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PAUL BEDEL
mit
catherine école-boivin

»Meine Kühe sind hübsch,


weil sie Blumen fressen«

Vom Reichtum des einfachen Lebens

Aus dem Französischen


von Elisabeth Liebl

Deutscher Taschenbuch Verlag


Deutsche Erstausgabe 2011
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
© Presses de la Renaissance, 2009
Titel der französischen Originalausgabe:
Testament d’un paysan en voie de disparition
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2011 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche,
auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagbild und Innenillustrationen: Isabella Roth
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Gesetzt aus der Sabon 10,5/13·
Druck und Bindung: Kösel, Krugzell
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany · isbn 978-3-423-24871-6
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Die Uhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Die Zeit der Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Der Meereswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Der Raz Blanchard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Der Felsengarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Meine »Löcher« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Ein Morgen am Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Meine Trophäe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Das Täuschungsmanöver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Es gibt ja nicht nur Hummer! . . . . . . . . . . . . . . . 48
Das Meer essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Einfach abtreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Die Stille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Geheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Großvater Bedel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Das Signal des Leuchtturms . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Der Schnee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Es wird nichts weggeworfen . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Im Schweiße unseres Angesichts . . . . . . . . . . . . . 93
Fortschritt ist nötig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Weitergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Auf Pauls Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Wenn die Butter Milch gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Buttergeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Wie man zu guten Kartoffeln kommt . . . . . . . . . . 123
Fruchtwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Felder voller Steine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Getreide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Ah, meine Kühe! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Prévert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Der Gemeinderat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Wettervorhersagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Verdienste eines Bauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Paul auf dem Scheißhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Mein Tag als Aktiv-Rentner . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
Meine Hefte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Das Moped . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Die Papiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
»Na, bist du jetzt reich?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Der Ausweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
Zutritt verboten! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Der Besuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Der Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Der Atompfarrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Die Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Rechtschaffene Leute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Doing! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Keine Zeit zum Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Pauls Sprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Paul und seine Kühe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Vorwort

Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal den Leuchtturm
sah, als ich von Auderville kam und auf den kleinen
­Hafen Goury zufuhr. An diesem Tag beutelte der Wind
die Bäume, es roch nach Salz, sodass ich das Meer schon
wahrnahm, lange bevor ich es sah.
Es war ein echter Schock.
Hinterher dann das Bedürfnis wiederzukommen.
Und mehr über die Geschichte dieses Landstrichs
zu erfahren. Sich den Menschen zu nähern, die dort le-
ben.
Catherine École-Boivin lässt uns in diesem Buch die
Stimme dieser Landschaft vernehmen. Die Stimme Paul
Bedels, eines Bauern, der in Auderville geboren wurde,
wo er auch aufgewachsen ist und immer gelebt hat. Er ist
Teil des Gedächtnisses von La Hague.
Für dieses Buch hat sie viel Zeit mit ihm verbracht. Sie
hat festgehalten, was er sagte, und hilft uns so, das zu
bewahren, was wir nicht vergessen dürfen: unsere Wur-
zeln. Sie hat ihn immer wieder besucht. Hat seine Worte,
seine Erinnerungen eingefangen.
Ich für meinen Teil wollte gern den Raum sehen, in
dem die beiden miteinander sprachen. Ich rief Paul an,
und er lud mich tatsächlich zu sich ein. Und so saß ich
dann am Küchentisch, neben der großen Wanduhr, und
er erzählte mir von seinen Begegnungen mit Catherine
École-Boivin. Er zeigte auf einen Stuhl: Sie setzte sich

7
immer dahin, dann hörte sie mir zu, sie hatte so ein Ding
dabei, mit dem sie alles aufnahm …
Mit der Zeit wuchs zwischen den beiden das Ver­
trauen. Er lieh ihr sogar seine Hefte.
So entstand dieses Buch, ein Buch, das uns auf jeder
Seite intimen Einblick gewährt in den Alltag eines Man-
nes, der mit seinen Händen den Boden bearbeitet und
sich davon ernährt hat. Ein Leben »voll Müh und Plag«
und voller Achtung vor der Erde, denn Paul Bedel hat
­seine Kühe gefüttert und hat Gemüse gezogen, ohne je
auch nur ein Körnchen Kunstdünger zu benutzen. Er
hat seinen Boden nur mit den Algen gedüngt, die er am
Strand sammelte. Und sagt mit einem leisen Lächeln,
dass der Ertrag natürlich nicht der gleiche sei …
In diesem Buch schmecken wir die handgerührte But-
ter, die frischen Eier, den Spargel. Es riecht nach Meer,
nach Wind und Tränen. Den Tränen, die Paul Bedel an
jenem Tag vergossen hat, als er sich von seinen Kühen
trennen musste.
Paul Bedel sagt, was er denkt, ohne Umschweife. Er
denkt über die Welt nach und stellt sich ­entscheidende
Fragen: Was hat es für einen Sinn, immer mehr zu pro-
duzieren, immer mehr zu besitzen? Brauchen wir wirk-
lich so viel? In diesem Buch spricht er von der lebendi­
gen Erde, die Luft braucht zum Atmen. Er ist nicht der
Mensch, der Lehren erteilt. Er sagt uns nur, was er be-
obachtet hat.
Er lacht und erzählt ohne Wehmut vom Leben ­früher,
von der Kindheit, dem Krieg, der verlorenen Liebe. Lang
ist’s her … und scheint doch so gegenwärtig. Paul braucht
nichts, was man kaufen kann, nur Ruhe und Stille.
Paul Bedel hat eine ganz einfache Form des Land-
baus betrieben. Er, den man häufig als »Hinterwäldler«

8
behandelt hat, hat fast jeden Tag Besuch – Leute, die
von weit her kommen, Umwege machen, um mit ihm
zu sprechen. Und auch von den Landwirtschaftsschulen
kommen Schüler, um von ihm zu lernen.
Catherine École-Boivin hat es verstanden, auf den Sei-
ten dieses Buches den Humor dieses Mannes einzufan-
gen, der ohne Umschweife bekennt, altmodisch zu sein,
und der leise knurrt, dass wir möglicherweise längst zu
weit gegangen sind.
Er hält nichts zurück. Während er mit gefalteten Hän-
den am Tisch sitzt, lässt er uns einen Blick tun in sein
Herz.
Das Herz – er meint, dass dort alles anfängt.
Er war Bauer, jetzt ist er zum wandelnden Gedächtnis
seiner Welt geworden, einer Welt, die es nicht mehr gibt.
Deshalb reicht er uns seine Erinnerungen weiter.
Sein Zeugnis, das er mit Hilfe von Catherine École-
Boivin ablegt, wirft die Frage auf, wer wir waren und
welchen Sinn wir unserer Zukunft geben wollen.
Mögen wir daraus eine Lehre ziehen, damit wir uns
diesem Land der Freiheit, das mir so am Herzen liegt,
noch mehr verbunden fühlen.

Claudie Gallay*

* Claudie Gallay ist eine der populärsten Schriftstellerinnen Frankreichs.


Auf Deutsch ist von ihr 2010 erschienen: Die Brandungswelle.

9
Die Zeit

Ich bin ein Bauer ohne Geschichte. Ein Vorkriegsmodell,


geboren am 15. März 1930 »auf dem Hof« in einer klei-
nen Gemeinde im Bezirk La Hague, am äußersten Rand
von Auderville.
Ich heiße Paul Bedel.
Wenn ich als junger Mesner die Totenglocke läutete,
dachte ich nicht an meine letzte Stunde. Ich habe dabei
immer gelächelt. Ich läutete noch von Hand, da hieß es
ordentlich ziehen. Und wenn du da so ganz allein am Seil
hängst, dann wird dir die Zeit lang. Armer Gusto! Mein
Körper stieg in die Höhe, während ich der armen Seele,
die da ins Paradies davonflog, die letzte Ehre erwies. Das
Totenläuten konnte bis zu einer halben Stunde dauern,
je nachdem, wie angesehen der Verstorbene war.
Davon und von der Feldarbeit habe ich kräftige Mus-
keln und Knochen bekommen. Heute geht ja alles elek-
trisch. Ich drehe an drei Knöpfen und schon läuten die
Glocken. Mittlerweile werden die Glocken – wir haben
zwei im Glockenturm – für alle gleich lang geläutet. Das
ist nicht schlecht, dass alle gleich viel Geläute kriegen.
Denn unter der Erde liegen sowieso alle gleich tief.
Ehrlich gesagt, bleibt mir so sogar noch ein wenig
Zeit, denn als Landwirt im Ruhestand bin ich ziemlich
beschäftigt. Wo ich auch bin und was ich auch tue, meine
Zeit ist knapp bemessen. Das ist jetzt in der Rente genau-
so wie in meiner aktiven Zeit.

10
Ich drehe jeden Schalter dreimal um, und die Glocken
läuten von allein. Ich horche, ob sie richtig anschla-
gen, dann sperre ich die Sakristei ab, schiebe den Schlüs-
sel in meine Jackentasche, knie nieder und bekreuzige
mich.
Draußen atme ich den frischen Wind ein und ziehe mir
meine Kappe über die Ohren. Der weiße Friedhofskies
knirscht unter meinen Füßen. Ich gehe schnell und mei-
ne Gestalt, krumm vom vielen Tragen, schwingt hin und
her wie ein Klöppel.
Ich biege in meine Straße ein.
Ein kurzer Blick hinaus aufs Meer, eine kräftige Brise
streicht über das Wasser.
Ich schaue hinauf zu der Wetterfahne auf meinem
Stall, die aussieht wie eine Kuh, und sauge die Luft
ein, so wie es meine Vorfahren schon getan haben. Ein
Mann, der Bescheid weiß, weil er einiges erlebt hat. Die
Winde haben sich nicht verändert.
Ein schmallippiger Gruß zur Nachbarin hinüber, die
ihre Sprühdose, so nenne ich ihren Hund, Gassi führt. Er
pinkelt immer auf unsere schöne Hortensie, sodass die
Blätter schon ganz gelb sind. Zum Glück kommt sie im­
mer nur am Wochenende. Wochentags versucht die arme
Pflanze, sich wieder zu erholen.
Ich gehe ins Haus, wo das Telefon läutet. Einer aus der
Pfarrei ruft an und will wissen:
»Paul, wer ist denn eigentlich gestorben?«
Und unweigerlich antworte ich auf diese Frage:
»Also ich war’s nicht!«
Nach wie vor macht mir dieser kleine Scherz einen
Heidenspaß, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen!
Wenn du nämlich ins Telefon keuchst, weil du gerade im
Eilschritt von der Kirche nach Hause gerannt bist, weißt

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du, dass du noch am Leben bist. Und der am Telefon me­
ckert dann wie immer:
»Lass deine Witze, Paul! Das weiß ich selber, dass
du es nicht warst, wenn du ans Telefon gehst. Alter
­Gimpel!«
Eins steht jedenfalls fest: Besser ein lebender alter
Gimpel als ein toter alter Gimpel. Allerdings gibt es
in den anderen Gemeinden keinen Paul, der die Toten­
glocken läutet.
Manchmal erreichen mich ziemlich traurige Anrufe.
Die Uhr bleibt auch für die nicht stehen, die wir lieben.
Meine Frist ist bald abgelaufen und dann wird es auch
für mich so weit sein.
Die Liebe

Anfang 2008, es war ein dunstiger Tag, aber trotzdem


sonnig, klingelte das Telefon. Ich hielt den Hörer mit den
Fingerspitzen, weil ich gerade Kartoffeln fürs Abend­essen
geholt und noch Erde an den Händen hatte. Schweigend
hörte ich zu, und bevor ich auflegte, sagte ich:
»Ich komme morgen.«
Tags drauf habe ich das Auto genommen und meinen
Schwestern gesagt, dass ich den ganzen Tag weg sein
würde. Wie immer hat mir Marie-Jeanne, die jüngere,
mein Pflaster fürs Herz hergerichtet und Lakritzbonbons
dazugelegt und ein paar Madeleines. Sie verzog beun­
ruhigt das Gesicht und fragte finster:
»Und wo fährst du hin?«
»Weiß nicht.«
Ich wollte über diese Sache nicht reden, weil ich noch
nie mit jemandem darüber geredet hatte, nicht ein-
mal mit derjenigen, die das Ganze als Einzige etwas an­
ging.
Ich legte mehrere Dutzend Kilometer zurück, dabei
fahre ich nicht mehr gern Auto. Bäume und Hecken saus-
ten an mir vorbei, Stopp- und Vorfahrtsschilder, Am­
peln, Autos und LKWs. Und plötzlich lag da das Grün
des Bocage vor mir. Man fährt ins Landesinnere hinein
und merkt plötzlich, dass die Luft anders riecht, anders
als die Luft am Meer, die Luft auf der Halbinsel von La
Hague.

13
Ich habe den kleinen Bauernhof gleich wiedererkannt,
obwohl es fünfzig Jahre her war, dass ich von dort weg-
gegangen bin.
Man hat mich freundlich empfangen.
Ich bin in ihre Kammer hinaufgestiegen. Ihr Leichnam
lag friedlich auf dem Bett. Die weißen Haare waren zu
einem Knoten aufgesteckt, demnach hat sie sie nie ab-
geschnitten. Ich habe sie nicht wiedererkannt, aber sie
dürfte mich von dort oben, wo sie jetzt war, auch nicht
wiedererkannt haben. Ich setzte mich auf den Strohstuhl
und schaute mir die Aufnahmen von ihren Kindern an,
ihre Hochzeitsfotos, die Bilder von den Enkeln, wie sie
ihre Geburtskerzen ausblasen.
Und mit einem Mal lief in aller Langsamkeit die Erin­
nerung an einen längst vergangenen Sommer vor mir ab.
Der Moment, als ich sie mit meinen Augen umfing. Zwei
kurze Stunden hatte ich ihre Hand gehalten, so lange ein
Spaziergang zweier junger Leute eben dauert. Das war
bei einer Versammlung mehrerer Pfarreien gewesen, di-
rekt nach Kriegsende. Diese wenigen Stunden sind im
Laufe der Jahre in meiner Erinnerung immer länger ge-
worden. Ich dachte damals, dass sie meine Frau werden
würde, dass ich sie fragen würde, ob sie mich heiraten
möchte.
Ich habe mich in sie verliebt, als ich da so neben ihr
ging, ihre Hand in meiner.
Bei mir war es das erste Mal. Dieses Gefühl hatte ich
nur zwei Mal im Leben.
Doch mit meinen siebzehn Jahren – so alt war ich da-
mals – gab es zu viele andere Sachen, um die ich mich
kümmern musste, und so habe ich meinen Antrag auf­
geschoben, ohne etwas zu sagen.
Ich saß schon eine Weile so da und betrachtete ihre

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sterbliche Hülle, als das Gefühl mich überkam, aber ge-
weint habe ich trotzdem nicht. Tränen weint man, wenn
man etwas bereut oder sich schuldig fühlt.
In diesem Zimmer, in dem der Leichnam einer toten
Frau ruhte, die ich so lange Zeit in meinem Herzen ge-
tragen hatte, zog meine Jugend noch einmal an meinem
inneren Auge vorbei.
Bis zu diesem Tag hatte ich immer wieder für sie ge-
betet, für sie und die Entscheidung, die sie für ihr Glück
getroffen hatte und die die richtige gewesen war.
Sie hat sich nicht mit mir verlobt und hat mich nicht
geheiratet. So ist es nun einmal. Was war ich doch für
ein Esel! Ich hatte ihr nicht gesagt, wie sehr ich sie lieb-
te, weil ich Angst hatte, sie könnte mich zurückweisen,
und dass unsere Väter dagegen sein würden. Ich kam
mir ihr gegenüber immer so klein vor, vielleicht, weil
ich keinen Schulabschluss hatte und statt einem Doktor-
hut nur einen Eselshut vorweisen konnte. Während des
Militärdienstes habe ich meinen ganzen Liebeskummer
noch einmal durchlebt, als ich erfuhr, dass sie sich drei
Monate nach unserem harmlosen Spaziergang mit einem
anderen zusammengetan hatte. Als sie sich dann verlob-
te, war ich am Boden zerstört.
Trotz all der Zeit, die inzwischen vergangen war, und
obwohl sie jetzt tot war, war sie immer noch Teil meines
Lebens. Ich habe den Tag noch einmal erlebt, als sie mir
auf der Straße entgegenkam. Da wäre es noch möglich
gewesen, aber ich habe mich nicht getraut, ihr zu sagen,
dass ich sie liebe. Obwohl mein Militärdienst vorüber
war. Ich habe nicht den Mut aufgebracht, ihr meine Ge­
fühle zu gestehen. Wir standen gegen das Gatter zu ei-
nem meiner Felder gelehnt, vollkommen ungestört. Und
obwohl ich mir während der Zeit beim Militär diese

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Szene tausend Mal vorgestellt hatte, brachte ich nicht ein
Wort über meine Liebe heraus.
Heute bedauere ich, dass ich so dumm war und aus
Respekt vor ihrem Verlobten nichts gesagt habe, denn so
habe ich sie für immer verloren.
Wie sonst auch habe ich ihm den Vortritt gelassen.
Zuerst die anderen, dann Paul.
Vielleicht hätte sie ja alles umgeworfen, dann wäre
ich nach vielen glücklichen Jahren an der Seite dieser so
schönen und freundlichen Frau an diesem Tag Witwer
gewesen.
Heute würde ich ihr schreiben, ich würde nicht mehr
schweigen. In meinem Alter hat man begriffen, dass sich
im Leben alles wieder hinbiegen lässt, wenn nur genug
Zeit ist.
An jenem Tag, als ich auf dem kleinen Strohstuhl saß,
waren wir noch einmal ungestört zusammen. Ich sagte
ihr damals, wie dumm ich gewesen war. Darüber bin ich
froh, denn nun weiß sie alles.
Ich habe einmal noch ihre Hand in der meinen gespürt.
In einem Augenblick wie diesem fragt man sich nicht,
wozu es gut gewesen sein soll, dass man zur Welt gekom-
men ist. Nein, man fragt sich nur, ob es die Mühe wert
war, ohne die Liebe einer Frau an seiner Seite zu leben.
Nun, das werde ich wohl nie herausfinden.
Zumindest glaube ich das, denn man lebt (im Prinzip
wenigstens) nur einmal auf dieser Welt!
Wie gesagt habe ich also meine ganze Jugend noch ein-
mal durchlebt, auch den Augenblick, als ich zehn Jahre
nach meinen zwei Enttäuschungen in der Liebe mit drei-
ßig gemerkt habe, dass für mich der Zug abgefahren war.
Dass ich für immer ein »alter Knabe« bleiben würde.
Das war an jenem Tag, als mein bester Freund aus Kin-

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dertagen heiratete. Er und seine Verlobte, ein wirklich
nettes Mädchen, hatten mich eingeladen. Ihre Gesichter
strahlten vor Glück. In diesem Augenblick begriff ich,
dass dieses Glück nicht für mich bestimmt war.
Am Tag ihrer Hochzeit – und nachdem ich zum zwei-
ten Mal darauf verzichtet hatte, mich in Liebe mit einer
jungen Frau zu vereinen, die mich eigentlich mochte,
aber einige Hundert Kilometer von meinem Dorf ent-
fernt lebte – brach das Alter über mich herein. Ich fühlte
mich schrecklich alt und verbraucht, völlig fehl am Platz
zwischen all den jungen Paaren mit ihren Kindern, die
überall herumsprangen. Ich musste zu Hause den Hof
übernehmen und mich um Mutter, den kleinen Bruder
und meine Schwestern kümmern. Mein Vater war ge­rade
gestorben, und mein Bruder war mit dreizehn Jahren
Halbwaise geworden.
Das hatte ich meinem Vater versprochen. Ich hatte ihm
ein Versprechen gegeben: dass ich in seine Fußstapfen
treten und seiner Hände Arbeit auf den Feldern fortfüh-
ren würde.
In jener Nacht sagte ich mir, dass ich niemals Frau
und Kinder haben würde. Ich fühlte mich, als hätte man
mir alle Kraft aus dem Körper gesogen. Ich war zutiefst
bedrückt.
Von dem Tag an habe ich nicht mehr genug Kraft auf-
gebracht, mir vorzustellen, dass ich vielleicht doch noch
jemanden finden könnte, und so ist es dann auch gekom-
men. Ich habe mich niemals gebunden, also geheiratet.
Zum Glück fand ich Trost bei der fröhlichen Schar
meiner Geschwister, meinen Schwestern, die ebenfalls
ledig geblieben sind, und der Familie, die sich durch die
Heirat meiner Brüder und die Geburt ihrer Kinder stets
vergrößerte.

17
Die Arbeit auf dem Hof hat mich daran gehindert, zu
viel zu grübeln. Wenn die Hände zu tun haben, hat der
Hutablageplatz Pause.
Doch die erste »Freundin« von damals, als ich noch
nicht zwanzig war, habe ich nie vergessen. Auf sie habe
ich immer gewartet und sie insgeheim bis heute geliebt.
Das ist die Wahrheit. Für sie wäre ich hundert Jahre alt
geworden, ich hätte weiter auf sie gewartet, und sei es
nur, um eine Stunde mit ihr zusammenzusein, sobald
sie wieder frei gewesen wäre. Dann hätte ich ihr endlich
alles sagen können, doch sie ist vor ihrem Mann ge-
storben … Vielleicht hätten wir es so gemacht wie diese
Leute heute, die sich noch mit über achtzig auf die Liebe
einlassen.
Ich saß neben ihr, nur wir zwei. Ich hatte immer Angst,
dass sie vor mir stirbt. Seltsamerweise hat mir dieser
­Augenblick der Wahrheit Frieden geschenkt.
Ich habe überlegt, ob ich sie um Verzeihung bitte, aber
wofür denn eigentlich?
Dann kamen die Leichenbestatter und legten sie in
ihren Sarg. Während der Beerdigung setzte mein Ver-
stand richtig aus. Dabei fühlte ich keinen Schmerz. Sie
hatte das schöne Leben gehabt, das sie verdient und das
sie sich ausgesucht hatte. Das habe ich respektiert. Ich
habe ihr Leiden während der langen Krankheit in mir
getragen. Glücklicherweise hat mich niemand gebeten,
während des Totenamtes ein Gebet zu sprechen.
Dann fuhr ich wieder heim.
Am nächsten Tag habe ich mein Leben wieder auf-
genommen, ohne noch einmal mit jemandem über die
Sache zu reden.

18
Die Uhr

Unsere Pendeluhr mit ihren schweren gusseisernen Ge-


wichten ist ein noch älteres Baujahr, als ich es bin. Ich
war nicht dabei, als sie ihren ersten Schlag getan hat,
doch sie war Zeugin bei meiner Geburt. Die Dorfheb-
amme hat an ihren Zeigern die Zeit abgelesen, als ich in
dem Haus auf die Welt kam, in dem ich heute noch lebe.
Die Uhr ist ein altes Erbstück von unseren Urgroßeltern,
vielleicht sogar noch älter. Sie hat mein Leben geregelt
und geht nach Ortszeit. Françoise, meine Schwester, die
1937 geboren ist, zieht sie jede Woche auf und schimpft
dabei jedes Mal:
»Sag bloß nicht, dass schon wieder eine Woche um ist,
altes Mädel!«
Sie zeigt uns die Zeit an und teilt unsere Sieben-Tage-
Woche ein, die, die gerade vorüber ist und die, die vor
uns liegt. Die Zeit vergeht und wird immer weniger, an­
dererseits merkt man das nicht so stark, wenn man sich
nach der Sonnenzeit richtet. Unsere Uhr könnte einiges
erzählen über die Vergänglichkeit des Lebens, die uns
auf den Fersen ist wie der Gerichtsvollzieher. Sie geht ein
bisschen ungenau, drum habe ich ein bisschen an ihrer
Pendelschnur herumexperimentiert, die sich im Lau­fe der
Jahre abgenutzt hat. Ich habe einen ordinären Kno­ten hi-
neingemacht. Sie hat einfach schon zu stark gespon­nen,
sie ist immer nachgegangen und wir mussten uns dann
beeilen!

19
Und wir lassen uns einfach gern Zeit.
Vor fünfzehn Jahren war sie mal kaputt. Als ich sie so
in alle Einzelteile zerlegt auf dem Tisch liegen sah, habe
ich bei mir gedacht:
»Das war’s dann wohl, du Ärmste!«
Keiner kann sich aussuchen, wie er stirbt, und ­unsere
Uhr wollte sicher auch nicht kaputtgehen. Das war ein-
fach der Verschleiß. Ein Verwandter von mir hat die Uhr
mit zu sich nach Hause genommen. Dort hat er ein biss­
chen Zahnarzt gespielt. Er ist recht geschickt im Repa-
rieren von Sachen.
Bei einem Zahnrad war ein Zahn ausgebrochen, so wie
alte Leute einen Zahn verlieren. So ein kleiner Kupfer­
zacken, ohne den sie nicht richtig funktionierte. Dieser
abgenagte Zacken war schuld daran, dass die Zahn­räder
nicht mehr richtig ineinandergriffen. Darum hat ihr mein
Verwandter das Gebiss in Ordnung gebracht. Ein paar
Mal mit der Feile drüber, und zack, sie ging wieder wie
neu. Seitdem bin ich auf unsere Uhr direkt ein bisschen
neidisch. Ich habe nämlich ein paar schlechte, abgebro-
chene Zähne und muss deswegen immer auf der rechten
Seite kauen. Eigentlich sollte ich zum Zahnarzt gehen,
aber ich weiß nicht, ob es den Aufwand wert ist, so eine
alte Kiste wie mich, die bald aus dem Verkehr gezogen
wird, noch einmal reparieren zu lassen. Wie auch immer,
ich kaue jetzt nur noch auf einer Seite. Unsere Uhr jedoch
hat seit ihrem Besuch beim Gelegenheitszahnarzt zwei
einwandfreie Kiefer.
Alte Mädchen sind bekanntlich zäh.
Als sie zum Reparieren ein paar Tage außer Haus war,
mussten wir auf ihr gewohntes Tick-tack verzichten.
Mutter konnte nicht einmal mehr stricken. Das Tick-
tack der Sekunden fehlte ihr, sodass sie immer wieder

20
Maschen fallen ließ, weil sie beim Stricken so sehr auf die
Uhr geeicht war. Und wenn wir drei, meine zwei Schwes-
tern und ich, aus dem Haus gingen, um draußen auf un-
seren Feldern zu werkeln, fühlte sich unsere arme Mutter
ganz verlassen in dieser Stille. Wenn wir von der Feldar-
beit zurückkamen, fragte sie jedes Mal ganz ungeduldig:
»Wann kriegen wir unsere Alte endlich zurück?«
Die Uhr leistete ihr Gesellschaft, wenn auch nur als
vertrautes Hintergrundgeräusch.
Als unsere Uhr wieder da war, brachte sie eine leichte
Zeitverschiebung mit. Das war ein Vorteil, denn seitdem
geht sie nach Normalzeit. Man möchte fast meinen, sie
kann zählen. Es gibt da eine leichte Abweichung, die wir
schon seit Ewigkeiten kennen. In den wissenschaftlichen
Sendungen im Fernsehen ist manchmal die Rede davon.
Übrigens ging vor sechzig Jahren die Sonne immer ein
Stück neben unserer Madonnenstatue auf, die heute noch
auf demselben Platz auf dem Kamin steht. Die Sonne
scheint durch dieselbe Fensterscheibe, aber um zwei Zen-
timeter versetzt. Das habe ich genau beobachtet.
Unser alter Uhrkasten hält sich gern für die Weltzeit-
uhr. Außerdem hat unsere Uhr ein Schlagwerk. Halbe
Stunden zeigt sie mit einem Schlag an, volle Stunden
verkündet sie mit so vielen Schlägen, wie es der Stunden-
zahl entspricht. Bei den vollen Stunden beginnt sie mit
dem Schlagen noch einmal, etwa eine Minute, nachdem
sie zum ersten Mal geläutet hat. Wenn du noch schläfst
und nicht mitgekriegt hast, wie spät es ist, dann zählt sie
es dir noch einmal mit einem leisen Fünf-Uhr-Wimmern
vor: dong, dong, dong, dong, dong. Du kannst sie vom
Bett aus ausschimpfen, so viel du willst, sie fängt mit ih-
rem Radau unweigerlich von vorne an. Da kannst du dir
nur das Kopfkissen über die Ohren ziehen.

21
Unsere große Uhr im Esszimmer zählt die Wochen im
Hause Bedel. Das ist viel interessanter als so eine Uhr mit
Batterie. Bei diesen elektronischen Uhren bewegt sich
nichts, da gibt es für unsereins nichts zu tun. Das Tag-
werk eines Bauern oder eines Arbeiters ist eben anders.
Man muss immer ein bisschen in Bewegung bleiben,
sonst landet man schneller in der Grube, als man meint.
Ich möchte nicht mit Batterie funktionieren, wenn man
vom Herzen mal absieht. Viele alte Leute leben ja nur
noch, weil man ihnen so ein Ding eingesetzt hat. Jeanne,
eine Nachbarin aus Jobourg, die bald hundert wird, hat
das recht treffend beschrieben:
»Der Doktor hat mir eine Batterie eingesetzt. Anders
wär’s schon längst aus mit mir!«
Ich aber laufe noch mit Federantrieb. Mir haben sie
Gefäßstützen aus Metall eingesetzt. Das ist eine rein
­mechanische Sache.
Zugegeben, eine Batterieuhr, die lebt auch, aber das
ist wie das Leben kurz vor dem Tod. Eine Pendeluhr, die
schwatzt und werkelt. Ohne diesen Pulsschlag ist eine
Uhr stumm, und man weiß nie, wie man dran ist. Ei-
ner Batterieuhr kannst du auch keinen Schubser geben,
­damit sie wieder eine Woche läuft.
Ich gehe auf das Verfallsdatum zu. Manchmal habe
ich das Gefühl, dass mein Gewicht schon ziemlich weit
drunten ist. Aber Françoise und ich ziehen die Uhr im-
mer wieder auf.
Manchmal, wenn ich allein bin, quassle ich vor mich
hin:
»Armer Paul, wenn du dir einmal nicht mehr den
Spaß machen kannst, die Uhr aufzuziehen, dann steht
es schlecht um dich, dann brauchst du keinen Zahnarzt
mehr!«

22
Die Zeit der Deutschen

Es ist schön, die Bleigewichte einer Pendeluhr aufzuzie-


hen. Man kann sich einbilden, das eigene Schicksal in
der Hand zu haben.
Heute haben wir eine elektrische Uhr aufgehängt, wie
sie unsere Besucher haben. Die geht nach heutiger Zeit.
Und daran sind nur unsere Besucher schuld, mit Verlaub
gesagt.
Ich mache niemand einen Vorwurf, aber ich wider-
setze mich dieser Uhr. Ich schaue sie an und ziehe ganz
automatisch ein oder zwei Stunden ab.
Mein persönlicher Zeitmesser ist und bleibt mein Kör-
per. Die beschauliche Ortszeit, der Lauf der Sonne, regelt
mein Leben. Die großartigen elektronischen Neuerun-
gen der letzten Jahre sorgen doch nur dafür, dass wir
herumhetzen. Das hält einen ganz schön auf Trab. Nach
der offiziellen Zeit ist bald wieder Weihnachten. Viel-
leicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich alt bin.
Die offizielle Zeit treibt und treibt uns.
Richtet man sich nach der Sonne, lebt man im Rhyth-
mus mit der Zeit, man hat Zeit in der Zeit. Heutzu­tage
hat man schon in der Jahresmitte, also im Juli zum Bei-
spiel, den Eindruck, dass das Jahresende vor der Tür
steht. Kaum kommen die Urlauber hier an, reden sie
schon wieder von der Abreise.
Man könnte meinen, dass wir keine Zeit mehr haben.
Das macht einen ganz kirre. Die Geschwindigkeit macht

23
uns schwindlig, wir kriegen den Drehwurm. Die Leute
funktionieren, und das gibt ihnen das Gefühl, dass sie
Fortschritte machen. Aber in Wirklichkeit geht das Jahr
heute nach, nicht vor, es geht nach.
Das gibt einem ganz schön zu denken, wenn es darum
geht, wo du dich vom Acker machst.
Tief wie deine Furchen, gerade wie die meinen, ein
bisschen krumm also, so lenkst du deine Schritte auf
dein Ende zu. Da kannst du ruhig suchen, ob du etwas
findest, damit du nicht unter die Erde musst, aber wenn
du lebst, dann wirst du so enden. Und die Uhr sagt dir
da auch nichts anderes. Sie schert sich nicht drum. Die
alten Pendeluhren sind dafür das beste Beispiel. Sie sind
auf Jahrhunderte ausgelegt!
Früher war ein Tag genau ein Tag, nicht mehr und
nicht weniger. Jetzt richten sich sogar die Jahreszeiten
nach der elektronischen Uhr. Doch einem Huhn oder
­einer Kuh brauchst du nichts zu erzählen, die fallen auf
so etwas nicht herein. Sie richten sich nach dem Stand
der Sonne. Kühe fressen am Abend, wenn es kühl ist,
nicht in der prallen Mittagssonne. Da halten sie ihr Mit-
tagsschläfchen.
Die offizielle Zeit und ich kommen nicht gut miteinan-
der aus. Häufig irre ich mich sogar in der Uhrzeit. Diese
künstliche Zeit schafft meiner Meinung nach nur Miss-
verständnisse. Am Schluss denkt man wie die, die sich
nach dieser Zeit richten, nur damit man nicht ganz vom
Leben ausgeschlossen ist. Es gibt nichts Dümmeres als
um drei Uhr zum Fischen zu gehen, wenn die Ebbe um
eins einsetzt. Das geht in die Hose. Wenn ich zum Bei-
spiel um zwei Uhr Besuch bekommen soll, schaue ich auf
die Uhr und sehe, es ist Mittag. Also alles in Ordnung,
kein Grund zur Eile. Aber dann vergesse ich mitzurech-

24
nen. Der Besuch kommt, und wenn ich ihn dann zum
Auto bringe, ist es drei Uhr nachmittags.
Daher richte ich den Blick immer auf meine Orientie-
rungspunkte, meine Landmarken, die Felsen, die gegen-
über vom Haus liegen, vor allem, wenn ich zum Fischen
will. Aber zum Henker, plötzlich ist der Felsen überflutet
und das war’s dann. Mein Hummerloch liegt unter Was-
ser. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Seit ich mich
wie die anderen Leute nach der offiziellen Zeit richte,
passe ich nicht mehr so gut auf. Früher, als ich noch nicht
im Ruhestand war, haben mir der Stand der Sonne und
mein Magen gesagt, wie spät es ist.
Mit der Ortszeit, der wahren Sonnenzeit, haben wir
Alten sogar den Besatzern Widerstand geleistet. Als die
Boches 1940 hier aufkreuzten, haben sie uns auch ihre
Zeit aufgezwungen. Kaum waren sie da, zack, haben sie
uns auch schon eine Stunde abgezogen. Daran erinnert
sich keiner mehr, doch damals hat uns das schier ver-
rückt gemacht, gerade auf dem Land. Niemand ­hätte
sich gedacht, dass jemand so blöd sein könnte. Wir muss­
ten die Besatzung über uns ergehen lassen, unser Vieh an
die neue Zeit gewöhnen, und als es dann auch noch die
Sperrstunde gab, brach das Chaos aus: bei der Milch,
beim Schlaf, bei den Hühnern, die nicht in den Stall
wollten. Ich hatte also nicht die geringste Lust, mich für
den Rest meines Lebens nach der Zeit der Deutschen zu
richten. Es war schon schwierig genug, nach ihrem Ab-
zug alles wieder in den Griff zu bekommen …
Der Krieg nagt an einem, auch wenn er vorüber ist.
Er macht dich alt, und zurück bleibt die Angst vor dem
Hass zwischen den Menschen.
Ich habe nicht die geringste Lust, mich wieder auf die
Zeit der Deutschen einzustellen.

25
Der Meereswechsel

Ich fische gerne bei Niedrigwasser, der basse iâo. Wir


nennen das Fußfischen oder rocaille. Dabei verlasse ich
mich natürlich nicht auf die Gezeitentafeln. Ich schaue
mir lieber die Felsen am Horizont an, meine Felsen. Von
meinem Haus aus ist das nicht schwer, unser Grund fällt
sachte zum Meer hin ab.
Das Land und der Himmel im Angesicht des Windes,
da wird dein Haus zum Schiff. In La Hague könnte man
meinen, man sticht von der Landspitze aus direkt in See.
Von meinen vier Wänden aus beobachte ich die Spitzen
bestimmter Felsen. Sehen sie hervor, komme ich ohne
Probleme zu den Hummerlöchern. Da muss man nicht
mit der Gezeitentafel in der Hosentasche losstürzen, wie
manche Angler es tun, quasi nach Fahrplan. Der Meeres­
spiegel sinkt langsam, in seinem eigenen Rhythmus.
Ich habe gelernt, wie weit der Meeresspiegel absinkt,
je nach Wind und Luftdruck. Bei Hochdruck sinkt er
stärker, bei Tiefdruck weniger, auch wenn die Gezeiten-
tafeln etwas anderes sagen und die Wissenschaftler, die
ihn ausgetüftelt haben.
Ein Gezeitenkoeffizient von 90 liegt dann in Wirklich-
keit bloß bei 83 oder so. Wenn bestimmte Felsen dort,
wo meine Hummerlöcher liegen, unter Wasser bleiben,
dann weiß ich zumindest, dass die anderen Fischer die
Löcher nicht entdecken werden.
Die Gezeitentafeln studiere ich mehr zum Spaß, aber

26
ich passe sie meinen Erkenntnissen an. Die Tafeln gehen
nur nach den Mondphasen.
Auf dem Meer darf man sich nicht auf das verlassen,
was man sieht oder was in irgendeinem Buch steht. Das
kann nämlich täuschen. Das Leben hier auf dem Fest-
land ist, als lebe man auf dem Meer, besonders auf der
Halbinsel, auf der mein Haus steht, auf diesem kleinen
Flecken Land am äußersten Ende des Cotentin. Ich be-
obachte und spüre die Winde schon lange vor der Flut,
damit ich keine bösen Überraschungen erlebe.
Die wirklich merkwürdigen Dinge passieren vor ­allem,
wenn das Wasser ganz klar ist. Überhaupt: Je klarer das
Wasser, desto trügerischer ist es. Dann sieht man bis auf
den Grund des Meeres und bildet sich vielleicht ein, die
Felsen seien draußen zu sehen. Das ist ein Trugbild wie
die Meteore am Himmel oder eigenartige Lichterschei-
nungen, die sich einstellen, wenn man abends mutter-
seelenallein auf seinen Feldern ist. Das Wasser hat seine
Tiefe. Je tiefer es ist, desto ruhiger und heimtückischer
ist es. Gerade an diesen Orten verbergen sich oft uner-
wartete Dinge.
Dazu kommt der Nebel, der über uns herfällt und hin-
terhältig das Land ummodelt, deine Orientierungspunk-
te verbirgt. Schon hast du keine Ahnung mehr, wo du
dich befindest. Darum hält man es mit dem Meer wie mit
allem anderen auch. Man lernt, dem Anschein zu miss-
trauen. Man schreibt seine Beobachtungen auf, um sie
fürs nächste Mal zu bewahren. Der Tidenhub der Tag-
undnachtgleiche im Herbst und im Frühling gibt einen
guten Anhaltspunkt für das kommende Fischereijahr.
Das Wetter zu dieser Zeit zeigt an, wie das Wetter in den
folgenden Gezeitenperioden sein wird, vorausgesetzt, es
gibt im Juni keine »drei Monde« (also einen Vollmond

27
mehr). Mein Vater nannte das einen »Meereswechsel«.
Die Gezeiten richten sich nach der Erdumdrehung. Beim
»Meereswechsel« schlägt das Wetter zwischen den Tag-
undnachtgleichen noch einmal um. Die Anziehungskraft
des Mondes lässt den Gezeitenkoeffizienten absinken,
die Seinebucht leert sich, das merkt man auch bei uns.
Die Wassermassen vereinen sich, schwellen an, kämpfen
um ihr Territorium, zumindest stelle ich mir das so vor.
Die Zeit bringt die Dinge wieder ins Lot.
Die Springtide bzw. die Tagundnachtgleiche bestimmt
letztlich auch, auf welchen Tag Ostern fällt.* Das Wetter,
das zu dieser Tide herrscht, hat man im Prinzip auch an
allen folgenden Tiden. Wenn der Wind zur Frühjahrstag-
undnachtgleiche stromabwärts weht, weht der Wind an
jedem Niedrigwassertag bis zur folgenden Tagundnacht-
gleiche im Herbst stromabwärts. Wir sagen stromauf
und stromab, weil wir uns hier am nördlichsten Punkt
des Ärmelkanals befinden. »Stromabwärts« entspricht
dem Wind, der aus Barneville kommt (also Süd- oder
Südwestwind), »stromaufwärts« dem Wind aus Barfleur
(Nordwind).
Was die anderen Tage angeht, so beobachte ich, aus
welcher Richtung der Wind kommt, und dann entschei-
de ich, was ich am nächsten Tag auf meinen Feldern tue.
Weht der Wind stromaufwärts und donnert das Meer
laut in die Bucht von Écalgrain, dann höre ich das bis
hierher und der Wind wird am nächsten Tag in südlicher
oder südwestlicher Richtung wehen: Das Wetter wird
mild. Weht der Wind stromab und bohrt sich mit Getöse
in den Raz Blanchard, dann weht er am nächsten Tag

* Es wird am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlings-
beginn gefeiert, A. d. Ü.

28
aus Nord-Nordwest. Weht er aber stromabwärts und ich
kann hören, wie die Wellen sich an der Landspitze von
La Hague brechen, schlägt er tags darauf um. Was wirk-
lich ein Geschenk des Himmels ist. Dann lasse ich die
Feldarbeit liegen und gehe zum Fischen, denn dann fällt
die Tide rasant ab. Bei Südwind sinkt sie weniger schnell.
Natürlich gibt es bei uns noch die Vouétène, einen
kühlen Westwind. Dann geht die Sonne mit gelblichem
Schein bei trockenem Wind unter. Vouétène sagt man al-
lerdings nur in unserer Gegend hier. Du siehst den schwe­
ren Himmel und du weißt, was es geschlagen hat. Die
Vouétène trocknet alles aus.
Letzten Endes kann man sagen, dass ein Wind, der
schlecht ist für den Boden, das schönste Niedrigwasser
macht. Andernfalls reicht der Sog nicht aus, die Strömung
wird nicht genug zurückgedrängt. Das verpufft ein­fach.
Manchmal sind die einfachsten Dinge auch am schwers­
ten zu verstehen, aber ein Bauer versteht sie mit der Zeit.
Eines ist hier bei uns in Auderville aber sicher: An
­Regen fehlt es uns nicht. Wenn es hier regnet, dann ist
das gutes Wetter für mich und meine Felder.
Die Alten, also die Weisen – allerdings auch nicht
jeder –, das waren früher unsere Barometer. Am Palm-
sonntag traten sie während der Messe vor die Kirche,
um nach dem Wetter zu sehen. Während der Lesung aus
dem Evangelium gingen sie hinaus, und das Wetter, das
in diesem Moment herrschte, gab ihnen den Ton für das
ganze Jahr an. Anschließend konnte man im Bistro, wo
die Männer sich trafen, hören, wie das Wetter in den
kommenden Monaten werden würde. Das Geheimnis
wurde sogleich weitergegeben.
Die Weisen damals zahlten ihren Wein nicht, aber sie
sprachen ihm tüchtig zu!

29
Der Raz Blanchard

Gischtkronen, mahlendes Packeis, reißendes ­Monstrum –


welches Gesicht der Raz dir zeigt, bestimmt er selbst. Er
saugt alles ein und wirbelt es durcheinander wie eine
riesige Schleuder. Die Leute aus La Hague haben schon
das Ihre erlebt, was Schiffbrüche und Schmerzen, Schreie
und Tränen angeht.
Diese Strömung ist schlau, sie ist nicht wie die ande-
ren. Den Raz Blanchard kann man nicht bändigen. Ein-
mal lässt er dich durch, und das nächste Mal hat er kei-
ne Lust, und aus und vorbei. Falls du dir einbildest, du
kannst seiner Herr werden, dann schließt er dir schnell
dein vorlautes Maul.
Der Raz Blanchard ist ein wirres Durcheinander aus
kurzen und langen (kurz- und langwelligen) Strömun-
gen, die gegeneinander ankämpfen und ihn noch schnel-
ler machen. Die langen Strömungen lauern hinter den
Felsen, so lange sie können, und die kurzen stürmen da­
gegen an. Das menschliche Auge aber sieht nur weiße
Schäfchen in der brodelnden Brandung.
Der Raz ist eine Gezeitenströmung.
Manchmal ist er hell und laut wie ein Wasserfall.
Der Rückstau der Strudel und Wirbel sieht wie ein
Watteband aus, ein dicker weißer Verband auf der Haut
des Meeres. Denn darunter tobt und tost es. Die Wirbel
wühlen sich unter Steine und Felsen, von den vorüber­
ziehenden Schiffen ganz zu schweigen. Der Raz spielt

30
dem Land genauso übel mit wie dem Meer. Er beein-
flusst das Wetter, aber auch die Milch, die Milch deiner
Kühe, die schlechter wird.
Bei uns regnet es Meerwasser!
Das Gras wird von der Gischt gesalzen, und die Butter
wird von selbst salzig.
Wenn der Raz auf einmal austrocknen würde, würde
man allerhand Strandgut finden. Oder zumindest das,
was davon übrig geblieben ist. Wahrscheinlich nicht mal
die Hälfte. Wenn du ihn so anschaust, wie er gegen das
Ufer anrennt und dich anbrüllt, dann bist du so klein
mit Hut. Du bist nicht eingebildet, aber Angst hast du
auch nicht. Er ist mit dir und gegen dich, man muss ihn
nur kennen.
An der Passage, die wir La Deroute nennen, ist jeden
Tag Krieg. Die besiegten Ströme werden geduckt.
Der Raz, der mein Leben so sehr geprägt hat, ist ein
Menschenfresser.
Aber der »Fußfischer« ist auch ein reißendes Tier.

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Der Felsengarten

Ich gehöre zu den Landfischern, nicht zu jenen, die


gern auf Boote gehen, die Meeresfischer, die ­Meeresluft
schnuppern, und allmählich nehmen ihre Hände und ihre
Kleidung den Geruch ihrer Boote an. Zu Fuß fischen hat
meine Tante Fernande dazu gesagt, die ich sehr mochte.
Sie war Schneiderin und hat mir meinen ersten Anzug
gemacht, ich sollte »ein hübscher Junge« sein, wenn ich
zur Schule ging. Natürlich fühlte ich mich darin regel-
recht eingeschnürt.
Schon als kleinen Jungen nahm sie mich mit, damit
ich auf den Felsen herumklettern und den Tang absuchen
konnte. Durch meine Großmutter habe ich ebenfalls Be-
kanntschaft mit dem Wasser gemacht, aber mehr beim
Waschen. Ich marschierte über den grünen ­Algenteppich,
während sie die Wäsche machte, und natürlich fiel ich
rein. Sie erwischte mich gerade noch an den Beinchen,
ich konnte ja nicht schwimmen …
Die Geschicklichkeit der alten Damen – die damals
lange nicht so alt waren, wie sie aussahen – beeindruck-
te mich unglaublich, vor allem, wenn wir große Felsen
hinaufkletterten. Sie fischten nicht wie die Männer, sie
sammelten Strandschnecken und Garnelen, manchmal
die bretonischen Abalonen. Auch die Krebse sind in un-
serer Familie Frauensache.
Wenn du die kleinen, runden Seespinnen nimmst und
ihnen den Kopf abtrennst, kommt alles auf einmal he-

32
raus. Sie schmecken stark nach Schlick, gleichzeitig ist
ihr Fleisch sehr fein. Man saugt ihnen die Füße aus. So
vergeht bei Tisch die Zeit, und das Gebiss wird auch ge-
stärkt.
Meine Tante aß Garnelen manchmal noch roh, gerade
wie sie aus dem Wasser kamen. Sie schnitt ihnen nur den
Kopf ab. Mir gab sie Napfschnecken zum Auslutschen,
die sie mit einer geschickten Bewegung mit dem Messer
vom Felsen löste. Und ich machte es ihr nach. Das ist ähn­
lich wie beim Brombeerpflücken, da steckst du dir auch
zwischendrin eine in den Mund.
Und die Frauen mischten sich nie in Männerange­
legenheiten.
Mit dem Meer haben uns trotzdem die Frauen vertraut
gemacht. Wie mit der Erde auch. Bis ich etwa zehn Jah-
re alt war, bin ich den Frauen unserer Familie immer an
der Schürze gehangen. Sie haben mir beigebracht, wie
man melkt, harkt und das Getreide zu Garben bindet.
Als ich dann älter wurde, übernahm mein Onkel meine
Erziehung. Er hat mir gezeigt, wie man mit Angelhaken
umgeht und all das. Er hat mir sein Territorium ver-
macht. Aber der Geschmack am iâo, am Meerwasser, der
kommt von meiner Tante und meiner Großmutter. Die
ihr Territorium im Übrigen an die Schwestern übergeben
haben.
Die Ebbe macht mich ganz kribbelig. Sobald das Was-
ser sich zurückzieht, lasse ich das Ufer nicht mehr aus den
Augen, wenn ich auf meinen Feldern da oben ­arbeite. Ich
habe schon aus alter Gewohnheit einen Blick für die Fel-
sen, die dann sichtbar sind, und habe mir daraus so eine
Art Landkarte gemacht.
Diese Landkarte, die alle alten Leute haben, werde
ich früher oder später an die Jungen weitergeben. Dann

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werde ich ihnen erzählen, wie ich im Abstand von zehn
Jahren zwei Frachtschiffe über die Greunes habe schram-
men sehen. Die Greunes sind mehrere Felsen unter Was-
ser, einer hübsch hinter dem anderen. Die Spitzen sind
selten sichtbar, meistens verdeckt sie die Gischt des Raz
mit ein paar Handbreit Wasser. Man könnte fast sagen,
dass sie sich unter der Flut verstecken. Niemand kann sie
sehen, man muss raten, wo sie sind.
Ich war beide Male auf meinen côtis, auf den hoch
über dem Meer gelegenen Feldern, als die Frachtschiffe
um die nordwestliche Spitze von La Hague kamen. Auf-
grund des hohen Wellengangs war ihr Schiffsbug danach
wohl ziemlich sauber. Obwohl so viele Jahre dazwischen
lagen, sah alles total gleich aus. Ich hatte fast das Gefühl,
die ganze Zeit dort gestanden zu sein. Wie in einem Film,
der immer wieder von vorn anfängt. Die beiden Schiffe
haben sich aber gut aus der Gefahrenzone hinausmanö-
vriert und sind dann doch noch an den Felsen vorbeige-
kommen.
Die Greunes geben einem manches zu lachen, wenn
man so als einfacher Bauer auf seiner Scholle sitzt!
Was die Namen der einzelnen Felsen angeht, hat man
mir immer erzählt, dass der Alizée-Fels nach einem Segel­
boot benannt ist, das sich an ihm die Schnauze gestoßen
hat.
Die Felsen können einem genauso viel erzählen wie
die Bücher, die man liest. Oder zumindest wie das, was
man dir erzählt, denn meist verändert der Schreiber die
Geschichte ja irgendwie.

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Meine »Löcher«

Wenn man am Atlantik fischt, interessieren natürlich die


Hummerlöcher. Ich nenne sie tôtons. Wenn ich wieder so
ein Vieh gefangen habe, komme ich nach Hause und sage
zu meinen Schwestern:
»Schaut mal, den habe ich in dem oder dem Loch ge-
funden.«
Die beiden verstehen meinen Jargon natürlich. Beim
Hummersuchen waren sie nie dabei, aber sie könnten
die Löcher sicher beschreiben: langgezogene Becken von
fast zwei Metern Tiefe unter einzelnen Felsbrocken von
der Länge und Breite eines Sofas. Die »Löcher« dort
­tro­cknen nie ganz aus.
Meist handelt es sich einfach um Felsspalten. Natür­
lich sind die Stellen bei La Biroule beim Hafen von
­Goury auch nicht schlecht, aber das ist nicht meine Ecke.
Meine Ecke liegt woanders. Sie trocknet ein bisschen
aus, vor allem zur Frühlingstagundnachtgleiche, wenn
der Tidenhub am größten ist (Grande Marée).
Wenn ich an meine Stelle komme, liegt die von mei-
nem Bruder Augustin oft gar nicht frei. Wir wechseln
uns beim Sammeln ab, da der Wasserstand an unse-
ren Löchern so verschieden ist. Mein Bruder hat seine
Ecke von unserem Vater, meine stammt von meinem
Onkel.
Ich habe ganz schön lange gebraucht, bis ich sie rich-
tig kannte, und das, obwohl mein Onkel sie mir gezeigt

35
­ atte. Ich nehme niemanden dorthin mit. Nur einmal
h
waren die Kameraleute für den Film dabei, der ­meinen
Berufsstand und unseren Landstrich hier bekannt ge-
macht hat. Aber damals war es neblig. Außerdem habe
ich sozusagen im Trüben gefischt, denn das waren gar
nicht meine Löcher. Ich habe die Kameraleute nach Fos-
set mitgenommen. Die Familie ist schon lange ausge-
storben, und wenn die, die ihr Land geerbt haben, nicht
da sind, gehe eben ich die Hummerlöcher ab. Aber nur
dann, darauf passe ich immer auf. Das ist eine Sache des
Anstands, so bleibt man immer in guter Beziehung.
Eines Tages habe ich einen »Auswärtigen« dabei er-
wischt, wie er in meiner Ecke herumsuchte. Ganz nahe
bei meinem Hummerloch. Auf meinem Sofafelsen steht
einer. Ich habe zwar keine besonders guten Augen mehr,
aber das war in dem Fall auch nicht nötig! Das Herz
schlug mir bis zum Hals vor Aufregung. Wenn der Gele­
genheitsfischer jetzt vom Felsen herabsteigen würde und
in den Löchern darunter herumstocherte, würde er das
Hummerloch entdecken. Das allerbeste in der ganzen
Gegend. Glücklicherweise wächst der Tang dort recht
dicht, sodass man die Löcher nicht auf den ersten Blick
sieht. Außerdem ziehe ich den Tang immer wieder rich-
tig hin, wenn ich einen Hummer herausgeholt habe. Und
zwar auf den Millimeter! Was ich nicht weiß, macht mich
nicht heiß!
Ich wartete darauf, dass er abhaute. Sobald er sich lei­
se davongeschlichen hatte wie ein Dieb, fing ich an, in
meiner Höhle herumzustochern und zack, schon hatte
ich einen fünfpfündigen Hummer erwischt! Damit woll-
te ich ihn natürlich nicht überholen, ich wollte ihn los-
werden und vor ihm an meine anderen Löcher kommen.
Aber der Typ war neugierig, und so steuerte er direkt auf

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mich zu. Dabei hatte ich nicht die geringste Lust, mit ihm
zu plaudern.
»Hast du was gefangen?«
»Nein, nichts Besonderes.«
Er kam näher und versuchte, in meine Kiepe zu spä-
hen:
»Da drin werkt aber jemand ganz schön rum, mein
Lieber!«
Da hatte er recht. Der Hummer schien sich der Pro-
testbewegung angeschlossen zu haben. Anscheinend
schmeckte ihm das Leben in Gefangenschaft nicht be-
sonders. Und der Typ wich mir nicht von der Pelle. Er
musterte die Kiepe genau, aber den Hummer konnte er
nicht sehen und ich würde ihm bestimmt nichts sagen.
Doch ich nutzte den Überraschungseffekt. Ich ließ den
Kerl einfach stehen und ging ohne ein Wort weiter. Da
zog er endlich ab.
Von den Löchern der anderen lässt man die Finger.
Das ist, als wäre man wo eingeladen. Du setzt dich hin
und breitest ordentlich deine Serviette aus. Wenn das
Gleichgewicht in einem Hummerloch gestört wird, stirbt
dort alles ab. Also dreht man einen Stein um, sucht und
legt den Stein dann genauso wieder hin wie vorher.
Meine Löcher sind immer vom Tang verdeckt, nur im
Februar nicht. Da reißen ihn die Stürme mit. Wie die
Bäume verliert die Pflanze die Blätter, um sich zu regene-
rieren. Acht oder fünfzehn Tage, bevor das Gras kommt,
treibt der Tang aus. Darauf kann man sich verlassen. Das
Gras folgt unweigerlich nach.
Ich vergleiche oft das Gras und den Tang miteinan­
der, Erde und Meer, alles ist Natur. Ein Büschel Gras ist
für mich wie ein Büschel Tang. Der Tang ist das Gras
des Meeres.

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Wenn die Wellen hoch schlagen und das Meer kabbe-
lig wird, dann wird die Hummerjagd für einen wie mich,
der nicht schwimmen kann, gefährlich. Aber auch wenn
die See glatt ist, heißt das erst mal gar nichts. Die schein-
bare Ruhe dauert höchstens einen Augenblick, das Meer
holt Luft, es holt Atem in der Tiefe. Du stehst ruhig und
sicher auf deinem Felsen. Du hebst einen Stein an und
willst sehen, ob du darunter etwas findest. Aber schon
kommen die beiden nächsten Wellen, und wenn du dann
noch auf deinem Stein stehst, dann ziehen sie dir die
Füße weg. Du verlierst das Gleichgewicht und platsch.
Das Meer bewegt sich immer in Dreierschritten, drei
Wellen wie der Himmel, die Erde und das Wasser.
Ein Morgen am Meer

Eines Tages bücke ich mich, um ein Hummerloch von


etwa einem Meter Tiefe zu inspizieren, und platsch,
schon liege ich im Wasser mit meinem schönen neuen
Pullover, den mir Françoise gestrickt hat. Gleich nach
dem ersten Spaziergang ist er voller Salz. Sie hat ganz
schön gemeckert! Nach meinem Sturz machte ich die
Augen auf und sah im Wasser über mir meine Mütze und
meinen Hummerhaken. Das Wasser war wie ein durch­
sichtiger Sarg. Das kalte Wasser hat mich wieder zu Be-
wusstsein gebracht. Ich habe von dem Schwächeanfall
nichts erzählt, mir tat es so leid um meinen Pullover.
Zu jener Zeit schlief ich vor lauter Arbeit nicht mehr
gut. Das war unmittelbar, bevor mein Vater gestorben ist.
Ich machte Doppelschichten, tagsüber an Land, nachts
am Meer.
Ein kleiner Ausflug zum Fischen, bevor der Morgen
graut, das stärkt dich für den ganzen Tag, aber der Kör-
per muss sich daran erst gewöhnen. Und ich konnte ein­
fach nicht anders, ich musste raus, obwohl mir die Feld-
arbeit vom Tag davor noch in den Knochen saß.
An einem Tag im Frühling, als mein Vater noch lebte,
war ich mit ihm draußen. Plötzlich ruft er:
»Ein Hummer. Rühr dich nicht. Schau, er ist genau
unter dir.«
Aber wie ich auch schauen mochte, ich sah nichts. Ich
rührte mich keinen Millimeter, meinem Vater gehorchte

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man besser. Und so blieb ich wie ein Standbild stehen,
die Füße im Wasser. Sehen konnte ich trotzdem nichts.
Dann spürte ich einen Stoß gegen meinen Stiefel und
zack! Ich bückte mich und nahm ihn auf. Ein Riesenvieh.
Einer meiner besten Fänge, aber nicht eine meiner besten
Geschichten.
Wenn du mit dem Haken in seinem Loch rumstocherst,
dann wehrt sich der Hummer gegen dich. Doch das
Männchen muss seinen Pflichten nachkommen. Damit
meine ich: Er ist hinter den Weibchen her. Dazu muss er
raus aus seiner Höhle. Deshalb kann man sie manchmal,
wie ich damals, mit der bloßen Hand fangen. Man steht
da wie eine Salzsäule. Die kleinen Halbpfünder sind ja
schnell wie der Blitz, die flitzen davon wie der Teufel –
schwupp! Aber die alten sind wie alle alten Leute, sie
rühren sich nicht mehr so viel. Sie sind größer, stelzen
elegant durchs Wasser und träumen ein bisschen. Du
bückst dich und packst sie, aber aufgepasst, du musst
schon achtgeben, wo du sie nimmst, denn ihr Schwanz
ist voller harter Stacheln und wenn du sie dort greifst,
bleibst du dran hängen. Wenn du hingegen mit dem Ha-
ken in der Höhle nach dem Männchen fischst, kämpft er
mit dem Ding: klack, klack! Er verteidigt sein Loch und
sein Weibchen, bis du ihn packst. Das Weibchen hinge-
gen kneift nur einmal zu: klack. Und kein zweites Mal.
Aber sie ist listig. Wenn du sie nicht gleich beim ersten
Mal erwischst und sie ihre Gegenmaßnahmen getroffen
und ein großes Loch gegraben hat, um sich darin zu ver-
kriechen, dann kannst du da stundenlang stehen und mit
deinem Haken stochern – daraus wird nichts. Am besten
kommst du am nächsten Tag noch mal wieder.
Die Schale des Männchens ist manchmal so glatt, dass
es dir wieder aus der Hand rutscht. Dann musst du zu­

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sehen, dass du es sofort wieder schnappst, denn es hält
sich am Tang fest und huscht flink darunter. Wie ein Tän­
zer bewegt es sich und hopp ist es weg.
Die kleinen Biester sind ganz schön gerissen. Und miss­
trauisch! Einer hat mir mal einen Fingernagel entzwei­
gekniffen. Er kam aus der offenen See hinter mir. Ich wa-
tete ins Wasser und zog ihn heraus. Als er mich zwickte,
warf ich ihn vor Schreck hoch in die Luft und weg war
er. Aber ich brauchte nur einen Augenblick, um mich zu
besinnen. Ich sah mich um, da lag er weiter hinten in ei-
ner Pfütze. Trotz meines schmerzenden Fingers habe ich
mich auf ihn gestürzt. Später habe ich ihn dann voller
Genuss gegessen.
Als ich ein andermal so ein armes Tier aufsammle,
stelle ich mit einem Mal fest, dass unter ihm das Weib-
chen hockt. Ich hatte sie nicht gesehen, und sie hat es
mir ordentlich heimgezahlt. Krack, hat sie sich meine
Finger geschnappt und den stachligen Unterleib dage-
gengepresst. Das hat vielleicht wehgetan.
Die Weibchen haben zwei kleine, weiche Punkte am
Ende des Hinterleibs, die bei den Männchen hart sind.
So kann man sie auseinanderhalten.
Taschenkrebse – die bei uns cllopoing heißen – fange
ich, indem ich am Stiel meines Hummerhakens horche.
Zuerst klopfe ich mit dem Haken gegen sein Felsenloch,
aber natürlich meldet er sich nicht. Taschenkrebse sind
nicht sehr höflich. Sie bitten dich nicht herein. Du sto-
cherst ein wenig rum und dann legst du das Ohr an das
Ende des Stiels, als wäre der Haken ein Stethoskop. Er
versucht nämlich, durch den Sand darunter zu entkom-
men. Und wenn du ihm sagst, dass der Onkel Doktor da
ist, dann will er davon erst recht nichts wissen und haut
ab! Und das Geräusch hörst du dann: krick, krick, das

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knirscht. Die Vibrationen kann man hören. Und wenn
ich höre, dass der Krebs sich einbuddelt, fange ich mei-
nerseits an zu graben!
Wenn dich ein Taschenkrebs mit seinen Scheren er-
wischt, kannst du deinen Finger vergessen. Wenn er dich
mal hat, lässt er so schnell nicht wieder los. Freilich,
wenn du ein wenig wartest, verliert er den Spaß an der
Sache. Doch bis dahin ist dein Finger ein Stück kür­zer.
Das kannst du dir dann im Krankenhaus wieder an­
nähen lassen. Das ist natürlich ein Scherz, denn wenn
dir das passiert, stehst du irgendwo draußen auf einem
Felsen und das Krankenhaus ist dreißig Kilometer weit
weg. Also: adieu, Finger!
Mit den Angelhaken ist das anders. Wenn ich an der
Angel hing, wie es auch vielen anderen, Erwachsenen
und Kindern, passiert ist, dann bin ich auf mein ­Moped
gestiegen und ab zum Doktor in Beaumont-Hague, drei-
zehn Kilometer von hier, den Finger ins Taschentuch ein­
gewickelt. Der Wind schlug einem auf der Fahrt ins Ge-
sicht. Und wenn man dann ankam, ließ einen der Onkel
Doktor auch noch im Wartezimmer sitzen.
»Monsieur Bedel, ich komme gleich wieder. Ich muss
zu einem Kollegen.«
Dabei wusste jeder, dass er zum Hufschmied ging,
um sich von ihm eine Zange zu borgen! Eine gebogene
Zange. Den Namen habe ich vergessen. Mit der konnte
man den Angelhaken mit einer kreisförmigen Bewegung
herausziehen, ohne dass allzu viel Fleisch daran hängen
blieb. Der gute Doktor hat ziemlich viele Hände gerettet.
Und sobald ich wieder hergestellt war, wartete ich
schon auf die nächste Ebbe.

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Meine Trophäe

Ein ordentlicher Tidenhub für den Monat Juni, also


nichts wie raus zum Fischen. Ich wate ein wenig durchs
Wasser, um zu meinen Fischgründen zu kommen. Dabei
werde ich ziemlich nass, darum stelle ich mich auf einen
Felsen, um nicht völlig aufzuweichen. Trotzdem reicht
mir das Wasser bis zu den Knien. Ich klopfe auf das Loch,
wie ich es immer tue. Der Hummer kommt heraus und
verschwindet wieder im Loch, drei Mal hintereinander.
Lieber Himmel, der ist ja riesig! Ich packe ihn, aber dafür
muss ich ganz schön die Finger spreizen, mehr als je zu-
vor. Ein kleiner, wendiger Hummer wäre längst abgehau-
en, aber der ist langsam, wirklich langsam. Ich falle ins
Wasser, aber ich schnappe mir das Tier und dann renne
ich damit zu den Felsen. Ich muss einen seltsamen Anblick
abgegeben haben, zum Glück hat mich niemand gesehen.
Für den wäre ich sogar den Seemannstod gestorben.
Ich will ja nicht herummäkeln, aber ein Männchen von
dieser Größe hätte auch ordentlich große Scheren, und
ich mag beim Hummer nun mal die Scheren am liebs­
ten! Aber gut, es ist ein Weibchen und die Scheren sind
auch nicht von schlechten Eltern! Außerdem haben die
Männchen kein so feines Fleisch wie die Weibchen, so
viel ist sicher.
Glücklicherweise begegnet mir niemand, sonst hätte
jeder gleich mein Loch gekannt. Und was für eine Wer-
bung dieses Riesending gewesen wäre!

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Und was noch gut ist: Ich bin vor dem Hummer nicht
auf Krebse gegangen, sonst wäre es in der Kiepe eng
hergegangen und ich hätte die Krebse wieder aussetzen
müssen. Ich musste den Hummer ohnehin ein wenig
stauchen, so groß war er. Wenn sie leben, lassen sie sich
noch ein klein wenig biegen. Das ist wie bei den Men-
schen. Die werden auch mit der Zeit krumm. Wenn die
Hummer tot sind, geht das gar nicht. Dann bricht der
Panzer einfach.
So kam ich also mit meinem Hummer auf dem Rü-
cken nach Hause. Und was man nicht für möglich ge-
halten hätte: Er war wirklich lecker. Später habe ich
ihn mit Gips ausgegossen. Ich habe ihm quasi eine
­unsterbliche Hülle gegeben und ihn wie eine Trophäe
auf ein Stück Treibholz genagelt. Gut schmecken wird
er wahr­scheinlich jetzt nicht mehr … Ich habe meine
Fantasie angestrengt und das Brett mit ein paar »Mee-
resflöhen« verziert, Schalen einer Muschel, die man bei
uns nur an einer Stelle findet, unter den Felsen relativ
weit draußen. Ich weiß nicht genau, wo sie herkommen,
aber sie sind sehr hübsch, fast wie Korallen. Da ich seit
jeher das ­Gefühl habe, ein alter Esel zu sein, dem Tiere
und Menschen überlegen sind, habe ich darüber »P. B.«
geschrieben: Pauvre Bête (Armes Vieh) oder Paul Bedel,
je nachdem, wie man es lesen will. Da ist eins so gut wie’s
andere.
Dass ich mir wie ein Esel vorkomme, ist schon eine
alte Gewohnheit. Ich meine einfach, den anderen unter-
legen zu sein. Ich »glaube« nicht an mich.
Diesen Hummer habe ich durch reinen Zufall gefan-
gen. Es war der größte in meiner Laufbahn als Hummer-
fischer. Ich war deswegen nicht besonders stolz. Warum
auch? Es war einfach ein Spaß, und dieses Mal mussten

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die Schwestern nichts anderes essen, zum Beispiel Schne-
cken. Wir haben richtig geteilt!
Aber bei uns wird sowieso immer alles geteilt.
Ich habe zuvor noch nie einen so großen Hummer ge-
sehen. Er wog acht Pfund. Ich habe ihn mit den Steinen
gewogen, die wir zum Butter-Auswiegen nehmen und die
auf das Gewicht von Kupfer geeicht sind.
Ein Riesenvieh. Ich habe es im Dorf nicht herumge-
zeigt, aber es hat sich trotzdem herumgesprochen.
Das Täuschungsmanöver

Wenn Niedrigwasser kommt, büxe ich gerne aus und


gehe heimlich ans Meer, statt auf dem Feld zu arbeiten.
Ich habe ein paar Angelhaken in der Tasche verschwin-
den lassen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Die Mädels haben keine Ahnung, dass ich fischen gehe.
Hätte ich die Kiepe und den Hummerhaken genommen,
wäre ich aufgeflogen und die Schwestern hätten gemault.
Ich habe ein bisschen gearbeitet, auf dem Rübenfeld
Unkraut gejätet, und dann bin ich über die Felder abge­
hauen. Etwa fünfhundert Meter, mehr nicht. Ich habe
mich beeilt, damit ich die Ebbe erwische. Dann habe ich
acht Haken ausgelegt und bin wieder zum Jäten.
Am nächsten Tag war Sonntag, da musste ich nicht
aufs Feld und stand nicht unter der Aufsicht der Schwes-
tern. Da habe ich meine alte Kiste genommen, einen
SIMCA 1100. Das war Eingebung, denn normalerweise
fahre ich am Sonntag nicht mit dem Auto. Als ich zum
Strand hinunter bin, sah ich an einem meiner Haken
einen riesigen Kabeljau hängen, dessen Schuppen im
Licht schimmerten. Ich hatte es zwar eilig, schaute aber
trotzdem noch schnell bei meinen Meeräschentümpeln
vorbei. Dort habe ich mir acht geschnappt, damit ich die
Angelhaken wieder mit einem Köder bestücken konnte.
Am nächsten Tag würde ich wieder heimlich zum Angel-
platz schleichen und so Zeit sparen. Man muss schließ-
lich vorbauen!

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Erst dann machte ich mich auf zu meinem Fang. Was
für eine Überraschung: ein riesiger Wolfsbarsch! Ich bin
nicht allzu groß, aber der Fisch reichte mir in der Länge
bis zur Hüfte. Ich öffnete den Kofferraum. Was für ein
Glück, dass ich mit dem Auto gekommen war. Den Fisch
jetzt tragen zu müssen, wäre eine echte Strafe gewesen.
Ein Typ aus dem Dorf hat mich gesehen, und so habe
ich ihm meinen Fang gezeigt. Ich musste mir das Lachen
verkneifen, als er sagte:
»Ein schöner Fisch! Ich glaube, ich habe auch ein oder
zwei Mal so ein Riesenvieh gefangen!«
Ja ja, ein unglaubliches Vieh.
Mein Barsch wog satte vierzehn Pfund und schleifte
beim Tragen über den Boden. Meiner Mutter und ­meinen
Schwestern sagte ich, es sei ein »Sonntagsbarsch«. So be-
kamen sie nicht mit, dass ich die Angelhaken schon am
Vortag ausgelegt hatte. Immerhin hätte ich ja auf dem
Feld arbeiten müssen.
Außerdem macht sich niemand groß Gedanken, wenn
man so ein Vieh nach Hause bringt. Ich war sozusagen
von der Feldarbeit desertiert, das nennen wir daheim
»Büxen-Fischerei«.
Und es macht wirklich Spaß!
So ein kleines Täuschungsmanöver gibt einem ein Ge-
fühl von Freiheit. Niemand sitzt dir im Nacken, und eine
Belohnung gibt es auch noch.
Auf jeden Fall schmeckt es nach mehr.

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Es gibt ja nicht nur Hummer!

Natürlich beschränkt sich die Fischerei bei uns nicht nur


auf Hummer und Krebse. Es wird auch mit der Leine
gefischt, die man bei Niedrigwasser auf einem kleinen
Kiesstrand auslegt.
Zu diesem Zweck breche ich schon nachts mit dem
Moped auf. Allerdings lasse ich das gute Stück erst weiter
weg vom Haus an, damit ich die Schwestern und unsere
Nachbarn nicht aufwecke. Als junger Mann schlief ich
sowieso kaum, ich stürzte mich in die Arbeit, um nicht
über mein Leben nachdenken zu müssen. Ich war immer
noch nicht darüber hinweg, dass ich die junge Frau nicht
geheiratet hatte, die so weit weg wohnte. Oder die ande-
re, die ich nicht gefragt habe, weil ich dachte, mein Vater
würde seine Einwilligung nicht geben, und dann hat ein
anderer sie mir weggeschnappt. Also holte ich aus Meer
und Erde alles heraus, was ich nur konnte, und das wog
alles auf.
Aber man hat nur ein Leben, und so wenig zu schlafen
war nicht gut. Eines Tages wäre ich fast ertrunken, weil
ich plötzlich ohnmächtig wurde, und ein anderes Mal,
weil es so neblig war. Der Leuchtturm blökte seit dem
Morgen, und als ich am Ufersaum ankam, wurde ich
unruhig. Ich war wohl hundert Meter zu weit gegangen
und war längst über den Platz hinaus, wo ich die Leine
mit zwei Schwimmern ausgelegt hatte. Einen Schritt wei-
ter und, verdammt noch mal, ich wäre mitten im Ozean

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gelandet! Ich hatte mich getäuscht. Hätte ich noch einen
Schritt gemacht, hätte ich das Gleichgewicht verloren
und wäre dringelegen. Besonders klug ist es nicht, mit-
ten in der Nacht fischen zu gehen. Fast wäre ich dort
geblieben! Hinter dem Tümpel wäre ich abgesoffen und
der Raz Blanchard hätte mich mitgerissen, denn die Tie-
fenströmung ist dort stark, und wenn die Stiefel erst mal
vollgelaufen sind!
Kaum hatte ich mich wieder einigermaßen unter Kon­
trolle, sah ich mich nach Augustes Laterne um. Wir wa-
ren zwar gemeinsam losgefahren, aber mein Bruder war
in seiner Ecke. Ich brüllte laut seinen Namen, um her-
auszufinden, wo er denn steckte, der Hornochse. Nach
der Panik um mein Leben packte mich die Angst um
ihn. Schließlich hörten wir uns, aber der Schreck war
uns ganz schön in die Glieder gefahren. Wenn du selbst
fast abgesoffen wärst, hast du das Gefühl, deinen Lieben
könnte noch was Schlimmeres zugestoßen sein.
Als ich bei ihm war, zitterte ich wie Espenlaub.
Ich fische also nicht nur selbst vom Felsen aus, sondern
lege auch Leinen aus, die man bei uns bêlaée nennt. Drei
zu je fünfzig Metern nebeneinander bringen das beste
Ergebnis. Dann sammle ich glluettes, kleine Fische von
höchstens einem Zentimeter Länge, die einen kleinen
Saugnapf am Bauch haben. Damit saugen sie sich an Fel-
sen und Steinen fest, aber längst nicht an allen. Als ich
zum ersten Mal meine Leinen ausgelegt habe, habe ich
zweiunddreißig Angelhaken daran befestigt und neun-
undzwanzig Seelachse gefangen.
Mein Vater hat das noch anders gemacht. Er befestigte
seine bêlaées an einer Art selbstgebasteltem Floß. Es war
ein dreieckiges Stück Holz von etwa fünfzig Zentime-
tern Seitenlänge mit einem Mast und einem rechteckigen

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S­ egel. Wenn er es unter den Arm nahm, glaubte ich im-
mer, er wolle endlich einmal mit mir spielen.
Von wegen! Er befestigte die Leine an einer Seite und
wenn der Wind konstant aus einer Richtung blies, ließ
er das »Boot« los, sodass es auf dem Meer tanzte. Auf
der anderen Seite wurde es an einem Felsen festgebun-
den, einem tchu. Zwei Stunden später holte man es wie-
der ein. Der Seelachs beißt vorzugsweise nachts, daher
war es stockfinster, wenn wir die Leine wieder einhol-
ten.
Mein Vater und mein Onkel hatten beide so ein »Boot«
mit einem »Großsegel«.
Mit den bêlaées zu fischen ist nicht schwer. Trotzdem
ist es eine Kunst für sich. Man muss dafür sorgen, dass
die Leine an der Meeresoberfläche schwimmt und nur
ganz wenig absinkt. Der Seelachs folgt nämlich verschie-
denen »Straßen«, er nimmt zum Auf- und Abtauchen
nie denselben Weg zwischen den Felsen. Und wenn du
die Leine dort auslegst, wo er abtaucht, hast du Pech,
denn dann hat er keinen Hunger und deine Köderfisch-
chen interessieren ihn nicht. Erwischst du ihn aber, wenn
er noch Hunger hat, dann fängst du den Vielfraß mit
Leichtig­keit.
Ist die Dünung zu stark, steigt der Fisch nicht auf,
sondern bleibt am Grund. Der »steigende Wind«, der
aus dem Norden kommt, schließt den Fischen das Maul.
Dann beißen sie nicht. Kommt er aus dem Süden, dann
beruhigt er sie. Dann ist alles gut. Der Wind öffnet den
Fischen ebenso das Maul wie den Leuten! Und das Baro­
meter steht auf »schön«.
Für die Würmer habe ich natürlich auch so meine
Ecken unter ganz bestimmten Steinen. Die kratze ich mit
einem flachen Stück Altmetall ab, das ich mir selbst zu

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einem Haken gebogen habe. Unter den Steinen suche ich
die gelbe Spur der Würmer, das Sekret des Tauwurms.
Der Tauwurm ist so halbweich. Aber der stabilste Köder,
der beste und der seltenste, ist der sandao. Das sind gro­
ße Würmer, die ich hier unter dem Kies ausgrabe, und
diese Stelle verrate ich keinem. Die Rotwürmer sind da
gar nichts dagegen, sie sind viel zu weich. Um den san­
dao auszugraben, gehe ich bei Ebbe an den Strand, wenn
das Wasser zurückfließt. Aber ich vergesse nicht mehr,
rechtzeitig zu verschwinden, Teufel noch mal! Kaum
drehst du dich um, ist das Meer wieder da. Gerade wenn
der Tidenhub hoch ist, dann zieht sich das Wasser viel
weiter zurück als sonst, aber ebenso schnell ist es auch
wieder da. Wenn das Meer Niedrigwasser hat, schnappst
du dir die großen Lippfische, die beißen nur am Grund.
Du hast ein Tangloch zwischen zwei Felsen, um deine
Leinen festzumachen. Wenn die Leine zu hoch sitzt, hast
du verspielt, denn dann hat sie keinen Schutz von den
Felsen und du kannst sie verlieren. Im Meer sind die Fel-
sen wie Hecken. Sie schützen vor der Strömung.
Regenwürmer habe ich zum Angeln noch nie genom-
men, aber ich habe mir geschworen, es eines Tages zu
versuchen.
Um den Seebarsch zu fangen, brauchst du Meeräschen.
Ernsthaft. Die findest du in den Tümpeln zwischen den
Felsen. Oder Sandaale. Bei uns muss der Wind von Wes-
ten kommen, damit man Seebarsche fangen kann. Der
Ostwind ist, wie ich schon gesagt habe, gut fürs Meer,
aber nicht fürs Land. Bei Ostwind brodelt das Meer, die
Fische beißen eher, und man erwischt sie leichter, weil
sie den Haken und die Leine nicht sehen. Der Ostwind
wühlt den Meeresboden auf. Das merkt man auch bei
den Brunnen. Das steht ja alles in Verbindung. Ich weiß

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immer, ob Ostwind kommt, da brauche ich nur in mei-
nen Brunnen zu horchen. Das grummelt dann da drin-
nen, als säße dort ein Ungeheuer, das unbedingt raus
will.
Das Meer essen

Nach ein paar Stunden Fischen komme ich nach Hause


und die Schwestern warten schon neugierig, was ich die-
ses Mal mitbringe. Früher waren es meine Mutter und
mein kleiner Bruder, die in meine Kiepe sahen.
Wir essen unseren Fang, einfach so, ohne Mayonnaise
oder Sauce. Manchmal holt Marie-Jeanne, meine jün-
gere Schwester, die Schnecken mit einer Nähnadel aus
ihrem Haus. Das dauert Stunden, und am Ende hast du
doch nur einen Happen zu essen. Sie brät die Schnecken
in einer Pfanne, in der sie vorher eine Zwiebel in Butter
goldbraun angebraten hat. Das dauert höchstens fünf
Minuten. Aber es schmeckt!
À la nature allerdings bleibt der ganze Geschmack er­
halten.
Meine Schwester soll keine Meerestiere essen. Sie
musste einmal eine Computertomografie machen lassen,
bei der man ihr Jod verabreichte. Danach hatte sie eine
Allergie. Künstliches Jod, stell dir mal vor. Hinterher hat
sie sich am ganzen Leib nur noch gekratzt. Kein Wunder!
Ich esse von den Fischen gern den Kopf. Bei den Hasen
mag ich das nicht. Die Hasenköpfe wandern in den Ab-
fall. Wenn meine Nichte sieht, wie die Fische kochen und
die Köpfe aus dem Kochwasser kommen, ruft sie immer:
»Das kommt in den Abfalleimer!«
Nur bin ich in diesem Fall der Abfalleimer.
Da lasse ich mich nicht lange bitten. Vor allem die

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Augen esse ich gerne, ein echter Leckerbissen. Seelachs­
augen, aber auch alle anderen Fischaugen. Das harte
Stück lasse ich übrig, das gebe ich der Katze. Ich sauge
nur die weiche Masse aus. Die Katze setzt sich ruhig auf
ihren Hintern und wartet. Wenn sie dann sieht, dass ich
die Hand vor den Mund halte, schleicht sie ran. Ich lasse
nicht einmal die Reste auf dem Teller, die Krebspanzer,
die Knöchelchen und Gräten. Für mich ist das das Beste
an Fisch und Meeresfrüchten.
1950 kam einmal ein Freund meines Vaters zu ­Besuch
und trank mit uns Kaffee. Da erzählte mein Vater, dass
sie 1944 im Krieg im Hafen von Cherbourg einen ­toten
Deutschen gefunden hatten, dem die calicocos, die Well-
hornschnecken, die Füße abgenagt hatten. Die Tiere sa-
ßen in zwei großen Haufen auf ihm. Als sie ihm die Stie-
fel auszogen, war von den Füßen nichts mehr da.
Nach dieser Geschichte wollte ich keine Schnecken
mehr essen. Doch die Fischer und die Leute von der See­
notrettung wissen das: Wenn man eine Wasserleiche
findet, haben die Tiere immer die Weichteile gefressen,
Augen, Gehirn und so weiter … Der Mensch hat nun
einmal viele weiche Stellen.
Letztlich bin ich nicht besser als diese Viecher. Auch
ich fange bei den Augen an, aber es ist doch nicht das-
selbe!
Damit man das Meer essen und ein guter Fischer
werden kann, gibt es ein paar Tricks. Wenn du am Ein-
gang zu deinem Hummerloch einen Meeraal findest, ist
ganz sicher ein Hummer drin, der seinen Panzer abwirft.
Das hat mir mein Vater immer versichert. Der Meeraal
wartet, um ihn ohne Schale zu schnappen, ja, er will ihn
fres­sen. Ich habe selbst auch schon Hummer ohne Pan-
zer gefangen, das ist ein seltsames Gefühl, wenn man sie

54
an­fasst, aber sie schmecken sehr gut. Tragen Krebse und
Hummer jedoch Eier unter dem Bauch, lässt man sie wie-
der laufen. Einmal haben uns sogar Gendarmen auf dem
Parkplatz kontrolliert. Wir haben alle unsere Kiepen
zeigen müssen. Sie wollten wissen, ob wir auch ja keine
eiertragenden Weibchen dabei hätten. Dann sollten wir
noch ins Röhrchen blasen. Ich konnte mir einen Witz
natürlich nicht verkneifen:
»Ich muss erst die Brille absetzen.«
»Wieso?«, fragt der Gendarm und runzelt die Stirn,
während ich so tue, als fände ich das Gestell auf der Nase
nicht.
»Weil das dann zwei Gläser weniger macht!«
Auguste, mein Bruder, hat sich gar nicht mehr ein­
gekriegt vor Lachen. Danach meinte er:
»Pass bloß auf, früher oder später lochen sie dich noch
ein.«
Einmal haben wir nach einem Schiffbruch den großen
Überseekoffer des Kapitäns am Strand gesehen. Ein Kerl
kam, packte ihn und versteckte ihn auf seinem Wägel-
chen, das von einem Esel gezogen wurde. Wir wussten,
dass etwas Wertvolles drin sein musste, wahrscheinlich
Banknoten, aber wir waren ja so dumm damals, wir ha-
ben uns nicht getraut zu fragen. Als der Kerl an uns vor-
beiging und uns sozusagen der Speichel aus dem Mund
lief, winkte er uns nur zu und meinte:
»Hallo, Jungs. Scheißwetter, nicht wahr?«
Da saßen wir und hielten Maulaffen feil, während er
mit dem Geldkoffer an uns vorüberzog! Wir hätten auf-
stehen und den Tang beiseite ziehen sollen, dann hätten
wir wenigstens gewusst, was drin war, und nicht ein hal-
bes Jahrhundert darüber reden müssen.
Später prahlte er mit einer Taschenuhr aus Gold. Da

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alles geheim war, sagte niemand etwas, aber jeder wusste
Bescheid.
Ich bin kein Schatzsucher, ich gehe nur auf ­Hummer
und Barsche. Solch einfachen Sachen machen einen glück­
lich. Das macht nicht groß was her, aber das Meer zu es-
sen, das lernt man im Laufe eines Lebens.
Einfach abtreten

Die Schwestern sind ja recht verschwiegen, aber sie ken-


nen alle Geschichten aus dem Dorf, vor allem die von
den Schiffbrüchen. Jeder hat schon einmal nach einem
Sturm kleine Treibgut-Schätze am Strand eingesammelt.
Einige der Alten – damit meine ich die, die damals so
alt waren wie ich jetzt – holten ihre Butter, die wir bis
2004 auf dem Hof verkauft haben, auf Tellerchen mit
der Aufschrift Prince Line ab, die bei einem Schiffbruch
angeschwemmt worden waren.
Hier wird alles aufgehoben. Die Geschichte unseres
Landstrichs ist den Dingen eingeschrieben. So bestehen
beispielsweise die Fensterläden an meinem Haus oder
ein paar von den Einzäunungen aus Fundholz. Welches
Schiff gekentert ist, kann man an den Buttertellern ab-
lesen. Man glaubt das heute ja nicht mehr, aber wir
sind mit dem Meer und der Erde verbunden. Da ist der
Mensch nur eine kleine Marionette.
Wie gesagt: niemand, wirklich niemand wird je ­meine
Hummerlöcher zu sehen bekommen. Ich werde von mei-
nen Löchern erzählen, aber sie niemals herzeigen. Ich
habe euch zwar beschrieben, wie man hinkommt, aber
ich habe ein ganzes Leben gebraucht, um sie wirklich
kennenzulernen, und wenn ich jetzt verrate, wo sie sind,
habe ich das Gefühl, mit mir ist Schluss. Vielleicht könn-
te ich ja jemanden mitnehmen, wenn der Mond tief steht
und der Nebel so dicht ist, dass man ihn mit einem Mes-

57
ser schneiden könnte. Derjenige hätte dann so viel Angst,
sich zu verirren, dass er nicht mehr darauf achten würde,
wo er den Fuß hinsetzt. Denn ich, und da übertreibe ich
nicht, ich erkenne die Steine mit den Füßen. Ich würde
mich nie verlaufen, andere schon! Ich warte und esse das
Meer und die Erde. Vielleicht halten manche mich für
einen seltsamen Vogel. Aber wenn jemand meine Löcher
freilegt, dann nur, weil er etwas im Schilde führt. Und
trotzdem müsste er höllisch aufpassen, dass die Wellen
ihn nicht wegreißen. Dann hätte mein Hummer was zu
fressen. Der Hummer, den ich verloren hätte, den ein
anderer hätte fangen wollen, nur leider ist er dabei er-
trunken.
Meine Löcher sind Schweigen, ein bisschen Privat­
leben sozusagen. Mein Morgen im Angesicht der Gezei-
ten, meine Nächte unter dem Auge des Mondes.
Dennoch wird der Tag kommen, an dem ich es halten
werde wie mein Vater und mein Onkel. Ich werde mei-
nen Neffen mitnehmen oder eine andere Person meiner
Wahl, einen nur, nicht etwa zwei, und ich werde ihm
mein Territorium zeigen, ich werde das Geheimnis wei-
tergeben. Das heißt dann auch, dass ich mich matt fühle,
dass es nicht mehr lange dauert, bis ich das letzte Mal
hier die Gezeiten sehe.
Ich müsste vielleicht auf allen Vieren krabbeln, aber
ich würde noch mal ans Meer gehen. Sicher!
Aber irgendwann wird einer in meine Fußstapfen
­treten. Was meine Löcher angeht, aber auch bei ande-
ren Dingen. Man muss einfach abtreten können. Darum
kommt man nicht herum.
Mein Vater, mein Onkel und ich – das sind mehr als
zweihundert Jahre Erfahrung im Fischen, die Urgroß­
eltern nicht eingerechnet!

58
Die Stille

Françoise hat sich einmal eine Rippenfellentzündung ein­


gefangen. Es hat ganz schön lang gedauert, bis sie wie-
der gesund war, und sie langweilte sich zu Tode. Sie aß
nichts mehr, solche Schmerzen hatte sie. Ich habe für sie
gekocht, meistens Rinderragout mit ­Abalonenmuscheln.
Davon aß sie dann ein paar Bissen. Dann habe ich ihr
noch etwas zu trinken gegeben.
Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte.
Eines Tages kam ich vom Meer mit einem schönen Hum-
mer zurück. Ich habe ihn lebend in ihr Zimmer hinauf-
gebracht, er tropfte noch, was für den Holzboden nicht
gut ist. Da sog sie den Geruch des Meeres ein und fühlte
sich sofort besser. Ich habe es in ihren Augen gesehen.
Damit habe ich ihr wieder Appetit aufs Leben gemacht.
Sie wollte schneller gesund werden, um wieder raus zu
können.
In der Stille, der echten Stille hörst du dich selbst. Zur
Stille gehört die Freiheit. Wenn ich eingesperrt wäre,
könnte ich sie nicht hören. Die Krankheit hatte meine
Schwester eingesperrt, doch der Geruch des Meeres hat
sie mit Freiheit erfüllt. Das kann man gar nicht in Worte
fassen. Und doch ist es da, für jeden!
Wenn man älter wird, wiederholen sich manche Er-
eignisse, so wie sich die Jahreszeiten wiederholen. Als
am 15. Juli 2008 die Queen Elizabeth II in Cherbourg
einlief, fühlte ich mich um siebzig Jahre zurückversetzt.

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Damals hatte ich von unseren Feldern aus zwei Nach­
barinnen beobachtet, die auf einem Mäuerchen saßen,
das die Deutschen später während des Krieges sprengten.
Als ich vorbeimarschierte, riefen sie mir zu:
»Komm doch her, Paul. Die Kweeen Elisabeth soll
heute noch hier vorbeikommen.«
Ich höre sie heute noch sagen »Kweeen Elisabeth«. Ich
spreche es immer noch aus wie sie! Aber ich bin zu mei-
ner Mutter gegangen. An ihrer Seite habe ich ­gesehen,
wie dieses riesige Schiff an der Küste, ganz nahe an den
Felsen, vorüberzog. Sie lag tief im Wasser, als sie da groß
und majestätisch ohne einen Laut dahinglitt. Ja, vollkom­
men lautlos. Es tat einem im Herzen weh, so schön war
sie. Und natürlich dachte man, im Innern des Schiffes
müsse alles genauso schön sein.
2008 hat die Kweeen Elisabeth dagegen niemand
vorüberfahren sehen, sie fuhr weiter draußen als ihr
Schwesterschiff siebzig Jahre davor. Außerdem behin-
derten ­Nebel und Regen bis zum Abend die Sicht. Das
war wie mit der Sonnenfinsternis 1999. Wir haben alle
darauf gewartet und dann gar nichts gesehen, weil der
Himmel voller Wolken war. Dass die Sonne verschwand,
konnten wir nur spüren, im Körper und weil die Tiere
plötzlich still wurden. Die ganze Natur hielt inne.
Natur und Geräusche, das geht immer Hand in Hand.
Unendliche Stille wird wohl nie herzustellen sein, denn
dann, so scheint mir, hätte man die völlige Einsamkeit
erreicht.
Und Einsamkeit erträgt niemand. Wenn dich die Sor-
gen übermannen, wenn du ein Darlehen aufnehmen
musstest (wozu ich nie gezwungen war), wenn du daran
denkst, was alles auf dich zukommt – der Tierarzt, die
Steuerprüfung und was sonst noch anfällt –, wenn du bei

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jemandem Schulden hast, dann ist deine Stille gestört.
Du bist nie wirklich allein. Du wirst »verfolgt«, könnte
man sagen, deine Schulden verfolgen dich bis in dein In­
nerstes.
Wahre Stille, wie man sie mit sich selbst erlebt, führt
dazu, dass du die Einsamkeit, das Nachdenken, zu schät-
zen weißt. Eine leichte Brise streicht über deinen Körper,
du hörst alles Mögliche in der Luft. Du gibst dich ganz
hin, du spürst dich in der Stille. Und du spürst auch die
anderen. Frieden breitet sich um dich aus wie eine schöne
Landschaft.
Manchmal sehe ich vom Garten aus Besucher ­kommen.
Die legen dann ihre Hand auf unser Gatter, als wäre ich
der selige Thomas Hélye aus Biville und würde Wunder
wirken. Keine Sorge! Er ist seit langem tot und hat sich
einst für die Stille der Armut entschieden. Solch eine rei-
che Seele besitze ich nicht.
Ich lebe mein Leben in meiner Stille oder in meinen
Worten. Und ich will weiterhin Mesner bleiben in der
grünen Kathedrale der Natur. Ich mag dieses Bild, denn
ich bin tatsächlich Mesner in unserer kleinen Kirche.
Und nicht nur dort, denn ich lebe Tag für Tag mit Gott
in La Hague, unserem Landstrich.
Diese religiöse Einstellung ist mir wichtig. Aber auf­
gepasst: Ich fordere sie nicht von anderen. Ich hatte
Glück im Leben, das ist alles. Ich lebe mit und nicht
neben den Dingen. Das Wort Gottes macht zuweilen
Angst. Da gibt es Leute, die halten sich für tolerant, und
solange man nur über die Landwirtschaft redet, geht al-
les gut. Wenn du aber erzählst, wie das Korn in der Erde
stirbt, um von Neuem zu keimen, dann ist auf einmal
Schluss.
Sterben, um weiterzuleben.

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Es gibt nun einmal Dinge, die das menschliche Begriffs­
vermögen übersteigen. Davon bin ich überzeugt.
Ich fühle mich nichts und niemandem überlegen. Der
Begriff »Satan« bereitet mir Unbehagen. Andere sind da
anderer Auffassung. Es gibt eben solche und solche.
Ein einziges Mal habe ich mich vor der Stille gefürch-
tet. Da habe ich vor meinen eigenen Schritten Angst ge-
habt. Aber nicht vor Gott! Ich musste mich dem Gefühl
stellen, dass der andere, der Böse, sich mir näherte. Da
stand ich am Fuß der Klippen im Licht des Vollmonds.
Ich hielt inne und da … der Widerschein des Mondes,
das Meer, das plötzlich still wurde, und die Farben, die
sich änderten, richtig umschlugen … das erinnerte mich
an den Krieg, dabei war kein einziger Laut zu hören.
Meine Schritte klangen, als sei ich ganz allein auf der
Welt. Sie hallten in meinem Körper wider wie ein Echo.
Fünfzehn Jahre später zittere ich immer noch, wenn ich
an diese beunruhigende Ruhe denke und den Aufruhr,
der sich darin verbarg. Einen Augenblick lang schwieg
die Natur. Und einen Augenblick lang habe ich geglaubt,
dass der Dämon die Gunst der Stunde nutzen würde, um
sich des Landes zu bemächtigen.
Nach so etwas ist man natürlich glücklich, wenn man
wieder daheim ist, wenn man an der Tür der Schwestern
vorbeigeht und weiß, dass sie da sind, voller Freund­
lichkeit und Güte. Ich weiß nicht, was damals passiert
ist, aber seitdem gehe ich nachts nicht mehr so gern allein
ans Meer. Ich sage immer Bescheid, wann ich gehe und
wann ich wieder da sein werde.
Im Grunde sind Stille und Einsamkeit doch zweierlei,
und ein Einzelgänger bin ich nicht gerade. Ich habe mich
einsam gefühlt, als die jungen Leute meines Alters das
Land im Stich ließen und in die Stadt flohen. Sie hatten ja

62
recht. Sie hatten mehr Geld und weniger Rückenschmer-
zen. Ich habe die für mich richtige Wahl getroffen. Ich
bin meinem Land treu geblieben, dem Land, das ich
liebe.
Vielleicht sollte es eines unserer Lebensziele sein, um
keine Stille ertragen zu müssen, die Ruhe kennen und
schätzen zu lernen.
Geheimnisse

Eines Tages hat es mich gepackt und ich wollte den


­Kamin in einem der Zimmer im Haus erneuern. Kurz
zuvor hatte ich drei Säcke Zement nach Hause gebracht,
die vermutlich von irgendeiner Baustelle stammten. Man
hatte sie »in den Graben« geworfen, das war eine Art
wilder Müllkippe. Nicht selten landeten dort auch Sa-
chen, die man noch gut gebrauchen konnte. Ich war oft
dort.
Mit diesen noch völlig unberührten drei Säcken Ze-
ment machte ich mich dann zu Hause an die Arbeit.
Bevor man neuen Putz aufbringt, muss man – wie vor
der Aussaat – den Grund herrichten, damit er gut hält.
Also habe ich den alten Mörtel abgeschlagen und den
Kamin gesäubert. Im bûlin, einer Vertiefung am Kamin,
in der wir normalerweise Salz und Zündhölzer aufbe-
wahren, damit sie schön trocken bleiben, bemerkte ich
plötzlich einen Hohlraum. Ich stocherte ein wenig darin
herum, wie ich es auch in meinen Hummerlöchern ma-
che, und plötzlich löst sich ein Stein.
Er wäre mir fast auf den Kopf gefallen.
Mir stockte der Atem, denn in Auderville redet man
schon seit Ewigkeiten davon, dass irgendwo im Dorf ein
Schatz versteckt sein soll. Ich dachte kühn: »Das ist der
Schatz! Der Schatz aus Merquetot ist nach siebzig Jahren
endlich aufgetaucht. Und ich habe ihn gefunden!«
Ich war völlig aus dem Häuschen. Mir kribbelte es

64
regelrecht in den Fingern, als ich meine großen Pfoten
in das Loch schob. Ich untersuchte es eingehend, tastete
Höhe und Seiten ab. Eine Öllampe stand darin. Sie war
ganz schön heruntergekommen, bestimmt war sie uralt.
Roststückchen bröselten mir auf die Finger. Ich hatte
schon Angst, die Schwestern würden mich ­ausschimpfen,
wenn sie sahen, wie ich da allerhand Schweinereien aus
dem Loch herausholte.
Bei jedem Stück Schmutz, das herausbröckelte, drehte
ich mich um und sah über die Schulter, ob nicht etwa eine
ins Zimmer kam. Den herausgefallenen Schutt schob ich
mit dem Fuß weg. Aber schließlich fand ich doch noch
etwas drin. Ich sage nicht, was es war … vielleicht ein
Schatz, vielleicht auch nicht …
Dann überlegte ich kurz. Wenn jemand früher schon
etwas in diesem Loch versteckt hatte, konnte ich das
doch auch tun. Ich strengte meine Gehirnzellen an, dann
holte ich ein Heft. Ich kramte mein Zeug hervor und
schrieb eine Seite an den Knaben, der das Loch später
einmal entdecken und ausräumen würde. Der konnte
sich dann sagen: »Der Kerl, der das geschrieben hat, hat
sicher keine Karies mehr.« (Was bedeuten soll: Der ist
tot.) Vielleicht wird es wieder ein Bedel sein, vielleicht
auch nicht … Ich klaute Marie-Jeanne eine Plastikdose
mit Deckel, verstaute alles und legte es ins Loch zurück.
Dann verschloss ich es wieder. Wie oft mochten meine
Vorfahren wohl etwas darin versteckt haben?
Irgendwie hat mir das Ganze keine Ruhe gelassen. Ich
habe meine Plastikdose für den Nächsten eingemauert
und selbst allerhand Staubiges, aber auch Kostbares ge-
funden. Ich habe auf dem Blatt erklärt, wieso ich es dort
gelassen habe. Bestimmte Dinge müssen dort bleiben,
wo man sie findet. Ob sie nun wertvoll sind oder nicht.

65
Ohne Bedauern.
Dann wollte ich das natürlich noch ein wenig ver­
schönern. Ich strich die Wand weiß und hatte die Idee,
bevor der Zement trocknete, Ähren hineinzudrücken,
erst eine Ähre, dann noch eine und noch eine. Natürlich
von meinen Feldern. Das Symbol des Brotes, der Nah-
rung und des Sämannes. Für mich sind das die Symbole
des Lebens schlechthin. Eine Art Abendmahl, das die
Dinge, Tiere und Menschen vereint, und auch die Schön-
heiten der Natur.
Danach habe ich noch lange an die vielen Nacht­
wachen gedacht, bei denen man so gerne über Schätze
redet, die im Garten vergraben, im Haus eingemauert
oder auf dem Speicher versteckt sind. Ich kann mich an
einen sehr alten Mann erinnern, der vergessen hatte, wo
er seinen Spargroschen versteckt hatte. Nach seinem Tod
ging eine anständige Frau aus dem Dorf zu seiner Toch-
ter, um ihr zu sagen, wo sie das Geld finden würde. Sie
wusste das seit ihrer Kindheit, damals hatte sie es irgend-
wo aufgeschnappt.
Am Ende wird das ganze Geld eines Mannes, alles,
was er sich erarbeitet hat, irgendwo eingeschlossen, in
einem kleinen Raum in einer alten Mauer.
In Auderville finden sich immer wieder »Schätze« in
den Häusern. Die Leute entdecken sie, und das geht
dann herum. Jeder redet darüber. Meist sind es alte Geld­
scheine, die keinen Wert mehr haben. Das ist wirklich
zum Lachen.
Im Kohlenkeller oder Holzschuppen hat man dagegen
immer die guten Weine versteckt. Das ist der »Weinkel-
ler« der Männer, die sich vor ihren Frauen verbergen, um
einen Schluck mehr zu trinken als nötig.
Manchmal aber handelt es sich um Edelmetalle …

66
Wenn man Gold oder Silber findet, ist das natürlich
alles andere als lachhaft. Das erzählt man auch nicht
herum. Mein Großvater hat uns mal von einem Schatz
berichtet, der auf der Heide auf einen neuen Besitzer
wartet, nur drei Kilometer von uns entfernt. Eine Frau,
die ein Verbrechen begangen hatte, wurde von den Gen-
darmen abgeführt. Sie wusste, dass man sie ins Gefäng-
nis stecken würde, und so hatte sie ihren Schatz in einen
Sack gepackt und trug ihn unter den Röcken mit sich.
Der Schatz musste schwer sein, denn sie ging sehr lang-
sam. Man erzählt, dass sie an einem bestimmten Punkt
auf der Heide die Gendarmen plötzlich bat, »austreten«
zu dürfen. Die Polizisten ließen sie längere Zeit allein.
Und offensichtlich entledigte sie sich dabei ihres Schat-
zes, denn hinterher ging sie leichten Schrittes vor den
beiden her.
Wenn jemand diesen Schatz tatsächlich gefunden ha-
ben sollte, so redet er darüber nicht. Ich habe ihn nicht.
Jedenfalls sieht man in der Gegend immer wieder tiefe
Löcher, die mit der Hacke gegraben wurden.
Als man überall ägyptische Gräber öffnete und dort
massenhaft Gold fand, ließ ein Monsieur Duchevreuille
in der Gegend von Auderville ein Hügelgrab öffnen, das
vier im Rechteck angeordnete Steine flankierten. Als es
so weit war, versammelten sich alle Würden- und Kra-
wattenträger der Gegend. Die Aufregung war groß. Das
haben die Alten uns erzählt. Alles hielt den Atem an, als
man den Tumulus öffnete. Was für Herrlichkeiten würde
man darin wohl entdecken? Man stieß erst nach einigen
Tagen auf die Grabkammer, aber statt Gold fand man
nur Asche und versteinerte Knochen.
Die horsains, die uns besuchen, also die »­Auswärtigen«,
wie wir sie nennen, geraten oft in Verzückung, wenn sie

67
die »Deutschen-Pfähle« finden. Das sind ein paar Pfos-
ten in der Bucht von Écalgrain, auf denen die Deutschen
während des Kriegs einen Beobachtungsposten errichtet
hatten, eine Holzhütte. Da man dort, vor allem Richtung
Jobourg, auch behauene Feuersteine findet, bilden sich
die Leute immer ein, die Pfähle seien eine Art Carnac der
Normandie, und wir widersprechen ihnen nicht. Wenn
sie es so wollen.
Was man auf unseren Feldern öfter mal findet, sind
kleine Pfeilspitzen aus Feuerstein aus der Wikingerzeit.
Zumindest nehme ich das an. Es heißt, sie sollen das
Haus vor Unglück bewahren.
Und dann haben wir noch die Kuhkratzer. Das sind
auch Steine und zwar große Granitblöcke mitten im
Feld, an denen die Kühe sich die Schwarte reiben ­können,
wenn Fliegen und Bremsen über sie herfallen. Da haben
wir schon Tränen gelacht. Es gab Schatzsucher, die mit
einer Art Bratpfanne zum Graben angerückt sind, um
dort das Gold der Kelten zu suchen.
In einer Nachbargemeinde kam jedes Jahr so ein Typ
mit seiner ganzen Schatzsucherausrüstung an. Wir haben
über ihn gelacht, weil er jeden Sommer da war, und ihn
recht respektlos »Schürfpfannengesicht« getauft. Und
dann hat er tatsächlich einen Schatz ausgegraben, und
zwar genau am Fuß eines Kuhkratzers. Der war den gan-
zen Aufwand wert. Wir waren sprachlos! Seinen Fund
hat er sogar mit dem Besitzer des Feldes geteilt.
Mir hingegen ist einmal Folgendes passiert: Ich war
auf dem Feld, und aus irgendeinem Grund wurde mein
Blick plötzlich von einem kleinen Erdklumpen ange­
zogen (mit schönen Steinen für meine Mäuerchen geht
mir das genauso). Ich weiß heute noch nicht, wieso, aber
ich fing an, mit dem Daumen die Erde abzukratzen und

68
dann halte ich auf einmal ein kleines Kreuz mit einem
Christus aus Elfenbein in Händen.
Ich hab’s in die Tasche gesteckt.
Und dort habe ich es seitdem gelassen. Ich habe mei-
nen Fund als Zeichen genommen und habe das Kreuz in
ein Stück Papier gewickelt und in eine winzige Dose mit
Reklame für Kakaopulver gesteckt. In dieser Dose führe
ich auch meine Herztabletten mit – man weiß ja nie! –
und eine Medaille mit der heiligen Therese, die mir ein
junger Mann mal geschenkt hat.
Hier in unserer Gegend redet man nicht gerne über
Geld. In Saint-Germain-des-Vaux wurde im Jahr 1900
eine Frau erstochen, die ein hübsches Vermögen hatte.
Die Mörder sind durchs Fenster verschwunden. Nach
der Tat blieb eine große Blutlache auf dem Boden zurück.
Den Fleck soll man heute noch sehen. Damals wurden
verschiedene Personen beschuldigt, deren Nachkommen
hatten noch lange unter der Schande zu leiden. Sie haben
sie gleichsam von Generation zu Generation weiterver-
erbt bekommen. Im Dorf wusste man immer, wer das
Ganze angezettelt hatte. Der, den man für schuldig hielt,
war ein Mann mit einem Zylinder. Man hatte ihn an
jenem Tag gesehen, wie er sich mit seinem Pferdewagen
auf den Wegen ums Haus herumtrieb. Vielleicht hat er da
auf die von ihm gedungenen Mörder gewartet.
Da die Schuldigen nie gefasst wurden, hielt sich wäh-
rend meiner Jugend und sogar noch nach dem Krieg bei
uns ein Klima des Argwohns. In den abgelegenen Wei-
lern ließ man die Kinder nicht gerne draußen spielen, und
über Geld redete man schon gar nicht. Irgendwie hat die-
se Geschichte den Geist der Gegend geprägt. Die Alten
reden heute noch darüber! Dabei kann der Kerl, der den
Mord begangen hat, heute niemandem mehr schaden.

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Ich habe auch Verbrechen begangen, Sünden, auf die
ich alles andere als stolz bin. In meinen wilden Jahren
ging ich noch mit dem Karabiner auf die Jagd, einem
Gewehr, das ich schwarz gegen irgendetwas eingetauscht
hatte. Ich zog so über die Felder, als es plötzlich in einer
Hecke zu rascheln begann. Die Zweige zitterten, ich
hielt den Atem an und: »päng«. Meinen Kopf hättest
du sehen müssen, als ich begriff, dass der vermeintliche
Hase ein großer, brauner Kater war. Einen Moment lang
glaubte ich, auf ein Gespenst gestoßen zu sein, das mir
einen üblen Streich spielte, eines von denen, die in La
Hague herumgeistern.
Kurz darauf traf ich eine alte Frau, die so des Weges
kam. Sie hielt mich an, ich konnte ihr nicht gut auswei-
chen:
»Ach, die Jagd ist also schon eröffnet. Mein großer
Kater ist weg. Ich finde ihn nicht mehr. Hast du ihn zu-
fällig irgendwo gesehen, Paul?«
Und ich stand da mit rotem Gesicht und stotterte:
»Vielleicht hat er ja eine hübsche Katze getroffen, wer
weiß?«
Die arme Alte …
Im Jahr darauf ging ich mit Mirza, unserer treuen
Hündin, auf die Heide hinaus. Dieses Mal aber jagte sie
nicht wie üblich. Sie hatte es auf einen Busch abgesehen
und umkreiste ihn aufgeregt springend. Aber natürlich
wollte ich nicht wieder eine Katze erschießen. Ich wür-
de nicht blind auf den Busch zielen. Und so wartete ich,
bis Seine Majestät, der Hase, aus dem Versteck kam.
Päng, das Tier fällt. Und wieder dasselbe! Ich hatte kei-
nen Hasen erlegt, sondern ein großes, fettes Kaninchen.
Später erfuhr ich, dass es offensichtlich aus seinem Stall
ausgebüxt war. Sein Besitzer war schon seit Jahren stolz

70
darauf, die größten Stallhasen von La Hague zu züchten.
Ich habe mich kaum getraut, es zu Hause zu erzählen, so
habe ich mich geschämt. Aber das Tier war so groß, das
wäre jedem aufgefallen. Nun ja, gegessen haben wir es
trotzdem …
Ich habe halt auch Sachen gemacht, die einfach nicht
besonders nett waren. Und als ein Nachbar mir erzählte,
dass er gesehen habe, wie eine Frau meine Weste an sich
drückte, die ich auf der Einfassung hatte liegen lassen,
dachte ich mir: »Also nein, das geht doch nicht.«
Seitdem lasse ich meine Sachen nicht mehr so herum-
liegen. Die Dame hatte wohl einen Sprung in der Schüs-
sel. Ich bin gewiss kein Heiliger. Ich habe im Leben auch
Fehler gemacht. Denn ich bin einfach nur Paul, mit all
meinen guten und schlechten Seiten. Ich halte mich nicht
für besser als andere Menschen, eher im Gegenteil.
Großvater Bedel

Wir hatten früher richtige Wachposten in den Dörfern.


In Auderville war das ein alter Mann, der immer auf dem
runden Stein vor seinem Haus saß. Wenn die Leute von
der Sonntagsmesse kamen, erbettelte er sich ein paar
Sous:
»Du hast doch bei der Kollekte gerade ein paar Mün-
zen für jemanden hergegeben, den du gar nicht kennst,
da kannst du mir ruhig auch was geben, damit ich mir
einen Schluck Roten kaufen kann.«
Ihr könnt die alten Leute hier fragen, die erinnern sich
alle noch an den Kerl auf dem Stein. So wie sie sich an
meinen Großvater erinnern.
Mein Großvater wusste so allerhand. Schließlich hat
sich in La Hague auch einiges zugetragen. Ein paar Din-
ge kann man ruhig erzählen, andere besser nicht.
In unser Dorf kam immer eine Frau, die Hasenfelle
verkaufte. Man hörte sie schon von Weitem mit ihrer lau­
ten Stimme und ihrem Wägelchen:
»Hasenfelle! Hasenfelle!«
Da rief dann mein Großvater gut gelaunt:
»Hast du denn keine Hasenpfoten?«
Es jagte mir einen höllischen Respekt ein, wie mein
Großvater da seine Stimme erschallen ließ. Fast war es
mir ein wenig peinlich, und so versteckte ich mich hinter
der Hecke, um die Reaktion der Alten zu beobachten,
die in meinen Augen aussah wie eine Hexe.

72
»Alter Esel! Geh schon und such mir deine Hasenfelle
heraus, wenn du welche hast. Dir ist es doch mehr als
recht, dass ich komme und sie dir abnehme.«
Wenn es im Sommer so richtig heiß wurde und wir
im Heu spielten, bekamen wir alle schnell Durst. Mein
Großvater auch. Dann musste das jüngste der Kinder
zum Bach hinunterlaufen, wo der alte Mann die Cidre-
flaschen versteckt hatte. Am Ende des Tages konnte der
Ärmste mit seinen kurzen Beinchen oft nicht mehr. Ich
bin gelaufen und meine Schwestern ebenfalls. Das haben
wir sogar nach seinem Tod beibehalten.
Solche Sachen könnte ich stundenlang erzählen. Aber
diese ganzen Nachrichten aus aller Welt, die kann ich
mir nicht merken. Wenn man sich wirklich an etwas er-
innern will, muss man dort gewesen sein, wo sich alles
abgespielt hat.
Guste, mein großer Bruder, hing immer bei meinem
Großvater rum. Auf dem Weg nach Goury liegt in der
Kurve ein alter Steinbruch, der als Müllhalde benutzt
wurde. Dort hatte mein Großvater einen alten Krug ge-
funden, der so hoch war wie eine Milchkanne, nur oben
herum schmäler, damit man leichter ausgießen konnte.
Opa befahl seinem Enkel:
»Stell den Krug in die Mitte der Kurve. Wir füllen ihn
mit Steinen, dann müssen die Irren, die in der Kurve so
schnell fahren, abbremsen. Das schadet ihnen kein biss-
chen.«
Das war 1937. Damals kam in der Woche ein Auto
durch Goury, mehr nicht! Der Fortschritt, die Geschwin-
digkeit, das machte ihm Angst. Heute würde er wahr-
scheinlich den Verstand verlieren.
Mein Großvater lieferte bis nach Cherbourg, und zwar
einmal die Woche. Er brachte ein halbes Schwein zum

73
Metzger, Butter zu den Milchläden und brachte den
Händlern in den Halles von Cherbourg, wo jetzt das gro-
ße Einkaufszentrum ist, Fische. Er kassierte ein bisschen
Geld bei der Lieferung, den anderen war geholfen, und
ihm machte es Spaß. Wenn er nach Cherbourg fuhr, sah
er wenigstens mal etwas anderes als immer nur das Dorf.
Eines Tages bat ihn die hübsche Marie M., ihr doch
bitte ein Korsett mitzubringen, wie Großvater uns voller
Stolz erzählte. Er hat all seinen Mut zusammengenom-
men und tatsächlich eins gekauft. Und sie hat ihm dafür
zu Hause herzlich gedankt. Danach sah Marie M., die da-
mals schon nicht mehr die Jüngste war, ganz anders aus.
Opa lieferte also einmal die Woche aus und ­brachte
uns von seinen Fahrten allerhand Geschichten mit. Ge-
legentlich half er dem Pfarrer, wie viele Männer aus
dem Dorf, zumindest die, die mit dem lieben Gott auf
Du und Du waren. Eines Tages, als er vom Einkaufen
zurückkam, schloss er sich ein paar Männern an, die im
Garten des Pfarrers Apfelbäume pflanzen wollten. Al-
les wartete auf die Anordnungen des Pfarrers. Der aber
erhielt gerade Besuch von Pfarrer Bosset aus der Nach­
bargemeinde, der auf seinem Eselswagen vorbeigekom-
men war. Wahrscheinlich hatte er Durst, denn er meinte
zu unserem Pfarrer:
»Werter Kollege, wenn Sie schöne Äpfel wollen, müs-
sen Ihre Arbeiter aber noch vor Mittag ins zugehörige
Loch fallen.«
Da braucht man nicht zwei Mal zu fragen, wie das
ausging. Der Pfarrer löschte den Durst seiner Pfarrkinder
nämlich mit Calvados. Nach einer guten Stunde blieb
einer der Helfer, der dickste, im Loch liegen und rührte
sich nicht mehr.
Denn normalerweise gruben sie nur Löcher für die

74
Toten. Da grub man und sah zu, dass man die Arbeit be­
endete und das Loch wieder auffüllte.
Die Löcher waren ja nicht dafür gedacht, sich selbst
hineinzulegen.
Seine Kollegen, darunter auch mein Großvater, zogen
den Dicken also heraus und packten ihn auf den Esels-
wagen des Pfarrers aus Jobourg, um ihn nach Hause zu
schaffen. Nur dass seine liebe Frau sie von Weitem schon
kommen sah. Das ist das Haus, an dessen Gartentür ein
Schild hängt: »Vorsicht, bissiger Hund.« Sie sieht, wie
ihr Mann in diesem Zustand ankommt und läuft schimp-
fend auf die Männer zu:
»Schämt ihr euch nicht, mir meinen Mann in diesem
Zustand zurückzubringen? Euch werde ich heimleuch-
ten!«
Die Männer bekamen es angesichts dieser – wenn-
gleich berechtigten – Drohung mit der Angst zu tun
und ließen den Wagen einfach stehen. Und so fand sich
der Ärmste in seinem Hof wieder, seine Freunde hauten
schleunigst ab, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass
er noch lebte. Der Wagen rollte von selbst ein Stück wei-
ter, dann kippte er nach hinten und die beiden Deichsel-
stangen standen hoch in die Luft.
Und so hieß es hinterher spöttisch, in Goury sei ein
Zweimaster gestrandet. Es habe einen Ertrunkenen ge-
geben. In gewisser Weise schon, aber der ist im eigenen
Saft ertrunken.
Erst später merkte man etwas Interessantes, weshalb
man die Geschichte noch jahrzehntelang weitererzählte,
sonst hätten wir sie ja gar nicht gehört. Die Apfelbäume
wuchsen nämlich gut an und trugen Jahr für Jahr, das
habe ich selbst gesehen, riesige Äpfel, Äpfel mit einem
kugelrunden Bauch, wie der Pfarrer ihn hatte.

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Während des Krieges – er war damals schon einund-
siebzig, aber ich habe ihn mittlerweile längst an Jahren
überholt – war mein Großvater schon ziemlich kraftlos.
Er humpelte und ging am Stock. Die »moderne Sprache«
kannte er nicht. Er redete nur Dialekt und wusste nur
ganz wenige Wörter auf Französisch. Der echte Dialekt
wurde ja unglaublich schnell gesprochen. Die Touristen
(ich nenne die Deutschen »Touristen«, weil sie hierher
gekommen sind, ohne eingeladen worden zu sein) kamen
1940. Ihm zufolge wirkten sie ein wenig gebildeter. Einer
von ihnen bettelte:
»Messjöh, Toilette, Toilette.«
Mein Großvater verstand natürlich nicht, was er sagen
wollte.* Er stellte sich taub und tat so, als wolle er sich
mit dem kleinen Finger die Ohren ausputzen.
»Hör auf zu quatschen, Idiot. Wenn du dich waschen
willst, dann geh an den Brunnen, da ist Wasser genug,
Herrgott noch mal. Und wenn dir das nicht reicht, ver-
schwinde wieder dahin, wo du herkommst.«
Der andere tat, als würde er die Hose runterlassen.
Also zeigte Großvater ihm das Hüttchen im Garten. Der
andere sah ihn ungläubig an, natürlich stank es dort. Als
er darauf zuging, hielt er sich die Nase zu. Kaum hatte
er die Tür geöffnet, fing er an, mit den Armen zu rudern,
um die Fliegen zu vertreiben, die ihn massenhaft um-
schwirrten. Da wurde mein Großvater richtig zornig. Er
schüttelte den Stock gegen ihn und rief:
»Wenn es dir hier nicht passt, scheiß doch daheim!«
Und wenn er uns die Geschichte erzählte, fügte er im-
mer hinzu:

* faire la toilette bedeutet im Französischen »Toilette machen«, also sich


frisieren, ankleiden und so weiter.

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»Wenn er keine Pistole gehabt hätte, hätte ich ihm mit
dem Stock eins übergebraten.«
Aber ein bisschen Widerstand leistete er dennoch, als
sein Haus bis auf das Schlafzimmer und die Küche von
den Deutschen besetzt wurde. Die Zimmer oben dienten
als Büros und jeden Tag kamen deutsche und französi-
sche Sekretärinnen. Da mein Großvater sich langweilte,
fing er an, die Frauen, die mit den Deutschen zu tun hat-
ten, mit dem Stock in der Hand zu verfolgen. Er fuchtelte
mit seinem Stock auf dem Hof herum, ohne jemandem
wehzutun.
Am Gehstock kann man die Reichen von den Armen
unterscheiden. Von den Reichen hieß es, sie hätten »or-
dentlich was am Stock«. Reiche Leute kauften nämlich
Stöcke aus glattem Edelholz, unsere Leute aber schnitten
sich aus einem Ast einen schönen Stock. Der hatte dann
auch keinen gebogenen Griff.
Die Deutschen lachten über meinen Großvater, er tat
ja niemandem weh.
Opa nutzte den Krieg, um vom Krieg 1914/18 zu er-
zählen, in dem viele Menschen gefallen waren. Er aber
hatte seine beiden Söhne zurückbekommen: Mein Vater
hatte ein paar Finger weniger, und auch mein Onkel
François hatte so einiges gesehen. Vielleicht sprachen sie
ja darüber? Ich jedenfalls war immer beeindruckt, wenn
ich vom Soldatenalltag hörte. Wobei sie nicht über Ver-
wundungen oder Tote redeten.
Man musste sich im Fluss waschen, wo das Wasser
viele Krankheitskeime mit sich führte. Manchmal wur-
den sie beschossen, wenn sie die Hinterbacken in der
Luft hatten.
Das Besteck wurde nachts im Schuh verstaut: Messer,
Gabel und Suppenlöffel.

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Das Brot steckte man sich während des Schlafens un-
ter die Achsel, damit es die Ratten nicht wegfraßen.
Und da der Krieg am Ende alle verrückt machte, wur-
de alles gestohlen: Tornister, Gürtel, Kerzen …
Mit all den Erinnerungen auf der Seele konnten die
Alten in unserem Dorf die Deutschen natürlich nicht aus-
stehen. Man gönnte ihnen weder unsere gute Luft noch
die schöne Landschaft.
Unsere Väter kamen tot aus den Schützengräben zu-
rück, und wenn sie noch lebten, wollten sie nicht darüber
sprechen, worüber ich hier schreibe. Vergessen wollten
sie wohl nicht, aber sie wünschten sich, dass wir, die Kin-
der, mit anderen Bildern im Kopf aufwuchsen.
Ich lese gerne Briefe aus jener Zeit. Briefe sind nicht
wie Geschichtsbücher, in denen es immer um große Epo-
chen und berühmte Leute geht. In den Briefen hingegen
reden einfache Leute wie mein Onkel oder mein Vater.
Wenn du 1918 in dein Dorf zurückgekommen bist, dann
warst du entweder gesund oder am Arsch. Man redete
mit meinem Vater nicht über diesen Krieg. Das hätte ja
bedeutet, ihn daran zu erinnern, dass er verwundet heim-
gekehrt war. Ich glaube, man wollte ihn einfach nicht be­
mitleiden.
Und Großvater und sein Stock hatten schließlich recht,
diesen Touristen zu misstrauen, diesen Eindringlingen.
Nachdem er ihnen zwei Jahre lang mit seinem Geschrei
im Hof auf die Nerven gegangen war, sperrten sie ihn in
einen Stall, auf seinem eigenen Hof. Das war ein neuer
Kommandant.
Mein lustiger und kluger Großvater redete nicht mehr,
nicht ein Wort. Er, der immer aus demselben Teller geges­
sen hatte, der nie einen anderen benutzt hatte, der immer
seine kleinen Gewohnheiten gehabt hatte – dass man ihn

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aus seinem Haus vertrieb, kostete ihn das Leben. Er hielt
nur einen Monat durch. Wir konnten ihn nicht bei uns
aufnehmen, da wir ja schon die behinderte Großmutter
mütterlicherseits bei uns hatten. Wir hatten einfach nicht
genug Platz.
Er ist in einem Stall gestorben, einem winzigen Ge-
viert, in dem man früher Feuer machte und bei großen
Fami­lienfesten kochte; in dem meine Tante während des
Kriegs Kaffeebohnen mahlte und geröstete Gerste und
noch etwas, an dessen Namen ich mich nicht mehr erin­
nere.
Er, der eines der größten Häuser in Auderville besaß,
ist eingesperrt gestorben, in seinem eigenen Schützen­
graben, wo er als einzige Waffe einen Stock besaß, mit
dem er nicht mehr zu kämpfen wagte.
Die Waffe der Armen.
Ich höre ihn noch, wie er in seinem Hof tobte und den
unglücklichen Frauen die übelsten Beschimpfungen an
den Kopf warf. Sie fürchteten ihn mehr als den Krieg. Er
hat seinen eigenen Krieg geführt. Er hat ihn nicht gewon-
nen, aber was für eine Courage!
Sein Enkel hat ihn auch einige Jahrzehnte danach noch
nicht vergessen. Wenn heute wieder Krieg wäre, würde
ich mir als Erstes so einen Stock schneiden und würde,
wie er, bis an mein Lebensende aufpassen wie ein Schieß-
hund.
Denn die Freiheit, die trage ich in mir.

79
Das Signal des Leuchtturms

Als ich noch ein Kind war, gab der Leuchtturm von
­Goury einen würdevollen Signalton von sich. Heute
klingt er eher wie eine Autohupe. Damals folgte das Sig-
nal auf den Lichtkegel. Ein lautes Geräusch wie Luft, die
aus einem Druckluftbehälter entweicht. Dieses Geräusch
begleitete uns bei der Arbeit.
Der Leuchtturm auf der Insel d’Aurigny gibt vier Mal
Signal und blinkt vier Mal, der unsrige ist nur einfach
getaktet, ein Blinken, ein Signalton. Während des Krie-
ges war er nicht in Betrieb, man hat die Leere gespürt.
Die Engländer hatten ihm den Fuß torpediert. Wenn sie
ihn völlig zerstört hätten, hätte das die ganze Landschaft
verändert. Man hätte ihn nie mehr so aufbauen können,
so ist er heute immer noch wie früher.
Der Leuchtturm gehört zum Meer und zur Schifffahrt,
aber natürlich spielt er auch für uns, die Bewohner von
La Hague, eine große Rolle. Du hast ihn immer vor
der Nase, auch wenn du ihn gar nicht sehen willst. Du
hörst ihn und du siehst ihn, vor allem nachts, trotz des
Lichtschutzes, den man uns immer für die Giebelfenster
verordnen will und der uns so nebenbei das Mondlicht
raubt.
Auch heute noch leuchtet der Leuchtturm regelmäßig
in mein Bett. Und wenn ich seinen Strahl nicht sehe,
weiß ich schon, welches Wetter wir haben. Höre ich den
Wind, ohne im Schlaf das Licht wahrzunehmen, sage ich

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mir: »Schau mal an, bald haben wir wieder Nebel. Dann
ist der Leuchtturm weg und ruft gleich um Hilfe.«
Und prompt höre ich bald darauf, wie er Signal gibt.
Sein Licht und sein Blöken, das ist wie eine zweite Decke.
Du hast einen Gefährten und lächelst ihm zu. Du sprichst
mit ihm, ohne ein Wort zu sagen.
Ich habe ihn 1947 besichtigt. Die Leuchtturmwärter
haben uns eingeladen.
Drinnen ist es feuchter und kühler als draußen.
Die seltsamen Fenster jagen dir eine Gänsehaut über
den Rücken, einladend sind die nicht. Da die Fenster­
laibung zwei Meter tief ist, musst du dich hinlegen,
damit du hinaussehen kannst. Du kannst nicht stehen
bleiben und den Tag begrüßen. Superpraktisch! Das ist
ironisch gemeint.
Was muss man da drin für ein Leben führen. Außer­dem
gibt es eine unendlich lange Treppe. Als ich sie wieder hi-
nunterstieg, ist sie mir sogar noch länger vorgekommen.
Oben bin ich auf die Plattform hinausgetreten. Ich habe
hinuntergesehen, und mir ist schwindlig geworden. Ich
hatte das Gefühl, dass das Meer und die Erde sich dreh-
ten, irgendwie schienen sie mich zu rufen. Da weißt du
nicht mehr, wo dir der Kopf steht. Der Raz Blanchard
hatte das Wasser fest im Griff, es brodelte, es rief nach
einem, es machte einen platt wie ein Rauschmittel.
Ich fühlte mich wie auf einem Schiff, ich schwankte
mit dem Leuchtturm, und die Erde kam immer näher.
Schnell ließ ich mich wieder ins Innere führen, sonst
hätte ich wohl versucht, wie ein Vogel zu fliegen. Die
Leuchtturmwärter zogen die Petroleumlampe auf wie
eine Uhr, also mit einem Gewicht. Einer der Wärter
stand zu einer bestimmten Uhrzeit auf und setzte die
Kurbel in Bewegung.

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Der Beruf des Leuchtturmwärters ist was Besonde-
res. Die durften nicht trinken, keine Faxen machen. Sie
mussten ihre Leuchte wirklich gut kennen. Das Licht
für die Schiffe hat etwas Heiliges, es ist wie ein Gottes-
dienst. Kein Leuchtturmwärter hätte je vergessen, zur
vorgeschriebenen Zeit aufzustehen, denn das hätte man
vom Land aus gesehen. Man glaubt ja immer, dass der
Leuchtturmwärter über uns wacht. In Wirklichkeit ist es
umgekehrt.
Die Frauen der Leuchtturmwärter verständigten sich
früher mit ihren Männern, indem sie die Vorhänge auf-
und zuzogen. Sie hatten dafür einen Code erfunden.
Heute haben die Häuser am Hafen von Goury ja alle
Telefon. Und der Leuchtturm blökt und blinkt alleine
vor sich hin. Wie meine Glocken ist er mittlerweile voll-
automatisch.
Das erklärt aber nicht, weshalb die Leute bei Sturm
gerne da hinaufklettern. Leuchtturmwärter hätte ich nie
werden können, glaube ich. Viel zu feucht, zu dunkel, zu
eng und viel zu weit oben. Mir gefällt es, wenn ich mit
beiden Beinen auf der Erde stehe und der Wind mir ins
Gesicht bläst oder mich über meine Feldwege schubst.
Bevor der Nebel kommt, bevor es schneit, hörst du
den Leuchtturm klar und deutlich. Und wenn du noch
klein bist, stellst du dir vor, dass er über dich wacht, der
Leuchtturm von Goury. Wenn er blökt, hat der Nord-
ostwind ihn blind gemacht. Dann »sieht er nicht mehr«.
Der Schnee kommt, und er brüllt laut, damit man noch
weiß, wo er ist. Als hätte er sich verirrt.
Als Kinder waren wir immer total aufgeregt, wenn er
dann bei Ost- oder Nordostwind nicht mehr zu hören
war, denn dann kam der Schnee und deckte den Weg vor
dem Haus zu. Diese weiße Flut stürzte über uns herein

82
und brachte uns dem Meer näher, der Ozean schien di-
rekt vor der Haustür zu liegen. Hatte man Leinen zum
Fischen ausgelegt, war man beunruhigt, denn auch der
Strand war verschneit, und man konnte ein paar Tage
lang nicht mehr zu seinen Leinen hinaus.
Aber natürlich haben wir uns noch mehr Gedanken
über die auf den Feldern gemacht, schließlich fischten
wir ja auf den Feldern. Nicht wahr, die Bedels sind ein
bisschen verrückt?
Der Schnee

Wir fertigten Strohwische an, eine Handvoll Stroh, mit


einem Stück Schnur umwickelt. Diese steckten wir in die
Erde und machten mit kleinen Angelhaken eine zwanzig
Meter lange Leine daran fest. Wir buddelten ein paar
Regenwürmer aus und befestigten sie daran, um Kiebit-
ze und Drosseln zu fangen. Einmal während des Krieges
schlichen mein Vater und ich uns an unsere »Landleinen«
unterhalb von La Vallette heran, als plötzlich Schüsse
peitschten. Die Amerikaner zielten mit deutschen Ge-
wehren auf unsere Vögel, die mit Schnabel oder Schwanz
festhingen. 1944 hatte plötzlich jeder ein Gewehr. Die
Federn flogen nur so herum, und zwischen zwei Schüssen
hörte man das vulgäre Lachen der Soldaten. Mein Vater
hielt mich am Ärmel fest, damit ich nicht weiterging. Die
armen Tiere. Wir haben uns richtiggehend geschämt. Ein
paar Tage später, als der Schnee geschmolzen war, waren
von den Vögeln nur noch ein paar Federn übrig.
Wenn es schneite, warteten wir gewöhnlich, bis es am
nächsten oder übernächsten Tag taute. Der Frost konser-
vierte die Tiere.
Bei starkem Frost fingen wir die Vögel in den ­kleinen
Hütten für die Jagdhunde, in denen sie geschwächt Unter-
schlupf suchten. Mama rupfte sie dann, und eine meiner
Cousinen kam, um sich die Köpfe zu holen. Die lutschte
sie aus, wenn sie gekocht waren, und zwar bis auf die
Knochen. Niemand hätte sie davon abbringen können,

84
und so haben wir ihr die Vogelköpfe einfach gegeben.
Wir kochten die Vögelchen mit ein bisschen Gemüse
zu Ragout, das über dem Kamin vor sich hinschmorte.
Wenn ich heute so drüber nachdenke, haben wir wirk-
lich von nichts gelebt. Das war unsere ­große Stärke. Wir
wären auch nicht gestorben, wenn eine Hungers­not ge-
kommen wäre.
An einem verschneiten Tag wollte mein Vater mal
ans Meer gehen. Bei Tidenwechsel schliefen wir beide
schlecht. Dann nahm er mich immer mit ans Meer, und
ich sagte nie Nein. Wir zogen also los, die Erde war ge-
froren und knackte unter unseren Füßen. Unsere Stiefel
knirschten, trotz Stock rutschte man leicht aus. Wir ha-
ben in der Kälte das Netz ausgeworfen. Die Meeräschen
kommen bei Kälte nach oben und verschwinden dann
wieder. Als das Netz gefüllt war, sah ich Enten über un-
sere Köpfe hinwegziehen. Zu der Zeit jagte ich noch. Bei
der Kälte hätte ich die Enten nie und nimmer verpasst.
Damals war der Himmel voll von ihnen.
Mit meinem Vater traute ich mich nicht auf Entenjagd
zu gehen. Wir muss­ten schließlich das Netz einholen,
und das haben wir auch getan. Wir haben dann Meer-
äsche gegessen. Wäre ich nicht mitgegangen, hätte es
Wildente gegeben! Wenn du in der Kälte zum Fischen
gehst, schmeckt hinterher der Kaffee noch mal so gut
und du ziehst keinen Flunsch mehr.
Für den Bauern ist der Schnee einfach lästig. Er macht
so viel Mehrarbeit. Die weiße Decke bringt den ganzen
Tagesablauf durcheinander.
Grün und Weiß geht nicht zusammen. Das ist einen
Augenblick lang schön, aber das war’s dann schon. Die
Ställe sind voll alter Tiere, denen man mit dem Eimer zu
trinken geben muss. Du musst ihnen wirklich mehrmals

85
am Tag mit dem Eimer Wasser bringen und jedes Mal die
Streu auswechseln.
Außerdem marschierte ich immer mit ein paar Bün-
deln Heu auf dem Rücken auf die Heide. Das hat mich
warm gehalten, aber gesehen habe ich gar nichts. Ich
musste jeden Morgen und Abend dort hinaus. Je nach
Schneehöhe hat mich das bis zu vier Stunden gekostet.
Ich musste die Eisschicht der Tränke aufschlagen, da-
mit die Jungtiere, die auf der Heide draußen waren,
etwas zu trinken hatten. Und das Wasser fror immer
gleich wieder zu. Ich habe mich den ganzen Tag nur um
die Tiere gekümmert! Abends, bevor es dunkel wurde,
ging ich noch mal raus, sonst hätte ich sie nicht mehr
von Schneewehen unterscheiden können. Ginsterbüsche
und Vieh wurden zu großen und kleinen Schneehügeln.
Gleichwohl darf man ein Tier niemals von der Schnee-
schicht befreien, die es bedeckt, sonst fängt das feuchte
Fell ohne die schützende Decke an zu gefrieren. Ich habe
eines der Tiere vor Kälte zittern sehen, als hätte es Fieber,
nur weil ich es von seinem eisigen Mantel befreit hatte.
Gab es nicht allzu viele Schneeverwehungen, nahm ich
den Traktor. Doch der fing bei Frost an zu spinnen. Er
drehte sich gerne im Kreis und dann fuhren er und ich
erst mal nach La Roque, einem Weiler in der entgegen-
gesetzten Richtung.
Wenn ich glaubte, dass es bald Schnee geben würde,
brachte ich das Futter für die Tiere manchmal schon am
Vortag raus. Nur ein paar Bündel, die ich am Feldrain
ablegte.
1961, als ich meine Schafe suchte, die nichts mehr zu
fressen hatten, habe ich mir mit der Schaufel einen Weg
gebahnt. Auf dem Rückweg musste ich schon doppelt so
viel schaufeln, so viel Schnee war gefallen.

86
Ein andermal, denn unsere Tätigkeit hat viel mit Vor-
ausschau zu tun, bin ich mit Marie-Jeanne losgegangen,
um die Tiere von der Mézette hereinzuholen und sie auf
die umzäunte Weide weiter unten zu bringen. Der Schnee
fiel, und dichter Nebel hüllte uns ein. Ich öffne das Tor,
die Kühe müssten gleich hinter mir kommen, Marie-
Jeanne dann als Nachhut. Aber als ich das Tor öffne,
steht plötzlich Marie-Jeanne vor mir – ohne Kühe. Die
Sicht war so schlecht, dass wir die Tiere zwischendrin
einfach verloren hatten. Wir gingen zurück und fanden
sie schließlich in der Nähe einer Kurve, wo sie sich eng
aneinanderschmiegten, um sich vor der Kälte zu schüt-
zen.
Die Kälte verändert den Rhythmus unseres Lebens. Sie
bringt alles durcheinander.
Obwohl diese Schneetage außerordentlich ­anstrengend
waren, haute ich doch das ein oder andere Mal ab, um
auf die Jagd zu gehen. Ich schoss Kiebitze und Hasen.
Das war zu der Zeit, als mein Vater noch lebte.
Erst nach seinem Tod habe ich mit dem Jagen auf­
gehört. Denn da habe ich angefangen, mir Fragen über
das Leben im Allgemeinen zu stellen. Das war Ende der
Fünfzigerjahre.

87
Es wird nichts weggeworfen

Zu Hause haben wir immer darauf geachtet, nur solche


Konservierungsmittel zu nehmen, die den Lebensmitteln
nicht schaden. Das hat sich wirklich rentiert, ob wir nun
im Frieden waren oder im Krieg.
Wenn wir Salz brauchten, setzten wir einfach Meer-
wasser auf und warteten, bis das Wasser verdampft war.
Wir haben die großen Henkeltöpfe aus Kupfer genom-
men, in denen die Milch aufbewahrt wurde, bevor die
heutigen Milchkannen kamen. Damit zum Meer hinun-
terzumarschieren und sie mit Wasser zu füllen war eine
ganz schöne Expedition. Dann schütteten wir das Was-
ser in die eiserne Wanne und machten ein Feuer darunter.
Den Schinken hängten wir darüber in den Kamin. Mit
diesem System, das uns gar nichts kostete, hatten wir am
Ende, nach einem Tag und einer Nacht, ein ganzes Glas
Salz, als überall sonst schon längst keines mehr zu be-
kommen war. Da möchte man doch meinen, man kann
sein Gemüse gleich mit Meerwasser kochen, aber weit
gefehlt, das wird davon nur bitter. Zum Kochen nehmen
wir immer das Süßwasser aus dem Brunnen.
Um das Wasser heiß zu machen, holten wir Holz von
der Heide, dort, wo die Deutschen Feuer gelegt hatten.
Von den Ginsterbüschen, die oben ganz verkohlt waren,
war immerhin der Strunk geblieben. Wenn wir so eine
Ladung Brennholz nach Hause geschafft hatten, waren
wir immer von oben bis unten schwarz verschmiert. Im

88
Grunde macht man sich bei jeder Arbeit schmutzig, das
ist der Preis, den man bezahlt. In La Hague gibt es in
dem Sinn kein Brennholz. Und was uns die Deutschen
gelassen haben, war auch eher Holzkohle.
In anderen Familien werden Früchte gelegentlich in
Paraffin eingelegt, um sie zu konservieren. Das macht
man vor allem mit Birnen. Auch Sägemehl ist dafür ge-
eignet, und das geht so: Man streut in eine Kiste eine
Schicht Sägemehl, legt eine Lage Obst darauf (die Früch-
te dürfen sich nicht berühren), da drauf wieder eine
Schicht Sägemehl.
Maronen hingegen hebt man in feuchtem Sand auf.
Meinen Spargel, den ich morgens zusammen mit ei-
nem Ei esse, wenn ich mir ein fürstliches Frühstück ge-
nehmige, diesen Spargel setze ich alle zwanzig Jahre neu.
Junge Spargelpflanzen haben in den ersten drei Jahren
keine fleischigen Triebe. Aber dann warte ich eben und
esse von dem alten, obwohl der wenig abwirft.
Den Porree halte ich frisch, indem ich ihn im Frühjahr
ausgrabe. Ich lege ihn in Kisten mit frischer, feiner Erde,
man muss nur aufpassen, dass die Wurzeln dranbleiben.
Dann decke ich ihn ab. In dieser Art »Nest« hält sich der
Porree bis Ende des Sommers.
Kartoffeln und Karotten werden im Schuppen ein­
gelagert. Es muss dunkel sein und trocken, und man darf
sie nicht umschichten. Zwiebeln wiederum trocknen aus,
wenn der Schopf nach unten zeigt.
Mein Gemüse lagere ich also so, wie ich mich selbst
frisch halte: keine überflüssige Verpackung, kein über-
flüssiges Gewand. Sich gut ernähren, gut schlafen, sich
vor Luftzug schützen und vor Feuchtigkeit, Muskeln und
Gehirnwindungen in Bewegung halten und keine Gift-
stoffe!

89
Dann wird man alt, ohne zu verfaulen.
Bei uns wird alles aufgehoben. Die Angelhaken meines
Vaters liegen heute noch in seiner Kiepe. Er hat sie mit
eigenen Händen angefertigt. Das halte ich auch so.
Auch seine Leitleine und die Schwimmer liegen noch
in der Kornkammer. Die kurzen Leinen habe ich an die
Wand gehängt, neben das »Boot«, an dem wir sie befes-
tigt haben. Und seine Netze habe ich auch so gelassen,
wie er sie aufgehängt hat. Zum letzten Mal 1959.
Damals habe ich mit meinen Schwestern den Hof
übernommen. Wir haben unsere Mutter unterstützt, die
auch noch meinen kleinen Bruder aufzog. Wenn ich seine
Sachen so ansehe, erinnere ich mich wieder, wie hart die
Zeiten doch für uns beide waren. Wir hatten vieles ge-
meinsam. Die Kälte, die Müdigkeit, den Schlaf, der nicht
kommen wollte, aber auch unsere Freude am Fischen.
Einerseits ist das nichts, andererseits gibt es nichts
Größeres als den Reichtum unserer Erinnerungen.
Später hatte ich dann meine eigenen Netze. Heute lege
ich keine mehr aus. Mittlerweile ist es auch verboten.
Anscheinend ist das ein europäisches Gesetz.
Aber die Netze meines Vaters habe ich nicht abge-
macht. Die rühre ich nicht an. Wenn ich auf die letzte
Reise gehe, weiß ich nicht, ob sich jemand um das ganze
Zeug kümmern wird. Für meinen Vater habe ich getan,
was er für mich sicher auch getan hätte.
Eine Erinnerung an sein Leben.
Ich bin sicher, dass mein Vater, wenn ich vor ihm ge-
storben wäre, mich auch nicht vollkommen vom Ange-
sicht der Erde getilgt hätte.
Seinen Hammer, seine Zangen und das andere Werk-
zeug hingegen benutze ich jeden Tag. Wie seine Sense,
seine geheiligte Sense, die ich einmal kaputt gemacht

90
habe, als ich noch recht ungeschickt war. Ich hatte sie auf
dem »Straßenhund-Feld« in die Erde gerammt und zack,
war sie entzweigegangen.
Mein Vater hatte dieses Feld vor dem Krieg gekauft.
Ich war sieben, als ich kapierte, dass dieses Feld nun uns
gehörte. Er hatte mich, wie üblich, ohne ein Wort einfach
mitgenommen. Wir kamen an mit einem Kübel Dung
und verteilten ihn mit der Mistgabel. Seltsam, wir brach-
ten Dung auf einem Feld aus, das ich noch nie betreten
hatte. Da sagte ich mir: »Wenn man ein Feld erwerben
will, muss man also hingehen und Mist drauf verteilen.
Dann gehört es einem.«
Am Ende des Tages war mein Vater sehr zufrieden und
lächelte sogar ein bisschen. Mein Gedankengang mag
einerseits kindisch gewesen sein, andererseits stimmt es
doch: Was wir schützen und nähren, was wir achten, das
gehört uns.
Natürlich habe ich kein Lächeln geerntet, als ich mit
der Sense den Boden aufspießte. Da wurde ich schon
eher gescholten:
»Pass auf das Werkzeug auf, Paul. Womit man arbei-
tet, das muss man achten.«
Von dem Werkzeug, das ich benutze, stammt nur
­wenig nicht von meinem Vater. Als meine Hacke den
Stiel verlor zum Beispiel, habe ich selbst einen neuen
geschnitzt. Auch die Kleidungsstücke meines Vaters sind
heute noch da. Was die meiner Mutter angeht, bin ich
mir nicht sicher. Allerdings sind die Unterröcke noch im
Schrank. Aber das ist Sache der Mädels. Ich werde das
jedenfalls nicht nachprüfen.
Das Meer war für meinen Vater die reine Freude. Und
die hatte er sich verdient, nachdem er aus dem Krieg
1914/18 wiedergekommen war. Sein Zeug zum Fischen

91
ist immer noch da, als könne er es von einem Moment
auf den anderen wieder brauchen.
Das Ganze ist doch recht geheimnisvoll.
Die Sachen erinnern mich an ihn, an sein Leben, nicht
an seinen Tod. Bei den Werkzeugen ist das anders. Ich
benutze sie, weil ich auf dem Hof seine Hände ersetzt
habe und in seine Fußstapfen trete, wenn ich zur Aussaat
gehe. Aber wenn ich seine Kiepe nehmen würde oder
seine Leinen, wenn ich seine alten Sachen verbrennen
würde, hätte ich das Gefühl, ihn zu töten, auch wenn
sich das blöd anhört.
Im Schweiße unseres Angesichts

Wir verdienen unser Brot immer weniger im Schweiße


unseres Angesichts. Man hat uns versprochen, dass mit
den neuen Maschinen und Medikamenten ein für alle
Mal Schluss wäre mit dem Hunger. Geändert hat sich
letztlich nichts.
Aber wir werden älter, so viel ist sicher.
Wir, die Familie Bedel, waren noch nie von gestern.
Wir haben recht bald auf Maschinen umgestellt. Schon
vor dem Krieg hatten wir eine Dreschmaschine der Mar-
ke Simon frères und eine Drillmaschine.
Das, was mein Vater angeschafft hat, und die Maschi-
nen, die ich gekauft habe, sobald ich mir ein bisschen
was zusammengespart hatte, habe ich jedoch nie gegen
etwas Moderneres ausgetauscht. Das war nicht nötig.
Schließlich sind meine Felder nicht größer geworden.
1961 haben wir eine gebrauchte Erntemaschine der
Marke Guillotin gekauft. Meine Schwestern und ich
haben immer so zwischen achtundzwanzig und dreißig
Hektar bebaut, nie mehr. Ein großer Hof hätte nicht zu
uns und unserer Art zu leben gepasst.
Außerdem habe ich vor Schulden mehr Angst als vorm
Hungern.
Wir haben immer von »unserem Sach’« gelebt und nie
Darlehen gebraucht.
Aber soviel ich sehe, gibt es immer noch Hunger auf
der Welt und die Preise steigen und steigen. Man holt

93
die Tiere von den Feldern und ersetzt ihren Dung durch
Chemie, die die Erde nicht mehr verdauen kann. Sie hat’s
an der Leber. Und jetzt bringen wir sie ins Krankenhaus,
aus dem man nicht mehr zurückkommt. Ein paar Anti-
biotika hier, ein paar Pestizide da, ein bisschen von dem
und dann von jenem – das ist am Ende doch ganz schön
viel. Wie der menschliche Körper auch, wird die Erde
krank von den vielen Medikamenten, die wir ihr geben.
Natürlich war der Fortschritt nötig, vor allem in medizi-
nischer Hinsicht, und auch, damit man sich nicht gar so
schinden muss, aber dann …
Ich kann den Landwirtschaftstechnikern von heute gar
nicht mehr zuhören. Natürlich sind nicht alle so, aber
­einige geben der Erde nur ein paar Medikamente statt sie
zu pflegen. Bakterien sind wie alte Leute, sie blei­ben am
liebsten in ihrer angestammten Umgebung. Man kann
die Natur nicht nachahmen.
Unser Boden – auch auf den Grundstücken, die wir
zum Ausgleich bekommen haben – hat nach dem Krieg
zwanzig Jahre gebraucht, um sich wieder zu erholen.
Am Ende aber hat die Erde es ganz allein geschafft. ­Pilze,
Moose, Nager, Bakterien und Regenwürmer hatten wirk-
lich viel zu tun, und das hat seine Zeit gedauert. Wenn du
die Erde zu stark umpflügst, kannst du sie gleich auf den
Friedhof schicken. Dann fehlt den Bakterien nämlich die
Luft zum Atmen! Damit gräbst du dir dein eigenes Grab.
Der Humus hat etwas Menschliches. Einen Meter un-
ter der Erde werden wir auch nicht gerade frischer.
1961 habe ich also 500 000 alte Francs genommen,
das entsprach dem Preis für fünf Kühe, und habe ­damit
meinen Traktor gekauft. Teuer, aber noch machbar.
Mittlerweile kostet so ein Ding so viel, wie die Getreide-
ernte mehrerer Jahre einbringt.

94
Da hat man dich schon im Schwitzkasten, bevor du
auch nur einmal den Schlüssel umgedreht hast. Du hast
noch kein Geld damit verdient, darfst den Traktor aber
ein paar Jahre abarbeiten. Wenn ich heute dreißig wäre,
wäre ich wirklich entmutigt.
Wenn du Unkrautvernichtungsmittel spritzt, dann
nützt das auch nichts, denn das funktioniert immer nur
für bestimmte Pflanzen und für andere nicht. Und die
überwuchern dann alles. In den letzten Jahren haben wir
in La Hague Pflanzen gesehen, die es vorher nicht gab.
Blumen mit merkwürdig langen Stielen, Zeug einfach,
von dem man nicht mal den Namen weiß.
Wenn du auch nur eine Handvoll Erde zugrunde rich-
test, ist das wie eine Wunde. Klar verheilt das, aber es
braucht Jahre. Heute bekommen die Kühe immer mehr
Fischmehl zu fressen. Hast du schon einmal eine Kuh
gesehen, die wild auf Fisch wäre? Sie müssen es fressen,
und wir, wir Menschen, fressen das, was dabei heraus-
kommt.
Die Sache mit dem Rinderwahn hat nichts geändert,
aber rein gar nichts.
Man produziert und verursacht doch Hunger, obwohl
das doch Irrsinn ist. Ich glaube, der Mensch will selbst
zum Schöpfer werden, will Gott spielen. Ob es nun um
Pflanzen geht oder um seltsame Tiere. Die Schöpfung hat
Abertausende von Jahren gebraucht. Es hat Jahrtausende
gedauert, bis der Mensch wurde, was er ist. Das geschah
ganz allmählich und nicht von heute auf morgen. So geht
das einfach nicht.
Ich mag nicht besonders gescheit sein, ich lasse den
Wissenschaftlern das Wort, aber eins weiß ich, damit
kenne ich mich genau aus: mit dem Gold der Ställe, dem
Ferment der Erde, mit dem Mist. Davon ernähren sich

95
Würmer, während du in der Jauche, die man auf den Fel-
dern ausbringt, all die Chemie hast, die Menschen und
Tiere heute so zu sich nehmen. Und das findest du dann
auch in deiner Nahrung wieder.
Die gentechnisch veränderten Organismen, die ma-
chen uns Angst, wie die UFOs, wie der Krieg. Ich habe
auf meinen Feldern noch nie allzu viel Ungeziefer gehabt.
Da war immer ein bestimmtes Gleichgewicht vorhanden.
Aber wenn du die Maulwürfe tötest, dann nimmt das Un-
geziefer überhand. Dann kannst du sie »­untergraben«,
so viel du willst, du wirst ihrer nicht mehr Herr. Und
wenn du vermeintlich alle tötest, irgendwas bleibt im-
mer. Und so klein dieser Rest sein mag, er macht Rabatz,
wie das auch bei kleinen politischen Parteien der Fall ist.
Und zwar so lange, bis er gewonnen hat. Denn die Klei-
nen wachsen schneller als die Großen!
So ist es auch mit der Gentechnik. Du lässt ein ­bisschen
was von dem veränderten Zeug auf deine Felder, und
dann breitet es sich aus. Es hat nichts mehr mit Intel­
ligenz zu tun, wie man heute das Land bestellt! Tomaten
auf Gesteinswolle – das ist mir echt zu viel. Die Men-
schen wollen die Natur unterwerfen, in der auch die Tie-
re leben, da geht bald alles drunter und drüber!
Häufig will man von mir wissen, was ich von Biopro-
dukten halte. »Bio«, das ist ein neumodisches Wort. Ich
bin Bauer, ohne Zusatz. Aber ich habe darüber nachge-
dacht. »Bio«, das heißt, dass die Natur aus deinen Hän-
den spricht. Bio heißt für mich: »zwei Hände« – und
mehr nicht.

96
Fortschritt ist nötig

Man vergisst das gerne: In unseren Dörfern verliefen


vor einiger Zeit noch keine Abwasserrohre unter dem
Straßenbelag, wie das heute der Fall ist. Heute steigt uns
der Gestank der anderen nicht mehr beißend in die Nase.
Damals musste man die Abortgruben noch richtig aus-
leeren, während man heute nur auf die Spültaste drückt.
Ich habe unsere Grube auf dem Hof oft gereinigt. Dazu
hatte ich mir selbst eine Art Schöpfkelle gebastelt: einen
Marmeladeneimer, den ich an einem Eisenstab festge-
macht habe. Den Inhalt habe ich in eine große Wanne
geschüttet und weggefahren. Eines Tages ist die Wanne
auf der Straße durchgebrochen, und der ­Abortkübel der
Bedels hat sich mitten im Dorf entleert. Ich habe eigen-
händig die Straße gereinigt.
Eine Nachbarin hat das Fenster geöffnet:
»Was treibst du denn um diese Uhrzeit mitten auf der
Straße, Paul?«
Aber sie hat meine Antwort nicht abgewartet, sondern
das Fenster gleich wieder zugeschlagen.
Das hat vielleicht gestunken!
Durchs Dorf sind ständig kleine Jaucherinnsale ge­
laufen. Es ist nicht alles schlecht oder falsch am moder-
nen Leben. Zumindest riecht es im Dorf besser, seit wir
die Kanalisation haben.
Der Jauchestrom fing ganz oben im Dorf an und such-
te sich seinen Weg vorbei an Bistros und Gasthöfen. Bei

97
uns sammelte sich dann die Jauche von den Nachbarn
und lief aufs Feld. In jedem Garten stand ein Hüttchen
für die menschlichen Hinterlassenschaften. Und Fliegen
gab es dort!
Es roch zwar nicht nach Rosen, aber so schlimm ge-
stunken wie heutige Jauche hat es auch nicht. Was mich
am meisten stört, ist der Geruch, wenn die Kühe Silofut-
ter gefressen haben. Das riecht dann nach Medikamen-
ten und künstlichen Sachen, dass es dir die Nasenlöcher
verätzt. Dung von Tieren, die weder Gras noch Blumen
gefressen haben – das riecht einfach nicht mehr natür-
lich.
Früher fuhr man mit dem Pferdewagen die monat­
lichen Abfälle weg und entsorgte sie an der frischen Luft.
Etwa zwischen Saint-Germain und Laye.
Dazu kamen noch ein paar kleinere »Müllkippen«
in der Landschaft. Dort luden die Umweltverschmutzer
­ihren Dreck einfach ab. Wenn es Wind gab – was bei uns
immer der Fall ist –, flog das Papier durch die Gegend
und landete natürlich auf den Feldern. Dann versuchte
man von Zeit zu Zeit, den Dreck mit einem kleinen Bag-
ger zu vergraben.
Die elektrischen Geräte, die ich im Haus habe, stam-
men fast alle von der Müllkippe in Laye oder La Taille.
Die Leute haben dort ihre Elektrogeräte entsorgt, und
ich habe mich versorgt. Das hat gut funktioniert, ich
habe für so etwas ein Auge.
Wenn man gute Butter haben will, muss die Butter-
trommel fünfzig Umdrehungen pro Minute machen. Aber
wenn man sie mit der Hand dreht, schafft man nach
­einer halben Stunde höchstens dreißig. Meine Arme sind
kein guter Motor. Ich musste früher zwei Stunden lang
drehen! Was für eine Knochenarbeit.

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Ich wurde älter, und meine Schwestern sorgten sich.
Das mit der Butter ging nicht mehr schnell genug. Da
hatte ich die Sache satt. Ich hatte keine Lust mehr, mich
dauernd anmeckern zu lassen. Also auf zur Müllkippe
von La Taille. Dort habe ich eine alte Waschmaschine
gesehen. Ich hatte mein Werkzeug dabei und habe sie zer-
legt, um sie auf der Schubkarre nach Hause zu verfrach-
ten. Mit meinem kleinen Bruder habe ich ein ­wenig her-
umgebastelt und mit Hilfe eines Antriebsriemens haben
wir unsere alte Buttermaschine motorisiert. Jetzt haben
wir eine ganze Stunde lang unsere fünfzig Umdrehungen
pro Minute.
Das war ein Geschenk, das ich mir selbst gemacht
habe.
Aber ich sage trotzdem Danke schön.
Heute redet man viel über Umweltverschmutzung,
aber bei uns lebte man mitten drin. Daher finde ich den
Fortschritt auch gut, vor allem, wenn man ihn sieht.
Über Vauville zum Beispiel, wo das Heidekraut wächst,
sagte man früher: »Dort stinkt’s nach den Leuten aus
Cherbourg.« Tag für Tag kamen dort die Lastwagen an
und luden den Dreck aus der Stadt ab. Wirklich wahr.
Wir haben damals nichts gesagt, aber jetzt kümmern sich
die Leute aus Vauville darum, dass die ihren Dreck wo-
anders hinbringen. Jeder ist sich selbst der Nächste, sage
ich. Sollen die Leute ihren Dreck doch bei sich entsor-
gen. Damals ging es gar nicht um Touristen und Ferien­
dörfer, und ein Thema für die Medien war das damals
auch nicht.
Heute müssen wir auf das Meer achtgeben. Den Dreck,
den wir früher auf den Feldern hatten, den schwemmt es
uns jetzt am Strand an. Das ist Hausmüll, aber er kommt
von den Schiffen.

99
Weitergeben

Wenn ich Leute treffe, heißt es oft:


»Wieso sieht man dich in letzter Zeit überall? Früher
bist du doch auch nicht unter die Leute gegangen.«
Ja, aber da litt ich auch an Einsamkeit. Die Jungen
zogen alle weg, und ich dachte schon, ich müsse ganz
alleine alt werden, ohne irgendjemandem noch etwas
beibringen zu können. Ich hatte das Gefühl, mein Leben
sei zu gar nichts nütze. Aber heute besuchen mich junge
Leute aus den Landwirtschaftsschulen. Sobald der Bus
ankommt, höre ich ihre Stimmen, und das macht mir
wirklich einen Heidenspaß. Mit den Jungen muss man
sich richtig auseinandersetzen:
»Sag mal, Paul, ihr habt euren Kühen Mais gegeben?«
»Um Gottes willen, Kühe fressen Gras. Ihr Magen ist
darauf eingerichtet. So wie der Kälbermagen auf Kälber-
milch eingestellt ist.«
»Ja, aber ohne Mais bekommt man doch weniger
Milch.«
»Vielleicht haben wir weniger Milch, aber meine But-
ter, mein Kleiner, schmeckt erstklassig. Und man muss
die Milch nicht vorher ›reinigen‹, damit der Geschmack
nach Silo und Jauche weggeht! Denn wenn du deiner
Kuh Mais gibst, stinkt ihr Dung. Und da alles mitein-
ander zusammenhängt, nimmt auch ihre Milch einen
schlechten Geschmack an. Außerdem sterben Kühe heu-
te sehr früh, weil sie an Zirrhose eingehen.«

100
»Ja, aber wir lernen, dass man ihnen Gegenmittel ge-
ben kann.«
Da rege ich mich dann richtig auf:
»Aber das ist doch nur ein Geschäft für die Labore
und die Industrie. Das ist wie mit der Kuhmilch, die man
den Kleinkindern gibt. Die Muttermilch ist auf jeden Fall
besser für sie. Bei den Kälbern erzählt man euch, dass sie
›Korken‹ brauchen (Sojagranulat in Korkenform). Da
weiß man nie genau, was drin ist. Für einen Anbau wie
diesen hier braucht man viel Wasser und Erde. Die Wie-
sen grünen von selbst.«
Eine Kuh zu ernähren sollte nichts kosten.
Die jungen Leute bewundern in meinen Ställen meine
»Lebensklugheit«: Alteisen, Eimer, Batterien, die an je-
dem Eingang hängen, denn der Strom kann ja schließlich
mal ausfallen. Das ist durchaus möglich, auch wenn man
neben einem Kernkraftwerk wohnt.
Kaninchenställe voller wohlgenährter Tiere stehen
heute dort, wo früher der Platz der Kälber war. Die
Enten patrouillieren über den Hof und picken das ein
oder andere auf, baden in alten Töpfen und Schüsseln
voller Wasser. Die Tigerkatzen, die so groß sind wie ein
kastrierter Kater, weil sie von den Schwestern zu viel zu
fressen bekommen, stillen ihren Durst an einer Pfütze.
Marie-Jeanne, meine jüngste Schwester, geht mit einem
Arm voller Blumen über den Hof, die sie in die kleine
Kirche bringt.
Ein junges Mädchen fragt:
»Wie alt wurde Ihre älteste Kuh, Paul?«
Ich drehe mich um und sehe sie belustigt an:
»Wie viel gibst du denn einer guten Milchkuh, um an-
ständige Milch zu produzieren?«
»Nun, acht Jahre höchstens.«

101
»Dann ist das eine Kuh, die Mais frisst, und die schlech­
te Verdauung ist schuld, dass sie frühzeitig altert. Meine
Kühe werden mitunter so alt wie ihr mit euren achtzehn
Jahren, dann sind sie sozusagen volljährig, und ich bin
sicher, dass sie sogar noch Kälber bekommen könnten.
Ich habe mal gehört, dass Kühe bis zu dreißig Jahre alt
werden können.«
Die Jungen feixen in ihrer Ecke. Sie schreiben in ihr
Heft: »Pauls Kühe werden achtzehn Jahre alt und sind
somit volljährig.«
Ich versuche, ihnen das zu erklären:
»Wenn ihr sie achtet und ihnen kein Sojafutter gebt,
dann werden auch eure Kühe so alt werden. Und ihr
müsst euch nicht verschulden, um Futter für sie zu kau-
fen. Ihr seid nicht mehr von den Amerikanern abhängig.
Das ist doch schon was, auf die nicht mehr angewiesen
zu sein.«
»Paul, haben Sie je geraucht?«
»Bestimmte Fragen sind nicht zulässig. Muss ich dar-
auf antworten?«
Ihr Lehrer scherzt:
»Sie sind nicht verpflichtet, das ist ja schließlich kein
Verhör.«
»Ja, ich habe geraucht.« Dabei lege ich eine Hand
aufs Herz, die andere auf meine Hosentasche, wo ich
mein Kreuz, die Medaille der heiligen Therese und mei-
ne Tabletten aufbewahre. »Zwanzig Jahre lang habe ich
heimlich geraucht, ich war ein Dummkopf. Während der
Militärzeit gehörten Zigaretten zum Marschgepäck. Da
seht ihr mal, wie die Zeiten sich ändern, heute gibt es das
nicht mehr. Ich habe nur draußen auf dem Feld geraucht,
heimlich, weder meine Eltern noch meine Schwestern ha-
ben es je mitbekommen. Als ich dann jedoch den Herz­

102
anfall hatte, musste ich dem Arzt auf seine Fragen ant-
worten und meine Schwester hat mitgehört. Da habe ich
es zugegeben: ›Ja, ich habe mehr als zwanzig Jahre lang
geraucht, und noch dazu Gauloises ohne Filter.‹«
Da hätten sie meine Schwester mal sehen sollen! Aber
sie hatte ja recht, auch wenn ich damals schon seit fünf-
zehn Jahren aufgehört hatte. Eine Schachtel am Tag,
zwanzig Jahre lang, das hinterlässt schon Spuren!
Die jungen Leute machen ihre Zigaretten aus.
»Lasst die Kippen nicht hier, sonst fressen sie die
­Enten! Und dann rauchen sie vielleicht aus allen Lö-
chern!«
Doch die Besichtigung ist noch nicht vorüber, und so
erzähle ich weiter:
»Ich war nicht auf der Intellektuellen-Schule, ich bin
bei meinen Vorfahren in die Lehre gegangen. Sie haben
wenig geredet, aber ich habe viel zugesehen. Wenn ich
etwas fragte, hieß es: ›Schau erst und frag dann!‹ Ein
bisschen wie eine Stute, wenn sie sich mit ihrem Fohlen
einer gefährlichen Bucht nähert. Dann drängt sie es mit
dem Kopf ab.
Ich habe durchs Zuschauen gelernt. Durch Nach­
denken und Zuhören, wenn mein Vater, mein Großvater
oder meine Onkel mir die Ehre erwiesen und mir etwas
erklärten. Ich hätte mich nie getraut, so zu reden wie
ihr heute. Man sprach seinen Vater nicht an. Das war
einfach nicht üblich. Aber damals hatten wir auch noch
Zeit, anders als heute. Die Antwort auf deine Fragen
fand sich schon irgendwann. Dabei wurde man nicht so
alt wie die Leute heute. Mit fünfzig warst du fertig, alt.
Jetzt bist du erst mit achtzig alt. Und es gibt sogar Leute,
die hundert werden.«
Entendaunen schweben durch die Luft und lassen sich

103
auf den Steinen nieder. Die drei Mädchen sammeln sie
auf. Ich erzähle weiter:
»Heute sind die Kopfkissen aus Watte, aus Molton.
Damals hat man das, was ihr jetzt in Händen haltet, in
die Kissen gestopft. Man hatte große, leuchtend rote
Kopfkissen und Federbetten. Die waren so leicht, dass
man sie gerne über die Füße legte, um es warm zu haben.
Wir haben nichts gekauft.«
Eine probiert’s:
»Aber dann mussten Sie wahrscheinlich ständig nie-
sen. Bestimmt hat das Allergien ausgelöst.«
Ich schüttle den Kopf:
»Aber gar nicht. Wenn man auf dem Land aufwächst,
ist man gegen nichts allergisch. Man ist sozusagen ge-
impft.«
Wir gehen auf den Schuppen zu, in dem der Traktor
steht. Ihre Beine sind schon schwer, die Turnschuhe sind
nicht zugebunden, die Schnürsenkel ziehen sie auf dem
Boden nach. Ich steige auf eines der Bänder drauf, damit
der Junge es merkt, aber er reagiert nicht:
»Aufgepasst, du wirst gleich hinfallen.«
»Aber nein, Paul, das ist jetzt so Mode. Wir binden
uns die Schnürsenkel nicht mehr.«
»Das soll wohl Zeit sparen?«
»Wenn man so will …«
»Wenn du früher in Holzpantinen herumgelaufen
wärst, dann wüsstest du, wie toll es ist, richtige ­Schuhe
zu haben. Um die Pantinen musste man eine Schnur wi-
ckeln, damit sie am Fuß hielten. Turnschuhe würde ich
auch anziehen, aber nicht so. Das erinnert mich ein we-
nig an die Holzschuhe, die man ständig verlor. Wenn ich
mal Geld übrig habe, kaufe ich mir, glaube ich, auch ein
Paar Turnschuhe.«

104
Als die jungen Leute das hören, brechen sie in helles
Gelächter aus. Sie meinen, damit würde ich aussehen wie
ein Bauer im Vorgarten. Einer der Jungs hatte mal einen
noch witzigeren Vergleich: Paul Bedel in Turnschuhen,
das sähe aus wie ein Pariser, der sich ans Fußfischen
macht, einer von denen, die aus der Stadt aufs Land »flie­
hen«. Ein armer Irrer eben! Was haben wir gelacht!
Aber weiter mit dem Rundgang.
Wenn ich sie in den Schuppen mitnehme, in dem mein
Traktor steht, halten alle die Luft an. Man möchte mei-
nen, die jungen Leute betreten eine Kirche.
Um ihnen eine Freude zu machen, lasse ich ihn an und
fahre damit auf den Hof. Die Jungs fotografieren und
sehen sich den einfachen Motor genauer an. Sie streichen
mit der Hand über den Traktor, tätscheln seine Flanken.
Ja, das ist echte Mechanik. Natürlich steigen sie auch
auf.
»Was kostet so ein Traktor?«
»Der hat mal fünfhunderttausend Francs gekostet,
aber in alter Währung.«
»Und wie schnell fährt er?«
»Fünfzehn Stundenkilometer im Vorwärts- und Rück-
wärtsgang! Im zweiten neun Stundenkilometer, im ers-
ten einen.«
»War er schon mal kaputt?«
»Zum ersten Mal im Juli 2006, auf dem Magdalenen-
fest, als man mich gebeten hatte, ›Pauls Streitwagen‹ zu
bringen. Auf der Rückfahrt gab die Kupplung den Geist
auf. Der Mechaniker hat Monate gebraucht, um ihn wie­
der in Ordnung zu bringen. Das war das einzige Mal,
dass ich ihn nicht selbst repariert habe.«
Ich stelle den jungen Leuten immer gern eine Frage,
vorzugsweise diese:

105
»Ist eine Kuh glücklich?«
Dann feixen sie immer so ein bisschen herum, aber im
Grunde wissen sie nicht, was sie darauf antworten sol-
len. Das ist wie mit der Liebe. Meine Schwestern und ich
lieben unsere Kühe. Es macht mir nichts aus, das zuzu-
geben. Eines Tages bin ich mit so einer Landwirtschafts-
klasse in einen modernen Stall gegangen. Ich habe nichts
gesagt, mir blieben nämlich die Worte im Hals stecken.
Der Lehrer hat es bemerkt und mich gefragt:
»Das gefällt Ihnen nicht?«
Ich habe geantwortet:
»Wir befinden uns im Zeitalter der schwanz- und
hornlosen Kuh. Vierundzwanzig Stück! Bedauernswerte
Milchmaschinen … denen man die Hörner absägt, damit
sie auf dem winzigen Raum, den man ihnen lässt, den
Viehhalter nicht verletzen. Da muss man doch nur das
Plakat für die nächste Landwirtschaftsmesse ansehen.
Das ist keine Kuh, das ist ein Außerirdischer. Eine Kuh
ohne Hörner, die nicht einmal mehr nach Kuh aussieht.
Sie ist wirklich hässlich wie ein Baum, dem man alle
Äste abgeschnitten hat. Aber wahrscheinlich geht es bloß
­darum, dass sie mit den Hörnern nicht durch das kleine
Loch kommt, das sie vom Futternapf trennt. Dann sägt
oder brennt man ihnen eben die Hörner ab. Vermutlich
werden sie ohnehin bald nur noch Tiere züchten, die win-
zige Hörner haben. Und in der Werbung sieht man dann
lachende Kühe. Wie wäre es denn, wenn man denen mal
die Hörner absägte? Und den Schwanz schneidet man
ihnen aus hygienischen Gründen ab. Die EU -Gesetze.«
Ich mag es, mit den jungen Leuten zu reden. Aber ich
ziehe es vor, dass sie zu mir kommen. Wenn ich sie be­
gleite, ist es nicht dasselbe. Dann sehe ich, wie die Tiere
leiden und habe das Gefühl, man habe all das mir ange-

106
tan. Wenn man nur darüber reden hört, das geht noch,
aber wenn man es selbst sieht … Das sind doch keine
Kühe mehr, das sind Milchbatterien. Sie heben den Kopf
schon gar nicht mehr, wenn jemand vorbeigeht, ob Er-
wachsener oder Kind. Sie bewegen den Schwanz nicht
mehr, wenn du näher kommst. Sie danken es dir nicht
mit den Augen, wenn du ihnen eine Handvoll Heu gibst.
Ich habe es versucht, aber das Heu interessiert sie genau-
so wenig wie alles andere. Sie starren nur ihre Fertig­
nahrung an. Die Kühe in so einem Laden deprimieren
mich.
Ich kann den jungen Leuten zeigen, wo ich ­glücklich
bin. Das verstehen sie. Manchmal sind ihre Hände schon
braun wie die der Seeleute. Das riecht nach Frost und
Arbeit. Man sieht es an den Nägeln, gerade bei den
Mädchen. Du siehst sofort: Diese jungen Leute sind, wie
ich in ihrem Alter war. Sie haben Hoffnungen, Träume,
Zweifel und Bauernhände, in deren Furchen die Erde
sitzt.
Ich fühle mich ganz klein neben ihnen, weil es mich
tief berührt, dass da Nachfolger sind, dass es weiter-
hin Bauern geben wird. Das aber möchte ich ihnen mit
auf den Weg geben: Noch vor eurem Beruf müsst ihr
euer Privatleben auf die Reihe bekommen. Gründet eine
Fami­lie. Bleibt nicht allein auf eurem Stück Land. Wir
sollten uns nicht mit Leib und Seele unserem Beruf ver-
schreiben. Und damit der Einsamkeit.
Ich hatte Glück. Ich habe eine Familie. Nicht alle Bau-
ern haben so viel Glück. Ich weiß, dass viele unglücklich
sind, weil sie so allein sind, und das wünsche ich nieman-
dem. Niemand will das.
Auch ein froher Bauer ist glücklicher, wenn er eine
Gefährtin hat …

107
Die Schwestern sind da offensichtlich anderer Mei-
nung. Sie sagen, es tue ihnen nicht leid, dass sie sozu-
sagen übrig geblieben sind. Aber sie mussten sich auch
nicht entscheiden, ob sie in La Hague bleiben oder in
einen anderen Teil des Landes gehen wollten. Françoise
hat immer eine schöne Antwort parat, wenn es um dieses
Thema geht. Sie sagt, das Ganze habe nun mal mit Liebe
zu tun, und Liebe fällt halt nicht einfach vom Himmel
wie der Regen.
Auf Pauls Art

Eine kleine Tour aufs Feld. Im Oktober mache ich zu,


nach der Ernte wird umgepflügt. Ich habe abgewartet,
die Wurzeln des Getreides sind nun vertrocknet. Ich be-
lüfte die Erdoberfläche, indem ich mit dem Traktor im
Kreis pflüge, aber nicht besonders tief, höchstens fünf
oder sechs Zentimeter. Ich fahre mit dem Pflug drüber
und ziehe kleine Furchen. So werden die Wurzeln und
die übrig gebliebenen Stängel herausgezogen, die Pflanze
hört auf zu wachsen.
Das Feld macht zu. Es hat gut getragen, jetzt hoffe ich
auf eine bessere Ernte im nächsten Jahr. Ich hoffe immer
auf eine bessere Ernte. Wenn ich – symbolträchtig – das
Gatter hinter mir schließe, beschleicht mich unweigerlich
das Gefühl, ganze Arbeit geleistet zu haben.
Im November, nach den großen Herbststürmen, samm-
le ich den Tang ein. Er wird einfach angeschwemmt.
Blatttang, das sind fünf bis sechs Zentimeter breite Blät-
ter, »Meerjungfrauenhaar«, das braune Fell des Oze-
ans. Diese großen, schön geformten Algen kommen aus
der Tiefe des Meeres. Hier in La Hague nennen wir sie
­tangoun. Der Blatttang hat kräftige Wurzeln und fühlt
sich an wie Kautschuk. Unverkennbar. Diesen Tang brin-
ge ich auf den Feldern aus.
Im Februar folgt der zweijährige Mist, der getrock­
nete Mist meiner Kälber, den ich gleich einarbeite. Beim
Blatttang kommen die einzelnen Schichten aufeinander.

109
Den Dünger bringt man mit der Hand aus oder mit der
Gabel. Du teilst das Feld ein wie ein Schachbrett, in helle
und dunkle Streifen. Das Feld darf nicht gleichförmig
aussehen. Du weißt, dass du gute Arbeit geleistet hast,
wenn es fleckig aussieht, aber in deinen Augen ist es sau-
ber!
Der Tang vom November wird im Februar gewendet.
Heute setzen die Jahreszeiten ja später ein. Man fängt
zwar im November an, gräbt aber erst im März um. Alles
ist verschoben. Der Winter kommt zu spät, aber daran
muss man sich gewöhnen.
Guter Mist bleibt zwei Jahre lang auf dem Haufen
liegen, damit er sich zersetzt. Sonst wird er zu Staub,
dann ist alles umsonst. Ob er gut ist oder nicht, weißt
du, wenn du ihn am liebsten essen würdest, weil er so
gut riecht. Wenn du ihn anfasst, stinken deine Hände
danach nicht. Das ist praktisch, denn einerseits ist der
Misthaufen dein höchstes Gut, andererseits wird ihn dir
nie jemand klauen!
Meiner stinkt nicht. Der frische Mist, der nur ein Jahr
alt ist oder gerade aus einem dieser Riesenställe kommt,
der riecht viel zu stark. Der stinkt nach Scheiße, das muss
man wirklich sagen!
Wenn die Tiere kein Gras, sondern Silofutter gefres-
sen haben, riecht man das. Und wenn man dieses Scheiß-
zeug auf die Kartoffeln tut, schmecken die später da-
nach.
Außerdem muss man beim Misthaufen mit dem Stroh
aus den Ställen vorsichtig sein. Da kann weiß der Teufel
was dran sein. Dann trägt der Mist dir das Unkraut auf
die Felder oder noch schlimmeren Dreck.
Meiner Ansicht nach ist der beste Mist der, den man
bekommt, wenn die Tiere Farn fressen. Die kleinen Far-

110
ne, die unter den Hufen des Hornviehs viel zu schnell
kaputtgehen, nicht die großen mit den langen Stielen.
Wenn ein Kälbchen auf die Welt gekommen ist, haben
wir die Box mit Stroh aufgefüllt, Tag für Tag etwa sech-
zig Zentimeter. Beim Stallreinigen warf man alles auf
einen extra Haufen. Diese Art von Mist braucht länger
zum Reifen, fast sechs Monate länger, also insgesamt
zweieinhalb Jahre, je nach Wetterlage.
Die Zwerghühner gingen in den Kälberställen ein und
aus. Sie mögen die Wärme. Der Stall war ihr Hühner-
haus, dort brüteten sie auch. Als wir 2003 den Kälber-
stall aufgaben, waren sie fertig mit den Nerven. Wir ha-
ben den Zwerghühnern immer die Eier weggenommen
und sie weichgekocht gegessen. Den Hühnern haben wir
dann die großen Eier der Legehühner untergeschoben.
Das hat ihnen aber nichts ausgemacht. Sie haben die gro­
ßen Küken so erzogen, als wären es ihre eigenen. Das
war wirklich komisch, denn schon bald waren die Küken
größer als ihre zwergwüchsigen Mütter.
Kälbermist ist mit das Beste, was es für den Boden
gibt, aber auch zum Ausbrüten der Eier. Und es gibt noch
einen anderen Kniff, den ich euch verraten will:
Früher nahm man eine Krummhacke, um das Unkraut
zu entfernen und die dicken Grasbüschel am Fuß unserer
Steinmäuerchen herauszureißen, die die Felder umschlie-
ßen. Wie in Irland oder vielmehr wie hier, am äußersten
Zipfel von La Hague, denn eigentlich weiß man nicht,
wer angefangen hat, die Felder auf diese Weise zu befes-
tigen.
Ich habe immer schon den Boden beackert. Du müss-
test mal die Tonnen von Steinen sehen, die wir hier jeden
Winter aus dem Boden holen. Sie wachsen wie das Gras.
Auf dieser Erde kratzt du herum, immer und immer wie-

111
der. Und du weißt, dass du sie liebst, weil sie genauso
arm ist wie der arme Hund, der versucht, aus ihr etwas
herauszuholen.
Dann haben wir die Wurzeln der Grasbüschel abge-
stochen. Wir fuhren das Zeug in die Mitte des Feldes.
Auf eine Lage Grassoden folgte eine Lage Frühjahrstang,
darüber eine Lage Grassoden und so weiter, bis der Hau-
fen mannshoch war. Das nannten wir dann »Grab«, ein
hervorragender Dünger für die Weiden. Wir haben ihn
später direkt in einer dünnen Schicht auf den Wiesen
ausgebracht. Auf diese Weise haben wir das Unkraut er-
stickt, wir haben es gleichsam »gesalzen«.
Nach drei Wochen konnte man die Früchte seiner
Arbeit sehen: Das Feld war blitzsauber. Die ganzen Un-
krautbüschel waren verschwunden, man ging wie auf
einem Rasen. Und Bedels Kühe hatten was richtig Gutes
zu fressen.

112
Wenn die Butter Milch gibt

Bei uns hat man auf den Knien gemolken. Ich hatte kei-
ne Lust, einen Hocker oder Schemel mitzunehmen, um
mich draufzusetzen. Manchmal sagen die Leute mir, so
viel Elend treibe ihnen die Tränen in die Augen.
Dabei hat es doch nichts mit Elend zu tun, wenn man
entscheidet, wie man melken will.
Wenn jemand auf den Knien betet, heißt das doch
auch nicht, dass er besonders unglücklich ist. Mit einem
Schemel haut es dich schnell um, wenn das Tier dir ­einen
Tritt verpasst. Du kippst nach hinten und wenn du Pech
hast, latscht die Kuh über dich drüber. Wenn du auf
Knien melkst, musst du dich nicht so beugen, dann tut
der Gürtel schon weniger weh. Rückenschmerzen kön-
nen nämlich durchaus auf den Magen zurückgehen, auf
die Verdauung. Auf Knien fällst du nicht um. Du bist ja
schon auf dem Boden. Für mich ist es ein Elend, einen
Schemel mitzuschleppen, wenn man ohnehin den ganzen
Tag irgendetwas zu tragen hat. Und eine Melkmaschine
hatte ich nie. Besser gesagt hatte ich derer gleich zwei:
meine Schwestern!
Und meine Schwestern hatten beim Melken ganz
schön was zu tun.
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mein Handwerk bis
zum letzten Atemzug ausgeübt. Mein Handwerk war
mein Leben, ein Leben, das ich liebte.
Ich war nicht unglücklich, niemals. Ich hatte, wie alle

113
Menschen, Augenblicke des Zweifels und der Verzweif-
lung. Zum Beispiel, als ich meine Eltern begraben habe.
Meine Arbeit schenkte mir allerhand Freiheit. Auch heu-
te noch. Ich kann aufstehen, mich hinlegen und sterben,
wann immer ich will.
Im Stall hockte ich mich hin, wenn ich melken wollte,
damit ich mich nicht schmutzig machte. Die ­Kuhfladen
lagen überall herum. Auch wenn ich vorher sauber mach-
te, blieb doch immer etwas liegen und für Nachschub war
ja auch gesorgt.
Man hatte den Geruch von Milch an sich, wie der Fi-
scher den Geruch des Meeres mit sich trägt.
Da konntest du dich noch so viel waschen, du hast
immer ein wenig süßlich gerochen, nach Bauernhof eben.
In der Hocke bist du den Tieren noch näher, du legst die
Stirn an ihre Kruppe. Die Gerüche hier sind schwer zu
­erklären. Sie sind uns eingeschrieben, wahrscheinlich
tragen wir sie im Blut, auf jeden Fall in unseren Ge­schich­­
ten. Meine Schwestern haben sich einen Schal genäht,
um sich vor der Zunge der Kühe zu schützen. Die Tiere
drehen sich beim Melken um und versuchen, dir das
Gesicht und die Haare abzulecken. Vom schmutzigen
Schwanz ganz zu schweigen.
Das ist eben Berufsrisiko!
Wir haben die Milch nie in eine Molkerei gegeben.
Deren Dienste hätten wir teuer bezahlen müssen. Außer­
dem hatten wir nie Schwierigkeiten, unsere Butter zu
verkaufen. Da war die Nachfrage immer größer als das
Angebot.
Wir haben fast nur von dem gelebt, was wir selbst
produzierten. Wobei der Umgang mit Milch viel Finger-
spitzengefühl und Sauberkeit erfordert. Alles wird sofort
nach Gebrauch gereinigt. Wenn deine Kühe Steckrüben

114
fressen, schmeckt die Milch danach. Nie im Leben werde
ich eine Kuh melken, die mit Silofutter ernährt wurde,
diese Milch stinkt!
Man gießt die Milch erst einmal in die Zentrifuge,
dann geht das Sahnemachen los. Die Zentrifuge wird
von einer Kurbel angetrieben. Die Sahne fließt in den
Eimer, die Molke zurück in die Milchkanne. Die Sahne
der Vortage wird in einem irdenen Krug aufbewahrt, der
sich schon seit Menschengedenken im Besitz unserer
Familie befindet. Das Ganze schüttet man dann in die
Buttermaschine. Nach einer Stunde füllt man die Butter
langsam ab. Man muss mit den Händen kneten, nicht
mechanisch. Man muss die Butter sanft behandeln, sonst
wird sie zu trocken.
Marie-Jeanne hat sie mit Gewichten ausgewogen, frü-
her haben wir dazu Kieselsteine vom Strand genom-
men. Sie legte einen großen Klumpen auf die Waage und
tarier­te sie aus. Dann füllte sie die Butter in einen Hen-
keltopf, die Molke bekamen die Kälber. An der Wasser-
pumpe im Hof wuschen wir die Utensilien.
Butter und Sahne haben wir bis 2004 verkauft. Auf
diese Weise haben wir weniger einschichtig gelebt. Jede
Woche kamen Leute vorbei.
Ich werde wohl nie wieder »Milchbutter« essen. Die
hatten die Schwestern noch nicht von Hand geknetet,
deshalb enthielt der Butterklumpen noch Milch. Die But­
ter »tropfte«.
Ich habe immer gehört, wenn die Buttermaschine an-
hielt. Wenn das Signal ertönte, bin ich sofort hingelau-
fen. Ich habe die Kammer geöffnet und mir mit meinen
großen Pfoten ein Stück Butter herausgeholt. Es blieb an
meinem Finger hängen, bis ich in der Küche war, wo ich
es auf ein Tellerchen legte. Dann suchte ich heimlich –

115
denn es ist erbärmlich, wenn ein echter Normanne sich
benimmt wie ein Bretone – den Salztopf hervor und
würzte die Butter mit einer Prise Salz. Normannische
Butter ist im Gegensatz zu bretonischer nämlich ungesal­
zen. Die so gesalzene Butter habe ich dann auf das Brot
gestrichen. Mir lief das Wasser schon im Munde zusam-
men, noch bevor mir meine »Machenschaft« über die
Lippen ging.
Diese Butter, die frisch aus dem Butterfass kam und
noch nicht für den Verkauf geknetet war, hätte sogar
­einen Toten aus dem Grab auferstehen lassen.
Danach war ich satt und zufrieden und half den
Schwestern, die Gerätschaften zu säubern. Eine von bei-
den war dann meist schon dabei, die 500-Gramm-Stücke
abzuwiegen und mit einem Holzspatel rund zu formen.
Seit wir keine Butter mehr machen, esse ich auch keine
mehr. Allerdings habe ich wieder angefangen, Radies-
chen anzubauen. Und die kann ich nicht ohne Butter
essen.
Als meine Radieschen wuchsen, habe ich eine halb-
wegs erträgliche Butter aufgetrieben. Mir werden zwar
die Zähne immer ein wenig lang, wenn ich sie esse, aber
was soll’s … es ist nun einmal keine »natürliche« Butter.
Ich kaufe sie gesalzen, das verdeckt den Geschmack we-
nigstens ein bisschen. Die Schwestern schimpfen immer
mit mir. Sie kaufen Butter auf dem Markt von Beaumont,
die ist noch nach alter Tradition gemacht. Natürlich wür-
den sie auch mit mir teilen, aber ich überlasse sie ihnen. Es
ist ihre Butter. Außerdem sprießen die Radieschen auch
nicht ewig. Und zum Frühstück esse ich trocken Brot.
Françoise hat sogar angefangen, Nutella zu futtern!
Aber trockenes Brot mit ein wenig selbstgemachter
Marmelade schmeckt auch sehr gut.

116
Wir waren einfach blöd. Wir hätten eine Kuh behalten
sollen, nur eine einzige …
Meine Schwestern finden es zu schrecklich, dass wir
Butter aus der Molkerei essen sollen.
Aber genau das steht uns bevor, da beißt die Maus
keinen Faden ab.
Buttergeschäfte

Den matous, den Kälbern, gaben wir die unbehandelte,


fette Milch, den Färsen die entrahmte. Wir fütterten sie
mit Milch und Heu.
Das Kalb verkauft man schon mit acht Tagen an den
Metzger (geschlachtet wird es mit drei Monaten) oder
man kastriert es mit einem Jahr und verkauft es, wenn
es zweijährig ist. Dieser Ochse darf sich auf der Weide
fett fressen.
Ochsen sind ziemlich verfressen, sie machen dir das
Feld sauber. Nach den Fleischkälbern lasse ich die Färsen
auf die Weide, dann die Schafe, hübsch nacheinander. Ihr
Mist düngt die Erde.
Die Schafe, die wir bercas nennen, vollenden dann das
Werk. Sie fressen die Grasbüschel, kratzen sie richtig aus
der Erde heraus. Die Kühe mögen es nicht, wenn sie auf
der Weide Kaninchen riechen. Das passiert vor allem,
wenn es in einem Jahr sehr viele gibt, dann kommen sie
von der Heide her. Sobald die Kühe die Kaninchenköttel
riechen, hören sie auf zu fressen und geben keine Milch
mehr. Mit den Schafen ist das ähnlich. Mit den Kühen
ist nichts mehr anzufangen, wenn man sie auf eine Weide
führt, auf der vorher Schafe gegrast haben.
Unser Gras wird zu Milch. Es dient zur Butterher-
stellung. Wir haben nicht genug Land, um Fleisch- und
Milchvieh gleichzeitig zu halten. Fleischvieh warf mehr
ab, aber wir haben uns für Butter und Sahne entschieden.

118
Auch wenn der Milchpreis gefallen ist, sind wir nicht arm
geworden. Man muss nur wissen, wo Geld zu holen ist.
Wir mussten uns auch nicht nach einer Molkerei richten,
denn in diesem Fall hätten wir drei oder vier Kühe mehr
anschaffen müssen. Abholung, Transport und das Ent-
rahmen der Milch hätten schließlich Gebühren gekos­tet.
Und das hätte wiederum mehr Arbeit bedeutet.
Wir mussten nie hektisch herumrennen wie unsere
Nachbarn, die, sobald der Molkereiwagen kam, zum
Gatter stürzten. Der Zeitplan war so streng, dass sie
­keine Freiheit mehr hatten, nicht mehr so arbeiten konn-
ten, wie sie wollten. Wir aber, die Familie Bedel, wir hat-
ten diese Freiheit. Denn es ist schön, viel Zeit zu haben,
das ist unser eigentlicher Reichtum. Und samstags be­
kamen wir dann immer Besuch von unseren etwa dreißig
treuen Kunden und zwanzig anderen, die nur gelegent-
lich vorbeischauten. Das mochten meine Schwestern.
Wenn Besuch kommt, erfährt man die ein oder andere
Neuigkeit, und dann konnten sie unter der Woche dar-
über reden.
Einmal wollte ein Paar, das wir nicht kannten, am
Pfingstsamstag ein ganzes Pfund Butter kaufen, und wir
hatten nur noch ein Kilo. Da ich der Gesprächige in der
Familie bin, habe ich mich eingeschaltet und den Han-
delsvertreter gespielt:
»Ich will Ihnen ja nichts aufschwatzen, aber wenn Sie
das restliche Pfund auch noch nehmen, werden Sie es
nicht bereuen.«
Die beiden fangen an zu disputieren, sie will nicht,
aber der Mann hat schon begriffen, was ich ihm sagen
will: In einer Stunde ist keine Butter mehr da!
Im Jahr darauf kamen sie dann etwa zur selben Jahres-
zeit wieder. Man redete so hin und her: »Ach, Sie hatten

119
ja so wunderbare Butter. So etwas haben wir noch nie ge­
gessen. Wir sind extra mit einer Kühltasche gekommen
und würden gerne alles kaufen, was Sie erübrigen kön-
nen!«
»Aber meine Herrschaften, da sind Sie zu spät. Die
Butter für diese Woche ist schon verkauft.«
Für die Stammkunden haben wir uns manchmal sogar
die Butter vom Mund abgespart. Die brachten vorher
ihre Tellerchen vorbei. Meine Schwestern mussten die
Namen gar nicht draufschreiben, sie erkannten die Kun-
den am Teller.
Für die Sahne brachten die meisten ein Marmeladen-
glas mit. Gelegentlich verkauften wir auch Milch, kan-
nenweise, aber immer so wenig wie möglich. Wir haben
uns dabei stets an den Preis gehalten, den die Molkerei
auch verlangte. Und wenn man den Preis dann erhöhte,
wurden manche Leute recht schmallippig.
Ein paar Kunden sind später weggeblieben, was mei-
ne Schwestern sehr getroffen hat. Das war, als der Euro
kam, da war im Unico die Milch billiger. Wir haben den
Supermarkt von Beaumont-Hague immer so genannt:
Unico. Die Schwestern ließen eine Zeitlang den Kopf
richtig hängen. Auch unsere Butter verkaufte sich nicht
mehr so gut, schlechter bei den Hiesigen und fast gar
nicht mehr bei der Laufkundschaft. Was sie besonders
traurig stimmte, war, dass man bestimmte Leute einfach
nicht mehr sah, denn mit der Zeit gewöhnt man sich an
die Menschen. Man kennt sie, kennt ihre Geschichte,
weiß, was sie so vorhaben. Und das Ganze wegen ein
paar Cents.
Wer wollte diesen Euro denn eigentlich?
Beim Übergang von den alten zu den neuen Francs
musste man nur das Komma verschieben und nicht lange

120
herumrechnen. Mit dem Euro war alles anders, da muss-
te man mit sechs multiplizieren, um auf den alten Preis
in Francs zu kommen.
Die Engländer haben diese Affenwährung ja ­abgelehnt.
Wir hätten das auch machen sollen. Die sind nicht so
dumm wie wir. Aber nach etwa einem Jahr sind ­unsere
Kunden wiedergekommen, aber da waren wir dann schon
in der Rente. Sie sind fünfundzwanzig Kilo Butter zu spät
gekommen, wenn man das übliche Pfund pro Woche zu­
grunde legt.
Natürlich haben sie sich beschwert. Sie waren über-
rascht, als wir ihnen sagten, dass wir keine Kühe mehr
hatten und sie daher keine Butter bekommen könnten.
Wir haben uns dann gegenseitig ein paar Mal zum Kaf-
fee eingeladen.
Mittlerweile hatte die Butter im Unico nämlich »zu­
gelegt«. Wir haben in der letzten Zeit, als wir noch But-
ter machten, insgesamt höchstens um 30 Cents erhöht,
das waren damals etwa zwei Francs. Aber wer rechnet
heute schon noch in Francs? Zwei Francs, das war viel
für die Leute. Aber die Francs sind mittlerweile durch
Cents ersetzt worden.
Der Euro hungert den Geldbeutel aus und lässt die
Händler fett werden, aber nicht die Bauern. Die Kunden
haben damals gedroht, sie würden nicht wiederkommen,
wenn wir unseren Butterpreis nicht an den im Super-
markt angleichen.
Jahrzehntelang konnten wir unseren Butterpreis selbst
bestimmen. Wir wollten uns nichts vorschreiben lassen.
Wir würden Unico einfach Konkurrenz machen!
Aber wir haben einige Kunden verloren.
Die Schwestern hat diese Geschichte wirklich beküm-
mert. Heute können sie darüber lachen. Sie wissen, dass

121
wir unsere Butter mittlerweile zu unserem Preis verkau-
fen könnten, weil es Leute gibt, die den Wert natürlich
produzierter Lebensmittel zu schätzen wissen.
Wie man zu guten Kartoffeln kommt

Du bearbeitest die Erde so, wie sie es braucht. Du rich-


test dich nach ihr. Das ist mit den Tieren genauso. Und
mit deiner Frau beziehungsweise deinem Mann oder dei-
nen Kindern. Wichtig ist vielleicht, dass du dich nicht zu
sehr auf deine Vorstellung versteifst, sonst schwimmst du
gegen den Strom und kommst nicht weiter.
Gutes Gemüse muss man sich verdienen. Und man
muss sich vorher überlegen, wie das geht. Da gibt es kein
Rezept. Jeder macht, wie er es für richtig hält, wie sein
Boden es verlangt. Das ist wie mit den Menschen. Du
kannst dich auch erst dann richtig ernähren, wenn du
weißt, aus »welchem Stoff« du gemacht bist.
Im Januar pflüge ich die Felder um, die ich für den
Kartoffelanbau dieses Jahr ausgesucht habe. Im Februar
ziehe ich dann die Furchen. Ich pflanze Kartoffeln auf
meine Art, die Knolle immer sieben Zentimeter tief in
der Erde. So keimt sie gut.
Wenn man den Pflug von den Pferden ziehen ließ, ging
es schneller. Wenn man eine neue Furche zog, wurde die
alte zugeschüttet.
Mitte März dann »macht der Boden zu«. Er wird hart
und legt sich über das Saatgut. Dann gehe ich zum Glät-
ten einmal mit der Harke drüber und lockere dann mit
der Hacke. Meine Schwestern helfen mir, sie arbeiten ge­
nauso wie ein Mann. Da gibt es keinen Unterschied, und
sie klagen nie über Müdigkeit oder sonst was.

123
Die Frauen arbeiten auf dem Bauernhof genauso
schwer wie die Männer. Sie machen alles im Haus und
können auch alles. Meiner Ansicht nach sind es die
Frauen, die das Land am Leben erhalten. Man muss nur
sehen, was aus uns geworden ist, als sie keine Lust mehr
hatten. Da sind die Männer zum Arbeiten in die Fabrik
gegangen. Aber heute gibt es viele, viele Mädchen in den
Landwirtschaftsschulen. Das ist ein gutes Zeichen.
Man hackt also zwischen den einzelnen Reihen und
formt einen kleinen Wall, ungefähr so hoch wie ein Maul­
wurfshügel. Man »mauert« die Knollen regelrecht ein.
Die Harke mit Muskelantrieb ist bei den Bedels gleich-
zeitig Unkrautvernichtungsmittel.
Nach der Gemüseernte ruht das Feld sich aus und ich
säe Getreide an. Mein Getreide wird eineinhalb Meter
hoch. Mittlerweile staucht man die Getreidepflanzen mit
Hilfe von Hormonen auf sechzig Zentimeter. Das Getrei-
de ist so schwach geworden, dass es sich auf dem Halm
nicht mehr halten kann, daher muss man es künstlich am
Wachstum hindern. Dabei ist es nur deshalb so schwäch-
lich, weil man es behandelt hat. Es kann sich nicht mehr
selbst gegen Krankheiten wehren. Dann knickt es ab,
sogar wenn es nur sechzig Zentimeter hoch wird.
Bei uns wachsen massenhaft Disteln und Mohnblu-
men. Die Erde stirbt biologisch ab, wenn man sie behan-
delt. Das sieht man schon daran, dass es in den Mono-
kulturen keine Wildblumen mehr gibt.
Der Boden ist ein lebendes Geschöpf. Wenn man ein
Saatkorn in die Erde legt, stirbt es und die Erde nährt
es. Es ist eine Art Wiederauferstehung, könnte man sa-
gen. Heute leben die Leute lange, aber man wird ja se-
hen, wie alt sie werden, wenn sie weiterhin so viel Zeugs
essen. Die Leute, die heute alt sind, haben noch echte

124
Kuhmilch getrunken, die nach Stall und nach Gras roch.
Die »nächsten Alten« essen auch, aber nicht immer Gu-
tes!
Die Pflanzen arbeiten mit der Erde, sie belüften sie.
Die Pflanzendecke erstickt das Unkraut wie mein drei-
jähriger Mist. Wenn du diese Decke wegnimmst, stirbt
der Boden ab und ist nicht mehr lebendig.
Wenn man ihn schlecht behandelt, macht er zu. Wenn
man ihn zu stark oder falsch bearbeitet, schließt er sich
ein. Dann dringt kein Wasser mehr ein. Im Wald oder auf
Goury, beim Vendémiaire-Kreuz, geht man auf weichem
Boden, weil er von allerlei kleinem Getier durchlüftet
wird. Hopp! Man federt richtig, als wäre er elastisch.
Dieser Boden wurde nie mechanisch bearbeitet, der
Mensch hat ihm nie irgendwelche »Drogen« verabreicht.
Ich suche dann die Pflanzen für die Saatkartoffeln des
nächsten Jahres aus, genauso wie ich es im Jahr davor
gemacht habe. Wenn die Sorte länglich ist, nehme ich
nur längliche Früchte, ist sie eher rund, sammle ich die
runden. Wenn man diese Regel nicht beachtet, wachsen
die Kartoffeln nicht an und die Reihe wird nichts. Ich
habe schon versucht, in Furchen, in denen vorher runde
Kartoffeln standen, längliche zu ziehen, aber das geht
unweigerlich schief. Da können die Schweine gleich die
Schnauze spitzen, das ist sozusagen »für das Schwein«.
Die kleinen Kartoffeln geben wir roh den Schweinen,
denn wenn man sie kocht, macht die Stärke die Schweine
zu schnell fett. Die kleinen Kartoffeln werden im Super-
markt zu sechs Euro pro Kilo verkauft, die Sorte heißt
Bonnotte de Noirmoutier.
Wenn das mein Vater gesehen hätte: Kartoffeln für
vierzig Francs pro Kilo!
Wir bauen noch andere Sorten an, eine recht wider-

125
standsfähige, die wir schon seit 1925 haben, allerdings
ist sie anfällig für Mehltau. Dann haben wir noch große
runde Kartoffeln, und die blauen fürs Püree. Wir nen-
nen sie »blaue Wurst«. Marie-Jeanne mag am liebsten
die Reine des Cuisines, die »Königin der Küchen«. Sie
macht daraus Suppe, weil sie so schönes gelbes Fleisch
hat. Wirklich knallgelb. Dann die Jumelaine, eine Früh-
kartoffel für Leckermäuler, so einen feinen Geschmack
hat sie. Sie riecht nach unserem Boden und allem, was
darin ist: Meer, Himmel und alles, was er herabregnen
lässt. Marie-Jeanne mag sie aber nicht besonders. Sie
liebt eben die Reine des Cuisines.
Die »Königin der Küchen« haben wir 1945 ­entdeckt.
Damals hatten wir einen italienischen Maurer beschäf­
tigt, der die von den Bombern zerstörten Mauern ­wieder
reparieren sollte. Er hat sich mit meinem Vater angefreun­
det, und eines Tages kam er mit dieser Kartoffel an und
ließ sie uns probieren. Er hatte ein Säckchen Saatkartof-
feln dabei. Seitdem bauen wir sie regelmäßig an. Immer
wenn wir diese Kartoffeln ernten, sehe ich diesen freund-
lichen Mann vor mir, der seine Mauern ausbesserte, wie
er seinen Garten bestellt hätte, voller Achtsamkeit.

126
Fruchtwechsel

Futterrüben und Kartoffeln mögen doppelte Düngung


(mit Tang und Mist), Hafer und Gerste nicht. Wenn ich
auf einem Feld Kartoffeln oder Rüben gepflanzt habe,
säe ich nach dem Abernten Getreide, ohne noch einmal
Mist auszubringen.
Der Weizen profitiert davon Jahr um Jahr. Nimmt
man zu viel Mist, schießt der Halm hoch auf, und wenn
es regnet, knickt er ab und die Ähre verfault am Boden.
Wird der Halm zu hoch, geht das auf Kosten des Korns.
Der Weizen trägt dann weniger Ähren und hat kleinere
Körner.
Daher wechsle ich die Fruchtfolge ab.
Die Gerste schließt den vierjährigen Zyklus ab. Damit
sich der Boden regenieren kann, säe ich zwischen der
Gerste Rotklee aus, weil der das Salz der Gischt bindet.
Ich habe also eine Doppelkultur. Der Klee bremst die
jungen Getreidetriebe. Er schützt sie und sie entwickeln
sich kräftiger.
Im Frühling zerkleinert man mit der Ackerwalze die
Schollen (aus toniger Erde), die nach dem Eggen noch zu
grob sind. So trocknet die Erde nicht so stark aus und
das Getreide lässt sich mit der Sense besser schneiden.
Die Sensen werden stumpf, wenn sie ständig in Erdklum­
pen stecken bleiben. Die Getreidehalme erreichen schnell
zehn Zentimeter Länge, weil der Klee sie kräftiger wer-
den lässt. Das Salz macht ihm nichts aus. Man glättet das

127
Erdreich, das Getreide hat in diesem Moment nichts zu
befürchten, weder Stürme noch die Walze. Die Stängel
legen sich flach und richten sich drei Tage später wieder
auf. Mit modernem Saatgut ginge das nicht. Das Ge-
treide würde einen Schock erleiden und sich nicht mehr
aufrichten.
Von Februar bis etwa Mitte März grabe ich um, aller­
dings nicht zu tief, um die Mikroorganismen nicht zu er-
sticken. Ich bereite die Erde für die Pflanzung der Futter-
rüben und der Gerste (etwa zwei Hektar) vor. Im ­April
säe ich dann von Hand aus, dabei hänge ich mir das Saat­
tuch um den Hals. Ich nehme nicht allzu viele Körner,
damit es nicht so schwer ist. Schließlich soll man bei der
Aussaat mit den Schuhen nicht allzu tief einsinken.
Vorher habe ich mit der Egge die Schollen zerkleinert.
Dann gehen wir noch mal mit der Harke drüber, damit
das Erdreich so fein wie möglich ist.
Ich habe sogar ein Gerät zusammengebastelt, mit dem
man Rüben setzen kann. Eine Art Rad mit zwei Grif-
fen an der Seite und einer Melkfettdose mit Löchern im
Boden. Ein Reifenschlauch sorgt dafür, dass aus jedem
dritten Loch ein Korn fällt. Wenn ich dünner säen will,
verstopfe ich ein Loch. Das Ding wird über den Boden
gerollt. Dank seitlicher Rollen wird die Erde angehäufelt
und die Reihe schön abgeteilt.
Manchmal machen die Feldscher Halt und schauen
mir zu: die Hühner. Sie sind begeistert von meiner Er-
findung, die mir viel Zeit spart. Ein Stück Alteisen dran
zieht gleich noch eine neue Furche. Sämaschine oder
nicht, ich habe nicht immer gerade Furchen gesät, aber
gewachsen ist noch alles.
Unsere Felder sind krumm wie die Leute, die sie be-
arbeiten. Das sind nicht etwa weite Felder, die sich ins

128
Unendliche erstrecken. Man braucht keine Stunde, um
sie zu überqueren. Ein paar Schritte reichen schon.
Wenn die Saat zu keimen anfängt, gehe ich oft aufs
Feld, um zu schauen. Ich spüre einfach, wie sie unter der
Erde wächst, das kann ich nicht anders erklären. Dafür
muss man ein Gefühl haben.
Wenn ich manchmal an modern bewirtschafteten Fel-
dern vorbeikomme, spüre ich, wie die Pestizide sie durch-
setzen. Ich wühle mit der Hand in der Erde, hole eine
Handvoll heraus und rieche daran: Sie stinkt. Der Boden
hat eine Ausdünstung, an die ich nicht gewöhnt bin, und
die noch früh genug auf uns zukommt, einen Geruch nach
Friedhof. Er fault vor sich hin. Die Tiere, die Pflanzen, al-
les darin verfault. Wenn man die Regenwürmer und an-
dere Kleintiere riecht, das ist wie Riechen am Tang: wie
eine frische Brise, die deinen Körper durchdringt.
Wenn alles zu keimen anfängt, halte ich meine Nase
in den Wind, aber im Grunde weiß ich es längst. Das ist
wie eine Art Vision, die mich überkommt, eine Vision
von der Natur und von dem, was meine Arbeit bringen
wird – wenn sie getan ist. Und natürlich braucht es dazu
noch so einiges, Regen zum Beispiel und auch Sonnen-
schein.
Dann sieht man mich auf den Feldern, ich streiche über
die Blättchen, probiere alles. Man könnte meinen, ich
hätte den Verstand verloren.
Glücklicherweise sieht mich niemand, weil meine
Mäuerchen mich decken.

129
Felder voller Steine

Natürlich werfen wir auch die Steine nicht weg. Gar


nichts werfen wir hier weg. Die Steine kommen immer
ans Licht. Je mehr man aufsammelt, desto mehr werden
es.
Die Steine, mit denen wir die Mäuerchen um unsere
Felder errichten, sind »von hier«, nur ein paar werden
bei Niedrigwasser draußen eingesammelt. Wenn ich bei
Ebbe einen schönen finde, setze ich ihn in der Mauer ein,
auch wenn es ein grober Klotz ist. Irgendwann kann ich
ihn sicher gebrauchen.
Ich mörtele sie nicht ein, kein bisschen. Ich habe un-
gefähr vierhundert Meter Mauer errichtet, beim Sema-
phore, dem alten Wettersignal. Das ist ganz schön viel
und ich habe fast zwanzig Jahre dazu gebraucht. An den
Mauern haben viele Hände gearbeitet. Die Deutschen
haben sie 1941 im Krieg dem Erdboden gleichgemacht,
und ich habe immer versucht, die Kriegsschäden wieder
auszubügeln. Wenn ich jetzt wieder an diese Orte kom-
me, die sie einst zerstört hatten, kann ich wenigstens ver­
gessen, dass sie da waren.
Je gröber und krummer eine Mauer wirkt, desto bes-
ser gefällt sie dir, ungelogen. Und so macht man das: Die
Steine müssen gut halten, also lernst du, welche du brau-
chen kannst und das siehst du dann schon von Weitem.
Dann ruft es in dir: Ja, das ist er!
Damit ein Mensch so wird wie ich, braucht es Zeit.

130
Bei den Mauern ist das genauso. Man braucht keinen
Mörtel, um sie aufzurichten: nur die Hände, ein gutes
Auge und das Erdreich, das ist alles. Keinen Meterstab
und keine Wasserwaage. Die Steine finden von selbst
ihren Platz.
Die Typen von der Küste bauen jetzt unsere Mauern
nach, aber die nehmen Mörtel. Und das darf man nicht,
wenn es schön sein soll. Sie verstehen uns einfach nicht.
Eine schöne Mauer in La Hague muss schief sein. Unsere
Mauern sind wie die Leute hier mit ihren großen Nasen.
Weniger schön als La Hague mit seinen Landschaften,
aber solide und freundlich. Und das Auge für den Stein,
das hast du oder du hast es nicht. Das kann man nicht in
der Schule lernen. Das hast du im Blut. Du weißt genau,
wenn du den Stein in der Hand hältst: Die Mauer wird
was!
Getreide

Mein Weizen: der »Stoppelbart«, seit Jahrzehnten hand-


verlesen von meinen Vorfahren. Wir haben ihn nie be-
handelt. Er war immer so robust. Jahr für Jahr habe ich
zwei Säcke für die Aussaat beiseitegestellt. Irgendwann
mal habe ich damit aufgehört und zwei Säcke Saatgut
gekauft. Ich habe mich bequatschen lassen. Das war auch
das einzige Jahr, in dem ich es (allerdings nur auf einem
Feld) mit Kunstdünger versucht habe. Und so habe ich
meinen »Stoppelbart« verloren, für immer.
Man sagte mir ja immer, dass ich ein altes Fossil
und gegen den Fortschritt bin. Paul mit seinen kleinen
Körnern. In eine Handvoll passten mindestens fünfzig
Stück, während von dem heutigen Getreide höchstens
zwanzig Körner eine Handvoll ergeben. Aber so rechnet
man ja heute nicht mehr. Ich habe nicht gemerkt, dass
man mir Wintergetreide verkauft hatte. Das hätte man
im November aussäen müssen. Davon stand aber nichts
auf dem Sack. Ich habe es im Frühjahr ausgesät, und die
Katastrophe war perfekt. Na ja, selber schuld. Ich habe
halt den Gürtel enger geschnallt, ich musste ja auch ohne
Ernte die Pacht für das Feld zahlen.
Das waren zwar keine genmanipulierten Sorten, aber
trotzdem irgendein Mist, keinen Cent wert. Die Wis-
senschaftler vom Staatlichen Landwirtschaftsinstitut
(INRA) und so, die scheren sich doch nicht um uns in
unserem »Loch«. Das Getreide meines Vaters und mei-

132
ner Vorfahren hätte mir eine gute Ernte beschert, wenn
ich es nicht »verraten« hätte, um das zu tun, was alle tun.
Dann müsste ich mir heute keine Sorgen machen.
Sie nehmen auch keine richtige Selektion mehr vor,
sondern konservieren das Getreide nur noch. Gut ge-
meint, aber … Das ist wie der Unterschied zwischen fri-
scher Gänsestopfleber und der aus der Dose, zwischen
hausgemachter Rillette und solcher aus dem Glas. Auch
die INRA überzieht das Getreide mit einer hauchdünnen
Schicht. Ich weiß das, ich probiere schließlich alles. Ein
unbehandeltes Korn schmilzt im Mund wie ein Bonbon,
an dem von der INRA kannst du dir die Zähne ausbei-
ßen.
Glücklicherweise bin ich nur beim Weizen auf die rein-
gefallen. Das andere Saatgut ist noch das, was ich ererbt
habe. Das ist robust, nie gab es Probleme mit irgendwel-
chen Pflanzenkrankheiten. Nach dem 15. August, wenn
man das vorher beinharte Getreide beißen kann, ohne
dass es weich wird, ist der richtige Zeitpunkt, um es mit
der Sense zu schneiden. Man legt es so hin, dass die Ähre
in Windrichtung zeigt. Zwei Armvoll geben eine Garbe.
Auch die richtet man nach dem Wind aus, sonst bläst er
einem alles um, und man kann wieder von vorn anfan-
gen.
So trocknet das Getreide besser. Liegt es nicht richtig,
fängt es an zu schimmeln. Wenn alles geschnitten ist, bin­
det man die Halme mit Stroh zusammen. Ein Band für
jede Garbe.
Eine Stunde später werden die Garben gewendet,
­damit sie die Sonne auch von der anderen Seite zu sehen
bekommen. Dann stellt man sie zu trésiaux zusammen.
Das heißt »Weiblein«. Eine Garbe kommt in die Mitte
und vier andere lehnen drumherum. Das macht man mit

133
dreißig bis vierzig Garben. Auf diesen Haufen baut man
die sogenannte »Kaplanin«, indem man die letzten um-
gekehrt draufstellt. Sie bilden eine Art »Kapuze«, sodass
das Wasser nicht in den Haufen hineinrinnt.
Der ganz große Haufen zählt am Ende etwa sechshun-
dert Garben. Die letzten schichtet man mit der Leiter auf,
so hoch wird der Stapel. Und wenn das Fundament nicht
stimmt, war alles umsonst. Natürlich muss der Haufen
möglichst gerade stehen, sonst fällt er um. Papa schimpf-
te uns immer, dass unser Haufen schief steht, dabei stand
seiner auch schief, aber wir haben natürlich nichts ge-
sagt, sondern uns nur unseren Teil gedacht.
Wir hatten schließlich Angst vor unserem Vater.
Dann kam die Dreschmaschine, die wir mit dem
Bernard-Motor unseres Onkels betrieben. 1961 haben
wir dann den Traktor genommen. Die Dreschmaschine
funktioniert heute noch. Man legt ein Tuch darunter
und hält Nachlese. Mit dem Tuch fängt man die herum­
springenden Körner auf. Die Maschine stammt aus ei-
nem Schiffbruch, der schon Jahrzehnte zurückliegt, von
einem Handelsschiff. Mein Urgroßvater hatte sie gebor-
gen.
Nach der Heuernte wird das Bauernleben ein wenig
ruhiger. Der Körper hat unter den sengenden Sonne viel
Kraft verbraucht. Hier bei uns gibt es ein geflügeltes
Wort, das heißt: »Nach der Heuernte kann man sich zur
Ruhe begeben.«
Wenn die Speicher voll sind, sind die Leute glücklich
und beruhigt. Die Heuernte ist unser Lohn. Die Pferde,
die uns zu jener Zeit halfen, die Ernte einzubringen,
hatten keinen Hafer erwischt. Der macht sie nämlich
irre. Sie dürfen nur Gras und Heu fressen. Aber Tier und
Mensch waren zufrieden miteinander. Jeder hatte seinen

134
Platz. Nicht einmal schlechtes Wetter hätte uns die Laune
verderben können.
Das Bauer-Sein kann man erst nach der Heuernte so
richtig genießen.
Ah, meine Kühe!

Früher hielten wir normannische Kühe, sie hatten ein


weißes Fell mit roten Flecken. Sie fraßen nur Blumen,
deshalb waren sie so schön. Man konnte sie als Fleisch-
oder Milchvieh halten. Siebenhundert bis achthundert
Kilo Intelligenz. Ihre Augen waren dunkelbraun umran­
det, das sah aus, als hätten sie Sonnenbrillen auf. Die ge­
bogenen Hörner konnten einem schon gefährlich wer­
den, daher habe ich sie etwas abgesägt und zugefeilt.
Man kannte sie seit Generationen, und jede hatte ihren
eigenen Charakter. Dabei fühlten Fell und Euter sich bei
Mutter und Tochter immer gleich an.
Wenn man den Kälberstall reinigte und den Mist hin-
ausschaffte, der da schon etwa siebzig Zentimeter hoch
lag, kamen die Kälber zum ersten Mal nach draußen. Die
Aprilkälber blieben bis zum April des folgenden Jahres
im Stall, die Septemberkälber nur sechs oder sieben Mo-
nate. Man legte ihnen ein Halfter an und lärmte mit dem
Milcheimer, damit sie einem nachliefen. Sie sollten uns ja
auch wiedererkennen.
Natürlich hatten sie zunächst einmal Angst. Ja, sogar
vor uns. Sie mussten sich an uns in der freien Natur erst
gewöhnen. Schließlich kamen sie an und beschnupperten
uns wie Hunde. Wir hatten sie jeden Morgen und Abend
im Stall gefüttert, hatten allmählich ein oder zwei Hand-
voll Heu zugefüttert, bis sie selbst zu fressen begannen.
Jetzt machten sie sich zögerlich ans Grasen.

136
Wenn wir die Kälber zum ersten Mal aus dem Stall hol-
ten, verbanden wir ihnen die Augen, sonst sprangen sie
wie verrückt herum. Eines ist mal in den Garten der Nach-
barin gelaufen und hat dort die Johannisbeeren kaputt ge-
macht. Sobald sie verstanden, dass ich da war, folgten sie
mir. Vorher hatten sie Angst vor dem freien Feld.
Eines Tages habe ich einer Kuh beim Kalben gehol-
fen. Das Kälbchen brachte ich in den Stall zu den Mast­
kälbern. Aber nach acht Tagen kam Françoise und mein-
te, ich müsse mich getäuscht haben, es hebe nämlich den
Schwanz beim Pissen. Ich hatte nicht nachgeguckt, ob es
»Eier« hatte!
Wenn so ein Tier zur Welt kommt, verlasse ich mich
mehr oder weniger drauf, wie es dreinschaut. Und das
sah eben aus wie ein Stierkalb …
Wenn du zu deinen Kühen gehst, musst du nur ein we-
nig husten und schon erkennen sie dich. Die Kühe kom-
men abends in den Stall im Gegensatz zu den ­Kälbern,
die viele Monate draußen bleiben. Am Morgen mistest
du den Stall aus und schaffst den Mist auf den Misthau-
fen. Du reinigst ihren Schlafplatz. Wenn ihnen dann in
den Sinn kommt, fressen zu wollen, finden sie im Stall
ihren Platz, immer denselben, sauber vor. Die »Schlim-
me« haben wir an die Mauer gestellt, denn wenn es ihr
einfiel, ihre Nachbarin auf die Hörner zu nehmen, konn-
te sie nur eine Kuh verletzen, nicht zwei. Wenn eine am
falschen Platz steht und der anderen das Futter wegfrisst,
dann kabbeln sie sich. Aber sonst halten sie wirklich zu-
sammen. Die »Chefin« marschiert dem Trupp gewöhn-
lich voraus. Wird sie von einer Kuh überholt, stößt sie
mit den Hörnern wütend gegen die Stalltür und wird rich­
tig zornig. Die Chefin ist meistens die älteste, die Kuh
mit der größten Erfahrung.

137
Die Kühe kalben allein, aber manchmal helfe ich ihnen
dabei. Doch ich wollte nicht, dass das im Film über mei-
ne Arbeit gezeigt wird. Ich kenne meine Kühe. Wenn ein
Fremder beim Kalben in den Stall kommt, hätte die Kuh
sich zurückgehalten, bis es nicht mehr geht, und hätte
­sicher dementsprechend gelitten. Sie hätte das Kalb so
lange wie möglich sicher in sich behalten und dadurch
beide in Lebensgefahr gebracht. Eine kalbende Kuh
braucht vor allem Ruhe. Da hätte eine Kamera wirklich
nur gestört. Es gibt einfach Dinge, die filmt man nicht.
Beim Kalben ist es mir schon passiert, dass sich das
Fruchtwasser über mich ergossen hat. Ich bin nicht
immer picobello sauber aus dem Stall gekommen. Die
­meiste Zeit aber sitzt man nur da und wartet und lässt
die Dinge geschehen. Zumindest, wenn man die Füße
mit den Afterklauen unten liegen sieht. Zeigen sie jedoch
nach oben, dann aufgepasst, denn dann liegt das Kalb
mit dem Hinterteil zur Geburtsöffnung, und das kann
eine harte Nacht werden! Dann musst du in die Kuh
hineinlangen und versuchen, den Schwanz des Kalbes
zwischen seine Beine zu stecken. Dann dreht es sich und
die Hinterbacken liegen wieder richtig. Sonst reißt es dir
die Kuh auf. Das ist schlimm für das Tier, denn wenn
das Kalb mit dem Hintern zur Geburtsöffnung hin liegt,
dann kommt es sozusagen gegen den Strich heraus und
das Fell bremst die Geburt.
Manchmal verkeilt sich der Kopf. Auch da musst du
eingreifen, sonst kommt das Kalb nicht mehr heraus.
Damit es nicht im Bauch erstickt, musst du es so schnell
wie möglich rausholen. Und achthundert Kilo lassen sich
nicht so schnell bewegen wie eine menschliche Mutter,
die vielleicht nur fünfzig auf die Waage bringt!
Eines Tages hat eine Färse auf einem der unteren Fel-

138
der ihr Kalb verloren. Ich habe sie sofort in den Stall ge­
bracht und hatte richtig Angst um sie. Sie hätte ja Maul-
und Klauenseuche oder die Viehseuche haben können.
Also habe ich sofort den Tierarzt angerufen, aber wir
mussten trotzdem acht Tage auf die Untersuchungser-
gebnisse warten. Er befahl mir, sie nicht aus dem Stall
zu lassen. Ich wollte sie nicht melken, weil die jungen
Kühe beim Melken im Stall oft ausschlagen. Und natür-
lich wollte ich mir bei dieser Gelegenheit keinen Tritt
einfangen.
In dieser Zeit wurde das Euter riesig und schwoll im­
mer weiter an. Schließlich bekam ich den Brief des Tier-
arztes: »normaler Abgang, kein Seuchenbefund«. Da bin
ich überglücklich sofort zu meiner Kuh gerannt und habe
sie gemolken. Sie hat mich ordentlich getreten! Aber ich
war trotzdem froh, dass ich meine Herde nicht verloren
habe.
Niemand würde mir meine Kühe wegnehmen, die wie­
derum von Kühen abstammten, die auch schon in unse-
rer Familie waren.
Eben diese Kuh muhte einmal lange im Stall, und ich
habe sie, aus welchem Grund weiß ich nicht mehr, mit
dem Kassettenrecorder aufgenommen. Dann habe ich
ihr die Kassette vorgespielt. Ich hatte es schon geahnt,
sie drehte richtig durch, als sie ihre eigene Stimme vom
Band hörte. Natürlich habe ich sofort ausgeschaltet, aber
weil ich schon dabei war, habe ich das Muh-Konzert im
Haus den Schwestern vorgespielt. Meine Mutter und
meine Tante hatten sich oben schon schlafen gelegt. Da
riefen sie herunter:
»Paul, deine Kühe laufen auf der Straße herum. Paul,
schnell, geh raus.«
Wir haben herzlich gelacht.

139
Wenn man Kühe hält, muss man sich auf ihren Charak­
ter einstellen. Natürlich gibt es sanftmütige Engel, aber
die Dickschädel mag man genauso gern. Freilich: Wenn
sie dir üble Streiche spielen, dann bist du froh, wenn du
sie verkaufen kannst. Aber häufig fehlt dir hinterher ge-
rade das Biest am meisten.
Die Kühe kennen den Wind genau. Wenn er Regen
bringt, legen sie sich hin. Mehr als einmal habe ich be-
obachtet, wie sie auf der anderen Seite des Feldes Schutz
suchten. Hätte ich versucht, sie hinüberzutreiben, wä-
ren sie nicht mitgegangen. Oft habe ich gesehen, wie sie
vor einem Wetterwechsel irgendwo Schutz suchten. Sie
wechseln den Platz und du sagst dir: »Der Wind wird
Regen bringen.« Und dann weißt du, dass du am nächs-
ten Tag besser irgendwo auf dem Hof herumwerkelst.
Unsere Kühe hatten eine Geschichte. Meine Schwes-
tern und ich kannten sie schon als Kälber. Man stellte
sich auf ihren Charakter ein, damit sie es gut hatten. Im
Grunde so, wie man es mit Kindern macht. Bei Tagesan-
bruch und bevor es dunkel wurde, molken wir sie mit
der Hand.
Alle drei Wochen etwa werden die Kühe »stierig«. Im
Dorf hatten wir uns zusammengeschlossen, wir waren
etwa zwölf Landwirte, die sich gegenseitig einen Stier
ausliehen und ihn jeweils für zwei Jahre auf die eigene
Weide ließen. Jeder führte Buch, wann er welche Kuh auf
die Weide brachte und wann der Stier aufgestiegen ist.
Wir waren immer sehr vorsichtig, denn Stiere sind
Mistviecher! Man hat schon gesehen, dass sie Leute
töte­ten.
Eines Tages brachte ich die Färse Oville zum Stier. Sie
hat sich schrecklich aufgeführt. Sie jammerte, weil sie
nicht vom Feld wollte. Dann ließ sie sich besteigen, aber

140
gleich danach zog sie mich am Strick davon wie einen
alten Schuh. Ich versuchte Schritt zu halten, aber nichts
zu machen, sie rannte wie verrückt. Auf dem Feld hat
sie mich so genervt, dass ich sie in die Tränke bugsierte.
Das ist ein Trick, damit man sie wieder in den Griff be-
kommt. Nachdem sie sich dort wieder abgekühlt hatte,
war sie lammfromm.
Eine andere Färse hätte mich bei Einbruch der Nacht
fast drangekriegt. Ich habe versucht, sie heimzubrin­
gen, aber keine Chance. Sie ließ sich nicht führen. Sie
rieb sich wie verrückt an einem kleinen Mäuerchen und
zog mich mit sich. Glücklicherweise war das Feld gera-
de gepflügt worden, denn bald fand ich mich unter ihr
in einer Ackerfurche wieder. Ich war platt, aber glück­
licherweise nicht tot. Ich habe abgewartet, bis ich mich
wieder be­wegen konnte und sie dann angeleint. Schließ-
lich trotteten wir beide voller Erde nach Hause wie gute
Kameraden.
Mit meinen Kühen gab es keine »Karambolagen«,
sondern »Kuhrambolagen«.

141
Prévert

Zu uns kamen häufig zwei Gestalten im Sonntagsanzug


und kauften Butter bei uns, den Einfältigen, wie man
hätte meinen können. Sie redeten wenig und schienen
immer ganz in ihre Arbeit versunken. Wenn die beiden
bei uns vorbeischauten, trafen sich zwei Welten, eine so
seltsam wie die andere.
Ich und meine Schwestern waren, was den Fortschritt
angeht, Jahre zurück. Wir waren noch so sehr »alter
Schlag«, dass wir den Leuten wahrscheinlich wie Dino-
saurier vorkamen.
Jacques Prévert, der in Omonville-la-Petite, also ganz
in der Nähe, wohnte, hielten viele hier für einen selt­
samen Menschen. Er kam mit seinem Freund, einem Sze-
nenbildner beim Film, oder manchmal auch allein und
rauchte eine nach der anderen. Außerdem rasierte er sich
nicht jeden Tag. Er ging sehr langsam und träumte dabei
vor sich hin, war mit dem Kopf ganz woanders. Meine
Schwestern mochten ihn sehr, weil er wenig redete und
sich nie über den Preis beschwerte.
Dann erzählte man sich beim Abendessen:
»Heute war Prévert da.«
Bei uns armen Hanseln kamen »die aus Paris, die
­Studierten« nur hin und wieder vorbei.
Auguste und ich taten dann noch hinterwäldlerischer,
als wir ihnen ohnehin schon erscheinen mussten. Wir
schlenderten mit einfältiger Miene über den Hof, sodass

142
die Schwestern uns, nachdem die beiden Herren gegan-
gen waren, ausschimpften:
»Was habt ihr bloß wieder getrieben. Bestimmt wart
ihr nicht höflich zu den beiden!«
Wir waren weder besonders aufmerksam noch beson­
ders unfreundlich. Wir haben einfach weiter unsere Ar-
beit gemacht. Wir wussten ja auch so, ohne sie richtig zu
kennen, was sie für eine Sorte waren. Mit den »Studier-
ten« konnten wir einfach nichts anfangen.
Wenn man auf unseren Hof kam, merkte man natür-
lich sofort, dass unser Traktor nicht gerade das neues-
te Modell war. Unsere geflickten, altmodischen Jacken
­rochen nicht nach Stadt oder Fabrik, sondern nach Kuh-
stall. Glücklicherweise waren die Schwestern für den
Verkauf der Butter zuständig. Damals war ich viel gries-
grämiger als heute. Und Geschäftssinn hatte ich auch
keinen.
Aber heute möchte ich gern von meinem ­Abenteuer
mit Prévert erzählen. Ich frage mich, ob er uns, die
Schwestern und mich, nicht vielleicht in einem Gedicht
dargestellt hat. Das müsste dann heißen: »Ein Bauer
nach Ortszeit«. Die zwei Stunden nachging, was fast
zwei Jahrhunderten gleichkam. Ich gehöre zu einer aus-
sterbenden Art. Heute mache ich darüber Witze, aber
ich glaube schon, dass ich damals recht hatte: Die waren
total baff, als sie uns sahen, so »unterentwickelt«, dem
Anschein nach ebenso wie in Wirklichkeit.
Ich kann mich täuschen, nur Didier Decoin, der an-
dere Schriftsteller hier, redet darüber mit mir. Und der
ist einer aus Paris, ein »Studierter«. Wie Prévert weiß er
unsere Ecke mehr zu schätzen als so mancher, der hier
geboren wurde. Im Grunde sind wir uns alle ziemlich
ähnlich. Man nährt sich von Erinnerungen.

143
Wir, die Bedels, waren tatsächlich »in unserem Leben«
und nicht in ihrem. Kurz gesagt, wir mochten unseren
Prévert. Er versuchte vielleicht, sich mit uns hier anzu-
freunden, und als er gestorben ist, hat mir das sehr leid
getan.
Man hat immer so viel Angst vor den Leuten, die nicht
sind wie wir, aber wovor fürchten wir uns eigentlich?
Ein Dichter hat die Milch der Bedels getrunken, hat die
Arbeit der Bedels verspeist. Das hat uns Freude gemacht,
aber so alles in allem war uns nicht klar, wozu ein Dich-
ter gut sein soll.
Ich habe nie gelesen, was er geschrieben hat. Daher
habe ich mir die Frage, ob ich doof bin oder nicht, erst
gar nicht gestellt!
Uns war das nicht bewusst, dabei waren wir schon
ein wenig merkwürdig, wie wir uns hier in unserer Ecke
gegen alle Hilfen und allen Fortschritt wehrten. Aber für
mich und meine Geschwister waren es diese Leute aus
der Stadt, die einen Sprung in der Schüssel hatten!
1977 begrub man Prévert in Omonville-la-Petite.
Sein Freund Trauner kaufte auch weiterhin bei uns ein.
Jetzt, wo ich so viele Abenteuer hinter mir habe, würde
ich Prévert auf einen Kaffee einladen, wenn er wieder­
käme. Ich würde mich nicht mehr anders oder unter­
legen fühlen. Ich würde auf den Dichter zugehen, so
wie ich es heute mit den Menschen mache, die mich be­
suchen.
Das mag einem merkwürdig vorkommen, aber jetzt,
wo ich mich dank meiner Besucher, dank der Briefe, Le-
ser und Zuschauer nicht mehr so unterlegen fühle, den-
ke ich viel über Prévert nach. Wir waren vielleicht gar
nicht so verschieden. »Poesie« ist zwar kein Wort, das
ein Bedel benutzt, aber die Natur lieben wir wie er. Er

144
träumte immer viel vor sich hin, und da kenne ich noch
jemanden.
Der Blick seines Freundes Trauner auf uns ist in seinen
letzten Lebensjahren jedenfalls viel milder geworden.
Vielleicht aber hat sich auch mein Blick geändert und ist
offener geworden.
Der Gemeinderat

Ich habe jedes Mal alle Stimmen bekommen. Man hat


mich zum Gemeinderat gewählt, und da ich ja schon eine
gewisse Verantwortung in der Pfarrei hatte, war die Um­
stellung aufs Gemeindeamt nicht so schwer. Wenn man
mich um einen Gefallen bat, habe ich einfach Ja gesagt.
Ich wollte anderen immer helfen und ihnen zu Diensten
sein.
Ich weiß, dass man mir nicht oft das Wort erteilt hat.
Und ich habe meinen Mund auch nicht aufgemacht. Aber
jetzt, wo ich alt bin, habe ich weniger Probleme, meine
Meinung zu sagen. Ich möchte unseren Landstrich vor
allzu scheußlichen Bauten bewahren, vor Häusern, die
die Landschaft und den Horizont verschandeln.
Andererseits fände ich es gut, wenn mehr Touristen
kämen, denn ich möchte La Hague teilen. Goury gehört
ja nicht nur Goury, sondern allen Menschen, die die
Natur lieben. Ich würde keine Riesenhotels bauen, aber
dafür sorgen, dass die Leute leichter hierherfinden. Ich
habe für den Bau der Schule gestimmt und für andere
Projekte in meiner kleinen Gemeinde.
Für mich ist es eine Sache der Höflichkeit, dass man
seine Meinung nicht in die Welt hinaustrompetet, wenn
man nicht gefragt wird. Da ich keinen Schulabschluss
habe, meinte ich lange Zeit, ich hätte kein Recht zu
sagen, was ich denke. Dieses Gefühl, an meinem Platz
bleiben zu müssen, nichts sagen zu dürfen, habe ich von

146
meinen Vorfahren. Manchmal war etwas nicht in Ord-
nung, und ich ahnte es. Wenn es dann eintrat, dachte ich:
»Ich hätte es sagen sollen, aber mir hätte ja eh niemand
zugehört …«
Dann habe ich aufgehört. Ich glaube, mir war die Sa-
che einfach langweilig. Irgendwie ging nichts vorwärts.
Obwohl ich die Sitzungen wirklich gemocht habe. Meis-
tens war es recht voll, aber danach wusste ich genau, was
sich in meiner Gemeinde abspielte. Ich war immer sehr
neugierig, aber auf möglichst diskrete Weise. Ich mache
zwar den Eindruck, als würde ich über nichts groß nach-
denken, aber in Wirklichkeit habe ich zu allem meine
Meinung. Das ist bei den alten Leuten hier so, denen
vom Land.
Wenn man so hinter den Kühen hergeht, bringt einen
das schon zum Nachdenken, auch wenn viele meinen,
dass man davon verblödet. Weil der Bauer seine Zeit da­
mit zubringt, »sich die Hände schmutzig zu machen«.
Diese Hände sind voller Schwielen, die Haut ist trocken
und vom Frost aufgerissen. Dass man uns Hinterwäldler
so wenig Achtung entgegenbringt, hat sicher damit zu
tun, dass unser Kopf den ganzen Tag im Arsch der Kühe
steckt.

147
Wettervorhersagen

Wenn man das Grün der Insel Aurigny sieht, die am


­Horizont direkt vor unserem Haus liegt, wenn man die
Farben der Insel erkennt, als würde man dort herum­
gehen, dann kommt der Regen.
Wenn du Aurigny nicht siehst, hast du dich schon
­irgendwo untergestellt.
Wenn der Wind stromaufwärts dreht, wird der Him-
mel purpurrot.
Wenn die Blätter der Rüben zu verdorren scheinen,
kommt der Regen.
Wenn die Gürtelrose, unter der ich leide, wieder-
kommt, regnet es.
Die Frösche sind dunkler, wenn man mäht. Wenn sie
einem plötzlich brauner vorkommen, die Kröten sich
aber farblich nicht ändern, dann kann man den Regen-
mantel holen.
Die Schwalben flitzen dicht über dem Boden dahin:
Regen.
Man hört den Grünspecht: Such deinen Regenmantel
heraus.
Rot am Morgen macht Regen und Sorgen. Morgenrot
gilt als schlechtes Zeichen. Abendrot aber kündigt einen
schönen Tag an.
Wenn man die Glocken der Kirche von Jobourg bei
uns zu Hause hört, ist die Luft feucht.
Wenn man nur die Glocken der Kirche hört, kommt

148
ein Sturm auf und es besteht die Gefahr eines Schiff-
bruchs.
Wenn man wissen will, wie der Wind weht, muss
man nur den Himmel betrachten. Wenn am Vortag die
Sonne gelblich scheint, gibt es Westwind. Ist sie rötlich,
kommt der Wind stromaufwärts, also Nord- oder Nord-
ostwind.
Der Wind weht stromabwärts, wenn Sonne und Mond
zugleich am Himmel stehen.
Hat der Mond einen Hof, dann gibt es entweder Nebel
oder Nordwind.
Wenn der Leuchtturm von Goury sich im Wasser spie-
gelt, weht der Wind stromaufwärts oder es kündigt sich
Regen an.
Alles hat mit den Geräuschen des Meeres und des Raz
zu tun. Wenn du auf meinem Hof das Meer in der Bucht
von Écalgrain hörst, drängt der Wind es nach Süden.
Dann hört man, wie es die Kieselsteine so richtig in die
Mangel nimmt, und man kann sich auf schönes Wetter
freuen.
Wenn es bei Tagesanbruch Frost gibt und alles weiß
ist, liegen im Norden Nebelbänke.
Stürme: Drei Tage vor dem Sturm sieht man das Licht
der englischen Festlandsleuchttürme. Im Nordwesten
sieht man den Strahl, den zweitaktigen oder ­dreitaktigen,
der dritte blinkt zwei Mal und Schluss.
Auch dein Brunnen sagt dir, wie das Wetter wird. Er
grummelt. Die Quellen rumoren, das Wasser steigt an.
Und du spürst im Körper so ein Kribbeln. So ein Gefühl,
wie wenn du nicht weißt, was die Zukunft dir bringt. Ei-
nem Sturm gegenüber bist du immer so klein mit Hut. So
ist es nun mal. Und der Brunnen weiß vor dir, dass es jetzt
wieder so weit ist. Denn wenn der Himmel noch blau ist,

149
kündigt sich der Sturm bereits im Brunnen an. Da stei-
gen dann winzige, durchscheinend weiße Krabben an die
Wasseroberfläche. Kein Mensch weiß, woher  sie  kom-
men. Das Wasser fängt regelrecht zu brodeln an.
In der Tiefe sind also Himmel und Wasser verbunden.
Du musst nur warten. Wenn dann der Sturm kommt
mit seinen Brandungswellen, wirft er dich auf die Erde
nieder. Hier zeigt dir das Wasser schnell, wer der Herr
ist. Die Wellen, der Krach, den sie machen, das kann
­ei­nem schon Angst einjagen. An solchen Tagen ziehe ich
mich ans Kaminfeuer zurück und flechte neue Weiden-
körbe.
Früher kamen im Frühling die Schwalben beim Sema­
phor an, wenn die Algen langsam anfingen, auf den Fel­
sen zu wachsen. Sie kamen immer an derselben Stelle
an und flogen über die Felder weg, auf denen wir beim
Melken waren.
Das gab einem das Gefühl, man würde nicht altern.
Die Dinge wiederholten sich, am selben Ort, zur sel-
ben Zeit, und man hatte den Eindruck, alles würde im­
mer so bleiben. Als könne man gar nicht sterben. Das
Gefühl hatte ich lange Zeit, ungefähr bis zum Tod mei-
ner Mutter. Ich sagte mir immer, man müsse nur auf-
hören zu altern, auch wenn man an Jahren zulegte. Die
Schwalben erinnerten mich jedes Frühjahr daran. Wahr-
scheinlich klingt es verrückt, wenn ich sage, dass ich die
Schwalben, die Jahr für Jahr ihr Nest in meinem Stall
bauten, wiedererkannte.
Auf dem Hof wurden die neuen Bewohner langsam
größer. Aus den Küken wurden Hühner, und die Enten
lehrten ihre Jungen, was sie mit dem Salat und dem ande-
ren Futter anfangen sollten. Und im Jahr darauf begann
der Zyklus wieder von vorne.

150
Ich werde wohl nie müde zuzusehen, wie die Natur
praktisch ohne jede Hilfe überlebt. Alles, was die Tiere
tun, ist, sich den einen oder anderen Trick zum Überle-
ben weiterzugeben.
Verdienste eines Bauern

Unsere Ställe tragen Namen. Da gibt es einmal den


tchu d’étoupe, die »geflickte Hose«. So hieß ein Mann
aus Auderville, ein großer Schmuggler und Gauner. In
­diesem Stall standen die Kälber, die gemästet wurden,
um sie später zu verkaufen.
Der Stall der p’tits viâos hingegen beherbergte die jun-
gen Milchkühe.
In der Ecke steht der Hasenstall.
Da gibt es noch den Misthaufen und den »Stall ganz
hinten«.
Mein Vater hatte dort während des Krieges hohe Gat-
ter errichtet und den Verschlag abgedeckt, damit nie-
mand das arme Schwein sah, das er knebeln musste, um
es schlachten zu können!
Meine Mutter und die anderen Frauen wuschen die
Gedärme im Waschhaus und im Meer. Sie haben sie im­
mer wieder gewendet, um sie auch wirklich sauber zu
bekommen. Dann haben wir sie mit ein wenig Salz ge-
braten.
Wir hatten zwar keine Genehmigung, ein Schwein
zu schlachten, aber getan haben wir es natürlich trotz-
dem.
Eines Tages, als ich meinem Vetter geholfen habe,
­eines zu schlachten … Das sollte ich vielleicht nicht
erzäh­len, sonst rückt uns Brigitte Bardot mit ihrem Tier-
schutz auf die Pelle. Lebt die überhaupt noch? Keine Ah-

152
nung. Nun, jedenfalls steht das Schwein plötzlich wieder
auf! Tot, ohne tot zu sein. Ich habe mich nicht mal ge-
traut, das Stroh anzuzünden, mit dem man die Borsten
von der Haut brennt. Es blieb ein paar Sekunden lang
auf allen Vieren stehen, dann hat es endgültig sein Leben
ausgehaucht.
Armes Schwein! Das war schon etwas, wie es sich ans
Leben klammerte.
Von da an mochte ich keine Schweine mehr töten. Ich
hatte zu viele Schuldgefühle.
Ein Mann schlitzte dem Tier dann mit einem Bajonett,
das von einem deutschen Gewehr stammte, den Bauch
auf. Das war unglaublich scharf, und so ging alles recht
schnell. Da gibt es nichts, die Deutschen waren schon
stark, wenn es darum ging, etwas in zwei Teile zu schnei-
den. Echte Aufschlitzer! Ihr Bajonett ist uns heute noch
dienlich.
Natürlich haben wir uns mittlerweile versöhnt, aber so
manches vergisst man nicht.
Als ich am 14. Juli 2007 von Nicolas [Sarkozy] ein­
geladen wurde und während der Parade in Paris auf der
offiziellen Tribüne sozusagen als »Staatsgast« saß, be-
hielt ich meine Bauernkappe auf. Ich vertrat dort schließ-
lich die Kleinbauern des Landes.
Nun ja, die Parade war beeindruckend. Man feierte
das Vereinigte Europa, das Europa des Friedens, und das
finde ich gut.
Das Europa der Landwirtschaft, damit kann ich schon
weniger anfangen. Schließlich kamen die deutschen
Soldaten, und da verging mir das Lachen, als ich ihre
Marschmusik hörte und ihre Stiefel. Mir lief rich­tig ein
Schauer über den Rücken. Das wirkte, als hätten sich
ihre Haltung, ihr Schritt nicht verändert.

153
Da war plötzlich die Vergangenheit wieder da, als sie
in unserem Land waren und uns mit ihren Bombarde-
ments Angst machten.
Heute allerdings helfe ich ihnen gerne. Die Kinder sind
ja nicht verantwortlich für die Taten ihrer Eltern. Aber
damals, bei der Parade, als ich das »Tap, tap« ihrer Stie-
fel hörte, erinnerte ich mich wieder an meine Freunde,
die damals sangen: »Halli, hallo, auf euch wartet das
Iâo!« (das Wasser).
Und man sieht die Kinder wieder vor sich, wie sie auf
dem Schulhof die deutschen Soldaten nachahmten und
dabei den Rücken durchdrückten und den Pürzel raus-
streckten wie die Enten.
Die alten Leute hier, die das lesen, werden sich sagen:
»Aber dieser Bedel hat doch einen Knall.« Das ist doch
mittlerweile alles Schnee von gestern. Und tatsächlich
bin ich zu denen, die heute zu mir kommen, sehr nett.
Das sind Deutsche, keine Boches, wie wir die Besatzer
damals nannten.
Aber manchmal schmerzen Erinnerungen auch.
Ich sehe lieber die Schwalben über den Semaphor flie­
gen als noch mal die schwarze Fahne, die im Wind flat-
terte wie ein Schreckgespenst.
Ich spaziere so durch meine Natur und trage meine
Geschichte mit mir, meine Gedanken, meine Tage, meine
Tiere, meine Felder.
Das Mesner-Sein ist durchaus ähnlich, auch da hat
man mit Liebe und Hass zu tun.
An den Erinnerungen, die mit den Orten verbunden
sind, an denen man lebt, trägt man schwer.
Es war auch nicht leicht, die Felder nicht so zu bestel-
len, wie alle Welt das tat, dem Fortschritt immer hinter-
herzulaufen.

154
Man mustert dich gleichsam aus und stellt dich in eine
Ecke.
Und kurz bevor du stirbst, holt man dich wieder her-
vor.
Wie es mir gerade passiert.
Vorher hatte ich mich fast selbst vergessen.
Und in wenigen Tagen, Stunden oder Monaten wird
die Welt mich auch vergessen haben.
Paul auf dem Scheißhaus

Manche Leute glauben, dass es mich nicht gibt, dass


ich eine erfundene Person bin. Aber meine Hände lügen
nicht: das sind riesige Pfoten mit Dreck unter den Finger-
nägeln. Mein Leben ist der Hof. Ich habe Bauernpran-
ken, daran erkennt man sich untereinander.
Mit den Briefen ist das ganz ähnlich. Zwei- oder drei-
tausend habe ich bislang bekommen. Meine Schwestern
und ich haben acht Tage gebraucht, um sie zu sortie-
ren.
Und die bös gemeinten darunter konnte man an den
Fingern einer Hand abzählen. Ich würde nie einen Brief
an jemanden schreiben, den ich nicht mag. Diese Leute
haben sich wohl insgeheim selbst etwas vorzuwerfen, da-
her machen sie anderen Leuten Vorwürfe. So jedenfalls
denke ich mir das. Niemand würde doch zum Beispiel an
Johnny Hallyday, schreiben, um ihm von seinem Leben
und dessen Unglücksfällen zu berichten. So einen Brief
würde er doch gar nicht lesen. Und auf die Idee, ihn zu
beschimpfen, käme schon gar niemand.
Jeder hat seinen Platz: jeder Brief, jeder Besucher,
­jeder Leser, jeder Zuschauer, einfach jeder.
Ich mag Leute, die offen und ehrlich sind.
Aber wie nett und bewegend die meisten Briefe auch
sind, ich kann sie doch nicht beantworten. Da würde ich
viele Briefmarken brauchen! Bei siebenhundertfünfzig
Euro Rente muss ich da schon aufpassen.

156
Außerdem schreibe ich sehr langsam.
Aber ich lese wirklich jeden Brief. Ich nehme mir
morgens extra Zeit dafür. Diese Briefe sind für mich ein
völlig neuartiges Vergnügen wie eine Tür, die sich zu den
anderen hin öffnet, zu ihren Geschichten. Die Leute, die
mir schreiben, kommen aus allen möglichen Ecken, aus
allen Schichten. Manche sind gläubig, andere nicht. Die
einen glauben an die Erde und die Natur, die anderen
eher an etwas Geistiges. Ich lese das, dann denke ich
darüber nach, was aus der Welt geworden ist und was
noch aus ihr werden wird. Ich versuche erst gar nicht,
zwischen den Zeilen zu lesen.
Ein Journalist hat mal gelästert: »Paul hier, Paul da.
Bald wird es ein Buch geben, das ›Paul auf dem Scheiß-
haus‹ heißt!« Der war wohl neidisch, weil über mich so
viel gesprochen und geschrieben wurde.
Ich hätte vielleicht nicht hinhören sollen, als man mir
das erzählt hat. Ich habe sowieso nur mit halbem Ohr
zugehört, weil ich auf einem Ohr nicht mehr so gut höre,
aber das andere funktioniert noch. Jedenfalls denkt der
Mann vermutlich, dass es keinen Wert hat, wenn jemand
Zeugnis ablegt. Aber zu Johnny Hallyday ist er mit die-
ser Weisheit nicht gegangen. Das würde er sich nicht
trauen. Da hätte er Angst um sein Geld.
Die Showstars dürfen ruhig Aufmerksamkeit auf sich
ziehen, aber so ein armer Teufel wie ich, der soll gefäl-
ligst bei seinem Leisten bleiben und nicht groß das Maul
aufreißen.
Doch am Ende bin nicht ich es, um den es hier geht.
Was zählt, das sind wir alle hier, bodenständige Leute. Ich
lege Zeugnis ab, um von unseren Werten zu reden, unse-
rem Glauben, unserer Arbeit. Wir alle, die wir die Erde
lieben, sind vielleicht bald nicht mehr da. Es gibt eine

157
Menge alter Leute heute, und es ist nötig, dass jemand
unseren Platz einnimmt.
Freundschaft ist doch kein Verbrechen, denn das, was
mir passiert, hat vor allem mit Freundschaft zu tun.
Leute wie ich, die kein Geld haben, die sind wohl nur
fürs Scheißhaus gut!
Ich bin nicht sauer. Soll er doch bei mir vorbeischauen,
dann zeige ich ihm mein Scheißhaus. Vielleicht wäre er
darüber sehr erstaunt. Vielleicht aber auch nicht!
Das, was ich glaube, macht mich glücklich.
Die Leute kommen und besuchen mich, weil ich »mög-
lich« bin, andere wiederum wollen mich sehen, weil ich
»unmöglich« bin.
Alte Leute wie unsereiner sind ja für viele nur Idioten.
Wir sind die »Gestrigen«. Dabei bin ich nicht grundsätz-
lich gegen den Fortschritt. Ich habe ein Auto, ein Moped
und sogar einen Traktor, auch wenn der schon recht alt
ist.
Wir haben Warmwasser im Haus, das Wasser aus dem
Brunnen ist für die Arbeiten auf dem Hof. Wir haben
­sogar eine Leitung legen lassen. Aber es stimmt natür-
lich, dass wir keine großen Bedürfnisse haben. Wir leben
vom Notwendigsten, wenn ich das so sagen darf.
Manchmal kommen Leute hierher, die nicht an Gott
glauben, richtige Atheisten. Die wollen dann mit mir
über Gott reden. Das geht immer so los:
»Wissen Sie, Paul, ich bin ja einverstanden mit allem,
was Sie über die Landwirtschaft sagen, aber mit Ihrem
Glauben an Gott kann ich gar nichts anfangen.«
»Ah ja«, antworte ich ihnen. »Und warum wollen Sie
dann mit mir darüber reden?«
Ich hatte einige schöne Gespräche mit diesen Leuten.
Denn im Grunde verstehen sie schon, was gemeint ist,

158
auch wenn sie der Religion kritisch gegenüberstehen. Die
Liebe zur Erde, die ist materiell und spirituell zugleich.
Man kann sich für beides entscheiden.
Wenn du getauft bist, dann bist du getauft. Du
kannst zwar so tun, als wärst du’s nicht, aber du bist es
­trotzdem. Jeder Mensch tut in seinem Leben mal irgend-
etwas ­Gutes, ich bin da keine Ausnahme. Als ich von
den Lesern der Presse de la Manche 2007 zum »Mann
des Jahres« gewählt wurde, hat mir das viel Freude ge-
macht, wobei der Mann, der Zweiter wurde, meiner
Ansicht nach für seine Mitmenschen weit mehr tut als
ich. Aber ich danke allen, die mich gewählt haben, denn
sie haben sich damit bei all jenen bedankt, die die Erde
bearbeiten und Tiere halten! Bei allen, die ähnlich leben
wie ich und die sich nicht schämen, in Wind und Wetter
im Dreck zu kratzen. Daher habe ich diese Ehrung gerne
angenommen.
Im nächsten Jahr wird jemand anderer geehrt, und
das ist gut.
Eines Tages hat man mich zu einer Konferenz einge-
laden. Davor und danach hat man mich in irgendeiner
Ecke abgestellt und dort vergessen. Dann ist Essenszeit.
Der junge Mann, der sich um uns kümmert, weiß nicht,
wie er die Leute am Tisch platzieren soll.
Ich sitze schon.
Dann kommen die Politiker, die Präsidenten von ir-
gendwelchen Vereinigungen, und man bugsiert mich im-
mer weiter weg. Noch ein bisschen und noch ein biss-
chen. Man hätte meinen können, sie wollten niemanden
neben mir sitzen lassen. Zumindest keinen von den offi-
ziellen Gästen! Natürlich ist das nur ein Eindruck mei-
nerseits. Irgendwann jedenfalls sitze ich ganz am Ende
der Tafel, mir gegenüber Pfarrer Albert, der als einziger

159
Tischgenossen einen leeren Teller hatte. Dann waren da
noch drei Frauen unter etwa zwanzig Männern. Und die
hatte man genauso ans Ende der Tafel abgeschoben wie
uns.
Paul, der Hinterwäldler, der sich für einen Showstar
hält, der Pfarrer im Ruhestand und drei Frauen!
Schöne Gesellschaft, nicht wahr?
Albert bringt uns sogleich zum Lachen.
»Siehst du, Paul, jetzt sind wir richtige Ruheständler.
Wir haben keinerlei Dienstgrad, da kann man uns schon
ans Ende der Tafel setzen! Aber das ist nicht schlimm.
Immerhin steht neben mir noch ein leerer Teller, und
wenn Jesus vorbeikommt, laden wir ihn zum Essen ein,
in Ordnung?«
»Aber sicher doch!«
Albert fügt hinzu:
»Denn die Letzten werden die Ersten sein.«
Und genau so kam es dann auch! Wir haben als Erste
etwas zu essen bekommen, und wir hatten wirklich ganz
schön Hunger.
Als ein junges Mädchen den leeren Teller neben Albert
wegnehmen wollte, hielt er sie zurück:
»Lassen Sie uns doch den leeren Teller, Fräulein. Wir
warten noch auf einen wichtigen Gast, eine echte Be-
rühmtheit!«
Ein andermal sagte eine Frau zu mir:
»Armer Paul, wahrscheinlich sind Sie ganz unglücklich
ohne Ihre Kühe! Wo man Sie nur überall hinschleift.«
Ich habe den Kopf gehoben und sie angesehen.
Das war bei einer Lesung in einer Buchhandlung in
Coutances, wo man mich zu ein bisschen Geplauder
und zum Signieren der Bücher eingeladen hatte. Ich war
umgeben von feinen Damen, die unbedingt eine Unter-

160
schrift in ihr Buch haben wollten, eine Unterschrift von
Paul.
Ich habe geantwortet:
»Aber nein, so etwas dürfen Sie nicht glauben. Ich
bin nicht unglücklich ohne meine Kühe. Ich übe hier ein
ganz anderes Handwerk aus: Ich bin Zeitzeuge.«
Einen Vorteil hat das Ganze jedenfalls: Ich wurde
noch nie von so vielen Frauen beachtet. Dann zeigte ich
mit dem Stift auf die Versammlung, die vor mir saß.
»Wissen Sie, ich habe nur die Herde gewechselt.«
Schweigen … und dann helles Gelächter.
Wenn Leser zu mir zu Besuch kommen, dann ­dauert
das zwischen fünf Minuten und zwei Stunden. Ich per-
sönlich mag die kurzen Besuche lieber, dann kann ich
mich hinterher wieder um meine Arbeit kümmern. An-
dererseits wollen die dann in fünf Minuten möglichst
genauso viel erfahren wie in zwei Stunden!
Die Leute kommen auch von weit her: aus ganz Frank-
reich, sogar aus Holland und Deutschland. Ich ­schätze
diese Besuche sehr. Die Leute erzählen mir von der Ge-
gend, aus der sie kommen und ich lerne ein bisschen
Geografie dazu.
Meine Schränke füllen sich mit Geschenken, häufig
mit regionalen Produkten. Ich mag nicht alles. Manch-
mal machen wir auch unsere Witze darüber. Ein Kana-
dier zum Beispiel hat mir Ahornsirup mitgebracht, den
ich morgens aufs Brot streichen soll. Das hatte ich noch
nie gehört!
Wenn Besuch da ist, teilen wir uns die Arbeit. Eine
Schwester deckt das Geschirr auf, die andere macht Kaf-
fee und ich unterhalte die Leute. Aber dafür muss ich am
Ende auch abräumen und das Geschirr waschen.
Bei den Bedels sind alle in Rente, in der Aktiv-Rente.

161
Mein Tag als Aktiv-Rentner

Wie jeden Tag sehe ich die Sterbeanzeigen durch. Mit


einem Tag Verspätung, weil ich immer die Zeitung vom
Vortag lese. Mein Bruder hat sie abonniert und bringt
sie mir, sobald er sie gelesen hat. Zuerst schaue ich aufs
Alter, auf die Gemeinde, schließlich auf den Bezirk.
Was nicht heißt, dass nicht jeder das Recht hat zu ster-
ben. Bitte, ich lasse dir gern den Vortritt, wenn du das
möchtest!
Ich schaue nach, ob es eine Messe gibt und wie die
­Beerdigung sein wird, und da es etwas ganz Neues gibt,
die Feuerbestattung, habe ich ein wenig mehr zu lesen
und nachzudenken als früher …
Ich bin gegen die Feuerbestattung. Da hat man dann
später keinen Ort, an den man Blumen bringen kann.
Und das ist wichtig für die Erinnerung. Da gibt es gar
nichts mehr, wenn es dich mal trifft! Bei uns sind die
Grä­ber schlicht gehalten. Wahrscheinlich klingt das jetzt,
als seien wir geizig. Aber warum soll man Geld ausgeben
für einen großen Grabstein? Der kostet einen Haufen
Geld und am Ende kommst du doch nicht wieder dar-
unter hervor.
Auf dem Grab meiner Eltern steht nur ein einfaches
weißes Kreuz, ein kleines Holzkreuz mit den Namen.
Dieses Kreuz erneuern meine Brüder und ich so alle zehn
Jahre.
Wer betet, ist keineswegs in Träumereien versunken.

162
Schließlich werde ich nicht so, wie ich bin, ins Paradies
eingehen. Mein Körper ist nichts, nur das Haus der See-
le. Und die kann man nicht definieren, nicht durch den
Geist und nicht durch das Mysterium. Der Glaube lebt
in uns, und er muss unser Glaube sein, nicht der der an-
deren.
Meiner Ansicht nach ist der Tod nicht das Ende. Das
Ende ist das Leben in Gott. Manchmal stirbt jemand,
der so alt ist wie ich, und ich denke: »Ich bin noch da.«
Aber das Verfallsdatum rückt näher. Man hat immer
mehr Erinnerungen, die Zukunft verliert an Bedeutung.
Ich würde mich am liebsten mit meinem Traktor beerdi-
gen lassen, aber das macht viel zu viel Arbeit, und unser
Friedhof ist zu klein, um so ein großes Loch zu graben.
Schließlich brauchen die anderen Leute aus Auderville
auch Platz.
Ich stehe jeden Morgen um sieben Uhr auf. Damit ich
den Raz Blanchard besser höre, der unter dem Haus vor-
beiströmt, öffne ich das Fenster und lege mich noch ein-
mal ins Bett. Ich bleibe noch ein Weilchen liegen, dann
stehe ich auf zum Frühstücken. Aber ich lasse mir Zeit.
Ich wasche mich mit Kernseife, danach gehe ich nach
unten. Ich esse ein weichgekochtes Ei und ein Stück Brot
ohne Butter, weil ich die aus der Molkerei nicht mag.
Wenn die Zeit danach ist, mache ich mir noch ein wenig
grünen Spargel zum Eintunken ins Ei.
Der Kaffee steht auf dem Herd. Wir trinken ihn hier
aufgewärmt, dann hat er den richtigen Geschmack. Ein-
geheizt wird erst gegen acht oder halb neun Uhr. Dann
zünde ich unseren Holzofen an. Im Herbst ist das ein biss­
chen kalt, aber wenn wir nicht weniger als vierzehn Grad
haben, eilt das Einheizen nicht. Man erfriert schon nicht
so leicht! Außerdem werfe ich immer einen Blick auf das

163
Barometer und das Thermometer, und wenn es draußen
zu kühl sein sollte, ziehe ich einen Pullover an.
Heutzutage schlafen die Schwestern länger als ich.
Früher musste ich, um einen Augenblick allein zu sein,
um vier Uhr morgens aufstehen. Dann habe ich mich im
Schuppen um die Fensterläden oder die Gatter geküm-
mert. Ich habe handbetriebene »Maschinen«, mit denen
ich hoble oder säge. Paul ist ja »hoch mechanisiert«. Ich
mag es, wenn es nach Holz riecht. Außerdem kann man
sich so seinen eigenen Sarg zimmern. Da spart man wie-
der was und liegt niemandem auf der Tasche.
So gegen halb sieben Uhr morgens schloss ich mich
dann den Schwestern zum Kaffee an. Daran hat sich
­außer der Uhrzeit auch heute nichts geändert. Ich lese die
Briefe, die wir am Vortag bekommen haben. Am liebsten
fange ich mit denen an, die eine Kinderschrift tragen.
Wenn Kinder mir schreiben, bewegt mich das immer
zutiefst, ich habe richtig Tränen in den Augen. Kinder
wie diese werden die Erde bewahren, und sie ist in guten
Händen. Manche dieser Kinder liegen im Krankenhaus,
denen schicke ich dann eine Karte von meinem Dorf mit
ein paar aufmunternden Worten.
Ich war ja nicht lang in der Schule, was manchmal
hinderlich ist. Ich bin langsam beim Schreiben, aber
am Denken hindert mich das nicht. Kein bisschen! Ich
schreibe langsam und mein Garten wartet auf mich.
Wenn ich dann tue, was zu tun ist, denke ich ­über das
Gelesene nach. Das ist wie ein Buch, aber ­eines, in dem
vom Land die Rede ist, von der Art und Weise, wie ich
und meine Schwestern die Erde ­bearbeiten, so wie un-
sere Eltern es schon getan haben. Manchmal schreiben
die Leute auch von Gott. Mit diesen Men­schen fühle ich
mich verbunden, da hat man etwas gemein­sam.

164
So fängt also mein Tag als Aktiv-Rentner an. Im Grun-
de wie früher, nur ein bisschen später eben! Natürlich
klingelt auch mal das Telefon. Françoise mag das nicht,
weil unser Telefon so laut ist. Man fährt richtig zusam-
men, wenn es läutet. Marie-Jeanne hingegen reagiert
nicht, weil sie so schlecht hört, dass sie einen Hörapparat
braucht. Françoise meckert dann erst mal:
»Lieber Himmel, was wollen die denn schon wieder
von uns?!«
Nun, und was will man, wer ist dran? Ein Nachbar,
der Pfarrer, manchmal auch vollkommen Unbekannte,
die »uns kennen«, die wir aber nicht kennen. Menschen
aus allen Regionen Frankreichs, die einfach an dem oder
jenem Tag vorbeischauen wollen und fragen, ob wir da
sind. Die Frage ist leicht zu beantworten, denn ich bin
immer da, wenn ich nicht woanders bin. Seit einigen
Monaten habe ich nämlich viel außerhalb zu tun. Ich ver­
lasse La Hague immer wieder. Man lädt mich ein.
Aber ich finde das immer ein wenig merkwürdig. Ich
habe das Gefühl, anderswo riecht es stickig. Es gibt dort
keinen Wind, man kann nicht atmen! Doch ich lerne
­außergewöhnliche Menschen kennen, und diese Begeg-
nungen sind immer sehr schön. Aber ich bin halt schon
recht alt und werde beim Reisen leicht müde. Wenn ich
lange sitzen muss, bin ich hinterher erschöpft und mei-
ne Knie werden steif. Daher muss ich immer öfter Nein
sagen. Das fällt mir nicht leicht, aber ich muss mein Zu­
hause und mein Leben schützen, sonst habe ich keine
Zeit mehr für meine Kartoffeln und die Schwestern put-
zen mich herunter, weil wir sie kaufen müssen.
Am Sonntag nehme ich sie mit zum Semaphor. So kön­
nen wir ein bisschen spazieren gehen.
Seit ich so viele Besucher habe, habe ich das Gefühl,

165
zweigeteilt zu sein. Meine Nachbarn raten mir, Besuchs-
zeiten einzuführen, aber dann bin ich nicht mehr Herr im
eigenen Haus und ich bin gerne unabhängig. Ich werde
demnächst ein Schild an das Gatter hängen: »Gestorben!
Paul Bedel ist zu Staub geworden, vor einer Minute!« Da­
mit ich diesen Herbst ein wenig mehr Ruhe habe, habe
ich ein Schild gemalt, auf dem steht: »Grippe«.
Dabei bekomme ich gerne Besuch, und die Schwestern
auch. Nur manchmal halten die Leute sich zu lange bei
uns auf. Die Leute gehen und gehen nicht, und der Tag
ist hinüber. Die Besucher wissen ja nicht, dass ich ein
vollbe­schäftigter Rentner bin! Ich habe schließlich im-
mer noch zwei Felder und den Garten.
Andere meinen, ich solle meine Besucher doch zur Ar-
beit einspannen. Aber das ist unmöglich. Ich wäre viel
zu anspruchsvoll als Chef. Ich habe da so meine Eigen­
heiten.
Zum Beispiel säe ich mit dem Mond. Ich warte bis
zum Abend, bis die Besucher weg sind, und gehe erst
dann in den Garten. Wenn der Mond schön hell scheint,
bin ich schon mal bis Mitternacht draußen. Die Schwes-
tern mögen es zwar nicht, wenn ich nachts draußen bin,
vor allem seit unserem »außerirdischen Abenteuer«. Da
haben Françoise und ich etwas äußerst Merkwürdiges
am Himmel gesehen, das den Verstand übersteigt. Ich
denke fast jeden Tag daran. Hoffentlich finde ich mal
jemanden, der mir das erklärt, bevor ich abtrete: diese
große, orangefarbene Kugel, deren mir völlig unbekann-
tes Licht mich so beeindruckt hat.
Ich mag diese Zeiten, in denen ich nachts arbeite, auch
mal bei Niedrigwasser an den Strand gehe, wenn der
Mond scheint. Nachts sind die Dinge irgendwie anders.
Dann ist man mit seinen Gedanken, Geschichten und

166
Fragen allein. Die Erde ist für mich mittlerweile recht
schwer geworden. Ich bin alt, und so erinnere ich mich
oft an meine Jugend, als ich die Erde gleichsam »aus dem
Handgelenk« heraus umgrub. Dann wird man alt, und
plötzlich fällt es einem schwer, sie umzustechen.
Die Erde ruft dich, wenn du Bauer bist. Sie klebt dir
ja auch ständig an den Sohlen. Im Mondlicht aber wird
man wieder jung. Niemand sieht dich. Du kannst dir
dein Grab schon im Voraus schaufeln, schnell und in
­aller Stille, damit du niemandem zur Last fällst.
Aber wahrscheinlich kann man auf dem Friedhof
nicht so in Ruhe vor sich hin buddeln wie auf dem Feld.
Zumindest stelle ich mir das so vor!
Wenn ich nachts auf meinen Feldern eine gute Zeit
habe, dann liegt das auch an meinen Besuchern. Sie ha-
ben mein Leben verändert. Ich hätte nie gedacht, dass ich
einmal so ruhig werden könnte wie in diesen Momenten.

167
Meine Hefte

Mein Haus ist ein einziger Speicher. Ich hebe alles auf.
Wenn man nichts wegwirft, sammelt sich so einiges an.
Aber natürlich darf niemand meine heilige Unordnung
stören. Dann finde ich nämlich nichts mehr.
Und meine Hefte sind sowieso für fremde Augen
tabu.
Ich schreibe die Hefte nicht etwa voll, um mich an die
verschiedenen Geburtstage zu erinnern. Geburtstag fei­
ern wir ohnehin nicht. Das war früher schon so. Da hat
man auch nur einen Geburtstag gefeiert, und das war
der Jesu zu Weihnachten. Gratuliert wird zum Namens-
tag, dem Tag, an dem unser Namenspatron im Kalender
steht. Und Geschenke brauchen wir auch nicht. Man
weiß ja schließlich, dass man sich schätzt.
Wir leben zusammen, das sagt doch alles.
Die Hefte habe ich aus anderen Gründen. Zum einen
gehe ich gern noch einmal durch, was ich am Vortag ge-
macht habe, auch die eine oder andere Telefonnummer
beziehungsweise Adresse halte ich darin fest. Außerdem
zähle ich nach der Ernte die Kartoffeln, natürlich nur
die Säcke, nicht jede einzeln. Ich schreibe auf, wie viele
pouques (Jutesäcke) wir gefüllt haben. Porree- und Spar-
gelstangen aber führe ich einzeln auf.
Ich kaufe die leeren Hefte Anfang des Jahres entwe-
der in einem Laden in Beaumont-Hague oder bei einem
Buchbinder. Das älteste Heft habe ich von der Caisse

168
mutuelle de réassurance de la Manche, der Genossen-
schaftsbank des Département Manche. Ich kaufe alle
zehn Jahre eins, ein Heft der Marke Herakles. Da trage
ich dann meine Buchführung ein. Bis heute führe ich in
einem roten Spiralheft Buch.
Alle haben eine Größe, die man bequem in der Hand
halten kann. So kann ich sie überall mit hinnehmen. Es
ist ja so: Die Buchführung für einen Bauernhof und eine
Familie passt – wir haben ja nie Subventionen bean-
tragt – auf zwei Seiten pro Jahr! Da muss man wenigs-
tens nicht zwei Stunden pro Woche dafür aufbringen.
Ich kaufe wenig und verkaufe nicht viel mehr.
Auch mein Vater hatte seine Notizblöcke. Er bewahr­
te sie in der Küche auf, in einer Ecke der Anrichte. Nie-
mand hätte je gewagt, einen Blick hineinzuwerfen. Dane-
ben lag – stets griffbereit – ein großer Bleistift mit einer
dicken Mine. Diese schnitt er mehr schlecht als recht mit
seinem Messer zurecht. Er schrieb nicht schön, was bei
seinen Händen kein Wunder war. Als ich nach seinem
Tod den Hof übernahm, habe ich auch die Hefte geerbt.
Er hatte nur Buch geführt, nichts anderes aufgeschrie-
ben. Ich hatte das Gefühl, dass etwas fehlte. Gerne hätte
ich ihn besser gekannt, doch er redete ziemlich wenig.
Und seine Zahlen sagten nicht viel. Wie soll ich das aus-
drücken? Man begriff zwar viel von seinen »Papieren«,
von den Geschäften auf dem Hof, aber von ihm kein
bisschen. Die Zeit, die Landschaft, die Leute – davon
konnte man sich kein Bild machen.
Bei seinem Tod war ich dreißig und hatte schon mehr
im Sinn als nur meine Felder. Ich dachte über mein Le-
ben nach, über die Leute, aber auch über andere Dinge.
Meine Hefte spiegeln mich auf gewisse Weise wider.
Manchmal lese ich sie und erinnere mich. Natürlich

169
steht da nicht alles, aber auch wenn etwas vierzig Jahre
zurückliegt, erinnere ich mich doch an die Geschichte.
Auf diese Weise stückelt man am Leben an und be-
wahrt die Erinnerung. Alle Menschen, die ich nach dem
Tod meines Vaters kennengelernt habe, haben darin ih-
ren Platz. Und wenn ich dann in der Woche vom 14. Juni
1975 im Heft lese: »Gesträuch geschnitten, nachts Re-
gen, Nordosten, Pierre zu Besuch«, dann weiß ich wie-
der, was damals los war.
Nur wurden die Besuche mit der Zeit mehr. In meinem
Heft von 2008 steht nicht so häufig: »Kartoffeln ge-
pflanzt, Schuppen repariert, Holz geschlagen«, sondern
öfter »sechs Besucher, zwei aus Caen, zwei aus Fécamp,
Rest aus Valogne«. Und daneben dann: »Rüben ein­
geholt«, aber ziemlich am Rand …
In meinen Heften steht mein ganzes Leben, aber letzt-
lich kann nur ich mir darauf einen Reim machen! Und
meine Erben werden einmal meine Abrechnungen fin-
den.
Viele Leute stellen mir Fragen zu den Heften. Sie lie-
gen alle in einer Blechschachtel, die langsam verrostet.
Gefunden habe ich sie auf einem unserer Felder, ur-
sprünglich waren Raketenzünder der Deutschen drin,
die die Blechschachtel vor Feuchtigkeit schützte. Beste
deutsche Qualität eben … Kriegsbeute also. Sie haben
uns ja so einiges geklaut, dafür konnte ich mich nun re-
vanchieren. Man riecht, dass die Schachtel alt ist, wenn
man sie öffnet!
Ich habe auch noch andere Hefte, in denen ich meine
Erinnerungen eintrage. Die waren sehr nützlich, als die
Bücher über mein Leben entstanden sind. Abends notiere
ich die wichtigsten Ereignisse. Diese mögen für andere
uninteressant sein, aber für mich haben sie ihren Wert.

170
Aber die sind noch besser versteckt als die Blechschach-
tel.
Früher habe ich keine Bleistifte gekauft, sondern sie
immer irgendwo geschenkt bekommen. Aber in letzter
Zeit geht mein Vorrat zur Neige. Ich habe ja jetzt viel
zu schreiben. Von den Widmungen mal ganz abgese-
hen.
Oft bekommt man zum neuen Jahr mehrere Termin-
kalender im Buchformat geschenkt. Die hebe ich auf, so-
zusagen als Reserve. In der mageren Zeit, wenn ich keine
solchen Geschenke bekomme, benutze ich dann einen
alten Kalender. Meine Eintragungen zum Jahr 1977 zum
Beispiel stehen in einem Kalender aus dem Jahr 1975.
Da habe ich dann auf jedem Tagesblatt den richtigen
Wochentag eingetragen. Ich habe ja Zeit, und auf diese
Weise habe ich etwas zu tun.
Wenn ich dann beispielsweise zwei Jahre nachlese,
stelle ich fest, dass ich jeweils am 12. Januar auf dem
Hof herumgebastelt habe. Und dass es in jedem Jahr an
einem bestimmten Tag einen großen Sturm gegeben hat.
Ich lese gerne in meinen alten Heften und versuche da­
hinterzukommen, was sie mir von Jahr zu Jahr sagen.
1978 habe ich zum Beispiel nach den üblichen Noti-
zen eingetragen, was ich über den Vatikan in Erfahrung
gebracht hatte:
1200 Angestellte, 900 Menschen leben in der Vatikan­
stadt, eigener Staat, 3 Milliarden Einkünfte aus Immo­
bilienbesitz, die über den italienischen Staat reinkom­
men und auf ein Bankkonto fließen. Der Petersdom wird
von Spenden erhalten und von den Eintrittsgeldern der
Museen. Peterspfennig, Abgaben jeder Pfarrgemeinde.
Jedes Land ist in Diözesen aufgeteilt, die ihre Gaben
nach Rom schicken.

171
An diesem Tag habe ich wohl über das Einkommen
des Papstes nachgedacht!
Darauf läuft es wohl hinaus. Denn zwischen den Sei-
ten meiner Hefte, zwischen Rechnungen aus einzelnen
Läden und meinen Einträgen, finden sich auch Gebets-
entwürfe für die Messen in der Kirche, in der ich Mesner
bin. »Dinge von oben« eben. Meine Tage, meine Arbeit
haben etwas sehr Spirituelles. Es finden sich Gedanken
für junge Leute, die heiraten, über andere, die gestorben
sind, und so weiter. Manchmal flattern mir auch Zei-
tungsausschnitte entgegen, zum Beispiel darüber, wie
man das Gewicht eines Rindes am besten schätzt. Hier
die Methode Crevat:
Man misst den Brustumfang unmittelbar hinter den
Schultern und rechnet ihn in Kubik um (indem man
ihn zwei Mal mit sich selbst multipliziert). Das Ergeb­
nis wird mit einem Koeffizienten multipliziert, der je
nach Zustand des Tieres von 68 bis 90 reichen kann, je
nachdem ob es normal, halbfett, fett, fettarm oder mager
ist. Bei Kälbern nimmt man den Koeffizienten 100!
Wer sich verschuldet, hat natürlich Probleme, etwas
zur Seite zu legen. Das ging mir nie so. Ich habe nie viel
gespart, aber ein wenig. Und wenn man jedes Jahr ein
bisschen spart, dann summiert sich das auch. Aber ich
habe mich nie zum Laufburschen des Staates gemacht,
indem ich Prämien und Zuschüsse angenommen habe.
Jenes Staates, der seit der Euro-Einführung zugelassen
hat, dass die Preise immer weiter klettern. Heute zahlen
wir für ein Kilo Kartoffeln einen Euro, das sind mehr als
sechs Francs! Und der Salat kostet manchmal zwei Euro!
Dreizehn Francs. Und von den Preisen für Äpfel oder
Brot fange ich erst gar nicht an.
Eines ist sicher: Wenn ich heute dreißig Jahre jün-

172
ger wäre, würde ich auf jeden Fall wieder Bauer wer-
den!
Nun, es stimmt schon, wenn ich Kartoffeln klaube,
zähle ich sie. Die Porreestangen auch. Ich schreibe alles
auf. Vielleicht ist das ja auch nicht normal. Aber wenn
ich meine Kartoffeln hätte kaufen müssen, so hätte mich
das Jahr für Jahr mindestens tausend Euro gekostet! Und
der Spargel erst. Der Spargel, den ich jeden Morgen in
mein weichgekochtes Ei tauche. Ich möchte gar nicht
wissen, was der Spargel kostet! Für die Speiserüben ver-
langt man mittlerweile zwei Euro pro Kilo. Früher hat
man sie verschenkt, weil man so viel davon hatte.
Und als ich das Buch schrieb, kam mir alles noch viel
teurer vor. Alles, was früher keinerlei Wert hatte, ist heu­
te teuer geworden: der Hummer, den man fing, die Aba-
lonen, die man nicht mehr findet, und jetzt auch Kartof-
feln, Rüben und Karotten. Ein Kohlkopf kann heute den
Kopf hoch tragen!
Man kann wohl sagen, dass man uns ganz schön ge-
leimt hat.

173
Das Moped

Viele Besucher wollen meinen Traktor sehen, aber mein


altes Moped interessiert sie auch. Als ich noch ganz jung
war, lieh mir mein Bruder seines, wenn er zu Besuch
kam. Dann bin ich losgezogen, habe mich im Dorf damit
sehen lassen und bin bei meinen Freunden vorbeigefah-
ren. Irgendwann hat der Nachbar mir seine alte Alcion
verkauft. Damit bin ich sonntags lange Zeit immer nach
Bayeux gefahren, aber der Weg war ganz schön weit.
Schon hinter Carentan kam mir die Strecke unendlich
lang vor. Und eines Tages gab die Alcion ihren Geist
auf. Da kaufte ich mir 1965 eine nagelneue Motobécane
­Mobylette. Natürlich hat sie mit der Zeit Federn gelassen
und ist ganz grau geworden, richtig trist sah sie aus. Da
ich zu Hause einen Topf blaue Farbe hatte, habe ich ihr
einen neuen Anstrich verpasst. Die Farbe war mir vom
Lackieren der Milchzentrifuge ein paar Wochen davor
übrig geblieben. Aber am Ende reichte die Farbe doch
nicht und so blieben die Seiten erst mal grau. Als ich
dann den Traktor gelb lackierte, verwendete ich den Rest
Farbe für mein Moped.
Im Dorf glaubten die Leute schon, ich sei für die
Schweizer Post unterwegs.
Meine Mobylette hat Hummer und Krebse kennen
gelernt. Ich sollte mal in meine Hefte gucken, das waren
bestimmt nicht wenige. Anfang 2008 gab sie dann den
Geist auf. Ich hatte sie schon oft repariert, aber da war

174
mir wirklich schleierhaft, was kaputt war. Wenn ich jetzt
noch mal eine kaufe, renne ich mir damit nur den Schä-
del ein. Die Dinger heute sind einfach viel zu schnell.
Mit meiner alten bin ich nicht einmal gestürzt.
Als das Helmtragen Pflicht wurde, hat mir ein Kum-
pel einen gegeben. Der war zwar zu klein für mich, aber
irgendwie habe ich ihn dann schon »passend gemacht«.
Ich bin eben immer stolz darauf, dass ich mir nichts zu
kaufen brauche. Als ich einmal in eine Polizeikontrolle
geriet, winkte man mich zur Seite, aber ich fuhr einfach
weiter und winkte zurück. Ich sah noch, wie einer der
Polizisten sich an die Stirn klopfte. Wahrscheinlich hielt
er mich für irre, aber das war in diesem Fall ganz gut!
Ein andermal hatte ich den Helm auf der Hobelbank
vergessen, als ich losfuhr, um nach den Kühen zu sehen.
Da höre ich das Polizeiauto hinter mir hupen. Ich tue,
als merkte ich nichts, und fahre stracks auf den Hof zu-
rück, wo ich das Moped verstecke. Der Polizist wartet
am Gatter auf mich:
»Und Ihr Helm, Monsieur?«
»Ich hatte keine Zeit, ihn aufzusetzen. Ich habe meine
Kühe von Weitem auf der Straße gesehen und bin augen­
blicklich losgefahren, um sie wieder auf die Weide zu-
rückzutreiben.« (Das war eine faustdicke Lüge.)
»Dass ich Sie ja nicht mehr dabei erwische!«
Ha, Paul kann nämlich auch lügen. Ich hoffe, jetzt seid
ihr nicht allzu enttäuscht.
Kurze Zeit später fuhr ich hinaus und lehnte das
­Moped an ein Gatter. Als ich mich wieder umdrehe, sehe
ich, wie sich ein paar Pferde daran zu schaffen machen.
Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen.
Ich marschiere zurück, und natürlich liegt der Helm
auf der Erde. Die vermaledeiten Pferde haben den Rie-

175
men verspeist und sich auch am Futter gütlich getan! Das
hat mich wirklich geärgert. Aber nachdem ich den Helm
innen wieder gesäubert hatte, passte das plötzlich ein
bisschen größer gewordene Stück gut über meine Mütze.
Das hält warm und der Mützenschirm schützt mich vor
der Sonne.
Im Grunde sollte ich mich bei den Pferden bedanken.
Der Helm sitzt jetzt gut und hält mir die Ohren warm.
Die Papiere

Nach dem Moped habe ich ein Auto gekauft, mein ers-
tes, einen Gebrauchten. Da ein Cousin seine Schwester
zur Fahrschule nach Cherbourg brachte, konnte ich mit-
fahren und hatte nach drei Fahrstunden den Schein. Ich
bestand die Prüfung, weil ich dieselbe Strecke fahren
musste wie in den drei Stunden davor. Dabei hat sich
das Ganze wirklich schlecht angelassen. Ich fuhr viel zu
vorsichtig. Der Prüfer sagte zu mir:
»Nicht ganz so langsam, der Herr. Schnecken brau-
chen keine Fahrerlaubnis.«
Da bleibt einem natürlich die Spucke weg.
Los, fahr schon, sonst putze ich dich noch mal runter.
Aber er hat mir den Schein dann doch gegeben. Ich
habe einfach nicht mehr auf ihn gehört, sondern mich
nur aufs Fahren konzentriert. Die Cousine kam nach mir
dran und hatte eine Heidenangst, weil die vier Prüflinge
vor mir durchgefallen waren. Als sie dann sah, dass ich
bestanden hatte, fasste sie wieder Mut. Sie hat ihren Füh-
rerschein auch bekommen.
Natürlich musste ich für das Ausstellen des Scheins
zahlen. Den muss man haben. Dabei mag ich keine Pa-
piere.
Als man mich 2007 in den Elysée-Palast einlud, den
Amtssitz des Präsidenten, hatte ich nicht einmal einen
Ausweis. Ich habe meinen Führerschein vorgezeigt, da-
mit man mich zur Garden Party einließ. Immerhin war

177
der nagelneu, der alte ist nämlich verbrannt, als mein
Wagen zusammen mit dem Stall und dem Heuschober
Feuer fing. Da ich zusammen mit unserem Bezirksrat
zum Fest ging, unterschrieb dieser eine entsprechende
Erklärung. Der Knabe am Eingang sah mich ein wenig
schräg an, als wolle er sagen: »Dieses Mal lasse ich es
noch durchgehen.«
Was den Verwaltungskram auf dem Hof angeht, so
habe ich Ende der Sechzigerjahre eine gute Sekretärin
­engagiert. Sie heißt Mademoiselle Martin. Steuern, An-
träge auf EU -Gelder und so weiter und so fort – das
schichte ich auf einen Haufen und stopfe es ihr in den Ra-
chen! Und sie erledigt das mit den Papieren. Wahrschein-
lich ist schon klar, was ich meine: unseren Holzofen,
Marke Martin. Ich verheize das ganze Zeug. Das gibt ein
schönes Feuer und fort mit Schaden. Nun ja, jedenfalls
wollte ich keinen Pass beantragen. Die Versicherung,
gut, das sehe ich ein. Aber vom ganzen Rest will ich so
wenig wie möglich wissen: Beim Passamt nehmen sie
dir die Fingerabdrücke ab und tragen dich ins Register
ein … An der äußersten Spitze von La Hague brauchen
wir so etwas nicht. Jeder kennt jeden, und andererseits
lebt jeder für sich.
Ich wollte einfach »Paul« bleiben, ohne dass das Amt
seine Nase in mein Privatleben steckt. Auch aus diesem
Grund habe ich nie Zuschüsse von der EU beantragt.
Und ich will keine Steuern bezahlen. Die fressen uns mit
ihrer Großmannssucht ohnehin noch die Haare vom
Kopf.
Die ganze Kohle heutzutage, das ist doch nicht nor-
mal. Wo die herkommt, weiß kein Mensch.
Wer Steuern zahlt, ist reich.
Die Grundsteuer an die Gemeinde entrichte ich aber.

178
Zwischen wirklich reichen Leuten würde ich mich un-
wohl fühlen. Das ist nichts für mich, ich bin es zufrieden,
wie es ist. Man muss nicht immer mehr haben.
Reichtum heißt für mich, überflüssige Sachen zu be-
sitzen und das auch noch den anderen unter die Nase zu
reiben. Man will zeigen, dass man mehr hat. Mich inte-
ressiert es nicht, irgendwie »besser« zu sein als andere
Menschen. Die reichen Leute meinen, alles sei nur für
sie da, und so verlangen sie immer noch mehr. Was ich
mit Reichtum meine, ist, Kohle zu haben. Also nicht nur
das, was man zum Leben braucht. Jemand, der wirklich
reich ist, besitzt genauso viel, wie er eben braucht. Er ist
im Glück bescheiden.
Ich zum Beispiel mache gerade neue Fensterläden. Na-
türlich könnte ich diese automatischen kaufen, die von
selbst runtergehen. Aber wo bleibt dann das Vergnügen?
Ich könnte mir einen elektrischen Hobel kaufen und an-
dere Maschinen, aber ich mag nicht. Ich benutze immer
noch das Werkzeug meines Vaters und arbeite damit in
aller Seelenruhe.
Reichtum heißt in Wahrheit, Dinge selbst machen zu
können.
Denn wenn es dann mal Ärger gibt, wenn wie im Jahr
2009 das Geld verrückt spielt, dann hast du keine Pro-
bleme. Du lebst für dich, mit dem Wissen, das du von
deinen Vorfahren geerbt hast, und kannst ruhig schlafen.

179
»Na, bist du jetzt reich?«

Wenn mich die Leute das fragen, sind sie meist ein wenig
verlegen, aber trotzdem neugierig:
»Na, Paul, der ganze Rummel hat dir vermutlich ganz
schön was eingebracht, oder? Wie viel Tantiemen hast
du denn bekommen? Erzähl doch mal, was ein Filmstar
so verdient.«
Schalkhaft antworte ich:
»Ach, das möchtest du wohl gerne wissen? Na ja, ich
kriege mehrere Millionen pro Tag.«
Bin ich reich geworden? Diese Frage kommt fast im-
mer. Glücklicherweise wissen die meisten, dass es nicht
dasselbe gewesen wäre, wenn ich für den Film Paul dans
sa vie eine Gage erhalten hätte. Dann hätte ich ja ge-
schauspielert.
Aber das im Film bin wirklich ich in meinem Le-
ben. Wenn man seine Zeit damit zubringt, von seiner
­Arbeit zu reden, dann ist man kein Filmstar, sondern
Bauer. Und Bauern verdienen kein Geld, wenn sie nichts
tun.
Als ich den Film gedreht habe, hat mich das nicht da-
ran gehindert, meine Arbeit zu erledigen. Die Filmcrew
war da, alle hatten Spaß, aber ich musste nichts extra
tun.
Das Wetter in La Hague serviert dir manchmal drei
verschiedene Jahreszeiten an einem Tag. Also ein klein
bisschen Schauspielern musste schon sein.

180
Aber deswegen bin ich noch lange nicht reich gewor-
den. Wenn ich reich hätte werden sollen, dann hätte der
Reichtum aus meinen Feldern stammen müssen.
Ein paar Mal – ich will nicht lügen – ist es schon
vorgekommen, dass Leute bei mir vorbeischauten, um
nachzusehen, ob ich meine Fenster ausgetauscht habe.
Ehrlich. Die Fenster hätten es nötig, aber das muss wohl
warten.
Ich habe nichts bekommen, und jeder meint, ich hät-
te viel Geld kassiert. Das ist nicht gerecht. Da beiße ich
manchmal die Zähne zusammen. Andererseits amüsiert
es mich, wenn ich daran denke, dass alle glauben, ich
hätte Geld fürs Nichtstun bekommen. Denn der Film,
das war ja keine richtige Arbeit. Es ging darum, dass ein
altes Fossil wie ich Zeugnis ablegt, weil es keine Kinder
hat, denen es alles erzählen kann.
Irgendwie sind sie auf mich gekommen, aber es hätte
auch jemand anderer sein können. Ich hätte denjenigen
dann jedenfalls nicht gefragt, ob er von seinen Aben­
teuern reich geworden ist.
Die Antwort liegt ja wohl auf der Hand.
Sie lautet ganz einfach Nein! Und das ist auch in Ord-
nung so. Ich bin ja kein Idiot.
Manchmal blödle ich so dahin, dass ich reicher wäre,
wenn ich den Dokumentarfilm nicht gedreht hätte, weil
ich dann weniger Kaffee kaufen müsste! Aber natürlich
übertreibe ich schamlos, denn viele Besucher bringen uns
Kaffee mit.
Ein Dokumentarfilm, das ist ein Geschenk, das man
macht. Wenn man dich dafür bezahlt, ist es nicht dassel-
be. Ich hätte nichts gewollt. Es hat mir Spaß gemacht.
Das ist wie mit den anderen Sachen: Der ganze Papier-
kram, Verträge und so, das nervt mich. Man fühlt sich

181
freier ohne. Andererseits bin ich auch nicht einverstan-
den, wenn es heißt, hätte ich Geld bekommen, dann
wäre ich nicht mehr »echt« gewesen. Man muss doch
nicht übertreiben. Wenn das Geld einen armen Teufel
wie mich »falsch« machen könnte, welche Wirkung hät-
te es dann erst auf andere …
Dann müsste es eine Menge »falscher« Menschen auf
der Welt geben!
Einmal habe ich Werbung für ein anderes Land ge-
macht – ich erinnere mich nicht mehr, für welches – und
da hat man mich bezahlt. Da kamen Leute zu mir und
baten mich, mit dem Traktor bis nach Treize Vents in
Herqueville zu fahren, sieben Kilometer von meiner Ge-
meinde Auderville entfernt. Ich stand da einen halben
Tag lang rum, wir haben viel gelacht. Ich musste die Stra-
ße hinunterfahren, ohne anzuhalten. Zwei Radfahrer
taten so, als würden sie in meinen Traktor hineinfahren
und in hohem Bogen in den Graben fliegen. Dort blieben
sie wie tot liegen.
Noch heute rede ich vom »Tatort«, wenn ich dort vor­
beikomme, weil ich da ja angeblich zwei Leute überfah-
ren habe!
Der Kameramann blaffte:
»Also, wie viel wollen Sie für die kleine Störung?«
Ich wollte nichts wie immer, andererseits hatte ich
einen ganzen Nachmittag mit dieser Geschichte zuge-
bracht. Weil er darauf bestand, mir meine Zeit zu entgel-
ten, habe ich mich getraut und sagte:
»Fünfhundert Francs alles in allem sollten reichen.«
Ein Abonnement der katholischen Zeitschrift Pélérin
kostete dreihundertfünfzehn Francs, und ich las sie so
gerne, dass ich meine Scham überwand. Außerdem wür-
de ich mir davon neue Gummistiefel kaufen können,

182
die ebenfalls fast zweihundert Francs kosteten. Und die
brauchte ich wirklich.
Da zog er einfach fünfhundert Francs aus der Tasche,
und die Sache war gegessen. Ich bin mit meinen Scheinen
abgezogen und hatte das Gefühl, den ganzen Tag nicht
richtig gearbeitet, aber trotzdem viel Geld verdient zu
haben.
Die Feldarbeit bringt deutlich weniger ein. Fünfhun-
dert Francs, dafür bekam man damals ein halbes Kalb.
Wenn ich jetzt so davon erzähle, glaube ich, ich hätte
ruhig mehr verlangen können! Von diesem Werbefilm
habe ich nie wieder etwas gehört. Gedreht wurde er am
11. März 1994, und in meinem Heft steht:
»500 Francs für vier Stunden Filmdreharbeiten mit
Traktor und Anhänger.«
Am nächsten Tag habe ich mir dann das Abo bestellt
und die Stiefel gekauft.
Nun ja, aber ich rede einfach nicht gern über Geld.

183
Der Ausweis

Ein Mann kam zu mir nach Hause, nicht im Sonntags-


gewand, sondern ganz normal gekleidet. Seine Frau und
Michel Laurent, unser Bezirksrat, der diese Zusammen-
kunft organisiert hatte, begleiteten ihn.
Wir haben Kaffee getrunken und mindestens zwei
Stunden lang geplaudert. Schließlich schlug der Mann,
der sich als Monsieur Eudier, Direktor der Wiederauf-
bereitungsanlage von La Hague, vorgestellt hatte, mei-
nen Schwestern und mir vor, doch mal das Kraftwerk zu
besuchen.
Ich hatte schon hin und wieder ein Schreiben des Un-
ternehmens mit der Einladung zu einer Gruppenbesich-
tigung erhalten. Aber diese Briefe habe ich immer meiner
so überaus effektiven Sekretärin anvertraut …
Wir haben über La Hague geredet. Monsieur Eudier
lebt seit Langem hier und liebt unseren Landstrich sehr.
Das hat mir gefallen, denn ich mag es, wenn andere Leu-
te mir von ihrem Leben erzählen und von unserem Land
hier. Ich fand ihn sehr sympathisch.
So kam ich ins Nachdenken, aber ich denke über das
Ganze ohnehin schon eine Weile nach. Ich habe mir
immer gesagt, dass ich nie einen Fuß dort hineinset­zen
­werde. Aber es ist wirklich schwierig, sich ein Bild von
etwas zu machen, das man nicht kennt. Und so nahm
ich seinen Vorschlag an, allerdings nur unter einer Be-
dingung:

184
»Wissen Sie, ich bin ein neugieriger Mensch – ich wer-
de mir Ihr Kraftwerk ansehen. Aber nur, wenn ich mit all
meinen Haaren zurückkomme!«
Mit diesen Worten habe ich die Mütze abgenommen
und bin mir mit den Fingern durch den Haarschopf ge-
fahren, wie ich es mache, wenn Besucher kommen und
fragen, ob ich denn glaube, dass die Atomanlage gefähr-
lich sei. Denen sage ich dann immer:
»Nun, meine Haare habe ich noch, wie ihr seht!«
Das gibt dann immer was zu lachen.
Doch um die Wiederaufbereitungsanlage zu besuchen,
würde ich einen Ausweis brauchen.
»Ohne Ausweis können Sie nicht hinein, Paul. Man
hat mir gesagt, dass Sie immer noch keinen Pass ha-
ben!«
Da hatte er natürlich recht. Jetzt musste ich Farbe be-
kennen! Trotzdem versuchte ich, mich aus der Affäre zu
ziehen:
»Aber meine Schwestern haben einen. Und ich habe
meinen Führerschein!«
»Nein, der Führerschein gilt nicht. Sie brauchen einen
Ausweis. Den müssen Sie im Rathaus beantragen.«
Was denn noch alles!
Ich hatte keine Lust, zu den amtlich Gemeldeten zu
­gehören. Ich war Ende siebzig und stolz darauf, dass
ich bis dahin ohne Ausweis zurechtgekommen war. Es
war ganz schön kompliziert, in die Wiederaufbereitungs­
anlage zu kommen. Beim Präsidenten der Republik vor-
gelassen zu werden ist einfacher als beim Direktor der
Areva, des Betreibers der Wiederaufbereitungsanlage
von La Hague! Aus der Rückschau kann ich allerdings
sagen, dass es einfacher war, an den Direktor heranzu-
kommen als an den Präsidenten. Allerdings waren im

185
Elysée-Palast auch mehr als zweitausend Leute zugegen!
Man kann schließlich nicht jedem die Flosse drücken.
Nicolas (der noch mit Cécilia zusammen war) ist in etwa
zwanzig Metern Entfernung an mir vorbeispaziert, aber
er hat mich nicht bemerkt. Sein Gehilfe allerdings (Pre-
mierminister Fillon) hat mich gegrüßt.
An jenem Tag vereinbarten wir mit dem Direktor ei-
nen Termin für unseren Besuch. Dummerweise war drei
Tage davor mein Ausweis immer noch nicht da. Doch ein
kleiner Telefonanruf seitens eines Politikers im Rathaus
und hopp! (Bei diesen Leuten geht es immer schnell.) Am
Tag vor dem Besuch holte ich den Ausweis im winzigen
Rathaus von Auderville ab. Was für ein Ereignis!
Seitdem bin ich amtlich gemeldet. Jetzt trage ich mein
Konterfei in Plastik eingeschweißt in der Brieftasche he-
rum.
Evelyne Laurent, die Frau des Bezirksrates, der an die-
sem Tag verhindert war, sollte uns bei unserem Ausflug
begleiten. Sie kam in den Achtzigerjahren als Sekretärin
des Bürgermeisters in unsere kleine Gemeinde. Damals
war sie dreißig. Wahrscheinlich erinnert sie sich noch an
die erste Gemeinderatssitzung. Da saß sie zwei geschla-
gene Stunden da, hörte uns beim Debattieren zu und
machte sich nicht ein einziges Mal Notizen. Wir sagten
uns, dass sie wohl ein phänomenales Gedächtnis haben
müsse. Von wegen! Nur redeten wir die ganze Zeit Dia-
lekt: Sie verstand schlichtweg kein Wort! Bei der nächs-
ten Sitzung bat der Bürgermeister uns, doch bitte Fran-
zösisch zu sprechen. Wir haben sie trotzdem behalten,
und mit der Zeit hat man sich aneinander gewöhnt. Jetzt
spricht sie Dialekt wie wir.
Ich hatte also meinen Ausweis in der Tasche und war
bereit für den großen Tag.

186
Ich sagte mir: Wenn ich nach dem Besuch mit der
­ egierung nicht einverstanden bin, kann ich das Doku-
R
ment ja immer noch zurückschicken.
Der Umschlag liegt schon bereit.
Zutritt verboten!

Früher musste man kilometerweit durch die ­duftende


Heide, wenn man von Beaumont-Hague kam und nach
Auderville zurückwollte, denn das Dorf lag mitten im
Heideland. Wenn man alt wird, spielt einem das Ge­
dächt­nis manchmal Streiche, wenn man es nicht übt.
Doch ich erinnere mich noch gut an den Ort, auf dem
ein Fluch zu lasten schien. Am Tag ging es ja noch, aber
nachts: Wie viele Leute aus unserer Gegend wurden
dort ausgeraubt, wenn sie vom Viehmarkt zurückkamen.
Dort lauerten die Geister getöteter Banditen, goubelins,
wie wir sie nannten, »Teufelchen«.
Und dann gab es noch die Geschichte von dem kopf-
losen Ritter auf einem Pferd mit langer, seidiger Mäh-
ne. Von diesem Gespenst hieß es, es wache über den
Heideschatz und lasse sich vorzugsweise am Jahresende
­sehen, bei Vollmond oder wenn der Nebel über die Heide
streicht. Die Schmuggler versteckten sich dort und spiel-
ten Katz und Maus mit den gabelous, den Gendarmen.
Manche haben sich eine Erkältung eingefangen und
starben dann an Rippenfellentzündung. Dieser Ort
brachte Unglück. Ganz früher begruben die Kelten dort
ihre Toten, man fand später die Hügelgräber. Man er-
zählt, dass die Heiden auf der dunkelbödigen Heide eine
Art Schießstand auf künstlichen Hügeln errichtet hatten,
um das Cotentin zu erobern. Und dass nach der siegrei-
chen Schlacht die christlichen Krieger zu Gott beteten, er

188
möge sie ihre eigenen Leute erkennen lassen, damit die-
se rund um die Kirche beerdigt werden konnten. Wenn
der Betreffende getauft war, erklang beim Begräbnis ein
Schrei vom Himmel – mort cry –, so hieß es. Die Leichen
der getöteten Feinde blieben auf offenem Feld liegen.
Als die Heide unter ihre Bewohner aufgeteilt wurde,
damit sie sie bebauen konnten, merkten die ­Einwohner
von Jobourg bald, dass die Heideerde mal rot, mal
schwarz gefärbt war. Das nährte den Glauben an ein
einstiges Bestattungsfeld, aber auch die Vorstellung, man
habe hier »etwas hergebracht«, was vorher nicht da war.
Das hatte etwas von Schätzen, Fluch und Tod. Als die
Politik entschied, hier auf dem Heideland die Wieder­
aufbereitungsanlage zu errichten, hat man einen ver-
fluchten Ort gewählt, einen Friedhof, auf dem die Irrlich-
ter tanzen, einen Ort voller Magie und Mysterium, voller
überirdischer Dinge, über die man nicht spricht, die nur
gefühlt, aber trotzdem von Generation zu Generation
weitergegeben werden.
Nun, ich will niemandem Angst machen, doch dieser
Ort war schon verflucht, bevor die Anlage dort errichtet
wurde.
Am Tag meiner Firmung in der Kirche von Beaumont-
Hague im Jahr 1942 haben wir auf dem Rückweg auf
unserem Karren ein paar Schüsse abbekommen, sodass
unsere Stute bockte. Die Deutschen hatten dort kleine
Blockhütten errichtet, von denen aus Granaten geworfen
oder Maschinengewehre abgefeuert wurden. Natürlich
sind wir mit dem Leben davongekommen, schließlich
waren wir drei Kinder aus dem Dorf gerade vom Bischof
gesegnet worden! Ein paar Monate später wurde die
Straße durch die Heidelandschaft abgeriegelt. Von da an
war der Zutritt verboten.

189
Seitdem jagt mir dieser Ort immer ein wenig Angst ein.
Er strahlt etwas Unangenehmes aus, hat etwas Schweres,
Bedrückendes. Wenn du ihn auf dem Weg von Goury
endlich hinter dir gelassen hast, wirst du wieder ruhiger.
Auch heute noch kehrt meine Seelenruhe erst wieder,
wenn ich Jobourg erreicht habe.
Dann ist man wieder im wirklichen La Hague.
Waren wir mit unserem Vater und der »Grauen«,
unse­rer Stute, unterwegs, richteten wir den Blick immer
nach links aufs Meer, wenn wir dort vorüberkamen. Wir
sind vorbeigefahren, ohne etwas zu sehen. Und auch
heute schauen wir stets nach links, zum Meer hin, wenn
wir von Beaumont-Hague nach Auderville zurückkeh-
ren.
Sonst springt dir gleich die Wiederaufbereitungsanla-
ge ins Auge mit ihren zwei Kilometern Stacheldraht, die
wirklich hässlich ist, meiner Meinung nach jedenfalls.
Aber heute, mit dem Auto, geht es wenigstens schnell.
Wenn man die Fenster geschlossen hält, hat man auch
kein Problem mit den Strahlen.
Man sieht die Anlage ja nur von außen. Noch heute
haben wir das Geräusch der Sprengungen im Ohr, ob-
wohl das schon Anfang der Sechziger war. Für die Wie-
deraufbereitungsanlage haben die Bauarbeiter die ver-
fallenen Befestigungsanlagen der Deutschen gesprengt.
Manchmal läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn
ich die großen Kamine der Anlage sehe, aus denen weiß
der Teufel was herauskommt. Von innen wirkt die Wie-
deraufbereitungsanlage sehr viel menschlicher, weil es
drinnen von Leuten nur so wimmelt. Das ist wie eine
Stadt für sich.

190
Der Besuch

Evelyne Laurent kam an diesem Morgen schon früh


zu uns, ich war gerade mit der Morgentoilette ­fertig.
­Françoise wird mich begleiten, Marie-Jeanne hört
schlecht, daher bleibt sie lieber zu Hause. Der Direktor,
Monsieur Eudier, empfängt uns sehr herzlich und ver-
traut uns dann der Führung einer Dame an.
Von ihren Büros in den oberen Stockwerken haben die
Herren einen wunderbaren Blick auf La Hague. Wenn
einer von ihnen auf unsere Gegend hier zu sprechen
kommt, hört es sich immer so an, als würde er sie sehr
schätzen. An den Wänden hängen wirklich schöne Fotos
von unserer Gegend. Ein paar von den Leuten, die ich
dort kennenlerne, erzählen mir sogar, dass sie in den
Ferien nie weit wegfahren, sondern lieber zu Hause blei-
ben, um dem Meer zuzuhören und im Garten herumzu-
werkeln. Ihre kleinen Geschichten freuen mich, ich hatte
mir nämlich schon vorgestellt, dass gewisse Leute unsere
Ecke wohl nicht mögen, denn die Wiederaufbereitungs-
anlage wirkt wie ein Fremdkörper in unserer schönen
Landschaft.
Früher, vor meinen Abenteuern mit Regisseuren und
Schriftstellern, habe ich nie darüber nachgedacht, dass
es hier, in La Hague, schön ist. Ich bin ja nie weggekom-
men. Mittlerweile weiß ich, dass es hier außergewöhn-
lich schön ist, das wird mir vor allem dann klar, wenn
ich weit weg bin. Scheinbar geht es den Angestellten

191
in der Anlage genauso, nur dass sie diese Erkenntnis
früher hatten als ich, weil sie aus anderen Orten kom-
men. Sie konnten vergleichen. Als ich im Mai 2008
nach ­Deauville kam, spazierte ich über den künstlichen
Strand, den man mit Sand aufgeschüttet hat. Dabei kam
mir unwillkürlich der Gedanke, dass man die Wieder-
aufbereitungsanlage auch dort hätte bauen können. Da
hätten sie schön gemeckert, die Leute aus Deauville und
dem nahen Paris. Für uns wäre es natürlich besser gewe-
sen. Nur dass Deauville den Reichen gehört. Die hätten
sich mit Bündeln von Geldscheinen verteidigen können.
Während des Besuchs redet man ein bisschen, dann
kehrt jeder an seine Arbeit zurück. Wir verabreden uns
zum Mittagessen. Françoise, Evelyne und ich sehen uns
bis dahin ein paar interessante Filme an. Ich hatte ge-
glaubt, man würde uns im Bus über das weitläufige Ge-
lände kutschieren wie die anderen Besucher, aber nein,
dies ist ein offizieller Besuch. Ein kleines Auto fährt uns
herum. Da und dort ist noch ein wenig von der Heide-
landschaft übrig. Hinter den riesigen Bauten stehen ein
paar Ginsterbüsche und ein wenig Grünzeug. Man spürt,
dass es ein gewisses Bestreben gibt, das zu erhalten, was
hier einmal war. Das erstaunt mich. Ich bin ganz zufrie-
den, als wir ins Zentrum der Anlage zurückkehren.
Dann müssen wir die Schutzanzüge anziehen. Paul
im weißen Raumanzug! Ein weißer Panzer, eigentlich
eine Art Arbeitsanzug. Dabei werden wir uns doch gar
nicht schmutzig machen. Wir betreten eine kleine ­Kabine
wie in der Röntgenabteilung der Poliklinik. Unter dem
Anzug ziehe ich alles aus, damit ich auch ja nichts raus-
schleppe aus diesem Ort … Man weiß ja nie. Als wir uns
dann in den Anzügen sehen, müssen wir laut lachen.
Paul zieht sich aus, um der Bestie ins Auge zu sehen!

192
Ich bin ja nicht von gestern.
Immerhin habe ich dieses Mal nichts falsch angezogen.
Jedenfalls hat niemand etwas gesagt. Anders als damals
beim Röntgen, wo ich das Hemd verkehrt herum an-
hatte, mit der Öffnung nach vorne. Die Dame, die mich
aus meiner Kabine holen wollte, machte die Tür gleich
wieder zu. Und kam nicht wieder herein, bevor sie sich
nicht versichert hatte, dass der Schlitz jetzt hinten war!
Kurz gesagt: In der Wiederaufbereitungsanlage sollte
man, glaube ich, die Unterwäsche anbehalten, aber ich
habe vorsichtshalber alles abgelegt. Und ich habe darauf
geachtet, dass mein Anzug überall schön zugeknöpft
war. Ich will ja schließlich niemanden erschrecken.
Nun wird mir doch ein wenig mulmig. Sobald man
den Anzug anhat, hat man das Gefühl, wirklich in einer
Nuklearanlage zu sein. Da sind schon die Wasserbecken!
Aber baden möchte ich darin nicht.
Ich mustere die Decke und die Ecken der Räume: nicht
eine Spinnwebe.
Jetzt sind wir also zu Besuch im Herzen des Ungeheu-
ers.
Die Zeit vergeht schnell.
Dann sind wir in einem Raum, von dem aus Roboter
gesteuert werden. Wir sind gerade rechtzeitig eingetrof-
fen, um etwas mit anzusehen, das irgendwie technisch
ist, aber da muss ich passen. Das ist mir zu hoch. Evelyne
und Françoise hören den Erklärungen aufmerksam zu,
ich lasse mich ablenken. Ich überlege, wie es mir wohl
ergangen wäre, hätte ich, wie so viele andere, beschlos-
sen, hier zu arbeiten. Ausgerechnet ich, der ich die Arbeit
auf dem Feld und mit Holz so gerne mag. Aber vielleicht
hätten sie ja auch einen Schreiner gebraucht, wer weiß?
Trotzdem hätte ich hier nie Hobelspäne riechen können

193
wie in meiner Werkstatt, wenn der Hobel sanft über
die Holzfläche gleitet und die Späne zu Boden fallen.
Hier gibt es nicht mal Staub, geschweige denn Sägemehl.
Nein, ich bedauere es wirklich nicht. Ich freue mich über
den Besuch hier, aber ich bin glücklich, Bauer geblieben
zu sein.
Dann betreten wir die »Hexenküche«, wie wir das
­Labor scherzhaft nennen. Man öffnet riesige Kühlschrän­
ke, in denen allerhand Zeug liegt, das man zwar kennt –
wie zum Beispiel einen halbverbrannten Hummer –, aber
nicht essen darf. Krabben, Kräuter, Milch, Eier, Käse,
­Algen in langen Plastikbehältern, und andere Lebens-
mittel. Das Zeug wird verbrannt und dann auf Radio-
aktivität getestet.
Man führt also Kontrollen durch.
Glücklicherweise bietet man uns hier nichts zum Essen
an. Denn nach dem Kochen wandern all die Sachen in ei-
nen Mixer, und der arme Hummer, den nicht ich gefischt
habe, findet sich plötzlich im Reagenzglas wieder.
Wenn das keine Verschwendung ist!
Dann müssen wir durch die Schleuse, den Damen ge-
bührt der Vortritt. In der Schleuse wird getestet, ob man
beim Spaziergang durch das Werk vielleicht radioaktiv
geworden ist. Man muss die Hände vor sich ausstrecken.
Nur dass bei mir das Licht rot bleibt. Ich gehe immer
wieder hinein und wieder heraus, nichts zu machen, das
Licht bleibt rot.
Ich könnte mir einen Ast lachen.
Aber nein. Stattdessen stelle ich mich noch einmal wie
gefordert hin, richte mich auf. Ich bin ja schon reichlich
krumm. Also strenge ich mich an und drücke die Schul-
tern durch. Schließlich ist das gute Stück zufrieden und
entlässt mich aus seinen Klauen.

194
Dabei hat es drei Mal hintereinander rot gezeigt.
Wenn man wieder herauskommen will, ist es jeden-
falls besser, den Kopf hoch zu tragen!
Wir gehen im Moulinets essen, dem Gästehaus, wie
man das hier nennt. Wie viele unserer jungen Mädchen
wohl hier arbeiten? In den Dörfern ringsum ist dieses
Restaurant im Gespräch, hier serviert man Hummer, die
nicht gefroren waren, und zwar in Cognac flambiert, fri­
schen Fisch und ausgezeichnete Desserts.
In Herqueville, wo das Restaurant liegt, und den Dör-
fern der Gegend isst man ihn eher à la haguaise (einfach
nur mit Salz und Pfeffer). Hummer könnte ich ohnehin
jeden Tag essen. Wenn man mir den auftischt, ziere ich
mich nicht lange. Wenn’s ums Essen geht, sind wir Bau-
ern, wir, die Bedels, und die anderen aus La Hague.
Die Welt hat sich verändert, seit die Wiederaufberei-
tungsanlage gebaut wurde. Ihr Präsident, der eigentlich
eine Präsidentin ist, hat anscheinend meine Biografie ge-
lesen, Paul dans les pas du père (Paul in den Fußstapfen
seines Vaters). Da frage ich mich natürlich, wieso eine
so hochstehende Dame sich für einen armen Teufel wie
mich interessieren sollte. Aber eben dieser wenig ent-
wickelte Paul speist heute Mittag mit dem immer noch
freundlichen Direktor der Anlage und Françoise, meine
Schwester, ist ganz hingerissen. Er hat sogar die Dame
mit eingeladen, die uns den ganzen Tag herumgeführt
hat, und das finde ich wirklich nett. Ich mag es nämlich
nicht besonders, wenn man die Angestellten, die kleinen
Leute, ausschließt. Am Nachmittag wird die Führung
fortgesetzt, schließlich erhalten wir unsere Ausweise zu-
rück. Man hat uns nicht einfach in eine Ecke abgescho-
ben, das war eine echte Einladung. Am Schluss werden
wir sogar zum Ausgang geleitet.

195
Der Frieden

Als wir den überfüllten Raum betreten, applaudieren die


Leute, viele haben mein Buch unter den Arm geklemmt.
Alle haben ein nettes Wort für uns. Einige erkenne ich,
junge Leute aus unserer Gegend. Sie scheinen sich über
unser Kommen zu freuen. Andere stammen zwar nicht
aus ­unserer Ecke, lieben aber La Hague genauso wie
wir – es freut mich, das zu hören. Es wirkt wie eine große
Familienfeier. Alle scheinen gern dort zu arbeiten. Und
das ist nicht wenig, wenn man in seinem Beruf glücklich
ist, gerade heute, wo jeder sich beklagt.
Und so habe ich das Wort ergriffen und erklärt, wes-
halb ich gekommen bin:
»Ich dachte immer, ich sei jemand, der nicht viel nach-
denkt. Nach einer Krankheit hatte ich in der Schule
Schwierigkeiten mitzukommen, zumindest wenn ich
mich mit den anderen verglich. Ich war einerseits schüch-
tern, andererseits wollte ich so gerne mit den anderen
reden. Jemand wie ich, der kein Ingenieur, aber ande-
rerseits auch nicht auf den Kopf gefallen ist, begreift
nicht auf Anhieb, was hinter dieser Sache mit dem Atom
steckt. Das ist was für Leute, die studiert haben, nicht
für einen Hinterwäldler wie mich. Ich war immer nur auf
dem Feld. Und dann war da der Krieg, den wir vergessen
wollten. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstel-
len, aber der Krieg beschäftigte uns noch lange Zeit, ja
sogar heute noch.

196
Als man das Werk hier baute, sprengte man die Befes-
tigungsanlagen, die die Deutschen in der Heide zurück-
gelassen hatten. Schon das weckte in mir unangenehme
Erinnerungen. Ich war sofort auf der Hut. Der Krieg hat
alles verändert, und beim Bau der Wiederaufbereitungs-
anlage hatten wir den Eindruck, eine zweite Nachkriegs-
zeit zu erleben. Keine Schafe, keine Ziegen mehr, die auf
der Heide weideten. Auch der kopflose Ritter hatte nun
keine Heimat mehr. Stattdessen Straßen, Lastwagen, Be-
ton, Krach. Und dann all die Leute, die »­Auswärtigen«,
die uns mit diesem belustigten, manchmal auch verächt-
lichen Blick musterten. Das war nur ein Grund mehr,
weshalb wir uns nicht für diese Betonbauten interessier­
ten, die bald höher waren als unsere Häuser. Manche
Leute von auswärts behandelten uns, als wären wir ir-
gendwie abartig. Das sagte man uns sogar. Meist aber
beleidigte man uns einfach nur mit Blicken.
Mir hat das nichts ausgemacht, ich liebe diesen Land-
strich zu sehr. Meine Schwestern auch. Wir sind mit den
Tieren, den Steinen hier in Liebe verbunden. Eigentlich
mit allem. Ich bin sicher, dass es auch solche verächt­
lichen Blicke waren, die die jungen Leute von hier ver-
trieben haben. Doch mit der Zeit haben wir gelernt, uns
gegenseitig zu achten und uns einander anzupassen. Das
ist viel besser so. Jeder führt sein Leben, wie es ihm passt.
Solange ich Kühe hatte, bin ich um halb fünf Uhr mor-
gens aufgestanden, habe noch ein wenig in meiner Werk-
statt herumgebastelt, bevor ich um halb sieben, nach
dem ersten Kaffee, zum Melken ging. Ihr hier im Werk
müsst euch nach dem Wecker richten und seid Sklaven
der Zeit. Ich nicht.«
Das war es in etwa, was ich den Leuten in der Wieder-
aufbereitungsanlage gesagt habe.

197
Ich könnte ja noch einen kleinen Witz anbringen:
Wenn die Atomanlage funktioniert, haben wir bald Hum­
mer mit vier oder sogar sechs Scheren. Das wäre doch
gar nicht schlecht!
So ganz passt mir das Werk dort auch nicht, aber im-
merhin haben dadurch ein paar Leute Arbeit. Ich habe
das Werk besucht, und das war’s auch schon. Nichts hat
sich geändert. Ich bin hinein und wieder heraus, und ich
danke dem Direktor für den freundlichen Empfang, den
er uns bereitet hat.
Der Krieg hat alles verändert, alles zerstört. Damit
mussten wir dann leben. Viele Leute kritisieren das Werk
und meinen, sie wollen es hier nicht haben. Aber dann
schalten sie doch den Strom ein. Es gibt sogar Leute,
die uns, die Menschen von La Hague, kritisieren, weil
wir hier unter dem »atomaren Niederschlag« leben. Und
doch kommen sie ohne Strom nicht aus.
Man verachtet uns.
Wenn ich mich dazu äußere, heißt es gleich: »Dieser
Idiot hat sich doch bisher nur um seinen Acker geküm-
mert!« Mag schon sein, nur verstehen die Leute, die uns
verurteilen, nicht, dass wir keine Wahl hatten – wie mit
dem Krieg. Man wirft uns vor, dass wir den Bau der
Wiederaufbereitungsanlage nicht verhindert haben. Sie
hätte ja auch woanders stehen können. Jetzt ist sie da.
Wir wollten keine Anschläge unterstützen, um den Bau
zu verhindern, womöglich wären Menschen ums Leben
gekommen. Revolutionen führen nirgendwohin, Tote
auch nicht.
Es gab Demonstrationen, aber wie soll ein kleiner
Landstrich, auf dem gerade mal eine Handvoll Leute
leben, gegen einen Beschluss angehen, der an so hoher
Stelle gefasst wurde? Wie hätten wir denn die »verfluch-

198
te« Heide retten sollen? Meine Tante Alexina ging mit
dem Stock auf die »Atomleute« los. Nun, das liegt wohl
in der Familie, das hat mein Großvater mit den Boches
auch so gemacht. Sie verteidigte ihr Land mit einem
Stock. Auch gegenüber Leuten, die ohne Erlaubnis auf
ihrem Grund und Boden jagten. Vor Gewehren hatte sie
keine Angst. Ingenieure, Landvermesser, Jäger, ja sogar
Spaziergänger … Mich hat sie auch mal bedroht, als ich
mit meinem Vater über ihre Felder ging. Aber mein Vater
meinte nur:
»Ich habe zwei Finger im Krieg (1914–18) verloren,
damit du hier in Frieden leben kannst. Also lass uns
schon vorbei.«
Von da an hat sie uns in Ruhe gelassen.
Meine Tante war schlau. Sie hat den Preis für ihre Fel­
der ganz schön hochgetrieben, nur um alle zu ärgern.
Aber am Ende ist sie doch enteignet worden. Soweit ich
weiß, hat sie die Entschädigung dafür nie angerührt. Sie
hat das Geld einfach auf der Raiffeisenkasse liegen las-
sen. Und als sie gestorben ist, war es nichts mehr wert.
Die Leute hier lassen sich nicht kaufen. Zumindest hat
es noch keiner geschafft, Menschen in Geld zu verwan­
deln.
Wenn man La Hague in den Dreck zieht, mein La
Hague, regt mich das richtig auf. Die Leute, die sich
Hunderte Kilometer von hier entfernt mit Atomstrom
das Leben erleichtern, sollten mal hierher kommen und
sich einfach das Land ansehen, nur schauen. Nicht das
La Hague, das man mit der Wiederaufbereitungsanlage
in Verbindung bringt, sondern das alte, authentische La
Hague mit seinen Bewohnern.
Denn mein Vater hatte recht: Zu viele junge Männer
haben im Krieg ihre Gliedmaßen verloren. Der Mensch

199
braucht Frieden. Die Leute, die uns »die Verstrahlten«
nennen, sind genau die, die nie hierherkommen und die-
se schöne Landschaft betrachten. Aber da verpassen sie
wirklich was!
Ich verlange nur eins für die Jungen und Mädchen,
die auf diesem Fleck Erde zur Welt kommen: dass man
uns achtet und uns wie Menschen behandelt und nicht
in Fernsehsendungen und Zeitungsartikeln in den Dreck
zieht. Kritik darf unserem Land nicht schaden, keinem
Land.
Der Atompfarrer

La Hague, das sind für uns unsere Felder, unsere Steil-


hänge, unser Boden. La Hague, das ist ein Schiff auf dem
Wasser. Unsere Milch, unsere Kühe, unsere Schafe, die
auf salzigen Weiden grasen. Und unsere Steinmäuerchen.
Die Butter aus unseren Molkereien trug früher die Auf-
schrift »La Hague«. Jetzt hat man diesen Namen ersetzt.
Nun heißt es: »Butter aus Val de Saire« oder »Valco«.
Wenn auf einem Lebensmittel »La Hague« steht, lässt
es sich nicht mehr verkaufen. Was die hämischen Be-
merkungen angeht, weil wir in der Nähe der Wiederauf-
bereitungsanlage leben, halte ich mich gern an unseren
Pfarrer Camille Hamel. Der hat sich darüber nur lustig
gemacht. Seine Kollegen in Coutances haben ihn den
»Atompfarrer« getauft. Das gefiel ihm. Er meinte, das
höre sich an, als sei er voller Energie!
Wir hatten ja keine andere Wahl, als darüber zu ­lachen.
Immerhin hat es den Vorteil, dass unsere Küste nicht mit
den Bettenburgen für die Touristen verbaut wurde. In
gewisser Weise haben wir Glück gehabt.
Es gibt hier nur wenige Menschen, die nicht vom Werk
profitiert haben. Meinen Schwestern und mir bescherte
es beispielsweise viel mehr Kundschaft für unsere But-
ter. Wir waren Bauern, und auf einmal, wenn ich das
so sagen darf, hat man uns das Atomzeug vor die Nase
­gesetzt, die atombetriebenen Unterseeboote und das
Kernkraftwerk in Flamanville. Wir sind von der Atom­

201
industrie umgeben. Vom traditionellen zum modernen
Leben, könnte man sagen. Die Landschaft hat sich ver-
ändert, ich nicht. Bei uns hat sich nichts verändert, gar
nichts. Vielleicht leiden wir deshalb nicht darunter. Mir
hat vor allem der Wegzug der jungen Bauern weh ge-
tan, die die Felder ihrer Eltern aufgegeben haben. Das
schon. Das hat mir richtig zugesetzt, schon wegen der
Einsamkeit. Aber die Anlage – oder irgendetwas ­anderes
in ­dieser Richtung – hat mein Leben kein bisschen ver-
ändert.
Viele meiner Besucher meinen, ich hätte mehr Geld,
wenn ich im Werk arbeiten würde. Aber ich habe ­meinem
Vater nun einmal versprochen, in seine Fußstapfen zu
treten, seine Hände durch meine zu ersetzen. Und daran
habe ich mich gehalten. Das hat mit Politik gar nichts
zu tun. Es war ein Versprechen: Ich habe den Hof über-
nommen.
Immer wieder heißt es, wenn ich Kinder gehabt hät-
te, hätte ich mein Versprechen nicht halten können. Ich
­hätte meine Felder mit irgendeinem Düngerdreck ver-
schandeln und Schulden machen müssen. Und irgend-
wann hätte ich doch zum Arbeiten ins Werk gemusst.
Das leuchtet mir nicht ein. Wir haben zu sechst von
den Erträgen des Hofes gelebt, mein kleiner Bruder,
meine Schwestern, meine Mutter und meine Tante. Und
wir konnten noch etwas zur Seite legen. Ein Kind, eine
Familie hätte leicht von unserem Hof leben können.
Die meisten Bauern, die ins Werk gingen, haben ihren
Hof behalten. Die Frauen kümmern sich um die Kühe,
dann haben sie zwei Einkommen, das Einkommen aus
der Milch und das aus der Arbeit, und das letztere ist,
wie jedermann weiß, nicht gerade knapp bemessen. Und
die Kinder gehen sogar ins Internat in Cherbourg, nicht

202
auf unsere kleine Schule in Beaumont-Hague in dem
Plattenbau aus der Nachkriegszeit. Einige Kinder haben
eine tolle Ausbildung erhalten.
Das Werk ist sozusagen die Milchkuh unseres Land-
strichs. Wir, die Familie Bedel, brauchen nicht viel Geld
zum Leben. Der kleine Bruder hat eine Ausbildung
­gemacht. Was ich damit sagen möchte, ist, dass jede
Entscheidung in Ordnung ist. Jeder muss sich nach sich
selbst richten. Eine Frau aus dem Ort, die auch im-
mer nur Butter verkaufte, konnte ihren beiden Kindern
schließlich einen Bauernhof schenken. Das ist doch der
beste Beweis, dass man hier sein Auskommen hatte.
Das Land, auf dem das Werk steht, kann niemals wie-
der zum Anbau von Nahrungsmitteln genutzt werden, so
viel ist sicher. Aber ich habe schon vor langer Zeit ein­
gesehen, dass diese Energie uns viel unabhängiger macht,
als dies zu Zeiten des Petroleums der Fall war. Ich kenne
kaum Leute, die ohne Elektrizität und ohne Auto leben
möchten. Auch ich habe schließlich einen Traktor! Und
der hat mir einiges an Anstrengung erspart. Wichtig ist,
sich von den materiellen Seiten des Lebens nicht unter-
jochen zu lassen, sondern das Materielle für die eigenen
Zwecke zu nutzen.
Damit kein böses Blut entsteht, sollte man aufhören,
uns einreden zu wollen, dass unser Leben hier nichts
wert ist, weil wir unseren Lebensunterhalt zusammen-
kratzen, weil wir in La Hague wohnen und Dreck un-
ter den Nägeln haben. Jeder Mensch hat sein Wissen.
Das ist nicht nur den Leuten vorbehalten, die studieren.
Außer­dem, schicke doch mal einer einen Wissenschaftler
aufs Feld zum Kartoffelklauben oder in den Stall zum
Melken, dann ist sofort klar, was ich meine. Dann ist
die Reihe zu erklären nämlich an dir, dem Bauern, und

203
du machst dich auch nicht über den lustig, der das nicht
kann, was du von der Pike auf gelernt hast.
Wir tun doch letztlich alle dasselbe: Wir kratzen auf
dem Erdboden herum, die anderen auf dem Papier. Wir
brauchen einander auf dieser Welt. Da ist eine gewisse
Toleranz nötig. Schließlich ist für alle etwas da.
Ich denke viel nach und habe meine Überzeugungen.
Andererseits macht es mir nichts, wenn jemand anderer
Ansicht ist als ich. Das ist doch gerade das Interessante,
dass die Leute verschieden sind. Es ist spannend, Leute
aus anderen Gegenden oder Schichten kennenzulernen.
Ich verlange nur, dass man auf die Erde achtet, den
­Boden. Nicht um meinetwillen, denn ich bin bald tot
(nehme ich an), aber um der Kinder willen, die geboren
werden. Sie sollen auch noch die Möglichkeit haben, ge-
sund zu essen, ohne dass alles verschmutzt ist oder radio­
aktiv.
Das eigentliche Problem ist ja nicht, ob man für oder
gegen Kernkraft ist, sondern es geht darum, dass manche
Wissenschaftler ihr Wissen für sich behalten, als seien
sie Gott persönlich. Das macht mir Angst. Diese Leute
sehen immer nur vorwärts, nie zurück, und wissen nicht
zu würdigen, was sie von ihren Vorfahren gelernt haben.
Nach dem Besuch der Wiederaufbereitungsanlage war
ich zufrieden, dass ich mir diese Mühe gemacht habe.
Natürlich sehe ich auch die kritischen Punkte: die Land-
schaft wird verschandelt, es kann Unfälle geben. Ande-
rerseits hätten wir diese Probleme vermutlich sowieso,
denn die Heide ist seit jeher verflucht. Wir Alten wissen
das noch.
Ich bin gegen die Wiederaufbereitungsanlage, deren
Nachbar ich bin. Ich habe mich nur mit ihr arrangiert.
Das sind vollkommen unterschiedliche Welten, aber es

204
kann funktionieren, wie man sieht. Doch man darf nicht
vergessen, dass ich vor ihr da war. Sie ist nach mir ge-
kommen, und ich bin geblieben. Sie hat mich und mein
Leben nicht verändert. Das wird nie geschehen.
Aber natürlich verdient man leichtes Geld, wenn man
dort arbeitet. Und dann hast du noch das Geld, das dein
Hof abwirft. Das sind zwei verschiedene Formen von
Geld, und trotzdem ernähren wir uns von beidem.
Die Rente

Vor der Rente tat einem immer alles weh. Man legte
sich abends nieder und am Morgen wachte man auf und
der Körper verfiel wieder in den alten Trott. Wenn man
aufhört, Bauer zu sein, hat man zum ersten Mal große
Ferien. Es gibt zwar noch das ein oder andere zu tun,
aber man verliert den Rhythmus. Und dann spürt man
die Erde auf der Schaufel umso stärker. Sie misst dir die
Zeit ab und sagt dir Dinge, die du nicht unbedingt hören
magst: Zum Beispiel, dass irgendwann ein anderer auf
dem Feld Kartoffeln klauben wird, aber die Kartoffeln,
das bist dann du!
Aber du stichst weiter um, auch wenn der Spaten in
der Hand immer schwerer wird. Denn schließlich bist
du es, der die Erde bewegt, nicht umgekehrt. Wenn du
aufhörst, wird dir erst klar, wie sehr deine Arbeit dein
Leben war, wie sie deine Tage und Nächte geprägt hat,
Stunde um Stunde. Du hast ihr ganz gehört. Und das
Schlimme ist, dass ich zufrieden war und es heute noch
bin. Die Schwestern auch. Das Leben, das wir führten,
hat ihnen gefallen.
Ich hoffe, dass sie auch mal die landwirtschaftliche
Verdienstmedaille bekommen. Sie haben sie genauso ver-
dient wie ich.
Ich habe sie verliehen bekommen und sie den beiden
gewidmet.
Allerdings musste ich wieder allerlei Papierkram auf

206
mich nehmen, damit ich sie in Empfang nehmen konnte.
Den damit befassten Bürohengsten sei hiermit herzlich
gedankt!
Ich hatte keine Lust, in Rente zu gehen. Ich habe nicht
einmal daran gedacht. Zwar habe ich sie schon vor Jah-
ren beantragt, aber ich lange immer noch hin, wo eine
helfende Hand gebraucht wird. Offiziell gehört das Gan-
ze nun seit fünfzehn Jahren den Schwestern. Das ruhige
Leben interessiert mich nicht, es zieht mich nicht an. Ich
brauche das nicht, noch nicht.
Das ist keine Frage des Geldes. Selbst wenn man mir
mehr angeboten hätte, damit ich aufhöre, hätte das nichts
an meiner Haltung geändert. Ich mag meine Arbeit so
sehr. Wenn man sieht, »wie der Salat wächst und alles
andere, was man isst«, wie Françoise sagt, ist das mit
Geld nicht aufzuwiegen. Aufhören, um »meine Ruhe zu
haben«? Wozu brauche ich denn Ruhe?
Ich habe nicht ans Rentenalter gedacht, gekommen ist
es trotzdem. Man denkt nicht ans Altern, aber alt wird
man doch. Ich dachte nicht, dass meine Freunde und die
Menschen, die ich liebte, je sterben würden und es ist
trotzdem so gekommen. Ich muss meine Fensterläden
erst noch erneuern. Das Holz habe ich schon in meiner
Werkstatt. Dafür braucht man nämlich Zeit und Stille.
Wenn du damit anfängst, vergeht dir der Hunger. Du
wirst nicht müde, nichts tut dir weh. Du machst schön
gemächlich deinen Fensterladen oder dein Gatter. Holz
redet nicht, aber es beruhigt einen.
Früher kam der Schreiner mit seinem Handwagen und
brachte den Sarg. Dazu musste er durchs ganze Dorf,
und man sah ihm nach, weil man wissen wollte, wer ge-
storben war.
Wenn ich in meiner Schreinerei arbeite, muss ich un-

207
willkürlich schmunzeln. Meine vier Bretter sind es noch
nicht, die ich da zurechthoble, aber das kommt auch
noch. Schließlich will ich Geld sparen. Wie viele Leute
haben sich schon ihren Sarg zurechtgezimmert, wenn
die Zeit gekommen war? Gar nicht so wenige, würde
ich meinen. Es gab sogar welche, die sich während der
Bombardements im Krieg darin versteckten!
Nun, das kommt auch noch. Ich werde am Ufer nach
Holz suchen. Das kostet nichts außer ein paar Schweiß-
tropfen, denn natürlich muss man es heraufbringen. Ich
tue das schon aus Leidenschaft. Holz kann man nie genug
haben, und so bringe ich alle möglichen angeschwemm-
ten Stücke hierher. Manchmal habe ich meinen Schatz
sogar auf der Heide versteckt, um keinen Ärger mit der
»Obrigkeit« zu haben, denn die Kontrollen waren recht
streng. Ob es nun unter den Farnbüschen auf der Heide
trocknete oder in meinem Garten, war ja egal. Die Schiffe
fangen an zu schlingern, sobald sie über den Raz müssen.
Dann kappen die Matrosen die Leinen und opfern einen
Teil der Ladung, damit das Schiff sich wieder aufrichtet.
Ich habe das mehr als einmal beobachtet. Das Schiff fährt
weiter, und ich weiß schon, wo ich am nächsten Tag su-
chen muss, um das über Bord geworfene Holz zu bergen.
Im Juli habe ich meine Handwasserpumpe auf dem
Hof repariert. An mir ist ein Herzspezialist verloren ge-
gangen, sage ich euch. Ich habe sie abmontiert und werde
ihr eine Ledermanschette verpassen. Das Leder schneide
ich von der Anhängerkupplung ab. Meine Adern sind
verstopft, für die Pumpe gilt dasselbe. Die Ventile funk-
tionieren nicht mehr richtig. Das Kopfteil habe ich schon
auf der Hobelbank, den Kolben auch. Ich hatte ihn schon
mal repariert, und einen Kolben aus Hartholz eingesetzt.
Offensichtlich muss ich etwas anderes finden.

208
Guste macht sich Sorgen, schließlich ist die Pumpe
etwa so alt wie wir. Er hofft, dass sie noch durchhält.
Das Kopfteil hatte anfangs eine lange Spitze wie diese
Pickelhaube der Deutschen. Und tatsächlich haben die
Deutschen sie während des Krieges abgebrochen, als
sie einen großen Wassertank anbrachten. Wir haben die
Spitze nicht mehr gefunden.
Diesen Sommer habe ich diese Spitze, die vor fünfund-
sechzig Jahren abgebrochen ist, im Hof wiedergefunden.
Das ist ein Zeichen. Unsere Pumpe wird durchhalten.
Wenn sie die Deutschen überstanden hat, wird sie auch
den Alltag überstehen. Ich dachte nie, dass ich und die
Pumpe so alt werden würden. Aber das Korn muss auch
absterben, damit es neue Frucht tragen kann. Wenn ich
gestorben bin, heißt es dann: »Das war sein Leben.« Der
eine wird sagen, ich hab’s gut gemacht, der nächste ist
anderer Meinung.
Rechtschaffene Leute

Im September bin ich bei Ebbe an den Strand, wie ich


es seit Jahrzehnten mache. Ich kletterte auf den Felsen
herum und wartete, dass meine Reuse aus dem Wasser
auftauchte. Im Winter stelle ich zwischen zwei großen
Steinen eine Reuse auf. Damit sie dort auch richtig hält,
mache ich sie mit Tauen an den Steinen fest. Nach der
Flut leere ich sie dann. Ich hatte zwei Taschenkrebse von
zwei oder drei Zentimetern eingesammelt und drei Woll-
krabben, stand mit dem Rücken zum Meer und wartete
darauf, dass die Reuse weit genug aus dem Wasser käme.
Dabei drehte ich den einen oder anderen Stein um, um
Meeresgetier zu suchen. Auf einmal höre ich hinter mir
eine Stimme:
»Amt für Fischereiwesen. Lassen Sie doch mal sehen,
was Sie da in Ihrem Korb haben, Monsieur.«
Ich drehe mich um, mein erstaunter Blick fällt auf zwei
junge Burschen.
»Das hat mir ja gerade noch gefehlt! Was fällt euch
denn ein? Außerdem ist das kein Korb, sondern eine
Kiepe!«
»Und diese kleinen Krebse wollen Sie wohl essen?«
»Nein, aber ich werde wohl kaum vierzehn Zenti­
meter große Krebse an meine zwei Zentimeter langen
Haken an der Leine hängen. So weit bringt kein Fisch
das Maul auf.«
»Ihre Krebse sind zu klein.«

210
Ich wollte ihnen nicht sagen, dass ich die nur mitge-
nommen hatte, um sie als Köder in die Reuse zu legen.
Glücklicherweise hatte ich in meiner Kiepe wie immer
drei Angelhaken liegen.
»Heute lassen wir’s noch durchgehen, aber beim nächs­
ten Mal gibt es eine Strafe. Es ist verboten, so kleine
Krebse einzufangen. Ich hoffe, Sie sind sich dessen be-
wusst?«
»Na, dann werde ich wohl in Zukunft ständig eins
aufgebrummt bekommen. Dann komme ich lieber nicht
mehr. Dabei sind es ja wohl kaum wir kleinen Leute, die
die Meeresfauna kaputt machen. Und was ist mit den
Sagankrabben?«
»Nichts, wenn Sie damit die Wollkrabben meinen. Für
die gibt es keine vorgeschriebene Größe.«
In diesem Augenblick dachte ich, dass heutzutage, bei
all dem Geld, das herumschwirrt, nichts mehr umsonst
ist. Das ist nur so ein Gedanke, aber wenn man heute
die Geldstücke so anschaut, findet man was nicht mehr
drauf? Die jungen Leute erinnern sich nicht mehr daran,
aber als wir als Kinder Taschengeld bekamen, da stand
auf den Münzen: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«,
die Grundsätze der Französischen Revolution.
Das ist nun vorbei. Das haben wir mit Europa ver­
loren. Ich meine nicht das Europa des Friedens, da stehe
ich voll dahinter, nicht aber hinter dem der Gesetze und
des Papierkrams.
Ich versuchte, Zeit zu schinden, denn der andere kam
meiner Reuse allmählich gefährlich nahe:
»Ich habe aber gelesen, dass sie mindestens sechsein-
halb Zentimeter groß sein müssen.«
»Nein, da gibt es keine Mindestgröße.«
Also drehte ich meine Kiepe um und entließ die Tiere

211
wieder ins Wasser. In der Annahme, dass es damit er­
ledigt sei, sagte ich:
»Nun, wenn dem so ist, werde ich meinen Fang halt
wieder hergeben.«
Nur hatte der Fischerei-Kontrolleur, der bis jetzt noch
kein Wort gesagt hatte, mittlerweile meine Reuse ge­
funden und zog sie aus ihrem Loch hervor. Er musste
sich anstrengen und zog wie ein Esel. Da ist mir das Wit-
zereißen vergangen, denn wahrscheinlich würde die Be-
scherung in Form einer Geldstrafe nicht auf sich warten
lassen. Er kappte die Seile und zog die Reuse heraus. Ich
vermied es hinzusehen. Er versuchte, die Wollkrabben
aus dem Innern der Reuse zu befreien, doch diese klam-
merten sich ans Gitter. Da verlor er die Geduld, drehte
die Reuse um, sodass die Öffnung nach unten zeigte,
und fing an zu schütteln. Er wurde puterrot im Gesicht.
Da konnte ich nicht anders, ich musste den Mund auf-
machen:
»Die Sagans holt man nicht mit dem Arsch voran he-
raus, sondern mit dem Maul.«
Er hörte nicht zu, sondern schnitt die Reuse der Länge
nach auf. Dabei hatte ich das gute Stück selbst gemacht,
aber was soll’s. Ich habe keine Fischereierlaubnis, also
wird mich diese Geschichte eine Stange Geld kosten.
Die Erlaubnis muss jährlich zwischen dem 1. und dem
31. Oktober unter Angabe der Bootsnummer beantragt
werden. Dann versuch mal, denen zu erklären, dass du
deine Reuse ohne Boot aufstellst, und das seit siebzig
Jahren! Als der junge Mann sein Zerstörungswerk voll-
endet hatte, rief er seinen Kollegen:
»Das rechnen wir als Treibgut.«
Letztlich glaubten sie nicht, dass die Reuse mir ge-
hörte, denn der andere, der schon seinen Block gezückt

212
hatte, um mir eine Strafe zu verpassen, steckte diesen
wieder weg. Trotzdem war ich ein wenig geknickt. Ich
hätte gerne meine Reuse gerettet. Ich hörte, wie die bei-
den sich unterhielten:
»Dann kontrollieren wir den zweiten.«
Ich dachte, dass sie wohl noch einen weiteren Fischer
kontrollieren wollten. Da ich ein wenig zur ­Auflockerung
der Stimmung beitragen wollte, schnappte ich mir eine
fette Napfschnecke (von der gelben Sorte, die man nicht
isst), hielt sie hoch und fragte:
»Und die da, ist die groß genug?«
»Für Napfschnecken gibt es keine Mindestgröße.«
Wie auch immer. Ich jedenfalls komme seit siebzig
Jahren zum Fischen her, aber so etwas Dämliches habe
ich wirklich noch nie erlebt!
Sie drehten mir den Rücken zu, und ich ließ meine
Reuse sausen. Ich bin heim zu meinen Kartoffeln und
war stinksauer. Irgendjemand musste mich verpfiffen
haben, denn dort, wo ich hingehe, kann man mich von
der Küste aus nicht sehen. Außerdem wollten die beiden
nicht mal meinen Namen wissen. Ich habe natürlich auch
nicht nach ihrem gefragt!
Am nächsten Tag war die Reuse natürlich ins Meer
hinausgeschwemmt worden. Das stört sie nicht, dass
man damit das Meer verdreckt! Sie hätten das Ding
schließlich auch einsammeln und abtransportieren kön-
nen. Offensichtlich haben sie davon einen ganzen Lager-
raum voll. Daher lassen sie sie neuerdings auch an Ort
und Stelle, nachdem sie sie unbrauchbar gemacht haben.
Diese gewissenhaften Leute (Meerespolizei, sozusagen)
haben einfach meine Reuse kaputt gemacht, als wäre ich
ein gemeiner Verbrecher.
Es ist schon allerhand, dass man einem einfachen

213
Mann wie mir das Fußfischen verbietet, was man hier ja
schon seit Jahrhunderten betreibt. Aber dann auch noch
vor seinen Augen seinen Besitz zu zerstören! Darüber
hätte ich mich auch aufgeregt, wenn es ein Freund getan
hätte, aber noch dazu wildfremde Menschen. Das ist
beschämend, ja beschämend, denn es gibt wirklich weit
schlimmere Verbrechen. Schon wieder eine kleine Frei-
heit verloren. Für die Kleinen wie unsereinen bleibt bald
gar nichts mehr übrig. Ich weiß nicht, ob diese jungen
Burschen sich überhaupt im Klaren waren, was das für
eine Beleidigung bedeutete für ein altes Fossil wie mich.
Dieses »Abenteuer« hat bei mir einen bitteren Nachge-
schmack hinterlassen. Und Euromünzen kann ich mitt-
lerweile nicht mehr sehen.
Alle Welt weiß doch, weshalb die Tierwelt hier aus
dem Gleichgewicht geraten ist: Das hat nichts mit der
Klimaerwärmung zu tun. Das liegt daran, dass die gro-
ßen Schiffe, die Monstertanker und Containerschiffe,
uns hier den Graben verdreckt haben, in dem die Fische
sich früher vermehrt haben. Von der Chemiesauce, die
vor Jahren in den Casquets-Graben geflossen ist, mal
ganz zu schweigen. Das hat man noch monatelang ge-
rochen.
Irgendwann werden wir unseren Arsch nicht mal mehr
auf einem winzigen Stück Felsen ausruhen können, ohne
überwacht zu werden.
Ich habe keine Reusen mehr. Das war meine letzte,
und ich habe keine Lust, mir eine neue zu machen und sie
auszulegen. Ich werde mir keine Fischereierlaubnis aus-
stellen lassen, niemals. Außerdem hat man mir gesagt,
dass sie schwer zu bekommen sei. Dafür braucht man
Beziehungen, wie für alles. Es geht niemanden etwas
an, wo ich bin und wer ich bin, wenn ich zu Fuß fischen

214
gehe. Dort habe ich in der Unendlichkeit der Landschaft
siebzig Jahre lang Unabhängigkeit und Einsamkeit ge-
nossen. Ich empfinde die Sache mit der Erlaubnis als
Angriff, als mangelndes Verständnis für unsere Lebens-
weise. Wenn ich das jetzt aufschreibe und später liest es
jemand, wird es heißen:
»Ah, dem heizen wir ein. Das nächste Mal kommt er
in den Bau.«
Nur habe ich trotzdem diesen Küstenstrich durch-
kämmt. Monate vergingen, und siehe da, im Dezember,
drei Monate nach dem von den »Meerespolizisten« ver-
übten Verbrechen, habe ich meine Reuse wiedergefun-
den. Fünfhundert Meter weiter.
Jetzt muss ich mich entscheiden: Stelle ich sie wieder
auf oder nicht?
Komm schon, Paul! Das lässt du besser bleiben. Ver-
roll dich schon zu deinen Ahnen. Für dich gibt es in
­Goury keinen Platz mehr.

215
Doing!

In meinem Alter hat man vor nichts mehr Angst. Das ir-
dische Leben ist einfach anstrengend, am Ende liegt alles
Leben in Gott. Wenn ich von heute auf morgen sterbe,
erspart das allen möglichen Stellen einen Haufen Geld,
vor allem der Sozialversicherung. Am Tag meiner Beerdi-
gung möchte ich niemandem zur Last fallen. Ich möchte
einfach so sterben, doing! Mit dem Klang eines Gatters,
das der Wind zuwirft. Ein letztes Klirren, wie eine Stall-
kette, die zu Boden fällt.
Wenn man hier in der Gegend jemanden für einen al-
ten Esel hält, so sagt man bei seinem Tod, er sei »fällig«
gewesen. Bei anderen heißt es: »Das war wirklich eine
gute Haut, aber das gilt ja nicht nur für ihn.« Bei mir
wird das nicht anders sein, da mache ich mir gar keine
Illusionen. Für die einen ist man »ein alter Esel«, für die
anderen »eine gute Haut«.
Andererseits bin ich ganz dem Leben zugewandt. In
gewisser Weise existiert der Tod für mich nicht. Ich
weiß, was mich erwartet. Plötzlich ertappe ich mich
dabei, wie ich davon träume, diesen schmerzhaften Au-
genblick nicht kennenlernen zu müssen, der ebenso hart
ist für den, der geht, wie für den, der bleibt. Natürlich
muss man eines Tages gehen, aber ich mache mir Sorgen
um meine Schwestern. Am Ende sind wir doch allein.
Wir müssen uns um uns selbst kümmern, uns selbst der
Leuchtturm sein.

216
Ich sehe das Leben nicht mehr so wie vor zwanzig Jah-
ren. Damals hatte ich ja noch Zeit, wenn man von den
Altersangaben in den Todesanzeigen ausgeht. Damals
traute ich mich noch zu sagen: »Na, es war halt einfach
Zeit für ihn.« Wenn ich heute Todesanzeigen lese und
sehe, wie alt die Leute waren, steht da oft mein Alter. Ir-
gendwann in nächster Zeit werde ich das Programm für
meine Totenmesse zusammenstellen. Das wird schwierig
für die Gemeinde. Sie brauchen für mich einen Nach­
folger, schließlich mache ich seit Jahrzehnten bei Beerdi-
gungen den Mesner.
Ich bin hier nur auf der Durchreise. Früher oder später
bin ich nicht mehr da, gehe nicht mehr ans Telefon und
jemand anderer wird statt meiner die Glocken läuten.
Bis dahin aber sage ich, wenn man mich aufs Sterben
anspricht:
»Ich habe einfach keine Zeit, woanders hinzugehen.
Ich habe so viel zu tun, dass ich gar nicht sterben kann.«
Außerdem werden die Glocken von Auderville derzeit
ausgebessert. Es wird Monate dauern, bevor man sie
wieder läuten kann. Ein Grund mehr, Paul, nicht zu ster-
ben! Zu meiner Hochzeit, da müsste ich schon richtig
Schwein haben, und zur Beerdigung, wenn ich weniger
Glück habe. Ich bin jetzt seit fünfundsechzig Jahren Mes-
ner in Auderville. Es wird Zeit, dass ich mich nach einem
Nachfolger umsehe.
Was die Ehe angeht, so war unter den Tausenden Brie-
fen, die ich erhalten habe, auch ein Heiratsantrag. Die
Dame war sechsundneunzig. Verglichen mit ihr bin ich
noch ein Jüngling.
Das Leben offenbart uns nicht alle Geheimnisse. Wenn
es für dich an der Zeit ist, dann merkst du es in dem Mo-
ment. Für mich ist das, wie für jeden Christenmenschen,

217
ein Geheimnis. Wenn du jung bist und im Krieg, kannst
du jeden Augenblick draufgehen. Du hörst die Bomben
einschlagen, aber du denkst nicht einen Moment ans
Sterben. Du klammerst dich einfach noch nicht so ans
Leben. Du wirst von anderen Soldaten gejagt. Der Krieg
zerstört alles, jedes Gefühl für Menschlichkeit. Sie neh-
men dir dein Land weg und stellen dort ihre Tötungs-
maschinen auf. Während des Krieges weißt du, dass der
Tod dich treffen kann, aber du kannst damit leben. Einen
Sinn gibst du deinem Leben erst später.
Lange Zeit habe ich geglaubt, dass mein Leben nutzlos
wäre. Viele Leute halten mich sowieso für einen Einfalts-
pinsel, weil ich nicht jeden vermeintlichen Fortschritt
mitgemacht habe. Zumindest hatte ich manchmal den
Eindruck. Aber ich habe nicht nachgegeben. Ich wollte
keinen Kunstdünger auf meinen Feldern.
Hin und wieder sagte ich mir, dass der Tod ohnehin
kommen wird und mein Leben vielleicht schon einen
Sinn hat, aber dass dieser im Leben danach liegt. Ich war
glücklich mit meiner Familie und meinen Schwestern,
wirklich sehr glücklich. Das würde mir niemand nehmen
können. Auf den Traktor klettern, den Möwen zuhören,
auch beten. Mich von guten Sachen ernähren, da oder
dort Leute treffen. Diese kleinen Glücksmomente mögen
belanglos erscheinen, aber wenn man in der Werkstatt
nützliche Dinge macht und das Holz riecht oder draußen
beim Säen ist, dann zieht man daraus seine Befriedigung,
eine tiefe Befriedigung. Du tauchst richtig ein. Das ist un­
endlich schön.
Trotzdem frage ich mich natürlich, warum wir ster-
ben müssen. Es wäre doch schön, wenn man einfach nur
­leben könnte!
Das hat Gott extra so eingerichtet, sonst würden wir

218
ja nicht sterben. Andererseits heißt Gott zu lieben, zu
wissen, dass es außer dem blauen Himmel noch etwas
gibt. Nicht, dass man sterben möchte, da wäre man ja
blöd. Und bliebe ganz dem irdischen Leben verhaftet.
Mit Gott zu leben heißt vielmehr, dass wir hier auf der
Erde unser Rüstzeug zusammenpacken. Du bist gast-
freundlich, bist nett zu der alten Dame, obwohl du jung
bist und andere Dinge im Kopf hast. Du bist anderen
behilflich und denkst dabei auch an dich, aber nicht nur.
Du gedenkst der anderen Menschen in deinen Gebeten
oder in deinem Tun. Wenn du nur einen Funken Ver-
stand mitbekommen hast, kannst du wählen zwischen
Gut und Böse. Das gilt für alle gleichermaßen.
Dann leidest du auch weniger, denn leiden ist nicht
schön. Allerdings gibt es zwei Formen des Leids. Gegen
das Leiden an einer Krankheit kannst du ankämpfen.
Aber gegen Kriege kann man nichts machen. Ein ein-
ziger Mann kann in dir den Glauben an das Gute im
Menschen zerstören. Und dieser Mann hat dann viel-
leicht auch noch Kinder und gibt das Unglück und die
Grausam­keit weiter.
Gegen Barbaren kann man nichts ausrichten. Das
kann man auch nicht mit Tieren vergleichen, denn die
töten, um zu fressen oder weil sie sich verteidigen müs-
sen, zum Beispiel wenn man ihnen die Jungen wegneh-
men will. Aber solchen Leuten gegenüber fühle ich mich
hilflos wie ein Kind. Wie im Krieg, als ich mich bei jedem
Bombardement fragte: Warum nur? Wozu soll das gut
sein?
Aus der Einfachheit eines gelungenen Lebens heraus
kann man kämpfen. Aber natürlich muss man die Mög-
lichkeit gehabt haben, sich sein Leben auszusuchen, wie
es bei mir der Fall war. Nun werden einige Leute sagen,

219
ich hätte mir mein Leben ja gar nicht ausgesucht, son-
dern mein Schicksal angenommen und mein Privatleben
geopfert, um die Tradition fortzusetzen. Aber ich bin
frei. Und das ist nicht wenig. Gerade wenn man eine
Besatzungszeit erleben und den Kopf einziehen musste.
Und unsere Väter konnten nichts dagegen tun.
Wenn du dein Haupt wieder ganz unbefangen erheben
kannst, gehst du stolz über deinen Grund und durch-
streifst die Landschaft. Und doch merkst du gar nicht,
wie schön sie ist. Ich erkenne erst jetzt, wie schön es hier
ist und wie sehr mir La Hague fehlt, wenn ich nicht hier
bin. Diese Landschaft ist mir eingewachsen, woanders
kann ich einfach nicht richtig atmen.
Ob das ist wie bei Gott und mir, Gott und seinen Sün-
dern?
Wenn ich mein Dorf verlasse, fehlt mir die Luft zum
Atmen. Und der Raz Blanchard, den ich plötzlich nicht
mehr rauschen höre. In dieser Hinsicht geht es mir wie
meiner Mutter, wenn sie ihre alte Uhr nicht hören konn-
te. Was schön ist, ist letztlich auch einfach, sehr einfach.
Nichts extra. Es ist, wie es ist. Oder es wurde auf ein­
fache Weise geschaffen, entstand aus einer Eingebung he-
raus. Geschichte, das ist für mich die Geschichte meiner
Familie, meines Traktors, meiner Felder, meiner sorg­
fältig über Jahrzehnte handverlesenen Getreidesorten,
die ich geerbt habe.
Das ist nicht viel, aber trotzdem fühle ich mich damit
reich. Robustes Getreide, das keine Sonderbehandlung
braucht, um hier zu wachsen. Das mich nicht vergiftet,
wenn es von der Henne gefressen und in ein Ei ver­
wandelt wird, das morgens auf meinem Tisch steht. Das
Ei, das ich jeden Morgen mit ein bisschen Brot esse, das
ist mein ganzes Bauernleben.

220
Keine Zeit zum Sterben

Ich habe vieles Unnütze aus meinem Leben verbannt,


da kam Gott näher, um zu sehen, was da vor sich ging.
Christian Bobin

Ich bin nicht lange zur Schule gegangen. Meine Schwes-


ter Françoise sagt sehr schön, was die Schule für uns
bedeutete: »Die Schule hat einen nur daran gehindert, in
der Natur zu sein.« Vor allem bei Springflut hätten wir
am liebsten ganze Tage draußen zugebracht. Ich habe
dort nichts gelernt. Alles, was ich weiß, habe ich selbst
entdeckt oder von meinen Vorfahren vermittelt bekom-
men, auch wenn sie schon lange tot sind.
Natürlich war es früher nicht besser, aber ich könnte
nicht so arbeiten, wie das heute üblich ist. Die Leute ha-
ben sich immer mehr von der Erde entfernt. Wenn man
eine Handvoll Erde aufnimmt, spürt man, dass der Boden
lebt. Dies ist unsere Grundlage, die wir nicht zerstören
dürfen. Das hat nichts mit Nostalgie und Rückwärtsge-
wandtheit zu tun. Die Arbeit war früher auch nicht här-
ter. Damals war man längst nicht so verrückt wie heute,
mit dem ganzen Papierkram und so. Der Kör­per hat gear-
beitet und die Zeit hat den Takt vorgegeben. Das musste
man nehmen, wie es war. Es gab ja keinen Termin oder
so etwas. Das ist heute anders. Ich hatte zweiundsiebzig
Felder und Wiesen im Dorf und der Umgegend! Aber für
mich war das alles eins. Wir folgten der Furche, und die

221
hing von der Bodenbeschaffenheit ab. Die jungen Bauern
von heute haben keine Freiheit mehr, die sind so richtig
eingekesselt zwischen Papierkram und EU -Zuschüssen.
Früher hatte man noch Zeit zum Staunen. Man jätete auf
Knien das Rübenfeld und sah, ob die Triebe welk wa-
ren und sie am nächsten Tag Wasser brauchen würden.
Heute bewässert man sie mechanisch und Schluss! Man
kommt heim, hat seine Arbeit getan, aber gesehen hat
man nichts, weil man das gar nicht gelernt hat.
Ich statte meinen Pflanzen immer noch Besuche ab. Ich
mag es, da und dort zu sein und mit den Kindern über
das Leben zu reden.
Ich habe eigentlich keine Zeit zu sterben. Ich will dem
ja nicht aus dem Weg gehen, das ist ohnehin unmöglich.
Es ist eine Tatsache, dass ich irgendwann nicht mehr da
sein werde, um zu erzählen, wie die Bauern früher lebten
und arbeiteten. Andere, meine Besucher, werden dieses
Wissen weitertragen.
Sie werden versuchen, ein wenig von Paul Bedel in ihr
Leben einzubauen.
Meine Vorstellungen zu meiner Beerdigung sind recht
einfach. Ein paar Lobgesänge, ein Priester, wenn es geht.
Aber es muss nicht extra einer anreisen. Es ist nicht
schlimm, wenn es hier keinen festen Priester mehr gibt.
Da muss man mit der Zeit gehen. Wenn ein einfacher
Glaubensbruder für mich das letzte Gebet spricht, so
soll mir das auch recht sein. Ich verlange nicht viel, aber
ich möchte nicht, dass man meinen Leichnam einfach ir-
gendwo entsorgt wie einen toten Hund. Und verbrannt
werden will ich auch nicht. Die Hitze war mir noch nie
besonders sympathisch. Wenn man in meinem Garten
ein Loch schaufeln und mich dort begraben würde, wäre
ich der glücklichste Mensch.

222
Schön wäre natürlich, wenn man mich mit meinem
Traktor begraben würde. Dann könnten wir uns gemein-
sam auf den Weg machen.
Ich möchte ein Kreuz auf der Grabstelle haben, ein
kleines, weißes Holzkreuz, das ich selbst gefertigt habe.
Und zwar nicht, weil alle es so machen, sondern weil
ich mein Leben lang mein Kreuz getragen habe, ohne zu
klagen.
Ich habe mir ein hartes Leben ausgesucht, keines zum
Faulenzen.
Dieses Kreuz habe ich mit ihm getragen, ihm, der mich
seit meiner Geburt begleitet, seit meiner Kommunion,
meiner ersten Begegnung mit ihm. Wer mich einst in
die Erde bettet, tut das nicht aus Achtung vor mir. Ich
bin nichts. Er tut das aus Achtung vor dem, der in mir
wohnt. Ich möchte auch, dass man für all jene betet, die
keinen Glauben haben, denn sie brauchen unsere Hilfe
mehr als alle anderen. Bei nicht-kirchlichen Begräbnissen
konnte ich wahrnehmen, dass die Angehörigen einen in-
neren Schmerz mit sich herumtragen. Sie haben keinen
Ort, an den sie mit ihrer Trauer gehen können. Sie müs-
sen sie für sich behalten. Und dürfen dem lieben Gott
deshalb nicht mal böse sein.
Auf jeden Fall treten wir nackt ins Leben und verab-
schieden uns genauso. Man hat mehr als einmal versucht,
mir das Fell abzuziehen, aber erwischt hat man es nicht.
Es nützt ja nicht viel, sich mit Reichtümern zu schmü-
cken, aber jeder tut, was er kann, damit die Hoffnung
ihn nicht verlässt. Aber mir schien es immer wichtiger,
etwas für die Erde zu tun und für meine Mitmenschen.
Wenn jemand zu meiner Totenmesse kommt, dann
soll er nicht anfangen, die Kränze zu zählen, um daraus
zu schließen, ob ich geschätzt wurde oder nicht. Er soll

223
auch nicht für mich beten, sondern für sich selbst, für
sich ganz allein. Ich werde noch ein wenig da sein, um
diese Gebete zu hören und sie mit mir zu nehmen. Und
ich möchte auch nicht, dass jemand kommt, nur damit er
sich hinterher beim Totenschmaus gütlich tun kann oder
damit er gesehen wird. Ich hätte gern Blumen auf dem
Altar, um meinen alten Weggenossen, unser aller Gott,
zu ehren. Und Maria, unser aller Mutter. Andere Blu-
men will ich nicht, auch keine Porzellanplakette auf dem
Kreuz. Keinen Grabstein, der dann auf meinen Rücken
drückt. Ich habe genug getragen in meinem Leben. Und
ich möchte, dass die, die mich überleben, ein wenig Geld
übrig behalten, vor allem meine Schwestern. Ein paar
Kieselsteine und Blumentöpfe, das muss reichen.
Vor allem will ich nichts davon hören, dass ich die
landwirtschaftliche Verdienstmedaille bekommen habe
oder bei Nicolas [Sarkozy] eingeladen war. Natürlich
war an diesem Tag alles frei, aber bezahlt haben das die
Steuerzahler! Ich will mich jedenfalls nicht beklagen.
Meine Nachfahren sind die Leute, die sich bei mir
bedanken. Das ist eine tiefe Befriedigung für mich, auch
wenn es mich nicht stolz macht. Manche kommen auch,
um zu sehen, ob ich meinen Schwestern vom Fischen
wirklich Schnecken mitbringe oder ob ich ein Haus­
tyrann bin, aber darüber müssen wir zu Hause eher la­
chen. Das nehmen wir nicht krumm. In einer Familie
teilt man eben alles miteinander, auch die Sorgen. Der
Hummer, das versichere ich hiermit, wird jedenfalls red-
lich geteilt. Und wenn Paul nicht richtig aufräumt oder
die Serviette nicht ordentlich faltet, wird er von den
Frauen ausgeschimpft wie überall.
Den Stolz nimmst du mit dir ins Grab, die Zufrie-
denheit aber begleitet dich im Leben überallhin. Meiner

224
Ansicht nach streben wir Menschen nicht nach Glück,
sondern nach Wahrheit. Es geht nicht um Glauben. Was
wir suchen, ist die Sicherheit, dass hinter dem Ganzen
irgendetwas steckt. Die Wahrheit ist es, die uns beschäf-
tigt. Das ist wie mit der Eifersucht, man denkt an nichts
anderes als daran, die Wahrheit herauszufinden.
Dass ich Mesner bin, hilft mir bei der Arbeit. Ich ziehe
eine lange Furche und im Lärm des Traktors hebe ich die
Augen zu ihm, der über mir wohnt, den ich nicht sehe,
auch wenn ich ihn in der Natur spüre.
Ich komme immer wieder auf Gott zurück.
Selbst beim Traktorfahren denke ich an die Menschen,
die leiden. Nächstenliebe ist wichtig. Ich persönlich habe
keine Feinde, aber trotzdem lebe ich allein mit meinen
Schwestern. Ich habe all meine Vorhaben sausen lassen
und aus Liebe den Hof meines Vaters übernommen. Ich
habe mein eigenes Leben aufgegeben, um sein Erbe zu
übernehmen und seine Arbeit fortzuführen. Vielleicht
war es nicht das, was ich ursprünglich wollte, aber ganz
sicher das, wofür ich mich entschieden habe.
Ich könnte noch von den Meeresvögeln erzählen, die
sich der Kraft des Windes entgegenstemmen, die einfach
vor dir in der Luft stehen bleiben, als wären sie auf Zellu-
loid gebannt, und warten, bis die Bö abflaut. Im Grunde
muss man das selbst sehen. Wir haben hier Raben, die
vom Wind so sehr zerzaust werden, dass ihre Flügel aus-
sehen wie eine menschliche Hand.
Ich habe erzählt, wieso mich meine Art des Landbaus
so glücklich macht. Natürlich kann man sagen, ich sei
ein »altes Fossil«. Ich möchte auch nicht unbedingt ande-
re Leute dazu ermutigen, hier zu leben. Ich würde mich
nur freuen, wenn die jungen Leute hier weiter die Steine
beackern. Meine Steine.

225
Wir haben schon unseren Dialekt verloren, die Spra-
che, in der sich unser Landstrich ausdrückte, unsere
Ecke, ja unser Dorf, denn wir verwendeten hier Wörter,
die schon im Nachbardorf nicht mehr verstanden wur-
den. Wir lebten für uns mit unseren Eigenarten, jeder
in seiner Ecke, aber wenn wir uns trafen, dann war der
­Dialekt wichtig. Er zeigte, woher wir kamen, nämlich
von hier, im Gegensatz zu denen, die von außerhalb ka-
men, zu den Politikern und den anderen Leuten, die uns
mit ihren scheelen Blicken beleidigten, die wir den Um-
ständen entsprechend hinnahmen oder auch nicht.
Paul hat sich in seinem Leben zurechtgefunden, ohne
dass man ihm sagte, wie er was zu machen hatte. Aus
diesem Grund weigere ich mich auch, anderen Menschen
Lehren zu erteilen, weil ich es selbst nicht mochte, wenn
man mich behandelte wie einen Zurückgebliebenen.
Man soll mir nicht vorwerfen können, dass ich von
anderen verlange, alles genau so zu machen wie ich. Ich
habe mein Leben so geführt, wie meine Vorstellung von
Wahrheit und Freiheit es mir gebot. Ich habe lange Zeit
nicht an mich geglaubt, doch seit einiger Zeit glaube ich
an mich, und das verdanke ich Ihnen, liebe Leser und
Zuschauer.
Ich bin seit jeher mit wenig zufrieden und ich brauche
nichts von dem, was man kaufen kann oder was man
so sieht. Ich bin glücklich mit dem Leben, das mir ge-
schenkt wurde.

226
Pauls Sprüche

Was ich erlebt habe, passiert einem nur, wenn man am


Leben ist.

Ich bin auf dem Bauernhof geboren worden, als Bauer.


Ich läutete die Glocken noch von Hand, da hieß es
ordentlich ziehen.
Meine Sprinkleranlage und mein Unkrautvernichtungs­
mittel: der Hund der Nachbarin.
Besser ein lebender alter Gimpel als ein toter alter
Gimpel.
Tränen weint man, wenn man etwas bereut oder sich
schuldig fühlt.
Ich weiß nicht, ob es den Aufwand wert ist, so eine alte
Karre wie mich, die bald aus dem Verkehr gezogen wird,
noch einmal reparieren zu lassen.
Früher war ein Tag genau ein Tag, nicht mehr und nicht
weniger.
Wenn du keine Zahnschmerzen mehr hast, bist du tot.
Das Jahr geht heute immer ein wenig nach.
Der Nebel verändert die Erde.
Der Wind, der für den Boden gut ist, ist nicht gut für
das Meer.
Ich gehöre zu den Landfischern, nicht zu jenen, die
gern auf Boote gehen.
Seespinnen schmecken stark nach Schlick, trotzdem
ist ihr Fleisch sehr fein.

227
Ein Büschel Gras ist für mich wie ein Büschel Tang.
Ich spüre meine Steine.
Ein Hummer ist wirklich höflich. Er drückt dir sogar
die Hand.
Ich ziehe männliche Hummer vor, sie haben größere
Scheren, und die mag ich beim Hummer am liebsten.
Ich bin ein alter Bastler.
Bei uns isst man das Meer und die Erde gleicher­
maßen.
Über Geld redet man nicht gerne.
Der Leuchtturm von Goury blökt, wenn er nichts mehr
sieht. Dann hat er sich verirrt.
Ich esse vom Fisch am liebsten die Augen.
Für einen Bauern ist Schnee eine zusätzliche Belas-
tung.
Konservierungsmittel machen die Lebensmittel ka-
putt.
Wenn der Wind von Norden kommt, schließt er den
Fischen das Maul. Dann beißen sie nicht.
Manchmal gehe ich auf dem Grund des Meeres vor
Anker.
All das Geld, das heute so unterwegs ist, das ist doch
nicht normal.
Nachts, wenn der Mond herauskommt, geht man
­quasi neben sich her.
Das Meer essen – das lernt man im Laufe eines ­Lebens.
Die Stille trägt immer die Freiheit in sich.
Bei mir zu Hause habe ich alles mit eigenen Händen
gemacht.
Meine Milch schmeckte einfach am besten.
Am Geruch merkst du, ob der Mist gut ist. Du wür-
dest ihn essen, wenn du könntest, und trotzdem wird ihn
dir nie jemand klauen. Das ist praktisch!

228
Silomist entsteht, wenn die Tiere kein Gras zu fressen
bekommen.
Ich nähere mich dem Verfallsdatum.
Man muss schon wissen, aus welchem Stoff man ge-
macht ist, um sich gut zu ernähren und die Erde richtig
bearbeiten zu können.
Wenn wir mit dem Heu fertig sind, können wir die
Hände in den Schoß legen.
Was andere schönes Wetter nennen, ist für einen Bau-
ern schlechtes Wetter.
Meine Kühe sind hübsch, weil sie Blumen fressen.
Man weiß nicht, wie man selbst in Wirklichkeit ist.
Um jemanden auch nur ein bisschen kennenzulernen
ist manchmal ein ganzes Leben nötig.
Hummer könnte ich jeden Tag essen. Wenn einer auf
meinem Teller landet, dann bin ich nicht böse.
Du bearbeitest die Erde so, wie sie es braucht. Du rich-
test dich nach ihr. Das ist mit den Tieren genauso. Und
mit deiner Frau beziehungsweise deinem Mann oder dei-
nen Kindern. Wichtig ist vielleicht, dass du dich nicht zu
sehr auf deine Vorstellung versteifst, sonst schwimmst du
gegen den Strom und kommst nicht weiter.
Meine Nachfahren sind die Leute, die kommen und
sich bei mir bedanken. Das ist eine tiefe Befriedigung für
mich, auch wenn es mich nicht stolz macht.
Wenn jemand Dialekt mit dir spricht, bist du auf ein-
mal wieder zu Hause.
Seit die Wiederaufbereitungsanlage steht, gibt es hier
weniger Vögel. Das Licht in der Nacht macht sie verrückt
und die Legehennen auch. Sie glauben dann, es ist Tag.
Das Licht blendet nicht nur die Tiere, das kann einen
kirre machen.
Als ich in Rente ging, dachte ich, mein Leben sei zu

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gar nichts gut gewesen und dass niemand, wirklich nie-
mand, sich mehr der natürlichen Anbauweise erinnern
würde.
Die Natur weiß, wie sie alles zum Austreiben bringt.
Sie schafft das schon alleine, wir sollten sie nicht drän-
gen!
Wenn du auch nur eine Handvoll Erde zugrunde rich-
test, ist das wie eine Wunde. Klar verheilt das, aber es
braucht Jahre, bis das wieder in Ordnung kommt.
Die kleinen Alten: Leute meines Alters.
Viele Menschen sagen mir, dass sie mich kennen, aber
ich kenne keinen!
Große Ferien: die Rente.
Die Erde ruht schwer auf einem: altern, das kommt
ganz plötzlich. Du bist nicht darauf gefasst, aber plötz-
lich spürst du deinen Körper, wenn du umgräbst. Und
dann kommst du ins Grübeln.
Ich bin ein Aktiv-Rentner.
»Viehwagen«: sage ich zu Campingfahrzeugen.
Die Hände eines Bauern sind immer schmutzig.
Mit den einfachsten Dingen ist man am glücklichsten.
Ein Tag der Freude: wenn ich fischen gehe.
»Ich stehe nicht auf der Weide« heißt: »Ich bin nicht
verheiratet«.
Wenn Paul Nein sagt, heißt das oft Ja.
Wenn Paul Ja sagt, heißt das noch lange nicht immer
Ja.
Wenn etwas passiert, heißt das bloß, dass du am ­Leben
bist.
Mittlerweile lese ich ganz gerne, ich höre nämlich
nicht mehr gut.
Wenn du durchdrehst, findest du keine Worte mehr.
Wir Bauern denken zwar, aber wir denken nicht nach.

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Nachdenken müssen die armen Schriftsteller, und dafür
tun sie mir leid.
Ich beobachte nicht mehr so viel, seit ich nicht mehr
hinter dem Arsch meiner Kühe hergehe.
Das ist ganz der Paul.
Ich mag offene Menschen.
Meine Butter kommt von meinem Gras, das nichts
extra zu fressen kriegt.
Hühner sind auch nicht dümmer als Menschen.
Kutteln, das ist natürlich was anderes als Hummer!
Der Fortschritt hatte mich immer im Schlepptau, und
ich war ganz schön schwer.
Heute ist das Leben ganz schön anstrengend.
Wir streben nicht nach Glück, sondern nach Wahr-
heit. Es geht nicht um Glauben. Was wir suchen, ist die
Sicherheit, dass hinter dem Ganzen irgendetwas steckt.
Die Wahrheit ist es, die uns beschäftigt. Das ist wie mit
der Eifersucht, man denkt an nichts anderes als daran,
die Wahrheit herauszufinden.
Es war ein Leben voller Arbeit. Da hatte man keine
Zeit, Blicke zu tauschen.
Ich bin seit jeher mit wenig zufrieden und ich brauche
nichts von dem, was man kaufen kann oder was man so
sieht. Ich bin glücklich mit dem Leben, das mir geschenkt
wurde.
Wenn ich nachts schlafe, schließe ich die Ohren.
Eine Kuh zu ernähren darf doch nichts kosten.
Hier bei uns regnet es Meerwasser.
Ich komme immer wieder auf Gott zurück.
Nachdem ich den Leuchtturm von Goury besucht hat-
te, bekam ich ein Gefühl für die Erde.
Was 1914–18 in den Schützengräben passiert ist, hat
man uns nicht erzählt. Aber irgendwie war es ein Auf-

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schrei der Liebe. Und von Liebe oder Hass redete mein
Vater nicht.
Ich habe mich abgeschirrt: Ich bin in Rente.
Ich wäre schon zufrieden, wenn die jungen Leute in
unserer Gegend weiter die Steine beackern würden.
Ihr findet, ich bin ein Gimpel, ein armes Schwein? Na
ja, damit habt ihr wohl recht.
Den Seespinnen saugt man bei Tisch die Füße aus. So
vergeht die Zeit und das Gebiss wird auch gestärkt.
Das Auge für den Stein, das hast du oder du hast es
nicht. Das kann man nicht in der Schule lernen. Das hast
du im Blut. Du weißt genau, wenn du den Stein in der
Hand hältst: Die Mauer wird was!
In der Werkstatt mache ich meine Fensterläden und
meine Gatter. Schritt um Schritt. Da wird nicht geplau-
dert, nein, aber das tut richtig gut.
Den Stolz nimmst du mit dir ins Grab, die Zufrieden-
heit aber begleitet dich im Leben überall hin.
Ob du als Bauer reich bist, entscheidet nicht die Qua-
dratmeterzahl deines Grund und Bodens, sondern die
Zahl der Regenwürmer, die sich darin tummeln.

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Paul und seine Kühe

Die Kühe auf dem Hof der Bedels hatten immer einen
Namen, der in den amtlichen Papieren stand, und einen
anderen, den ich in meine Hefte eingetragen habe. Die-
sen habe ich ihnen nach ihrem Charakter gegeben. Heute
muss man ihnen ja mit der Zange so einen hässlichen
Plastikohrring mit einer Nummer darauf verpassen.
Cornette droite (die Flügelhaube): Sie hatte ein Horn,
das wie die Flügelhaube einer Schwester zur Seite ge-
bogen war, allerdings nur auf der rechten Seite.
La Biche (die Hindin): Sie ging wie eine große Dame und
hatte sehr sanfte Augen.
Danseuse (die Tänzerin): Sie tänzelte, statt zu gehen. Und
sie hasste die Bremsen, die sie öfter stachen als jede an­
dere Kuh.
Crampon (die Klette): Sie folgte mir überall hin.
Fesse blanche (weiße Hinterbacke): Sie hatte einen wei-
ßen Fleck auf einer Hinterbacke.
Cigarette (die Zigarette): Darauf bin ich nun nicht ge­
rade stolz. Ich habe heimlich geraucht und sie hat eine
ganze Schachtel Zigaretten gefressen, die mir aus der
Tasche gefallen war, Gauloises ohne Filter!
Copine (die Kameradin): Immer nett zu allen, die Schwes­
tern mochten sie gerne.
Blanche (die Weiße): Sie hatte kein geflecktes Fell, nur
einen winzigen Fleck auf dem Maul und dunkle Ringe
um die Augen.

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Julie: Wir haben bald aufgehört, unseren Kühen Mäd-
chennamen zu geben. Julie ist uns nämlich einmal ab­
gehauen, als wir sie zum Stier bringen wollten. Wir
sind durchs Dorf gelaufen, haben gerufen und die alte
Julie glaubte, wir suchen sie. Das war uns ganz schön
peinlich.
Molasse (Melasse): Sie hatte wirklich ein schönes Leben,
die kleine Simulantin.
La Noire (die Schwarze): Ihr Fell war von dunklen, fast
schwarzen Flecken übersät.
Citron (Zitrone): Ihr Fell war von so hellem Rot, dass es
fast gelb aussah.
Long pied (Langbein): Sie hatte lange Afterzehen, die ich
regelmäßig mit der Heckenschere kürzen musste. Ich
nahm die längste, die ich hatte, und zack! Ich schnitt,
dann zog ich mich sofort zurück, um keinen Huftritt
abzubekommen.
Balafrée (Narbengesicht): Sie hatte eine Narbe im Ge-
sicht, aber Milch hat sie trotzdem gegeben.
Aveugle (die Blinde): Eines Tages verfing sie sich auf
der Heide in einem Ginstergebüsch. Bald waren ihre
­Hörner von Zweigen gekrönt. Das sah aus wie ein
Hut, der ihr über die Augen hing. Sie konnte nichts
mehr sehen und lief laut muhend im Kreis. Meine
Stimme beruhigte sie und so konnte ich näher kom-
men, um ihr das Gestrüpp wieder abzunehmen.
Chien (Hund): Sie folgte uns wie ein kleiner Hund, eine
echte Klette. Sie wäre am liebsten mit uns ins Haus ge-
gangen. Manchmal frass sie uns sogar aus der Tasche.
Morue (Kabeljau): Sie war richtig fett, und wenn sie so
dahinmarschierte, schaukelte ihr Hintern kräftig. Als
ich meine Wetterfahne gebastelt habe, die heute auf
dem Stall thront, habe ich Morue als Modell genom-

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men. Ich dachte mir: Wenn ihr Abbild da oben auf
dem Dach sitzt und Nordwind anzeigt, dann steht sie
doch hübsch warm im Stall.
Cul sale (schmutziger Arsch): Ich bürstete sie jeden Tag,
aber da war nichts zu machen. Sie hat sich schon als
Kälbchen immer dreckig gemacht, hat sich in den Kuh­
fladen gewälzt. Man konnte sie einfach nicht lange
sauber halten.
Échalote (Schalotte): Sie roch immer nach Zwiebeln.
Désirée (die Ersehnte): In einem Jahr hatten wir schon
ein Dutzend Stierkälber, aber immer noch kein Kuh-
kalb. Daher haben wir sie Désirée getauft, als sie zur
Welt kam.
Sirène (die Sirene): Sie frass doch tatsächlich Tang auf
den Feldern!
Tête blanche (Weißköpfchen): Sie hatte die typischen
braunen Augenringe, die die normanischen Kühe ha-
ben, aber ansonsten keinerlei Flecken oder Zeichnung
am Kopf.
Les Deux Jaunes (die zwei Gelben): Zwei Kühe, deren
Fell einen Gelbstich hatte. Sie waren Zwillinge.
La Pluche (die Plüschige): Ihr Fell war wollig wie das
eines Schafes.
Rigolote (Scherzkeks), auch Petit Chien (kleiner Hund)
genannt: Sie war die Tochter von Chien und ein echter
Witzbold.
Morue: Sie war die Tochter von Morue und genauso fett
wie diese.
Rustique (die Urige): Sie war wie die Kühe früher, ruhig,
aber mutig.
Rosace (die Rosette): Sie hatte eine rosettenförmige
Zeichnung.
Chicorée (Zichorie): Sie war dunkler als die anderen.

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Bichette (kleine Hindin): Sie war die Tochter von Biche.
Poilue (die Haarige): Sie hatte ein so kräftiges Fell,
dass wir sie viel öfter bürsten mussten als die ande-
ren.
Casquette (Mütze): Ihre Flecken am Kopf sahen aus, als
trüge sie eine Mütze.
Déhanchée (die Hüftlahme): Sie hinkte, wie viele Leute
hier, die ein Problem mit den Hüften haben. Bei Men-
schen kann man das heute operieren, bei Tieren weiß
ich es nicht.
Cabochue (der Dickkopf): Ein echtes Luder, aber ich
mag Kühe mit Charakter.
Bibiche (hübsche Hindin): die Tochter von Biche.
Perte de vue (So weit das Auge reicht): Dieses Kalb sah
man immer nur am Horizont, es lief stets so weit weg
wie möglich.
Dingue (die Versponnene): Sie hatte richtige Nerven­
krisen.
Rescapée (die Überlebende): Sieben Nachbarn haben
uns geholfen, dieses Kalb auf die Welt zu bringen.
Wir zogen an allen Ecken und Enden, ein paar Leute
an den Hörnern der Kuh, die anderen an den Hufen
des Kalbs. Einer meinte: »Die Kuh ist hin!« Ein ande-
rer: »Das Kalb ist hinüber.« Es dauerte Stunden. Die
Kuh nahm es uns nicht einmal mehr übel. Das Kalb
war ganz schwarz, als es zur Welt kam. Wir haben es
an den Beinen aufgehängt, damit es alles ausspucken
konnte, was es womöglich in sich hineingefressen hat-
te. Dann habe ich die Kuh gegen ein paar Fuder Heu
gelehnt und sie damit abgewischt. Wir sind alle mitein­
ander zum Essen gegangen. Obwohl ich dachte, dass
schon alles gut gehen würde, hatte ich keinen Appetit.
Die Freunde sind dann gegangen, und als ich vor dem

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Schlafengehen im Stall nach dem Rechten sah, lagen
sie beide da und atmeten kaum.
Nachts schoss ich dann plötzlich hoch und lief in den
Stall, aber da stand meine Kuh und fraß in aller Seelen­
ruhe ein wenig Heu. Im Halbdunkel sah es so aus, als
lächle sie mir zu.
Da habe ich mich dann zufrieden wieder hingelegt und
mir mit meinen großen Händen ungelenk die Tränen
aus den Augen gewischt.
Das Kälbchen hat uns später viel Milch gegeben. Wir
haben sie »die Überlebende« genannt.
Saucisse (das Würstchen): Sie war mager wie ein Würst-
chen. Eines Tages musste ich ihr eine Spritze geben.
Wir gingen auf die Weide hinaus, meine Schwestern
hielten sie, die eine bei den Hörnern, die andere am
Maul. Ich stach ihr mit der Nadel unters Fell, und sie
ging los wie eine Rakete. Die Schwestern rannten ihr
über die ganze Weide nach, weil sie dachten, ich ­hätte
noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu spritzen. Ich
lachte mir eins, als ich sie da hinter der wütenden Kuh
herlaufen sah.
Mauvaise (die Schlimme): Ach, was die mir an Tritten
verpasst hat! Ihre Kolleginnen hat sie immer mit den
Hörnern gestoßen. Aber als sie weg war, hat sie mir
wirklich sehr gefehlt.
La Vigie (der Ausguck): Ihre Mutter hatte sie in der Nähe
des Semaphor zur Welt gebracht, ohne Hilfe, ohne al-
les. Sie war meine Lieblingskuh, ein mieser Charakter,
aber treu. Sie hat viel Milch gegeben. Und man hatte
immer den Eindruck, als würde sie mit einem reden.
Ich hätte sie behalten sollen. Dann hätte sie hin und
wieder ein Kälbchen bekommen können.
Petit Bouc (kleiner Bock), Petits-Sabots (die ­Kleinhufige),

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Vieille Blanche (alte Weiße), Rouge (die Rote) …
Das waren alles meine Kühe, doch am 9. Oktober
2004 war Schluss.
Am 2. November 2003 habe ich zwei Kälber sowie
die Copine und die Biche verkauft, für 1204 Euro und
35 Cent.
Petit Bouc und Petits-Sabots kamen 2004 dran.
Die drei letzten, die Blanche, die Vigie und die, die
der Crampon so ähnelte, sind dann am 9. Oktober 2004
weggegangen. Ich habe nicht um den Preis gefeilscht
und wollte nicht wissen, um wie viel der Händler sie
weiterverkaufte. Deshalb habe ich auch keine Ahnung,
ob sie zu einem anderen Bauern oder in den Schlachthof
gekommen sind. Ein paar Tage vor dem Verkauf habe ich
ihnen aus meinen letzten Schnüren noch schöne Stricke
gedreht. Das war mein letztes Geschenk.
Als sie den Lastwagen sahen, sind sie ans andere Ende
der Weide geflüchtet. Ich musste sie selbst holen. Dann
habe ich mich im Haus versteckt, weil mir die Tränen über
die Wangen liefen. Die Vigie hat noch so lange gemuht.
Das werde ich nie vergessen.
Ich habe mich danach lange in meinem Zimmer zu-
rückgezogen. So kannte ich mich gar nicht. Ein paar
Monate lang hat es mich schier verrückt gemacht, wenn
ich die Tiere der anderen sah, wenn ich über das Fell der
Kälber strich. Ich bedaure jetzt, dass ich die Vigie nicht
behalten habe. Sie fehlt mir. Dann hätten wir heute noch
ein bisschen eigene Butter und Sahne. Seitdem ich die
Kühe verkauft habe, mag ich keine Sahne mehr.

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