scher Gili, sich für Quallen zu interessie-
ren. Ein exotisches Forschungsgebiet war
das damals, selbst für einen Biologen vom
Institut de Ciències del Mar. Heute, mehr Anstieg
als 20 Jahre später – das war damals nicht gesichert
zu ahnen –, beschäftigt das Glibbertier vermutet
internationale Konferenzen; es werden keine Veränderung
ganze Bücher über die mutmaßliche „Gal-
Rückgang
lertisierung der Meere“ geschrieben, und
Wissenschaftler streiten sich darüber, ob keine Daten
Quallen Fische und andere Meereslebe- Weiche Welle
Erhebung aufgrund der Analyse
wesen verdrängen, ob sie die Herrschaft von Datenreihen, Medienberichten Veränderung der Quallenbestände, seit 1950 Quelle:
L. Brotz et al.
über ganze Ökosysteme übernehmen und und Auskünften von Wissenschaftlern, 2012
Fischern u. a.
ob wir sie künftig essen müssen, um sie
in Schach zu halten, wie es die Chinesen
seit Jahrhunderten tun.
Dass Menschen und Quallen heute häu- Auch die Europäische Union zeigt sich telmeer phantastisch ist“, sagt er, „aber
figer aneinandergeraten als früher, ist für neuerdings besorgt über die häufigen wir müssen ihnen auch mitteilen, dass
beide Seiten unerfreulich – und kostet Qualleninvasionen, die die Wirtschaft oh- das Meer kein Schwimmbad ist. Man
jedes Jahr viele Millionen Euro, wobei nehin gebeutelter südlicher Mitgliedstaa- kann hier die Sonne und das warme Was-
die genauen Kosten schwer zu beziffern ten zusätzlich belasten. Deshalb finan- ser genießen, und manchmal gibt es eben
sind: So verursachen Quallen wiederholt ziert die EU nun ein internationales For- Quallen im Wasser. Damit muss man
Stromausfälle und Schäden, weil sie in schungsprojekt, das erstmals systematisch rechnen.“
die Kühlwassersysteme von Kraftwerken Daten über die Quallenverbreitung im Am Mittelmeer und weltweit: In Nord-
und Meerwasserentsalzungsanlagen ge- Mittelmeerraum erfassen und eine Stra- und Ostsee treffen Badende vor allem im
raten. tegie für das Küstenmanagement ent- Spätsommer öfter auf Gelbe Haarquallen,
Zugleich schaden Quallen der Fischerei: wickeln soll. Testen wollen die beteiligten aus gutem Grund auch „Feuerquallen“
Sie ruinieren Fangnetze und verätzen Fi- Wissenschaftler unter anderem Schutz- genannt. Noch viel häufiger sichten sie
schern die Hände. Prallt ein Quallenhau- netze an Stränden und eine Smartphone- dort Massen milchig-bläulicher Ohren-
fen gegen die Netze, die Fischfarmen vom App, mit der Strandbesucher melden sol- quallen – die aber wenigstens, wie übri-
offenen Meer trennen, kommt es vor, len, wenn sie irgendwo ein Glibbertier gens die Mehrzahl der Arten, dem Men-
dass sämtliche Tiere in den Aquakulturen erspähen. schen keinen Schmerz zufügen.
am Nesselgift sterben. Der Anschubser aus Brüssel war über- In den Küstengewässern Namibias,
Und dann ist da das Problem vor Josep fällig: Die Wissenschaft weiß bis heute einst reich an Sardinen, dominieren mitt-
Maria Gilis Terrasse: Quallen am Strand, wenig über Quallen, weil die Tiere lerweile Kompass- und Kristallqualle.
ausgerechnet zur Badesaison, ein Debakel schwierig zu studieren sind. Scheinbar Fischer im Ostchinesischen und im Gel-
für den Tourismus. In diesem Sommer ist aus dem Nichts tauchen sie auf, zahlreich, ben Meer klagen schon seit Mitte der
es die rötliche Leuchtqualle Pelagia nocti- aber unvorhersehbar – und wenn man sie neunziger Jahre darüber, dass ihnen im-
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 95
BJOERN GOETTLICHER / VISUM / DER SPIEGEL
FRANCO BANFI / SEATOPS / OKAPIA
Leuchtquallen, Meeresforscher Gili in Barcelona: „Olivenöl ist der beste Schutz“

mer weniger Fische und immer mehr Wenn die Meere jedoch, wie mittlerwei- perioden, Eiszeiten, das Werden und
Quallen in die Netze gehen. le fast überall auf der Welt, überfischt wer- Vergehen von Weltmeeren, Meteoriten-
Stoff für einen Horrorfilm böte die Si- den, kann es zu einem sich selbst verstär- einschläge –, ohne sich groß zu ver-
tuation in Japan, wo die Monsterqualle kenden, fatalen Mechanismus kommen: ändern.
Nemopilema nomurai durch die Wellen Quallen konkurrieren mit weniger Fischen So trotzen sie auch der Umweltzerstö-
schwappt – ihr Schirm kann einen Durch- um Zooplankton, sie fressen also mehr rung durch den Menschen wie kaum ein
messer von zwei Metern erreichen. Im und vermehren sich, und zugleich fressen anderes Meereslebewesen. Mit Dreck, Al-
vergangenen Jahrhundert fiel sie genau sie den Fischen den Nachwuchs weg und genblüten, trübem Wasser und Sauerstoff-
dreimal durch erhöhte Präsenz auf, 1920, bringen so deren Populationen weiter un- mangel kommen sie besser zurecht als
1958 und 1995. Seit 2002 aber, so berich- ter Druck. Die Folge: Fischbestände kolla- Fische. Verbaute Ufer und Anlagen auf
ten japanische Forscher, überfällt Nomura bieren, Quallen triumphieren. hoher See dienen ihnen gar als Kinderstu-
asiatische Gewässer alljährlich und bringt Dabei sind die Glibberer an Schlicht- be: Die Flächen bieten den Jungtieren, die
mit ihrem Gewicht ganze Fischkutter zum heit eigentlich kaum zu überbieten: Sie sich als Polypen an feste Strukturen heften,
Kentern. Nur 2004 und 2010 verhielt sich mehr Lebensraum. Studien haben gezeigt,
das Schwabbelmonster unauffällig. dass Quallenplagen gehäuft an Orten auf-
Was hat das alles zu bedeuten? Warum Quallen, so fragil das treten, wo Menschen das Meer besonders
verglibbern die Meere? Einzeltier erscheinen mag, intensiv nutzen und verschmutzen.
Josep Maria Gili zieht die Stirn in Fal- Auch der Schiffsverkehr begünstigt den
ten. „Die Quallen sind eine Flaschenpost, sind äußerst zäh, Meister- Siegeszug der Quallen. Werden sie im
die uns das Meer an den Strand schickt“, Ballastwasser in fremde Gewässer trans-
sagt er. Die Botschaft des Meeres an die werke der Evolution. portiert, siedeln sie sich dort häufig er-
Menschen laute: „Ihr zerstört mich.“ folgreich an und verdrängen einheimische
Der Wissenschaftler lässt die Worte bestehen zu rund 98 Prozent aus Wasser. Arten. Sie sind nicht wählerisch, sondern
kurz wirken, dann wird er wieder sach- Der Rest setzt sich zusammen aus galler- fressen, was ihnen so vor die Mundöff-
lich. Das größte Problem, erklärt er, sei tigem Gewebe, Geschlechtsorganen, dem nung kommt – und wenn sie einmal zu
die Überfischung der Meere. Simple Ma- Magenraum, einem primitiven Nerven- wenig Nahrung bekommen, schrumpfen
thematik: „Wenn man die Zahl der Fische system und Nesselkapseln, die, wenn sie sie einfach vorübergehend zusammen.
vermindert, die Quallen fressen“, sagt er, gereizt werden, Giftprojektile mit der Nicht zuletzt profitieren Quallen offen-
„und zugleich auch die Zahl jener Fische, Wucht von Gewehrkugeln abschießen bar vom Klimawandel. Bei höheren Tem-
die mit Quallen um Nahrung konkurrie- können. Es gibt rund 1500 bekannte peraturen wachsen viele Arten schneller.
ren, nun – damit erhöht man natürlich Arten von Quallen, manche sind winzig Und tropische Quallen wie die Seewespe,
die Zahl der Quallen.“ wie ein Sandkorn, andere schwer wie deren Gift einen Menschen innerhalb von
Normalerweise sind die Medusen ein ein Gnu. zwei Minuten töten kann, breiten sich in
wichtiger Bestandteil mariner Ökosyste- Quallen, so fragil das Einzeltier erschei- subtropischen Gewässern aus.
me: Von 124 Fisch- und 34 anderen Tier- nen mag, sind unglaublich zäh, Meister- Sind Quallen also die Nutznießer des
arten, beispielsweise Schildkröten, ist be- werke der Evolution. Seit rund 600 Mil- Raubbaus, den der Mensch an der Natur
kannt, dass sie gern Quallen verspeisen. lionen Jahren überdauern sie dramatische betreibt? Eine giftige Erinnerung daran,
Quallen ihrerseits fressen vor allem Zoo- Veränderungen in den Ozeanen – die Ent- dass letztlich alles seinen Preis hat?
plankton, also kleineres Getier, sowie stehung der Fische, ihrer größten Fress- Um den Tourismus in seinem Land ma-
Fischeier, Fischlarven und kleinere Fische. feinde und Konkurrenten, massive Hitze- che er sich keine allzu großen Sorgen,
96 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Technik

sagt Quallenforscher Gili. Bislang gebe


es im Mittelmeer keine tödlichen Quallen
wie in Australien oder Asien. Beängsti- INTERNET
gend findet der Biologe jedoch, dass Qual-
len das ökologische Gleichgewicht ver-
ändern. Aber was kann man dagegen
tun? Die Überfischung der Ozeane stop-
pen? Die Umweltverschmutzung? Den
Spitze ohne Bespitzeln
Klimawandel? Eine niederländische Suchmaschine zeigt, wie Datenschutz
Gilis Mitarbeiterin Verónica Fuentes in Zeiten der Komplettüberwachung zu
beginnt damit, katalanische Fischer für
ihr Forschungsprojekt zu gewinnen. Kei- einem europäischen Exportschlager werden könnte.
ne triviale Aufgabe: Welcher Fischer will

N
hören, dass er weniger fischen soll, der ur selten verdankt ein Produkt er arbeitet an einem Buch zum Thema.
Umwelt zuliebe? seinen Erfolg ausgerechnet dem, Rein technisch funktionieren die ameri-
Fuentes hat den Anwalt der Fischer ans was es nicht kann. Bei Robert kanische und die niederländische Such-
Institut eingeladen, Mario Vizcarro, Se- Beens’ Angeboten ist das so. Seine maschine ähnlich, auch von der Reichwei-
kretär der „Federació Nacional Catalana beiden Suchportale, Ixquick und Start- te her liegen sie fast gleichauf.
de Confraríes de Pescadors“. Vizcarro page, versagen just in dem Fach, in dem „Aber wir unterliegen eben nicht der
vertritt die Interessen von 1200 Fischern Google spitze ist: im Bespitzeln der US-Rechtsprechung“, sagt Beens lapidar.
aus der Region. Nun sitzen sie sich in Nutzer. Er meint damit: DuckDuckGo könnte
einem abgedunkelten Konferenzraum Beens vertreibt ein besonders kost- ausgespäht werden. Aber ein solcher Zu-
gegenüber, die zierliche Wissenschaftlerin bares Gut: Anonymität. „Die diskreteste griff der Schlapphüte mit Billigung von
und der stiernackige Jurist. Fuentes be- Suchmaschine der Welt“, werben die bei-
ginnt diplomatisch: „Es gibt viele Gründe, den Portale, hinter denen jeweils die
warum sich die Quallen ausbreiten – die gleiche Technik steckt. Wer Anfragen ein-
Fischerei ist ein Grund, aber auch die gibt, wird eben nicht mit Cookies ver-
Wasserverschmutzung, die wärmere Tem- folgt, die Daten werden nicht gespeichert,
peratur.“ Vizcarro guckt zweifelnd. die Verbindung ist verschlüsselt, die Web-
Die Forscherin projiziert ein Foto auf inhalte können so umgeleitet werden,
eine Leinwand: eine Qualle, an deren dass die Nutzer für Werbekraken unsicht-
Tentakeln kleine silberne Fische hängen. bar bleiben.
Manche Quallen fräßen Fische, erklärt Wirtschaftlich erfolgreich sind die Por-
Fuentes, ihre Stimme klingt sanft. Viz- tale dennoch, der Montag voriger Woche
carro beugt sich vor und starrt auf das war der vielleicht beste Tag in Beens’
Bild. „So etwas gibt es bei uns?“, fragt er bisheriger Karriere. Die Anfragen an
angewidert. „Bei uns bislang nicht“, sagt seine Suchmaschinen knackten die Vier-
Fuentes, „aber in der Nordsee schon.“ Millionen-Marke. Diesen Triumph hat
Vizcarro fixiert das Foto. Seine Fischer er vor allem den Geheimdiensten der
hätten auch ein Problem, sagt er dann, USA und Großbritanniens zu verdan-
sie fingen fast keine Sardinen mehr. Ob ken. Seit den immer neuen Enthüllungen
die kleinen Sardinen wohl auch von Qual- der globalen Internetspitzelei explodiert
len weggefressen würden? Die Vorstel- die Nachfrage nach dezenten Suchma-
lung beunruhigt ihn. Er mustert Fuentes schinen.
mit neuerwachtem Interesse. Trotz der vielen Klicks – gemessen an
Sie zeigt jetzt einen kurzen Film aus der Big-Brother-Konkurrenz ist die Da-
Japan: massenhaft Monsterquallen in bers- tenschutz-Suchmaschine wenig bekannt.
tenden Fischernetzen. „Ah!“, ruft Vizcar- Was wohl auch an Robert Beens liegt. Er
ro, er wendet sich ab. Es ist der Moment, fühlt sich sichtlich unwohl, wenn er seine
auf den die Wissenschaftlerin hingearbei- Produkte Fremden erklären soll – Mar-
tet hat. „Wir brauchen eure Hilfe“, sagt keting-Preise wird er wohl nie gewinnen.
sie. „Wir überwachen die Küste, aber wir „Ich schätze meine Privatsphäre“, sagt
benötigen auch Informationen darüber, der Niederländer. „Deswegen mache ich
wie viele Quallen da draußen im Meer ja auch diese Suchmaschine.“
sind. Diese Informationen können uns nur Der stille Mann sitzt im opulent einge-
die Fischer geben.“ Ihre Idee: eine Smart- richteten Empfangszimmer einer wohl- Suchmaschinenbetreiber van Eesteren, Beens:
phone-App, speziell für Fischer. tätigen Immobilienstiftung in Den Haag.
Vizcarro nickt. „Das interessiert uns“, Hier hat Beens’ Firma ein Büro, zur Un- Gerichten wäre in den Niederlanden
sagt er. Seine Fischer berichteten eben- termiete. Der Chef selbst arbeitet meist kaum denkbar.
falls, dass sie mehr Quallen sähen als am Laptop von unterwegs. Hauptberuf- Standortfaktor Datenschutz: Plötzlich
früher – und wo viele Quallen seien, gebe lich ist er nämlich Pilot bei der Fluggesell- hat Europa wieder eine Chance, in der
es weniger Fische. Vizcarro richtet sich schaft KLM. Hightech-Branche zumindest ein klein
auf: „Auch wir wollen wissen, was da los Eher offensiv tritt dagegen seine Kon- wenig aufzuholen. In Zeiten von Big Data
ist.“ SAMIHA SHAFY kurrenz in den USA auf. Seit Wochen und Cloud-Computing könnte die Alte
trommelt die Suchmaschine DuckDuck- Welt digitale Reinheitsgebote in Wettbe-
Video: Go für sich. 2008 gründete Gabriel Wein- werbsvorteile ummünzen.
Die Quallen-Flut berg die Suchmaschine. Der Physiker ist Doch es fehlt an politischen Konzepten.
spiegel.de/app282013quallenplage Absolvent der Eliteuniversität MIT. Er Wer Angst habe, ausgespäht zu werden,
oder in App DER SPIEGEL weiß, wie man Aufmerksamkeit erzeugt, so Bundesinnenminister Hans-Peter Fried-
98 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
rich vorigen Mittwoch, solle eben keine Seit 2004 ist Ixquick nach eigener Aus-
Dienste nutzen, die über US-Server laufen. sage profitabel, mit heute nur noch drei Spurlose Suchen 4
Das lässt sich nur deuten als Kapitulation – Vollzeit-Mitarbeitern sowie Entwicklern Internetsuchanfragen,
immerhin ist der Minister an der Gestal- in Europa, den USA und Indien. Daten- in Mio. pro Tag Enthüllung zu
tung der europäischen Datenschutzreform schutz lohnt sich. Allerdings ist das bis- „Prism“
3
beteiligt. Jeder weiß: Ein Alltag ohne Goo- lang nicht allzu vielen Leuten aufgefallen:
gle, Apple, Microsoft und Amazon ist nur Vier Millionen Anfragen pro Tag – das und
für zwei Minderheiten attraktiv: Technik- ist weniger als ein Prozent von Google.
verweigerer und Computer-Nerds. DuckDuckGo sei hilfreich für sein Anlie- 2
Zwar fordern französische und deut- gen, so Beens: „Die größte Konkurrenz neue Nutzerdaten-
auswertung bei Google
sche Politiker seit vielen Jahren eine sind Trägheit und Unwissen der Nutzer.“
europäische Suchmaschine. Doch trotz Nun tüftelt sein Team an einem neuen
millionenschwerer Forschungsprogram- Coup: verschlüsselte E-Mails für Technik- 1
me sucht man bis heute vergebens nach muffel. Beens hat neun Monate Auszeit
einer echten Alternative zu Google. vom Pilotenjob genommen, um die Kryp-
Ixquick dagegen entstand durch Zufall to-Mail an den Start zu bringen.
und ohne Subventionen. Beens versuchte „Viele Nutzer wissen nicht, dass ihre 2011 2012 2013
zunächst, Elektrofahrräder zu verkaufen. E-Mails im Internet von beliebig vielen
Aber damit, das konnte er damals nicht Leuten gelesen und gespeichert werden Geheimnachricht entschlüsseln, indem
wissen, war er zehn Jahre zu früh dran. können, Postkarten sind im Vergleich er ein vorher vereinbartes Passwort ein-
Er studierte Jura, wurde schließlich Be- geradezu diskret“, sagt Alexander van tippt.
rufspilot und flog Jumbojets nach Hong- Eesteren, der technische Leiter von Start- Außerdem bietet Startmail gutüber-
kong, Kapstadt, New York. mail. legte Zusatzfunktionen: Wer sich bei
Die beiden demonstrie- Online-Diensten anmeldet, muss meist
ren erstmalig ihr neues E- eine E-Mail-Adresse angeben. Mit Start-
Mail-System. Es wirkt ein- mail kann man daher Wegwerfadressen
fach und elegant. Schritt generieren, die wahlweise ein paar Minu-
für Schritt werden die Nut- ten oder wenige Tage aktiv bleiben, bis
zer bei der Anmeldung sie erlöschen. So wird Spam reduziert.
durch die Installation ge- Natürlich wird Startmail nicht kosten-
führt. Sie müssen zunächst los sein: „Der Monatsbeitrag dürfte un-
einen öffentlichen und ei- gefähr so viel kosten wie eine Tasse Kaf-
nen privaten Schlüssel er- fee“, sagt Beens. Der Datenschutzpilot
zeugen. Alle E-Mails und spekuliert auf einen Mentalitätswandel,
Adressen werden auf dem ähnlich wie in den siebziger, achtziger
Server verschlüsselt, so Jahren, als die Verbraucher sich langsam
dass nicht einmal der Sys- von industrieller Billigware abzuwenden
tembetreuer sie ohne wei- begannen, hin zu teuren Ökoprodukten.
teres lesen kann. Wer sein Noch sitzen die Datenökos in kleinen
Passwort vergisst, verliert Nischen, ignoriert von Großkonzernen
alle E-Mails und Adressen. und Politik. Der Berliner E-Mail-Provider
Startmail ist nicht per- Posteo zum Beispiel, ein Unternehmen
fekt; am sichersten wäre es, mit vier Mitarbeitern, bietet von Kreuz-
wenn man auf dem eigenen berg aus nicht nur verschlüsselte E-Mails,
Rechner ein Verschlüsse- sondern auch Server, die mit Ökostrom
lungsprogramm wie „Pretty von Greenpeace betrieben werden.
Good Privacy“ installierte, „Prism hat ein Umdenken angestoßen“,
zu Deutsch: ziemlich gute sagt Beens. Ursprünglich hatten sich 5000
HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL

Privatsphäre. Doch derlei Tester für die Krypto-Mail angemeldet.


Software ist kompliziert Seit Prism, das Spähprogramm der USA,
und setzt voraus, dass alle entlarvt wurde, sind es zehnmal so viele.
Empfänger sie benutzen. Die Server stehen in einem Rechenzen-
Der Markt ist zersplittert, trum in Amsterdam, ausgelegt auf einen
Standards sind rar. De-Mail Ansturm von 100 000 Nutzern. Der Test-
zum Beispiel, die Krypto- betrieb läuft, im Herbst soll es losgehen.
Eine Menge Geld verbrannt Mail, die von der Bundes- Derzeit scheint es denkbar, dass das
regierung initiiert wurde, neue Datensparen bald auch von Groß-
Während der ersten Internetblase in- funktioniert nur, wenn Sender und Emp- konzernen entdeckt wird. Vielleicht wie-
vestierte Beens in die Suchmaschine. fänger Konten bei De-Mail haben. Außer- derholt sich mit der Krypto-E-Mail die
Ixquick verbrannte damals viel Geld dem stuft der Chaos Computer Club das Erfolgsgeschichte der Biomöhrchen, die
und sammelte jede Menge Verbindungs- System als unsicher ein. Aus all diesen einst aus den Reformhäusern heraus die
daten. Als 2001 der Crash kam, brachte Gründen verzichten derzeit fast alle Nut- großen Supermärkte eroberten.
der Niederländer die Firma auf Spar- zer auf Verschlüsselung. Das Postgeheim- Denkbar wäre sogar, dass irgendwann
kurs – sowohl finanziell als auch in nis ist damit faktisch ausgehebelt. die Politik reagiert und strengere Standards
Sachen Datensammelwut. „Es ist gar Startmail ist anders. Es erlaubt sogar vorschreibt. „Das wäre vielleicht schlecht
nicht so einfach, das automatische Spei- das Verschicken verschlüsselter Mails an für unsere Firma, aber gut für die Gesell-
chern von IP-Adressen herunterzufah- beliebige Adressen: Der Empfänger be- schaft“, sagt Robert Beens. Aber sollte
ren“, so Beens. Aber er fand: Weniger kommt dann einen Link, loggt sich auf Startmail abstürzen, kann er ja wieder als
ist mehr. dem Startmail-Server ein und kann die Pilot durchstarten. HILMAR SCHMUNDT

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 99
Wissenschaft

die Tocharer selbst nannten sich durchaus kann dieser Quellenschatz von Histori-
GESCHICHTE nicht so; ihren Zeitgenossen waren sie als kern gehoben werden“, sagt Malzahn. Ein
Arsi und Kucha bekannt – basierend auf hoffnungsfrohes Unterfangen, denn das

Rotbärte an der den Namen ihrer Machtzentren.


Doch die so imposante wie rätselhafte
Kultur verschwand samt ihrer Sprache im
größte Rätsel ist noch ungelöst: Wer ge-
nau waren die Tocharer, und was ver-
schlug sie aus Europa nach China?

Seidenstraße Nichts.
Wissenschaftler wissen heute von ihrer
Existenz, weil Archäologen in der Wüste
Gesichert ist, dass die Einwanderer in
Zentralasien für etliche Jahrhunderte ein
blühendes Handelszentrum etablierten –
Vor 1500 Jahren brachten Europäer Taklamakan im chinesischen Tarim- an der Seidenstraße sprach man Tocha-
den Buddhismus und eine Becken Tausende Papierfetzen fanden, risch. Die größte Kulturleistung der To-
blühende Handelskultur nach die auf eine reiche und hochgebildete Ge- charer bestand aber darin, auf dem Weg
sellschaft hindeuten. Vor gut hundert Jah- in die neue Heimat den Buddhismus von
China. Dann verlor sich ren gelang es den deutschen Indologen seinem Ursprungsland Indien nach China
plötzlich die Spur dieser Menschen. Emil Sieg und Wilhelm Siegling nach jah- importiert zu haben.
relanger Arbeit, die Schriftzeichen auf Den überwiegenden Teil der Schrift-

D
ie Fremden kamen von weit her, den Schnipseln als eigene Sprache zu zeugnisse fanden Archäologen in den
und sie rückten mit Streitwagen identifizieren. Verblüfft notierten die Ex- Überresten buddhistischer Klöster. Uralte
an. Doch das fahrende Volk kam perten, dass die in der chinesischen Pro- Wandmalereien geben Auskunft über die
in friedlicher Absicht. Die Migranten aus vinz Xinjiang geborgenen schriftlichen Bewohner. Zu sehen sind bärtige Gestal-
Europa brachten nicht Krieg, sondern Zeugnisse eindeutig auf den indogerma- ten mit blondem Haar, wie Experten sie
Schafe und Ziegen aus der alten Heimat nischen Sprachraum hinweisen. kaum in der asiatischen Steppe vermutet
mit – Nutztiere, die man in der Wüste Seitdem versuchen Forscher, Ordnung haben. „Die sehen aus wie Schotten“, be-
nicht kannte. Bedeutsamer als ihr Vieh ins Schnipselchaos zu bringen. Wenig hilf- richtet Malzahn.
erwies sich jedoch ihr Glaube: Sie ver- reich war, dass die papiernen Zeugnisse Nun rätseln die Forscher, ob die aus
breiteten eine Weltreligion in Asien. in Sammlungen auf diversen Kontinenten den Quellen bekannten Bewohner des to-
„Tocharer“ nennen die Geschichtskund- verteilt sind. Dass weltweit nur eine charischen Sprachraums mit jenen Mu-
ler jenes sagenhafte Volk, das sich nach Handvoll Wissenschaftler des Tochari- mien in Verbindung stehen, die ebenfalls
derzeitigem Kenntnisstand vor 1500 Jah- schen mächtig ist, erschwerte die Aufbe- in der Gegend geborgen wurden. Etwa
ren im Westen des heutigen China nie- reitung zusätzlich. der ausgezeichnet erhaltene Cherchen-
derließ und dort einen Aufstieg sonder- Eine der wenigen Kundigen auf diesem Mann – ein Riese von zwei Metern mit
gleichen erlebte. Schon diese Bezeich- Gebiet ist die Sprachforscherin Melanie rötlichem Haar, rotem Zottelbart, vollen
nung basiert allerdings auf einem Irrtum; Malzahn von der Universität Wien. Sie Lippen und einer langen Nase. Kurz: eher
gehört einem Team von Wissenschaftlern der europäische Typ.
an, die nun das Vermächtnis von Sieg und Es sei verlockend für die Wissenschaft-
Siegling angetreten haben. Die Gelehrten ler, räumt Malzahn ein, die europäisch an-
bauten eine Datenbank auf, in der ein mutenden Körper den Texten der Tocha-
Großteil der tocharischen Quellen erfasst rer zuzuordnen, nur: Die Mumien sind
und übersetzt ist; sie enträtselten die Syn- mindestens 2000, teils sogar 4000 Jahre
tax und Mehrfachbedeutungen unter- alt. Die frühesten Textfetzen lassen sich
schiedlicher Wörter. indes erst auf das 4. Jahrhundert datieren.
Der Datenfundus ist für jedermann im Die jüngsten Schriftstücke stammen aus
Internet einsehbar – kaum je ist eine un- dem 13. Jahrhundert, dann versiegt der
tergegangene Sprache für die Öffentlich- Quell der Informationen plötzlich.
keit so umfangreich aufbereitet worden Fiel die buddhistische Hochkultur der
(www.univie.ac.at/tocharian). „Erst jetzt Tocharer einer schleichenden Islamisie-
rung zum Opfer? Denkbar auch, dass
eine anhaltende Wirtschaftsflaute der
zeitweilig so begüterten Gesellschaft zu-
setzte. Darüber können womöglich
jene Wirtschaftsbilanzen Auskunft
geben, die sich neben den zumeist
liturgischen Texten aus den Klostern
erhalten haben.
X I N H UA / L A I F

Mumienfund aus der Wüste Taklamakan Tocharisches Manuskript Gesichert ist, dass auch weit profanere
etwa aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. Sorgen die tocharischen Muttersprachler
quälten: „Früher war mir kein Mensch
genanntes Wesen lieber als du“, textete
Provinz
Xinjiang etwa ein Liebeskranker in der einzig
CHINA RU SSL AND MONGOLEI erhaltenen Minne-Depesche auf To-
charisch. Der Verzweifelte schuf ein
Vermächtnis zeitloser Seelenpein: „Der
Gott der Taten allein kannte meine
Hochkultur Tarim- Gedanken; deshalb säte er Streit; er riss
becken mir das Herz heraus, das dir gehörte. Er
in der Wüste Wüste Taklamakan
führte dich fort, trennte mich von dir; er
Mumienfunde CH IN A ließ mich teilhaben an allen Leiden; er
Nachweise für die Verbreitung 500 km nahm mir die Freude an dir.“
der tocharischen Sprache Tibet FRANK THADEUSZ

100 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Wissenschaft

obwohl noch gar nicht bewiesen ist, dass


MEDIZIN sie den Menschen tatsächlich hilft.
Karl Hilgers, 50, Facharzt für Innere

Vergebens Medizin und Nephrologie am Univer-


sitätsklinikum Erlangen, sagt: „Die Me-
thode ist interessant. Aber wir haben die

verbrutzelt Langzeiteffekte noch viel zu wenig er-


forscht.“ Sein Kollege Johannes Mann, 63,
vom Städtischen Klinikum München-
Ein Eingriff an den Nierennerven Schwabing urteilt: „Es ist völlig ungeklärt,
gilt als neues Wundermittel gegen ob die Methode für Patienten in puncto
Bluthochdruck. Dabei ist Herzinfarkt, Schlaganfall oder Herzschwä-
che einen klinischen Nutzen bringt.“
nicht bewiesen, dass die Methode Die Einführung des neuen Verfahrens
den Patienten wirklich nutzt. stützte sich auf eine Studie mit nur 100
Patienten. Die Untersuchung ergab zwar

D
as Erhitzen soll Wunder wirken. eine Senkung des Blutdrucks, jedoch hat
Der Arzt schiebt einen biegsamen sie methodische Schwächen und wurde
Katheter durch einen kleinen Ein- von der Herstellerfirma des Katheters fi-
stich in der Leiste bis in die Nierenarte- nanziert. Diese hieß Ardian und wurde
rien und tritt auf ein Pedal. An der Spitze inzwischen von der Firma Medtronic
des Katheters fließt Strom. Es wird warm übernommen. Felix Mahfoud, der ehrgei-
– und schon sind die Nervenfasern rund zige Befürworter der Methode, hat da-
um die Nierenarterien verödet. nach für Medtronic gegen Honorar Vor-
Die renale Denervation, so der Fach- träge gehalten. Die Höhe dieser Einkünf-
begriff für die neue Methode, findet zu- te, sagt er, dürfe er aus Vertragsgründen
nehmend Anhänger unter den Ärzten an nicht verraten.
deutschen Krankenhäusern. In weniger
als einer Stunde soll die Methode im Pa-
tienten wirksam ein Übel bekämpfen, das
Nerven unter Strom
die Gesundheit von Millionen Bundesbür- Die renale Denervation gegen Bluthochdruck
gern bedroht: den krankhaft
erhöhten Blutdruck, der zu
Herzinfarkt und Schlagan-
fall führen kann.
Das Veröden dämpft das
Stressnervensystem (Sym-
pathikus), der Blutdruck
soll dadurch sinken. „Für
Patienten, die nicht auf Me-
dikamente ansprechen, ist
das eine super Sache“, sagt
der Kardiologe Felix Mah-
foud vom Universitätskli-
nikum des Saarlandes in
Homburg.
Mit seinen Kollegen hat
Mahfoud, 33, die Metho-
de in Europa als Erster er-
probt und mit ihr inzwi-
Nerven-
schen 600 Patienten be- geflecht
handelt – damit sind die
Homburger führend in
der Welt. Aber andere
holen schnell auf. In-
zwischen werden je-
des Jahr Nierenner-
venfasergeflechte Tau- Eine Elektrode an
sender Patienten in der Katheterspitze
Deutschland verbrut- sendet lokal begrenzt
zelt. Nach Schätzun- Strom aus: Das Nerven-
gen von AOK und Bar- geflecht rings um die
mer GEK hat sich die Zahl der Eingriffe Ein Katheter wird Arterie wird dadurch
innerhalb eines Jahres verdoppelt. Jedes über einen Einstich verödet.
Mal kostet das rund 4500 Euro. in der Leiste ein- Auf diese Weise wird
Doch nicht alle Ärzte teilen die Be- geführt und entlang das Stressnervensystem
geisterung. Sie sehen die renale Dener- der Bauchschlagader (Sympathikus) herunter-
vation als Lehrstück dafür, wie eine me- in die Nierenarterien geregelt. Dadurch soll
dizinische Methode die Kliniken erobert, vorgeschoben. der Blutdruck sinken.
102 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Auf einem Kongress in Mailand setzte
es vergangenen Monat noch mehr Kritik.
Die Wirkung der renalen Denervation sei
nicht sonderlich groß und beruhe vermut-
lich teilweise auf einem Placeboeffekt,
verkündete der Arzt Alexandre Persu
von der Université Catholique de Lou-
vain in Brüssel.
Mit Kollegen aus europäischen Zentren
hat Persu eine eigene, unabhängige Aus-
wertung durchgeführt: Demnach sank der
Blutdruck bei ambulanter 24-Stunden-
Messung nur bei einem Drittel der Patien-
ten. Auch änderte der Eingriff nichts
daran, dass die Menschen weiterhin Me-
dikamente gegen Bluthochdruck nehmen
mussten.
Tierversuche lassen daran zweifeln,
dass das Veröden der Nerven die Niere
überhaupt beruhigen kann. Als Forscher
Nieren von Ratten mit Bluthochdruck auf
normale Artgenossen verpflanzten, ent-
wickelten die Empfänger ihrerseits hohen
Blutdruck – und das, obwohl Spendernie-
ren an sich nicht mit dem Stressnerven-
system verbunden sind.
Da verwundert es nicht, dass die staat-
liche Gesundheitsbehörde FDA in den
USA das Verfahren bis auf weiteres als
experimentell einstuft und nicht zulässt.
Eine deutsche Sonderregelung dagegen
erlaubt seinen routinemäßigen Einsatz in
hiesigen Kliniken. Wie generell alle Me-
dizinprodukte musste der Nierennerven-
katheter keine Studien durchlaufen, son-
dern nur ein sogenanntes CE-Zeichen
erlangen. Das sagt nichts über die Wirk-
samkeit aus, es bescheinigt bloß die Ver-
kehrsfähigkeit eines Produkts und gilt
auch für Lockenwickler.
Es ist dieses deutsche Laisser-faire, das
Kritiker wie den Münchner Johannes
Mann am meisten aufregt: „Es kann doch
nicht sein, dass die Krankenkassen die
Methode jetzt schon erstatten müssen –
und auf diese Weise die Entwicklungskos-
ten der Herstellerfirmen bezahlen.“
Felix Mahfoud dagegen findet es gut,
dass die von ihm vorangebrachte Ner-
venverödung in Deutschland so schnell
den Weg in die Praxis gefunden hat. „Es
wäre unethisch, die renale Denervation
ausgesuchten Patienten vorzuenthalten“,
sagt der Kardiologe. Jedoch sollte das
noch junge Verfahren lieber nur in Zen-
tren durchgeführt werden, in denen die
Ärzte systematisch erfassen, wie es den
Patienten nach dem Eingriff geht – so
wie in Homburg.
Allerdings dürfte sich der unkontrol-
lierte Einsatz der Methode kaum mehr
stoppen lassen. Die Industrie drückt den
Nierennervenkatheter (Stückpreis etwa
4000 Euro) gerade mit Macht in den
Markt. Neben dem Branchenprimus
Medtronic haben inzwischen fünf weitere
Firmen Systeme zur Nierennervenver-
ödung entwickelt. Das CE-Zeichen haben
sie schon. JÖRG BLECH

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 103
FRANKFURTER FLUGHAFEN

Ton, Ziegel,
Scherben
Landende Jets erzeugen
Luftwirbel, die schon
mal Hausdächer abdecken.
Das hessische Flörsheim
geht nun gerichtlich dagegen vor.

GUIDO SCHLÜTER
Beschädigtes Dach in Flörsheim: Wie bei einem Sturm in die Luft geschleudert

K
arlheinz Dörrhöfer saß mit Ehe- Aber ausgerechnet in Flörsheim, wo Fraport hält das eigene Gutachten für
frau und Tochter beim gemütli- die Maschinen seit Eröffnung der neuen korrekt. In München sei das maximal
chen Freitagnachmittagskaffee, als Landebahn bei Frankfurt oft im Minuten- mögliche Landegewicht angesetzt wor-
er plötzlich laute, ungewohnte Geräusche takt und manchmal in nur 270 Meter den, das in der Praxis jedoch kaum vor-
hörte. „Erst war es ein Rauschen“, erzählt Höhe über die Dächer brausen, sollten komme. Die Werte im Frankfurter Gut-
der 78-Jährige, „und dann hat es überall diese Schäden angeblich so gut wie aus- achten seien „in der Realität üblich“.
gerappelt und gerumst.“ geschlossen sein. Das steht zumindest in Für den Flörsheimer Bürgermeister
Was da rappelte und rumste, konnten dem Gutachten von Ende 2006, mit dem steht dagegen fest, dass die Genehmigung
die Dörrhöfers schon beim Blick aus dem der Flughafenbetreiber Fraport die Ge- der neuen Bahn durch falsche Prognosen
Fenster erkennen. Die Straße vor ihrem nehmigung der neuen Bahn beantragte. erschlichen worden ist. Mit einem Eil-
Häuschen in der Innenstadt von Flörs- Allenfalls „geringe Gefährdungspotentia- antrag beim Hessischen Verwaltungsge-
heim am Main war übersät von roten und le“ seien durch diese Bahn zu erwarten, richtshof in Kassel wollen die Flörsheimer
blauen Brocken aus Ton. Etwa 80 massive versicherten die Fraport-Gutachter, „we- erreichen, dass die Bahn bis auf weiteres
Ziegel waren aus dem Dach ihres Hauses niger als ein Schaden durch Wirbelschlep- zumindest für schwere Flugzeugtypen
herausgebrochen und wie bei einem pen in tausend Jahren“. wie den A340 gesperrt wird.
Sturm in die Luft geschleudert worden. Dass diese Prognose geschönt gewesen Der hessische Verkehrsminister Florian
Mindestens ein Dachziegel hatte das sei, hätte der Genehmigungsbehörde, Rentsch will davon nichts wissen. Die Ge-
Vordach über der Haustür durchschlagen, dem hessischen Verkehrsministerium, fahr durch herabstürzende Ziegelsteine
die anderen knallten auf den Bürgersteig, von Anfang an auffallen müssen, meint will der FDP-Mann mit technischen Maß-
die Fahrbahn und in den Hof des Nach- Bürgermeister Antenbrink. Schließlich nahmen bekämpfen. Schon seit Mai kön-
barhauses. „Kurz vorher sind da noch habe die Nachbargemeinde Raunheim, nen Eigentümer der Häuser in der Ein-
Leute langgelaufen, und Kinder haben die in der Einflugschneise zweier älterer flugschneise verlangen, dass ihre Dächer
auf der Straße gespielt“, sagt Dörrhöfer, Landebahnen des Flughafens liegt, mehr- auf Kosten der Fraport durch spezielle
„es ist ein Riesenglück, dass denen nichts fach über Gebäudeschäden durch Wirbel- Ziegel-Klammern gesichert werden.
passiert ist.“ schleppen geklagt – obwohl die Flug- Den Flörsheimern reicht das nicht. Die
Doch solche Vorfälle häuften sich in zeuge über Raunheim mit mehr Höhen- lärmgeplagten Einwohner hoffen auf einen
Flörsheim: Seit im Herbst 2011 wenige Ki- abstand donnern als über Flörsheim. Teilsieg gegen den Betrieb der Landebahn.
lometer von der Stadt entfernt eine neue Die Fraport-Gutachter hatten das Risi- Sie argumentieren, dass die Verklamme-
Landebahn am Frankfurter Flughafen er- ko von Wirbelschleppen unter anderem rung nicht verpflichtend sei und nicht
öffnet wurde, sind schon 20-mal bei ruhi- aufgrund des Gewichts der landenden alle Dächer gesichert würden. Außerdem
ger Wetterlage Tonziegel oder Beton- Flugzeuge berechnet – und dabei mögli- könnten die Wirbelschleppen, wie bereits
Dachsteine von Flörsheimer Dächern ge- cherweise zu niedrige Werte angesetzt. mehrfach geschehen, vom Seitenwind um
hoben worden, so die aktuelle Statistik Der größte Flugzeugtyp, der auf der mehrere hundert Meter versetzt werden
des Bürgermeisters Michael Antenbrink. neuen Bahn landen darf, ist der Airbus und dort die Dächer abdecken.
Die Ursache des Ziegelschlags waren A340-600. Im Gutachten wird für diesen Im Fall der Dörrhöfers hat die Fraport
offensichtlich sogenannte Wirbelschlep- Typ, eines der längsten Flugzeuge der den Schaden vom April zwar anstandslos
pen – Luftverwirbelungen, die von Jets Welt, ein „Landegewicht“ von rund 173 reparieren lassen, sagt Karlheinz Dörr-
im Landeanflug ausgelöst werden und Tonnen angenommen. Ein vergleichbares höfer. Aber die Angst sei nicht weg: Gut
sich dann Richtung Boden senken. Dass Wirbelschleppen-Gutachten für den Flug- zwei Monate nach dem Vorfall rappelte
diese künstlichen Stürme mitunter noch hafen München, das 2007 vom Deutschen und rumste es wieder auf der Straße –
Minuten nach dem Überflug Schäden an Zentrum für Luft- und Raumfahrt erstellt diesmal waren die Ziegel bei einem Nach-
Häusern anrichten, weiß man von vielen worden war, rechnete für denselben Flug- barn heruntergeflogen, nur drei Häuser
großen Verkehrsflughäfen in Stadtnähe, zeugtyp allerdings mit 254 Tonnen – also von den Dörrhöfers entfernt.
etwa London-Heathrow. mit einem Drittel mehr Masse. MATTHIAS BARTSCH

104 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Wissenschaft

Taskforce gebildet. Die Forscher fangen Die Gifte töten Käfer und Heuschre-
TIERE Jungtiere mit Fallen, um nach Krankheits- cken. Diese tierische Nahrung aber brau-
erregern zu suchen. Pathologen sezieren chen die Küken in ihren ersten Lebens-

Kalte Küken geschossene Tiere und entnehmen Leber, tagen, um zu überleben. Erst danach er-
Herz und Nieren. weitern sie ihren Speiseplan und fressen
In einer Probe wurde bereits das Gum- auch vegetarische Kost.
Ein mysteriöses Fasanensterben boro-Virus entdeckt. Die Mikrobe trat Oder hat der „Prädatorendruck“ zuge-
stellt Tiermediziner vor Rätsel. erstmals 1957 im US-Staat Delaware auf nommen, wie einige Fachleute glauben?
Verenden die Vögel an Keimen, die und löste ein Massensterben auf einer Fuchs, Habicht und Marderhund erbeu-
Geflügelfarm aus. ten gern erwachsene Fasane. Krähen ma-
aus Hühnerfarmen stammen? Petrak hält es für möglich, dass sich chen sich gierig über deren Gelege her.
der verseuchte Wildvogel über Kompost Um die reale Gefahrenlage zu ermitteln,

A
ls der griechische Mythenheld Ja- ansteckte: „Manche Düngemittel werden werden in den Landkreisen Osnabrück
son mit seinem Schiff, der „Argo“, aus Pferdemist und Hühnerkot gemixt, und Emsland nun Nester mit Kameras
Richtung Schwarzes Meer segelte, europaweit herumgekarrt und auf die überwacht.
um das berühmte Goldene Vlies und die Äcker gestreut“, erklärt der Biologe. Doch es gibt offenbar ein weiteres Pro-
Königstochter Medea zu stehlen, brachte Auch die zunehmende Zahl an Biogas- blem, das dem gefiederten Asiaten das
er noch eine weitere – gefiederte – Kost- anlagen macht ihm Sorgen. Manche Fer- Leben schwermacht: der Anbau von Ener-
barkeit aus der Fremde mit. Antike menter werden zum Teil mit Gammel- giepflanzen. Die Äcker in Deutschland
Schriften berichten, dass der Abenteurer gemüse oder verdorbenem Fleisch aus verwandeln sich zunehmend in Mais-
im Lande Kolchis (heute: Georgien) meh- Supermärkten bestückt. Petrak: „Am steppen. Oben wachsen fette Kolben, am
rere Fasane einfing und nach Hause mit- Ende kommen die Gärreste als Keim- Boden gedeiht kaum ein Kraut. In dieser
nahm. schleuder auf die Felder.“ unwirtlichen Stängelwelt ist bereits die
Ursprünglich nur in Asien beheimatet, Die Idee vom Seuchenkreislauf ist al- Wachtel dezimiert worden. Rebhuhn und
gedieh der bunte Hühnervogel auch in lerdings nur ein Verdacht. Die Tierärztin Feldlerche stehen sogar auf der Roten
Europa bestens. Aristoteles lobte seine Friederike Gethöffer tippt auf ein „multi- Liste.
Reinlichkeit, weil er sich mit Sandbaden faktorielles Geschehen“: „Auch Insekti- Womöglich spielt die Intensivlandwirt-
gegen Läuse wehrt. Roms Oberschicht zide könnten die Ursache für das seltsame schaft ebenfalls dem Fasan übel mit. Fest
schätzte sein leckeres Fleisch. Verschwinden des Fasans sein.“ steht: Im Jahr 2007 lief das Flächenstill-
Über die Königshöfe der Merowinger legungsprogramm der EU aus, woraufhin
geriet der Flatterer schließlich in den Nor- Fasanenreviere viele Bauern wieder ihre Brachen be-
den, wo man ihn in Zuchtgehegen hielt. ackerten. Unmittelbar danach begann die
Erlegte Tiere auf 100 Hektar Jagdfläche pro Jahr
Im 18. und 19. Jahrhundert vermehrten Tragödie jenes Wildhuhns, das mit Futter-
Durchschnitt 2000/01 bis 2007/08
sich ausgewilderte Tiere sprunghaft in lockrufen (gaugau), Meldetönen (toketok)
freier Natur. unter 1 über 2,5 bis 5 über 10 bis 15 und Kampflauten (trrr-trrr-trrr) im Ge-
Nun jedoch sieht es düster aus. Der 1 bis 2,5 über 5 bis 10 über 15 büsch lärmt.
Flieger aus Fernost (Gewicht: bis 1,6 Kilo- Auch für die Zukunft sieht es übel aus.
gramm), der im Frühjahr rund zehn Eier Wenn es im Mai und Juni, zur Zeit der
ausbrütet, ist in seinen Hochburgen (siehe Aufzucht, viel gewittert und regnet,
Karte) immer seltener anzutreffen. Der saugt sich der Flaum der Küken mit
Leiter der Bonner Forschungsstelle für Wasser voll. Die Folge: Unterkühlung.
Jagdkunde und Wildschadenverhütung, Dieser Frühling war feucht wie
Michael Petrak, beklagt einen „drasti- selten. Tausende Piepmätze könn-
schen Rückgang“ der Bestände. Niedersachsen ten verendet sein.
Im Tiefland, wo der Vogel lichte MATTHIAS SCHULZ
Wälder, Auen und Felder bewohnt,
sind die Zahlen erschreckend ge-
schrumpft. In Niedersachsen wur-

I M AG O/ B L I C KW I N K E L
den vor fünf Jahren noch 150 000
Fasane erlegt. Zuletzt waren es
rund 60 000. Nordrhein-West- Nordrhein-
falen meldet einen Schwund von Westfalen
52 Prozent.
Durch Gebell von Jagdhunden 444 gesamt
aufgescheucht, startet Phasianus
colchicus mit lautem „Gockgock“
senkrecht aus dem Busch – was Nordrhein- 192 Erlegte Fasane
ihn zur leichten Beute macht. Westfalen in tausend
Nun ist die Flur verarmt. „Reihen- 275
weise“, so die Website „Jagd & Fe- 268
Bayern
der“, habe man die traditionellen Treib- 205 193
hatzen „auf den prächtigen und wohl- Nieder- 148
schmeckenden Vogel“ absagen müssen. sachsen
Schon im fünften Jahr in Folge hält der 92
Sinkflug an. Verendete Tiere („Fallwild“)
sind im Gelände allerdings kaum zu fin- Bayern 60 57
den. Was ist da los? 22
Um das Rätsel zu lösen, hat die Tier- Quellen: WILD, DJV übrige Länder 42 22
ärztliche Hochschule Hannover nun eine 2007/08 2009/10 2011/12

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 105
Szene

AU S ST E L LU N GE N

Verlorene
Tochter
Das überraschendste Exponat der Aus-
stellung „A Family Portrait“ über die
2011 verstorbene Sängerin Amy Wine-
house ist ein schwarzer Koffer. Winehouse
bewahrte darin ihre Lieblingsfotos auf,
einen Haufen Schnappschüsse, die sie
im Lauf der Jahre zusammengesammelt
hatte. Der Koffer wurde ihr privates
Trostarchiv, eine Schatztruhe für glück-
liche Momente. Einen Teil dieser Samm-
lung überließ ihre Familie nun dem Jew-
ish Museum in London, das bis Mitte
September das „Familienporträt“ der
Sängerin zeigt, deren jüdische Vorfahren
Ende des 19. Jahrhunderts aus Weißruss-
land nach England eingewandert waren.
Amy verschlang als Mädchen „Snoopy“-
Comics, später las sie Hunter S. Thomp-
son, dessen verlorenen Romanfiguren
sie immer ähnlicher wurde. Mit 27 starb
sie an den Folgen einer Alkoholvergif-
tung, aber natürlich fehlen in der Aus-
stellung die Referenzen zu all den Ab-
stürzen, Besäufnissen und Schlägereien,
für die sie die Paparazzi so liebten. Die
MARK OKOH / CAMERA PRESS / JEWISH MUSEUM LONDON

bislang unveröffentlichten Bilder zeigen


Amy lachend mit Freunden, posierend
in ihrem Apartment, bei einer Familien-
feier oder an einer Mauer lehnend, un-
geschminkt. Es sind Aufnahmen aus dem
Alltag einer jüdischen Familie, die jetzt
darum ringt, die Deutungshoheit über
das Leben ihrer verlorenen Tochter zu-
rückzuerobern. Er hoffe, sagt Amys
Bruder Alex, dass die Welt endlich die
normale Amy kennenlerne – jene Seite
von ihr, die sie selbst nie zeigen wollte. Winehouse in ihrem Haus in London 2004

FILM
aber man sieht ihm an, dass er nicht ten Dokumentation „We Steal Secrets:
nur stolz ist auf diese Arbeit. Die Inter- Die WikiLeaks-Geschichte“, die diese
view-Sequenzen mit Hayden, gedreht Woche in den deutschen Kinos startet.
Die Geheimnis-Diebe lange vor Snowdens Enthüllungen, sind
einer der Höhepunkte der sehenswer-
Im Mittelpunkt des Films stehen jedoch
WikiLeaks-Gründer Julian Assange so-
Die Welt diskutiert den Fall Edward wie der Obergefreite Bradley Manning,
Snowden, doch die Behörde im Mittel- der rund 700 000 geheime Dokumente
punkt des Skandals schweigt: die Natio- an WikiLeaks weitergeleitet haben soll.
nal Security Agency (NSA), jener US- Ironie der Geschichte: Auch Regisseur
Geheimdienst, der offenbar sogar die Alex Gibney kann es nicht lassen, in
UNIVERSAL PICTURES GERMANY

deutsche Bundesregierung ausforscht. der Privatsphäre seiner Protagonisten


Umso überraschender ist die Offenheit, herumzuschnüffeln. Ausführlich zitiert
mit der sich jetzt der langjährige NSA- er aus der privaten Chat-Korrespon-
und spätere CIA-Chef Michael Hayden denz zwischen Manning und dem
in einem Dokumentarfilm äußert: „Wir Hacker Adrian Lamo – jenem Mann,
stehlen Geheimnisse“, sagt Hayden, 68, der Manning schließlich an das FBI
mittlerweile Geheimdienstpensionär, Assange-Graffito verriet (SPIEGEL 24/2013).
106 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Kultur

SACH BÜCH ER L I T E R AT U R

„Verspäteter Falter“ Mit Dante ins Inferno


Am 24. Juli zeigt die ARD das Schon als Kind auf dem Spielplatz
Doku-Drama „George“. Der empfand Clemens Lang sich als Außen-
Schauspieler Götz George, 74, seiter; das Gefühl, beobachtend
spielt seinen Vater Heinrich danebenzustehen, ist ihm eingeprägt.
George (1893 bis 1946), der einer Lang ist Fotograf, Ende vierzig, mit
der berühmtesten Schauspieler einer Astrophysikerin verheiratet und
der Weimarer Republik und der in seiner Schweizer Heimat verwur-
NS-Zeit gewesen ist. Am Montag zelt; kein flotter Reporter, sondern ein
dieser Woche bringt der Langen- von Kennern geschätzter Meister der
Müller-Verlag ein Buch über die Kunst, das Unwiederbringliche eines

HEINRICH GEORGE ARCHIV, JAN GEORGE


Familie heraus: „Mein Mann Augenblicks im Bild zu bannen. Der
Heinrich George“ ist die Wieder- Roman „Der seltsame Fremde“ von
auflage eines Werks, das Berta Christian Haller, dessen Ich-Erzähler
Drews, die Ehefrau Heinrichs und Lang ist, beginnt damit, dass der Foto-
Götz’ Mutter, 1959 geschrieben graf die Einladung erhält, sein Werk
hat. Ergänzt wird das Buch jetzt auf einem Kunstwissenschaftlerkon-
durch ein Vorwort von Götz und gress in einer asiatischen Metropole zu
ein Nachwort des Bruders Jan. präsentieren. Er berichtet, wie diese
Hinzu kommen bisher unveröf- Karikatur aus der „Berliner Illustrirten“ 1938 Reise für ihn (mit bewusstem Bezug
fentlichte Briefe, die sich Berta auf Dante) zu einem Gang ins Inferno
Drews und Heinrich George schrieben, gur eines Goethe-Dramas war eine Pa- wird: einerseits dieser Kongress in
als dieser von Juni 1945 an in sowjeti- raderolle Heinrich Georges gewesen – kolonialistischer
scher Gefangenschaft war. Da in die- und die „Berliner Illustrirte“ brachte Kulisse mit seinem
sem Buch ausschließlich Familienmit- 1938 dazu eine Karikatur. Während Themenspektrum
glieder zu Wort kommen und ein Ge- der Haft, die er nicht überleben sollte, von der Erfindung
leitwort eines Historikers fehlt, gibt es schrieb Heinrich George auch Gedich- der Zentralperspek-
kaum kritische Worte über Heinrich te über seine Familie, die seine Ver- tive bis zum Reali-
George. Dessen Anpassung ans NS- zweiflung und Zuneigung dokumentie- tätsverlust in der
Regime – er spielte eine Hauptrolle im ren: „Verspäteter Falter, Freudbote des digitalen Fotografie,
antisemitischen Propagandafilm „Jud Frühlings, / was suchst Du in diesem andererseits diese
Süß“ (1940) – wird familientypisch Elendsrevier? / Bringst Du einen Gruß brodelnde Vitalität
erklärt: Er habe sich und die Seinen mir von der Frau / und den Söhnen? – der Stadt rundum.
schützen wollen. Das Buch ist auch oder willst Du mich höhnen? – / So Irgendwann hockt Christian
Haller
das Dokument einer großen Liebe: des fliege zurück in heitere Sphären / und Lang neben einer
Ehemanns zur Frau, des Vaters zu den sage, / ich möcht’ ihre Stimmen hören / Bettlerin auf der Der seltsame
Fremde
Söhnen. Sohn Götz bekommt seinen und sage, ich möchte sie wiederseh’n. / Straße und fühlt sich
Namen, weil er am 23. Juli geboren O grüße sie beide / und sage – / ich „in all dem Dreck, Luchterhand Lite-
raturverlag, Mün-
wurde, dem Todestag des Reichsritters würde vor Freuden vergeh’n / und sag’ Lärm, Gestank chen; 384 Seiten;
Götz von Berlichingen. Die Hauptfi- auch / ich leide – ich leide!“ glücklich“ wie nie 22,99 Euro.
zuvor, endlich vom
Leben überwältigt.
Der Schweizer Schriftsteller Christian
KINO IN KÜRZE Haller, 70, hierzulande unbegreiflich
wenig beachtet (obwohl seine Romane
„Ein Freitag in Barcelona“ ist ein Episodenfilm über acht Männer in der Midlife- seit mehr als 20 Jahren in einem deut-
Crisis. Der spanische Regisseur Cesc Gay lässt seine mit ihrem Alter, den Frauen schen Verlag erscheinen), versteht es,
und der Welt im Allgemeinen hadernden Helden zu einem munter-melancholischen den Gang der Erzählung voranzutrei-
Großstadtreigen antreten. ben und zugleich schwungvoll mit
Angenehm unaufgeregt, mit Ideen und Deutungen zu jonglieren.
sanfter Ironie und großer Besonderen Glanz gewinnt die
Langmut beobachtet er sie bei Geschichte des Fotografen durch einen
ihren Versuchen, sich auf ein geisterhaften Mitreisenden, der immer
ihnen bislang gänzlich unbe- wieder unvermutet auftaucht, mal als
kanntes Terrain zu wagen: die Nothelfer, mal als diabolischer
Selbstreflexion. In dem unun- Menschenmanipulator. Das Motiv (wie
terbrochenen, bisweilen et- der Titel des Buchs) stammt aus
was ermüdenden Redeschwall Mark Twains Roman „The Mysterious
CAMINO FILMVERLEIH

erfährt der Zuschauer Stranger“, und Haller macht daraus


noch viel mehr, als er die schillernde Figur eines philoso-
jemals über Männer phischen Taschenspielers und Ideen-
Szene aus „Ein Freitag in Barcelona“ wissen wollte. Feuerwerkers: Er mag ein Engel sein,
doch einer aus Satans Sippe.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 107
Kultur

METROPOLEN

Sei glücklich!
Ein Buch über die Kulturrevolution in Berlin nach dem Mauerfall erzählt von
Technoclubs und Untergrund-Galerien, von Hausbesetzungen und Drogennächten
und davon, wie aus einem Provinzkaff eine Weltstadt wurde. Von Georg Diez

D
er Morgen bricht an, und der Krieg Ein paar Staatsbürger laufen vorbei, ein Wende, und es war die DDR, die abgeris-
ist immer noch nicht vorbei. Sie paar Plattenbauten stehen herum. Um die sen wurde. Die Altbauten blieben, leer,
haben getanzt, bis ihr Schweiß von Ecke, in der Auguststraße, sieht es aus, zerstört, von Einschusslöchern durchsiebt.
den Wänden tropfte. Jetzt stehen sie auf als hätten die Russen gerade die Stadt ein- Es gibt keinen Strom, kein Wasser, kei-
der Straße, die Sonne geht auf über Rui- genommen. Wird da noch geschossen? ne Heizung. Wer eine Wohnung sucht,
nen. Die Mauern kaputt, die Fenster ka- Wird da noch getanzt? Die DDR wollte tritt die Haustür ein, sucht sich die schöns-
putt, die Straßen kaputt, das Land kaputt. die Altbauten verfallen lassen, um sie te aus, schleppt eine Matratze rein, haust
Hallo, du hässliche, tote DDR. irgendwann abzureißen. Dann kam die dort drei Monate lang und geht danach
108 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Berliner Party-
szene zwischen
1990 und 2005
Es fehlt an
Geld und
an Gesetzen

zum Amt, lässt sich einen Mietvertrag ge- Welt. Es gibt nur Mangel und Möglich- Mal, es ist das Privileg der Jugend, das
ben und zahlt 100 Mark im Monat. keiten. Eine kollektive Glückssuche. Es zu glauben. Sie kommen aus Kreuzberg
Das ist das Leben im rechtsfreien Raum sind: „Die ersten Tage von Berlin“. und Esslingen, aus Dresden und Leipzig,
Berlin, etwa 1991. Keine Tomaten und So heißt das Buch des Journalisten Ul- aus New York, Madrid und Hamburg und
keine Taxis. Es stinkt nach Kohle. Es wird rich Gutmair, der von dieser Zeit in Berlin bauen sich ihre eigene Stadt. Niemand
die beste Zeit ihres Lebens. erzählt, von den Jahren unmittelbar nach fragt, wer sie sind. Sie existieren erst
Party-Mutanten, Aliens, Kinder aus der dem Mauerfall, 1990, 1991, 1992 und spä- einmal für den Moment und für den
Provinz, Kiffer aus West-Berlin, Hasar- ter, vom „Sound der Wende“, wie das Rhythmus, Techno ist die Musik dazu,
deure, Hochstapler, Hedonisten, ein paar Buch im Untertitel heißt – von Techno, ein Beat ohne Narrativ, ein Klang, der
Idealisten, egal woher du kommst: Wer der Musik, die die Nächte so lang dehnt, Räume öffnet.
jung ist und das Abenteuer sucht und den bis sie im Drogennebel verschwinden, Der DJ ist ein Gott dieser Zeit, der
Spaß, der ist hier richtig. und von den Clubs, die kommen und ge- Herrscher über Tag und Nacht – es ist
Sie sind die Botschafter der neuen Zeit, hen, an versteckten oder verbotenen Or- aber nur eine Rolle in dieser neuen Welt.
und manche wissen das auch. Sie sind die ten, oft nur eine mickrige Anlage und Du willst Galerist sein? Dann häng Bil-
Gewinner der Geschichte, und manche eine improvisierte Bar, ein Loch in irgend- der an die Wand, und schau, ob sie je-
benehmen sich auch so. Die meisten ah- einem Hinterhof, durch das man kriechen mand kauft. Du willst Künstler sein?
nen nur, was sie da machen, aber so ist muss, um das zu trinken, was sie in Bra- Dann mach etwas, das du für Kunst
das immer bei Revolutionen. silien wohl Caipirinha nennen*. hältst, und schau, wie die Welt darauf
FOTOS: CHRISTIAN BROX

Es gibt hier keine Erwartungen und kei- Alles ist neu, alle sind gleich, so reagiert.
nen Druck. Es fehlt an Geld und an Ge- scheint es, alles geschieht zum ersten Gutmair, der seit 1989 dabei war als
setzen. Es herrscht die radikale Abwesen- junger Student, beschreibt das Treiben
heit von fast allem, was den Westen aus- * Ulrich Gutmair: „Die ersten Tage von Berlin“. Tropen jener Tage ohne übertriebene Nostalgie,
macht und damit in diesem Moment die Verlag, Stuttgart; 256 Seiten; 17,95 Euro. ohne Veteranenpathos, aber doch mit
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 109
Berliner Szene in den neunziger Jahren: „Im Interregnum zwischen den Systemen hat sich ein Zustand etabliert, der dem nahekommt, was

dem Blick darauf, was damals möglich noch das Bild von Berlin, an dem sich Im Tresor wird in dieser Zeit Techno
war – und was verlorenging. vor allem die freuen, die nichts dafür ge- zur größten mitteleuropäischen Musik-
„Vakuum“, so nennen viele von denen, tan haben, Berlins mittelmäßige Politiker. erfindung seit der Zwölfton-Revolution
die dabei gewesen sind, den Zustand jener Wenn man zum Beispiel in Gutmairs und die Love Parade zur politischen De-
Jahre: Der Fotograf Christian Brox war Buch liest, wie im Nachwende-Chaos eine monstration: Jemand wie der Tresor-Chef
damals dabei, seine Bilder illustrieren die- einzige Frau, Jutta Weitz, zur Schlüssel- Dimitri Hegemann versucht bis heute,
sen Artikel, es sind Aufnahmen zwischen figur dieses triumphalen kulturellen Auf- diesen hedonistischen Idealismus in ge-
Rausch und Kater, zwischen Nacht und bruchs wird, weil sie als Angestellte der sellschaftliche Realität umzuwandeln.
Morgen, sie erinnern an den frühen Wolf- städtischen Wohnungsverwaltung die Er war einer von denen, die, gleich
gang Tillmans, weil die Euphorie noch echt Räume für Clubs, Galerien, Off-Theater nachdem die Mauer geöffnet worden war,
ist und die Enttäuschung nur eine Ahnung. lieber an Typen mit langen Haaren und aus dem Westen Berlins in die neuen
„Im Interregnum zwischen den Syste- einem sympathischen Lächeln gab als an Gebiete vordrangen – es herrschte eine
men hat sich ein Zustand etabliert, der den nächsten Videothekenbesitzer mit ei- Mischung aus Langeweile und Überdruck
dem nahekommt, was Utopisten im nem Businessplan – dann versteht man, im alten Westen, eine Stimmung, die im
19. Jahrhundert als Anarchie bezeichnet was städtische Politik leisten kann und Osten der Stadt regelrecht explodierte.
haben, eine Ordnung, die fast ohne Herr- wie städtische Politik heute oft versagt. „Gebt den Kids Raum, und let it be“, sagt
schaft zu funktionieren scheint“, so be- Es ist viel Vertrauen im Spiel und viel Hegemann, so schafft man Kreativität.
schreibt es Gutmair. Zufall, nach und nach werden die Men- Es war eine Schwellenzeit, ein kultu-
Er erzählt von der Hausbesetzer-Szene, schen und Orte deutlich, die das Bild des reller Umbruch, der nicht als solcher
die es schon zu DDR-Zeiten gibt, die sich hedonistischen, diskursiven, kreativen wahrgenommen wurde, weil er vom poli-
aber nach dem Fall der Mauer verändert, Berlin bis heute prägen. tischen Umbruch überdeckt wurde – aber
weil sie eben nicht mehr die Nische des Die frühen Clubs, der Eimer, das Elek- die Ästhetik unserer Zeit, das Denken
Protests ist, sondern der Kern für etwas tro oder der Friseur etwa, sind klein, eng, unserer Zeit, das Bewusstsein unserer
Neues – so sehen es damals viele Haus- klandestin. Man trifft sich montags in der Zeit ist in Teilen bis heute von dem ge-
besetzer, die versuchen, in dieser Situa- Montagsbar, dienstags in der Dienstags- prägt, was damals entstand.
tion der Anarchie zu definieren, was Ei- bar, und die wenigsten, die in dieser Zeit 1990, 1991, 1992 wurden in Berlin die
gentum, Alltag, Gemeinschaft für sie be- in Mitte leben, müssen wirklich arbeiten, Regeln neu definiert. Wem gehört was,
deuten: „Die Frage war“, sagt Gutmair, weil das Geld, das sie an einem Wochen- wer braucht was, warum nimmt sich
„wie sich Soziales herstellen lässt außer- ende als Barkeeper verdienen, ausreicht nicht einfach jeder das, was er braucht?
halb eines Markts und mitten im Herzen für Miete und Essen – zu versteuern gibt Das Schild zum Beispiel an der Ständigen
der großen kapitalistischen Siegesfeier, es nichts, weil sich eine Art Parallelwirt- Vertretung der Bundesrepublik Deutsch-
die die Wiedervereinigung war.“ schaft entwickelt hat, Geld auf die Hand, land in Ost-Berlin? Einfach abschrauben,
Was in den frühen neunziger Jahren ein bisschen Schwarzmarkt, ein bisschen so der Mythos, und im Tacheles auf-
auf ein paar Quadratkilometern in Berlin- wie nach einem Krieg. hängen.
Mitte geschieht, ist mehr als ein Lebens- Es gibt kaum Telefone, es gibt noch Etwas von diesem Geist ist auch noch
gefühl, das sich schließlich in ein Label lange kein Internet, also verabredet man in Dimitri Hegemann. „Ich hab da so ein
verwandelt. sich morgens um halb drei im WMF, großes Eisentor gesehen, auf einem Ge-
Es ist ein Experimentierfeld für die Zu- einem der wichtigen Clubs dieser Zeit, lände, wo ein Haus abgerissen wird“, sagt
kunft, politisch, sozial, künstlerisch, und der immer wieder umzieht, es folgt der er zu einem Handwerker, der sich um sei-
die Gewinner der Geschichte, die in Gut- Tross, der größer wird, immer noch sehr nen neuen Club kümmert, der immer
mairs Buch genauso vorkommen wie die deutsch, das alles, immer noch gibt es noch Tresor heißt und jetzt in einem ehe-
Verlierer, die Verschwundenen, die Ver- hier und da Neonazis, die sich in der Eck- maligen Heizkraftwerk untergebracht ist.
storbenen – die Gewinner prägen heute kneipe „Zum Afrikaner“ treffen. „Das sollten wir uns holen.“
110 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Utopisten im 19. Jahrhundert als Anarchie bezeichnet haben“

Irgendetwas gab es damals immer zu einen Widerhall: Sei es die Frage danach, Jemand wie Biesenbach, der Vermark-
„holen“: zwei sowjetische Kampfflug- wie gemeinschaftliches Bauen, Wirtschaf- ter, Kommunikator, Selfmade-Kurator, ist
zeuge, Tausende Neonröhren, Hunderte ten, Leben gehen könnte, sei es in der Fra- ein Symbol für jene Zeit und jenen Stil
Hüte aus dem Fundus eines Kinderzirkus ge, wie es eigentlich kommen konnte, dass und Drive, die manche der Protagonisten
oder einen Container voller Felle von ei- so viele der politischen Praktiken und In- von damals bis heute antreiben: Jochen
nem Kürschner, der seinen Laden aufgibt. novationen der Wendezeit verschüttgegan- Sandig etwa, der das Kunsthaus Tacheles
Mit diesen Fellen dekoriert man dann gen sind, die Runden Tische etwa – es ist mitgründete, eine Riesenruine, die 1990
eine Wohnung oder wickelt sie einfach ein utopisches Strahlen, das aus den neun- gesprengt werden sollte und daraufhin
um die Laterne auf der Straße – es war ziger Jahren zu uns herüberdringt. besetzt wurde, die erst ein Zeichen für
„der totale Surrealismus“, so nennt das Und das auch Gerd Harry Lybke leuch- den künstlerischen Aufbruch war und
Ben de Biel, für den die Jahre nach der ten lässt. Er ist einer der Gewinner dieser dann ein Zeichen für die künstlerische
Wende so etwas wie eine „Waschmaschi- Zeit, in der die Kunst die Deutungsmacht Verkitschung – aber Sandig war da schon
ne im Schleudergang“ waren. und auch die Finanzkraft bekam, die sie weitergezogen auf der Suche nach Orten
Wie Hegemann hat er etwas Entspann- heute noch hat – eine Sexiness, die ent- wie den Sophiensälen oder dem Radial-
tes und gleichzeitig Waches, er spricht stand, als sich Nachtleben, Elektromusik system V, Institutionen, die er gegründet
ohne große Sentimentalität über diese und zeitgenössische Kunst vermischten, und geprägt hat mit dem Geist des kultu-
Zeit, er beschreibt, wie die DDR vor ihm in den Kellern der Auguststraße etwa, wo rellen Just-do-it der neunziger Jahre.
auf dem Seziertisch lag, und die Gedärme Lybke bis heute seine Galerie Eigen +Art Die Polizisten, erzählt Sandig, die da-
einer Gesellschaft hingen da heraus. Er hat, war der Club Cookies. mals kamen, um sie aus dem Tacheles zu
kam aus Hamburg und nennt das, was „Geld spielte keine Rolle damals“, sagt werfen, waren ratlos, weil sie nicht wuss-
nach 1989 im Berliner Nachtleben passier- Lybke mit der Sicherheit von jemandem, ten, was sie tun durften und was nicht, sie
te, eine „feindliche Übernahme, aber mit der heute genug davon hat, „für Geld be- waren ja nun nicht mehr in der DDR und
unseren Mitteln“. kam man nichts.“ fuhren die demütigenden Plastikautos die-
Er arbeitet in der „Ständigen Vertre- Heute sagt er: „Ich bin froh, dass der ses verschwundenen Staates – also ließen
tung“, so hieß der Club im Kunsthaus Ta- Kapitalismus gesiegt hat.“ Er ist schnell sie die Besetzer in Ruhe gewähren und
cheles, „das war orgiastisch“, sagt er, „das und lustig und trocken, ganz anders, aber brachten ihnen sogar Kuchen vorbei.
habe ich verstanden“. auch wieder ganz ähnlich wie Thilo Aber irgendwann ist der Karneval vor-
Er wehrt sich gegen die Räumung be- Wermke von der Galerie Neu, einer an- bei. „Nachts herrscht in Mitte die Utopie
setzter Häuser, er verschenkt Rollen gol- deren der heute tonangebenden Galerien, einer klassenlosen Gesellschaft“, schreibt
dener Tapete, die er irgendwo gefunden die damals in Mitte entstanden: „Irgend- Gutmair. „Morgens sieht es anders aus.
hat, an andere Hausbesetzer und bekommt wann“, so erzählt es Wermke, „kam je- Dann nehmen die einen den Scheck der
sie wieder zurück, weil sie zu golden sind mand und sagte, das will ich kaufen.“ Eltern in Empfang oder gehen zur Arbeit
für den Hausbesetzergeschmack. „Gerade Es dauerte bis 1998, erst da wurde all- in Ämtern und Agenturen, während die
die linke Szene war sehr dogmatisch“, sagt mählich klar, welche Dominanz die Kunst anderen Essen im Supermarkt klauen
er, und das klingt schlecht, wie er das sagt, und die Kultur in Berlin entwickeln wür- oder auf der Straße Möbel sammeln, um
Dogma. Heute ist Ben de Biel Pressespre- den. Damals fand die erste Berlin Bien- sich die Wohnung einzurichten.“
cher der Berliner Piratenpartei, „die sind nale statt, in den Kunst-Werken in der Au- Wie es alles mal enden würde, wusste ja
eher weniger dogmatisch“, sagt er, sie sind guststraße, einer alten Margarinefabrik, die Künstlerin Natascha Sadr Haghighian:
FOTOS: CHRISTIAN BROX

so pragmatisch und libertär, wie er es in einer jener Institutionen, die aus dem „Während die einen bis zur nächsten Party
den frühen neunziger Jahren gelernt hat. Nichts gegründet wurden – Initiator war weiterschliefen, waren andere, mit denen
Diese Verbindungen zur Gegenwart ma- Klaus Biesenbach, eine jener Figuren, die man nachts noch getanzt hatte, womöglich
chen die heutige Relevanz von Gutmairs aus dem Nichts ihren Ruhm begründeten: schon dabei, das Gebäude zu kaufen, in
Buch aus. Das Denken von damals hat Heute ist er am MoMA in New York. dem die Party stattgefunden hatte.“ 
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 111
Kultur

E S S AY

Entdeckung der Großzügigkeit


Warum dieses Land endlich seine Rolle als eine der mächtigsten Nationen der Welt
annehmen muss – und wie das aussehen könnte / Von Heinz Bude

JEWEL SAMAD / AFP


„Economist“-Report über Deutschland, Staatschefs Obama, Xi Jinping: Die Nummer drei – das wollen wir nicht hören

E
s war kein anderer als der amerikanische Präsident, der nomie der Zukunft eine Dienstleistungsökonomie mit einem
uns in Schrecken versetzt hat. In seiner Berliner Rede fetten finanzindustriellen Komplex ist. Wir haben nicht wie
vor dem Brandenburger Tor hat man immer auf den die Amerikaner darauf gesetzt, dass man durch eine enorme
einen Satz gewartet, der daraus ein schönes Ereignis gemacht Steigerung privater Verschuldung auf Dauer Wohlstand für
hätte, und dabei vor lauter Jubelbereitschaft überhört, was er alle schaffen kann. Wir sind nicht wie die Franzosen davon
uns über Deutschland mitgeteilt hat. ausgegangen, dass durch die staatliche Regulierung des priva-
Nummer eins sind für ihn natürlich die USA, die Nummer ten Lebens eine sozial befriedete und wirtschaftlich leistungs-
zwei ist erwartungsgemäß China. Aber das dritteinflussreichste, starke Gesellschaft entstehen kann. Und wir haben schließlich
drittwichtigste und drittmächtigste Land der Welt ist im Augen- auch nicht wie die Skandinavier daran geglaubt, dass man
blick offenbar Deutschland. 80 Millionen in der Mitte Europas durch die steuerbasierte Ausweitung des öffentlichen Sektors
unter 7 Milliarden auf der ganzen Welt. die private Initiative und die persönliche Verantwortung för-
Das wollen wir deshalb nicht hören, weil uns bei diesem dern kann.
Gedanken einigermaßen schlecht wird. Denn darin steckt die Deutschland ist jetzt deshalb so stark, weil es in den vergan-
Aufforderung zum Bruch mit einem uns liebgewonnenen genen 20 Jahren eine Kompetenzrevolution in der industriellen
Selbstverständnis als Land in der Deckung. Über eine lange Facharbeit auf den Weg gebracht hat, weil der Familienkapita-
Nachkriegszeit ging die Arbeitsteilung in Europa so, dass lismus des deutschen Mittelstandes sich trotz einiger gieriger
Deutschland für die Wirtschaft und Frankreich für die Politik Spielereien mit Schweizer Konten nicht hat beirren lassen,
zuständig war. Rücklagen zu bilden und intelligent zu investieren. Und vor
Dabei haben wir so langsam erst verstanden, dass Deutsch- allem, weil die Politik die Gemeinsamkeit mit den wichtigen
land heute als der große Gewinner der Krise von 2008 dasteht. Kräften der Gesellschaft auf der Kommandobrücke gesucht
Wir haben nicht wie die Briten daran geglaubt, dass die Öko- hat. In welchem anderen Land der Welt kann sich eine Kanz-
114 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
lerin aus dem konservativen Lager mit dem Gewerkschaftschef Finanzmärkte zum Ausdruck bringen. In dem Moment, in dem
aus der Metallbranche und einem Banker mit schweizerischem Deutschland allein den Euro verlässt, werden die Zinsen für
Migrationshintergrund auf eine Linie der Krisenbewältigung die notwendigen Kredite unserer Staatsschulden in die Höhe
einigen, die von allen Beteiligten Opfer fordert? schnellen. Das Rückzahlungsversprechen, dem die Anleger aus
Deutschland hat weder durch neoliberale Entfesselung noch China, den USA, aus Brasilien oder aus Indien vertrauen, ist
durch neoklassische Austerität aus der schärfsten und tiefsten an seine zentrale Rolle in und für Europa gebunden.
Krise der Nachkriegszeit herausgefunden, sondern durch eine Die britische Wochenzeitschrift „The Economist“ titelte vor
in langer Dauer eingeübte und unaufhörlich verwandelte Praxis wenigen Wochen über die Deutschen: „The reluctant hege-
der gesellschaftlichen Kooperation. mon“. Der widerstrebende Hegemon. Es ist der Augenblick
gekommen, an dem die anderen hören wollen, wie man sich

F
ranzösische Gewerkschafter mit antikapitalistischem Geist von hier aus die Zukunft Europas denkt.
stehen fassungslos vor dem Institut tarifvertraglich verein- Sich selbst zum Maßstab für die anderen zu erheben reicht
barter Fortbildungen, die von den Unternehmen angeboten dafür nicht. Denn das läuft auf eine unausgesprochene Zu-
und von den Kollegen tatsächlich wahrgenommen werden. Der sammenbruchstheorie für Europa hinaus. Es kann gar nicht
Patron dort steht prinzipiell auf der anderen Seite, mit dem sein, dass Italien einen mit Deutschland vergleichbaren
kann man sich auf Strategien zur Steigerung des Unternehmens- Steuerstaat aufbaut. Es ist überhaupt nicht zu erwarten, dass
erfolgs nicht einigen. Bürger aus Mailand wie aus Palermo wür- Frankreich, das über ein so gutes demografisches Polster
den gern einem Staat vertrauen, der alles daransetzt, dass die verfügt, sein Sozialversicherungssystem nach Maßgabe des
offensichtliche Uneinheitlichkeit der Lebensverhältnisse nicht deutschen umbaut. Und es ist völlig ausgeschlossen, dass in
in ein Regime von Bürgern erster und zweiter Klasse ausartet. Griechenland die Branche der Medizintechnik oder des Auto-
Im Vergleich mit anderen Ländern Europas ist in Deutschland mobilbaus gedeiht.
alles so gut und so schön, dass man es kaum glauben kann. Die Botschaft aus Deutschland für Europa heißt Kooperation.
Vielleicht haben wir einfach Glück gehabt mit unserer Strategie Wer sein Land entwickeln, die Talente seiner Leute fördern
der Lohnstückkosten-Reduktion durch kon- und die Vorzüge seiner Lebensweise pflegen
tinuierlichen Reallohnabbau, die uns heute will, braucht einen Geist der Kooperation,
erhebliche Wettbewerbsvorteile zu Lasten Im Vergleich mit der sich nicht schon von vornherein auf ein
unserer Partner beschert. Vielleicht lügen wir Primat festlegt: weder der Ökonomie noch
uns über die gesellschaftlichen Kosten der anderen Ländern der Politik und schon gar nicht der Kultur.
Bevorzugung von Prosperitätsregionen wie Europas ist in Die Deutschen behaupten mit der ganzen
Ingolstadt, Passau oder Regensburg nur in Macht ihres Erfolges, dass es einen Begriff
die Tasche, weil wir von den Verhältnissen Deutschland alles so verallgemeinerbaren Interesses gibt, der die
in Cuxhaven, Parchim oder Hamm nichts gut und so schön, gesellschaftliche Zusammenarbeit anleiten
wissen wollen. Und ist durch die Hartz-IV- kann. Nichts ist dringender und nichts ist
Reformen nicht ein neues „Dienstleistungs- dass man es kaum hoffnungsvoller als der Blick auf Probleme
proletariat“ mit prekären Jobs in den Berei- glauben kann. und Phänomene, die alle angehen.
chen von Sicherheit, Sauberkeit und Service Es gehört freilich zu den Gesetzen der
entstanden? Gastfreundschaft in Europa, dass man groß-
In dieser Unsicherheit über uns selbst und unseren unglaub- zügig zueinander ist. Differenz wird nur dann zu einer Quelle
lichen Erfolg ruft Barack Obama Deutschland in die Verant- von Reichtum, wenn nicht nur das Interesse und die Nütz-
wortung. Das Schicksal des Kontinents wird in Deutschland lichkeit, sondern auch die Freigebigkeit und der Respekt
ausgemacht und entschieden. regieren. Deutschland wird seine Großzügigkeit für Europa
Die erste Reaktion darauf hierzulande ist Flucht. Die ent- entdecken müssen. Nur dann kann ein Bündnis zustande
sprechenden Argumente lauten: Die Einführung des Euro war kommen, das belastbar ist, weil man sich gegenseitig die Wahr-
eine dumme Idee, weil die Einheitswährung über die gravie- heit zumuten kann. Sonst bleibt erzwungener Friede, was
renden nationalen Produktivitätsdifferenzen hinweggeht und freie Übereinkunft sein könnte. Europa ist dann ein Ver-
dadurch einen ungeheuren sozialen Sprengstoff in Europa sprechen nicht nur aus der Vergangenheit, sondern für die
schafft. Ein anderes Argument heißt, dass den Leuten Europa Zukunft. Auf dieses großzügige Versprechen aus Deutschland,
sowieso nichts bedeutet. Ein gewisser, auch nicht gerade hoher so darf man den amerikanischen Präsidenten verstehen, wartet
Anteil der jungen Intelligenz nimmt zwar das Erasmus- die Welt.
Programm wahr, aber eine besondere Identifikation mit Europa

D
ist deswegen nicht feststellbar. Schließlich wird argumentiert, arauf wartet auch in Deutschland eine ganze Generation
dass Deutschland Europa gar nicht mehr so nötig hat, weil wir junger Leute, die ohne Sorgen aufgewachsen sind, aber
immer mehr in die Schwellenländer exportieren. Deutschlands trotzdem mit sich selbst hadern. Es ist die Generation
Zukunft wird als Ausrüster der Weltwirtschaft gesehen und der Millennials, der bescheinigt wird, dass sie genau das macht,
nicht vornehmlich als Exporteur für Europa. was man von ihr verlangt. Aber eben auch nicht mehr. Hinter
Deshalb verteidigt man die deutschen Stärken und macht dieser freundlichen Zurückhaltung stecken der Wunsch und
die anderen dafür verantwortlich, dass Europa mit Hilfe der das Bedürfnis nach ein bisschen Vision. Wer in Deutschland
Europäischen Zentralbank so viel Geld für die Stabilisierung die Kräfte für die Zukunft mobilisieren will, muss deutlich
bankrotter Volkswirtschaften aufwenden muss und gerade machen, dass er an die Zukunft glaubt.
die starken Partner in den Strudel zum Abgrund treibt. Die Flucht ins Überleben oder vollendete
Vorstellung dabei ist wohl, dass es Deutschland ohne Europa Resignation kann nicht das letzte Wort
besser gehen würde und es befreiter in der Welt aufspielen sein. Für die heute 25- bis 35-Jährigen ist
könnte. Europa ohne jedes Versprechen. Die Ent-
Aber das ist falsch. Deutschland braucht Europa, um das deckung der Großzügigkeit wäre das Zei-
Land zu sein, das Obama als so stark und so mächtig anspricht. chen für eine kommende Zeit.
Denn wenn es uns auf dem eigenen Kontinent nicht gelingt,
CHRISTIAN THIEL

die Dinge wieder ins Lot zu bringen und nach vorn zu ent- Bude, 59, ist Soziologe, lehrt an der
wickeln, wird uns im Rest der Welt niemand abnehmen, dass Universität Kassel und arbeitet am
wir ein Akteur von Relevanz sind. Als Erstes werden das die Hamburger Institut für Sozialforschung.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 115
ihrer Egozentrik und Hilflosigkeit.
Susanna und Beale sind keine bö-
sen Eltern. Sie sind nur so sehr mit
sich selbst beschäftigt, dass ihnen
Maisie immer fremd bleiben wird.
Das Kind ist für sie eine Idee, die
sie einfach nicht verwirklichen
können, und daran leiden sie.
Wenn Beale seiner Tochter er-
klärt, dass er nach England zurück-
kehren und sie dorthin mitneh-
men will, dass sie aber ihre Mutter
für lange Zeit nicht sehen wird,
betrachtet ihn Maisie fast aus-
druckslos. Ihr Gesicht wird zum
Spiegel, der Beales Rücksichts-
losigkeit auf ihn selbst zurückwirft.
Diese Momente, in denen die Er-
wachsenen in den Augen eines
Kindes erkennen, was sie tun, ge-
hören zu den stärksten des Films.

2013 PANDASTORM
„Das Glück der großen Dinge“
beruht auf dem Roman „Maisie“,
den Henry James 1897 veröffent-
lichte. Der aus New York stam-
Darsteller Moore, Aprile: Ein Leben voller Möglichkeiten mende Romancier erschloss der
Literatur damals ein neues Thema:
Maisie aber auch bei dem Barkeeper Lin- das Sorgerecht mit seinen komplizierten
KINO coln (Alexander Skarsgård), den die Mut- Konsequenzen. Staunend, etwas ratlos,
ter geheiratet hat. aber mit größtmöglicher analytischer

Cocktail Man könnte das als Geschichte über


zerrüttete Familienverhältnisse, fehlende
Nestwärme und ein schwer traumatisier-
Präzision beschreibt er, was erst viele
Jahre später Patchwork-Familie genannt
wird.

für ein Kind tes Kind erzählen. Doch die Regisseure


Scott McGehee und David Siegel haben
daraus einen Film gemacht, in dem die
Mit der Neugier eines Pioniers macht
sich Henry James daran, die Gedanken-
welt eines Mädchens zu erforschen, das
Der Film „Das Glück Heldin die Herausforderungen der Er- in einen Scheidungskrieg gerät und sich
der großen Dinge“ beschreibt wachsenenwelt bestehen muss wie ein dagegen wehrt, von einem der Partner
eine Scheidung als großes Abenteuer. als Waffe gegen den anderen eingesetzt
Immer wieder öffnen sich in „Das zu werden. „Maisies Unschuld“, schreibt
Abenteuer – aus der Sicht eines Glück der großen Dinge“ Wohnungs- James an einer Stelle, „ist mit Wissen
kleinen Mädchens. oder Autotüren, Schiebe- oder Drehtüren. gesättigt.“
Der Zuschauer wird zurückversetzt in ein Die sehr langen und verschachtelten

A
n der Hand ihrer Mutter stolpert Alter, in dem sich für ein Kind ständig Sätze, mit denen James beschreibt, was
Maisie durch das Gerichtsgebäu- neue, aufregende Räume auftun. Der in Maisies Kopf vorgeht, standen den
de. Sie müsse dem Richter erzäh- Film zeigt, wie hart die Wirklichkeit für Filmemachern nicht zur Verfügung. Dafür
len, dass ihr Vater sie angeschrien und Maisie ist, und feiert zugleich ein Leben fanden sie in Onata Aprile eine Haupt-
herumgestoßen habe, schärft ihr die voller Möglichkeiten. darstellerin, die eine außerordentliche
Mutter ein. „Ach, hat er das?“, erwidert Doch die vielen Türen reichen nicht emotionale Intelligenz ausstrahlt. Sie
Maisie und blickt nach oben, hoch zu der aus, um Maisie vor den Problemen der spielt Maisie als ein Mädchen, das zwar
majestätischen Kuppel, die sich über ihr Erwachsenen abzuschirmen. Vor den oft nicht so genau weiß, was die Erwach-
wölbt. Mitten im Scheidungskrieg hat Schreiereien findet sie nirgendwo Schutz. senen gerade umtreibt, aber immer eine
Maisie nur Augen für die Schönheit. Als sie in einer fremden Wohnung über- Ahnung davon hat.
Die sechsjährige Maisie (Onata Aprile) nachtet, dringen durchs offene Fenster Es wäre für McGehee und Siegel leicht
ist die Hauptfigur in Scott McGehees und die Worte eines Paares, das sich weit ent- gewesen, Aprile ständig so ins Bild zu set-
David Siegels Film „Das Glück der gro- fernt streitet, an ihr Ohr. Obwohl der zen, dass sie süß und niedlich wirkt und
ßen Dinge“ (Originaltitel: „What Maisie Zank kaum zu hören ist, reißt er Maisie dem Zuschauer zu Herzen geht. Aber
Knew“). Sie ist die Tochter der amerika- aus dem Schlaf. weil die beiden davon erzählen wollen,
nischen Rocksängerin Susanna (Julianne McGehee und Siegel lassen den Zu- was es bedeutet, Kinder zu instrumenta-
Moore) und des britischen Kunsthändlers schauer die Welt durch die Augen ihrer lisieren, tun sie dies gerade nicht. Sie
Beale (Steve Coogan), die in New York Heldin erleben. Eine Bar sieht anders aus, überlassen ihrem kleinen Star einfach das
leben und am Ende ihrer Ehe stehen. wenn man gerade über den Tresen schau- Feld. Und Aprile nimmt es spielend ein,
Der Film beschreibt eine Odyssee. Mai- en kann und die Menschen durch die mit berückender Unbeschwertheit.
sie weiß nie, wo sie in der nächsten Nacht Cocktailgläser betrachtet, die einem di- LARS-OLAV BEIER
schlafen wird: bei ihrem Vater, bei ihrer rekt vor der Nase stehen. Maisies Blick
Mutter oder bei dem Kindermädchen ist oft verstellt und wird gerade deshalb Rubrik: Ausschnitte aus
Margo (Joanna Vanderham), das zuerst mehr und mehr geschärft. „Das Glück der großen Dinge“
die Geliebte des Vaters und dann seine Der Film nutzt diesen Blick, um sich spiegel.de/app282013kino
neue Frau wird. Möglicherweise landet die Erwachsenen genau anzusehen, in all oder in der App DER SPIEGEL

116 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Beuys-Brief aus dem Jahr 1944: Die Jugend war das Besondere, die Gefahr das Alltägliche

KUNST

Flug in die Ewigkeit


Ein bisher unbekannter Brief von Joseph Beuys aus
dem Jahr 1944 schildert seinen Absturz mit einem Stuka. Das
Ereignis gilt als eine Gründungsepisode der Nachkriegs-
moderne – nun bleibt von der Heldengeschichte wenig übrig.

A
uf dem Foto ist Joseph Beuys ein 11.45 Uhr mit dem Absturz. Beuys über-
noch jungenhafter Mann und trägt lebt, Laurinck nicht. Beuys wurde in den
die Uniform eines Unteroffiziers. Jahrzehnten danach zu einem der be-
Mit einem fast stolzen Lächeln im Gesicht kanntesten Künstler der Nachkriegszeit.
steht er am Rand einer Gruppe von Sol- Dass er damals auf der Krim dem Tod
daten. Unter ihnen befindet sich der Pilot entkam, schien der Ausgangspunkt für
Hans Laurinck. all das zu sein, was er später schuf. Es
Bald nach dieser Aufnahme wird Lau- war die Geburtsstunde eines großen
rinck tot sein. Ein bisher unveröffentlich- Künstlers, er selbst machte sie dazu.
ter Brief von Beuys aus Kriegszeiten gibt
nun darüber Auskunft, wie er starb. Das
Dokument ist im Besitz der Familie Lau-
rinck, ebenso wie Fotos, Flugbuch und
weitere Kriegskorrespondenz.
Der 16. März 1944 ist der Tag, an dem
Laurinck und sein Begleiter, der Bordfun-
ker und -schütze Beuys, laut Flugbuch
zweimal in ihrer Ju 87, einem Stuka
(Sturzkampfflugzeug), zu Feindflügen
aufbrechen. Laurinck und Beuys sind
jung, beide erst 22 Jahre alt. Ihre Jugend
ist ihnen bewusst, das wird in Beuys’
Brief deutlich. Die Jugend ist das Beson-
dere, die Gefahr das Alltägliche.
Sie starten morgens um 7.15 Uhr, lan-
den um 8.35 Uhr, heben um 11.05 Uhr er-
neut ab. Dieser zweite Flug endet um Unteroffizier Beuys (r.), Stuka-Pilot

118 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Der Künstler Joseph Beuys gilt als mo-
ralische Instanz. Seine Erlebnisse scheinen
ihn, den ehemaligen Soldaten, zu einem
Kämpfer gegen den Krieg gemacht zu ha-
ben. Denn viele seiner Werke sehen aus
wie Relikte eines Krieges, wie Sinnbilder
eines Traumas. Mit ihnen wurde er ein
weltweit beachteter Künstler, ein mehr-
facher Teilnehmer der Documenta. Zu-
gleich war er eine prominente Figur der
Friedensbewegung, einer der ersten Grü-
nen, ein Querdenker, der ein neues Gesell-
schafts- und Wirtschaftssystem forderte.
Was für ein System das sein sollte, ver-
stand wohl niemand genau. Aber sicher-
lich wollte er – so unterstellte man – ein
besseres. Er war schließlich Joseph Beuys.
Den Kern dieses Künstlermythos bildet
der Absturz im März 1944. Beuys hat das
Ereignis später mehrfach geschildert, es
immer wieder neu erfunden. So erzählte
er von seiner Rettung durch Tataren,
durch Schamanen, die ihn mit Fetten ein-
gerieben, ihn in einem Zelt aus Filz ge-
pflegt, ihn sogar in Filz eingehüllt hatten.
Er erweckte den Eindruck, selbst Stu-
ka-Pilot gewesen zu sein. Und er behaup-
tete, die Maschine sei vor dem Absturz
„von einem russischen Geschütz getrof-
fen“ worden. Für die Kunsthistoriker wur-
de das Kriegsereignis auf der Krim – oder
genauer: Beuys’ spätere Version davon –
zur Gründungsepisode einer neuen
Avantgarde. Jahre nach seinem Tod 1986
kam heraus, dass vieles an den Berichten
von Beuys nicht stimmte, nicht stimmen
konnte. An der Wahrhaftigkeit von Beuys
zweifelte trotzdem niemand.
Und nun der handschriftlich verfasste
Brief, der vom Unteroffizier Joseph Beuys
unterzeichnet und am 3. August 1944 von
der Deutschen Reichspost abgestempelt
wurde. Er wirkt erst einmal harmlos. Ein
Laurinck (3. v. l.) 1944: Ein auf den Krieg zugeschnittenes Leben junger Soldat richtet sich mit einem
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 119
Beuys-Brief von 1944: Selbst das Beileid hatte eine Propagandafunktion

durchaus üblichen Kondolenzbrief an die ausgezeichnet wurde) nicht wie ein Anti- beschwichtigen. Von einer Trostfunktion
Familie des toten Kameraden, formuliert held zu wirken. Beuys wollte womöglich, solcher Korrespondenzen spricht der
ihn in typischer Landser-Rhetorik. dass sein Überleben auch von der Familie Militärhistoriker Sönke Neitzel. Diese
Dennoch enthält das Schreiben viel des Verstorbenen als wundersame Fü- Briefe waren auch immer ein Mittel der
mehr, in Hinblick auf die spätere Meta- gung und nicht als Ungerechtigkeit ver- Propaganda, weil sie das Bild vom tapfe-
morphose des Ereignisses sogar Sensatio- standen wurde. Und so hat er wohl schon ren, pflichtbewussten und beliebten Sol-
nelles. Denn es war dem Verfasser schon in diesem frühen Dokument einiges ab- daten malten.
damals, 1944, durchaus wichtig, neben geschwächt, anderes dramatisiert. Um die reine, oft allzu grausame Wahr-
dem toten Helden Laurinck (der postum Die Beileidsbriefe der Vorgesetzten heit, um die genauen Umstände durfte
sofort mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse und der Kameraden hatten den Sinn, zu es nach damaliger Logik nicht gehen. All
die Hinterbliebenen, die Familien der to-
ten Soldaten, hätten sonst den Krieg in
Frage gestellt.
Beuys nahm diese Regeln ernst. Fast
lesen sich seine Zeilen, als wäre er ge-
mahnt worden, einen Brief aufzusetzen,
aber dann wurden es gleich neun Seiten.
Seine Worte richtete er an die Mutter
von Hans Laurinck, und er erwähnt, sie
habe ihn um Auskunft gebeten. Ein ers-
ter Brief von ihm sei offenbar nicht an-
gekommen.
Schnell betont Beuys, er sei mit Lau-
rinck befreundet gewesen. „Wir waren
eine Besatzung durch persönl. Freund-
schaft enger aneinander geschweisst,
als es oft üblich ist.“ Er nennt Hans Lau-
rinck mehrmals bei dessen Spitznamen
Hanne.
Beuys entwirft pathetische, nebulöse
Bilder, er verzerrt den Krieg, macht ihn
harmloser. Kein Wort davon, dass ihre
Mission in dem Stuka denen da unten auf
dem Boden den Tod bringen sollte. Die
Gefahr für ihn selbst wird positiv gedeu-
tet: „Weil wir ja dauernd den Tod um uns
haben, den wir zwar in jugendl. Kraft im-
mer besiegen zu können glauben, so ha-
ben wir keine Geheimnisse voreinander
u. verheimlichen auch unser Innerstes un-
L. KARL / FOTEX

sern anderen, würdigen Kameraden in


keinster Weise.“
Ein eingespieltes Team waren er und
Künstler Beuys 1983: Angepasster, kleiner, als er sich selbst sehen wollte Laurinck nicht. Im Flugzeug saßen sie nur
120 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Kultur

an zwei Tagen zusammen, am 25. Januar


1944 und eben am 16. März. Man sei,
schrieb Beuys, aufgebrochen in der Staf-
Bestseller
fel, doch wegen eines Schneesturms
umgekehrt. Er und Laurinck hätten die
Belletristik
langsamste Maschine der Staffel gehabt, 1 (1) Dan Brown
Inferno
„die ‚Anton‘“. Man habe den Anschluss Lübbe; 26 Euro
verloren. Und dann die Szene des Ab- 2 (–) Kerstin Gier
sturzes: Silber – Das erste Buch der Träume
FJB; 18,99 Euro
Wir aber waren abgehangen. 3 (2) Timur Vermes
Wir sprachen nicht viel miteinander. Er ist wieder da
Nur Beobachtung u. Dinge die zur Len- Eichborn; 19,33 Euro
kung des Flugzeuges im Blindflug unbe- 4 (19) Martin Suter
dingt erforderlich sind. Keiner dachte an Allmen und die Dahlien
einen schlechten Ausgang. Diogenes; 18,90 Euro
Ich sagte: „Hanne, geh’ lieber etwas 5 (3) Donna Leon
höher, damit wir keine Bodenberührung Tierische Profite
Diogenes; 22,90 Euro
bekommen“.
H.: „Ja, ist gut … geht in Ordnung“ 6 (4) Stephen King
Joyland
„Hanne, siehst Du was?“ Heyne; 19,99 Euro
„Nein, aber die Scheiben werden vom
7 (5) Nina George
Schnee verkleistert .. Mist!“ Das Lavendelzimmer
„Immer schön ruhig, fliege nur nach Knaur; 14,99 Euro
Instrumenten!“ 8 (8) Dora Heldt
„Ja“ Herzlichen Glückwunsch, Sie haben
Dieses „Ja“ von Hanne ist das Letzte gewonnen! dtv; 17,90 Euro
was mir von ihm in Erinnerung ist. 9 (6) Eugen Ruge
Wir müssen unmittelbar oder während Cabo de Gata
er „Ja“ sagte, dem Boden entgegengerast Rowohlt; 19,95 Euro
sein. Das nächste was mir wieder klar
bewusst wurde, war, dass Russ. Arbeiter
u. Frauen (auf unserem Gebiet) die mich
Hinreißende Novelle
wohl aus den Trümmern geborgen hatten, über den Rückzug
sich mit mir abgaben, das Blut aus dem eines erfolglosen
Gesicht spülten und mir auf eine fragende Schriftstellers in ein
Bewegung hin zu verstehen gaben, dass andalusisches Dorf
Hanne, mein lieber Hanne seinen Flug 10 (10) Tess Gerritsen
in die Ewigkeit bereits getan hatte. Abendruh
Limes; 19,99 Euro
Beuys erfüllte mit diesem Brief seine 11 (7) Anne Gesthuysen
vermeintliche Pflicht. Aber er traf eben Wir sind doch Schwestern
auch Vorsorge, selbst nicht zu schlecht Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro
wegzukommen. Geradezu heldenhaft be- 12 (11) Volker Klüpfel / Michael Kobr
sonnen wirkt er, wenn er dem anderen Herzblut
rät: „Immer schön ruhig.“ Panik? Oder Droemer; 19,99 Euro
sogar Todesangst, weil man den An- 13 (9) Martin Walker
schluss an die Staffel verloren hatte? Femme fatale
Diogenes; 22,90 Euro
Mögliche eigene Fehler? Fast wirkt er
wie ein bloßer Passagier und nicht wie 14 (13) Douglas Preston / Lincoln Child
Fear – Grab des Schreckens
der Mann, der für die Navigation zustän- Droemer; 19,99 Euro
dig war. 15 (12) John Green
Hans Laurinck wird bei ihm, einer- Das Schicksal ist ein mieser Verräter
seits, vom Flieger zum Überflieger. „Das Hanser; 16,90 Euro
Leben war für Hanne kein Problem. Wie 16 (14) Suzanne Collins
ein lachender Sieger stand er mitten Die Tribute von Panem –
drin.“ Andererseits skizziert Beuys ihn Gefährliche Liebe Oetinger; 18,95 Euro
mit seinen Worten als die ungestümere, 17 (15) Jussi Adler-Olsen
beinahe leichtfertige Figur. „Hanne hat Das Washington-Dekret
viel Pech gehabt in seiner Frontzeit, viel dtv; 19,90 Euro
Bruch, viel Ärger, den manchen andern 18 (16) Suzanne Collins
verbittert hätte. Hanne dagegen sang Die Tribute von Panem –
Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro
nach einem solchen schlechten Erlebnis
in vollster Überzeugung (auch von sei- 19 (17) Sabine Ebert
1813 – Kriegsfeuer
nem fliegerischen Können) genau so Knaur; 24,99 Euro
schön, so wunderschön (…) seine Lieb-
20 (18) Kerstin Gier
lingslieder.“ Saphirblau – Liebe geht durch
Was für ein verkürztes, auf den Krieg alle Zeiten Arena; 16,99 Euro
zugeschnittenes Leben. Wie Beuys war
122 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Laurinck ein Kind der Provinz, der eine
Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- stammte aus dem niederrheinischen Kle-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
ve, der andere aus einem Ort namens
Vreden im Münsterland. Sie wurden in
Sachbücher Zeiten der Diktatur erwachsen. Beide zog
1 (1) Hannes Jaenicke es von der Schule aus bald zur Luftwaffe,
Die große Volksverarsche
Gütersloher Verlagshaus; 17,99 Euro im Verständnis vieler damals eine echte
Heldenfabrik.
2 (2) Florian Illies
1913 – Der Sommer des Ahnte aber Laurinck, dass es ein ande-
Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro res Leben geben könnte? Er wollte sich
3 (5) Rolf Dobelli verloben, hatte offenbar die Fliegerei satt,
Die Kunst des klaren Denkens das geht wiederum aus einem Brief seiner
Hanser; 14,90 Euro Schwester hervor.
4 (8) Bronnie Ware Und Beuys? Bis Kriegsende sollte er
5 Dinge, die noch Schlachten von Mann zu Mann er-
Sterbende am leben. Fürchterliche Gemetzel müssen
meisten bereuen das gewesen sein. Erzählt hat er davon
Arkana; 19,99 Euro
später nie, nur allgemein von der „Schei-
ße“, in der man als Soldat stand, und dass
Was im Leben wirklich
wichtig ist: Die australische es moralisch richtig gewesen sei mitzu-
Krankenschwester hat kämpfen.
jahrelang todgeweihten In der Fernsehserie „Unsere Mütter, un-
Patienten zugehört sere Väter“ werden die Geschichten die-
5 (4) Dieter Nuhr ser Generation erzählt, zu der auch Beuys
Das Geheimnis des perfekten Tages gehörte. Sie handeln von jungen Leuten,
Bastei Lübbe; 14,99 Euro von denen viele verführt und dann ver-
6 (3) Richard David Precht heizt wurden und die später nicht mehr
Anna, die Schule und der liebe Gott dazu fähig waren, ein Verhältnis zu sich
Goldmann; 19,99 Euro und ihrer Schuld zu entwickeln.
7 (6)Meike Winnemuth Der Brief aus dem Jahr 1944 liest sich,
Das große Los Knaus; 19,99 Euro als wäre Beuys eine dieser Figuren, von
8 (12) Guillem Balagué denen die Serie erzählt. Ein Verführter,
Pep Guardiola der ein Held sein wollte. Er wurde es, aber
C. Bertelsmann; 19,99 Euro
erst als Superstar der modernen Kunst,
9 (7) Eben Alexander und ein solcher wurde er eben auch, weil
Blick in die Ewigkeit
Ansata; 19,99 Euro
er seine Vergangenheit im Krieg und ins-
besondere auf der Krim mythologisierte.
10 (9)Dirk Müller
Showdown Droemer; 19,99 Euro Sich vom „Funker“ zum „Sturzkampfflie-
ger“ erhob, zum Opfer eines Abschusses,
11 (10) Rolf Dobelli
Die Kunst des klugen Handelns obwohl er wohl wegen schlechten Wetters
Hanser; 14,90 Euro vom Himmel fiel. Auch sammelten ihn
12 (13) Margot Käßmann keine schamanischen Tataren auf, son-
Mehr als Ja und Amen dern laut diesem Brief russische Arbeiter.
Adeo; 17,99 Euro Und während Beuys Teil der Auf-
13 (11) Andreas Englisch bruchsbewegung in der Bundesrepublik
Franziskus – Zeichen der Hoffnung wurde, so jedenfalls schildert es der Autor
C. Bertelsmann; 17,99 Euro Hans Peter Riegel in seiner vor kurzem
14 (16) Frank Schirrmacher veröffentlichten Beuys-Biografie, blieb er
Ego – Das Spiel des Lebens doch gleichzeitig ein gestriger Geist, der
Blessing; 19,99 Euro
sich nicht wirklich von seiner frühen
15 (14) Helmut Schmidt Begeisterung für die völkische Ideologie
Ein letzter Besuch
Siedler; 19,99 Euro
lösen konnte. Beuys nahm an Treffen al-
ter Kameraden teil, suchte die Nähe zu
16 (–) Markus Gabriel
Warum es die Welt nicht gibt ehemaligen Nazis, wie Biograf Riegel
Ullstein; 18 Euro nachweist. Noch 1980 bekannte er, dass
17 (–) Rhonda Byrne er sich einst zur Hitlerarmee gemeldet
The Secret – Das Geheimnis habe, sei einem „Gefühl der Zugehörig-
Arkana; 16,95 Euro keit und Solidarität mit meinen Alters-
18 (–)Harald Welzer genossen“ zuzuschreiben gewesen.
Selbst denken – Eine Anleitung zum Als Künstler, als Professor stand Beuys
Widerstand S. Fischer; 19,99 Euro nicht mehr nur am Rand wie auf dem
19 (17) Egon Bahr Foto von der Krim. Vielmehr wurde er
„Das musst du erzählen“ – zum Mittelpunkt einer neuen Avantgarde.
Erinnerungen an Willy Brandt Er fühlte sich als Auserwählter, und ir-
Propyläen; 19,99 Euro
gendwann nahmen ihn auch die anderen
20 (15) Jürgen von der Lippe / so wahr. Doch dieser Brief zeigt Beuys
Gaby Sonnenberg
Der Krankentröster auf jeden Fall angepasster, durchschnitt-
Knaus; 16,99 Euro licher, kleiner, als er sich später selbst hat
sehen wollen. ULRIKE KNÖFEL

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 123
Kultur

#Neuland
Der HipHopper Jay-Z verschenkt sein neues Album –
POPKRITIK:
finanziert wird die Aktion von einem koreanischen Konzern.

D
rei Minuten dauerte der Werbe- der ein ganzes Album finanziert, so ständig auf den Fuß treten, so gequengelt
spot, der am 16. Juni in der Halb- etwas gab es noch nie in der Geschichte singt er bei diesem Gastauftritt: Das ist
zeitpause des Spiels Miami Heat des Pop. HipHop als gesellschaftlicher Kitt.
gegen San Antonio Spurs lief, es war Das Ganze ist auch der Versuch von Längst geht es nicht mehr um Auf-
eines der Basketball-Finalspiele dieser Samsung, Apple im Kampf um Markt- stieg oder Emanzipation bei dieser
Saison, 16 Millionen Fernsehzuschauer anteile direkt anzugreifen. „Wir müssen Musik, es geht um Macht und die Frage,
sahen zu – und als der Spot vorbei war, neue Regeln definieren“, das hat Jay-Z wie man sie am besten absichert: Da
dessen Ausstrahlung allein Millionen in dem Fernsehspot auch gesagt, denn fiepst und piepst es, zu breitbeinig-
Dollar kostete, hatte der Rapper Jay-Z „das Internet, das ist der Wilde Westen, hüftsteifen Beats rappt Jay-Z über Pi-
gerade den digitalen Kapitalismus neu der Wilde, Wilde Westen“. casso und Jeff Koons und die Art Basel,
erfunden. Aber so klug und smart der Spot auch über seine schmutzige Vergangenheit
Der Spot selbst ist in drei Akte unter- ist, das Album selbst zeigt nur, dass es und die Schönheit seines Mercedes
teilt: Der erste Akt beeindruckt vor im HipHop längst nicht mehr um die heute, über Nicholas Brody aus „Home-
allem dadurch, wie hier land“, der sich fremd
vor aller Augen Geld im eigenen Land fühlt,
verbrannt, also Sende- und immer wieder da-
zeit verschwendet wird. zwischen stöhnt es: ooh,
Schaut her, sagt Jay-Z, ooh, ooh.
während er mit seinen Das ist HipHop ohne
Freunden, den Produzen- Angstmacherei, eher
ten Rick Rubin und Phar- Versöhnungsangebot als
rell Williams, im Studio Triumphgeste, das ist
sitzt und über das Leben HipHop, der Tom Ford
philosophiert. „Weißt du“, auf Concorde reimt. Der
sagt Jay-Z und malt seine Werbespot und die Ver-
Gedanken mit den Hän- kaufsstrategie dagegen
den in die Luft, „es geht haben die Kraft von
um diese Dualität, wie Kunstwerken eigenen
man den Weg findet in Rangs, sie betreten
FREDERIC DUGIT / PICTURE ALLIANCE / DPA

seinem Leben, mit all sei- #Neuland, es sind tat-


nen Siegen und Nieder- sächlich Innovationen ei-
lagen, das ganze Ding, nes digitalen und kultu-
und dabei man selbst rell codierten Kapitalis-
bleibt.“ mus.
Im zweiten Akt dann Und so zeigt dieses
sagt Jay-Z: Schaut her, Pop-Paket „Magna Carta
so arbeite ich, das sind Holy Grail“ sehr gut, wie
meine Goldketten, das die Verhältnisse 2013 aus-
sind meine Bässe, ich bin Rapper Jay-Z: Tom Ford reimt sich auf Concorde sehen.
der bessere Businessman, HipHop ist heute ein
also bin ich auch der bes- Spiel, das derjenige ge-
sere Rapper. winnt, der am besten
Und im dritten Akt skizziert Jay-Z sei- Musik, die Beats und die Reime geht: Ego, Sex und Sehnsüchte in Geld und
nen Plan: Schaut her, sagt er, so definiere „Magna Carta Holy Grail“ heißt das Macht verwandelt.
ich die Regeln neu. „Ich will der Welt Werk, das am 4. Juli erstmals für die In seinem früheren Leben mag Jay-Z
mein Album geben, und dann können Samsung-Kunden zu hören war – es ist tatsächlich ein Drogen-Pusher aus dem
alle es sich teilen.“ Musik, die sich anhört, als würde ein Star Ghetto gewesen sein. Heute ist er mit
Eine Million Besitzer eines Samsung- abstürzen vom Empire State Building, Beyoncé verheiratet und lässt sich mit
Smartphones, das ist die Botschaft des ohne je unten anzukommen. Präsident Obama fotografieren.
Spots, werden sein neues Album über Der Heilige Gral, die Magna Carta, der Natürlich profitiert Obama heute von
eine App bekommen, umsonst, und dies amerikanische Unabhängigkeitstag – so einem Foto und nicht Jay-Z. Der
Tage vor dem Rest der Welt. man wüsste wirklich gern, was Jay-Z der Präsident ist nicht mehr das, was er mal
„Great“, sagt im Spot der weise Rick Welt zu sagen hat außer: Größer geht versprach, er hat graue Haare darüber
Rubin mit seinem Rauschebart. „Beau- es nicht. bekommen, dass Guantanamo immer
tiful.“ Es beginnt weinerlich. Das klingt wie noch nicht geschlossen ist.
Samsung hat Jay-Z dafür fünf Dollar Elton John, das klingt, als würde Kurt Jay-Z hat die Telefonnummer des
pro App bezahlt. Fünf Millionen Dollar Cobain kurz aus dem Grab auferstehen, Präsidenten, er hat das Spiel schon längst
auf einen Schlag von einem Konzern, als würde jemand Justin Timberlake gewonnen. GEORG DIEZ

124 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Trends Medien

KONZE RNE

„Opfer des
eigenen Erfolgs“
Götz Mäuser, 50, Mana-
ger beim Investor Per-
mira, über den Ausstieg
aus dem TV-Konzern
ProSiebenSat.1

THOMAS LOHNES / GETTY IMAGES


SPIEGEL: 2006 übernahmen die Private-
Equity-Gesellschaften Permira und
KKR die Mehrheit am TV-Konzern Pro-
SiebenSat.1, in den nächsten Monaten
wollen Sie Ihre Anteile verkaufen. Hat ProSieben-Show „Germany’s Next Topmodel“
sich das Investment gelohnt?
Mäuser: Es war auf jeden Fall eine span-
nende Zeit, in der uns wenig erspart erzielen, die Entwicklung des Aktien- Lage wäre. Und für globale Medien-
blieb. Da gab es eine millionenschwere kurses gibt uns zurzeit recht. Rekord- konzerne steht die Digitalisierung an
Kartellstrafe, die Finanzkrise, einen verdächtig wird die Rendite wegen der erster Stelle, nicht Internationalisierung,
Wechsel an der Führungsspitze und eine Finanzkrise aber kaum werden. schon gar nicht in Europa.
strategische Neuorientierung. SPIEGEL: Alle Medienkonzerne haben SPIEGEL: Auf der Hauptversammlung am
SPIEGEL: Sie zahlten damals 28 Euro pro schon abgewinkt, von Time Warner bis 23. Juli wollen Sie die Aktiengattungen
Aktie, jetzt liegt der Kurs bei rund 34 zum Axel Springer Verlag. Warum inter- vereinheitlichen. Das kostet Sie Ihre
Euro. Zwischenzeitlich haben Sie über essiert sich keiner für eine Mehrheit an bisherige Stimmenmehrheit. Warum ge-
700 Millionen Euro Dividende kas- ProSiebenSat.1? ben Sie dieses Pfund aus der Hand?
siert und Ihre Beteiligung am TV-Kon- Mäuser: Wir sind ein Stück weit Opfer Mäuser: Ein strategischer Käufer ist
zern SBS an ProSiebenSat.1 verkauft. des eigenen Erfolgs. Die Marktkapita- momentan nicht in Sicht, die Mehrheit
Wie hoch ist unterm Strich Ihre Ren- lisierung liegt derzeit bei mehr als sie- bringt uns daher nicht mehr Geld ein,
dite? ben Milliarden Euro, die müsste ein als die Börse uns bietet. Wir sind des-
Mäuser: Abgerechnet wird zum Schluss. Käufer komplett finanzieren können, halb zu dem Schluss gekommen, dass
Bislang ist aber bei unseren Geldgebern weil er zu einem Übernahmeangebot wir den größten Wert für unsere Inves-
kein Cent angekommen, alles ist in Zins an alle Aktionäre verpflichtet ist, sobald toren wohl mit einem Ausstieg über die
und Tilgung unserer Kredite geflossen. er mehr als 30 Prozent der Aktien er- Börse erzielen. Mit der Aktienumwand-
Wir sind zuversichtlich, dass wir am wirbt. Ich sehe zurzeit kein deutsches lung werden unsere Stammaktien nun
Ende ein zufriedenstellendes Ergebnis Medienunternehmen, das dazu in der zum Handel zugelassen.

KINO
die Münchner Filmproduktion „Fireapple“ verkauft. Deren
Co-Chef Sebastian Bandel wirkte bereits an Erfolgsproduk-
tionen wie „Wer früher stirbt ist länger tot“ mit und will das
Aldi-Buch wird Spielfilm Aldi-Buch „nicht so verfilmen, wie man es erwarten würde,
sondern den Zuschauer überraschen“. Die Besetzung steht
Die Skurrilitäten und Abgründe beim Discounter Aldi, die noch nicht fest. Straub sorgte voriges Jahr mit seinen Innen-
der Ex-Aldi-Manager Andreas Straub im Bestseller „Aldi – ansichten aus dem Aldi-Imperium für Aufsehen (SPIEGEL
Einfach billig“ beschreibt, sollen jetzt auch Publikum ins 18/2012); die fragwürdige Überwachung der Mitarbeiter schil-
Kino locken. Der Rowohlt-Verlag hat die Optionsrechte an derte er genauso wie den Perfektionswahn des Managements.

RTL
Show“) dafür vor. Der Wunsch des Altstars
Schöneberger, Gottschalk ging bekanntlich nicht in Erfüllung. Statt-
dessen sind die beiden nun in einer gemein-
Gottschalk-Jauch-Show mit samen Show zu sehen. Im September soll

Schöneberger die 39-Jährige die RTL-Sendung „Die 2 –


Gottschalk & Jauch gegen alle“ moderie-
JENS GYARMATY / VISUM

ren, in der Gottschalk, 63, und Günther


Als die Nation vor eineinhalb Jahren über Jauch, 56, gegen Kandidaten antreten.
seine Nachfolge bei „Wetten, dass ..?“ de- Schöneberger komme ihm in ihrer Art sehr
battierte, schlug Thomas Gottschalk öffent- nahe, hatte Gottschalk 2011 erklärt: Sie sei
lich Barbara Schöneberger („NDR Talk blond, hübsch, furchtlos und schnell.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 125
Medien

FRANK MÜLLER / ACTION PRESS (L.); JULIA VON VIETINGHOFF / RBB (M.)
„Tatort“ Münster

Szenen aus deutschen Krimi-Reihen: „Mit dem guten Gefühl entlassen, dass es noch so etwas wie Gerechtigkeit gibt“

T V- U N T E R H A LT U N G

Das Grauen am Abend


In Fernsehdeutschland wird gemordet, entführt und erpresst wie noch nie,
vor allem die öffentlich-rechtlichen Anstalten planen ständig
neue Krimis. Nun aber wächst die Kritik an der erfolgreichen Monokultur.

D
er deutsche Fernsehzuschauer gramm wird immer ein alter „Tatort“ Ermittlern. Im Herbst holt der Sender
muss ein Scheusal sein. Sonntag oder „Polizeiruf 110“ wiederholt. Das dann zum großen Schlag gegen die Orga-
für Sonntag fordert er ein Men- Fernsehprogramm liest sich wie der Ge- nisierte Kriminalität aus: Fünf Teams sei-
schenopfer: erschossen, stranguliert, er- genentwurf zur im Mai veröffentlichten ner „Soko“-Reihe sollen über fünf Folgen
tränkt, vergiftet, die Treppe hinunter- Kriminalstatistik, die bundesweit einen gemeinsam einen Fall lösen.
geschubst, in den Selbstmord getrieben, Rückgang der Morde und Körperverlet- Deutschland, deine Detektive. 37 Pro-
erfroren oder verbrannt. Vor einigen Wo- zungen verzeichnet. zent jener Zeit, die TV-Zuschauer im ver-
chen, im „Tatort“ aus Frankfurt am Main, Vor allem die öffentlich-rechtlichen gangenen Jahr mit Filmen oder Serien
wurden dem Mordopfer sogar die Zehen- Sender planen mit Wollust ständig neue verbrachten, entfielen auf Krimis. Die
nägel ausgerissen. Neun Millionen Men- Straftaten. Zu deren Aufklärung lässt die zehn meistgesehenen Spielfilme waren
schen sahen zu; womöglich schauten ARD allein in diesem Jahr fünf neue „Tat- allesamt „Tatorte“. Lässt man die Cham-
manche im entscheidenden Moment aber ort“-Teams antreten, 21 Städte und Re- pions League außen vor, war im ersten
auch weg. gionen werden dann mit Ermittlern be- Halbjahr 2013 die Sendung mit den meis-
Weil ein Verbrechen pro Woche den stückt sein, so viele wie noch nie und ten Zuschauern ein „Tatort“ mit dem Blö-
Zuschauer offenbar nicht befriedigt, wird vielleicht mehr, als der Reihe guttut. delduo aus Münster. Selbst die Wieder-
auch an allen anderen Tagen fröhlich ge- Das ZDF zieht nach; auf dem Filmfest holung eines Frankfurter Falls vom Vor-
tötet, wenigstens aber entführt oder er- München stellte es vorige Woche zwei jahr lockte am letzten Junisonntag mehr
presst. Cops von Rosenheim bis Hamburg Serien vor, eine mit Chiemsee-Krimis und Schaulustige an als die jüngste Ausgabe
ermitteln, und in irgendeinem dritten Pro- eine mit extrem abgehalfterten Münchner von „Wetten, dass ..?“.
126 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
MANJU SAWHNEY / ZDF

„Tatort“ Berlin „Bella Block“

Schwer zu sagen, ob es so viele Krimis geben. Die meisten sind mehr Heimatfilm menschlichen Psyche begründet als in
gibt, weil die Zuschauer sie so gern sehen. als Krimi, sie spielen auf dem Land und einer zerberstenden Gesellschaft: „Die
Oder ob so viele Menschen Krimis schau- sehen aus wie vom örtlichen Tourismus- Welt zerfällt zunehmend in ihre Einzel-
en, weil die Sender ihnen kaum noch an- verband in Auftrag gegeben. Ähnlich den teile. Politiker, Konzerne und Kranken-
dere Filme anbieten. „Rosenheim-Cops“ im ZDF, die seit Jah- kassen gehen nicht unbedingt wahrhaftig
Folgt man dem Göttinger Psychiater ren vor prächtiger Alpenkulisse ermitteln. mit uns um. Die Kommissare sind die Hel-
Borwin Bandelow, der zuletzt ein Buch Am Ende ist natürlich immer alles gut, den, die für den Einzelnen kämpfen und
über die Faszination von Verbrechern ge- so verlangt es die Serienlogik. Während den zerbrochenen Spiegel zusammenset-
schrieben hat, dann ist der Erfolg von Kri- laut Polizeilicher Kriminalstatistik rund zen. Ist der Fall gelöst, wird man mit dem
mis auf das primitive Angstsystem des 54 Prozent der Fälle gelöst werden, liegt guten Gefühl in die Woche entlassen, dass
Menschen zurückzuführen: „Dieses Sys- die Aufklärungsquote der TV-Ermittler es noch so etwas gibt wie Gerechtigkeit.“
tem unterscheidet nicht zwischen echter bei mindestens 99 Prozent. Manchmal aber gibt es diese Gerech-
Bedrohung und Fernsehen. Es denkt wirk- Liane Jessen, Fernsehfilmchefin des tigkeit nicht einmal mehr im Fernsehen.
lich, dass da etwas Schlimmes passiert.“ Hessischen Rundfunks, sieht den Erfolg Und dann?
Im Extremfall reagiert es mit Herzrasen von TV-Krimis denn auch weniger in der Das Bayerische Fernsehen hat jetzt ei-
oder nervösem Zittern. Zugleich, so Ban- nen Krimi produziert, der so gelungen
delow, wirke Angst aber anregend. Sonntagsritual ist, dass den Verantwortlichen in der
„Krimi schauen ist wie Achterbahn fah- Die erfolgreichsten Folgen des ARD-„Tatorts“ ARD ein wenig bange wird. Er heißt „Der
ren“, sagt Bandelow. Vor jeder Kurve habe 2013, Zuschauer in Millionen Tod macht Engel aus uns allen“.
man Angst, rausgeschleudert zu werden. Dieser „Polizeiruf 110“, der am kom-
Nach überstandenem Schreckensmoment „Summ, summ, summ“ (Münster) menden Sonntag im Ersten läuft, zeigt
werden eine Menge Glückshormone aus- 24. März 12,99 ein schmuddeliges, tristes München. Ein
geschüttet. „Die Angst zahlt sich aus. Spä- Transsexueller ist in Polizeigewahrsam
„Willkommen in Hamburg“ (Hamburg)
testens gegen 21.40 Uhr, wenn der Täter zu Tode gekommen. Kommissar Hanns
gefasst ist. Aber auch zwischendurch, 10. März 12,74 von Meuffels, gespielt von Matthias
nach einer Prügelei oder einer Verfol- „Trautes Heim“ (Köln) Brandt, muss gegen ein ganzes Revier er-
gungsjagd mit gutem Ausgang.“ mitteln. Die Polizisten dort sind ebenso
21. April 10,32
Damit das ständige Grauen auf Dauer hilflos wie gewalttätig, der Film selbst ist
nicht zu eintönig wird, reichern ARD und „Spiel auf Zeit“ (Stuttgart) gewaltig.
ZDF ihre Krimis gern mal mit Romantik 26. Mai 10,24 Er könnte Fernsehpreise gewinnen, für
oder Klamauk an. Seit anderthalb Jahren das Drehbuch, für die Regie, für den
gestaltet das Erste seine Vorabende mit „Kaltblütig“ (Ludwigshafen) Hauptdarsteller. Aber es kann gut sein,
sogenannten Schmunzelkrimis, deren Ti- 13. Januar 10,07 dass viele Zuschauer mit dem Film nichts
tel wie „Fuchs und Gans“ oder „Henker „Feuerteufel“ (Hamburg)
anfangen können. Eben weil er so gut ist.
& Richter“ bereits eine Ahnung von der Gut, das heißt in diesem Fall: mit
Art des dort vorherrschenden Humors 28. April 10,07 Quelle: ARD den Sehgewohnheiten brechend. Der Zu-
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schauer wird mit dem Grau- gleichen: Leichenfund, sieht
en alleingelassen. Hier sorgt schlimm aus; Ermittler/in be-
keine Kaffee kochende, Dia- sucht Frau, Freund, Chef,
lekt sprechende Sekretärin Nachbarn; ein paar ver-
für Geborgenheit. Hier kas- halten sich seltsam, alle hät-
pert niemand in der Patho- ten ein Motiv; zwei, drei
logie herum oder klopft Volten; vielleicht eine wei-
Sprüche an der Würstchen- tere Leiche; am Ende war’s
bude. Am Ende löst sich tatsächlich einer, meist der,
nichts in Wohlgefallen auf. der bei der ersten Befragung
Das Drehbuch für diese am wenigsten seltsam er-
Folge stammt von Günter schien.
Schütter, der schon für die Die Kritiker dieser Mono-
legendäre ARD-Reihe „Der kultur muss man nicht lange
Fahnder“ arbeitete. In den suchen, man findet sie im
neunziger Jahren schrieb er Herzen des Geschehens. „In-
das Buch zu „Frau Bu lacht“, zwischen gibt es so viele Kri-
der von Menschenhandel mis auf allen Kanälen, das
und Kindesmissbrauch er- sind ja gefühlt schon mehr,
zählt und vielen bis heute als es Verbrecher gibt“, be-
als bester „Tatort“ gilt. „Der klagte sich voriges Jahr Han-
Erfolg des Genres Krimi nelore Hoger, die seit fast 20
kommt uns Autoren zugute“, Jahren im ZDF als burschi-

CHRISTIAN RIEGER / ZDF


sagt Schütter. „So können kose Ermittlerin Bella Bock
wir Themen ins Fernsehen ihren Dienst tut.
schmuggeln, die uns am Her- Den Noch-„Tatort“-Kom-
zen liegen. Eine starke Mar- missar Joachim Król nervt
ke hilft uns.“ die Krimi-Flut Interviews
Die aus vier Fensehfilm- Szene aus der ZDF-Serie „Rosenheim-Cops“: Mehr Heimatfilm als Krimi zufolge ebenso wie den Re-
chefs bestehende Sichtungs- gisseur Christian Petzold
gruppe der ARD jedoch, die alle Filme „Tatort“ in seiner größten Krise. Immer („Yella“, „Barbara“). Selbst der ARD-Vor-
im Voraus begutachtet und eine Quoten- weniger Zuschauer wollten die großteils sitzende Lutz Marmor, der in Sachen Pro-
prognose wagt, sagt dem „Polizeiruf“ am gesellschaftskritischen Fälle sehen, den grammgestaltung ja mit am Drücker sitzt,
kommenden Sonntag ungefähr sieben Jungen galt der „Tatort“ ohnehin als räumte im Dezember dem SPIEGEL ge-
Millionen Zuschauer voraus. Was eigent- Abenteuer für Spießer. Die ARD reagier- genüber ein: „Wir müssen tatsächlich auf-
lich nicht schlecht ist für einen Fernseh- te, setzte junge Teams ein und produzier- passen, den Bogen nicht zu überspannen,
film, für die Erstausstrahlung eines Krimis te mehr Folgen. es kann auch zu viel werden.“
am Sonntag aber schon. Hatte es in den siebziger und achtziger Ähnlich sagt es ZDF-Fernsehfilmchef
Die vier Sichter hatten sogar befürch- Jahren nur zwölfmal pro Jahr einen Reinhold Elschot, der für die trutschigen
tet, dass der Jugendschutz eine Ausstrah- neuen „Tatort“ gegeben, steigerte man „Rosenheim-Cops“ ebenso verantwort-
lung um 20.15 Uhr verhindern würde, sich im Lauf der Jahre. Seit 2006 gibt es lich ist wie für die funkelnde Polizeireihe
weil der Film so hart ist. So wie bei jenem 35 Fälle pro Jahr, den „Polizeiruf“ nicht „Nachtschicht“: „Vielleicht übertreiben
„Polizeiruf“ mit Brandt, der im vorver- mitgezählt. Viele Kommissare sind alte wir es manchmal.“ Auch im eigenen Haus
gangenen Jahr erst nach 22 Uhr gesendet Bekannte. Die immer leicht sauertöp- müsse er sich bisweilen rechtfertigen für
werden durfte. Wenn sich das wiederholt fisch dreinschauende Lena Odenthal die Vielzahl an Krimis und Thrillern.
hätte, so die Befürchtung der ARD-Ver- „Aber wo viele Krimis sind, sind auch
antwortlichen, wäre es wohl schwierig viele gute.“
geworden, Brandt zu halten. Aber dann „Wir müssen tatsächlich Außerdem könne man mit diesem Gen-
wurde der Film doch für die Hauptsende- aufpassen, den Bogen re einfach wenig falsch machen – zumin-
zeit freigegeben. dest was den Erfolg angeht: „Selbst bei
Was die Reaktionen der Zuschauer auf nicht zu überspannen, es einem schlechten Krimi geht die Quote
diesen Film angeht, ist man beim Baye- nie ganz runter. Eine Grundzuschauer-
rischen Rundfunk auf alles gefasst. kann auch zu viel werden.“ schaft ist immer da. Bei schlechten Ko-
Spätestens seit dem letzten BR-„Tatort“. mödien dagegen verliert man die Leute
Da scheuchte Kommissar Franz Leit- ebenso wie die Kumpels aus Köln oder sofort. Humor ist bei jedem unterschied-
mayer einen Verdächtigen durch den München. lich ausgeprägt. Spannung dagegen er-
Wald auf eine Straße, wo er von einem Heute ist der „Tatort“ das, was früher leben wir alle gleich.“
Auto erfasst und getötet wurde. War er „Wetten, dass ..?“ war: ein Wochenend- In jüngster Zeit beobachtet Elschot,
der gesuchte Mörder? Oder hatte er ritual. Der Sonntag ist der neue Samstag, dass besonders schaurige Filme gerade
andere Gründe, vor einem Polizisten nur dass man die Kinder vielleicht schon bei Frauen gut ankommen.
Reißaus zu nehmen? Das blieb unklar. etwas früher ins Bett schickt. Die erste Folge der gepriesenen Reihe
Und sorgte für Zuschauerkritik an einem Ein guter „Tatort“ oder „Polizeiruf“ „Verbrechen“, die das Zweite im Frühjahr
Film, der aus der Masse herausragt, weil birgt mehr politischen Stoff als der nach- sonntags um 22 Uhr ausstrahlte, hatte auf-
er Regeln bricht und verstört, und das folgende Talk von Günther Jauch, was fallend viele Zuschauerinnen. Dabei war
auf der Deutschen heiligstem Programm- über Jauch genauso viel aussagt wie über der Inhalt alles andere als frauenfreund-
platz. den Krimi. lich. Es ging um einen Mann, der sich
Dabei stand der Sonntagskrimi bei wei- Oft aber sind die sonntäglichen Ermitt- nach 40 Jahren Ehehölle mit Hilfe einer
tem nicht immer so gut da wie heute. lungen einfach nur gaga. Oder, noch Axt seiner Gattin entledigt.
Mitte der neunziger Jahre steckte der schlimmer, eine Wiederkehr des Immer- ALEXANDER KÜHN, MARCEL ROSENBACH

128 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Medien

Organisationen und Graswurzelbewegun- Schönheitskönigin von Hawaii: Sie setzte


INTERNET gen werden. Bis dahin ist es allerdings sich bei den Wahlen zum Landesparla-
noch ein weiter Weg, auch wenn Nation- ment als Republikanerin gegen einen fa-

SAP für Politiker Builder seit der Gründung vor knapp vorisierten demokratischen Kandidaten
zwei Jahren schnell wächst: 2500 Kunden durch.
hat das Software-Unternehmen mittler- Im kanadischen Bundesstaat Ontario
Ein amerikanischer Gründer hat weile gewinnen können. wurde in diesem Jahr die erste offen les-
eine Plattform entwickelt, Darunter sind Bürgerbewegungen aller bische Regierungschefin gewählt. Hinter-
mit der sich politische Wahlkämpfe Art, etwa gegen Mobbing oder für mehr her schwärmte ihr Wahlkampfmanager
Radwege, wohltätige Organisationen, die in Fernsehinterviews, dass die NationBuil-
und Bürgerbewegungen Essensausgaben und Spendenaufrufe or- der-Software mit zum Erfolg beigetragen
erfolgreicher organisieren lassen. ganisieren, oder Künstler, die ihre Fan- habe. „Das war natürlich super für uns“,
Basis und Veranstaltungen verwalten. Die sagt Gilliam. Es gibt für das Unternehmen

H
ätte Jim Gilliam auf die Ärzte ge- Kosten für den Software-Service richten keine bessere und billigere Werbung als
hört, wäre er wahrscheinlich sich nach der Zahl der in der jeweiligen erfolgreiche Politiker und begeisterte
schon lange tot. Seine Lunge war Datenbank erfassten Anhänger: Große Wahlkampfmanager.
ruiniert von wiederholter Chemotherapie Organisationen mit einer Million Adres- Gilliam, der im Silicon Valley auf-
und Bestrahlung, nur eine Transplanta- sen zahlen rund 1000 Dollar im Monat, wuchs, arbeitete früher unter anderem
tion gleich beider Lungenflügel konnte kleine Bürgerbewegungen dagegen nur bei der legendären Suchmaschine Lycos.
ihn retten. Doch die Chirurgen des Uni- 20 Dollar. Für NationBuilder konnte er in kurzer
versitätskrankenhauses von Los Angeles Vor allem aber hilft NationBuilder Par- Zeit nicht nur rund 15 Millionen Dollar
(UCLA) lehnten ab: Sein Fall sei aussichts- teien und Politikern, ihre Anhängerschaft Wagniskapital, sondern auch namhafte
los, das Risiko, dass er während der zu mobilisieren. In den USA wurde die Unterstützer gewinnen, beispielsweise
schwierigen Operation sterben würde, sei Software inzwischen bei Hunderten lo- Facebook-Mitgründer Chris Hughes, der
in seinem Zustand zu groß. kalen und regionalen Wahlkämpfen ein- 2008 die Online-Wahlkampagne von US-
Das war vor sechs Jahren. Gilliam, 36, gesetzt. Der erste Kunde aber kam aus Präsident Barack Obama geleitet hatte.
hat überlebt, weil er selbst Widerstand Großbritannien: Die Scottish National Und Sean Parker, Gründungspräsident
über das Internet organisierte. Der stu- Party nutzte NationBuilder und gewann von Facebook, sitzt heute im Verwal-
dierte Computerwissenschaftler baute im Mai 2011 völlig unerwartet die Mehr- tungsrat von NationBuilder.
eine Website mit dem Titel „UCLA-Chir- heit im schottischen Parlament. Nun strebt Gilliam die internationale
urgen sind Feiglinge“ und drohte damit, Inzwischen hat Gilliam zahlreiche Expansion an. Ziel sind vor allem Länder
sie online zu stellen. Gleichzeitig bom- Beispiele von Politikern parat, die mit mit traditionell starken Bürgerbewegun-
bardierten Freunde und Bekannte das NationBuilder im Wahlkampf Erfolg gen und gleichzeitigem technologischem
Krankenhaus mit E-Mails. Es dauerte hatten – etwa der neue Bürgermeister Nachholbedarf. Ganz oben auf der Liste:
nicht lange, bis Gilliam einen Anruf bekam: von Los Angeles oder die ehemalige Deutschland. THOMAS SCHULZ
Die Chirurgen seien nun doch zu einer
Operation bereit. Der Eingriff glückte.
Die erfolgreiche Kampagne hatte für
Gilliam neben der Rettung seines eigenen
Lebens noch einen zusätzlichen Lern-
effekt: wie schnell, effektiv und billig sich
über das Internet eine Graswurzelbewe-
gung organisieren lässt.
Inzwischen hat Gilliam aus dieser Ein-
sicht ein schnell wachsendes Internet-
unternehmen gemacht: NationBuilder lie-
fert Politikern, wohltätigen Organisatio-
nen und Bürgerbewegungen ein einfach
zu bedienendes Software-Paket, um alle
Arbeitsbereiche besser und erfolgreicher
zu organisieren.
Gilliam, groß, schlaksig, Glatze, will
zeigen, dass man heutzutage überlegene
Technik einsetzen muss, um Wahlen zu
gewinnen oder politische Bewegungen
zum Erfolg zu führen.
Vordergründig bietet NationBuilder sei-
nen Nutzern eine relativ simple Internet-
präsenz. Dahinter verbergen sich jedoch
eine ganze Reihe komplexer Werkzeuge:
So gibt es Module, um politische Anhän-
ger und ehrenamtliche Helfer zu rekru-
MAX S. GERBER / DER SPIEGEL

tieren und zu managen, Veranstaltungen


zu organisieren und Spenden einzuneh-
men und zu verwalten. Alle Daten sind
dabei miteinander verknüpft und durch-
suchbar.
Gilliam will mit seinem neuen Unter-
nehmen zu einer Art SAP für politische Software-Entwickler Gilliam: Bessere Ergebnisse dank überlegener Technik
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sechsmal UniSPIEGEL
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130 D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3
Register
GESTORBEN Erich Greipl, 72. Er
hat seine Pflicht er-
Chantal de Freitas, 45. Vorigen Sommer füllt, bis zum Schluss: SONNTAG, 14. 7., 22.25 – 23.10 UHR, RTL
gab sie mit ihrer neuen Band The Ste- Nur wenige Tage vor SPIEGEL TV MAGAZIN
wardesses ein Geheimkonzert auf einer seinem Tod regelte

FRANK LEONHARDT / DPA


Barkasse im Hamburger Hafen. Erst zwei er als Testamentsvoll- Leben mit dem Tod – Der deutsche
Jahre zuvor hatte Chantal de Freitas mit strecker des Metro- Umgang mit dem Ende
einem Album ihr Debüt als Sängerin ge- Gründers Otto Beis- Nichts ist so sicher wie die Tatsache,
geben; die Lieder hatte sie selbst geschrie- heim noch die letzten dass wir sterben werden, und doch
ben. Eine neue CD war in Arbeit. Die ge- Details für den Nach- weiß niemand, was nach dem Tod
bürtige Kielerin verbrachte einen Großteil lass seines Freundes. kommt. Die meisten Religionen geben
ihrer Kindheit in New York. Sie besuchte Über Jahre war Greipl, Metro-Aufsichts- vor, es zu wissen, und zwei Drittel aller
die Hochschule für Musik und Darstellen- rat, promovierter Betriebswirt und Hono- Deutschen glauben, dass dem Diesseits
de Kunst in Frankfurt am Main sowie die rarprofessor, der engste Vertraute des
Circle in the Square Theatre School am kinderlosen Milliardärs. Der stets im Zwei-
Broadway. Fernsehzuschauer kannten sie reiher und oft mit Einstecktuch gekleide-
durch Rollen etwa im „Tatort“ und bei te Greipl galt als die graue Eminenz des
„Stubbe“ sowie als Kommissarin Carol deutschen Einzelhandels, als versierter
Reeding im „Polizeiruf 110“. Bei Dreh- Manager und Branchenkenner. In der Sa-
arbeiten lernte sie den Schauspieler Kai che bisweilen hart und eindeutig, war ihm

SPIEGEL TV
Wiesinger kennen, mit dem sie zwei Kin- immer wichtig, anständig miteinander um-
zugehen. In der Öffentlichkeit sah man
ihn selten, dabei war der Bayer bestens Moderatorin Maria Gresz
vernetzt. Neben Ehrenämtern und Auf-
sichtsratsmandaten hatte er Positionen in ein Jenseits folge. Doch über das Ster-
Wirtschaftsverbänden inne. Erich Greipl ben spricht kaum jemand. In Deutsch-
starb am 2. Juli in München an Krebs. land ist der Tod ein Tabu. Spiegel TV
MARCUS BRANDT / DPA

hat mit Menschen gesprochen, die ster-


Douglas Engelbart, 88. Als Computer ben, mit Hinterbliebenen, die trauern,
noch tonnenschwere Kolosse für Spezia- und mit Bestattern, die mit dem Tod
listen waren, blickte der kalifornische In- Geld verdienen.
genieur schon Jahrzehnte in die Zukunft:
Warum sollte nicht jedermann diese Ma-
der hat und 14 Jahre lang verheiratet war. schinen so umstandslos und intuitiv be- SAMSTAG, 13. 7., 20.15 – 0.20 UHR, VOX
In mehreren Filmen standen sie gemein- dienen können wie ein Auto? Er probierte DIE GROSSE
sam vor der Kamera. 2012 trennte sich das es mit einer Kniesteuerung unter der SAMSTAGS-DOKUMENTATION
Paar. Chantal de Freitas starb am 2. Juli. Tischplatte und einem Helm, der die Be-
wegungen des Kopfs registrierte. Am bes- Grenzgänger –
Ulrich Matschoss, 96. Das schönste Ge- ten aber machte sich ein kleiner Kasten Die Sucht nach Adrenalin
schenk zu seinem 80. Geburtstag bekam mit zwei Rädchen, den alle bald „Maus“ Sie sind auf der ständigen Suche nach
er aus Hollywood: eine Rolle als deut- nannten. Im Dezember 1968 stellte En- Herausforderungen, um ihre Grenzen
scher Industrieller in dem Film „Red Cor- gelbart seine Erfindung vor – und bei der auszuloten. Beflügelt vom Adrenalin-
ner“ an der Seite von Richard Gere. Seine Gelegenheit auch gleich eine grafische Be- rausch, nehmen sie hohe Risiken in
beste Zeit als Serienstar im deutschen nutzeroberfläche mit Fenstern, vernetzte Kauf. Ob in der Luft, am Boden oder
Fernsehen lag da schon lange zurück: In Computer und einiges mehr. Das Ver- im Wasser: Extremsportler lieben den
den Achtzigern gab er im Duisburger markten war allerdings nicht seine Stärke, Nervenkitzel. Doch damit sind sie nicht
„Tatort“ den Kriminaloberrat Karl Königs- reich wurden andere. Douglas Engelbart allein: Die Suche nach dem besonderen
berg. „Klops“ verzweifelte regelmäßig an starb am 2. Juli in Atherton, Kalifornien. Kick hat Konjunktur. Viele entdecken
den Alleingängen seines Untergebenen
„Schimanski“ (Götz George). Matschoss, Erich Kiesl, 83. „I mog d’ Leit und d’ Leit
der sich schon während seiner Kriegs- mög’n mi“, war der Lieblingsspruch des
gefangenschaft in Kanada schauspiele- CSU-Politikers. Zunächst schien ihm der
risch erprobt hatte, wirkte auch in den Erfolg auch recht zu geben: Der gebürtige
TV-Serien „Ein Fall für zwei“ und „Hallo, Pfarrkirchener wurde 1966 und 1974 in
Onkel Doc!“ mit. Der aus Schlesien den Landtag gewählt; 1978 zum Ober-
stammende Schau- bürgermeister von München. In seiner
spieler war zunächst Amtszeit stieß „Propeller-Erich“– als In- Extremsportler
am Theater aktiv, vor nenstaatssekretär flog er gern mit dem
allem am Hamburger Hubschrauber – auf viel Kritik, etwa weil ihre Lust am Limit. Extremsport ist zu
Thalia. 2007 hatte er er Straßenmusiker und Bettler aus den einer Art Massenbewegung geworden.
in dem Film „Die Fußgängerzonen entfernen ließ. In den Grenzerfahrungen zwischen Kalkül und
Entführung“ seinen Achtzigern geriet er wegen der „Bauland- Wahnsinn – SPIEGEL TV porträtiert in
letzten Auftritt. Ul- Affäre“ und später aufgrund dubioser der vierstündigen Dokumentation wag-
rich Matschoss starb Grundstücksgeschäfte ins Gerede; er halsige Abenteurer und moderne Grenz-
am 1. Juli in seinem wurde wegen einer Falschausage zu einer gänger, die das kalkulierte Risiko ein-
TEUTOPRESS

Wohnort in der Lüne- Bewährungsstrafe verurteilt. Erich Kiesl gehen, nicht aus Todessehnsucht, son-
burger Heide. starb am 4. Juli in München. dern, wie sie sagen, aus Lust am Leben.
D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 131
Personalien

Gequält geschmeichelt Felix Magath, 59, Fußballtrainer


ohne Verein, sammelt derzeit außer-
Der britische Premierminister David Cameron, halb der Bundesliga-Tabelle fleißig
46, bekam Anfang vergangener Woche un- Punkte. Am Donnerstag vergange-
willkommenen Zuspruch. Am letzten Tag sei- ner Woche lehnte das Münchner
ner Zentralasienreise traf er in Kasachstan Amtsgericht Magaths Einspruch ge-
Präsident Nursultan Nasarbajew, 73, um ein gen einen Bußgeldbescheid über
Handelsabkommen mit dem autoritären Herr- 50 Euro und einen Strafpunkt im
scher zu unterzeichnen. Während der Presse- Flensburger Verkehrszentralregister
konferenz, bei der die Politiker eine „strate- ab. Der Ex-Trainer des FC Bayern
gische Partnerschaft“ der beiden Länder ver- München war im Februar von der
kündeten, brachte Nasarbajew seinen Gast Polizei aus dem Verkehr gezogen
mit Schmeicheleien in Verlegenheit. Er habe worden, weil er mit Handy am Ohr
Cameron beobachtet, sagte der Autokrat, und hinterm Steuer gesessen haben soll.
bewundere den Engländer für „die Art, wie Bei der Verhandlung stellte sich her-
er die Interessen der britischen Bürger in aller aus, dass die in München begangene
Welt“ vertrete. „Ich würde ihn wählen“, fügte Ordnungswidrigkeit nicht Magaths
der kasachische Politiker hinzu, dessen Sicher- einzige Verkehrssünde gewesen ist.

LEON NEAL / GETTY IMAGES


heitskräfte immer wieder der Verletzung von Schon mehrmals hat Magath wegen
Menschenrechten beschuldigt werden. Came- Missachtung der Verkehrsregeln
ron lächelte gequält und sagte: „Das wäre Fahrverbot erhalten. Mehrere Minu-
eine Stimme, dann brauche ich nur noch wei- ten war der Richter damit beschäf-
tere 20 Millionen, und ich bin im Geschäft.“ tigt, die Verstöße der vergangenen
Jahre – meist überhöhte Geschwin-
digkeit – aufzuzählen. Magath war
nicht vor Gericht erschienen, er ließ
Begehrter Mann die zur Hamburger Bauer Media Group sich von einem Anwalt vertreten.
gehörende Zeitschrift „Tainy Swjosd“
Kaum hat er seine Scheidung angekün- („Geheimnisse der Stars“) auf ihrem Titel- George W. Bush, 67, ehemaliger
digt, avanciert der russische Präsident blatt, das von einem halbnackten Putin Präsident der Vereinigten Staaten,
Wladimir Putin, 61, zum „begehrtesten dominiert wird. Zum Beleg dieser These reagierte zu Amtszeiten sehr emp-
Mann des Landes“. So verkündet es zitiert das Moskauer Blatt die Schlager- findlich auf Kritik von seiner Ehe-
sängerin Kristina Orbakaite: frau. Das legt jedenfalls die Anekdo-
„Jede würde Putin heiraten.“ te nahe, die Laura Bush jetzt bei
Eine Woche zuvor hatte das einem Besuch in Tansania zum Bes-
Blatt Putins Noch-Ehefrau Ljud- ten gab. Die Bushs waren vergan-
mila, 55, auf dem Cover („Was gene Woche dort, um an einer Men-
wird aus ihr?“). Direkt dane- schenrechtskonferenz teilzunehmen.
ben war die Ex-Olympiasiege- Vor vielen Jahren, so erzählte es
rin und Parlamentsabgeordnete Frau Bush einigen Journalisten,
Alina Kabajewa abgebildet habe sie angemerkt, dass eine Rede
(„Ich bin glücklich und will ei- nicht so toll gewesen sei, und
nen Mann und Kinderchen“). prompt sei ihr George mit dem Auto
Über Kabajewa wird schon gegen die Garagenwand gedonnert.
länger spekuliert, sie sei die
Geliebte Putins. Luke Blackall, 30, Kolumnist bei der
britischen Tageszeitung „Indepen-
dent“, hat ein Faible für deutsche
Lehnwörter, so wie die Deutschen
Selbst ist der Rap für englische Ausdrücke. Nachdem
jetzt das Wort „Shitstorm“ vom
Die Rapperszene gilt als homophob und als „Duden“ in seine neueste Ausgabe
frauenfeindlich sowieso. Der Rapper Lil B, aufgenommen worden ist („Sturm
23, hat keine Lust, diesen Klischees zu ent- der Entrüstung in einem Kommuni-
sprechen. 2011 nannte er ein Album „I’m kationsmedium des Internets, der
Gay“ („Ich bin schwul“) und erhielt dafür zum Teil mit beleidigenden Äußerun-
Morddrohungen. In der Online-Ausgabe gen einhergeht“), wünscht sich
des „Rolling Stone“ äußerte er sich ableh- Journalist Blackall, dass seine Lands-
nend zu der von den Republikanern ge- leute das Wort rückübersetzt be-
MATTHEW REAMER / RETNA / INTERTOPICS

forderten Verschärfung des Abtreibungs- nutzen: „Scheißesturm“. Fluchen in


rechts in Texas. Der Musiker plädiert für Fremdsprachen mache „einfach
die Selbstbestimmung der Frau, gibt seiner mehr Spaß“. Sollte sich der teuto-
Überzeugung Ausdruck, dass viele gesell- nische Begriff im Sprachgebrauch
schaftliche Probleme gelöst werden könn- der Briten durchsetzen, stünde er in
ten, wenn mehr Frauen etwas zu sagen einer Reihe mit „Kindergarten“,
hätten, und prophezeit: „Wir werden eine „Waldsterben“, „Weltschmerz“ oder
Präsidentin bekommen.“ gar „German Angst“.
132
Geben und nehmen
Er spricht mit Pflanzen, liebt biolo-
gisch aufgezogenes Gemüse und
Architektur, die dem Schönheitsideal
des späten 19. Jahrhunderts verpflich-
tet ist. Prinz Charles, 64, Thronfolger
mit der weltweit längsten Verweildauer
in dieser Position, scheint nur auf den
ersten Blick ein weltfremder Kauz zu
sein. Seinen Grundbesitz jedenfalls
lässt er mit kapitalistischer Entschie-
denheit verwalten. Mieter seiner zahl-
reichen Immobilien, so kam jetzt her-
aus, sollen zum Teil das Doppelte des-
sen zahlen, was
sie bei öffentli-
chen Wohnungs-
baugesellschaf-
ten aufbringen
müssten. Insge-
samt hat sich das
Einkommen des
Prinzen inner-
halb eines Jahres
um mehr als
700 000 Pfund er-
höht. Die Hälfte
seiner Einnah-
men von 19 Mil-
lionen Pfund
spendet der briti-
sche Royal aller-

GETTY IMAGES
dings wohl-
tätigen Einrich-
tungen.

Bunte Liebe
Um ihre Solidarität mit russischen
Homosexuellen zu signalisieren, ließ
MARCUS MAM / FIGAROPHOTO / LAIF

sich die britische Schauspielerin Tilda


Swinton, 52, mit einer Regenbogen-
flagge am Kreml fotografieren. Der
Regenbogen gilt seit den siebziger Jah-
ren als Symbol für Lesben und Schwu-
le in aller Welt. Swinton möchte, dass
das Foto mit der Botschaft „From
Russia with Love“ über soziale Netz-
Hinter den Kulissen gewählten Fotografien werden anläss- werke verbreitet wird. Moskaus obers-
lich des 30-jährigen Bestehens des öster- tes Gericht hat bereits 2012 verfügt,
Vor acht Jahren gab es in New York reichischen Kunsthauses ab dem 29. Au- dass in den nächsten 100 Jahren keine
eine große Fotoausstellung, die Werke gust in Salzburg gezeigt. Monatelang Gay-Pride-Parade in der russischen
so unterschiedlicher Künstler wie sichtete die Französin Bilder, sie wählte Hauptstadt abgehalten werden darf.
Hiroshi Sugimoto und Jürgen Teller Werke aus, die unter der Obhut von
zeigte. Thema der Ausstellung: Isabelle Mapplethorpes Nachlassverwalter in
Huppert, heute 60, französische Schau- New York stehen oder aus dem Besitz
spielerin. Die Galerie Thaddaeus Ropac etwa des Guggenheim Museum stam-
fühlte sich dadurch inspiriert, den men. Bei ihren Entscheidungen hatte
Spieß einmal umzudrehen – und enga- sie „Carte blanche“, wie ein Vertreter
gierte Huppert jetzt als Kuratorin für der Galerie versichert. Ein großes Ge-
eine Ausstellung des Fotografen Robert schäft kann Ropac bei dieser Jubiläums-
SANDRO KOPP

Mapplethorpe (1946 bis 1989), der durch veranstaltung nicht machen: Nur
seine explizit homosexuellen Bilder 20 Prozent der Ausstellungsstücke ste-
bekannt wurde. Die von Huppert aus- hen zum Verkauf.
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Hohlspiegel Rückspiegel

Aus den „Stolberger Nachrichten“: „Jä- Zitate


ger in Nordrhein-Westfalen müssen bald
bleifrei schießen. NRW-Umweltminister Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIE-
Johannes Remmel (Grüne) will ,so schnell GEL-Titel „Beugt euch nicht“ über den
wie möglich‘ ein landesweites Verbot blei- Aufstand gegen den türkischen Minister-
freier Munition in einem verschärften präsidenten Erdogan (Nr. 26/2013):
Jagdgesetz verankern.“
In der vergangenen Woche, die Proteste
gegen die Regierung Erdogan waren da
gerade etwas abgeflaut, hat der SPIEGEL
zum ersten Mal eine Titelgeschichte auch
in türkischer Sprache herausgebracht: Auf
zehn Seiten wurden die Proteste gegen
die Zerstörung des Istanbuler Gezi-Parks
Aus dem „Delmenhorster Kreisblatt“ und gegen die Regierung Erdogan be-
leuchtet. Der Verlag begründete die Aus-
gabe damit, ein Zeichen setzen zu wollen,
Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Die dass das brutale Vorgehen des türkischen
Wirtschaft will nicht anspringen, die Staates gegen friedliche Demonstranten
Kaufkraft sinkt – eine Abwärtsspirale nicht nur Türken etwas angehe, sondern
nach unten.“ auch Deutsche, Europäer … Es war eine
Premiere, die für Aufregung gesorgt hat:
Deutschtürken, von denen sich Hundert-
tausende zu friedlichen Solidaritätskund-
gebungen in verschiedenen deutschen
Städten versammelt hatten, haben die
Aus dem „Treffpunkt Bramsche“ Aktion weitgehend positiv aufgenom-
men. Nämlich als Zeichen, dass die tür-
kische Bevölkerung in Deutschland nicht
Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: nur in der politischen Kultur des Landes,
„Er stellte den Antrag, die drei Männer sondern auch in der Kulturpolitik deut-
von dem Vorwurf des Mordes an Vadim scher Medien angekommen ist – so der
L. freizusprechen – wie später auch die Tenor in einigen Internetforen. In der
drei Verteidiger.“ Türkei hingegen dominierte Ablehnung
die öffentlichen Reaktionen (Aktivisten
der Gezi-Park-Bewegung kamen aller-
dings nicht zu Wort).

Aus dem „Tagesspiegel“ Die Illustrierte „Stern“ über SPD-Kanz-


lerkandidat Peer Steinbrück:

Aus dem „Holsteinischen Courier“: „SAR Freunde und Genossen hatten ihn ge-
ist die Abkürzung für ,search and rescue‘ warnt, auch seine Frau. Im Frühjahr 2011
und heißt auf Englisch ,suchen und retten‘.“ erschien im SPIEGEL ein Porträt über
Steinbrück. Der Reporter prophezeite,
dass er als Kanzlerkandidat auf einiges
verzichten müsse, die Regelverstöße, den
Anarchismus. Als seine Frau Gertrud das
Stück gelesen hatte, sagte sie zu ihrem
Aus dem Südtiroler Tagblatt „Dolomiten“ Mann: „Der Junge hat dein Problem auf
den Punkt gebracht.“ Der Kanzlerkandi-
dat Steinbrück hat panische Angst davor,
Aus dem „SZ-Magazin“: „Die Startbahn so zu wirken, als sei er eine Marionette
in Maputo ist zu kurz, um vollgetankt geworden – der Partei, des Vorsitzenden,
nach Berlin zu starten.“ des Apparats. Deswegen redet er so oft
über sich statt übers Land.

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntags-


zeitung“ in ihrer Rubrik „Fragen Sie
Reich-Ranicki“:

Aus der „Thüringischen Landeszeitung“ FAS: „Wie geht es Ihnen?“


Reich-Ranicki: „Es ging mir nicht gut,
jetzt bin ich auf dem Weg der Besserung.“
Aus der Online-Ausgabe der „Augsburger FAS: „Lesen Sie immer noch den SPIE-
Allgemeinen“: „Wenn Kate Middleton GEL so gerne?“
schwanger zur Geburt gefahren wird, wer- Reich-Ranicki: „In der Regel ja. Nach wie
den sie und ihr Gefolge garantiert keine vor halte ich den SPIEGEL für das wich-
Parkprobleme bekommen.“ tigste Nachrichten-Magazin.“
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