Als pdf oder txt herunterladen
Als pdf oder txt herunterladen
Sie sind auf Seite 1von 31

Psychosomatik und Depression –

Kompetenzfeld Depression
WS 2012/13

F. Vitinius
Klinik und Poliklinik für Psychosomatik
und Psychotherapie
Universität zu Köln
22.10.2012
Überblick
• Testdiagnostik in der Psychosomatik
• Differentialdiagnostik
• Ätiologie
• Psychodynamik der Depression
(„Kein einheitliches Krankheitsbild!“)
• Gegenübertragung in der Arzt-Patient-
Beziehung
• Therapeutische Aspekte

• Was wird nicht vorgestellt? ICD 10/ DSM IV,


Lerntheorie, Epidemiologie (siehe andere
Vorlesungen)
LERNZIELE

• Jede/r Student/in wird am Ende der UE vier klassische


psychodynamische Konzepte zur Entstehung von
Depressionen darstellen können.
• Jede/r Student/in wird am Ende der UE die Prinzipien
psychodynamischer Psychotherapie benennen können.
• Jede/r Student/in wird am Ende der UE die
psychotherapeutische Grundhaltung bei akuter
Depression beschreiben können.
• Jede/r Student/in wird am Ende der UE Auswirkungen
von Depressivität auf körperliche Erkrankungen
benennen können.
Beispiel mittelgradige
depressive Störung
(ICD 10 F32.1)

• Mindestens zwei der drei typischen Symptome (depressive


• Stimmung, Freude- / Interessenverlust, Ermüdbarkeit) und
• mindestens drei (besser vier) der anderen Symptome müssen
• vorhanden sein
• Einige Symptome besonders ausgeprägt oder Symptomspektrum
• besonders weit
• Mindestdauer etwa 2 Wochen
• Alltagsaktivität nur unter erheblichen Schwierigkeiten fortsetzbar
Depression: Sehr häufige
Erkrankung!
• Bundesgesundheitssurvey: Punktprävalenz 5%
• Zur Zeit etwa 4 Millionen Betroffene in Deutschl.
• 12-Monats-Prävalenz: 12% (fast 6 Millionen)
• Lebenszeitprävalenz 19%:
25% der Frauen und 12% der Männer
• 50% der Depr. suchen keine Behandlung auf
• Großteil der Patienten ohne ausreichende
Behandlung
Testdiagnostik stationäre
Psychotherapie/ psychosomatischer
Konsildienst
• HADS-D (Angst und Depression)
• BDI (Depression)
• PHQ: Verschiedene Varianten, u.a.:

• PHQ-2 = Nur 2 Fragen! Skala von 0 (überhaupt nicht)


– 3 (beinahe jeder Tag) bezogen auf vergangene 2
Wochen:
1.) Wenig Interesse oder Freude an Ihren
Tätigkeiten?
2.) Niedergeschlagenheit, Schwermut oder
Hoffnungslosigkeit?

PHQ-2 Summenwert von 3 oder mehr hat


Sensitivität von 83% und Spezifität von 92% für
„major depression“.
Differentialdiagnostik: Organische
Erkrankungen
• Infektionskrankheiten (HIV, Lues, Hepatitis)
• Herzkreislauferkrankungen (MI, Hypertonie)
• Tumorerkrankungen (auch Hirntumor), Depr. als Vorbote
einer schweren körperl. Erkrankung (Pankreaskarzinom)
• Morbus Parkinson, Multiple Sklerose
• Schilddrüsenfunktionsstörungen, Diabetes Mellitus,
Morbus Cushing/Addison
• Schädelhirntraumata, beginnende Demenz etc.
• Medikamente (Corticoide, Interferone, Antihypertensiva,
Neuroleptika, „Pille“ etc.)
• Anämie
• Autoimmunerkrankungen (Prodromalstadium)
Häufig:
Somatische Erkrankung PLUS
Depression
• Adhärenzstörung: relatives Risiko bei
Depr.= 1,74 (Di Matteo)
• Bedeutung hinsichtlich z.B Sterblichkeit:
Beispiel: Depression bei Herztrans-
plantierten und bei KHK
• Auch subklinische Depressivität kann sich
negativ auswirken, z.B. Z.n. Herzinfarkt
Metaanalyse 12 Studien; Di Matteo et al., Arch Intern Med 2000
Somatische Folgen durch
Depressionen

• Metabolisches Syndrom
• Eingeschränkte Herzfrequenzvariabilität
• Bewegungsmangel
• Essstörungen/Fehlernährung
• Nikotin- bzw. Alkoholkonsum erhöht
• Cortisolspiegel erhöht mit metabolischen Folgen
und andauernder Stressbereitschaft
Somatische Symptome bei
Depression
• Viele Patienten mit Depression kommen zum
Hausarzt aufgrund körperlicher Beschwerden!

• Alter Begriff: “Larvierte Depression“

• Kopfschmerzen
• Atembeschwerden
• Rückenschmerzen
• Herzbeschwerden
• Unterleibsbeschwerden
• Magen- Darm- Beschwerden
DD psychische Erkrankungen

• Somatoforme Störung
• Generalisierte Angststörung
• Substanzmissbrauch
• Persönlichkeitsstörung bzw. Komorbidität (dann
Remissionrate der Depression geringer (Grilo et al.))
• Psychose
• Depressive Anpassungsstörung

Grilo et al. (2005) J Consult Clin Psychol 73, 78-85


Risikofaktoren

• Frauen
• Jüngeres Alter
• Depression in Familie
• Chronische körperliche Erkrankung
• Substanzmissbrauch
• Belastende Lebensereignisse
• Unbewältigter chronischer Stress
• Mangelnde soziale Unterstützung
• Städtische Umgebung
• Niedriger sozioökonomischer Status
Ätiologie

• Genetik (polichromos. bei bipolaren Störungen)


• Transmitterstörung / neuroendokrine Störung
• Persönlichkeitsfaktoren (Temperament)
• Psychosoziale Belastungsfaktoren (Depressiver
Grundkonflikt)
• Körperliche Erkrankungen, Verluste, Aktualbelastungen
• bewirken neurobiologische Veränderungen und
maladaptive Beziehungsmuster/Bewältigungsstrategien
Depression und Trauer

Trauer und Depression: ähnliches Bild

Unterschiede:

• Der Trauernde weist keine Selbstwertproblematik auf


• Der Depressive löst häufig aggressive
Gegenübertragung aus
• Insbesondere der Verlust von ambivalent besetzten
Objekten löst Depressionen aus
Vier klassische Modelle der
Depression
• „Über-Ich“/Schulddepression:
Vorherrschen von Selbstvorwürfen und
Schuldgefühlen
• „Es“/Jammer-Depression:
Bedürftigkeit und anklammerndes
Verhalten stehen im Vordergrund
• „Ich“-Depression: Vorherrschen der
Kränkung, hilfsbedürftig zu sein
• Narzisstische Depression:
Vorherrschen der narzisstischen
Kränkung als Auslöser
Über-Ich- oder Schulddepression
• Konzept: Einordnung der Selbstvorwürfe/ Schuldgefühle
• Innere Formel: „Ich habe etwas verbrochen, bin böse.“
• Vordergründig konfliktfreie dyadische Beziehung: Ziel,
gute Beziehung zu zentralem Objekt nicht verlieren
• Ambivalenzkonflikt bei innerem Kampf zwischen
Liebesregungen und Hassimpulsen: Wohin mit der Wut,
wenn das Objekt als Gutes festgehalten werden muss?
Hassimpulse treten als Selbstvorwürfe und
Schuldgefühle in Erscheinung
• Wendung von Aggression gegen das eigene Selbst

(Abraham/Freud)
Abhängigkeitsdepression

• Modell der oral-abhängigen Depression


• Innere Formel: „Brauche ganz viel Liebe,
Trost....Aber ich bekomme viel zu wenig .“
• „Dependent and demanding“: vorwurfsvoll
fordernd und anklammernd
• Andere Gruppe: Altruistische Abtretung
(pseudounabhängige Depressive), z.B. in
helfenden Berufen

(Abraham, Rado)
Ich-Depression

• Durch Erleben der Depr. entsteht „Spannung im Ich“,


vom Depressiven erfahren als Hilfs-/Hoffnungslosigkeit
• Innere Formel: „Ich kann wichtige Ereignisse nicht aktiv
beeinflussen, ich muss mich ihnen unterwerfen.“
• Abhängig-ausgeliefertes Selbstgefühl verstärkt durch
aktuelle depr. Sy. (depr.Hemmung, Vitalitätsverlust etc.)
• Konflikt um das Selbstwertgefühl entsteht
• verzweifelt über (generalis.) Verlust der Fähigkeiten
• Circulus vitiosus: Erlebt intensiv Hilflosigkeit, narziss-
tische Kränkung, gesteigertes Schamgefühl, Rückzug

Bibring, Schmale)
Narzisstische Depression

• Unbewusste, überhöhte Erwartungen an sich / andere


• Selbstwahrnehmung von Kleinheit, Ungenügen,
Selbstzweifeln vs. grandiose Vorstellungen
• „Ich bin nichts wert, ich bin ein Versager“
• Depressionsauslösend: zunehmende Spannung
zwischen Ich-Ideal und real erlebtem Kleinheits-Selbst
Fähigkeit zur Depression

• O.g. Konflikte ubiquitär, nicht per se pathologisch


• Schließen sich nicht aus, ein Konflikt kann den anderen
abwehren (Abhängigkeitsdepr. dient häufig Abwehr
starker Über-Ich-Konflikte)
• Mensch, der Depression nicht kennt, wahrscheinlich
schwerer gestört als einer, der sie kennt
Empirische Überprüfung
Depressionskonzept von Sidney J.
Blatt - I
Anaklitische Depression/offen-abhängiger Typus:

• Gruppe mit interpersonellen Problemen (weniger intrapsych. Pr).


• Klass. Konfliktdimensionen 2 u.3 (Abhängigk./ Hilflosigk.)
• Inszenierung der Abhängigkeitsdynamik: Zunächst angenehme
Gefühl, Helfer zu sein, später zur Weißglut gebracht durch
servile Dominanz
• Subj. Empfindung des Depr.: Verlassensein, Hilflosigkeit, Schwäche
• Somatisieren im medizinischen Versorgungssystem
• intensive Interaktion und Strukturierung positiv (psychodynamisch,
interpersonell oder kognitiv-behavioral)
• Antidepressivum und Placebo: positive Wirkung
• Psychoanalyse/psychodyn.Tagesklinik: schlechtes Abschneiden
Empirische Überprüfung
Depressionskonzept von Sidney J.
Blatt - II
Introjektive Depression oder selbstkritischer Typus:

• Höher differenziert, klass. Konfliktdimension 1/4 (Über-Ich, Ich-Ideal)


• Selbstkritik, Selbstwert, Gefühle von Versagen und Schuld
• Rückzug in Belastungssituationen, induzieren zunächst Sorge,
Anteilnahme, dann Gefühl, abgelehnt zu werden und den
Depressiven nicht erreichen zu können, Verärgerung,
Resignation
• Subjektiv: Gefühl der Wertlosigkeit, des Versagens, der Schuld
• Für Psychotherapie zugänglicher als anakl. Depr., jedoch
Autonomiestreben und Abhängigkeitsangst
• spricht schlechter auf Antidepressiva und Kurzzeitth. (KZT) an; nach
4 Monaten KZT 2/3 stagniert, besser psychoanalyt. Langzeitth.
Grundhaltung bei akuter
Depression I – Was soll der
Arzt?
• Psychosomat. Grundversorgung: Empathie, menschliche
Wärme, Zuversicht; Klagen und negative Bewertungen
des Patienten zunächst geduldig annehmen
• Patient und seine Krankheit akzeptieren
• Günstige Prognose betonen
• Behandlungsplan erklären
• Auf Nebenwirkungen von Medikamenten hinweisen
• Auf Stimmungsschwankungen vorbereiten
• Einbeziehung der Familie
• Kurzfristige Therapieziele setzen (Erfolge des Pat.)
(KIELHOLZ; WIRSCHING)
Grundhaltung bei akuter Depr. II–
Was soll der Arzt nicht?

• Depressive in Ferien/zur Erholung schicken


• Depressive wichtige Entscheidungen treffen lassen
• Aufforderung, sich zusammenzureißen
• Behaupten, es gehe schon besser, wenn es nicht stimmt

(KIELHOLZ)
Differentialtherapie
• Bei der akuten Depression sind Psychotherapie (VT,
psychodyn. Th., IPT) und Medikamente etwa gleich wirksam.
• Kein sicherer Vorteil für primäre Kombinationsbehandlung (AD+PTh)

Beste Ergebnisse für sequentielle Strategien:


• bei leichten / mittelschweren Depressionen erst Psychotherapie,
bei unzureichendem Effekt nach 6-8 Wochen zusätzlich AD
• bei schwerer Depress. zunächst AD + Beziehungsaufbau, dann PT
Indikation für Medikation:
• schwere Symptome (Angst, Schlafstörung etc.)
• längere Depressivität unter Psychotherapie
• Chronische Depression, höheres Alter (Cave somat. Komorbidität!)
• evtl. Prophylaxe bei rezidiv. depressiven Episoden
Zusammenstellung auf Folie von Ch. Herrmann-Lingen, Göttingen
Psychotherapie: Akutphase

• Fokus auf aktueller Situation


• Suizidalität klären! (ggf.Medikamente,Psychiatrie)
• Über-Ich Entlastung bzgl. überhöhter Selbstansprüche
• Therapie der Kernsymptome (Rückzug,
Aktivitätsminderung, Stimmung)
• Ausdruck von Gefühlen fördern (klagen dürfen)
• CAVE: Keine vorzeitige Deutung der
Aggressionsproblematik („Ärger rauslassen“) bzw.
Bearbeitung der Kränkbarkeit
Psychotherapie mittlere Phase
und Endphase
Mittlere Phase
• Bearbeitung (früher) Traumata/Verluste und Beziehungsmuster
• Förderung des Ausdrucks aggressiver Affekte und Bearbeitung der
hohen Selbst und Objektansprüche
• Entidealisierung und Formung eines realistischen Selbst und
Fremdbildes (Ambivalenz)
• Bearbeitung maladaptiver Beziehungsmuster
• Stärkung der Autonomie und Trennungsfähigkeit

Endphase
• Verabschieden – Betrauern
• Anerkennung der Begrenztheit
• Akzeptanz der Abhängigkeits- wie der Autonomiebedürfnisse
• Aussöhnung mit der eigenen Geschichte
Psychoanalytische bzw.
psychodynamische
Psychotherapie -OPD
Kein Behandlungsmanual!

• Achse 1: Krankheitserleben und


Behandlungsvoraussetzungen
• Achse 2: Beziehungsmuster
• Achse 3: (Intrapsych.) Konflikte
• Achse 4: Struktur
• Achse 5: ICD-10
Fallbeispiel

• Ein 46jähriger Patient wurde kurz nach einer


längeren Flugreise und dem Besuch eines
ehemaligen Konzentrationslagers plötzlich verstört
und depressiv. Er war voller Selbstvorwürfe („ich
wäre im Nationalsozialismus ein Mitläufer gewesen“).
Er wurde zunehmend unruhig, litt unter
Schlafstörungen.

• Welches Thema müssen Sie bei diesem


Patienten im Erstkontakt unbedingt
ansprechen?
Suizidalität I
• Daran denken!
• Bei allen depressiven Patienten
ansprechen, nicht tabuisieren
• Schwere Depression: Hohe Suizidgefahr
• 10-15% der Depr. sterben durch Suizid
• 40-70% aller Suizide: depr. Erkrankung
Suizidalität II – Fragenkatalog
nach Poldinger

• 1. Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen,


sich das Leben zu nehmen?
• 2. Häufig?
• 3. Daran denken, ohne es zu wollen? Konnten sie
diese Gedanken beiseite schieben?
• 4. Konkrete Ideen oder Pläne?
• 5. Vorbereitungen getroffen?
• 6. Gibt es irgend etwas, was Sie am Leben hält?
• 7. Über Selbstmordabsicht gesprochen?
• 8. Bereits Selbstmordversuch?
• 9. Selbstmord(versuch) im Bekanntenkreis?

Das könnte Ihnen auch gefallen