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Feudalgesellschaft
Feudalgesellschaft
Feudalgesellschaft
(2,154 words)
In den 1960er und 1970er Jahren entfaltete sich eine breite Forschungslandschaft über die
Abscha fung des Feudalismus, v. a. über die abolition de la féodalité, welche die franz.
Nationalversammlung in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1789 so theatralisch-dramatisch in
Szene gesetzt hatte [3]; diese bedeutete für Europa trotz mancher Halbheiten, die erst in den
radikaleren Revolutionsphasen beseitigt wurden, einen politischen Paukenschlag. Auch wenn
mit dem Schlachtruf von der Au ebung des Feudalismus alles gemeint war, was die
Eigentümlichkeit der Gesellschaft des Ancien Régime ausmachte, wurde mit der
Revolutionierung der Rechtsverhältnisse begonnen, diese aber mit der Au ebung bzw.
zunächst Selbstaufgabe ständischer Privilegien kombiniert [9].
Wolfgang Schmale
Die F. des frühnzl. Typs bildete bei aller regionalen Di ferenzierung ein komplexes System der
ökonomischen Ausnutzung rechtlicher Normen. Kern jeder frühnzl. F. in Europa war die
Grundherrschaft, in der die Fiktion einer Beziehung zwischen Lehnsherrn und Vasallen nach
ma. Vorbild aufrecht erhalten wurde; diese hatte in sehr unterschiedlichem Ausmaß an der
Ausübung der souveränen Gewalt teil. Der Lehnsherr bot Schutz und Schirm, der Vasall Treue
und Gefolgschaft, die sich in der Regel in ökonomischen Leistungen ausdrückten (
Lehnswesen). Dazu wurde das dominium (wörtlich »Herrschaft über Grund und Boden«)
geteilt: Der sog. Grundholde erhielt das dominium utile (das rechtlich geschützte
Nutzungsrecht) und der Grundherr das dominium directum (das eigentliche Eigentumsrecht).
Auch der Bauer war Vasall.
Juristisch war das System somit in der Nz. nicht exklusiv als Beziehung zwischen Fürst oder
Monarch und seinem Adel angelegt, sondern es wurde auf die gesamte Gesellschaft
übertragen. Nicht einmal das freie Stadtbürgertum befand sich wirklich außerhalb dieses
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Systems; ein oder mehrere Grundherren existierten immer – und wenn es die Stadt selbst war.
Bürger konnten durch die Entrichtung spezieller Abgaben problemlos Grundherren werden,
unter Umständen sogar Gerichtsherren; auch für Bauern, denen ein Aufstieg in der
sozioökonomischen Hierarchie gelang, bestand die Möglichkeit, sich als Grundherren zu
etablieren. In Frankreich geschah dies noch im 16. Jh. gelegentlich.
Zugleich wurde die Fiktion von der Lehnspyramide aufrecht erhalten. Der König galt als
oberster Lehnsherr. Das war er in der Tat auch juristisch, und in Einzelfällen machte er noch in
der Frühen Nz. von seinem Recht Gebrauch, einen unbotmäßigen Adeligen seines Lehnsgutes
zu entsetzen und es einzuziehen. In Österreich geschah dies z. B. im Zuge der
Gegenreformation (Katholische Reform) gegenüber protest. Adeligen. Im Großen und Ganzen
handelte es sich aber bei der Weitergabe des Lehns in der Familie oder beim Verkauf – ganz
gleich, auf welcher Ebene der Pyramide – um einen normierten Rechtsakt, der bestimmten
Vorschriften zu folgen hatte und routinemäßig ablief. Der genaue Vorgang variierte von
Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet.
In der Alltagspraxis zeigte sich die Fiktion von Schutz und Schild gegen Treue und Gefolgschaft
ökonomisch pervertiert. Die Masse der Bauern musste Geld- und/oder Arbeitsleistungen an
den Grundherrn erbringen, ohne daraus spezielle Ansprüche ableiten zu können (Leistungen,
bäuerliche). Freilich sicherte dies juristisch den bäuerlichen Besitz (d. h. das bäuerliche Lehn) –
wenn es tatsächlich noch gegeben war. Die Feststellung, welche grundherrlichen Rechte legal
verlangt werden konnten und welche nicht, welche usurpiert oder erpresst waren, zog z. T.
Jahrhunderte andauernde Rechts- und Gewaltkon ikte zwischen Bauern und Grundherren
nach sich (Lehnsrecht).
Das Justiz-Wesen spielte infolgedessen bei der De nition der F. durch die Franz. Revolution
eine zentrale Rolle, galt es doch als eine Art Geld- oder Mehrwertvernichtungsmaschine, in der
die Bauern das verloren, was sie nicht an die Grundherren abgeben mussten. Da die
Gerichtshierarchie in der Regel in der Grundherrschaft begann, bevor auf der Berufungsebene
die königliche Gerichtsbarkeit gri f, galt das Feudalsystem als System doppelter Ausbeutung:
zuerst direkt ökonomisch durch die Feudalrechte, sodann durch die Höhe der anfallenden
Gerichtssporteln usw. – eine Spielart frühnzl. Ausbeutung. Übertro fen wurde das System noch
durch die Einhebung des Kirchenzehnten – einer Feudalabgabe, die landwirtschaftliche
Innovationen bremste, da die Kirche versuchte, den Zehnten auf neue Anbauprodukte oder die
eigentlich vom Zehnten ausgenommenen kleinen Gärten unmittelbar am Haus auszudehnen.
Das System der ökonomischen Ausbeutung wurde mit der gesellschaftlichen Verachtung des
untersten Standes korreliert (vgl. Abb. 2).
Wie die Erforschung bäuerlichen Widerstands der Frühen Nz. zeigt, war die landesherrliche
oder königliche Gerichtsbarkeit durchaus in der Lage und gewillt, die Bauern gegen die
Grundherren zu unterstützen, da dem Landesherrn wirtschaftlich schwache Bauern als
Untertanen nichts nutzten. Selbst rechtsstaatliche Aspekte wurden berücksichtigt, die man in
Deutschland als Bauernrecht bezeichnete [12]. Ein solches Bauernschutzrecht existierte in den
/
meisten europ. Ländern, in denen die F. in der Frühen Nz.
fortbestand.
Die F. als einer prinzipiell durch Unfreiheit charakterisierten Gesellschaft bemisst sich auch
nach dem Ausmaß ihrer direktesten Form, der Leibeigenschaft. In Frankreich existierte diese
schon seit dem ausgehenden MA nicht mehr; gewisse Überreste hatten sich nur im Herzogtum
Burgund und der Franche-Comté (Freigrafschaft Burgund) erhalten. Entsprechend heftig war
die vorrevolutionäre Polemik gegen diese »Unmenschlichkeiten« – eine Polemik, welche die
Abscha fung des Feudalwesens zu beschleunigen half. Anders lag der Fall in Deutschland, wo
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verschiedene Formen der Leibeigenschaft noch weitverbreitet waren und zumeist erst um 1848
ganz abgescha ft wurden (Märzrevolution 1848/49) [1]. Im Europa östl. der Elbe etablierte sich
seit der Frühen Nz. zunehmend der Typ der Gutsherrschaftsgesellschaft. Die Gutsherrschaft
fächerte sich in mehrere Spielarten auf, die bis hin zur nahezu totalen Ausbeutung z. B. in
Russland reichten [10] (Schollenp ichtigkeit; Kholopen; Osteuropäische Wirtschaft).
Die Forschung ist sich einig, dass die sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen
Systemtransformationen der Nz. den Begri f der F. wenig brauchbar erscheinen lassen, um den
vorherrschenden Gesellschaftstypus Alteuropas zu beschreiben. In England war die
Transformation von Bauern zu ländlichen Lohnarbeitern, die auf den ausgedehnten Domänen
des Adels beschäftigt wurden, sehr weit fortgeschritten; auf dem Festland herrschte hingegen
eine zumeist unübersichtliche Gemengelage vom wohlhabenden selbständigen Landwirt bis
zum Tagelöhner, in unterschiedlichen Rechtsverhältnissen.
In Frankreich wie in Mittelitalien verbreitete sich das Institut der sog. Halbpacht; in
Nordfrankreich z. B. konnten sich fermiers (»Pächter«) etablieren, welche die gesamte
Grundherrschaft pachteten; sie zahlten eine xe Summe an den Grundherrn und versuchten,
angesichts der grundherrlichen Eigendomäne, der Fronp ichten der Grundholden und der
Feudalrechte erfolgreich zu wirtschaften. Das lässt sich einerseits als Modi zierung der F.,
andererseits aber auch als deren Festigung durch ökonomisch und juristisch e fektive
Instrumente interpretieren. Insbes. für Frankreich wurde die These vertreten, dass es in den
Jahrzehnten vor der Revolution zu einer feudalen Reaktion (franz. réaction seigneuriale)
gekommen sei, welche die Ausbeutung der Bauern durch Feudalrechtstitel auf die Spitze trieb.
Als allgemeine Tendenz konnte dies jedoch nicht nachgewiesen werden [11].
Wolfgang Schmale
Der Adel konnte in manchen Regionen Europas seine gesellschaftliche Vorrangstellung unter
Bewahrung des Abhängigkeitssystems gegenüber der ländlichen Bevölkerung behaupten, so
etwa in Preußen ( Junker) Deshalb wird teilweise bis ins 20. Jh. hinein von F. gesprochen. Die
o zielle Abscha fung des Feudalwesens und seiner Gesellschaftsstruktur durch die
Französische Revolution bedeutete für Frankreich das faktische Ende der F. und für Europa den
symbolischen Anfang ihres Niedergangs [5]. In einigen Ländern wurde die Au ebung des
Feudalwesens per Gesetz schon vor der Revolution eingeleitet (so in Savoyen 1771), d. h. die
Grundholden erhielten die Möglichkeit, die Feudalrechte nanziell endgültig abzulösen; die
Grundherren konnten dies nicht verweigern.
In den beiden Niederlanden und in Italien wurden unter direktem Ein uss der Franz.
Revolution entscheidende Schritte zur Abscha fung des Feudalwesens gesetzt. In Deutschland
erhöhte die Franz. Revolution den Reformdruck, wie beispielsweise in Preußen, doch erst um
1848 war die F. juristisch gesehen Vergangenheit; mental bestand sie jedoch weiterhin in den
Köpfen aller Schichten.
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1848 muss ebenfalls als Orientierungsjahr für die juristische Abscha fung der F. in weiten Teilen
der Habsburgermonarchie sowie Ostmittel- und Südosteuropas gelten. In Schweden und
Dänemark wurden im 18. Jh. Reformen eingeleitet, die bis zur Mitte des 19. Jh.s zu einer
deutlichen Umverteilung des Landbesitzes zugunsten der Bauern führten; in Norwegen konnte
überhaupt kaum von einem feudalen System gesprochen werden. In Spanien gelang 1837 nach
einigem gesetzgeberischen Hin und Her die Abscha fung; dies führte aber in der Praxis zur
schleichenden Enteignung vieler Bauern. In Portugal entzog man mit den Gesetzen von 1832
und 1846 der F. ihre Grundlagen. In Russland wurde die Leibeigenschaft 1861 abgescha ft, doch
gri fen die Reformen im Lauf der folgenden zwanzig Jahre nur allmählich.
Wolfgang Schmale
Bibliography
[1] P. B , Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit
in Deutschland, 2003
[3] M. P. F , The Night the Old Regime Ended. August 4, 1789, and the French
Revolution, 2003
[8] K. M (Hrsg.), Ämterkäu ichkeit: Aspekte sozialer Mobilität im europ. Vergleich (17.
und 18. Jh.), 1980
[9] J. M , The Abolition of Feudalism. Peasants, Lords, and Legislators in the French
Revolution, 1996
[12] W. S , Die Entwicklung des »teutschen Bauernrechts« in der Frühen Nz., in: Zsch.
für Neuere Rechtsgeschichte 12, 1990, 127–163
Schmale, Wolfgang, “Feudalgesellschaft”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in
Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_264470>
First published online: 2019