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C.

George Boeree: Persönlichkeitstheorien  Carl Rogers

             

PHD C. George Boeree:


Persönlichkeitstheorien

CARL ROGERS
[ 1902 – 1987 ]

Originaltitel: Personality Theories

[ http://www.ship.edu/~cgboeree/perscontents.html ]

             

Copyright 1998, 2006 C. George Boeree.


Shippensburg University, USA.

deutsche Übersetzung:
D. Wieser M.A., 2006

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Copyright 1998, 2006 C. George Boeree.
C. George Boeree: Persönlichkeitstheorien  Carl Rogers

Index

Index 2
Biographie 3
Theorie 4
Details 5
Inkongruenz 6
Abwehr 7
Ein voll funktionierender Mensch 8
Therapie 9
Literatur 11

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Biographie

Carl Rogers ist am 8. Januar 1902 in Oak Park, einer Vorstadt von Chicago, Illinois, als viertes von
sechs Kindern geboren. Sein Vater war ein erfolgreicher Ingenieur, seine Mutter Hausfrau und
hingebungsvolle Christin. Seine schulische Ausbildung begann bereits mit der zweiten Klasse, da er
bereits lesen konnte, bevor er in den Kindergarten kam.

Als Carl 12 Jahre alt war, zog die Familie auf einen Bauernhof etwa 30 Meilen
westlich von Chicago, wo er die Zeit der Adoleszenz verbrachte. Aufgrund
strenger Erziehung sowie zahlreicher Pflichten entwickelte er sich zu einem
eher isolierten, unabhängigen und disziplinierten jungen Mann.

Später belegte er Kurse für Agrarwissenschaft an der University of Wisconsin.


Dann aber wechselte er das Fach und studierte Theologie, um Priester zu
werden. Während dieser Zeit wurde er als einer von zehn Studenten
ausgewählt, für sechs Monate nach Beijing zur World Student Christian Federation Conference zu
reisen. Darüber berichtet er, die dort gewonnenen neuen Erfahrungen hätten sein Denken derart
erweitert, dass er an einigen seiner grundlegenden religiösen Ansichten zu zweifeln begann.

Nach seinem Universitätsabschluss heiratete er Helen Elliot (gegen den Wunsch seiner Eltern), zog
nach New York City und besuchte dort das Union Theological Seminary, eine berühmte liberale
religiöse Einrichtung. Er besuchte ein von Studierenden organisiertes Seminar mit dem Titel "Why am
I entering the ministry?" (Warum will ich Priester werden?) und ich könnte an dieser Stelle darauf
hinweisen, dass man Seminare mit diesem Titel nur besuchen sollte, wenn man seine Karriere
komplett ändern will! Darüber erzählt Rogers, dass die meisten der Teilnehmenden sich geradezu aus
der religiösen Arbeit hinaus dachten.

Die Religion war also verloren und so gewann die Psychologie an Bedeutung: Rogers wechselte nun
zum Bereich der klinischen Psychologie an der Columbia University und erhielt 1931 den Doktortitel.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits seine Arbeit an der Rochester Society for the Prevention of
Cruelty to Children aufgenommen. Hier lernte er Otto Ranks Theorie und Therapietechniken kennen,
die ihn auf den Weg brachten, seinen eigenen Zugang zur Materie zu entwickeln.

1940 bot man ihm eine volle Professorenstelle an der Ohio State an. 1942 verfasste er sein erstes Buch
Die nicht-direktive Beratung. Counseling and Psychotherapy (Counseling and Psychotherapy).
Daraufhin richtete er 1945 ein Beratungszentrum an der University of Chicago ein. Während er dort
beschäftigt war, veröffentlichte er 1951 sein wichtigstes Werk Die klientenzentrierte
Gesprächspsychotherapie (?) (Client-Centered Therapy), in welchem er seine Theorie darlegt.

1957 kehrte er zu seiner Alma Mater, die University of Wisconsin, zurück, um dort zu lehren.
Unglücklicherweise war es eine konfliktreiche Zeit innerhalb des Psychology Departments und so
verlor Rogers alle Illusionen bezüglich höherer Bildung. Darum nahm er 1964 mit Freude eine
Forschungsstelle in La Jolla, Californien an.

Er therapierte, hielt Vorträge und schrieb bis zu seinem Tod 1987.

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Theorie

Rogers hat eine klinisch orientierte Theorie entwickelt, die auf jahrelanger Erfahrung im Umgang mit
seinen Klienten basiert. In dieser Hinsicht gibt es also zum Beispiel Parallelen zu Freud. Eine weitere
Gemeinsamkeit liegt in der ausgesprochen reichhaltigen und ausgereiften Theorie – sehr gut
durchdacht und logisch absolut wasserfest mit breiter Anwendungsmöglichkeit.

Eine Differenz besteht allerdings darin, dass die Menschen in Rogers Sicht grundlegend gut oder
gesund sind – oder doch zumindest nicht böse oder krank. Anders ausgedrückt: Er betrachtet
psychische Gesundheit als den normalen Werdegang des Lebens, während psychische Erkrankungen,
Kriminalität und andere menschliche Schwierigkeiten als eine Störung dieser natürlichen
Entwicklungsneigung angesehen werden. Anders als Freuds Theorie ist Rogers Theorie zudem eine
relativ einfache.

Anders als bei Freud ist seine Theorie außerdem auch geradezu elegant! Die gesamte Theorie ist auf
einer einzigen "Lebenskraft" (force of life)" aufgebaut, die er als die Neigung zur Verwirklichung
(actualizing tendency) bezeichnet. Man kann sie als die dem Menschen eigene Motivation definieren,
die eigenen Potentiale zu einem größtmöglichen Ausmaß auszubauen – eine Motivation, die jeder
Lebensform eigen ist. Wir sprechen hier also nicht nur vom Überleben: Rogers geht davon aus, dass
alle Lebewesen danach streben, aus ihrer Existenz das Beste herauszuholen. Gelingt es ihnen nicht,
liegt es nicht daran, dass ihnen das Sehnen danach fehlt.

Damit vereint Rogers in einem einzigen großen Bedürfnis oder einer einzigen Motivation all die
anderen Motive, von denen die übrigen Theoretiker sprechen. Er fragt: Warum brauchen wir Luft und
Wasser und Nahrung? Warum suchen wir Sicherheit, Liebe und das Gefühl der eigenen Kompetenz?
Warum suchen wir eigentlich nach neuen Medikamenten, erfinden neue Energiequellen oder
erschaffen neue Kunstwerke? Weil, so seine Antwort, es in unserer Natur als lebendige Wesen liegt,
das Beste zu tun, was wir können!

Wir müssen hier darauf achten, dass Rogers die Bezeichnung anders als Maslow auf alle lebendigen
Wesen bezieht. Einige seiner ersten Beispiele waren zum Beispiel Seetang und Pilze! Lassen wir und
das einmal durch den Kopf gehen: Ist es nicht erstaunlich, wie manche Pflanzen das Straßenpflaster
des Gehwegs besiedeln, oder wie kleine Baumsetzlinge sogar Gestein durchbrechen, oder wie manche
Tierarten in der Wüste oder dem nördlichen Eis überleben können?

Er wandte die Idee auch auf Ökosysteme an und stellte fest, dass ein Ökosystem wie etwa ein Wald in
all seiner Komplexität ein weit größeres Verwirklichungsspotential hat, als ein simpler aufgebautes
Ökosystem wie etwa ein Getreidefeld. Würde in einem Wald eine Käferart aussterben, werden andere
Lebewesen die so entstandene Lücke wahrscheinlich ausfüllen; andererseits aber führt ein Befall mit
Getreideschädlingen dazu, dass ein ganzes Kornfeld zunichte gemacht wird. Ähnliches gilt für uns als
Individuen: Leben wir so, wie wir sollten, entwickeln wir uns zu zunehmender Komplexität, wie eben
ein Wald, und so bleiben wir angesichts der größeren und kleineren Katastrophen des Lebens flexibel.

Während die Menschen nun ihre Potentiale aktualisierten, haben sie Gesellschaft und Kultur
erschaffen. An sich ist das noch kein Problem: Wir sind soziale Wesen, es entspricht unserer Natur.
Doch als wir die Kultur erschufen, entwickelte sie ein Eigenleben. Statt nah an unserer menschlichen
Natur orientiert zu bleiben, entwickelte sich die Kultur zu einer eigenständigen Kraft. Es kann so weit
kommen, dass eine Kultur, die unserem Bedürfnis nach Verwirklichung widerspricht, auf lange Sicht
aussterben wird, und dann werden wir sehr wahrscheinlich zusammen mit dieser Kultur untergehen.

Das darf nicht missverstanden werden: Kultur und Gesellschaft sind nichts Böses!

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Es ist vielmehr ähnlich wie bei den Paradiesvögeln in Papua-New Guinea. Das farbenprächtige
Federkleid der Männchen dient offenbar dazu, Gefahr von den Weibchen und dem Nachwuchs
abzulenken. Die natürliche Selektion hat bei den männlichen Tieren immer ausladendere
Schwanzfedern hervorgebracht, bis einige von ihnen kaum noch flugfähig waren. An diesem Punkt ist
das prächtige Federkleid weder für die Männchen noch für die Spezies von Nutzen. Dem gemäß mag
es denkbar sein, dass unsere komplexen Gesellschaften und Kulturen, die unglaublichen Technologien
– so sehr sie uns auch beim Überlebenskampf dienlich waren – sich eines Tages eher schädlich
auswirken und uns sogar zerstören könnten.

Details

Rogers erklärt, dass Organismen wissen, was gut für sie ist. Die Evolution hat uns mit
Sinneswahrnehmung ausgestattet, mit der Fähigkeit, notwendige Unterscheidungen vorzunehmen:
Wenn wir hungrig sind, finden wir Nahrung – nicht bloß irgendein Nahrungsmittel, sondern etwas, das
gut schmeckt. Denn Nahrung, die nicht schmeckt, ist wahrscheinlich verdorben, vergammelt oder
ungesund. Unsere evolutionären Lernprozesse haben festgelegt, was gut und was nicht gut schmeckt!
Dies wird als "organismic valuing" bezeichnet.

Zu den vielen Dingen, die wir schätzen,


gehört auch positive Zuwendung
(positive regard), es ist Rogers
allgemeine Bezeichnung für Dinge wie
Liebe, Zuneigung, Aufmerksamkeit und
so weiter. Natürlich brauchen Babys
Liebe und Zuwendung – ohne würden sie
sogar mit einiger Wahrscheinlichkeit
sterben.

Ein weiterer Punkt – vielleicht ist dies


nur dem Menschen eigen – ist, dass wir
positives Selbstwertgefühl (positive self-
regard) schätzen, also ein positives Bild
von uns selbst. Dies erreichen wir
dadurch, dass wir die positive
Einschätzung erfahren, die uns andere
Menschen entgegen bringen, während wir
aufwachsen. Ohne diese Erfahrung fühlen
wir uns klein und hilflos – so können wir
nicht all das werden, was wir sein könnten!

Wie Maslow glaubt auch Rogers, dass Tiere von sich aus das essen und trinken würden, was gut für
sie ist, und Nahrung in ausgewogenen Portionen aufnehmen. Auch Babys scheinen das zu verlangen
und zu mögen, was gut für sie ist. Doch irgendwo haben wir in unserer Menschheitsentwicklung eine
Umwelt für uns geschaffen, die sich wesentlich von der Umwelt unterscheidet, aus der wir
hervorgegangen sind. In dieser neuen Umwelt gibt es raffinierten Zucker, Mehl, Butter, Schokolade
und so weiter – lauter Dinge, die unsere Vorfahren auf dem afrikanischen Kontinent nie gekannt
haben. Diese Nahrungsmittel haben einen Geschmack, auf den unser organismic valuing anspringt —
dennoch dienen sie nicht besonders gut dazu, unsere Verwirklichung voranzutreiben. Während vieler

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Millionen Jahre werden wir uns vielleicht dahin entwickeln, Brokkoli viel leckerer zu finden, als
Käsekuchen – doch dann wird es für Sie und mich bereits zu spät sein.

Unsere Gesellschaft führt uns auch im Hinblick auf Wertvorstellungen (conditions of worth) in die
Irre. Während wir aufwachsen, geben uns Eltern, Lehrer, Gleichaltrige, Medien und andere nur dann
das, was wir brauchen, wenn wir uns als "würdig" erweisen, also nicht einfach, weil wir es brauchen.
Wir bekommen Nachtisch, wenn wir unser Gemüse aufgegessen haben, und was noch wichtiger ist:
wir erhalten Liebe und Zuneigung nur dann, wenn wir uns "benehmen"!

Diese positive Zuwendung zu bestimmten Bedingungen, bezeichnet Rogers als bedingte positive
Zuwendung (conditional positive regard). Weil wir diese positive Zuwendung in der Tat brauchen,
sind die Bedingungen sehr mächtig, wir verbiegen uns in eine Form, die nicht von organismic valuing
oder unserer Neigung zur Verwirklichung geprägt ist, sondern von einer Gesellschaft, der es in
Wirklichkeit gar nicht unbedingt nur im unser Bestes geht. Ein "lieber Junge" oder ein "liebes
Mädchen" ist nicht unbedingt ein gesundes oder glückliches Kind!

Mit der Zeit führt diese "Konditionierung" dazu, dass wir auch ein bedingtes positive
Selbstwertgefühl (conditional positive self-regard) erlangen. Wir mögen uns also nur noch, wenn wir
den Standards entsprechen, die uns andere beigebracht haben, statt einfach nur, weil wir unsere
Potentiale verwirklichen. Und da diese Standards aufgestellt wurden, ohne das Individuum dabei im
Blick zu haben, sind wir meist gar nicht in der Lage, diesen Standards zu entsprechen, was bedeutet,
dass wir den Sinn für unseren Selbstwert nicht mehr aufrecht erhalten können.

Inkongruenz

Der Aspekt unseres Wesens, welcher in der Neigung


zur Aktualisierung begründet liegt, dem organismic
valuing folgt und positive Zuneigung und positiven
Selbstwert erhält, wird bei Rogers als das wahres
Selbst (real self) bezeichnet. Das ist das "Du", das Sie
sein werden, wenn alles gut geht.

Andererseits sind wir in dem Maße, in dem unsere


Gesellschaft von der Neigung zur Verwirklichung
abweicht, gezwungen, mit Wertvorstellungen zu leben,
die dem organismic valuing nicht entsprechen, damit
erhalten wir nur bedingte positive Zuwendung und
entwickeln infolge dessen ein ideales Selbst. Mit Ideal
meint Rogers etwas, das nicht real ist, etwas, das
immer außerhalb unserer Reichweite liegt, der
Standard, dem wir nicht entsprechen können.

Diese Lücke zwischen realem Selbst und idealem


Selbst, dem "ich bin" und dem "ich sollte sein" bezeichnet man als Inkongruenz. Je größer diese
Lücke, desto mehr Inkongruenz. Je mehr Inkongruenz, desto mehr Leiden. Im Grunde ist Inkongruenz
auch wesentlich das, was Rogers mit Neurose meint: mit dem eigenen Selbst nicht mehr im Einklang
zu sein. Der Gedanke ist uns aus den Arbeiten von Karen Horney bereits vertraut!

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Abwehr

Eine Situation, in der eine Inkongruenz zwischen Ihrem Selbstbild und dem, wie Sie sich gerade selbst
empfinden, besteht (also zwischen idealem und realem Selbst), ist bedrohlich. Zum Beispiel dann,
wenn Ihnen beigebracht wurde, dass Sie sich wertlos fühlen, wenn Sie keine Eins in einem Test haben,
obwohl Sie gar kein Superschüler sind, dann werden Situationen wie Klassenarbeiten diese
Inkongruenz hervortreten lassen – Klassenarbeiten wirken dann bedrohlich auf Sie.

Wenn Sie einer bedrohlichen Situation entgegensehen, werden Sie Angst empfinden. Angst ist ein
Signal, das darauf hinweist, dass Ärger auf Sie zukommt, dass Sie die bevorstehende Situation
vermeiden sollten! Eine Möglichkeit zu entkommen besteht natürlich darin, dass Sie die Beine in die
Hand nehmen und losrennen. Da dergleichen im normalen Leben aber nicht wirklich eine Option ist,
laufen wir nicht physisch davon, sondern psychisch, indem wir nämlich Abwehrmechanismen
einsetzen.

Rogers Konzept der Abwehrmechanismen ist Freuds Theorie sehr ähnlich. Allerdings betrachtet
Rogers alles aus einer kontinuierlichen Sicht, indem er auch Erinnerungen und Impulse zu den
Wahrnehmungen zählt. Er nennt nur zwei Abwehrmechanismen: Verneinung (denial) und verzerrte
Wahrnehmung (perceptual distortion).

Verneinung meint dasselbe wie die Verneinung in Freuds System: Sie blocken die bedrohliche
Situation vollständig ab. Ein Beispiel: Jemand, der nie seine Klausur abholt oder sich nie nach seinem
Testergebnis erkundigt – so dass er sich nicht mit schlechten Ergebnissen konfrontieren muss
(zumindest nicht jetzt!). Bei Rogers schließt Verneinung auch das ein, was Freud als Repression
bezeichnet: Indem man eine Erinnerung oder einen Impuls nicht ins Bewusstsein vordringen lässt –
sich weigert, wahrzunehmen – mag man in der Lage sein, eine bedrohliche Situation zu vermeiden
(wiederum: nur vorübergehend!).

Verzerrte Wahrnehmung (perceptual distortion) bedeutet, dass man die Situation so uminterpretiert,
dass sie weniger bedrohlich erscheint. Der Mechanismus entspricht in etwa Freuds Konzept der
Rationalisierung. Ein Schüler, der sich von Tests und Noten bedroht sieht, kann zum Beispiel den
Professor bezichtigen, schlecht unterrichtet oder die Fragen hinterhältig formuliert zu haben. Die
Tatsache, dass es in der Tat Professoren gibt, die so vorgehen, trägt dazu bei, dass die Verzerrung
noch besser funktioniert: Wenn es wahr sein könnte, kann es doch sein, dass es wirklich so war! Die
Verzerrung kann auch offensichtlicher auf die Wahrnehmung bezogen sein, wenn jemand zum
Beispiel sein Testergebnis anschaut und eine bessere Note sieht, als die tatsächlich erhaltene.

Jedes Mal, wenn jemand einen Abwehrmechanismus einsetzt, entsteht eine größere Kluft zwischen
realem und idealem Selbst. Die Inkongruenz intensiviert sich fortlaufend, die Menschen finden sich in
immer mehr bedrohlichen Situationen wieder, entwickeln immer höhere Angstlevel, setzen noch mehr
Abwehrmechanismen ein... So entsteht ein schlimmer Kreislauf, aus dem man nicht mehr heraus
gelangt, zumindest nicht ohne Hilfe.

Rogers hat des weiteren eine partielle Erklärung für Psychosen entwickelt: Ein Psychose entsteht,
wenn die Abwehrmechanismen eines Menschen überwältigenden Einwirkungen ausgesetzt sind, so
dass ihr Empfinden des Selbst in kleine unverbundene Stücke "zerschlagen" wird. Das Verhalten
psychotischer Menschen ist kaum konsistent. Wir nehmen wahr, dass sie Episoden bizarren Verhaltens
(psychotic breaks) an den Tag legen. Ihre Worte enthalten kaum noch Sinnvolles. Ihre Empfindungen
erscheinen uns unangemessen. Sie verlieren gegebenenfalls die Fähigkeit, zwischen Selbst und Nicht-
Selbst zu unterscheiden und werden desorientiert und passiv.

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Ein voll funktionierender Mensch

Genau wie Maslow interessiert sich Rogers ebenso sehr für die gesunden Menschen. Dazu verwendet
er den Begriff "voll funktionierend" (fully-functioning), worunter er die folgenden Eigenschaften
fasst:

1. Offenheit für Erfahrungen (openness to experience).


Dies ist das Gegenkonzept zur Defensivität. Man versteht darunter die akkurate Wahrnehmung der
eigenen Erfahrungen in der Welt, eingeschlossen der eigenen Empfindungen. Es umfasst zudem die
Fähigkeit, die Wirklichkeit zu akzeptieren, wieder eingeschlossen der eigenen Empfindungen. Die
Empfindungen spielen deshalb eine so bedeutende Rolle, weil sie organismic values übermitteln.
Wenn man seinen Empfindungen gegenüber nicht offen sein kann, ist man auch nicht offen für
Verwirklichung. Der schwierige Teil besteht natürlich darin, die wirklichen Gefühle von den Ängsten
zu unterscheiden, welche durch Wertbedingungen hervorgerufen werden.

2. Existentielles Leben. Das Leben im Hier und Jetzt.


Rogers besteht darauf, dass wir nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft leben – die
Vergangenheit ist vergangen und die Zukunft noch nicht vorhanden! Die Gegenwart ist die einzige
Realität, die wir haben. Dennoch soll das nicht heißen, dass wir uns nicht an die Vergangenheit
erinnern und von ihr lernen sollen. Es bedeutet auch nicht, dass wir unsere Zukunft nicht planen oder
Tagträume haben sollten. Wichtig ist, diese Dinge als das zu erkennen, was sie sind: Erinnerungen und
Träume, die wir hier in der Gegenwart durchleben.

3. Organismisches Vertrauen (?) (organismic trusting).


Wir sollten es uns erlauben, uns vom organismischen Bewertungsprozess leiten zu lassen. Wir sollten
uns selbst vertrauen, tun, was sich richtig anfühlt, was natürlicherweise zustande kommt. Wie wir
bereits gesehen haben, ist dies ein grundlegender Punkt in Rogers Theorie. Die Menschen sagen und
tun, was ihnen natürlich erscheint – wenn Sie sadistisch veranlagt sind, verletzen Sie andere
Menschen; sind Sie masochistisch veranlagt, verletzen Sie sich selbst; machen Drogen oder Alkohol
Sie glücklich, konsumieren sie diese Stoffe; sind Sie depressiv, bringen Sie sich um.... Das klingt nicht
nach einem hilfreichen Rat. Insbesondere den 60er und 70er Jahren wird diese Einstellung angelastet.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass Rogers das Vertrauen in das reale Selbst meint, und man kann
nur erfahren, was uns das reale Selbst zu sagen hat, wenn man dafür offen ist, Erfahrungen
wahrzunehmen und existentiell zu leben! Anders ausgedrückt geht das organismische Vertrauen davon
aus, dass man mit der eigenen Neigung zur Verwirklichung in Kontakt steht.

4. Freiheit der Erfahrung (experiential freedom).


Rogers ist der Auffassung, es sei irrelevant, ob Menschen einen freien Willen haben. Wir gehen davon
aus, dass wir einen freien Willen haben. Dennoch heißt das nicht, dass wir tun können, was wir
wollen: Wir sind von einem deterministischen Universum umgeben, so sehr ich also auch mit den
Armen flattere, werde ich dennoch nicht fliegen können wie Supermann. Das bedeutet, wir fühlen uns
frei, wenn uns Auswahlmöglichkeiten offen stehen. Rogers sagt, die voll funktionierende Person
erkenne dieses Gefühl der Freiheit an und übernehme für ihre Wahl Verantwortung.

5. Kreativität.
Fühlt man sich frei und verantwortlich, verhält man sich entsprechend, man nimmt an der Welt teil.
Eine voll funktionierende Person, verbunden mit Verwirklichung, wird sich natürlich verpflichtet
fühlen, zur Verwirklichung anderer und sogar zum Leben an sich beizutragen. Etwa durch Kreativität
im Bereich der Künste und Wissenschaften, durch soziales Engagement und elterliche Liebe, oder

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schlicht indem man im Job sein Möglichstes tut. So wie Rogers den Begriff versteht, liegt Kreativität
dem Konzept von Eriksons Generativität sehr nahe.

Therapie

Carl Rogers ist am besten für seine Beiträge zur Therapie bekannt. Während deren Entwicklung hat
sein Theoriekonzept verschiedene Namensänderungen durchlaufen: Ursprünglich nannte er es non-
direktiv, weil er der Auffassung war, der Therapeut solle den Klienten nicht führen, sondern vielmehr
für den Klienten da sein, während der Klient selbst den Fortschritt der Therapie bestimmt. Während er
weitere Erfahrungen sammelte, erkannte er, dass er trotz der "non-direktiven" Vorgehensweise seine
Klienten dennoch und gerade wegen des "non-direktiven" Zugangs beeinflusste! Anders ausgedrückt,
orientieren sich die Klienten am Therapeuten und lassen sich auch dann noch von ihm leiten, wenn der
Therapeut sich bemüht, nicht die Führung zu übernehmen.

Anschließend änderte er die Bezeichnung um in "klientenzentriert". Er war nach wie vor der
Auffassung, die Klienten sollten selbst sagen, was falsch ist, selbst Wege zur Verbesserung der
Situation finden und den Abschluss der Therapie festlegen – seine Therapie war nach wie vor sehr
"klientenzentriert", obgleich er die Bedeutung des Therapeuten anerkannte. Leider empfanden andere
Therapeuten, dass die Bezeichnung seiner Therapie für sie selbst ein Schlag ins Gesicht war: Sind
etwa nicht alle Therapien "klientenzentriert"?

Heute werden die Begriffe non-direktiv und klientenzentriert nach wie vor verwendet, die meisten
Menschen beziehen sich hier auf Rogers Therapie. Ein Ausdruck, den Rogers zur Beschreibung seiner
Therapie verwendet hat, ist "unterstützend, nicht rekonstruktiv", dazu greift er auf eine Analogie
zurück: Versucht man einem Kind das Fahrradfahren beizubringen, so kann man dem Kind nicht
sagen, wie es geht. Kinder müssen es selbst herausfinden. Zudem kann man ein Kind nicht die ganze
Zeit festhalten. Es kommt der Punkt, an dem man das Kind alleine fahren lassen muss. Wenn es
hinfällt, fällt es hin, doch hält man es weiterhin fest, wird es nie Fahrradfahren lernen.

Gleiches gilt für die Therapie. Macht man es sich zum Ziel, den Klienten Unabhängigkeit (Autonomie,
verantwortliche Freiheit) zu ermöglichen, so werden die Klienten dieses Ziel nicht erreichen, solange
sie noch vom Therapeuten abhängig sind. Sie müssen vielmehr ihre Einsichten selbst umsetzen, und
zwar im wirklichen Leben jenseits der Praxisräume des Therapeuten! Eine autoritäre
Herangehensweise mag zunächst den Eindruck großer Fortschritte erwecken, doch letztlich entsteht in
dieser Interaktion nur eine abhängige Person.

Es gibt nur eine Technik, für die Therapeuten, die Rogers Methode anwenden, bekannt sind:
Reflexion. Reflexion bedeutet, die emotionale Kommunikation zu spiegeln: Wenn der Klient sagt:
"ich fühle mich wie Scheiße!" so kann der Therapeut dem Klienten diese Aussage spiegeln, indem er
etwas sagt wie "Das Leben macht dich fertig, ja?" So teilt der Therapeut dem Klienten mit, dass er
wirklich zuhört und daran interessiert ist, zu verstehen.

Zudem gibt der Therapeut ein Feedback darüber, was der Klient ihm mitteilt. Oftmals ist es so, dass
Menschen etwas nur sagen, weil es sich gut anfühlt. Es kam zum Beispiel einmal eine Frau zu mir und
sagte: "Ich hasse Männer!" Ich reflektierte, indem ich fragte "Sie hassen alle Männer?" Naja, sagte sie,
vielleicht nicht alle – sie hasste ihren Vater oder ihren Bruder nicht, auch mich nicht. Auch was die
Männer betraf, die sie "hasste", so fand sie doch heraus, dass dieser starke Begriff auf die Mehrzahl
nicht zutraf. Letztlich gelangte sie zu der Ansicht, dass sie vielen Männern nicht traute und
befürchtete, von ihnen so verletzt zu werden, wie es ihr bei einem bestimmten Mann geschehen war.

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Doch mit der Reflexion muss man vorsichtig sein. Viele Therapeuten am Beginn ihrer Karriere
verwenden die Technik ohne nachzudenken (oder zu fühlen), indem sie dauernd das wiederholen, was
ein Klient sagt. Damit klingen sie wie Papageien mit einem Abschluss in Psychologie! Dabei gehen
sie davon aus, dass die Klienten es nicht bemerken, obwohl dies bereits ein Stereotyp für Therapeuten
geworden ist, die nach Rogers Prinzip arbeiten – so wie Sex und Mama ein Stereotyp für die
Freudsche Therapie geworden sind. Reflexion muss aus dem Herzen kommen – sie muss authentisch
und kongruent sein.

Damit sind wir bei den Voraussetzungen angelangt, die ein Therapeut Rogers zufolge leisten muss.
Um effektiv arbeiten zu können, muss ein Therapeut Rogers zur Folge drei besondere Qualitäten
aufweisen:

1. Kongruenz – Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit dem Klienten gegenüber.


2. Empathie – die Fähigkeit zu fühlen, was der Klient fühlt.
3. Respekt – Akzeptanz, unbedingte positive Einstellung gegenüber dem Klienten.

Er sagt, diese Qualitäten seien "notwendig und hinreichend": Zeigt der Therapeut diese drei
Qualitäten, wird er Fortschritte machen, selbst wenn keine weiteren speziellen "Techniken" mehr zum
Einsatz kommen. Zeigt der Therapeut diese drei Eigenschaften nicht, wird der Klient nur minimale
Fortschritte machen, ganz gleich wie viele "Techniken" eingesetzt werden. Und das ist nun wirklich
eine hohe Anforderung an Therapeuten! Sie sind schließlich auch nur Menschen und oft genug noch
etwas "menschlicher" (oder: ungewöhnlicher) als die meisten. Rogers macht ein kleines Zugeständnis
und fügt hinzu, dass Therapeuten diese Eigenschaften in der Therapiebeziehung zeigen müssen.
Anders gesagt, sobald der Therapeut das Büro verlässt, kann er so "menschlich" sein, wie alle anderen
auch.

Obgleich die vorausgesetzten Eigenschaften einen hohen Anspruch darstellen, stimme ich mit Rogers
überein. Forschungen zeigen, dass Techniken weit weniger ausmachen, als die Persönlichkeit des
Therapeuten, und dass Therapeuten zumindest in gewissem Maße "geboren" und nicht "gemacht"
werden.

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Literatur

Rogers war ein hervorragender Autor, es macht Spaß, seine Bücher zu lesen.

Die umfassendste Darstellung seiner Theorie ist


Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (?) (Client-centered Therapy), 1951

Zwei Aufsatzsammlungen sind sehr interessant:


Entwicklung der Persönlichkeit (On Becoming a Person), 1961
und
A Way of Being, 1980.

Und dann gibt es noch eine schöne Sammlung seiner Arbeiten in The Carl Rogers Reader,
herausgegeben von Kirschenbaum und Henderson (1989).

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