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Walter Jochmann

Ingo Böckenholt
Stefan Diestel Hrsg.

HR-Exzellenz
Innovative Ansätze in
Leadership und Transformation
HR-Exzellenz
Walter Jochmann · Ingo Böckenholt
Stefan Diestel
(Hrsg.)

HR-Exzellenz
Innovative Ansätze in
Leadership und Transformation
Herausgeber
Walter Jochmann Stefan Diestel
Kienbaum Institut Kienbaum Institut
Dortmund, Deutschland Dortmund, Deutschland

Ingo Böckenholt
Kienbaum Institut
Dortmund, Deutschland

ISBN 978-3-658-14724-2 ISBN 978-3-658-14725-9  (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-14725-9
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Geleitwort von NRW-Wirtschaftsminister
Garrelt Duin

In einer modernen, wissensgetriebenen Volkswirtschaft sind Mitarbeiter und Führungs-


kräfte das wichtigste Kapital von Unternehmen. Sie entscheiden maßgeblich darüber, ob
Unternehmen erfolgreich mit ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen
umgehen oder nicht. Der Personalführung kommt vor diesem Hintergrund nicht nur eine
strategische Bedeutung zu, sie spiegelt auch die Herausforderungen wider, mit denen
Unternehmen heute konfrontiert sind. Traditionelle, von Autorität, Hierarchie und exter-
nen Anreizen geprägte Führungsstile verlieren dabei an Gewicht. Alternative Konzepte
wie die transformationale Führung dagegen gehen von einer intrinsischen Motivation der
Mitarbeiter aus, die Führungspersonen etwa durch ihre Vorbildfunktion oder die Vermitt-
lung von Visionen anregen können. So werden Mitarbeiter motiviert, kreativ und eigen-
ständig Lösungen in einer komplexer werdenden Umwelt zu finden, statt Dienst nach
Vorschrift zu tun.
Die Digitalisierung der Wirtschaft mit ihren immer kürzeren Innovationszyklen,
der Wertewandel und die zunehmende Vielfalt der Gesellschaft sowie der demografi-
sche Wandel in Deutschland – das sind nur einige der Trends, die entscheidend für die
Arbeitswelt von heute und morgen sind. Um in dieser Welt des Wandels wettbewerbsfä-
hig zu bleiben, braucht es wirksame Handlungsansätze im Personalmanagement. Genau
solche Ansätze diskutiert dieser Sammelband, indem er die Expertise von Praktikern und
Wissenschaftlern bündelt.
Ein Blick auf die Beiträge deutet die Reichweite der Transformation an, die weit über
das klassische Personalmanagement hinaus ein umfassendes Neudenken über Märkte
und Geschäftsmodelle erfordert. In Nordrhein-Westfalen unterstützen wir Unterneh-
men bei der Beschäftigung mit diesen und verwandten Themen unter dem Stichwort der
gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, der „Corporate Social Responsibi-
lity“ (CSR). Auf Grundlage der CSR-Strategie NRW regen wir den Austausch zwischen
Unternehmen und der Gesellschaft an, durch öffentliche Diskussionsveranstaltungen wie
die Ständehausgespräche, und ebenso durch branchenspezifische Dialoge.
Mit den 2016 eingerichteten CSR-Kompetenzzentren, die es in dieser Form nur in
Nordrhein-Westfalen gibt, sprechen wir insbesondere kleine und mittlere Unternehmen
an. Partnerschaften aus Kammern, Verbänden, Wirtschaftsförderung und Wissenschaft

V
VI Geleitwort von NRW-WirtschaftsministerGarrelt Duin

bieten praktische CSR-Beratung an, zu der die Auseinandersetzung mit verschiedenen


Fragen der Transformation gehört: Wie verändern sich die Bedürfnisse von Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern und was bedeuten sie für die Produkte und Dienstleistungen
von morgen? Was sind die Ansprüche von Nachwuchskräften und Unternehmerinnen
und Unternehmern an sinnhafte Beschäftigung und nachhaltige Geschäftsmodelle? Wie
verändern sich die Transparenzanforderungen an Unternehmen infolge der Digitalisie-
rung der Arbeits- und Lebenswelt?
Diese und andere Fragen können Unternehmen vor allem dann produktiv für sich
beantworten, wenn sie in den aktiven Dialog mit der Gesellschaft treten und Denkan-
stöße zulassen – auf der Führungsebene, ebenso wie in der Belegschaft. Solche Impulse
können auch die Beiträge in diesem Band geben. In diesem Sinne wünsche ich den Lese-
rinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Düsseldorf, Deutschland Garrelt Duin


September 2016 Minister für Wirtschaft
Energie, Industrie, Mittelstand
und Handwerk des Landes
Nordrhein-Westfalen
Vorwort

Mit den aktuellen globalen Entwicklungen sowie neuen innovativen Technologien gehen
ein anderes Verständnis und veränderte Aufgaben des modernen Human-Resource-
Managements einher, das nicht nur als administrative Struktur in einem Unternehmen
eine starre Verwaltungsfunktion ausübt, sondern strategische Transformationsprozesse
mitgestaltet. Insofern muss sich das Human-Resource-Management in Fragen der
Arbeitswelt 4.0, der Digitalisierung, des demografischen Wandels sowie nicht zuletzt der
neuen Anforderungen an Führung in einer Weise positionieren, die nachhaltig sowohl
die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter sowie Führungskräfte sicherstellt als auch einen
signifikanten Beitrag zur Wertschöpfung des Gesamtunternehmens leistet. Um die sich
hieraus ableitenden Herausforderungen im Dienste einer sich langfristig weiterentwi-
ckelnden Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich bewältigen zu können, sind wirksame, vor-
ausschauende und intelligente Lösungen gefragt. Solche Lösungen beinhalten eine
flexible Anpassung an dynamische Umwelten, liefern innovative Impulse für beispiels-
weise neue Führungsmodelle sowie für agile Teamstrukturen und ermöglichen eine
effektive Nutzung von zunehmend komplexer werdenden Informationen, sich neu her-
ausbildenden Potenzialen sowie teilweise noch nicht absehbaren Chancen.
Der vorliegende Sammelband bietet eine umfassende Darstellung der aktuell sowie
zukünftig wichtigsten Themenkomplexe, die das moderne Human-Resource-Manage-
ment beschäftigen und grundlegend verändern werden. Im ersten Teil widmen sich die
Autoren dieses Bandes der Rolle der Führung in einer durch Digitalisierung geprägten
Arbeitswelt und beantworten die Frage nach den Führungskompetenzen von morgen.
Hierbei werden angesichts sich radikal wandelnder Arbeitsumgebungen auch alternative
Führungskonzepte, wie etwa Shared Leadership und Diversity Leadership, beleuchtet.
Die Steuerung von Transformationsprozessen in der Arbeitswelt 4.0 ist das Kernthema
des zweiten Teils, in dem die Erfolgsfaktoren eines auf Agilität basierenden Change-
Managements, die konzeptionellen Merkmale von New Work und neuartige Projektlö-
sungen reflektiert werden. Der dritte Teil liefert einen breiten Überblick über die für das
Human-Resource-Management relevanten Entwicklungen, die durch den demografi-
schen Wandel sowie durch die generationsspezifischen Werteperspektiven hervorgerufen
werden. Besondere inhaltliche Schwerpunkte liegen in der altersbedingten Veränderung

VII
VIII Vorwort

der psychischen Leistungsfähigkeit, der Altersdiversität in Teams, der unterschiedlichen


Orientierungen der Generationen X, Y sowie Z und der strategischen Personalplanung.
Schließlich beinhaltet der vierte Teil dieses Bandes neue Perspektiven des digitalen Rec-
ruitings sowie der Verarbeitung von HR Big Data, beleuchtet Strukturen sowie Prozesse
eines integrativen Talent-Managements, beschreibt bisher unbekannte Wege des Opera-
ting Models von HR und bietet Einblicke in die Wirkungen von Prozessen der Selbst-
steuerung auf psychische Leistungsfähigkeit.
Für eine vielfältige und ideenreiche Analyse der hier thematisierten Trends haben
Führungskräfte, Berater sowie auch Wissenschaftler ihre spezifischen Expertisen, Erfah-
rungen und Erkenntnisse eingebracht, die sich in alternativen, aber sich ergänzenden
Sicht- und Darstellungsweisen widerspiegeln. Folglich werden einige Aspekte, wie etwa
die transformationale Führung, aus verschiedenen Perspektiven sowie vor dem Hinter-
grund unterschiedlicher Fragestellungen diskutiert. Ferner sind die einzelnen Kapitel je
nach thematischer Ausrichtung entweder eher praxis- und anwendungsorientiert oder
haben eine mehr wissenschaftliche Blickrichtung. Die Bündelung der unterschiedlich
akzentuierten Inhalte soll kreative Konzepte, fundierte Modelle sowie wirksame Strate-
gien für ein exzellentes Human-Resource-Management inspirieren, das konkrete Hand-
lungsansätze für die wachsende Dynamik auf nahezu allen unternehmerischen Ebenen
generiert.
Hiermit bedanken wir uns ganz herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für die
mühevoll ausgearbeiteten sowie spannend formulierten Beiträge. Allen Leserinnen und
Lesern wünschen wir eine angenehme Lektüre.

Dortmund, Deutschland Walter Jochmann


Mai 2016 Ingo Böckenholt
Stefan Diestel
Inhaltsverzeichnis

Teil I
1 Transformationale Führung – Was will sie? Wie geht sie?. . . . . . . . . . . . . . . 3
Reinhard K. Sprenger
1.1 Warum gibt es Führung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Von der Zukunft her denken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.1 Beispiel: Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.2 Der Störungsauftrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.3 Strategien der Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.3.1 Institution, nicht Individuum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.3.2 Externe Märkte, nicht interne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.3.3 Ausmisten, nicht reparieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.4 Die Basis: Vertrauen in gemeinsame Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2 Führung in digitalen Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Ursula Schütze-Kreilkamp
2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2 Transformationale Führung vs. transaktionale Führung . . . . . . . . . . . . . 19
2.3 Kernelemente der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.4 Anforderung an Führung in digitalen Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.4.1 Arbeitswelt 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.4.2 Thesen zur Arbeitswelt 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.4.3 Wie kann Dringlichkeit in Wirksamkeit überführt werden? . . . 28
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3 Lernen von den Kleinen: Start-ups als Leadership-Vorbild
für Großunternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Stephan Grabmeier
3.1 Start-ups: Die Digital Innovatives der Unternehmenswelt. . . . . . . . . . . . 34
3.2 Leadership-Modelle in verschiedenen Unternehmenslebensphasen. . . . 36

IX
X Inhaltsverzeichnis

3.2.1 Der Haufe-Quadrant: Orientierungsrahmen


für Unternehmen und Leader. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.2.2 Praxisbeispiel Haufe-umantis: Vom agilen
Start-up zum agilen Mittelstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3.3 Konsequenz für Unternehmen: Upgrade des Betriebssystems . . . . . . . . 43
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
4 Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk . . . . . . . 49
Heiko Fischer und Angela Maus
4.1 Einleitung und Einordnung: Die Auflösung der HR-Funktion . . . . . . . . 50
4.2 Der theoretische Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.2.1 Das Prinzip Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2.2 Das Prinzip Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
4.2.3 Das Prinzip Kleinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.3 Darstellung eines Praxisbeispiels – Mitarbeiter führen
Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
5 Wie die Digitalisierung die Führungskompetenz
komplett neu definiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Sirka Laudon
5.1 Geschwindigkeit wird wichtiger als Perfektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
5.2 Netzwerke ersetzen den starken Fokus auf das eigene Team. . . . . . . . . . 69
5.3 Erfolge fortschreiben wird zum Erfolgskiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5.4 Inspirieren ersetzt das Kommunizieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
5.5 Veränderungsbereitschaft ersetzt die stabile Zufriedenheit. . . . . . . . . . . 75
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
6 Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache!. . . . . . . . 79
Petra Köppel
6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
6.2 Was ist los in deutschen Führungsetagen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6.2.1 Status quo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6.2.2 Die gesetzliche Frauenquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
6.3 Ursachenanalyse für mangelnde Gender
Diversity in deutschen Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
6.3.1 Wollen-Können-Dürfen als Barrieren für Frauen . . . . . . . . . . . 83
6.3.2 Unconscious Bias oder unbewusste
Wahrnehmungsverzerrungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
6.3.3 Wann ist man heute ein Mann? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
6.3.4 Männern fehlt das Problembewusstsein für Gender Bias . . . . . 89
6.4 Empfehlungen für Gender Diversity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
6.4.1 Fix the system und Gender ist Männersache. . . . . . . . . . . . . . . 90
Inhaltsverzeichnis XI

6.4.2 Commitment der Leitung – Bekenntnis zu Gender Diversity. . . 91


6.4.3 Männer an Bord nehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
6.4.4 Führungskräfte gewinnen und Leadership neu definieren. . . . . 95
6.4.5 Strategisches Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
6.4.6 Unconscious-Bias-Fallen aufdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.5 Ausblick: Gender Diversity lohnt sich!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Teil II
7 Transformationsmanagement in Unternehmen:
eine betriebswirtschaftliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Ingo Böckenholt und Moritz Peter
7.1 Transformation: Neuanfang oder Anfang
vom Ende eines Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
7.2 Transformation: Einordnung und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.2.1 Literaturübersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.2.2 Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
7.3 Transformation: Unternehmensbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.3.1 Nokia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
7.3.2 Apple . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.3.3 Preussag AG/TUI AG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.3.4 RWE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.3.5 Mannesmann/Vodafone. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7.3.6 Quelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
7.3.7 Kodak. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
7.4 Eigenschaften von Transformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
7.4.1 Ursachen, Phasen und Erfolgsfaktoren
von Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
7.4.2 Transformationen und Disruptionen
in den Unternehmensbeispielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
7.5 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
8 Ausgestaltung der digitalen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Ralf Kreutzer und Karl-Heinz Land
8.1 Hintergrund für die Notwendigkeit einer digitalen Transformation . . . . 128
8.2 Hindernisse und Lösungskonzepte einer digitalen Transformation. . . . . 129
8.3 Treiber digitaler Veränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
8.4 Change-Management – Wandel erfolgreich gestalten. . . . . . . . . . . . . . . 134
8.4.1 Ausgestaltung des Change-Managementprozesses. . . . . . . . . . 137
8.4.2 Umsetzung des Change-Managements
am Beispiel einer digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . 144
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
XII Inhaltsverzeichnis

9 In Zukunft untrennbar: Agile Produktentwicklung


und Design Thinking. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Boris Gloger
9.1 Hinführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
9.2 Scrum oder das Unplanbare planen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
9.2.1 Agile Manifesto. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
9.2.2 Wir reden heute von Scrum 3.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
9.2.3 Design Thinking. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
9.3 Die neue Arbeitswelt entsteht trotzdem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
9.4 HR als Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
10 Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0: Die Zukunft
der Arbeit im Spannungsfeld von Work-Life-Separation
und Work-Life-Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Claus-Peter Praeg und Wilhelm Bauer
10.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
10.2 Auf dem Weg zur Arbeitswelt 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
10.3 Treiber der Entwicklungen einer zukünftigen Arbeitswelt 4.0 . . . . . . . . 168
10.4 Anforderungen der zukünftigen Arbeitswelt an Unternehmen . . . . . . . . 171
10.5 Work-Life-Balance als Voraussetzung
für dauerhaft erfolgreiches Arbeiten in der Arbeitswelt 4.0. . . . . . . . . . . 173
10.5.1 Work-Life-Balance als kontinuierlicher Prozess. . . . . . . . . . . . 174
10.5.2 Ausprägung der Work-Life-Balance:
entgrenzen oder abgrenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
10.5.3 Umsetzungsstrategien für Mitarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
10.5.4 Schaffung von Rahmenbedingungen
in Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
10.6 Leben und Arbeiten in agilen und smarten Arbeitsumgebungen. . . . . . . 179
10.6.1 Agile Unternehmensstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
10.6.2 Neugestaltung des Führungsverhaltens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
10.6.3 Schaffung smarter Arbeitsumgebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
11 Trends und Entwicklungen im Kontext von New Work . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Jutta Rump und Silke Eilers
11.1 Einführung und Begriffsklärungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
11.2 Zentrale Trends im Kontext von New Work und ihre Konsequenzen. . . 188
11.2.1 Überblick über die zentralen Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
11.2.2 Konsequenzen im Kontext von New Work . . . . . . . . . . . . . . . . 191
11.3 New Work und die Sinnhaftigkeit der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
11.3.1 Leitprinzipien zukunftsorientierten Arbeitens. . . . . . . . . . . . . . 195
11.3.2 Zur Sinnhaftigkeit des Arbeitens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Inhaltsverzeichnis XIII

11.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197


Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
12 Die Zukunft der Arbeitswelt: Arbeiten 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Yasmin Mei-Yee Weiß und David Jonathan Wagner
12.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
12.2 New Competencies. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
12.3 New Needs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
12.4 New Leadership. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

Teil III
13 Die Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten
als Voraussetzung für Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit. . . . . . . . . 221
Michael Falkenstein
13.1 Fluide Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
13.2 Einflussfaktoren auf die fluide Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
13.2.1 Alter und Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
13.2.2 Personenbezogene Faktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
13.3 Fluide Intelligenz, Alter und Arbeitsleistung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
13.4 Maßnahmen zur Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten. . . 227
13.4.1 Verhältnisprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
13.4.2 Verhaltensprävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
14 Age-Diversity-Management in Teams und Organisationen . . . . . . . . . . . . . 237
Florian Kunze und Max Reinwald
14.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
14.2 Age Diversity in Teams – Chancen und Herausforderungen. . . . . . . . . . 239
14.2.1 Konzeptionelle Erklärungen
für Auswirkungen von Age Diversity in Teams. . . . . . . . . . . . . 239
14.2.2 Empirische Befunde zur Wirkung
von Age Diversity in Teams. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
14.2.3 Teambasierte Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
14.3 Age Diversity auf der Organisationsebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
14.3.1 Konzeptionelle Erklärungen zur organisationalen
Wirkung von Age Diversity. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
14.3.2 Empirische Befunde zur organisationalen
Wirkung von Age Diversity. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
14.3.3 Organisationsbasierte Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . 244
14.4 Praktische Empfehlungen zum Management von Age Diversity. . . . . . . 244
14.4.1 Managementmaßnahmen auf Teamebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
14.4.2 Managementmaßnahmen auf Organisationsebene. . . . . . . . . . . 246
XIV Inhaltsverzeichnis

14.5 Zukünftige Entwicklung des Forschungsfeldes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247


Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
15 „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“: Heterogene
Generationenkonzepte im Demografiemanagement
am Beispiel der Generation Y . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Theresa Belch, Frank Stein und Julia Frohne
15.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
15.2 Absolventen unter die Lupe genommen: Ziele,
Wertvorstellungen und Karriereorientierung der Generation Y. . . . . . . . 256
15.2.1 Hintergrund und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
15.2.2 Auswertung und Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
15.2.3 Interpretation der Befundmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
15.3 Implikationen für das Demografiemanagement:
Heterogene Generationenkonzepte am Beispiel der Generation Y . . . . . 264
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
16 Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM . . . . 269
Susanne Scheren und Marcel Hülsbeck
16.1 Ausgangslage, Problemstellung und Ziel der Untersuchung. . . . . . . . . . 270
16.2 Generationen im Arbeitsleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
16.3 Generationsspezifische Arbeitswerte und Mitarbeiterbindung . . . . . . . . 272
16.3.1 Arbeitswerte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
16.3.2 Anforderungen an ein generationsspezifisches HRM . . . . . . . . 275
16.3.3 Mitarbeiterbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
16.4 Studie und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
16.4.1 Datenbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
16.4.2 Arbeitswerte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
16.4.3 Bindungsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
16.5 Praxisempfehlung und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
17 Strategische Personalplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Cyrus Asgarian und Nina Feuersinger
17.1 Strategische Personalplanung – Ziele und Nutzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
17.2 Grundlegende Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
17.3 Simulation des Personalbestands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
17.4 Modellierung des Personalbedarfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
17.5 Gap-Analyse und Maßnahmenableitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
17.6 Ausblick: Next Level strategische Personalplanung . . . . . . . . . . . . . . . . 300
17.7 Einführung von strategischer Personalplanung im Unternehmen. . . . . . 302
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Inhaltsverzeichnis XV

Teil IV
18 Recruiting im Zeitalter des digitalen Wandels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Thomas Vollmoeller
19 Rethinking Talent-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Åsa Lautenberg und Lena Kaltenmeier
19.1 Vision eines modernen Talent-Managements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
19.1.1 Modernes Talent-Management: Abkehr vom
dogmatischen Kompetenzmanagement und hin
zur Stärkung von Haltungen und Werten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
19.1.2 Kultur und Führung als Erfolgsfaktoren
der Vision eines modernen Talent-Managements. . . . . . . . . . . . 318
19.2 Leuchtturmprojekte im Talent-Management der Lufthansa Group. . . . . 319
19.2.1 Zusammenlegung von Potenzialerfassung
und Zielvereinbarungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
19.2.2 Transparente Besetzung von Führungspositionen. . . . . . . . . . . 320
19.2.3 Führung als Hauptaufgabe von Führungskräften . . . . . . . . . . . 320
19.2.4 Übergabe von Entwicklungsverantwortung
in das Business. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
19.3 Talent-Management als Hebel für die Bedarfe des Business. . . . . . . . . . 321
20 Digital HR oder HR Digital – Die Bedeutung
der Digitalisierung für HR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Mathias Weigert, Horst-Dieter Bruhn und Michael Strenge
20.1 Digitalisiert sich HR, oder wird HR digitalisiert?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
20.2 Was bestimmt den richtigen Grad der Digitalisierung für HR?. . . . . . . . 327
20.2.1 Kann alles das, was digitalisiert
werden kann, auch digitalisiert werden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
20.2.2 Die Landkarte der Personalprozesse
als Grundlage für das Finden des richtigen
Grads der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
20.2.3 Active Sourcing und Talent Acquisition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
20.2.4 Learning & Development. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
20.2.5 Performance-Management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
20.2.6 Personaladministration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
20.2.7 Die Prognosefähigkeit von HR wird eingefordert
und die Akzeptanz von HR bestimmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
20.2.8 Digital Readiness Check . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
20.3 Was sind wichtige Voraussetzungen für die Digitalisierung von HR?. . . 334
20.4 Ist Personal „bereit“ für die Digitalisierung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
XVI Inhaltsverzeichnis

21 Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung. . . . . . . . . . . . 339


Stefan Strohmeier
21.1 Motivation – Warum eine Beschäftigung mit Big HR Data?. . . . . . . . . . 340
21.2 Definition – Was sind Big HR Data?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
21.3 Existenz – Gibt es tatsächlich Big HR Data?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
21.4 Anwendung – (Wie) Kann man Big HR Data nutzen? . . . . . . . . . . . . . . 345
21.4.1 Vorgehensmodell für Big HR Data . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
21.4.2 Anwendungsfall von Big HR Data. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
21.5 Ausblick – Wie geht es weiter mit Big HR Data?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
22 Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Walter Jochmann
22.1 Zielsetzungen und Herausforderungen moderner Personalarbeit . . . . . . 358
22.2 Inhalte der Personalarbeit im Spiegel der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . 362
22.3 Organisationsformate und ihr übergeordneter Rahmen. . . . . . . . . . . . . . 367
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
23 Positive und negative Effekte der Selbststeuerung
auf psychische Gesundheit und Motivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Stefan Diestel, Wladislaw Rivkin und Klaus-Helmut Schmidt
23.1 Selbststeuerung in modernen Lebens- und Arbeitsumwelten . . . . . . . . . 376
23.2 Zwei Gesichter der Selbststeuerung: Willentliche
Selbstkontrolle und autonome Selbstregulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
23.3 Psychische Kosten der willentlichen Selbstkontrolle bei der Arbeit. . . . 381
23.3.1 Emotionsarbeit: Kontrolle der eigenen
Emotionen als Arbeitsaufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
23.3.2 Impulskontrolle, Ablenkungen widerstehen
und Überwinden innerer Widerstände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
23.3.3 „Ruf‘ mich an: Ich bin bis 23 Uhr erreichbar“: Berufliche
Smartphone-Nutzung außerhalb der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . 384
23.3.4 Protektive Ressourcen: Kontrollspielräume
und Psychological Detachment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
23.4 Flow-Erleben bei der Arbeit: Autonome Selbstregulation. . . . . . . . . . . . 387
23.4.1 Positive Stimmung, affektives Commitment und Work
Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
23.4.2 Einflüsse der Führung auf Selbstbestimmung
und Work Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
23.4.3 Achtsamkeit als Mechanismus der Selbststeuerung . . . . . . . . . 390
23.5 Selbstkontrollfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
23.5.1 Positive Wirkungen der Selbstkontrollfähigkeit
auf Belastungsbewältigung, Work Engagement
und Arbeitsleistung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
23.5.2 Training und Ausbau von Selbstkontrollfähigkeit. . . . . . . . . . . 393
Inhaltsverzeichnis XVII

23.6 Ausblick: Kritische Reflexion der Theorien zur Selbststeuerung,


Einflüsse von Mindsets auf Selbststeuerung und Implikationen
für ein modernes Human-Resource-Management. . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Teil I
Transformationale Führung – Was will
sie? Wie geht sie? 1
Reinhard K. Sprenger

Gehe nie dahin, wo der Puck ist. Gehe dahin, wo der Puck hinkommt.
(Wayne Gretzky, kanadischer Eishockeystar)

Zusammenfassung
Ein Versprechen macht die Runde in den Unternehmen – das Versprechen der „trans-
formationalen Führung“. Nicht mehr Reparatur soll es sein, nicht mehr inkrementel-
les Klein-klein, nicht mehr Restrukturierung und Optimierung. Nein, etwas wirklich
Großes, Grundlegendes: Konversion, Umwandlung, Neubeginn. Und Führung wäre
dann auch keine Nebentätigkeit mehr (wie so oft in der Praxis beobachtet), sondern
fürwahr der wichtigste Stellhebel zum Unternehmenserfolg (wie so oft in der The-
orie behauptet). Man spricht dann gerne über Visionen, Commitment und starke
Identifikation. Man reflektiert über Sinn und Zweck von Unternehmen, über die Intel-
ligenz des Kollektiven und – ganz allgemein – über Dynamisierung (nicht selten in
Gegensetzung zu „transaktionaler Führung“). Ist nun die transformationale Führung
tatsächlich eine Heilsbotschaft, eine Erlösung? Oder nur eine weitere eigenschaftshy-
pothetische oder hochleistungskulturelle Wundertüte?
Für eine theoriegelenkte Praxis kann die Antwort nur lauten: Sie ist das, was ein Unter-
nehmen daraus macht. Für eine praxisgelenkte Theorie reduzieren wir zunächst den Kom-
plex „Führung“ auf das Wesentliche: „Wenn Führung die Antwort ist – was war noch mal
die Frage?“ Zweitens beleuchten wir, wie sich Führung im Zeitalter der Digitalisierung
verändert. Drittens skizzieren wir drei grundlegende Strategien von Transformationspro-
zessen. Und letztlich nennen wir die alles tragende Voraussetzung ihres Gelingens.

R.K. Sprenger (*) 
Winterthur, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 3


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_1
4 R.K. Sprenger

Inhaltsverzeichnis

1.1 Warum gibt es Führung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4


1.2 Von der Zukunft her denken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.1 Beispiel: Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.2 Der Störungsauftrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.3 Strategien der Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.3.1 Institution, nicht Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.3.2 Externe Märkte, nicht interne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.3.3 Ausmisten, nicht reparieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.4 Die Basis: Vertrauen in gemeinsame Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Über den Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

1.1 Warum gibt es Führung?

Die konzentrierteste Antwort auf den Zweck von Führung lautet schlicht: Das Überleben
des Unternehmens sichern. Ein Unternehmen strebt – wie alle sozialen Systeme – nach
Selbsterhaltung. Es geht vorrangig darum, weiter zu existieren, weiter „mitspielen“ zu
dürfen. Und dafür sollen Führungskräfte einen Beitrag leisten.
Das Überleben sichern – diese sehr allgemeine Antwort lässt sich schlecht operatio-
nalisieren. Woran soll man den Beitrag zur Überlebenssicherung festmachen? Was ist die
konkrete Kernaufgabe von Führung?
Fragen wir daher, mit der Anthropologie im Rücken, negativ: Was fehlt, wenn Füh-
rung fehlt? Denken wir uns Führung weg und folgen Experimenten der Sozialwissen-
schaften, in denen Führung versuchsweise „abgeschafft“ wird. Was passiert dann? Die
Antwort ist eindeutig: Gruppen, die zusammen auf ein Problem oder ein Ziel hin ori-
entiert sind, bilden nach kurzer Zeit wieder neue Führungsstrukturen. Man wählt sich
einfach eine neue Führung. Offenbar erfüllt Führung ein Bedürfnis. Im Alltag kann man
ja immer wieder erleben, dass in bestimmten Situationen nach Führung gerufen wird.
Welche Situationen sind das?
Es sind Konflikte. Man will zwei Dinge in gleichem Maße, was sich aber logisch aus-
schließt. Oder man streitet über Ziele und Wege. Irgendetwas ist risikoreich oder wider-
spruchsvoll. Man steckt fest in einem Dilemma. Es stauen sich Fragen, Informationen
und Probleme. Der Organisation droht die Paralyse. Dann braucht es eine Instanz, die
den Stillstand verhindert bzw. auflöst. Dann hat Führung ihren Auftritt. Führung muss in
die Verantwortung gehen, etwas Festgefahrenes in Bewegung bringen, die Entscheidbar-
keit von Konflikten sichern.
Führung wird also erst dann wertvoll, wenn Routinen versagen. Ich kann es gar nicht
klar genug sagen: Führung hat ihren primären Aufgabenbereich „jenseits“ der Routine,
im Konflikt, in dilemmatischen Situationen. Ein Unternehmen braucht keine Führung,
wenn das Unternehmen in ruhigen Gewässern segelt. Um aber Stillstand zu vermei-
den, muss Führung entscheidungsbereit sein. Auf dem Schreibtisch des amerikanischen
1  Transformationale Führung – Was will sie? Wie geht sie? 5

Präsidenten steht ein kleiner, in Granit gemeißelter Satz (wohl von Harry Truman in Auf-
trag gegeben): „The buck stops here“ – etwa: Bis hierhin kann man den Schwarzen Peter
schieben, nicht weiter.
Ich will es zuspitzen: Es ist nicht so, dass sich Führungskräfte bei der Bewältigung
ihrer Aufgabe mit Konflikten und Dilemmata konfrontiert sehen. Vielmehr wird die Füh-
rungsaufgabe durch Konflikte überhaupt erst geschaffen. Konflikte – knappe Mittel und
ihre alternative Verwendung – machen Führung notwendig. Führung lebt in und von die-
sen Dilemmata. Das kann man auch Freiheit nennen.

Konflikt Herkunft – Zukunft


Ein klassischer Zielkonflikt besteht zwischen Herkunft und Zukunft. Menschen sind
gattungsgeschichtlich „Reaktionäre“ auf der Basis „induktiven Denkens“. Das ist die
Tendenz, aus Einzelbeobachtungen der Vergangenheit schließlich Gewissheiten für die
Zukunft abzuleiten: „Es ist noch immer gut gegangen.“ Das sagen aber nur diejenigen,
die überlebt haben; die anderen können nicht mehr sprechen. Die aber würden eher Ben-
jamin Franklin zitieren: „Nichts ist sicher, außer der Tod und die Steuer.“ Heißt: Es ist
ein gravierender Denkfehler, die Tatsache, dass es mich gibt, als Hinweis zu nehmen,
dass es mich auch in Zukunft geben wird. Ich kann vielmehr sicher sein, dass das nicht
der Fall sein wird. Todsicher.
Das gilt auch für Unternehmen. Dort artikuliert sich die Spannung „Herkunft/
Zukunft“ als Konflikt zwischen vergangenen Erfolgen und zukünftigen Marktbedingun-
gen. Die Organisation des Unternehmens, so wie sie jetzt ist, ist die Antwort der Gegen-
wart auf die Fragen der Vergangenheit. Geronnene Vorzeit. Ob die Fragen der Zukunft
durch sie beantwortet werden, muss man bezweifeln. Das kennen wir als Erfolgsfalle.
Erfolg macht lernbehindert. Wir brauchen das an dieser Stelle nicht zu vertiefen; das
weithin bekannte Beispiel Kodak möge genügen. Daher: Nach der historischen Erfah-
rung wird die Zukunft in doppeltem Sinne anders sein: anders als die Gegenwart und
anders als gedacht. „Es ist wahrscheinlich, dass das Unwahrscheinliche geschieht“,
wusste schon Aristoteles. Wir müssen also davon ausgehen: Was uns hierher gebracht
hat, wird uns nicht dorthin bringen. So, wie wir den Nachmittag unseres Lebens nicht
mit dem gleichen Programm leben können wie den Morgen, so kann auch die Zukunft
des Unternehmens nicht mit den Mustern der Vergangenheit gemeistert werden. Je
schneller sich die Umwelt ändert, desto schneller haben sich auch unsere Erfolge über-
lebt. Und die Rezepte dafür ohnehin – so es denn überhaupt solche gibt.
Neu dabei sind die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Veränderungen – gerne
illustriert mit der heute milde belächelten Prognose von IBM-Gründer Thomas Wat-
son, der 1943 einen Weltmarkt für Computer von ungefähr fünf Exemplaren prognosti-
zierte. Und noch 1977 erklärte Ken Olson, Präsident der Digital Equipment Corporation:
„There is no reason for any individual to have a computer in their home.“ Tempi passati.
Der Begriff „Change“ ist für das, was ansteht, nicht mehr passend, weil er immer noch
geplante Anpassung einflüstert, nicht aber das radikale Einstellen auf Ephemeres. Die
6 R.K. Sprenger

steile Konjunktur des Wortes „disruptiv“ verweist darauf. Insgesamt müssen wir davon
ausgehen, dass uns zunehmend dynamische Marktentwicklungen erwarten, die in immer
größeren Amplituden ausschlagen.
Das ist der Stoff, von dem die transformationale Führung lebt: Die Dynamik der
Moderne, die man traditionell in Begriffen wie Fortschritt oder Rückschritt beschreibt,
löst sich in Turbulenzen auf, die keine Vergleiche kennen. Die Gegenwart überstürzt sich;
die Frequenz der Veränderungen auf den Märkten wird unkalkulierbar. Störungen pen-
deln sich nicht aus, sondern wir schwingen uns von Störung zu Störung. Der Ausnah-
mezustand wird zum Normalzustand. Immer seltener wird man aus Erfahrungen lernen
können. Sondern von der Zukunft.

1.2 Von der Zukunft her denken

Niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird, aber sie ist bereits heute wirksam. Wir
wissen nur: Vieles von dem, woran wir uns gewöhnt haben, wird sich ändern. Und nur,
wenn wir der Zukunft, dem Werdenden, heute schon Raum geben und ihn eben nicht mit
Gewordenem möblieren, ist langfristiges Überleben möglich. Wir müssen uns voraus-
schauend selbst erneuern. So, wie die überraschende Entdeckung während der Mondlan-
dung ja nicht der Mond war, sondern der blaue Planet Erde, so müssen wir heute von der
Zukunft her denken, und, gleichsam von dieser zurückblickend, in der Gegenwart ange-
messen entscheiden. Wenn wir also das Unternehmen in die Zukunft führen wollen, dann
müssen wir es aus der Zukunft führen. Wie geht das?
Das menschliche Gehirn ist programmiert, schnell auf Gefahren zu reagieren, aber
sie müssen konkret und unmittelbar sein. Alles, was vage und in weiter Zukunft liegt,
entzündet uns nicht. Das korrespondiert mit gut gestützten Forschungsergebnissen,
wonach Führungskräfte, gefragt, welche ihrer Aufgaben sie tendenziell vernachlässigen,
vor allem auf den Entwurf von Krisen- und Zukunftsszenarien verweisen. Das werden
wir uns nicht mehr leisten können. Eine transformationale Führung muss dafür sorgen,
dass die Energie der Organisation sich nicht nur auf Aktuelles konzentriert. Sondern
auf Zukünftiges. Sind die Leute darauf vorbereitet, dass die Zeiten sich ändern? Dass
es regnen kann? Oder aber sich unversehens grandiose Chancen eröffnen? Etwas, was
niemand „auf dem Schirm“ hatte? Wir sollten dabei unsere langfristige Strategie nicht
aus den Augen verlieren, schon gar nicht darauf verzichten (auch wenn viele Propheten
das unterwerfungsselig empfehlen). Aber uns mit hoher Selbstdisziplin, in regelmäßigen
Abständen, mit Zeit, Geld und verschiedenen institutionellen Formen der Zukunft wid-
men. Dann haben wir ein Lernelement eingebaut, das aus der operativen Alltagshektik
den Blick weitet für Dynamik und Optionen des Andersmachens.
Vor allem sind die Führungskräfte fit zu halten: fit für rasche Veränderungen. Sie
müssen alternative Szenarien durchspielen: weniger Schema F, mehr Plan B. „Cor-
porate Foresight“ ist ein eigenständiges Aufgabenfeld der strategischen Planung. Eben
Methoden jenseits der traditionellen Marktbeobachtung. Dazu gehören Trend- und
1  Transformationale Führung – Was will sie? Wie geht sie? 7

Umfeldanalysen, die Expertenbefragung sowie Techniken wie „Preferred Futuring“,


„Presencing“ und die Szenariotechnik. Gerade die Letzteren – das Spielen mit alter-
nativen Zukunftsbildern – helfen, den eventuell notwendigen schnellen Kurswechsel
zu simulieren. Vor allem aber sollten in Zukunftskonferenzen alle Mitarbeiter sensibi-
lisiert werden für die Offenheit dessen, was vor uns liegt. In Open-Space-Konferenzen
kann man Mitarbeiter zum Mitdenken anregen, gemeinsam von der Zukunft her denken,
Alternativen einführen. Weg vom Vergangenheitsdruck und hin zum Zukunftssog! Und
ein CEO, der sich nicht mindestens 50 Tage des Jahres auf Zukunftskongressen weltweit
mit den entlegensten Ideen konfrontiert, ist nicht auf der Höhe der Komplexität, die zu
bewältigen er bezahlt wird.
Wer in Szenarien denkt, auch in radikalen Szenarien, der wird konträre Meinungen
provozieren. Dazu braucht man eine offene Diskussionskultur. Sonst kommt da nichts
zur Schärfe. Zukunftsfähig sind nicht zentralistisch geführte Firmen, in denen charisma-
tische Führer einsame Entscheidungen fällen. Sondern jene, in denen wahrscheinliche
und unwahrscheinliche Szenarien diskutiert werden und Meinungsvielfalt zur notwen-
digen Redundanz führt. Gut vorbereitet auf Transformationen sind mithin Unternehmen,
in denen weniger Gehorsam und Konformität gefordert werden, sondern Eigensinn und
Widerspruchsgeist. Von hoch angepassten Ja-Sagern hat man ohnehin immer genug.
Als Beispiel für die Umbrüche, die eine transformationale Führung erfordern, wähle
ich die „Digitalisierung“ – obwohl kaum noch Zukunftserwartung, sondern in vielen
Wirtschaftssektoren schon Gegenwartsaktualität.

1.2.1 Beispiel: Digitalisierung

Wir sind im analogen Zeitalter groß geworden und weder anthropologisch noch erfah-
rungskulturell vorbereitet für das digitale Zeitalter. Das ist folgenschwer. Denn unter
dem Stichwort der „Digitalisierung“ ist ein fundamentaler Umbruch in der Arbeitswelt
wahrscheinlich. Wie selten zuvor ist eine transformationale Führung hier unverzichtbar.
Zwar wissen wir insgesamt noch wenig – wir sind die Generation des Übergangs von
der analogen zur digitalen Welt. Klar erkennbar ist allerdings das Hauptparadox digitaler
Arbeitswelten: Trotz aller scheinbar „digitalen“ Klarheit nehmen die Unschärfen zu. Und
zwar bei mindestens sieben Leitunterscheidungen:

1. Physisch/virtuell: Kommunikation und Kooperation verlagern sich in den virtuel-


len Raum. Büros verlieren ihre Bedeutung bzw. konvertieren zu Entertainment-Zen-
tren, wie es das Silicon Valley vormacht. Ohne physische Präsenz wird es jedoch
schwieriger, Zusammenarbeit zu organisieren. Will man Kooperation (vor allem
bereichsübergreifend, nicht nur Koordination), dann sind gemeinsame Probleme,
kommunikationsfördernde Architekturen und Gehaltssysteme neu zu denken.
2. Innen/außen: Die Unternehmensgrenzen verschwimmen. Kollektive Identität, „Wen
meinen wir, wenn wir ‚wir‘ sagen?“ und bisher eher randständig behandelt, rückt
8 R.K. Sprenger

ins Zentrum der Führungsarbeit. Zeitarbeit, Befristungen und Digitalnomadentum


machen das Identitätsstiftende von Grenzen bewusst. Transaktionskosten erfahren
dabei eine Neu- und Höherbewertung.
3. Kurzfristig/langfristig: Insgesamt wird die Volatilität innerhalb und außerhalb der
Unternehmen wachsen. Marktlücken sind nur noch Gletscherspalten, Aufbauorganisa-
tionen sind transitorischer Natur. Langfristige Planung ist schwierig; passé ist lineare
Führung mit Zielen, starren Budgetprozessen und langatmigen Reportings.
4. Privat/beruflich: Die Vorstellungen von Karriere und Sinnsuche vervielfältigen sich.
Die Währung für viele – nicht nur für Angehörige der sogenannten Generation Y – ist
nicht mehr Geld und Karriere, sondern Zeit, Gesundheit und Sinn. Das gilt sowohl für
die Partialinklusion alter Schornsteinindustrien wie für die Totalinklusion à la Google.
Führung wird sich daher vom „One size fits all“ kulturell wie arbeitsorganisatorisch
verabschieden.
5. Vertikal/horizontal: Hierarchie, Netzwerk, Co-Leadership und Projekte überlagern
und unterlaufen sich flexibel. Führung wird dadurch indirekter, bezieht sich vorrangig
auf Institutionen: Silos aufbrechen, Abteilungswände einreißen, Co-Working-Spaces
schaffen, digitale Räume für das Kreativitäts-Crowdfunding eröffnen. Führung wird
nicht mehr einzelne Mitarbeiter optimieren, sondern Netze flechten und Aufmerksam-
keit kanalisieren. Fachliche Überlegenheit wird nur noch selten Führung legitimieren.
Digital Leadership ist Pull, nicht Push; Drohen funktioniert nicht bei flexiblen Spezia-
listen.
6. Individuell/kollektiv: Die digitale Elite postuliert zwar die Personalisierung der
Märkte, die Selbstermächtigung des Individuums. Aber daraus lässt sich kein
Geschäftsmodell destillieren. Erst wenn diese Individuen zu Typen verdichtet sind,
für die man bestimmte gemeinsame Merkmale analysiert hat, werden sie für die digi-
tale Welt interessant. Vorsicht! Wenn das Unikat stört, gerät die Wirklichkeit aus dem
Blick: „Wer viel misst, misst viel Mist.“
7. Ökonomisch/moralisch: Es besteht schon heute die technische Möglichkeit, mit sozio-
metrischen „Badges“ das Verhalten des Mitarbeiters („Wo ist er? Was tut er? Wohin
geht er?“) bis hin zu seiner Stimmung zu kontrollieren. Diese Daten lassen sich für
eine Echtzeitbeeinflussung durch Strafen oder Belohnungen nutzen. Ein weiteres Mal
und unter neuen telematischen Bedingungen stellt sich die Frage, ob wir das tun soll-
ten, was wir tun können.

Für alle diese Leitunterscheidungen muss eine transformationale Führung neue Balancen
entscheiden. Das wird die Ambiguitätstoleranz der Führung massiv fordern. Anders for-
muliert: Sie muss auf Prinzipien verzichten. Sie muss Unklarheit, Mehrdeutigkeiten und
Paradoxien mögen und darin Chancen sehen, nicht Risiken.
Vor der größten Herausforderung aber steht die klassische Kernaufgabe von Füh-
rung: Konflikte entscheiden. Das ist das Neue dabei: Zu der klassischen Überfülle
der Möglichkeiten, die ein Unternehmen paralysieren kann (siehe oben), addiert sich
die Überfülle der Daten und ihrer Vernetzung. Es war zwar schon immer so, dass die
1  Transformationale Führung – Was will sie? Wie geht sie? 9

Notwendigkeit der Entscheidung die Möglichkeit der Erkenntnis überschritt. Aber das
galt früher für Situationen unvollständiger Information. Heute gilt es für Situationen voll-
ständiger Information. In analogen Zeiten musste man Daten mühsam beschaffen, um
(unbegründbare) Entscheidungen zur (begründbaren) Wahl zu verschieben. So, wie es
einst Ex-VW-Chef Carl Hahn tat: „Wenn ich etwas nicht will, lasse ich es rechnen.“ In
digitalen Zeiten hingegen besteht die Hauptfähigkeit darin, Daten zu ignorieren. Denn
Informationen machen Entscheidungen nicht leichter, sondern schwerer.
Man kann den Entscheidungsdruck reduzieren, indem man konsequent dezen-
tralisiert, also Verantwortung an sich selbst steuernde Einheiten abgibt. Man kann ihn
reduzieren, indem man hervorragende Leute einstellt und ihnen vertraut. Aber es wird
dilemmatische Situationen geben, in denen Routinen versagen. Was braucht es dann?
Mut und Urteilskraft! Mut zur eigenen Sichtweise. Mut zum „Nein“ gegenüber dem
ungeheuren Datendruck. Vor allem die Beratungsindustrie wird für ihre eigene Nach-
frage sorgen, indem sie den Unternehmen immer neue Datenordnungen verkauft. Das
ist ein wichtiger Punkt. Die digitale Welt ist eine Antwortwelt. Die Macht hat, wer die
Fragen stellt. Fragen, die wiederum Informationen als Antworten generieren. Heute stellt
Google die Fragen. Und Google ist ein amerikanisches Unternehmen. Weshalb die digi-
tale Industrie eine amerikanische Industrie ist – und voraussichtlich bleiben wird. Das
prägt das Meinen (von Denken mag ich nicht sprechen). Dieses Meinen hebt oder senkt
den Daumen. Ein intrinsischer Wert wird sich da kaum finden, weder bei den Fragen,
noch bei den Antworten. Also: Mut zur eigenen Frage, sich keine Antworten aufzwin-
gen lassen. Und das meint auch den Mut zum eigenen Weg, der nicht durch Standards,
Benchmarking und Heilsgeschichten anderer Unternehmen platt gewalzt ist. Denn
Vorsicht! Alle Vorbilder satteln auf Messungenauigkeiten, die sich mit lawinenhafter
Geschwindigkeit vergrößern; auf Rundungsfehlern, die sich zu bizarren Wirklichkeiten
addieren; auf Korrelationen, die durch ungeheure Datenmengen Kausalität vortäuschen.
Zahlen werden dann zu Gründen, die Entscheidung und Verantwortung eliminieren, weil
sie Alternativlosigkeit einflüstern. Aber Daten sind keine Urteile, Wissen ist nicht Bil-
dung, Zusammenhänge sind nicht Ursachen. Für eine transformationale Führung gilt
auch am Beispiel der Digitalisierung: Unterscheide dich oder stirb!

1.2.2 Der Störungsauftrag

Kommen wir zurück zum Grundsätzlichen der transformationalen Führung, dann gilt es
diesen fast naturgesetzlichen Kreislauf zu beachten: Wohlfahrt führt zu Dekadenz. Und
die Dekadenz unterhöhlt dann die Wohlfahrt. Um diesen Zyklus zu unterbrechen, müs-
sen wir in die alltagshypnotische Routine die Zukunft einbauen. Die Unschärfe. Die
Überraschung. Das ist der Störungsauftrag der Führung. Diese Störung ist eine Res-
source zur Revitalisierung der wirtschaftlichen Kraft, um nicht dekadent zu werden,
nicht zu verweichlichen, sondern anpassungsfähig zu bleiben. Damit ist nicht nur das
kluge Reagieren auf krisenhafte Umweltveränderungen gemeint. Gemeint ist vielmehr
10 R.K. Sprenger

die präventive Vorbereitung der Organisation auf mögliche Veränderungen. Eine Alar-
mierfunktion, die Wachsamkeit und eine Dauerskepsis am Weiter-so signalisiert.
Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muss Führung in homöopathischen Dosen
Störungen in die Organisation einführen. Sie muss das Unternehmen in optimistischer
Absicht beunruhigen. Sie füttert das Unternehmen mit Aktionen, mit denen es nicht
rechnen kann und die dennoch handhabbar sind. Weil nur die permanente Austragung
von Krisen es fit hält. Bewusst herbeigeführte Krisen zur Aktivierung der Zukunftsfä-
higkeit. Die Betonung liegt dabei auf „bewusst“. Man kann es auch „Management by
Crisis“ nennen – Steve Jobs schien das intuitiv zu beherrschen. Der nervte sein Unter-
nehmen ohne Unterlass – zu beispiellosen Erfolgen.
Führung ist Politik der Unterbrechung. Kernaufgabe der Führung ist der Entwurf
einer Unternehmensmöglichkeit, die mit dem, was ist, bricht. Es ist schlicht überlebens-
wichtig, die Routinen immer wieder aufzubohren, die Strukturen im Unternehmen regel-
mäßig infrage zu stellen, die Leute von den Stühlen zu schieben. Die Erfolgsrezepte der
Vergangenheit ehren, indem man sie hinter sich lässt.
Wer erst in der Krise reagiert, kann allenfalls improvisieren, im schlimmsten Fall
nicht mal das. Wenn wir den Erfolg als bleibende Errungenschaft betrachten und damit
gleichsam als ein Ende, dann wird er bald vergehen. Der Erfolg muss daher zu einem
neuen Anfang werden, zu einem neuen Start, der den alten Erfolg überholt. Nur wenn
der Erfolg ein neuer Anfang ist, kann er nachhaltig sein. Das bekannteste Beispiel dafür
liefert sicher Google, das den gesamten Markt, insbesondere seinen einstigen Wettbewer-
ber Yahoo durch permanente Weiterentwicklung des Produktportfolios vor sich hertreibt.
Das wusste schon Machiavelli vor über 500 Jahren: „Wer dauerhaften Erfolg haben will,
muss sein Vorgehen ständig ändern.“
Management, das das Unternehmen zukunftsfähig machen will, ist daher vor allem
die Produktion von Musterbrechung. Was im Umkehrschluss bedeutet: Wer alles weich-
spült und den Menschen Märchen über glorreiche Zukünfte erzählt, wer Inhalte glättet
statt schärft, verliert den Anschluss. Dabei geht es nicht darum, in dandyhafter Manier
das Herkommen willentlich zu entwurzeln, sondern, ganz im Gegenteil, das Herkommen
zu bewahren, indem man es zukunftsfähig macht. So wie es Gustav Mahler formulierte:
„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“ Anders
formuliert: Wie können wir in unserem Unternehmen den Gründergeist lebendig halten?
Wie machen wir aus unserem Unternehmen eine Wanderdüne stetiger Selbsterneuerung?
Wie transformieren wir?
Dazu im Folgenden drei strategische Vorschläge.

1.3 Strategien der Transformation

1.3.1 Institution, nicht Individuum

Wenn wir über die Einflüsse nachdenken, die menschliches Führungsverhalten prägen,
können wir zwei Sichtweisen unterscheiden. Die eine personalisiert das Verhalten; sie
1  Transformationale Führung – Was will sie? Wie geht sie? 11

fokussiert Charaktereigenschaften und Fähigkeiten von Einzelmenschen. Es ist ein hel-


denhaftes Managementkonzept im besten Sinne, eine heroische Art des Führens, der Hit-
zepol des Führungsdenkens. Sigmund Freud steht hier Pate.
Eine andere Sichtweise bietet die Systemtheorie. Sie erinnert daran, dass wir Men-
schen nicht nur agieren, sondern auch reagieren. Wir treffen auf Vorhandenes und pas-
sen uns an. Auch Führungskräfte sind keine frei schwebenden Charaktere, sondern
eingebunden in die strukturelle Verfasstheit eines Unternehmens. Zwar entscheiden Füh-
rungskräfte zwischen verfügbaren Alternativen. Aber die soziale Realität des Führens
beinhaltet zahlreiche Vorentscheidungen, die das Verhalten strukturieren. Der Rahmen
der Möglichkeiten ist durch Organisation, Prozesse und Abläufe bisweilen sogar eng
gesteckt.
Der psychologisch-personenzentrische Ansatz glaubt, man könne intrapsychische
Vorgänge eines Mitarbeiters erkennen und entsprechend beeinflussen. Diese Arbeit im
System, die von der psychologischen Führung traditionell bevorzugt wird, ist eine direkte
Führung. Sie optimiert Vorhandenes, vorrangig Menschen.
Das systemische Denken hält das für naiv. Die Arbeit am System, die für viele Füh-
rungskräfte noch ungewohnt ist, ist eine indirekte Führung. Das systemische Denken
bevorzugt das Setzen von Rahmenbedingungen. Es sorgt für kluge Institutionen im Sinne
der Transformation.
Sowohl bei der direkten wie bei der indirekten Führung geht es um Verhaltensbeein-
flussung der Mitarbeiter. Sie versucht, unwahrscheinliches Verhalten von Mitarbeitern
wahrscheinlicher zu machen. Der Hauptstrom der gegenwärtig herrschenden Manage-
menttheorie lebt aber von der Individualisierung struktureller Schieflagen. Sie tendiert
dazu, die Menschen als die „weichen“ Faktoren zu sehen, den institutionellen Rahmen
als die „harten“. Meistens sollen sich die Menschen ändern, aber die Strukturen, unter
denen sie diese neue Leistung erbringen sollen, bleiben die alten. Man kümmert sich
nicht um die konkreten Bedingungen der Möglichkeit veränderten Verhaltens. So fordert
man zum Beispiel mehr Kreativität von den Mitarbeitern, erhöht aber andererseits den
Rechtfertigungsdruck. So spricht man von Kundenorientierung, schickt aber die Verkäu-
fer mit dem verbonifizierten Auftrag ins Feld, soundsoviel Stückzahlen von Produkt X
in den Markt zu drücken. Oder man glaubt, den Vertrauenspegel und gleichzeitig den
Verregelungsgrad in einem Unternehmen maximieren zu können (vor allem Vorstands-
vorsitzende glauben das). Dabei ist es genau umgekehrt: Die Menschen sind die harten
Faktoren, die Strukturen die weichen. Man kann den institutionellen Rahmen leich-
ter und schneller ändern und die Menschen werden sich dem anpassen. Menschen aber
direkt zu ändern, ihre Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen, das ist unwahrschein-
lich. Wir können nicht das Wasser ändern, aber wir können Wasserbauer sein – den Lauf
des Wassers beeinflussen.
Führung wird seit Jahrzehnten idealistisch überhöht. Schon zehn Prozent des übli-
chen Wunschprofils würde aus Führungskräften Halbgötter machen. Im Regelfall geht
es mehrere Nummern kleiner. Und vor allem realistischer. Wenn wir also etwas ändern
wollen (etwa, weil eine Transformation überlebenswichtig ist), dann sollten wir zunächst
auf den institutionellen Rahmen schauen. Das ist gelebte Kontextsensibilität: Eine
12 R.K. Sprenger

erfolgreiche Intervention wird vorrangig geschichtlich entstandene Institutionen in den


Blick nehmen. Dazu gehören insbesondere die Prozesse der Personalauswahl, insbeson-
dere die Selektion von Führungskräften.
Um diese Fragen geht es:

• Welche Institutionen behindern das Angestrebte?


• Welche organisatorischen Engpässe machen den Erfolg unwahrscheinlich?
• Welche Führungsstrukturen stehen im Widerspruch zum Angestrebten?

Erst wenn wir dort aufgeräumt haben, erst wenn wir systemische Blockaden zur Seite
geschafft haben, wenn wir also die „Bedingungen der Möglichkeit“ des Erfolges verbes-
sert haben, dann – also erst danach! – können wir auch das Individuum anschauen. Denn
natürlich gibt es Fehlbesetzungen, natürlich gibt es Unfähigkeit, natürlich gibt es Versa-
gen. Und natürlich gibt es Menschen, die in ihrem ganzen Verhalten die Transformation
geradezu dementieren. Aber mehr noch gibt es strukturelle Fehlentscheidungen.
Der normative Vorrang des Organisatorischen vor dem Individuellen: Das ist kein
Pessimismus, keine Absage an die Tatkraft und das Talent des Einzelnen, sondern eine
realistische Einschätzung der Sachlage. Denn kluge Menschen haben in dummen Orga-
nisationen keine Chance.
Fassen wir zusammen: Wenn Transformation nicht gelingt, dann deshalb, weil vor-
zugsweise die direkte Führung des personenzentrischen Ansatzes exekutiert wird. Zwar
gehört heute der Hinweis, dass ein rein personenzentrisches Vorgehen nicht ausreicht,
zum normativen Pflichtpensum der Vorausschauenden. Tatsächlich aber passiert wenig.
Die indirekte Führung, das Verändern der Strukturen bleibt tabu. Warum? Weil man dann
den Spiegel wenden müsste, weil man sich dann auch selbst anschauen müsste. Aber
so sind es nun mal immer die anderen, die sich ändern müssen. Das Motto dazu: „Wir
machen die Dusche an und stellen die anderen drunter.“ Die Differenz zwischen direkter
Führung und indirekter Führung ist ein Zynismusgenerator.
Was aber ist das Kriterium, an dem sich die Transformation zu orientieren hat?

1.3.2 Externe Märkte, nicht interne

Das Einzige, was im Unternehmen zählt, ist die profitorientierte Schaffung von Kunden-
nutzen. Das festzustellen ist nur scheinbar banal. Schaut man sich die konkrete innere
Verfasstheit der meisten Unternehmen an, dann sind sie strukturell kundenfeindlich. Sie
beschäftigen sich vorrangig mit sich selbst, entwickeln Silologiken, eröffnen permanent
neue interne Märkte, die kafkaeske bürokratische Hindernisläufe abstecken. Erinnern wir
uns aber an den Urgrund der Unternehmensgründung, dann kann die transformationale
Führung nur vom zukünftigen Kunden her denken. Ist unser Kunde auch morgen noch
bereit, für unser Produkt Geld auszugeben? Welche Ordnung entsteht, wenn sich der
externe Kunde einen Produzenten sucht? Wie zentral oder dezentral wir sind, hängt ab
1  Transformationale Führung – Was will sie? Wie geht sie? 13

von den Kundenerwartungen – und nicht von kurzsichtigen Effizienzbestrebungen. Und


seien wir skeptisch, wenn jemand vom „Ausrollen“ von Initiativen spricht – meist meint
er damit Prozesse, die von innen nach außen gedacht sind. Und eben nicht anders herum.
Man muss sich also erinnern. Man muss sich erinnern an die wirtschaftliche Wur-
zel des Unternehmens, warum ein Unternehmen einst gegründet wurde. Und aus dieser
Wurzel alles andere ableiten. Das bedeutet permanentes Beobachten der Kunden und der
Märkte. Und Antizipation der Entwicklungen. Bill Gates sagte 1994 den visionären Satz:
„Banking is essential, banks are not.“ Weder sind die Produkte festgeschrieben, noch die
Herstellungsverfahren, weder das Personal, noch die Finanzierung, noch die Organisa-
tion, noch der Ort, noch die Rechtsform. Weil nichts so bleibt, wie es ist, weil nichts
garantiert ist. Sonst setzt man unter Umständen etwas voraus, was schon längst abstei-
gender Linie ist.
Wenn jeder im Unternehmen weiß, wer sein Kunde ist und wie dieser sich entwickelt,
dann weiß er auch, was er tun muss. Alle Einheiten des Unternehmens müssen in der
Lage sein, sich mit Blick auf den konkreten Kunden vor Ort weitgehend selbst zu führen.
Denn dieser Suchprozess – das wusste schon von Hayek – ist intelligenter als jedes Top-
Down-Design. Dann muss man auch nicht am grünen Tisch markt- und wirklichkeits-
ferne Gesamtarchitekturen entwerfen. Natürlich, die Organisation eines Unternehmens
kann geplant sein; besser – weil kundenorientierter – ist sie, wenn sie sich ergibt. Wenn
sie den Kundenwünschen folgt.
Gute Unternehmensstrukturen, gute Produkte und Dienstleistungen kommen also erst
zustande, wenn man den Kunden an ihrer Produktion gleichsam „beteiligt“. Deshalb
heißt ja der Kunde „Kunde“, weil er von etwas kündet. Es ist jedenfalls klug, beim Bau
einer Organisation von den antizipierten Verhaltensmustern und Wunschvorstellungen
der Kunden auszugehen. Diese durch Beobachtungen und Experimente empirisch zu
analysieren. Nicht durch Befragungen! Befragungen erschaffen Wirklichkeiten, sie bil-
den sie nicht ab. Antworten sind keine Fakten. Die experimentelle Verhaltensanalyse des
Kunden muss die Grundlage der Organisation sein. Und nicht der Glaube, man wisse
schon, was Kunden wollen. Schon gar nicht das Wissen, was Kunden auf Fragen antwor-
ten.
Statt Lächeloffensiven zu starten, sollten wir alles unterlassen, was die gewinnorien-
tierte Befriedigung von Kundenbedürfnissen behindert. Die entsprechenden Strukturen
kann man so befragen:

• Welche Bedingungen zerstören das Bewusstsein, für den Kunden zu arbeiten?


• Wie müssen Unternehmen gebaut sein, dass sich kundenfreundliches Verhalten
gleichsam von selbst ergibt?
• Unter welchen Bedingungen würde sich die Wertschätzung der Kunden ganz von
selbst einstellen?
• Was lässt uns vergessen, dass der Kunde unser Gehalt bezahlt?
• Welche Organisationsformen verhindern Kundenorientierung?
• Und: Was tragen wir als Management dazu bei?
14 R.K. Sprenger

1.3.3 Ausmisten, nicht reparieren

1807 fielen bemerkenswerte Worte. Es gelte, „alles zu entfernen, was den Einzelnen bis-
her hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maaß seiner Kräfte zu errei-
chen fähig war.“ Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. schrieb das in seinem berühmten
Oktoberedikt, das die Stein-Hardenbergschen Reformen anstieß – das Paradebeispiel
staatlicher Transformation schlechthin. Es mussten viele Hindernisse weggeräumt wer-
den; zu viele Strukturen versperrten den Weg, was die preußische Niederlage gegen
Napoleon erst ermöglicht hatte.
Analog dazu besteht die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens hauptsächlich aus den
Moden, die es sich abgewöhnt. Vorrang hat, was frei macht. Das heißt: Aufräumen! Ent-
rümpeln! Ausmisten! Den ganzen Managementfirlefanz in Zweifel ziehen, der in den letzten
Jahrzehnten angespült wurde. Regelmäßig ist zu fragen: Welche Institutionen, Systeme und
Richtlinien können wir wegnehmen, ohne dass die Architektur des Unternehmens bedroht
ist? Was können wir lassen? Dann kehren auch Energie, Sensibilität und Lebensfreude wie-
der. Wir sind flexibler und offen für Neues. Nach Peter Drucker ist es die Hauptaufgabe des
Unternehmens, sogar die eigenen Produkte selbst abzuschaffen – bevor es der Wettbewerb
tut. Konzentrieren: immer auf das Notwendige, selten auf das Wünschenswerte, nie auf das
Schädliche.
Woran sich dabei orientieren? Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sollten wir uns wie-
derum an der Leitunterscheidung des Kunden orientieren: Zahlen/Nichtzahlen. Bezahlt
uns ein Kunde dafür? Auch in der Zukunft noch? Was können wir vom Unternehmen
alles wegdenken, ohne dass der Kunde der Zukunft etwas vermisst? Was darf fehlen,
ohne dass es fehlt – ohne dass das Unternehmen in den Augen der Kunden seine Iden-
tität verliert? Argumentiert man ethisch, dann sollten wir in der Tradition von John Stu-
art Mill und Locke die „Schädigung“ zur Grenze erheben. Welche Instrumente schaden?
Welche Institutionen entmutigen transformationale Führung? Verunmöglichen sie gar?
Welche Organisationsstrukturen werden von der zukünftigen Marktentwicklung ent-
wertet (zum Beispiel: Stellenbeschreibungen, Zielvereinbarungsprozesse)? Wir zielen
also auf die Abschaffung von Institutionen, die vor dem Hintergrund einer angestrebten
Transformation nicht zu rechtfertigen sind. Das heißt nicht, dass es keine Gründe für ihre
Erhaltung gäbe. Es gibt immer Rechtfertigungen für bestimmte Vorgehensweisen, sonst
wären sie nicht implementiert worden. Aber ihre Zukunftsfähigkeit ist zweifelhaft.
Wo bleibt das Positive? Wollen Menschen nicht Lösungen? Ja, Menschen wollen
Lösungen. Und genau die können wir im Wortsinne anbieten: Ein Sich-Lösen von Ins-
titutionen, die der Transformation im Wege stehen. Wir müssen lernen, uns von lieb
gewonnenen Vorstellungen und Strukturen zu verabschieden. Wir können nur an Höhe
gewinnen, wenn wir Ballast abwerfen.
John Maynard Keynes schrieb einst: „Die Schwierigkeit ist nicht, neue Ideen zu fin-
den, sondern den alten zu entkommen.“ Management, das traditionell zur permanenten
Veränderung aufruft und sich selbst als äußerst veränderungsresistent erweist, wird aber
1  Transformationale Führung – Was will sie? Wie geht sie? 15

kaum an Institutionen festhalten können, die im Wesentlichen vor 150 Jahren erfunden
wurden. Man macht keine neuen Unternehmen mit alten Institutionen.

1.4 Die Basis: Vertrauen in gemeinsame Zukunft

Es ist eine Herausforderung für viele Unternehmen, eine veränderungsbereite und


-fähige Organisation zu schaffen. Man hat ja alle zum Gegner, die aus dem Herkömmli-
chen ihre Vorteile ziehen. Und das sind vorrangig die Führungskräfte selbst. Aber es hilft
nichts, ungestörtes Arbeiten ist der sichere Weg ins Verderben. Wenn man das Unterneh-
men zukunftsfähig machen will, dann muss man es transformationsfähig machen.
Dafür wird niemand geliebt. Aber vielleicht doch anerkannt. Dann nämlich, wenn
die Mitarbeiter ihr langfristiges Selbstinteresse gewährleistet sehen. Wenn sie in der
Transformation einen Beitrag zur Überlebenssicherung erkennen können. Wenn die
Zumutungen als Investition in eine gemeinsame Zukunft erlebt werden. Dann können
die Störungszumutungen, die mit einzelnen Entscheidungen und Interventionen verbun-
den sind, für den Einzelnen zustimmungsfähig sein. Zukunftsfähigkeit ist „Transforma-
tion + gemeinsame Zukunft“.
Jede Organisation präsentiert sich im Angesicht der Zukunft, die sie erwartet. Das
kann jeder spüren, wenn er ein Unternehmen betritt – sowohl als Mitarbeiter wie als
Kunde (und als Berater). Transformationale Führung ist an diesen Zukunftsentwurf
gebunden. Die Mitarbeiter stellen nämlich permanent Fragen. Erst einmal: Hat das
Unternehmen Zukunft? Was ist möglich, wahrscheinlich? Sodann: Strahlt diese Zukunft
hell, oder ist dort alles grau in grau? Vielleicht sogar schwarz? Schafft die Führung es,
die Zukunft des Unternehmens zu sichern? Und die wichtigste Frage: Plant sie diese
Zukunft mit mir?
Lautet gerade die letzte Antwort „Nein“, dann stellt sich das Gefühl des Gemeinsame-
Sache-Machens nicht ein, dann entwickelt man keine Leistungspartnerschaft, dann bil-
det man auch keine „gefühlte“ Solidargemeinschaft. Loyalität setzt ein erhebliches Maß
an erlebbarer Solidarität voraus. Wenn Menschen aber das Fehlen dauerhafter Koope-
rationsabsichten spüren, stellen sie sich darauf ein. Ein Unternehmen wird niemals das
Vertrauen seiner Mitarbeiter (wieder)gewinnen, wenn es nicht überzeugend demonstriert,
dass es sich um die Menschen im Unternehmen sorgt.
Ohne die Erwartung einer gemeinsamen Zukunft werden die Mitarbeiter einer trans-
formationalen Führung nicht folgen. Man setzt sich nur ein, wenn man eine gemeinsame
Zeit vor sich hat. Nur wenn wir wissen, dass ein gemeinsamer Weg vor uns liegt, wächst
alles, das Bindung erzeugt. Das gilt für unser Geschäftsleben. Das gilt für unser Privatle-
ben. Auch da sind ja bisweilen Transformationen fällig.
So schließt sich der Kreis meiner Argumentation: Eine transformationale Führung
antizipiert bzw. reagiert auf fundamentale und zum Teil bruchhafte Änderungen im wirt-
schaftlichen Umfeld. Sie denkt das Unternehmen in radikaler Weise von der Marktdyna-
mik her und arbeitet dabei vorrangig am System, nicht im System. Einen „one best way“
16 R.K. Sprenger

gibt es dafür nicht. Festgeschrieben ist lediglich das Überleben des Unternehmens unter
zukünftigen wirtschaftlichen Bedingungen. Das ist gleichzeitig der Minimalkonsens, der
der transformationalen Führung die Gefolgschaft sichert.

Über den Autor

Dr. Reinhard K. Sprenger  ist der profilierteste Führungs-


experte Deutschlands. Sprenger ist in seinem Denken und
Handeln der Vielfalt, dem Kontrast und dem Menschen als
Freiheitswesen verpflichtet. Schon in seiner Studienzeit
verweigerte er sich fachlichen Einbahnstraßen: Er studiert
Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft, Geschichte
und Sport. 1985 promoviert er zum Doktor der Philoso-
phie und erhält den Carl-Diem-Preis für seine Disserta-
tion „Nationale Identität und Modernisierung“. Nach dem
Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien wird Spren-
ger wissenschaftlicher Referent beim Kultusminister des
Landes Nordrhein-Westfalen. Bei 3M in Deutschland wird er Leiter der Personalent-
wicklung. Außerdem ist er Lehrbeauftragter an den Universitäten Berlin, Bochum, Essen
und Köln. Seit 1990 ist er tätig als selbstständiger Unternehmensberater, Keynote-Spea-
ker und Buchautor („Mythos Motivation“, „Radikal Führen“, „Das anständige Unterneh-
men“).
Führung in digitalen Zeiten
Ursula Schütze-Kreilkamp
2

Zusammenfassung
Das „Digital Mindset“, das heißt Sharing, Partizipation, Kooperation und Kollabo-
ration in- und außerhalb der Unternehmen, mit Partnern und Konkurrenten, fordert
die bisher zumeist hierarchisch strukturierten und alphatierartig sich generierenden
Führungskräfte in neuer Weise. Wo Wirksamkeit sich bisher als qua Hierarchie defi-
nierte Macht erzeugte, stehen jetzt Überzeugung, Werben, empathisches Verstehen,
gemeinsames Ringen um den gemeinsamen Erfolg im Fokus. Egoismen, narzisstische
Machtspiele, politisch erfolgreiche, aber inhaltsarme Ränkespiele verhindern Kreati-
vität und in Folge Innovation.
Im folgenden Beitrag wird der Fokus auf die Entwicklung einer Arbeitswelt 4.0,
die Notwendigkeit einer stabilen Unternehmenskultur als Anker und Motor des Wan-
dels in digitalen Zeiten und die sich daraus ergebenden Anforderungen an Führung
gerichtet. Ziel ist es, Anregungen zur Reflexion zu geben.
Unternehmen agieren heute in einer Welt, die durch Globalisierung, rasenden Wis-
sens- und Informationszuwachs, starke Konkurrenz und schwindende Ressourcen
gekennzeichnet ist. Die Volatilität der Märkte, verkürzte Produktlebenszyklen, unüber-
sichtliche und sich ständig verändernde Kundenwünsche bedingen einen starken Inno-
vationsdruck. Diese Komplexitäten müssen analysiert, verstanden, strategisch integriert,
kulturell adaptiert und, begleitet von Mitarbeitern und Führungskräften, erfolgreich
umgesetzt werden. Und dies nicht einmalig oder in den bisher bekannten mehrjährigen
Zyklen, sondern in einem an Geschwindigkeit ständig zunehmenden Kontinuum. Der
stetig und in hoher Geschwindigkeit stattfindende Wandel wird zur stabilen Anforde-
rungsgröße für Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter.

U. Schütze-Kreilkamp (*) 
DB Mobility Logistics AG, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 17


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_2
18 U. Schütze-Kreilkamp

Inhaltsverzeichnis

2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2 Transformationale Führung vs. transaktionale Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.3 Kernelemente der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.4 Anforderung an Führung in digitalen Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.4.1 Arbeitswelt 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.4.2 Thesen zur Arbeitswelt 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.4.3 Wie kann Dringlichkeit in Wirksamkeit überführt werden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Über die Autorin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

2.1 Einleitung

Die hierarchische Organisation hat über lange Jahre erfolgreich Unternehmen strukturiert
und erfolgreiches Arbeiten möglich gemacht. Sie ist durch Klarheit der Verortung von
Zuständigkeit, Verantwortung, Risiko und vor allem Macht gekennzeichnet. Wer oben in
der Hierarchie stand, hatte Macht. Diese Macht war gleichzeitig ständig bedroht. Mit-
hilfe von Statussymbolen wie Eckbüros und Firmenwagen konnten sich die Mächtigen
ihrer Position im Unternehmen versichern. Ein Scheitern in der hierarchischen Organisa-
tion war eine individuelle Katastrophe, Entmachtung und Beschämung.
Die Zeiten, in denen Hierarchie und Status das Wichtigste waren, sind vorbei. Abge-
löst von der Notwendigkeit, Inhalte in das Zentrum der Betrachtung zu stellen, verlieren
die hierarchische Organisation und ihre alten Symbole zunehmend an Bedeutung.
Negativ formuliert geht es den Mächtigen an den Kragen. Die alten Vergewisserungs-
mechanismen der Mächtigen werden nicht mehr anerkannt, Autorität und Kompetenz der
Führungskräfte werden infrage gestellt und eine neue Generation von hoch qualifizierten
kehrt Unternehmen und ihren Führungskräften einfach den Rücken, wenn es Anlässe zur
Unzufriedenheit gibt.
Positiv formuliert setzt sich die Sehnsucht der Kunden, Mitarbeiter und Führungs-
kräfte nach einem sinnhaften, „guten“ Leben durch. Wir alle wollen verstanden werden,
wollen nicht nur durch Worte, sondern auch mit und durch Gefühle erreicht, einbezo-
gen, mitgenommen, gesehen und gehört werden. Wünsche, Bedürfnisse, Ziele und Stra-
tegien sollen so zum einen emotional mitnehmend, zum anderen intellektuell verstehbar
nahegebracht werden. Das Wechselspiel zwischen den Kundenwünschen, dem Druck
durch Konkurrenz und dem kreativen Potenzial Einzelner oder Gruppen, das Entstehen
von Innovation, die Möglichkeit der umsetzenden Mitgestaltung, sei es von Produkten,
Bereichen oder Unternehmen, können Energien freisetzen. So können Einzelne, Gruppen
oder Unternehmen (bis hin zu Gesellschaften) im produktiven Prozess des Entstehens
und Umsetzens von Ideen zu Kraftzentren werden, die aus sich heraus Großartiges voll-
bringen.
Was sind positiv unterstützende, was verhindernde Faktoren?
2  Führung in digitalen Zeiten 19

Transformationale
Führung

Transaktionale
Führung
Vorbild/Vorleben
Inspiration
Geistige Anregung
Individuelle
Behandlung
Bedingte
Belohnung Optimal ist eine hohe Ausprägung
Management by transformationaler Führung bei
Exception moderater Ausprägung
(Eingreifen bei transaktionaler Führung
Problemen)

Abb. 2.1  Situative Dualität von transformationaler und transaktionaler Führung

So verschieden Menschen sind, so verschieden sind auch ihre Bedürfnisse nach Halt,
Struktur, Rahmen, Anleitung, Regeln oder auch Freiräumen, Selbstgestaltung, Eigen-
und Mitverantwortung, Flexibilität in Zeit, Raum und Rahmenvorgaben.
Trotz aller zunehmender Diversität braucht es eine gemeinsame Basis, die die Art und
Weise des Zusammenlebens, der Ausrichtung und des Grundverständnisses darstellt.
Jede Organisation versucht für sich ein Unikat, etwas, was nur diese Organisation aus-
macht, in Form von Prinzipien und Werten zu definieren.
Die Unternehmenskultur bildet auch – oder gerade – in Zeiten stetigen Wandels die
Konstante, die wie ein Trapez Rahmen und Sicherheit gebend DA ist, gleichzeitig den
Wandel durch ihr SO SEIN ermöglicht und fortwährend unterstützt.
Es gibt zahlreiche Untersuchungen zum Thema transformationale und transaktionale
Führung. Ziel der meisten Arbeiten ist es, zu untersuchen, ob der eine über den anderen
Führungsstil überlegen sei. Festzuhalten bleibt, dass transformationale Führung zu einem
höheren Commitment der Mitarbeiter zur eigenen Aufgabe und zum Unternehmen führt,
am Ende transformationale Führung allein aber nicht für alle Mitarbeiter funktioniert.
Die situativ gelebte Dualität beider Führungsstile kommt letztendlich der Verschieden-
heit der Menschen entgegen und so geht es, je nach Erfordernis, immer um die Kombi-
nation beider Führungsstile (vgl. Abb. 2.1).

2.2 Transformationale Führung vs. transaktionale Führung

Transformationale Führung erscheint in einer Sinn suchenden Welt, deren Kennzei-


chen ein hohes Maß an Geschwindigkeit, Flexibilität, Mobilität, Komplexität ist, ein
steter Wandel, starke Konkurrenz, Markt- und Innovationsdruck, rascher Wissens- und
20 U. Schütze-Kreilkamp

Informationszugewinn, stetiger technischer Fortschritt und Veränderung ehemals starrer


Unternehmensstrukturen, als die optimale Führungsform.
Der Begriff transformationale Führung wurde erstmals durch Burns (1978) verwen-
det und durch Bass (1985) weiterentwickelt. Bass versteht transformationale Führung
nicht als Gegenpol zur transaktionalen Führung, sondern als ergänzendes Moment. Die
Augmentationshypothese versteht transaktionale Führung als Fundament der transfor-
mationalen Führung (Waldman et al. 1990). Transformationale Führung basiert u. a. auf
motivationstheoretischen Konstrukten, wobei Bedürfnisse, Werte und Ziele durch Inspi-
ration, Vorbildfunktion, Vermittlung von Zielen und Visionen, individueller Zuwendung
eine Sinngebung erfahren. So wird das Unternehmen durch und über alle Ebenen hin-
weg Sinn gebend motivierend durchdrungen (Bass 1985). Sowohl der Intellekt (Warum
und Wozu), als auch die Emotionen (Wer und Wie) werden angesprochen, der Mensch in
Gänze gesehen und involviert, sodass stetige Veränderung des Einzelnen, aber auch gan-
zer Gruppen Ebenen übergreifend möglich wird. Im besten Fall wird für die neue „Idee“
Begeisterung erzeugt, die hilft, Ängste in konstruktive Energie zu wandeln und andere
mitzureißen auf dem Weg der Veränderung (Abb. 2.2).
Transaktionale Führung bezeichnet hingegen einen Führungsstil, der auf Austausch
zwischen Führendem und Geführtem beruht. Beschrieben wurde er von Downton (1973)
und weiterentwickelt von Burns (1978). Schwerpunkt bildet die Aufgabenzentrierung,
die Entlohnung erfolgt materiell oder immateriell, unerwünschtes Verhalten wird sank-
tioniert, Erwünschtes belohnt. Das Führungsverständnis ist geprägt durch Ansage und
Belohnung/Bestrafung. Der menschlichen Beziehung, dem menschlichen Bedürfnis

sŝĞƌůĞŵĞŶƚĞĚĞƐƚƌĂŶƐĨŽƌŵĂƟŽŶĂůĞŶ&ƺŚƌƵŶŐƐǀĞƌƐƚćŶĚŶŝƐƐĞƐ

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'ĞŝƐƟŐĞŶƌĞŐƵŶŐ /ŶĚŝǀŝĚƵĞůůĞĞŚĂŶĚůƵŶŐ

Abb. 2.2  Die vier Elemente der transformationalen Führung


2  Führung in digitalen Zeiten 21

nach Sinngebung, Mitgestaltung, individueller Behandlung wird nur eingeschränkt, näm-


lich ausschließlich in Form der Austauschbeziehung, Rechnung getragen. Diese Aus-
tauschbeziehung ist dabei tendenziell asymmetrisch, weil der Mitarbeiter seine gesamte
Arbeitskraft dem Unternehmen anbieten und diese dann dem Direktionsrecht des Arbeit-
gebers unterliegen soll, somit der Mitarbeiter Kontrolle über die eigenen Handlungen
während der Arbeit an den Arbeitgeber abgibt. Die finanzielle Gegenleistung, die der
Mitarbeiter dafür erhält, kann er dagegen nur in der außerberuflichen Sphäre nutzen, um
sein außerberufliches Leben – Familie und Freizeit – zu gestalten. Unterschiede zwi-
schen einfacher Arbeit (direkte Anordnung und Kontrolle) und komplexer Arbeit (zum
Beispiel Zielvereinbarungen, Eskalation zu höheren Führungsebenen) sind vorhanden,
jedoch eher graduell. Die Asymmetrie der Beziehung, die Reduktion auf Anordnung und
Befolgung, ist in ihrer immanenten Starre Garant für Kontinuität und somit das Gegen-
teil von dem, was heute das Überleben von Organisationen sichern soll: die rasche Adap-
tationsfähigkeit an steten Wandel und Wechsel.
Transformationale Führung setzt dagegen bei der eigenen Motivation der Menschen
an, sinnvoll tätig werden zu wollen, und beruht auf Eigenverantwortung und eigenstän-
digem Handeln im Sinne des Unternehmens. Insofern strahlt und durchdringt sie nicht
nur die Mitarbeiter und Führungskräfte, sondern findet ihren Ausdruck in einem tatsäch-
lich spürbaren, gemeinsamen Führungsverständnis, der jeweiligen Unternehmensstrate-
gie und der gelebten Kultur. Dies hat Auswirkungen auf die Mitarbeiterzufriedenheit, die
Ausrichtung auf den Kunden und die Märkte und erzeugt ein Kulturklima der Kommuni-
kation und des Austausches (Abb. 2.3).

Strategie – Führung – Kultur

Nachhaltige Strategie Kultur


Komplexe Anforderungen: Gemeinsames Führungs -
Ökonomische, ökologische und verständnis Wertewandel Generation Y:
soziale Ziele in Einklang zu Neue Generation von Mitarbeitern
bringen macht Führung und Bewerbern mit sich
Entwicklung und Verankerung
komplexer wandelnden Wertevorstellungen
eines gemeinsamen Führungs-
verständnisses, mit dem („Sinn statt Status“)
Mitarbeiterzufriedenheit:
Führungskräfte nachhaltig
Führung ist einer der
erfolgreich führen Zukunftskonferenzen und
wirksamsten Stellhebel
Zukunftsdialoge: Mitarbeiter
Kundenorientierung: wünschen sich einen sozial
Begeisterte Mitarbeiter kompetenteren Führungsstil
begeistern Kunden – Führung
muss dazu beitragen Mitarbeiterbefragung:
Kommunikation, Information und
Top -Arbeitgeber: Führung als Einbindung als zentrales
wesentlicher Faktor für ein Handlungsfeld
attraktives Arbeitsumfeld

Abb. 2.3  Zusammenhang zwischen Strategie, Führung und der Unternehmenskultur


22 U. Schütze-Kreilkamp

2.3 Kernelemente der Digitalisierung

Es existieren verschiedenste Definitionen zum Begriff Digitalisierung. Im weites-


ten Sinne versteht man unter Digitalisierung den Wandel von analogen zu elektronisch
gestützten Prozessen mittels Kommunikations- und Informationstechnik in digitaltech-
nischen Systemen. Durch das Internet besteht eine hohe Verfügbarkeit und Schnelligkeit
von Informationen. Verbunden damit ist eine deutlich verbesserte Effizienz und Wirt-
schaftlichkeit in Organisationen (Abb. 2.4).
Veränderungen in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen sind die Folge. Die Weiter-
entwicklung in Produktion und Industrie (Industrie 4.0, Produktion 4.0) werden ebenso
vorangetrieben wie im Themenbereich Arbeit 4.0 (Abb. 2.5).
Will eine Organisation erfolgreich und überlebensfähig sein und bleiben, ist es erfor-
derlich, dieser Geschwindigkeit des Wandels Rechnung zu tragen. Change, Transfor-
mation des Einzelnen und ganzer Gruppen und Organisationen werden zur alltäglichen
Normalität. Der Kunde, ob im Innen oder Außen einer Organisation oder Gesellschaft,
steht im Zentrum der Betrachtung. Der Blick richtet sich von der Fähigkeit des Einzel-
nen hin zur Fähigkeit und kreativ energetischen Befähigung ganzer Teams und Organi-
sationen. Das Team, die kreativ-energetisierende Kraft, schafft Innovation und sichert so
das Überleben von Gemeinschaften und Organisationen.
Diese umwälzende Bewegung macht vor nichts und niemandem Halt: Gesellschaft,
Politik, Wirtschaft – alle und alles sind im Wandel. Chancen und Visionen, aber auch
Risiken und Ängste nehmen großen Raum ein. Jeder große Umbruch ist begleitet von
Angst vor Veränderung. 2014 hat das Allensbacher Institut für Demoskopie im Auftrag

Industrie 4.0: Revolution statt Evolution

4. Industrielle
Revolution
Einsatz von cyber-
physischen Systemen

3. Industrielle Revolution
Einsatz von Robotik und IT zur weiteren
Automatisierung der Produktion

2. Industrielle Revolution
Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mithilfe von Elektrik

1. Industrielle Revolution Einführung mechanischer Produktionsanlagen mit Hilfe von Wasser-/Dampfkraft

1800 1900 2000

Abb. 2.4  Entwicklungsschritte seit der industriellen Revolution


2  Führung in digitalen Zeiten 23

Arbeit 4.0: Was bedeutet die Digitalisierung für unsere Arbeitswelt?

4. Industrielle
Revolution
Was kommt? – Wir
können es gestalten!

3. Industrielle Revolution
Facharbeit

2. Industrielle Revolution
Taylorismus

1. Industrielle Revolution Mechanisierung der Arbeit

1800 1900 2000


Abb. 2.5  Auswirkungen auf die Arbeitswelt

des Bundesministeriums für Bildung und Forschung untersucht, wie die Deutschen dem
Thema Digitalisierung gegenüber eingestellt sind. 39 % der Befragten über 16 Jahre sehen
das Thema Digitalisierung ängstlich-skeptisch. Nur jeder fünfte Befragte hat eine positive
Sicht auf Digitalisierung und den damit verbundenen Wandel. Den neuen Technologien,
den Möglichkeiten an Information, Kommunikation, Mitbestimmung, Verantwortungsüber-
nahme, Mobilität und Flexibilität, dem Mehr an Freiheit, steht eine eher kritisch verhal-
tene Haltung gegenüber. Statt die sich daraus ergebenden Chancen mitzugestalten, scheint
ein Großteil der Befragten im Zustand des Wartens zu verbleiben (Institut für Demoskopie
Allensbach 2014).
Die dahinter liegende Angst ist mehr als verständlich. Die Ausbildung und Kompeten-
zen des Einzelnen werden durch Digitalisierung infrage gestellt; der Einzelne steht vor
der das eigene Selbst gefährdenden Frage: „Braucht es mich noch?“ oder ökonomischer
gesprochen: „Lohne ich mich noch?“. Die Bedrohung des eigenen Selbstwerts findet
ihren materiellen Niederschlag in möglicher Arbeitslosigkeit, Status- und/oder Sinnver-
lust.
Hinter jeder Angst liegt aber auch eine Chance. Es scheint an Ermutigung, an Vor-
bildern zu fehlen, die den Einzelnen erreichen, motivieren und entängstigen könnten.
Napoleon hat einmal gesagt, dass Anführer die Verkäufer der Hoffnung seien oder anders
gesagt: In Zeiten der ständig raschen Umbrüche und Überraschungen bedarf es eines
treibenden und haltenden Moments zugleich. Sicherheit durch Beständigkeit in Grund-
werten und Prinzipien, im gemeinsamen Verständnis und Commitment zur gemeinsa-
men Kultur ist das entscheidende, tragende und haltende Moment. Zugleich ist es die
Aufforderung und Unterstützung durch Motivation und inspirierende Vision, die über
das eigene Ich hinaus verantwortlich für ein übergeordnetes Ziel Energien freisetzt und
Ängste in konstruktives Handeln wendet.
24 U. Schütze-Kreilkamp

Träger eines jeden Wandels sind Menschen. Menschen wollen mit Leib und Seele
angesprochen und eingebunden werden. So entstehen Zusammengehörigkeit und eine
Form von „kollektiver Energie“, die Unmögliches möglich werden lassen kann. Was für
ein Mindset, welche Haltung wird im Zeitalter der Digitalisierung dazu gefordert? Allem
voran Transparenz, in Worten und Taten. Digitalisierung bringt die Verfügbarkeit von
Information und Wissen mit sich. Die Zeiten, in denen Wissen Macht war, sind vorbei.
Jetzt ist die Fähigkeit zu transparentem Teilen gefordert. Teilen von Wissen, Verantwor-
tung, Gestaltungsraum und -rahmen, Macht und Möglichkeit, Kontakten, Zeit und Raum.
Unter zum Beispiel Einbeziehung der Konkurrenz können verschiedene Konstrukte von
Geschäftsmodellen entwickelt und umgesetzt werden (Partizipation, Kooperation, Kolla-
boration) und all dies innerhalb als auch außerhalb der eigenen Organisation. Entschei-
dend ist die verbindliche Zustimmung zur gemeinsamen Sache auf einer gemeinsamen
Grundlage. Es geht nicht darum, die Angst völlig zu überwinden, sondern es geht darum,
aus der Starre des Abwartens im Angesicht der Bedrohung zu einem progressiven, sinn-
und zielorientierten Handeln zu kommen.

2.4 Anforderung an Führung in digitalen Zeiten

Digitale (technische) Möglichkeiten sind die Instrumente, mit deren Hilfe menschliche
Visionen, Innovationen Wirklichkeit werden können. Was fördert und unterstützt Kre-
ativität und Innovation? Was benötigt der Einzelne, das Unternehmen, um erfolgreich
bestehen und sich weiterentwickeln zu können?
Künftig werden wir mit einer Welt konfrontiert sein, in der wir über intelligente
Fertigungs- und Produktionstechniken und über sich ständig weiterentwickelnde
Informations- und Kommunikationstechniken verfügen. Computer werden in immer
größerem Rahmen unsere Kollegen, Cyberintelligenz mehr und mehr unser Sparring-
partner sein. Best Practice und Benchmark in interaktiver Form mit der Maschine
werden normal. Kompetenzen wie Reduktion von Komplexitäten, Management von
Ressourcen, Abstraktions-, Analyse- und Problemlösungskompetenzen, Fähigkeit zur
Selbst- und Teamorganisation, kommunikative und soziale Kompetenzen wie zuhören
und ausprobieren, eine Kultur der Neugier, Fehler und der Nichtwertung – all dies ist
Bestandteil des Anforderungsprofiles an die Führungskräfte von heute.

2.4.1 Arbeitswelt 4.0

Das Umfeld, die Arbeitswelt 4.0, ist dominiert von Plattformen und Technologien, die
die Grenzen der Arbeitswelt zunehmend auflösen. Organisationen müssen adaptiv und
agil agieren im Gestalten der neuen Arbeitsmöglichkeiten. Dies betrifft nicht nur den
Abschied vom festen Arbeitsplatz und der festen Arbeitszeit, die auch die Grenzen der
„Kernarbeitszeiten“ sprengt. Moderne technische Möglichkeiten in Hard- und Software
2  Führung in digitalen Zeiten 25

sind ebenso notwendig wie eine moderne, leistungsfähige IT-Architektur, die es den Mit-
arbeitern und Führungskräften ermöglicht, schnell über Informationen zu verfügen und
sich auszutauschen, sodass Interaktionen im Team über alle Zeitzonen hinweg jederzeit
möglich sind. Das Internet der Dinge (IoT) wird nicht nur Geräte miteinander verbinden,
sondern zunehmend der Schrittmacher zum Beispiel in Fertigungsstraßen, der Logistik
und Mobilität sein.
Die Arbeitswelt 4.0 bietet eine nie da gewesene Chance der Gestaltung von Arbeit.
Sie bietet die Möglichkeit, neue Formen der Work-Life-Balance zu leben, in dem Mit-
arbeiter und Führungskräfte über das „Wo“, „Wann“, „Wie lange“ und „Mit wem“ etc.
frei entscheiden können. Die zunehmende Bedeutung von Communities, die zeitzonen-
übergreifend gemeinsam an einem Thema arbeiten können, ermöglicht das Leben von
Kooperation und Kollaboration. Deutlich ist, dass in der gesamten Wertschöpfungskette
das Internet und die Softwaremöglichkeiten einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil
mit sich bringen. Lockere, schwarmartige Vernetzungen der Teammitglieder, die sich
als gleichberechtigt und aufgrund der Expertise in ihren Betätigungsfeldern als gleich-
wertig ansehen, ermöglichen, dass sich Teams bilden, die hochflexibel, sich selbst
organisierend, non-hierarchisch und lösungsorientiert arbeiten. Informelle Kommunika-
tionsprozesse, das Leben des digitalen Mindsets (siehe oben), verbunden und getragen
von einem Commitment zur gemeinsamen Kultur und Sache können DER Schlüssel zum
innovativen Erfolg werden.
Anders stellt sich die Situation bei Arbeitsplätzen mit einem hohen Anteil an repeti-
tiven Tätigkeiten dar. Diese werden zunehmend substituiert werden. Auch frühere Fach-
arbeitertätigkeiten und Tätigkeiten von Hochschulabsolventen, wie Kontrollfunktionen
an Maschinen oder Dispositionsentscheidungen in der Logistik, könnten künftig von
Maschinen oder dem Kunden selbst ausgeführt werden. In Bereichen, in denen höhere
Komplexitätsanforderungen bestehen, wird es zu einer Qualitätsaufwertung kommen.
Hier werden die Mitarbeiter eigenständig planen und eigenverantwortlich komplexe ope-
rative Abläufe steuern und durchführen. Daneben werden neue Gruppen hoch ausgebil-
deter und qualifizierter Spezialisten entstehen. Weiterbildung, lebenslanges Lernen und
die Weiterentwicklung im Sinne der Reifung der Persönlichkeit bilden die Grundlage
einer erfolgreichen Organisation.
Digitales Mindset und die Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 sind keine Frage des per-
sönlichen Alters, sondern eine Frage der Haltung gegenüber dem eigenen Selbst und der
Welt. Organisationen müssen innovativer und produktiver werden, um bestehen zu kön-
nen, und dies auch vor dem Hintergrund einer älteren Belegschaft. Neben den bereits
genannten Faktoren wie Wettbewerbs-, Innovations- und Kostendruck muss dem demo-
grafischen Wandel, körperlicher und geistiger Belastbarkeit, Anspruch an Exzellenz und
Leistung sowie Weiterentwicklung und Karriere Rechnung getragen werden.
26 U. Schütze-Kreilkamp

2.4.2 Thesen zur Arbeitswelt 4.0

Netzwerkartige, selbst organisierte Teams sind das Symbol der neuen Arbeitsorgani-
sation. Gleichwertigkeit bei Verschiedenheit, Gleichberechtigung trotz verschiedener
Rollen und Aufgaben, Arbeitsplätze in- und außerhalb des Unternehmens existieren
nebeneinander. Der Kunde ist Auftraggeber, Mitgestalter und manchmal Mitarbeiter. Die
Grenzen verschwimmen.
Weltweit agierende Communities, ohne feste Organisationszugehörigkeit. Der sozial
kompetente Spezialist ist gefragt, der teils in, teils außerhalb von Unternehmen agiert.
Organisationssteuerung, Ressourcenplanung und Spezialistenwissen als Alleinstellungs-
merkmal werden zur großen Führungs- und Managementherausforderung. Crowd- und
Clickworker agieren mit und in Organisationen.
Arbeit erfolgt überwiegend in Projektstrukturen mit definiertem zeitlichen Anfang
und Ende. Mitarbeiter und Führungskräfte des Projektes sind sich ihres Wertes (Know-
how) bewusst und schätzen ihre Freiheit höher ein als die durch ein Anstellungsver-
hältnis angebotene Sicherheit. Arbeitsbeziehung wird aus der Einbindung in eine feste
Organisationszugehörigkeit zu einer frei verfügbaren Ressource, um die ein Unterneh-
men stetig ringen muss.
Ausbildung und digitale Fähigkeiten bestimmen die Rolle neben und mit Maschinen
(Programmieren, Kontrollieren, Warten etc.). Das Internet der Dinge (IoT) bewirkt, dass
sich die Maschine mehr und mehr zum Sparringpartner und Kollegen entwickelt.
Arbeiten erfolgt zeitzonenübergreifend, die Wahl des Ortes ist flexibel. Hohe Bil-
dungsstandards garantieren ein Spezialistenwissen, welches global zur Verfügung steht.
Arbeit wird flexibel und mobil erbracht.
Die neuen selbst gewählten und -gestalteten Arbeitsformen bringen eine Veränderung
in Bezug auf die Arbeitnehmervertretungen/Mitbestimmung mit sich. Ein neues Mitein-
ander zwischen Mitarbeitern, Arbeitnehmervertretern und Führungskräften muss gefun-
den werden, um zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein.
Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Information und Wissen
rund um das Thema Arbeit sind jederzeit und überall verfügbar, die globale Kommuni-
kation der Teammitglieder erfolgt eigenverantwortlich jederzeit. Arbeit soll als sinnhafter
Bestandteil im Leben so integriert sein, dass eine Trennung zwischen Leben und Arbeit
überflüssig wird. Arbeit wird zur bejahenden Ausdrucksform der eigenen Kreativität, das
Team zur selbst gewählten Resonanz- und Umsetzungsstätte der Innovation.
Bildung und lebenslanges Lernen werden ebenso zum Schlüsselfaktor des Erfolgs
wie das ständige Arbeiten an der eigenen Persönlichkeit. Soziale Kompetenzen tragen
zum Erfolg eines Unternehmens genauso viel bei wie kognitives Spezialistenwissen. Der
Anspruch, beste Leistungen zu erbringen, und die Lust an Exzellenz prägen das Klima
im Team und somit auch im Unternehmen. Das Mittelmaß geht unter.
Personalentwicklungsabteilungen müssen professionelle, individuelle Beratung und
hochwertige Bildungsangebote zur Verfügung stellen. Beratung zur Auswahl geeigneter
2  Führung in digitalen Zeiten 27

Teammitglieder und Teampassung wird neben der Qualifikation der einzelnen Teammit-
glieder Leistung und Exzellenz im Team sicherstellen.
Führungskräfte agieren als Coach zur Exzellenz, Motivator, Ressourcenmanager und
moderierender Kommunikator. Es gilt, die Balance zu finden und zu halten zwischen
dem Treiber und verbindlich verbindendem Haltgeber, Wächter der gemeinsamen Kultur
als stabilem Kern und Kontrolleur der Zielerreichung.
Führungskräfte werden in vollkommen neuer Art gefordert. War es bisher die größte
Herausforderung, ein Mehr an Budget, ein Mehr an Mitarbeitern, ein Mehr an Projekten
steuern zu müssen, so liegt jetzt der Schwerpunkt auf dem Umgang mit fluiden Struktu-
ren, Prozessen, Anforderungen, Wünschen und diversen Aktionspartnern. Der gewohnte
Rahmen von Ansprechpartnern, das bekannte System, wer wozu was zu sagen hat, die
bekannten Mitspieler im Unternehmensorchester – nichts ist mehr, wie es war.
Das System Unternehmen, Gesellschaft, Welt verändert sich. Es gilt, den beständigen
Wandel zu managen, die Geschwindigkeit und wechselnden Akteure, die dynamische
Beweglichkeit und Agilität klar, bewusst und behutsam zielorientiert zu lenken.
Die klassische Linienhierarchie mit den geordneten Machtverhältnissen stellt fast den
Gegenentwurf zur fluiden hochadaptiven Netzstruktur dar. Als mächtig wird erkannt und
akzeptiert, was von der Community als wichtig und einsichtsfähig erkannt und akzeptiert
wird. Die Führungskraft ringt im positiven Sinne mit dem kompetenten, selbstbewuss-
ten Einzelnen und/oder der Gruppe. Dazu bedarf es Selbstreflexion, Selbstbewusstsein,
Ambiguitätstoleranz, Kritikfähigkeit und Einfühlungsvermögen – alles vor dem Hinter-
grund eines transformationalen Führungsverständnisses.
Führungskräfte sollten innere und äußere Räume zur Reflexion und achtsamen Wei-
terentwicklung für ihre zu Führenden bereitstellen. Dies meint nicht nur die innere Hal-
tung, sondern durchaus auch das zeitliche und räumliche „Zur-Verfügung-Stellen“ der
eigenen Person, zum Dialog, zur wirklich menschlichen Begegnung.
So kann die transformational führende Führungskraft zum personifizierten Träger
und authentischen Begeisterer in diesen beängstigenden Zeiten werden. Eine Führungs-
kraft, die sich zur Verfügung stellt, ist nicht nur eine Projektionsfläche im Sinne einer
Vorbildfunktion, sondern zugleich auch „Container“, Träger und Aufbewahrungsort der
übertragenen Ängste, Vorbehalte, Widerstände (Giernalczyk und Lohmer 2012). So kann
die Führungskraft das schleichend zersetzende Gift der angstvoll destruktiven Gefühle
einer Gruppe, Organisation aufnehmen und halten – quasi die Gruppe „entgiften“ und
von allem destruktiv Verhindernden befreien. Waldman et al. (2001) sowie Bass und
Riggio (2006) beschreiben, dass transformationale Führung gerade in unsicheren Zei-
ten, bei Krisen, Stress und Phasen der Instabilität eine hohe Wirksamkeit entfaltet. Das
Sinn gebende Moment, der individuelle Blick auf den Einzelnen, Motivation, Inspiration,
Vorbild hilft, Ängste in Sicherheit, Zaghaftigkeit in Entschiedenheit, vom erschlagenden
Problem zur befreienden Lösung gemeinsam zu finden.
Der sich selbst bedingende Kreislauf aus Selbstbestimmung, Eigenverantwortung,
Entscheidungsräume gestalten, Mitverantwortung leben, Wertschätzung, Sinn und
28 U. Schütze-Kreilkamp

Motivation erfährt in einer transformational agierenden Führungskraft seine personifi-


zierte Umsetzung.
Die Selbstreflexion, alleine im oder mit dem Team, erscheint als das stärkste Mittel
im Kampf gegen die eigene Betriebsblindheit und narzisstische Selbstverherrlichung.
Vom transformationalen Führungsverständnis getragen, befeuert durch den digitalen
Wandel, haben sich ganze Organisationen „demokratisiert“. Dieser Zugewinn an Selbst-
bewusstsein, über alle Ebenen hinweg, ermöglicht den kritisch konstruktiven Austausch,
die Spiegelung des Umgangs mit Führung und kann so das Verhältnis zwischen Führen-
den und Geführten stetig aufs Neue reinigend klären.
Transformational Führende verfügen über eine Vision, die weit über das Ziel des Ein-
zelnen hinausgeht. Studien weisen auf den positiven Zusammenhang zwischen transfor-
mationaler Führung und Innovationen hin (Jung et al. 2003).
Die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens wird über dessen nachhaltigen Erfolg
entscheiden. Dass transformational führende Führungskräfte hierbei durch die Art ihrer
Führung maßgeblich zum Erfolg beitragen, ist besonders durch die Betonung der Ins-
piration einsichtig. Hinzu kommt das Geben einer gemeinsamen, glaubhaft vermittelten
Zukunftsvision. Dies spricht die Emotion, die Loyalität, den Wunsch vieler Menschen
nach Leben und Wirken in einer Gemeinschaft an. Hier hat die Persönlichkeit des Füh-
renden einen maßgeblichen Einfluss. Loyalität gegenüber der Führungskraft führt auch
zu einer erhöhten Loyalität der Gruppenmitglieder untereinander (Gebert 2002). Zudem
erhöht sich die Leistungsbereitschaft der einzelnen Teammitglieder, da die Bedeutung
für das gemeinsam zu erreichende Ziel emotional als wichtig belegt ist (Basu und Green
1997). Die Ausrichtung, die innere Haltung des transformational Führenden ist quasi
ad naturam auf dem steigenden Wandel im Sinne einer immanenten, inneren Innovati-
onsfähigkeit und Lust vorhanden. Dieses innere Moment fasziniert, motiviert, infiziert,
ermutigt und stabilisiert die Geführten. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewie-
sen, dass neben transformationaler Führung durchaus Situationen existieren können, die
transaktionale Führungsmomente erforderlich machen. Situationen, in denen rasche,
sicherheitsgebende Interventionen notwendig sind, in denen Panik oder Notfallsituatio-
nen existieren, in denen rasch eindeutig belastbare Strukturen hergestellt werden müssen.
Transformationale Überzeugung und Haltung schließt manch transaktionale Intervention
nicht aus; vice versa gilt dies genauso. Es gibt in der gelebten Praxis weder Widerspruch
noch unvereinbare Polarität, eher das Aufbauen des einen auf dem anderen oder die zeit-
weilige kombinierte Dualität.

2.4.3 Wie kann Dringlichkeit in Wirksamkeit überführt werden?

Wie kann die transformational führende Führungskraft Wirksamkeit in der Organisation


erzeugen? Neben den bisher genannten Kernelementen der transformationalen Führung
ist die Vermittlung des Momentes der Dringlichkeit von höchster Relevanz. Dringlich-
keit, die auf „gehört“ und auf „genommen“ werden abzielt, die nicht ihre Wirksamkeit in
2  Führung in digitalen Zeiten 29

einer Quick-Win-Aktion verliert, sondern auf nachhaltige exzellente Leitungsbereitschaft


und Fähigkeit abzielt. Dringlichkeit wird verinnerlicht, wenn sie sich in der persönlichen
Haltung des Führenden wiederfindet, in seiner Überzeugung über die besondere Not-
wendigkeit einer Handlung oder Haltungsänderung. Statt Aktionismus ist hier die reife
Reflexion gefragt, des Einzelnen sowie des Teams und ggfs. der Organisation. Organi-
sationen können sich per se nicht infrage stellen; das tun die Organisationsmitglieder,
weil sie immer nicht nur Organisationsmitglieder sind, sondern als Menschen auch in
anderen Rollen jenseits der Organisation leben und denken. Die Notwendigkeit zu dieser
einzelnen wie kollektiven Reflexion muss von den Führungskräften ausgehen. Sie sind
der lebendige Garant für die Notwendigkeit der richtigen Fragen und dem Ringen um die
ehrlichen Antworten. Der Anspruch an Exzellenz ist somit keine Frage der Hierarchie-
ebene, sondern natürlicherweise des Bewusstwerdens des Wirkungsraumes jedes Einzel-
nen an seinem jeweiligen Platz mit seiner jeweiligen Aufgabe.
Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann eine neue, reifere Form des Bewusst-
seins einer Organisation über sich selbst hervorbringen und den Wandel vom Mittelmaß
zur exzellenten Organisation schaffen. Ein weiteres Moment von Wirksamkeit ist das
Schaffen von Vertrauen. Nur in Vertrauenskulturen ist Innovation möglich. Dies impli-
ziert eine gute Fehlerkultur, die Fehler als notwendiges Übel auf dem Weg zu Neuem
akzeptiert und in der aus Fehlern gelernt, die Ursachen verstanden und neue Wege
erprobt werden können. Dann ist das Ausleben von Neugier und Out-of-the-Box-Denken
möglich (Abb. 2.6).
Dringlichkeit ist ein Gefühl, ein Appell an unser emotionales Radarsystem, aufmerk-
sam und wachsam zu werden. Ob in Gefahrensituationen, Krisen, Konflikten – unser
Radar meldet uns: Achtung! Erhöhte Aufmerksamkeit! Die inneren Systeme schalten
auf Alarm, Energien werden mobilisiert. Jetzt kann und sollte ein System nicht in dieser
Alarmbereitschaft über lange Zeit bestehen bleiben. Die mobilisierten Energien würden

Kennzeichen einer Innovationskultur

Fehler machen lassen, Fragen fördern


Toleranz leben Es gibt keine „dummen“
Fehler gelten als Fragen
„Auszeichnung“ Keine (Ab-)Wertungen
Aus Fehlern lernen Kultur der Kultur der Mut zu Fragen wird
Fehler Fragen belohnt
Unterstützung geben

Ausprobieren lassen
Verrückte Ideen (werden unterstützt)
Feedback geben Kultur der
Neugier

Abb. 2.6  Kennzeichen der Innovationskultur


30 U. Schütze-Kreilkamp

Mobilisierung Fokussierung

Kollektives Commitment
Bedrohungen
Zusammenhalt (Wir-Gefühl) Organisationale
Energie
Zukunftschancen
Kollektives Selbstvertrauen
(Wirksamkeitsüberzeugung)

Leadership-Verhalten

Abb. 2.7  Entstehung von organisationaler Energie. (Bruch und Vogel 2009, S. 87)

Mobilisierung von Energie zielt darauf, nicht ausgeschöpfte, emotionale, mentale und handlungsbezogene
Potenziale im Unternehmen zu aktivieren, um eine hohe Intensität der Aktivitäten zu erreichen.
Interpretation einer Unternehmenssituation durch das Management als Bedrohung oder Chance.
Interpretation der Unternehmenssituation als zentrale Managementaufgabe und Ausgangspunkt für die
Mobilisierung der organisationalen Potenziale.

Abb. 2.8  Mobilisierende Situationen. (Bruch und Vogel 2009, S. 91)

sich, ohne dass die Bedrohung eine Realisierung erfährt, selbst erschöpfen. Organisatio-
nal gesehen käme es zu einem kollektiven Burn-out.
Erforderlich ist, dass Dringlichkeit, wie schon beschrieben, unaufgeregter Teil der in
Mitverantwortung gelebten, dem Wohl des Unternehmens verpflichteten, inneren Hal-
tung der Führungskraft ist. Die Führungskraft lebt unaufgeregte Verantwortung vorbild-
haft vor und kann diesen Aspekt der inneren Haltung im gemeinsamen Reflexionsprozess
mit ihrer Gruppe teilen. Ziel ist, dass sich alle Mitglieder der Gruppe über diesen Aus-
schnitt der eigenen Haltung bewusst werden und leben. So kann die auf Gefahrenabwehr
ausgerichtete Energie aller Gruppenmitglieder beständig in den gemeinsamen Innova-
tions- oder Produktionsprozess einfließen und als organisationale Energie wirksam wer-
den (Bruch und Vogel 2009; Abb. 2.7 und 2.8).

Fazit
Führung in digitalen Zeiten braucht Beständigkeit in Bezug auf gemeinsame Werte
und Prinzipien, wie sie durch transformationale Führung vermittelt werden. Das
ermöglicht, die Angst, die mit der Digitalisierung der Arbeitswelt verbunden ist,
zu verarbeiten. Dann kann es gelingen, an den neuen Möglichkeiten durch tech-
nologischen Fortschritt in Wissen und Kommunikation zu partizipieren und eine
zunehmende Demokratisierung von Arbeit und wachsende Diversifizierung in Orga-
nisations- und Arbeitsformen zu ermöglichen. Gleichzeitig lastet ein enormer Druck
2  Führung in digitalen Zeiten 31

auf Organisationen, um die Überlebensfähigkeit im Markt nachhaltig exzellent zu


sichern. Leistungs- und Exzellenzkultur, Innovations- und Kostendruck, demografi-
scher Wandel und Managen knapper Ressourcen, Umgang mit Chancen und Risiken,
Geschwindigkeit und höchste Ansprüche an Adaptation von Menschen und Unter-
nehmen – all das muss und soll erfolgreich und gut geführt und gemanagt werden.
Transformationale Führung kann durch die Vermittlung eines übergeordneten Sinnes
helfen, Menschen zu einen, ein Klima der Kooperation, Innovation und gelebter Wert-
schätzung zu kreieren und organisationale Energie wirksam werden zu lassen. Die
Dualität zwischen Beständigkeit im Kern (Kultur), wendiger Anpassungsfähigkeit
und Reaktionsgeschwindigkeit kann so gemeistert werden.

Es stellt sich die Frage, inwieweit Führungskräften zunehmend die Rolle desjenigen
zukommen muss, der die Balance zwischen Treiber und Getriebenem hält. Ohne Refle-
xion, ohne Besinnung und Bewusstwerdung, ohne die immer wiederkehrende Beschäf-
tigung mit der eigenen Person und Rolle droht die Gefahr, dass sich die Führenden im
Rausch der Geschwindigkeit verlieren, im Zerfall der alten Organisation ohne ausrei-
chende Spiegelung verbleiben und so ihrer Betriebsblindheit erliegen. Die Steuerung
und Führung dieser mannigfaltigen Komplexitäten bringt eine hohe Verantwortung mit
sich. Spiegelung des eigenen Verhaltens und die Notwendigkeit ehrlichen Feedbacks
sind heute mehr denn je notwendig. Es stellt sich die Frage, inwieweit Führenden pro-
fessionelle externe Sparringspartner zur Seite gestellt werden sollten, die den Prozess der
Spiegelung und unterstützenden Entlastung begleiten. Exzellenz heißt hier die demütige
Akzeptanz der eigenen Fehlbarkeit und der Grenzen der eigenen Belastbarkeit.

Literatur

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Bass, B. M., & Riggio, R. E. (2006). Transformational leadership (2. Aufl.). New Jersey: Erlbaum.
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Themen/Umfrage/Ergebnisse_Umfrage_komplett.pdf.
32 U. Schütze-Kreilkamp

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CEO leadership attributes and profitability under conditions of perceived environmental uncer-
tainty. Academy of Management Journal, 44, 134–144.

Über die Autorin

Dr. Ursula Schütze-Kreilkamp  promovierte Ärztin, Psy-


chotherapeutin und Coach, ist als Leiterin Personal Kon-
zern und Konzernführungskräfte für die Entwicklung der
Topführungskräfte bei der Deutschen Bahn verantwortlich.
Von 2006 bis 2012 war sie bei der Rewe Group tätig. Als
Leiterin der Personal- und Führungskräfteentwicklung war
sie am Aufbau der PE Holding und an der Entwicklung der
HRD-Strategie wesentlich beteiligt. Zudem baute sie den
Bereich Executive Development sowie den Rewe-Campus
auf. In den Jahren 1992 bis 2006 arbeitete sie in eigener
Praxis und als Dozentin. Darüber hinaus ist sie Mitgrün-
dungsmitglied des staatlichen Ausbildungsinstitutes RHAP für Psychologen und Medi-
ziner.
Lernen von den Kleinen: Start-
ups als Leadership-Vorbild für 3
Großunternehmen
Stephan Grabmeier

Nicht die Großen fressen die Kleinen. Sondern die Schnellen die
Langsamen.
(Lothar Späth in der Phase der Liberalisierung der
Telekommunikationsmärkte)

Zusammenfassung
Führung ist einer der Schlüssel für das nachhaltige Wachstum von Unternehmen.
Aktuelle Erfolgsfaktoren wie Agilität und Innovationskraft hängen zu einem gro-
ßen Teil davon ab, wie das Führungsmodell in Unternehmen aussieht und wie gut
das Organisationsdesign sowie das Selbstverständnis der Mitarbeiter übereinstim-
men. Start-ups haben dabei gegenüber Konzernen den natürlichen Vorteil, dass
sie per se über agile Strukturen und flache Hierarchien verfügen, da sie noch keine
lange Unternehmenshistorie besitzen, in der sich Prozesse eingeschliffen haben und
Strukturen erstarrt sind. Zudem leben Start-ups eine sehr viel dynamischere Entwick-
lung als tradierte Unternehmen und sind gezwungen, ihre Leadership-Modelle den
jeweiligen Lebensphasen ihres Unternehmens anzupassen. So entsteht eine größere
Vielfalt an Führungserfahrung und Führungsformen, die in meinem Beitrag exemp-
larisch am Beispiel von Haufe-umantis dargestellt werden. Auf Basis seiner 15-jäh-
rigen Erfahrungen vom Start-up bis zum etablierten europäischen Innovationsführer
für Talent-Managementsoftware hat Haufe-umantis einen Orientierungsrahmen für
Unternehmen entwickelt: den Haufe-Quadranten. Er veranschaulicht die Inter-
aktion zwischen den zwei entscheidenden Parametern jedes Unternehmens – den

S. Grabmeier (*) 
Haufe-umantis AG, St. Gallen, Schweiz
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 33


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_3
34 S. Grabmeier

Menschen und dem Organisationsdesign. Abhängig davon, ob das Organisationsde-


sign stark gesteuert oder selbst organisiert ist und ob die Mitarbeiter eher Gestalter
oder Umsetzer sind, zeigt der Haufe-Quadrant vier verschiedene Organisationsfor-
men auf: Weisung und Kontrolle, Schattenorganisation, agile Netzwerke und über-
forderte Organisation. Erfahrungsgemäß kommen diese Organisationsformen in allen
Unternehmen vor – vom Start-up bis zum DAX-Konzern. Mit Prozessen, Leadership-
Modellen und Management-Tools wird aber nur eine Organisationsform unterstützt:
das klassische Top-Down. Dieses Führungsmodell kennen und beherrschen wir; es
ist allerdings viel zu starr, als dass es Freiraum für Innovationen und schnelle Ent-
scheidungen ermöglichen würde. Die Konsequenz: Wollen sich Unternehmen fit
machen für die Zukunft, benötigen sie ein breiter angelegtes Managementsystem,
das alle Organisationsformen unterstützt. Sie brauchen ein neues Betriebssystem für
Unternehmen. Start-ups als Leadership-Vorbild bedeuten also, eine größere Vielfalt
an Führungsformen zu implementieren sowie flexibel und individuell zu führen. Für
moderne Leader reicht nicht mehr nur ein Upgrade von 2.0 auf 4.0, sie müssen zudem
auch Neues lernen. Ganz wie es uns Start-ups weltweit vormachen.

Inhaltsverzeichnis

3.1 Start-ups: Die Digital Innovatives der Unternehmenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34


3.2 Leadership-Modelle in verschiedenen Unternehmenslebensphasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3.2.1 Der Haufe-Quadrant: Orientierungsrahmen für Unternehmen und Leader. . . . . . . 37
3.2.2 Praxisbeispiel Haufe-umantis: Vom agilen Start-up zum agilen Mittelstand. . . . . . 40
3.3 Konsequenz für Unternehmen: Upgrade des Betriebssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Über den Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

3.1 Start-ups: Die Digital Innovatives der Unternehmenswelt

Neue Technologien, ein hohes Veränderungstempo sowie ein starker kultureller und
gesellschaftlicher Wandel: Die Digitalisierung führt zu einem enormen Umbruch in der
Weltwirtschaft. Nur Unternehmen, die schnell mit innovativen Produktideen auf diese
Veränderungen reagieren, können sich am Markt behaupten. Der entscheidende Wett-
bewerbsvorteil in der Unternehmensentwicklung heißt Agilität. Damit sie entstehen
kann, müssen sich Unternehmen von bisherigen Denkmustern lösen. Das gilt insbeson-
dere für die Art der Unternehmensführung. Denn während über viele Jahrzehnte Effi-
zienz, Produktivität und Risikominimierung ein stabiles Wachstum garantierten, gelten
jetzt andere Anforderungen. Die Sozialisierung von Mitarbeitern, Führungskräften und
Organisationen auf den „Principles of Scientific Management“ hat rund 100 Jahre nach
deren Entstehung ausgedient. Je größer die Unternehmen und je mehr Baby Boomer in
Vorstandsetagen, Aufsichtsräten und Management Boards, umso vehementer sind die
sozialisierten Old-Economy-Mechanismen. Diese waren jahrzehntelang gut und haben
3  Lernen von den Kleinen … 35

uns als Wirtschaftsnation goldene Zeiten beschert. Sie sollen auch nicht ersetzt werden.
Die Frage, die wir uns jedoch stellen müssen: Zu welchem Anteil benötigen wir noch
tradierte Command-and-Control-Strukturen und das entsprechende Mindset in der Füh-
rung?
Wie sollte ein Patentrezept für die neuen Herausforderungen von Unternehmen aus-
sehen? Wie lassen sich Agilität und Innovationsfähigkeit erfolgreich implementieren?
Aufgrund meiner langjährigen Berufserfahrung in Start-ups und Konzernen bin ich über-
zeugt: Start-ups sind hier ein gutes Vorbild. Sie sind die „Digital Innovatives“ der Unter-
nehmenswelt und damit die natürlichen Role Models für das digitale Zeitalter. Zudem
gilt: In bestehenden Strukturen wird kontinuierlich verbessert, doch in neuen Organisati-
onsformen passieren die wirklichen Revolutionen. Denn viele Start-ups sind Regel- und
Musterbrecher. Sie halten sich nicht an die gängigen tradierten Normen – was eine Vor-
aussetzung für ihre Innovationskraft ist.
Bereits Schumpeter hat gesagt: „Nicht innovative Unternehmen werden vom Markt
verschwinden“. Das gilt heute schneller als je zuvor. Der Deloitte-Shift-Index (2013)
dokumentiert dies am Beispiel der Fortune 500 mit dem rapiden Rückgang der Halb-
wertszeit von Unternehmen in den letzten 50 Jahren von 75 auf 15 Jahre. Fehlende Inno-
vationskraft und der Mangel an Disruption liegen in erster Linie an der Führung. Daher
wird es Zeit, von Tradition auf Innovation umzustellen.

Agil, innovativ und attraktiv für junge Talente – Unternehmenskultur in Start-ups


als Erfolgsfaktor für jedes Unternehmen
Führungstheorien und Rollenbilder in tradierten Unternehmen stammen in fast allen
Unternehmen aus dem letzten Jahrhundert und sind unter stabilen (Markt-)Bedingungen
entstanden – Veränderungen waren die Ausnahme bzw. langfristig planbar. Ein Start-
up hingegen ist ein Unternehmen, das sich aufgrund seiner jungen Historie und seiner
rasanten Entwicklung in einem permanenten Transformationsprozess befindet und Dis-
ruption in seiner DNA hat. Dieser systemimmanente Wandel führt zu einer sehr flexiblen
Unternehmens- und Führungskultur mit flachen Hierarchien und einem hohen Grad an
Selbst- und Mitbestimmung der Mitarbeiter. Meist wird projektbasiert in wechselnden
Teams mit modernen agilen Methoden und Technologien gearbeitet, die Mitarbeiter brin-
gen sich dort ein, wo ihre Expertise und ihr Engagement gerade am stärksten benötigt
werden. Die Konsequenz: Start-ups können sich ständig neu erfinden und so adäquat auf
die Dynamiken der digitalen Arbeitswelt reagieren.
Konzerne profitierten hingegen lange von der Effizienz und Effektivität fester Struktu-
ren und definierter Prozesse. Obwohl diese einerseits zum wirtschaftlichen Erfolg eines
Unternehmens beitragen, behindern sie andererseits die Reaktionsgeschwindigkeit und
damit auch die Innovationsfähigkeit. Geht es um Schnelligkeit und Flexibilität, kommt
dieses Führungsmodell an seine Grenzen, da die Kombination aus starren Strukturen
und Prozessen sowie dem immer noch vorherrschenden klassischen Top-Down-System,
in dem Mitarbeiter häufig „nur“ Weisungen umsetzen, keinen Raum zur kreativen Ent-
faltung lässt. Doch selbst wenn Mitarbeiter eine gute neue Produktidee haben, scheitert
36 S. Grabmeier

diese oft am langen Weg durch die Hierarchie: Bis eine Information von der „Basis“ bis
zur Unternehmensführung gelangt ist und die diesbezügliche Entscheidung den Weg
die Firmenpyramide wieder hinuntergefunden hat, ist eine Chance oft schon vertan und
ein agilerer Mitbewerber hat das Rennen um Marktanteile und Kundenzufriedenheit
gemacht. Die Statussymbole der Macht verhindern jegliche Kreativität, Wettbewerbsvor-
teile und Dynamik. Speziell die kurzen Reaktionszeiten, die Unternehmen heute noch
zur Verfügung haben, um Veränderungen des Marktes mitzutragen, lassen sich mit die-
sem Organisationsdesign und dem tradierten Top-Down-Führungsanspruch also nicht
realisieren. Vielmehr müssen auch Großunternehmen ihren Mitarbeitern mehr Gestal-
tungsspielräume ermöglichen und stark hierarchische Strukturen aufbrechen.
Die überlieferten Führungsmodelle vieler Unternehmen schränken ihre Wettbewerbs-
fähigkeit jedoch nicht nur in punkto Innovationsgrad oder Kundenzufriedenheit ein. Viel-
mehr leidet ihre Attraktivität auch auf einem anderen heiß umkämpften Markt: dem der
jungen und gut ausgebildeten Arbeitskräfte der Generation Y und Z. Deren Erwartun-
gen an ihren Arbeitsplatz entsprechen am ehesten den Arbeitsbedingungen in Start-ups –
vielfältige Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Mitbestimmung, flexible Arbeitszeiten
und -orte sowie eine moderne (technische) Ausstattung. Das Umfeld, das wir als Kun-
den aus dem B2C-Umfeld kennen, möchten wir auch im Berufsleben vorfinden: schnelle
Prozesse, einfache Usability, permanente Verfügbarkeit von Daten, Vernetzung und
Kommunikation mit jedem Menschen auf der Welt zu jeder Zeit, Flexibilität in Arbeiten
und Leben sowie technische Endgeräte, die Spaß machen. Dies sind alles Bedürfnisse,
die Menschen mehr und mehr an ihre Arbeitgeber und Führungskräfte stellen. Wer das
nicht leisten kann, wird dauerhaft verlieren.

3.2 Leadership-Modelle in verschiedenen


Unternehmenslebensphasen

Führungsmodelle sind in einem Start-up so agil wie das Umfeld und die Strukturen –
der Wandel ist die einzige Konstante. Wird ein Start-up gegründet, funktioniert es in
der Regel als agiles Netzwerk. Das Team ist klein, jeder weiß ungefähr, was der andere
macht, und alle folgen einer gemeinsamen Vision und ähnlichen Vorstellungen. Infor-
melle Strukturen funktionieren einwandfrei: Fragen werden über den Schreibtisch hin-
weg gestellt, kleinere Diskussionen beim Mittagessen geführt. Der Umstand, dass sich
Gründer (und oft auch die ersten Mitarbeiter) meist schon lange kennen, unterstützt den
Erfolg dieser ungeregelten Prozesse. Zudem ist es häufig in Start-up-Teams so, dass es
erst einmal keinen klaren Chef gibt, der sagt, wie es zu laufen hat – de facto wird so agil
gearbeitet wie nur irgend denkbar. Doch diese informellen Strukturen funktionieren nur
bis zu einer bestimmten Größe und Komplexität des Unternehmens – ähnlich wie es im
Straßenverkehr der Fall ist: Sind lediglich wenige und miteinander vertraute Verkehrs-
teilnehmer unterwegs, benötigen sie keine aufwendigen Regeln und Hilfsmittel, wie Ver-
kehrsschilder oder Ampeln. Dies ändert sich jedoch bei steigendem Verkehrsaufkommen.
3  Lernen von den Kleinen … 37

Es herrscht weiterhin große Freiheit – jeder darf sich in sein Auto oder auf sein Fahr-
rad setzen und jederzeit dahin fahren, wohin er möchte –, doch es müssen klare Struktu-
ren und feste Regeln vorgegeben werden: An der roten Ampel muss angehalten werden,
jeder fährt auf der rechten Straßenseite und lässt an der Kreuzung dem Rechtsverkehr die
Vorfahrt. Anderenfalls wäre Chaos die Folge – im Straßenverkehr wie im wachsenden
agilen Start-up. Im Verlauf der Entwicklung eines Start-ups entstehen in der Regel wei-
tere idealtypische Organisationsdesigns – von der Überforderung bis hin zu Schattenor-
ganisationen.
Diese Entwicklung haben wir bei Haufe-umantis, in dem ich in der Geschäfts-
führung arbeite, selbst beobachten können: Haufe-umantis hat seit der Gründung als
kleines Start-up im Jahr 2000 ein rasantes Wachstum erlebt – und in seiner Organisati-
onsentwicklung oft entsprechende Wachstumsschmerzen verspürt. Aus diesen Erfahrun-
gen heraus haben wir ein Modell entwickelt, das verschiedene Organisationsdesigns und
Mitarbeiterrollen aufzeigt und als Orientierungsrahmen für jedes Unternehmen jeglicher
Größenordnung dienen kann: den Haufe-Quadranten. Einer der Mitgründer von Haufe-
umantis, Hermann Arnold, hat in seinem neuen Buch „Die Entzauberung des Chefs. Wie
eine unsichtbare Revolution Unternehmen verändert“ (2016) unsere andauernde Reise
durch den Haufe-Quadranten geschildert. Etliche Analogien und Erkenntnisse in meinem
Beitrag haben ihren Ursprung in diesem Buch.

3.2.1 Der Haufe-Quadrant: Orientierungsrahmen für


Unternehmen und Leader

Ein Modell, die aktuelle Realität in den Unternehmen abzubilden und so die gegenwärti-
gen und zukünftigen Herausforderungen bei der Organisationsentwicklung aufzuzeigen,
ist der Haufe-Quadrant (s. Abb. 3.1). Er veranschaulicht die Interaktion zwischen den
zwei entscheidenden Parametern jedes Unternehmens – den Menschen und dem Organi-
sationsdesign.

Der Blick in den Quadranten


Abhängig davon, ob das Organisationsdesign stark gesteuert oder selbst organisiert ist
und ob die Mitarbeiter eher Gestalter oder Umsetzer sind, zeigt der Haufe-Quadrant vier
verschiedene Organisationsformen auf: Weisung und Kontrolle, Schattenorganisation,
agile Netzwerke und überforderte Organisation. Bei dieser Einteilung gilt allerdings zu
beachten: Die wenigsten Menschen sind reine Umsetzer oder reine Gestalter. Wir gehen
von einer Art Gauß’schen Normalverteilung aus: Etwa zehn Prozent der Menschen sind
durch und durch Gestalter, die sich ihre Selbstbestimmung um keinen Preis nehmen
lassen würden. Am anderen Ende der Verteilung gibt es ca. zehn Prozent Umsetzer, die
glücklich sind, wenn sie lediglich Anweisungen ausführen müssen, ohne diese weiter
infrage zu stellen. Der Großteil der Menschen befindet sich irgendwo dazwischen. Sie
können sowohl Umsetzer als auch Gestalter sein, je nachdem, in welchem System sie
38 S. Grabmeier

Abb. 3.1  Haufe-Quadrant. (Quelle: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG)

sich bewegen und welche Arbeitsweise das System unterstützt. Ein gut funktionierendes
agiles Netzwerk ermöglicht es vielen Menschen, gestaltend wirksam zu werden.

Weisung und Kontrolle: Mitarbeiter mit dem Selbstverständnis des klassischen Umset-
zers arbeiten in einem hierarchischen Top-Down-Design. Das Ergebnis: effiziente Pro-
zesse und genormte Ergebnisse, aber wenig Freiraum für Kreativität und Innovation.
Dieses Modell war viele Jahrzehnte Garant für Wohlstand und hohe Produktivität und
wird überall dort sinnvoll eingesetzt, wo standardisierte effiziente Prozesse gefragt sind
(zum Beispiel in der Produktion, in der Fertigung etc.).

Schattenorganisation: In fast allen Unternehmen finden sich auch Schattenorgani-


sationen, die sich aufgrund einer fehlenden Übereinstimmung zwischen gegebenem
3  Lernen von den Kleinen … 39

Organisationsdesign und Selbstverständnis der Beschäftigten bilden: Mitarbeiter, die


sich als Mitentscheider und Mitunternehmer aktiv am Unternehmenserfolg beteiligen
wollen, werden von autoritären, starren Strukturen in ihrem Drang nach Eigenverantwor-
tung ausgebremst. Sie werden nicht in Prozesse und Entscheidungen involviert, es findet
keine transparente Kommunikation statt. All das verhindert, dass der Gestaltungsdrang
der Mitarbeiter zum Unternehmenserfolg beitragen kann. Vielmehr kommt es zu einem
Widerspruch zwischen Eigenbild der Angestellten und Managementsicht: Während die
Beschäftigten sich als „Freiheitskämpfer im Dienst des Unternehmens“ sehen, nimmt
das Management sie als „Guerilla-Aktivisten“ wahr.
Als Konsequenz aus ihrem Dilemma brechen die Mitarbeiter aus diesen Strukturen
aus und verfolgen ihre eigene Agenda. Dabei entwickeln sie eine hohe Eigendynamik,
teilweise jenseits der Unternehmensstrategie. Das kann sich negativ auswirken, etwa
dahin gehend, dass die Ergebnisse ihrer eigentlichen Arbeit nicht zu den vorgegebenen
Anforderungen passen, oder dass die Mitarbeiter im schlimmsten Fall ihre Arbeit ver-
weigern. Richtig gesteuert können in den meisten Fällen aus der Schattenorganisation
positive Impulse für den Unternehmenserfolg erwachsen – schließlich sind die Mitarbei-
ter aktiv und hoch motiviert, sich am Unternehmenserfolg zu beteiligen. Viele Entwick-
lungen, die Unternehmen auf den Weg gebracht haben, sind nicht von oben befohlen
worden. Prominentestes Beispiel sind sicher die Nespresso-Kapseln, die der Ingenieur
Favre gegen den erklärten Willen des Managements von Nestlé entwickelte, da dieses
der Meinung war, dass Kaffeemaschinen durch Instant-Kaffee abgelöst würden. Schließ-
lich hat Nestlé der Produktion der Kapseln zugestimmt und damit eine der erstaun-
lichsten Erfolgsgeschichten der vergangenen Jahre geschrieben. Das Beispiel Flixbus
hingegen zeigt, dass die Deutsche Bahn zwei ehemaligen Trainees weder Zeit, Geld,
Freiraum noch Wertschätzung geschenkt hat. Somit wurde aus einer Konzernidee ein
Start-up und mittlerweile einer der größten Konkurrenten im Personenverkehr mit Fern-
reisebussen. Man sieht: Jedes Leadership-Team eines Unternehmens hat es selbst in der
Hand, Zukunft zu gestalten oder diese agileren Gestaltern zu überlassen. Das Wirken der
Schattenorganisation ist ein Korrektiv zur ungenügenden Passung von Mitarbeitermenta-
lität und Organisationsdesign.

Überlastete Organisation: Hier trifft ein agiles Organisationsdesign mit größtmögli-


chem Freiraum auf Mitarbeiter, die sich nach harten Vorgaben und klar definierten Pro-
zessen sehnen, oder diese bislang gewohnt waren. Das Ergebnis: Trotz hoher Dynamik
und maximaler Auslastung werden nur ungenügende Outputs generiert; der Mitarbeiter
fühlt sich wie ein „Hamster im Laufrad“, dem die nötige strategische und prozessuale
Anleitung durch Vorgesetzte fehlt, um seine Arbeit sinnvoll in den Dienst des Unter-
nehmens stellen zu können. Die Mitarbeiter müssen erst entsprechend befähigt werden,
bevor sie mehr Verantwortung übernehmen und eigenständiger arbeiten können. Die
Führungskräfte wiederum fühlen sich wie Wildhüter, wenn sie Tiere nach Jahren der
„Gefangenschaft“ ohne Vorbereitung aus dem Käfig lassen würden und sie zur freien
Jagd animieren wollen würden – aber die Tiere drehen sich weiter im Kreis und warten,
40 S. Grabmeier

bis man sie füttert. Wildhüter wildern aus diesem Grund die Tiere professionell aus: Sie
bereiten sie auf die neue Freiheit vor und trainieren sie für das Überleben in der Wild-
nis. Das Gleiche müssen auch Manager tun. Nur Leader, die moderne agile und digitale
Führungsmethoden kennen und diese auch vorleben, werden ihre Teams auf dem Weg
mitnehmen können.

Agile Netzwerke: Unter einem agilen Netzwerk verstehen wir bei Haufe-umantis, dass
ein flexibles Organisationsdesign auf eigenverantwortliche Mitarbeiter mit unternehme-
rischen Gestalterqualitäten trifft. Es ist geprägt von einem tiefen Vertrauen des Manage-
ments in die Fähigkeiten der Mitarbeiter, die Anforderungen des Marktes zu erkennen und
eigenverantwortlich umzusetzen. Gleichzeitig sind die Mitarbeiter in alle relevanten Ent-
scheidungen involviert – sie können im höchsten Reifegrad sogar als Intrapreneur agieren.
Ihre Arbeitsweise ist geprägt von eigenständigem, unternehmerischem Denken, sie können
komplexe Sachverhalte erschließen und in Konzepte und Business-Ansätze überführen.
Diese Führungsstruktur ist ideal für Bereiche wie etwa Forschung & Entwicklung,
IT oder (Produkt-) Marketing und Sales sowie für alle Geschäftsmodelle, die auf inno-
vative Produktentwicklungen angewiesen sind, denn sie fördert Kreativität und Innova-
tion. Damit bildet für uns das agile Netzwerk den Gegenpol zum Top-Down-Design. Das
bedeutet jedoch auch, dass es einige Projekte, Geschäftsbereiche und -modelle gibt, für
die dieses Organisationsdesign nicht gut geeignet ist. Als Beispiel können Bereiche mit
einem hohen Bedarf an Effizienz, wie etwa die Produktion, dienen. Hierfür sind die Pro-
zesse und Abläufe eines agilen Netzwerks teilweise zu ineffizient und zu wenig skalier-
bar, der Abstimmungsaufwand ist zu hoch.

3.2.2 Praxisbeispiel Haufe-umantis: Vom agilen Start-up zum


agilen Mittelstand

Heute sind wir bei Haufe-umantis bekannt für etliche Experimente rund um demokra-
tische Unternehmensführung, wie Vorgesetztenwahlen, teamverantwortete Mitarbei-
tergewinnung und spiralförmige Karrieren als Führungskräfteentwicklung. Das ist
eine Möglichkeit von vielen, agile Strukturen zu kanalisieren, und es ist der Weg, den
wir für uns gewählt haben. Doch Demokratie bedeutet immer auch, die Meinung einer
Minderheit zu überstimmen und sich feste Strukturen und Prozesse zu geben. Das sah
zwischenzeitlich auch ganz anders aus. Im Folgenden beschreibe ich anhand des Haufe-
Quadranten die verschiedenen Führungsmodelle und Organisationsdesigns, die Haufe-
umantis – wie so viele andere Start-ups auch – im Lauf seiner Entwicklung durchlebt hat.

Haufe-umantis als agiles Netzwerk


Haufe-umantis wurde im Jahr 2000 von vier Gründern als Spin-off der Universität St.
Gallen und der ETH Zürich ins Leben gerufen. Die Gründer waren alle überzeugte
Gestalter, die sich ihre Aufgaben selber suchten, Dinge gerne ausprobierten, um im
3  Lernen von den Kleinen … 41

Erfolgsfall an ihnen festzuhalten und im Fall des Misserfolgs weiter zu experimentieren.


Entscheidungen wurden damals ausschließlich im Konsens getroffen und oft bis spät in
die Nacht diskutiert, denn gerade in der Gründungsphase ist es sehr wichtig, dass alle
Beteiligten ausnahmslos hinter den Entscheidungen stehen. Eine Zeit lang funktionierte
das Unternehmen so sehr gut. Doch informelle Strukturen und Prozesse kosten Zeit und
funktionieren am besten bei wenigen Betroffenen und geringer Komplexität. Als das
Unternehmen wuchs, stiegen auch die Herausforderungen des agilen Organisationsde-
signs und es wurden erstmals Korrekturen am Führungsmodell nötig – in diesem Fall hin
zu einer klassischen Top-Down-Führung, denn die Mitarbeiter waren von den unklaren
Strukturen überfordert.
Ein weiterer Eingriff in unsere Führungsstruktur wurde nötig, als während der Phase
der Weisung und Kontrolle zunehmend mehr Mitarbeiter in eine Schattenorganisation
auswichen, weil sie die Entscheidungen des Managements nicht (mehr) nachvollziehen
konnten. In diesem Fall sah das Gegensteuern vor, dass wir uns auf unsere Wurzeln rück-
besannen – und wieder zu den agilen Strukturen eines Start-up zurückkehrten.
Denn in der damaligen Zeit war es für das Unternehmen von großer wirtschaftli-
cher und strategischer Bedeutung, Ressourcen in eine neue Software zu investieren. Zu
diesem Zweck wurden sowohl die besten internen als auch herausragende externe Pro-
grammierer rekrutiert. Das Projekt lief dementsprechend gut an. Was sich aber schnell
bemerkbar machte: Nun fehlte es an Expertise für die Weiterentwicklung der bestehen-
den Software. Es blieb also nichts anderes übrig, als einige dieser besten Köpfe wieder
zurück in ihr altes Team zu schicken. Doch es war klar, dass das auf Widerwillen stoßen
würde. Die neue Software war prestigeträchtiger, eine Mitarbeit daran bedeutete für die
Programmierer thematische Herausforderungen und ein Highlight im Lebenslauf.
In dieser Situation stand das Management vor zwei Alternativen: Es konnte eine Ent-
scheidung treffen und die entsprechenden Mitarbeiter zurück in das alte Projekt beor-
dern. Oder das Problem konnte im Sinne unserer selbstbestimmten Unternehmenskultur
gelöst werden – der Weg, der Mitarbeiter miteinbezieht und ihnen ermöglicht, sich aktiv
am Unternehmenserfolg zu beteiligen. Die Entscheidung fiel für die zweite Variante.
Die Unternehmensführung wandte sich also an die betreffenden Mitarbeiter, verdeut-
lichte ihnen die Herausforderung für das Unternehmen und bat sie, sich eigenständig
dem Projektteam anzuschließen, für das sie ihrer Meinung nach den größten Beitrag leis-
ten konnten. Das Ergebnis: Genau diejenigen, die für die Weiterentwicklung der alten
Software wichtig waren, entschieden sich freiwillig für dieses Projekt. Für die Kollegen
wurden diese Programmierer zu einer Art „Helden der Arbeit“, denn sie sicherten die
bestehende Software. Hätte das Management sie jedoch einfach vor vollendete Tatsachen
gestellt, wären sie aller Voraussicht nach unzufrieden gewesen und hätten schlimms-
tenfalls nur einen Bruchteil der möglichen Leistung erbracht. Als Folge des geglückten
Experiments führte Haufe-umantis in einigen Unternehmensbereichen Swarming ein,
doch zeigte sich schon bald, dass es erneut zu einer Dysbalance von Agilität auf der
einen Seite und Ineffizienz und Ineffektivität auf der anderen Seite kam, und wir beende-
ten diese erneute Phase des agilen Netzwerks wieder.
42 S. Grabmeier

Haufe-umantis als überlastete Organisation


Während der ersten großen Wachstumsphase unseres Unternehmens schlichen sich
zunehmend deutliche Veränderungen ein. Innerhalb kürzester Zeit waren nicht mehr nur
die vier Gründer, sondern bereits 15 Mitarbeiter im Unternehmen beschäftigt. Damit
wurden die Strukturen und Schnittstellen komplexer, der Koordinationsaufwand stieg.
Allerdings handelte es sich dabei um graduelle Entwicklungen und so dauerte es einige
Zeit, bis auffiel, wie sehr sich das Unternehmen verändert hatte und dass die bis dahin
eingespielten Prozesse nicht mehr griffen. Den Mitarbeitern fehlte es an Klarheit, sie
kannten ihre Verantwortlichkeiten und Kompetenzen nicht; es fiel ihnen schwer, not-
wendige Entscheidungen zu treffen. Denn je undurchsichtiger Systeme sind, desto weni-
ger Möglichkeiten sehen Mitarbeiter, gestaltend aktiv zu werden. Sie wissen nicht, wer
ihre Ansprechpartner sind; Entscheidungsbefugnisse sind unklar. Somit bleiben gute
Ideen unausgesprochen; wichtige Entscheidungen werden nicht gefällt. Das führt bei
Führungskräften und Mitarbeitern gleichermaßen zur Frustration oder sogar Resigna-
tion. Während zunächst „nur“ einzelne Mitarbeiter darunter litten, war es bald schon der
Großteil und damit steuerte das Unternehmen zunehmend auf eine organisationale Über-
forderung hin. Eine der wesentlichen Ursachen für diese Überforderung war die zuneh-
mende Komplexität der Zusammenarbeit. Was in der Gründungsphase mit einem Zuruf
über den Schreibtisch getan war, erforderte immer umfassendere Abstimmungsschleifen.
Es fehlten klare Zuständigkeiten und geordnete Kommunikationswege.

Haufe-umantis im klassischen Top-Down


In der ersten Phase der Überforderung (bei rund 20 bis 60 Mitarbeitern) wurde klar: Um
Mitarbeitern die Orientierung zurückzugeben, musste mehr Führung in das agile Organi-
sationsdesign Einzug halten. Die Einstellung erfahrener Senior-Manager sollte für klare
Strukturen sorgen sowie Verantwortlichkeiten und Kompetenzen erstmals klar definieren.
Im Zuge dieser Einstellungen wurde eine Personalentscheidung getroffen, die sich im
Nachhinein als absoluter Glücksfall erwies: Eine externe Führungskraft war zunächst für
die Consulting-Abteilung eingestellt worden. Dort erledigte die Mitarbeiterin ihren Job
aber so gut, dass ihr innerhalb kürzester Zeit andere Bereiche übertragen wurden und sie
schon bald zum Chief Operating Officer (COO) aufstieg. Ihr wichtigstes Instrument: die
klare Verteilung von Rollen und Verantwortlichkeiten. Ab sofort wussten die Mitarbei-
ter jederzeit, an wen sie sich wenden mussten, wenn eine wichtige Entscheidung getrof-
fen werden sollte. Die neue COO hat Ressourcenkonflikte zwischen einzelnen Teams
gelöst, Prioritäten gesetzt und als Ansprechpartnerin für alle Belange fungiert – kurzum:
Sie brachte Klarheit in die Organisation. Das Aufräumen der überholten Strukturen war
der Startschuss in eine Wachstumsphase, die vorher undenkbar gewesen wäre. Von stark
operativen Aufgaben bis hin zu strategischen Problemstellungen meisterte die COO alle
Herausforderungen und bezog das Team in ihre Entscheidungen ein. Gleichsam behielt
sie die To-do-Listen aller Mitarbeiter im Blick, sorgte für deren Einhaltung, diente als
Kommunikationsschnittstelle zwischen den Teams und wurde so zum Dreh- und Angel-
punkt unseres Erfolgs.
3  Lernen von den Kleinen … 43

Schattenorganisationen bei Haufe-umantis


Doch mit dem starken Wachstum des Unternehmens (ab 60 bis 150 Mitarbeiter) stieg
auch die Anzahl der zu treffenden Entscheidungen. Diesen hohen Anforderungen konnte
schon bald keine einzelne Person mehr gerecht werden und der Erfolg der Top-Down-
Phase fing an zu bröckeln. Zu viele Entscheidungen mussten in zu kurzer Zeit gefällt
werden, sodass die Mitarbeiter nicht mehr einbezogen und die gefällten Entscheidungen
nicht mehr verständlich kommuniziert werden konnten. Auch falsche Entscheidungen
wurden getroffen. Die COO war zum Flaschenhals der Organisation geworden und die
meisten Mitarbeiter konnten sich mit dem Vorgehen nicht mehr identifizieren.
Ein Beispiel: Es gab damals eine Mitarbeiterin, die um die Versetzung vom Support-Team
ins Marketing gebeten hatte. Dieser Wunsch konnte realisiert werden. Doch kurz darauf
fehlten Leute im Support und die Mitarbeiterin wurde für eine gewisse Zeit an ihren alten
Arbeitsplatz zurückbeordert. Formal saß sie wieder bei ihrem alten Team, doch übernahm sie
dort nur wenige Aufgaben – insgeheim trieb sie ihre neuen Marketingprojekte weiter voran.
Der Control-Teil von Command and Control versagte allmählich; die Mitarbeiter setzten ihre
eigenen Entscheidungen durch. Nicht aus Trotz, sondern weil sie sie für richtig hielten.
Diese ersten Anzeichen des Widerstands steigerten sich zur Unzufriedenheit – der
Unmut über die aktuellen Zustände wurde offen kommuniziert, einige Mitarbeiter ver-
ließen sogar das Unternehmen. Die COO konnte den Anforderungen des Erfolgs, den sie
selbst eingeleitet hatte, nicht mehr gerecht werden, die Last wurde zu groß für ein Paar
Schultern und ein erneuter Wechsel des Führungsmodells wurde eingeläutet.
Mithilfe der Analogie aus dem Straßenverkehr lässt sich die Entwicklung von Haufe-
umantis gut zusammenfassen: In der Gründungsphase organisierte sich der spärliche Ver-
kehr noch selbst – Licht- und Handzeichen reichten zunächst, um Unfälle zu vermeiden.
Doch der Verkehr wurde stärker und die Unfälle häuften sich. Also wurde ein Verkehrs-
polizist eingestellt: die COO. Sie führte Regeln ein und strukturierte den Verkehrsfluss.
Doch schon bald konnte sie den kontinuierlich zunehmenden Verkehr nicht mehr alleine
regeln – zu diesem Zeitpunkt war unser Unternehmen mit einer riesigen Kreuzung ver-
gleichbar, ähnlich dem Place de l’Étoile, auf den zwölf Straßen zuführen. Genau wie vor
der Einführung des Polizisten häuften sich erneut die Unfälle. Die Fahrer bemerkten die
Überforderung und fuhren einfach, wenn der Polizist gerade nicht hinsah. Als mögli-
che Lösungen kamen der Einsatz von zusätzlichen Polizisten oder die Einführung eines
Kreisverkehrs infrage, wobei wir uns mit der Einführung von projektbasierten Teams in
einigen Bereichen für den Kreisverkehr entschieden haben.

3.3 Konsequenz für Unternehmen: Upgrade des


Betriebssystems

Doch welche Schlussfolgerung können Geschäftsführer und Personalverantwortli-


che aus der oben geschilderten Führungshistorie bei Haufe-umantis ziehen? Wenn sie
den Haufe-Quadranten am eigenen Unternehmen durchspielen und einen realistischen
44 S. Grabmeier

Abb. 3.2  Mitarbeiterzentriertes Betriebssystem. (Haufe-Lexware GmbH & Co. KG)

Soll-Ist-Vergleich vornehmen, werden sie wahrscheinlich erkennen, dass sich auch in


ihrem Unternehmen viele Mitarbeiter in für sie ungeeigneten Strukturen bewegen. Sei es,
dass sie mehr Freiraum benötigen, weil sie gerne gestalten würden, ihren Job aber strikt
nach Anweisung umsetzen müssen, oder dass sie überlastet sind, weil sie zu viel Freiraum
haben und mehr Führung benötigen. Vor dem Hintergrund aller Erfahrungen, die wir seit
Gründung von Haufe-umantis in den verschiedenen Entwicklungsphasen gemacht hat-
ten, wurde uns klar: Jedes Unternehmen braucht immer Agilität und Führung – und zwar
im Zusammenspiel miteinander. Dafür sind auch neue Tools und Methoden nötig, zum
Beispiel agieren wir mit moderneren Tools in den People-Prozessen. Ein jährliches Mit-
arbeitergespräch werden Sie weder in einem Start-up noch einer agilen Projekteinheit fin-
den. Das sind Verfahren von vorgestern und meist nur noch in klassischen Unternehmen
vorzufinden. Ebenso zählt der Einsatz von Lean Start, Design Thinking sowie Scrum und
Kanban zum Basisrepertoire unserer Mitarbeiter – ebenso der Leader. Das bedeutet für
die Führungskräfte, dass sie sehr flexibel agieren müssen: Führung geben, wo nötig und
gewünscht, aber auch Freiraum lassen und gut durchdachte Regeln einführen, um Agilität
zu ermöglichen. Aus dieser Erkenntnis haben wir das „Betriebssystem für Unternehmen“
(Abb. 3.2) entwickelt.
Denn Mitarbeiter können nur Bestleistungen bringen, wenn sie sich in ihrem Arbeits-
umfeld wohlfühlen und wenn die Strukturen ihrer Arbeitsweise entsprechen – wenn Orga-
nisationsdesign und Selbstverständnis der Mitarbeiter optimal zusammenspielen. Um dies
zu erreichen, benötigen Unternehmen ein breiter angelegtes Managementsystem – das
3  Lernen von den Kleinen … 45

mitarbeiterzentrierte „Betriebssystem“. Dieses muss in der Lage sein, alle existierenden


Organisationsformen mit Prozessen und Werkzeugen zu unterstützen – nicht nur Weisung
und Kontrolle, wie es heute meist der Fall ist. Es muss Mitarbeiter aus der Überlastung
und dem Schatten holen und es muss auch für agile Netzwerke optimale Arbeitsbedingun-
gen schaffen. Erst dann wird es unterschiedlichsten Mitarbeitertypologien und diversen
Organisationsdesigns gerecht. Dieser Ansatz führt zu großer Agilität und hoher Mitarbei-
terzufriedenheit im Unternehmen, bedeutet jedoch auch eine große Vielfalt an Führungs-
strukturen, Prozessen und Werkzeugen, mit der Organisationen erst umzugehen lernen
müssen. Wir haben aus unserer Entwicklungsgeschichte gelernt, dass in einem agilen
Umfeld Leader andere Software für People-Prozesse benötigen, als es in einem klassi-
schen Top-Down der Fall ist. Wir haben zunächst bei uns experimentiert und setzen diese
Lösungen inzwischen auch erfolgreich bei unseren Kunden ein, die wir auf ihrer Reise zu
einem neuen Betriebssystem begleiten.
Damit Mitarbeiter erfolgreich arbeiten können, müssen aber nicht nur Strukturen
geschaffen werden, in denen jeder Beschäftigte das Beste aus sich herausholen kann und
Tools implementiert werden, die der neuen Agilität gerecht werden. Mindestens ebenso
wichtig ist es, sich insbesondere auf der oberen Managementebene bewusst zu machen,
dass ein neues Verständnis von Führung notwendig ist. Vorgesetzte sollten nicht mehr
nur entscheiden und Ziele ansagen. Vielmehr sollten sie als Moderatoren auftreten, einen
offenen Dialog fördern und ein Umfeld schaffen, in dem Mitarbeiter als Mitunternehmer
Verantwortung übernehmen können.

Führung im Betriebssystem: individuell und temporär


Führung ist im Betriebssystem also ein relativ komplexer Vorgang, bei dem die Personal-
verantwortlichen sehr flexibel sein und mit einer Vielzahl an verschiedenen neuen Tools
agieren müssen. Gleichzeitig müssen die Führungskräfte aber auch immer wieder hinter-
fragen, ob sie in der jeweiligen Unternehmensphase immer noch die bestmögliche Per-
son für ihre Position sind.
Denn die Auswahl der richtigen Mitarbeiter steht immer in Abhängigkeit zur Unter-
nehmensphase – und jede Phase stellt andere Anforderungen an Führung: von der
Hands-on-Mentalität bis zum analytischen Strategen. Diese Fähigkeiten können nicht
alle in einer Person vereint sein. Nur wenn das richtige Profil auf die gegebenen Anfor-
derungen trifft, kann Führung wirklich erfolgreich sein. Dies haben wir bei Haufe-
umantis beispielsweise erfahren, als nach der relativ unstrukturierten Gründungsphase
Senior-Manager rekrutiert werden sollten, um Strukturen und Prozesse zu professio-
nalisieren. Doch nur wenige dieser Einstellungen waren erfolgreich. Es waren die fal-
schen Profile ausgewählt worden und die meisten Senior-Manager schieden bald wieder
aus, weil sie Schwierigkeiten hatten, sich in der Unternehmenskultur zurechtzufin-
den. Heute wären diese Führungskräfte, die sich durchaus in der Rolle des Gestalters
sahen, möglicherweise genau richtig für Haufe-umantis. Damals aber musste Führung
ein sehr breites Spektrum umfassen: Einerseits sollten die Führungskräfte Treiber der
46 S. Grabmeier

Unternehmensstrategie sein, andererseits aber auch die Ärmel hochkrempeln und anpa-
cken – also Gestalter und Umsetzer gleichermaßen sein.
Um es wieder mit einer Analogie aus dem Straßenverkehr zu beschreiben: Ein guter
Autofahrer zeichnet sich beispielsweise durch Kenntnisse des Verkehrsrechts, eine vor-
ausschauende Fahrweise und durch die Kontrolle seines Fahrzeuges aus. All das nützt
ihm aber wenig, wenn er nicht mit den örtlichen kulturellen Gegebenheiten vertraut
ist. Ein europäischer Autofahrer beispielsweise könnte auf indischen Straßen leicht die
Übersicht verlieren. Und das Linksfahrgebot kann manchen kontinentaleuropäischen
KFZ-Lenkern Schweißperlen auf die Stirn treiben. Über das fahrerische Können sagen
diese Situationen dennoch wenig aus. Und genau so ist es auch in einem Unternehmen:
Es sind die äußeren Umstände, die entscheiden, ob eine Person zu einer Organisation
passt – ob sie sich in dem gegebenen Rahmen als Gestalter oder Umsetzer erweist.
Doch der Übergang von einer Entwicklungsphase des Unternehmens zur nächsten ist
schleichend. Häufig bemerken weder Führungskraft noch Mitarbeiter sofort, dass sich die
Anforderungen an das Führungsprofil gerade wandeln. Und nur sehr selten entwickelt
sich die Führungskraft im gleichen Tempo in genau die gleiche Richtung wie das Unter-
nehmen. Die Konsequenz: Die Führungsqualität sinkt und sowohl Führungskraft als auch
Mitarbeiter geraten in eine Krise. Dies kann sich negativ auf den Unternehmenserfolg
auswirken und führt in den meisten Fällen dazu, dass die Führungskraft das Unterneh-
men verlassen muss. Doch Führungswechsel müssen nichts Schlechtes bedeuten. Ganz im
Gegenteil können sie auch als Chance betrachtet werden, wenn richtig mit ihnen umge-
gangen wird und die zurückgetretene Führungskraft eine andere Position im Unternehmen
bekleiden könnte. So blieben ihre Kompetenzen und ihr Wissen im Unternehmen und sie
könnte an anderer – an einer ihrem Profil entsprechenden – Stelle weiterhin zum Gesam-
terfolg beitragen. Dann könnten sowohl Unternehmen als auch Führungskraft profitieren.
Entscheidend dabei ist, dass die Führungskraft nicht ihr Gesicht verliert und bei dem Posi-
tionswechsel gut begleitet wird. Dann ist sogar eine spätere Rückkehr in die gleiche oder
in eine andere Führungsposition denkbar – ein Karriereverlauf der spiralförmigen Füh-
rung, der im Gegensatz zu den klassischen Kaminkarrieren steht und berücksichtigt, dass
sich in einem dynamischen Marktumfeld die Anforderungen an Führungskräfte kontinu-
ierlich wandeln und ein Rückzug dementsprechend auch nicht als Scheitern gelten darf.
Vielmehr sollte er ein ganz normaler Vorgang sein – zum Wohl von Unternehmen und
Führungskraft.

Fazit
Ein häufig gehörtes Argument besagt, dass ein Großunternehmen niemals so agil
und innovativ sein könne wie ein Start-up – dies liege allein an der schieren Größe.
Das stimmt nach meinen Erfahrungen in beiden Unternehmenswelten so nicht mehr.
Vielmehr ist es so, dass große Konzerne ihr Potenzial lediglich zu fünf bis zehn Pro-
zent ausschöpfen. Denn Innovationen werden in großen Unternehmen in der Regel
absorbiert. Auf der einen Seite, weil die Strukturen starr und unflexibel sind und auf
der anderen Seite, weil das Managementverständnis einer Kultur des Bewahrens und
3  Lernen von den Kleinen … 47

Risikominimierens entspricht. Es gibt also nahezu keinen kulturellen Nährboden,


auf dem Innovationen gedeihen können – oder auf dem sie umgesetzt werden kön-
nen. Von der Idee bis zur Marktreife: Dieser Prozessschritt wird von den traditionellen
Strukturen absorbiert.
Start-ups befinden sich hier klar im Vorteil: Tradierte Strukturen und Normen sind
bei ihnen ein Fremdwort – sie sind in ihrer idealtypischen Entwicklung kontinuierli-
chen Veränderungsprozessen unterworfen und damit gezwungen, sich kontinuierlich
mit ihrer Führungskultur und ihrer Organisationsentwicklung auseinanderzusetzen.
Von diesen Erfahrungen können Konzerne viel lernen. Zum einen auf kultureller
Ebene: Hier müssen viele alteingesessene Unternehmen altbewährte, aber nicht mehr
aktuelle Gewissheiten über Bord werfen und versuchen, eine frische Denke zuzulas-
sen – sei es bei der Fehlerkultur oder beim Wissensaustausch und der Art der Zusam-
menarbeit innerhalb des Konzerns, aber auch mit externen Partnern. Zum anderen
gibt es aber auch auf struktureller Ebene einigen Nachholbedarf. Das Ziel muss sein,
Mitarbeiter dazu zu befähigen, gestaltend tätig zu werden. Dementsprechend müs-
sen die Strukturen ausgerichtet werden. Wie bereits beschrieben, ist es keineswegs
so, dass ein Mensch entweder ein Umsetzer oder ein Gestalter ist. Der Großteil aller
Menschen bewegt sich irgendwo zwischen diesen Polen und kann sowohl Gestalter
als auch Umsetzer sein – je nachdem, was das System ihm abverlangt bzw. zulässt.
Gerade darin liegt aber das Potenzial des Betriebssystems: Wir können Mitarbeiter
von Umsetzern zu Gestaltern machen, indem wir das Organisationsdesign ändern.
Entscheidend dabei ist nur, dass Organisationsdesign und Selbstverständnis der Mitar-
beiter optimal zusammenspielen und die Mitarbeiter dort arbeiten, wo sie ihrem Profil
entsprechend am besten hinpassen.
Der Haufe-Quadrant ist dabei ein erprobter Orientierungsrahmen, der Organisati-
onen helfen kann, ihre Transformation sowohl organisatorisch als auch kulturell zu
gestalten und ein neues Betriebssystem zu implementieren. Unternehmen, die diesen
Wandel als Chance begreifen und den Mut haben, ihre Skills, Methoden und Struk-
turen neu auszurichten und umfassend zu erweitern, werden weiter wachsen. Tun sie
das nicht, werden sie angesichts der veränderten Rahmenbedingungen und der zuneh-
mend dynamischen Märkte über kurz oder lang auf der Strecke bleiben. Ich sehe, dass
sich viele Unternehmen bereits kognitiv damit beschäftigen, aber noch lange nicht auf
dem Weg sind, ihr Organisationsdesign und ihre Leadership-Qualitäten zu entwickeln.
Fangen Sie an. Denn den meisten von Ihnen bleibt nicht mehr allzu lange Zeit!

Literatur

Arnold, H. (2016). Die Entzauberung des Chefs. Wie eine unsichtbare Revolution Unternehmen
verändert. Freiburg: Haufe Lexware GmbH.
Deloitte. (2013). The Shift Index 2013. http://www2.deloitte.com/us/en/pages/center-for-the-edge/
topics/deloitte-shift-index-series.html.
48 S. Grabmeier

Über den Autor

Stephan Grabmeier ist seit 2015 Chief Innovation Evan-


gelist der Haufe-umantis AG, einem führenden Anbieter von
Talent-Managementsoftware in Europa (Gartner Magic Qua-
drant for Talent Management Suites 2015). In dieser Position
verantwortet er den Ausbau neuer Geschäftsfelder – in Human
Resources in der digitalen Transformation. Grabmeier und sein
Team beraten Organisationen auf dem Weg durch deren Trans-
formation und unterstützen sie dabei, schneller zu innovieren.
Haufe ist eines der wenigen deutschen Unternehmen, die eine
erfolgreiche digitale Transformation hinter sich haben – vom
Fachverlag zum digitalen Lösungsanbieter. Vor seiner Tätigkeit
bei Haufe-umantis war Grabmeier Geschäftsführer der Innovation Evangelist GmbH und
trieb als Head of Culture Initiatives die digitale Transformation der Deutschen Telekom
AG voran. Zuvor war der studierte Betriebswirt Geschäftsführer der yourcha AG und
Managing Director der Master Management Deutschland GmbH. Weitere Stationen sei-
ner beruflichen Karriere waren leitende Funktionen als Head of High Tech Campus bei
der Cortal Consors AG und HR Manager in der HypoVereinsbank FMIS GmbH.
Der RH-Way: Die Organisation als
unternehmerisches Netzwerk 4
Heiko Fischer und Angela Maus

Zusammenfassung
Stellen Sie sich eine zu 100 % vernetzte Organisation vor: Teams und Individuen
verhandeln direkt miteinander, woran und wie gearbeitet wird – ohne Mittelsmänner
oder Hierarchien. Informationen fließen frei zugänglich. Persönliche Kommunika-
tion ist Standard. Jeder geht den direkten Weg zum anderen, um Dinge zu erledi-
gen. Das Resultat? Effektive, kundenzentrische Entscheidungen. Ein Höchstmaß an
Verantwortung durch Selbstverpflichtung und organische Führung, die Autorität und
Information direkt an die Schnittstelle zum Kunden verlagert. Der RH-Way ist ein
demokratisches Management-Framework mit dem Anspruch, solch eine Kultur von
100 % Unternehmertum und 0 % Bürokratie in jedes soziale System einführen zu
können. Anhand des kaRHma-Dreiklangs Wollen/Können/Befähigen wird die Unter-
nehmenskultur als agiles Produkt durch alle Mitarbeiter stückchenweise weiterentwi-
ckelt. Probleme, wie fehlende Innovationskraft, sinkendes Mitarbeiterengagement und
Fachkräftemangel, werden radikal angepackt. In diesem Beitrag wird der RH-Way hin
zu einem vernetzten Organisationsdesign von Mitunternehmern bei Haufe-umantis
praktisch beleuchtet. Besonders betrachtet werden dabei die Designprinzipien einer
solchen unternehmerischen Netzwerkorganisation: Freiwilligkeit, radikale Transpa-
renz und Kleinteilung.

H. Fischer (*) · A. Maus 
Resourceful Humans GmbH, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]
A. Maus
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 49


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_4
50 H. Fischer und A. Maus

Inhaltsverzeichnis

4.1 Einleitung und Einordnung: Die Auflösung der HR-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50


4.2 Der theoretische Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.2.1 Das Prinzip Freiwilligkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2.2 Das Prinzip Transparenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
4.2.3 Das Prinzip Kleinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.3 Darstellung eines Praxisbeispiels – Mitarbeiter führen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

4.1 Einleitung und Einordnung: Die Auflösung der


HR-Funktion

Es waren einmal zwei junge Männer. In einer kleinen Garage in Palo Alto und mit einem
mickrigen Startkapital von 538 $ schufen sie 1939 eine der bedeutendsten Firmen des
20. Jahrhunderts – und den Kern des Silicon-Valley-Unternehmergeistes gleich mit. Die
beiden Männer waren Bill Hewlett und Dave Packard. Ihre Geschichte wiederholte sich
1976 in einer Garage am Crist Drive in Los Altos mit den Akteuren Steve Jobs und Steve
Wozniak und einem Kapital von 800 $.
Am Bild der Garage orientiert sich die Firma Resourceful Humans mit ihrem
Management-Framework. 100 % kundenfokussiert, simpel und auf das absolut Nötigste
beschränkt, ist sie zum Symbol für unbedingtes Wollen geworden. Die Garage, das
ist der Ort, an dem ein paar überzeugte Komplizen der Welt ihr meisterhaftes Können
beweisen. Es ist der Ort, der für die Geisteshaltung steht, einen Beitrag leisten zu wollen,
zu können und zu dürfen. Aber wie bewahrt man sich den „Geist der Garage“, wenn ein
Unternehmen längst auf dem Pfad von Erfolg und Wachstum ist bzw. wie findet man
zum „Geist der Garage“ zurück (Abb. 4.1)?
Die Garage steht für 100 % Unternehmertum und 0 % Bürokratie.
Schon Goethe meinte: „Wenn wir die Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen
wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen
wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“ Und der Psychologe und Holocaust-Überle-
bende Viktor Frankl wiederholte das sinngemäß – es sei wie bei einem Landeanflug bei
Seitenwind. Man müsse ein anderes Ziel ansteuern, um dort anzulangen, wo man hin-
wolle: „Man muss den Menschen überschätzen, um sein volles Potenzial freizusetzen.“
Leider werden Menschen vom Management in den seltensten Fällen positiv über-
schätzt. Oft ist sogar das exakte Gegenteil der Fall. Wir gehen vom Schlechtesten aus.
Wir bauen ein System – so scheint es – um jene herum, die es ausnutzen und keine Leis-
tung zeigen wollen. Warum? Aufgrund der natürlichen Feinde der Garage: Angst, Wider-
sprüchlichkeit und Goldfische. Ja, Goldfische.
Das Management-Framework von, für und durch Mitunternehmer, das wir in der
Folge den RH-Way nennen, erlaubt Organisationen, diese drei Hürden für die Gestaltung
4  Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk 51

Abb. 4.1  Visualisierung des Zusammenhangs zwischen Organisationsdesign und Geisteshaltung

einer Kultur von 100 % Unternehmertum und 0 % Bürokratie zu überwinden. Denn
Wettbewerbsdruck, Digitalisierung, sich schnell vernetzende Kunden, agile Entwicklung,
die ominösen Millennials, die VUCA-Welt1 – all diese Themen bringen die Diskussion
um ein mitarbeiterzentriertes Managementmodell wieder in Gang. Doch der RH-Way
geht weit darüber hinaus. Als Destillat von Erfahrungen und Erkenntnissen aus vielen
Pionierorganisationen und Disziplinen sucht er abseits von Trends eine Logik der
Arbeitsorganisation, die Mitarbeiter bestmöglich befähigt, einen sinnvollen Beitrag zu
leisten.
Dabei umgeht der „Weg“ die klassische Falle der vermeintlich einen besten Antwort
auf die Frage nach dem Umgang mit der VUCA-Welt im Kontext der Arbeitsorganisa-
tion. Seine Designprinzipien führen vielmehr durch eine positive Infektion von innen
heraus zum jeweils besten Arbeitsumfeld. Dafür nutzt der RH-Way exemplarisch die
Emanzipation der Personalfunktion/Human Resources (HR) mit dem „Seestern“-Ansatz
(Brafman und Beckström 2007; Brafman und Brafman 2008), der von der beständigen
Stärke einer kopflosen Organisation ausgeht, als Katalysator der Veränderung. HR und
deren Führungskompetenzen gehen an kleine Teams zurück. Damit beantwortet eine sol-
che Organisation in Goethes Geist – die Menschen so zu behandeln, wie es im Idealfalle
wäre – die Frage: „Wie einfach macht es die Organisation, Wert beizutragen“, und lebt
zugleich das Leitbild der Garage konsequent vor. Denn es ist die einfachste Organisation,

1VUCA ist eine Abkürzung für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity.


52 H. Fischer und A. Maus

Abb. 4.2  Die Balance von Wollen, Können und Befähigen

die keiner „Personalfunktion“ mehr bedarf. Auf dem Weg ihrer Auflösung befähigt HR
den jeweils einzigartigen, besten Weg der Arbeit von innen heraus für, von und durch die
Mitarbeiter selbst.
Dieser Beitrag beschreibt, u. a. am Beispiel der Haufe-umantis-Gruppe, die Prinzipien
des RH-Way – vom klassischen Management hin zu 100 % Unternehmertum und 0 %
Bürokratie – und was Goldfische mit der Sache zu tun haben.

4.2 Der theoretische Hintergrund

Der „Weg“ ist eine demokratische Managementlogik, die Mitarbeitern ein Rahmenwerk
bietet, um Kreativität, Produktivität und Arbeitsmoral in der Organisation nachhaltig
zu maximieren. In der Gestaltung verbindet der „Weg“ soziale Technologie mit klaren
Managementrahmenprozessen.
Wie erwähnt, ist es das Ziel, dass die HR sich im Dienste dieser radikal dezentra-
len Organisationsform als Kompetenz in selbstbestimmten Teams auflöst und somit das
Mantra des Garagenansatzes konsequent vorlebt: 100% Unternehmertum. 0 % Bürokra-
tie. Der „Weg“ als Management-Framework bietet eine Möglichkeit, damit mündiges
Mitarbeitertum verantwortungsvoll skaliert werden kann.
Dem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass das wahre Problem nicht außerhalb
der Firma zu suchen ist, sondern in ihr. Sinnleere, Komplexität und Kompliziertheit
4  Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk 53

führen als Wurzel von fehlender Produktivität und Innovation viel öfter zum Scheitern
als erschütternde Marktereignisse oder großartige Wettbewerber. Auf dem „Weg“ muss
jeder einzelne Mitarbeiter seinen Beitrag als Mitunternehmer leisten wollen, können und
dürfen. Dieser Dreiklang von Wollen, Können und Dürfen ist in unserer Begrifflichkeit
das „kaRHma“ der Unternehmung.
Im Streben nach gutem unternehmerischem kaRHma (der Balance von Wollen, Kön-
nen und Befähigen, Abb. 4.2) sind alle Beitragenden im demokratischen Sinne gleich,
nur mit verschiedenen Aufträgen ausgestattet. Der „Weg“ fordert damit von den Teams
die selbstbestimmte Gestaltung eines idealen Arbeitsumfeldes ein – eines, in dem sich
Mitarbeiter optimal entwickeln können. Das Team, als Kollektiv, entwickelt die Unter-
nehmung im Dienste der gegenwärtigen und zukünftigen Kunden stetig weiter.
Die Firma Sears hat das schon vor fast zwanzig Jahren auf den Punkt gebracht und
vorgelebt: Nur wenn Mitarbeiter mit echter Überzeugung an die Arbeit gehen, können
Kunden deren Produkte auch begehren. Auf eine einfache Formel gebracht:

Arbeitserlebnis + Kundenerlebnis = nachhaltiger Erfolg

Wichtig ist der Hinweis, dass sich, wenn einer Unternehmung auch nur eine einzige
kaRHma-Dimension fehlt oder wenn nur eine unterentwickelt ist, nachhaltiger Erfolg
nicht einstellen kann.
Wenn Mitarbeiter nicht motiviert sind, wenn sie also nichts beitragen wollen, obwohl
sie könnten und dürften, dann sehen sie in ihrer Arbeit anscheinend keinen Sinn. Wenn
das Können und das Wollen da wären, aber das Dürfen fehlt – die Befähigung – dann
ist es wiederum nicht nachhaltig; denn sollte der Beitrag dennoch gelingen, wäre dies
„trotz“ statt „durch“ die Organisation der Fall. Wenn aber das Dürfen gegeben ist und
auch das Wollen, aber das Können fehlt, so ist die fragliche Unternehmung schlicht nicht
imstande, für den Kunden einen guten Beitrag zu leisten, da den Mitarbeitern zur Umset-
zung die individuelle Kompetenz fehlt.
Folgende Fragen sind mit kaRHma von jedem Einzelnen und von den Teams regel-
mäßig zu beantworten: Gibt es ein Wollen eines jeden Einzelnen für den „Weg“? Kann
jeder Einzelne mit der neuen Art des Arbeitens umgehen? Welche Befähigung ist dafür
erforderlich? Bietet die Organisation Strukturen, die es den Mitarbeitern als Mitunter-
nehmern ermöglichen, den „Weg“ zu einem Höchstmaß an Verantwortung mitzugehen?
Dies setzt jedoch ein radikal verändertes Performance-Managementsystem – oder dessen
Abschaffung – voraus. Nicht für jede Organisation sind im ersten Schritt solche großen
und grundlegenden Veränderungen möglich. Je nachdem, in welcher der drei kaRHma-
Dimensionen der Handlungsbedarf am größten ist, variiert die Ausgestaltung. Zu Beginn
der Transformation stehen häufig viele kleine Schritte. Ein kleiner und nicht zu unter-
schätzender Schritt kann bereits die eigenverantwortliche Steuerung von Urlaub oder
auch von Arbeitszeit insgesamt sein.
Der RH-Way eröffnet der Anwenderunternehmung anhand dieser Zutaten das breite
Spektrum des demokratischen Managements zwischen den Polen Apple und SEMCO.
54 H. Fischer und A. Maus

Im Fall von Apple steht laut Dan Walker das Produkt eindeutig im Vordergrund – das
„Was“ der Organisation. Eine gelebte, produktzentrierte Unternehmensdemokra-
tie. Sämtliche Aktivitäten werden am Produkt ausgerichtet, ein Mehrwert für das Pro-
dukt macht jeden Mitarbeiter zum gleichwertigen Mitglied, das sich demokratisch ohne
Berücksichtigung etwaiger Hierarchien einbringen kann. Den anderen Pol des Spektrums
bildet gemäß Clovis Da Silva Bojikian SEMCO. Hier steht das „Wie“ der Organisation
im Vordergrund: Die Art und Weise der Interaktion von Mitarbeitern bzw. Mitunterneh-
mern bildet die Basis sämtlicher Entscheidungen und unternehmerischer Aktivitäten,
wobei selbstverständlich die betriebswirtschaftlichen Mechanismen nicht außer Acht
gelassen werden. Egal, wo man in diesem Spektrum eine demokratische Unterneh-
menstransformation verankert, ob vorwiegend auf der „Was“- oder auf der „Wie“-Seite,
oder irgendwo dazwischen: Immer geht es um eine radikale Umverteilung von Macht
und Verantwortung in die Hände kleiner, unternehmerischer Crews, die als Föderation
eine nie da gewesene Art einer neuen Komplizenorganisation bilden.
Im Folgenden werden die wichtigsten Designprinzipien auf dem „Weg“ zu gesundem
unternehmerischem kaRHma erörtert:

1. Unternehmertum durch Freiwilligkeit.


2. Eine neue Dimension von Vertrauen durch Ziel- bzw. Informations-, Prozess- und
Ergebnistransparenz.
3. Die Kleinteilung der Organisation in überschaubare Aufgaben durch agile Methoden
innerhalb selbstbestimmter Crews.

4.2.1 Das Prinzip Freiwilligkeit

Designprinzip 1 basiert auf der Annahme, dass die Aufgabenwahlfreiheit kompetenter


Mitunternehmer einen unternehmerischen Wettbewerbsvorteil gegenüber bloßer Auf-
tragsausführung darstellt. Freiwilligkeit folgt Sinnhaftigkeit: Um eine verbindliche Bei-
tragsverpflichtung zwischen Mitarbeitern und Team zu gewährleisten, arbeitet der „Weg“
auf eine Föderation vernetzter, selbstbestimmter Teams hin. Diese entwickeln sich aus
Verhandlungen. Die Mitarbeiter handeln untereinander Arbeitsabkommen aus; diese Ver-
einbarungen stellen eine verbindliche Verpflichtung dar, obgleich sie freiwillig geschlos-
sen werden. Der Prozess des Aushandelns heißt in der RH-Way-Terminologie
„netwoRHk“.2
Indem nun also alle HR-Aufgaben vom Team selbst übernommen werden, löst
netwoRHk das klassische Performance-Management durch ein Netzwerk von Mit-
arbeiterabkommen ab, in dem jeder Einzelne seine persönliche Mission und Arbeits-
verpflichtungen definiert. Jeder Mitarbeiter ist gefordert, Schlüsselaktivitäten und

2Ein vernetzter Verbund (Netzwerk) von Resourceful Humans ergibt das netwoRHk.
4  Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk 55

Erfolgskriterien mit seinen Kollegen (den netwoRHkern) auszuhandeln. Die netwoRHks


sind für jeden in der Firma online einsehbar und können so nach Belieben aktualisiert
werden. Sie sind in einem sozialen Netzwerk eingebettet, das ein Echtzeitfeedback von
Performance-Daten, Mitarbeiteraktivitäten und Peer-Feedback beinhaltet.
Der Einfluss einer Führungsperson bestimmt sich aus dieser Perspektive aus ihrer
Fähigkeit, Menschen zu überzeugen, dass sie aus freien Stücken verbindlich ihre Ideen
beitragen. Im Zentrum all dieser netwoRHks steht eine gemeinsame unternehmerische
Vision, auf der sich die Teams im Ursprung beziehen. Dem Prinzip der Freiwilligkeit
folgend kann sich die Vision jedoch verändern, wenn sich eine kritische Masse von net-
woRHks freiwillig in eine neue Richtung bewegt.
Teams dürfen eine überschaubare – klar definierte – Größe nicht überschreiten, sonst
muss ein neues Team gebildet werden. Die Größe der Teams variiert je nach Business-
Anforderungen der Unternehmung. Ist eine Unternehmung gesund, findet sich der
CEO mit seiner Vision der Unternehmung im Zentrum aller netwoRHks, und die ande-
ren Organisationsmitglieder können so ihre netwoRHks-Aktivitäten an ihm ausrichten.
Gleichzeitig können andere, zusätzliche netwoRHks-Aktivitäten durch jedes einzelne
Mitglied der Organisation initiiert werden.
Auf diese Weise geschehen Führung, Kommunikation und Feedback nicht von „oben“
nach „unten“, wie in hierarchischen Organisationen, sondern werden von allen Ausfüh-
renden gewährleistet. Alle an einem netwoRHk Beteiligten haben gleiches Gewicht.

4.2.2 Das Prinzip Transparenz

Prinzip 2 basiert auf der Annahme, dass Menschen sich mit Transparenz und Verantwor-
tung optimal entfalten. Die Verantwortung für solch ein optimales Arbeitsumfeld wird
durch den moRHale-Prozess auf alle Teams verteilt. Der moRHale-Prozess macht aus
der Kultur der Organisation ein soziales Produkt, für das alle die Verantwortung mit-
tragen. Daraus leitet sich ab, dass es für suboptimale Beiträge keine Entschuldigungen
mehr geben darf. Dazu werden im moRHale-Prozess drei Grundfragen in einem zwei-
bis vierwöchigen Rhythmus gestellt:

• Lieben wir unsere Aufgabe, und liebt der Kunde unseren Beitrag?
• Haben wir, was wir brauchen, um unser Bestes zu geben?
• Fühlen wir uns für unseren Beitrag wertgeschätzt?

Das Ziel dieser Fragen besteht darin, dass die Teams für sich herausarbeiten, was sie für
einen reibungslosen Ablauf benötigen. Das Herstellen dieses Optimums bzw. die lau-
fende Optimierung der Betriebsstruktur liegt bei den Teams selbst. Über die Antworten
auf diese drei Fragen erarbeitet sich das Team, für alle Beteiligten gleichermaßen nach-
vollziehbar, ähnlich wie in der Produktentwicklung ein Backlog, das es selbstständig pri-
orisiert und abarbeitet.
56 H. Fischer und A. Maus

So werden alle drei kaRHma-Dimensionen (Wollen, Können, Dürfen) mit Blick auf
einen hundertprozentigen Beitrag auf den Prüfstand gestellt. In einer idealen Beitragskul-
tur werden alle drei Grundfragen mit einem einfachen „Ja“ beantwortet. Bei einem „Nein“
jeglicher Art liegt es in der Verantwortung des Teams, das angesprochene Problem zu lösen,
beziehungsweise muss es dem Team ermöglicht werden, das Problem autonom zu lösen.
Die durch den moRHale-Prozess aufgeworfenen Fragen werden mit den Werten Gold,
Silber und Bronze priorisiert und in einer schnellstmöglichen Regelmäßigkeit adressiert:

Gold – kritische Behinderung oder wichtiger Wettbewerbsfaktor.


Silber – moderates Risiko oder Schlüsselelement zur Unterstützung eines Goldwertes.
Bronze – Hygienefaktor, darf nur nicht unter relevante Vergleichswerte sinken.

Verbildlicht kann man sagen, dass kaRHma der Puls ist, netwoRHk (die gemeinsame
Aushandlung der Arbeitsabkommen) die Synapsen bildet und moRHale das Herz des
Ansatzes ist, besonders während des Transformationsweges. Teams sind primär für ihren
moRHale-Prozess zuständig, können jedoch bei ähnlichen Themen separate moRHale-
Teams zu deren Lösung schaffen. In moRHale-Meetings wird bewusst nicht über Res-
sourcenfragen entschieden, diese werden über die netwoRHk-Teams geregelt.
Das Prinzip der teambasierten Entscheidungsfindung bildet die Basis der agilen
moRHale-Steuerung. Sie ist ein Prozess von häufigen kleinen Kurskorrekturen anstelle
von monumentalen Grundsatzplanungen. So können schwerfällige bürokratische Pro-
zesse vermieden werden, und es wächst eine gegenwartsbezogene Handlungsfähigkeit in
überschaubaren Teams.
Als Voraussetzung für eine regelmäßige Anwendung des moRHale-Prozesses werden
in einem „Alpha-moRHale-Prozess“ gemeinsame Grundwerte und eine Ausgangsvi-
sion der Unternehmung in einer Verfassung festgehalten. Grundwerte und Vision wer-
den durch ein crossfunktionales und Hierarchie übergreifendes Team bestimmt, dem alle
relevanten Stakeholder (CEO, Aufsichtsrat usw.) angehören, anschließend wird es in
einem alle Mitarbeiter einbeziehenden Crowdsourcing-Prozess validiert und endlich ite-
rativ von den Crews weiterentwickelt. Die „Verfassung“ bildet die Basis für die weitere
Anwendung des moRHale-Prozesses.

4.2.3 Das Prinzip Kleinteilung

Prinzip 3 basiert auf der Annahme, dass jeder auf dem RH-Way Botschafter des Kun-
den ist und unternehmerisch fair beteiligt wird. Um dies sicherzustellen, bedarf es einer
Übersichtlichkeit des eigenen Beitrags in einem überschaubaren Team. Weiterentwick-
lung und Wertigkeit des Beitrags in der Logik des RH-Way geschehen nicht durch Titel
oder Seniorität, sondern durch die Kompetenz, die von den Kollegen anerkannt wurde.
Die Entwicklung und Anerkennung erfolgt also durch eine Peer-Feedbacklogik namens
staRHs. Mit staRHs kann jeder jedem jederzeit direkt und unkompliziert ein Feedback
4  Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk 57

geben, das für alle anderen ebenso sichtbar ist. Um das unternehmerische Miteinander
zu fördern, wird jedes Feedback mit einer virtuellen Sternewährung qualifiziert. Wie bei
einer Sternenkarte werden die einzelnen Feedbackflüsse zueinander sichtbar: Von wel-
chem Stern aus gibt es Verbindungen, fließen Feedbacks zu anderen? Wer ist ein Knoten-
punkt, wer ist isoliert?
staRHs als 360-Grad-Feedback in Echtzeit über alle Funktionen und Hierarchien hin-
weg fördert somit konsequent das Potenzial zum unternehmerischen Miteinander. Die
Sternewährung kann bei adäquater Reife der Unternehmung zusätzlich eine Bonusver-
gabe steuern. Feedback und Sternevergabe sind dabei für alle Mitarbeiter transparent.
Auch der Budgetprozess kann durch den Beyond-Budgeting-Ansatz dynamisch in den
„Weg“ implementiert werden.
Von anderen Ansätzen (zum Beispiel Holacracy, Results-Only Work Environment)3
hebt sich der RH-Way durch absolute Kundenfokussierung und die bewusste Absenz
einer vorgegebenen, optimalen Organisationsstruktur ab. Stattdessen geht es darum,
innerhalb eines klaren Rahmenwerks ein mündiges Mitunternehmertum zu fördern und
einzufordern und dadurch gemeinsam anhand von Vision und Werten eine einzigartig
ideale Organisation zu gestalten.

4.3 Darstellung eines Praxisbeispiels – Mitarbeiter führen


Unternehmen

Die Erfolgsmeldung vorweg: Bereits nach zwei Jahren auf dem „Weg“ kann die Haufe-
umantis-Gruppe wirtschaftlich messbare Resultat und neue innovative Produkte vor-
weisen. Doch drehen wir das Zeitrad um ein paar Jahre zurück. Wie kam es dazu, dass
Resourceful Humans dieses Unternehmen begleitet hat?
Es ist 2012. Spannung liegt in der Luft, als das Ergebnis der CEO-Wahl verkün-
det wird. Marc Stoffel versucht, sich die Nervosität nicht anmerken zu lassen. Doch er
ist sich bewusst: Was gerade bei der Haufe-umantis-Gruppe geschieht, ist ein mutiges
Experiment! Nur eine Handvoll Organisationen weltweit übergeben ihren Mitarbeitern
ein solches Maß an Verantwortung. Stoffel selbst hat vor sieben Jahren als Praktikant
in der Firma begonnen. Heute steht er, neben dem Firmengründer Hermann Arnold,
als CEO zur Wahl. Für ihn als Schweizer entspricht diese demokratische Art von Füh-
rung nicht nur seiner inneren Überzeugung, er versteht partizipative Demokratie im
betriebswirtschaftlichen Rahmen auch als Wettbewerbsvorteil. Wie kann eine Firma

3Holacracy ist ein von dem Unternehmer Brian Robertson in seiner Firma entwickeltes System
der Entscheidungsfindung, das von rollenbasierter Transparenz und Partizipation lebt (zum Bei-
spiel bei Zappos in Anwendung). ROWE ist eine Personalführungsstrategie, nach der Mitarbeiter
nicht für ihre Arbeitszeit, sondern ausschließlich für ihre Leistung bezahlt werden (zum Beispiel
bei Best Buy und GAP).
58 H. Fischer und A. Maus

Talent-Managementsoftware für innovative Unternehmen von morgen gestalten? Indem


sie eine neue Kultur als Quelle der eigenen Innovationskraft verinnerlicht. Mitarbeiter,
die ihren CEO und das gesamte mittlere Management wählen, die ihre Strategie für das
Geschäftsjahr in einem zweitägigen Prozess am Rorschacherberg gemeinsam crowdsour-
cen und die dieses einzigartige Know-how in ihre Softwareprodukte einfließen lassen.
Dann die Auszählung. 97 % Zuspruch für Marc Stoffel. Als das Ergebnis endlich ver-
kündet wird, ist klar, dass das erst der Anfang ist. Die wirkliche Arbeit steht noch bevor.
Mithilfe des RH-Way soll eine ganzheitliche Managementsystematik zu Führung, Struk-
turierung und Operationalisierung von partizipativer Demokratie gewagt werden. Macht
soll komplett neu definiert und in der Unternehmung verteilt werden, um nachhaltige
Innovationskraft im Tagesgeschäft eines jeden Mitarbeiters zu verankern. Volles Engage-
ment sollte trotz des Wachstums erhalten bleiben.
Die Inspiration kam vom TED-Talk des Resourceful-Humans-Gründers Heiko
Fischer. Damit war der Grundstein für eine Zusammenarbeit gelegt, die den „Weg“ zu
100 % Unternehmertum und 0 % Bürokratie ebnen sollte. Demokratie als Energiequelle
für Unternehmen – man stelle sich das vor! Das „Warum“ war der Führung klar. Es gab
daher auch keine Diskussion zum „Ob“, sondern nur zum verantwortungsvollen „Wie“.
Wie man eine demokratische Kultur einführt, das ist für die neue Generation der Über-
zeugungstäter vollkommenes Neuland im Management.

Herausforderungen der Transformation


Anhand der blut-, schweiß- und tränenreichen Reise der Haufe-umantis lassen sich die
größten Herausforderungen in der Transformation auf drei Themen reduzieren: Angst,
Widersprüchlichkeit und … Goldfische.

Fokus: Angst
David Cole, der Chief Risk Officer des Schweizer Rückversicherers SwissRe, nannte
bei einer Podiumsdiskussion zu „Environments of Human High Performance“ „Angst“
als größten Stolperstein auf dem Weg zu freiheitlichem Arbeiten im SwissRE-internen
Projekt „Own the way you work“: Angst der Führung, Macht und Einfluss zu verlieren.
Angst, in einem neuen, freiheitlichen System die Kontrolle zu verlieren und trotzdem für
das System haftbar zu sein. Angst der „entfesselten“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
dass die eigene Rolle plötzlich nicht mehr klar sein könnte, oder nur noch so viel Klar-
heit vorhanden wäre, wie man bereit und fähig wäre, selbst herzustellen. Angst, scheinbar
gradlinige Karriere- und Gehaltsentwicklungspfade aufgeben und sie mit stetem Unter-
nehmertum in eigener Sache ersetzen zu müssen. Angst, die scheinbare Sicherheit des
Command and Control fahren zu lassen, ohne dafür eine andere, fremd gestaltete Klarheit
zu erhalten. Diese Bedenken hatte auch die Haufe-Führung, doch sah man in der neuen
Logik mehr Chancen als Risiken. Man hatte viel Vertrauen in die eigene Belegschaft.
Haufe-umantis wollte eine echte Wirtschaftsdemokratie werden, in der tatsäch-
lich Grundlegendes im System verändert und nicht nur ein neuer Diktator demokra-
tisch inthronisiert wird. Sonst wäre ja nichts gewonnen. Es geschähe das Gleiche wie in
4  Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk 59

Command-and-Control-Systemen. Bei Zweifeln gibt es immer einen klaren Feind: Der


Prozess ist unsinnig. Der Manager ist ein Idiot. Die Strategie irre.
Nein, im echten demokratischen Mitgestaltungsrahmen des „Weges“ ist man Betei-
ligter, nicht Betroffener. Die alten Entschuldigungen gelten nicht mehr. Man ist in der
Pflicht. Doch wo dies im Leben erlernt und geübt wurde, vom Haushaltsplan bis zur
Erziehung mündiger Kinder, muss vieles im betriebswirtschaftlichen Rahmen erst ver-
lernt, übersetzt und mit kleinen Schritten neu aufgebaut werden. Der Angst wird am bes-
ten mit einem Gefühl von Wahlmöglichkeit und Transparenz begegnet.
Um Sicherheit im eigenen Handeln zu gewinnen, bediente sich Haufe-umantis der
oben beschriebenen moRHale-Methodik, bei der in einem klaren Rahmenwerk die
gesamte Organisation und die partnerschaftlichen Beziehungsgeflechte kleingegliedert
werden. Dieser iterative, an der agilen Spieleentwicklung angelehnte Prozess führte zum
Beispiel dazu, dass Mitarbeiter ihre Abteilung und Vakanzen selbst auf der Webseite vor-
stellten. Dies mochte auf den ersten Blick amateurhaft wirken, doch gewann man die
Kandidaten durch Authentizität und Überzeugung. Im nächsten Schritt unterzeichnete
das Team dann die Arbeitsverträge der neuen Kollegen, um wirkliche Verantwortung zu
demonstrieren.
Die Sicherheit, die sich aus der Transparenz der Beziehungen ergab, dient als Grund-
lage, um durch den netwoRHk-Prozess, für alle Beteiligten transparent, ein optima-
les Arbeitsumfeld neu zu gestalten: von, durch und für die Mitarbeiter! Dabei können
Mitarbeiter nicht nur ihre Aktivitäten autonom aushandeln, sondern durch den staRHs-
Feedbackprozess auch gegenseitig, in derselben Logik wertschätzen. Gute Taten erhalten
sofort entwicklungs- und bonusrelevantes Feedback und sind mit einer virtuellen Sterne-
währung verknüpft. Zudem sind die Wertschöpfungs- und Wertschätzungsflüsse jederzeit
visuell für alle einsehbar. Besonders in der internationalen Expansion hilft diese Art des
Arbeitens, in virtuellen Teams, die durch große Entfernungen und Zeitzonen voneinan-
der getrennt sind, jederzeit up to date zu sein.
Mit netwoRHk wandelt sich auch das Verständnis von „Arbeit“ – man „hat“ nicht
einfach eine Arbeitsstelle. Arbeit ist das, was getan wird. Statt einer starren Hierarchie,
Top-Down, ermöglichen netwoRHk und staRHs den Mitarbeitern, in einer „natürlichen“
selbst strukturierten Hierarchie zu arbeiten. Einer Hierarchie, die auf Know-how, Leis-
tungen und Verantwortlichkeit basiert. Menschen bewegen sich so nicht „nach oben“,
sondern sie wachsen fachlich, hinsichtlich Respekt, Verantwortung und Entlohnung, je
nach ihrem Beitrag.
Der netwoRHk-Prozess wurde von der Haufe-umantis-Belegschaft in eine Schwarm-
logik übersetzt. Und dies funktioniert so:

Als Schwarm:

• definieren wir, wie viele Rollen oder FTE (Full Time Equivalents) wir maximal im
Schwarm brauchen;
• suchen wir aktiv in der Organisation nach guten Schwarmmitgliedern;
60 H. Fischer und A. Maus

• nominieren wir unseren Produkt-Owner und Scrum-Master;


• setzen wir selbst fest, wie wir unsere Schnittstellen mit anderen Schwärmen managen;
• wollen wir auf niemanden angewiesen sein, um unseren Beitrag leisten zu können;
• teilen wir offen Fehler.

Als Schwarmmitglied:

• starte ich einen oder mehrere Schwärme, oder trete einem oder mehreren Schwärmen
bei;
• entwickle ich die Aufgaben (Backlog) meines Schwarms mit;
• priorisiere ich täglich meine Aufgaben transparent für das Team;
• teile ich meine Lernerfolge in jedem Schwarmtreffen.

Genauso wichtig wie die Gestaltung einer eigenen Organisationslogik mit netwoRHks
und staRHs ist der Aspekt der Visualisierung der Organisation als lebendes Netzwerk.
Der eigene Beitrag kann somit verbildlicht und in Zusammenhang gebracht werden. Man
ist nicht mehr nur ein Rad im Getriebe, sondern Teil einer echten Wertschöpfungsöko-
logie. Ebenso wird Innovation nicht mehr nur über einen KVP (einen kontinuierlichen
Verbesserungsprozess), eine zentrale Abteilung oder eine Befehlskette entwickelt. Sie
wächst aus den entsprechenden Mitarbeitern, die so zu Kickstartern im Unternehmen
werden. Mit der Logik des „Weges“ ist niemand, sondern jeder „Chef“. Dies sorgt für
starke Beziehungen, eine stärkere Organisation und bessere Produkte. Es sorgt weiter-
hin für Transparenz und Sicherheit durch Mitgestaltung der Organisation anhand der
moRHale-Prinzipien sowie Autonomie und Selbstorganisation der Arbeit und Vergütung
durch netwoRHk und staRHs.
Doch das Erlernen von Wertschätzungsritualen wie staRHs braucht Zeit, und der
Markt um uns herum wartet nicht auf die Mitarbeiter der Haufe-umantis. Es ist ein
Fakt, dass die Phase der Umorientierung schmerzhaft sein und kurzfristig zu Nachteilen
gegenüber der klassisch organisierten Konkurrenz führen kann. Veränderung geschieht in
der Geschwindigkeit von Menschen, nicht von Plänen.
Und wenn die Demokratie nicht schnell den erhofften Effekt erzielt, hält man dann an
ihr fest? In guten und in schlechten Zeiten? Feste Bindungen können in einer schnelllebi-
gen Zeit schon Angst machen!

Fokus: Widersprüchlichkeit
Viele Aspekte des „Weges“ stehen im scheinbaren Konflikt mit gegenwärtigen Manage-
mentparadigmen und den darauf basierenden Modellen, wie zum Beispiel dem HR-Busi-
ness-Partner-Model.
Im Ernst, wie soll das gehen? Mitarbeiter, die ihren CEO und ihre Manager wäh-
len? Die demokratisch über neue Mitarbeiter entscheiden? Man stelle sich weiter vor,
dass die Mitarbeiter der Haufe-umantis-Gruppe sich in ihrem jährlichen crowdgesourc-
ten Strategieprozess kollektiv gegen weiteres Wachstum zu diesem Zeitpunkt und für
4  Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk 61

Konsolidierung aussprechen. All dies würde den gegenwärtigen Marktopportunitäten


und ausgeklügelten Strategien zuwiderlaufen und der wirtschaftlichen Logik widerspre-
chen. Was würde geschehen?
Ein Umdenken! Denn die Wirtschaft existiert für die Menschen, nicht die Menschen
für die Wirtschaft. Dieser Ausspruch umreißt das oben skizzierte Spannungsfeld zwi-
schen den Konzepten Kommerz und Demokratie. Dies gilt in der Volkswirtschaft wie
in der Betriebswirtschaft. Doch wo in der Volkswirtschaft das Volk wenigstens begriff-
lich zuerst kommt, ist dies in der Wirtschaftsdemokratie eben nicht der Fall. Freiheit und
Demokratie sind aber keine wirtschaftlichen Ziele, es sind menschliche Ziele.
Wir haben in dieser Dekade erfahren, dass Demokratie keinen Wohlstand garantiert.
Demokratie schafft nur einen freiheitlichen Rahmen für höchstmögliches Potenzial an
nachhaltigem Wohlstand. Dabei ist sie jedoch nur so stark wie die Menschen, die sie
beseelen. Wenn wir Demokratie als Motor für erhöhten Umsatz ansehen, wäre das wie
den Karren vor den Esel zu spannen. Trotzdem waren es Unternehmer wie Bill Hewlett
und Dave Packard, Bill und Vieve Gore oder Ricardo Semler, die es durch ihre Persön-
lichkeiten geschafft haben, den Widerspruch mit ihren Mitarbeitern in ein extrem profi-
tables „Ja und“-Szenario für alle Beteiligten zu wandeln. Die Demokratie ist also auch in
der Führung geprägt durch Führungspersönlichkeiten und die Art und Weise, wie diese
mit Widerstand und Widerspruch umgehen. Also durch ihre Fähigkeit, Kritik, Spannun-
gen und Widersprüche als positive Energiequelle eines demokratischen Arbeitsumfelds
zu schätzen und zu nutzen – statt sie als Probleme anzusehen.
Bei der Anwendung des RH-Way bei Haufe-umantis galt es anzuerkennen, dass die-
ser „Weg“ im Widerspruch zu den Strukturen des Bildungssystems mit seiner individu-
ellen Leistungslogik steht. Alle Beteiligten mussten sich hinterfragen, vermeintlich klare
Denk- und Handlungsmuster infrage stellen oder die erworbenen Muster sogar verlernen.
Es galt, nicht mehr alle Antworten zu wissen, keine Sicherheit vorzugaukeln oder Pläne
zu verkaufen; stattdessen wurden Zuhören, Lernen und Vorleben zur Handlungsmaxime.
Hinzu kommt ein Feingefühl der Führung, ihrer eigenen Truppe nicht allzu weit vor-
auszueilen, eine Sensibilität, die über den moRHale-Prozess entwickelt wird. Als Marc
Stoffel als CEO schon Parolen zum „Was“ und „Wie“ an die Schwärme ausgeben wollte,
verlangte die Belegschaft von ihm als CEO erst einmal Klarheit über die Rahmenbedin-
gungen. Erst auf dieser Grundlage war sie gewillt, den RH-Way weiterzuentwickeln.
Führung ist unter demokratischen Bedingungen also keineswegs irrelevant, sie wird nur
ganz anders.
Um das nachhaltige „Ja, zu Demokratie und zu Profit“ hat sich in der Entwicklung
der Haufe-umantis viel gedreht, denn da tritt der größte Gegner jedweden Fortschritts auf
den Plan: der Goldfisch.

Fokus: Goldfische
Nun wird also die Goldfisch-Metapher endlich aufgelöst! Die Faktoren „Angst“ und
„Widersprüchlichkeit“ allein sind in hart umkämpften Märkten erst einmal ein Wett-
bewerbsnachteil. Sie binden Energien und wenden den Fokus nach innen. Sie stellen
62 H. Fischer und A. Maus

Grundsätzliches infrage, aber geben gerade dadurch den Beteiligten auch Raum, sich zu
orientieren und Neues zu finden. Doch sollten nun zwei, drei oder vier Quartale ins Land
gehen, ohne dass sich auf dem Excel-Sheet erkennbares Wachstum abzeichnen würde,
dann werden die Goldfische zum größten Risiko. Denn wird nun der RH-Way verlassen?
War er nur ein kurzes Experiment – oder doch ein Bekenntnis ohne Umkehr? Die Pointe:
Goldfischen wird ein sehr kurzes Gedächtnis nachgesagt. Einmal im Kreis geschwom-
men, haben sie schon wieder vergessen, was vorher war.
Das Goldfisch-Syndrom hat drei Facetten:

• Führung. Einmal auf dem „Weg“, gibt es kein Zurück. Denn sollte sich die Führung
entschließen, wie die Goldfische alles, was war, zu vergessen und zu alten Strukturen
zurückzukehren, ist der Schaden meist irreparabel. Selbst punktuelle Abkehr wird ext-
rem sensibel aufgenommen. Mitarbeiter aus selbstbestimmten Unternehmungen sind
nicht mehr in klassischen Organisationen einsetzbar. Aus diesem Grunde gibt es die
Verfassung; der Einsatz neuer sozialer Technologien wie netwoRHk und das Prinzip
der Freiwilligkeit und Transparenz sollen dieser Umkehr systemisch entgegenwirken.
• Die zweite Sorte Goldfisch sind externe Berater. Jedes Jahr taucht auf dem Markt ein
neuer Beratungstrend auf, und jeder, der ihm nicht folgt, wird als antiquiert und dem
Tod geweiht hingestellt. Fragen Sie diese Goldfischberater am besten, ob und wie sie
ihre Produkte und Lösungen in ihrer eigenen Organisation anwenden. Stattdessen gilt
es, sich freizumachen von externen Einflüssen.
• Die dritte Gattung Goldfische findet sich unter den Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern selbst. Die Freiheitsgrade erfolgreicher Pionierorganisationen wirken verlo-
ckend: Urlaub ohne Limit. Arbeiten von überall. Kein Chef. Selbst Ziele bestimmen.
Doch einerseits unterschlägt dies den anstrengenden Findungsprozess solcher Pio-
niere, andererseits den mit der Autonomie und Freiheit einhergehenden Grad an
Selbstverantwortung. Oft wünschen sich die Mitarbeiter in alte Zustände zurück,
reden Vergangenes schön und fühlen sich überfordert. Einmal auf dem „Weg“, muss
man auch diese Goldfische an ihr originäres Commitment erinnern.

Es sind spannende Zeiten für Pioniere wie Haufe-umantis. Doch Pioniergeschichten


lesen sich meist besser, wenn der Schatz bereits gehoben ist, der Drache getötet und
die Prinzessin gerettet wurde. Mittendrin fühlen sich solche Geschichten hart an. Es ist
schmerzhaft und chaotisch – auch wenn die Mitarbeiter durch die Designprinzipien des
„Weges“ und durch Wahlen Mitsprache über ihre Führung ausüben, trotz der stetigen
Pulschecks mit kaRHma und trotz Kontrolle und Transparenz über ihre Arbeit und Ver-
gütung durch netwoRHk und staRHs. Obwohl Politik und zentraler Steuerung durch den
moRHale-Prozess begegnet wird, in dem Rahmenbedingungen jederzeit durch die Mit-
arbeiter selbst angepasst werden können, bleiben viele Fragen offen, die man sich vorher
so nicht stellen musste, oder die man nicht erahnen konnte: Wie definiert man Führung
neu, wenn jeder führen soll? Wie bringt man sich ein? Wie entscheidet man sinnvoll mit?
4  Der RH-Way: Die Organisation als unternehmerisches Netzwerk 63

Welche Instanzen übernehmen vitale Checks-and-Balances-Aufgaben, die im volkswirt-


schaftlichen Rahmen der Justiz und der Presse zukommen?
Letztlich werden sich alle Mitarbeiter jenseits der Hierarchien mit diesen Fragen,
den eigenen Widersprüchen und Ängsten auseinandersetzen müssen, um Haufe-umantis
zu nachhaltigem Erfolg zu führen. Denn wenn die Ziele auf dem Weg zu Freiheit und
Demokratie nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch menschlicher Natur sind – dann lie-
gen die erfolgreichen Antworten in eben diesen Menschen. Sie gehen den „Weg“ und
führen über ihren Beitrag ihre Unternehmung zurück in die Zukunft des Managements.
Sie leben im Geist der Garage.

Literatur

Brafman, O., & Beckström, R. A. (2007). Der Seestern und die Spinne: Die beständige Stärke
einer kopflosen Organisation. Weinheim: Wiley-VCH.
Brafman, O., & Brafman, R. (2008). Kopflos: Wie unser Bauchgefühl uns in die Irre führt – und
was wir dagegen tun können. Frankfurt a. M.: Campus.

Über die Autoren

Heiko Fischer lebte, lernte und arbeitete in Frankfurt,


Genf, Barcelona, Paris, Los Angeles, Kairo und London.
2011 gründete er die Resourceful Humans GmbH in Ber-
lin, um durch eine neue demokratische Managementphilo-
sophie und die Selbstorganisation fördernde HR-Lösungen
Mitarbeitern zur mehr Freude, Engagement und Produkti-
vität in Unternehmen zu verhelfen.

Angela Maus verdiente sich ihre Sporen im Bayer-Kon-


zern, erst als Trainee im renommierten Entwicklungspro-
gramm des Unternehmens, dann als Mitarbeiterin im
globalen HR-Projektmanagement und im operativen HR.
2012 wurde sie Partnerin der Resourceful Humans GmbH.
Wie die Digitalisierung die
Führungskompetenz komplett neu 5
definiert
Sirka Laudon

Zusammenfassung
Kaum ein Begriff wird heute so inflationär benutzt wie „Digitale Transformation“. Der
Begriff versucht den Wandlungsprozess zu beschreiben, den ein Unternehmen – zumeist
eher ein Traditionsunternehmen – zu bewältigen hat, um im Zeitalter der Digitalisierung
sämtlicher Geschäftsprozesse zu bestehen. Natürlich geht es hier zuallererst darum,
wie Geschäftsmodelle auf die neuen Anforderungen ausgerichtet werden. Damit aber
diese überhaupt erfolgreich konzipiert und umgesetzt werden können, ist ein umfas-
sender Wandlungsprozess innerhalb der Unternehmen vonnöten. Dieser reicht von Ver-
änderungen der Projekt- und Prozessgestaltung über die zunehmende Bedeutung von
IT in Unternehmen bis hin zu einem kulturellen Transformationsprozess. Letzterer ist
ein Zusammenspiel von veränderten Wertvorstellungen und Einstellungen, die zu Ver-
haltensänderungen führen. Es wundert kaum, dass der Führungskraft in diesem Wand-
lungsprozess eine besondere Rolle zukommt – ist sie es doch, die als Multiplikator
maßgeblichen Einfluss auf die zu verändernde Unternehmenskultur und das Verhalten
der ihr anvertrauten Mitarbeiter hat.
Jahrzehntelang war das Verständnis darüber, was eine gute Führungskraft ausmacht,
relativ feststehend. Es gab immer wieder neue Labels für die aktuell aufkommen-
den Führungsstile wie „Situatives Führen“ oder „Transaktionale Führung“ – jedoch
herrschte Konsens darüber, dass der Rahmen, in dem sich eine Führungskraft bewegt,
gleich bleibt. So besteht die Verantwortung einer Führungskraft – grob gesagt –
darin, das Potenzial ihrer Mitarbeiter abzurufen und erfolgreich hoch gesteckte Ziele
zu erreichen. Das Arbeiten im Silicon Valley, das heute als Vorreiter für moderne

S. Laudon (*) 
Axel Springer SE, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 65


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_5
66 S. Laudon

Arbeitsformen und die Schaffung von Hochleistungsteams in einem digitalen Umfeld


gilt, sowie das dort vorherrschende Führungsverständnis rütteln an diesem Rahmen
und zeigen ein komplett neues Bild der erwarteten Führungskompetenzen auf.
Im Wesentlichen verändert sich die Führungskompetenz in folgenden Punkten:

• Geschwindigkeit wird wichtiger als Perfektion.


• Agieren nach draußen in Netzwerken wird wichtiger als der starke Fokus nach
innen, ausschließlich dem eigenen Team zugewandt.
• Die Fähigkeit zum Paradigmenwechsel – das Loslassen alter Erfolgsmechanis-
men – wird zum essenziellen Wettbewerbsfaktor.
• Emotionale und beziehungsorientierte Kommunikation löst die rational-infor-
mative Kommunikation ab.
• Die Zufriedenheit mit dem Status quo wird von der Bereitschaft zu permanenter
Veränderung und der Lust am Wandel abgelöst.

Inhaltsverzeichnis

5.1 Geschwindigkeit wird wichtiger als Perfektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66


5.2 Netzwerke ersetzen den starken Fokus auf das eigene Team. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
5.3 Erfolge fortschreiben wird zum Erfolgskiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5.4 Inspirieren ersetzt das Kommunizieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
5.5 Veränderungsbereitschaft ersetzt die stabile Zufriedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Über die Autorin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

5.1 Geschwindigkeit wird wichtiger als Perfektion

In Führungsseminaren wurden Mitarbeiter stark auf ein Qualitätsbewusstsein hin entwi-


ckelt, das besonders deutlich von den Anforderungen des Projektmanagements geprägt
war: Um das beste Ergebnis zu erzielen, mussten alle in das Ergebnis involvierte Per-
sonen einbezogen, die Rollen und Anforderungen geklärt, die Risiken bedacht, die
möglichen Zusatznutzen und Extra-Features herausgeholt werden. Je komplexer das
zu lösende Problem war, desto mehr war die Führungskraft in ihrer Fähigkeit gefragt,
den komplexen Fragestellungen mit komplexen Antworten und Lösungen zu begegnen.
Eine Sache rückte dabei zumeist in den Hintergrund: Geschwindigkeit. Schaut man sich
dagegen die Erfolgsfaktoren von Unternehmen an, die es in kürzester Zeit geschafft
haben, Weltmarktführer zu werden, spielt der Fokus auf Geschwindigkeit eine bedeut-
same Rolle. So werden zum Beispiel die Firmen im Silicon Valley zum Vorzeigebeispiel,
auf welche Werte es in Hochleistungsunternehmen heute ankommt. Das Führungsver-
ständnis im Silicon Valley bewertet Geschwindigkeit und Simplifizierung höher als das
komplex durchdachte und alle Risiken abwägende Ergebnis. Unter Schlagworten wie
5  Wie die Digitalisierung die Führungskompetenz … 67

„agile Prozesse“ setzt sich ein Prozessverständnis in den Organisationen durch, welches
zunächst auf einen Prototypen setzt, der in einem iterativen Prozess immer weiter dem
Zielzustand angepasst wird bzw. das komplexe Endprodukt in kleine Untereinheiten zer-
legt, die dann sukzessive – entsprechend ihrer Priorität am Gesamtprodukt – angegangen
werden.
Häufig zerreiben sich heute Führungskräfte an dem Anspruch, absolute Perfektion
und Geschwindigkeit in gleichem Maße zu bewerkstelligen. Das ist nicht möglich und
wäre auch nicht zielführend – denn auch aus Kundensicht ist es nicht erstrebenswert,
Produkte mit unzähligen Features auf den Markt zu bringen. Auch hier setzen sich sim-
plifizierte Produkte, wie zum Beispiel die Apple-Welt durch, die auf den Kernnutzen
abzielen und dadurch klar und reduziert den Zeitgeist treffen (Abb. 5.1).
Wie fördert die Personalentwicklung Geschwindigkeit und Dynamik im Unterneh-
men? Bei Axel Springer tun wir dies, indem wir konsequent die Organisation zu agi-
ler Prozessarbeit befähigen. Ob Kanban, Scrum, oder ein Mix aus alledem – wichtig
ist, dass ein Umdenken von großen komplexen „Wasserfallprojekten“ zu schnellen,
agilen Prozessen gelingt. Dafür stellen wir den Teams erfahrene agile Trainer zur Seite,
die diese beraten, wie Abläufe und Prozesse in den Bereichen neu angegangen werden
können. Wir sorgen mit Erklärfilmen im Intranet, Vorträgen und Seminaren dafür, dass
jeder Mitarbeiter mit dem Thema in Kontakt kommt und ein unternehmerischer Konsens
darüber besteht, dass agile Prozesse auch die Geschäftsprozesse beschleunigen. In Best

Abb. 5.1  Die Führungskompetenz verändert sich durch die digitale Transformation. (Quelle: Axel
Springer SE)
68 S. Laudon

Practice Clubs tauschen sich zudem Experten auf diesem Gebiet, wie Scrum-Master und
agile Coaches, dazu aus, wie die Umsetzung noch besser gelingt und Nachteile dieser
Arbeitsweise angegangen werden können. Personaler sind aber nur dann authentisch,
wenn sie selbst das umsetzen, was sie lehren. In der Personalentwicklung haben wir fast
sämtliche Handlungsfelder auf agile Projektarbeit umgestellt: Ob Hochschulmarketing,
Employer Branding oder die Konzeption von Qualifizierungsangeboten – zu allen The-
men wird transparent an Kanban-Boards in morgendlichen kurzen Stand-ups gearbeitet
(Abb. 5.2). So wird transparent, an welchen Themen die Kollegen arbeiten und der Fort-
schritt bestimmter Unterprojekte deutlich. Zu dieser Art des Denkens gehört auch die
viel zitierte Fehlerkultur. Eine solche wird erst dann in Unternehmen als glaubwürdig
wahrgenommen, wenn die Mitarbeiter erleben, dass

• man sich „Versuch und Irrtum“ leistet: So sind wir als Personalentwicklung in
einem ständigen Optimierungsprozess unserer Qualifizierungsangebote, indem wir
Anfangszeiten oder Vortragsdauer verändern oder ganze Formate nach einer Test-
phase wieder einstellen.
• „Mut zur Skizze“ anerkannt wird: Erst wenn ein abfotografiertes Flipchart als Pro-
tokoll einer Sitzung eine höhere Anerkennung findet als das ausformulierte Ergebnis-
protokoll, ist man wirklich glaubhaft.
• Prozesse verschlankt werden: Hat man sich früher zu Veranstaltungen, zum Beispiel
Vorträgen angemeldet, können nun die Teilnehmer spontan erscheinen – auch auf die
Gefahr, dass Getränke und Sitzplätze falsch kalkuliert wurden. Die Verschlankung
gilt für sämtliche Prozesse im Unternehmen: von der Art, wie Waren im Einkauf zu
bestellen sind, bis hin zu der Vorlaufzeit, in der Unterlagen für die Vorstandssitzung
eingereicht werden müssen.

Abb. 5.2  Agiles Arbeiten beschleunigt die Prozesse und macht sie transparent. (Quelle: Axel
Springer SE)
5  Wie die Digitalisierung die Führungskompetenz … 69

Diesen Veränderungsprozess bewältigen nur die Führungskräfte gut, denen es gelingt,


ihr Team so zu ermächtigen, dass es autonom und selbstwirksam agiert und nicht die
„Kontrollschleife“ durch die Führungskraft passieren muss. Sich selbst zurücknehmen,
es aushalten, dass Dinge nicht ganz so angegangen werden, wie man es selbst machen
würde, moderierend einen Rahmen für das erwartete Ergebnis setzen – jedoch nicht den
Weg dorthin exakt beschreiben, Fehler als Lernchance begreifen, dies sind die Fähig-
keiten, die eine Führungskraft heute braucht. Fraglich bleibt, wie stark dies wirklich
lernbar ist – ist doch das Kontrollbedürfnis eher eine Persönlichkeitsdimension. In dem
Big-Five-Persönlichkeitsmodell (Borkenau und Ostendorf 2008) ist unter dem Faktor
Gewissenhaftigkeit diese Ausprägung als erblich erworben und somit relativ unveränder-
bar beschrieben. Der Personalentwicklung kommt hierbei die Funktion zu, einen erstre-
benswerten Sollwert zu skizzieren, welcher der Adaption alter Verhaltensmuster eine
Richtung weist und neu hinzukommende Führungskräfte in ihrer Wirksamkeit und Wahr-
nehmung des „anzustrebenden Verhaltens“ unterstützt.

Kernkompetenzen
Frustrations- und Ambiguitätstoleranz, niedriges Kontrollbedürfnis, Fokussierung – Umgang mit
Komplexität, Selbststeuerung, Fehlertoleranz

Leitfragen:

• Bewerte ich Schnelligkeit höher als das perfekte Ergebnis?


• Arbeite ich agil?
• Nehme ich Risiken bewusst in Kauf und sichere mich nicht in alle Richtungen ab?

5.2 Netzwerke ersetzen den starken Fokus auf das eigene


Team

In den meisten Führungsseminaren werden Kompetenzen vermittelt, die mit der Füh-
rung der eigenen Mitarbeiter in unmittelbarem Zusammenhang stehen: der Umgang mit
Konflikten, die adäquate Kommunikation in Mitarbeitergesprächen und das Führen über
Zielvereinbarungen. Diese stark nach innen gerichtete Perspektive wird durch ein stär-
keres Agieren nach außen abgelöst. Es wird zunehmend wichtiger, über welche Netz-
werke ein Manager verfügt, wie es ihm gelingt, schnell und sehr persönlichen Kontakt
zu Experten und Kollegen außerhalb seines Bereichs, außerhalb seines Unternehmens
und in den relevanten Communitys aufzubauen. Dieser Zugang zu Feedback, Wissen und
Ressourcen ist ein Wettbewerbsvorsprung, der in der heutigen Arbeitsorganisation immer
bedeutsamer wird. Für uns Deutsche ist hierbei zu lernen, dass unser Verständnis über
den Aufbau von Kontakten, der mit dem Tausch von Visitenkarten gleichgesetzt wird,
einem Verständnis von Networking Platz machen wird, in dem es um den Aufbau einer
tiefen und herzlichen persönlichen Beziehung geht. Auf Augenhöhe mit der hohen emo-
tionalen Kompetenz und Zugewandtheit der Manager im angloamerikanischen Raum zu
sein, ist für die meisten deutschen Manager eine kulturelle Herausforderung.
70 S. Laudon

Die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzufühlen und durch Empathie und Selb-
stoffenbarung ein Klima zu schaffen, das von einer großen Vertrautheit geprägt ist, ist
die hohe Kunst. Wie entsteht Vertrauen? Wie entsteht ein Offenheit und Verbundenheit
begünstigendes Interaktionsklima? Im Wesentlichen wird das durch folgende Kompeten-
zen erreicht:

• Gefühle: Die eigenen Gefühle mitteilen; die Gefühle des Gegenübers aufnehmen und
benennen.
• Selbstoffenbarung: Eigene Schwächen preisgeben, sich verletzlich zeigen, sich dem
Gegenüber authentisch zeigen.
• Kontext: In den Austausch über den gemeinsamen Kontext – in eine fachliche Begeg-
nung über fachliche Themen – gehen. Nur so ist eine authentische Nähe glaubhaft
und führt zu einem starken Selbsterleben des Gegenübers. Nicht: „Wie war das
Wochenende?“, sondern: „Worauf bist Du stolz, was Du in der letzten Woche geleistet
hast?“
• Stärken: Auf Stärken fokussieren und diese betonen und verstärken; ressourcenorien-
tiert denken und handeln („Mir gefällt gut, wie Du …“).
• Körper: „Mindfulness“-Theorie (Bishop et al. 2004) – körperliche Reaktionen
bewusst wahrnehmen und steuern, imaginative Bilder in der Vorstellung entstehen las-
sen und dazu reaktivieren: innere Monologe, Bilder, Atmung, Einstellung.

Kernkompetenzen:
Empathie, Extraversion, Vertrauenswürdigkeit, Kommunikation

Leitfragen:

• Beziehe ich andere – außerhalb meines Arbeitsumfeldes – in Entwicklungsprozesse ein?


• Werde ich als Experte gesehen?
• Nimmt mich mein Gegenüber als interessant und herzlich wahr?

5.3 Erfolge fortschreiben wird zum Erfolgskiller

In der Vergangenheit wurden Manager insbesondere geschult, Erfolge der Vergangenheit


daraufhin zu bewerten, was sich aus ihnen für die Zukunft lernen lässt. Das, was gut
und richtig war, wird auch in Zukunft erfolgreich sein, so die dahinterliegende Annahme.
Diese Einstellung aber verhindert, dass Manager „Gefahren“ durch die Digitalisierung,
zum Beispiel durch neu hinzukommende Wettbewerber, andere Kundenerwartungen,
Transparenz der Märkte etc. rechtzeitig erkennen und ihre Strategie umstellen. Das Los-
lassen von Erfolgsrezepten der Vergangenheit, die Demut, auch als gestandener Manager
sich von branchenfremden Newcomern etwas erklären zu lassen, und die ständige Bereit-
schaft, das Bestehende disruptiv zu hinterfragen, lösen das „traditionelle“ Fortschreiben
von Erfolgen ab.
5  Wie die Digitalisierung die Führungskompetenz … 71

Aus der Psychotherapie (Margraf und Schneider 2000) weiß man, dass Ausgangs-
punkt für jede Veränderung ein gewisser Leidensdruck ist, der jemanden dazu bewegt,
sich den Mühen der Therapie auszusetzen, um hinterher den gewünschten Zielzustand zu
erreichen. Ohne diesen Leidensdruck würde oftmals nicht die „Durststrecke“ der Thera-
pie erfolgreich durchgestanden, sondern die Behandlung vorzeitig abgebrochen werden.
Wie entsteht also „Leidensdruck“ beim Management? Warum sollte ich Dinge anders
machen, wenn ich mich noch irgendwie durchschummeln kann? Frühere Erfolgsrezepte,
wie die „Dinge aussitzen“, könnten ja auch dieses Mal greifen (Abb. 5.3).
Für den digitalen Transformationsprozess bei Axel Springer ist es ein wesentlicher
Erfolgsfaktor, dass das Topmanagement von Anfang an nachhaltig eine „demütige“ Hal-
tung einnimmt. Dazu reiste das gesamte Topmanagement, ca. 70 Mitarbeiter, ins Silicon
Valley, um dort die Prozesse und Erfolgsfaktoren der Digitalisierung zu studieren. Im
Gegensatz zu anderen Lernreisenden, die ins Silicon Valley pilgern, wurde diese Reise
ganz bewusst wie eine „Studienreise“ organisiert und auf jeglichen gewohnten Komfort
verzichtet: Alle Führungskräfte – inklusive Vorstand – sind Economy Class geflogen,
wohnten in einem eher einfachen Hotel, in einer wenig glamourösen Gegend von San
Francisco und teilten sich jeweils die Doppelzimmer. Die Rahmenbedingungen der Reise
hatten zunächst für verständliche Unruhe unter den Teilnehmern gesorgt, waren aber
notwendig, um die bestimmte Einstellung und Haltung zu erzeugen, die das Ziel dieser
Reise waren:

Abb. 5.3  Erwartungen an die Führungskraft verändern sich. (Quelle: Axel Springer SE)


72 S. Laudon

Abb. 5.4   Learning Journey


der Topmanager ins Silicon
Valley (http://bit.ly/1Vier1c).
(Quelle: Axel Springer SE)

• Bin ich bescheiden genug zu akzeptieren, dass eine nachfolgende Generation, die
wesentlich jünger ist als ich, Geschäftsmodelle entwickelt, die heute zu den erfolg-
reichsten Unternehmen der Welt gehören?
• Bin ich fragend genug, um nach neuen Wegen zu suchen, die meinem Geschäftsbe-
reich eine komplett neue Richtung geben?
• Kann ich alte Privilegien und Führungsprinzipien loslassen, um Werte in die Organi-
sation zu tragen, die Digital Natives in ihrem Arbeitsumfeld erwarten?

Natürlich wurden im Anschluss die Erkenntnisse und Veränderungsvorhaben der einzel-


nen Manager erfragt und ein Prozess angestoßen, der strategische Weichen im Unterneh-
men stellte, wie zum Beispiel ein stärkerer Fokus auf IT, kollaborative und transparente
Arbeitsprozesse, Aufbrechen von Silodenken und crossfunktionale Zusammenarbeit
(Abb. 5.4).

Kernkompetenzen
Kreativität, Innovationskraft, Unternehmertum, Demut, Lernbereitschaft, Selbststeuerung, Risiko-
bereitschaft

Leitfragen:

• Wie optimiere ich heute mein Produkt für morgen?


• Kann ich mich von alten Erfolgsrezepten lösen?
• Was stoße ich Neues an?

5.4 Inspirieren ersetzt das Kommunizieren

Auffällig ist, dass im Silicon Valley alle Erzählungen über die Produkte der Firma mit
einer höheren Sinnstiftung aufgeladen sind: Man möchte die Welt verändern, die Mit-
arbeiter glücklicher machen, das Leben gerechter. Während in Europa der Erfolg als
solcher gefeiert und Kennzahlen des Erfolges erzählt werden, erkennt man im Silicon
Valley die Bedeutung der höheren Sinnstiftung als starke Motivation für den einzelnen
5  Wie die Digitalisierung die Führungskompetenz … 73

Mitarbeiter. Diese emotionale Verbundenheit zum Ergebnis der eigenen Arbeit ist ein
viel stärkerer Motivator und führt zur weitaus größeren Identifikation mit dem Job. Den
Führungskräften kommt dabei die bedeutsame Rolle zu, die Zusammenhänge facetten-
reich, begeisternd und emotional involvierend zu erzählen. Während man im europäi-
schen Raum oftmals damit zufrieden ist, dass alle über die Tatsachen „informiert“ sind,
fängt im Silicon Valley die eigentliche Geschichte erst an diesem Punkt an.
In einem journalistischen Haus, dessen Geschäftsmodell darauf beruht, packende
Berichte und Reportagen zu verkaufen, braucht es vielleicht weniger Überzeugungsar-
beit, um die Führungskräfte dafür zu begeistern, dass das bloße Informieren nicht aus-
reicht, wenn man wirklich die Menschen von einer Idee überzeugen und ein emotionales
Commitment erreichen will. Wie bringen wir also diesen Aspekt in die Organisation?
Aktuelle Beispiele können das verdeutlichen:

• Konferenzen: Durchführung einer Managementtagung mit Vorträgen, die analog


zu den TED-Konferenzen auf den Einsatz von Powerpoint fast vollständig verzich-
ten, jedoch die Vortragenden dazu ermuntern, persönliche Aspekte, Erfahrungen des
Scheiterns, Unsicherheiten mit einzubringen.

Abb. 5.5  moveoffice – Pilotenwelt-Reisekit. (Quelle: Axel Springer SE)


74 S. Laudon

Abb. 5.6   Beispielrollen und


deren Logos. (Quelle: Axel
Springer SE)

• Qualifizierung: Angebot an Seminaren zu Storytelling, Visualisierung, Führen über


Gestaltung eines positiven Interaktionsklimas etc. als Ergänzung zu klassischen Prä-
sentationsseminaren.
• Change-Kommunikation: Eine Veranstaltungsreihe, die im Format einer Talkshow
abgehalten wird: Es werden externe Gäste eingeladen, die über die Erfahrungen ihrer
Branche in Bezug auf die Digitalisierung miteinander in den Austausch gehen, wobei
jeweils eine Branche im Mittelpunkt steht, zum Beispiel Musikindustrie, Fußball etc.
• Best Practice: Offene Einladung an alle Mitarbeiter, an den Pitch-Präsentationen des
Axel Springer Accelerators Plug ‚n‘ Play teilzunehmen und zu erleben, wie sich die
Start-ups genau mit dieser Erzählweise vorstellen.
• Projekte: In Großprojekten wird häufig mit einer Metaphorik gearbeitet, die als
Klammer die Herausforderungen, den Zielzustand und die Rollen im Projekt verdeut-
licht und dabei auf einer emotional-unbewussten Ebene ihre Wirkung entfaltet. Wir
haben die Einführung einer Kollaborationsplattform Office365 bildlich in die Flugha-
fenwelt verlagert und darüber den Teilnehmern nicht nur die Facetten des Projektes
erfahrbar gemacht, sondern darüber hinaus die positiv belegte Welt des Reisens, des
Aufbruchs in neue Welten genutzt, um eine positive und offene Haltung bei den Mit-
arbeitern zu ermöglichen. Sämtliche Flyer und Give-aways greifen optisch und inhalt-
lich das Thema „Reisen“ und „Flughafen“ auf; die Projektrollen sind ebenfalls an
diese thematische Welt angelehnt: Fluglotsen, Piloten, Passagiere etc. (Abb. 5.5 und
5.6).

In zahlreichen Forschungen (Rosenberg 2012) ist der positive Einfluss einer wertschät-
zenden, emotional bedeutsamen und sinnstiftenden Umgebung auf das Engagement, die
Kreativität und die Problemlösekompetenz belegt. Wird das Belohnungszentrum akti-
viert, sind Menschen besser in der Lage, komplexe Aufgaben zu bewältigen und die volle
geistige Leistung abzurufen. Die Identifikation mit dem Arbeitgeber ist stärker, dieser ist
nicht gegen „jeden anderen Job“ austauschbar.
5  Wie die Digitalisierung die Führungskompetenz … 75

Kernkompetenzen
Empathie, Storytelling, Kommunikation, Begeisterungsfähigkeit

Leitfragen:

• Beruht die Motivation meines Teams auf dem „Einsatz für die höhere Sache“?
• Wie hoch ist die gesellschaftliche Relevanz der Produkte meines Unternehmens?
• Folgen mir die Menschen, weil ich sie emotional anrühre?

5.5 Veränderungsbereitschaft ersetzt die stabile


Zufriedenheit

Zunächst scheint es einleuchtend, dass man einen Zustand der Zufriedenheit anstreben
möchte. Aber ist Zufriedenheit wirklich ein in Organisationen anzustrebender Zustand?
Dass Arbeitszufriedenheit nicht mit Leistungsbereitschaft korreliert, ist mittlerweile
eine gesicherte Erkenntnis der Organisationspsychologie (Neuberger 1985). Dennoch ist
der Fokus in der Diskussion von Führungskompetenz noch häufig darauf ausgerichtet,
Ratschläge zu geben, die einen zufriedenen und stabilen Zustand im Team anstreben.
Firmen im Silicon Valley setzen bewusst auf eine gewisse „Unruhe“ im Team, die selbst-
gefälligem Zurücklehnen, allzu schneller Zufriedenheit mit dem Erreichten abträglich
ist. Umfassende Feedbacksysteme, anspruchsvolle Leistungsmessungen und das Ein-
fordern von kritischen Selbsteinschätzungen sind hierbei Instrumente, die eine Soll-Ist-
Abweichung transparent machen. Ein authentisches Führungsverhalten und vor allem die
Fähigkeit der Führungskraft, leichte Differenzen auszuhalten, sind hierbei zielführend.
Wie lässt sich das in einer Organisation umsetzen? Ein Anfang ist hierbei, dass man
bestimmte Mechanismen der Organisation, die ein selbstgefälliges Zurücklehnen beför-
dern könnten, kritisch überprüft:

• Zählt Leistung oder Seniorität: Gibt es Entwicklungsprogramme oder ein Anrecht


auf bestimmte Leistungen, bei der eine bestimmte Unternehmenszugehörigkeit vor-
ausgesetzt wird, oder haben alle die gleichen Voraussetzungen?
• Talent-Management: Wie radikal orientieren sich die Besetzungsprozesse an der
Leistung? Wird derjenige befördert, der „dran“ ist, oder der, der auf diese Position
perfekt passen würde? Traut sich eine Organisation, durch eine Rotation einen Wech-
sel herbeizuführen, der wirklich die beste Besetzung für die Position darstellt, auch
wenn das bedeutet, dass der aktuelle Stelleninhaber Karriereeinbußen hinnehmen
muss?
• Feedbackkultur: Wie authentisch und offen werden in einer Organisation kritische
Rückmeldungen gegeben? Wie mutig sind die Führungskräfte in der Überbringung
unliebsamer Botschaften? Wird dies an HR delegiert? Werden Prämien und Gehalts-
erhöhung gezahlt, „um seine Ruhe zu haben“?
76 S. Laudon

Nur dann, wenn ein Klima der authentisch-offenen und dennoch wertschätzenden Kom-
munikation im Unternehmen greift, spüren alle, dass sich Leistung lohnt, es bestimmte
Durststrecken auszuhalten gilt und sich keiner nur zurücklehnen und abwarten kann.

Kernkompetenzen
Selbststeuerung, Unternehmertum, Kreativität

Leitfragen:

• Wie „störe“ ich ein selbstzufriedenes Ausruhen im Status quo?


• Gehe ich jede Aufgabe mit einer klaren Agenda der Dinge an, die es gilt, besser zu machen,
anders zu machen?

Im gleichen Ausmaß, wie die Digitalisierung die Geschäftsmodelle tradierter Branchen


komplett auf den Kopf stellt, muss sich auch das Verständnis der dahinterliegenden Füh-
rungs- und Managementkompetenzen ändern. Neben der modifizierten fachlichen Her-
angehensweise sollte den neuen Kompetenzanforderungen an das Führungsverhalten die
gleiche Bedeutung zukommen. Nicht nur die HR-Abteilungen der Unternehmen, son-
dern vor allem der Trainings- und Beratungsmarkt sind hier bedeutsam. Wenn es gelingt,
das Management auf die geforderten Kompetenzen zu trainieren und es dafür zu sensibi-
lisieren, steht es den Anforderungen des Marktes und des zunehmend globaleren Wettbe-
werbs ausreichend gewappnet gegenüber.

Literatur

Bishop, S. R., Lau, M., Shapiro, S., Carlson, L., Anderson, N. D., Carmody, J., Segal, Z. V., Abbey,
S., Speca, M., Velting, D., & Devins, G (2004). Mindfulness: A proposed operational definition.
Clinical Psychology: Science and Practice, 11(3), 230–241.
Borkenau, P., & Ostendorf, F. (2008). NEO-Fünf-Faktoren Inventar nach Costa und McCrae
(NEO-FFI). Manual (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Margraf, J., & Schneider, S. (2000). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. (2. Aufl., Bd. 1). Berlin:
Springer.
Neuberger, O. (1985). Arbeitszufriedenheit: Kraft durch Freude oder Euphorie im Unglück? Eine
Sammelrezension. DBW – Die Betriebswirtschaft, 45(2), 184–206.
Rosenberg, M. B. (2012). Gewaltfreie Kommunikation (10. Aufl.). Paderborn: Junfermann.
5  Wie die Digitalisierung die Führungskompetenz … 77

Über die Autorin

Sirka Laudon ist Leiterin der Personalentwicklung


der Axel Springer SE. Als Diplom-Psychologin hat sie
zunächst als Direktorin der „Strategischen Planung“ in
verschiedenen internationalen Werbeagenturen die Strate-
gien großer Marken bestimmt. Danach war sie acht Jahre
bei der Otto GmbH & Co. KG in Hamburg im Marketing
und in verschiedenen Führungspositionen in den Bereichen
Vertrieb und Personal tätig. Sie wechselt 2011 zu Axel
Springer und leitet dort die Personalentwicklung.
Gender & Diversity in der
Unternehmenspraxis – Männersache! 6
Petra Köppel

Zusammenfassung
Fachkräftemangel, Wettbewerbsdruck und eine steigende Komplexität machen einen
Paradigmenwechsel erforderlich – es geht darum, eine neue Unternehmenskultur zu
entwickeln, innerhalb derer die vielfältigen Talente erkannt und für Innovation, Fle-
xibilität und Effektivität genutzt werden. Führung hat sich zu einer diversity- und
genderorientierten Aufgabe weiterzuentwickeln. Dabei sind Männer als die aktuel-
len Entscheider und Mehrheit im Betrieb ein zentraler Pfeiler für einen Wandel. Sie
zu aktivieren und zu engagierten Gestaltern für eine neue Unternehmenskultur zu
machen, ist der Fokus des vorliegenden Beitrags.

Inhaltsverzeichnis

6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
6.2 Was ist los in deutschen Führungsetagen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6.2.1 Status quo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6.2.2 Die gesetzliche Frauenquote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
6.3 Ursachenanalyse für mangelnde Gender Diversity in deutschen Unternehmen. . . . . . . . 83
6.3.1 Wollen-Können-Dürfen als Barrieren für Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
6.3.2 Unconscious Bias oder unbewusste Wahrnehmungsverzerrungen. . . . . . . . . . . . . 85
6.3.3 Wann ist man heute ein Mann?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
6.3.4 Männern fehlt das Problembewusstsein für Gender Bias. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
6.4 Empfehlungen für Gender Diversity. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
6.4.1 Fix the system und Gender ist Männersache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
6.4.2 Commitment der Leitung – Bekenntnis zu Gender Diversity . . . . . . . . . . . . . . . . 91

P. Köppel (*) 
Synergy Consult, Zorneding bei München, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 79


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_6
80 P. Köppel

6.4.3 Männer an Bord nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92


6.4.4 Führungskräfte gewinnen und Leadership neu definieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
6.4.5 Strategisches Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
6.4.6 Unconscious-Bias-Fallen aufdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.5 Ausblick: Gender Diversity lohnt sich!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Über die Autorin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

6.1 Einleitung

Trotz der Anstrengungen von Politik und Unternehmen in den vergangenen fünfzehn
Jahren ist der Anteil von Frauen in den Führungsetagen immer noch mager. Bei der
genaueren Betrachtung der Ursachen ist zu erkennen, dass dies nur die Spitze des Eis-
bergs ist – vielmehr stehen wir vor einem Paradigmenwechseln in der Unternehmens-
kultur. Noch sind darin überholte Rollenzuweisungen und unbewusste Verzerrungen
von Wahrnehmungen – den sogenannten Unconscious Bias – zu finden. Dadurch wer-
den Talente übersehen, Karrieren verhindert und indirekt zum Fachkräftemangel bei-
getragen. Die meisten Unternehmen sind damit noch nicht wirklich auf eine globale
Wirtschaft, auf den demografischen Wandel und die aktuelle Komplexität der Umwelt
ausgerichtet.
Erst vor kurzem hat sich im Rahmen von Diversity-Management die Idee etabliert,
das Potenzial der MitarbeiterInnen wirklich zu entdecken und Vielfalt als Mittel zum
Geschäftserfolg einzusetzen. Zu häufig wird jedoch Diversity als Frauenförderprogramm
verbrämt – Männer fühlen sich nicht angesprochen und der Nutzen für das Unternehmen
wird nicht voll ausgeschöpft. Im nachfolgenden Beitrag soll aufgezeigt werden, was es
mit Gender Diversity auf sich hat, wie Männer mit ins Boot geholt werden können und
wie dies zum Geschäftserfolg beitragen kann.
Doch was heißt Diversity-Management genau? Diversity steht für die Vielfalt inner-
halb der in einem Unternehmen beschäftigten Menschen und ihren unterschiedlichen
Hintergründen: u. a. Kultur, Alter, sexuelle Orientierung, Religion und Behinderung.
Gender ist ein Aspekt davon und bezeichnet neben dem biologischen Geschlecht das
soziale Geschlecht eines Menschen. Damit sind gesellschaftlich konstruierte Vorstellun-
gen und Erwartungen gemeint, das heißt welche Fähigkeiten, Interessen und Aufgaben
Frauen beziehungsweise Männer haben und haben sollten. Diversity-Management ist das
zugehörige Instrument, mit dem Ziel, alle Bedürfnisse, Fähigkeiten und Stärken zu erfas-
sen und für das Unternehmen nutzbar zu machen.
Wie mit Gender-Diversity-Management nicht nur die Gender-Balance in Füh-
rungsetagen verbessert werden kann, sondern auch die Unternehmenskultur und der
Geschäftserfolg, ist Gegenstand vorliegenden Aufsatzes.
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 81

6.2 Was ist los in deutschen Führungsetagen?

6.2.1 Status quo

Bereits im Jahr 2001 verpflichtete sich die deutsche Wirtschaft, mehr Frauen in Füh-
rungspositionen zu bringen. 2011 wurde dieses Bestreben von den 30 DAX-Unterneh-
men – mehr oder minder aufgrund des politischen Drucks – noch einmal bekräftigt. Wie
sind nun nach fünfzehn Jahren, vor allem nach der Einführung der gesetzlichen Frauen-
quote im Jahr 2015, die deutschen Unternehmen aufgestellt?
Auch wenn sich der Frauenanteil in Führungspositionen seit 2001 in eine positive
Richtung entwickelt, kann man noch lange nicht von einem ausgewogenen Geschlech-
terverhältnis sprechen. Das Managerinnen Barometer 2015 des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW) statuierte einen Frauenanteil in den Vorständen der 200
umsatzstärksten Unternehmen von lediglich 6 % – trotz des jährlichen Zuwachses um
einen Prozentpunkt seit 2013 (vgl. Abb. 6.1). In den größten börsennotierten Konzer-
nen, den DAX-30-Unternehmen, gibt es keine einzige Chefin. Zwar befinden sich 29 %
Frauen in Führungspositionen, jedoch beinhaltet Führung nach DIW-Definition auch
qualifizierte Fachkräfte (Holst et al. 2015). „Die Vorstände bleiben männliche Monokul-
turen“, sagt Elke Holst vom DIW (Holst 2015).
Betrachtet man das Geschlechterverhältnis in den unterschiedlichen Branchen (Abb. 6.2),
fällt die überall vorherrschende Diskrepanz zwischen Belegschaft und Führungsmannschaft
auf. Das gilt sogar für Branchen, deren Belegschaft weiblich geprägt ist, wie beispielsweise
Gesundheit und Einzelhandel. Nur die Hälfte der Frauen schafft es dort in die erste Füh-
rungsebene. In der Finanzbranche weht der eisigste Wind für Frauen – obwohl dort mehr
als die Hälfte der Belegschaft weiblich ist, kapitulieren die meisten auf dem Weg nach oben.
Mehr Frauen als Männer schließen ein Hochschulstudium ab, dennoch kommen
von 51,2 % der Studienabgängerinnen nur sieben Prozent in den Vorständen der DAX-
30-Unternehmen an (Abb. 6.3).

25

20

15

10

0
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Anteil der Frauen in Vorständen Anteil der Frauen in Aufsichtsräten

Abb. 6.1  Frauenanteil in Vorständen und Aufsichtsräten der 200 größten deutschen Unternehmen.


(nur Unternehmen, die Angaben zur Zusammensetzung der jeweiligen Spitzengremien machen)
82 P. Köppel

43
Insgesamt 39
25
15
Baugewerbe 19
7
20
Energie, Wasser, Abfall und Bergbau 17
8
21
Verkehr und Lagerei 20
21
25
Verarbeitendes Gewerbe 19
14
29
Großhandel, Kfz-Handel und -Reparatur 23
13
36
Information und Kommunikation 28
13
44
Wirtschaftliche, wissenschaftliche und freiberufliche Dienstleistungen 38
22
55
Finanz- und Versicherungsdienstleistungen 29
12
60
Gastgewerbe und sonstige Dienstleistungen 51
39
68
Einzelhandel 63
38
76
Gesundheit, Erziehung und Unterricht 72
43
0 10 20 30 40 50 60 70 80

alle Beschäftigte 2. Führungsebene 1. Führungsebene

Abb. 6.2  Frauen in Führungspositionen nach Branchen (in Prozent). (Quelle: Kohaut und Möller
2016, S. 3)

60%

51.2%
50%
46.0%
40%

30%

21.2%
20%

10%
7.0%

0%
Absolventinnen Beschäftigte Führungspositionen Vorstände der DAX 30

Abb. 6.3  Leaky Pipeline. (Quelle: BMFSFJ 2015)

6.2.2 Die gesetzliche Frauenquote

Das 2015 in Kraft getretene Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst sieht
ab 01.01.2016 eine fixe Geschlechterquote von 30 % für neu zu besetzende Aufsichts-
ratsposten in etwa 100 großen Unternehmen vor. Eine Selbstverpflichtung soll etwa 3500
weitere Unternehmen veranlassen, sich eigene Zielgrößen (die sogenannte „Flexiquote“)
für Aufsichtsräte, Vorstände und oberste Managementebenen zu setzen.
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 83

Problematisch bei der Umsetzung des Gesetzes ist, dass zum einen vielen Unterneh-
men gar nicht bewusst ist, dass die Quote auch für sie gilt. Zum anderen sind Unterneh-
men bei der Erstellung einer Zielgröße übervorsichtig, weil sie sich nach außen nicht
verpflichten wollen (obwohl es keine Sanktionen gibt), was jedoch innerhalb des Unter-
nehmens bei der Belegschaft und vor allem bei leistungsbereiten Frauen ein miserables
und demotivierendes Signal setzt. Positiv ist allerdings, dass die Frauenquote über den
externen Druck ein Überdenken der Gender-Praxis bewirkt und eine größere Transparenz
und Aufmerksamkeit bezüglich des Themas schafft.
Doch unabhängig davon streben einige Unternehmen an, Gender Diversity zu eta-
blieren – leider nur mit mäßigem Erfolg. Die Deutsche Bank hat bereits seit 1999 ein
Diversity-Management (Köppel 2013), kann aber immer noch keine Frau im Vorstand
vorweisen. Auf Managementposten sitzen bei der Deutschen Bank in Deutschland
17,6 % Frauen bei einem Frauenanteil in der Belegschaft von insgesamt 41,7 % (laut
letztem Statusbericht der DAX-30-Unternehmen von 2014).
Explizite Frauenförderung gibt es bei Volkswagen bereits seit 1989 (Köppel 2013).
Der gesamte Frauenanteil bei VW-Deutschland stieg auf 17,5 %, in der Führung auf
10,2 % (DAX 30-Unternehmen 2014). Im VW-Vorstand schuf man allerdings für Dr.
Christine Hohmann-Dennhardt 2011 eigens den Geschäftsbereich „Integrität und Recht“.
Die Ursachen für das unbefriedigende Ergebnis aller bisherigen Anstrengungen sind
jedoch komplex und müssen jenseits von Wirtschaft und Politik gesucht werden. Welche
Rolle spielen dabei die Frauen selbst, denen oft nachgesagt wird, dass sie ja eigentlich
gar keine Karriere machen wollen? Und welchen Anteil haben dabei überholte Männer-
normen? Damit beschäftigt sich der nächste Abschnitt.

Fazit
Trotz unternehmerischer und politischer Anstrengungen sind in der deutschen Wirt-
schaft bislang keine nennenswerten Fortschritte zu verbuchen. Führung ist nach wie
vor Männerdomäne.

6.3 Ursachenanalyse für mangelnde Gender Diversity


in deutschen Unternehmen

6.3.1 Wollen-Können-Dürfen als Barrieren für Frauen

Die Barrieren für Frauen auf dem Weg nach oben sind nach dem Modell von Köppel
(2011) eine komplexe Korrelation von drei Aspekten, nämlich der Motivation (Wollen),
der Qualifikation zu führen (Können) und der sogenannten „gläsernen Decke“, sprich der
Unternehmenskultur (Dürfen; Abb. 6.4).
84 P. Köppel

Wollen Frauen in einer


Können Frauen männlich dominierten
sich präsentieren, Führungsriege
durchsetzen und mitmischen?
netzwerken?

Dürfen Frauen nach der


geltenden Unternehmens-
kultur Karriere machen?

Abb. 6.4  Das Modell Wollen-Können-Dürfen

Wollen oder die Motivation zu führen


Frauen sind häufig mit einem interessanten Beruf zufrieden und streben weniger nach
maskulinen Werten wie Status, Macht oder höherem Gehalt. Zudem möchten Frauen
ungern aus dem „Krabbenkorb“ hervorstechen und haben keine Lust auf die politischen
Manöver in den oberen Reihen, dem sogenannten „Haifischbecken“. Ständige Präsenz
am Arbeitsplatz, internationale Reisen und übermäßige Belastungen stehen dem Wunsch
nach Work-Life-Balance entgegen. Frauen beugen sich auch eher sozialen Erwartungen
und die wenigen und ambivalenten Rollenbilder erfolgreicher Führungsfrauen eignen
sich kaum als Motivation.

Können oder die Qualifikation zu führen


Dass es nicht an der fachlichen Qualifikation von Frauen liegt, zeigt Abb. 6.3. Jedoch
haben Frauen es nach geltendem Rollenverständnis nicht gelernt, ihre Sichtbarkeit zu
forcieren, und warten eher darauf, dass ihre Leistung von alleine erkannt wird. Sie tun
sich schwer, sich in offenen Runden zu präsentieren und ihre Positionen durchzusetzen.
Frauen beherrschen weniger die Kunst des Netzwerkens und erkennen zu wenig, dass
Kontaktpflege und Einflussnahme zu Führungsaufgaben gehört. Außerdem folgen sie in
ihren Leistungsmerkmalen nicht unbedingt den Profilen der bisherigen Führungsmehr-
heit (Abschn. 6.3.2). Weibliche Potenziale werden daher oft nicht erkannt.

Dürfen oder die Erlaubnis zu führen


Frauen finden sich eher in Verwaltungsaufgaben, in Stellen ohne größere Verantwor-
tung, in Teilzeit oder Telearbeit und in nicht technischen Berufen – eine Ausgangspo-
sition, von der aus eine Karriere unüblich ist. Sie folgen dem klassischen Rollenmodell
als Fürsorgerin und Dienstleisterin, wie gleichsam die Männer dem Modell als Ernährer
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 85

und Vorgesetzter, da dies den eigenen und fremden Erwartungen entspricht. Zusätzlich
ist eine Infrastruktur zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf weder in allen deutschen
Unternehmen und noch in der Gesellschaft etabliert. Offene Diskriminierung kommt
zwar selten vor, vielmehr erfolgt die unbewusste Ungleichbehandlung durch Wahrneh-
mungsverzerrungen (Unconscious Bias).

6.3.2 Unconscious Bias oder unbewusste


Wahrnehmungsverzerrungen

6.3.2.1 Wirkung des Unconscious Bias


Was bedeutet der Terminus Unconscious Bias, und wie kommt es zu den besagten Wahr-
nehmungsverzerrungen?
Durch Sozialisation werden männliche und weibliche Verhaltensweisen vermittelt,
die unbewusst durch Eltern und andere Bezugspersonen sowie über Geschichten, Spiel-
zeug, Medien und Werbung verstärkt werden. Sie finden ihren Ausdruck in Hobbys und
Berufswahl, Interessen und Fähigkeiten. Diese Rollenzuweisungen beeinflussen unsere
Wahrnehmung, regeln Erwartungen und Verhalten und dienen als Ordnungsprinzipien
innerhalb der Gesellschaft mit dem Resultat, dass wir uns an diese Rollenzuweisungen
halten und sie reproduzieren. Da sie automatisch und unbewusst aktiviert werden, ver-
ursachen sie eine ungewollte Verzerrung, den Unconscious Bias, der dazu führt, dass
Männer und Frauen nicht in ihren individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen
wahrgenommen werden, sondern analog ihrer Stereotype – Frauen gelten als fürsorg-
lich, empathisch, freundlich und Männer als analytisch, durchsetzungsstark und kom-
petent. Beiden Geschlechtern werden damit bestimmte Aufgaben zugeordnet – Frauen
als Fürsorgerinnen und Männer als Ernährer und Vorgesetzter. Stereotype Vorstellungen
von Männern und Frauen sind oft nicht nur unterschiedlich, sondern sogar gegensätzlich
(„Frauen sind von der Venus, Männer vom Mars“). Stereotype existieren sowohl in pri-
vaten als auch – und das ist der springende Punkt für die vorliegende Analyse – in beruf-
lichen Kontexten. Aus deskriptiven Stereotypen, die beschreiben, wie Frau oder Mann
ist, werden präskriptive Stereotype, die vorschreiben, wie Frau oder Mann zu sein hat
(Heilman 2012).

Agency und Communality nach Heilman (2012)


In der Sozialpsychologie werden Männer und Frauen zwei bestimmende stereotype Charakteris-
tika zugeordnet – Agency für den Mann und Communality für die Frau.
Mit Agency werden männliche Eigenschaften bezeichnet, wie:

• Zielorientiertheit (kompetent, ehrgeizig, fokussiert auf Aufgabenlösung),


• Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen (bestimmend, durchsetzungsfähig, dominant, ener-
gisch),
• Autonomie (unabhängig, selbstsicher, entschlussfreudig),
• Rationalität (analytisch, logisch, objektiv).
86 P. Köppel

Communality impliziert weibliche Eigenschaften, wie:

• Fürsorge für andere (nett, sorgsam, rücksichtsvoll),


• Zugehörigkeitstendenzen (warmherzig, freundlich, behilflich),
• Fügsamkeit (gehorsam, respektvoll, bescheiden),
• emotionale Sensibilität (einfühlsam, intuitiv, verstehend).

6.3.2.2 Stereotype bestimmen Leistungserwartungen an Frauen


Leistungserwartungen werden also sowohl bei Männern als auch bei Frauen durch Ste-
reotype bestimmt. Positionen wie das Topmanagement stimmen mit stereotypen Vorstel-
lungen von Männern überein: „Think manager, think male.“ Frauen hingegen traut man
aufgrund weiblicher Stereotype nicht die für leitende Positionen erforderlichen Eigen-
schaften zu.
Entgegen der gesellschaftlichen Annahme, dass die Gleichberechtigung schon längst
verwirklicht, und der unternehmerischen Annahme, dass Leistung das einzige Krite-
rium für Einstellungen und Beförderungen sei, folgt die Unternehmenspraxis anderen
Regeln. Indem Unternehmen den Mythos der Leistungsorientiertheit aufrechterhalten
und vermeiden, Kontrollinstanzen zur Limitierung des Unconscious Bias einzuführen,
vermindern sie unbeabsichtigt die Sensibilität gegenüber Ungleichheiten zwischen den
Geschlechtern (Harvard Law Review 2008).
Stereotype beeinflussen Wahrnehmung, Beurteilung und Erinnerung und wirken
sich damit gravierend auf die Personalauswahl, Leistungsbeurteilungen und Identifika-
tion von Talenten aus – so verlieren Arbeitgeber wertvolles Potenzial, weil insbesondere
Frauen nicht als Leistungsträger identifiziert werden.

6.3.2.3 Frauen können es nicht richtig machen


Frauen wenden sowohl auf sich als auch auf ihre Geschlechtsgenossinnen dieselben prä-
skriptiven Stereotype an und denken, sie wären weniger geeignet für Männerjobs. Sie
gehen typisch männliche Aufgaben mit weniger Selbstvertrauen und mehr Ängstlichkeit
an und treten selten selbstbewusst für eine Führungsposition ein.
Kommunizieren Frauen direkt und bestimmt, so wie ein Mann es tun würde, ist ihr
Einfluss auf männliche Zuhörer geringer, als wenn sie in einer zögerlichen und zaghaf-
ten Weise kommunizieren. Praktizieren Frauen einen weichen Führungsstil, werden sie
positiv bewertet, jedoch negativ, wenn sie einen autokratischen oder leitenden Führungs-
stil ausüben – Stile, die bei Männern effektiv und akzeptiert sind. Die energische Selbst-
vermarktung einer Frau wird als weniger anziehend empfunden als bei einem Mann.
Frauen, die dennoch diesen Stilen folgen, gelten als „Mannweib“ und werden als egois-
tisch und kalt abgeurteilt. Bricht eine Frau aus stereotypen Erwartungen und Vorschriften
aus, wird sie für ihren Erfolg mit Antipathie und Missbilligung bestraft. Diese Erfahrun-
gen machen Frauen meist sehr früh in ihrer Karriere und entscheiden sich entsprechend
gegen ein solches Verhalten (Heilman 2012).
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 87

Weibliche Bewerberinnen für Führungspositionen befinden sich also in dem


Dilemma, dass die Erwartungen an sie als Führungskräfte mit den Erwartungen an sie als
Frauen im Widerspruch stehen. Hinzu kommt, dass die Erwartungen an Frauen, männli-
che Verhaltensmuster zu reproduzieren, höher sind als bei ihren männlichen Mitbewer-
bern (Gmür 2004). Dies führt zu einer Double-Bind-Situation: Einerseits soll sich eine
Frau wie eine Frau verhalten, andererseits wie ein Mann – sie hat also keine Chance, es
richtig zu machen.
Umgekehrt erfahren Männer, die nicht geschlechtskonform auftreten, die gleiche
negative Wahrnehmung. Nehmen Väter beispielsweise länger als zwei Monate Elternzeit,
wird ihr Arbeitsethos infrage gestellt. Ebenso negativ ist die Wahrnehmung von Män-
nern, die in Frauenjobs arbeiten. Sie werden als kümmerlich, schwach und passiv abge-
tan (Heilman 2012). Während Frauen mit 36 % in männertypischen Berufen zumindest
ansatzweise unterwegs sind, trifft man Männer mit nur 17 % noch seltener in frauentypi-
schen Berufen an (Holst et al. 2015).

6.3.3 Wann ist man heute ein Mann?

6.3.3.1 Maskuline Normen
In den letzten 40 Jahren wandelt sich die Rolle des erwachsenen Mannes. Das tradiert
behaftete Bild des Mannes als starkes Geschlecht, sowie die inhärenten Konzepte von
„Mannsein“ und „Männlichkeit“ sind nicht mehr so starr. Ein Mann wird nun aufge-
fordert, bisher als weiblich konnotierte Eigenschaften und Tätigkeiten zu übernehmen.
Allerdings muss er doch weiterhin typisch männlichen Erwartungen entsprechen – der
heutige Mann ist also zwischen den Rollen der Vergangenheit und der Moderne gefan-
gen.
Denn trotz der Aufweichung althergebrachter männlicher Rollenbilder sind bestimmte
maskuline Normen nach wie vor von Bedeutung (Prime und Moss-Racusin 2009):

• „Avoid all things feminine.“ Weiche, weibliche Verhaltensweisen werden vermieden,


sonst gilt ein Mann bei seinen Peers nicht mehr als männlich.
• „Be a winner.“ Karrieren und Berufe werden angestrebt, die einen Statuserwerb
(Geld und/oder Macht) garantieren (also Chef und nicht etwa Kinderpfleger).
• „Show no chinks in the armor.“ Schwäche oder Gefühle, wie Traurigkeit, Angst und
Unsicherheit werden nicht zugelassen, um emotional belastbar zu erscheinen.
• „Be a man’s man.“ Zusammenhalt und Netzwerke unter Männern, Kameraderie,
Männeraktivitäten (Sport, Trinken) dienen der Bekräftigung von Männernormen.

Männer orientieren sich unterschiedlich stark an diesen Normen – in welchem Maße


diese Orientierung erfolgt, ist u. a. eine wesentliche Determinante dafür, ob sie Gender
Diversity unterstützen oder ablehnen.
88 P. Köppel

Fallbeispiel: Männernormen und was Frauen vom Fußball lernen können


Ulrike Brouzi, Vorstandsmitglied der NORD/LB, entdeckte u. a. beim Fußball Spiel-
regeln, die für ein männlich dominiertes Führungsumfeld typisch sind, und machte sie
sich zu eigen: Auf dem Fußballplatz ist ein „hartes Einsteigen“ durchaus akzeptiert,
wenn es dazu beiträgt, ein Spiel zu gewinnen – sofern man beim Grätschen den Ball
trifft. Nach dem Spiel klopft man sich anerkennend auf die Schultern, niemand disku-
tiert mehr die Fouls. Für Brouzi kann es deshalb durchaus auch eine Form von Res-
pekt und Anerkennung sein, wenn sie im Job von einem Mann hart angegangen wird.
Entscheidend ist nur, dass dabei der Ball – also der Kern der Sache – getroffen wird.

6.3.3.2 Die heutige Vaterrolle


Im gegenwärtigen Vaterschaftsdiskurs wird die Ernährerfunktion relativiert und damit
eine zentrale Grundlage tradierter Männlichkeitskonzepte infrage gestellt. In einer akti-
ven bzw. involvierten Vaterschaft gilt, dass ein Mann heute bei der Geburt anwesend
ist, sich mit seinen Kindern beschäftigt, sich an täglichen Betreuungsaufgaben beteiligt
und sich mit seinen Töchtern in gleichem Maße wie mit seinen Söhnen befasst (Pleck
1987). Das Identitätskonzept aktiver Vaterschaft als neues Leitbild ist jedoch noch vage
und erfährt mangelnde gesellschaftliche Anerkennung. Einerseits wird die fürsorgliche
Leistung des Mannes noch als etwas Besonderes, nichts Selbstverständliches gesehen,
andererseits kann innerhalb der Familie ein Paradox entstehen: „Erobert“ der Mann das
„weibliche Territorium“, wird die Frau in ihrer Kompetenz untergraben. Daher erfolgt
väterliches Engagement derzeit meist unter mütterlicher Anleitung, sodass der Vater eher
eine „Praktikantenrolle“ einnimmt (Meuser 2015).

6.3.3.3 Erwerbstätige Väter
Häufig wird in deutschen Familien noch immer die alte Ernährerfunktion reproduziert:
Kommen Kinder, arbeitet der Mann mehr und hilft weniger im Haushalt. Die Barrie-
ren gegen eine stärkere Beteiligung des Vaters sind in der Erwerbsarbeit begründet. Von
einem Mann wird eine generelle Arbeitsmarktverfügbarkeit erwartet. Nimmt er mehr als
zwei Monate Elternzeit, lässt er an seiner Loyalität gegenüber dem Unternehmen zwei-
feln, ruft Unverständnis und Ablehnung bei Vorgesetzten und Kollegen hervor und gilt
als unmännlich. Väter nehmen im Schnitt 3,2 Monate Elternzeit (Mütter 11,6 Monate)
(Abb. 6.5).

bis zu 2 Monate 3 bis 9 Monate 10 bis 12 Monate 13 bis 14 Monate Durchschnitt

Mütter 0,8% 4,5% 92,6% 2,0% 11,6 Monate

Väter 78,5% 13,6% 7,9% 0,0% 3,2 Monate

Abb. 6.5  Dauer der Inanspruchnahme von Elterngeldmonaten von Müttern und Vätern. (Quelle:
Schutter und Zerle-Elsässer 2012, S. 220)
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 89

Einer Studie nach hat bisher weniger als die Hälfte (48 %) der Väter familienfreundliche
Angebote in Anspruch genommen. Nur sieben Prozent der Väter arbeiten in Teilzeit – bei
den Müttern liegt der Wert bei 62 %. 27 % der Väter sind mit den vorhandenen Teilzeit-
angeboten unzufrieden. 40 % der Väter in der Lebensphase zwischen 25 und 40 Jahren
befürchten, dass ihre beruflichen Leistungen bei Inanspruchnahme familienfreundlicher
Leistungen eine schlechtere Beurteilung seitens Kollegen und Vorgesetzten erfahren (A. T.
Kearney 2014). Im Gegensatz zu Müttern werden Männer am Arbeitsplatz nicht als Väter,
sondern ausschließlich als Arbeitnehmer wahrgenommen.

6.3.4 Männern fehlt das Problembewusstsein für Gender Bias

Wie reagieren Männer auf Gender Diversity am Arbeitsplatz? Es sind zwei Reaktionen
zu beobachten: Apathie und Desinteresse oder Angst vor Statusverlust und vor Kritik.
Die meisten Männer nehmen im Gegensatz zu Frauen die Ungleichheit der
Geschlechter entweder gar nicht wahr oder ignorieren sie absichtlich – schließlich ver-
spüren sie am Arbeitsplatz kaum deren (negative) Auswirkungen. Sie sehen keinen
Anlass, sich selbst zu engagieren. Frauen fällt die Misere eher auf – dann, wenn sie bei
Erwartungsverletzungen mit Karriereeinbußen oder sozialen Sanktionen bestraft werden.
Viele Männer befürchten, dass durch gesetzliche Quoten und Selbstverpflichtungen
Frauen privilegiert werden – sie fühlen sich in ihren Karrierechancen benachteiligt. Tho-
mas Sattelberger, Ex-Personalvorstand der Deutschen Telekom, behauptet sogar, dass es
Gruppen in Unternehmen gibt, die äußerst machtbewusst agieren und absichtlich Gender
Diversity behindern (Köppel 2014b). Ebenso herrscht die Befürchtung – und nicht nur
bei Männern –, dass durch Gender-Maßnahmen minderqualifizierte Personen befördert
werden.
Eine weitere Ursache für die Zurückhaltung von Männern hinsichtlich Gender Diver-
sity ist die Angst vor Kritik. Männer, die Missstände zugeben, haben Sorge, dass der
Missstand in ihren eigenen Fehlern und Diskriminierungen gesucht wird und sie Schuld-
zuweisungen erdulden müssen. Zudem könnten sie bei Parteiergreifung für Frauen vor
männlichen Peers als Nestbeschmutzer und „Weichei“ gelten (Prime und Moss-Racusin
2009).

Fazit
Aufgrund von unbewussten Mustern, die längst überwunden geglaubt sind, wird eine
homosoziale Reproduktion nach dem Motto „Schmidt sucht Schmidtchen“ fortge-
führt. Talente werden nicht richtig erkannt, da Männer und Frauen in Rollen gepresst
werden, die nicht unbedingt ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechen. Männer
haben Angst, durch Gender Diversity als Verlierer oder Sündenbock dazustehen.
90 P. Köppel

6.4 Empfehlungen für Gender Diversity

6.4.1 Fix the system und Gender ist Männersache

Zu viele Unternehmen fokussieren sich anstelle von echtem Gender- oder Diversity-
Management auf die Veränderung von Frauen – provokativ ausgedrückt, auf die Behe-
bung von „Frauendefiziten“, nach dem Motto „Fix the Women“ (Wittenberg-Cox 2013).
Frauenförderungsmaßnahmen, wie Schulungen oder Mentoring, zeigen jedoch oft keine
Wirkung. Außerdem werden Frauen so zu Sonderlingen und Bevorzugten gemacht.
Zudem besteht die Gefahr, dass ein ideologischer Glaubenskrieg als Kampf zwischen
den Geschlechtern Einzug hält.
Vielmehr geht es um die Etablierung einer Unternehmenskultur, die die Kompetenzen
des und der Einzelnen nutzt – damit wird deutlich, dass die Erhöhung des Frauenanteils
in der Führung nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Nicht nur aufgrund des demogra-
fischen Wandels, sondern auch über die aktuellen Wettbewerbsbedingungen wird ein
Paradigmenwechsel notwendig – Unternehmen brauchen eine flexible, moderne und
innovationsstarke Unternehmenskultur, die auf das volle Engagement aller ihrer Mitar-
beiterInnen bauen kann. Kein Unternehmen kann es sich leisten, auf die Qualifikationen
und Fähigkeiten der verschiedenen Geschlechter, der Generationen, der Menschen aus
verschiedenen Kulturen, Religionen oder sexuellen Orientierungen zu verzichten.
Die folgenden Ausführungen wenden sich der Komponente Gender zu, wobei an
dieser Stelle ausdrücklich betont werden soll, dass sie sinnvollerweise im Gesamtzu-
sammenhang mit den anderen Diversity-Dimensionen zu sehen und anzugehen ist.
Diversity-Management wirkt dann am besten, wenn es tatsächlich alle Facetten der Indi-
vidualität aufgreift und aktiviert.
Zentrale Aussage ist: Es geht darum, das System zu verändern – „Fix the System“.
Dabei sind die entsprechenden organisationalen Rahmenbedingungen, also Strukturen
und Prozesse, als auch die individuellen Kompetenzen weiterzuentwickeln, damit eine
neue Unternehmenskultur entsteht. Die Maßnahmen für diesen komplexen und langfristi-
gen Change-Prozess müssen gezielt und systematisch entwickelt und angewendet werden.
Auf jeden Fall steht der Mensch im Mittelpunkt dieses tief greifenden Veränderungs-
prozesses, der an unbewusste Werte und tradierte Denk- und Verhaltensmuster rührt.
Dafür gilt es, die Gestrigen mitzunehmen und auf eine neue Welt vorzubereiten. Insbe-
sondere müssen ab jetzt jedoch die Männer mit ins Boot geholt werden, wenn es um
Gender Diversity geht. Sie sind zum einen diejenigen, die das Thema noch zu wenig
erreicht hat, zum anderen stellen sie die Mehrheit eines Unternehmens und die der Füh-
rungsmannschaft.
Ziel ist der Aufbau einer modernen Unternehmenskultur, die Diversity als Potenzial
begreift und dem einzelnen Menschen Wertschätzung entgegenbringt. Das Potenzial liegt
auf mehreren Ebenen: Auf individueller Ebene wird sowohl Frauen als auch Männern
der Druck genommen, in vorgefertigten Lebensmustern zu agieren. Beide könnten Karri-
ere machen oder für die Familie da sein.
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 91

Auf unternehmerischer Ebene hätten es nicht nur Frauen leichter, ihren Platz im
Unternehmen zu finden und ihre Talente einzubringen. Eigenschaften und Verhal-
tensweisen bei Männern, die bisher weiblich konnotiert waren, würden mehr Akzep-
tanz erfahren. Der Konformitätsdruck in Unternehmen könnte abgebaut und Ideen und
Möglichkeiten erweitert werden. Welche betriebswirtschaftlichen Erfolge damit zu
verzeichnen wären, soll an dieser Stelle nicht vorweggenommen, sondern im Ausblick
besprochen werden. Festzuhalten ist jedoch, dass die Steigerung des Anteils von Frauen
in Führungspositionen ein Aspekt davon ist, aber der Nutzen eines echten Gender-Diver-
sity-Managements tatsächlich umfassender ist und sich darin niederschlägt, dass Unter-
nehmen den aktuellen Herausforderungen des Marktes besser gerecht werden können.

Fallbeispiel: Microsoft Deutschland – Vorreiter für Diversity-Management


Microsoft Deutschland erkannte das Erfolgspotenzial von Vielfalt früh und steht heute
als Vorreiter für ein erfolgreiches Diversity-Management. Dafür wurde das Unterneh-
men 2014 zum besten Arbeitgeber in Deutschland gekürt und mit dem Sonderpreis
für Diversity ausgezeichnet.
Offene Büros, in welchen sowohl Führungskräfte als auch MitarbeiterInnen tätig
sind, sorgen für eine transparente Unternehmenskultur. Ein hohes Maß an Mensch-
lichkeit zeigt sich in der Anerkennungs-, Besprechungs- und gut funktionierenden
Feedbackpraxis bezüglich der Leistungen der Belegschaft sowie im Umgang mit indi-
viduellen Entwicklungschancen. Mit jedem Mitarbeiter werden Zielvereinbarungen
getroffen. Wie und wo die Ziele erreicht werden, ist zweitrangig – statt Präsenz zählt
Leistung. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch für TopmanagerInnen wird
durch flexible Arbeitszeiten, Vertrauensarbeitszeit und Home Office gewährleistet.
Microsoft hat sich nicht nur damit als ein innovatives und leistungsorientiertes
Unternehmen etabliert. Zudem verzeichnete es einen rasanten Anstieg des Anteils
von Frauen in Führungspositionen – innerhalb von fünf Jahren von acht auf 25 % (bei
einem IT-Unternehmen!). Zum aktuellen Zeitpunkt hat die Vorsitzende der Geschäfts-
leitung, Sabine Bendiek, im zwölfköpfigen Gremium zwei weibliche Kolleginnen
(Hirl-Höfer 2014; Microsoft Newsdesk 2008; Great Place to Work 2016).

6.4.2 Commitment der Leitung – Bekenntnis zu Gender Diversity

Für eine Veränderung des Systems und der Entwicklung einer neuen Unternehmenskul-
tur ist zu allererst und als absolut notwendige Voraussetzung ein klares Bekenntnis der
Geschäftsleitung notwendig, die von der Handlungsnotwendigkeit überzeugt ist und nicht
über externe Vorgaben wie eine Quotenregelung oder über den Aufsichtsrat getrieben wird.
Ein offiziell geäußertes und wiederholtes Commitment ist ein Signal sowohl nach innen
als auch nach außen, dass der Wandel zu mehr Gender Diversity tatsächlich gewollt ist.
Das Topmanagement muss als aktives Vorbild vorangehen, das Verhaltens-
weisen vorlebt, sich zu den Maßnahmen bekennt und den offiziellen Auftrag für
92 P. Köppel

Diversity-Management gibt, idealerweise an eine direkte Berichtsperson. Zudem betei-


ligen sich Vorstand oder Geschäftsführung engagiert an der aktiven Steuerung, indem sie
strategische Entscheidungen treffen und sich von Fortschritten berichten lassen. Wie der
Benchmark aus dem Jahr 2014 von Synergy Consult empirisch belegt, gewährleistet das
Commitment der obersten Leitung, dass ein systematisches und strategisches Vorgehen
verfolgt wird und das Unternehmen tatsächlich von Diversity profitiert (Köppel 2014b).

Fallbeispiel: Ein Mann steht für Gender Diversity


Der ehemalige Geschäftsführer von Microsoft Deutschland, Achim Berg, fand Anfang
2007 im Unternehmen bereits drei Direktorinnen vor. Zwei weitere hat er selbst beru-
fen, somit saßen fünf Frauen im dreizehnköpfigen Leitungsgremium – eine Ausnahme
in der deutschen Wirtschaft! Er selbst bekannte seinerzeit 2008 im Spiegel: „Jedes
Mal, wenn ich das anderen Managern erzähle, wird eine halbe Stunde lang über nichts
anderes mehr gesprochen.“ Verriet Achim Berg dann noch, dass alle fünf Topmanage-
rinnen erziehende Mütter waren, brachte er damit so manches Weltbild ins Wanken.
Er ist überzeugt, dass Vielfalt eine Quelle für Qualität ist, und steht hinter der ent-
sprechenden Unternehmenskultur. Der Grund für seine Entscheidung lag nach eige-
nen Aussagen im Fachkräftemangel, der Erkenntnis, dass gemischte Teams auch auf
Führungsebene besser funktionieren und seiner Beobachtung, dass weibliches Füh-
rungsverhalten gut ankommt (Schießl 2008).

Im Beispiel Microsoft Deutschland war es ein Mann, der Gender-Initiativen maßgeb-


lich vorangetrieben hat. Mit welchen Maßnahmen gelingt es, dass dies keine Ausnahme
bleibt?

6.4.3 Männer an Bord nehmen

Bei Gender-Diversity-Management liegt der Fokus auf allen Beteiligten, also auf Män-
nern und Frauen. Viel zu lange sind die Männer außen vor geblieben. Als Mehrheit in
den Betrieben sind sie die neue Zielgruppe und werden zu aktiven Gestaltern, wenn es
um einen nachhaltigen Wandel der Unternehmenskultur gehen soll.
Die Herausforderung ist, Männer für das Gender-Thema zu sensibilisieren und zu
gewinnen, denn sie fühlen sich momentan nicht dafür zuständig (Abschn. 6.3.4.) Bevor
sie eine Veränderung begrüßen können, müssen sie überzeugt werden, dass mit dem Sta-
tus quo etwas nicht stimmt. Ihnen muss verdeutlicht werden, dass sie nicht das Problem
sind, sondern Gestalter und Nutznießer.

6.4.3.1 Der Nutzen für Männer


Der Dialog könnte zuerst mit den Männern begonnen werden, die dem Thema offen
gegenüberstehen. Über sie können weitere Geschlechtsgenossen gewonnen werden
(Prime und Moss-Racusin 2009): Dies sind zum einen Männer, die sich selbst nicht
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 93

so stark mit Männernormen identifizieren und die sich bereits weitgehend vom traditi-
onellen Rollenmodell gelöst haben. Männer, denen Fairness und Gerechtigkeit wichtig
ist, oder jene, die selbst Grenzen erlebt haben (zum Beispiel wenn die Elternzeit nicht
genehmigt wurde), sehen die aktuelle Imbalance am ehesten, genau wie solche, die eine
weibliche Mentorin haben oder sich mit Frauen zu Arbeit und Karriere austauschen.
Zum anderen sind solche Männer zugänglich, die durch die Exklusion von Frauen einen
kompetitiven Nachteil für die Firma sehen.
Skeptischen Männer, die durch Apathie, Desinteresse und Ängste zurückgehalten
werden (Abschn. 6.3.4), kann über einen emotionalen Zugang mittels Trainings und
Tests bewusst gemacht werden, dass sie selbst dem Unconscious Bias aufsitzen. So
erkennen sie, dass sie Mustern folgen, von denen sie dachten, dass sie sie bereits abge-
legt hätten, dass sie tatsächlich zuweilen Frauen ungewollt ausschließen und dass sie
Möglichkeiten zur eigenen
Verhaltensänderung haben. Auch ist den Menschen zu demonstrieren, dass die
Ungleichheit in der Behandlung der Geschlechter nicht nur den Betrieb, sondern auch sie
sehr persönlich betrifft (vgl. Fallbeispiel Microsoft):

Nachteile – was Männer durch die Ungleichheit der Geschlechter verlieren:

• Druck, die primäre finanzielle Verantwortung für den Haushalt zu tragen,


• distanzierteres Verhältnis zu Ehefrau oder Partnerin,
• distanzierteres Verhältnis zu den Kindern,
• Druck des Statuserwerbs und Wettbewerbs mit anderen Männern,
• schlechteres psychologisches und körperliches Wohlbefinden.

Vorteile – was Männer durch die Gleichheit der Geschlechter gewinnen:

• Freiheit, die finanzielle Verantwortlichkeit mit der Ehefrau oder der Partnerin zu teilen,
• mehr Belohnung und vertrautere Beziehung mit der Ehefrau oder der Partnerin,
• Freiheit, wesentlicher zu betreuen, und lohnendere Beziehung zu den Kindern,
• Freiheit, sich selbst nach den eigenen Werten zu definieren statt nach traditionellen
Geschlechtsnormen,
• besseres psychologisches und körperliches Wohlbefinden (Prime und Moss-Racusin 2009).

Ein Aufruf zum Fair Play, zum Wettbewerb mit gleichen Spielregeln für Männer und
Frauen kann für einige Männer einen Anreiz bieten. Bei älteren Führungskräften hilft
zuweilen folgender persönlicher Anker: Ihre Töchter, die gerade ins Berufsleben einstei-
gen und selbst Schwierigkeiten erleben, vermitteln ihren Vätern einen Einblick in die
Perspektive von Frauen. Das führt dazu, dass die Väter ihre Einstellungen überdenken
und sich aktiv für einen Wandel engagieren.
Schwieriger ist es, Männern die Ängste vor Statusverlust, Karriereeinbußen oder Kri-
tik zu nehmen. Eine hohe Transparenz zur Frauenquote für Führungspositionen sugge-
riert Männern, dass sie es schwerer haben werden, Karriere zu machen. Daher ist eine
94 P. Köppel

vorsichtige Kommunikation erforderlich. Ihnen muss aufgezeigt werden, dass bei Beför-
derungen immer Talente und Leistungen im Vordergrund stehen.
Wie bereits erwähnt, ist Gender nur ein Teil von Diversity-Management – im Idealfall
wird es intersektional mit Kultur, Alter, Lebensphase etc. angegangen, sodass sich jedes
Individuum in seinen Bedürfnissen angesprochen fühlt. So sollte es beispielsweise für
junge High Potentials Nachwuchsprogramme geben, für Eltern Kinderbetreuung und für
Tüftler Expertenkarrieren – damit wird Gender nicht überbetont, sondern vermittelt, dass
es um Vielfalt im Gesamten geht.

6.4.3.2 Methoden, Männer auf die Reise mitzunehmen


1. Die oberste Führungsebene sollte sichtbar überholten Normen eine Absage erteilen
und deutlich zeigen, dass chauvinistisches Auftreten (zum Beispiel sexistische Kom-
mentare) nicht mehr toleriert werden.
2. Wichtig ist, dass jedem Einzelnen Raum zur Reflexion gegeben wird, um über eigene
Muster nachzudenken und die Notwendigkeit zur Veränderung zu erkennen – in
einem langfristigen Prozess sind wiederkehrende Interventionen zu planen, welche
beispielsweise mit persönlichen Interviews im Rahmen des Audits beginnen können.
Über einen emotionalen Zugang wird ein Aha-Effekt ausgelöst, der zum Handeln
bewegt.
3. Es sollten Veranstaltungen zum Austausch über Gender und das vorherrschende Män-
nerbild folgen, um Männer untereinander zum Dialog anzuregen und um eine Umge-
bung zu schaffen, in der sie sich frei äußern können, ohne in bestimmte Schubladen
gesteckt zu werden (Sexist oder Frauenversteher).
4. Männer und Frauen sollen zusammengeführt und beide aktiv in Gender-Aktivitäten
einbezogen werden (bisher nehmen fast nur Frauen teil). Ein Miteinander ist ein deut-
liches Signal, dass beide Geschlechter profitieren sollen.
5. Teilzeit, Home Office, Kinderbetreuungs- und Elternzeitmodelle sind explizit an
die Bedürfnisse von Männern anzupassen, damit sie von ihnen wahrgenommen und
akzeptiert werden. Dafür sollten Männer zu ihrem Bedarf befragt, gemeinsam Beste-
hendes überarbeitet oder Neues geschaffen werden.
6. Cross-Gender-Mentoring: Im Rahmen von bestehenden Mentoringprogrammen sollte
darauf geachtet werden, dass Männern eine Frau als Mentorin an die Seite gestellt
wird, um dieses Thema gemeinsam reflektieren zu können.

Fallbeispiel: Väternetzwerk bei Henkel


Im Väternetzwerk bei Henkel tauschen sich Väter zu ihrer Rolle sowie zu ihren
Lösungen zu Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus. Dabei werden im geschütz-
ten Raum Erfahrungen besprochen, wie man beispielsweise seinem Vorgesetzten
beibringt, dass man als Vater Elternzeit nehmen möchte. Neben einem regelmäßigen
Mittagstisch zum informellen Gespräch bietet das Netzwerk wiederkehrende „Lunch
und Learn“ mit Vorträgen an (Cobbers 2015).
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 95

6.4.4 Führungskräfte gewinnen und Leadership neu definieren

6.4.4.1 Führungskräfte als Gestalter von Gender Diversity


Führungskräfte sind Bindeglied zwischen strategischer Zielsetzung und Umsetzung und
damit Schlüsselpersonen für Gender Diversity und Unternehmenskulturwandel. Sie sind
gleichermaßen Lernende, da das Thema für die meisten neu ist, als auch Gestalter, da sie
Prozesse entwickeln und ihre Bereiche leiten. In diesem Abschnitt soll dargelegt werden,
wie Manager in ihrer Funktion angesprochen werden können – im vorangegangen Abschnitt
wurde erläutert, wie sie auf der emotionalen Ebene als Männer erreicht werden können. In
diesem Punkt wird nicht darauf eingegangen, wie man Frauen anspricht – darüber wurden
bereits zahlreiche und umfangreiche Werke geschrieben.
Ausgehend von der Überzeugung und dem Bekenntnis der oberen Führungsebene
(Abschn. 6.4.) sind nun alle weiteren Ebenen von der Notwendigkeit eines Wandels zu
überzeugen. Es empfiehlt sich, nutzenorientiert vorzugehen: Über rationale Argumente
können Vorteile von Gender Diversity für das Team und das Unternehmen aufgezeigt
werden – auf Teamebene können eine gesunde Mischung und ein konstruktiver Umgang
zu höherer Effektivität in der Zusammenarbeit, niedrigerer Fluktuation und höherem
Mitarbeiterengagement führen. Für den betrieblichen Nutzen wird auf den Ausblick am
Ende dieses Beitrags verwiesen.
Zusätzlich ist eine aktive Einbindung der mittleren Führungskräfte vonnöten, damit
sie Verantwortung und Ownership übernehmen, anstatt ausgeschlossen zu werden und
dadurch Widerstand aufzubauen. Ein gängiges Instrument kann die Schaffung von Coun-
cils sein, in denen Führungskräfte als verantwortliche Gestalter für Gender Diversity
eingesetzt werden. Sie treffen sich in regelmäßigen Abständen, um das Thema voranzu-
treiben, und sorgen für die Umsetzung in den eigenen Geschäftsbereichen.

6.4.4.2 Führung neu definieren – Diversity Leadership


Ein moderner Führungsstil ist in Zeiten des Fachkräftemangels, des steigenden Innovati-
onsdrucks und der zunehmenden Komplexität für den anstehenden Paradigmenwechsel
absolut notwendig. Ein solcher beinhaltet zunehmend weiblich konnotierte Verhaltens-
weisen und Kompetenzen (Abschn. 6.4.3.2) und erleichtert Frauen und Männern, sich
darin wiederfinden. Anstelle von Command and Control und starren Hierarchien stehen
nun Wertschätzung, Kooperation und Vertrauen sowie flexible Netzwerkstrukturen im
Vordergrund (Abb. 6.6).
Zu diesem modernen Führungsstil gehört immer mehr auch der sorgfältige Umgang
mit Talenten, die es innerhalb einer Belegschaft zu erkennen, einzusetzen und zu ent-
wickeln gilt – ganz im Sinne von Diversity-Management. Diversity muss also integraler
Bestandteil werden – dazu empfiehlt es sich, Diversity als Führungskräftekompetenz zu
definieren, in Managerseminaren Diversity-Themen aufzunehmen, Diversity in Evaluie-
rungsprozessen entsprechend zu bewerten und damit eine persönliche Weiterentwicklung
zu forcieren. Diversity kann auch in den Zielvereinbarungen für Manager integriert wer-
den – diese wirken am besten, wenn Bonuszahlungen davon abgeleitet werden.
96 P. Köppel

Sicherer Umgang mit sozialen Medien 16%

Moderationsfähigkeit 19%

Fachexpertise 21%

Transparenz 25%

Umsetzungsstärke 26%

Innovationsfähigkeit 28%

Akzeptanz von Fehlern 31%

Authentizität 32%

Offenheit für Kritik 45%

Fördern von Selbststeuerung 46%

Regelmäßiges offenes Feedback 49%

Offene Kommunikation 66%

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70%

Abb. 6.6  Erwartungen an Führungskräfte. (Quelle: Petry 2015)

6.4.5 Strategisches Vorgehen

67 % der Unternehmen haben noch keine Diversity-Strategie (Kienbaum 2015). Statt
eines systematischen, strategischen Vorgehens werden häufig Maßnahmenlisten abgear-
beitet, aber frei nach Richard Rumelt (2011) ist festzuhalten: Eine To-do-Liste ist keine
Strategie, es ist eine To-do-Liste.
Diversity ist eine externe Herausforderung, die es intern aufzugreifen und zu spiegeln
gilt. Nur dann kann Diversity-Management einen Beitrag zum Unternehmensziel leisten.
Empirische Daten aus den DAX-30-Unternehmen belegen, dass Unternehmen den größ-
ten Vorteil aus Vielfalt ziehen, wenn sie Diversity-Management strategisch umfassend
angehen (Köppel 2014b). Diversity muss also Bestandteil der Unternehmensstrategie
und mit den üblichen Geschäftsprozessen verknüpft werden. Oft nehmen jedoch Diver-
sity-Maßnahmen die Position als „nice to have“ ein, die sich Betriebe in üppigen Zeiten
leisten, aber in rauen Zeiten wieder abschaffen. Doch nur wenn Diversity-Management
keine Alibifunktion hat und keine karitative Geste darstellt, wird es zum Erfolg führen.
Essenziell für die Etablierung von Diversity-Management ist, dass bekannte strate-
gische Verfahren richtig angewendet werden. Insbesondere ist Folgendes zu beachten
(Köppel 2014b):

1. Analyse: Voraussetzung ist eine detaillierte Analyse, das heißt eine solche, die neben
dem Geschlechteranteil Folgendes mit der Diversity-Linse betrachtet: a) Umfeld
des Unternehmens (Globalisierung, grenzüberschreitende Geschäftstätigkeiten und
internationale Absatz-, Beschaffungs- und Arbeitsmärkte, Digitalisierung, Fachkräf-
temangel, Pluralisierung der Bevölkerung und der Belegschaft) sowie b) die interne
Aufstellung und Ressourcen, die aufzeigen, inwieweit das Unternehmen hinsichtlich
Grad, Verteilung und Nutzung von Vielfalt bereits aktiv ist. Als Methode eignet sich
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 97

ein quantitatives und qualitatives Audit, das Personalstrukturen aufdeckt sowie Poten-
ziale und Hintergründe liefert.
2. Ziele: Zur Zieldefinition gehört die Definition des betriebswirtschaftlichen Nutzens
(Business Case) von Diversity-Management und wie es auf die Geschäftsziele ein-
zahlt. Das scheint für viele Unternehmen schwierig zu sein – sie bleiben vage und
betrachten Diversity-Management als moralische Verpflichtung. Stattdessen ist in
Kooperation mit den Leitungsebenen der Fachbereiche die strategische Relevanz,
also der Bezug zur Geschäftsstrategie und zur Verbesserung der eigenen Performance
herauszuarbeiten. Es sind klare Diversity-Ziele nicht nur hinsichtlich Arbeitgeberat-
traktivität und Talent-Management, sondern auch hinsichtlich Kundengewinnung,
Markterschließung und Produktentwicklung zu definieren, die mithilfe von Gender-
Diversity-Management zu erreichen sind. Nur wenn die Antwort klar erkennbar ist,
sehen Entscheidungsträger eine Motivation zur Veränderung. Eine Bemerkung am
Rande: Der Steigerung des Frauenanteils ist kein Ziel per se – sondern ein Indikator.
3. Konzept: Ein umfassender Handlungsplan ist von den Zielen und dem in der Analyse
festgestellten Bedarf und den Rahmenbedingungen abzuleiten. Dazu gehört die Ent-
wicklung einer Diversity-Struktur inklusive Verantwortlichkeiten mit ausreichendem
Durchsetzungsvermögen (Ressourcen, Instrumente).
In der Praxis beobachtet man häufig, dass einzelne, punktuelle Maßnahmen (insbe-
sondere Frauenmentoring oder Awareness-Trainings) angesetzt werden, die gerade in
Mode sind. Es ist ineffektiv, wenn Rahmenbedingungen bleiben, wie sie sind.
Ein Handlungsplan umfasst demnach kohärente Aktivitäten und eine Dramaturgie mit
kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen, die sukzessive Bewusstsein aufbauen, Ent-
scheidungsträgerInnen und Belegschaft mitnehmen und langsam immer tiefer wirken.
4. Umsetzung: Hier steht im Vordergrund, die geplanten Maßnahmen effektiv und
zielführend auszurollen. Nutzlos ist, wenn in der Praxis Home-Office-Modelle und
Checklisten für Mitarbeitergespräche von den Führungskräften nicht abgerufen wer-
den. Bei allen Angeboten ist es wichtig, diese kommunikativ zu begleiten, um Ver-
ständnis, Akzeptanz und richtige Anwendung zu gewährleisten. Um eine Änderung
zu bewirken, muss ein Thema über möglichst viele Kommunikationskanäle mehrfach
und kontinuierlich benannt werden. Eine interne Kommunikation dient der Beantwor-
tung folgender Fragen: Um was geht es? Worin besteht die Handlungsnotwendigkeit?
Was muss sich ändern? Was hat es mit mir zu tun? Die externe Kommunikation folgt
dem Statement „Tue Gutes und rede drüber“, zeigt nach außen Arbeitgeberattraktivi-
tät und baut nach innen einen sanften Druck für das Erreichen der dieser Standards
auf.
5. Diversity-Controlling: Ein nachhaltiges Controlling gelingt nur, wenn eine Ziel-
definition erfolgt ist, also klar ist, was erreicht werden soll. Zusätzlich müssen
Indikatoren definiert sowie Quellen und Instrumente für die Datenerhebung entwi-
ckelt werden. Bestandteile von Audits eignen sich für den Aufbau eines regelmäßi-
gen Reportings (zum Beispiel entsprechende Aufbereitung von Personalstatistiken,
regelmäßige Mitarbeiterbefragungen mit Diversity-Teil). Es empfiehlt sich, die
98 P. Köppel

Erhebungsdaten zu begrenzen. Da Zahlen leicht zu manipulieren sind, ist es wichtig,


immer auch Hintergrundinformationen mit einzubeziehen. Auch an ein Anreizsystem
ist zu denken, das Konsequenzen und Verantwortlichkeiten beinhaltet.

Fallbeispiel: Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH – Mehr Frauen


in Führung!
In diesem Beratungsprojekt von Synergy Consult startete das systematische Vorgehen
mit dem offiziellen Auftrag und der persönlichen Überzeugung des Geschäftsfüh-
rers und in Kooperation mit dem Personalleiter und Betriebsrat. Über Audit-Inter-
views mit Schlüsselpersonen und der Auswertung von Personalstatistiken wurde eine
detaillierte Ursachenanalyse erstellt. Unternehmensspezifische Belange wurden einer
sorgfältigen Prüfung unterzogen und mit der Geschäftsleitung strategische Ziele fest-
gelegt. Ein geschlossenes Konzept zur Optimierung beinhaltete einen Maßnahmen-
plan für die nächsten Jahre in zehn verschiedenen Handlungsfeldern mit Leadership
als zentralen Angelpunkt. Zur nachhaltigen Implementierung wurden nachfolgende
Führungsebenen geschult und per Zielvereinbarungen zur eigenverantwortlichen
Gestaltung aufgefordert. Die Ergebnisse wurden jährlich nachgehalten und dem Auf-
sichtsrat berichtet (Köppel 2014a).

6.4.6 Unconscious-Bias-Fallen aufdecken

Um den Unconscious Bias anzugehen, müssen die unbewussten Wahrnehmungsverzer-


rungen bewusst gemacht und minimiert werden. Das gelingt, indem persönliche Einstel-
lungen und organisatorische Strukturen verändert werden (Köppel 2014a).

6.4.6.1 Die persönliche Ebene


Auf der persönlichen Ebenen geht es darum, eigene blinde Flecken aufzudecken, einen
Perspektivenwechsel einzunehmen und schließlich zu lernen, mit vorhandenen Stereoty-
pen umzugehen. Stereotype lassen sich nie vollständig eliminieren, da das menschliche
Denken in Kategorien angelegt ist. Sie sind aber differenzierbar und relativierbar. Hierzu
eignen sich folgende Maßnahmen (idealerweise in genannter Reihenfolge):

1. Selbsttests und Online-Übungen,


2. Awareness-Trainings,
3. Interaktion mit „Anderen“, zum Beispiel über Cross-Gender-Mentoring (zwischen
Männern und Frauen),
4. Information über Existenz und Wirkungsweise vom Unconscious Bias,
5. Schulungen oder Peer-Austausch zu neuen Praktiken,
6. Raum für offene Reflexion von Eindrücken und Urteilen, ggf. gemeinsam mit Coach,
Peers oder MentorIn,
7. Feedback als regelmäßiges Instrument, um eigene Sichtweise zu validieren,
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 99

8. kritische Selbsthinterfragung bei Entscheidungen.

6.4.6.2 Die organisatorische Ebene


Da auf der persönlichen Ebene der Unconscious Bias nie vollständig abgebaut werden
kann, ist es notwendig, vereinheitlichende Rahmenbedingungen zu schaffen, um mög-
liche Verzerrungen am Arbeitsplatz auszuschalten. Zentral ist, Auswahl- und Beförde-
rungsprozesse transparent und objektiv zu gestalten über:

1. gender-sensitive Stellenausschreibung,
2. divers besetzte Auswahlgremien,
3. geschulte HR-MitarbeiterInnen,
4. standardisierte Prozesse,
5. Neudefinition von Beurteilungskriterien,
6. Abstimmungsrunden mit expliziter Begründung von KandidatInnen,
7. Definition von Zielvorgaben für Funktionen und Ebenen (zum Beispiel auch in Pipe-
lines und Shortlists).

Offiziell sind objektive Prozesse längst schon vorgesehen. Dennoch werden sie oft
umgangen, um wieder einen „Kronprinzen“ zu befördern.
Eine Neudefinition von Karrierepfaden (zum Beispiel Experten- oder Projektmana-
gerkarriere) und neue Arbeitsmodelle, die auf Leistung statt auf Anwesenheit beruhen
(zum Beispiel Home Office und flexible Arbeitszeiten), tragen dazu bei, althergebrachte
Rollen und Standards in der Arbeitswelt aufzulösen. Mit aktiv gemischten Teams und
einer Feedback- und Dialogkultur können Kritik oder Stereotype offen angesprochen
und Missstände behoben werden.

Fallbeispiel: AXA
Ständig hört man: „Gute Frauen gibt es ja gar nicht“. Dahinter steht die mangelnde
Sichtbarkeit von Frauen, denen gemäß des stereotypen Rollenmodells Führungsei-
genschaften nicht zugeschrieben werden. Um dies zu durchbrechen, ist in der Perso-
nalabteilung von AXA die Idee entstanden, Listen mit weiblichen High Potentials zu
erstellen. Diese Listen werden an diversity-aktive Führungskräfte der oberen Ebenen
verteilt, damit die Führungskräfte diese Frauen im Blick haben, sie bei frei werdenden
Stellen ansprechen und ggf. zur Bewerbung ermutigen können.

Fazit
Ein Wandel der Unternehmenskultur ist die Grundlage, um das Potenzial einer
gemischten Belegschaft optimal zu nutzen. Essenziell ist eine Abkehr vom derzeit
leider immer noch propagierten Frauenförderungsprogramm hin zu einer modernen
Unternehmenskultur, die von Männern und Frauen gleichermaßen gestaltet wird, bei-
den Geschlechtern nutzt und schließlich zum Geschäftserfolg beiträgt.
100 P. Köppel

6.5 Ausblick: Gender Diversity lohnt sich!

Mehrfach wurde bereits angesprochen, dass Gender Diversity und eine moderne Unter-
nehmenskultur auch betriebswirtschaftlichen Nutzen erbringt. Dabei handelt es sich um
folgende Synergien:

1. Qualität der Führung: Indem Führung neu gedacht wird und über objektive Aus-
wahlprozesse und zeitgemäße Schulungsprogramme Führungskräfte begleitet werden,
wird die Qualität von Führung verbessert und den derzeitig notwendigen Herausfor-
derungen angepasst.
2. Mitarbeitergewinnung und Leistungsbereitschaft: Die Arbeitgeberattraktivität
wird gesteigert, indem auf die Bedürfnisse des Einzelnen (ob Mann oder Frau) einge-
gangen wird. Damit kann man einerseits Fachkräfte sichern, andererseits die Kosten
von Fluktuation und Krankheitsstand verringern. Aus zahlreichen Berichten und Stu-
dien ist erkennbar, dass Loyalität und Engagement der MitarbeiterInnen steigen. Ein
Beispiel: 94 % der Väter, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in ihrem Unterneh-
men als selbstverständlich erleben, arbeiten gern für ihr Unternehmen. Acht Prozent
dieser Väter würden ihren Arbeitgeber weiterempfehlen. 93 % dieser Väter haben eine
nur geringe Wechselbereitschaft (A.T. Kearney 2014).
3. Kundenorientierung: 70 bis 80 % der Kaufentscheidungen werden von Frauen
getroffen. Indem in Produktentwicklung und Service deren Bedürfnisse erkannt wer-
den, kann sich das Unternehmen besser auf sie einstellen.
4. Innovation: Mitglieder in gemischten Teams sind in der Lage, fundierter Probleme
zu analysieren. Sie bilden die Komplexität der Umwelt ab und können daher wech-
selnde Rahmenbedingungen besser auffangen. Sie inspirieren sich gegenseitig und
entwickeln kreative Lösungen, was sich in Prozess- und Produktinnovationen nieder-
schlägt (Köppel 2007).
5. Gewinn: Nach der Studie Women Matter (McKinsey 2007) sind die europäischen
Unternehmen, in denen am meisten Frauen in der obersten Führungsetage vertreten
sind, am erfolgreichsten: Im Durchschnitt übertreffen sie ihren jeweiligen Sektorin-
dex in Bezug auf Kapitalrendite (11,4 % vs. 10,3 %), Betriebsergebnis (EBIT: 11,1 %
vs. 5,8 %) und Aktienkursanstieg (64 % vs. 47 %) (McKinsey 2007). In einer inter-
nationalen Studie wurde kürzlich bestätigt, dass sich die Höhe des Gewinns analog
zur Höhe des Frauenanteils verhält. Steigt der Frauenanteil von 0 auf 30 %, steigt der
Nettogewinn um 15 % (Noland et al. 2016).

Fallbeispiel für Produktinnovation und Umsatzsteigerung


Der IXO-Akkuschrauber von Robert Bosch wurde in einem internationalen,
geschlechtergemischten Team entwickelt. Eine Frau brachte die Idee ein, über
die Handlichkeit des Werkzeugs auch Frauen anzusprechen. Damit konnte der
Akkuschrauber auch bei Männern punkten und ist nun als Lifestyle-Produkt eines der
meistverkauften Elektronikprodukte weltweit.
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 101

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Über die Autorin

Dr. Petra Köppel begleitet als Inhaberin des Beratungs-


unternehmens Synergy Consult Unternehmen bei der Ein-
führung, Weiterentwicklung und Erfolgserhebung von
Diversity-Management, um vor allem den Business Case
aufzubauen. Dabei steht die Gestaltung einer wertschät-
zenden Unternehmenskultur im Vordergrund. Die Bera-
tungsprojekte reichen von Audits über Strategieworkshops
bis hin zu Führungskräftetrainings. Dr. Petra Köppel leitet
zudem das Netzwerk „Synergie durch Vielfalt“, in dem sich
6  Gender & Diversity in der Unternehmenspraxis – Männersache! 103

UnternehmensvertreterInnen unter der Gastgeberschaft von Vorständen zu den aktuellen


Herausforderungen von Diversity austauschen. Parallel lehrt sie als Gastdozentin an der
Frankfurt School of Finance. Sie ist Autorin zahlreicher Studien zu Diversity und tritt als
Kongresssprecherin auf. Zuvor war sie als Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stif-
tung im HR-Management sowie in der Wissenschaft tätig. Dr. Petra Köppel ist Volkswir-
tin und promoviert in Personal und Organisation.
Teil II
Transformationsmanagement
in Unternehmen: eine 7
betriebswirtschaftliche Einordnung
Ingo Böckenholt und Moritz Peter

Zusammenfassung
„Das einzig Beständige ist der Wandel“, lehrt der Volksmund. Doch was zeichnet
unternehmerische Transformationen aus und wie reagieren Unternehmen konkret auf
den permanenten Wandel ihrer Umwelt und auf die damit verbundenen Chancen und
Risiken?
Neben der Definition des Begriffs „Transformation“, dessen Abgrenzung zum her-
kömmlichen Sprachgebrauch und zum Begriff „Disruption“ sowie einer Literaturaus-
wertung geben sieben Praxisbeispiele Einblicke in schwer planbare und langwierige
Transformationsprozesse, die maßgeblich die Unternehmensentwicklung beeinflussen
und so über zukünftigen Unternehmenserfolg entscheiden. Zusätzlich werden Ursa-
chen und Phasen von Transformationen erläutert. Anhand der aufgezeigten Unter-
nehmensentwicklungen werden die jeweiligen Disruptionen in den entsprechenden
Märkten aufgezeigt und auch unterschiedliche Transformationseigenschaften erklärt.

Inhaltsverzeichnis

7.1 Transformation: Neuanfang oder Anfang vom Ende eines Unternehmens. . . . . . . . . . . . 108
7.2 Transformation: Einordnung und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.2.1 Literaturübersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.2.2 Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

I. Böckenholt (*) 
ISM International School of Managment GmbH, Dortmund, Deutschland
E-Mail: [email protected]
M. Peter 
International School of Management, München, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 107


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_7
108 I. Böckenholt und M. Peter

7.3 Transformation: Unternehmensbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112


7.3.1 Nokia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
7.3.2 Apple . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.3.3 Preussag AG/TUI AG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.3.4 RWE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.3.5 Mannesmann/Vodafone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7.3.6 Quelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
7.3.7 Kodak. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
7.4 Eigenschaften von Transformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
7.4.1 Ursachen, Phasen und Erfolgsfaktoren von Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . 119
7.4.2 Transformationen und Disruptionen in den Unternehmensbeispielen. . . . . . . . . . 121
7.5 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

7.1 Transformation: Neuanfang oder Anfang vom Ende eines


Unternehmens

Aus dem lateinischen Verb „transformare“ – verwandeln oder umformen – hervorgehend


stehen betriebswirtschaftliche Transformationen für radikale Änderungen der Geschäfts-
tätigkeit von Unternehmen, deren Ausgang ungewiss ist. In der Unternehmenspraxis
handelt es sich dabei um begrenzt planbare, langwierige und sich selbst verstärkende
Änderungsprozesse, die über den zukünftigen Unternehmenserfolg und -fortbestand ent-
scheiden.
Verlaufen Transformationen erfolgreich, ergeben sich für ein Unternehmen neue und
häufig auch sehr profitable Geschäftsmöglichkeiten. Scheitert eine solche, ist ein Unter-
nehmen womöglich in seinem Fortbestand (zumindest in seiner alten Form) akut gefähr-
det. Dabei ist der richtige Zeitpunkt für eine Transformationsentscheidung maßgeblich.
Denn auf ihrem Markt gefestigte und erfolgreiche Unternehmen sehen ja aufgrund ihrer
gegenwärtigen guten Position intuitiv keine Veranlassung, Transformationen in ihrem
Unternehmen durchzuführen.
Diese Überlegungen führen zu zwei interessanten betriebswirtschaftlichen Fragestel-
lungen mit hoher Praxisrelevanz:

1. Was löst eine Unternehmenstransformation aus und wie ist ihr Verlauf?
2. Welche Faktoren entscheiden über Erfolg oder Misserfolg eines Transformationspro-
zesses?

Um hierauf Antworten zu finden, wird zunächst der Begriff „Transformation“ in der


Betriebswirtschaft eingeordnet und vom allgemeinen Sprachgebrauch abgegrenzt. Dar-
aufhin wird thematisch relevante Management- und Forschungsliteratur ausgewertet.
Anhand von sieben nationalen und internationalen Unternehmensentwicklungen aus
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 109

verschiedenen Branchen werden im Anschluss erfolgreiche und weniger erfolgreiche


Transformationen in Unternehmen aufgezeigt. Dazu werden zudem Eigenschaften von
Transformationen – insbesondere ihre Ursachen, Phasen und Erfolgsfaktoren – beschrie-
ben und mit Bezug auf die Unternehmensbeispiele kommentiert. Die Ausführungen
schließen mit einem Fazit und einem Ausblick.

7.2 Transformation: Einordnung und Abgrenzung

7.2.1 Literaturübersicht

In der englischsprachigen Literatur kommt der Begriff „Business Model Design“ unse-
rem Verständnis zum Ausdruck „Transformation“ sehr nah. Laut Zott und Amit (2010)
liegt hier nicht der Schwerpunkt auf (Teil-) Optimierung, sondern mehr auf Neudesign
der drei Elemente Inhalt, Struktur und Governance. Diese Elemente sind mit korrespon-
dierenden Fragen gekennzeichnet:
Zum Inhalt wird die Frage: „Welche Aktivitäten werden ausgeführt?“ formuliert.
Analog werden Fragen zu Struktur: „Wie sind diese verbunden?“ und zu Governance:
„Wer führt diese aus und wo werden diese ausgeführt?“ artikuliert. Dabei sind noch
folgende Designthemen zu beachten: Neuheit (Innovation), Bindung (Stakeholder, ins-
besondere Kunden), Komplementärgüter (Bündel zur Wertsteigerung) und Effizienz (zur
Reduktion der Transaktionskosten).
Hier zeigt sich erneut der lateinische Ursprung des Wortes „Transformation“ mit sei-
nen Bedeutungen „Umformung“ und „Umwandlung“ deutlich, wobei dieser Begriff auch
klar von den Ausdrücken „Restrukturierung“, „Turnaround“ und „Reorganisation“ abzu-
grenzen ist. Für eine Transformation ist im unternehmerischen Sinn eine radikale Verän-
derung auf Managementebene erforderlich. Die Veränderung zielt dabei präziser sowohl
auf die Strategie (Leistungsprogramm, Marktabdeckung) als auch auf das Organisations-
design (Prozesse, Strukturen und Mitarbeiterkompetenz) des Unternehmens ab.
In diesem Kontext ist die Forschung zu Geschäftsmodellen durch das Internet und
die damit einhergehende Entstehung von sowohl digitalisierten als auch automatisierten
Geschäftsprozessen und -beziehungen, dem sogenannten E-Commerce, von besonde-
rer Bedeutung. Dazu stellen Zott et al. (2011) eine umfangreiche Literaturübersicht zu
Geschäftsmodellen des E-Commerce zur Verfügung. Zudem schreibt Applegate (2001)
beispielsweise über Opportunitäten, die durch Fähigkeiten realisiert werden können, um
so Wert für Investoren und andere Stakeholder zu schaffen.
Für diese Forschungsrichtung ist charakteristisch, dass nicht nur Einzelaspekte
von Wettbewerbsstrategien (zum Beispiel Pricing), sondern alle Aspekte der Wettbe-
werbsfähigkeit in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. So untersuchen beispielsweise
Bonaccorsi et al. (2006) im renommierten Journal „Management Science“ die Aspekte
Einnahmen, Kosten, Kunden, Produkt, Service und Netzwerkperspektiven gleichzei-
tig. Zusätzlich zur Literatur zu Geschäftsmodellen des E-Commerce mit Fokus Internet
110 I. Böckenholt und M. Peter

existieren auch geschäftsmodellbezogene Veröffentlichungen, die sich allgemein mit


Technologie und daraus entstehenden Marktchancen befassen. Als Beispiele dieser
Forschungsrichtung können hier Chesbrough und Rosenbloom (2002) oder Calia et al.
(2007) genannt werden.
Neben E-Business- oder technologiefokussierter Literatur zu Geschäftsmodellen exis-
tiert auch ein Veröffentlichungsstrang, der eher einen allgemeinen Strategiebezug des
Geschäftsmodelldesigns herstellt. So schreibt Teece (2007) beispielsweise über Wettbe-
werbsvorteile durch einzigartige Value Propositions oder Zott und Amit (2008) über Pro-
duktmarktstrategien.
Laut Zott et al. (2011) existieren drei Schwerpunkte in der Forschung zu Business-
Model-Design:

1. E-Business (Internet),
2. Strategie (Wertschöpfungsmechanismen als Quellen für Wettbewerbsvorteile) sowie
3. Technologie und Innovation (Übertragung von technischem Fortschritt in Marktchan-
cen).

Die Themenbreite von Geschäftsmodelldesign bzw. Transformationen in Unternehmen


bietet also viel Raum für hochkarätig publizierbare Forschung mit hohem Praxisbezug.
Diese allgemeine Geschäftsmodelldesignliteratur wird zudem durch eine Reihe von
Veröffentlichungen zur Untersuchung von Häufigkeiten und Erfolgsaussichten von
Transformationsprozessen ergänzt. Neben anderen untersuchen Gordon, Stewart et al.
(2000) eine Vielzahl von Unternehmen der amerikanischen Möbel- und Softwareindus-
trie auf ihre Transformationshäufigkeit. Sie beschreiben Beobachtungen aus der eher
stabileren Möbelindustrie im Vergleich zur sich rasant entwickelnden Softwareindustrie.
Auch Wischnevsky und Damanpour (2005) zeigen in einer Studie die Häufigkeit von
Transformationen und ihre Erfolgsaussichten bei 50 amerikanischen Banken in der Zeit
von 1975 bis 1995 auf.

7.2.2 Abgrenzung

Bei der eingangs beschriebenen Breite des Forschungsthemas (Geschäftsmodell-)Trans-


formation ist es wichtig, weitere Abgrenzungen zu beachten.
Zunächst sind die Begriffe „Transformation“ und „Unternehmenskrise“ und die damit
verbundenen Sanierungs- und Turnaround-Methoden zu differenzieren.
Im Gegensatz zur deutschsprachigen klar negativen Assoziation deutet der griechische
sowie chinesische Ursprung des Wortes „Krise“ auf ein symbiotisches Verständnis von
Gefahr und Chance hin. Hier besteht nur im Hinblick auf den ungewissen Ausgang eine
Parallele zwischen einer Unternehmenskrise und einem Transformationsprozess, denn
Unternehmenskrisen sind ungewollt. Häufig werden diese erst reaktiv zur Sicherung des
kurzfristigen Überlebens bekämpft. Dagegen werden Transformationsprozesse in der
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 111

Regel bewusst und proaktiv zur Chancennutzung oder zur Sicherung des langfristigen
Überlebens eingeleitet.
In den achtziger Jahren wurde in der deutschsprachigen Literatur der Begriff „Unter-
nehmenskrise“ durch Witte (1981), Müller (1986) und Krystek (1987) beeinflusst und
von Federowski (2009) geprägt. Dabei werden Unternehmenskrisen definiert als

ungeplante und ungewollte Prozesse von begrenzter Dauer und Beeinflussbarkeit sowie mit
ambivalentem Ausgang. Sie sind in der Lage, den Fortbestand der gesamten Unternehmung
substanziell und nachhaltig zu gefährden (Krystek 1987, S. 6).

Entsprechend nimmt in einer Unternehmenskrise der Handlungsspielraum ab, während


der Handlungsdruck steigt (Buschmann 2006). Unternehmenskrisen können als Folge
bzw. am Ende eines fehlgeschlagenen Transformationsprozesses entstehen.
Ein Wort, das auch mit Transformationsprozessen und Unternehmenskrisen in kau-
saler Beziehung steht und einen unternehmerischen Handlungsdruck impliziert, ist das
englische Wort „Disruption“. Auch wenn für diesen Begriff bezeichnenderweise noch
keine gelungene deutsche Übersetzung existiert, so ist der Gedanke an einen radikalen
Umbruch oder eine „Revolution“ im Rahmen der von Joseph Schumpeter (1883–1950)
geprägten „schöpferischen Zerstörung“ nicht neu.
Neu ist allerdings die häufige Verwendung dieses Ausdrucks, wie Meck und Weignuy
(2015) belegen. Getrieben durch eine verstärkte Nutzung im Technologiekontext, stieg
nach den genannten Autoren die Erwähnung dieses Wortes in rund 150 deutschen Print-
medien sprunghaft von fünf im Jahr 2011 auf 205 Erwähnungen im Jahr 2015.
Befeuert durch die in den Medien sehr präsenten Erfolgsbeispiele wie den app-
basierten Fahrservice Uber, die digitale Buchungsplattform AirBnB oder der Onlinevi-
deothek Netflix ist die Chance, aber auch gleichzeitig die Gefahr eines technologischen
Umbruchs für Unternehmenslenker sehr präsent. So präsent, dass Meck und Weignuy
(2015) bereits „Disruption“ als neues Buzz-Word deutscher Manager identifizieren,
getreu dem Motto: „Wer nicht disrupted, wird selbst disrupted.“ Die Antizipation von
Disruptionen kann also als ein wichtiger Treiber und Motivator für die Einleitung und
Umsetzung von Transformationsprozessen gesehen werden. Dies ist aber nicht mit dem
Transformationsprozess an sich gleichzusetzen oder zu verwechseln.
Die Ausdrücke „Transformation“ bzw. „Disruption“ beschreiben Veränderungen
in Unternehmen bzw. Märkten. Beide zielen weniger auf den Veränderungsgrund ab.
Außerdem unterscheiden sie sich insbesondere in ihrer Intensität und Marktauswirkung.
Um dies zu verdeutlichen, werden die zwei Begriffe mithilfe einer Beschreibung zu
Geschäftsmodellkomponenten abgegrenzt.
Ein Geschäftsmodell basiert vorrangig auf sechs Komponenten, die zu zwei Grup-
pen klassiert werden können, vgl. Abb. 7.1. Die erste Klasse fasst die Komponenten
zu „Wertbeitrag/Wertangebot“ zusammen. Diese sind im Einzelnen „Zielsegmente“,
„Produkt- und/oder Dienstleistungsangebote“ und das dazugehörige „Erlösmodell“.
Die zweite Klasse „Betriebsmodell“ enthält die Komponenten „Wertschöpfung“, „Kos-
tenstruktur“ und „Organisation“. Kernfragen zielen dabei auf die Kostenstruktur und
112 I. Böckenholt und M. Peter

Abb. 7.1  Geschäftsmodellkomponenten

Organisation ab: Zum einen stellt sich zur Kostenstruktur die Frage, wie Vermögen und
Kosten mit dem Ziel eines profitablen Wertbeitrags gegenübergestellt werden können.
Zum anderen sind in Bezug auf die Organisation der Mitarbeitereinsatz und die Mitar-
beiterentwicklung in Hinblick auf Erhalt und Verbesserung der unternehmerischen Wett-
bewerbsvorteile zu hinterfragen.
Werden bei Transformationen durch Umgestaltung einzelner Komponenten Unterneh-
mensveränderungen hervorgerufen, geschieht dieses bei Disruptionen durch Veränderung
gleich mehrerer Komponenten durch Neudesign der eingesetzten Technologien. Dies
führt zunächst zu Innovationen, dann zur Änderung des Geschäftsmodells und bei aus-
reichend starker Innovationskraft auch zum Wandel des Marktes. Das hierzu präsenteste
Beispiel ist Apple, vgl. auch Abschn. 7.3.2. Hier haben nicht nur die Veränderungen der
einzelnen Geschäftsmodellkomponenten zum Wandel von einem Computerunternehmen
zu einem Kommunikationsunternehmen geführt. Das innovative Geschäftsmodell hatte
und hat zudem weitreichenden Einfluss auf den entsprechenden Markt.

7.3 Transformation: Unternehmensbeispiele

Im Folgenden werden sieben Unternehmensbeispiele zum besseren Verständnis von


Transformationsprozessen beschrieben. Alle Unternehmen reagierten unterschiedlich
auf Trends und Marktverhalten. Sie haben sowohl Transformationen durchlaufen als
auch Disruption in ihren Märkten erlebt. Dies wird zunächst anhand der zwei bekannten
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 113

Unternehmen Nokia und Apple, beides Hersteller von Mobiltelefonen, verdeutlicht.


Während Nokia aus langjähriger Tradition heraus seinen Fokus auf die Herstellung von
Handys und passendem Zubehör setzte und aufgrund der Agilität und Modernität des
Marktes die entsprechende Anpassung seiner Produktpalette verpasste, gelang Apple
durch seine Haltung als Visionär und Trendvorgeber von immer wieder neu durchdach-
ten, innovativen Produkten die Etablierung auf einem bereits gefestigten Markt.
Zudem werden noch die Entwicklungen der deutschen Unternehmen Preussag bzw.
TUI Group, RWE und Mannesmann/Vodafone und Quelle beschrieben. Alles Unterneh-
men, die aufgrund ihrer langjährigen Tradition gleichermaßen bekannt sind und doch
wegen unterschiedlicher Ursachen in ihrer ursprünglichen Form oder Unternehmenskul-
tur nicht mehr existieren. Das Kapitel schließt mit der Darstellung des Unternehmens
Eastman Kodak Company als internationales Misserfolgsbeispiel.

7.3.1 Nokia

Weltweit zwar wegen seiner Handys bekannt, weist Nokia eine langjährige Unterneh-
mensgeschichte mit regelmäßiger Anpassung und Weiterentwicklung seines Produktport-
folios auf.
Gegründet in 1865 von Frederik Idesta, betrieb das Unternehmen zunächst am Fluss
Nokia eine Papierfabrik in Finnland, erweiterte seine Produktpalette um Gebrauchsge-
genstände aus Gummi wie Fahrradräder oder Gummistiefel und schloss sich in 1966 mit
Finnish Rubber Works und Finnish Cable Works zur Nokia Corporation zusammen. Von
1967 bis 1991 umfasste das Produktportfolio mit Energieerzeugung, Unterhaltungselek-
tronik, wie zum Beispiel Fernsehern, sowie Leitungen und Kabel sehr unterschiedliche
Güter. Erst mit Einführung des ersten Autotelefons in 1984 zeichnete sich der Eintritt in
den Telekommunikationsmarkt ab.
Als Hersteller von Mobiltelefonen wurde Nokia schließlich in den achtziger Jahren
bekannt und als Marke bei einem breiten internationalen Publikum öffentlich wirksam.
Um auf den Trend Mobiltelefonie zu reagieren, fokussierte sich Nokia zunehmend und
von 1992 bis 2013 ausschließlich auf elektrische Kommunikationsmittel und wich so
von seiner bisherigen, breitaufgestellten Produktstrategie ab (Tânger 2013). In diese Zeit
fällt auch die Unternehmensentwicklung von Siemens Mobile, einem Tochterunterneh-
men von Siemens. Es behauptete sich zwar als letzter verbliebener deutscher Mobilte-
lefonhersteller auf dem Markt. Nach Verkauf und damit einhergehender Umbenennung
ging Siemens Mobile jedoch in BenQ über, die wiederum kurz darauf Insolvenz anmel-
deten.
Nokia galt insbesondere von 1998 bis 2011 als weltweit größter Hersteller von Mobil-
telefonen, bis 2012 Samsung das Unternehmen darin ablöste. Bereits zu diesem Zeit-
punkt hatte sich Apple mehr und mehr auf dem Markt und in der Konkurrenz etabliert.
Der Einbruch des Marktanteils von Nokia auf dem Mobilfunkmarkt geht somit mit der
Einführung des iPhones in 2007 einher.
114 I. Böckenholt und M. Peter

Zwar hielt Nokia zunächst noch am Mobilfunkmarkt fest. Die nächste Idee, Smart-
phones mit dem Betriebssystem Windows Phone von Microsoft auszustatten, konnte
allerdings nicht erfolgreich umgesetzt werden. In 2013 wurde das Portfolio zu den Kom-
munikationsmitteln schließlich gänzlich verworfen, indem der Bereich Mobiltelefonie
an Microsoft verkauft wurde. Nokia ersetzte die bisherige Strategie mit Produkten zu
Kommunikationsinfrastruktur, elektronischen Navigationsgeräten und weiterer Software.
Jüngst entschied sich Microsoft, sich immer weiter von Nokia zu trennen, was letztlich
in der Entscheidung zur Auflösung der ehemaligen Nokia-Handysparte mündete (Fröh-
lich 2015).

7.3.2 Apple

Wie im vorherigen Beispiel aufgezeigt, fordert der Mobilfunkmarkt von seinen Teilneh-
mern hohe Produktflexibilität, rasante Anpassungsentscheidungen und eine klare sowie
und eindeutige Positionierung ein. Besonders das amerikanische Unternehmen Apple
Inc. um Tim Cook bzw. vormals Steve Jobs prägte den genannten Markt mit dem Credo,
sich immer wieder selber neu zu erfinden, grundlegend.
Aufgrund seiner außergewöhnlichen, innovativen Produkte und hohen Kreativität
steht Apple Inc. bereits seit Jahrzehnten im Fokus der Öffentlichkeit. Nach dem Über-
gang von einem Computerhersteller zum Kommunikationskonzern sind Produkte wie
iPod, iPhone und iPad als Lifestyle-Produkte und die dazugehörige Software iTunes hin-
reichend in der Öffentlichkeit über alle Generationen hinweg etabliert und nicht mehr
vom Markt wegzudenken. Insbesondere die Markteinführung des iPhone wirkte sich ent-
scheidend und nachhaltig auf den Mobiltelefonmarkt aus. Dies beeinflusste selbst traditi-
onelle Unternehmen wie Nokia in hohem Maße.
Auch die Erfindung des iPad führte zu einem weiteren, innovativen Marktimpuls.
Mehrere Marktteilnehmer zogen daraufhin mit eigenen Tabletcomputern nach, um mit
diesem von Apple ausgelösten Trend mitzugehen. Trotz weiterer Produktlancierungen
wie der Apple Watch in 2015 steht aber auch Apple immer wieder vor neuen Produkt-
herausforderungen einhergehend mit der Weiterentwicklung der entsprechenden Märkte.
Apple ist es immer wieder eindrucksvoll gelungen, seine Produkte zu platzieren. Jedes
Mal wieder wird mit Spannung einer neuen Produktankündigung entgegengefiebert.
Darüber hinaus ist auch eine Reaktion seitens des Unternehmens auf die sehr hohe
Durchdringung des Marktes mit iPhones und der damit einhergehenden Abhängigkeit
sowohl des Unternehmens als auch des Kunden von diesem Produkt zu erwarten. Es
zeigt sich dazu, dass die aktuelle Nachfrage nach iPhones eher rückläufig ist (Wedde-
ling 2016). Außerdem werden die zukünftige Ausrichtung, das interne unternehmerische
Handeln und die weitere Zukunftsausrichtung durch neue Technologien wie Spotify,
einem Musikstreaming-Anbieter mit derzeit 50 Mio. Abonnenten, oder Netflix, einem
Streaming-Anbieter von Filmen und Serien mit Börsenwert von ca. 50 Milliarden EUR
(Stand: 08.01.2015), beeinflusst.
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 115

7.3.3 Preussag AG/TUI AG

Nicht nur in neuen Märkten wie dem der Herstellung von Mobiltelefonen sind Transfor-
mationen in Unternehmen sichtbar. Auch in traditionellen Unternehmen ist dies zu beob-
achten. Im Folgenden werden dazu die Unternehmensentwicklungen von renommierten,
erfolgreichen deutschen Unternehmen geschildert, beginnend mit der Preussag AG.
Der heute als Reisekonzern TUI bekannte Industriekonzern Preussag besitzt eine
weitreichende Unternehmensgeschichte, die vielfach, zum Beispiel von Dittmann et al.
(2008) beschrieben wurde. Vor der Positionierung als Touristik- und Logistikdienstleis-
ter war TUI von 1999 bis 2002 eingegliedert in die traditionsreiche Preussag AG, deren
Gründung als Preußische Bergwerks- und Aktiengesellschaft in das Jahr 1924 zurück-
geht. Nach den zwei Weltkriegen und der dadurch geprägten Unternehmensgeschichte
beschloss die Unternehmensführung erste Schritte zur Privatisierung und änderte den
Unternehmensnamen in Preussag AG. Bisherige Produktfelder in Stein-/Braunkohle-
bzw. Bernsteinförderung wurden in den Sechzigern und Achtzigern von Tätigkeiten in
Logistik, Bergbau, Ölförderung, Stahlproduktion oder Schiffbau abgelöst und so bereits
ein erster Wandel in der Unternehmensgeschichte vollzogen.
Mit der Übernahme der Salzgitter AG 1989 und ihrem Verkauf 1998, dem gleich-
zeitigen Erwerb der Hapag Lloyd AG, einem Transport- und Logistikunternehmen ein-
schließlich Reisebüros etc., und dem damit einhergehenden Zukauf von 30 % der Anteile
der TUI AG trat die Preussag AG in den deutschen Tourismusmarkt ein. Der damalige
Preussag-Chef Michael Frenzel begleitete das Unternehmen in seiner Wandlung, da
Marktführung und dauerhaftes Wachstum in den bisherigen 50 Geschäftsbereichen nicht
in Aussicht standen (Rudzio 2003). Dies ging einher mit der Erwartung, dass der Reise-
markt durch einen neuen Großkonzern angehoben wird. Nach weiteren Zukäufen und
dem Kauf der Thomson Travel Group 2000 etablierte sich das Unternehmen immer wei-
ter international und entwickelte sich so zu einem global agierenden Touristikkonzern.
Das Management sah sich in diesem Zusammenhang auch vor Herausforderungen in sei-
ner Führung gestellt, da diese nun mal vornehmlich Erfahrungen im Industriebereich und
nicht in der Reisebranche mit entsprechend anderen Ansprüchen und Strukturen besaß.
Auch die Beschäftigten mussten den Wandel der Konzernstrukturen durch den Bran-
chenwechsel mitgehen.
Durch die Umbenennung in TUI AG vollzog die Preussag AG schließlich den Wandel
von einem Mischkonzern zu einem Touristik- und Logistikkonzern. Ende 2015 beschäf-
tigte das Unternehmen ca. 76.000 Mitarbeiter. Heutzutage gilt das Unternehmen als einer
der größten und erfolgreichsten Touristikdienstleister weltweit.

7.3.4 RWE

Noch vor der Preussag AG wurde 1898 die sogenannte Rheinisch-Westfälische Elek-
trizitätswerks Aktiengesellschaft in Essen gegründet. Bereits zu Zeiten des Ersten
116 I. Böckenholt und M. Peter

Weltkrieges agierte das Unternehmen erfolgreich in seinen strategischen Gruppen Was-


serkraft und Braunkohlestrom. Diese Strategie behielt RWE bis zum Auftrag des Kern-
kraftwerks Biblis A bei.
Heute hat sich das Unternehmen RWE AG als einer der führenden Strom- und Gas-
anbieter in Europa positioniert. RWEs Geschäftsaktivitäten umfassen weiterhin Braun-
kohlegewinnung sowie Stromerzeugung aus Gas, Kohle, Kernkraft und besonders
erneuerbaren Quellen. Darüber hinaus ist das Unternehmen im Energiehandel und in der
Strom- und Gasverteilung und deren Vertrieb tätig. In 2014 beschäftigte RWE ungefähr
60.000 Mitarbeiter. Demgegenüber standen 16 Mio. Stromkunden und sieben Millionen
Gaskunden (RWE AG Geschäftsbericht, 2014).
Bereits (2013) schrieb Beckmann, dass das RWE-Management die zukünftige Posi-
tionierung als ein führender Marktplayer aufgrund der Marktentwicklung als schwierig
erachtet. Weiterhin sei nicht möglich, genügend Rendite in der Sparte dezentralisierter
und subventionierter Energieerzeugung zu erwirtschaften. Daher strebe RWE an, sich
immer mehr in den erneuerbaren Energien in der Projektermöglichung sowie als Betrei-
ber und Systemintegrator zu etablieren. Ein Hauptziel läge dabei in der Kundenzentrie-
rung mit einem Bestand von über 25 Mio. Kunden.
Auch hier wird es interessant sein, die Unternehmensentwicklung weiter zu verfol-
gen. Sowohl die Umstände außerhalb des Unternehmens als auch weitere politischen
Entscheidungen werden zu Managemententscheidungen hinsichtlich Transformationen
führen.

7.3.5 Mannesmann/Vodafone

Ein weiteres Beispiel für die Entwicklung eines Unternehmens aufgrund von Transfor-
mationsprozessen ist das deutsche Industrieunternehmen Mannesmann, das sich Anfang
1900 auf die Herstellung von nahtlosen Stahlrohren spezialisierte. Unter Beibehaltung
dieses Segments entwickelte sich das zunächst aus Familienhand geführte Unternehmen
zu einem Eisen- und Stahlkonzern, der für seinen Unternehmenszweck mehrere Zechen
übernahm und eigene Stahlproduktionen betrieb.
In der Nachkriegszeit wurde das Unternehmen zunächst nach Branchen aufgeteilt und
in dieser Form weitergeführt. Als Mannesmann AG wurden die Unternehmen kurze Zeit
später wieder zusammengeführt. Mannesmann galt als einer der bekanntesten Industrie-
konzerne.
In seiner Unternehmensgeschichte wurden regelmäßig einzelne Unternehmensberei-
che hinzugenommen und abgespalten. Es entstanden so Beteiligungen mit Thyssen bzw.
der Übergang des Steinkohlenbergbausegments an die Ruhrkohle AG. Das Röhrenge-
schäft wurde jedoch fortgeführt, wobei Mannesmann auch auf zukunftsträchtige Investi-
tionen und die Integration neuer Geschäftsfelder achtete.
Die Entscheidung, sich auf einen bis dahin völlig unternehmensfremden Bereich zu
fokussieren und sich insbesondere auf dem Telekommunikationsmarkt zu positionieren,
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 117

wirkte sich schließlich nachhaltig auf die Geschäfts- und Unternehmensentwicklung


nach 1990 aus. Der erste Schritt hierzu war der Erwerb einer Lizenz für ein privates
Mobilfunknetz.
In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich Mannesmann sehr erfolgreich und
behauptete eine sehr gute Marktposition. In 1999 ging der Geschäftsbereich zum Anla-
genbau an den französischen Anlagenbauer Technip über. Ein Jahr später kaufte das
britische Unternehmen Vodafone Mannesmann auf. Dabei gelang vor allem die Einglie-
derung der Telekommunikationssparte in Vodafone. Die übrigen Geschäftssegmente der
Mannesmann wurden entweder zerschlagen, aufgespalten oder weiterverkauft.

7.3.6 Quelle

Das nächste Unternehmensbeispiel Quelle soll nochmals Transformationen in einem


deutschen Traditionskonzern, jetzt aber mit einem anderen Schwerpunkt verdeutlichen.
Über Jahrzehnte hinweg war der auf 1500 Seiten gedruckte und mit mehr als 80.000
Artikeln versehene Hauptkatalog quasi ein Standardwerk in Privathaushalten. Die
bekannte Unternehmensgeschichte beginnt als fränkisches Kurzwarengeschäft, geht über
zu einem der größten europäischen Versandhäuser und endet in der Übernahme durch
einen Marktplayer, der auf die damaligen Marktumbrüche rechtzeitiger und vorausschau-
ender reagierte.
Gegründet 1920, entwickelte Gustav Schickedanz sein Unternehmen bereits in 1927
zu einem Versandhaus weiter und veröffentlichte sein Sortiment schon zu dieser Zeit
in einer ersten illustrierten Zusammenstellung. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der
dadurch verlorenen Kundenkartei nahm Schickedanz nicht unmittelbar danach seine
alte Position wieder wahr. Die Einträge in der Kundenkartei vervielfachten sich und ein
erster Hauptkatalog erschien. Diesen Vertriebsweg behielt das Unternehmen über Jahr-
zehnte hinweg bei, baute immer weiter sein darin abgebildetes Sortiment aus, erweiterte
seine Geschäftstätigkeiten auch nach Österreich und errichtete in diesem Zug auch seine
Versandgebäude in Fürth. Auch Versicherungen und Reisen wurden in das Sortiment
integriert. Neben Quelle waren zu dieser Zeit weitere Versandhandelsunternehmen wie
Neckermann oder Otto erfolgreich tätig.
Zur Jahrtausendwende fusionierten Quelle und die Karstadt AG zum Handelskonzern
KarstadtQuelle. Trotz zunächst guter betriebswirtschaftlicher Zahlen war das Unterneh-
men ab 2004 nachhaltig in seiner Existenz gefährdet und so entschied man sich, Unter-
nehmensanteile zu veräußern sowie die Anzahl der Mitarbeiter drastisch zu reduzieren.
Die Verbreitung des Internets sowie der unaufhaltsame Aufstieg des Onlineversandhänd-
lers Amazon forderten eine viel langfristigere Transformation des Unternehmens als
zunächst angenommen ein. Letztlich ist die darauf folgende Unternehmensgeschichte
hinlänglich bekannt. Trotz Umbenennung in Arcandor und Umstrukturierung von Kern-
sparten beantragte das Unternehmen in 2009 Insolvenz mit kurz darauf folgender Eröff-
nung des Insolvenzverfahrens.
118 I. Böckenholt und M. Peter

Heute agiert Quelle als hundertprozentige Tochter des damaligen Konkurrenten Otto
Group. Vor der Jahrtausendwende arbeitete auch das Hamburger Unternehmen Otto aus-
schließlich als Versandhaus. Im direkten Vergleich zu Quelle verpasste Otto allerdings
nicht den Zeitpunkt für eine Transformation und baute seinen Onlinevertrieb sowohl
auf als auch aus. Neben den Geschäftstätigkeiten der heutigen Muttergesellschaft bietet
Quelle unter der gleichnamigen Internetpräsenz über 300.000 Produkte an.

7.3.7 Kodak

Ein weiteres Misserfolgsbeispiel im Zusammenhang mit dem in Abschn. 7.2.2 einge-


führten Begriff „Disruption“ ist die amerikanische Eastman Kodak Company. Anders als
die vorangegangenen deutschen Unternehmen, die sich in ihrer Geschichte zu etablierten
Großkonzernen entwickelten und ein breites Spektrum an unterschiedlichen Produkten
anboten, hielt Kodak über Jahrzehnte hinweg an seinen Fotografieprodukten fest.
Zunächst in 1881 als Eastman Dry Plate Company von George Eastman und Henry
Strong gegründet, entwickelte sich der unternehmerische Gedanke der Gründer weiter. In
1901 wurde schließlich die Eastman Kodak Company of New Jersey als Unternehmung
eingetragen.
War das Fotografieren in seinen Anfangszeiten aufgrund der dafür benötigten Glas-
platten etc. zunächst ausgewiesenen Fotografen vorbehalten, gelang es Kodak, durch
Einführung der Farbdiafilme das Fotografieren auch in Privathaushalten zu etablieren
und so einem breiten Publikum zu jedem Anlass zugänglich zu machen (Munir und Phil-
lips 2005). Das Unternehmen entwickelte sich fortan zu einem erfolgreichen Hersteller
für Fotografieausrüstung.
Zu Spitzenzeiten wurden rund 150.000 Filme u. a. für analoge Fotografie produziert.
Nach und nach ging das Unternehmen mit der Zeit, stellte sein Produktportfolio um,
ohne dabei von dem übergeordneten Segment Fotografie abzuweichen. Es stellte in die-
sem Zug auch die Produktion von Schwarz-Weiß-Fotopapier, Digital- und Videokameras
und digitalen Bilderrahmen ein. Insbesondere die rasante Verbreitung und Produktent-
wicklung von digitalen Fotokameras sowie die Smartphone-Revolution führte letztlich
zum Einbruch der Nachfrage nach herkömmlichen Fotofilmen. Nach Insolvenzanmel-
dung in 2012 und mehreren Rechtsstreitigkeiten zu Patenten ist Kodak heute nicht mehr
in der Sparte Fotokameras verortet. Das Unternehmen ist mittlerweile spezialisiert auf
die Herstellung professioneller Druckmaschinen.
Die aufgezeigten deutschen und internationalen Unternehmen haben gemein, dass sie
aufgrund unterschiedlicher Transformationen ihre Strategien und Produktportfolios in
ihrer Unternehmensgeschichte ausgerichtet haben und sich so immer wieder neu erfinden
mussten. Der Ausgang der Transformationen war dabei zu Anfang nicht abzusehen.
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 119

7.4 Eigenschaften von Transformationen

Bei genauerer Betrachtung der Unternehmensbeispiele wird ersichtlich, dass die Trans-
formationen ähnliche Strukturen, Auslöser und Verläufe haben. Im Folgenden sollen
daher dieser Eigenschaften näher analysiert und anhand der in Abschn. 7.3 beschriebe-
nen Unternehmensbeispiele aufgezeigt werden.

7.4.1 Ursachen, Phasen und Erfolgsfaktoren von Transformationen

Einleitend wurde die Frage formuliert: „Was löst eine Unternehmenstransformation aus
und wie ist ihr Verlauf?“ Insbesondere die Ursache einer Transformation wird in ein-
schlägiger Literatur aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Im Wesentlichen las-
sen sich dazu drei Komponenten zusammenfassen:

• Eintritt von diskontinuierlichen Marktentwicklungen (Gordon et al. 2000),


• Unternehmen waren bereits vor einer Transformation längerfristig nicht erfolgreich
(Greve 1998),
• Managementwechsel (Hutzschenreuter et al. 2012).

Nach Lant et al. (1992) sowie Tushman und Rosenkopf (1996) verstärken sich die
genannten drei Faktoren zudem wechselseitig in ihrer Wirkung.
Neben den Ursachen einer Transformation ist auch ihr Verlauf von besonderem Inter-
esse. Aus Sicht eines Unternehmens werden dabei mehrere Phasen durchlaufen. Bullin-
ger et al. (2003) beschreiben insbesondere drei Phasen:

1. Vision und Mobilisierung, Formulierung des zukünftigen Unternehmenskonzeptes.


2. Operationalisierung des Unternehmenskonzeptes.
3. Umsetzung der Transformation.

Die sicherlich größte Herausforderung liegt dabei zunächst in der Initiierung des Trans-
formationsvorhabens und der darauf folgenden Steuerung des Transformationsprozes-
ses, da beide Aspekte sowohl komplex als auch aufwendig sowie nicht ohne Risiko sind.
Bullinger et al. (2003) gehen dazu auch auf die unternehmerische Neuausrichtung auf
sowohl instrumenteller als auch mentaler Ebene ein. Erstes betrifft insbesondere die Stra-
tegie, Struktur und Systeme des Unternehmens. Zweites zielt auf die Sensibilisierung der
Mitarbeiter für die neuen und komplexen Wettbewerbsbedingungen ab. Dies geht einher
mit der individuellen Weiterentwicklung der Fähigkeiten.
Neben den Ursachen und Phasen einer Transformation sind auch entsprechende
Erfolgsfaktoren zu nennen. In einer Studie mit Schwerpunkt „Business Transformation“
findet Capgemini Consulting (2010) Erfolgsfaktoren zu Unternehmenstransformationen:
120 I. Böckenholt und M. Peter

• Sicherstellung von Mobilisierung und Commitment der Mitarbeiter,


• sorgfältige Analyse des Markt- und Produktumfelds,
• Weiterentwicklung der Unternehmensführung,
• Erfassung und Design der Organisation und Prozesse,
• Identifikation und Verankerung der Erfolge,
• zielgruppenorientierte Durchführung von Qualifizierung und Entwicklung,
• Forcierung von Ausrichtung und Umgestaltung der Organisation,
• Entwicklung und Ausbau von Strukturen, die zur Transformation notwendig sind,
• Vermeidung und Reduktion von Konflikten und Widerständen,
• Weiterentwicklung der Unternehmenskultur.

Sowohl die Beschreibung der Transformationsphasen als auch der Erfolgsfaktoren zeigt
auf, dass bei der Durchführung einer Transformation mehrere Unternehmensebenen
betroffen sind. Eine gute Führung ist somit unabdingbar.
Zudem können Transformationen sowohl von externen Gegebenheiten, zum Beispiel
Markteffekten, als auch unternehmensinternen Entscheidungen getragen sein. Hinzu
kommen insbesondere Misserfolgsfaktoren mit zentraler Bedeutung.
Ein nicht funktionierendes mittleres Management oder häufig wechselnde Verantwort-
lichkeiten auf Leitungsebene sprechen nach Falkenberg et al. (2005) gegen einen erfolg-
reichen Transformationsprozess. Auf Mitarbeiterebene wirken sich schlecht strukturierte
Arbeitsabläufe mit einhergehendem größerem Ressourceneinsatz sowie Erschöpfung
der Mitarbeiter oder gar Personalfluktuation negativ aus. Zudem führen eine schlechte
Implementierung der Wandelinitiativen sowie vorübergehende Ergebniseinbußen nicht
zum gewünschten Ziel. Auch die Fokussierung auf interne Prozesse statt auf Markt und
Kunden wirkt wenig förderlich.
Demgegenüber stehen sowohl ein funktionierendes Stakeholder-Management als auch
Marktopportunitäten wie u. a. Technologiewandel oder Paradigmenwechsel. Zudem ist
die Haltung der Mitarbeiter maßgeblich. Besitzen diese Veränderungsbereitschaft und
-fähigkeiten, wirkt sich das positiv auf die anstehenden Transformationen im Unterneh-
men aus.
Auch Bertolini et al. (2015) zeigen kritisch auf, dass langfristig kein Unternehmen
überleben wird, ohne sich dabei neu zu erfinden. Es gilt demnach auch, den richtigen
Zeitpunkt für einen strategischen Unternehmenswandel zu finden, auch wenn es dem
Unternehmen gegenwärtig gut geht und somit die Verschiebung einer solchen Entschei-
dung verlockend ist. Weiterhin gilt es in diesem Zusammenhang, sowohl die Zweifel der
Mitarbeiter als auch Verunsicherung der Kunden sowie die kritische Haltung der Inves-
toren gegenüber unerprobten Strategien zu überwinden, damit diese nicht gegen eine
Anpassung zukünftiger Unternehmensstrategien wirken.
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 121

7.4.2 Transformationen und Disruptionen in den


Unternehmensbeispielen

Gründe für Transformationen in Unternehmen und Disruptionen in Märkten können sehr


unterschiedlich sein. Abschließend werden Disruptionen für einzelne der Unternehmens-
beispiele in Tab. 7.1 beschrieben und auch mit Hinblick auf die jeweiligen Transformati-
onen kommentiert.
Die Entwicklung der Unternehmen Nokia und Apple geht Hand in Hand. Im Fall von
Nokia war es eine Mischung aus verpassten Markt- und Produkttrends mit dem gleich-
zeitigen Auftritt von zwei sehr starken Wettbewerbern. Neben Samsung revolutionierte
Apple mit seinen Produkten den Mobiltelefonmarkt. Auf den Technologiewandel wurde
rückblickend zu spät reagiert. Hingegen hat Apple als Musterbeispiel eines innovativen
Unternehmens dank seines herausragenden Vordenkers Steve Jobs nicht nur Produkte
verändert, sondern weitreichende Disruptionen in dem entsprechenden Markt ausgelöst.
Dies wurde und wird weiterhin mit einer genialen Marketingstrategie von hohem Wie-
dererkennungswert begleitet. Jahrhunderterfindungen und Alleinstellungsmerkmale wie
das iPhone oder auch das iPad, die über alle Generationen hinweg beliebt und mittler-
weile nicht mehr im Alltag wegzudenken sind, lassen sich nicht ohne Weiteres wiederho-
len. Es wird spannend sein, wie Apple auch in Zukunft den Mobiltelefonmarkt aufmischt
und federführend gestaltet.
Die Unternehmensentwicklungen von Preussag zu TUI und Mannesmann zu Voda-
fone sind Beispiele für geglückte Restrukturierungen in disruptiven Märkten. Beide
Konzerne mit ihren langjährigen, traditionellen Strukturen haben es geschafft, ihre
Geschäftsmodelle durch strategische Managemententscheidungen und eine offene Hal-
tung gegenüber Marktentwicklungen abzuleiten und anzupassen.
Bei RWE setzte sich die Disruption aus drei Komponenten zusammen. Zum einen
wurde zu spät auf alternative bzw. erneuerbare Energien gesetzt, um die Abhängig-
keit von Kernkraft zu reduzieren. Zum anderen führten die Katastrophe von Fuku-
shima in 2013 und die daraus resultierenden folgenreichen politischen Diskussionen
letztlich zur Stilllegung hochrentabler Kernkraftwerke. Dies beschleunigte schließ-
lich die Verschlechterung der bereits durch den Preisverfall im Strom- und Gasbereich

Tab. 7.1  Beschreibung der Disruptionen


Nokia RWE Quelle Kodak
• Zu späte Reaktion • Wegfall Kernkraft • Spezialisierung der • Wandel von analoger
auf Smart- bzw. • Preisverfall von Gas Versandmärkte zu digitaler Foto-
iPhone und Strom • Ausbreitung des grafie
• Starke Wettbewerber • Ausbau der erneuer- Internethandels • Smartphones als
- Apple baren Energien • Fehlinvestition Kameras
- Samsung Warenhaus
• Veralterung des
Geschäftsmodells
122 I. Böckenholt und M. Peter

angeschlagenen finanziellen Situation. Die einträgliche Monopolsituation über Jahr-


zehnte hat zuletzt auch nicht dazu beigetragen, eine schlagkräftige, innovationsfreudige
und flexible Organisation aufzubauen.
Die Entwicklung des traditionsreichen Familienunternehmens Quelle wurde wesent-
lich von gleich mehreren Faktoren beeinflusst. Zum klassischen Kataloggeschäftsmodell
kam der Internethandel auf, der sich mit Onlinehändlern wie Amazon schnell und flä-
chendeckend ausweitete. Der Versandhandelsmarkt war somit bereits stagnierend, wenn
nicht sogar rückläufig. Hier verpasste der kriselnde Konzern die wichtigen Investitionen
in den Internethandel einschließlich seiner Spezialisierungen. Letztlich kam dann noch
die Investition in Karstadt hinzu, die sich als Fehlentscheidung des Managements her-
ausstellte.
Aber nicht nur deutsche Unternehmen haben auf Disruptionen reagieren müssen.
Trotz stabilen Managements und bis zu diesem Zeitpunkt etablierten Geschäftsmodellen
und -prozessen kam es u. a. bei Kodak zu dem Verlust eines großen und auch weiterhin
sehr gefragten Produktsegments, da hier schlichtweg der Trend zur digitalen Fotografie
nicht rechtzeitig aufgegriffen wurde.

7.5 Fazit und Ausblick

Auch in Zukunft werden Unternehmen durch alle Branchen hinweg gefordert sein, ihre
Geschäftsmodelle auf Marktgegebenheiten mit zeitgemäßen Innovationen anzupassen.
Ob diese Anpassung gleich zu einer Transformation führt, muss im Einzelfall entschie-
den werden.
Transformationen sind für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit und die langfristige
Positionierung unabdingbar und notwendig. Da diese Wetten Unsicherheit darstellen,
sind sie für die betroffenen Unternehmen nur begrenzt planbar. Ihre Langwierigkeit
erschwert ihre Durchführung. Herausfordernd kommt hinzu, dass Transformationen nur
im günstigsten Fall gleichmäßig oder linear verlaufen. Da es sich zudem um selbstver-
stärkende Prozesse handelt, sind diese in ihrer Handhabung abstrakt und komplex und
nicht mit gängigen Managementmethoden zu lösen.
Mit zunächst ungewissem Ausgang gehen Unternehmen aus Transformationen ent-
weder gestärkt und zukunftsorientiert hervor. Allerdings führen Transformationen
gelegentlich auch zum Worst Case: der Auflösung des Unternehmens, vielleicht noch
einhergehend mit dessen Reinkarnation in alter Form. Ein Beispiel hierzu ist das Unter-
nehmen Kodak (Abschn. 7.3.7). Zunächst sehr erfolgreich und zum damaligen Zeitpunkt
innovativ, baute das Unternehmen ja auch neben seinen Produkten zur analogen Foto-
grafie seine Produktpalette mit Druckern aus. Mit dem Gebrauch der Smartphones als
Fotokameras fiel aber die wichtigste Produktsparte weg. Kodak meldete Insolvenz an
und agiert heute im Druckmaschinenmarkt.
Revolutionierte das Internet jegliche Unternehmensbranchen, Arbeitsprozesse
und Vertriebskanälen, wird auch in Zukunft das Thema Digitalisierung von enormer
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 123

Bedeutung sein. Es wird Unternehmen und seine Mitarbeiter vor Herausforderungen


stellen, die bestimmt auch in heute nicht erkennbare Transformationen münden wer-
den. Diese Herausforderung geht auch einher mit der entsprechenden Reaktion aus dem
Management und führt zum grundlegenden Überdenken von Strukturen, Führungsver-
halten, Mitarbeitermotivation und Veränderungsfähigkeit der jeweiligen Organisation.

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Über die Autoren

Prof. Dr. Ingo Böckenholt  studierte und promovierte an der


Universität in Karlsruhe. Anschließend war er als Unterneh-
mensberater bei A.T. Kearney tätig. Es folgten Positionen
u. a. als Abteilungsdirektor für Unternehmensplanung/Con-
trolling der Karstadt AG und als kaufmännischer Geschäfts-
führer in der Vorwerk-Gruppe. Vor seiner Tätigkeit an der
ISM, die er seit 2012 als Präsident und Geschäftsführer leitet,
war Böckenholt zudem Geschäftsführer in der Tchibo Gruppe
und CFO des weltweit tätigen Logistikunternehmens Dachser.
7  Transformationsmanagement in Unternehmen … 125

Prof. Dr. Moritz A. Peter arbeitete mehrere Jahre in der


Automobilindustrie für die Daimler AG und Porsche Con-
sulting GmbH. Er studierte an der Universität Mannheim
und promoviert an der ETH Zürich. Gegenwärtig ist er
Hochschullehrer, Studiengangsleiter „Master international
Management“ sowie Vizepräsident „Corporate Development
& Relations“ an der ISM München.
Ausgestaltung der digitalen
Transformation 8
Ralf Kreutzer und Karl-Heinz Land

Zusammenfassung
Jedes Unternehmen muss sich heute über die Frage der digitalen Transformation
Gedanken machen. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Unternehmen und Bran-
chen bestehen nur in der Intensität der notwendigen digitalen Transformation – nicht
jedoch in ihrer generellen Notwendigkeit. Deshalb sollten sich alle Unternehmen über
die Treiber der digitalen Transformation und über die Möglichkeiten informieren, um
den erforderlichen Transformationsprozess erfolgreich zu gestalten. Die Herausforde-
rung hier heißt: Change-Management.

Inhaltsverzeichnis

8.1 Hintergrund für die Notwendigkeit einer digitalen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . 128


8.2 Hindernisse und Lösungskonzepte einer digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
8.3 Treiber digitaler Veränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
8.4 Change-Management – Wandel erfolgreich gestalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
8.4.1 Ausgestaltung des Change-Managementprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
8.4.2 Umsetzung des Change-Managements
am Beispiel einer digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

R. Kreutzer (*) 
HWR Berlin Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, HWR Berlin,
Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]
K.-H. Land 
STARTPLATZ c/o neuland GmbH & Co. KG, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 127


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_8
128 R. Kreutzer und K.-H. Land

8.1 Hintergrund für die Notwendigkeit einer digitalen


Transformation

Die Notwendigkeit einer digitalen Transformation – wenn auch in unterschiedlicher


Intensität – ist für jedes Unternehmen und jede Branche gegeben. Dabei muss man sich
vor Augen führen, dass das Zeitfenster für diese Weiterentwicklung des Unternehmens
nur eine beschränkte Zeit lang offen steht. Deshalb ist jetzt zu handeln!
Der Begriff der digitalen Transformation findet sich heute täglich in den Wirt-
schaftstiteln wieder. Damit gemeint ist im Wesentlichen die Neuausrichtung von Pro-
dukten, Dienstleistungen, Prozessen und Geschäftsmodellen etablierter Unternehmen
an den Bedingungen einer zunehmend digitaler werdenden Welt. Und obwohl dieser
digitale Wandel bereits erhebliche Anstrengungen verursacht, ist es damit alleine nicht
getan. Notwendig ist vielmehr, eine klare Zielrichtung für die Ausgestaltung der digita-
len Transformation zu definieren und den Prozess zu ihrer Erreichung konsequent und
nachhaltig zu managen.
Die größte Herausforderung bei diesem Veränderungsprozess ist die Zeit. Deren
größter Feind ist die organisatorische und individuelle Trägheit, die insbesondere in mitt-
leren und großen Unternehmen anzutreffen ist und dem notwendigen Change-Prozess
im Wege steht. Dabei ist schnell auf die relevanten Veränderungen zu reagieren! Denn
das Strategic Window of Opportunity steht nur eine begrenzte Zeit offen. Deshalb gilt
es – gerade in den sogenannten etablierten Unternehmen – Trägheit durch Momentum
zu ersetzen, digital zentrierte unternehmerische Visionen zu bilden, Geschäftsmodelle
zu hinterfragen und mit Mut und Optimismus die entstehenden Veränderungsprozesse
proaktiv zu gestalten. Denn besonders in den etablierten Unternehmen sind vielfältige
Ressourcen für die aktive Mitgestaltung des notwendigen Wandels vorhanden: Neben
qualifizierten Mitarbeitern und finanziellen Mitteln sind es auch Prozess- und Projekt-
Know-how, um kreative Ideen in marktfähige, langfristig wertschöpfende Lösungen zu
transferieren. Dies sind überzeugende Erfolgsfaktoren, die konsequent in den Dienst des
Change-Managements zu stellen sind.
Flanierend hierzu kann das eigene unternehmerische Potenzial auch dadurch gestei-
gert werden, dass Innovatoren und deren Geschäftsideen durch Akquisitionen erworben
und so für die eigene Unternehmensentwicklung eingebunden werden. Außerdem lassen
sich – in vielen Bereichen viel besser als noch vor wenigen Jahren – Ideenschmieden
über Netzwerke anzapfen und in die eigene Weiterentwicklung einbeziehen. In jedem
Fall muss gehandelt werden – schnell, entschieden und konsequent. Wenn dies nur die
Wettbewerber tun, ist die eigene Wettbewerbsposition nachhaltig gefährdet.
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 129

8.2 Hindernisse und Lösungskonzepte einer digitalen


Transformation

Um die digitale Transformation erfolgreich zu meistern, muss man sich zwingend über
die dabei auftretenden Hindernisse – im Vorfeld – Gedanken machen. Nur dann kann es
gelingen, bewährte Lösungskonzepte zum Einsatz zu bringen, um die Hürden zu über-
winden.
Die größten Hindernisse eines jeden Transformationsprozesses liegen im Unterneh-
men selbst – ganz konkret in der DNA des Unternehmens. Jedes heute erfolgreich am
Markt agierende Unternehmen hat einmal Geschäftsprozesse und -strukturen aufgebaut,
um Produkte und Services erfolgreich zu entwickeln und zu vermarkten. Die dabei zum
Einsatz kommenden Konzepte sind den verantwortlichen Mitarbeitern und Führungs-
kräften in Fleisch und Blut übergegangen. Deshalb kann hier zu Recht auch von der
DNA des Unternehmens gesprochen werden. Ihren Niederschlag finden diese Konzepte
auch in den Einkaufsrichtlinien des Unternehmens, im Organisationshandbuch sowie
in Betriebsanweisungen für die unterschiedlichsten Handlungsfelder. Damit wird eines
erreicht: Die Zementierung der (bisher) erfolgsdeterminierenden Handlungsweisen. Die
Berücksichtigung dieser Verhaltensmuster wird durch Incentive-Systeme belohnt – eine
Missachtung mit Abmahnungen und Jobverlust bestraft.
Auf diese Gemengelage treffen jetzt die Ansagen, das Bestehende infrage zu stellen,
um sich auf die neuen – erst heraufziehenden – Anforderungen auszurichten. Dabei gilt:

 • Je erfolgreicher das Unternehmen in der Vergangenheit war und heute


noch ist, desto geringer ist die zu erwartende Änderungsbereitschaft im
Unternehmen selbst.
• Der Erfolg von heute ist der größte Feind für den strategisch angesagten
Wandel.

Denn dieser Wandel ist – solange es dem Unternehmen noch gut geht – in seiner Rele-
vanz für die zukünftige Überlebenssicherung nicht zu erkennen. Deshalb ist eine digitale
Transformation zwar für die Mehrheit der Unternehmen strategisch wichtig – aber eben
nicht dringend!
Vor diesem Hintergrund verpassen immer mehr Unternehmen das Window of Oppor-
tunity für den eleganten Einstieg in den digitalen Transformationsprozess. Der
Einstieg erfolgt häufig erst dann, wenn das Wasser schon steigt und die Wandlungsnot-
wendigkeit nicht mehr geleugnet werden kann. Aber dann erfolgt die Anpassung schon
in einer Stresssituation. Und wer sich schon einmal – zumindest vorübergehend erfolg-
reich – das Rauchen abgewöhnt hat, weiß eines: Gerade in Stresssituationen fällt man
ganz schnell und leicht in die alten Verhaltensmuster zurück, weil sie – vermeintlich –
Sicherheit bieten. Und dann fällt Veränderung noch schwerer. Deshalb sollte die Not-
wendigkeit einer digitalen Transformation früh erkannt und – auch und gerade in guten
Zeiten des Unternehmens – angegangen werden.
130 R. Kreutzer und K.-H. Land

Dabei ist eines zu berücksichtigen: Wir müssen uns vor Augen führen, dass es im
Zuge einer digitalen Transformation eine einheitliche Organisationsstruktur, die sowohl
der reibungslosen Abwicklung des Kerngeschäftes als auch der Generierung von (radika-
len) digitalen Innovationen optimal dient, nicht geben kann. Um durchgreifende kreative
Erneuerungen von Produkten, Services und Geschäftsmodellen zu erreichen, benötigen
wir nicht nur eine strategische Verankerung im Topmanagement und digitales Wissen in
der gesamten Organisation. Es sind zusätzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, damit
das Neue Raum greifen kann. Govindarajan und Trimble (2010) haben hierfür ein über-
zeugendes Denkkonzept entwickelt:

• Die Mehrheit der Unternehmen ist heute nur sehr eingeschränkt auf die Entwicklung
von bahnbrechenden Innovationen vorbereitet, die ggf. sogar das eigene Geschäfts-
modell, eigene Produkte und Dienstleistungen ganz oder partiell infrage stellen. Das
Herzstück eines jeden Unternehmens stellt vielmehr eine sogenannte Performance
Engine dar. Diese entspricht gleichsam einem Motor, dessen Daseinszweck darin
besteht, verlässlich und mit möglichst hohem Wirkungsgrad die definierten Produkte
und Dienstleistungen in der gewünschten Qualität zu definierten Kosten – häufig in
hohen Stückzahlen – zu erzeugen. Hier können wir an die Fließbänder bei Volkswa-
gen und Audi, aber auch an die Fertigungsstraßen bei Henkel, Unilever und BASF
denken. Bei der Performance Engine sind Stabilität, Vorhersehbarkeit, Routine, Null-
Fehler-Toleranz die dominierenden Erfolgsfaktoren (Kreutzer et al. 2016).
• Die Performance Engine dominiert gleichsam das gesamte Unternehmen. Deshalb
werden alle Aktivitäten, die dem bekannten Muster zuwider laufen und die damit für
Unsicherheit und Ineffizienz sorgen, abgeblockt, zeitlich und/oder ressourcenmäßig
unterversorgt oder sogar gänzlich abgestellt. Diese Verhaltensmuster sind aus der
Sicht der Performance Engine kein ungewolltes Fehlverhalten, sondern die Absiche-
rung des eigenen Erfolgsmodells.
• Dieser Performance Engine müssen wir ein eher netzwerkartig organisiertes Kon-
zept gegenüberstellen, welches viel schneller auf Veränderungen der Umwelt reagie-
ren kann – und reagieren darf. Weil dies der Kern dieses Bereiches ist. Hierfür kann
der Begriff der Innovation Engine eingesetzt werden. In diesem Bereich können –
unabhängig vom Kerngeschäft des Unternehmens – innovative digitale Projekte mit
radikalem oder/und disruptivem Charakter entwickelt werden. Die handlungsbestim-
menden Leitideen sind dabei Systemoffenheit, Fehlertoleranz und die Suche nach
zukünftigen strategisch wertvollen Geschäftsmöglichkeiten – ganz unabhängig und
unbeeinflusst von der eigenen Performance Engine.
• Eine Innovation Engine braucht nicht zwingend innerhalb der eigenen Organisa-
tion eingebunden sein. Die Nähe zum operativen Geschäft kann sich sogar als voll-
kommen kontraproduktiv für digitale Transformationsaktivitäten herausstellen. Eine
interessante Alternative hierzu stellt die Gründung von oder die Beteiligung an eigen-
ständigen digitalen Unternehmen dar, die den Kern der Innovation Engine ausma-
chen. Diese wären mit der heutigen Organisation zunächst nur relativ lose verbunden.
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 131

Die Verknüpfung der entsprechenden Investitionen bestünde dann primär auf gesell-
schaftsrechtlicher Ebene (weiterführend Kreutzer et al. 2016).
• Innerhalb der Innovation Engine können verschiedene Aufgabenfelder definiert wer-
den. Hier kann beispielsweise am Aufbau einer digitalen Plattform zur Realisierung
eines neuen Geschäftsmodells für eine neue Zielgruppe gearbeitet werden, ohne dass
bei jedem Schritt geprüft werden muss, ob man damit eigene bisherige Aktivitäten
kannibalisiert. Außerdem können „smarte“ und vernetzte Produkte mit tiefer Veran-
kerung in digitale Applikationen entwickelt werden, die als „digitale Versionen“ die
bisher vertriebenen Produkte und Serviceangebote aus dem analogen Bereich obsolet
machen können.

Wichtig ist hierbei, dass die Verknüpfung von Performance und Innovation Engine
nur punktuell und nach dem Prinzip einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit
erfolgen darf. Eine Erfolgsvoraussetzung für diese Zusammenarbeit besteht darin, dass
alle Mitarbeiter der beiden Engines die Relevanz der jeweils anderen erkennen und diese
entsprechend wertschätzen können. Erst dann wird die Aufgabenteilung zwischen
Performance und Innovation Engine in ihrer Bedeutung für das längerfristige Über-
leben des Unternehmens nachvollziehbar. So entstehen in der Innovation Engine neue
Geschäftsideen, die für die nachhaltige Unternehmensentwicklung unverzichtbar sind.
Eine absolute Basisvoraussetzung dafür ist insbesondere die Bereitstellung der Finanz-
mittel, die durch die Performance Engine generiert werden.
Erfolgreiche digitale Innovationsaktivitäten mit erheblichem Neuigkeitsgrad entstehen
deshalb in einer vertrauensvollen Partnerschaft zwischen Experten der Performance
Engine – die zeitweise und nicht zwangsläufig in Vollzeit involviert werden – und einem
dezidiert für die jeweiligen Vorhaben aufgebauten Innovationsteam, das in der Regel
auch neues Personal oder eine gänzlich eigenständige Organisation von außen benötigt.
Das Team der Innovation Engine wird hierzu primär mit unternehmensexternen Fach-
kräften bestückt. Die temporär involvierten Mitarbeiter der Performance Engine behal-
ten ihre bisherigen Verantwortungsbereiche und bringen sich zusätzlich in der Innovation
Engine ein. Sie stellen gleichsam einen Linking Pin zwischen den beiden Welten dar.

8.3 Treiber digitaler Veränderungen

Eine wichtige Voraussetzung, um die digitale Transformation erfolgreich zu gestalten,


ist die Ermittlung der für die eigene Branche und das eigene Unternehmen besonders
relevanten Treiber. Erst dann kann ermittelt werden, durch welche strategische Neuaus-
richtung bzw. durch welche strategische Weiterentwicklung die sich durch die Digitali-
sierung bietenden Chancen genutzt und Risiken umschifft werden können. Sowohl die
Erfolgstreiber wie die Risikofaktoren sind für jede Branche und jedes Unternehmen prä-
zise zu bestimmen.
132 R. Kreutzer und K.-H. Land

Welches sind konkret die Veränderungen, die Unternehmen in immer größerem Maße
zwingen, sich mit einer digitalen Transformation zu beschäftigen? Welche Treiber der
digitalen Veränderung lassen sich identifizieren (Brynjolfsson und McAfee 2014)?

• Die Digitalisierung erfasst immer mehr Bereiche der Wertschöpfung. Dabei gilt:
Alles, was sich digitalisieren lässt, wird digitalisiert werden.
• Gleichzeitig findet eine immer umfassendere Automatisierung statt. Dabei gilt:
Alles, was sich automatisieren lässt, wird automatisiert werden.
• Zusätzlich finden eine steigende Kombinatorik verschiedener Entwicklungslinien
sowie eine zunehmende Verknüpfung von Objekten und Lebewesen durch das Inter-
net of Everything statt.

Hierdurch partiell bedingt und verstärkt erleben wir eine exponentielle Entwicklung der
Leistungsfähigkeit bei den verfügbaren Technologien und Systemen. Gerade die Verknüp-
fung der oben genannten Treiber kennzeichnet den Tipping Point im Sinne einer wichtigen
Trendwende, an dem wir gerade angekommen sind. Um die Auswirkungen eines exponen-
tiellen Wachstums zu veranschaulichen, braucht man sich nur folgende Aufgabe zu stellen.
Wie viele Meter legt ein Mensch zurück, der 30 analoge Schritte vollzieht? Ca. 30 Meter.
Wie viele Schritte legt ein Mensch zurück, der 30 exponentielle Schritte absolviert, bei dem
sich die Schrittgröße von Mal zu Mal verdoppelt? Was glauben Sie? Viele Tausend? Hun-
derttausend? Mehr? Wenn der Mensch seinen 31. exponentiellen Schritt vornimmt, hat er
mehr als eine Milliarde Meter zurückgelegt. So funktioniert Exponentialität. Eine Dyna-
mik, die sich der Mensch häufig nicht vor Augen führen kann.
Warum ist das Wissen um die Effekte der Exponentialität so wichtig? Diese Dyna-
mik wird durch das Moore’sche Gesetz (Moore’s Law) in der IT-Branche beschrieben.
Gemäß dieses – auf empirischen Beobachtungen aufbauenden – Prinzips prognostizierte
Moore schon 1965, dass es ca. alle zwei Jahre zu einer Verdoppelung der digitalen
Rechenleistung kommen wird. Die Auswirkungen werden in den nächsten Jahren noch
dramatischer werden, weil wir uns jetzt auf der zweiten Hälfte des digitalen Schach-
bretts bewegen, denn wir haben schon mehr als 32 Verdopplungszyklen hinter uns
gebracht. Ein entscheidender Treiber der digitalen Revolution wird so überdeutlich: die
laufende Verdopplung der Rechenleistung. Computer werden einen immer umfassen-
deren Einfluss auf unser Leben erhalten.
Heute kann regelrecht von der Macht der Algorithmen gesprochen werden. Diese
bestimmen nicht nur, wer zu welchen Konditionen einen Kredit bekommt, welche
Partner auf Partnerschafts-Websites vorgeschlagen, welche Bücher einem empfoh-
len und welche Online-Banner geschaltet werden. Vieles davon geschieht in Echtzeit!
Algorithmen werden in Zukunft auch die komplette Steuerung des Wohnklimas (inkl.
Beleuchtung) übernehmen und zum Berater bei Diagnose und Therapie werden, bis hier
vielleicht sogar eine (partielle) Substitution einsetzt. Vielleicht kann so der Ärztemangel
auf dem Land überwunden werden.
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 133

Dass wir uns bereits auf der zweiten Hälfte des Schachbretts mit seinen schier unvor-
stellbaren Quantensprüngen bewegen, erklären die Fortschritte, die in den letzten Jah-
ren erzielt wurden. Wenn wir uns fragen, warum es uns beispielsweise 2004 noch nicht
möglich war, ein selbstfahrendes Auto zu realisieren, dann lag es daran, dass wir uns
noch in der ersten Hälfte dieses Schachbretts bewegten. Auch hier verdoppelten sich
zwar die Leistungen, aber auf noch niedrigem Niveau. Das war auch der Grund, warum
es dem Computer Watson nicht vor dem Jahr 2011 möglich war, den menschlichen
Geist bei offenen Quizrunden wie Jeopardy zu besiegen. Gehen wir gedanklich noch
ein paar Jahre mehr zurück – auf die ersten Felder des Schachbretts. Dann wird nach-
vollziehbar, dass die Computer, die im Juli 1960 die Mondlandung ermöglichten, über
eine deutlich geringere Rechenleistung als das iPhone 4 verfügten und für die Hardware
dennoch ca. 100 Mio. US-$ bezahlt werden musste (Vodafone 2012). Etwas mehr als für
ein heute schon nicht mehr aktuelles Smartphone-Modell wie das iPhone 4! Was wurde
bisher sonst noch erreicht? Die Preise für PCs beispielsweise sind nach Angaben des
US-Bureau of Economic Analysis seit 1980 um 99,9 % gefallen. Ein Beispiel: Während
1982 eine 1-Gigabyte-Festplatte von Control Data noch 50.000 DM kostete, verfügt das
iPhone 6 über einen Speicher von 128 Gigabyte und verursacht dafür Kosten in Höhe
von lediglich ca. 40 EUR. Selbst Software kostet nur noch 0,7 % von dem, was für eine
vergleichbare Leistung im Jahr 1980 bezahlt werden musste. Und auch die Gebühren für
die mobile Telefonie sind signifikant gesunken und haben sich seit 1990 mehr als hal-
biert (Schäfer 2015). Wenden wir die gleichen Technologieschübe auf den VW Käfer an,
so würde der Käfer von 1971 heute eine Geschwindigkeit von 480.000 Km pro Stunde
erreichen. Und sein Preis wäre auf vier Cent gesunken (Hohensee 2015). Das sind die
Konsequenzen der exponentiellen Entwicklungsschübe!
Haben wir das Ende der Fahnenstange schon erreicht? Wir gehen davon aus, dass wir
uns heute erst auf dem vorderen Drittel des zweiten Teils des Schachbretts befinden. Denken
Sie beispielsweise an Feld 37 von 64. Die richtig gravierenden Technologie- und Leistungs-
sprünge, die alle bisherigen in den Schatten stellen werden, stehen uns folglich erst noch
bevor. Und jede wird in ihren Möglichkeiten doppelt so umfassend sein wie bisher.

Beispiel
Hier ein aktueller Beweis: Anfang 2016 knackte ein Computer eine weitere – lange
für unschlagbar gehaltene – Bastion: Der Südkoreaner Lee Sedol, der größte lebende
Champion im Go-Spiel, hat im März 2016 gegen die Software AlphaGo aus dem Haus
Google/Alphabet verloren. Zum ersten Mal – aber dann gleich in mehreren der gespiel-
ten Partien. Dabei galt es, besondere Herausforderungen des Spiels – die viel größer
sind als beim Schachspiel – zu meistern. Die Vielfalt der möglichen Stellungen und
Zugfolgen ist so groß, dass ein Durchrechnen alternativer Lösungen auch Supercom-
puter überfordern würde. Die Antwort der Google-Ingenieure war deshalb zukunfts-
weisend: Es wurden keine Handlungsanweisungen programmiert, sondern man lässt
die Maschine – neben dem Wissen um Millionen bereits gespielter Partien – Erfahrun-
gen sammeln. Als Input für Intuition. Hierzu kamen tief gestaffelte Ebenen künstlicher
134 R. Kreutzer und K.-H. Land

neuronaler Netze zum Einsatz, die die elementaren Vorgänge menschlicher Nerven-
systeme digital simulieren. Damit ist AlphaGo kein Algorithmus mehr, sondern ein
selbstlernendes System mit eigener Persönlichkeit. „Tatsächlich berichtete ein europäi-
scher Go-Profi, der im Oktober gegen AlphaGo antrat (und verlor), er habe das Gefühl
gehabt, hinter den Zügen seines Gegners stünde eine reale Person“ (Rauchhaupt 2016,
S. 71). Das Wettrennen Mensch-Maschine geht dynamisch weiter!

Fazit
Zeit wird zum strategischen Engpass – aufgrund der durch Start-ups und branchen-
fremde Unternehmen getriebenen Veränderungsdynamik.
Peter Glaser: „Information ist schnell – Wahrheit braucht Zeit.“
Aus dem Spannungsfeld kann kein Unternehmen entlassen werden. Es ist aller-
dings wichtig, dass man sich – informations- und substanzgestützt – frühzeitig auf
den Weg der Veränderung begibt, indem ein überzeugendes Change-Management ein-
geleitet wird.

8.4 Change-Management – Wandel erfolgreich gestalten

Ein professionelles Change-Management stellt den Dreh- und Angelpunkt einer erfolg-
reichen digitalen Transformation dar. Nur Unternehmen, die in der Lage sind, den ange-
strebten Wandel als umfassenden Prozess der Veränderung für das gesamte Unternehmen
zu begreifen und zu gestalten, werden erfolgreich sein. Zu viele Unternehmen sind daran
gescheitert, weil die Veränderung zu halbherzig und ohne ausreichende Managementun-
terstützung angestrebt wurde. Diese grundlegenden Fehler gilt es zu vermeiden.
Unter Change-Management wird die zielorientierte, umfassende, häufig bereichs-
übergreifende Umgestaltung von Strukturen, Prozessen, Geschäftsfeldern und ganzen
Unternehmen verstanden. Damit wird das Ziel verfolgt, die entsprechenden Bereiche auf
neue Anforderungen der externen Umwelt auszurichten bzw. bei der Umsetzung einer
veränderten strategischen Ausrichtung zu unterstützen.

 Damit wird deutlich Von Change-Management im Business-Kontext wird


gesprochen, wenn tief greifende und umfassende Veränderungen im Unter-
nehmen anstehen, die über regelmäßig vorzunehmende kleinere Anpassun-
gen im täglichen Geschäftsprinzip deutlich hinausgehen.

Es lassen sich viele Beispiele für die verschiedenen Arten des Change-Managements fin-
den:

• Change-Management auf der Ebene von organisatorischen Strukturen


In diesem Fall wird die Aufbauorganisation eines Unternehmens, die sich im Orga-
nigramm widerspiegelt, durchgreifend verändert. Hier wird häufig auch von einer
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 135

Reorganisation gesprochen. Eine solche Weiterentwicklung wurde beispielsweise


im Volkswagen-Konzern notwendig, um das Unternehmen nach der Aufdeckung des
Einsatzes von Software zur Manipulation von Abgaswerten neu auszurichten. Hierzu
wurden u. a. Ressortzuständigkeiten verändert und neue Vorstandspositionen (bei-
spielsweise der Bereich „Integrität und Recht“) geschaffen. Gleichzeitig wird bei
Volkswagen auch ein Kulturwandel angestrebt, um die bisher dominierende zentrali-
sierte und stark hierarchisch geprägte Unternehmensführung, die wenig Widerspruch
duldete, zu überwinden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine solche organisa-
torische Veränderung wie auch ein Kulturwandel zur erfolgreichen Umsetzung häufig
mehrere Jahre benötigt.
• Change-Management auf der Ebene von Prozessen
Eine durchgreifende Veränderung unternehmensinterner Prozesse ist beispielsweise
dann gegeben, wenn die Einkaufsaktivitäten des Unternehmens aufgrund von stra-
tegischen Vorgaben zur Kostenreduktion neu auszurichten sind. Hierzu können Vor-
gaben wie Multiple Sourcing (Einbindung von mehreren, ähnlich leistungsstarken
Lieferanten), Global Sourcing (internationale Ausschreibung bei Beschaffungsprozes-
sen), Just-in-time-Anlieferung, Vergrößerung oder Verkleinerung der eigenen Wert-
schöpfungsanteile definiert werden. Auch die zunehmende Vernetzung mit vor- und
nachgelagerten Leistungspartnern zum Aufbau von Wertschöpfungssystemen gehört
in diese Kategorie (vertiefend Kreutzer und Land 2015). Auch die Einführung eines
unternehmensweiten CRM-Systems (CRM für Customer-Relationship-Management)
zur zielorientierten Ausgestaltung von Kundenbeziehungen gehört in diese Kategorie
der Veränderungen (weiterführend Kreutzer und Land 2016).
• Change-Management auf der Ebene von Geschäftsfeldern
Ein Change-Management in diesem Bereich kann zum einen mit dem Verkauf gan-
zer Geschäftsfelder oder Unternehmensbereiche einhergehen, die nicht mehr zur
weiterentwickelten Unternehmensstrategie passen. Das war beispielsweise bei Nokia
der Fall, als diese ihre Not leidende Handysparte an Microsoft verkauft haben. Hier
kann auch von einer Turnaround-Aufgabe gesprochen werden, um dem Unterneh-
men Nokia eine profitable Zukunft zu ermöglichen. In diese Kategorie fällt auch der
Einstieg in neue Geschäftsfelder, die zur Ausfüllung einer neuen Unternehmensstra-
tegie notwendig werden. Dies war beispielsweise der Fall, als Apple in den Bereich
der Wearables (im Sinne von tragbaren, mit dem Internet verbundenen Produkten)
einstieg und in diesem Geschäftsfeld die iWatch entwickelte. Diese Veränderungen
implizieren in der Regel auch Veränderungen bei den Prozessen und Strukturen des
Unternehmens (weiterführend Kreutzer und Land 2016). Im Kern handelt es sich bei
diesen Aufgabenstellungen um Beispiele für das Portfolio-Management, bei dem die
Handlungsfelder, in denen das Unternehmen tätig sein soll, neu „sortiert“ werden.
• Change-Management auf der Ebene des ganzen Unternehmens
In dieser Stufe wird gleichsam das gesamte Unternehmen neu ausgerichtet. Das war
beispielsweise der Fall, als der CEO Döpfner des Axel Springer Verlages 2002 das
Ziel der digitalen Transformation definierte: „Wir wollen der führende digitale Verlag
136 R. Kreutzer und K.-H. Land

werden.“ Im Zuge des sich anschließenden Transformationsprozesses wurden nicht


nur Geschäftsfelder verkauft (beispielsweise die Programmzeitschrift Hörzu sowie
die Tageszeitung Hamburger Abendblatt), sondern auch neue Geschäftsfelder auf-
gebaut (wie etwa Zanox, kaufda). Außerdem wurden für verschiedene Printprodukte
Paywalls – das heißt Bezahlschranken – für den Online-Zugriff auf die entsprechen-
den Inhalte aufgebaut (weiterführend Kreutzer et al. 2016). Auch eine Fusion von
Unternehmen, wie sie beispielsweise der gescheiterte Merger zwischen Daimler und
Chrysler darstellt, gehört in diese Kategorie weitgreifender Veränderungen. Derartige
Umbrüche auf Unternehmensebene strahlen immer auch auf die Prozessen und Struk-
turen sowie die bewirtschafteten Geschäftsfelder des Unternehmens aus und stellen
damit die umfassendste Form von Veränderungsprozessen dar.

In Abhängigkeit davon, um welche inhaltliche Ausgestaltung des Change-Managements


es sich handelt, sind die Mitarbeiter der entsprechenden Unternehmen in unterschiedli-
chem Maße betroffen. Das jeweilige Ausmaß kann anhand der Matrix der Betroffen-
heit in Abb. 8.1 ermittelt werden. Hierbei wird zwischen den beiden Achsen „Ausmaß
der Veränderungen in Denkhaltung und Verhaltensmustern“ sowie „Ausmaß der
Bedrohung“ unterschieden. Diese Matrix ermöglicht eine Typologie der wahrgenom-
menen Veränderungen. Gleichzeitig werden dort typische Verhaltensmuster ausgewiesen,
die als Reaktion auf die sich abzeichnenden Veränderungen zu erwarten sind. Aus dieser
leiten sich die Aufgaben für das Change-Management und die damit betrauten Manager
ab. Werden das Ausmaß der Veränderungen und die persönliche Bedrohung als gering
eingestuft, ist Desinteresse an den ergebenen Konsequenzen die Folge. Wird das Ausmaß
der Veränderungen als gering, die persönliche Bedrohung dagegen als hoch angesehen,
sind Furcht und eine Gefühl der Machtlosigkeit die oft festzustellende Reaktion. Fällt
das Ausmaß der Veränderungen dagegen hoch aus, während die persönliche Bedrohung

Abb. 8.1   Matrix der


Betroffenheit: Typologie
Hoch

der wahrgenommenen Furcht,


Furcht,
Ausmaß der Bedrohung

Veränderungen Gefühl der


Reaktanz
Machtlosigkeit

Desinteresse,
Desinteresse
Reaktanz
Niedrig

Niedrig Hoch
Ausmaß der Veränderungen in
Denkhaltung und Verhaltensmustern
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 137

Abb. 8.2   Einordnung Turnaround


verschiedener Change-

Hoch
Digitale Transformation
Auslöser in die „Matrix der Fusion

Ausmaß der Bedrohung


Betroffenheit“ Reorganisation
Verkauf des Kostenreduktion
Unternehmens Einführung
CRM-System
Portfoliomanagement
Kulturwandel

Niedrig
Neue Vision

Niedrig Hoch
Ausmaß der Veränderungen in
Denkhaltung und Verhaltensmustern

niedrig ausfällt, können auch hier Desinteresse, ggf. auch Reaktanz im Sinne einer
Ablehnung der Veränderungen die Folge sein. Sind allerdings das Ausmaß der Verände-
rungen und die persönliche Bedrohung hoch ausgeprägt, paaren sich Angst und Reaktanz
zu einer explosiven Mischung.
Die Analyse anhand der Matrix der Betroffenheit ist aus der Perspektive jedes ein-
zelnen Mitarbeiters vorzunehmen. Denn gleiche Veränderungen können vor dem Hinter-
grund der individuellen Erfahrungen jedes einzelnen Mitarbeiters ganz unterschiedlich
interpretiert und bewertet werden. Junge, risikofreudige Mitarbeiter können solche Ver-
änderungen als eine Karrierechance wahrnehmen, während etablierte und häufig auch
ältere Mitarbeiter um ihren erarbeiteten Besitzstand fürchten. Welche Reaktionen „typi-
scherweise“ bei bestimmten Veränderungsprozessen zu erwarten sind, zeigt Abb. 8.2.
Die dabei vorgenommene Einschätzung kann zwischen den betroffenen Mitarbeitern
divergieren. Mehrheitlich lassen sich die verschiedenen Auslöser der Change-Prozesse
hinsichtlich der zu erwartenden Reaktionen allerdings in dieser Weise verorten.

8.4.1 Ausgestaltung des Change-Managementprozesses

Bei der Ausgestaltung des Change-Managementprozesses kann klassisch zwischen ver-


schiedenen Phasen unterschieden werden. Die grundlegenden Ausführungen hierzu
gehen auf Lewin (1947) zurück:

• Auftauphase (Unfreezing)
Der Startpunkt für jede Art von Veränderungsprozessen ist die Erkenntnis, dass der
unternehmerische Status quo – auf den unterschiedlich diskutierten Ebenen – den
Anforderungen der Märkte und/oder der Unternehmensstrategie nicht mehr gerecht
138 R. Kreutzer und K.-H. Land

wird. Die Notwendigkeit von Veränderungsprozessen tritt immer mehr in das


Bewusstsein der betroffenen Personen ein. Um Veränderungen zu ermöglichen, muss
dann gleichsam ein „Auftauen“ des bestehenden Zustands erreicht werden. Nur so
kann die Bereitschaft zu Veränderungen erzielt werden. Weil sich das Unternehmen
vor der Einleitung des Veränderungsprozesses häufig in einem Gleichgewichtszustand
befindet, werden hier allerdings viele Kräfte frei, um den erreichten Zustand zu erhal-
ten. Um solche Beharrungskräfte zu überwinden, ist in dieser Phase die angestrebte
Zielrichtung des Change-Prozesses herauszuarbeiten – damit nachvollziehbar wird,
warum ein Wandel notwendig ist.
• Bewegungsphase (Moving)
In dieser Phase besteht die Aufgabenstellung darin – orientiert an den Change-Zielen –,
notwendige Veränderungen einzuleiten. Dabei gilt es, sich von „Liebgewordenem“ zu
verabschieden und in vielen Bereichen Neuland zu betreten. Der häufig ausbalancierte
Zustand im Unternehmen wird verlassen, um Raum für neue Strukturen, Prozesse,
Geschäftsfelder und Unternehmensstrategien zu schaffen. Es gilt dabei, einen neuen
Gleichgewichtszustand zu definieren und diesen dann anzustreben und zu erreichen.
• Einfrierphase (Refreezing)
In der dritten Phase wird versucht, die Verankerung des neuen Gleichgewichtszu-
stands zu erreichen. Hierfür ist es entscheidend, dass zur Verankerung dieses neuen
Zustands flankierende Prozesse zum Einsatz kommen (beispielsweise durch an die
neue Strategie angepasste Anreizsysteme für die Mitarbeiter). Das Beharrungsvermö-
gen in Unternehmen kann sonst dazu führen, dass man schnell in den „alten Trott“
zurückkehrt und der Change-Prozess scheitert. Das Wiedereinfrieren des neuen Soll-
zustandes in der Unternehmung ist eine notwendige Voraussetzung, damit die Verän-
derungen nachhaltig werden.

Häufig wird das angestrebte Ziel eines neuen Gleichgewichtszustands nicht, nicht umfas-
send und/oder nicht im geplanten Zeitkorridor erreicht. Welche Ursachen können dafür
ermittelt werden? Erfahrungen mit Change-Managementprozessen zeigen immer wie-
der, dass sieben große Hindernisse für ein erfolgreiches Change-Management bestehen
(Braun et al. 2016; Reeves, 2015; Bruch und Menges 2010; Bruch und Vogel 2008).
Diese nachfolgend zusammengefassten Hindernisse sind im Zuge des oben beschriebe-
nen Prozesses erfolgreich zu überwinden:

• Die fehlende Einsicht in die Notwendigkeit des Change-Prozesses bei Führungs-


kräften und Mitarbeitern stellt häufig die größte Hürde bei der Umsetzung von Verän-
derungen dar.
• Das Fehlen einer Leitfigur für den Change-Prozess auf Topmanagementebene
untergräbt die Akzeptanz der geforderten Veränderungen.
• Ein Mangel an Erfahrung mit Change-Prozessen bei Führungskräften und Mitar-
beitern erschwert die erfolgreiche Umsetzung.
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 139

• Unzureichendes Know-how zur Bewältigung neuer Aufgaben verlangsamt den


Transformationsprozess.
• Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Personen, Ebenen und Abteilungen binden
wichtige Energie auf Nebenkriegsschauplätzen.
• Das Fehlen eines korrespondierenden Entlohnungssystems – ausgerichtet auf die
neuen Anforderungen – kann als unzureichende Zustimmung des Managements fehl-
verstanden werden.
• Die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit zum Wandel von Teilen des Managements sowie
der Mitarbeiter stellt ebenfalls ein großes Hindernis dar.

Eine typische Ausgangssituation bei Change-Prozessen, die auch in eigenen Projekten


immer wieder festgestellt werden konnte, zeigt Abb. 8.3. Ob Führungskräfte und Mitar-
beiter der Veränderung positiv oder negativ gegenüberstehen, ist vom Ausmaß der wahr-
genommenen persönlichen Risiken abhängig. Beim Management des Change-Prozesses
ist davon auszugehen, dass – insbesondere beim Start – einem kleinen Promotoren-
team eine große Mehrheit negativ eingestellter Personen gegenübersteht. Dazu zählen
Skeptiker, die nicht an den Erfolg des Prozesses glauben. Die Widerständigen und vor
allem die Bremser stellen sich den Veränderungen bewusst entgegen. Sie verschleppen
Entscheidungen und boykottieren konsequent deren Umsetzung. Wenn Personen mit
solchem Widerstandspotenzial im Laufe des Veränderungsprozesses nicht für die Sache
gewonnen werden oder das Unternehmen verlassen, wird der Change-Prozess scheitern.

 Deshalb gilt hier die wichtige Leitidee: „Betroffene zu Beteiligten machen“.

Idealerweise gelingt es sogar, Führungskräfte und Mitarbeiter im Zuge des Change-


Prozesses nicht zu „Erfüllern“, sondern zu „Erfüllten“ zu machen. Deshalb sind gerade
auch die Bremser, Widerständigen und Skeptiker konsequent in den Change-Prozess mit

Positiv Eingestellte Negativ Eingestellte

Promotoren Skeptiker Widerständige Bremser


(ca. 5 %) (ca. 40 %) (ca. 15 %) (ca. 40 %)

Sehr gering Gering Hoch

Ausmaß der wahrgenommenen persönlichen Risiken

Abb. 8.3  Typische Ausgangssituation bei Change-Prozessen


140 R. Kreutzer und K.-H. Land

entsprechenden Aufgaben einzubinden. Dabei ist darauf zu achten, dass einzelne Teams
nicht nur aus Bremsern oder Skeptikern bestehen. In allen Teams sind die Promotoren
besonders gefordert. Diese Promotoren sind als Change-Manager zu schulen und zu
installieren; denn sie stellen die zentrale Ressource für die erfolgreiche Ausgestaltung
des Change-Prozesses dar.
Wer für die erfolgreiche Gestaltung eines Change-Managementprozesses verantwort-
lich zeichnet, sollte sich mit den typischen Verhaltensmustern innerhalb eines solchen
Prozesses beschäftigen. Diese sind in Abb. 8.4 anhand der Zeitachse und der eigenen
wahrgenommenen Kompetenz dargestellt. Wird Führungskräften und Mitarbeitern ein
tief greifender Veränderungsprozess in Aussicht gestellt, so wird dadurch häufig zunächst
eine Schockreaktion ausgelöst. Die wahrgenommene eigene Kompetenz sinkt, weil die
betroffene Person noch nicht genau weiß, wie sie reagieren und die neuen Herausfor-
derungen meistern soll. Wenn sich Körper und Geist vom Schock erholt haben, zeigen
viele Betroffene Ablehnung bzw. Rückzug. Dabei steigt die wahrgenommene Kompetenz
wieder an, weil jetzt – allerdings nur scheinbar – eine Lösung existiert: dagegenhalten.
Für Führungskräfte tritt dieses Verhalten der Mitarbeiter häufig unerwartet und deshalb
auch überraschend auf. Jeder Manager, der sich mit einem solchen Verhaltensmuster
konfrontiert sieht, sollte sich vor Augen führen, dass diese Abwehr dem ganz normalen
menschlichen Verhalten im Zuge eines Change-Prozesses entspricht.
Idealerweise folgt – informationsgestützt – auf die Phase der Ablehnung die rationale
Akzeptanz der Situation. Hierbei fügt sich die betroffene Person rational in ihr Schick-
sal, hat es emotional aber noch nicht verarbeitet. Deshalb schließt sich idealerweise bei
den betroffenen Personen die emotionale Akzeptanz der Situation an. Dass diese Pha-
sen tatsächlich erreicht werden, ist die Aufgabe des Change-Managers. Jetzt sollten sich
Lernphasen anschließen, um Führungskräfte und Mitarbeiter in die Lage zu versetzen,

Wahrgenommene
eigene Kompetenz

7. Integration

2. Ablehnung/
Rückzug
6. Commitment
3. Rationale
5. Lernen
Akzeptanz
der Situation

1. Schock 4. Emotionale
Akzeptanz
der Situation
Zeit

Abb. 8.4  Klassischer Verlauf eines Change-Managementprozesses


8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 141

sich auf die neuen Aufgaben und die neuen Herausforderungen vorzubereiten. Hierfür
müssen im Change-Prozess beispielsweise Schulungen, Trainings und Coachings ange-
boten werden. Denn dieses Lernen erfolgt nicht von alleine. Nach mehreren Lernphasen
kann schließlich ein Commitment, ein rationales und emotionales „JA“ zur Veränderung
erreicht werden. Dies ist die Voraussetzung dafür, die Phase der Integration der neuen
Herausforderungen zu erreichen. In Abhängigkeit vom Ausmaß der Veränderung kann
dieser Prozess viele Monate oder sogar Jahre dauern!
Damit im Unternehmen erkannt werden kann, welcher Aufwand und welche Ressour-
cen für den Change-Managementprozess notwendig werden, ist die Intensität der Ver-
änderung für die betroffenen Bereiche und Abteilungen zu erfassen. Hier können zwei
Dimensionen berücksichtigt werden:

• Ausmaß der Bedrohung – aus der Perspektive jedes einzelnen Mitarbeiters.


Dabei gilt: Je größer das Ausmaß der wahrgenommenen Bedrohung, desto stärker ist
das Bedürfnis nach Orientierung in der gesamten Organisation gegeben.
• Umfang der notwendigen Veränderungen in Denkhaltung und Verhaltensmus-
tern – bezogen auf jeden einzelnen Mitarbeiter.
Das bedeutet: Je umfangreicher diese Veränderungen ausfallen, desto mehr ist mit
Unwillen und Widerstand zu rechnen, desto stärker werden Abwehrreaktionen ausfallen.

Wichtig ist, dass sich die Change-Manager darüber bewusst sind, welche Einflussfak-
toren des Change-Prozesses zu berücksichtigen sind. Hier hilft der Blick auf das Eis-
berg-Modell in Abb. 8.5. Eher rational gesteuerte Manager fokussieren im Zuge eines
Change-Prozesses – aber nicht nur dann – auf die sichtbare Ebene der „Facts and Figu-
res“. Allerdings lässt sich allein auf dieser Ebene kein Change-Prozess erfolgreich

Ebene der Sichtbar


Fakten Inhalte, Pflichten, Zeitleisten,
Guidelines etc.
Werte
Status Liebe
Gewogenheit
Psychologi- Ungeschriebene
Sicherheit Unsichtbar
sche Ebene Sympathie Gesetze

Wünsche Mut
Wut
Akzeptanz
Beziehungen Angst

Abb. 8.5  Einflussfaktoren des Change-Prozesses


142 R. Kreutzer und K.-H. Land

gestalten. Von deutlich größerer Bedeutung sind die unsichtbaren Elemente der psycho-
logischen Ebene. Diese sind im Zuge des Change-Prozesses umfassend zu berücksichti-
gen, weil sich hier die Akzeptanz oder der Widerstand gegen Veränderungen manifestiert
(weiterführend Schein 2003).

 Eines ist in Ergänzung zu diesen Faktoren herauszustellen: Das größte Hinder-


nis für einen Change-Prozess ist der (bisherige) Erfolg!

Die Verweigerung, Handlungsnotwendigkeiten zu erkennen, und die ablehnende Haltung


gegenüber Neuerungen gilt es durch die Unternehmensführung zu überwinden. Und jede
Art von Führung beginnt immer zunächst mit der Führung der eigenen Person. Deswegen
kann diese Aufgabe insbesondere des Top- und Middle-Managements nicht delegiert wer-
den. An deren Verhalten und damit auch deren Bereitschaft, „Ja“ zu den notwendigen Verän-
derungen zu sagen, werden sich die anderen Mitarbeiter in hohem Maße orientieren.
Um einen Change-Prozess erfolgreich zu gestalten, sind verschiedene Vorausset-
zungen zu erfüllen (vgl. Abb. 8.6). Es gilt an erster Stelle, eine überzeugende Vision
zu vermitteln und die zur Umsetzung notwendigen Fähigkeiten im Unternehmen auf-
zubauen. Zusätzlich bedarf es einer Koordination zur Harmonisierung und Vernetzung
der einzelnen Umsetzungsschritte. Zusätzlich sind – wie bereits angesprochen – die
für den Veränderungsprozess notwendigen Ressourcen bereitzustellen: finanziell, per-
sonell und zeitlich. Um ein koordiniertes und zielorientiertes Handeln sicherzustellen,
bedarf es eines Aktionsplans mit konkreten Milestones, der umfassend zu kommuni-
zieren ist. Schließlich bedarf es eines Commitments – vom Topmanagement bis zum
„letzten“ Mitarbeiter. Wenn alle Elemente gleichermaßen berücksichtigt werden, ist der
gewünschte Wandel zu erreichen. Wann immer auch nur ein Element nicht beachtet
wird, ist ein Scheitern auf unterschiedliche Weise vorprogrammiert.

Vision Fähigkeiten Koordination Ressourcen Aktionsplan Commitment Wandel

Fähigkeiten Koordination Ressourcen Aktionsplan Commitment Konfusion

Vision Koordination Ressourcen Aktionsplan Commitment Angst

Vision Fähigkeiten Ressourcen Aktionsplan Commitment Ärger

Vision Fähigkeiten Koordination Aktionsplan Commitment Frustration

Vision Fähigkeiten Koordination Ressourcen Commitment Stillstand

Oberflächlicher
Vision Fähigkeiten Koordination Ressourcen Aktionsplan
Wandel

Abb. 8.6  Voraussetzungen eines erfolgreiches Change-Managements


8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 143

Fehlt es an der unternehmerischen Vision, kommt es zur Konfusion (vgl. Abb. 8.6).


Alle oder viele bewegen sich – allerdings nicht im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel,
weil dieses nicht kommuniziert wurde. Angst stellt sich ein, wenn bei den betroffenen
Mitarbeitern die notwendigen Fähigkeiten für die Umsetzung der Neuausrichtung feh-
len und auch keine Möglichkeit geschaffen wird, sich diese anzueignen. Und Angst ist
immer ein denkbar schlechter Ratgeber! Ärger und auch Wut sind die Folge, wenn die
einzelnen Schritte nicht aufeinander abgestimmt sind und deshalb viel „für den Papier-
korb“ gearbeitet wird. Frustration baut sich auf, wenn die Ressourcen für die als not-
wendig erkannten Veränderungsschritte fehlen und man deshalb „heiß“ läuft. Fehlt
ein Aktionsplan, so droht Stillstand – weil sich keiner in die falsche Richtung bewe-
gen möchte. Fehlt schließlich das Commitment, wird nur ein oberflächlicher Wandel
erreicht. Nur scheinbar nimmt das Unternehmen Fahrt auf – unter der Oberfläche bleibt
allerdings alles beim Alten! Es wird einmal mehr deutlich, wie umfassend die Aufgaben-
stellung des Change-Managements begriffen werden muss.

Die nachfolgenden Werkzeuge eines erfolgreichen Change-Managements soll-


ten vor diesem Hintergrund konsequent eingesetzt werden:

• Den Startschuss für den Change-Prozess hat der CEO oder die Geschäftsfüh-
rung des Unternehmens zu geben. Dabei ist es wichtig, dass deren Beiträge für
den Gesamtprozess laufend sichtbar werden und die Ziele und Handlungsnot-
wendigkeiten prägnant formuliert werden. Dabei ist es besonders wichtig, dass
den „Worten“ auch angemessene „Taten“ folgen.
• Ein engagierter Mentor in der Unternehmensleitung begleitet den kompletten
Veränderungsprozess und hilft kontinuierlich dabei, (neue) Hindernisse zu über-
winden.
• Es bedarf einer kontinuierlichen Kommunikation der Change-Verantwortli-
chen mit der Unternehmensleitung, um die Unternehmensführung in den Pro-
zess einzubinden und sich deren Rückhalt laufend zu sichern. Dabei gilt es, die
definierten Milestones auf ihre Erreichung zu prüfen und ggf. weitere Maßnah-
men zur Zielerreichung einzuleiten.
• Nach Kick-off-Meetings für die Gesamtheit der Mitarbeiter sind kontinuier-
lich Abteilungsmeetings zum Thema „Change“ durchzuführen, damit für alle
Mitarbeiter auf allen Ebenen nachvollziehbar ist, welche Richtung angestrebt
wird und welche eigenen Beiträge erwartet werden. So wird durch Transparenz
über den Prozess die notwendige Orientierung geschaffen, die zu einem koordi-
nierten Arbeiten notwendig ist (Frisch und Greene 2016).
• Um die Motivation für die – häufig zusätzlich zum Tagesgeschäft erbrachten –
Aufgaben zu fördern, sind diese Leistungsbeiträge der einzelnen Mitarbeiter
sowie der Teams angemessen zu würdigen. Den Führungskräften kommt dabei
144 R. Kreutzer und K.-H. Land

die wichtige Aufgabe zu, erreichte Erfolge für alle sichtbar zu machen und
besondere Leistungsbeiträge auch zu incentivieren.
• Im Zuge des Change-Prozesses sind die neuen oder zusätzlichen Anforde-
rungen an die Mitarbeiter sowie deren Verantwortlichkeiten frühzeitig und
transparent zu präzisieren. Dann kehrt zunehmende Ruhe in die Organisation
ein, weil bekannt ist, welchen veränderten Anforderungen Rechnung zu tragen
ist.
• Die individuellen Leistungsbewertungen sind auf die neuen Zielvorgaben
auszurichten, um die gewünschten neuen Verhaltensmuster auch entsprechend
zu belohnen und langfristig zu verankern. Denn warum soll eine Person ein
neues Verhalten zeigen, wenn noch das „alte Verhalten“ belohnt wird?

Jedes Unternehmen ist beraten, über den Veränderungsprozess eine bewährte Tool-Box
einzusetzen, um die gewünschten Ziele zu erreichen (auch Christensen et al. 2016).
Um nachhaltige Veränderungen zu erreichen, ist ein Change-Controlling zu instal-
lieren! Eine zentrale Voraussetzung dafür stellt die Formulierung von präzisen Change-
Zielen dar. Das Change-Controlling erzwingt eine Präzision in der Implementierung und
macht (ungewünschte) Abweichungen schnell für alle sichtbar! Solche Abweichungen
sind zeitnah zu eskalieren, damit diese auch auf der Ebene der Unternehmensführung
erkannt werden und entsprechend gegengesteuert werden kann. Außerdem unterstreicht
die Installation eines Change-Controllings die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit der
angestrebten Veränderungen! Im gesamten Unternehmen wird deutlich, dass die defi-
nierte Veränderung tatsächlich nachhaltig angestrebt wird.

8.4.2 Umsetzung des Change-Managements am Beispiel einer


digitalen Transformation

Angesichts der zunehmenden Durchdringung von Prozessen, Strukturen, Geschäftsbe-


reichen und ganzen Unternehmen durch die Digitalisierung stellt sich für viele Unter-
nehmen die Frage nach einer notwendigen digitalen Transformation. Dabei gilt es
zunächst festzustellen, an welcher Stufe jedes einzelne Unternehmen zu Beginn dieses
Transformationsprozesses steht. Hierbei hilft ein Blick auf Abb. 8.7. Nimmt das betrof-
fene Unternehmen noch die Position eines Zuschauers ein, der die Veränderung der
Kräfteverhältnisse auf den Märkten und damit das „Neue“ interessiert betrachtet, ohne
schon echter Zuhörer zu sein? Dann ist beispielsweise kein Web-Monitoring im Einsatz,
um durch einen intensiven Dialog mit den Zielgruppen deren Erwartungshaltungen für
die nächsten Jahre zu erfahren. Oder gehört das Unternehmen schon in die Kategorie
Analyst der Veränderungen, womit eine tiefer gehende Durchleuchtung der durch die
Digitalisierung und Dematerialisierung definierten Herausforderungen im Hinblick auf
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 145

Art der Beschäftigung mit der sozialen und digitalen Revolution

Aktive
Mitarbeit als
Tagesgeschäft

Strategische und
organisatorische
Verankerung

Pilotierung
erster
Testprojekte

Analyst der
Veränderungen

Zuhörer

Zuschauer

Zeit

Abb. 8.7  Wo steht das Unternehmen im Prozess der digitalen Transformation?

das eigene Geschäftsmodell einhergeht (vertiefend Kreutzer und Land 2015)? Oder ist
schon eine Pilotierung erster Testprojekte erfolgt, um die Chancen der Digitalisierung
in neuen Geschäftsideen auszuloten? Es kann auch sein, dass das Unternehmen auch
bereits die Stufe der strategischen und organisatorischen Verankerung der digitalen
Herausforderungen erkannt hat und längst eine digitale Wertschöpfungskette installiert
hat. Nur wenige Unternehmen haben schon die Stufe einer aktiven Mitarbeit als Tages-
geschäft erreicht und sind damit auf dem Weg der digitalen Transformation schon sehr
weit vorangekommen. Dann wird beispielsweise nicht mehr zwischen „analog“ und
„digital“ unterschieden, weil die Strukturen, Prozesse und Leistungsangebote ganzheit-
lich auf die Integration der Möglichkeiten einer Digitalisierung abgestimmt sind und die
digitale Transformation damit abgeschlossen wurde.
Basierend auf dieser Grobanalyse gilt es, in die verschiedenen Phasen der digitalen
Transformation einzusteigen. In welchen Stufen sich dieser Prozess entwickeln kann,
zeigt Abb. 8.8. Viele Unternehmen sind hinsichtlich der erforderlichen Transformation
nach wie vor in der Stufe 1: Experimentelle Phase verhaftet – so sie überhaupt schon
gestartet sind. Hier geht es darum – oft ohne dezidierte Zuweisung von personellen und
finanziellen Ressourcen –, erste Gehversuche ohne wirkliches Commitment der Unter-
nehmensleitung zu unternehmen. Verteilt über die gesamte Organisation wird unkoor-
diniert versucht, erste Lösungsideen für die sich abzeichnenden Herausforderungen zu
definieren.
146 R. Kreutzer und K.-H. Land

Etwas weiter vorangekommen auf dem Weg der digitalen Transformation sind die
Unternehmen der Stufe 2: Aufbau von digitalen Inseln (vgl. Abb. 8.8). Hier werden
unternehmensintern beispielsweise erste Social-Media-Anwendungen gestartet und es
wird mit eingeschränktem Personal- und Finanzeinsatz operiert. Eine Social-Media-
Gesamtstrategie lässt sich allerdings auch hier nicht erkennen. Es wird punktuell geprüft,
welche Chancen und Risiken mit der zunehmenden Digitalisierung für eigene Produkte
und Dienstleistungen einhergehen. Eine Digitalstrategie fehlt nach wie vor.
In der Stufe 3: Etablierung von singulären digitalen Lösungen sind die Ziele für
die Nutzung der sozialen Medien und die Digitalisierung formuliert (vgl. Abb. 8.8). Eine
Gesamtstrategie für die Social-Media-Aktivitäten ist erarbeitet. Auch die Grundstruk-
turen einer Digitalstrategie liegen vor; allerdings ist diese noch nicht komplett ausge-
arbeitet. Erste KPIs zur Berücksichtigung der Ausschöpfung der sozialen und digitalen
Potenziale durch die Führungskräfte und Mitarbeiter sind definiert und fließen in die
leistungsorientierte Entlohnung ein. Eine zielorientierte Bereitstellung von Personal und
Budget für die Erarbeitung sozialer und digitaler Lösungskonzepte ist erfolgt.
In der Stufe 4: Digitale Transformation der gesamten Organisation ist eine
digitale Wertschöpfungskette als Ergänzung zur klassischen Wertschöpfungskette im
Unternehmen installiert (vgl. Abb. 8.8). Die Potenziale der sozialen Medien sowie die
digitalen Möglichkeiten zur Ausgestaltung von Produkten und Dienstleistungen werden

4.
2. 3. Digitale
1.
Experimentelle Aufbau von Etablierung von Transformation
Phase digitalen Inseln singulären digitalen der gesamten
Lösungen Organisation
Sporadischer
Einsatz der Start von ersten
sozialen Social-Media-
Medien Anwendungen Ziele für die Nutzung der
Teilweise als Fehlen einer sozialen Medien und die Etablierung einer digitalen
Alibi-Engage- Gesamtstrategie für Digitalisierung sind Wertschöpfungskette als
ment gedacht die getätigten Social- formuliert Ergänzung zur klassischen
Teilbereiche Media-Aktivitäten Eine Gesamtstrategie für Wertschöpfungskette
beschäftigen Chancen und Risiken die Social-Media-Aktivitäten Soziale und digitale
sich (unabge- der Digitalisierung und die Grundstrukturen Potenziale von Produkten
stimmt) mit werden für einzelne einer Digitalstrategie liegen und Dienstleistungen
digitalen eigene Produkte und vor werden im Planungsprozess
Konzepten Dienstleistungen Digitale und analoge Touch- integriert beleuchtet
Keine Budget- untersucht points werden vernetzt Digitalisierung hat die
und Personal- Eine Digitalstrategie Entsprechende KPIs für gesamte Organisation
zuweisung fehlt nach wie vor Führungskräfte und durchdrungen
Eingeschränkter Mitarbeiter sind im Einsatz Holistische Betrachtung der
Einsatz von Personal Zielorientierte Bereitstellung Kundenführung – über
und Budget von Personal und Budget digitale und analoge
für die Erarbeitung sozialer Customer Touchpoints
und digitaler hinweg
Lösungskonzepte

Abb. 8.8  Entwicklungsstufen der digitalen Transformation


8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 147

im Planungsprozess systematisch ausgeleuchtet. Eine Unterscheidung in „digital“ und


„analog“ wird hinfällig. Die Digitalisierung hat somit die gesamte Organisation durch-
drungen. Auch bei der Kundenführung findet eine holistische Betrachtung statt. Digitale
und analoge Customer Touchpoints sind vollständig integriert. Die digitale Transforma-
tion ist erfolgt; eine ggf. erforderliche Geschäftsmodellinnovation ist erfolgreich etabliert
(Schallmo 2014; Kreutzer et al. 2016).
Es ist nachvollziehbar, dass der beschriebene Prozess eines systematischen Change-
Managements bedarf. Schließlich werden etablierte Visionen, Werte, Ziele, Strategien,
Verantwortlichkeiten, Budgets, Abläufe, Reporting-Wege und Strukturen einem grund-
legenden Veränderungsprozess unterzogen. Dabei ist die gesamte Aufbau- und Ablauf-
organisation auf den Prüfstand zu stellen und häufig umfassend weiterzuentwickeln. In
diesem Zusammenhang sind auch bestehende Informations- und Prozesssilos aufzubre-
chen (weiterführend Hamel 2012).
Die digitale Transformation im Sinne einer Ausrichtung des gesamten Unternehmens
an den Möglichkeiten und Notwendigkeiten des digitalen Zeitalters erfordert ein syste-
matisches Change-Management. Dabei gilt, dass dieser Prozess immer intern beginnen
muss – erst in den Köpfen und Herzen der Führungskräfte und Mitarbeiter, dann in den
Strukturen und Abläufen. Erst dann sollten die Ergebnisse der digitalen Transformation
nach außen getragen werden.

Dabei ist sicher


Im Zuge dieses Prozesses müssen wichtige Komfortzonen aufgegeben werden, in
denen man es sich gemütlich gemacht hat und die einem vertraut sind! Erst nachdem
dies gelungen ist, sollte das Engagement nach außen sichtbar werden!

Literatur

Braun, G., Domke, B., Höhmann, I., Kestel, C., & Leitl, M. (2016). Nur Mut! Umfrage zu Verän-
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nehmen/presse/pressemitteilungen-20-jahre-d2-netz_202229.html.

Über die Autoren

Prof. Dr. Ralf T. Kreutzer  ist seit 2005 Professor für Mar-
keting an der Berlin School of Economics and Law sowie
Marketing und Management Consultant. Er war 15 Jahre in
verschiedenen Führungspositionen bei Bertelsmann (letzte
Position Leiter des Auslandsbereichs einer Tochtergesell-
schaft), Volkswagen (Geschäftsführer einer Tochterge-
sellschaft) und der Deutschen Post (Geschäftsführer einer
Tochtergesellschaft) tätig, bevor er 2005 zum Professor für
Marketing berufen wurde. Prof. Kreutzer hat durch regel-
mäßige Publikationen und Vorträge maßgebliche Impulse zu
verschiedenen Themen rund um Marketing, Dialogmarke-
ting, CRM/Kundenbindungssysteme, Database-Marketing, Online-Marketing, Social-
Media-Marketing, Digitalen Darwinismus, strategisches sowie internationales Marketing
gesetzt und eine Vielzahl von Unternehmen im In- und Ausland in diesen Themenfeldern
beraten.
8  Ausgestaltung der digitalen Transformation 149

Karl-Heinz Land ist digitaler Darwinist und Evange-


list und Gründer der Strategieberatung neuland. Er erhielt
2006 den „Technology Pioneer Award“ auf dem World
Economic Forum (WEF) in Davos und dem „Time Maga-
zine“ und ist Co-Autor des Bestsellers „Digitaler Darwinis-
mus – Der stille Angriff auf Ihr Geschäftsmodell und Ihre
Marke“ und des Buchs „Dematerialisierung – Die Neuver-
teilung der Welt in Zeiten des digitalen Darwinismus“. Als
Impulsgeber, Coach, zitierter Vordenker und internatio-
naler Redner schafft er ein Bewusstsein für das sich rasant
verändernde Marktgeschehen und die Dringlichkeit der
Veränderung. Karl-Heinz Land ist Senator im Senat der Wirtschaft und engagiert sich
für die digitale Arbeitsgruppe. Als Keynote-Speaker und Berater wird er nicht nur von
führenden Konzernen und international agierenden Weltmarktführern als Vortragsred-
ner eingeladen, sondern spricht auch auf internationalen Events wie dem Mobile World
Congress, der Facebook Marketing Conference, der TED oder der Advertising Week. Er
gilt als Visionär und berät Unternehmen in Fragen der digitalen Transformation mit den
Schwerpunkten Geschäftsmodelle, E-Commerce, Cloud, Mobility, IoT, Big Data und
pflegt lang etablierte Beziehungen zu führenden Unternehmen und Start-ups in Europa
und im Silicon Valley. Karl-Heinz Land verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in
Führungspositionen u. a. bei Oracle, BusinessObjects, MicroStrategy, GrandCentrix und
VoiceObjects, hat selbst einige Start-ups gegründet, ist Investor sowie Aufsichtsratsmit-
glied für Unternehmen der Old und New Economy.
In Zukunft untrennbar: Agile
Produktentwicklung und Design 9
Thinking
Boris Gloger

Zusammenfassung
Im Ringen um Innovation und Geschwindigkeit sehen Unternehmen im Design Thin-
king und in agilen Management-Frameworks einen Weg, um in Zukunft bestehen zu
können. Als Kernelemente einer nutzerorientierten Unternehmenskultur gehören die
beiden Ansätze unweigerlich zusammen. Diese Haltung muss aber zunächst auf der
Führungsebene entstehen. HR-Spezialisten haben dabei eine Schlüsselrolle: Durch
die gezielte Arbeit mit dem Management können sie zukunftsfähigen Organisationen
den Weg bereiten.

Inhaltsverzeichnis

9.1 Hinführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152


9.2 Scrum oder das Unplanbare planen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
9.2.1 Agile Manifesto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
9.2.2 Wir reden heute von Scrum 3.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
9.2.3 Design Thinking. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
9.3 Die neue Arbeitswelt entsteht trotzdem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
9.4 HR als Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Über den Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

B. Gloger (*) 
boris gloger consulting GmbH, Baden-Baden, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 151


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_9
152 B. Gloger

9.1 Hinführung

In seinem Buch „The Sciences of the Artificial“ definiert Nobelpreisträger Herbert A.


Simon den Unterschied zwischen Wissenschaft und Profession: Während die Wissen-
schaft erkläre, wie die Natur ist und wie sie funktioniert, sei es die Aufgabe einer Profes-
sion, zu erklären, wie sich Artefakte mit gewünschten Eigenschaften herstellen lassen
und wie sie gestaltet werden müssen (Simon 1996). Simon sieht das aber nicht nur als
Aufgabe von Ingenieuren; es ist nicht nur ein physischer Prozess. „Design“ ist der Kern
jeder Profession. Jeder, der sich Wege ausdenkt, um aus einer bestehenden Situation eine
gewünschte Situation zu machen, ist aus Simons Sicht ein Designer. Design stellt sich
die Frage, wie die Dinge sein sollten. Diese Frage ist heute brennender denn je und sie
muss ergänzt werden: „Wie bringt man diese Dinge schneller auf den Markt?“ Hier tref-
fen zwei Strömungen aufeinander, die in den letzten Jahren die Diskussion über die
Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen auf globalisierten Märkten
maßgeblich beeinflusst haben: Design Thinking und agile Produktentwicklung.1
Aber sind das nicht zwei Strömungen für unterschiedliche Zielgruppen? Das eine
betrifft die Kreativen im Unternehmen und das andere die Ingenieure und Softwareent-
wickler? Ganz im Gegenteil: Design Thinking und agile Management-Frameworks, und
hier im Speziellen Scrum, sind zwei Seiten derselben Medaille. Produktentwicklung
ohne konsequentes Denken vom zukünftigen Nutzer her ist verschwendete Zeit und noch
mehr verschwendetes Geld. „Ja, aber wir machen doch Marktforschung“, mögen jetzt
einige denken und die Marktforscher werden sich fragen, wo der Unterschied zwischen
der teilnehmenden Beobachtung und der Beobachtung des Nutzerverhaltens im Design-
Thinking-Prozess liegt. Kurz gesagt werden sich die Disziplinen in Zukunft nicht mehr
trennen lassen. Die Produktentwickler werden zu Marktforschern und die Marktforscher
werden mehr vom Produkt verstehen müssen.
Wenn leuchtende Beispiele für nutzerorientierte und/oder agile Entwicklung genannt
werden, fallen in beiden Kategorien die gleichen Namen: Apple, Spotify, Tesla, Google. Das
ist kein Zufall, denn diese Unternehmen haben geschafft, was wirklich erfolgreiche Unter-
nehmen ausmacht: Sie verbinden Design Thinking und agile Produktentwicklung – und
zwar als Haltung, als ein grundlegendes Element der Organisationskultur. Daher bleiben
Initiativen zur Einführung von Design Thinking oder Scrum, die mit den besten Absichten
und leuchtenden Vorbildern gestartet werden, oft auf halber Strecke liegen und bringen auf
Dauer nicht den erwarteten Erfolg. Das liegt daran, dass die Mechaniken der beiden Ansätze
zwar verstanden, die dahinterliegenden Haltungen aber leider ignoriert werden – allen voran
auf Managementebene, die das Zugpferd jeder Initiative kultureller Dimension sein muss.
Auf dieser Ebene Bewusstsein zu schaffen, ist u. a. die Aufgabe von HR.

1Im Gegensatz zu anderen Autoren unterscheide ich zwischen agilem Projektmanagement und agi-
ler Produktentwicklung. Agiles Projektmanagement gibt es in der Form, in der es häufig vermark-
tet wird, nicht.
9  In Zukunft untrennbar: Agile Produktentwicklung und Design … 153

9.2 Scrum oder das Unplanbare planen

Als 2001 in Snowbird, Utah, 17 führende Softwareentwickler das „Agile Manifesto“


unterzeichneten, wollten sie vor allem eines: Sie wollten einen Weg finden, um in
einem unsicheren und turbulenten Umfeld qualitativ hochwertige Software auf eine
wendigere Art und Weise zu entwickeln, als es mit der gängigen Wasserfallmethode
möglich war. Bei dieser traditionellen Vorgehensweise hält man sich an einen zu
Projektbeginn entworfenen Plan, das Softwarezwischenprodukt wird von Bearbei-
tungsschritt zu Bearbeitungsschritt weitergereicht und erst am Ende des gesamten
Prozesses sehen Kunde und Nutzer das Ergebnis. Zu diesem Zeitpunkt, Ende der
1990er Jahre, war aber einerseits der Geschwindigkeitsdruck in der Softwareentwick-
lung immens gestiegen und andererseits hatten sich innerhalb der Domäne Rangord-
nungen herausgebildet, die das Silodenken zementierten. Am unteren Ende standen
die Tester, darüber die Entwickler, darüber wiederum die Softwarearchitekten, darü-
ber die Softwaresystemarchitekten usw. Verstärkt durch einen tayloristischen Ansatz
in der Führung uferten Softwareentwicklungsprojekte finanziell aus, sprengten meist
den zeitlichen Rahmen und ließen qualitativ zu wünschen übrig. Als Gegenbewe-
gung hatten sich in der Softwareentwicklung bereits Mitte der 1990er Jahre verschie-
dene Methoden herausgebildet, die auf die enge Zusammenarbeit selbst organisierter
Teams mit den Business-Verantwortlichen setzten und auf die Lieferung nutz- und
verkaufbarer Funktionalitäten in kurzen Zyklen abzielten. Mit dem Agile Manifesto
wurden 2001 die Werthaltungen definiert, die allen diesen Vorgehensweisen zugrunde
lagen.

9.2.1 Agile Manifesto

Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und
anderen dabei helfen. Durch diese Arbeit haben wir Folgendes zu schätzen gelernt

 Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen.


Funktionierende Software hat Vorrang vor umfassender Dokumentation.
Zusammenarbeit mit dem Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen.
Eingehen auf Veränderungen hat Vorrang vor dem Befolgen eines Plans.
Die Dinge auf der rechten Seite haben ihren Wert, aber wir messen den Dingen
auf der linken Seite den größeren Wert zu.

Am rasantesten verbreitete sich das agile Management-Framework Scrum, ein Vor-


gehensrahmen für das Projekt- und Produktmanagement, vor allem für die Neuent-
wicklung von Softwareprodukten. Aus Sicht des Prozesses geht es bei Scrum darum,
sich der Komplexität eines Vorhabens schrittweise zu nähern. Da niemand die Zukunft
154 B. Gloger

vorhersehen kann und die Neuentwicklung eines Produkts eine Erkundung des Unbe-
kannten ist, wird nicht für Monate und Jahre im Voraus geplant. Entwickelt wird Stück
für Stück. Dabei setzt Scrum auf crossfunktionale Teams aus Vertretern aller für die Ent-
wicklung benötigten Disziplinen. Auf Basis der Produktvision erarbeitet dieses Team in
regelmäßigen kurzen Iterationen – sogenannten Sprints – funktionsfähige und vom Kun-
den nutzbare Produktteile, Inkremente genannt. Die wichtigsten Funktionalitäten werden
zuerst entwickelt, denn so wird mit jedem Sprint deutlicher, was weggelassen werden
kann. Der springende Punkt ist: Ein Scrum-Team trifft im gegebenen Rahmen selbst die
Entscheidung, was es im nächsten Sprint umsetzen wird und wie es das tun wird. Dafür
gibt das Team ein Versprechen – ein Commitment – ab. Oder anders ausgedrückt: Das
Team wird gefragt, ob es eine bestimmte Aufgabe in einem bestimmten Zeitraum erfül-
len will. Man verhandelt mit den Teammitgliedern die notwendigen Bedingungen, damit
sie die Aufgabe erfüllen können, und dann überlässt man ihnen das Liefern. Am Ende
wird etwas entstanden sein, das als Basis für den nächsten Schritt, für das nächste Pro-
dukt dient.
Wesentliche Erfolgsfaktoren sind die intensive Kommunikation zwischen klar ver-
teilten Rollen und das respektvolle Mindset. Die crossfunktionale Besetzung der Scrum-
Teams fördert den Wissensaustausch und das Lernen in der Organisation. Wenn möglich,
sitzen die Teams in einem Raum, um gemeinsam an Aufgaben zu arbeiten. In kurzen täg-
lichen Meetings – Daily Scrums – besprechen sie, was an diesem Tag geplant ist. Dabei
orientieren sie sich am Taskboard, auf dem sichtbar ist, welche Aufgaben gerade bear-
beitet werden, wie weit das Produkt gediehen ist, was noch zu tun ist und wo es Prob-
leme gibt. Und nun kommt der Nutzer ins Spiel: Nach jedem Sprint zeigt das Team dem
Kunden und/oder Nutzer in einem Review die neuen Funktionalitäten und wie das Pro-
dukt zum aktuellen Zeitpunkt aussieht. Der Nutzer probiert aus und dadurch wird klar:
Geht die Entwicklung in die richtige Richtung, wird noch etwas gebraucht oder werden
ursprünglich angedachte Funktionalitäten gar nicht mehr gebraucht? So passt sich die
Entwicklung der Realität an und der Kunde bekommt am Ende das Produkt, das er wirk-
lich braucht.
Zwar ist Scrum in der Softwareentwicklung entstanden, die Prinzipien und Werte sind
aber universell anwendbar und das passiert heute auch so. Ob Automobilkonzern, medi-
zintechnisches Unternehmen, Werbeagentur oder Rechtsabteilung: Sie alle entdecken für
sich die Vorteile agiler Arbeitsweisen. Zumindest in deutschen Unternehmen hat mittler-
weile mehr als ein Viertel der Anwendungsbereiche von agilen Methoden keinen beson-
deren IT-Bezug mehr, wie die Studie „Status Quo Agile 2014“ der Hochschule Koblenz
zeigt (Status Quo Agile 2014).

9.2.2 Wir reden heute von Scrum 3.0

Zweifellos haben lösungs- und nutzerorientierte Unternehmen bereits mit „Scrum 1.0“,
dem ursprünglichen Ansatz, große Erfolge eingefahren. Allerdings lag der Fokus von
9  In Zukunft untrennbar: Agile Produktentwicklung und Design … 155

Scrum zunächst auf der Abgrenzung des Entwicklungsteams vom Rest der Organisa-
tion. Die immer stärker vom externen Druck getriebenen Softwareentwickler wollten
selbstbewusster auftreten und Scrum half, sich als Team besser zu organisieren. Diese
fast kämpferische Sicht wird daran deutlich, dass es in Scrum 1.0 nur drei Rollen gab:
das Entwicklungsteam, den Scrum Master und den Product Owner (siehe „Die Rollen in
Scrum 1.0“). Zum Nutzer hin wurde mit dem Product Owner also lediglich eine Schnitt-
stelle definiert. Noch heute kranken viele Scrum-Implementierungen daran, dass sich
der Product Owner nicht in der Rolle des Visionärs für sein Produkt wahrnimmt, son-
dern in der traditionellen Funktion des Business-Analysten, der die Wünsche des Kun-
den entgegennimmt, mit den Möglichkeiten abgleicht und dann dem Entwicklungsteam
vorschreibt, was es zu bauen hat. Nun ist die phasenweise erfolgende Zusammenarbeit
mit dem Kunden bzw. Nutzer in den Reviews schon ein Fortschritt. Auch die sogenann-
ten „User Stories“ (Kurzbeschreibungen der gewünschten Funktionalitäten) werden aus
der Sicht des Users in seiner Alltagssprache verfasst. Doch das Ziel des Agile Manifesto
lautet ja, bessere Wege für die Software- bzw. Produktentwicklung zu erschließen – und
dieser Weg fängt beim tatsächlichen Bedarf des Nutzers an.

Die Rollen in Scrum 1.0


Entwicklungsteam, Product Owner und Scrum Master bilden zusammen das Scrum-Team.
Gemeinsam setzen sie Produktideen iterativ um.
Das Entwicklungsteam liefert das Produkt. Es organisiert sich selbst und entscheidet über die
Maßnahmen, die es für die Zielerreichung setzt. Das Team steuert seine Arbeitsmenge selbst, trägt
aber auch die Verantwortung für die Qualität.
Der Product Owner plant und lenkt die Produktentwicklung durch das Priorisieren der zu ent-
wickelnden Funktionalitäten. Dabei hat er die finanzielle Seite des Projekts im Blick. Der Product
Owner arbeitet täglich mit dem Entwicklungsteam.
Der Scrum Master hilft dem Team, die Ziele zu erreichen. Daher löst er Probleme, die das
Team vom Arbeiten abhalten, und treibt Veränderungen in der Organisation voran. Der Scrum
Master sorgt dafür, dass der Scrum-Prozess eingehalten wird, als laterale Führungskraft ist er aber
nicht weisungsbefugt.

Die gute Nachricht ist, dass Unternehmen mit Scrum in den letzten 15 Jahren nicht nur
große Erfolge eingefahren haben, sondern dass es auch viele Fehlschläge gab, aus denen
wir lernen konnten. Die schlechte Nachricht ist, dass viele Trainer und Berater auf den
Trend aufgesprungen sind, ohne die Prinzipien und Mechanismen zu verstehen und ohne
sich Gedanken über die Ursachen gescheiterter Scrum-Implementierungen zu machen.
Dementsprechend verlaufen viele agile Transitionen noch immer nach dem Wissensstand
von Scrum 1.0.
Auf die vielen Entwicklungssprünge kann ich hier nicht eingehen, aber aus mei-
ner Sicht sprechen wir heute bereits von Scrum 3.0. Was ist bei Scrum 3.0 anders? Auf
einen der markantesten Unterschiede möchte ich näher eingehen. Ich selbst war der erste
Certified Scrum Trainer weltweit und habe mich zunächst den Richtlinien der Scrum-
Väter Ken Schwaber und Jeff Sutherland verschrieben. Im „Scrum Guide“ halten sie die
„Spielregeln“ für Scrum fest und in der aktuellen Version finden sich nach wie vor nur
156 B. Gloger

drei Scrum-Rollen (Schwaber und Sutherland 2013). Sehr früh habe ich in die Diskus-
sion in der Agile Community allerdings eingebracht, dass Scrum-Teams nicht isoliert
betrachtet werden können, sondern im Kontext der Produktentwicklung in Verbindung zu
drei weiteren essenziellen Rollen stehen:

1. Zum Management, das Rahmenbedingungen schafft und Ressourcen für die Ent-
wicklung zur Verfügung stellt.
2. Zum Kunden, der für das Produkt bezahlt und daher Interesse an einem passenden
Produkt hat.
3. Zum Nutzer (User), der das Produkt verwenden will oder verwenden muss.

Das sorgte für Aufruhr. Scrum ist aus der Community der Softwareentwickler ent-
standen, die sich mit ihrem Verständnis von Professionalität immer in Opposition zum
Management sahen, das gehörig Druck ausübte und von der technischen Umsetzung
nicht immer viel Ahnung hatte. Die Welt von Scrum drehte sich in erster Linie um das
Entwicklungsteam und den Scrum Master, der die „Revolution von unten“ anführte. Auf
der anderen Seite stand das Management, das Scrum kritisch beäugte und in der Diskus-
sion lange ignoriert wurde. Noch heute vertreten einige Scrum-Coaches die Ansicht, das
Management sei in einer agilen Organisation überflüssig. Zumindest aus meiner Erfah-
rung kann ich sagen, dass es nicht so ist. Der Product Owner wurde als deutliche Ver-
bindung zum Management daher lange mit Argwohn betrachtet und umgekehrt konnten
viele Product Owner wegen dieser Diskrepanzen nie richtig in ihrer Rolle ankommen.
Die Folge: halbherziges Engagement für visionsfreie Produkte. Ich vertrete den Stand-
punkt: Eine am Markt erfolgreiche agile Organisation ist eine Verbindung aus moti-
vierten Teams und visionärer Produktentwicklung. Der Product Owner ist der Gestalter
dieser Verbindung. Es ist seine Aufgabe, dem Produkt eine Vision, eine Form und ein
Design zu geben. Die Vision des Product Owners inspiriert das Team, die nächsten
Schritte zu gehen und über sich selbst hinauszuwachsen.
Und hier kommt nun eine zweite wesentliche Erkenntnis ins Spiel, durch die sich
Scrum 1.0 und Scrum 3.0 unterscheiden: Der Product Owner hat nicht die Aufgabe, sich
das Produkt alleine mit dem Kunden auszudenken und dem Team einen Anforderungs-
katalog zu überreichen. Wenn es um Innovation und die Entwicklung von etwas Neuem
geht, lässt er sich vom Kunden nicht vorschreiben, wie das Neue zu sein hat. Ein Voll-
blut-Product-Owner erarbeitet die Produktvision nicht in der stillen Kammer oder mit
dem Kunden. Er bezieht das Team ein, denn dort ist die technologische Expertise ange-
siedelt. Gemeinsam müssen sich der Product Owner und das Entwicklungsteam aber
mit den Menschen auseinandersetzen, die das Produkt verwenden werden. Mit soziogra-
fischen Zielgruppendefinitionen aus dem Marketing kommt man an dieser Stelle nicht
weit, denn hier wird es konkret: „Wozu, wann und wie verwendet der Nutzer das Produkt
in welchem Kontext?“ Das ist keine Frage, die sich durch Desk Research beantworten
lässt. Hier hilft nur, hinzugehen und zu beobachten.
9  In Zukunft untrennbar: Agile Produktentwicklung und Design … 157

Wenn wir heute von agiler Produktentwicklung sprechen, ist damit nicht gemeint,
dass Teams eine Arbeit mit Scrum einfach schneller und qualitativ hochwertiger erledi-
gen. Agile Produktentwicklung bedeutet, dass sich ein crossfunktionales Team, in dem
sich Ingenieure genauso finden wie Marketingexperten und Marktforscher, von Anfang
an mit dem Nutzer auseinandersetzt. Dieses Team beobachtet und befragt den Nutzer
im Nutzungskontext und leitet daraus ab, welche Lösung ihm tatsächlich helfen könnte.
Das Rahmenwerk von Scrum bietet dazu keine Anleitung, sondern eben nur den Rah-
men, in dem diese Auseinandersetzung stattfinden darf. Mithilfe von Scrum können Pro-
duct Owner und Entwicklungsteam mit Entscheidungsunsicherheiten umgehen, denn
das iterative Vorgehen in Sprints liefert schnell Ergebnisse, die zeigen, ob man am rich-
tigen Weg ist. Für das Entdecken dessen, was vom Nutzer wirklich gebraucht wird und
was ihm helfen könnte, brauchen Product Owner und Team aber auch eine kreative und
ebenso iterative Herangehensweise – und hier sind wir beim Design Thinking angelangt.

9.2.3 Design Thinking

Nichtdesigner denken bei Design meist an das Erscheinungsbild eines Objekts. Steve
Jobs entwickelte mit Unterstützung des Designers Jonathan Ive zwar einen besonderen
Sinn für Produktästhetik und Apple-Usern wurde lange vorgehalten, die Produkte nur zu
verwenden, weil sie schick aussehen. Mittlerweile ist aber klar, dass Apple-User immer
wieder zu den Produkten greifen, weil das Design der Funktionalität, vom Look and
Feel der Gehäuse bis hin zur Funktionsweise der Betriebssysteme und Programme, ihrer
Arbeits- und Lebensweise entgegenkommt. Das Design ist durchdacht und der User hat
das Gefühl, dass hier jemand die Art und die Umstände der Verwendung verstanden hat.
Einfachheit bestimmt das Design der Produkte von Apple, und diese Einfachheit kann
entstehen, weil die Menschen in der Entwicklung die Essenz jedes Produkts, die Kom-
plexität der Konstruktion und die Funktion jeder einzelnen Komponente immer in Ver-
bindung zum Nutzer verstehen. „To be truly simple, you have to go really deep“, sagt
Jonathan Ive (Isaacson 2012).
Auch David Kelley, Gründer des Designunternehmens IDEO, dem „Zuhause“ des
Design Thinkings, war ein enger Freund von Steve Jobs. Ein Unternehmen, ja, das
auch die Apple-Maus entwickelt hat, das aber genauso das technische Wahlsystem von
L.A. County vereinfacht, in Peru ein neues Schulkonzept auf die Schiene gebracht und
den Patientenservice der Mayo Clinic verbessert hat. Wenn man sich näher mit IDEO
beschäftigt, wird schnell klar, dass Design Thinking keine Kreativitätstechnik ist, kein
mechanistisch anzuwendendes Konzept, das innovative Produkte ausspuckt – sowie auch
die rein mechanistische Anwendung von Scrum auf lange Sicht den Erfolg am Markt
nicht garantiert. Design Thinking führt zusammen, was vom menschlichen Standpunkt
aus wünschenswert, vom technischen Standpunkt aus machbar und vom wirtschaftlichen
Standpunkt aus rentabel ist. In dieser Schnittmenge passiert die Innovation. Personen in
einem Unternehmen, die keine ausgebildeten Designer sind, nutzen im Design Thinking
158 B. Gloger

dennoch ähnliche kreative und analytische Instrumente, mit denen sie zu Insights und
zu Lösungen für die Herausforderung des Nutzers gelangen können. So wie die agilen
Methoden der Produktentwicklung fußt auch das Design Thinking auf zwei Säulen: auf
Werten bzw. Haltungen und auf einem Prozess.
Beginnen wir mit dem Modell des Design-Thinking-Prozesses, den IDEO in fünf ite-
rativen Schritten beschreibt: Discovery, Interpretation, Ideation, Experimentation und
Evolution.2 Es geht darum, eine gegebene Situation zunächst aufzubrechen und dann neu
zusammenzusetzen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Diese Schritte sind nicht als
strenge Sequenz zu betrachten, sie dürfen sich wiederholen. Essenziell für die Verbin-
dung mit der Produktentwicklung im agilen Kontext sind im Design Thinking zwei Ele-
mente:

1. Die „Discovery“ umfasst das Beobachten und Verstehen der Menschen, deren Situation
verbessert werden soll. Zweck der Beobachtung ist es herauszufinden, was den Nutzern
über ihre Situation selbst gar nicht bewusst ist. Würde man sie zu ihrem Problem ein-
fach nur befragen, würden sie offensichtliche Lösungsrichtungen vorgeben – diese pas-
sen aber nicht zwangsläufig. Beobachtet wird kollaborativ, also durch ein Team, dessen
Besetzung alle Qualifikationen widerspiegelt, die für die Lösung relevant sein können.
2. Wenn erste Ideen gesammelt wurden, werden Prototypen produziert. Damit sind aber
nicht technisch ausgefeilte Modelle gemeint. Am Anfang folgt man dem Motto „quick
and dirty“. Schnell, mit wenig Aufwand und simpelsten Materialien wird die grund-
legende Idee materialisiert, um sie physisch erlebbar zu machen. Bereits in diesen
einfachen Anfangsstadien wird anhand des Prototyps schnell klar, was funktionieren
kann und was nicht. Man hat eine Grundlage, auf der anhand des Nutzerfeedbacks die
Idee verfeinert, angepasst oder verändert wird. Man arbeitet sich mit den Prototypen
also iterativ zur funktionierenden Lösung vor.

Mit den ersten Schritten des Design-Thinking-Prozesses haben viele Unternehmen das
größte Problem. David Kelley sagt selbst, dass Kunden früher immer lapidar gemeint
hätten, er könne die Phasen des Verstehens und der Interpretation doch sein lassen und
gleich ins Brainstorming und Prototyping gehen (Tischler 2009). Daran wird klar, womit
man es zu tun hat, wenn man Design Thinking im Unternehmen einsetzen will: In tra-
ditionelleren Strukturen fordert es den Status quo der Organisationskultur heraus. Die
ersten Phasen des Prozesses fordern die ehrliche, empathische Auseinandersetzung mit
den Bedürfnissen des Nutzers und an dieser Stelle wird oft klar, dass der Nutzer doch
nicht so sehr im Mittelpunkt steht, wie es die Mission Statements suggerieren. Am Ende
des Prozesses sollte ein Ergebnis stehen, das für den Nutzer auch emotional bedeut-
sam ist – gutes Design berührt, weil es den Nutzer in seinem Bedürfnis erkennt. Von

2Eine genaue Beschreibung der einzelnen Schritte würde hier zu weit führen. Die praktische
Anwendung wird in dem von IDEO zur Verfügung gestellten Toolkit „Design Thinking for Educa-
tors“ sehr gut deutlich (Download auf www.ideo.com).
9  In Zukunft untrennbar: Agile Produktentwicklung und Design … 159

den Designenden selbst verlangt das Offenheit und Neugier als Mindestvoraussetzungen.
IDEO beschreibt das Mindset von Design Thinking so:

• Human-centered: Tiefe Empathie und tiefes Verständnis für die Bedürfnisse und
Motive von Menschen.
• Collaborative: Der Blick aus verschiedenen (fachlichen) Perspektiven fördert die
eigene Kreativität.
• Optimistic: Design Thinking basiert auf dem Glauben, dass Veränderungen geschaf-
fen werden können und der Prozess des Designs angenehm sein kann.
• Experimental: Fehler dürfen passieren, denn aus jedem Fehler entsteht eine neue
Idee. Dahinter steht das Vertrauen, dass Besseres möglich ist und dass man es gesche-
hen lassen kann.

Das sind Grundhaltungen, die nicht nur den Umgang mit den Kunden und den Nutzern
eines Produkts beeinflussen, sondern auch den Umgang der Menschen in einem Unter-
nehmen. Prozess und Werte des Design Thinkings sind nicht nur auf die Entwicklung
von Produkten anwendbar, sondern genauso auf die Entwicklung und Umsetzung von
Strategien und das Management – es ist eben eine lösungsorientierte Form des Denkens.
Daher bleibt Design Thinking, so wie Scrum, in problem- und fehlerorientierten Syste-
men oft im Stadium einer Randerscheinung stecken. In diesen Fällen fehlt die Unter-
stützung durch das Management bzw. wird es nicht verstanden, dass Design Thinking
vor allem bedeutet, das eigene Denken in neue Bahnen zu lenken. Möglicherweise stellt
Design Thinking durch neue Lösungen das sorgsam gepflegte Geschäftsmodell infrage,
möglicherweise legen diese Lösungen die Schwächen des Systems offen, schon ent-
steht Widerstand. Eine Umfrage der HPI School of Design Thinking an der Universität
Potsdam unter hauptsächlich deutschen Unternehmen legt nahe, dass Design Thinking
in vielen Fällen tatsächlich nicht als Chance für einen fundamentalen nutzerorientier-
ten Kulturwandel der Organisation verstanden wird, sondern als elaborierte Form des
Brainstormings. Design Thinking ist oft bei den üblichen Verdächtigen angesiedelt:
Forschung und Entwicklung sowie Marketing bieten Design Thinking als internen oder
externen Service an. Bemängelt wurde von den Befragten, dass die Konzentration auf
bestimmte Abteilungen meist mit einem Task-Force-Ansatz einhergeht: Wenn die Idee
fertig gedacht ist, wird sie über den Zaun geworfen. Die Lösung muss nicht umgesetzt
werden und die restliche Organisation entwickelt so nie ein Gefühl für den Beitrag, den
Design Thinking leisten kann. Wenn man einen medizinischen Vergleich bemühen will,
bleibt Design Thinking für viele Unternehmen nur eine Injektion, statt nachhaltig in die
kulturelle DNA überzugehen. Doch um den Tech-Journalisten Clay Shirky sinngemäß zu
zitieren: „Revolutionen passieren nicht, wenn eine Gesellschaft neue Werkzeuge verwen-
det, sondern wenn sie sich neue Verhaltensweisen aneignet“ (Shirky 2009, S. 160).
160 B. Gloger

9.3 Die neue Arbeitswelt entsteht trotzdem

Natürlich ist es das Recht jedes Unternehmens, Design Thinking und Scrum nach eige-
nem Gutdünken einzusetzen. Sollen es isolierte Initiativen bleiben? Dann ist es so, wenn
der Mut zu mehr fehlt. Das ändert aber nichts daran, dass sich die Umfeldbedingungen
von Unternehmen massiv wandeln. Weder agile Vorgehensweisen noch Design Thinking
müssen noch beweisen, dass sie erfolgreich sind. Sämtliche Unternehmen, die heute die
Märkte in Aufruhr versetzen und Innovatives hervorbringen, sind von Grund auf agil,
denken nutzerorientiert und haben begriffen, dass ein neues Verständnis der Arbeitswelt
dafür die Voraussetzung ist. Sowohl das Design Thinking als auch agile Frameworks
sind in der New Economy aus der Not entstanden, Komplexität beherrschen zu können
und rasch Ideen für neue Produkte finden zu müssen. Heute betrifft diese Beschleuni-
gung nicht nur die Softwareentwicklung, sondern auch traditionelle Branchen wie den
Maschinenbau. Selbst die Führungsriegen von Großkonzernen haben das erkannt und
unterstützen neue Arbeitsweisen mit Nachdruck, wie zum Beispiel Volkmar Denner, Vor-
sitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH. SAP-Gründer Hasso Plattner
hat es vor mehr als zehn Jahren vorausgesehen und fördert agiles und designorientier-
tes Denken aktiv durch die Finanzierung universitärer Institute in Stanford und Potsdam
(Denner 2015).
Ob man sich der Entwicklung verschließt oder nicht: Die neue Arbeitswelt entsteht
sowieso. Mit der Generation Y rücken junge Menschen in die Unternehmen nach,
die nicht mehr nach den alten Mustern arbeiten wollen. Natürlich wollen sie Karriere
machen, aber nicht um jeden Preis. Mit Geld sind sie nicht zu locken – so wie die Baby-
boomer. Materiell fehlt es der Generation Y an nichts, die VertreterInnen suchen in ihrer
Arbeit vor allem Sinn. Sie wollen selbstorganisiert und im Team arbeiten, sie wollen sich
Gedanken über sinnvolle Lösungen machen und sie wollen in einem Umfeld arbeiten,
das Offenheit und Wertschätzung über Kontrolle stellt.
Die Generation Y geht auch mit der Digitalisierung unbefangener um als die alten
Hasen der Generation Me. An diversen Start-ups sieht man, dass sich junge Unternehmer
von heute bestens mit neuen Technologien auskennen und in ganz anderen Geschäftsmo-
dellen denken. Sie haben keine Scheu davor, mit Ideen zu experimentieren, sie zu testen
und wenn nötig zu verwerfen. Fintechs sind das beste Beispiel: Sie versetzen etablierte
Banken und Finanzdienstleister in Angst und Schrecken, weil sie Lösungen anbieten, die
Klar- und Einfachheit in den Umgang mit Finanzen bringen.
Wenn die von Babyboomern regierten Unternehmen auf solche Entwicklungen
nur langsam reagieren, liegt das zu einem guten Teil an der fachlichen Hyperspezi-
alisierung, die tiefe Gräben durch die Organisationen zieht (Silos genannt). Mit der
technologischen Entwicklung haben sich in den Wissensdisziplinen wiederum Subdiszi-
plinen gebildet, die nur kleine Ausschnitte der Produktentwicklung behandeln. Das führt
sowohl innerhalb einer Organisation als auch zwischen Organisationen zu künstlichen
Distanzen und Lagerdenken. Vor allem behindert die Hyperspezialisierung die Innova-
tionsfähigkeit von Unternehmen und die schnelle Time to Market, denn diese Gräben
9  In Zukunft untrennbar: Agile Produktentwicklung und Design … 161

erzeugen zahlreiche Übergabepunkte. Diese Übergaben werden von einer Flut an ergeb-
nisarmen Meetings begleitet, denn wenn jeder für sich arbeitet, muss er dem Nächsten in
der Reihe das Erdachte erst mühsam erklären. Aus Sicht der Produktentwicklung wird
auf Hyperspezialisierung oft mit noch größerer Kleinteiligkeit geantwortet, was sowohl
die Organisationsstrukturen als auch die Produkte nur noch komplexer und für den Nut-
zer unattraktiver werden lässt.
Fatal ist, dass die Hyperspezialisierung auf den Einzelnen in der Organisation zurück-
wirkt: Der eigene Beitrag wird als unendlich klein erlebt und verliert seinen Sinn. Men-
schen, die den Sinn ihrer Arbeit aus den Augen verloren haben, verlieren auch ihre
intrinsische Motivation, zum großen Ganzen etwas beitragen zu wollen. Ein Konglome-
rat sinnentleerter Individuen wird auf Dauer bei den Kunden und Nutzern kaum Begeis-
terung hervorrufen und wahrscheinlich keine bahnbrechenden Innovationen zustande
bringen. Auch in diesem Punkt zeigen junge Unternehmen bzw. erfolgreich agilisierte
Unternehmen, dass Spezialistenwissen zwar gebraucht wird, aber die Fähigkeit zur
Zusammenarbeit über unterschiedliche Disziplinen hinweg in einem gemeinsamen Team
erhalten bleiben muss. Diese Teams müssen sich immer wieder neu formieren können –
je nachdem, was für das zu entwickelnde Produkt nötig ist.

9.4 HR als Wegbereiter

Aus meiner Sicht stellt sich gar nicht die Frage, ob ein Unternehmen agile Methoden
einsetzen und sie vielleicht mit Design Thinking ergänzen sollte. Wirklich erfolgreiche
Unternehmen haben das schon immer getan. Ab einem gewissen Punkt der Reife ver-
schwimmen die Grenzen, die es zwischen diesen beiden Ansätzen ohnehin nicht gibt.
Sie gehören zusammen, sie bedingen sich, sie sind nur zwei Aspekte ein- und dersel-
ben Haltung. Es geht ausschließlich darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit in
einem Unternehmen beides zusammenwachsen und es sich von innen heraus wandeln
kann. HR-Spezialisten wissen um die fundamentalen Veränderungen, die sich in der
Arbeitswelt vollziehen, und sie müssen meiner Meinung nach im Management wirksam
werden. Ein grundlegender Wandel kann nur stattfinden, wenn die Führungsverantwortli-
chen vom Weg überzeugt sind. HR-Verantwortliche sollten mit dem Management an drei
Punkten der Haltung arbeiten:

1. Verstehen: Führungskräfte müssen zunächst erkennen, dass die traditionellen Metho-


den und Prozesse der Produktentwicklung zu langsam sind. Eine zwischen Nutzer
und Entwicklungsteam geschaltete Marktforschung wird immer zu langsam sein, vor
allem angesichts mutiger Start-ups, die einfach versuchen und verwerfen. Manager
müssen also die Lage begreifen und Konzepte wie Agilität und Design Thinking mit
ihren kulturellen und organisatorischen Implikationen von Grund auf verstehen.
2. Bejahen: Im agilen Kontext geht Geschwindigkeit vor Richtigkeit. Das bedeu-
tet nicht, fehlerhafte Produkte auf den Markt zu werfen, sondern die Tatsache
162 B. Gloger

anzunehmen, dass man sich einer neuen Lösung nur durch Versuch und Irrtum annä-
hern kann. Das greift tief in das Führungsverständnis ein, denn unsere Gesellschaft
prangert den Fehler an. In einer agilen, design- und damit nutzerorientierten Organi-
sation dürfen Mitarbeiter scheitern. Ja, sie sollen sich sogar bewusst auf einen Weg
begeben, der das Scheitern möglich macht.
3 Loslassen: Wenn es erlaubt ist, Fehler zu machen und daraus zu lernen, müssen Mit-
arbeiter entscheiden dürfen. Selbstorganisation bedeutet nicht, dass sich Manager aus
ihrer Führungsverantwortung stehlen können. Vielmehr bedeutet es, dass sie einen
klaren Rahmen schaffen müssen, in dem Teams in der Entwicklung und Umsetzung
von Lösungen eigenständige Entscheidungen treffen können.

Eine neue Haltung kann sich aber nur mit den nötigen Skills entwickeln. Scrum oder
Design Thinking werden im Management oft gar nicht als Führungswerkzeuge erkannt,
sondern als Projektmethoden. Ich sehe für HR die eine Aufgabe, für die Führungsebene
die passenden Schulungen und Coachings zu agilen Methoden und Design Thinking zu
organisieren. Diese sollten nicht das bloße Regelwerk erklären, sondern das Hinterfra-
gen des eigenen Führungsverständnisses und die Auseinandersetzung mit der eigenen
Persönlichkeit anregen. Idealerweise probiert HR selbst Scrum und Design Thinking
aus und zeigt vor, wie man die Ansätze in Verbindung leben kann. Die Methode mit der
Methode einzuführen bewährt sich bei agilen Transitionen immer wieder.
Das Thema „Skills“ berührt auch den Aspekt der Hyperspezialisierung. Will man
eine agile Organisation schaffen, führt kein Weg daran vorbei, die Hyperspezialisie-
rung aufzubrechen. Das gelingt nicht, indem keine Spezialisten mehr engagiert werden,
sondern durch das Weitergeben von Wissen. Das betrifft zum einen die Besetzung der
Teams selbst: Die Idee zu Scrum basiert auf den Überlegungen der Organisationswis-
senschaftler Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi. In ihrem Artikel „The New New
Product Development Game“ (1986) untersuchten sie die Vorgehensweisen erfolgrei-
cher Innovatoren und schrieben dazu: „A project team consisting of members with vary-
ing functional specializations, thought processes, and behavior patterns carries out new
product development. The Honda team, for example, consisted of hand-picked member
from R&D, production, and sales.“ (Nonaka und Takeuchi 1986, S. 140). Es ist also eine
Besetzung gemeint, die den Weg der Wertgenerierung widerspiegelt. Durch die Interak-
tion der Teammitglieder – am besten in einem gemeinsamen Raum – entsteht etwas, das
Nonaka und Takeuchi als „cross-fertilization“ bezeichnen: Das Wissen der anderen wird
zum eigenen Wissen; man befruchtet sich geistig. Dadurch entstehen keine neuen Spe-
zialisten, das ist aber auch nicht das Ziel. Wichtig ist, dass sich der eigene Blickwinkel
zu einer Perspektive erweitert, die alle Aspekte der Produktentwicklung umfasst. Man
lernt, einander zu verstehen. Pair- und Mob-Methoden, bei denen zwei Mitarbeiter oder
gleich das gesamte Team an einer Aufgabe arbeiten, haben sich in diesem Zusammen-
hang bewährt.
Doch auch außerhalb einzelner Teams muss die Möglichkeit zur „cross-fertilization“
geschaffen werden. Idealerweise bilden sich in einer agilen Organisation im Laufe der
9  In Zukunft untrennbar: Agile Produktentwicklung und Design … 163

Zeit Plattformen, auf denen sich die Mitarbeiter austauschen können, zum Beispiel
in Form von „Gilden“. Gilden sind auf Freiwilligkeit basierende Gruppen, die sich
bestimmten Themen widmen und sich darüber austauschen, am besten unternehmens-
übergreifend. Die eigenen Grenzen zu öffnen und mit anderen Unternehmen in einen
Wissensaustausch zu gehen ist gerade für Organisationen schwierig, die Lieferanten Non
Disclosure Agreements unterschreiben lassen, bevor sie mit ihnen eine Idee diskutieren.
Dass angesichts weltweit verteilter Standorte der Austausch durch moderne Kommuni-
kationstools möglich gemacht werden muss, versteht sich von selbst, ist in vielen Unter-
nehmen aber mit großen Widerständen verbunden.
Was HR-Verantwortliche in einer Zeit wie dieser, in der sich das Verständnis von Füh-
rung und erfüllender Arbeit grundlegend ändert, vor allem brauchen, ist die Fähigkeit der
Unterscheidung. Sollen Scrum und/oder Design Thinking eingeführt werden, weil es in
ist und man sich die Lösung von Problemen erhofft, über die man sich hinweggeschwin-
delt hat? Oder hat das Management verstanden, dass Nutzerorientierung neue Formen
der Zusammenarbeit und des Managements braucht? An dieser Wegkreuzung sehe ich
HR in der Rolle, Bewusstsein zu schaffen für die Möglichkeiten, die in den Haltungen
von Agilität und Design Thinking liegen, und wie viel Kraft es einem Unternehmen brin-
gen kann, wenn beides als Einheit gelebt wird. Ich sehe HR als die Designer zukunftsfä-
higer Unternehmen.

Literatur

Denner, V. (16. Juni 2015). Agility at bosch: Mission impossible? Blogbeitrag. http://bit.
ly/1Fm4vpr.
Isaacson, W. (2012). How steve Jobs’ love of simplicity fueled a design revolution. Smithsonian
Magazine, 9. http://bit.ly/1g4O44v.
Nonaka, I., & Takeuchi, H. (1986). The new new product development game. Harvard Business
Review, 64(1), 137–146.
Schwaber, K., & Sutherland, J. (2013). The Scrum Guide™. The Definitive Guide to Scrum: The
Rules of the Game. http://bit.ly/1z3aLFn.
Shirky, C. (2009). Here comes everbody. The power of organizing without organizations. London:
Penguin Books.
Simon, H. A. (1996). The sciences of the artificial (3. Aufl.). Cambridge: MIT Press.
Status Quo Agile. (2014). Zweite Studie des BPM-Labors der Hochschule Koblenz, Prof. Dr. Ayelt
Komus, über die Verwendung agiler Methoden. Version 1.01, 08. Januar 2015, Langfassung für
Studieninteressenten.
Tischler, L. (2009). Ideo’s David Kelley on „Design Thinking“. Fast Company, (2009)2. http://bit.
ly/1jkdHzR.
164 B. Gloger

Über den Autor

Boris Gloger ist Gründer und Geschäftsführer der


Managementberatung borisgloger consulting GmbH mit
Sitz in Baden-Baden und Wien. Er gilt als Vordenker der
Arbeitswelt und vertritt als Kolumnist für diverse Maga-
zine streitbare Thesen wie „Die 4-Stunden-Woche – weni-
ger arbeiten, mehr leisten“, „Das mittlere Management
ist tot“ und „Führung braucht Freiwilligkeit“. Über seine
aktuelle Studie „Best Agers und ihr berufliches Umfeld“
berichteten zahlreiche Medien, u. a. die Süddeutsche Zei-
tung, die Wirtschaftswoche, Zeit Online und n24. Der
Managementberater ist Autor mehrerer Bücher zum Thema
Scrum – ein Framework, mit dessen Hilfe Software bzw. Projekte agil entwickelt werden
können. Weltweit setzen Unternehmen das Vorgehensmodell für die Produkt- und Orga-
nisationsentwicklung ein. Boris Gloger ist Speaker bzw. Keynote-Speaker zahlreicher
Branchenveranstaltungen rund um das Thema Management.
Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag
4.0: Die Zukunft der Arbeit im 10
Spannungsfeld von Work-Life-
Separation und Work-Life-Integration
Claus-Peter Praeg und Wilhelm Bauer

Zusammenfassung
Die Arbeitswelt befindet sich in einer umfassenden und tief greifenden Transformati-
onsphase, welche durch technische Innovationen, veränderte menschliche Bedürfnisse
und das Zusammenwachsen von Arbeit und Privatleben getrieben wird. Mitarbeiter
und Führungskräfte besitzen im Kontext der Arbeitswelt 4.0 umfangreiche Hand-
lungsspielräume in der Ausgestaltung ihres Arbeitsorts, der Arbeitszeit sowie bei
den Arbeitsumgebungen. Die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben weichen
zunehmend auf. Im Zuge dessen steigt die Bedeutung der Vereinbarkeit von Privat-
und Berufsleben. Work-Life-Balance entwickelt sich in der Arbeitswelt 4.0 zu einem
wesentlichen Erfolgsfaktor für Unternehmen, um gute Mitarbeiter zu gewinnen und
zu halten. Dementsprechend sind diese gezwungen, entsprechende Voraussetzungen
zu schaffen.

Inhaltsverzeichnis

10.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166


10.2 Auf dem Weg zur Arbeitswelt 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
10.3 Treiber der Entwicklungen einer zukünftigen Arbeitswelt 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
10.4 Anforderungen der zukünftigen Arbeitswelt an Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

C.-P. Praeg (*) · W. Bauer 


Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), Stuttgart, Deutschland
E-Mail: [email protected]
W. Bauer
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 165


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_10
166 C.-P. Praeg und W. Bauer

10.5 Work-Life-Balance als Voraussetzung für dauerhaft erfolgreiches


Arbeiten in der Arbeitswelt 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
10.5.1 Work-Life-Balance als kontinuierlicher Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
10.5.2 Ausprägung der Work-Life-Balance: entgrenzen oder abgrenzen. . . . . . . . . . . . . 174
10.5.3 Umsetzungsstrategien für Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
10.5.4 Schaffung von Rahmenbedingungen in Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
10.6 Leben und Arbeiten in agilen und smarten Arbeitsumgebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
10.6.1 Agile Unternehmensstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
10.6.2 Neugestaltung des Führungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
10.6.3 Schaffung smarter Arbeitsumgebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

10.1 Einleitung

Unternehmen stehen vor einer Phase umfassender und langfristiger Transformation. Auf-
grund zunehmender Digitalisierung, einer anwachsenden technischen Vernetzung und
Veränderung in den Wertschöpfungsprozessen werden sich damit auch die Arbeitswelt
und das Privatleben der Menschen spürbar verändern. Die Arbeits- und Lebenswelten
werden sich den neuen Anforderungen anpassen. Damit einher geht auch eine Neube-
wertung des Zusammenspiels von Privat- und Berufsleben von Unternehmern, Führungs-
kräften und Beschäftigten. Geeignete Prozesse für eine passende Work-Life-Balance
werden sowohl für Unternehmen als auch für die dort arbeitenden Menschen zu wesent-
lichen Erfolgsfaktoren, um zukünftig kompetente und motivierte Mitarbeiter finden und
binden zu können.

10.2 Auf dem Weg zur Arbeitswelt 4.0

Entwicklungen der Arbeitswelten haben sich schon immer an den Trends und Entwick-
lungen der Wirtschaft orientiert. Im Kontext von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen
und technologischen Trends kann damit ein Entwicklungspfad der Arbeitswelten über
die verschiedenen Entwicklungsstufen der Industrialisierung beschrieben werden (vgl.
Abb. 10.1).
Die Phase der Arbeit 1.0 bezieht sich auf die beginnende Industriegesellschaft Ende
des 18. Jahrhunderts. Der Übergang von der Manufakturproduktion zu einer beginnen-
den industrialisierten Fertigung wurde vor allem durch den Einsatz der Dampfmaschinen
ermöglicht. Dadurch veränderten sich Produktionsweisen und -abläufe sowie die Organi-
sation von Arbeit insgesamt. Spezifische Gestaltungselemente für die Arbeitsumgebun-
gen der Beschäftigten wurden nicht berücksichtigt, sondern orientierten sich vorwiegend
an produktionstechnischen Anforderungen. Arbeiten waren stark aufgabenorientiert
und vorwiegend sequenziell ausgerichtet. Führung von Mitarbeitern reduzierte sich auf
Anweisungen und Überwachung bei einer sehr stark ausgeprägten Hierarchisierung in
den Unternehmen (BMAS 2015).
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 167

4. Industrielle Revolution
auf Basis von Internettechnologien,
Digitalisierung der Wertschöpfung und
cyber-physischen Systemen

3. Industrielle Revolution
Produktions- durch Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der
Produktion
welten
2. Industrielle Revolution
durch Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mittels elektrischer Energie

1. Industrielle Revolution
durch Einführung mechanischer Produktionsanlagen mithilfe von Wasser und Dampfkraft

Ende 18. Jhd. Beginnend 20. Jhd. Beginnend 1950er Heute

Arbeitswelten Arbeit 1.0 Arbeit 2.0 Arbeit 3.0 Arbeit 4.0

Führung Anweisung, Bestimmung Mitbestimmung Abstimmung/Kooperation

Arbeits- &
starr flexibel Adaptiv in Echtzeit
Prod.-Prozesse

Abb. 10.1  Der Weg zur Arbeitswelt 4.0. (Quelle: in Anlehnung an Bauer 2015)

Im Zuge der Arbeit 2.0 etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts die industrielle
Massenproduktion. Dabei begannen wissenschaftliche Untersuchungen zur Gestal-
tung der Arbeit in Unternehmen. Unter dem Begriff des „Scientific Management“ ent-
standen erste Konzepte zur wissenschaftlichen Betriebsführung (Taylor 2006) und zur
Organisation der Arbeit. Diese Ansätze beruhten stark auf dem Prinzip einer deutlichen
Unterteilung von Arbeitsabläufen, sodass diese auf einfache und repetitive Aufgaben her-
untergebrochen werden konnten. Aufgrund von Arbeitsstudien wurden dabei Tätigkeiten
sehr konkret beschrieben. Die Steuerung der unterschiedlichen Arbeitsabläufe erfolgte
anhand detaillierter Vorgaben und konnte durch die Vorgesetzten relativ einfach über-
wacht werden. Bekannte Vertreter des „Scientific Management“ waren Taylor und Ford.
Insbesondere der Begriff des „Taylorismus“ ist der Inbegriff der Reduktion von Arbeit
auf einfache, repetitive Tätigkeiten. Dabei ging Taylor davon aus, dass durch unüber-
legtes Arbeiten und eine geringe Motivation der Arbeitskräfte hohe Verluste entstünden.
Nach Taylor sollten Arbeitsprozesse in der Form gestaltet sein, dass sie keiner beson-
deren Fertigkeiten der Arbeitenden mehr bedurften. Durch diese Reduktion in Umfang
und Inhalt der Tätigkeiten wurde der Trend zur zunehmenden Dequalifizierung einge-
leitet. Ohne eigenes Wissen über die Produktionsverfahren wurden die Arbeitskräfte
austauschbar. Dominierend waren hierbei vor allem autokratische und patriarchalische
Führungsstile. Folglich verstärkte sich die Separierung zwischen Unternehmern, wel-
che das umfängliche Wissen über die gesamten Produktionsverfahren besaßen, und den
Arbeitenden, welche lediglich vordefinierte Aufgaben ausführten. Die Arbeitswelt war
demzufolge sehr stark zergliedert, mit wenig bis gar keinem Handlungsspielraum der
Beschäftigten (Müller 2000).
In der Phase der Arbeit 3.0 kristallisierten sich die Grundlagen der sozialen Markt-
wirtschaft heraus. Die betriebliche Mitbestimmung wurde eingeführt und damit die
168 C.-P. Praeg und W. Bauer

bisherige Differenzierung zwischen Unternehmern und Beschäftigten verringert. Seit den


80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Produktion durch eine zunehmende Auto-
matisierung weiterentwickelt. Neue Formen der Unternehmensorganisationen, insbeson-
dere die der prozessorientierten Organisation und Arbeitsgestaltung, ermöglichten den
Beschäftigten in gewissem Maße erweiterte Gestaltungsoptionen bei der Erledigung der
Arbeitsaufgaben, obwohl die Input- und Output-Größen relativ strikt vorgegeben waren.
Der Fokus bei der Gestaltung der Arbeitsinhalte und Arbeitsumgebungen verlagerte sich.
Im Kontext der Vorhaben zur „Humanisierung der Arbeit“ rückte der Mensch ins Zen-
trum der Arbeitsgestaltung. Arbeitsergonomie und menschengerechte Gestaltung von
Arbeitsplätzen wurden wichtige Themen. Aufgrund der veränderten organisatorischen
Anforderungen mussten sich außerdem die Arbeitsweisen und demzufolge auch die
Bürokonzepte anpassen, um neben der Effizienz die Performance der Mitarbeiter zu ver-
bessern (Bullinger 1995).
Mit der Verbreitung des Internets und einer Intensivierung in der technischen Ver-
netzung von Menschen, Produkten und Arbeitsabläufen zu sogenannten Cyber Physical
Systems (Bauer et al. 2015) wird die Phase der Arbeit 4.0 eingeläutet. Damit einher geht
wiederum ein tief greifender Wandel in der Produktion von Gütern und Dienstleistun-
gen. Globale Wertschöpfungsnetzwerke sind etabliert, Produktion wird in zunehmendem
Maße individualisiert und ein Wandel in den gesellschaftlichen Werten sowie Anfor-
derungen an die Arbeitswelt ist bereits heute sichtbar. In vielen Bereichen haben sich
Märkte von einer Angebotsorientierung in eine Nachfrageorientierung verlagert. Die
Transparenz von Informationen sowie die Vernetzung von Menschen über internetba-
sierte soziale Netzwerke und Plattformen verstärken die Nachfragemacht der Konsumen-
ten. Aufgrund der hohen Marktdynamiken und der schnell wechselnden Anforderungen
von Kunden und Konsumenten ist der Druck zur ständigen Anpassung und Veränderung
der Produkte, Produktionsverfahren und damit auch der Arbeitsorganisation stark gestie-
gen. Die Arbeit wandelt sich von vorgegebenen Lösungswegen hin zu einer Ergebnisori-
entierung, bei der Mitarbeitern größere Gestaltungsfreiheiten und Selbstorganisation bei
der Aufgabenerledigung eingeräumt werden. Die neuen Freiheiten umfassen die gesam-
ten Arbeitsumgebungen sowie zeitliche und örtliche Gegebenheiten zur Erledigung der
Arbeitsaufgaben. Die gesamten Auswirkungen dieser Entwicklungen auf gesellschaftli-
che Strukturen, Organisationen und auch Anforderungen an Mitarbeiter und Führungs-
kräfte sind noch nicht abschließend erkennbar (BMAS 2015; Bauer 2015).

10.3 Treiber der Entwicklungen einer zukünftigen Arbeitswelt


4.0

Um die kommenden Trends bei der zukünftigen Entwicklung der Arbeitswelt 4.0
abschätzen zu können, ist die Betrachtung wichtiger technischer, gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Trends hilfreich (Abb. 10.2).
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 169

Abb. 10.2   Treiber der


Entwicklungen zur Arbeitswelt
4.0
Trends & Arbeitswelt
Entwicklungen 4.0

• Technologie
• Wirtschaft
• Mensch &
Gesellschaft
• …

Besonders technische Entwicklungen treiben die Transformation der Wirtschaft in


Richtung einer digital vernetzten und zunehmend autonom agierenden Welt und damit
auch der Arbeitswelt 4.0 mit sehr großer Dynamik voran. Dabei lassen sich folgende
ausgewählte Wandlungsphänomene anführen, die die gewaltigen Umbrüche in einer digi-
tal vernetzten Welt verdeutlichen (Bauer 2015):

• Verschmelzen von realer und virtueller Welt: Arbeitsprozesse werden sich zukünf-
tig in unterschiedlichen Umgebungen (zum Beispiel individuell am Arbeitsplatz,
unterwegs mittels Smartphone-Nutzung, Kollaboration innerhalb virtueller Netz-
werke) und neuen Kontexten abspielen (Computing Everywhere). Die virtuelle und
reale Welt werden integriert und die physische Realität durch Informations-Overlays
erweitert. Im Internet der Dinge kommunizieren intelligente vernetzte Objekte mitein-
ander und mit den Menschen. Dies ermöglicht zum Beispiel die autonome Steuerung
von Wertschöpfungsprozessen und intelligenter Arbeitsumgebungen.
• Intelligence Everywhere: Die Menschen erhalten eine technologische Verstärkung,
die ihnen im jeweiligen Arbeitskontext hilfreiche Unterstützung bietet sowie allum-
fassendes Wissen bereitstellt. Menschen können hiervon entsprechend des jewei-
ligen Kompetenzprofils profitieren, zum Beispiel durch Analysealgorithmen, die
die effiziente Filterung von Datenströmen und die Bereitstellung der erforderlichen
Informationen an den jeweiligen Nutzer zur richtigen Zeit gewährleisten. Kontext-
basierte Systeme reagieren zudem auf ihre Umwelt und stellen proaktiv passgenaue
Handlungsempfehlungen zur Verfügung. Autonome Systeme unterstützen Menschen
und nehmen ihnen zunehmend auch Entscheidungen ab. Wissensbasierte Systeme
tragen zur Gesundheitsvorsorge und Gestaltung eines nachhaltigen Lebens bei. Die
Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz und Robotik generieren zuneh-
mend intelligentere Maschinen und leisten einen wesentlichen Teil für die zukünftige
Arbeitsteilung und neue Wertschöpfungsnetzwerke.
• Aufkommen einer neuen IT Realität: Cloud Computing ermöglicht die durch-
gängige Synchronisation von Dokumenten und den orts-wie auch zeitunab-
hängigen Zugriff auf diese durch mobile Endgeräte. Flexible und dynamische
Anwendungen sowie skalierbare Infrastrukturmodelle sind der Garant für neue
170 C.-P. Praeg und W. Bauer

digitale Geschäftsmodelle und Wertschöpfungssysteme (Smart Business) und den


weiteren Ausbau des Internets als Wirtschaftsplattform. Sie sind geprägt durch eine
konsequente Kundenzentrierung und Anwendervielfalt. Dies bedeutet die Abkehr
von klassischen Produkten und Services, hin zu individualisierten Leistungsbündeln.
Digitale E-Learning-Plattformen halten zunehmend Einzug ins Berufs- wie auch
ins Privatleben und befördern das heutzutage selbstverständliche und unabdingbare
lebenslange Lernen.

Trotz der hohen Dynamik aufgrund der Digitalisierung stellt sich die Frage, ob nicht
die Grenzen des dauerhaften Wachstums der Volkswirtschaften erreicht werden. Unter-
nehmen stehen daher vor der Herausforderung, wie sie sich in einer Welt orientieren, in
der die gewohnten Mechanismen der Profitsteigerung nicht mehr funktionieren. In einer
sogenannten Postwachstumsökonomie besitzt die Differenzierung eines Unternehmens
eine überdurchschnittlich hohe Bedeutung. Aus diesem Grund müssen Unternehmen
nicht nur einen hohen Effizienzgrad erreichen, sondern gleichzeitig auch noch die Fähig-
keit besitzen, flexibel und kurzfristig auf spezifische Kundenbedürfnisse und Anforde-
rungen eingehen zu können.
Veränderungen im Bereich „Mensch und Gesellschaft“ sind in erster Linie im demo-
grafischen Wandel und einer zunehmenden Diversifizierung der Gesellschaft begründet.
Im Zuge des demografischen Wandels wird das Durchschnittsalter der Belegschaften
in vielen Bereichen über die nächsten Jahre anwachsen. Für die Arbeit bedingt diese
Entwicklung eine zunehmende Ausrichtung auf Aspekte der gesundheits- und altersge-
rechten Arbeitsgestaltung. Zudem werden in den nächsten zehn bis 15 Jahren in vielen
Bereichen überproportional viele Mitarbeiter aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden.
Allerdings rücken nicht einmal halb so viele neue Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt
nach. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts bedeutet dies für die Bevölke-
rung im Erwerbsalter (20 bis 65 Jahre) in Deutschland bis zum Jahr 2060 ein Minus von
rund 34 %. Für Unternehmen bedeutet diese Entwicklung, dass sie zukünftig nicht mehr
aktiv Personal abbauen sollten, sondern sich verstärkt darum bemühen müssen, mittel-
bis langfristig qualifizierte und kompetente Mitarbeiter zu finden (Bauer 2015).
Parallel zu dieser Entwicklung wachsen die Unterschiede zwischen den Lebenswelten
der Generationen, die in der betrieblichen Realität in einer höheren Individualisierung
der Einzelinteressen zum Ausdruck kommen. Der Unterschiedlichkeit der favorisier-
ten Arbeitsweise sowie den individuellen Ansprüchen auf höhere zeitliche Flexibilität
und räumliche Mobilität der Mitarbeiter durch kollektive Regelungen gerecht zu wer-
den, gestaltet sich zunehmend schwierig. Insbesondere mit Blick auf die viel zitierte
„Generation Y“ und „Generation Z“ werden die Unterschiede der Altersgruppen und
der Wandel der zugrunde liegenden Erwartungen sichtbar. Die diese Generationen cha-
rakterisierenden Erwartungshaltungen und Vorstellungen einer flexiblen und selbst-
bestimmten Lebens- und Arbeitsweise sind schon heute in großen Teilen durch einen
nativen Umgang mit Mobilgeräten und Vernetzung geprägt. Diese Gruppe wird bis zum
Jahre 2020 weltweit 50 % der Arbeitsplätze besetzen. Für die „Digital Natives“ ist die
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 171

Beschäftigung mit Technologien im privaten wie auch im beruflichen Umfeld geradezu


selbstverständlich. Dennoch steigt der Qualifizierungsbedarf für Fachkräfte massiv an
und erfordert die permanente Weiterentwicklung von digitalen Kompetenzen, um im
Wettbewerb mit Mensch und auch Maschinen Schritt halten zu können.
Die Unterschiedlichkeit der Interessen nimmt auch durch einen steigenden Anteil von
Frauen an der Arbeitsbevölkerung sowie die durch Globalisierung und grenzüberschrei-
tende Mobilität ausgelöste Internationalität der Belegschaften und das damit verbundene
Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Lebensanschauungen zu.
Familien, in denen beide Elternteile berufstätig sind, haben hohe Ansprüche an die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf. Beschäftigte mit Angehörigen, die Zuwendung oder
Pflege benötigen, generieren Anforderungen an zeitliche und räumliche Flexibilität in der
Arbeit. Das Bedürfnisprofil variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebensphase und
-situation zunehmend. Das Thema der Work-Life-Balance rückt mehr und mehr in den
Fokus der Diskussion zur Gestaltung von Arbeit. Geben und Nehmen wird zur Maxime
der Arbeitsorganisation. Als eine Folge ist erkennbar, dass sich die Arbeit in den Dimen-
sionen Struktur, Ort und Zeit weiter differenziert. Zukünftig wird es so sein, dass nicht
mehr die Menschen zur Arbeit kommen, sondern die Arbeit zu den Menschen kommt
(Bauer 2015)!

10.4 Anforderungen der zukünftigen Arbeitswelt an


Unternehmen

Die Arbeit von morgen und auch die Arbeitswelt werden sich folglich verändern. Neben
der Veränderung etablierter Berufsbilder und Berufe wandeln sich Unternehmen in ihrer
Organisation und in der Art und Weise, wie die Menschen dort arbeiten. Neben dem
Wandel im Dienstleistungsbereich und in der Industrie werden digitalisierte Arbeitsin-
halte und Formen noch stärker Einzug in den Bereich wissensintensiver Tätigkeiten in
den Büros der Zukunft halten. Wissensarbeit prägt dabei unsere Zeit: Wir erleben einen
vielschichtigen Wandel der Arbeitswelt von eher standardisierten Tätigkeiten und wenig
dynamischen Prozessen hin zu komplexeren Aufgaben und zunehmend flexibleren wie
auch vernetzten Wertschöpfungsstrukturen.
Um die zukünftigen Anforderungen an Unternehmen, insbesondere hinsichtlich einer
höheren Flexibilität bei der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen, erreichen zu
können, müssen diese neue Wege im Kontext der Organisation der Arbeit gehen. Solche
Wege bestehen in einer zunehmenden Entgrenzung der Unternehmen.
Die Entgrenzung von Unternehmen beschreibt dabei eine Entwicklung der zuneh-
menden Auflösung örtlicher, zeitlicher, struktureller und inhaltlicher Grenzen, in denen
Menschen bisher einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen sind. Vereinfacht gesagt,
beschreibt Entgrenzung eine Situation, in der ein Arbeitsalltag nicht mehr mit dem Ver-
lassen des Büros zu einer vorgeschriebenen Zeit endet (vgl. Abb. 10.3).
172 C.-P. Praeg und W. Bauer

Zeit Arbeite
wo Du willst,
flexibel wann Du willst,
und mit wem Du willst.

Teilzeitarbeit

Gleitzeit

Vertrauensarbeitszeit
fest mobil
Arbeit Telearbeit
fixe Strukturen Ort
an einem festen Ort, Mobile Arbeit
zu festen Zeiten,
in fixen Strukturen. Werkverträge
flexible Teams
Co-Working
Struktur
Cloud Work

Abb. 10.3  Entgrenzung in der Arbeitswelt 4.0. (Quelle: Bauer 2015)

Die räumliche Entgrenzung differenziert zwischen einem fest definierten Ort der
Leistungserfüllung bis hin zu einer komplett ortsungebundenen, mobilen Erfüllung der
Arbeit. Im Kern geht es darum, die Flexibilität in Bezug auf die räumliche Erbringung
der Arbeitsleistung unabhängig von einem festen Arbeitsplatz in einer Organisation, ent-
weder von zu Hause oder von jedem denkbaren Ort der Welt zu ermöglichen. In diesem
Kontext wurden in den vergangenen Jahren verstärkt Lösungen in den Bereichen Home
oder Mobile Office sowie Co-Working Spaces diskutiert.
Im Bereich der zeitlichen Entgrenzung reichen die Ausprägungsformen demnach
von einer fest vorgegebenen Präsenzzeit bis hin zu einer komplett flexiblen Arbeitszeit.
Jedoch würde eine vollkommene zeitliche Flexibilität bedeuten, dass weder Arbeitgeber
noch Arbeitnehmer an bestimmte Arbeitszeiten, sondern nur an definierte Arbeitsum-
fänge gebunden wären. Um zu einer produktiven Arbeitsleistung zu gelangen, müs-
sen zumindest Synchronisationspunkte zwischen den Beteiligten geschaffen werden,
in denen die jeweiligen Arbeiten abgestimmt werden, um die vereinbarten Leistungen
erbringen zu können.
Die strukturelle Entgrenzung adressiert vor allem die Organisationsstrukturen und
Hierarchien in den Unternehmen. Dabei kann zwischen klassisch fixierten Strukturen
in Form von Hierarchien bis hin zu komplett selbst organisierten Teams unterschieden
werden. Einige Firmen sind dabei schon dazu übergegangen, hierarchische Strukturen
mehr oder weniger vollständig abzuschaffen. Im Zuge heterarchischer Strukturen werden
zum Beispiel Führungsaufgaben von wechselnden Personen übernommen, die diese nur
für einen begrenzten Zeitraum innehaben. Nach einer vordefinierten Zeit (zum Beispiel
am Ende eines Projektes) wechseln die Rollen und Verantwortungen und die ehemaligen
„Führungskräfte“ gehen unter Umständen wieder anderen operativen Tätigkeiten nach.
In Folge einer zunehmenden Selbstorganisation und Verbreitung agiler Strukturen in
Unternehmen ist es durchaus vorstellbar, dass diese Modelle in Zukunft weiter verbreitet
werden.
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 173

Mit Blick auf die Arbeitswelt bedeuten diese Entwicklungen: Die zumindest poten-
ziell ständige Erreichbarkeit wird abgelöst von der nächsthöheren Stufe, der zumindest
potenziell-ständigen Datenverfügbarkeit getreu dem Motto: „Work where you want“
(Spath 2012). Die gewünschte Flexibilität bei freier Wahl des täglichen Arbeitsortes kann
dabei unterschiedliche Ausprägungen haben. Nachfolgende flexible Arbeitsformen fin-
den dabei in Unternehmen zunehmend Anwendung (Bauer 2015):

• Mobile Telearbeit: Arbeit losgelöst von festen Orten. Sie findet dort statt, wo sie
zweckmäßig erscheint (etwa beim Kunden, im Büro, auf Reisen).
• Home Office: Arbeit ausschließlich in der Wohnung der Beschäftigten.
• Alternierende Telearbeit: Arbeit abwechselnd von zu Hause oder am Arbeitsplatz im
Büro.
• Virtuelle Unternehmen: Kooperation von mehreren rechtlich unabhängigen und
räumlich getrennt arbeitenden Personen oder Unternehmen.
• Satellitenbüro: Telearbeit in einem wohnortnahen Büro, das nur von einem Unter-
nehmen genutzt wird.
• Co-Working Center: Arbeit in einem wohnortnahen Büro, das gemeinsam mit weite-
ren Beschäftigten, anderen Unternehmen und Selbstständigen genutzt wird.

Diese Entwicklungen verdeutlichen die vielfältigen und umfänglichen Gestaltungsspiel-


räume im Bereich der Unternehmensorganisation, die in Zukunft möglich sein werden.
Beschäftigte werden in steigendem Maße darauf drängen, die entsprechenden Spiel-
räume im Zuge der Vereinbarung von Privat- und Berufsleben auch ausnutzen zu können.
Arbeiten 4.0 stellt die Mitarbeiter aber auch vor neue Herausforderungen: Häufiger
wechselnde Arbeitsorte, wechselnde Teams, wechselnde Vorgesetzte, – zuweilen kurz –
befristete Arbeitseinsätze und ein in ständigem Wandel befindliches betriebliches Umfeld
erfordern ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft und zunehmende Kommunikati-
onsfähigkeit aufseiten der Mitarbeiter (Röhrborn 2016). Daher müssen die Beschäftigten
entsprechend vorbereitet werden, um die vielfältigen Chancen auch erfolgreich nutzen
zu können.

10.5 Work-Life-Balance als Voraussetzung für dauerhaft


erfolgreiches Arbeiten in der Arbeitswelt 4.0

Mit der zunehmenden Dynamisierung der Arbeitswelt stehen Beschäftigte und Unter-
nehmen vor der großen Herausforderung, immer flexibler und schneller auf diese Ver-
änderungen reagieren zu müssen. Wie zuvor dargestellt, ermöglicht eine zunehmende
örtliche, räumliche und inhaltliche Entgrenzung der Arbeit viele neue Handlungsspiel-
räume für alle Beteiligten. Der Abstimmung zwischen Berufs- und Privatleben kommt in
der Arbeitswelt 4.0 eine zentrale Rolle zu.
174 C.-P. Praeg und W. Bauer

Dabei sehen viele Menschen eine funktionierende Work-Life-Balance als zukünftigen


Prestige-Faktor und einen entscheidenden Grund für die Wahl eines potenziellen Arbeit-
gebers (Spath 2012; Bauer 2015).

10.5.1 Work-Life-Balance als kontinuierlicher Prozess

Dabei stellt sich erst einmal die Frage, was unter dem Begriff der Work-Life-Balance zu
verstehen ist. Im Laufe der Zeit haben sich vielfältige Begriffsbestimmungen und Defini-
tionen entwickelt.
In vielen Fällen wird „Work-Life-Balance“ als ein Zustand beschrieben, in dem die
Betroffenen einen für sie passenden Ausgleich zwischen Privat- und Berufsleben erzie-
len. In diesem Kontext wird das Modell einer Waage herangezogen, welche sich im
Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen Privat und Beruf befindet (Armutat 2014).
Diese Sichtweise geht unserer Ansicht nach nicht weit genug.
Aufgrund der ständigen Veränderungen der Umwelt und damit auch der Anforde-
rungen an Menschen, sowohl im Privaten als auch in beruflichen Umgebungen, greift
ein statisches Bild der Work-Life-Balance zu kurz. Daher beschreiben wir Work-Life-
Balance als einen kontinuierlichen Prozess des Zusammenspiels zwischen Arbeit und
Privatleben. Eine strikte Trennung der beiden Bereiche kann es in einer Arbeitswelt
nicht mehr geben. Vielmehr verschwimmen die Grenzen und werden gleichzeitig immer
durchlässiger. Privates und berufliche Angelegenheiten beeinflussen sich ständig. Akti-
vitäten aus einem Bereich können bereichernd oder hemmend auf den anderen Bereich
wirken (Armutat 2014). Eine gute Work-Life-Balance ist demzufolge dann erreichbar,
wenn die Betroffenen Abläufe festgelegt haben, wie sie das Privat- und Berufsleben
situations- oder lebensphasengerecht miteinander in Einklang bringen können. Wich-
tig dabei ist, dass sie diesen Prozess auch in ihrem täglichen Leben umsetzen können.
Der Prozess einer Work-Life-Balance ist demnach von unterschiedlichen persönlichen,
arbeitsbezogenen und unternehmensbezogenen Faktoren abhängig (vgl. Tab. 10.1).
In Abhängigkeit dieser Faktoren entscheidet sich u. a., wie Personen ihre jeweilige
Work-Life-Balance gestalten. Dabei gibt es nicht die eine perfekte Lösung, sondern
unterschiedliche Arten der Ausprägungen.

10.5.2 Ausprägung der Work-Life-Balance: entgrenzen oder


abgrenzen

Die Entgrenzung der Arbeit eröffnet ein breites Spektrum, in dem unterschiedliche Arten
der Abgrenzung zwischen Privat- und Berufsleben auftreten können (vgl. Abb. 10.4).
Ein Extrem stellt dabei die vollkommene Separation zwischen Privatleben und Arbeit
dar. Berufliches ist strikt vom Privaten getrennt. Als gegenteiliges Extrem steht die voll-
ständige Integration von Berufs- und Privatleben. Dabei wird Privat- und Berufsleben als
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 175

Tab. 10.1  Abhängigkeiten der Work-Life-Balance


Individuum Arbeitskontext Unternehmenskontext
Aktuelle Lebenssituation Aktuelle Arbeitssituation bzw. Arbeitsorganisatorische Vor-
-belastung aussetzungen
Lebensphase Arbeitsplatzsituation; Frei- Technische Voraussetzungen
heitsgrade bei der Arbeitsge-
staltung
Familiäres Umfeld Rollen, Aufgaben und Ver- Gesetzliche Voraussetzungen
pflichtungen
Gesundheitliche Situation Beschäftigungssituation Sonst. regulatorische Auflagen
Persönliche Einstellung zur Karrierestufe und -entwick- …
Arbeit lungsphase
… Beziehung zu Kollegen und
Vorgesetzten

Arbeits-
Privat- Arbeits- Privat- Arbeits- leben/
leben leben leben leben Privat-
leben

Work-Life-Separation Work-Life-Integration

Abb. 10.4  Work-Life-Balance zwischen Separation und Integration

Einheit betrachtet. Diese Form lässt sich zum Beispiel bei Eigentümern von Unterneh-
men beobachten. Zwischen diesen Extrempolen lassen sich vielfältige Ausprägungen in
der Ausgestaltung von Work-Life-Balance beobachten.
Als Formen der Separation werden in der Literatur folgende Abstufungen gesehen (in
Anlehnung an Härtwig et al. 2009):

• Privat orientierte Separation: Privates und Berufliches ist getrennt, wobei private
Interessen handlungsleitend bei allen möglichen Abwägungen sind.
• Arbeitszentrierte Separation: Arbeit und Privates sind getrennt, die Belastung der
Arbeit überwiegt jedoch.

Bei der Abstimmung beider Bereiche kann es zu Spannungen und Konflikten kommen,
was zu Belastungen für die Betroffenen führen kann.
Neben der Separation lassen sich mehrere Unterstufen der Entgrenzung bis hin zur
Integration beobachten (in Anlehnung an Härtwig et al. 2009):
176 C.-P. Praeg und W. Bauer

• Relativierte Entgrenzung: Die Arbeit wird als bedeutender Teil im Leben wahrge-
nommen. Die Selbstverwirklichung im Privatleben wird für die nahe Zukunft ange-
strebt.
• Arbeitszentrierte Entgrenzung: Das Leben wird vorwiegend über die Arbeit defi-
niert und steht bewusst im Vordergrund.
• Vollständige Integration: Arbeit und Privatleben werden als Einheit betrachtet und
es werden keine Unterschiede zwischen den Bereichen wahrgenommen.

Die Ausführungen verdeutlichen, dass Work-Life-Balance immer vom Individuum aus


zu betrachten ist. Des Weiteren zeigt sich, dass Work-Life-Balance ein dynamischer und
langfristiger Prozess ist, bei dem die aktuell bedeutsamen Lebensbereiche im Hinblick
auf ihre Vereinbarkeit mit der Arbeit beurteilt werden (Antoni et al. 2014). Work-Life
Balance ist das Ergebnis eines solchen Prozesses. Um diesen Zustand zu erreichen, kön-
nen unterschiedliche Strategien verfolgt werden, sowohl vonseiten der Mitarbeiter als
auch von Unternehmensseite.

10.5.3 Umsetzungsstrategien für Mitarbeiter

In der Work-Life-Balance-Forschung sind Strategien erarbeitet worden, anhand derer


Mitarbeiter die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben aufrechterhalten und gestalten
können (Antoni et al. 2014). Dabei werden folgende Strategien formuliert:

• Verhaltensbezogene Strategien (zum Beispiel die Nutzung technischer Hilfsmittel


oder die Priorisierung von Aufgaben).
• Räumliche Strategien (zum Beispiel die Nutzung unterschiedlicher Arbeitsorte und
Arbeitsumgebungen).
• Kommunikative Strategien (zum Beispiel das Mitteilen von Erwartungen und Kon-
frontieren bei Missachtung der eigenen Grenzen).
• Kognitive Strategien (zum Beispiel das bewusste Unterdrücken arbeitsbezogener
Gedanken in der Freizeit).

Ergänzend zu diesen Strategien werden im Kontext der Coping-Forschung, Ansätze


und Strategien für die Bewältigung von Arbeitsanforderungen untersucht (Antoni et al.
2014). Dabei werden zwei Bewältigungsstrategien unterschieden: Problem- und emoti-
onsorientiertes Coping (Lazarus und Folkman 1984). Das problemorientierte Coping
adressiert dabei Verhaltensweisen, die sich auf die Ursache der Belastung beziehen.
Emotionsorientiertes Coping fokussiert dagegen auf die Regulation der emotionalen
Reaktion, beispielsweise durch Distanzierung, den Ausdruck von Gefühlen oder die
Suche nach sozialer Unterstützung.
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 177

Die genannten Strategien lassen sich sowohl von einzelnen Personen selbst anwen-
den, als auch in Bezug zu anderen Personen. Führt man die aufgezeigten Bereiche
zusammen, können die in Tab. 10.2 aufgelisteten Strategiefelder identifiziert werden.
Für die Mitarbeiter ergeben sich somit zahlreiche Möglichkeiten und Handlungs-
optionen, um eine für sie passende Work-Life-Balance im jeweiligen Kontext von
Arbeitsanforderungen und Lebenssituationen zu schaffen. Eine erhöhte Anspruchshal-
tung der Beschäftigten auf der einen Seite bedarf dann auf der anderen Seite aber auch
mehr Selbstverantwortung, mehr Selbststeuerung und mehr Engagement seitens der

Tab. 10.2  Handlungsfelder individueller Work-Life-Balance-Strategien. (Quelle: in Anlehnung


an Syrek et al. 2014)
Problemorientiert Vermeidungsorientiert
Strategien der Person selbst Verhaltensbezogen: Verhaltensbezogen:
• Aktiv auf Problemlösungen • Bewusstes Hinnehmen eines
hinwirken (zum Beispiel Auf- Problems
gaben- und Terminplanung in • Abwartendes Verhalten,
Beruf und Privaten) insbesondere bei Angele-
• Bewusster Verzicht von genheiten, die nicht selbst
Tätigkeiten beeinflussbar sind
• Zeitbudgets einrichten • Vermeidung von Kommuni-
kation, um bestimmte Dinge
nicht anzusprechen
Emotional: Emotional:
• Beruf und Privatleben werden • Vermeidung des Ausdrucks
als Erfüllung erlebt und Mög- von Gefühlen
lichkeit zur Selbstverwirkli- • Emotionale Distanzierung
chung wird wahrgenommen
Kognitiv: Kognitiv:
• Setzen von Prioritäten • Akzeptanz des Vereinba-
• Bewusstes gedankliches rungskonfliktes
Abschalten • Bewusste Vermeidung bezüg-
• Fokus auf das Positive lich Reflektion über aktuelle
Situation
Strategien im Kontakt mit Verhaltensbezogen: Verhaltensbezogen
anderen Personen • informeller Austausch von
Information und Wissen
• Aktives Aufsuchen von
Gesprächen mit Kollegen und
Führungskräften
Emotional: Emotional:
• Vertrauen in Vorgesetzten • Verständnis vonseiten des
• Anerkennung durch Vorge- Partners, Familie, Freunde
setzten und Unternehmen bzw. Kollegen, Team, Vorge-
setzten oder Kunden
178 C.-P. Praeg und W. Bauer

Beschäftigten (Bauer 2015). Entscheidend für deren Erfolg ist jedoch, dass Unternehmen
diese Strategien auch aktiv unterstützen bzw. diese nicht von vornherein unterbinden.
Wie bereits erwähnt, stellt die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben nicht nur für
Mitarbeiter ein wichtiges Element im Arbeitsleben dar. Aufgrund des oben beschrie-
benen demografischen Wandels und einer damit einhergehenden Verringerung der
Beschäftigtenzahlen ist es für Unternehmen auch von grundlegender Bedeutung, ihren
Beschäftigten geeignete Möglichkeiten zur Vereinbarung von Familie, Beruf und Privat-
leben zu bieten.

10.5.4 Schaffung von Rahmenbedingungen in Unternehmen

Unternehmen können Work-Life-Balance-Konzepte für Beschäftigte wirksam unterstüt-


zen und sich somit als attraktiver Arbeitgeber im Werben um die Toptalente der Zukunft
positionieren. Dazu müssen sie geeignete Rahmenbedingungen schaffen. Dazu hat die
Deutsche Gesellschaft für Personalführung (DGFP) entsprechende Vorschläge erarbeitet
(Armutat 2014).
Es gilt dabei,

• flexible Regeln zu schaffen:


Unternehmen etablieren Regelungen, um die Flexibilisierung in Bezug auf die
Arbeitszeit sowie den Arbeitsort zu gestalten (zum Beispiel Gleitzeit, Teilzeitmodelle,
Job-Sharing, Sabbaticals etc.).
• Unterstützung anzubieten:
Entsprechende Unterstützungsangebote für die Beschäftigten werden eingerichtet
(zum Beispiel in der Elternphase, bei der Pflege von Angehörigen etc.).
• Führungssysteme zu entwickeln:
Die Führungssysteme sind um Work-Life-Balance-Maßnahmen zu ergänzen. Füh-
rungskräfte erkennen die Notwendigkeit und fördern Work-Life-Balance durch akti-
ves Vorleben. Notwendige Voraussetzungen und Kompetenzen sind durch geeignete
Weiterbildungsmaßnahmen zu entwickeln (zum Beispiel Leitbilder und Führungs-
grundsätze, Integration von Work-Life-Balance-Zielen, Vorleben von Rollenmodellen
etc.).
• Prozesse zu überprüfen und anzupassen:
Sowohl die vorhandenen HR-Prozesse als auch die gesamte Prozessorganisation wer-
den dahin gehend überprüft, ob sie diese Work-Life-Balance unterstützen. Dabei sind
entsprechende Verfahren und Standards zu etablieren, die eine Work-Life-Balance
nachhaltig sicherstellen.

Im Idealfall sind die mitarbeiter- und unternehmensbezogenen Strategien kongruent und


ergänzen sich entsprechend, sodass Mitarbeiter und Führungskräfte geeignete Rahmen-
bedingungen für performantes Arbeiten etablieren können. Entwicklungen im Kontext
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 179

der Arbeitswelt 4.0 unterstützen diese Anforderungen. Mit Blick auf die Entwicklung
der Arbeitsumgebungen zeigt sich, dass zukünftige Büroumgebungen eine nachhaltige
Work-Life-Balance aller Beschäftigten wirkungsvoll unterstützen können.

10.6 Leben und Arbeiten in agilen und smarten


Arbeitsumgebungen

Unternehmen müssen auf diese Anforderungen in Bezug auf die Ausgestaltung der
Work-Life-Balance der Beschäftigten reagieren. Sie tun dies durch die zunehmende
Etablierung agiler Organisationsstrukturen, einer Veränderung des Führungsverhaltens
sowie der Einführung smarter Arbeitsumgebungen.

10.6.1 Agile Unternehmensstrukturen

Im Bereich des organisatorischen Gestaltungsbereichs der Arbeitswelt 4.0 wird oft das
Leitbild einer agilen Organisation herangezogen. Dabei verstehen wir unter einer agilen
Organisation eine Organisation, die jederzeit in der Lage ist, die vom Markt geforderte
Leistung oder Produkte bereitstellen zu können und die auf Veränderungen der äußeren
Anforderungen sofort reagieren kann. Erreicht wird dies durch eine konsequente Kun-
denorientierung und Fokussierung auf bestehende und zukünftige Bedürfnisse. Dabei
müssen alle Geschäftsprozesse an den Kundenanforderungen ausgerichtet werden.
Agile Organisationen optimieren ihre Prozesse aus Sicht der Kunden über die gesamte
Wertschöpfung und enden nicht an den klassischen Grenzen des Unternehmens. Eine
Voraussetzung dafür ist die „menschengerechte“ – im Sinne von kreativ, anregend und
sozial – Gestaltung des Arbeitsumfelds (Gloger und Margetich 2014).
Folgende Ziele werden mit einer agilen Organisation verfolgt (in Anlehnung an Bauer
2016):

• konsequente Kunden- und Marktorientierung,


• Sicherstellung des langfristigen wirtschaftlichen Erfolgs,
• Erhöhung der Flexibilität in Strukturen und Prozessen,
• Steigerung der Anpassungsgeschwindigkeit,
• Steigerung der Innovationsfähigkeit,
• Steigerung der Motivation der Belegschaft,
• Verbesserung des organisatorischen Lernens durch ständigen Austausch mit Kollegen
und Kunden.

Um die genannten Ziele erreichen zu können, müssen viele in der Vergangenheit etab-
lierte Strukturen und Verfahren grundlegend überdacht und angepasst werden. Dabei
stellt eine „agile Transformation“ eine vollständige Umsetzung des agilen Gedankens
180 C.-P. Praeg und W. Bauer

Kernorientierung Strategie Führung


Kundenorientierung Klare Vision als Abschied vom Machtanspruch
Prozessorientierung Richtungsgeber in Aufgreifen neuer Impulse
Netzwerkfähigkeit ergebnisoffenem Prozess Coaching & Empowerment

Teams Agile Unternehmens- Steuerung


Selbstorganisation
strukturen
Definition smarter Ziele
Temporabilität Kundenorientiert, experimentell
Steuerungsprozesse (dezentral &
iterativ, improvisierend
Interdisziplinarität vernetzt)
vernetzt, selbstorganisiert

Arbeitsplatz Personal Anreizsysteme


Direkte Kommunikation Neue Qualifikationen Zielgrößenauswahl
E-Collaboration Erlebnisorientiertes Lernen und -zusammensetzung
Virtualisierung Einfühlen in Kundensicht Team als Bewertungseinheit

Abb. 10.5  Gestaltungsprinzipien agiler Organisationen. (Quelle: in Anlehnung an Bauer 2016)

dar. Im Gegensatz dazu werden bei einer „agilen Adoption“ nur einige wenige Prakti-
ken etabliert. Die Erfahrungen zeigen, dass es bei der Transformation um die radikale
Veränderung einer Unternehmenskultur geht: hin zu einer Unternehmenskultur, die sich
konsequent und stringent am Kunden orientiert und Offenheit praktiziert. Abb. 10.5 zeigt
ausgewählte Gestaltungsbereiche und Prinzipen für die Umsetzung agiler Organisationen
auf.

10.6.2 Neugestaltung des Führungsverhaltens

Führungskräften kommt bei der Transformation zu agilen Organisationsstrukturen eine


große Bedeutung zu. Wenn eine Rolle im Unternehmen dieser Tage massiv neu erfunden
wird, dann die der klassischen Führungskraft (Bauer 2015). Das traditionelle Rollenver-
ständnis von Führung in Form von strikten Vorgaben und dezidierter Kontrolle der Arbei-
ten der unterstellten Mitarbeiter gilt nicht mehr. Führungskräfte können sich nicht länger
auf definierte hierarchische Rollen mit entsprechenden Weisungsbefugnissen verlassen.
Sie müssen sich in vielen Bereichen an neue Anforderungen anpassen.
Führungskräfte müssen daher ein Bewusstsein zur Veränderung in Richtung einer agi-
len Organisation schaffen bzw. darin bestärkt werden. Dabei sollen bestehende Befürch-
tungen und Ängste, ebenso wie die Chancen, mit den Betroffenen abgestimmt werden.
Einerseits ist es erforderlich, dass Führungskräfte den Mitarbeitern Orientierung in
Bezug auf die angestrebten Ziele des Unternehmens vermitteln. Andererseits müssen sie
bereit sein, im Sinne flacher Hierarchien Entscheidungshoheit an Mitarbeiter zu delegie-
ren, die im Rahmen ihrer Arbeiten meist eine bessere Entscheidungsbasis besitzen. Füh-
rungskräfte sollten also ihre Teams coachen und die Mannschaften so aufstellen, dass sie
eine bestmögliche Leistung erbringen können (Gloger 2013).
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 181

Folgende Anforderungen an Führung und Führungskräfte sind in diesem Kontext


wichtig (Bauer 2016):

• Vision:
– starke Vision, positives Bild von der Zukunft als „Big Picture“ entwerfen und kom-
munizieren,
– persönliche Fähigkeit zur Verhaltensbeeinflussung,
– an Kontext und Bedürfnissen orientiertes, flexibles Führen;
• Vorbild:
– attraktive Reputation und Bekanntheit,
– Unternehmertum und Mut zu unternehmerischen Entscheidungen,
– Persönlichkeit und Reife,
– Vertrauen und Integrität,
– Verantwortung übernehmen,
– intellektuelle Agilität,
– kontinuierliche Lernbereitschaft;
• Hinterfragende Grundhaltung:
– professionelle Kompetenz,
– Teams leistungs- und ergebnisorientiert zusammenstellen können,
– Coaching der Teams und Mitarbeiter,
– Zusammenarbeit in Teams und zwischen Teams unterstützen und fördern.

10.6.3 Schaffung smarter Arbeitsumgebungen

Mögliche Antworten auf die oben genannten Umsetzungsstrategien für gute Work-Life-
Balance-Prozesse stellen die Angebote von smarten Arbeitsumgebungen dar. Zukünf-
tige Arbeitsumgebungen müssen ihren Nutzern ein vielfältiges, attraktives Angebot an
Möglichkeiten für Arbeit und Leben bieten. Dabei bleibt trotz aller Entgrenzung die
Arbeitsumgebung „Büro“ – als ein Ort hoher Lebensqualität, Inspiration und Produktivi-
tät – ein wesentliches Element des Unternehmens (Bauer 2016).
Das persönliche Treffen von Menschen am Arbeitsort dient auch der Bildung und Fes-
tigung einer tragfähigen Unternehmenskultur, der Stärkung gemeinsamer Werte und Ver-
besserung des persönlichen Umgangs der Beschäftigten und Führungskräfte miteinander.
Die physische Arbeitsumgebung spielt somit gerade in einer äußerst flexiblen Welt eine
große Rolle. So wird das Bedürfnis der Mitarbeiter nach einer autonomeren, selbstbe-
stimmten Gestaltung ihrer Arbeits- und Leistungserbringung deutlich ansteigen (Bauer
2015).
Für die Zukunft ist daher eine starke, von den Mitarbeitern vorangetriebene Flexibili-
sierungswelle zu erwarten. Auslöser dieser Entwicklung ist u. a. das steigende Bedürfnis,
Karriere und Berufsleben möglichst optimal mit dem individuellen Lebensstil in Ein-
klang zu bringen. Aus diesem Grund werden zukünftig sehr individuelle und dynamisch
182 C.-P. Praeg und W. Bauer

veränderliche Modelle in der Gestaltung von Arbeit umgesetzt werden. Der Einfluss der
Arbeits- und Büroumgebung auf Wohlbefinden, Motivation und Leistungseinschätzung
ist nachgewiesen. Sie unterscheidet sich aber je nach Büro und Büroorganisationsform.
Ergebnisse der vom Fraunhofer IAO durchgeführten Studie „Office Settings“ verdeut-
lichen positive Erwartungen von Mitarbeitern mit einer räumlichen und zeitlichen Flexi-
bilisierung von Büro- und Wissensarbeit. Eindeutig bestätigt sich eine positive Wirkung
zwischen der Zufriedenheit mit der Büroumgebung und ausgewählten Erfolgsfaktoren,
wie beispielsweise Motivation, Work-Life-Balance und Performance. Während zwi-
schen dem Einfluss einer bestimmten, autonomen Arbeitsweise und dem Wohlbefinden,
der Motivation und einer energetischen Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit ein starker
bis sehr starker positiver Zusammenhang besteht, zeigt sich im Hinblick auf die Perfor-
mance ein etwas geringerer Einfluss. Es wird also erkennbar, dass die Konzeption und
Gestaltung einer optimalen Arbeitsumgebung in einer flexiblen, stark selbstbestimmten
Arbeitsweise einen essenziellen Beitrag zum Arbeitserfolg und dem Wohlergehen von
Beschäftigten darstellen (Bauer 2015; Stolze et al. 2015).
Zukünftig gilt es, die Arbeitsumgebung als einen Mix aus unterschiedlichen Orten
der Leistungserbringung zu verstehen, welche die Büroumgebung im Unternehmen, das
Büro zu Hause, beim Kunden, unterwegs und an sonstigen Orten umfasst und den viel-
fältigen Anforderungen der Wissensarbeiter gerecht wird. Daher sind Büroumgebungen
in einer Weise zu konzipieren und zu entwickeln, dass diese die jeweiligen Anforderun-
gen unterschiedlicher Arbeits- und Flexibilitätstypologien bestmöglich unterstützen.
Zukunftsszenarien des Fraunhofer IAO zur Arbeitswelt 4.0 gehen davon aus, dass
Menschen eine digitale Identität besitzen werden (Spath 2012). In dieser digitalen Iden-
tität sind alle Informationen zur jeweiligen Person sicher gespeichert. Die hinterlegten
Informationen betreffen alle Lebensbereiche der betreffenden Person. Diese verwaltet
aktiv, wer, zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Zweck auf ausgewählte Informatio-
nen zugreifen darf. Darüber hinaus interagieren die Menschen zukünftig über diese digi-
talen Identitäten mit ihrer Umgebung. Arbeiten und Kommunizieren mit entsprechenden
Technologien funktioniert nahtlos und schnittstellenfrei. Konkret heißt das: Je nach
Nutzerprofil erhält der mit mobilen Geräten, wie zum Beispiel einem Smartphone oder
Tablet, ausgestattete Mitarbeiter maßgeschneiderte, für die effiziente Durchführung der
Tätigkeit erforderliche Informationen und Services (Bauer 2015).
In den Büros findet eine automatische Anpassung auf den Nutzer und die entspre-
chende Arbeitssituation statt; Arbeitsplätze, Beratungs- und Meetingräume werden zu
mitdenkenden Smart Rooms. In diesen ist es zum Beispiel möglich, profilbasiert die –
unter ergonomischen Gesichtspunkten – richtige Arbeitsplatzkonfiguration einstellen zu
lassen und die für die jeweilige Aktivität erforderlichen Anwendungen, Services, Daten
wie auch Personen automatisiert aus der Cloud bereitgestellt bzw. virtuell hinzugeschal-
tet zu bekommen. Die Umgebung passt sich mit entsprechenden Beleuchtungs- und
ggf. Soundkonfigurationen an und trägt somit zum Wohlbefinden der Beschäftigten bei
(Spath 2012).
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 183

Für die Zukunft wird es wichtig sein, dass Angebote in der Arbeitsgestaltung geschaf-
fen werden, sodass Beschäftigte die für die aktuelle Arbeitssituation optimale Umgebung
auswählen können. Derart smarte Umgebungen werden sich in der weiteren Zukunft
nicht nur auf die klassischen Büros beschränken. Mit der Verbreitung von Smart-Home-
Lösungen lassen sich diese Konzepte ebenso für die heimische Arbeitsumgebung gestal-
ten. Neben der flexiblen Gestaltung der Arbeitsumgebungen müssen zusätzlich flexible
zeitliche und inhaltliche Synchronisationsprozesse im jeweiligen Arbeitsteam etabliert
werden, damit für die betreffenden Personen jederzeit passende Möglichkeiten zur Ver-
einbarung von Privat- und Berufsleben realisiert werden können.

Zusammenfassung
Die Arbeitswelt der Zukunft ist durch ein neues Verständnis geprägt. Die TOP-Grund-
pfeiler (Technik, Organisation und Personal) bleiben als Gestaltungsfelder auch in der
Arbeitswelt 4.0 bestehen und müssen an die kommenden Herausforderungen ange-
passt werden (Bauer 2015). Trotz aller technischen Fortschritte bleiben Menschen
auch auf absehbare Zukunft der Mittelpunkt der arbeitswissenschaftlichen Betrach-
tungen. Sie erfahren innerhalb der neuen, hyperflexiblen und mobilen Arbeitswelt bis
dato noch nie da gewesene Möglichkeiten zur Gestaltung des Berufs- und Privatle-
bens.
Die Gestaltung von passenden Voraussetzungen und Prozessen zur Umsetzung von
Work-Life-Balance ist ein zentraler Erfolgsfaktor für Unternehmen in der Arbeits-
welt 4.0 (Spath 2012). Insbesondere wenn dieser Aspekt seitens der Beschäftig-
ten in zunehmendem Maße als wichtig empfunden wird, bekommen all diejenigen
Unternehmen, die nicht darauf eingerichtet sind, große Probleme, qualifizierte und
motivierte Mitarbeiter einzustellen bzw. dauerhaft zu halten. Die zukünftigen Arbeits-
welten werden Nachfragemärkte sein. Aufgrund der demografischen Entwicklungen
und eines noch immer anhaltenden Fachkräftemangels werden sich die qualifizierten
und kompetenten Beschäftigten auf attraktive Arbeitgeber konzentrieren. Schaffen es
Unternehmen nicht, attraktive Arbeitsumgebungen mit interessanten Arbeitsinhalten
zu bieten, werden sie mittel- bis langfristig aus dem Markt ausscheiden.

Literatur

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Über die Autoren

Prof. Dr.-Ing. Wilhelm Bauer  ist Institutsleiter am Fraun-


hofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO
in Stuttgart sowie geschäftsführender Verwaltungsrat der
Fraunhofer Italia Research s.c.a.r.l. Als Institutsleiter führt
Professor Bauer eine Forschungsorganisation mit etwa
560 Mitarbeitern. Er verantwortet dabei Forschungs- und
Umsetzungsprojekte in den Bereichen Innovationsfor-
schung, Technologiemanagement, Leben und Arbeiten
in der Zukunft, Smarter Cities und Mobility Innovations.
Als Mitglied in einer Vielzahl von Gremien berät er Poli-
tik und Wirtschaft. Bauer ist Autor von mehr als 300
10  Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0 … 185

wissenschaftlichen und technischen Veröffentlichungen. An den Universitäten Stuttgart


und Hannover ist er Lehrbeauftragter. Er erhielt die Ehrung des Landes Baden-Württem-
berg als „Übermorgenmacher“.

Dipl. oec. Claus-Peter Praeg  ist Projektleiter am Fraun-


hofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO)
in Stuttgart im Bereich „Business Performance Manage-
ment“. Seine derzeitigen Arbeitsschwerpunkte liegen im
Bereich Innovationsforschung, insbesondere Geschäfts-
modell- und Wertschöpfungsmanagement. Des Weiteren
berät er Dienstleister in den Themenfeldern Geschäfts-
prozessmanagement sowie IT-Servicemanagement. Seine
Expertise hat er in der Leitung zahlreicher nationaler und
internationaler Beratungs- und Forschungsprojekten unter
Beweis stellen können. Herr Praeg ist Autor zahlreicher
wissenschaftlicher Publikationen und Lead-Autor der jährlich erscheinenden Marktstu-
die „Bank & Zukunft“.
Trends und Entwicklungen im Kontext
von New Work 11
Zur Sinnfrage in der modernen Arbeitswelt
Jutta Rump und Silke Eilers

Zusammenfassung
Unter der Begrifflichkeit New Work werden Trends und Entwicklungen in der
Arbeitswelt diskutiert, die insbesondere Veränderungen im Hinblick auf Arbeits-
formen und -beziehungen, die Grenzziehungen zwischen beruflicher und privater
Sphäre, aber auch die Vielfalt in den Belegschaften mit sich bringen. Vor dem Hinter-
grund der Leitprinzipien der Flexicurity und der Employability stellt sich die zentrale
Frage, worüber sich in einem derart volatilen Umfeld die Sinnhaftigkeit des Arbeitens
für den Einzelnen definiert.

Inhaltsverzeichnis

11.1 Einführung und Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188


11.2 Zentrale Trends im Kontext von New Work und ihre Konsequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . 188
11.2.1 Überblick über die zentralen Trends. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
11.2.2 Konsequenzen im Kontext von New Work. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
11.3 New Work und die Sinnhaftigkeit der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
11.3.1 Leitprinzipien zukunftsorientierten Arbeitens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
11.3.2 Zur Sinnhaftigkeit des Arbeitens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
11.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
Über die Autorinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

J. Rump (*) · S. Eilers 
Institut für Beschäftigung und Employability IBE, Ludwigshafen, Deutschland
E-Mail: [email protected]
S. Eilers
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 187


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_11
188 J. Rump und S. Eilers

11.1 Einführung und Begriffsklärungen

„Nicht, was er mit seiner Arbeit verdient, ist der eigentliche Lohn des Menschen, son-
dern was er durch sie wird“, sagte bereits im 19. Jahrhundert der englische Schriftstel-
ler, Kunsthistoriker, Maler und Sozialphilosoph John Ruskin. Dieser Zusammenhang ist
heute aktueller denn je und wird nicht zuletzt unter dem Schlagwort „New Work“ disku-
tiert.
Dabei bleibt offen, wie sich New Work letztlich definiert. Für den Philosophen Frith-
jof Bergmann, der den Begriff bereits in den frühen 1980er Jahren im Kontext des Nie-
dergangs der US-amerikanischen Automobilindustrie prägte, geht es nicht nur um New
Work, sondern auch um New Culture. Im Kern bezieht sich sein Konzept darauf, die
Abhängigkeit von bezahlter Arbeit zu reduzieren und es Menschen zu ermöglichen, einer
Arbeit nachzugehen, die sie bewusst auswählen, als sinnstiftend empfinden und die ihren
tiefsten inneren Überzeugungen entspricht. Darüber hinaus zielt New Work – New Cul-
ture – darauf ab, zu einer Kultur der Selbstversorgung und der Nachhaltigkeit zu gelan-
gen. Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft sind die zentralen
Werte. Dies soll nicht zuletzt durch eine Dreiteilung, in Ergänzung zu dem aus Sicht der
New-Work-Verfechter auslaufenden Jobsystem, realisiert werden: ein Drittel Erwerbsar-
beit, ein Drittel Selbstversorgung und ein Drittel Berufung im Sinne einer Tätigkeit, für
die man sich sehr bewusst entscheidet (NANK 2016). Für Thomas Sattelberger, ehemali-
ger Vorstand Personal bei der Telekom AG, sind Prinzipien wie Selbststeuerung, Selbst-
bestimmung und Balance von Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen untrennbar
mit dieser Begrifflichkeit verknüpft. Hinzu kommt die Sinnfrage, die sehr viel mit
Stolz auf die eigene Arbeit und den Arbeitgeber zu tun hat (Sattelberger 2014). Für das
Zukunftsinstitut ist „New Work“ einer der aktuellen Megatrends, der sich aus insgesamt
25 Einzeltrends zusammensetzt (Zukunftsinstitut 2016).
Führt man sich die grundlegenden Trends und Entwicklungen vor Augen, die die
Arbeitswelt der Zukunft, das viel beschworene „Arbeiten 4.0“, bestimmen, so wird
deutlich, dass hierbei starke Bezüge zum New-Work-Gedanken bestehen (BMAS 2015;
Rump und Eilers 2016a). Nachfolgend sollen insbesondere die fortschreitende Entwick-
lung hin zu einer Innovations- und Wissensökonomie, die digitale Transformation und
neue Wertemuster in der Gesellschaft in ihrem Bezug zu New Work untersucht wer-
den. Hierauf aufbauend geht es darum, zu identifizieren, worin sich Sinnstiftung in der
modernen Arbeitswelt manifestiert.

11.2 Zentrale Trends im Kontext von New Work und ihre


Konsequenzen

Die Frage danach, wie wir in Zukunft leben und arbeiten werden, treibt Trendforscher,
Unternehmens- und Personalverantwortliche, aber auch jedes Individuum bereits seit
vielen Jahren um. Im Kontext der voranschreitenden Digitalisierung jedoch erhält diese
11  Trends und Entwicklungen im Kontext von New Work 189

Diskussion noch einmal eine neue Dynamik. Der Begriff „Arbeiten 4.0“, der insbeson-
dere über das gleichnamige „Grünbuch“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
(BMAS 2015) Bekanntheit erlangt hat, lässt schon erahnen, dass hier ein Umbruch von
lange nicht da gewesenem Ausmaß bevorsteht, beziehungsweise bereits im Gange ist.

11.2.1 Überblick über die zentralen Trends

Die digitale und mobile Kommunikation verändert die Zusammenarbeit und Koordina-
tion sowie den Zugang zu global verteilten Kompetenzen und Ressourcen. Ortsungebun-
denes Arbeiten mit einem modifiziertem Arbeits- und Unternehmensalltag ermöglicht
neue Arbeitsmodelle auf lokaler und globaler Ebene. Das Verschwimmen digitaler und
physischer Grenzen wandelt auch die Kunden- und Geschäftsbeziehungen, Wertschöp-
fungsketten und Geschäftsmodelle. Das Verschmelzen der realen und virtuellen Welt
im „Internet der Dinge“ birgt Geschäftspotenziale, Raum zur Optimierung betrieblicher
Abläufe und zur Steigerung der Effizienz und Effektivität. Die modernen Technologien
sind auch Teil gesellschaftlicher Inklusionsprozesse (Münchner Kreis 2013; BMAS
2015; BMWI 2015). Derzeit wird die Digitalisierung insbesondere vor dem Hintergrund
von „Industrie 4.0“ erforscht und analysiert, und zwar mit dem Fokus auf Wertschöp-
fung, Produktivität und Beschäftigung. Doch auch Fragen nach den Auswirkungen der
Digitalisierung auf Unternehmenskultur, Betriebsklima, Führung etc. finden in zuneh-
mendem Maße Berücksichtigung. Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine kann
zu einer ergonomisch vorteilhafteren Arbeitsgestaltung führen, stellt aber gleichzeitig
hohe Anforderungen an kognitive Fähigkeiten (Schütte 2014; Rump und Eilers 2016a).
Dr. Natalie Lotzmann, Vice President HR und Chief Medical Officer des Global Health
Management bei SAP, formuliert es im Rahmen einer Podiumsdiskussion wie folgt:
„Alle Betriebe werden irgendwann über die gleichen Technologien verfügen. Was sie
am Markt unterscheidet, sind Einstellung, Verhalten und Engagement der Mitarbeiter“
(Lotzmann 2015).
Es wird deutlich, dass die Digitalisierung nicht losgelöst von weiteren zentralen
Trends und Entwicklungen betrachtet werden kann, die vielfach miteinander in Wech-
selwirkung stehen. So ist ein weiteres Kennzeichen der Arbeitswelt der Zukunft die
zunehmende Volatilität – also Unbeständigkeit oder Flüchtigkeit – von Produkten und
Dienstleistungen, gekennzeichnet durch kürzere Produktlebenszyklen und schnellere
Innovationszyklen. Es wird zu einem Wettbewerbsfaktor, Unsicherheiten und Instabilitä-
ten und damit letztlich eine neue Dimension der Komplexität auf der Unternehmensseite
zu steuern und auf der Mitarbeiterseite „auszuhalten“ (BDI & Z_Punkt GmbH 2011;
Rump und Eilers 2016a).
Ein besonderes Augenmerk soll im Hinblick auf New Work dem voranschreitenden
Wandel von Wertemustern in der Gesellschaft gewidmet werden. Dieser ist auch ein
nicht zu unterschätzender Faktor hinsichtlich der Sicherung der Fachkräftebasis und
damit der Wettbewerbsfähigkeit des Innovations- und Wissensstandorts Deutschland
190 J. Rump und S. Eilers

(Zukunftsinstitut 2012; HayGroup 2011). Menschen sehen sich einer immer größeren
Anzahl an Optionen in allen möglichen Bereichen ihres Lebens gegenüber. Die ver-
schiedenen Wahlmöglichkeiten in dieser „Multioptionsgesellschaft“ führen dazu, dass
Selbstfindung und Selbstverwirklichung einfacher zu realisieren sind und einen hohen
Stellenwert im Leben einnehmen. Mit anderen Worten: „Individualität bedeutet die Frei-
heit zur Wahl“ (Gross 1994). Statt klar vorgezeichneten Lebensphasen ist heute eine
große Pluralität an sich abwechselnden biografischen Elementen zu erkennen (Haaf und
Bauer 2012). So zeigen sich in den Erwerbsbiografien zunehmend Brüche, in denen sich
Phasen der Selbstständigkeit und des Angestelltendaseins, der Vollzeit- und der Teilzeit-
beschäftigung, der Führungs-, Projekt- oder Fachlaufbahnen, oder auch der Auszeiten
für außerberufliche Aufgaben und Interessen abwechseln. Aspekte wie Selbstverwirkli-
chung, Handlungsspielräume, eine gelungene Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben,
aber auch Arbeitszeiten und Arbeitsorte, die dem persönlichen Lebensentwurf entspre-
chen, nehmen bezogen auf die Arbeit eine steigende Bedeutung ein und verdrängen
traditionelle Anreize wie Status und hohes Einkommen (HayGroup 2011, Schuldt und
Ehret 2015). „Es geht nicht mehr um die Frage ‚Was stelle ich dar?‘, sondern: ‚Wie geht
es mir, wie fühle ich mich, was bringt mich weiter?‘“ (Schuldt und Ehret 2015, S. 27).
Mit der Individualisierung einher geht auch ein Anstieg der Vielfalt an Normen und
Werten in der Gesellschaft und infolgedessen ein Wertewandel. Zu dieser Wiederbele-
bung von Werten – oder auch Rückbesinnung auf Kernwerte – zählen beispielsweise
die gesellschaftliche Aufwertung von Ehe, Familie und Kindern, die soziale Anerken-
nung ehrenamtlicher und freiwilliger Tätigkeiten, die grundlegende Neubewertung von
Arbeit und Leistung sowie die vorrangige Förderung von Bildung und Kultur. Galt frü-
her die primäre Orientierung häufig der Erwerbsarbeit, so lässt sich durch den Werte-
wandel eine Verschiebung hin zu einer zunehmenden Sinnsuche in außerberuflichen
Bereichen wie Familie, Freizeit oder Gesundheit beobachten. Arbeit und Freizeit bzw.
Familie stehen nicht mehr im drastischen Gegensatz zueinander, sondern werden zuneh-
mend als verbundene Bereiche wahrgenommen. Dies lässt sich insbesondere im Genera-
tionenvergleich als Entwicklung von den sogenannten Babyboomern hin zur Generation
Y beobachten (Rump und Eilers 2015; BMAS 2015). Hinzu kommt, dass aufgrund
der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft das Streben nach „immer mehr“ sich
hin zum immateriellen „immer besser“ verschiebt. Lebensqualität erhält Priorität vor
Lebensstandardsteigerung (Opaschowski 2009; Rump und Eilers 2016a).
Die Konsequenzen dieser Trends für das Individuum und die Arbeitgeber sind viel-
fältig und noch nicht vollständig abzusehen. Klar ist, dass sich nicht zuletzt die Arbeits-
formen und -beziehungen erheblich verändern werden, die Vielfalt in den Belegschaften
immer stärker zunimmt und es zu neuen Grenzziehungen zwischen beruflicher und pri-
vater Sphäre kommt.
11  Trends und Entwicklungen im Kontext von New Work 191

11.2.2 Konsequenzen im Kontext von New Work

Durch die Möglichkeiten, die gerade die Digitalisierung bietet, kann Arbeit zunehmend
flexibel stattfinden. Zudem eröffnen sich neue Beschäftigungsoptionen für projektbezo-
gene Arbeitsverhältnisse, die im virtuellen Raum auch über Landesgrenzen hinweg für
Fachkräfte zur Verfügung stehen. Das Normalarbeitsverhältnis ist zwar noch immer die
vorherrschende Beschäftigungsform, doch lässt sich ein relativer Rückgang beobachten
(Hofmann und Steffen 2013). Bezogen auf die Gestaltung der Arbeitsplätze ist Flexibi-
lität das Credo, um auf sich wandelnde Bedürfnisse bezüglich der Raumnutzung reagie-
ren zu können, aber auch die Zunahme von Meeting-Areas, Presentation Areas, Team
Zones etc. Denkbar sind darüber hinaus sogenannte „Third Spaces“, also Arbeitsplätze,
die zusätzlich zu Büro und Home Office genutzt werden. Das können beispielsweise
Treffpunkte an öffentlichen Orten sein, die für mehrere Kollegen oder Projektpartner,
die räumlich verteilt arbeiten, einfacher und schneller erreichbar sind als die Räumlich-
keiten des Arbeitgebers. Auch dezentrale „Co-Working“-Zentren, in denen Beschäftigte
aus unterschiedlichen Unternehmen, jedoch mit ähnlichen Tätigkeiten, Vorlieben oder
Bedürfnissen in öffentlichen Büroräumlichkeiten zusammenarbeiten, finden gerade in
Großstädten regen Zuspruch (Fraunhofer IAO 2013; Millard 2012; Maitland und Thom-
son 2011; Shareground & Universität St. Gallen 2015; Rump und Eilers 2016a).
Der Wandel der Arbeitswelt verändert allerdings nicht nur Arbeitsformen, sondern
auch die Art und Weise, in der sich das betriebliche Miteinander gestaltet. Die Kommu-
nikationsgeschwindigkeit erhöht sich durch die sogenannte „Chatting-Kultur“, die eine
Antwort innerhalb kürzester Zeit möglich macht – was ggf. auch erwartet wird. Es ent-
steht eine „one2many“-Kommunikation anstatt einer „one2one“-Kommunikation. Eine
Studie des Münchner Kreises kommt zu dem Schluss, dass sich gerade Wissens- und
Projektarbeiter zunehmend Arbeitsbeziehungen mit einem hohen Kollaborationsgrad
wünschen (Münchner Kreis 2013; Rump und Eilers 2016a). Die Jugendstudie „Youth
Economy“ des Zukunftsinstituts in Kelkheim benennt „Konnektivität“ als einen der
Megatrends der Zukunft und sieht in einer hochwertigen Vernetzung einen „zentralen
Aspekt für berufliche wie private Erfolge“ (Schuldt und Ehret 2015, S. 24).
In diesem Zusammenhang gilt auch: „Die althergebrachten Muster einer autoritati-
ven, profitorientierten Führungskultur sind zu träge und schwerfällig, um mit den neuen
Entwicklungen Schritt zu halten. Daher setzt eine moderne Führungskultur auf offene
und flexible (Netzwerk-)Strukturen, Vertrauen in die Mitarbeiter, Eigenverantwortung
der Mitarbeiter und deren Vernetzung untereinander sowie mit den Kunden“ (Schuldt
und Ehret 2015, S. 24). Dabei spielen virtuelles Führen, Führen auf Distanz sowie fla-
chere Hierarchien eine besondere Rolle (Rump und Schiedhelm 2015). Hierarchieden-
ken verschiebt sich hin zu einem stärkeren Fokus auf Netzwerken und Zusammenarbeit.
Dadurch muss auch ein Wandel von der Kontroll- zur Ergebnisorientierung erfolgen.
Dabei ist es nicht zuletzt Aufgabe der Führungskräfte, ihre Mitarbeiter auf dem Weg in
192 J. Rump und S. Eilers

die neue Arbeitswelt zu unterstützen und auch bei Reduzierung des persönlichen Kon-
takts eine hohe Sensibilität für mögliche Überlastungssituationen zu bewahren (Eich-
horst et al. 2013; Rump und Eilers 2016a).
V. a. in wissensintensiven Bereichen werden darüber hinaus Trends wie variable
Arbeitsbeziehungen, die zunehmende Verbreitung von Projektwirtschaft oder Open
Innovation künftig eine neue Gestaltung der Arbeitsorganisation erforderlich machen.
Denn es sind insbesondere flexible Kooperationsformen, die den steigenden Anforde-
rungen an Innovations- und Anpassungsgeschwindigkeit sowie der immer größer wer-
denden Kompetenz- und Wissensbreite, die erforderlich ist, gerecht werden können.
Auch projektwirtschaftliche Vernetzungen von Wettbewerbern dürften zunehmend an
Bedeutung gewinnen, um gemeinsam Produkte zu entwickeln oder Wertschöpfungsket-
ten anhand unterschiedlicher Kernkompetenzen neu zu gestalten. Dies kann in lokalen
ebenso wie in internationalen Netzwerken geschehen (Brühl 2010; Hofmann et al. 2007;
Rollwagen 2009; Schabel 2009; Fischer et al. 2013). In derart variablen und innovati-
ven Arbeitsverhältnissen – auch als „agile Organisation“ (Boes et al. 2015) bezeichnet –
zu arbeiten, bringt für Mitarbeiter generell nicht nur positive Aspekte mit sich. Flexible
Arbeitsformen, Arbeitszeiten und Arbeitsorte führen unweigerlich auch zu einer höheren
Komplexität durch Koordination und Abstimmung (Grabmeier 2014). Soziale und kom-
munikative Kompetenzen werden in diesem variablen Umfeld immer wichtiger. Hinzu
kommt die Notwendigkeit, fachlich stets auf dem aktuellen Stand zu sein (Hofmann
et al. 2007; Rollwagen 2009; Schabel 2009; Abele und Reinhart 2011; Fischer et al.
2013; Rump und Eilers 2016a).
Nicht zuletzt bedingt durch die genannten Entwicklungen verändern sich auch die
Grenzziehungen zwischen Beruf und Privatleben erheblich. Während der soziale Alltag
in der Vergangenheit vergleichsweise klar und für viele Menschen ähnlich strukturiert
war, ergeben sich insbesondere durch die modernen Kommunikationsmöglichkei-
ten heute unzählige Gestaltungsmöglichkeiten (Belwe 2007). Dies einerseits durch die
Option, Ort und Zeit der Aufgabenerledigung weitgehend individuell zu gestalten,
andererseits durch deutlich eingeschränkte Commuting-Zeiten zu Meetings oder Team-
sitzungen, die vielfach auch in Form von Onlinekonferenzen erfolgen können. Zudem
eröffnen sich Freiräume für ein selbstbestimmtes Arbeiten (BMAS 2015) – dies schätzt
insbesondere die jüngere Generation, die bereits im Rahmen ihrer Sozialisation mehr
Handlungsspielräume und Entscheidungskompetenzen erfahren durfte als die Kohorten
vor ihr und der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben eine sehr hohe Bedeutung ein-
räumt (Rump und Eilers 2015). Die Studie „Youth Economy“ spricht von einem „hyb-
riden 2-in-1-Arbeitverständnis“ der Jugend, in dem beim Arbeiten gelebt und beim
Leben gearbeitet wird (Schuldt und Ehret 2015, S. 27). Der hohe Flexibilisierungsgrad
der Arbeit lässt die Grenzen zwischen beruflicher und privater Sphäre zusehends ver-
schwimmen. Die Herausforderung besteht für den Einzelnen im Vergleich zu den klaren
Strukturen der Vergangenheit nun darin, selbst für Abgrenzung – räumlich wie zeitlich –
Sorge zu tragen (Belwe 2007; Jürgens und Voß 2007). Er tritt damit in einen Aushand-
lungsprozess – mit sich selbst, mit seinem sozialen Umfeld und mit seinem Arbeitgeber
11  Trends und Entwicklungen im Kontext von New Work 193

(Sachverständigenkommission zur Erstellung des Ersten Gleichstellungsberichtes der


Bundesregierung und Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten For-
schung e. V. 2011). Beherrschende Themen sind in diesem Zusammenhang Entgrenzung,
Erreichbarkeit und Verfügbarkeit sowie die Balance zwischen Beruf und Privatleben.
Die Entgrenzung wird nicht nur von der digitalen Transformation getrieben, die Gren-
zen zwischen Raum und Zeit schwinden lässt und Arbeiten zu jeder Zeit und von jedem
Ort für jedermann möglich macht. Vielmehr spielen auch gesellschaftliche Entwicklun-
gen eine Rolle. Zu nennen ist hier zum einen der bereits angesprochene Wunsch nach
Individualisierung – auch der Arbeitszeiten und Arbeitsorte. Zum anderen bedingt die
zunehmend gleichberechtigte Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zwischen den
Geschlechtern, dass es zu einem verstärkten Nebeneinander von Beruf und Familie für
alle Beteiligten kommt. Im technisch-ökonomischen Bereich ist auch eine immer höhere
Flexibilität in den Arbeitsprozessen ebenso wie eine wachsende Selbstbestimmtheit in
der Gestaltung der Arbeitsabläufe Treiber der Veränderung. Heute erledigt etwa jeder
zweite Arbeitnehmer gelegentlich Berufliches auch außerhalb der regulären Arbeits-
zeit (SUGA 2012). In sehr engem Zusammenhang zur Thematik der Entgrenzung steht
die Frage nach der Erreichbarkeit bzw. Verfügbarkeit von Beschäftigten. Erreichbarkeit
bedeutet, grundsätzlich per Telefon, E-Mail etc. erreichbar zu sein – das ist man eigent-
lich immer. Allerdings besteht auch eine Wechselwirkung: Ist die Erreichbarkeit gege-
ben, erhöht dies die Erwartungshaltung – sowohl seitens des Unternehmens als auch des
Einzelnen an sich selbst –, auch verfügbar zu sein (Stock-Homburg und Bauer 2007).
Verfügbarkeit bedeutet, tatsächlich ansprechbar bzw. vor Ort zu sein. Eine wichtige Fra-
gestellung im betrieblichen Kontext richtet sich darauf, wer über die Verfügbarkeit von
Beschäftigten entscheidet – der Beschäftigte selbst, seine Führungskraft oder die Orga-
nisation als Ganzes (beispielsweise durch Abschalten des E-Mail-Servers)? Grundsätz-
lich gilt es bei den Fragestellungen der Entgrenzung, Erreichbarkeit und Verfügbarkeit,
das Bedürfnis nach Individualität zu beachten. Denn jeder Mensch empfindet die Grenz-
ziehung unterschiedlich (Stock-Homburg und Bauer 2007). Es lässt sich also festhalten,
dass allgemein gültige Regelungen für diese Fragestellung zu kurz greifen (Rump und
Eilers 2016a).
Bis zu den 1990er Jahren tauchte der Begriff der „Work-Life-Balance“ nicht oder
kaum im Unternehmenskontext auf. Wie die Beschäftigten ihre Zeit außerhalb der Arbeit
verbrachten, war in der Regel nicht bekannt bzw. wurde nicht zum Gegenstand der Dis-
kussion im Arbeitsumfeld gemacht. Vielmehr arrangierten die Beschäftigten ihr Privatle-
ben so, dass es den beruflichen Belangen gerecht wurde (Maitland und Thomson 2011).
Das zunehmende Streben nach einer ausgewogenen und „gesunden“ Verbindung beider
Sphären steht auch im Zusammenhang mit dem steigenden Lebensstandard in den hoch
entwickelten Wirtschaftsnationen. Da die Grundbedürfnisse in der Regel befriedigt sind,
wendet man sich höheren Bedürfnissen zu. Gerade von den besser Qualifizierten der
jüngeren Generation aus den höheren sozialen Schichten wird ein einseitiges Karriere-
streben zunehmend infrage gestellt, wie u. a. die Shell-Jugendstudien, aber auch zahlrei-
che Absolventenbefragungen verdeutlichen. Wo, wann und in welchem Maße Personen
194 J. Rump und S. Eilers

Belastung empfinden und im Gegenzug „auftanken“ und wie positiv oder negativ sie
„Grenzüberschreitungen“ zwischen diesen beiden Sphären empfinden, hängt in hohem
Maße von der persönlichen Situation in Beruf und Privatleben, von Lebens- und Berufs-
phasen, von Neigungen und individuellen Einschätzungen ab. Hinzu kommt, dass das
Empfinden bezüglich dieser Balance einem beständigen Wandel im Laufe eines Erwerbs-
lebens unterliegt, das von unterschiedlichen Berufs- und Lebensphasen gekennzeichnet
ist. Immer häufiger wird daher Abstand von der Begrifflichkeit der „Work-Life-Balance“
genommen und stattdessen von Ansätzen wie der „Life-Domain-Balance“ (Ulich 2005),
„Life-Domain-Fit“ (Pangert und Schüpbach 2013) oder „Work-Life-Dynamik“ (Horx
2015) gesprochen.
Blickt man auf die genannten Trends und ihre Konsequenzen, so wird deutlich, dass
Vielfalt gleichermaßen Treiber der Entwicklungen als auch Antwort auf die Herausfor-
derungen ist. Vielfalt bezieht sich dabei zum einen auf die immer vielfältiger werden-
den Arbeitsformen, -beziehungen und -modelle innerhalb einer Belegschaft. So kann es
in einer Abteilung Personen geben, die mobil arbeiten, während andere aufgrund ihres
Tätigkeitsprofils ausschließlich im Büro tätig sind; Führungsstile variieren je nach den
agierenden Personen und Arbeitszeitmodelle werden immer facettenreicher. Zum ande-
ren bezieht sich Vielfalt auf die zunehmende Varianz in den Lebensentwürfen von Men-
schen im Zuge der Individualisierung und der zunehmenden Beachtung von Lebens- und
Berufsphasen. Zum dritten wird schließlich unter der Vielfalt der Belegschaften klas-
sisch die Differenzierung in unterschiedliche Interessensgruppen vorgenommen, deren
Potenziale es zur Sicherung der Fachkräftebasis mehr denn je auszuschöpfen gilt. In
der betrieblichen Praxis stehen dabei insbesondere die Themenschwerpunkte „Gen-
der – Alter/Ageing – Generationen – Kulturdiversität“ im Fokus. Auch hier liegt eine
zentrale Führungsaufgabe der Zukunft. So verlangt die zunehmende Heterogenität der
Belegschaften nach neuen Wegen zu mehr Integration und Koordination und auch zur
Berücksichtigung individueller Bedürfnisse – sei es von älteren Mitarbeitern, von Men-
schen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, in unterschiedlichen Arbeitsmo-
dellen oder in sich wandelnden Lebensphasen (Fraunhofer IAO 2013; Rump und Eilers
2016a). Ziel muss es sein, zu einer Kultur der Potenzialentfaltung zu gelangen (IfB!
2012).

11.3 New Work und die Sinnhaftigkeit der Arbeit

Angesichts der vorab beschriebenen Entwicklungen drängt sich eine zentrale Frage auf:
Wie gelingt es, Beschäftigten die emotionale Bindung an ihren Arbeitgeber und ihre
Tätigkeit zu gewährleisten, ihnen den Sinn ihrer Arbeit deutlich zu machen, in einer Zeit,
in der Beziehungen und Beschäftigungsformen flexibler und variabler werden und jeder
sich vor allem auf sich selbst verlassen kann und muss? Dies vor dem Hintergrund der
immer stärker werdenden Sinnsuche des Einzelnen, die insbesondere in Umfragen unter
der jüngeren Generation deutlich zutage tritt.
11  Trends und Entwicklungen im Kontext von New Work 195

Um sich dieser Frage anzunähern, ist es zunächst erforderlich, sich die Leitprinzipien
zukunftsorientierten Arbeitens im Kontext von New Work vor Augen zu führen sowie
zu identifizieren, was Sinnhaftigkeit in der Arbeit letztlich ausmacht und weshalb die
Bedeutsamkeit dieses Aspekts für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber ansteigt.

11.3.1 Leitprinzipien zukunftsorientierten Arbeitens

Es sind vor allem zwei zentrale Prinzipien, die dem zukunftsorientierten Arbeiten und
damit dem New-Work-Gedanken zugrunde liegen:

• Das Prinzip der Flexicurity.


• Das Prinzip der Employability.

11.3.1.1 Das Prinzip der Flexicurity


Unternehmen, ebenso wie das gesamte System Arbeit, befinden sich in einem Span-
nungsfeld im Sinne von „Flexicurity“. Flexicurity ist zusammengesetzt aus Flexi-
bilisierung, Flexibilität und Sicherheit. Kern des Flexicurity-Gedankens in diesem
Zusammenhang ist, dass es einerseits gilt, Mitarbeiter „in Bewegung zu halten“ und für
die erforderliche Flexibilität und Mobilität zu sorgen, die allerdings andererseits auch
Balance und Sicherheit sowie „Heimat“ brauchen. Der Sicherheitsgedanke ist nach wie
vor stark ausgeprägt. Auch bei jüngeren Beschäftigten nimmt die „Arbeitsplatzsicher-
heit“ in Befragungen nach wie vor einen zentralen Aspekt in Bezug auf die Erwartungen
und Wünsche hinsichtlich des Arbeitslebens ein (Rump und Eilers 2015; Horx 2015).
Flexicurity lässt sich auch auf die organisationale Ebene übertragen. Ein Unternehmen
braucht Flexibilität und Anpassungsfähigkeit und gleichzeitig Kontinuität als Rahmen, in
dem agiert und innoviert werden kann (zumindest für einen bestimmten Zeitraum). Hier
zeigt sich ein weiteres Kernelement des zukunftsorientierten Arbeitens: Resilienz auf indi-
vidueller und organisationaler Ebene. Flexicurity geht mit Polarität einher. Für die Zukunft
gilt, dass das betriebliche Handeln mehr und mehr in Polaritäten erfolgt: Hierarchie – Netz-
werk, Jung – Alt, Frauen – Männer, unterschiedlichste Kulturen. Das Managen von Polarität
ebenso wie das Managen von Komplexität wird, verbunden mit dem verlässlichen Führen
von Menschen, zu einem zentralen Erfolgsfaktor in Unternehmen (Fischer et al. 2013).

11.3.1.2 Das Prinzip der Employability


Wörtlich ins Deutsche übersetzt, bedeutet der Begriff „Employability“ so viel wie
„Beschäftigungsfähigkeit“. Bausteine der Employability sind also Faktoren, die Men-
schen dazu befähigen, eine bestehende Beschäftigung zu behalten oder aber eine neue
Beschäftigung zu finden. Von entscheidender Bedeutung ist dabei das Maß an Eigen-
verantwortung und globalem Denken, das der jeweilige Arbeitgeber seinen Mitarbei-
tern ermöglicht (Weinert et al. 2001). Auf Basis der einschlägigen Literatur und neuerer
empirischer Erkenntnisse lässt sich Employability letztendlich wie folgt definieren:
196 J. Rump und S. Eilers

 „Employability ist die Fähigkeit, fachliche, soziale und methodische Kompetenzen


unter sich wandelnden Rahmenbedingungen zielgerichtet und eigenverantwortlich
anzupassen und einzusetzen, um eine Beschäftigung zu erlangen oder zu erhalten“
(Rump und Eilers 2011, S. 81).

Dabei geht es nicht nur darum, fachlich kompetent zu sein und es auch zu bleiben.
Vielmehr tragen überfachliche Kompetenzen, die viel beschworenen „Soft Skills“, in
gleichem Maße zur Employability bei. Nicht zu vergessen ist das Zusammenspiel von
Kompetenzen, Gesundheit und Motivation im sogenannten „Magischen Dreieck der
Employability“. Fehlt Motivation, verringert sich der Antrieb zum Kompetenzerhalt,
was mittelfristig zu Überforderung am Arbeitsplatz führt und langfristig die Gesundheit
beeinträchtigen kann. Fehlen die Qualifikationen und die Kompetenzen, fühlen sich die
Beschäftigten überfordert, verlieren an Motivation, betrachten die Arbeitsaufgaben als
Belastung, was sich wiederum auf die Gesundheit negativ auswirken kann. Nicht zuletzt:
Sind die Beschäftigten nicht gesund, fehlt ein Teil der Energie, um nachhaltig an der
Motivation und am Kompetenzerhalt zu arbeiten (Rump und Eilers 2016b).
Um ein ganzes Erwerbsleben lang im diesen Sinne „employable“ zu bleiben, bedarf
es des eigenverantwortlichen Umgangs jedes/r Einzelnen mit seinem/ihrem „Vermö-
gensgut“, aber auch der Wahrnehmung der Unternehmensverantwortung seitens der
Arbeitgeber. Gerade in Hinblick auf Unternehmenskultur und Führung, aber auch in
Arbeitsorganisation, Kompetenzentwicklung und der Gestaltung von Werdegängen lie-
gen entscheidende Stellschrauben, um Mitarbeiter beschäftigungsfähig zu halten (Rump
und Eilers 2016b).
Die Forderung nach Beschäftigungsfähigkeit oder Employability ist keineswegs neu.
Die Diskussion um die Schlüsselkompetenzen hat eine lange Tradition und beschäftigt
Bildungsfachleute seit Jahrzehnten. Die „Renaissance“ der Schlüsselkompetenzen im
Kontext von Employability hat ihren Ursprung in den sich verändernden Bedingungen
innerhalb und außerhalb von Unternehmen. Gerade in der Diskussion um die Vorausset-
zungen für ein erfolgreiches „Arbeiten 4.0“ fällt auf, dass die Kompetenzen und Hand-
lungsansätze, die sich mit Employability in Verbindung bringen lassen, als unerlässlich
angesehen werden, um adäquat mit den Implikationen der digitalen Transformation
umzugehen (BMAS 2015). Auch wird von Experten die Bedeutung der Selbstverantwor-
tung und -bestimmung im Zusammenhang mit der Thematik der neuen Grenzziehungen
zwischen Beruf und Privatleben sowie den neuen Arbeitsformen und -beziehungen her-
vorgehoben (Eichhorst et al. 2013; Shareground & Universität St. Gallen 2015). Zudem
braucht es Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit zum Umgang mit volatilen Märkten
und die Kompetenz aufseiten des Unternehmens wie auch des Individuums, „mehr Unsi-
cherheit aus[zu]halten und trotz Unsicherheit handlungsfähig [zu] bleiben“ (Fraunhofer
IAO 2013, S. 6).
11  Trends und Entwicklungen im Kontext von New Work 197

11.3.2 Zur Sinnhaftigkeit des Arbeitens

Es wird deutlich, dass Menschen, die „employable“ sind und sich im Sinne der Flexi-
curity im Arbeitsleben bewegen, „mündige“ Beschäftigte sind (Sattelberger 2014), die
immer stärker den Sinn ihrer Arbeit hinterfragen. Doch was macht nun Arbeit sinnvoll?
Lässt sich diese Frage pauschal für unterschiedliche Gruppen von Arbeitnehmern, deren
Vielfalt – wie gesehen – zunimmt, beantworten?
Ein Forscherteam der Universität Innsbruck konnte im Rahmen einer Studie heraus-
arbeiten, dass für das Sinnerleben am Arbeitsplatz sowohl die Eigenschaften der betref-
fenden Person als auch die gelebten Werte des Unternehmens sowie die Merkmale der
Arbeitsaufgabe und die Passung von Person und Arbeitstätigkeit eine entscheidende
Rolle spielen (Schnell et al. 2013). Sowohl für das eigene Leben als auch für die berufli-
che Sphäre lassen sich als Kernaspekte für die Entstehung von Sinnerfüllung die folgen-
den identifizieren (Höge und Schnell 2012):

• Kohärenz, das heißt die Übereinstimmung der eigenen Person (Persönlichkeit, Ziele,
Lebensaufgabe etc.) mit der Rolle, die einem durch die Arbeitstätigkeit zugeschrieben
wird;
• Zielorientierung im Zusammenhang damit, dass die Unternehmensführung als Ver-
mittler der Werte und Normen des Unternehmens als vertrauenswürdig und integer
erlebt werden muss;
• Bedeutsamkeit, das heißt das Erkennen der Konsequenzen des eigenen Handelns auf
andere Menschen, auf die Organisation oder die Gesellschaft, wodurch Gefühle der
Autonomie und Kompetenz ausgelöst werden;
• Zugehörigkeit, die sich dadurch äußert, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen und
dadurch Verbundenheit und Bindung an die Organisation zu erleben.

Um diesen Kernaspekten gerecht zu werden, bedarf es in vielen Unternehmen eines


Umdenkens hin zu mehr Vertrauen anstelle einer Kontrolle sowie zu mehr Transparenz
und dem Mut zu neuen Wegen. Im Rahmen des „New Work Awards“ für zukunftswei-
sende Arbeitskonzepte, den die XING AG im Jahr 2016 bereits zum dritten Mal verlieh,
wurden beispielsweise Modelle prämiert, in denen Mitarbeiter als Mitunternehmer bezie-
hungsweise Mitentscheider agieren, in denen sich Arbeitszeitmodelle an Lebenssituatio-
nen anpassen, oder in einem flexiblen Managementrahmen Hierarchien flacher werden
und Teams sich selbst organisieren (XING AG 2015; XING AG 2016).

11.4 Ausblick

Flexible und volatile Arbeitswelten im Sinne von New Work und „mündige“ Beschäf-
tigte führen dazu, dass es für den Einzelnen und seinen Arbeitgeber immer mehr
darum geht, die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns deutlich zu machen. Dies stellt einen
198 J. Rump und S. Eilers

entscheidenden Erfolgsfaktor dar, wenn es darum geht, heute und in Zukunft Fachkräfte
zu gewinnen und zu binden. Dass die Fokussierung auf die Sinnhaftigkeit des Arbeitens
mehr als nur Selbstzweck ist, lässt sich daran erkennen, dass Sinnerleben und Arbeits-
engagement eng miteinander verbunden sind, wie die bereits angesprochene Studie der
Universität Innsbruck zeigen konnte. Dabei geht es vor allem um den Aspekt der erlebten
Bedeutsamkeit (Höge und Schnell 2012). Des Weiteren zeigen mehrere Untersuchungen
einen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Sinnerfüllung und positiven Aus-
wirkungen auf die Gesundheit, so beispielsweise im Hinblick auf eine Verringerung von
Krankheitssymptomen, einer Verzögerung des Gedächtnisabbaus oder einer Verstärkung
gesundheitsfördernden Verhaltens (Steger et al. 2014). Die Bedeutung der emotionalen
Bindung verdeutlicht nicht zuletzt der aktuelle Engagement-Index von Gallup, wonach
emotional nicht gebundene Mitarbeiter mehr Fehlzeiten aufweisen, die letztlich zu
erheblichen Produktivitätseinbußen führen (Kestel 2015).

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Über die Autorinnen

Prof. Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine


Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Internationales
Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der
Hochschule Ludwigshafen. An der Ludwig-Maximilians-
Universität München LMU lehrt sie im Executive-Mas-
ter-Studiengang Human-Resource-Management. Darüber
hinaus ist sie Direktorin des Instituts für Beschäftigung und
Employability in Ludwigshafen (IBE) – eine wissenschaft-
liche Einrichtung der Hochschule Ludwigshafen und For-
schungsschwerpunkt des Landes Rheinland-Pfalz. Ihre
Forschungsschwerpunkte sind Trends in der Arbeitswelt
und die Konsequenzen für Personalmanagement und Organisationsentwicklung sowie
Führung. In zahlreichen Unternehmen und Institutionen ist Jutta Rump als Projekt- und
Prozessbegleiterin tätig. Hinzu kommen Mandate aus Wirtschaft, Politik, Stiftungen und
Verbänden. Seit 2007 gehört sie zu den 40 führenden Köpfen des Personalwesens im
deutschsprachigen Raum (Personalmagazin).

Silke Eilers  war während ihres berufsintegrierenden Studiums


der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Ludwigsha-
fen als Sachbearbeiterin und Übersetzerin in der internationa-
len Vertriebsabteilung der Koenig & Bauer AG in Frankenthal
tätig. Nach ihrem Abschluss als Diplom-Betriebswirtin (FH)
übernahm sie im gleichen Unternehmen Aufgaben in den
Bereichen Personalentwicklung und Personalbetreuung, Hoch-
schulmarketing und Nachwuchskräfteförderung. 2003 wech-
selte sie an das Institut für Beschäftigung und Employability
IBE. Dort beschäftigt sie sich als wissenschaftliche Mitarbei-
terin und Projektleiterin insbesondere mit den Trends in der
Arbeitswelt, der Generationendiversität und lebensphasenorientierten Personalpolitik. Sie
ist darüber hinaus Co-Autorin zahlreicher Publikationen des Instituts.
Die Zukunft der Arbeitswelt:
Arbeiten 4.0 12
Yasmin Mei-Yee Weiß und David Jonathan Wagner

Zusammenfassung
Wer die Industrie 4.0 und neue digitale Geschäftsmodelle und -prozesse umsetzen
möchte, muss die Arbeitswelt 4.0 verstehen. Es geht darum, die Zukunft der Arbeits-
welt proaktiv zu gestalten, ehe die bisherige Arbeitswelt veränderten unternehmeri-
schen Anforderungen sowie veränderten Mitarbeiterbedürfnissen hinterherhinkt.
Dies kann schnell passieren. Denn mit der digitalen Transformation und einer neuen
Generation an Mitarbeitern erleben Unternehmen einen tief greifenden und schnellen
Wandel. Sowohl die Dynamik als auch die Komplexität der Veränderungen sind groß.
Vor einem Jahrzehnt war das selbstfahrende Auto noch eine Science-Fiction-Vision,
heute ist es bereits Realität und datengetriebene IT-Unternehmen wie Apple oder
Google fordern die angestammte Automobilindustrie mit Konkurrenzprodukten und
Dienstleistungen heraus. Durch derartige Veränderungen müssen bisherige Prozesse
und Geschäftsmodelle wie auch die bisherige Arbeitswelt systematisch auf den Prüf-
stand gestellt werden. Die Bereitschaft, bei Bedarf in gänzlich neuen Paradigmen zu
denken und die Arbeitswelt weiterzuentwickeln sowie die Fähigkeit, digitale Talente
anzuziehen und zu binden, wird erfolgsentscheidend bei der Umsetzung der digita-
len Transformation sein. Dies gilt insbesondere in einer Zeit, in der Kapital günstig
ist und Menschen und Innovationen die tatsächlichen Erfolgsfaktoren sind. Bei den
Gestaltern der Arbeitswelt der Zukunft – oftmals das Topmanagement in Zusam-
menarbeit mit dem Personalmanagement – ist daher ein hohes Maß an Proaktivität,

Y.M.-Y. Weiß (*) · D.J. Wagner 


Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
D. J. Wagner
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 203


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_12
204 Y.M.-Y. Weiß und D.J. Wagner

strategischem Denken sowie Veränderungsmut und -bereitschaft erforderlich. Unter-


nehmen müssen einen gesteuerten Kulturwandel zu einer neuen Arbeitswelt durch-
laufen und bereit sein, alte Zöpfe abzuschneiden. Grundsätzlich ist das Themengebiet
„Die Zukunft der Arbeitswelt“ sehr breit. In diesem Beitrag stehen die Bereiche ver-
änderter Kompetenzen („New Competencies“), veränderter Mitarbeiterbedürfnisse
(„New Needs“) sowie veränderter Anforderungen an erfolgreiche Führung im digita-
len Zeitalter („New Leadership“) im Fokus.

Inhaltsverzeichnis

12.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204


12.2 New Competencies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
12.3 New Needs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
12.4 New Leadership. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

12.1 Einleitung

Wir leben in einer enorm spannenden Zeit. Die digitale Entwicklung zündet gerade
regelrecht den Turbo. Die viel diskutierte digitale Transformation ist dabei kein Ereig-
nis einer unbestimmten fernen Zukunft. Sie findet im Hier und Jetzt statt. Sie verändert
dabei unsere Gegenwart sowie Zukunft in allen Lebensbereichen. Vor unseren Augen
wird Science-Fiction binnen weniger Jahre zur Realität. Exponentielles Technologie-
wachstum, die Möglichkeit, mit intelligenten Rechnern aus „Big Data“ „Smart Data“
zu generieren, und eine zunehmende digitale Vernetzung sorgen für eine fundamentale
Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft. In Bezug auf die Transformation der
Arbeitswelt sind zwei wesentliche Treiber im Blickfeld zu haben:

• Die Revolution des Digitalen mit ihrem disruptiven Charakter


• sowie eine neue Generation an Mitarbeitern, die im digitalen Zeitalter aufgewach-
sen und sozialisiert worden sind.

Diese Treiber erfordern eine gesteuerte Evolution oder gar eine erhebliche Veränderung
der Arbeitswelt. Es ist daher kein Zufall, dass das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales sich intensiv mit dem Thema Arbeiten 4.0 beschäftigt und ein Grünbuch der
Arbeit 4.0 herausgegeben hat (BMAS 2015). Die erfolgreiche und zeitgerechte Entwick-
lung und Umsetzung neuer Geschäftsmodelle und -prozesse setzen voraus, dass Unter-
nehmen und alle beteiligten Führungskräfte und Mitarbeiter bereit sind, offen, kreativ
und umsetzungsstark an neue Marktchancen und Herausforderungen heranzugehen und
12  Die Zukunft der Arbeitswelt: Arbeiten 4.0 205

die sich daraus ableitenden Veränderungen mitzugestalten und mitzutragen. Durch den
gleichzeitigen Anstieg von

• Komplexität und
• Dynamik

des unternehmerischen Umfelds wird es immer weniger möglich sein, dass einzelne Per-
sonen ausreichend Wissen, Erfahrung und Fertigkeiten in sich vereinen, um die richtigen
Entscheidungen zu treffen. Vielmehr sind Unternehmen auf das komplementäre Wissen
sowie die Erfahrungen und Fertigkeiten jedes Einzelnen im Unternehmen angewiesen.
Damit werden ein neues Führungsverhalten sowie eine Neudefinition der Rolle einer
guten Führungskraft im digitalen Zeitalter erforderlich. Beispielsweise unter dem Stich-
wort „Diversity Management“ versuchen Unternehmen, nicht nur gleichberechtigte
Chancen für alle Mitarbeitergruppen zu schaffen, sondern auch die vielfältigen Erfah-
rungshintergründe der einzelnen Mitarbeiter nutzbar zu machen, um sich verändernde
Märkte und Marktchancen besser zu verstehen. Zudem wird es gerade angesichts der
hohen Dynamik der Veränderungen immer mehr erforderlich sein, dass Mitarbeiter von
eher fremdgesteuerten „Role Takern“ zu proaktiven, selbst gesteuerten „Role Makern“
werden, indem sie eigenverantwortlich Chancen und Herausforderungen erkennen und in
hierarchieübergreifende Entscheidungsprozesse stärker einbezogen werden.
Damit dies möglich ist, ist grundsätzlich der stimmige Dreiklang aus

• Können,
• Wollen und
• Dürfen

erforderlich. Dieser für die Arbeitswelt allgemein gültige Dreiklang muss für das digitale
Zeitalter neu definiert werden. Konkreter ausgedrückt bedeutet dies: Mitarbeiter müssen
die richtigen Kompetenzen besitzen, sie müssen motiviert sein sowie von ihrer Füh-
rung die erforderlichen Ressourcen und Freiräume erhalten, herausragende Arbeitser-
gebnisse in der digitalen Ära erzielen zu können.
Gerade angesichts der aktuellen und zukünftigen Veränderungen ist der stimmige
Dreiklang jedoch kein Selbstläufer, sondern erfordert eine wirksame Gestaltung, indem
ein systematischer „Übersetzungsprozess“ stattfinden muss, was „Können“, „Wollen“
und „Dürfen“ für die Arbeit im digitalen Zeitalter bedeutet (vgl. Abb. 12.1).
Mit anderen Worten muss die bisherige Arbeitswelt in die Arbeitswelt der Zukunft
(„Arbeit 4.0“) transformiert werden, indem die folgenden Fragen analysiert und mit
geeigneten Maßnahmen belegt werden:

• Was sind die erforderlichen neuen Kompetenzen? („New Competencies“)


• Wie verändern sich Mitarbeiterbedürfnisse? („New Needs“)
• Wie sieht angesichts dessen eine zeit- und anforderungsgerechte Führung aus? („New
Leadership“)
206 Y.M.-Y. Weiß und D.J. Wagner

Können „New Competencies“

Übersetzung
Arbeiten 4.0

Wollen Dürfen „New Needs“ „New Leadership“

Abb. 12.1  Elemente des Arbeitens 4.0

Wo also geht die Reise hin? Was sind hierbei die zentralen Trends und vor welchen Her-
ausforderungen stehen wir aktuell? Welche Maßnahmen müssen von allen Beteiligten
ergriffen werden, um den veränderten Anforderungen hinsichtlich „New Competencies“,
„New Needs“ und „New Leadership“ gerecht zu werden? Diese Fragen sollen in den
nächsten Abschnitten beantwortet werden.

12.2 New Competencies

In der hypervernetzten digitalen Welt verschwimmen Grenzen – zwischen Ländern, zwi-


schen Branchen und Unternehmen, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Berufs- und
Privatleben. Innovationszyklen werden kürzer, die Halbwertszeit von Wissen sinkt, der glo-
bale Wettbewerb wird intensiver und branchenübergreifender, Kunden können sich immer
besser informieren und werden anspruchsvoller sowie wechselbereiter. Geschäftsmodelle,
die heute noch erfolgreich sind, können morgen schon überholt und von neuen Ansätzen
und Technologien ersetzt werden. Die Interaktion von Mensch und Maschine gewinnt
immer mehr an Bedeutung. Roboter und intelligente Systeme ersetzen Tätigkeiten, die bis-
lang von Menschen ausgeführt werden. Die Frage, ob der digitale Wandel für Arbeitnehmer
mehr Chancen als Risiken mit sich bringt, kann dabei nicht einheitlich beantwortet werden.
Es wird Gewinner geben, aber es wird sicherlich auch Verlierer geben. Daher ist Wachsam-
keit geboten. Zwei starke Einflussfaktoren machen den Wandel der Arbeitswelt so radikal:

• seine Geschwindigkeit sowie


• sein Fokus, das heißt, wer betroffen ist.

Denn es sind bei Weitem nicht nur physische Routinearbeiten, die bereits in naher
Zukunft mit großem Tempo verschwinden oder sich enorm verändern werden. Durch ler-
nende Roboter und künstliche Intelligenz werden auch anspruchsvolle, geistige Tätigkei-
ten wegfallen (Rungg 2016).
12  Die Zukunft der Arbeitswelt: Arbeiten 4.0 207

Daher stellen sich unweigerlich die folgenden Fragen:

• Welche Tätigkeiten bzw. Jobs bleiben erhalten?


• Welche Kompetenzen sind für Mitarbeiter erforderlich, um sich in dieser hypervernet-
zen, schnelllebigen Welt zurechtzufinden und als wertvolle Ressourcen in Unterneh-
men agieren zu können?

Beide Fragen sind grundsätzlich nicht leicht zu beantworten. Jedoch lassen sich klare
Tendenzen erkennen: Es werden branchenübergreifend die Tätigkeiten erhalten bleiben,
die den Menschen von der Maschine differenzieren. Hierzu zählen kommunikative, krea-
tive, strategische Tätigkeiten ebenso wie Aufgaben, bei denen ein hohes Maß an Sozial-
kompetenz, wie beispielsweise Empathie, gefragt ist. Neu hinzukommen werden
Tätigkeiten in hybriden Teams, in welchen Menschen mit Maschinen zusammenarbei-
ten. In Bezug auf die Kompetenzveränderungen im digitalen Zeitalter konzentriert sich
die gegenwärtige Diskussion in Wissenschaft und Praxis stark auf die Analyse der Frage,
welche technologischen Fachkompetenzen stärker an Bedeutung gewinnen oder neu hin-
zukommen werden (u. a. Hall et al. 2016). Diese Fokussierung greift jedoch für eine
holistische Betrachtung zu kurz, da sich angesichts der oben beschriebenen Trends auch
maßgebliche Veränderungen hinsichtlich der erforderlichen Methoden- und Sozialkompe-
tenzen ergeben. Daher muss grundsätzlich eine breiter angelegte Analyse erfolgen, wie
sich Kompetenzanforderungen verändern. Abb. 12.2 zeigt einen Überblick, welche Kom-
petenzen im digitalen Zeitalter in besonderem Maße an Bedeutung gewinnen werden.1
Zur Aneignung bzw. Vermittlung dieser Kompetenzen sind das Zusammenwirken und
die Handlungsbereitschaft mehrerer Akteure am Arbeitsmarkt gefragt. Die gegenwärtige
Praxis zeigt jedoch, dass hierzu weit verbreitet noch Verbesserungspotenziale bestehen:

• Mitarbeiter – auch zukünftige, wie beispielsweise Auszubildende und Studierende –


sollten kontinuierlich ihre eigene „Employability“ überprüfen und ihre Kompetenzen
aktuell und bedarfsgerecht halten. Wesentliche Grundvoraussetzungen hierfür sind eine
hohe und kontinuierliche Lernbereitschaft sowie ein hohes Maß an Eigeninitiative, Selb-
storganisation und Proaktivität. Zudem sollten Mitarbeiter strategisch und bedarfsorien-
tiert agieren, indem sie bei ihrer Karriereplanung und Weiterbildung ihren gegenwärtigen
und zukünftigen Marktwert im Blickfeld haben und ihre Kompetenzen anpassen. Hierzu
zählt, sich zu informieren, in welchen Bereichen aufgrund der fortschreitenden Digitali-
sierung Jobs wegfallen werden und in welchen Bereichen hingegen neue Jobs und damit
erhebliche Chancen am Arbeitsmarkt geschaffen werden (für einen Überblick hierzu
Frey und Osborne 2013; Rüßmann et al. 2015; Bonin et al. 2015). Im digitalen Zeitalter

1Auswertung des wissenschaftlichen Teams von Prof. Dr. Yasmin Weiß unter Rückgriff auf aktuelle
Sekundär- und Primärdatenanalysen zu Kompetenzveränderungen im Zuge der digitalen Transfor-
mation. Es handelt sich hierbei nicht um eine vollständige Aufzählung, sondern um einen priori-
sierten Überblick, welche Kompetenzen in besonderem Maß an Bedeutung gewinnen werden.
208 Y.M.-Y. Weiß und D.J. Wagner

• IT-Kompetenzen als Querschnittskompetenz


• Big-Data-Kompetenz
• Programmierungskompetenzen
Fachkompetenzen • Kompetenzen im Umgang mit künstlicher Intelligenz
• Mensch-Maschine-Interaktion-Kompetenzen
• IT-Sicherheitskompetenzen/Sensibilität für den Umgang mit Daten
• Social-Media-Anwenderkompetenzen

• Fähigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit


• Innovationskompetenz
• Fähigkeit zum Umgang mit Ambiguität
Methodenkompetenzen • Fähigkeit zum Umgang mit Komplexität
• Visionäres Denken und Handeln/Vorstellungskraft
• Change-Management-Kompetenz
• Lebenslanges Lernen

• Selbstorganisationskompetenz
• Interkulturelle Kompetenz
• Fähigkeit, offen in neuen inhaltlichen und sozialen Kontexten zu arbeiten
Sozialkompetenzen • Networking-Kompetenz
• Kooperationsfähigkeit
• Kritikfähigkeit
• Teamfähigkeit, besonders in diversen Teams

Abb. 12.2  Veränderte Kompetenzanforderungen im digitalen Zeitalter

erfahren die Eigeninitiative und -verantwortung für die eigene Beschäftigungsfähigkeit


einen noch höheren Stellenwert als bislang.
• Auch dem Bildungssektor, das heißt den Schulen und Hochschulen, kommt bei der
Sicherung und Bereitstellung der erforderlichen Kompetenzen für das digitale Zeital-
ter eine hohe Bedeutung zu. Es ist eine oftmals geäußerte Forderung, dass Bildungs-
sektor und Wirtschaft noch stärker als bislang in einen fortlaufenden Dialog treten
und enger kooperieren sollten, um möglichst frühzeitig zu eruieren, wie sich Kompe-
tenzanforderungen in den Bereichen Fach-, Methoden- und Sozialkompetenzen ver-
ändern werden. Auf dieser Basis sollte ein geeignetes Bildungsangebot zur Verfügung
gestellt werden, in welchem idealerweise die einzelnen Stufen des Bildungssystems
wirkungsvoll ineinander greifen. Zur Vermittlung der erforderlichen Kompetenzen für
das digitale Zeitalter müssen also aufeinander aufbauende, stimmige „Qualifizie-
rungsketten“ entlang der einzelnen Stufen des Bildungssystems geschaffen werden.
Hierzu könnte beispielsweise zählen, dass bereits in den Schulen stärker als bislang
Programmierkenntnisse an Schüler vermittelt und im weiteren Bildungsverlauf ver-
tieft werden. Auch erfolgskritische Kompetenzen, wie Innovationsfähigkeit, Vorstel-
lungskraft und Kreativität, können und sollten bereits Schülern vermittelt werden.2

2Hierzu exemplarisch das Beispiel der Alt School im amerikanischen Palo Alto, in welcher die
Methoden und Herangehensweisen des Design Thinking als Kreativitätstechnik bereits Grund-
schülern vermittelt werden, um diese möglichst frühzeitig an Kompetenzen für das digitale Zeital-
ter heranzuführen, vgl. https://www.altschool.com/about-us#about-us.
12  Die Zukunft der Arbeitswelt: Arbeiten 4.0 209

Dabei sollte der Bildungssektor nicht nur auf die reine Vermittlung der Kompetenzen
Wert legen, sondern auch darauf, wie Begeisterung und Leidenschaft bei den Lernen-
den für den Erwerb erfolgskritischer Kompetenzen geweckt werden können. Hilfreich
hierbei ist, den Praxisbezug im Bildungssektor weiter zu verstärken, indem mehr Leh-
rende aus der Praxis in die Ausbildung einbezogen werden.
• Unternehmen sind als Arbeitgeber gut beraten, durch gezielte Personalentwicklungs-
maßnahmen und Weiterbildungsangebote für ihre Mitarbeiter und Führungskräfte dafür
zu sorgen, dass die Kompetenzen der Mitarbeiter mit den sich verändernden Anforde-
rungen in Einklang gebracht werden. Dem unternehmens- und branchenübergreifenden,
interdisziplinären Erfahrungsaustausch sowie lebenslangen Lernen wird ein noch höherer
Stellenwert als bislang zukommen. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass die effek-
tivste Form des Kompetenzerwerbs nicht das Lernen im Seminarraum, sondern das kon-
krete Lernen am Arbeitsplatz ist. Herausfordernde, abwechslungsreiche Aufgaben, das
Prinzip der leichten Überforderung im Tagesgeschäft, vernetztes, übergreifendes Arbei-
ten in diversen, multifunktionalen Teams sind hierbei einige ausgewählte Stichworte, die
in der Personal- und Führungsarbeit hilfreich sind, um den kontinuierlichen Kompeten-
zerwerb sowie die Lernfähigkeit und Adaptabilität der Belegschaft zu fördern. Wichtig
hierbei ist, Berührungsängste vor technologischen Neuerungen möglichst abzubauen
und Lernumgebungen sowie -angebote zu schaffen, die den jeweiligen Bedürfnissen der
Zielgruppen gerecht werden. Klar ist, dass Weiterentwicklung und Kompetenzerwerb
nicht in der jeweiligen Komfortzone stattfinden können, sondern dass im Tagesgeschäft
ein bewusstes und gut dosiertes „Stretching“ der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter
erreicht werden muss. Dies ist eine wesentliche Führungsaufgabe im digitalen Zeital-
ter, erfordert aber zusätzlich auch ein hohes Maß an Selbstverantwortung der Mitarbei-
ter. Ebenso klar ist jedoch auch, dass eine zu große Überforderung der Mitarbeiter und
Ängste vor technologischen Neuerungen nicht konstruktiv für die individuelle Weiterent-
wicklung und für den Kompetenzerwerb sind.

Nicht nur die Kompetenzanforderungen, sondern auch die Bedürfnisse der Mitarbei-
ter verändern sich. Nicht nur das „Können“, sondern auch das „Wollen“ der Mitarbeiter
muss hinsichtlich Veränderungen untersucht werden, um im digitalen Zeitalter mit einer
kompetenten und zugleich motivierten Belegschaft erfolgreich agieren zu können. Wie
verändern sich also die Bedürfnisse der Mitarbeiter? Welche Auswirkungen hat es, dass
mit der Generation Y, und zukünftig mit der Generation Z, eine neue Mitarbeitergenera-
tion mit veränderten Bedürfnissen erfolgskritische Positionen im Unternehmen inneha-
ben wird? Hierauf wird im nachfolgenden Abschnitt eingegangen.

12.3 New Needs

Mit dem verstärkten Aufeinandertreffen verschiedener Generationen und Kulturen in


Unternehmen werden nicht nur die Belegschaft, sondern auch die Bedürfnisse der Mitar-
beiter an ihre Arbeitsinhalte, -bedingungen und -mittel sowie an ihre Führung und
210 Y.M.-Y. Weiß und D.J. Wagner

Anreizsysteme diverser. In Unternehmen treffen derzeit Mitglieder der Nachkriegsgene-


ration, Babyboomer sowie Mitglieder der sogenannten Generation X, Generation Y und
Generation Z aufeinander.3 Diese „Age Diversity“ trägt große Vorteilspotenziale in sich,
wenn die jeweiligen Stärken der einzelnen Generationen effektiv genutzt und Schwächen
ausgeglichen werden können. Jedoch sorgt die Diversität auch dafür, dass auf unter-
schiedliche Bedürfnisse Rücksicht genommen werden muss. Auch hier ist eine entspre-
chende Neuausrichtung und Anpassung der Führungsarbeit gefragt. Denn insbesondere
bei Mitgliedern der jüngeren Generationen gilt: Die Zeiten, in denen eine „Ruhigstel-
lung“ von Mitarbeitern durch unbefristete Arbeitsverträge und gute Gehälter zur Siche-
rung der Motivation und Loyalität funktioniert hat, sind vorbei. Demografische Effekte
und der Fachkräftemangel in bestimmten Bereichen wie beispielsweise den MINT-Diszi-
plinen sorgen dafür, dass mehr Anstrengungen erforderlich sein werden, die jeweiligen
Bedürfnisse der verschiedenen Mitarbeitergenerationen zu verstehen und die Arbeitswelt
daran anzupassen. Dies gilt insbesondere für Talente im Unternehmen, die über einen
hohen Marktwert am Arbeitsmarkt verfügen, weil sie Kompetenzen besitzen, die im digi-
talen Zeitalter besonders relevant sind. Der sogenannte „War for Digital Talents“ ist
aktuell am Arbeitsmarkt schon spürbar und wird sich in der Zukunft sicherlich noch wei-
ter verschärfen. Denn aus dem Bewusstsein, erfolgskritische, knappe Ressourcen zu sein,
erwachsen bei den „Digital Talents“ steigende Ansprüche nach der Berücksichtigung
ihrer Bedürfnisse, die oftmals von den Bedürfnissen bisheriger Mitarbeitergenerationen
abweichen. Findet eine solche Berücksichtigung der Bedürfnisse nicht statt, ist mit einer
„Abstimmung mit Füßen“ zu rechnen: Die „Digital Talents“ werden sich dort Arbeit
suchen, wo ihre Bedürfnisse am besten befriedigt werden. Dies kann ein anderer Arbeit-
geber oder auch ein eigenes Start-up sein, in dem sie sich besser verwirklichen und ein
höheres Maß an Freiheit realisieren können. Für „Digital Talents“ ist der Arbeitsmarkt
kein Arbeitgebermarkt, sondern ein Arbeitnehmermarkt, auf dem die Marktmacht sehr
deutlich bei den Digital Talents liegt.
Was sind also die konkreten Bedürfnisse der nachwachsenden Mitarbeitergenera-
tionen und wie lassen sich diese stillen? Auch wenn die Bedürfnisse von Mitarbeitern
grundsätzlich immer individuell sind, zeichnen sich dennoch übergreifende Trends ab,
die nachfolgend am Beispiel der Generation Y beschrieben werden (vertiefend hierzu
Parment 2013; Schulenburg 2016).

• Autonomie und Flexibilität Mitglieder der Generation Y streben danach, die


eigene Zeit möglichst autonom gestalten und einteilen zu können, ohne sich starren
Arbeitszeiten unterwerfen zu müssen. Auch der Wunsch nach modernsten digitalen

3Klaffke (2014) (stellvertretend für weitere Autoren) definiert die jeweiligen Generationen wie
folgt: Nachkriegsgeneration: 1946–1955, Babyboomer: 1956–1965, Generation X: 1966–1980,
Generation Y: 1981–1995, Generation Z: geboren nach 1995. Es existieren in der Literatur auch
leicht abweichende Definitionen.
12  Die Zukunft der Arbeitswelt: Arbeiten 4.0 211

Arbeitsmitteln, die das individuelle und unabhängige Arbeiten unterstützen, ist stark
ausgeprägt. Gefragt ist ein hohes Maß an zeitlicher und räumlicher Flexibilität beim
Arbeiten, das durch moderne Arbeits- und Kommunikationsmittel möglich ist. Das
alte Bild eines Arbeitnehmers, der an fünf Tagen pro Woche zwischen acht und zehn
Stunden am Arbeitsplatz präsent ist, wird als nicht mehr zeitgemäß erachtet. Feier-
abend zu stets vergleichbaren Zeiten sowie regelmäßig arbeitsfreie Wochenenden
werden mehr und mehr von flexibleren Regelungen und individuelleren Lösungen
abgelöst, die stärker auf die jeweils individuellen Bedürfnisse des einzelnen Mitarbei-
ters eingehen. Schon jetzt wird deutlich, dass die Nachfrage nach individuell gestalt-
baren Sabbaticals steigt. Gefragt sind in Summe mehr Freiheiten für den Einzelnen
sowie eine Abkehr von der weit verbreiteten Präsenzkultur.
• Sinn: Die Generation Y stellt sich auch stärker als ihre Vorgängergeneration die Frage
nach der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit und der Aufgaben, die sie verrichten. Das reine
Gehalt und monetäre Aspekte als Motivationsfaktor verlieren hingegen an Bedeutung.
Deutlich wird dies beispielsweise in der aktuellen Gallup-Studie (Nink 2015): Über
70 % der Befragten würden in ihrem Job weiterarbeiten, auch wenn sie so viel Geld
geerbt hätten, dass sie dies nicht mehr müssten. Voraussetzung hierfür allerdings ist,
dass sie in ihrer Arbeit entsprechenden Sinn sehen. Noch stärker als bislang kommt es
daher für Unternehmen darauf an, den einzelnen Mitarbeitern zu vermitteln, wie ihre
jeweilige Aufgabe zum Gesamtergebnis und -erfolg des Unternehmens beiträgt. Es
gilt sicherzustellen, dass die Stimme und Meinung der einzelnen Mitarbeiter Gewicht
haben und Eingang in Entscheidungsprozesse finden.
• Mitbestimmung und Kooperation Die Generation Y ist in einer Zeit aufgewachsen,
in der sie aufgrund der Optionenvielfalt einer globalisierten Welt jeden Tag eine Viel-
zahl an Entscheidungen selbstständig treffen muss. Nachdem dieses Verhaltensmus-
ter aus dem privaten Umfeld tief verankert ist, erwächst auch der Anspruch, in der
Arbeitswelt aktiv mitzuentscheiden. Dieser Punkt hängt eng mit dem Wunsch nach
Sinnhaftigkeit der Arbeit zusammen. Die Generation Y möchte nach dem Einstieg ins
Unternehmen nicht erst Jahre warten, bis sie Teil von Entscheidungsgremien werden
und ihre Ideen und Gedanken wirkungsvoll einbringen kann. Sie möchte von Beginn
an mitentscheiden können. Ferner wünscht sich die Generation Y ein weniger hierar-
chisches Führungsverhältnis, sondern ein kooperativeres, in welchem hierarchieunab-
hängiger diskutiert und entschieden werden kann.
• Work-Life-Balance Grundsätzlich folgt die Generation Y dem übergreifenden Trend,
eine stärkere Ausgewogenheit von Familie und Beruf erzielen zu wollen, als dies bei
vorherigen Generationen realisiert werden konnte. Die Generation Y bezeichnet sich
gerne als „Und-Generation“ anstelle einer „Oder-Generation“. Dies lässt sich an
folgenden Beispielen verdeutlichen: Die Generation Y möchte Familie und Karri-
ere und sie strebt nach anspruchsvollen Tätigkeiten und der Möglichkeit, in Teilzeit
zu arbeiten. Sie sehnt sich nach den Vorteilen, in einem großen Konzern zu arbeiten
und möchte die Dynamik und Schnelligkeit eines Start-ups erfahren. Dabei sind die
Anforderungen durchaus hoch: Viele Mitglieder der Generation Y sind sogenannte
212 Y.M.-Y. Weiß und D.J. Wagner

„Dual Career Couples“, die die Karrieren von zwei berufstätigen Partnern in Einklang
bringen wollen, mit ausreichender Zeit für Privates. Dass Führen auch in Teilzeit
möglich sein muss, oder dass regelmäßig von zu Hause aus gearbeitet werden kann,
wird zunehmend eingefordert. Denn die Generation Y weiß, dass mit der fortschrei-
tenden „Entgrenzung von Arbeit“ durch mobile Endgeräte sowie neue Formen des
global verteilten und mobilen Arbeitens wie „Cloud Working“ neue Möglichkeiten
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entstehen. Entsprechend werden solche
Angebote bei ihren Arbeitgebern nachgefragt und als zunehmend selbstverständlich
angesehen.

Die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Mitarbeiter ist zur Förderung der Motiva-
tion, Loyalität und Bleibebereitschaft erforderlich und stellt damit einen wesentlichen
Baustein dar, um im „War for Digital Talents“ erfolgreich sein zu können. Zu berück-
sichtigen ist zudem, dass Mitarbeiter mit ihrem Arbeitgeber neben dem Arbeitsvertrag
im juristischen Sinne auch einen sogenannten „psychologischen Arbeitsvertrag“
schließen. Die Einhaltung des psychologischen Arbeitsvertrages bemisst sich daran, ob
die Mitarbeiter das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse vom Arbeitgeber ausreichend
berücksichtigt werden. Der psychologische Arbeitsvertrag ist nicht zu unterschät-
zen. Denn er entscheidet darüber, ob der Mitarbeiter bereit ist, für seinen Arbeitgeber
die „Extrameile“ zu gehen und sein volles Leistungspotenzial einzubringen. Vieles von
dem, was im Zuge der digitalen Transformation von hoher Bedeutung ist, ist durch einen
juristischen Arbeitsvertrag nicht einklagbar und damit Gegenstand des psychologischen
Arbeitsvertrages. Hierzu zählen beispielsweise:

• Innovationskraft,
• Kreativität,
• Vorstellungskraft,
• visionäres Denken und Handeln.

Auch dies ist ein wesentlicher Grund, warum die „New Needs“ der Belegschaft im digi-
talen Zeitalter ermittelt und entsprechend berücksichtigt werden sollten.
Ein Hinweis ist an dieser Stelle noch wichtig: Selbstverständlich kommt es auf die
Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Mitarbeitergenerationen im Unternehmen an.
Arbeitgeber können es sich angesichts demografischer Entwicklungen und alternder
Belegschaften nicht leisten, sich allein auf die Bedürfnisse der jungen Mitarbeiterge-
nerationen zu fokussieren. Ältere Mitarbeitergenerationen sind für Arbeitgeber äußerst
wertvoll. Somit kommt es darauf an, ein effektives Mehr-Generationen-Management
zu betreiben. Hierzu zählt, das gegenseitige Verständnis und die Wertschätzung zwischen
den Generationen zu fördern und wirkungsvolle altersgemischte Teams zu organisieren,
in denen der Wissenstransfer zwischen den Generationen funktioniert.
Dies ist im Wesentlichen eine Frage der Führung, sodass Führungskräfte hier-
für entsprechend sensibilisiert werden müssen. Weitere Anforderungen, die an die
12  Die Zukunft der Arbeitswelt: Arbeiten 4.0 213

Führungskräfte im digitalen Zeitalter im Sinne von „New Leadership“ gestellt werden,


werden im nachfolgenden Abschnitt thematisiert.

12.4 New Leadership

Oftmals wird unter Digital Leadership die Marktführerschaft im digitalen Zeitalter ver-
standen. Der Begriff ist allerdings weiter zu fassen, indem die Voraussetzungen hierfür
in den Mittelpunkt gerückt werden: Unter Digital Leadership sind demnach adäquates
Führungsverhalten und die damit verbundenen erforderlichen Führungskompeten-
zen im digitalen Zeitalter zu subsumieren. Was also gehört dazu? Welche Anforderungen
werden an Führungskräfte im digitalen Zeitalter gestellt? Die Anforderungen leiten sich
aus den übergreifenden Trends ab, welche die Aufgaben der Führungskräfte maßgeblich
beeinflussen und verändern. Hierzu zählen u. a. die bereits erwähnte steigende Komple-
xität und Dynamik des unternehmerischen Umfelds, eine weiter ansteigende Bedeutung
von Technologie über alle Geschäftsprozesse und -bereiche hinweg, steigender Effizienz-
druck sowie die Erfordernis, unternehmensübergreifend zu kooperieren, schnell agieren
und reagieren zu können und bestehende Geschäftsprozesse und -modelle laufend zu
hinterfragen. Was also sind dann die konkreten Anforderungen an „New Leadership“
im digitalen Zeitalter? Wie können Führungskräfte mit ihrem Führungsverhalten dazu
beitragen, dass sie ihre Digital Talents möglichst optimal fördern, damit diese ihr volles
Leistungspotenzial auch einbringen dürfen?

• Fähigkeit, zuzuhören: Es klingt gleichermaßen banal wie selbstverständlich und


doch ist die Fähigkeit einer Führungskraft, ihren Mitarbeitern zuzuhören, eine
wesentliche Anforderung in der digitalen Ära. Denn aufgrund des wachsenden Tech-
nologiebezugs von Geschäftsmodellen und -prozessen und einer steigenden Vielfalt
von Kundenbedürfnissen macht es Sinn, dass Führungskräfte hierarchie- und altersun-
abhängig auf das Wissen, die Erfahrungen und die Innovationskraft ihrer Mitarbei-
ter zurückgreifen können. Dazu ist in vielen Unternehmen ein Wandel des bisherigen
Führungsverständnisses und der Rolle einer idealen Führungskraft erforderlich. Insge-
samt gilt, dass Führungskräfte nahbarer werden müssen. Dies trägt dazu bei, schnel-
ler und an ungefilterte Informationen der Mitarbeiter zu gelangen. „Age Diversity“
muss wirksam vorgelebt werden, indem Mitarbeitern ein altersunabhängiger Zugang
zu Entscheidungsgremien gewährt wird.
• Fähigkeit zur Delegation Die Fähigkeit, zuzuhören, ist eng an die Fähigkeit, dele-
gieren zu können, gekoppelt. Die Summe der Vielzahl selbstdenkender Mitarbeiter
trifft bessere Entscheidungen als der klügste und erfahrenste einzelne Manager. Im
digitalen Zeitalter ist erforderlich, von einer traditionellen hierarchischen Ordnung
immer stärker Abstand zu nehmen. Vielmehr ist es hilfreich, sich von einer hierar-
chisch geprägten Organisation zu einer gleichberechtigten „Community“ hinzuent-
wickeln, in der sich die Experten in ihren jeweiligen Themengebieten auf Augenhöhe
214 Y.M.-Y. Weiß und D.J. Wagner

beraten und hierarchieübergreifend in den Entscheidungsprozess mit einbezogen wer-


den. Führungskräfte müssen den kreativen Mitarbeitern mehr Freiheiten geben und
den Kontrollverlust konstruktiv managen.
• Fähigkeit zu schnellen Entscheidungen Im digitalen Zeitalter ist Geschwindigkeit
erfolgskritisch. Daher müssen flachere Hierarchien eingeführt und vorgelebt werden.
Hierzu zählt, kurze Kommunikations- und Entscheidungswege zuzulassen. Starre
Rücksprachetermine mit der Führungskraft auf vorher festgelegter Terminbasis sowie
ein wochenlanger Gremiendurchlauf von Entscheidungsvorlagen sind Führungsinstru-
mente des 20. Jahrhunderts, die im digitalen Zeitalter sehr riskant sind. Gefragt sind
vielmehr eine Kultur des „direkten Drahtes“ der Mitarbeiter zur Führungskraft und
agilere Formen von Entscheidungsprozessen.
• Fähigkeit, Digital Talents zu entwickeln und binden: Digitale Talente zu rek-
rutieren und nachhaltig zu binden ist für das Gelingen der digitalen Transformation
erfolgskritisch. Hierzu müssen Führungskräfte ein passendes Arbeitsmilieu schaffen,
in dem sich digitale Talente wohl- und wertgeschätzt fühlen und sich entfalten kön-
nen. Digital Talents – unabhängig vom Hierarchiegrad – müssen das Gefühl haben,
dass sie den Unterschied machen können und nicht nur ein kleines Rädchen in
einem großen Räderwerk sind. Um die Brücke aus „alter und neuer“ Welt schlagen
zu können, haben einige Unternehmen bereits „zweiarmige“ Organisationsmodelle
etabliert. Damit verbinden sie bisherige Unternehmensstrukturen mit neuen, anders-
artigen „Digital Units“, in denen andere Regelungen hinsichtlich Arbeitsumgebung
und Entscheidungsprozesse gelten und eine andere Unternehmenskultur vorherrscht.
Die Arbeitsumgebungen in diesen Digital Units orientieren sich stark an innovativen
und agilen Technologiefirmen oder Start-ups. Aber nicht nur in diesen ausgewiese-
nen Digital Units, sondern in der gesamten Organisation kommt Führungskräften
die Aufgabe zu, eine sogenannte „Digital Learning Atmosphere“ zu fördern: Hierzu
zählt, dass eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Chancen und Herausfor-
derungen der Digitalisierung geschaffen wird und dass eine positive und konstruktive
Grundhaltung zur Auseinandersetzung mit der Digitalisierung und ihren Möglich-
keiten und Konsequenzen erzeugt wird. Führungskräften muss es hierfür gelingen,
Begeisterung für den digitalen Wandel zu schaffen. Hinzu kommt, dass Führungs-
kräfte es schaffen müssen, möglichst individuell auf die Digital Talents einzugehen.
Ein „One-Size-Fits-All-Ansatz“ in der Führung wird im digitalen Zeitalter immer
weniger funktionieren.
• Fähigkeit zur Innovation: Für Unternehmen bedeuten Stillstand und Behäbigkeit
in der digitalen Ära den Tod. Innovation muss deshalb zum allgemein gültigen Leit-
prinzip erhoben werden. Führungskräften kommt die Aufgabe zu, eine geeignete
Unternehmens- und Zusammenarbeitskultur zu schaffen, die wie ein „Brutkasten“ für
Innovationen wirkt. Hierzu zählt beispielsweise, eine konstruktive Fehlerkultur sowie
eine produktive Kultur des Scheiterns zu schaffen sowie Performance-Management-
systeme entsprechend anzupassen. Ferner müssen Führungskräfte ihren Talenten aus-
reichend zeitliche und finanzielle Ressourcen für Innovationen zur Verfügung stellen
12  Die Zukunft der Arbeitswelt: Arbeiten 4.0 215

und Freiräume schaffen. Denn kreative Ideen der Mitarbeiter entstehen nicht notwen-
digerweise im Büro während der Regelarbeitszeit zwischen 8:00 und 18:00 Uhr. Mehr
räumliche und zeitliche Flexibilität sowie ein höheres Maß an Freiheiten, was für Mit-
tel zur Zielerreichung eingesetzt werden können, sind gefragt. Es gilt ferner, die Selb-
storganisation, Selbstreflexion sowie die Vorstellungskraft der Mitarbeiter zu fördern
und hierzu eine glaubhafte und im Idealfall inspirierende Vorbildrolle wahrzunehmen.
Ferner ist es von enormer Bedeutung, dass Führungskräfte eine Vorbildrolle hinsicht-
lich des lebenslangen Lernens einnehmen und ihren Mitarbeitern glaubhaft vorleben.
Hierzu zählt, sich selbst intensiv mit der Digitalisierung zu beschäftigen und eigene
Lernziele zu setzen, um sich kontinuierlich weiterzuentwickeln.
• Fähigkeit, Kulturwandel zu managen: „Culture eats strategy for breakfast“ (Kers-
ten 2013).4 Ohne eine Kultur, den digitalen Wandel tatsächlich zu gestalten und nicht
nur darüber zu reden, nützt die beste Strategie nichts. Die Gestaltung einer solchen
Kultur ist ganz klar eine wesentliche Führungsaufgabe. Was sind also zentrale Ele-
mente eines solchen Kulturwandels? Aus einer Kontroll- muss eine Vertrauenskul-
tur entwickelt werden. In multidisziplinären Teams zusammenzuarbeiten und bei
Bedarf unternehmensübergreifend zu kooperieren muss zum Normalfall werden.
Auch sollten Führungskräfte konstruktiv mit der Vielfalt an unterschiedlichen Erfah-
rungs- und Ausbildungshintergründen, Altersklassen und Nationalitäten umgehen.
Tatsächlich gelebtem Diversity-Management kommt gerade in der digitalen Ära eine
besondere Bedeutung zu. Führungskräfte haben die entsprechende Offenheit und
Bereitschaft hierfür zu fördern. Ein weiteres kulturelles Element ist von hoher Bedeu-
tung: Das höchste Sozialprestige sollte im digitalen Zeitalter nicht mehr denjenigen
mit der größten Führungsspanne und Führungsprivilegien zugesprochen werden, son-
dern denjenigen, die aufgrund ihrer Expertise am meisten nachgefragt und um Rat
gefragt werden.

Fazit
Digitalisierung bedeutet nicht Evolution, sondern Revolution. Die technologische
Disruption spiegelt sich auch in entsprechenden Umbrüchen und Veränderungen in
der Arbeitswelt 4.0 wider. Diesen fundamentalen Wandel sollte jedes Unternehmen
als Chance begreifen. Wer hier den Anschluss verliert, riskiert die Zukunft des Unter-
nehmens. Die Arbeitswelt 4.0 ist ein zentraler „Enabler“, um die digitale Transforma-
tion erfolgreich umsetzen zu können. Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit sind
hierbei zentrale Erfolgsfaktoren. „Arbeiten 4.0“ bedeutet immer auch „Lernen 4.0“.

4Dieses Zitat wird Peter F. Drucker zugeschrieben.


216 Y.M.-Y. Weiß und D.J. Wagner

Literatur

BMAS (2015). Grünbuch Arbeiten 4.0. Arbeit weiter denken. http://www.bmas.de/SharedDocs/


Downloads/DE/PDF-Publikationen-DinA4/gruenbuch-arbeiten-vier-null.pdf;jsessionid=52B6
B9E579AE2B4A04E9D6763EFE8339?__blob=publicationFile&v=2.
Bonin, H., Gregory, T., & Zierahn, U. (2015). Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013)
auf Deutschland. Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung GmbH. http://www.bmas.de/
SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb-455.pdf;jsessionid=54
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Frey, C. B., & Osborne, M. A. (2013). The future of employment: How susceptible are jobs to com-
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Über die Autoren

Prof. Dr. Yasmin Mei-Yee Weiß verfügt über langjäh-


rige Erfahrung als Personalmanagerin bei den zwei DAX-
30-Unternehmen E.ON AG und BMW Group und hat eine
Professur für Personal und Organisation an der Technischen
Hochschule Nürnberg inne. Zudem lehrt sie als Visiting
Professor an der Technischen Universität Berlin. Sie ist
Aufsichtsrätin bei Semikron International, einem deutschen
Leistungselektronikhersteller. Ferner ist sie Mitglied des
Außenwirtschaftsbeirats des Bundeswirtschaftsministers
und des Innovationssteuerkreises der Bundesregierung.

David Jonathan Wagner ist wissenschaftlicher Mitar­


beiter an der Technischen Hochschule Nürnberg im For-
schungsprojekt „Kompetenzen der Zukunft“ von Frau Prof.
Dr. Yasmin Mei-Yee Weiß. Vor seinem Masterstudium mit
Schwerpunkt Human-Resources-Management war David
Jonathan Wagner knapp vier Jahre bei Bosch im Bereich HR
beschäftigt, zuletzt als Personalreferent.
Teil III
Die Förderung der fluiden Intelligenz
bei Beschäftigten als Voraussetzung für 13
Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit
Michael Falkenstein

Zusammenfassung
Moderne Arbeit fordert von den Beschäftigten ein hohes Maß an Motivation, Fle-
xibilität und Lernfähigkeit. Hierfür sind bestimmte mentale (kognitive) Fähigkeiten
notwendig, die unter dem Begriff „fluide Intelligenz“ subsumiert werden. Besonders
wichtig sind hierbei die exekutiven Kontrollfunktionen. Die fluide Intelligenz und ins-
besondere die Kontrollfunktionen nehmen jedoch mit zunehmendem Alter insgesamt
ab. Diese Abnahme ist interindividuell sehr unterschiedlich, da sie durch vielfältige
umwelt- und arbeitsbezogene sowie individuelle Faktoren beeinflusst wird. Im Kon-
text eines ganzheitlichen betrieblichen Gesundheitsmanagements sollte sowohl an
arbeitsbezogenen als auch an individuellen Faktoren angesetzt werden, um die fluide
Intelligenz und damit die Beschäftigungsfähigkeit Älterer zu fördern. Verhältnisprä-
ventive Maßnahmen sind eine geeignete Gestaltung der Arbeit sowie eine Schulung
von Führungskräften. Individuelle Maßnahmen sind gesunde Ernährung, Stressma-
nagementtraining, sportliche Aktivität sowie kognitives Training. Kognitives Training
sollte bevorzugt durch gut ausgewählte, PC-basierte Programme erfolgen, da diese
dynamisch und adaptiv und dadurch hoch motivierend sind. Insbesondere durch die
Kombination von kognitivem und Stressmanagementtraining lassen sich kognitive
Potenziale bei älteren Beschäftigten fördern und dadurch ihre mentale Gesundheit
und Beschäftigungsfähigkeit nachhaltig verbessern.

M. Falkenstein (*) 
Institut für Arbeiten Lernen Altern, Bochum, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 221


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_13
222 M. Falkenstein

Inhaltsverzeichnis

13.1 Fluide Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222


13.2 Einflussfaktoren auf die fluide Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
13.2.1 Alter und Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
13.2.2 Personenbezogene Faktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
13.3 Fluide Intelligenz, Alter und Arbeitsleistung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
13.4 Maßnahmen zur Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten. . . . . . . . . . . . . . . . 227
13.4.1 Verhältnisprävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
13.4.2 Verhaltensprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Über den Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

13.1 Fluide Intelligenz

Moderne Arbeit ist durch starke Veränderungen gekennzeichnet, die vor allem mit der
Digitalisierung der Arbeitswelt zusammenhängen. Diese Veränderung bietet Chancen
für neue Berufe; sie ist aber auch mit großen Herausforderungen für die Beschäftig-
ten verbunden. Die zu leistende Arbeit ist komplex und damit geistig anspruchsvoller.
Darüber hinaus ist der Arbeitsalltag immer mehr durch Arbeitsverdichtung, Zeitdruck,
Verkürzung von Taktzeiten, schnelles Arbeiten, Multitasking und häufige Unterbre-
chungen sowie Umstrukturierungen und zunehmende Unsicherheit gekennzeichnet,
welches die wesentlichen Quellen von Stress sind (Lohmann-Haislah 2013). All diese
Aspekte moderner Arbeit erfordern bestimmte mentale (kognitive) Fähigkeiten, die
unter dem Begriff „fluide Intelligenz“ subsumiert werden. Fluide Intelligenz beinhaltet
zum Beispiel die Speicherung und Verarbeitung von aktueller Information (das soge-
nannte Arbeitsgedächtnis), den flexiblen Wechsel zwischen Teilaufgaben, die Unter-
drückung von Ablenkreizen, die Suche von Information in einem komplexen visuellen
Umfeld, die zeitlich exakte Vorbereitung, die Erkennung und Revision eigener Fehl-
handlungen sowie die Verarbeitung von Rückmeldereizen und darauf basierend die
Adaption von Handlungen und Zielen. Fluide Intelligenz gehört zu den sogenannten
Schlüsselqualifikationen, das heißt überfachlichen Kompetenzen, die zum flexiblen
Einsatz von Wissen und Umgang mit neuen Situationen befähigen. Fluide Intelligenz
ist also gerade im modernen Arbeitsleben unabdingbar. Mangelt es an bestimmten
Aspekten fluider Intelligenz, kann moderne Arbeit zu Stress und psychischen Erkran-
kungen führen.
13  Die Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten ... 223

13.2 Einflussfaktoren auf die fluide Intelligenz

13.2.1 Alter und Umwelt

Die fluide Intelligenz ist zwar zum Teil genetisch bedingt (zum Beispiel Gajewski et al.
2016), wird aber auch durch Umwelteinflüsse und Lebensstil beeinflusst, wie die Art der
Arbeit und chronischen Stress. Insbesondere aber verändert sich die fluide Intelligenz
mit dem Alter und nimmt zum Teil bereits ab dem mittleren Alter ab (Hedden und Gab-
rieli 2004). Dies betrifft demnach auch ältere Beschäftigte (Wild-Wall et al. 2009). Offi-
zielle Statistiken definieren Beschäftigte ab 50 als älter; wissenschaftliche Studien setzen
die Grenze eher früher an (etwa ab 45) (Müller et al. 2012). Altersbegleitendes Nach-
lassen der fluiden Intelligenz zeigt sich zum Beispiel in Einschränkungen der Fähigkeit,
Zielreize in einem komplexen visuellen Umfeld zu entdecken, Störreize zu unterdrücken
oder mehrere Tätigkeiten zugleich auszuführen (zum Beispiel Wild-Wall et al. 2011;
Hahn et al. 2013; Falkenstein 2013). Diese Leistungseinbußen Älterer zeigen sich meist
unter Laborbedingungen, während sie im Alltag und bei der Arbeit seltener auffallen.
Die Gründe hierfür werden im Folgenden noch diskutiert werden.
Die Abnahme der fluiden Funktionen mit zunehmendem Alter ist interindividuell ext-
rem unterschiedlich. Dies liegt an dem Einfluss „interner“ Faktoren, wie genetische Aus-
stattung, sowie „externer“ Faktoren, wie Ernährung, Bildung, körperliche und geistige
Aktivität, Stressoren und Arbeit (Gajewski und Falkenstein 2015a zur Übersicht). Die
Art der Arbeit ist einer der stärksten externen Einflussfaktoren. Bereits Hacker (1996,
2004) wies auf die Gefahr des arbeitsinduzierten Voralterns hin. Komplexe, kognitiv
anspruchsvolle Arbeit verbessert offenbar die fluide Intelligenz der Beschäftigten (zum
Beispiel Schooler et al. 1999; Then et al. 2015). Dieser Einfluss der Arbeit ist offenbar
unabhängig von der Intelligenz im Kindesalter und der Anzahl der Ausbildungsjahre
(Smart et al. 2014) und stärker für Beschäftigte mit geringeren kognitiven Ausgangswer-
ten (Potter et al. 2008). Marquié et al. (2010) erfassten bei über 2000 Beschäftigten den
Grad der mentalen Stimulation durch die Arbeit sowie die kognitive Leistungsfähigkeit
über einen Zeitraum von zehn Jahren. Bei hoher kognitiver Stimulation durch die Arbeit
zeigte sich eine Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit der Beschäftigten trotz
Zunahme ihres Alters. Im Rahmen des Projekts PFIFF1 konnte gezeigt werden, dass
ältere Beschäftigte mit jahrelanger flexibler und kognitiv herausfordernder Arbeit fast die
gleiche mentale Fitness wie jüngere Beschäftigte zeigten, während Beschäftigte mit

1Das Projekt PFIFF (Projekt zur Förderung und zum Erhalt Intellektueller Fähigkeiten für ältere

Arbeitnehmer) beinhaltete zum einen die Identifikation der wesentlichen Einflussfaktoren auf die
mentale Entwicklung mit zunehmendem Alter, zum anderen ein gezieltes Training mentaler Funk-
tionen bei älteren Beschäftigten mit ungünstiger Arbeit (BAuA 2012; Freude et al. 2008; Gajewski
2016).
224 M. Falkenstein

langjähriger repetitiven Arbeit deutliche Defizite zeigten, jedoch nur bei anspruchsvollen
neuen Aufgaben (Freude et al. 2008; Gajewski et al. 2010a).
Mental beanspruchende Arbeit fördert die Intelligenz nicht nur während der aktiven
Zeit, sondern verringert auch das Nachlassen der Intelligenz im höheren Alter (zum
Beispiel Fisher et al. 2014; Then et al. 2015). Auch eine hohe horizontale berufliche
Mobilität fördert die fluide Intelligenz (Godde et al. 2015). Dies verwundert wenig, da
berufliche Mobilität mit neuen Lernanforderungen verknüpft ist, wodurch verschiedene
Aspekte fluider Intelligenz gefordert und trainiert werden.
Aber auch allgemeinere Aspekte der Arbeit beeinflussen die fluide Intelligenz:
Organisatorische Gerechtigkeit fördert die Intelligenz (Elovainio et al. 2012), während
überlange Arbeitszeiten sie beeinträchtigen (Virtanen et al. 2009). Schichtarbeit und ins-
besondere Nachtarbeit beeinträchtigen die fluide Intelligenz (Rouch et al. 2005; Ansiau
et al. 2008).
Ein besonders gewichtiger Einflussfaktor auf die fluide Intelligenz ist chronischer
Stress. Stress ist die individuelle Reaktion auf eine schwierige oder unangenehme Situa-
tion (Stressor). Stressoren im Arbeitskontext sind vielfältig und nehmen kontinuierlich zu,
wie bereits eingangs erwähnt. Chronischer Stress begünstigt nicht nur körperliche Erkran-
kungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen, sondern beeinträchtigt auch
wichtige Hirnstrukturen und damit mentale Funktionen (Lupien et al. 2009) und kann
sogar das Risiko für demenzielle Entwicklungen erhöhen (Wang et al. 2012). Hierbei ist
weniger der Stressor selbst, sondern die Art und Stärke der Reaktion auf ihn, also der indi-
viduelle Stress, prädiktiv für eine Demenz (Crowe et al. 2007). Auch geringe Kontrolle
über die Arbeit ist ein wesentlicher Stressor, der die fluide Intelligenz im mittleren und
höheren Alter negativ beeinflusst (Andel et al. 2015). Die stärksten Stressoren sind nega-
tive soziale Interaktionen mit Führungskräften und Kollegen (Tuomi et al. 1997).

13.2.2 Personenbezogene Faktoren

Die zitierten Studien zeigen übereinstimmend, dass arbeitsbezogene Faktoren wie die
Art der Arbeit und Stressoren die fluide Intelligenz Beschäftigter massiv beeinflussen.
Daneben haben personenbezogene Faktoren, wie zum Beispiel der Lebensstil einen
erheblichen Einfluss auf die fluide Intelligenz. Die wesentlichen Lebensstilfaktoren sind
Ernährung, Umgang mit Stressoren sowie körperliche und mentale Aktivität (Freude
et al. 2008; Falkenstein und Gajewski 2014; Gajewski und Falkenstein 2015a).
Bestimmte Nahrungsmittel haben einen günstigen Einfluss auf die fluide Intelligenz.
Die wirksamen Inhaltsstoffe sind hier vor allem Omega-3-Fettsäuren (zum Beispiel in
Fisch und Nüssen) und Polyphenole (in dunklen Blattgemüsen, Früchten und Kaffee).
Omega-3-Fettsäuren und Polyphenole wirken vor allem bei Älteren positiv auf verschie-
dene Hirnstrukturen und -prozesse und damit auf die fluide Intelligenz (zum Beispiel
Witte et al. 2014; van Gelder et al. 2007). Eine zusammenfassende Auflistung der wich-
tigsten Intelligenz fördernden Nahrungsmitteln findet sich bei Freude et al. (2008).
13  Die Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten ... 225

Körperliche Aktivität verbessert nicht nur die körperliche Fitness, sondern auch die
fluide Intelligenz und vermindert das Risiko einer demenziellen Entwicklung (Radak
et al. 2010). Bei körperlich aktiven Älteren ist der kognitive Leistungsabfall deutlich ver-
mindert (Sofi et al. 2011). Langjährig körperlich aktive Männer zeigen bei Testaufgaben
zur fluiden Intelligenz bessere Leistungen als inaktive Männer (zum Beispiel Gajewski
und Falkenstein 2015b). Körperliches Ausdauertraining führt zu einer Verbesserung der
fluiden Intelligenz und hier vor allem der exekutiven Funktionen (Colcombe und Kramer
2003; Smith et al. 2010). Eine aktuelle Übersicht zur Wirkung von körperlicher Aktivität
auf körperliche und mentale Fitness findet sich bei Gajewski und Falkenstein (2016).
Nicht nur anspruchsvolle Arbeit, sondern auch ein mental aktiver Lebensstil verlang-
samen das Nachlassen der fluiden Intelligenz (zum Beispiel Singh-Manoux et al. 2003;
Plassman et al. 2010; Park et al. 2014). Mental anspruchsvolle Aktivitäten im Erwach-
senenalter sind sogar wichtiger als eine gute Ausbildung (Reed et al. 2011). Auch Seni-
oren im Ruhestand zeigten sich umso intelligenter, je geistig aktiver sie während ihrer
beruflich aktiven Zeit waren (Ihle, Oris, Fagot, Baeriswyl, Guichard und Kliegel 2015).
Dieser Zusammenhang war stärker für Menschen mit niedrigem Bildungsstand. Ungüns-
tige frühe Einflüsse können also durch spätere, mental anspruchsvolle Aktivitäten abge-
mildert werden.

13.3 Fluide Intelligenz, Alter und Arbeitsleistung

Fluide Intelligenz wird generell für alle Aufgaben und Arbeiten benötigt. Die Abnahme
der fluiden Intelligenz mit zunehmendem Alter ist einer der Gründe für die Abnahme
der subjektiven Arbeitsfähigkeit (Arbeitsfähigkeitsindex: ABI, engl. Workability Index:
WAI; Tuomi et al. 1997). Der Verlauf des WAI über die Beschäftigungszeit hängt jedoch
stark von der Art der ausgeübten Arbeit ab; bei Lehrern ist zum Beispiel ein starker
Abfall zwischen 30 + und 45 + zu verzeichnen, während bei höheren Verwaltungstä-
tigkeiten der WAI in der höheren Altersgruppe sogar ansteigt (Hasselhorn und Freude
2007). Dies zeigt erneut den Einfluss individueller (zum Beispiel Bildung) und arbeitsbe-
dingter Faktoren (zum Beispiel anregende Arbeit) auf den Verlauf der fluiden Intelligenz
mit zunehmendem Alter.
Eine hohe fluide Intelligenz ist mit hoher selbst- und fremd bewerteter Arbeitsleis-
tung assoziiert (Higgins et al. 2007). Erfahrung wirkt offenbar nur dann positiv auf die
Arbeitsleistung älterer Beschäftigter, wenn auch ihre fluide Intelligenz hoch ist (Wihler
et al. 2014). Burkolter et al. (2009) konnten zeigen, dass fluide Intelligenz und Wissen
einen beträchtlichen Teil der Leistung bei einer simulierten Prozesskontrolle erklären.
Die Autoren regen an, den kognitiven Status bei der Personalselektion für komplexe
Arbeitsumgebungen zu berücksichtigen. Die fluide Intelligenz ist eine essenzielle Res-
source für ältere Beschäftigte, um eine gute Arbeitsleistung aufrecht zu erhalten (Müller
et al. 2015a).
226 M. Falkenstein

Bestimmte fluide Funktionen, die sogenannten exekutiven oder Kontrollfunktionen,


sind von besonderer Bedeutung in neuen, unerwarteten oder komplexen Situationen bzw.
Aufgaben, bei Abweichungen von der Routine und bei Problemen generell. Ihr altersbe-
dingtes Nachlassen kann daher zu Problemen und Fehlern in solchen Situationen füh-
ren. Gut ausgeprägte exekutive Funktionen (Arbeitsgedächtnis und Inhibition) sind mit
höheren WAI-Werten assoziiert, auch nach Berücksichtigung verschiedener Moderator-
Variablen (Ihle et al. 2015). Ältere mit unzureichenden exekutiven Funktionen begehen
mehr Fehler als Jüngere bei Entscheidungen auf Wahrscheinlichkeitsbasis (Brand und
Schiebener 2012). Auch das Entscheidungsverhalten im Alltagskontext ist bei gesun-
den Älteren mit leichten exekutiven Dysfunktionen (ca. 35 bis 40 %) beeinträchtigt, was
zum Beispiel zu finanziellen Fehlentscheidungen führt (Denburg et al. 2007). Schließ-
lich sind exekutive Funktionen wichtig für den adäquaten Umgang mit Stressoren in der
Arbeitswelt, wie zum Beispiel emotionaler Dissonanz. Defizite in exekutiven Funktionen
können zum Beispiel das Auftreten von Burn-out-Symptomen infolge von emotionaler
Dissonanz verstärken (Diestel und Schmidt 2011).
Trotz des altersbegleitenden Nachlassens der fluiden Intelligenz zeigt sich insgesamt
kein Zusammenhang zwischen Alter und beruflicher Leistung (zum Beispiel Waldman
und Avolio 1986; Park 1994). Bei näherer Analyse zeigen sich negative Korrelationen
bei geringer, und positive Korrelationen bei hoher Arbeitskomplexität (Sturman 2003).
Komplexe Arbeit kann also den negativen Effekt des Alters auf die fluide Intelligenz
weitgehend abpuffern und die Arbeitsleistung kann bei komplexer Arbeit mit zuneh-
mendem Alter sogar steigen (Hasselhorn und Freude 2007; Marquié et al. 2010). Zudem
ist die meiste Arbeit überlernte Routine, für die fluide Intelligenz kaum notwendig ist.
Expertentum verringert daher die negativen Konsequenzen des altersbegleitenden Nach-
lassens fluider Intelligenz (Taylor et al. 2005). Hingegen beanspruchen schwierige Labo-
raufgaben die fluide Intelligenz sehr stark und decken Defizite eher auf. In dem Projekt
PFIFF schnitten ältere Beschäftigte mit monotoner Arbeit bei einer schwierigen neuen
Testaufgabe relativ schlecht ab. Dies lässt vermuten, dass sie auch bei ungewohnten
neuen Arbeitsaufgaben Probleme haben werden. Um ihre Leistung trotz nachlassender
fluider Intelligenz aufrecht zu erhalten, entwickeln viele Ältere im Laufe der Zeit Stra-
tegien der Selektion, Optimierung oder Kompensation (SOK) (Freund und Baltes 1998).
Ältere Menschen vermeiden oft bestimmte Arbeiten oder Situationen (Selektion). Sie
bereiten sich auf schwierige Aufgaben intensiver vor (Optimierung) oder achten stärker
auf Hinweisreize (Kompensation) (Wild-Wall et al. 2011). Ältere Beschäftigte, die SOK-
Strategien nutzen, zeigen eine gute Arbeitsfähigkeit (zum Beispiel Müller et al. 2012).
Voraussetzung für die Anwendungsmöglichkeit von SOK-Strategien sind allerdings
Kontrollspielräume. Der wichtigste Grund für die weitgehend gut erhaltene Arbeits-
leistung älterer Beschäftigter ist der Healthy-Worker-Effekt, das heißt, vor allem geis-
tig und körperlich fitte Ältere verbleiben bis zum Renteneintritt in der Beschäftigung.
Wenn aufgrund des demografischen Wandels zunehmend auch die weniger fitten Älte-
ren beschäftigt sind, wird die Arbeitsleistung älterer Beschäftigter voraussichtlich auch
13  Die Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten ... 227

insgesamt schlechter werden. Dies verdeutlicht die Dringlichkeit präventiver Maßnah-


men zur Förderung der fluiden Intelligenz.

13.4 Maßnahmen zur Förderung der fluiden Intelligenz bei


Beschäftigten

Wie oben dargelegt, ist die Abnahme der fluiden Intelligenz mit zunehmendem Alter
weitgehend das Ergebnis lang einwirkender Faktoren, die jedoch prinzipiell beeinfluss-
bar sind. Diese weisen zugleich den Weg zu Maßnahmen eines umfassenden betriebli-
chen Gesundheitsmanagements, um die fluide Intelligenz der älteren Belegschaft zu
fördern. Maßnahmen sind zum einen verhältnispräventiv und konzentrieren sich auf eine
geeignete Gestaltung der Arbeit. Verhaltenspräventive Maßnahmen zum anderen zielen
auf die Verbesserung der persönlichen Kompetenz und Gesundheit älterer Beschäftigter
durch Veränderung des Lebensstils und Trainingsmaßnahmen (Falkenstein und Gajewski
2014). Der vorliegende Abschnitt ist auf letztere fokussiert.

13.4.1 Verhältnisprävention

Wie oben dargelegt beeinträchtigen ungünstige Arbeitsbedingungen die fluide Intelli-


genz und beschleunigen ihre Abnahme mit zunehmendem Alter. Die wesentlichen nega-
tiven Einflussfaktoren sind monotone Arbeit, fehlende Handlungsspielräume, Stressoren,
Schichtarbeit und ungünstiges Führungsverhalten. Die daraus resultierenden Maßnah-
men betreffen die Inhalte und Struktur der Arbeit selbst.
Bereits Hacker und Richter (1980) geben hierzu wichtige Empfehlungen wie ganz-
heitliche Arbeitsaufgaben und Teilaufgaben mit verschiedenen Anforderungen, einen
inhaltlichen und zeitlichen Dispositionsrahmen, vielseitige Anforderungen ans Denken,
Abwechslung in Haltung und Bewegung sowie Lernforderungen der Arbeitsprozesse und
Lernmöglichkeiten. Insgesamt ist mithin vielfältige, variable und lernförderliche Arbeit
sowie die größtmögliche Erweiterung der Handlungsspielräume angezeigt. Ersteres kann
zum Beispiel durch den Wechsel zwischen Tätigkeiten (Rotation) erreicht werden (Wei-
chel et al. 2010), wobei auf hinreichend viele und unterschiedliche Rotations-Stationen
geachtet werden sollte.
Viele Stressoren im modernen Arbeitsalltag werden vor dem Hintergrund von Kun-
denforderungen und Konkurrenzdruck nie ganz zu vermeiden sein. Klar zu vermeiden
sind jedoch Stressoren, die aus der Interaktion insbesondere mit Führungskräften resul-
tieren. Vor allem Führungskräfte der unteren und mittleren Ebene, die im direkten Kon-
takt mit den Beschäftigten stehen, haben einen starken Einfluss auf deren psychische und
kognitive Gesundheit. Hier ist eine Schulung von Führungskräften angezeigt. Inhalte
solcher Schulungen sollten neben psychologischen Grundprinzipien auch Informatio-
nen über Altersveränderungen und die Führung altersgemischter Teams sein (Ries et al.
228 M. Falkenstein

2013; Wegge und Schmidt 2016). Da Schichtarbeit die fluide Intelligenz beeinträchtigt,
sollte diese insbesondere für Ältere reduziert werden. Als günstig haben sich zudem
Schichtpläne mit schneller Vorwärtsrotation erwiesen (Knauth et al. 2013).
Auch die ergonomische Arbeitsgestaltung sollte die Problembereiche Älterer
berücksichtigen. Ablenkreize, Multitasking und eine visuell überfüllte Arbeitsumge-
bung können die ohnehin abgeschwächten fluiden oder exekutiven Funktionen älterer
Beschäftigter überlasten und zu Stress führen. Kurz gefasste Empfehlungen zur altersge-
rechten, ergonomischen und organisatorischen Arbeitsgestaltung finden sich bei Falken-
stein (2013) bzw. Wegge und Schmidt (2016).

13.4.2 Verhaltensprävention

Verhaltensprävention setzt am Individuum und seiner Kompetenz und Gesundheit an


und fällt zugleich in die Bereiche des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM)
und des Human-Resource-Managements und hier genauer des Kompetenzmanagements.
Verhaltenspräventive Maßnahmen müssen sich an den Faktoren orientieren, die die flu-
ide Intelligenz am stärksten beeinflussen, nämlich Ernährung, Stressmanagement sowie
körperliche und kognitive Aktivität. Ein modernes BGM sollte möglichst an allen diesen
Einflussfaktoren ansetzen. Der vorliegende Beitrag ist vor allem auf kognitives Training
fokussiert, da dies bisher im BGM zu wenig Beachtung gefunden hat.

13.4.2.1 Ernährung und körperliche Aktivität


Verhaltenspräventive Maßnahmen zur Ernährung beinhalten Weiterbildungsmaßnahmen
für Beschäftigte zur Wirkung bestimmter Genuss- oder Nahrungsmittel auf Gehirn und
Kognition. Solche Maßnahmen sollten verhältnispräventiv durch eine Verbesserung des
Kantinenangebots an gesunden und zugleich schmackhaften Gerichten begleitet werden.
Maßnahmen zur körperlichen Aktivität sind ein unabdingbarer Baustein für betriebli-
che Maßnahmen zur Förderung der fluiden Intelligenz älterer Beschäftigter. Ein Problem
ist hierbei die Motivation bewegungsentwöhnter Beschäftigter. Durch Bonussysteme sollte
angestrebt werden, dass vor allem diejenigen Beschäftigten in Bewegung kommen, die
bisher passiv waren. Dies sollte durch finanzielle Anreize sowie Freizeitanreize im außer-
betrieblichen Kontext und durch Prämienreduktion durch die Krankenkassen erfolgen.
Aktivitäten sollten beliebig gewählt werden und individuell zugeschnitten sein; sie soll-
ten regelmäßig erfolgen und moderat sein. Die Verbesserung der fluiden Intelligenz durch
körperliche Aktivität sollte durch psychometrische Tests vor und nach einer hinreichend
langen Aktivitätsphase gemessen werden. Dies ist zudem ein starker Anreiz für die Wei-
terführung der körperlichen Aktivität und zur Aufnahme einer solchen Aktivität für andere.

13.4.2.2 Stressmanagementtraining
Arbeits- und interaktionsbedingte Stressoren sind nicht immer durch verhältnispräven-
tive Maßnahmen zu vermeiden. Der Zeitdruck wird eher größer werden, und nicht alle
13  Die Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten ... 229

Führungskräfte werden an Schulungen teilnehmen. Daher sollten alle Beschäftigten den


adäquaten Umgang mit Stressoren erlernen. Dies findet am besten in Stressmanagem-
entgruppen statt, die von einem professionellen Trainer geleitet werden. Ein sinnvolles
Stressmanagementtraining sollte nicht nur Entspannungstechniken vermitteln, sondern
auch den Umgang mit stresserzeugenden Gedanken, und konkrete individuelle Stress-
situationen trainieren (zum Beispiel Kaluza 2011). Letzteres ist nichts anderes als die
Erlernung von SOK-Strategien. Ein Training von individuellen SOK-Strategien in
Kleingruppen führte bei medizinischem Personal zu einer Verbesserung des Befindens
(Müller et al. 2015b). Im Rahmen des Projekts PFIFF wurde ein multimodales Stress-
managementtraining durchgeführt. Bei den Teilnehmern zeigte sich eine deutliche Ver-
besserung der Bewertung der Arbeitssituation sowie der subjektiven Stressverarbeitung,
was sich auf der Körperebene in einer Verringerung des Stresshormons Cortisol im Spei-
chel zeigte (BAuA 2012). Ein modernes multimodales Stressmanagementtraining sollte
auch ein Achtsamkeitstraining beinhalten, da dies eine direkte positive Wirkung auf die
fluide Intelligenz hat und ihren altersbegleitenden Abfall vermindern kann (de Frias und
Whyne 2015; Gard et al. 2014a, b).

13.4.2.3 Kognitives Training
Die fluide Intelligenz lässt sich wie erwähnt durch mental anspruchsvolle Arbeit und Frei-
zeitaktivitäten fördern. Bei Freizeitaktivitäten sollte eine möglichst große Vielfalt ange-
strebt werden, da hierdurch fluide Intelligenz am besten trainiert wird. In der Realität ist
jedoch die allermeiste Arbeit wenig anspruchsvoll, und Freizeitaktivitäten werden ebenfalls
oft schnell zur Routine. Zudem benötigen kognitiv hinreichend anspruchsvolle Freizeitak-
tivitäten wie Tanzen, Musizieren oder das Erlernen einer neuen Sprache ein hohes Maß an
Motivation, Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Daher bietet sich als weiterer
Ansatz das direkte Training fluider kognitiver Funktionen durch papier- und PC-gestützte
Übungen an. Kognitives Training hat einige Vorteile gegenüber anspruchsvollen Alltags-
tätigkeiten: Kürze, Vielfalt, einfacher Einstieg und vor allem Anpassung an die aktuellen
Fähigkeiten des Trainierenden (Adaptivität). Mit kognitivem Training können zum einen
alle altersvulnerablen, fluiden kognitiven Funktionen allgemein trainiert werden, zum ande-
ren einzelne, individuell besonders beeinträchtigte Funktionen gezielt trainiert werden. Für
ein kognitives Training sollten am besten geeignete Aufgaben aus preisgünstig verfügba-
ren kommerziellen Programmen zusammengestellt werden, damit die Teilnehmer später
weiter trainieren können. Die Aufgaben sollten so ausgewählt werden, dass sie zugleich
mehrere relevante fluide Funktionen trainieren und eine Funktion durch mehrere Aufgaben
trainiert wird. Bei der Auswahl der Übungen müssen weitere wichtige Prinzipien berück-
sichtigt werden, wie Adaptivität, Leistungsrückmeldung und vor allem ein spielerischer
Charakter der Übungen. Ohne Letzteres werden Trainings selten kontinuierlich fortgesetzt,
was eine Bedingung für ihre langfristige Wirksamkeit ist. Ein gutes kognitives Training
sollte zunächst durch einen erfahrenen Trainer angeleitet werden; später können die Trai-
nees selbstständig weitertrainieren. Der Trainer soll die Trainees individuell fördern und die
Generierung von individuellen Strategien anregen (Flegal und Lustig 2015).
230 M. Falkenstein

Kognitives Training, welches die genannten Prinzipien beherzigt, verbessert nicht


nur die Trainingsleistung, sondern auch die trainierten kognitiven Funktionen (Green
und Bavelier 2008; Lampit et al. 2014; Ballesteros et al. 2015; Karbach und Verhaeghen
2014). Darüber hinaus kann kognitives Training auch Alltagsfunktionen verbessern, wie
zum Beispiel das Autofahren (Ball et al. 2010) oder Unaufmerksamkeit in Alltagssitua-
tionen (Spencer-Smith und Klingberg 2015). Kognitives Training ist offenbar effektiver
bei nicht ganz realisierten Potenzialen, zum Beispiel bei Personen mit relativ geringer
Ausbildung (Clark et al. 2015) und älteren Beschäftigten mit Defiziten fluider Intelligenz
in Folge langjähriger monotoner Arbeit. Durch ein optimiertes kognitives Training kann
auch die Selbstwirksamkeit gerade von solchen Beschäftigten gefördert werden: Wer
die Erfahrung macht, neue und schwierige Aufgaben erfolgreich zu meistern, steigert
dadurch seine Selbstwirksamkeit und traut sich auch den Umgang mit neuen Herausfor-
derungen bei der Arbeit eher zu.
Unter Berücksichtigung dieser Prinzipien konnte mit einem dreimonatigen kognitiven
Training die fluide Intelligenz gesunder Senioren gesteigert werden, was sich auch in der
Intensivierung verschiedener Hirnprozesse zeigte, die der fluiden Intelligenz zugrunde
liegen (Gajewski et al. 2010b). Darüber hinaus konnte im Rahmen des Projekts PFIFF 2
gezeigt werden, dass auch ältere Beschäftigte (40+) mit langjähriger monotoner Arbeit
ihre fluide Intelligenz durch ein optimal gestaltetes kognitives Training beträchtlich stei-
gern konnten (BAuA 2012; Gajewski et al. 2016, in Vorbereitung). Die Verbesserungen
zeigten sich zumal in denjenigen Aufgaben, bei denen ältere Beschäftigte in der ersten
Phase des Projekts (siehe oben) schlechte Leistungen und abgeschwächte Hirnfunktio-
nen gezeigt hatten. Nach dem Training zeigte sich eine Intensivierung von Hirnfunktio-
nen, die Entscheidung und Fehlerdetektion widerspiegeln, was sich in einer drastischen
Senkung der Fehlerrate niederschlug. Diese Verbesserungen von Hirnfunktionen und
Testleistung waren auch drei Monate nach dem Training zu sehen. Auf der subjektiven
Ebene zeigte sich bei den Teilnehmern eine Zunahme der Selbstwirksamkeit, die aktuel-
len Forschungen zufolge mit einer Intensivierung der Fehlerdetektion einhergeht (The-
manson et al. 2008), wie sie auch im Projekt PFIFF 2 beobachtet werden konnte.
Kognitives Training lässt sich gut mit Stressmanagementtraining kombinieren, was
im Rahmen des Projekts PFIFF 2 auch (für eine Teilgruppe) realisiert wurde. Hierbei
erhielten die Teilnehmer zusätzlich zum kognitiven Training acht Gruppensitzungen
eines Stressmanagementtrainings (bei gleicher Gesamtstundenzahl). Das Training bein-
haltete Entspannungselemente sowie das Erlernen eines besseren Umgangs mit stres-
serzeugenden Gedanken und konkreten Stressoren. Hierdurch zeigte sich neben den
Verbesserungen der fluiden Intelligenz eine Verbesserung der subjektiven und objek-
tiven Stressverarbeitung, wobei letztere durch die Messung des Stresshormons Corti-
sol erfolgte (BAuA 2012). Die Verbesserungen der fluiden Intelligenz waren trotz der
reduzierten Sitzungszahl nicht geringer als in den Gruppen, die nur kognitives Training
erhielten. Zudem war die Akzeptanz bei der kombinierten Gruppe höher. Ein Grund
hierfür kann darin liegen, dass kognitives Training relativ schnell wirkt, was auch durch
die meist kürzeren Trainingszeiten in der Literatur gestützt wird. Des Weiteren enthielt
13  Die Förderung der fluiden Intelligenz bei Beschäftigten ... 231

das Stressmanagementtraining Entspannungs- und Achtsamkeitselemente, wie die


Wahrnehmung des eigenen Körpers. Achtsamkeit fördert wie oben dargelegt die fluide
Intelligenz. Achtsamkeitstraining ist mithin auch kognitives Training. Es wird daher
empfohlen, kognitives Training durch Achtsamkeitstraining zu ergänzen, am besten im
Rahmen eines ganzheitlichen Stressmanagementtrainings.

Fazit
Insgesamt stellt kognitives Training einen innovativen Ansatz zur Förderung fluider
Intelligenz bei älteren Beschäftigten und Beschäftigten mit kognitiv anspruchslosen
Tätigkeiten dar. Es sollte idealerweise in Kombination mit Stressmanagement- und
Achtsamkeitstraining durchgeführt werden. Kognitives Training ist zugleich betrieb-
liches Gesundheitsmanagement mit dem Ziel der Erhaltung und Förderung der
mentalen Fitness, als auch Personalentwicklung mit dem Ziel der Verbesserung unzu-
reichend entwickelter Kompetenzbereiche.

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Über den Autor

Prof. Dr. med. Michael Falkenstein,  Dipl.-Psych., Dipl.-Ing.,


ist Direktor des Instituts für Arbeiten Lernen Altern (ALA) und
Berater am Leibniz Institut für Arbeitsforschung (IfADo). Er
beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Themenbereich Alter,
Kognition und Arbeit. Bei ALA berät er schwerpunktmäßig
Unternehmen zu den Themen betriebliches Gesundheitsma-
nagement, Kompetenzförderung und Arbeitsgestaltung für
ältere Beschäftigte.
Age-Diversity-Management in Teams
und Organisationen 14
Florian Kunze und Max Reinwald

Zusammenfassung
Aufgrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungen ist für viele Unternehmen eine
altersdiverse Belegschaft längst Realität. Vor diesem Hintergrund und der Aussicht,
dass die Altersdiversität der Belegschaft in den meisten Unternehmen in Zukunft noch
weiter steigen wird, befasst sich dieser Beitrag mit den Folgen von Age Diversity im
organisationalen Kontext. Im Sinne eines Mehrebenenphänomens wird dabei zunächst
die Age-Diversity-Forschung auf der Teamebene dargestellt, ehe die Organisations-
ebene fokussiert wird. Auf beiden Ebenen zeigen sich teilweise inkonsistente Effekte
von Age Diversity auf Prozesse und Leistung, weshalb auch auf die Forschung zu
möglichen Rahmenbedingungen und Interventionen abgestellt wird. Diese Forschung
zeigt, dass Rahmenbedingungen wie Aufgabencharakteristika, Führungsverhalten,
Altersstereotypen sowie Personal- und Diversity-Managementpraktiken für eine
Dominanz der positiven oder der negativen Effekte von Age Diversity sorgen können.
Die bisherigen wissenschaftlichen Befunde bilden die Basis unserer Empfehlungen
für ein evidenzbasiertes Age-Diversity-Management. Der Beitrag schließt mit noch
offenen Forschungsfragen, durch deren Beantwortung das evidenzbasierte Age-Diver-
sity-Management zukünftig weiter vorangebracht werden kann.

F. Kunze (*) · M. Reinwald 
Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland
E-Mail: [email protected]
M. Reinwald
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 237


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_14
238 F. Kunze und M. Reinwald

Inhaltsverzeichnis

14.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238


14.2 Age Diversity in Teams – Chancen und Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
14.2.1 Konzeptionelle Erklärungen für Auswirkungen von Age Diversity in Teams. . . . 239
14.2.2 Empirische Befunde zur Wirkung von Age Diversity in Teams. . . . . . . . . . . . . . . 240
14.2.3 Teambasierte Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
14.3 Age Diversity auf der Organisationsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
14.3.1 Konzeptionelle Erklärungen zur organisationalen Wirkung von Age Diversity. . . 242
14.3.2 Empirische Befunde zur organisationalen Wirkung von Age Diversity. . . . . . . . . 243
14.3.3 Organisationsbasierte Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
14.4 Praktische Empfehlungen zum Management von Age Diversity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
14.4.1 Managementmaßnahmen auf Teamebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
14.4.2 Managementmaßnahmen auf Organisationsebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
14.5 Zukünftige Entwicklung des Forschungsfeldes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

14.1 Einleitung

Der demografische Wandel ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Nicht
nur die sozialen Sicherungs- und Rentensysteme, sondern auch der Arbeitsmarkt und die
Unternehmen sind immer stärker von der Alterung und dem Rückgang der Bevölkerung
betroffen. Verantwortliche in Unternehmen sehen sich deshalb zunehmend mit einer
alternden und gleichzeitig immer altersdiverseren Belegschaft konfrontiert (OECD 2009;
Kunze und Boehm 2013). So hatten in 2001 noch 50 % der deutschen Unternehmen
keine Mitarbeiter über 50 Jahre unter Vertrag (Bellmann und Kistler 2003), wohingegen
mittlerweile die Beschäftigungsquote von älteren Arbeitnehmern zwischen 50 und 65
deutlich gestiegen ist. Eine „Aging Workforce“ mit einer hohen Altersspanne zwischen
den jüngsten und ältesten Mitarbeitern1 ist damit in fast allen Unternehmen längst Reali-
tät.
Vor diesem Hintergrund stellt sich für Entscheidungsträger in Unternehmen zum
einen die Frage nach den Konsequenzen einer veränderten Alterszusammensetzung der
Belegschaft für die internen Prozesse und letztendlich auch für die Produktivität. Zum
anderen leitet sich daraus unmittelbar die Frage ab, wie potenzielle Chancen einer verän-
derten Altersstruktur von Unternehmen optimal genutzt und eventuell existierende Risi-
ken minimiert werden können.
Um diese Fragen zu beantworten, verfolgt der vorliegende Beitrag das Ziel, den Stand
der betriebswirtschaftlichen und organisationspsychologischen Forschung zu diesem

1Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwen-
dung männlicher und weiblicher Formen verzichtet. Sämtliche verwendete Personenbezeichnun-
gen beziehen sich selbstverständlich auf beide Geschlechter.
14  Age-Diversity-Management in Teams und Organisationen 239

Themenbereich zu skizzieren und daraus Implikationen für die Praxis und die zukünf-
tige Forschung abzuleiten. Hierbei werden wir in vier Schritten vorgehen. Im ersten
Abschnitt geht es um die Beschreibung der Konsequenzen von Age Diversity für die
Leistungsfähigkeit von Teams. Im zweiten Abschnitt werden wir das Team als Unter-
suchungseinheit verlassen und den aktuellen Stand der Forschung zum Zusammenhang
zwischen Age Diversity und der Leistungsfähigkeit gesamter Organisationen darstellen.
Anschließend werden die zentralen Praxisimplikationen, die sich aus dem Forschungs-
stand ergeben, herausgearbeitet und Maßnahmen für ein umfassendes Age-Diver-
sity-Management skizziert. Zum Abschluss folgt ein kurzer Überblick zu möglichen
zukünftigen Forschungsansätzen.

14.2 Age Diversity in Teams – Chancen und Herausforderungen

Age Diversity (dt. Altersdiversität) erfasst den Grad der Heterogenität der Mitglieder
einer sozialen Einheit in Bezug auf das Alter (Harrison und Klein 2007). Diese soziale
Einheit kann im organisationalen Kontext sowohl das Team als auch die gesamte Orga-
nisation bilden. In der Forschung zu Age Diversity stand lange das Team im Fokus des
Interesses. Vor diesem Hintergrund soll zunächst die umfangreiche Forschung zu Age
Diversity auf der Teamebene selektiv dargestellt werden, bevor auf die Organisations-
ebene abgestellt wird (eine umfassende Darstellung der Forschung zu Age Diversity auf
Teamebene ist beispielsweise bei Boehm und Kunze 2015 zu finden).

14.2.1 Konzeptionelle Erklärungen für Auswirkungen von Age


Diversity in Teams

Die Forschung zur Auswirkung von Age Diversity auf Teamprozesse und Teamleistung
wird im Wesentlichen durch zwei konzeptionelle Perspektiven bestimmt (van Knippen-
berg und Schippers 2007). Die Informations- und Entscheidungsperspektive stellt dabei
positive Effekte von Age Diversity in den Vordergrund, während die soziale Kategorisie-
rungsperspektive mögliche negative Effekte hervorhebt.
Nach der Informations- und Entscheidungsperspektive besitzen altersdiverse Teams
unterschiedliche und oft komplementäre Ressourcen. So können sich ältere und jüngere
Teammitglieder durch ihre unterschiedlichen Lebensphasen und generationenspezifischen
Faktoren systematisch in aufgabenbezogenen Erfahrungs- und Wissensbeständen unter-
scheiden. Ältere Mitarbeiter verfügen beispielsweise eher über ein breites Erfahrungswissen
und etablierte Routinen, wohingegen jüngere Mitarbeiter sich tendenziell durch aktuelles
Fach- und Methodenwissen auszeichnen. Der Austausch dieser differierenden und umfas-
senden Informationshintergründe erlaubt es altersdiversen Teams, besser fundierte Entschei-
dungen zu treffen. Zudem wird durch die Konfrontation mit unterschiedlichen und eventuell
gar überraschenden Ansichten die kreative Problemlösung stimuliert.
240 F. Kunze und M. Reinwald

Die soziale Kategorisierungsperspektive basiert hingegen auf der Annahme, dass


Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Teammitgliedern zur Subgruppenbil-
dung herangezogen werden. Als ähnlich wahrgenommene Teammitglieder werden der
eigenen Subgruppe (sogenannte In-Group) zugeordnet, die der Subgruppe aus unähn-
lichen Teammitgliedern (sogenannte Out-Group) gegenübersteht. Die Subgruppenbil-
dung erfolgt meist anhand einfach wahrnehmbarer sozialer Kriterien, die einen zentralen
Bestandteil der eigenen Identität darstellen. Das Alter einer Person stellt ein solches sozi-
ales Kriterium dar, denn Personen unterschiedlichen Alters unterscheiden sich nicht nur
rein äußerlich, sondern auch in ihren Interessen und Präferenzen aufgrund unterschiedli-
cher Karriere- oder Lebensphasen. Zur Abgrenzung der unterschiedlichen Alterssubgrup-
pen innerhalb eines Teams entwickeln die Gruppenmitglieder anschließend oft negative
Vorurteile gegenüber den Out-Group-Mitgliedern. Konkret werden Mitglieder der Out-
Group meist als weniger kompetent, vertrauenswürdig und sympathisch bewertet im
Gegensatz zu Mitgliedern der eigenen In-Group. Das Resultat dieser systematischen
Abwertung der Out-Group-Mitglieder sind Konflikte und eine gestörte Kommunikation,
die das Team bei der Aufgabenerledigung behindern.

14.2.2 Empirische Befunde zur Wirkung von Age Diversity in Teams

Bislang existieren über 70 wissenschaftliche Einzelstudien, die für insgesamt rund


10.000 Teams aus unterschiedlichen Ländern und Branchen die Effekte von Age Diver-
sity empirisch beleuchten. Aufgrund der Vielzahl an Einzelstudien wurden in den letzten
Jahren mehrere Metaanalysen veröffentlicht, in denen die Einzelstudienergebnisse syste-
matisch zu mittleren Effektstärken verdichtet wurden.
Die mittlere Effektstärke von Age Diversity auf die allgemeine Teamleistung ist, je
nach Metaanalyse, entweder minimal negativ (Joshi und Roh 2009) oder gleich null
(Bell et al. 2011; Schneid et al. 2016; van Dijk et al. 2012). Für den Effekt von Age
Diversity auf die Innovationsfähigkeit zeigt sich hingegen über alle entsprechenden
Metaanalysen hinweg kein Zusammenhang (Schneid et al. 2016; van Dijk et al. 2012).
Lediglich die Mitarbeiterfluktuation der Teams erhöht sich mit zunehmender Age Diver-
sity deutlich (Schneid et al. 2016).
Insgesamt scheint also Age Diversity die Leistung und Innovationsfähigkeit eines
Teams im Mittel kaum zu beeinflussen, wohingegen die Fluktuation deutlich ansteigt.
Dies deutet darauf hin, dass die von Age Diversity ausgelösten negativen sozialen Kate-
gorisierungsprozesse die positiven Prozesse nach der Informations- und Entscheidungs-
perspektive für einzelne Leistungsmerkmale leicht überwiegen. Diese inkonsistenten
und, wenn überhaupt, negativen Effekte sind sowohl aus wissenschaftlicher als auch
aus praktischer Sicht äußerst unbefriedigend. Aus diesem Grund berücksichtigt die Age-
Diversity-Forschung seit den 2000er Jahren zunehmend auch den Teamkontext, der für
die Dominanz der positiven oder der negativen Effekte von Age Diversity verantwort-
lich sein kann. Die Ergebnisse dieser Bemühungen bilden den Gegenstand des nächsten
Abschnitts.
14  Age-Diversity-Management in Teams und Organisationen 241

14.2.3 Teambasierte Rahmenbedingungen

Die Forschung hat bislang mit dem Aufgabentyp und dem Führungsstil zwei zentrale
teambasierte Rahmenbedingungen identifiziert, die den positiven Effekt von Age Diver-
sity fördern und den negativen Effekt minimieren können.
Teamaufgaben lassen sich u. a. anhand ihrer Komplexität charakterisieren. Theore-
tisch steht zu vermuten, dass insbesondere bei der Erledigung komplexer Aufgaben (zum
Beispiel Entwicklung eines neuen Produkts, Treffen strategischer Entscheidungen) die
mit Age Diversity einhergehenden verschiedenen Informationshintergründe positiv zum
Tragen kommen. In der Tat lässt sich diese theoretische Vermutung auch empirisch
bestätigen. Wegge et al. (2008) fanden für 222 Teams einer deutschen Steuerbehörde
heraus, dass Age Diversity lediglich positiv mit der Teamleistung zusammenhängt,
wenn das Team mit komplexen Aufgaben betraut ist; nicht hingegen, wenn das Team an
Routineaufgaben arbeitet. Des Weiteren scheint auch die Aufgabeninterdependenz eine
gewisse Rolle zu spielen. So fanden Jehn et al. (1999) für 92 Teams eines nordamerika-
nischen Unternehmens heraus, dass Age und Gender Diversity positiver mit der Zufrie-
denheit und dem Commitment der Teammitglieder zusammenhängen, wenn die Aufgabe
eine enge Zusammenarbeit zwischen den Teammitgliedern erfordert.
Der Führungsstil erfuhr in der Age-Diversity-Forschung in den letzten Jahren, ins-
besondere in Form der transformationalen Führung, erhöhte Aufmerksamkeit als team-
basierte Rahmenbedingung. Transformationale Führung beschreibt eine charismatische
Führungsperson, die attraktive Zukunftsvisionen schafft, jedem Mitarbeiter individuelle
Wertschätzung entgegenbringt und alte Denkmuster aufbricht (Bass 1985). Kearney
und Gebert (2009) konnten für 62 Forschungs- und Entwicklungsteams eines deutschen
Unternehmens nachweisen, dass Age Diversity nur bei schwach ausgeprägter transfor-
mationaler Führung negativ mit der Teamleistung verbunden ist, wohingegen bei hoher
transformationaler Führung kein Zusammenhang besteht. Ähnliches fanden Kunze und
Bruch (2010) für 72 Teams eines multinationalen Konzerns heraus. Sie untersuchten den
Effekt sogenannter altersbasierter Faultlines und berücksichtigten dabei transformatio-
nale Führung als Randbedingung. Altersbasierte Faultlines erfassen in dieser Studie die
Höhe der Korrelation zwischen den Diversity-Merkmalen Alter, Geschlecht und Dauer
der Betriebszugehörigkeit. Starke altersbasierte Faultlines existieren beispielsweise dann,
wenn ältere männliche Teammitglieder mit langer Unternehmenszugehörigkeit jüngeren
weiblichen Kolleginnen mit kurzer Unternehmenszugehörigkeit gegenüberstehen (für
eine detailliertere Darstellung des Faultline-Konzepts siehe auch Abschn. 2.5). Kunze
und Bruch (2010) konnten zeigen, dass nicht Age Diversity alleine, sondern lediglich
altersbasierte Faultlines einen negativen Effekt auf leistungsrelevante Prozesse haben.
Dieser negative Effekt wird jedoch aufgehoben, wenn eine transformationale Führungs-
kraft dem Team vorsteht. Theoretisch lässt sich die Wirkung von transformationaler
Führung in beiden Studien damit erklären, dass die von der transformationalen Füh-
rungskraft aufgezeigte gemeinsame Vision und die attraktiven Teamziele eine Teamiden-
tität schaffen. Die gemeinsame Teamidentität verhindert, dass das Alter und die damit
korrelierenden Diversity-Merkmale zur sozialen Kategorisierung herangezogen werden.
242 F. Kunze und M. Reinwald

Neben der transformationalen Führung stellte sich ebenfalls die Qualität der inter-
personellen Beziehung zwischen der Führungskraft und den einzelnen Teammitgliedern
(sogenannter Leader Member Exchange) als wichtige Randbedingung heraus. Nishii
und Mayer (2009) fanden für 348 Abteilungen einer nordamerikanischen Supermarkt-
kette Hinweise, dass durch eine gute persönliche Beziehung zwischen den Mitarbeitern
und ihrer Führungskraft der positive Zusammenhang zwischen demografischer Diversity
(Alter, Geschlecht, Ethnie) und Mitarbeiterfluktuation abgeschwächt wird. Dies ist ins-
besondere dann der Fall, wenn es zwischen den Mitarbeitern einer Abteilung keine gro-
ßen Unterschiede in der Qualität der Beziehung mit der Führungskraft gibt.

14.3 Age Diversity auf der Organisationsebene

Während auf der Betrachtungsebene des Teams schon relativ viele verlässliche For-
schungsergebnisse zu der Wirkung von Age Diversity vorliegen, hat sich die Forschung
zu Age Diversity auf der Organisationsebene erst in den letzten fünf bis zehn Jahren eta-
bliert. Die bisher vorliegenden Ergebnisse werden im folgenden Abschnitt zusammenge-
fasst.

14.3.1 Konzeptionelle Erklärungen zur organisationalen Wirkung


von Age Diversity

Generell werden zur Erklärung von organisationalen Auswirkungen von Age Diver-
sity ähnliche Erklärungen wie auf der Teamebene herangezogen. Die oben skizzierte
altersbasierte soziale Kategorisierung ist nicht unbedingt auf Teams oder Abteilungen
beschränkt, sondern kann sich auch leicht über diese formalen organisationalen Grenzen
hinaus erstrecken. Es steht deshalb zu vermuten, dass sich altersbasierte Netzwerke in
Organisationen informell über verschiedene Bereichsgrenzen hinweg bilden. Ein prakti-
sches Beispiel hierfür stellt die Entscheidung von Mitarbeitern dar, mit wem sie ihre Mit-
tagspause verbringen. Sehr wahrscheinlich ist, dass für solche sozialen Zusammenkünfte
am Arbeitsplatz Kollegen ausgewählt werden, die in einer ähnlichen Altersgruppe und
damit auch in einer ähnlichen Karriere- und Lebensphase verortet werden können. So ist
es möglich, dass sich bei einer hohen organisationalen Age Diversity die Subgruppen-
bildung und die daraus folgende altersbasierte Diskriminierung im ganzen Unternehmen
ausbreiten.
Darüber hinaus kann auch der Ansatz der organisationalen Altersnormen (Lawrence
1988) zur Erklärung von wahrgenommenen Diskriminierungsprozessen in altersdiver-
sen Unternehmen herangezogen werden. Das Konzept der organisationalen Altersnor-
men beschreibt die Existenz unbewusster Normen über das Erreichen bestimmter
Karrierestufen mit einem gewissen Alter. Nach diesen Normen sollte man beispiels-
weise erste Führungsverantwortung im Alter von 35 Jahren erlangen und in die obersten
14  Age-Diversity-Management in Teams und Organisationen 243

Führungsgremien frühestens mit 45 Jahren aufsteigen. Durch eine zunehmende Alters-


vielfalt ist es wahrscheinlich, dass diese impliziten Alters- und Karrierenormen sowohl
für ältere als auch für jüngere Mitarbeiter im Unternehmen verletzt werden. So kann
für jüngere Mitarbeiter der normale Karriereweg, zumindest kurzfristig, versperrt sein,
wenn ältere Führungskräfte länger im Unternehmen verbleiben. Gleichzeitig kommt es
aber auch immer häufiger vor, dass ältere Mitarbeiter länger im Unternehmen verbleiben,
obwohl sie keinen weiteren hierarchischen Aufstieg mehr anstreben, oder sogar zurück-
gestuft werden. Dadurch entstehen immer mehr Führungskonstellationen, bei denen
sowohl für jüngere als auch ältere Mitarbeiter Karrierenormen verletzt werden, weshalb
Beschäftigte aller Altersgruppen eine erhöhte Altersdiskriminierung wahrnehmen.
Insgesamt deuten diese theoretischen Erklärungen darauf hin, dass auf Organisations-
ebene eher negative Auswirkungen von Age Diversity zu erwarten sind.

14.3.2 Empirische Befunde zur organisationalen Wirkung von Age


Diversity

Die empirische Forschung zur Wirkung von Age Diversity auf Organisationsebene
wurde lange durch die Forschung aus dem Bereich der Ökonometrie dominiert. Diese
Forschung legt den Schwerpunkt auf den direkten Zusammenhang zwischen der Alters-
struktur der Belegschaft und der Unternehmensleistung. Wie bei den Studien auf der
Betrachtungsebene des Teams ergibt sich auch hier kein einheitliches Bild. Einige Stu-
dien berichten über negative Effekte von Age Diversity für die organisationale Produk-
tivität (Backes-Gellner und Veen 2013), wohingegen andere positive Zusammenhänge
(Ilmakunnas und Ilmakunnas 2011), keine Effekte (Göbel und Zwick 2009; Ilmakunnas
et al. 2004) oder kurvilineare Effekte verzeichnen (Grund und Westergård-Nielsen 2008).
Diese Ergebnisse machen deutlich, dass es sinnvoll ist, sich stärker mit innerorganisatio-
nalen Prozessen und potenziellen Rahmenbedingungen von Age Diversity in Organisati-
onen zu beschäftigen.
Genau dies hat die eher organisationspsychologische Diversity-Forschung seit einigen
Jahren getan. Hervorzuheben sind hierbei zwei Studien, die sich mit den durch Age Diver-
sity induzierten Diskriminierungsprozessen zwischen Altersgruppen sowie deren Aus-
wirkung auf die organisationale Leistungsfähigkeit befassen (Kunze et al. 2011, 2013). In
beiden Studien konnte für 89 beziehungsweise 124 Unternehmen gezeigt werden, dass Age
Diversity hoch mit der wahrgenommenen Altersdiskriminierung aller Altersgruppen im
Unternehmen zusammenhängt. Die Altersdiskriminierung wirkt sich wiederum negativ auf
die emotionale Bindung zum Unternehmen (Kunze et al. 2011) und schlussendlich nach-
haltig auf die Produktivität der gesamten Organisation aus (Kunze et al. 2011, 2013). Diese
Befunde stehen in Einklang mit den zuvor skizzierten konzeptionellen Überlegungen zur
sozialen Kategorisierung und zu organisationalen Altersnormen.
Die Ergebnisse dieser beiden Studien legen die Schlussfolgerung nahe, dass in ganzen
Organisationen die negativen Effekte von Age Diversity dominieren. Allerdings zeigen
244 F. Kunze und M. Reinwald

die uneinheitlichen Ergebnisse der ökonometrischen Studien, dass es eventuell auch


Rahmenbedingungen in Unternehmen geben könnte, unter denen Age Diversity entwe-
der positive oder negative Auswirkungen auf die organisationale Produktivität hat. Mit
diesen Rahmenbedingungen wollen wir uns im folgenden Abschnitt beschäftigen.

14.3.3 Organisationsbasierte Rahmenbedingungen

Studien zu den Rahmenbedingungen des Zusammenhangs zwischen organisationaler


Age Diversity und Produktivität haben sich bisher insbesondere mit der Rolle des Top-
managements und mit spezifischen Personalmanagementmaßnahmen beschäftigt. In
der oben erwähnten Studie von Kunze et al. (2013) konnte gezeigt werden, dass zwi-
schen Age Diversity, der Altersdiskriminierung und der organisationalen Leistungsfähig-
keit kein Effekt mehr besteht, wenn die Topführungskräfte einer Organisation niedrige
Altersvorurteile haben. Umgekehrt wird bei ausgeprägten Altersvorurteilen der obersten
Führungsriege der negative Zusammenhang zwischen Age Diversity, wahrgenommener
Altersdiskriminierung aller Altersgruppen und organisationaler Leistungsfähigkeit sogar
verstärkt. Erklärt werden können diese Befunde mit der Vorbildrolle der Führungskräfte
innerhalb der Organisation. Entsprechend werden die Einstellungen und Verhaltenswei-
sen der obersten Führungsriege in Bezug auf altersstereotypisches Verhalten von der
Belegschaft genau beobachtet und adaptiert.
Als eine weitere zentrale Rahmenbedingung konnte von Kunze et al. (2013) der Ein-
satz diversitätsfreundlicher Personalmanagementmaßnahmen identifiziert werden. Diese
Maßnahmen reichen von der Sensibilisierung der Mitarbeiter und Führungskräfte für die
Chancen und Herausforderungen von Diversity bis hin zur Vermittlung konkreter Inter-
ventionsmöglichkeiten für den produktiven Umgang mit Diversity. Die empirischen
Daten dieser Studie zeigen, dass in Organisationen mit diversityfreundlichen Personal-
managementmaßnahmen kein Zusammenhang mehr zwischen Age Diversity und Unter-
nehmensleistung besteht und damit der negative Einfluss von Age Diversity zumindest
auf null gebracht werden kann. Hingegen ist in Organisationen ohne derartige Personal-
managementmaßnahmen ein besonders starker negativer Zusammenhang zwischen Age
Diversity und Unternehmensleistung zu beobachten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt
auch eine Studie von Choi und Rainey (2010); diese zeigt, dass lediglich ein signifikan-
ter Zusammenhang zwischen Age Diversity und Unternehmensleistung besteht, wenn
kein aktives Diversity-Management im Unternehmen betrieben wird.

14.4 Praktische Empfehlungen zum Management von Age


Diversity

Die oben referenzierten empirischen Befunde zeigen klar, dass altersdiverse Teams
und Organisationen nicht automatisch von ihrem Diversity-Potenzial profitieren. Viel-
mehr scheint Age Diversity im organisationalen Kontext ein zweischneidiges Schwert
14  Age-Diversity-Management in Teams und Organisationen 245

(Horwitz und Horwitz 2007), mit positiven und negativen Effekten, zu sein. Entschei-
dungsträger in Unternehmen sollten sich folglich den Chancen und Risiken von Age
Diversity bewusst sein und ihre altersdiverse Belegschaft gezielt managen. Dazu werden
im Folgenden die wichtigsten Hebel vorgestellt, wobei – analog zu den Überlegungen
von Kunze und Boehm (2013) – zwischen Maßnahmen auf Teamebene und auf Orga-
nisationsebene unterschieden wird. Organisationen sollten im Sinne eines holistischen
Age-Diversity-Managements selbstverständlich Maßnahmen auf beiden Ebenen ergrei-
fen, um die Effekte von Age Diversity optimal steuern zu können.

14.4.1 Managementmaßnahmen auf Teamebene

Ergebnisse auf Teamebene haben erstens gezeigt, dass durch eine transformationale Füh-
rungskraft der Effekt von Age Diversity und altersbasierten Faultlines positiv gestaltet
werden kann. Entsprechend sollten Führungskräfte transformationale Verhaltensweisen
zeigen. Eine transformationale Führungskraft zeichnet sich nach Podsakoff, MacKen-
zie und Bommer (1996) dadurch aus, dass sie eine attraktive Zukunftsvision kommuni-
ziert, eine Vorbildfunktion erfüllt, die Akzeptanz gemeinsamer Teamziele fördert, hohe
Leistungsstandards festsetzt, die Teammitglieder intellektuell stimuliert und ihnen indi-
viduelle Wertschätzung entgegenbringt. Erfreulicherweise zeigen Studien, dass diese
transformationalen Verhaltensweisen nicht angeboren, sondern erlernbar sind (Barling
et al. 1996; Dvir et al. 2002). Unternehmen sollten folglich in Trainings investieren, in
denen sowohl erfahrene Führungskräfte als auch Nachwuchsführungskräfte in trans-
formationalen Verhaltensweisen geschult werden. Die Schulung in transformationalen
Verhaltensweisen hätte zudem den positiven Nebeneffekt, dass dadurch auch die inter-
personelle Beziehung zwischen Führungskraft und den Teammitgliedern im Sinne des
Leader Member Exchange gestärkt würde (Wang et al. 2005); ein Faktor, der sich in
der Studie von Nishii und Mayer (2009) ebenfalls als positive Randbedingung von Age
Diversity herausstellte.
Zweitens sollte bei der Bildung neuer Teams das Ausmaß an Age Diversity von der
Teamaufgabe abhängig gemacht werden. So zeigen die obigen Ergebnisse, dass bei kom-
plexen und kreativen Aufgaben Age Diversity einen positiven Effekt haben kann (Wegge
et al. 2008). Entsprechend können Teams mit derartigen Aufgaben durchaus altersdivers
zusammengesetzt werden. Allerdings sollte dabei darauf geachtet werden, dass das Alter
in diesen Teams nicht mit anderen Diversity-Attributen korreliert und dadurch Faultli-
nes kreiert werden. Denn derartige Faultlines können sich nach den Erkenntnissen von
Kunze und Bruch (2010) negativ auf leistungsrelevante Teamprozesse auswirken, wor-
unter auch die Erledigung komplexer Aufgaben leiden würde. Teams mit Routineaufga-
ben sollten hingegen mit Mitgliedern einer Altersgruppe besetzt werden, da diese Teams
nicht von den unterschiedlichen Informationshintergründen profitieren und somit vor
allem negative Effekte nach der sozialen Kategorisierungsperspektive zu erwarten sind.
246 F. Kunze und M. Reinwald

Drittens sollte in altersdiversen Teams ein Maximum an Interaktion zwischen den


Mitgliedern aller Altersgruppen geschaffen werden. Sowohl bisherige Forschungser-
gebnisse als auch theoretische Überlegungen legen nahe, dass durch ein hohes Maß an
Interaktion in altersdiversen Teams Vorurteile abgebaut werden und eine gemeinsame
Teamidentität geschaffen wird (Harrison et al. 2002; Jehn et al. 1999). Dadurch wird
eine soziale Kategorisierung anhand des Alters weniger wahrscheinlich. Zur Schaf-
fung einer erhöhten Interaktion bieten sich unterschiedliche Maßnahmen an. So können
Arbeitsabläufe auf eine Art und Weise gestaltet werden, dass ein hohes Maß an Zusam-
menarbeit erfolgt. Diese Interaktion kann zusätzlich durch eine gezielte Gestaltung des
Arbeitsplatzes begünstigt werden; offene Teambüros, Gruppenarbeitsräume und gemein-
same Pausenräume bieten Raum für einen engen, in Echtzeit stattfindenden Austausch.
Zudem können bei sogenannten „Off-Site Events“, wie beispielsweise Outdoor-Trai-
nings, Situationen geschaffen werden, bei denen sich die Teammitglieder außerhalb der
gewohnten Arbeitsumgebung besser kennenlernen.

14.4.2 Managementmaßnahmen auf Organisationsebene

Auf Unternehmensebene sollte grundsätzlich eine umfassende Altersstrukturanalyse


durchgeführt werden, um einen Überblick über die Höhe der Age Diversity im Unter-
nehmen zu erlangen. Eine aussagekräftige Altersstrukturanalyse zeichnet sich dabei
durch drei Kernbestandteile aus. Erstens sollte die Altersstruktur sowohl für das gesamte
Unternehmen als auch für organisationale Teileinheiten aufgeschlüsselt werden. Dadurch
wird ersichtlich, wie hoch die Age Diversity in einzelnen Geschäftsbereichen, Abteilun-
gen und Teams ausfällt. Eine solch detaillierte Aufschlüsselung ist wichtig, da die Age
Diversity in einzelnen organisationalen Subeinheiten deutlich höher als in der Gesamt-
organisation ausfallen kann und somit in diesen Teilbereichen erhöhter Handlungsbedarf
besteht (Strack et al. 2008). Zweitens sollte die Analyse nicht nur die aktuelle Alters-
struktur des Unternehmens erfassen, sondern unter Berücksichtigung des zukünftigen
Personalbedarfs und Renteneintrittsalters eine Prognose für die nächsten fünf bis zehn
Jahre beinhalten. So werden aufkommende Herausforderungen rechtzeitig erkannt und
es können bereits frühzeitig entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden. Drittens
sollten die Altersstrukturdaten mit weiteren soziodemografischen Daten (zum Beispiel
Geschlecht, Dauer der Betriebszugehörigkeit), den Kompetenzprofilen und den spezi-
fischen Arbeitsplatzanforderungen in Verbindung gebracht werden, um so die Aussage-
kraft der Altersstrukturanalyse weiter zu erhöhen.
Zusätzlich zur Altersstrukturanalyse sollten auch die Mitarbeiter zu ihren Einstellun-
gen gegenüber Alter und Altersdiversität befragt werden. Denn nur indem die Alters-
strukturdaten für bestimmte Abteilungen oder Teams in Verbindung zu den Einstellungen
der Mitarbeiter gesetzt werden, kann festgestellt werden, ob Age Diversity im konkre-
ten Fall zu einer Altersdiskriminierung und somit einer Abnahme der Leistungsfähigkeit
führt. Die Erhebung von Altersstereotypen und wahrgenommener Altersdiskriminierung
14  Age-Diversity-Management in Teams und Organisationen 247

kann in bestehende Mitarbeiterbefragungen integriert werden und ist somit mit minima-
lem zusätzlichem Ressourceneinsatz möglich.
Sollte sich durch die Analyse dieser Daten herausstellen, dass Age Diversity eine Her-
ausforderung für das Unternehmen darstellt beziehungsweise in Zukunft darstellen wird,
sollten möglichst frühzeitig entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Wie die Stu-
dien von Kunze et al. (2011, 2013) zeigen, sollte das zentrale Ziel dieser Maßnahmen die
Schaffung eines Organisationsklimas frei von jeglicher Altersdiskriminierung sein. Die
Studienergebnisse zeigen weiterhin, dass beim Erreichen dieses Ziels das Topmanage-
ment und die Personalabteilung eine Schlüsselrolle einnehmen. Angehörige des Topma-
nagements sollten für ihre Vorbildrolle und ihren Einfluss auf die von der Belegschaft
wahrgenommene Altersdiskriminierung sensibilisiert werden. Schließlich schlagen sich
potenzielle negative Einstellungen und Vorurteile des Topmanagements aufgrund der
hohen Sichtbarkeit und Vorbildfunktion der obersten Führungsriege in altersdiversen
Organisationen verstärkt in der wahrgenommenen Altersdiskriminierung nieder. Zur
Sensibilisierung der Führungskräfte eignen sich in besonderem Maße diversitätsori-
entierte Führungskräftetrainings. Hier haben die Führungskräfte die Möglichkeit, ihre
altersbasierten Einstellungen zu reflektieren, und können überlegen, wie ein diskriminie-
rungsfreies Verhalten aussehen kann (Bezrukova et al. 2012).
Zusätzlich können diversitätsfreundlich gestaltete Personalmanagementpraktiken zu
einem positiveren Diversity-Klima im Unternehmen beitragen. Personalmanagement-
praktiken sind in vielen Unternehmen, beispielsweise in Bezug auf Trainings und Karri-
eresysteme, eher auf jüngere Mitarbeiter ausgerichtet, sodass implizit oder explizit eine
Diskriminierung gegenüber älteren Mitarbeitern erfolgt (Dychtwald et al. 2004). In einer
aktuellen Studie konnten Boehm et al. (2014) zeigen, dass durch eine altersinklusive
Gestaltung der Personalmanagementmaßnahmen (u. a. altersneutrale Rekrutierungsstra-
tegien, gleicher Zugang zu Trainings für alle Altersgruppen, altersneutrale Karrierepro-
gramme) ein altersdiversitätsfreundliches Unternehmensklima geschaffen wird, das sich
wiederum positiv auf die organisationale Performanz auswirkt. Unternehmen, die ange-
sichts dieser Befunde über eine Anpassung ihrer bisherigen Personalmanagementmaß-
nahmen nachdenken, sollten entsprechend auf deren altersinklusive Gestaltung achten.
Dies bedeutet beispielsweise, dass ein bislang vornehmlich an den Bedürfnissen jüngerer
Mitarbeiter ausgerichtetes System nicht durch ein System ersetzt werden sollte, das sich
übermäßig stark an den Wünschen der älteren Mitarbeiter orientiert. Dadurch würde die
Altersdiskriminierung schlichtweg in abgewandelter Form fortbestehen.

14.5 Zukünftige Entwicklung des Forschungsfeldes

Trotz einer Zunahme der empirischen Age-Diversity-Forschung in den vergangenen Jah-


ren existieren noch einige offene Fragestellungen, auf die sich die zukünftige Forschung
in diesem Bereich fokussieren sollte. Im Folgenden möchten wir deshalb mit der Rolle
des subjektiven Alters in Organisationen und der mehrdimensionalen Betrachtung von
248 F. Kunze und M. Reinwald

Diversity in Form von Faultlines zwei zentrale Bereiche für zukünftige Forschungsakti-
vitäten skizzieren.
Als erster interessanter Bereich für zukünftige Forschungsaktivitäten bietet sich eine
mehrschichtige Betrachtung des Alters an. Bisher hat die Forschung zu Age Diversity
ausschließlich das chronologische Alter als Maßzahl zur Messung der Altersverteilung
verwendet. Aus anderen Forschungsbereichen wie dem Marketing (Barak 2009), der
Soziologie (Settersten 1997) oder der Gerontologie (Kleinspehn-Ammerlahn et al. 2008)
ist aber bekannt, dass Alter neben der chronologischen auch eine subjektive Komponente
hat. Es konnte gezeigt werden, dass in fast allen Kulturkreisen ein systematischer Unter-
schied zwischen dem chronologischen Alter und dem gefühlten Alter besteht und dass
dieser Unterschied mit steigendem chronologischem Alter zwischen Individuen stark
variiert (Barak 2009).
In der organisationalen Forschung wurde dieser subjektive Altersbegriff vor Kurzem
erstmalig aufgegriffen. Dabei konnten Kunze et al. (2015) interessanterweise zeigen,
dass bei der Abweichung zwischen chronologischem und subjektivem Alter systemati-
sche Unterschiede zwischen verschiedenen Organisationen bestehen. So waren in der
umfangreichen Stichprobe Unternehmen vertreten, in denen sich die Mitarbeiter im
Mittel nur acht Monate jünger als ihr chronologisches Alter fühlten, während für andere
Unternehmen eine achtjährige Differenz gemessen wurde. Darüber hinaus konnten die
Autoren zeigen, dass einzig diese Differenz zwischen chronologischem und subjekti-
vem Alter mit der organisationalen Leistungsfähigkeit zusammenhängt und dass das
chronologische Alter alleine keinerlei Effekt hat. Dieses Ergebnis könnte auch für die
Age-Diversity-Forschung von Interesse sein. Zu vermuten ist, dass zur Bildung von
altersbasierten Subgruppen in Teams und Organisationen nicht nur das chronologische
Alter, sondern auch subjektive Altersidentitäten herangezogen werden. Insofern soll-
ten zukünftige Forschungsarbeiten neben der chronologischen auch die subjektive Age
Diversity als Prädiktor von Prozessen und Leistungskriterien berücksichtigen.
Als zweiten vielversprechenden Bereich ermutigen wir Forscher dazu, zukünftig die
Mehrdimensionalität von Diversity noch stärker zu berücksichtigen. Hierbei erscheint
eine stärkere Untersuchung der bereits kurz erwähnten Faultlines vielversprechend.
Diese Faultlines erfassen eine mögliche Subgruppenbildung in Teams und Organisati-
onen, die nicht nur auf einem einzigen demografischen Merkmal wie dem Alter, son-
dern auf mehreren Merkmalen wie dem Alter und dem Geschlecht beruhen (Lau und
Murnighan 1998). Da Mitarbeiter ihre Identität und damit auch ihre Subgruppenzuge-
hörigkeit auf Basis verschiedener Eigenschaften bilden, ist es eigentlich zwingend not-
wendig, diese auch bei der Untersuchung zu berücksichtigen. Der Faultline-Ansatz geht
nun davon aus, dass ein besonders hohes Potenzial zur Subgruppenbildung besteht, wenn
Individuen sich aufgrund von mindestens zwei Merkmalen systematisch unterscheiden,
wie zum Beispiel zwei junge Frauen und zwei alte Männer in einem Vier-Personen-
Team. Findet im Gegensatz dazu eine Überlagerung der demografischen Attribute statt,
das heißt zwei junge und zwei alte Teammitglieder in einem Vier-Personen-Team, von
denen alle vier weiblich sind, besteht eine geringere Gefahr der Subgruppenbildung.
14  Age-Diversity-Management in Teams und Organisationen 249

Insofern ist zu vermuten, dass eine isolierte Betrachtung der Age Diversity häufig zu
kurz greift und deshalb in zukünftiger Forschung sowohl auf Team- als auch auf Orga-
nisationsebene stärker auf die Messung von multiplen Diversitätseigenschaften mithilfe
des Faultline-Ansatzes abgestellt werden sollte.

Fazit
Um einer steigenden Age Diversity im organisationalen Kontext wirksam begeg-
nen zu können, verfolgt der vorliegende Beitrag zwei aufeinander aufbauende Ziele.
Zum einen soll die bisherige Forschung zum Thema Age Diversity in Teams und
Unternehmen überblicksartig dargestellt werden. Der Überblick zeigt, dass sich die
widersprüchlichen theoretischen Perspektiven zur Wirkung von Age Diversity auf
Team- und Organisationsebene auch in den empirischen Befunden widerspiegeln. Ins-
gesamt scheinen allerdings auf beiden Betrachtungsebenen die positiven eher durch
die negativen Effekte überlagert zu werden. Gleichzeitig zeigen die Forschungsergeb-
nisse jedoch auch, dass eine Dominanz der negativen Effekte nicht zwangsläufig auf-
treten muss, sondern von verschiedenen Randbedingungen abhängig ist.
Entsprechend ist es das zweite erklärte Ziel dieses Beitrags, auf Basis bisheriger
Forschungsergebnisse konkrete Maßnahmen eines wirksamen Age-Diversity-Manage-
ments zu skizzieren. Das skizzierte Age-Diversity-Managementkonzept sollte unserer
Ansicht nach sowohl Maßnahmen auf der Teamebene (Schulung der Führungskräfte
in transformationalen Verhaltensweisen, Anpassung der Teamzusammensetzung an
die Aufgaben, Förderung der Interaktion zwischen Teammitgliedern) als auch auf der
Organisationsebene (Analyse der Altersstrukturen, Erfassung der Altersvorurteile und
Diskriminierung, Verhinderung von Altersdiskriminierung durch Topmanagement und
Personalmanagementmaßnahmen) berücksichtigen.
Um das Age-Diversity-Management zukünftig jedoch noch weiter voranzubrin-
gen, ermutigen wir Forscher, verstärkt das subjektive Alter sowie Faultlines in ihren
Analysen zu berücksichtigen. Schließlich kann es nur durch umfassende empirische
Evidenzen gelingen, das Management von Age Diversity zukünftig weiter voranzu-
bringen, um so potenzielle Chancen und Gefahren von organisationaler Age Diversity
noch gezielter steuern zu können.

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252 F. Kunze und M. Reinwald

Über die Autoren

Prof. Dr. Florian Kunze ist seit 2014 Inhaber des


Lehrstuhls für Organisational Studies an der Universi-
tät Konstanz. Von 2001 bis 2006 studierte er Diplom-
Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz.
Anschließend (2006 bis 2010) promovierte er am Institut
für Führung und Personalmanagement der Universität St.
Gallen. Von 2010 bis 2011 war er als Post-Doc am selben
Institut tätig. Im Anschluss verbrachte er einen Gastauf-
enthalt an der Anderson Business School der University of
California Los Angeles (UCLA). Von 2013 bis 2014 war er
als Assistenzprofessor für Leadership an der Universität St.
Gallen tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Management des demo-
grafischen Wandels in Organisationen, der Gestaltung von effektivem Führungsverhalten
und evidenzbasierten Personalmanagementstrategien.

Max Reinwald ist Promotionsstudent an der Graduate


School of Decision Sciences der Universität Konstanz und
assoziiertes Mitglied am Lehrstuhl für Organisational Stu-
dies von Prof. Dr. Florian Kunze. Zuvor absolvierte er an
der Universität Konstanz den Bachelor- und Masterstudien-
gang in Politik- und Verwaltungswissenschaft mit Schwer-
punkt Management und Verwaltung und verbrachte einen
Auslandsaufenthalt an der University of Nottingham. Zudem
sammelte er praktische Erfahrungen in den Bereichen Orga-
nisationsentwicklung und Human Resource-Management
sowie wissenschaftliche Erfahrung als studentische Hilfs-
kraft am Lehrstuhl für Management, insbesondere Strategie und Führung, von Prof. Dr.
Sabine Boerner. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich Diversity, Konfliktdyna-
miken und Führung.
„Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“:
Heterogene Generationenkonzepte im 15
Demografiemanagement am Beispiel
der Generation Y
Theresa Belch, Frank Stein und Julia Frohne

Zusammenfassung
Die Generation Y, als Repräsentantin der aktuell jüngsten Belegschaftsgruppe in
Unternehmen, ist Gegenstand des Interesses von Wissenschaft und Praxis gleicher-
maßen. Um ihre Ziele, Wertvorstellungen und Karriereorientierung empirisch zu
überprüfen und mit den bestehenden Stereotypen zu vergleichen, hat das Kienbaum
Institut @ ISM für Leadership & Transformation im Jahr 2015 eine Befragung unter
601 Absolventen von Bachelor- und Masterstudiengängen durchgeführt. Die Ana-
lyse der gewonnenen Daten mündete in die Entwicklung einer Vier-Felder-Matrix,
mithilfe derer sich die Befragten zu einem von vier Absolvententypen zuordnen lie-
ßen. Das ursprünglich eher als homogen beschriebene Konzept der Generation Y
ist damit für Absolventen zu einem heterogenen Konzept weiterentwickelt worden.
Die Darstellung der Vier-Felder-Matrix als Kernergebnis der Absolventenstudie, die
Interpretation der Befundmuster sowie die daraus abgeleiteten Implikationen für das
Demografiemanagement sind Inhalte des vorliegenden Beitrags.

T. Belch (*) 
Kienbaum Management Consultants, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: [email protected]
F. Stein 
Kienbaum Institut @ ISM für Leadership & Transformation,
Dortmund, Deutschland
E-Mail: [email protected]
J. Frohne 
Westfälische Hochschule. Professorin für Kommunikationsmanagement,
Gelsenkirchen, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 253


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_15
254 T. Belch et al.

Inhaltsverzeichnis

15.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254


15.2 Absolventen unter die Lupe genommen: Ziele, Wertvorstellungen
und Karriereorientierung der Generation Y. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
15.2.1 Hintergrund und Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
15.2.2 Auswertung und Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
15.2.3 Interpretation der Befundmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
15.3 Implikationen für das Demografiemanagement: Heterogene
Generationenkonzepte am Beispiel der Generation Y. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

15.1 Einleitung

Als das Video von Julia Engelmann und ihrem Auftritt beim Bielefelder Hörsaalslam
Anfang 2014 schlagartig für Aufsehen sorgte, lag das Ereignis selbst schon fast ein Jahr
zurück (Engelmann 2013). Das Video entfachte eine kontroverse Debatte über den Gül-
tigkeitsanspruch des provokanten Textes der damals 21-jährigen Studentin. Engelmann,
Jahrgang 1992, unternahm mit „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ den Versuch,
dem Lebensgefühl ihrer Generation – der Generation Y – Ausdruck zu verleihen, und
hat mit ihrem Plädoyer für ein bewusstes und sinnerfülltes Leben allein via YouTube bis
heute mehr als neun Millionen Menschen erreicht.
Die Debatte um Engelmanns Slam-Hit ist nur symptomatisch für die Aktualität der
Generationenfrage: Unterschiede zwischen Generationen hinsichtlich ihrer spezifischen
Ziele, Werte und Motive sind insbesondere für das Management des demografischen
Wandels in Unternehmen von strategischer Relevanz. Während sich heute Arbeitgeber
mit dem Dilemma eines zunehmenden Fachkräftemangels bei gleichzeitig steigendem
Innovations- und Wettbewerbsdruck konfrontiert sehen, erfahren Arbeitnehmer einen
eminent hohen Freiheitsgrad bei der Auswahl und Bewertung ihres Arbeitgebers (Anger
et al. 2014). Damit Unternehmen sich als attraktiver Arbeitgeber positionieren und somit
langfristig wettbewerbsfähig bleiben können, bedarf es daher eines differenzierten Ver-
ständnisses der individuellen Ziele, Werte und Motive von aktuellen und zukünftig in
den Arbeitsmarkt eintretenden Generationen. Davon lassen sich schließlich zielgruppen-
spezifische Initiativen zur Gewinnung, Bindung und Weiterentwicklung von Talenten
ableiten (Dahlmanns 2014; Hesse und Mattmüller 2015; Klaffke 2014; Parment 2013).
Vor allem die Generation Y ist aktuell Gegenstand der Generationenforschung: Geboren
zwischen 1980 und 1995 ist sie die Nachfolgerin der Generation Babyboomer (1943 bis
1960) und der Generation X (1960 bis 1980) und repräsentiert somit einen Großteil der jet-
zigen Bewerber und Berufseinsteiger sowie der zukünftigen Belegschaft in Unternehmen
(Zemke 2001; Zemke et al. 2000). Ihre Prägung und Wertehaltung sowie ihre Erwartungen
15  „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ … 255

an Beruf und Arbeitgeber sind daher von besonderem Interesse für ein ganzheitlich ange-
legtes Demografiemanagement im Unternehmen (Tulgan 2009). Dementsprechend wächst
die Anzahl an Veröffentlichungen zum Thema Generation Y, die jedoch mehrheitlich einen
entweder nur theoretischen oder stark pragmatischen Charakter haben (zum Beispiel
Erickson 2008; Ruthus 2014). Komplexere empirische Studien über die dispositionalen
und motivationalen Treiber der Generation Y im Kontext von Arbeit und Beruf, die Rolle
des Arbeitgebers sowie Konzepte des Demografiemanagements zur Ansprache generatio-
nenspezifischer Bedürfnisse sind gegenwärtig noch eher die Ausnahme als die Regel (zum
Beispiel Festing und Schäfer 2014; Ng, Schweitzer und Lyons 2010).
Mit der Absolventenstudie hat das Kienbaum Institut @ ISM für Leadership & Trans-
formation (2015) die Ziele, Wertvorstellungen und Karriereorientierung der Generation
Y empirisch untersucht mit der Absicht, neben der Erweiterung der bestehenden Genera-
tionenkonzepte auch einen Beitrag zur Nutzbarmachung wissenschaftlicher Erkenntnisse
in der Praxis zu leisten. Der Fokus der Studie lag dabei auf einer bestimmten Gruppe
der Generation Y – nämlich Hochschulabsolventen aus Bachelor- und Masterstudiengän-
gen, die in naher Zukunft in den Arbeitsmarkt eintreten werden und sich daher aktuell
besonders intensiv mit potenziellen Arbeitgebern auseinandersetzen. Die Befragung zu
ihren Zielen, Wertvorstellungen sowie ihrer Karriereorientierung sollte differenzierte
Erkenntnisse darüber liefern, was die Mitglieder der Generation Y im Hinblick auf ihren
Beruf antreibt, welche Rolle die Arbeitgeber dabei spielen und wie das Demografiema-
nagement auf ihre Anforderungen und Erwartungen reagieren kann. Die Ergebnisse der
Befragung ließen eine Überprüfung des Stereotyps der Generation Y zu, wie es heute im
Spiegel der Literatur präsentiert wird. Die Auswertung der Befragung erfolgte hinsicht-
lich spezifischer Karriereperspektiven und -orientierungen der Absolventen, ihrer Anfor-
derungen an Arbeitgeber und die gewünschten Tätigkeiten sowie ihrer Eigenmotive und
Karriereanker (vgl. Berger et al. 2004; Schein 1975). Die Analyse der Ergebnisse resul-
tierte in die Entwicklung einer Vier-Felder-Matrix, mithilfe derer sich die Befragten zu
einem von vier Absolvententypen zuordnen lassen. Im Folgenden werden die Fragestel-
lung der Studie, das Vorgehen sowie die Ergebnisse der Vier-Felder-Matrix dargestellt.
Anschließend werden die Befundmuster interpretiert und im Hinblick auf ihre Implikati-
onen und Handlungsfelder für Arbeitgeber weiterentwickelt.

Das Stereotyp der Generation Y im Spiegel von Literatur und Medien


In der einschlägigen Literatur werden Abenteuerlust und Beziehungsorientierung als die zentra-
len Merkmale der Generation Y postuliert (Ng et al. 2010). Werte wie Familie, Zusammengehö-
rigkeit und Harmonie werden dabei um eine eindeutig individualistische Grundhaltung mit dem
Ziel der persönlichen Entfaltung und Selbstverwirklichung ergänzt (Klaffke und Parment 2011).
Im Kontext von Arbeit und Beruf manifestieren sich diese Werte in idealtypischen Anforderun-
gen wie ein freundschaftliches Verhältnis mit den Kollegen, ein positives und unterstützendes
Arbeitsklima sowie regelmäßiges und zeitnahes Feedback durch den Vorgesetzten (Parment 2013;
Ruthus 2014). Dieses Harmoniebedürfnis scheint im Widerspruch zu einer primär erfolgsorientier-
ten Karriereorientierung zu stehen (Kosser 2014). Die Absage der Generation Y an das klassische
256 T. Belch et al.

Leistungsdenken spiegelt sich nicht zuletzt auch in ihrer überspitzten Bezeichnung als „Spaßge-
sellschaft“ in den Medien wider (Bund, Heuser und Kunze 2013). Auch wird ihr eine mangelnde
berufliche Zielstrebigkeit von manchen Autoren als Orientierungslosigkeit und Unschlüssigkeit
ausgelegt, verbunden mit ihrer alternativen, aber nicht weniger überspitzten Bezeichnung als
„Generation Maybe“ (Wenzel 2014). Gleichzeitig wird eingeräumt, dass die Zunahme befristeter
oder Leiharbeitsverträge zu einer wachsenden Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse bei-
trägt und die Zielorientierung damit bremst (Groll 2015).
Der hohe Wert der Freizeit und der Wunsch nach Flexibilität sind zwei in der Literatur weit ver-
breitete Merkmale der Generation Y (Ruthus 2014). Aus diesem Grund erwarten die Mitglieder der
Generation Y von ihrem Arbeitgeber ein hohes Maß an Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeit und -ort
sowie der Strukturierung von Arbeitsaufgaben (Trost 2013). Eine strikte Trennung von Berufs- und
Privatleben wird zwar mehrheitlich nicht mehr gefordert, dafür aber soll der Arbeitgeber ein ausge-
wogenes Verhältnis beider Bereiche ermöglichen (Ruthus 2014). Die Identifikation mit Arbeitgebe-
rimage und -marke sowie die Passung der Unternehmenskultur mit den persönlichen Normen und
Werten gewinnen vor dem Hintergrund der fließenden Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben
an neuer Bedeutung (Trost 2013).
Diese Übersicht liest sich ebenso bunt wie widersprüchlich; sie kann maximal als Auszug des-
sen, was wir allgemein und alltäglich über die Generation Y wahrnehmen und denken, verstanden
werden und bietet Anlass, das Konzept empirisch zu überprüfen und so unser Verständnis darüber
kritisch zu reflektieren. Für eine weitere Darstellung generationenspezifischer Arbeitswerte siehe
auch den Beitrag von Susanne Scheren und Michael Hülsbeck in diesem Sammelband.

15.2 Absolventen unter die Lupe genommen: Ziele,


Wertvorstellungen und Karriereorientierung der
Generation Y

15.2.1 Hintergrund und Fragestellung

Vor dem Hintergrund disruptiver Entwicklungen durch die Digitalisierung, das globale
Verschmelzen von Märkten und Wertschöpfungsketten sowie das Zusammentreffen
unterschiedlicher Generationen innerhalb von Organisationen müssen Unternehmen ihre
Strategie reflektieren. Angesichts oft nur vager Prognosen über zukünftige gesellschaft-
liche und wirtschaftliche Entwicklungen rückt das Humankapital als Innovationsmotor
und Wettbewerbsfaktor immer wieder in den Mittelpunkt öffentlicher und unterneh-
mensinterner strategischer Planung. Im besten Fall werden der zukünftige Bedarf an
Kompetenzen und Personal strategisch abgeleitet und verändert sowie neue Jobprofile
verankert, um die notwendige Transformation im Unternehmen mit einer geeigneten
Belegschaft zu unterstützen. Die große Herausforderung für Personalbereiche besteht
deshalb vornehmlich darin, eine Pipeline mit eben diesem geeigneten Personal zu befül-
len. Eine erfolgreiche Umsetzung dieses Ziels hängt von einem breiten Brutto-Pool an
potenziellem Personal ab und löst einen besonders hohen, aber auch spezifischen Rekru-
tierungsbedarf aus.
Diese Herausforderung wird durch den Mangel an Fachkräften – insbesondere
aus den Bereichen Informatik und MINT – und an qualifizierten und engagierten
15  „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ … 257

Absolventen noch verstärkt. Angesichts der gegenläufigen Entwicklung der sinkenden


Verfügbarkeit von Erwerbstätigen einerseits und dem steigenden Bedarf an Innovationen,
modernem Unternehmertum und neuen Jobarchitekturen andererseits zeichnet sich ab,
dass talentierte Hochschulabsolventen heute einen hohen Freiheitsgrad bei der Auswahl
ihrer Arbeitgeber haben. Aus diesem Grund ist es für Unternehmen von hoher strate-
gischer Bedeutung zu wissen, was die aktuelle Absolventengeneration bewegt, welche
Ansprüche sie an die Arbeit und ihren zukünftigen Arbeitgeber erhebt, aber auch zu wis-
sen, was diese Generation zu geben bereit ist und wo sie ihre ersten beruflichen Schwer-
punkte sieht. Davon lässt sich ableiten, welche Initiativen Personalfunktionen entwickeln
und ausbauen sollten, um Personalengpässe zu vermeiden und somit positiv zur Unter-
nehmensperformance beitragen zu können.
Um Informationen über den jeweils aktuellen Absolventenjahrgang zu erhalten, führt
die Managementberatung Kienbaum seit 2007 jährlich eine Befragung unter Absolven-
ten im Rahmen des Absolventenkongresses in Köln durch. Dabei stehen Berufswünsche,
Einstiegspositionen, Angebote und Eigenschaften des Arbeitgebers sowie Merkmale
der Tätigkeit im Blickpunkt der Befragung (Kienbaum 2015). Anlässlich der Befragung
im Jahr 2014 wurden erstmals Fragen zu Motivstrukturen und Karriereorientierung der
Absolventen in den Fragenkatalog mit aufgenommen. Die gesammelten Daten aus dieser
Befragung bildeten das Material der Absolventenstudie des Kienbaum Instituts @ ISM
für Leadership & Transformation (2015).

15.2.2 Auswertung und Ergebnisse

Insgesamt lagen der Auswertung 601 Datensätze zugrunde. Es nahmen 287 weibliche
(47,8 %) und 278 männliche (46,3 %) Teilnehmer an der Umfrage teil, wobei sechs Pro-
zent der Befragten keine Angabe zu ihrem Geschlecht machten. Das durchschnittliche
Alter betrug knapp 27 Jahre (Alter: MW = 26,95; SD = 361). 44,6 % der Teilnehmer
waren Studierende der Wirtschaftswissenschaften.
Um die Absolventen als Mitglieder der Generation Y psychologisch differenziert
beschreiben zu können, wurde auf Grundlage der Literatur zunächst ein sogenanntes
Gen-Y-Mindset postuliert: Hinsichtlich persönlicher Werte und Ziele, Karriereankern,
Eigenmotiven, Eigenschaften und Angeboten des Arbeitgebers sowie Merkmalen der
Tätigkeit wurden hier 13 Items ausgewählt, die als stereotype Beschreibung der Genera-
tion Y dienten. Ein beispielhaftes Item der Skala war: „Dass sich mein Beruf mit meinen
privaten und familiären Bedürfnissen vereinbaren lässt, ist für mich von zentraler Bedeu-
tung.“ Die entsprechende Rating-Skala reichte von 1 (trifft gar nicht zu) bis 6 (trifft voll
zu). In Abhängigkeit von seinem Antwortmuster auf der gesamten Skala konnte ein
Absolvent daher eine tendenziell höhere bzw. niedrigere Ausprägung des Gen-Y-Mind-
sets aufweisen.
Hinsichtlich der Werte und Ziele, Eigenmotivation, Eigenschaften und Angebote
des Arbeitgebers sowie Merkmale der Tätigkeit wurden außerdem 13 weitere Items
258 T. Belch et al.

ausgewählt, welche die Ausprägung der Karrieremotivation der Absolventen – im Sinne


von Aufstieg, Entlohnung und Entwicklungsmöglichkeiten – erfassten. Eines dieser
Items lautete zum Beispiel: „Aufgaben sollten im Zusammenhang mit Aufstieg stehen.“
Die entsprechende Rating-Skala reichte von 1 (trifft gar nicht zu) bis 6 (trifft voll zu). Je
nach Antwortmuster zeichnete sich hier dann eine höhere bzw. niedrigere Ausprägung
der Karrieremotivation ab.

Abb. 15.1  Übersicht der verwendeten Item-Skalen für die Dimension Gen-Y-Mindset. (Quelle:


Kienbaum Institut @ ISM für Leadership & Transformation, 2015)

Abb. 15.2  Übersicht der verwendeten Item-Skalen für die Dimension Karrieremotivation.


(Quelle: Kienbaum Institut @ ISM für Leadership & Transformation, 2015)
15  „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ … 259

Mithilfe von Cut-off-Werten wurde festgelegt, welche Werte eine hohe und welche
eine niedrige Ausprägung auf den Dimensionen Gen-Y-Mindset einerseits und Karrie-
remotivation andererseits definieren. Eine Übersicht der verwendeten Item-Skalen zeigt
Abb. 15.1 für die Dimension Gen-Y-Mindset bzw. Abb. 15.2 für die Dimension Karriere-
motivation.
Um die befragten Absolventen differenziert beschreiben zu können, wurde die
Dimension Gen-Y-Mindset (hohe vs. niedrige Ausprägung) der Dimension Karriere-
motivation (hohe vs. niedrige Ausprägung) gegenübergestellt, sodass sich eine zwei-
dimensionale Matrix mit vier Feldern ergab (vgl. Abb. 15.3). Demnach ließen sich die
Absolventen ihrem Antwortmuster gemäß einem von insgesamt vier identifizierten

Abb. 15.3   Zweidimensionale Vier-Felder-Matrix der Absolvententypen der Generation Y.


(Quelle: Kienbaum Institut @ ISM für Leadership & Transformation, 2015).
260 T. Belch et al.

Typen zuordnen, die sich hinsichtlich ihrer Merkmale deutlich voneinander unterschie-
den: 1) Der erlebnisorientierte, 2) der ambitionierte, 3) der orientierungssuchende und 4)
der karriereorientierte Typus. Eine zusammenfassende Beschreibung der vier Absolven-
tentypen der Generation Y findet sich in Abb. 15.4.

15.2.2.1 Der Erlebnisorientierte
„Also los, schreiben wir Geschichten, die wir später gern erzählen! Und eines Tages,
Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten den-
ken – die für immer unsere sind.“ So heißt es in dem eingangs zitierten Slam-Hit von
Julia Engelmann (2014, S. 29), und diese Denkart trifft im Kern das Wesen des Erleb-
nisorientierten. Dieser Typus ist durch eine niedrige Ausprägung der Karrieremotivation
und durch eine hohe Ausprägung des Gen-Y-Mindsets beschrieben. 29 % der befragten
Absolventen ließen sich anhand ihres Antwortmusters diesem Typus zuordnen. 81 %
der Erlebnisorientierten nennen Familie und Freunde als ihre zentralen Werte und Ziele
im Leben, gefolgt von Gesundheit (49 %) und Reisen (40 %). Der Erlebnisorientierte
ist quasi ständig auf der Suche nach neuen Abenteuern und forciert den Aufbau und die
Pflege von Beziehungen. Letzteres drückt sich auch in seiner Erwartung an eine kolle-
giale Atmosphäre im Arbeitskontext aus – 84 % der Erlebnisorientierten charakterisier-
ten mit diesem Angebot einen idealen Arbeitgeber. Der hohe Wert der Freizeit spiegelt
sich ebenfalls in dem Wunsch nach einer ausgewogenen Work-Life-Balance wider
(77 %). Jeder zweite Erlebnisorientierte (51 %) erwartet schließlich von seinem Arbeit-
geber gute Weiterbildungsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund der niedrig ausgeprägten

Abb. 15.4  Beschreibung der vier Absolvententypen der Generation Y. (Quelle: Kienbaum Institut


@ ISM für Leadership & Transformation, 2015)
15  „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ … 261

Karrieremotivation ist anzunehmen, dass der Berufseinstieg von dem Erlebnisorientier-


ten primär als Chance der persönlichen Weiterentwicklung gesehen wird, eng verknüpft
mit seiner Abenteuerlust und Neugier, dem Wunsch Neues zu erkunden und den eigenen
„Rucksack“ mit Erfahrungen weiter zu füllen. Von den Absolventen des erlebnisorien-
tierten Typus’ waren 36 % männlich und 64 % weiblich.

15.2.2.2 Der Ambitionierte
„Ich bin so furchtbar faul wie ein Kieselstein am Meeresgrund. Ich bin so furchtbar
faul, mein Patronus ist ein Schweinehund.“ Diese Passage im Text von Julia Engelmann
(2014, S. 25) könnte den Typus des Ambitionierten gar nicht stärker kontrastieren. Die-
ser ist durch eine hohe Ausprägung der Karrieremotivation und durch eine hohe Aus-
prägung des Gen-Y-Mindsets beschrieben. 38 % der befragten Absolventen ließen sich
ihrem Antwortmuster gemäß diesem Typus zuordnen. Wie für den Erlebnisorientier-
ten stellen auch für den Ambitionierten Familie und Freunde (81 %) sowie Gesundheit
(43 %) zentrale Werte und Ziele im Leben dar, jedoch ebenso der Wunsch nach Erfolg
und Karriere (65 %); die Ambitionierten verfolgen also eine multiple Zielsetzung und
hätten somit eher den Löwen als den Schweinehund als Patronus verdient. Im Kontext
von Arbeit und Beruf spiegelt sich ihre hohe Karrieremotivation darin wider, dass gute
Karrieremöglichkeiten die Wahl des Arbeitgebers maßgeblich beeinflussen (79 %); aber
auch hier werden eine kollegiale Arbeitsatmosphäre (73 %) sowie Work-Life-Balance
(68 %) als idealtypische Merkmale des zukünftigen Arbeitgebers genannt. Der Wunsch,
eine Führungsposition einzunehmen, ist vergleichsweise stark; aufgrund der hohen
Verträglichkeitsorientierung aber dürfen an der Führungsfähigkeit der Ambitionierten
berechtigte Zweifel geäußert werden. Von den Absolventen des ambitionierten Typus’
waren 48 % männlich und 52 % weiblich.

15.2.2.3 Der Orientierungssuchende
„Es gibt zu viel zu tun, meine Listen sind so lang, ich werd das eh nie alles schaffen,
also fang ich gar nicht an. […] Stattdessen häng ich planlos vorm Smartphone, wart bloß
auf den nächsten Freitag., Ach, das mach ich später‘ ist die Baseline meines Alltags.“
Julia Engelmann (2014, S. 25) beschreibt mit diesen Zeilen in ihrem Slam-Hit trefflich
den Typus des Orientierungssuchenden. Er ist weder durch eine hohe Ausprägung der
Karrieremotivation noch durch eine hohe Ausprägung des Gen-Y-Mindsets beschrie-
ben. 13 % der befragten Absolventen ließen sich aufgrund ihres Antwortmusters diesem
Typus zuordnen. Gesundheit (53 %), Familie und Freunde (51 %) sowie Erfolg und Kar-
riere (45 %) sind für den Orientierungssuchenden gleichauf wichtige Werte und Ziele im
Leben. Davon lässt sich die Unschlüssigkeit des Orientierungssuchen ableiten: Ihm ist
vieles wichtig, aber es fällt ihm schwer zu priorisieren und, in logischer Konsequenz,
mit Umsetzungsorientierung zu reagieren. Von einem idealen Arbeitgeber wünscht sich
der Orientierungssuchende vor allem Möglichkeiten der Weiterbildung (57 %), eine kol-
legiale Atmosphäre (48 %) sowie Work-Life-Balance (45 %). Interessanterweise weist
der Orientierungssuchende in allen Bereichen der Eigenmotivation die niedrigsten Werte
262 T. Belch et al.

auf – ohne Ziele fehlt auch die Motivation, dieselben zu erreichen. Seine Hilfs- und
Entwicklungsmotivation treiben den Orientierungssuchenden am meisten an, sich um
Familie und Freunde zu sorgen, sich selbst besser kennenzulernen und persönlich weiter-
zuentwickeln. Die Merkmale charakterisieren seine Tendenz, sich Orientierung zu ver-
schaffen. Von den Absolventen des orientierungssuchenden Typus’ waren 46 % männlich
und 54 % weiblich.

15.2.2.4 Der Karriereorientierte
Dieser Typus wird bei Julia Engelmann (2014) nicht erwähnt; auch in der Literatur findet
sich nach unserem Kenntnisstand keinerlei Aussage über solche „klassischen“ Denkmus-
ter im Konzept der Generation Y. Der Karriereorientierte ist durch eine hohe Ausprä-
gung der Karrieremotivation und durch eine niedrige Ausprägung des Gen-Y-Mindsets
beschrieben. Immerhin jeder fünfte Absolvent (20 %) ließ sich seinem Antwortmuster
gemäß diesem Typus zuordnen. Erfolg und Karriere (77 %) sind für ihn mit Abstand die
wichtigsten Werte und Ziele im Leben, dahinter rangieren Familie und Freunde (55 %)
und Gesundheit (44 %). Ideale Arbeitgeber sind für ihn durch Karrieremöglichkeiten
(77 %), gute Bezahlung (53 %) sowie Weiterbildungsmöglichkeiten und Internationali-
tät (beide 43 %) gekennzeichnet. Veränderungsmotivation ist ein entscheidender Treiber
seiner Arbeitstätigkeit; der Wunsch zu gestalten und zu entwickeln steht im Vordergrund.
Gepaart mit einer ausgeprägten Führungsmotivation deuten Motivation und Mindset
des Karriereorientierten eher auf klassische Konzepte von Arbeit und Beruf hin, wie sie
bei der Generation X und Babyboomern erwartet werden (Zemke et al. 2000). Von den
Absolventen des karriereorientierten Typus’ waren 67 % männlich und 33 % weiblich.

15.2.3 Interpretation der Befundmuster

Aus den Befundmustern lassen sich vier wesentliche Handlungsfelder für die Generation
Y im Kontext von Arbeit und Beruf herauslesen: 1) Führung und Karriere, 2) Dynamisie-
rung von Arbeit und moderne Kollaborationsformate, 3) Individualisierung statt Automa-
tisierung sowie 4) Work-Life-Family-Balance.

15.2.3.1 Führung und Karriere


Eine klassische Führungslaufbahn wird vor allem von dem karriereorientierten Typus,
also ca. 20 % der befragten Absolventen der Generation Y, angestrebt; es gibt ihn also
durchaus noch – entgegen mancher Behauptung in der Literatur zur Generation Y –, aber
er stellt keinen Haupttypus des Berufseinsteigers mehr dar. Eine zu starke Fixierung auf
Angebote für den karriereorientierten Typus (wie zum Beispiel Laufbahnplanung mit
dem Ziel einer Führungsposition oder leistungsorientierte Vergütungssysteme) wird also
künftig nicht ausreichen, um von der Mehrheit der Arbeitnehmer als attraktiver Arbeit-
geber wahrgenommen zu werden. Vielmehr artikuliert der Großteil der Absolventen den
Wunsch nach einer harmonischen Zusammenarbeit, verbunden mit flachen Hierarchien
15  „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ … 263

und der Möglichkeit zur Mitbestimmung und Mitgestaltung. Die Partizipation von Mit-
arbeitern stellt eine der wichtigsten Herausforderungen für traditionelle Unternehmens-
kulturen dar und kann nur durch solche Organisationsstrukturen und -prozesse realisiert
werden, die explizit neue Arbeitsstrukturen und Führungsmodelle fördern und auf Basis
demokratischer Werte operieren (Sattelberger, Welpe und Boes 2015). Konzepte wie bei-
spielsweise 270°- bzw. 360°-Feedback für Kollegen und Führungskräfte stellen konkrete
Instrumente zur Veränderung der Unternehmenskultur dar (Scherm 2005; Scherm und
Sarges 2002).

15.2.3.2 Dynamisierung von Arbeit und moderne


Kollaborationsformate
Die Präferenzen der Absolventen zeigen deutlich an, dass die Arbeitswelt einen zuneh-
mend dynamischen Charakter braucht, um zukünftig Talente anzusprechen, zu gewin-
nen und zu binden. Ein Arbeitsumfeld mit flexiblen Strukturen, abwechslungsreichen
und herausfordernden Tätigkeiten, eine kollegiale Atmosphäre sowie kontinuierliches
Feedback durch Kollegen und Vorgesetzte sind die Erwartungen der jetzigen Absolven-
ten an ihren Beruf und ihre Arbeitgeber. Vor allem die Einbindung von Berufseinsteigern
in zeitlich begrenzte, selbst organisierte und komplexe Projektarbeit sollte daher von
Arbeitgebern ermöglicht und gestaltet werden; dabei können nämlich junge Mitarbeiter
viel und schnell lernen und besonders beim Berufseinstieg sinnstiftende Formate von
Arbeit und Zusammenarbeit erfahren (Laloux 2015). Für eine Dynamisierung der Arbeit
und moderne Kollaborationsformate sollte die Organisation die notwendigen Rahmenbe-
dingungen schaffen. Gerade im Kontext der Digitalisierung bietet es sich an, eine Vielfalt
an neuartigen Kanälen um die Zusammenarbeit und Vernetzung zu gestalten. Hier ste-
hen beispielsweise innovative Plattformlösungen, Corporate Social Networks oder agiles
Projekt-Staffing für konkrete Maßnahmen zur Verfügung.

15.2.3.3 Individualisierung statt Automatisierung


Neben der zunehmenden Wahrscheinlichkeit, dass transaktionale Prozesse zukünf-
tig weitestgehend automatisiert werden, steht das Individuum immer mehr im Mittel-
punkt, was nicht zuletzt Implikationen für das Talent-Management haben wird. Gerade
Absolventen haben am Anfang ihrer Karriere oftmals mehr Fragen als Antworten und
sind dankbar für möglichst individuelle Laufbahngespräche und Weiterbildungsmaß-
nahmen. Wenn die Erkenntnis in ihnen reift, dass das Unternehmen an der Entwicklung
der einzelnen Person ernsthaft interessiert ist, wird dadurch Bereitschaft zum längeren
Verbleib im Unternehmen nachhaltig und spürbar erhöht. Insbesondere persönlichkeits-
bildende Maßnahmen werden dabei als förderlich erachtet, da sie die persönliche Ent-
wicklung im Allgemeinen mehr als die berufliche Entwicklung im Speziellen forcieren.
Hierbei gewinnen Formate wie Mentoring-Programme, funktionsübergreifende Rotati-
onsprogramme, Kamingespräche mit oberen Führungskräften oder maßgeschneiderte
Coaching-Angebote an Bedeutung.
264 T. Belch et al.

15.2.3.4 Work-Life-Family-Balance
Mehr als ein Drittel der befragten Absolventen strebt die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf an; für ein Drittel der Absolventen steht die Familie indes an erster Stelle
im Leben. Innovative Work-Life-Family-Angebote können hier einen Wettbewerbsvor-
teil für Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt darstellen. Gerade im Kontext der Digita-
lisierung und neuer Technologien sind viele kreative Arbeitsformen denkbar. Formate
wie Führung auf Zeit oder Jobsharing bieten konkrete Ansätze der Flexibilisierung und
ermöglichen es, den Bedürfnissen der Generation Y entsprechend gerecht zu werden.
Über den zeitlichen Aspekt hinaus geht es um eine möglichst natürliche Integration des
beruflichen und privaten Alltags. So sollten Unternehmen Formate lebensphasenorien-
tiert denken und so auf Fragen von der Kleinkindbetreuung bis hin zur Unterstützung
von Mitarbeitern im Falle der Pflege von Elternteilen eine Antwort haben.

15.3 Implikationen für das Demografiemanagement:


Heterogene Generationenkonzepte am Beispiel der
Generation Y

Der Mehrwert der Absolventenstudie 2015 besteht vor allem in der kritischen Überprü-
fung der Generation Y als homogenes Konzept: Zum einen erweitert die Typologisierung
der gegenwärtigen Absolventen im Rahmen einer Vier-Felder-Matrix das bestehende
homogene Konzept der Generation Y und erlaubt eine differenziertere und segmentierte
Beschreibung ihrer Mitglieder – zumindest soweit es sich um Hochschulabsolventen
handelt. Zum anderen bietet die Studie durch diese Typologisierung eine empirisch fun-
dierte Grundlage zur evidenzbasierten Gewinnung, Bindung und Weiterentwicklung von
Talenten im Unternehmenskontext.
Die Befunde der Absolventenstudie 2015 legen nahe, dass die Generation Y im Kon-
text von Arbeit und Beruf nicht als ein homogenes Konzept betrachtet werden kann, son-
dern unterschiedliche Typen von Mitgliedern umfasst, die sich in der Ausprägung ihres
Mindsets und ihrer Karrieremotivation deutlich voneinander unterscheiden. Dementspre-
chend muss auch das Demografiemanagement der Generation Y spezifische Initiativen
zur Gewinnung, Bindung und Weiterentwicklung verschiedener Typen von Arbeitneh-
mern implizieren.
Die Generation Y lässt sich nach den vier Typen erlebnisorientiert, ambitioniert, ori-
entierungssuchend und karriereorientiert beschreiben. Die Interpretation der Befundmuster
hat Führung und Karriere, Dynamisierung von Arbeit und moderne Kollaborationsfor-
mate, Individualisierung statt Automatisierung sowie Work-Life-Family-Balance als die
vier wesentlichen Handlungsfelder für die Generation Y identifiziert. In Abhängigkeit von
Typus und Handlungsfeld müssen jetzt in den Unternehmen zielgruppenspezifische Maß-
nahmen für das Demografiemanagement der Generation Y entwickelt werden.
15  „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ … 265

Langfristig ist fraglich, ob sich von der Definition des Generationenkonzepts im


Sinne einer Alterskohorte nicht ganz gelöst werden muss. Die Ergebnisse der Absolven-
tenstudie 2015 suggerieren zumindest, dass der Zeitraum der Geburt von Bevölkerungs-
mitgliedern nicht zwingend homogene Motivstrukturen und Orientierungen im Kontext
von Arbeit und Beruf einschließt. In der Absolventenstudie wurde die Differenzierung
der Absolventen als Mitglieder der Generation Y in Abhängigkeit von der Ausprägung
ihres Mindsets und ihrer Karriereorientierung vorgenommen, und nicht in Abhängigkeit
von ihrem Alter. In der Konsequenz lassen sich Mitarbeiter in einem Unternehmen nicht
mehr (nur) als Generation im Sinne einer Alterskohorte, sondern (auch) als Generation
im Sinne einer Gruppierung von Gleichgesinnten zusammenfassen.
Die Angebote des Arbeitgebers können dadurch zunehmend individuell gestaltet wer-
den – denn das Alter einer Person muss nicht zwingend mit den verallgemeinernden, ste-
reotypen Zielen, Werten und Motiven der Generation korrespondieren, welcher sie eben
aufgrund ihres Alters zugeschrieben wird; die Absolventenstudie hat nicht zuletzt mit der
Identifizierung des karriereorientierten Typus’ gezeigt, dass Absolventen, die altersge-
mäß zwar der Generation Y zugeteilt werden, durchaus originär klassisch-konservative
Denkmuster à la Generation Y und Babyboomer aufweisen können. Eine abschließende
Empfehlung lautet daher, im Rahmen des Demografiemanagements heterogene Gene-
rationenkonzepte bzw. Cluster-Ansätze anzuwenden und somit neben einer altersorien-
tierten auch eine ziel-, werte- und lebensstilorientierte Beschreibung von Zielgruppen
vorzunehmen; von Vorteil ist auch, dass in diese Cluster bestehende Arbeitnehmergrup-
pen zumindest in Teilen integriert werden können, sodass der Gefahr einer mehrseitigen
Beurteilung von aktuellen und zukünftigen Arbeitnehmergruppen entgegengewirkt wer-
den kann.

Ausblick
Auch im Hinblick auf die zukünftig in den Arbeitsmarkt eintretenden Alterskohor-
ten (zum Beispiel die sogenannte Generation Z) sollten, u. a. aufgrund der durch
die Digitalisierung zunehmend volatilen Arbeitswelt, Generationskonzepte diffe-
renziert betrachtet werden. Der Ansatz heterogener Generationenkonzepte eignet
sich für Arbeitnehmer, die keinem pauschalen Konzept zuzuordnen sind – ob nun
aufgrund der Geburt am Rand einer Generationenspanne (zum Beispiel Wech-
sel von Generation X auf Generation Y um 1980 oder von Generation Y auf Z in
1995) oder aber aufgrund einer Abweichung von generationentypischen Mustern.
Auf Basis der Erkenntnisse über individuelle Ziele, Wertvorstellungen und Kar-
rieremotive von Arbeitnehmern können altersorientierte Programme des Demo-
grafiemanagements mit dispositions- und motivationsgeleiteten Initiativen des
Generationenmanagements integriert und die notwendige Orientierung von HR-
Initiativen an den Anforderungen und Bedürfnissen ihrer internen Kunden im
Unternehmen abgebildet werden.
266 T. Belch et al.

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Über die Autoren

Theresa Belch ist seit April 2015 Beraterin bei Kienbaum


Managements Consultants und betreut Projekte für Großun-
ternehmen und Mittelständler in den Bereichen Strategie und
Organisation, Transformation und Diagnostik. Vorher absol-
vierte sie ihr Masterstudium der Wirtschaftspsychologie an
der Ruhr-Universität Bochum.

Frank Stein ist seit März 2016 wissenschaftlicher Mit-


arbeiter am Kienbaum Institut @ ISM für Leadership &
Transformation. Inhaltlich steht er dabei vor allem für die
Themenschwerpunkte Organisation, Transformation, HR
Excellence und Leadership. Zuvor studierte er Wirtschafts-
psychologie an der Ruhr-Universität Bochum, verbunden mit
einem Auslandssemester an der Lindenwood University in
den USA.
268 T. Belch et al.

Prof. Dr. Julia Frohne ist Professorin für Kommunikati-


onsmanagement und Markt- und Werbepsychologie an der
Westfälischen Hochschule. Zuvor hatte sie eine Professur
für Wirtschaftspsychologie und Management an der Interna-
tional School of Management in Dortmund inne und leitete
dort als Akademische Direktorin das Kienbaum Institut @
ISM für Leadership & Transformation. Schwerpunkte ihrer
Forschungsarbeit sind anwendungsorientierte Lösungen für
komplexe Fragestellungen des Kommunikationsmanagements
und der Organisationsentwicklung in Kooperation mit Unter-
nehmen und Institutionen aus dem privaten und öffentlichen Sektor. Nach ihrem Studium
arbeitete Frau Prof. Dr. Frohne zunächst bei der ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft
in der Mediaforschung und -beratung und promovierte nebenberuflich an der LMU Mün-
chen mit einer empirischen Arbeit über Werbewirkungsforschung. Anschließend war sie
zehn Jahre bei dem Prüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG tätig, wo sie als Pro-
kuristin verschiedene Funktionen im Marketing, in der Personalentwicklung sowie im
Consulting für den öffentlichen Sektor innehatte. Von 2008 bis 2010 war sie zudem als
Direktorin Marketing & Kommunikation der RUHR.2010 GmbH in Essen für die stra-
tegische Ausrichtung und Planung der Marketingkampagne der Kulturhauptstadt Euro-
pas RUHR.2010 verantwortlich. Julia Frohne ist Autorin und Mitherausgeberin diverser
Bücher und Fachpublikationen und als Referentin und Coach für Kulturmarketing und
Kommunikationsstrategien tätig.
Generationsspezifische Arbeitswerte,
Mitarbeiterbindung und HRM 16
Susanne Scheren und Marcel Hülsbeck

Zusammenfassung
Die Tatsache, dass Generationen sich in ihrer Prägung und Werthaltung grundsätz-
lich unterscheiden, ist bekannt und akzeptiert. Die Frage, ob und wie sich dies in
der Arbeitswelt auswirkt und wie das Human-Resource-Management (HRM) darauf
reagieren sollte, ist bisher kaum erforscht. Dieser Beitrag diskutiert erste Ergebnisse
einer Befragung von rund 400 deutschen Fach- und Führungskräften. Die Auswirkun-
gen der Generationsunterschiede auf Arbeitswerte und generationsspezifisches HR-
Management zeigen ein differenziertes Bild, welches teilweise deutlich von populären
Postulaten abweicht. Während sich präferierte Bindungsmaßnahmen generationsspe-
zifisch unterscheiden, kann dies für Arbeitswerte nur tendenziell bestätigt werden.
Aufbauend auf den Ergebnissen wird eine Praxisempfehlung für ein generationsspe-
zifisches HRM gegeben.

Inhaltsverzeichnis

16.1 Ausgangslage, Problemstellung und Ziel der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270


16.2 Generationen im Arbeitsleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
16.3 Generationsspezifische Arbeitswerte und Mitarbeiterbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
16.3.1 Arbeitswerte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

S. Scheren (*) · M. Hülsbeck 
Universität Witten-Herdecke, Wittener Institut für Familienunternehmen,
Witten, Deutschland
E-Mail: [email protected]
M. Hülsbeck
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 269


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_16
270 S. Scheren und M. Hülsbeck

16.3.2 Anforderungen an ein generationsspezifisches HRM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275


16.3.3 Mitarbeiterbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
16.4 Studie und Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
16.4.1 Datenbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
16.4.2 Arbeitswerte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
16.4.3 Bindungsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
16.5 Praxisempfehlung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

16.1 Ausgangslage, Problemstellung und Ziel der


Untersuchung

Eine Reihe von Veröffentlichungen thematisiert die Existenz und Bedeutung von Gene-
rationsunterschieden in der Arbeitswelt (Smola und Sutton 2002; Glass 2007; EY 2008;
Twenge und Campbell 2008; Half 2011) ohne zu überprüfen, ob die gefundenen Unter-
schiede ursächlich Generationsspezifika zuzuordnen sind oder vielmehr auf Differenzen
in den Lebensumständen basieren (Macky et al. 2008; Cennamo und Gardner 2008).
Somit stellt sich nicht nur die Frage nach der Existenz generationsspezifischer Arbeits-
werte, sondern auch danach, ob die Berücksichtigung etwaiger Unterschiede im HRM zu
Wettbewerbsvorteilen im „War of talent“ (Michaels et al. 2001; Allmendinger und Ebner
2006) führen kann. Dieser Beitrag fokussiert auf die Mitarbeiterbindung als gut unter-
suchten, langfristigen Erfolgsfaktor. Basierend auf der gefundenen empirischen Bedeu-
tung spezifischer Arbeitswerte und Bindungsmaßnahmen wird eine Praxisempfehlung
für ein generationsspezifisches HRM entwickelt.

16.2 Generationen im Arbeitsleben

Aktuell werden in Unternehmen insbesondere drei Generationen beschäftigt, die sich


in unterschiedlichen Stadien ihres Arbeitslebens befinden. Die Babyboomer wuchsen
in einem von der Nachkriegszeit geprägten Umfeld auf (Half 2011). Ihr Motto lautet:
„Leben, um zu arbeiten“ (McCrindle 2004). Mitglieder dieser Generation werden in den
nächsten Jahren vermehrt regulär in Rente gehen (Tolbize 2008). Aus einer Umfrage der
American Association of Retired Persons (AARP) wird jedoch deutlich, dass 63 Pro-
zent planen, nach der Pensionierung in Teilzeit weiterzuarbeiten; fünf Prozent von ihnen
haben sogar vor, nicht regulär in Rente zu gehen (AARP 2003). Die Angehörigen der
Generation X haben das Motto: „Arbeiten, um zu leben“ (McCrindle 2004). Immer mehr
Mitglieder dieser Generation sorgen sich um ihr Rentendasein. Viele haben Kinder und
müssen sich eventuell parallel um pflegebedürftige Eltern kümmern. Dies führt schon
während der Erwerbstätigkeit zu einer hohen finanziellen Belastung. Zusätzlich muss in
16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM 271

vielen Fällen noch in eine private Altersvorsorge eingezahlt werden, um auch als Rentner
den gewohnten Lebensstandard beibehalten zu können (PwC 2013). Die jüngste Gene-
ration ist die Generation Y. Durch die meist hohe Identifikation mit ihrer Arbeit stellt der
Arbeitsplatz häufig einen Familienersatz für sie dar (Tulgan 2009).
Eine Reihe von Veröffentlichungen in der aktuellen Literatur beschäftigt sich mit
dem Phänomen der Generationsabgrenzung. Eine Einteilung der Gruppierungen erfolgt
dabei in der Regel in Generationsdefinitionen aufgrund des Alters (u. a. Smola und Sut-
ton 2002; Half 2011; Cennamo und Gardener 2008; Twenge und Campbell 2008; Zemke
et al. 2013). Eine trennscharfe Einteilung der Generationen scheint dabei nicht möglich
zu sein, da die Randjahrgänge in den Veröffentlichungen variieren. Autoren wie Macky
et al. (2008) oder Cennamo und Gardner (2008) kritisieren jedoch, dass die Studien und
Veröffentlichungen, die sich mit Generationsunterschieden beschäftigten, nicht ausrei-
chend prüfen, ob die gefundenen Unterschiede tatsächlich generationsbedingt sind oder
vielmehr auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen bzw. -stadien (wie oben erwähnt
Rente, Altersvorsorge, Familienersatz) der Befragten zurückzuführen sind.
Um die Existenz tatsächlicher Generationsunterschiede zu überprüfen, wurde eine
hierarchische Clusteranalyse ermittelter Arbeitswerte (Ros et al. 1999) unter Einbezug
des Alters der Befragten1 als Kontrollindikator für altersspezifische Lebensumstände
durchgeführt. Durch die Analyse konnten drei Gruppen identifiziert werden, die den drei
zu untersuchenden Generationen entsprechen. Die Diskriminanzanalyse bestätigt die
Treffsicherheit der Zuordnung der Gruppen mit gut 90 % (Scheren 2016) wobei die
Streuung in der Generation X am größten ist, während die Generation Y fast zu 100 Pro-
zent richtig erfasst wird. Auch die Untersuchung der deskriptiven Merkmale der einzel-
nen Cluster bestätigt die Existenz der Generationsunterschiede (vgl. Tab. 16.1; Scheren
2016).
Das Cluster „Babyboomer“ ist durchschnittlich 56,35 Jahre alt, zu 85 % verheiratet,
weist eine Betriebszugehörigkeit von durchschnittlich 19,79 Jahren auf und hat 1,62
Kinder. Die Clustergruppe „X“ ist jünger als die erste Gruppe, weist eine durchschnitt-
liche Betriebszugehörigkeit von 12,91 Jahren auf und ist zu 70 % ebenfalls verheiratet
mit durchschnittlich 1,45 Kindern. Mit einem durchschnittlichen Alter von 28,09 Jahren
und einer durchschnittlichen Betriebszugehörigkeit von 4,14 Jahren weist die Cluster-
gruppe „Y“ einen deutlichen Unterschied zu den anderen Gruppen auf. Aufbauend auf
den Ergebnissen konnten für diese Untersuchung die ebenfalls in Tab. 16.1 dargestell-
ten Generationsgrenzen definiert werden (Scheren 2016). Die Analyse zeigt also deut-
lich, dass es möglich ist, unterschiedliche Gruppen basierend auf ihren Arbeitswerten
und Lebensumständen zu identifizieren. Es gibt also tatsächlich generationsspezifische
Arbeitswerte; es bleibt aber unklar, inwiefern diese von den tatsächlichen Lebensumstän-
den überdeckt werden und wie sie im HR-Management berücksichtigt werden sollten.

1Eine Beschreibung der Erhebung und des Datensatzes findet sich in Abschn. 16.1.
272 S. Scheren und M. Hülsbeck

Tab. 16.1  Kennzahlen der Clusteranalyse und deskriptive Statistiken


Babyboomer (BB) Generation X Generation Y Total
Diskriminanzanalyse
BB 168 <1 0 168
% 90 10 0 100
X 12 125 <1 137
% 19 80 1 100
Y 0 2 90 92
% 0 2 98 100
Total 180 127 90 397
% 45 32 23 100
Deskriptive Merkmale
Anzahl Kinder 1,62 1,45 0,22 1,09
Betriebszugehörigkeit 19,79 12,91 4,14 12,28
Kinder 0,80 0,67 0,15 0,54
Männlich 0,91 0,75 0,62 0,76
Verheiratet 0,85 0,72 0,17 0,58
Generationsgrenzen 1956–1962 1963–1976 1977–1999 1956–1999

16.3 Generationsspezifische Arbeitswerte und


Mitarbeiterbindung

Die bisherige empirische Forschung postuliert einen Zusammenhang zwischen genera-


tionsspezifischen Arbeitswerten und HRM. So plädieren Sassa et al. (2007) dafür, die
Werte, Vorstellungen und Verhaltensweisen der einzelnen Generationen im Unterneh-
mensmanagement zu berücksichtigen, weisen aber auch auf die Notwendigkeit weite-
rer Forschung hin, die die Umsetzung solcher Maßnahmen unterstützt. Cennamo und
Gardner (2008) zeigen, dass die Generation Y andere Werte befürwortet als die älteren
Generationen. Sie argumentieren, dass die Berücksichtigung von Arbeitswerten die
Zufriedenheit und Bindung von Mitarbeitern erhöht.

16.3.1 Arbeitswerte

Arbeitswerte sind „Konzeptionen des Wünschenswerten in der Arbeit, die dem Arbeits-
handeln Orientierung verleihen. So betrachtet sind die Arbeitswerte kognitiv-reflektierte
Motive“ (Nerdinger et al. 2014). Diese Motive lassen sich in soziale, extrinsische, presti-
geträchtige und intrinsische Werte kategorisieren (Ros et al. 1999). Die oben definierten
16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM 273

Generationen weisen unterschiedliche Arbeitswerte auf. Diese werden im Folgenden


zusammenfassend dargestellt.

16.3.1.1 Babyboomer
Die Generation der Babyboomer ist für eine schnelle und zielorientierte Auffassungs-
gabe bekannt (SHRM 2004). Des Weiteren zeigt sie ausgeprägte Führungsqualitäten (Yu
und Miller 2003). Dies wird als ein Grund dafür gesehen, dass aktuell zahlreiche Baby-
boomer eben diese Positionen bekleiden (Sirias et al. 2007). Babyboomer sind weni-
ger offen gegenüber Veränderungen, weshalb sie für neue Materien, wie beispielsweise
technischen Fortschritt, weniger aufgeschlossen sind (Taylor und Walker, 1994; Kumar
und Lim 2008). Eine strukturierte Arbeitsweise ist ein weiteres Merkmal der Babyboo-
mer (Half 2011). Für sie ist es weniger von Bedeutung, von ihren Kollegen gemocht
zu werden (Half 2011); dennoch legen sie meistens einen hohen Wert auf ein stabiles
Arbeitsumfeld und haben großes Interesse an Teamarbeit (Sirias et al. 2007; Yu und Mil-
ler 2003). Babyboomer weisen zudem des Öfteren ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken
auf (Fintz 2014). Vor diesem Hintergrund zeichnen sich Angehörige dieser Generation
durch eine hohe Arbeitsbereitschaft, eine ausgeprägte Arbeitsmoral und einen aufopfe-
rungsvollen Einsatz für den persönlichen Erfolg aus (Jorgensen 2003). Angehörige der
Babyboomer-Generation stehen ihrem Unternehmen meist loyal gegenüber. Gründe für
einen Unternehmenswechsel kann u. a. ein Mangel an Karrieremöglichkeiten im bishe-
rigen Unternehmen oder der Wunsch nach Verringerung der Arbeitszeit sein (Jorgensen
2003). Innerhalb der Unternehmen akzeptieren sie Autoritäten und bevorzugen es häufig,
klare Anweisungen von ihren Vorgesetzten zu bekommen (Yu und Miller 2003). Finan-
zielle Unabhängigkeit, Gesundheit und Zufriedenheit mit den zugeteilten Aufgaben sind
u. a. wichtige Aspekte innerhalb der Babyboomer-Generation (Valueoptions, 2010).

16.3.1.2 Generation X
Angehörige der Generation X weisen meist eine starke Persönlichkeit auf und haben
große Ambitionen, leitende Positionen innerhalb des Unternehmens zu besetzten (SHRM
2004). Das Verhältnis zu Autoritäten ist in vielen Fällen jedoch belastet, da die Ange-
hörigen der Generation X ihren Vorgesetzten gegenüber häufig misstrauisch sind, allge-
mein eine kritische Grundhaltung gegenüber Autoritäten pflegen und eine pessimistische
Grundeinstellung vertreten (Kring 2013). Angehörige der Generation X sind tendenziell
eher Einzelgänger, die es bevorzugen, alleine anstatt im Team zu arbeiten (Booth 1999).
Mitglieder der Generation X sind sich ihres Handelns meist bewusst und reflektieren
regelmäßig ihre Leistung (Steinle und Wippermann 2003). Sie weisen in der Regel eine
hohe Arbeitsbereitschaft auf und agieren am effektivsten innerhalb klar definierter Struk-
turen (SHRM 2004; McCrindle 2004). Die Generation X ist die erste Generation, die an
einer lebenslangen Weiterbildung („Life-Long Learning“) interessiert ist (Bogdanowicz
und Bailey 2002). Zudem zeigen auch Angehörige der Generation X ausgeprägtes Kon-
kurrenzdenken (Kring 2013). Dennoch goutieren sie ein positives Arbeitsumfeld sowie
herausfordernde Aufgaben (Rodriguez et al. 2003; Joyner 2000). Auf der sozialen Ebene
274 S. Scheren und M. Hülsbeck

ist für die Generation X regelmäßig Beständigkeit innerhalb ihres Berufs- und Privatle-
bens sowie die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber von besonderer Bedeutung (Roth-
lauf 2014; SHRM 2004). Gründe, die die Mitglieder der Generation X dazu bewegen
können, das Unternehmen zu verlassen, sind beispielsweise mangelnde Zufriedenheit im
Job oder eine zu geringe Entlohnung (Jorgensen 2003). Aufgrund der durch Minimalis-
mus geprägten Kindheit ist es den Angehörigen der Generation X häufig wichtig, ihren
beruflichen Erfolg und die damit verbundenen Statussymbole nach außen hin zu kom-
munizieren. Daher können Prestigeobjekte eine hohe Bedeutung für Angehörige dieser
Jahrgänge haben (Appelbaum et al. 2005).

16.3.1.3 Generation Y
Die Generation Y ist in der Regel neugierig und interessiert an dem, was sie macht
(McCrindle 2004). Ihr hoher Drang zur Selbstverwirklichung trägt dazu bei, dass sie
häufig als egoistisch wahrgenommen wird (Parment 2013). Obwohl die Generations-
angehörigen meist klare Vorgaben vonseiten der Vorgesetzten schätzen (Martin 2005),
folgen sie nicht mehr nur den Anweisungen. Sie hinterfragen häufig ihre Tätigkeiten
und geben sich in vielen Fällen nicht mit Aufgaben zufrieden, ohne zusätzliche Infor-
mationen über deren Sinn zu erhalten (Schneck 2010). Die Vertreter der Generation Y
haben hohe Erwartungen an ihre eigene Leistung und auch an ihre potenziellen Arbeit-
geber (Schneck 2010). Auf der sozialen Ebene des Arbeitnehmerverhältnisses spielen ein
positives Betriebsklima und ein kollegiales Umfeld innerhalb des Unternehmens für die
meisten Angehörigen dieser Generation eine große Rolle (Kienbaum 2009/2010). Durch
ihre hohe Leistungsbereitschaft und ihr ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein sind
Mitarbeiter der Generation Y tendenziell eher daran interessiert, herausfordernde Auf-
gaben zu übernehmen (Jorgensen 2003). Die beste Leistung erbringen sie, wenn ihnen
die übertragenen Aufgaben Spaß bereiten und sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren
können. Außerdem haben sie überwiegend das Bedürfnis, sich als Teil eines Ganzen zu
sehen und durch ihre Arbeit einen direkten Beitrag zum Unternehmenserfolg beizusteu-
ern (Glass 2007). Von Beginn an möchten sie aktiv in die Gestaltungs- und Entschei-
dungsprozesse im Unternehmen einbezogen werden (Rump und Eilers 2006; Kienbaum
2009/2010). Mitarbeiter der Generation Y sind oft weniger loyal gegenüber ihrem
Arbeitgeber (Parment 2013). Des Weiteren zeigt sich, dass der Aspekt des Life-Long
Learning auch für diese Generation zum Teil elementar ist (PwC 2008). Als einen der
effektivsten Motivationsanreize sehen Angehörige der Generation Y ein ausgewogenes
Verhältnis von Arbeit und Freizeit (Work-Life-Balance). Die Generation Y kann durch
immaterielle Anreize motiviert werden (DGFP 2011). Die für diese Studie relevanten
Generationsspezifika und ihr Zusammenhang zu den Arbeitswerten und dem Mitarbeiter-
bindungsmanagement werden in Tab. 16.4 in Abschn. 16.4.2. zusammengefasst.
16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM 275

16.3.2 Anforderungen an ein generationsspezifisches HRM

Die Existenz von Generationsunterschieden und ihre Auswirkungen auf das HRM wur-
den bereits in zahlreichen Studien untersucht (u. a. Kunreuther 2003; Lester et al. 2012;
Koij et al. 2013; Wong et al. 2008; Lyons und Kuron, 2014; Feyerherm und Vick 2005).
Es zeigte sich, dass das Alter (!) tatsächlich einen dezidierten Einfluss auf die Wirkung
von HR-Praktiken bezüglich der Mitarbeiterzufriedenheit und Performance hat (Kooij
et al. 2013). Dies führte zum Postulat eines generationsspezifischen HRM (u. a. Lyons
und Kuron 2014; Zemke et al. 2013; Twenge und Campbell 2008). Zemke et al. (2013)
entwickelten daraufhin fünf Richtlinien („ACORN Imperatives“2 ) für ein Multigenerati-
onenmanagement:

• Generationsunterschiede sollten zum Vorteil des Unternehmens genutzt werden.


• Mitarbeiter sollen die Freiheit besitzen, ihre Aufgaben eigenständig einzuteilen.
• Der Managementstil muss variabel sein, um sich den unterschiedlichen Bedürfnissen
anzupassen.
• Die Ideen und die Kompetenz der Mitarbeiter sollen respektiert werden. Entscheidun-
gen werden nicht mehr nur in der Chefetage gefällt.
• Die Mitarbeiterbindung soll durch effizientes Retention-Management gepflegt wer-
den.

Es fällt auf, dass sich die ersten vier Richtlinien auf vier generelle Managementprin-
zipien (Diversity, Koordination, Führungsstil, Kultur) beziehen, während als konkret
umsetzbares Element nur die Mitarbeiterbindung genannt wird. Sie stellt damit einen
zentralen Hebel bei der Einführung generationsspezifischen HRMs dar.

16.3.3 Mitarbeiterbindung

Das primäre Ziel des Mitarbeiterbindungsmanagements ist es, Leistungs- und Potenzi-
alträger (engl. High Potentials) sowie Wissensträger langfristig an ein Unternehmen zu
binden (Braincourt 2012). Die Quantifizierbarkeit des Erfolgs des Managements kann
sich u. U. schwierig gestalten. Eine niedrige Fluktuationsrate eines Unternehmens kann
jedoch als Erfolgsindikator herangezogen werden (Braincourt 2012).
Das Zusammenspiel unterschiedlicher Anreize ist für eine erfolgreiche Mitarbeiter-
bindung elementar (Braincourt 2012). Die vier wesentlichen Anreizkategorien liegen im
Bereich der finanziellen, sozialen sowie institutionellen Anreize und der Arbeit selbst.

2Accommodate employees’ differences. Create workplace choices. Operate from a sophisticated


management style. Respect competence and initiative. Nourish retention. Improve employee reten-
tion.
276 S. Scheren und M. Hülsbeck

Tab. 16.2  Methoden des Mitarbeiterbindungsmanagements


Finanzielle Anreize Soziale Anreize Institutionelle Anreize Die Arbeit selbst
Leistungsbezogene Flache Hierarchien Work-Life-Balance Arbeitsinhalt
Vergütung Kommunikation Flexible Arbeitszeit Identifikation
Tantiemenzahlung Unternehmenskultur Variable Karriere Intrinsische Motivation
Aktienoptionen Wertschätzung Unternehmensimage Herausfordernde Arbeit
Betriebliche Altersvor- Arbeitsplatzsicherheit Entwicklungsmöglich-
sorge keiten

Die Kerninhalte der einzelnen Maßnahmen werden in Tab. 16.2 dargestellt (dazu aus-
führlich Braincourt 2012).

Zusammenfassend sei also noch einmal festgehalten:

1. Die Arbeitswerte der verschiedenen Generationen unterscheiden sich zum Teil


deutlich (Scheren 2016).
2. Die bisherige Forschung (Cennamo und Gardner 2008; Twenge 2010; Zemke
et al. 2013) empfiehlt generationsspezifisches HR als Instrument zur Erhöhung
von Arbeitszufriedenheit und Mitarbeiterbindung.
3. Der differenzierte Einfluss generationsspezifischer Arbeitswerte auf die Wirk-
samkeit von Bindungsmaßnahmen wurde bisher konzeptionell hergeleitet, aber
bisher noch nicht empirisch überprüft.

16.4 Studie und Ergebnisse

Nachdem in Abschn. 16.2 bereits gezeigt wurde, dass die analysierten Unterschiede


tatsächlich generationsbedingt sind, werden im Folgenden die Auswirkungen der
Generationsunterschiede auf die Arbeitswerte und Präferenzen hinsichtlich Mitarbeiter-
bindungsmaßnahmen untersucht. Hierfür werden die Mittelwerte der Antworten der ein-
zelnen Generationen gegenübergestellt und verglichen.

16.4.1 Datenbeschreibung

Die Studie beruht auf einer Befragung von insgesamt 3973 Fach- und Führungskräften
sowie High Potentials, die im Juni 2015 über die Mitgliedsdatenbank eines Führungs-
kräfteverbandes angesprochen wurden. Insgesamt wurden 7100 Personen kontaktiert,
was einer typischen Rücklaufquote von 5,6 % entspricht. Der Fragebogen umfasste 118

3Deskriptive Statistiken zum Teilnehmerfeld finden sich in Tab. 16.1.


16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM 277

Fragen aus größtenteils validierten Befragungsinstrumenten. Zur Erfassung der Arbeits-


werte der Teilnehmer wurde eine angepasste Version des Work Value Survey verwendet
(Ros et al. 1999). Tab. 16.3 zeigt eine Übersicht des Instruments.
Das Instrument zur Erfassung der Effizienz von Mitarbeiterbindungsmaßnahmen
wurde basierend auf Braincourt (2012) entwickelt und im Rahmen eines Pretests vali-
diert. Es ergeben sich insgesamt zwölf Dimensionen:
1. Wertschätzung
2. Unternehmenskultur
3. Tantieme
4. Lob
5. Integre Arbeitsweise
6. Individuelle Aufgaben
7. Herausfordernde Arbeit
8. Gehalt
9. Flexible Arbeitszeitmodelle
10. Flache Hierarchien
11. Altersvorsorge
12. Aktienoptionen

Fasst man die Hypothesen des bisherigen empirischen Forschungsstandes zusammen,


können den einzelnen Generationen unterschiedlich geeignete Mitarbeiterbindungsmaß-
nahmen und individuelle Arbeitswerte zugewiesen werden. Tab. 16.4 zeigt eine Über-
sicht der postulierten Präferenzen (Scheren 2016). Es zeigt sich, dass – basierend auf den
bisherigen Studien – keine Unterschiede zwischen den Arbeitswerten der Babyboomer
und der Generation X erwartet werden, und dass diese beiden Gruppen bezüglich finan-
zieller Bindungsmaßnahmen ebenfalls vergleichbar sind. Betrachtet man die nicht finan-
ziellen Anreize, so fällt auf, dass Babyboomer und Generation Y sich hier sehr ähnlich
sein sollen. Dies ist insofern interessant, als dass in der Praxis oft von Konflikten gerade

Tab. 16.3  Übersicht Work Value Survey


Werte Items
Soziale Werte Einen Beitrag für die Menschen und die Gesellschaft
leisten
Mit Menschen arbeiten
Sozialer Kontakt zu den Kollegen
Extrinsische Werte Ein gutes Gehalt und gute Arbeitsbedingungen
Beschäftigungssicherheit haben
Prestigeträchtige Werte Entscheidungsgewalt über andere Menschen haben
Ein prestigeträchtiger, hoch angesehener Job
Intrinsische Werte Eine interessante und abwechslungsreiche Arbeit
278 S. Scheren und M. Hülsbeck

Tab. 16.4  Postulierte Generationspräferenzen hinsichtlich der Arbeitswerte und Mitarbeiterbin-


dungsmaßnahmen
Arbeitswerte/ Babyboomer Generation X Generation Y
HRM-Methode
Arbeitswerte Entscheidungsgewalt über andere Menschen Eine interessante und
haben abwechslungsreiche
Ein prestigeträchtiger, hoch angesehener Job Arbeit
Ein gutes Gehalt und gute Arbeitsbedingungen Einen Beitrag für die
Beschäftigungssicherheit Menschen und die
Gesellschaft leisten
Mit Menschen arbeiten
Sozialer Kontakt mit
den Kollegen
Mitarbeiterbindung Gehalt Flache Hierarchien
Tantieme Unternehmenskultur
Aktienoptionen Wertschätzung
Altersvorsorge Lob
Flache Hierarchien Flexible Arbeitszeitmo- Integre Arbeitsweise
Unternehmenskultur delle Individuelle Arbeitsauf-
Wertschätzung gaben
Lob Herausfordernde Arbeit

dieser beiden Generationen berichtet wird. Die Arbeitswerte der Generation Y erscheinen
hier kongruent mit den vorgeschlagenen Bindungsmaßnahmen. Es gilt nun zu überprü-
fen, inwiefern diese Hypothesen sich empirisch bestätigen lassen.

16.4.2 Arbeitswerte

Im ersten Schritt werden auf Basis des generierten Datensatzes die Arbeitswertpräferen-
zen der einzelnen Generationen untersucht. Abb. 16.1 zeigt einen Mittelwertvergleich4
der Generationen.
Bei der empirischen Überprüfung wurde deutlich, dass es, anders als erwartet,
keine signifikanten Unterschiede zwischen den Generationen gibt, und dass die zumin-
dest tendenziell feststellbaren Unterschiede nicht unbedingt den erwarteten Zusam-
menhängen entsprechen (Scheren 2016). Die größte Differenz zeigt sich bei der Frage
nach einem prestigeträchtigen, hoch angesehenen Job. Hierauf legen insbesondere die
Generation-Y-Mitglieder Wert, wobei sich die anderen Generationen nur geringfügig
unterscheiden. Ebenfalls legt die Generation Y den meisten Wert auf ein gutes Gehalt

4Die folgenden Ausführungen beruhen auf zusätzlichen statistischen Tests (t-Tests, Regressions-
analysen). Aus Platzgründen wurde auf deren Darstellung verzichtet. Die dargestellten Abbildun-
gen übermitteln die Intuition der Argumentation in vergleichbarer und leicht nachvollziehbarer
Weise.
16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM 279

Sozialer Kontakt mit Kollegen

Mit Menschen arbeiten

Entscheidungsgewalt über andere Menschen

Beitrag für Menschen und Gesellschaft leisten

Interessante, abwechslungsreiche Arbeit

Prestigeträchtiger, hoch angesehener Job

Gutes Gehalt und gute Arbeitsbedingungen


Babyboomer
Generation X

Beschäftigungssicherheit GenerationY

0.00 0.50 1.00 1.50 2.00 2.50 3.00

Abb. 16.1  Generationsunterschiede bei den Präferenzen der Arbeitswerte. (Anmerkung:


1 = „sehr wichtig“ bis 4 = „nicht so wichtig“)

und gute Arbeitsbedingungen und sozialen Kontakt mit den Kollegen. Die Babyboomer
zeigen am deutlichsten Interesse an Beschäftigungssicherheit und den Wunsch, einen
Beitrag für Menschen und Gesellschaft zu leisten. Die Generation X zeigt sich hinge-
gen in den meisten Fällen einig mit einer der anderen Generationen bzw. unterscheidet
sich nur gering von den anderen Werten. Lediglich bei dem Aspekt, einer interessanten
und abwechslungsreichen Arbeit nachzugehen, heben sie sich minimal von den ande-
ren Generationen ab. Insgesamt muss die Relevanz generationsspezifischer Arbeitswerte
bei Fach- und Führungskräften infrage gestellt werden. Die Ergebnisse weisen eindeu-
tig darauf hin, dass daraus abgeleitete Bindungsmaßnahmen nicht unreflektiert aus der
populären Literatur übernommen werden können. Deutlichstes Beispiel hierfür ist die
kontraintuitive Bedeutung von Prestige in den einzelnen Generationen.
280 S. Scheren und M. Hülsbeck

16.4.3 Bindungsmaßnahmen

Im nächsten Schritt werden die generationsspezifischen Präferenzen hinsichtlich der


Mitarbeiterbindungsmaßnahmen untersucht. Abb. 16.2 stellt diese zusammenfassend
dar. Vergleicht man die gefundenen Unterschiede mit den aus der Literatur abgeleiteten
Präferenzen, so zeigen sich deutliche Unterschiede. Die eindeutigsten Generationsunter-
schiede finden sich bei den Anreizen des Gehaltes und der Altersvorsorge. Anders als
erwartet zeigen zudem die Babyboomer großes Interesse an einer integren Arbeitsweise
und flachen Hierarchien. Ähnlich wie bei den Arbeitswerten zeigen sich die Mitglieder
der Generation X in den meisten Fällen einig mit den Präferenzen einer der anderen
Generationen. Jedoch weisen auch sie auf Basis der Untersuchung andere Präferenzen
auf als erwartet. So schreiben sie den Anreizen der Unternehmenskultur, der herausfor-
dernden Arbeit und den Aktienoptionen im Vergleich zu den anderen Generationen den
größten Wert zu. Lediglich die Ergebnisse der Generation Y entsprechen größtenteils den
Erwartungen. Im Vergleich zu den älteren Generationen sehen sie in den Anreizen der
Wertschätzung, des Lobs und der individuellen Arbeitsaufgaben die größte Bedeutung.
Aspekte wie Gehalt oder flache Hierarchien haben im Gegensatz dazu für sie keine hohe
Relevanz.

Wertschätzung

Unternehmenskultur

Tantieme

Lob

Integre Arbeitsweise

Individuelle Arbeitsaufgaben

Herausfordernde Arbeit

Gehalt

Flexible Arbeitszeitmodelle

Flache Hierarchien

Altersvorsorge

Aktienoptionen

0.00 1.00 2.00 3.00 4.00 5.00 6.00

Babyboomer Generation X Generation Y

Abb. 16.2   Generationspräferenzen hinsichtlich Retention-Managementmaßnahmen. (Anmer-


kung: 1 = „stimme gar nicht zu“ bis 6 = „stimme voll zu“)
16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM 281

Aufbauend auf den Ergebnissen kann festgehalten werden, dass die größten gene-
rationsspezifischen Differenzen hinsichtlich des Gehaltes und der Altersvorsorge vor-
liegen. Zudem unterscheiden sich die präferierten Anreize der Generation Y signifikant
von denen anderer Generationen hinsichtlich des Aspektes der Wertschätzung und dem
Wunsch nach flexiblen Arbeitszeitmodellen und individuellen Arbeitsaufgaben.

16.5 Praxisempfehlung und Fazit

Basierend auf den generationsspezifischen Unterschieden innerhalb der Arbeitswerte und


der Mitarbeiterbindungsmaßnahmen sowie den Unterschieden der Präferenzen der Gene-
ration Y zu den anderen Generationen können Praxisempfehlungen für ein generations-
spezifisches HRM abgeleitet werden. Zu diesem Zweck werden in Tab. 16.5 noch einmal
die generationsspezifischen Werte und Bindungsmaßnahmen zusammengefasst und hier-
auf aufbauend Empfehlungen für das HRM abgeleitet.
Es zeigt sich, dass eine Anpassung speziell des Vergütungsmanagements, der Dienst-
leistungs- und Sozialangebote, der Zielvereinbarungsgespräche und der von Unter-
nehmen gesetzten Mitarbeiterbindungsmaßnahmen ein generationsspezifisches HRM
ermöglicht. Um langfristig auch die jüngste Generation Y an das Unternehmen zu bin-
den und zu motivieren, sind neben den genannten Anpassungen auch ein regelmäßiger,
persönlicher Austausch zwischen Mitarbeiter und Führungskraft und eine Anpassung der
Arbeitszeitmodelle empfehlenswert.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Untersuchung, dass Generationsunterschiede
Auswirkungen auf die Präferenzen hinsichtlich der Mitarbeiterbindungsmaßnahmen
haben. Zudem offenbaren sich, wenn auch geringere, Unterschiede in den individuellen
Arbeitswerten der einzelnen Generationen. Aus diesem Grund ist es zu empfehlen, diese
innerhalb eines generationsspezifischen HRMs zu berücksichtigen. Da jedoch eine Dif-
ferenz zwischen den allgemein erwarteten und den gefundenen Unterschieden liegt, ist
es zudem empfehlenswert, die individuellen Vorstellungen und Wünsche der einzelnen
Arbeitnehmer genauer zu betrachten.
Die diesem Beitrag zugrunde liegende Studie bietet eine gute Basis für weitere Unter-
suchungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen Generationsspezifika und ihren
Auswirkungen auf die Wirksamkeit und Effizienz weiterer spezieller HRM-Methoden
(Scheren 2016).
Tab. 16.5  Generationsspezifisches HRM
282

Mitarbeiterbindungsmaßnahmen HRM Insbesondere relevant für die Gene-


und Arbeitswerte ration …
Generationsspezifische Unter- Gehalt Anpassung der leistungsbezogenen Babyboomer
schiede Vergütung bspw. durch eine Anpas- Generation X
sung des variablen Gehaltanteils
Altersvorsorge Anpassung des Dienstleistungs-
und Sozialangebotes des Unterneh-
mens bspw. durch transparentere
Altersvorsorgeangebote
Interessante, abwechslungsreiche Optimierung der Zielvereinba- Babyboomer
Arbeit rungsgespräche zum Abgleich Generation X
der zu leistenden Arbeit mit dem Generation Y
Erwartungshorizont des Arbeitneh-
mers
Prestigeträchtiger, hoch angesehe- Anpassung der immateriellen und
ner Job materiellen Anreize zur Statuskom-
munikation innerhalb und außer-
halb des Unternehmens in Form
von Titeln o. ä.
(Fortsetzung)
S. Scheren und M. Hülsbeck
Tab. 16.5   (Fortsetzung)
Mitarbeiterbindungsmaßnahmen HRM Insbesondere relevant für die Gene-
und Arbeitswerte ration …
Generation Y Unterschiede Wertschätzung Einführung von regelmäßigen Generation Y
Feedbackgesprächen und regelmä-
ßiger Anerkennung der Mitarbeiter-
leistungen
Individuelle Arbeitsaufgaben Zielvereinbarungsgespräche zur
Optimierung der Arbeitsaufgaben
und der Übertragung von eigenver-
antwortlichen Teilbereichen an die
Mitarbeiter
Flexible Arbeitszeitmodelle Anpassung der Arbeitszeitmodelle
durch die Einführung von Gleitzei-
ten, Home Office oder Sabbaticals
Sozialer Kontakt mit Kollegen Optimierung der Arbeitsbedin-
gungen durch die Einführung von
Großraumbüros, Pausenräumen
o. ä.
Gutes Gehalt und gute Arbeitsbe- Anpassung der leistungsbezoge-
dingungen nen Vergütung bspw. durch eine
Anpassung des variablen Gehal-
16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM

tanteils und die Optimierung von


Feedbackgesprächen, in denen
die Mitarbeiter Verbesserungsvor-
schläge bzgl. der Arbeitsbedingun-
gen einreichen können
283
284 S. Scheren und M. Hülsbeck

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Über die Autoren

Susanne Scheren studierte Management und Economics


an der Ruhr-Universität Bochum und an der University of
California Los Angeles (UCLA) sowie Management an der
Universität Witten/Herdecke. Seit 2014 ist sie Doktorandin
am Wittener Institut für Familienunternehmen am Lehrstuhl
für Personal und Organisation mit einem Forschungsschwer-
punkt im Bereich generationsspezifisches Human-Resource-
Management.

Prof. Dr. Marcel Hülsbeck studierte Personalwesen,


Unternehmensführung und Teamentwicklung an der Uni-
versität Augsburg sowie Soziale Verhaltenswissenschaften
und Philosophie an der Fernuni Hagen. Nach Promotion
und Habilitation am Lehrstuhl für Unternehmensführung
und Organisation in Augsburg vertrat er zunächst den
Lehrstuhl für Arbeit, Organisation und Personal an der
Universität Trier. Seit 2013 ist er Inhaber des WIFU-
Stiftungslehrstuhls für Personal und Organisation an der
16  Generationsspezifische Arbeitswerte, Mitarbeiterbindung und HRM 287

Universität Witten/Herdecke. Er forscht unter anderem zum Personalmanagement in


Familienunternehmen, Nachfolge in Familienunternehmen sowie zur Corporate Gover-
nance in kleinen und mittleren Unternehmen.
Strategische Personalplanung
Cyrus Asgarian und Nina Feuersinger
17

Zusammenfassung
Die richtigen Mitarbeiter mit den richtigen Skills zur richtigen Zeit am richtigen Ort
zu richtigen Kosten, das ist das Ziel der strategischen Personalplanung. Die grund-
legende Systematik in der Erfassung des Personalbedarfs und die Gegenüberstellung
des aktuellen Bestands an Mitarbeitern hinsichtlich Mengen (FTE, Köpfe), Skills und
Kompetenzen werden im Folgenden dargestellt. Die entsprechenden Gap-Analysen
und die Ableitung von zielgerichteten, organisationsweiten Maßnahmen bilden den
Abschluss des inhaltlichen Modellvorgehens der strategischen Personalplanung. Spe-
zifische, weiterführende Dimensionen des Reifegrads werden aufgezeigt, wie zum
Beispiel die Ermittlung von In- und Outsourcing-Potenzialen sowie die Nutzung von
Szenarioanalysen und die Einbeziehung externer Talentmarktperspektiven.

Inhaltsverzeichnis

17.1 Strategische Personalplanung – Ziele und Nutzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290


17.2 Grundlegende Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
17.3 Simulation des Personalbestands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
17.4 Modellierung des Personalbedarfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
17.5 Gap-Analyse und Maßnahmenableitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

C. Asgarian (*) 
Mitglied der Geschäftsleitung/ Director Kienbaum Consultants International GmbH,
Frankfurt a. M., Deutschland
E-Mail: [email protected]
N. Feuersinger 
Projektleiter Kienbaum Consultants International GmbH, Projektleiterin,
Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 289


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_17
290 C. Asgarian und N. Feuersinger

17.6 Ausblick: Next Level strategische Personalplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300


17.7 Einführung von strategischer Personalplanung im Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

17.1 Strategische Personalplanung – Ziele und Nutzen

Die strategische Personalplanung verfolgt im Wesentlichen das Ziel, sicherzustellen, dass


die Mitarbeiter und entsprechende Skills und Kompetenzen heute und in Zukunft zur
Erreichung der strategischen Unternehmensziele vorhanden und einsetzbar sind. Im Spe-
ziellen wird hierbei Nutzen in mehreren Dimensionen aus Sicht des Unternehmens und
Topmanagements geschaffen:

• Transparenz über die aktuelle Personalstruktur in Mengen, Kostenarten und Fähigkei-


ten,
• kalkulierbare Personalaufbau- und -abbauszenarien,
• Verringerung der Abhängigkeit von externen Mitarbeitern,
• Identifizierung strategischer Engpasspositionen,
• Entwicklung und adäquater Einsatz des Personals im Hinblick auf künftige
Geschäftsanforderungen,
• proaktive Einleitung von Personalmaßnahmen, zum Beispiel Nachfolgeplanung, Rek-
rutierung, Entwicklung.

In Summe führt strategische Personalplanung dadurch zu einer Erhöhung von Leistungs-


fähigkeit und Produktivität der Organisation sowie einer Verringerung von personalbezo-
genen operativen sowie Kostenrisiken.
Auch wenn strategische Personalplanung vornehmlich auf die Fähigkeiten und Fertig-
keiten von Mitarbeitern und weniger auf Motivations- und Einstellungsaspekte abzielt,
so lassen sich dennoch positive motivationale Effekte für Mitarbeiter und mittlere Füh-
rungskräfte ableiten aufgrund von:

• Standortbestimmung für Mitarbeiter auf Basis einheitlicher Anforderungen,


• Transparenz für Mitarbeiter hinsichtlich Erwartungen und Entwicklungsmöglichkei-
ten im eigenen Unternehmen,
• Überblick über die zukünftigen Anforderungen an Skills und Kompetenzen des Top-
managements,
• übergeordnetem Bedarf an Skills und Kompetenzen – systematische Maßnahmen
ermöglichen die Ableitung individueller Qualifizierung, Rekrutierung und des Staffings.

Eine aktuelle Studie zeigt, dass nur ca. 30 % der deutschen Unternehmen, die einem
hohen Druck auf die Veränderung ihres Personalkörpers unterliegen, die notwendi-
gen Voraussetzungen für eine strategische Personalplanung geschaffen haben, wie zum
17  Strategische Personalplanung 291

Workforce Transformation als wesentliche Veränderung des Personal- Workforce Transformation wird für uns in Zukunft zu einem maßgeblichen
körpers hat in unserem Unternehmen eine hohe Relevanz. Wettbewerbsvorteil.

heute 22% 38% 18% 13% 8% in Zukuft 26% 44% 20% 9%


Trifft voll Trifft gar Trifft voll Trifft gar
und ganz zu nicht zu und ganz zu nicht zu

Abb. 17.1  Kienbaum Workforce Transformation Studie 2015. (Quelle: Kienbaum)

Beispiel einen Skill-Katalog oder ein Rollen- bzw. Jobfamilienmodell (Kienbaum Work-
force Transformation Studie 2015). Gleichzeitig wird übergreifend festgestellt, dass die
Notwendigkeit der systematischen Steuerung des Personalkörpers bereits heute bei 80 %
der Unternehmen eine hohe Relevanz hat. Neun von zehn Unternehmen benennen Flexi-
bilität und Transformationsfähigkeit als einen zukünftigen entscheidenden Wettbewerbs-
vorteil (vgl. Abb. 17.1).
Damit einher gehen die Notwendigkeit eines hohen Reifegrads entsprechender Pro-
zesse und Strukturen sowie eine entsprechende Readiness der Führungskräfte und des
Personalbereichs. Die strategische Personalplanung hilft dabei als notwendige Bedin-
gung im ersten Schritt, das Zielbild des Personalkörpers überhaupt zu benennen und ent-
sprechende Veränderungen systematisch zu steuern.

17.2 Grundlegende Systematik

Strategische Personalplanung folgt typischerweise einem vierstufigen Ansatz (vgl.


Abb. 17.2), angefangen bei der Bestandsanalyse und -fortschreibung, über die Ermittlung
des Bedarfs bis hin zur Analyse von Unter- bzw. Überdeckungen und einer anschließen-
den Maßnahmenableitung.
Dabei ist im ersten Schritt die Schaffung von Transparenz über den heutigen Per-
sonalkörper notwendig, das heißt eine Erfassung der Skills, Kompetenzen, Tätigkeiten
und Qualifikationen der Mitarbeiter. Des Weiteren werden Stammdaten über die Mitar-
beiter erfasst, wie zum Beispiel Alter, Betriebszugehörigkeit, Geschlecht, Standort und
die organisatorische Aufhängung. Diese Bestandsdaten werden für die Folgejahre auf
Basis unterschiedlicher Parameter, zum Beispiel der angenommenen Fluktuation, extra-
poliert und fortgeschrieben.
Im zweiten Schritt werden die Personalbedarfe der folgenden Jahre abgeleitet.
Einen wesentlichen Input stellen dabei die strategischen Unternehmens- und Bereichs-
ziele dar. Relevant sind alle Bestandteile der Strategie, die eine direkte Auswirkung auf
die Größe und die Art des Personalkörpers haben. Die betrachteten Variablen können
unterschiedliche Dimensionen umfassen und lassen sich in einer Würfellogik darstellen
(vgl. Abb. 17.3). Der Umfang und die Komplexität der Kriterien hängen in der Regel
vom Reifegrad der vorhandenen Daten und entsprechender Systeme ab.
292 C. Asgarian und N. Feuersinger

1 Bestandssimulation 2 Bedarfsmodellierung
» Verknüpfung mit IT-Roadmap/Budget
und -Strategie
» Abbildung notwendiger Rollen- und
Technologie-Shifts
» Blick auf Gesamtkapazität, inkl.
externer Ressourcen

» Durchführung von 3 Gap-Analyse


Bestandssimulationen
» Berücksichtigung von
Fluktuationsparametern
(Kündigungen, …) » Systematische Analyse von Unter- und
Überdeckungen
» Identifikation von Kapazitätsrisiken
4 Ableitung von Maßnahmen

» Systematische Ableitung der Maßnahmen i.


S. von Qualifizierung, Einstellungen, externen
Einsatz etc.

Abb. 17.2  Strategische Personalplanungssystematik. (Quelle: Kienbaum)

Worforce-Dimensionen

(Risiko) Phase
Management-
Produktivität prozess

Kosten/FTE

Kontrolle
Skills Steuerung
Planung
Menge Transparenz

GB1 GB3 GB … … … … Land 2 … … Länder/Einheiten


GB2 GB4 Land 1 Land 3 … Land z

Abb. 17.3  Dimensionen der Personalplanung. (Quelle: Kienbaum)

In Schritt drei erfolgt die Analyse der Lücken zwischen Bestand und Bedarf.
Ziel ist die systematische Analyse von Unter- und Überdeckungen bezogen auf die
verschiedenen Variablen, wie zum Beispiel Mitarbeiterkapazitäten pro Region oder
Tätigkeit, oder bezogen auf unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen. Dabei
steht insbesondere auch die Identifikation von Kapazitätsrisiken im Vordergrund.
Hieraus ergibt sich ein „Flickenteppich“ über die betrachteten Jahresscheiben wie in
Abb. 17.3 dargestellt.
Im vierten Schritt werden Maßnahmen identifiziert, um die Lücken zu schlie-
ßen; dabei lassen sich über Einstellungen und Qualifizierung bzw. Versetzung
17  Strategische Personalplanung 293

Rollenmodell Kompetenzmodell Skill-Katalog

» Das Rollenmodell beschreibt und » Das Kompetenzmodell beschreibt » Der Skillkatalog beschreibt und
systematisiert die üblichen und systematisiert die systematisiert die notwendigen
Aufgabenstellungen notwendigen persönlichen und fachlichen und methodischen
» Es soll perspektivisch in sozialen Fähigkeiten Fähigkeiten
verschiedenen Personal- » Es findet ausschließlich » Er findet Anwendung in der
prozessen (z. B. Staffing) Anwendung in den Rollenbeschreibung (Soll-
eingesetzt werden Rollenbeschreibungen (Soll- Anforderung) und der
» Die bisherige Stellenstruktur Anforderungen an den Einschätzung des Mitarbeiters
bleibt bestehen Rolleninhaber) (persönliches Skill-Profil)

Abb. 17.4  Strukturen als Voraussetzung der strategischen Personalplanung. (Quelle: Kienbaum)

Unterdeckungen systematisch bearbeiten. Ähnliches gilt für den Abbau von Überdeckun-
gen. Neben Versetzungen lässt sich auch die zielgerichtete Nutzung von natürlicher Fluk-
tuation durch Verrentung oder Altersteilzeitprogramme angehen.
Um die genannte Methodik anzuwenden, müssen Unternehmen die Voraussetzung
für die Planungsstrukturen schaffen. Mittlerweile lässt sich beobachten, dass quanti-
tative Stammdaten in den meisten Unternehmen in guter Qualität und Verfügbarkeit vor-
handen sind. Um jedoch inhaltlich Tätigkeitsverteilungen, Fähigkeiten und überfachliche
Kompetenzen in der Personalplanung zu betrachten, müssen weitere Datenstrukturen
geschaffen und für die Mitarbeiterschaft hinterlegt werden. In der Regel werden hierbei
insbesondere die drei in Abb. 17.4 dargestellten Facetten eingesetzt.
Das Rollenmodell beschreibt und systematisiert die üblichen Aufgabenstellungen
innerhalb eines Unternehmens oder eines Bereichs. Das Kompetenzmodell beschreibt
und systematisiert die notwendigen persönlichen und sozialen Fähigkeiten. Der Skill-
Katalog beschreibt und systematisiert die notwendigen fachlichen und methodischen
Fähigkeiten. Kompetenzen und Skills finden einerseits Anwendung in der Rollenbe-
schreibung (Soll-Anforderung) und andererseits in der Einschätzung des Mitarbeiters
(persönliches Skill- und Kompetenzprofil).
In Summe ergeben sich unterschiedliche Rollenbeschreibungen, die mit Skills, Kom-
petenzen und Qualifikationen hinterlegt sind und die Aufgaben und Verantwortlichkeiten
des jeweiligen Tätigkeitsfelds beschreiben. Dabei ist es empfehlenswert, das Modell als
Mehrebenenansatz aufzubauen, sodass je nach Betrachtungsgegenstand unterschiedliche
Aggregationsebenen hergestellt werden können. Für die Planung des Personalbedarfs
beispielsweise sind eher hoch aggregierte Sichten hilfreich, die mehrere Rollen zusam-
menfassend betrachten. Für die Qualifizierung hingegen sind Rollen und entsprechende
Skill- und Kompetenzanforderungen im Einzelnen von Bedeutung, um zielgerichtete
Schulungen abzuleiten.
294 C. Asgarian und N. Feuersinger

Transparenz Planung Handlung

Personalplanung schafft Transparenz Personalplanung berücksichtigt alle Personalplanung liefert die Ableitung
über strukturelle und Planungsaspekte und Treiber des wesentlicher auf den Personalkörper
kompetenzbasierte Entwicklungen Personalbedarfs zur Sicherung des bezogenen Maßnahmen entlang des
des Personalbestandes. langfristigen Unternehmenserfolges zukünftigen Geschäftsmodells.
und Erreichung der Geschäftsziele.

Jobgruppe Strat. Relevanz


2010
GAP Entwicklung
2011 2012 2013 2014 2015
Vergütung
Ø Entwicklung
.
Beschaffbarkeit
Anforderungen/ Verfügbarkeit
Gesamtbewertung

» stark steigende strat. Relevanz


Qualifizierung Einstellungen
Jobgruppe I 0 +12 +16 +16 +12 +12 intern
» mittlerer Bedarf in den nächsten
5 Jahren
» hohe, gleichbleibende

Externe Abbau
84.362 €
Vergütung
» geringe externe wie interne
Beschaffbarkeit
extern » kritische Jobgruppe
0 -18 -41 -16 -16 -16 » konstante strat. Relevanz
Jobgruppe II intern
» geringe Überdeckung in den
nächsten 5 Jahren

Nachwuchs
52.256 € » mittlere, sinkende Vergütung
» optimale externe wie interne
Beschaffbarkeit
extern » unkritische Jobgruppe
» stark steigende strat. Relevanz
Jobgruppe III 0 +2 +4 +4 +4 +5 intern » steigender Bedarf in den
nächsten 5 Jahren
» mittlere, gleichbleibende
Vergütung
61.000 €
» geringe interne, jedoch hohe
externe Beschaffbarkeit
extern » maßnahmenrelevante
Jobgruppe
» steigende strat. Relevanz
Jobgruppe IV 0 +24 +32 +44 +56 +62 intern
» stark steigender Bedarf in den
nächsten 5 Jahren
36.131 € » geringe, steigende Vergütung
» sehr gute externe sowie gute
interne Beschaffbarkeit
» maßnahmenrelevante
extern Jobgruppe

Abb. 17.5  Methodische Ziele von Personalplanung. (Quelle: Kienbaum)

Es ist wichtig, dass sich die strategische Personalplanung nicht nur auf die internen
Mitarbeiter bezieht, sondern auch externe, temporäre Ressourcen aktiv beplant. Hier-
bei geht es jedoch nur um die Kapazitäten, welche als „verlängerte Werkbank“ einge-
setzt werden und deren Tätigkeiten durch das Unternehmen selbst gesteuert werden.
Komplettes Outsourcing und damit der Einkauf gesamthafter Services werden aus der
Betrachtung ausgeschlossen. Dies bedeutet in der Praxis einen nicht zu unterschätzen-
den Aufwand, insbesondere in der Ermittlung des Bestands der nächsten Jahre. Über
externe bzw. temporäre Mitarbeiter sind in den seltensten Fällen Tätigkeitsprofile oder
der genaue Umfang in Form von FTE verfügbar. Vielmehr sind derartige Daten häufig in
Form von Budgetsichten hinterlegt.
Strategische Personalplanung ist kein Selbstzweck. Die strategische Personalplanung
sollte nicht als singulärer Prozess eingeführt und gelebt werden. Ihr Nutzen wird dadurch
generiert, dass Transparenz über den Personalkörper hergestellt wird und auf dieser
Basis Entscheidungen reflektiert und bewusst getroffen werden können. Das Manage-
ment und die Personalfunktion sichern dadurch letztendlich die Steuerungsfähigkeit des
Personalkörpers (vgl. Abb. 17.5).

17.3 Simulation des Personalbestands

Die Ermittlung des Personalbestands folgt häufig einem ökonomischen Ansatz, in dem
in erster Linie auf diejenigen Rollen und Positionen fokussiert wird, die einerseits einen
besonders kritischen Mehrwert zum Unternehmenserfolg leisten und die andererseits
relativ schwer zu besetzen sind. Diese sogenannten kritischen Mitarbeitersegmente
werden in der Regel durch Managementinterviews und Experteninputs identifiziert.
Der Gedanke ist, dass ein kleiner Prozentsatz der Mitarbeiter einen überproportionalen
17  Strategische Personalplanung 295

Beitrag zum Ergebnis leistet und man damit die Planung von Personalfragen auf diejeni-
gen ausrichtet, die die höchste Rendite für das Unternehmen erwirtschaften. Allerdings
wird gleichzeitig auch transparent, welche Funktionen und Rollen insgesamt weniger
kritisch sind, einerseits aufgrund eines geringen Wertschöpfungsbeitrags oder anderer-
seits aufgrund der einfacheren Ersetzbarkeit. Outsourcing-Quoten beispielsweise lassen
sich hierüber ableiten.
Die in der strategischen Planung verwendeten Jobrollen sollten mit den unterneh-
mensweiten Jobfamilien verbunden sein. Nach Festlegung des Rollenmodells wird in
einem ersten Schritt die heutige FTE-Verteilung u. a. entlang dieser Rollen erfasst.
Die heutige FTE-Verteilung wird über die nächsten Jahre fortgeschrieben. Dabei emp-
fehlen sich historische Daten zur Berechnung und Extrapolation sowie sämtliches
bereits vorhandenes Wissen, wie zum Beispiel bekannte Verrentung oder erwartete
Rückkehr aus der Elternzeit. Ein Ergebnis der quantitativen Bestandssimulation ist dann
die Entwicklung des FTE-Bestands pro Rolle. Zur Abbildung der Bestandsfortschrei-
bung sollten entweder selbst entwickelte Tools oder entsprechende Softwarelösungen
für Talent-Management genutzt werden, um eine schnelle Datensammlung und Auswer-
tung zu ermöglichen. Es können unterschiedliche Szenarien betrachtet werden, wie zum
Beispiel die Auswirkung eines unternehmensinitiierten Altersteilzeitprogramms oder die
Entwicklung von bestimmten Standorten.
Per se lassen sich bereits zu diesem Zeitpunkt erste Einsichten in potenzielle Perso-
nalrisiken aufzeigen, wie zum Beispiel der Verlust von kritischem Know-how aufgrund
einer starken Bündelung von Fluktuationseffekten in einem bestimmten Jahr oder die
kritische Reduktion an bestimmten Standorten.

17.4 Modellierung des Personalbedarfs

Die Planung des Personals über einen mehrjährigen und damit strategischen Zeitraum
hängt dabei klassischerweise von den strategischen Treibern des Unternehmens ab.
Dazu zählt zum Beispiel die angestrebte Anzahl produzierter Einheiten, die Orientierung
von Verkaufskanälen bis hin zu Digitalisierung oder der Aufbau von Shared Services in
zentralen Hubs des Unternehmens. Übergeordnet unterstützt die Personalplanung damit
die Erreichung der strategischen Unternehmens- und Finanzziele, entweder in Bezug auf
Wachstum (Top Line) oder in Bezug auf Kostenmanagement (Bottom Line). Dies kann
beispielsweise die Strategie eines Unternehmens in der Pharmaindustrie sein, in Zukunft
die Investitionen in Forschung und Entwicklung deutlich zu erhöhen, um weitere Markt-
anteile zu gewinnen. Die Ableitung für den Personalbereich umfasst dann, verstärkt in
den Fachbereichen Pharmazie und Biologie, ein bestimmtes Volumen an Mitarbeitern
zu rekrutieren, zu entwickeln und zu binden. Die Planung von Anzahl, Skills und Kom-
petenzen der Mitarbeiter entsteht als natürliche Folge der Umsetzung der strategischen
Unternehmens- und Budgetziele. Bereits hierdurch erwarten Unternehmen eine deutliche
Steigerung wesentlicher wirtschaftlicher Kenngrößen wie Produktivität und Profitabilität.
296 C. Asgarian und N. Feuersinger

. Beispiel für einen Top-down-Ansatz: Beispiel für einen Bottom-up-Ansatz:


Das Budget wird top-down vorgegeben und verteilt Das erwartete Projektportfolio bestimmt die Verteilung des Budgets

Budget

Abteilung 1 Abteilung 2 Abteilung 3 Andere Budget (Mio. €)


150
Fremde Wertschöpfung
Steuerbare Wertschöpfung

Budget (Mio. €) 100


150
Fremde Wertschöpfung
Steuerbare Wertschöpfung 50
100
0
50 Gesamt Rolle 1 Rolle 2 Rolle 3 Other

0
Gesamt Rolle 1 Rolle 2 Rolle 3 Other Projekt 1 Projekt 2 Projekt 3
Projektportfolio

Abb. 17.6  Ermittlung Personalbedarf: Top-down vs. Bottom-up. (Quelle: Kienbaum)

Die Ermittlung des Personalbedarfs gilt als Herzstück der strategischen Personalpla-
nung und kann grundsätzlich Bottom-up vs. Top-down erfolgen (vgl. Abb. 17.6). Beide
Ansätze werden in Reinform selten genutzt, in der Regel wird eine Mischung aus beiden
vorgesehen, um die Machbarkeit und Validität (Bottom-up) der vom Topmanagement
vorgegebenen Zielvorgaben (Top-down) zu gewährleisten.
Im Top-down-Ansatz erfolgt eine Planung anhand des Budgets. So kann zum Bei-
spiel im IT-Bereich das Budget der IT-Funktion als Ausgangswert genutzt werden. Im
ersten Schritt wird das Budget um alle nicht personalrelevanten Kosten und Investiti-
onen bereinigt, zum Beispiel um Lizenzen. Im nächsten Schritt erfolgt der Abzug aller
Aufwände für Outsourcing. Wie bereits erwähnt, wird diese Art der Service- und Leis-
tungserbringung in der Planung der intern zu steuernden Personalkapazitäten nicht
berücksichtigt. Im nächsten Schritt werden die Budgets, wenn notwendig, auf weitere
Geschäftsbereiche kaskadiert. Nun erfolgt die Ermittlung der Rollen- und Skill-Schlüs-
sel pro Bereich. Das bedeutet: Durch welche Art der Tätigkeit werden die Services und
Produkte des jeweiligen Bereichs oder Unternehmens erbracht? Hierbei geht man in der
Regel mehrdimensional vor: Zum einen betrachtet man den heutigen Mix der Rollen
und vergleicht diesen mit marktüblichen und Best-Practice-Verteilungen. Zum anderen
nutzt man die strategischen Treiber der Unternehmensziele, um Effekte auf den Rol-
lenmix zu bewerten. So führt zum Beispiel eine angestrebte Produktivitätserhöhung
zu einer generellen Abnahme von Rollen. Demgegenüber werden bei Zielen zur Stär-
kung der Dienstleistungsqualität verstärkt kundennahe Rollen in den Vordergrund treten
und deren Vorkommen im Vergleich zu Rollen, die im späteren Prozessverlauf allokiert
sind, zunehmen. So lässt sich sukzessive die Wirkung jedes strategischen Treibers auf
die einzelnen Rollen und deren Mix bewerten und anschließend summieren. Dabei ist es
17  Strategische Personalplanung 297

hilfreich, prozentuale Betrachtungen anstelle von absoluten Werten zugrunde zu legen,


um die Frage zu beantworten, wie in Zukunft das Produkt oder die Services des Unter-
nehmens erbracht werden und nicht mit wie vielen. In der Regel erfolgt die Planung auf
ein Zieljahr. Der Mix pro definierter Planungsperiode, zum Beispiel pro Jahresscheibe,
wird anschließend als Verlauf abgetragen. Die finalen FTE-Werte und damit einherge-
hende Skills und Kompetenzen werden nun simpel berechnet: Sie ergeben sich als Pro-
dukt des prozentualen Rollenanteils und des Budgets der betrachteten Einheit.
Gerade bei der Ermittlung der Entwicklung des Rollenmixes pro Jahresscheibe ist
eine Validierung durch Bottom-up-Betrachtungen absolut empfehlenswert. Hier sollten
beispielsweise geplante Projekte und Transformationen einfließen, die häufig nur tempo-
rär den Mitarbeiterbedarf in einem bestimmten Betrachtungszeitraum erhöhen oder redu-
zieren.
Prinzipiell basiert der Bottom-up-Ansatz der Bedarfsmodellierung auf fachlichen
Zielbildern und -architekturen des jeweiligen Geschäftsbereiches. Die Mitarbeiter
werden dann neben der Zuordnung zu Rollen und der Erfassung der heutigen Skills
bestimmten fachlichen Kriterien zugeordnet. Dies können beispielsweise entsprechende
Produktsparten, Services oder Systeme sein. Anschließend werden die einzelnen fach-
lichen Themen auf Abbau, Umbau und Aufbau überprüft, da beispielsweise bestimmte
Aufgaben und Rollen outgesourct werden oder in Zukunft Effizienzgewinne durch
Automatisierung erwartet werden. Häufig werden in diesem Vorgehen Führungsspan-
nen parallel in Form von der Organisation vorgegebenen Verteilungsschlüsseln beplant.
Erwartet man beispielsweise eine prozentuale Gesamtabnahme des internen Perso-
nalbestands, so werden in ähnlichem Verhältnis die Bedarfe an Führungskräften ange-
passt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Führungsspannen nicht alleine das Resultat der
Anzahl an unterstellten Mitarbeitern sind, sondern weitere Kriterien, wie zum Beispiel
die Komplexität der Aufgabenstellung oder der Qualifikationsgrad der Mitarbeiter, in die
Berechnung mit einfließen. In der Bottom-up-Analyse werden anschließend die fachli-
chen Veränderungen auf die heutigen Ist-FTE und Rollen pro beplantem Objekt ermit-
telt, um entsprechende Soll-Kapazitäten zu ermitteln.
Die Bedarfsplanung wird im letzten Schritt einer Sensitivitätsanalyse unterzogen,
das bedeutet einer Ermittlung der Volatilität bzw. Stabilität der Planwerte in Abhängig-
keit von der Variation der genutzten strategischen Treiber und Parameter. Sensitivitäts-
analysen werden genutzt, da jede Bedarfsplanung immer Annahmen über die Zukunft
enthält und damit Hypothesen, die mit einer bestimmten Eintrittswahrscheinlichkeit,
jedoch keiner Gewissheit verbunden sind. Analog lassen sich für bestimmte Parameter-
variationen unterschiedliche Szenarien des Personalbedarfs ableiten. So werden zum
Beispiel häufig optimistische vs. realistische vs. pessimistische Szenarien der Geschäfts-
entwicklung und die entsprechenden Auswirkungen auf den Personalköper erzeugt.
Abschließend ist zu sagen, dass je nach Reifegrad der bereits vorhandenen Instru-
mente der Personalplanung der Aufsatzpunkt der Planung variieren und deren Komplexi-
tät steigen kann (vgl. Abb. 17.7).
298 C. Asgarian und N. Feuersinger

Reifegrade der Personalplanung


C
DYNAMISCHE
B PERSONALPLANUNG
QUANTITATIVE/QUALITATIVE
A PERSONALPLANUNG
QUANTITATIVE
Vergütung (Base, STI, LTI, baV, Nebenleistungen)

… Jobfamilie Recht HR Finanzen …


Vergütung (Base, STI, LTI, baV, Nebenleistungen)

PERSONALPLANUNG
Mitarbeiterbestand (Mengen)

Qualität (Skills, Performance Potential) Beisp Management-


iel
Jobfamilie Recht HR Finanzen … ebene

Management-
ebene

Rolle 2013 2014 2015


Standort

Standort

lauf
IT-Architekt 7% 5% 3%

er Ver
Bereich … … … …
Bereich

lich
Zeit
Testmanager 12% 8% 1%
In diesem Modell werden die qualitativen/
IT-Operator 0% -2% -5%
quantitativen Daten mit weiteren
Basierend auf finanzwirtschaftlichen Auf der Basis der Verzahnung mit anderen Informationen zum Personalkörper, z. B.
Kennzahlen wird der quantitative personalpolitischen Instrumenten wird neben Vergütung, externe Marktsicht ergänzt.
Personalbedarf pro Rolle über ein bis zwei der reinen Quantität die Qualität (z. B. Mithilfe eines dynamisch einsetzbaren IT-
Jahre im Voraus ermittelt und controlled. Kompetenz, Potenzial) der Belegschaft Instruments können unterschiedliche KPIs für
betrachtet. die Personalplanung abgerufen werden.

Planungs-
1-2 Jahre Mehr als 5 Jahre
horizont
Einfache Ist- Szenarien und Komplexe multilineare
Berechnung
und Planwerte Simulationen Modelle

Abb. 17.7  Reifegrad der Bedarfsplanung. (Quelle: Kienbaum)

Die quantitative Personalplanung basiert in der Regel auf finanzwirtschaftlichen


Kennzahlen. Der quantitative FTE-Personalbedarf wird dabei pro Rolle über ein bis
zwei Jahre im Voraus ermittelt und controllt. In der Mischform der quantitativen und
qualitativen Planung wird, auf der Basis der Verzahnung mit anderen personalpoliti-
schen Instrumenten, neben der reinen Quantität die Qualität (zum Beispiel Kompetenz,
Potenzial) der Belegschaft betrachtet. Der Betrachtungszeitraum umfasst mehr als zwei
Jahre und es werden bereits Szenarien und Simulationen berechnet. Im höchsten Reife-
grad der dynamischen Personalplanung werden die qualitativen und quantitativen Daten
mit weiteren Informationen zum Personalkörper, zum Beispiel Vergütung und externer
Marktsicht ergänzt. Mithilfe eines dynamisch einsetzbaren IT-Instruments können unter-
schiedliche Key-Performance-Indikatoren (KPI’s) für die Personalplanung abgerufen
werden. Der Planungszeitraum umfasst fünf Jahre und mehr und es werden komplexe
multilineare Modelle, häufig mithilfe von Business-Intelligence-Systemen, angewandt.
Der Reifegrad entwickelt sich in der Regel über die Nutzungs- und Einsatzdauer. Emp-
fehlenswert ist es, im ersten Schritt mit quantitativen Planwerten zu beginnen.

17.5 Gap-Analyse und Maßnahmenableitung

Innerhalb der Gap-Analyse werden Bestands- und Bedarfsseite kombiniert und quan-
titativ und qualitativ analysiert. Die Ergebnissichten umfassen dabei FTE-Unter- und
Überdeckungen pro Rolle oder Organisationseinheit. Qualitative Sichten helfen bei der
Identifikation notwendiger Skill- und Kompetenz-Shifts. Da Skills und Kompetenzen
17  Strategische Personalplanung 299

Rolle 2014 2015 2016 2017 2018 2019 …


Führungskraft
Ausgangssituation IT-Stratege
Projektleiter
Kundenmanager
Appl. Developer
Lösungsarchitekt
Servicemanager
IT-Operator
Einkäufer
Appl. Designer
Testmanager
Testspezialist
Change-Manager
Finanzmanager
Referent
Business-Analyst

Unterdeckung Überdeckung

< -70% - 70% bis -35% -35% bis -5% -5% bis 5% 5% bis 35% 35% bis 70% > 70%

Abb. 17.8  Flickenteppich der Unter- und Überdeckungen pro Rolle. (Quelle: Kienbaum)

als Soll-Anforderung in der Rolle hinterlegt sind, lassen sich auch für diese vermeintlich
„soften“ Faktoren quantitative Analysen betreiben. So kann beispielsweise ein geschäfts-
relevantes Ergebnis sein, dass die Rollen, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen, im
Durchschnitt höhere Skill- und Kompetenzausprägungen erfordern als die Rollen, die
langfristig in geringerem Volumen im eigenen Unternehmen notwendig sind. Im Hin-
blick auf Kompetenzen ist diese Erkenntnis höchst relevant für etwaige Machbarkeits-
studien und Business Cases für zum Beispiel strategische Internationalisierungs- oder
Outsourcing-Entscheidungen. Denn Kompetenz-Shifts sind in der Regel mit massiven
Entwicklungsaufwänden verbunden und umfassen eher Jahres- als Monatszyklen.
Sobald die Gaps für die einzelnen Rollen identifiziert wurden, ergibt sich ein soge-
nannter Flickenteppich der Unter- und Überdeckungen (vgl. Abb. 17.8).
Basierend auf der Gap-Analyse werden Maßnahmenpakete definiert; Qualifizierung
beispielsweise wirkt dabei der Unterdeckung bestimmter Rollen entgegen. Der Einsatz
von Externen als zweites potenzielles Maßnahmenprogramm erfolgt für Rollen, in denen
Kosteneinsparungen und Produktivitätseffekte zu realisieren sind. Die systematische
Übernahme von Nachwuchskräften reduziert die Überdeckung in bestimmten Rollen
auf Mitarbeiterebene. Einstellungen dienen der weiteren Reduzierung von Unterdeckung
bestimmter Rollen, deren interne Entwicklung nur schwierig umzusetzen ist. Überde-
ckung einzelner Rollen muss durch systematisches Abbaumanagement langfristig redu-
ziert werden. Auch hier kommt Qualifizierung zum Tragen, sodass Mitarbeiter, die heute
auf Rollen tätig sind, die in Zukunft in geringerem Umfang gefragt sind, frühzeitig auf
verbleibende oder zu stärkende Tätigkeitsprofile entwickelt werden.
300 C. Asgarian und N. Feuersinger

Im nächsten Schritt sollten pro Rolle die Maßnahmen hinsichtlich Machbarkeit,


Akzeptanz und Nutzen bewertet werden. Um die Implementierung sicherzustellen, ist es
des Weiteren zu empfehlen, entsprechende Maßnahmenverantwortliche zu benennen.

Exkurs: Qualifizierungsblaupausen
Als eines der inkrementellen Ziele der strategischen Personalplanung gilt die ganzheitliche Per-
sonal- und Organisationsentwicklung von Mitarbeitern und Bereichen. Damit kommt Qualifizie-
rungsprogrammen eine besondere Bedeutung zu, die durch Rollen und entsprechend hinterlegte
Skill- und Kompetenzanforderungen strukturiert aufzuplanen sind. Anhand von Rollenwande-
rungspotenzialen (das heißt die Machbarkeit, von einer Rolle in eine andere zu wechseln) und
geplanten Rollenvolumina werden die Qualifizierungspfade erstellt. Dabei werden die Gaps in
Kompetenzen und Skills und die Gaps in Bezug auf Aufgaben und Tätigkeiten sowie Erfahrungen
analysiert. Pro Rollenwanderungspfad wird ein genereller Qualifizierungsplan (Blaupause) erstellt,
der die ermittelten Gaps schließt. Dafür werden einzelne Trainingsbausteine hinterlegt, die metho-
disch aus klassischen Frontaltrainings, aber auch aus Shadowing oder selbst gesteuerten E-Lear-
nings zusammengesetzt sind. Viele der Qualifizierungsbausteine lassen sich am Markt erwerben
oder werden intern durch den Personalbereich zur Verfügung gestellt. Jedoch obliegt in der Regel
ein beträchtlicher Anteil der Trainings und Weiterbildungen auch dem Fachbereich selbst. Gerade
bei Kernkompetenzthemen, die kritisches Unternehmenswissen umfassen, müssen Fachbereiche
selbst in der Bereitstellung von Trainingsinhalten aktiv werden. Aus den Blaupausen lässt sich
anschließend der individuelle Qualifizierungsplan auf Basis des tatsächlichen persönlichen Skill-
Profils des Mitarbeiters systematisch ableiten.

17.6 Ausblick: Next Level strategische Personalplanung

Erfolgreiche Unternehmen nutzen die strategische Personalplanung nicht mehr nur als
Instrument, um sicherzustellen, dass die Geschäftsziele durch den richtigen Einsatz von
Mitarbeitern erreicht werden. Im Gegenteil: Die Bedingungen des internen Personal-
körpers beeinflussen geschäftsstrategische Entscheidungen. Dafür stellen Unterneh-
men Prozesse, Verantwortlichkeiten und Strukturen bereit, die durch HR aufgesetzt und
gesteuert werden müssen.

Fallbeispiel 1
Outsourcing von Dienstleistungen bzw. Tätigkeiten erfolgt in Abhängigkeit des natür-
lichen Verlusts von Mitarbeitern durch den demografischen Wandel und Verrentung.
Die IT-Funktion des Unternehmens in der deutschen Finanzbranche stand vor mas-
siven Herausforderungen aufgrund des demografischen Wandels. Die mathematische
Fortschreibung des Mitarbeiterbestands zeigte, dass in den nächsten fünf bis zehn
Jahren Teams und deren Wissen aufgrund von Verrentung komplett entfallen. Gleich-
zeitig war die Einstellung neuer Mitarbeiter aufgrund eines Kostensenkungs- und -fle-
xibilisierungsprogramms massiv eingeschränkt.
Deshalb hat sich das Unternehmen entschlossen, Dienstleistungen und Tätigkeiten
in Abhängigkeit vom natürlichen Verlust von Mitarbeitern durch den demografischen
17  Strategische Personalplanung 301

Wandel und Verrentung zu sourcen. In einem ersten Schritt wurde ein Rollenmodell
entwickelt, in das alle Mitarbeiter des Unternehmens eingeordnet wurden. In der
Konzeptionsphase wurde durch das Management festgelegt, welche Rollenprofile
zukünftig als die Kernkompetenzen zu betrachten sind. Dabei standen diejenigen im
Vordergrund, die einen hohen Wertschöpfungsbeitrag zum Unternehmenserfolg lie-
fern. Beispielsweise wurden diejenigen Rollen als strategisch relevant eingeschätzt,
die einen engen Kontakt zum Kunden und zum Business sicherstellen und an die hohe
Anforderungen in Kommunikation und Serviceorientierung gestellt werden. Durch
eine Gegenüberstellung der natürlichen Entwicklung des Mitarbeiterbestands und der
Tätigkeitsstruktur mit den technologischen Anforderungen des Unternehmens in den
nächsten Jahren wurde eine Roadmap entwickelt, die das Sourcing von Leistungen
schrittweise an der Mitarbeiterentwicklung ausrichtet.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Organisation die idealtypischen
Phasen eines hohen Reifegrads der strategischen Personalplanung zeigt: die Schaffung
von Transparenz über Qualität und Quantität des Personalkörpers, die Festlegung von
Planwerten, der Entwicklung durch das Management und letztendlich die Umsetzung
der Maßnahmen. Neben dem Sourcing wurde in dem Unternehmen signifikant in die
Qualifizierung von Mitarbeitern investiert, um die interne Besetzung von Kernrollen
über einen mehrjährigen Planungs- und Implementierungsprozess sicherzustellen.
Ein weiterer Trend sind das Screening und die aktive Nutzung von externen
Talentmarktdaten in der geschäftsstrategischen Entscheidungsfindung.

Fallbeispiel 2
Die Standortentscheidung eines Softwareunternehmens für den zukünftigen Entwick-
lerstandort in Südostasien wird anhand der Bedingungen des Talentmarkts an den
unterschiedlichen Standorten getroffen.
Ein international tätiges Softwareunternehmen verfolgte eine starke Marktexpan-
sionsstrategie. Hierfür war u. a. der Ausbau von Softwareentwicklungstätigkeiten
notwendig. Man entschied, einen eigenen neuen Standort zu etablieren, inklusive der
Gründung einer legalen Entität und des kompletten Set-ups der Infrastruktur einer
neuen Organisation. Die Standortermittlung und -entscheidung wurde dabei komplett
an den Bedingungen des externen Talentmarkts der unterschiedlichen Standorte aus-
gerichtet.
Hierfür wurde im ersten Schritt eine intensive Analyse der Märkte vorgenommen
und zwar im Hinblick auf die Anzahl der aktuellen und prognostizierten Absolven-
ten im IT-Entwicklungsumfeld, die Vergütungsstrukturen, die Entwicklung der Alters-
struktur, Employer Branding und die Reputation des eigenen Hauses. Darüber hinaus
wurden Wettbewerberinformationen von anderen attraktiven Arbeitgebern berücksich-
tigt, die sich um die gleiche Zielgruppe bemühten. Dabei geht der Blick deutlich über
Produktwettbewerber hinaus. Eingeschlossen wurden auch solche Unternehmen, die
Arbeitgeber-Rankings anführten, insbesondere bei IT-Absolventen.
302 C. Asgarian und N. Feuersinger

Die verschiedenen Datenpunkte wurden in eine Berechnungslogik überführt und


die Kriterien auf ihre Wirksamkeit hin gewichtet (Impact-Analyse). Auf Basis der
Ergebnisse wurden Sensitivitätsanalysen erstellt, um die Wahrscheinlichkeit der
betrachteten Parameter auf Stabilität zu überprüfen. Die Entscheidung fiel letztendlich
auf denjenigen Standort, dessen Ausprägung auf den unterschiedlichen Kriterien der
externen Talentmarktinformationen in der Summe am höchsten war. Hieraus wurden
Rekrutierungs- und Vergütungsstrategien zum Employer Branding abgeleitet und ini-
tiiert.

17.7 Einführung von strategischer Personalplanung im


Unternehmen

Abschließend lässt sich sagen, dass die konkrete Ausgestaltung der Personalplanung von
unternehmensspezifischen Markt- und Geschäftsbedingungen sowie internen Prozessen
abhängt.
Die Rahmenbedingungen der Personalplanung fokussieren dabei auf mindestens vier
kritische Dimensionen:

• „Kunden“ der Planungsergebnisse: Ein wesentlicher Einfluss auf die Ausgestaltung


der Personalplanung hängt vom Empfänger der Planungsergebnisse ab. Ist als Ziel-
gruppe das Topmanagement vorgesehen, so müssen die Ergebnissichten den strategi-
schen Entscheidungsprozess unterstützen. Das spricht zum Beispiel für eine stärkere
Aggregation von Daten sowie einen längerfristigen Betrachtungszeitraum. Stellen
hingegen einzelne Teilbereiche die Adressatengruppe dar, so wird sehr viel stärker
auf die Planung operativer Einheiten und Ressourcen fokussiert. Damit sind ebenfalls
kürzere Planungszyklen verbunden, die maximal ein bis zwei Jahre in die Zukunft
gehen.
• Dynamik der geschäftlichen Ausrichtung: Eine zweite wichtige Rahmenbedingung
bildet die Volatilität der unternehmerischen Realität im Allgemeinen. Bei einer wei-
testgehend stabilen geschäftlichen Ausrichtung auf Basis fester Marktmechanismen
und funktionierender interner Prozesse und Produkt- bzw. Servicequalität lassen sich
ausgereifte und detailliertere Rechenregeln in der Planung zugrunde legen. Ist die
Umgebung der Organisation eher instabil und volatil, müssen neben Prozessen, Sys-
temen und Personalkapazitäten auch in der Planung einfachere Regeln zur Berech-
nung genutzt werden, aber im gleichen Maße eine starke Szenarioplanung vorgesehen
werden. Dort lassen sich Wahrscheinlichkeiten von Parametern variieren, sodass die
entsprechende Auswirkung verschiedenster möglicher Zukunftsbilder transparent ein-
sehbar wird. Insbesondere bei einer hohen Volatilität des eigenen Geschäftsmodells
und der Produkte oder Services empfiehlt es sich, die Flexibilisierung von Skills und
Kompetenzen aktiv voranzutreiben. Dies funktioniert beispielsweise über Projektar-
beit oder fest verankerte Jobrotationsprinzipien.
17  Strategische Personalplanung 303

• Integration in andere Prozesse: Die Personalplanung lässt sich mit unterschiedli-


chen Personal-, Finanz- und Unternehmensentwicklungsprozessen verzahnen. Per-
sonalplanung kann als „Frühwarnsystem“ für Personalunter- und -überdeckungen
fungieren. Das bedeutet, die Planung des Personalbedarfs und die Gegenüberstellung
des Personalbestands helfen bei der Identifikation von kritischen Skill- und Kom-
petenzlücken, heute und in der nahen Zukunft. In diesem Fall ist die Integration in
andere Prozesse niedrig ausgeprägt. Demgegenüber ist bei einer hohen Verzahnung
mit anderen Prozessen die Personalplanung als integratives Bindeglied zwischen der
Strategie des Unternehmens und allen Personalthemen zu sehen. Häufig gehen hiermit
unterschiedliche HR-Philosophien und Gewichtung der Personalfunktion in der Orga-
nisation einher. Sind beispielsweise eigene Personalvorstandsbereiche vorhanden oder
eine hohe strategische und Geschäftskompetenz der HR-Businesspartner ausgeprägt,
so findet in der Regel auch eine höhere Integration der Personal- und der Unterneh-
mens- und Finanzplanungsprozesse statt. In manchen Unternehmen finden sich auch
Ausgestaltungen, in denen die Personalplanung vollständig durch den Finanzbereich
verantwortet wird, dann jedoch meist in Form von FTE- oder Headcount-Bedarfen.
• Datenbasis: Mitarbeiterbezogene Daten sind notwendig, um strategische Personal-
planung aufsetzen zu können. Die Qualität, Aktualität und Verfügbarkeit von Daten
entscheidet darüber, welche Planungsparameter berücksichtigt werden können. Lie-
gen einerseits reine Mitarbeiterstammdaten zu FTE, Alter, Betriebszugehörigkeit etc.
vor, so können auch nur FTE- und Headcount-bezogene Planungen durchgeführt wer-
den. Betrachtungen von Regionen und Organisationseinheiten sind dabei häufig noch
möglich. Die Sichten bleiben jedoch quantitativ, Aussagen über notwendige Skills,
Kompetenzen, Aufgaben, Verantwortlichkeiten und deren erwartete Verschiebungen
sind nicht möglich. Andererseits kann bei einer breiten Datenerfassung, inklusive
qualitativer Merkmale, idealerweise auf durchgängigen Systemen und automatisier-
ten Prozessen, zusätzlich eine qualitative Planung inklusive Skills und Kompetenzen
erfolgen. Dann ist auch die Verzahnung zu weiteren Personalprozessen, wie Quali-
fizierung und Rekrutierung, stark vereinfacht, da sich Trainingspläne auf Basis von
Skill- und Kompetenz-Gaps und Stellenausschreibungen auf Basis von Rolleninfos
gezielt ableiten lassen.

Zusammengefasst lässt sich die strategische Personalplanung anhand von verschiedenen


Dimensionen gestalten. Diese sollten zu Beginn des Set-ups definiert und festgelegt wer-
den (vgl. Abb. 17.9).
Zum Ersten ist zu entscheiden, ob die Planung einem Top-down- vs. Bottom-up-
Ansatz folgt: das heißt entweder einem stark budgetgetriebenen Ansatz auf Basis von
Vorgaben aus dem Topmanagement, oder eher einem Vorgehen, in dem sich die not-
wendigen FTEs, Skills und Kompetenzen aus den Transformationen und Projekten der
Bereiche ergeben. In diesem Fall werden das mittlere Management und die Portfolio-
planung sehr viel stärker in die Planung des Personalbedarfs einbezogen. In ersterem
Fall sind Unternehmensentwicklung und Finanzbereich stärker im Input berücksichtigt.
304 C. Asgarian und N. Feuersinger

Ansätze und Gestaltung der PP

1 Initiator der Planung

Top-down-Planung Bottom-up-Planung

2 Ebene der Planung


Planung auf Planung über alle
Führungsebene Ebenen

3 Zeithorizont der Planung


Längerer Zeit- Kürzerer Zeit-
horizont horizont (3 Jahre)

4 Verzahnung der PP mit anderen Planungsprozessen


Verzahnung mit PP losgelöst von
operativer Planung anderen Planungen

5 Planung in Bezug auf Rollen/Rollengruppen


Selektion auf einzelne Planung auf alle
Rollengruppen Rollengruppen

Abb. 17.9  Gestaltungsparameter der strategischen Personalplanung. (Quelle: Kienbaum)

Gleichwohl ist in jedem der beiden Ansätze eine Validierung der Umsetzbarkeit (falls
Top-down primär) bzw. eine Verprobung gegenüber dem Budget zu empfehlen (falls
Bottom-up primär).
Zum Zweiten ist über den Umfang der berücksichtigten Ebenen der Planung zu
entscheiden. Dabei lässt sich die Planung einerseits auf Führungsebenen oder weitere
kritische Mitarbeitergruppen beschränken. Die Segmentierung der erfolgskritischen
Gruppen erfolgt dann im Vorfeld der Planung. Auf der anderen Seite kann die strategi-
sche Personalplanung das gesamte Unternehmen und damit alle Mitarbeiter umfassen.
Der erste Ansatz ist in der Regel ökonomischer, da eine Priorisierung der betrachteten
Gruppen erfolgt. Gleichzeitig ist für die Planung auch von hoher Relevanz, diejenigen
Mitarbeiter, Skills und Kompetenzen zu beplanen, die in Zukunft weniger bedeutsam
sind und damit einen wichtigen Input zum Beispiel für Outsourcing-Überlegungen spie-
len können.
Als dritte Dimension ist der Zeithorizont der Planung festzulegen. Dabei ist üblicher-
weise eine Variation zwischen drei und zehn Jahren möglich. Drei Jahre im Minimum
sind wichtig, um sich von Nachfolgeplanung und operativer Einsatzplanung abzugren-
zen. Zehn Jahre im Maximum werden angelegt, da darüber hinaus Planungssichten und
Einflussfaktoren zu ungenau und vage werden. Die am Markt am häufigsten genutzten
Perioden sind vier bis fünf Jahre, da in diesem Zeitraum in der Regel auch Festlegungen
der Unternehmens- oder Bereichsstrategie stattfinden.
17  Strategische Personalplanung 305

Die Verzahnung der Personalplanung mit anderen Planungsprozessen verdeut-


licht die vierte Gestaltungsdimension. Die Personalplanung kann dabei einerseits „stand
alone“ erfolgen. Dabei stehen dann häufig qualitative Bedarfe an Skills und Kompeten-
zen im Vordergrund. Auf der anderen Seite wird strategische Personalplanung häufig in
andere Prozessen der Unternehmensplanung integriert. Dies umfasst zum Beispiel den
jährlichen Finanzplanungs- und Budgetierungsprozess oder die Planung der strategi-
schen Geschäftsziele. Bei großen Transformationsvorhaben sollte ebenfalls eine Aktuali-
sierung der Personalplanung erfolgen.
Zuletzt sollte entschieden werden, in Bezug auf welche Rollen und Rollengruppen
die Planung erfolgt. Hier können zum Beispiel einzelne Organisationseinheiten im Vor-
dergrund stehen oder bestimmte erfolgskritische Mitarbeitergruppen. Häufig beginnt
man im Zuge der Einführung der Personalplanung mit einem Pilotbereich, um das Rol-
len-, Skill- und Kompetenzmodell aufzubauen und zu definieren und anschließend die
Bewertung und Allokation der Mitarbeiter zum Modell vorzunehmen. Die Planung
erfolgt dann zunächst singulär für diesen Geschäftsbereich. In der Regel beginnt man mit
Einheiten, die einen besonders hohen Veränderungsdruck für einen Personalumbau spü-
ren. In der Praxis zeigt sich hier häufig die IT-Funktion.
Als Abschluss lässt sich sagen: Die strategische Personalplanung kennt unterschiedli-
che Reifegrade. Steht man am Beginn der Einführung, so empfiehlt sich eine Einschrän-
kung auf eine Pilotfunktion und eine sukzessive Erweiterung im Verlauf der nächsten
zwei bis drei Jahre auf alle weiteren Geschäftsbereiche. In diesem Zuge wird dann auch
die Einführung eines geeigneten IT-Systems zur Prozessunterstützung unabdingbar.

Literatur

Kienbaum. (2015). Kienbaum Workforce Transformation Studie: Aufbau, Abbau, Umbau – Die Mam-
mutaufgabe Workforce Transformation meistern. http://www.kienbaum.de/PortalData/1/Resources/
downloads/brochures/Kienbaum_Ergebnisbericht_StStud_Workforce_Transformation_2016.pdf.

Über die Autoren

Dr. Cyrus Asgarian ist Mitglied der Geschäftsleitung bei


Kienbaum Management Consultants und blickt insgesamt
nunmehr auf zehn Jahre Berufserfahrung bei führenden inter-
nationalen Managementberatungen zurück. Vornehmlich
berät er Vorstände, Geschäftsführungen und Top Executives
in strategischen Organisations-, Personal- und Workforce-
Themen. Zudem besitzt er eine ausgezeichnete Expertise in
der Begleitung von HR-Transformationen sowie der Leitung
großer Personalaufbau, -umbau und -abbauprojekte.
306 C. Asgarian und N. Feuersinger

Nina Feuersinger  ist Projektleiterin bei Kienbaum Manage-


ment Consultants und verfügt über langjährige Erfahrung in
der internationalen HR-Management- und Organisationsbe-
ratung. Sie berät im Schwerpunkt in den Themenstellungen
der strategischen Personalplanung und in Workforce-Trans-
formationsvorhaben. Sie ist Diplom-Psychologin, hat einen
Master of International Business und ist Mitglied des Netz-
werks für systemische Beratung des Instituts Wiesloch. Frau
Feuersinger ist Autorin diverser Veröffentlichungen und leitet
Studien zu Themenstellungen rund um Personalumbau und
organisationsweite Kompetenz-Shifts.
Teil IV
Recruiting im Zeitalter des digitalen
Wandels 18
Thomas Vollmoeller

Zusammenfassung
Die Arbeitswelt erlebt derzeit einen Paradigmenwechsel, wie es ihn seit der Industri-
ellen Revolution nicht gegeben hat. Das hat vielfältige Auswirkungen auf das Recrui-
ting. Einerseits wandeln sich Ansprüche der für innovative Unternehmen so wichtigen
Gruppe der Wissensarbeiter. Andererseits stehen diesen neue Werkzeuge zur Verfü-
gung, um einen Blick hinter die Kulissen von Unternehmen zu werfen. Um sich als
Arbeitgeber glaubwürdig und nachhaltig zu positionieren, sind sowohl eine Ausein-
andersetzung mit der Perspektive anspruchsvoller Zielgruppen, die Überprüfung und
gegebenenfalls Anpassung von Arbeitsorganisation und -struktur vonnöten sowie die
Nutzung neuer Recruiting-Tools von großer Hilfe.

Die Arbeitswelt erlebt derzeit einen Paradigmenwechsel, wie es ihn seit der Industriel-
len Revolution nicht gegeben hat. Und das auch noch in ungekannter Geschwindigkeit.
Der zentrale Treiber des Wandels: die Digitalisierung. Sie verändert unsere Arbeitsrea-
lität in einer Radikalität, dass vielen Beobachtern mitunter schwindelig wird. Vormals
grundsolide Unternehmen verschwinden beinahe über Nacht. Nicht selten stoßen erst vor
wenigen Jahren gegründete Unternehmen jahrzehntelange Weltmarktführer vom Sockel.
Traditionelle Tätigkeiten verschwinden, neue Jobs entstehen. In praktisch allen Bran-
chen muss der einzelne Mitarbeiter Schritt halten und sich in früher ungeahnter Weise

T. Vollmoeller (*) 
XING AG, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 309


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_18
310 T. Vollmoeller

fortbilden, ohne dass er je irgendwann damit „fertig“ ist, und sich etwa neue Techni-
ken, Kommunikationsmittel oder -usancen aneignen. Gleichzeitig ergeben sich für eine
Vielzahl von Menschen neue Möglichkeiten, Beruf und Leben, Neigungen und Pflicht
gleichzeitig auszuleben. Lebensläufe werden immer bunter, frühere No-Gos – etwa Aus-
zeiten, Downsizing oder unternehmerische Episoden – sind heute salonfähig.
Für Unternehmen heißt das, sie müssen umdenken. Denn einher mit der fortschrei-
tenden Digitalisierung gehen zwei weitere Veränderungstreiber: der in vielen Branchen
schmerzlich spürbare Fachkräftemangel sowie ein Wandel dessen, was Berufstätige von
ihren Arbeitgebern und Auftraggebern erwarten. Gemeint sind dabei sowohl die Arbeits-
bedingungen sowie die ethische Haltung des Unternehmens. Dies gilt insbesondere für
sogenannte Wissensarbeiter, dem Segment der Berufstätigen, die in Zeiten sich ständig
erhöhenden Innovationsdrucks auf dem Arbeitsmarkt besonders gefragt sind.
Eine Studie, die statista (2015) im Auftrag von XING durchgeführt hat, hat dazu inte-
ressante Ergebnisse zutage gefördert. So zeigt die Studie, dass der Grenznutzen eines
höheren Gehaltes bei Wissensarbeitern im Vergleich zur Selbstbestimmung gering ist.
Unter Selbstbestimmung verstehen Wissensarbeiter u. a. die autonome Gestaltung von
Arbeitszeiten. Gleichzeitig sind sie besonders anspruchsvoll, was Sinnstiftung der Unter-
nehmen und Produkte angeht, für die sie arbeiten beziehungsweise die sie herstellen oder
vertreiben helfen. Die Realität, in der sie leben, sieht nach ihrer Wahrnehmung allerdings
deutlich anders aus. So sieht die Mehrheit der Befragten keine Gleichberechtigung beim
Thema flexible Arbeitszeiten. Kurz: Der Arbeitgeber erwartet Flexibilität, ist aber nicht
bereit, sie seinerseits zu bieten. Darüber hinaus sagen die Befragten, dass bei mehr als
jedem zweiten Unternehmen in Deutschland die Zusammenarbeit jenseits der Hierar-
chiewege nicht gegeben ist – wohl kaum eine Struktur, die selbstbestimmtes Arbeiten
befördert. Last, but not least wünschen sich die Wissensarbeiter eine noch stärkere Sinn-
stiftung als bereits vorhanden – übrigens ist das Delta hier klar größer als beim Durch-
schnitt.
Diese Studie ist eine von vielen, die zu gleichen Ergebnissen kommen. Es gibt ver-
mutlich zwei Wege, darauf zu reagieren: entweder mit einem „Basta“, das ausdrückt,
dass Wünsche ja recht und billig sind, die Realität aber nun einmal ist, wie sie ist. Oder
man nimmt diese Erkenntnisse ernst und beginnt, Arbeitsbedingungen, hierarchische
Strukturen sowie Organisationsgrundsätze zu hinterfragen.
Aus meiner Praxiserfahrung kann ich Personalverantwortlichen und Unternehmern
nur dazu raten, letztere Haltung einzunehmen. Und das wesentlich aus zwei Gründen.
Erstens können sich die Talente in vielen Branchen längst die Arbeitgeber aussuchen;
sich also mit den Kriterien auseinanderzusetzen, die für ihre Entscheidung zentral sind,
macht ganz offensichtlich Sinn. Denn längst wird der „War for Talents“ über Arbeits-
bedingungen ausgetragen – und auch hier gilt: Die Konkurrenz schläft nicht. Zweitens
haben viele Unternehmen die Erfahrung gemacht, dass soziale Innovationen tatsächlich
zu technischen Innovationen führen. Um es etwas holzschnittartig zu formulieren: Wer
im Dialog mit der Belegschaft auf angemessene Weise Freiraum und Autonomie bietet,
kann dafür mit größerer Innovationsfähigkeit rechnen. Vielleicht ist das auch der Grund,
18  Recruiting im Zeitalter des digitalen Wandels 311

dass Deutschland bei Rankings zum Thema „modernes Arbeiten“ im Vergleich zu ande-
ren Industrieländern ebenso mittelmäßig abschneidet wie beim Thema Innovation.
Für welche Perspektive sich ein Unternehmen auch immer entscheidet: Frei nach
der berühmten Inschrift über dem Orakel von Delphi ist auch beim Recruiting von zen-
traler Bedeutung, sich zuallererst selbst zu erkennen. Diese Selbsterkenntnis ist Grund-
voraussetzung einer Erfolg versprechenden Positionierung der Arbeitgebermarke und
erfolgreichen Recruitings, denn von ihr leiten sich die entsprechenden Strategien ab. Was
banal klingen mag, ist im Zeitalter beruflicher Netzwerke und Arbeitgeberbewertungs-
plattformen wie kununu.com entschieden wichtig. Denn während in der Vergangenheit
Employer Branding in der geschickten Anwendung von Marketingtechnologien für die
Entwicklung der eigenen Arbeitgebermarke bestand, deren Wahrheitsgehalt aber kaum
zu überprüfen war, ist Letzteres heute ganz anders. Die Information, wie es in einem
Unternehmen wirklich aussieht, ist nur noch einen Klick entfernt.
Wer sich bei Wissensarbeitern positionieren will, muss also darüber nachdenken, wel-
che USPs er der anspruchsvollen Zielgruppe – siehe oben – anzubieten hat. Dabei hilft es
zu wissen, wie die sich bereits an Bord befindenden Mitarbeiter die Arbeitgeberqualitäten
des jeweiligen Unternehmens einschätzen – denn sie sind diejenigen, die potenziell von
externen Talenten zurate gezogen werden. Die übliche jährliche Mitarbeiterumfrage reicht
für diesen Zweck nach meinem Dafürhalten eher nicht aus. Wir bei XING führen wöchent-
lich eine anonyme, sehr einfach gehaltene Zufriedenheitsumfrage durch, zu der der Vor-
stand seinerseits einmal wöchentlich Stellung bezieht. Ziel: zu wissen, was die Mitarbeiter
bewegt – und gegebene Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu stoppen.
Zur Erreichung der Zielgruppe stehen dem Recruiter heute vielfältige digitale Inst-
rumente zur Verfügung, die ihm helfen, effizienter und effektiver Talente zu identifizie-
ren, anzusprechen und zu rekrutieren. Natürlich hat auch die altbekannte Stellenanzeige
nach wie vor ihre Legitimation. Allerdings erreichen Personaler auf klassischen Jobbör-
sen mit ihnen naturgemäß nur aktiv Suchende und alle anderen eben nicht. Gleichzeitig
zeigen viele Studien und unsere eigenen Erfahrungen, dass etwa ein Drittel der infrage
kommenden Kandidaten zwar nicht aktiv sucht, aber grundsätzlich offen für eine Ver-
änderung wäre. Diese latent Suchenden erreichen Recruiter gut über Stellenanzeigen,
die berufliche Netzwerke wie XING ausspielen – und zwar aktiv als Jobempfehlungen
für Mitglieder des Netzwerks. Auf diese Weise erreicht die Anzeige auch die traditionell
unerreichbare Gruppe infrage kommender Talente.
Ein weiterer, im „War for Talents“ unverzichtbarer Kanal ist das sogenannte Active
Recruiting – also die proaktive Suche und Ansprache von Kandidaten durch Recruiter.
Es ist effektiv und effizient – ein Test, den XING mit der Deutschen Telekom durchge-
führt hat, ergab, dass die Kandidatensuche über XING auf diesem Weg 70 % schneller
und rund 80 % günstiger als auf traditionellem Wege war. Hinzu kommt, dass Wissensar-
beiter oftmals die direkte Ansprache durch Repräsentanten des Unternehmens schätzen,
da sie so bereits ein erstes Gefühl für die Kultur der Firma bekommen. Wichtig ist daher
auch hier, dass die Recruiter den Geist des Unternehmens glaubwürdig verkörpern und
die Perspektive der Zielgruppe verstehen und bedienen.
312 T. Vollmoeller

Last, but not least ist ein wichtiger und vielfach unterschätzter Recruiting-Kanal das
Empfehlungsmanagement durch die eigenen Mitarbeiter. Studien zeigen, dass Persona-
ler im deutschsprachigen Raum das sogenannte Referral-Management für den effektivs-
ten Recruiting-Kanal halten. Auch hier gibt es mittlerweile bequeme digitale Lösungen,
die auf Basis der – durch berufliche Netzwerke – öffentlichen Netzwerke der Mitarbeiter
effektive Talentsuche und -ansprache ermöglichen. Dabei ist besonders wichtig, dass die
Markenwerte des Unternehmens mit der Wahrnehmung derselben durch die Belegschaft
zusammenfallen müssen, um glaubwürdig und nachhaltig erfolgreich zu sein.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der epochale Wandel der Arbeitswelt bietet Her-
ausforderungen und Risiken genauso wie Chancen und neue Möglichkeiten – für Berufs-
tätige wie Unternehmen. Der Paradigmenwechsel führt gerade bei dem immer größer
werdenden Heer der Wissensarbeiter zu einer Veränderung ihrer Werte. Standen früher
klassische Insignien des Erfolgs im Mittelpunkt des Strebens junger Talente – etwa ein
hohes Gehalt, ein eindrucksvoller Titel, ein großes Büro und ein schnittiger Dienstwagen
–, sind es heute eher Dinge wie Sinnstiftung, Arbeitsatmosphäre, Flexibilität und Selbst-
verwirklichung, die als erstrebenswert gelten, wie eine Vielzahl von Studien belegt. Das
Sabbatical ist gewissermaßen der neue Dienstwagen geworden.
Mein Appell an alle Unternehmer und Personalverantwortlichen: Begeben Sie sich
auf die Reise. Trauen Sie sich, Neues auszuprobieren. Es gibt dabei kein absolutes Rich-
tig oder Falsch, denn jedes Unternehmen muss seinen eigenen Weg finden, sein eigenes
Modell entwickeln, das für sich, die Branche und seine Mitarbeiter funktioniert. Warum
nicht mit der Viertagewoche experimentieren? Mit Home Office für alle? Warum nicht
den Abteilungschef wählen lassen? Vertrauensarbeitszeit einführen, nach dem Motto:
„Erreichbarkeit ist die neue Anwesenheit“? Im Zuge des New Work Awards, den wir in
diesem Jahr bereits zum dritten Mal an Unternehmen vergeben haben, die innovativ und
zukunftsweisend arbeiten, haben wir unterschiedlichste Konzepte und Ansätze gesehen,
wie es anders geht – und besser als in der Vergangenheit. Und zwar nicht nur in Start-
ups, sondern zunehmend auch in mittelständischen Betrieben und sogar Großkonzernen,
die sich trauen, neu zu denken. Die Buntheit, Unterschiedlichkeit und Diversität lieber
sehen wollen als stromlinienförmige Lebensläufe, die eben auch nur zu stromlinienför-
migen Ergebnissen führen. Das macht mich optimistisch. Als führendes Businessnetz-
werk im deutschsprachigen Raum engagieren wir uns intensiv dafür, Best Practices
aufzuzeigen, Denkanstöße zu geben und den Diskurs zum Thema „New Work“ voranzu-
treiben – damit die Arbeitswelt für alle ein bisschen besser wird.
18  Recruiting im Zeitalter des digitalen Wandels 313

Über den Autor

Dr. Thomas Vollmoeller  ist seit 2012 CEO der XING AG in


Hamburg. Nach Studium und Ausbildung bei IBM arbeitete er
zehn Jahre für die Unternehmensberatung McKinsey und steu-
erte anschließend ab 1997 das sogenannte Non-Food-Geschäft
bei Tchibo. In seiner Zeit bei Tchibo baute Thomas Vollmoel-
ler unter anderem das E-Commerce-Geschäft erfolgreich auf.
Vor seiner Aufgabe bei XING war Thomas Vollmoeller seit
2008 Vorstandsvorsitzender beim Handelskonzern Valora.
Rethinking Talent-Management
Ein Erfahrungsbericht aus der Lufthansa Group
19
Åsa Lautenberg und Lena Kaltenmeier

The illiterate of the 21st century will not be those who cannot read
and write, but those who cannot learn, unlearn, and relearn.
(Alvin Toffler)

Zusammenfassung
Entlang unserer Erfahrungen aus der HR Practice der Lufthansa Group entwickeln
wir in diesem Beitrag die Vision eines modernen Talent-Managements im Kontext
einer Arbeitswelt 4.0. Dazu redefinieren wir zunächst den Talent-Begriff und postu-
lieren davon ausgehend einen personenbezogenen Talent-Managementansatz, der sich
nicht auf die stellenkritischen Kompetenzen von Mitarbeitern im engeren Sinne kon-
zentriert, sondern vielmehr ihre für das Unternehmen relevante Haltung und Werte
in den Mittelpunkt von Recruiting- und Entwicklungsmaßnahmen stellt. Vor die-
sem Hintergrund werden auch erste Leuchtturmprojekte zur Realisierung eines sol-
chen modernen Talent-Managements in der Lufthansa Group vorgestellt. Der Beitrag
schließt mit der Perspektive, dass die systematische und konsequente Integration von
Talent-Management und Unternehmensstrategie zukünftig als Hebel für die Bedarfe
des Business und seiner Kunden fungieren kann.

Å. Lautenberg (*) 
Lufthansa Group Head of Corporate HR & People Strategy,
Lufthansa Group, Frankfurt a. M., Deutschland
E-Mail: [email protected]
L. Kaltenmeier 
Lufthansa Group Head of Corporate Talent Management,
Lufthansa Group, Frankfurt a. M., Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 315


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_19
316 Å. Lautenberg und L. Kaltenmeier

Inhaltsverzeichnis

19.1 Vision eines modernen Talent-Managements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316


19.1.1 Modernes Talent-Management: Abkehr vom dogmatischen
Kompetenzmanagement und hin zur Stärkung von Haltungen und Werten. . . . . . 317
19.1.2 Kultur und Führung als Erfolgsfaktoren der Vision eines
modernen Talent-Managements. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
19.2 Leuchtturmprojekte im Talent-Management der Lufthansa Group. . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
19.2.1 Zusammenlegung von Potenzialerfassung und Zielvereinbarungen . . . . . . . . . . . 319
19.2.2 Transparente Besetzung von Führungspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
19.2.3 Führung als Hauptaufgabe von Führungskräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
19.2.4 Übergabe von Entwicklungsverantwortung in das Business. . . . . . . . . . . . . . . . . 321
19.3 Talent-Management als Hebel für die Bedarfe des Business. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Über die Autorinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

19.1 Vision eines modernen Talent-Managements

Am Anfang steht die Frage: Was ist ein Talent? Die Antwort darauf ist durchaus nicht
leicht, geht es doch um nichts weniger als den Gegenstandsbereich des Talent-Manage-
ments im Unternehmen.
Die Antwort der Lufthansa Group klingt simpel, ihre Implikationen indes sind kom-
plex: Jeder Mitarbeiter hat ein Talent! Somit fokussiert das Talent-Management hier
keine exklusive Zielgruppe von Mitarbeitern, sondern die gesamte Workforce.
Diesem breiten, ganzheitlichen Talent-Begriff liegt ein Menschenbild zugrunde, das
in der Philosophie des Coporate-Talent-Managements der Lufthansa Group zusammen-
gefasst wurde und so innerhalb der „Deutschland AG“ einzigartig ist (siehe Überblick
„Corporate-Talent-Management in der Lufthansa Group“). Diese Philosophie umfasst
neun Leitsätze; alle Maßnahmen des Talent-Managements zahlen auf mindestens zwei
bis drei dieser neun Leitsätze ein (vgl. Beispiel „Welcome diversity!“). Die Philosophie
fungiert also quasi als Filter bei der Entwicklung konkreter Maßnahmen und ist Vision
für die zukünftige Haltung und Ausrichtung des Talent-Managements als Ganzes. Ziel
der Philosophie ist eine veränderte Sicht auf Talente und Kompetenzen – und zwar ganz-
heitlich, das heißt unabhängig von den Gesellschaften, Personengruppen oder Funktions-
kreisen in der Lufthansa Group.

Corporate-Talent-Management in der Lufthansa Group – Die Philosophie


1. Every employee has talent!
2. Different needs, different ways!
3. Talents shape their own future!
4. Up is not the only way!
5. Fostering talent is the key!
6. Turn the spotlight on leading people!
19  Rethinking Talent-Management 317

7. Share and benefit!


8. Welcome diversity!
9. Employer of choice!

Welcome diversity!
In der Lufthansa Group ist Diversity nicht der Verantwortungsbereich eines Diversity-
Beauftragten. „Welcome diversity!“ ist ein Grundwert, der in der Kultur des Unter-
nehmens fest verankert werden soll. Daher orientiert sich die Entwicklung neuer
Maßnahmen stets auch an diesem Grundwert. Die Philosophie des Corporate-Talent-
Managements zielt auf eine gemeinsame, unternehmensweite Haltung und Ausrich-
tung bei der Identifikation und Förderung von Talenten ab.

19.1.1 Modernes Talent-Management: Abkehr vom dogmatischen


Kompetenzmanagement und hin zur Stärkung von
Haltungen und Werten

Talente und Kompetenzen sind eng miteinander verwoben. Wie kaum ein anderes deut-
sches Unternehmen ist die Lufthansa stark eignungsdiagnostisch geprägt. Schon lange
gab es hier ein sehr elaboriertes Kompetenzmodell (Lufthansa Leadership Compass) mit
operationalisierten Verhaltensankern, die der exakten Messung spezifischer Fähig- und
Fertigkeiten von Mitarbeitern dienten. Die Herausforderung des Talent-Managements
heute besteht aber vielmehr darin, aus dem Konglomerat an Kompetenzen solche auszu-
wählen, die zukünftig einen spürbaren und nachhaltigen Mehrwert für das Unternehmen
beitragen werden.
Angesichts einer alternden Belegschaft, digitaler Innovationen und eines zunehmen-
den Mangels an Fachkräften stellt sich allerdings die Frage, ob die Messung spezifischer
Kompetenzprofile überhaupt zukunftsweisend ist: Soll es Unternehmen wirklich um spe-
zifische Kompetenzen bei der Auswahl und Bewertung ihrer Mitarbeiter gehen? Oder ist
nicht ganz im Sinne Alvin Tofflers die generelle Haltung zu lernen, zu verlernen und neu
zu lernen erfolgsentscheidend?
Im Kontext einer dynamischen Arbeitswelt 4.0 kann die Abbildung spezifischer Kom-
petenzprofile allenfalls eine Momentaufnahme darstellen. Nur mit der geeigneten Hal-
tung können Mitarbeiter längerfristig und nachhaltig ihren individuellen Beitrag zum
Business stiften. Hauptaufgabe des Talent-Managements wird es daher zukünftig sein,
solche Mitarbeiter zu finden und zu fördern, die fähig zu Veränderungen sind und der
Dynamik einer Arbeitswelt 4.0 agil und flexibel begegnen können.
In der Logik dieser Denkart müssen die Prozesse und Strukturen des Talent-Managements
reformiert werden, sodass nicht weiter die spezifischen Kompetenzen von Mitarbeitern, son-
dern ihre Haltung, Flexibilität und Veränderungsfähigkeit im Mittelpunkt der Recruiting- und
318 Å. Lautenberg und L. Kaltenmeier

Entwicklungsmaßnahmen stehen. In der Lufthansa Group wurden daher fünf Leadership


Principles formuliert, welche die geforderte Haltung von Mitarbeitern und somit den verän-
derten Denkansatz erstmalig abbilden (siehe Überblick „Leadership Principles der Lufthansa
Group“). So wie die Leitsätze der neuen Philosophie als Vision für ein modernes Talent-
Management im Unternehmen fungieren, bilden die fünf Leadership Principles die täglichen
Handlungsmaximen für die Mitarbeiter und Führungskräfte der Lufthansa Group.
Um die Wichtigkeit der Veränderungsfähigkeit in der Belegschaft zu unterstreichen,
sollte das aktuelle Kompetenzmanagement auf den Prüfstand gestellt werden und letzt-
lich durch eine Art Werteprofil abgelöst werden. Denn die Haltung eines Mitarbeiters
findet in seiner täglichen Arbeit Ausdruck. Diese kann zwar sicher beobachtet, aber nur
schwer gemessen werden. Ziel muss es somit sein, nicht mehr Talente im Sinne von High
Potenzials zu identifizieren, sondern die individuellen Talente eines jeden Mitarbeiters zu
finden und zu fördern; Ziel ist die Umstellung der klassischen stellenbezogenen Diag-
nostik auf eine personenbezogene Diagnostik, die den Mitarbeiter kennenlernen, seine
individuellen Talente herausfinden und davon ausgehend weitere Entwicklungsschritte
ableiten will. Eine Lösung zur Erreichung dieses Ziels hat auch die Lufthansa Group
noch nicht fertig entwickelt, aber das Talent-Management versteht sich hier als Vorreiter
in der Überlegung, wie auch zukünftig die für das Unternehmen am besten geeigneten
Mitarbeiter gewonnen und ihre Talente identifiziert und gefördert werden können.
Selbstnominierung kann dafür ein probates Instrument sein – denn eine personenbe-
zogene Diagnostik gelingt nicht über ein ausformuliertes Messmodell, sondern durch
einen glaubwürdigen und verantwortungsvollen Dialog zwischen Mitarbeiter und Unter-
nehmen. Wo klassische Talentpools mit vorgelagerter stellenbezogener Diagnostik
Aussagen trafen wie „Du bist ein Talent!“, eröffnet eine personenbezogene Diagnostik
Erkenntnisse wie „Das ist Dein Talent!“. Die Chance zur Selbstnominierung verbunden
mit der Frage „Was ist Dein Talent?“ geht noch einen Schritt weiter und erlaubt dem
Mitarbeiter eine selbstständige und selbstreflektierte Interpretation seines Potenzials.

Die Leadership Principles der Lufthansa Group


1. Fostering talent!
2. Driving business!
3. Leading change!
4. Mastering complexity!
5. Creating spirit!

19.1.2 Kultur und Führung als Erfolgsfaktoren der Vision eines


modernen Talent-Managements

Unternehmenskultur und Führung sind die entscheidenden Faktoren für das Gelingen
dieses neuen Denkansatzes im Talent-Management. Insbesondere die Etablierung einer
funktionierenden Fehlerkultur, die auch dem Scheitern innovativer Ideen Raum lässt,
19  Rethinking Talent-Management 319

stellt eine Herausforderung gerade für deutsche Unternehmen dar. Mitarbeiter dürfen
nicht denken, dass Fehler fatale Folgen nach sich ziehen – dann nämlich gehen sie das
Risiko des Scheiterns nicht ein und übernehmen keine Verantwortung für die Interpre-
tation und Reflexion ihrer Talente. Ein modernes Talent-Management impliziert daher
immer auch den Kulturwandel im Unternehmen. In der Lufthansa Group ist dieser Kul-
turwandel mit der neuen Philosophie und den Leadership Principles initiiert worden; nun
gilt es, in engem Schulterschluss mit dem Business auszutesten, wie weit diese Vision
getrieben werden kann.
Der Kulturwandel aber muss zuallererst von oben gewollt und getrieben sein – Verän-
derungen von der Mitte einer Organisation aus gelingen nur schwer. Unsere volatile Zeit
aber ist mehr als geeignet, um solche Veränderungen herbeizuführen. Alte Formeln funk-
tionieren zusehends nicht mehr, die Bereitschaft für Experimente ist daher hoch wie nie
zuvor. Das Talent-Management derweil hat eine schwierige, aber entscheidende Rolle:
Wenn es dem Business ein Transformationspartner sein und der Organisation Humanka-
pital mit Mehrwert bereitstellen will, dann muss es zukünftig weniger die Kompetenzen
und mehr die Persönlichkeit von Mitarbeitern fokussieren; gleichzeitig aber haben sich
über elaborierte Kompetenzmodelle feste Prozesse und Strukturen im Unternehmen eta-
bliert. Auch die Lufthansa Group hat diesen Gegensatz noch nicht vollständig auflösen
können; allein das veränderte Denken über Talente und dessen mögliche Implikationen
für das Talent-Management stiften wertvolle Impulse für das System als Ganzes.

19.2 Leuchtturmprojekte im Talent-Management der Lufthansa


Group

Die Formulierung einer neuen Philosophie für das Corporate-Talent-Management kann


als erster Leuchtturm eines Talent-Managements 4.0 in der Lufthansa Group interpretiert
werden – hierin wurde nämlich die angestrebte Veränderung im Umgang mit Talenten
erstmalig abgebildet. Die Leadership Principles transportieren diesen Geist zusätzlich in
das Führungsverhalten des Managements.
Darüber hinaus hat sich die Vision eines modernen Talent-Managements vor allem in
vier wesentlichen und unternehmensweiten Prozessen manifestiert.

19.2.1 Zusammenlegung von Potenzialerfassung und


Zielvereinbarungen

Der Prozess der Potenzialerfassung wurde mit dem der Zielvereinbarung zusammen-
gelegt. Nunmehr werden nicht nur klassische KPIs und Sachleistungen der Führungs-
kräfte erfasst, sondern auch ihre Haltung, Flexibilität und Veränderungsfähigkeit werden
mit in die Endbewertung aufgenommen. Darüber hinaus werden drei bis vier Feed-
backs aus relevanten Schnittstellen eingeholt und zusätzlich der Selbsteinschätzung
320 Å. Lautenberg und L. Kaltenmeier

der Führungskraft gegenübergestellt. Ziel ist es, aus unterschiedlichen Perspektiven zu


einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen, das neben objektiven Kriterien auch den
Dialog über das Verhalten der Führungskraft umfasst. Um von der Quasigenauigkeit
gewöhnlicher Performance Ratings Abstand zu nehmen, wurde stattdessen die qualitative
Beschreibung und Beurteilung von Leistungsindikatoren eingeführt. Konsequenterweise
wurde der resultierende Leistungserreichungsgrad von der Bonusauszahlung entkoppelt
und eine leistungsorientierte individuelle variable Vergütung somit unterbunden.

19.2.2 Transparente Besetzung von Führungspositionen

Talente brauchen einen Markt und Eigenverantwortung für die eigene Karriere. Dafür
bedarf es eines transparenten und konsistenten Besetzungsprozesses von Führungsposi-
tionen, den es früher in der Lufthansa Group so nicht gab. Nunmehr werden alle offenen
Führungspositionen innerhalb eines Quartals ausgeschrieben, sodass sich grundsätz-
lich jeder Mitarbeiter darauf bewerben kann. Ein divisionsübergreifendes Board einigt
sich über eine Bewerberauswahlliste (Shortlist) und berücksichtigt dabei zwei Punkte:
die scheinbar beste Passung und die Erfüllung von mindestens drei Diversity-Kriterien
(Geschlecht, Nationalität, Cross-Divisionalität, Cross-Funktionalität, Aufsteiger und
Externe). Die letztendliche Entscheidung trifft der Hiring-Manager, der die Auswahl des
Gremiums jedoch ernsthaft berücksichtigen muss.

19.2.3 Führung als Hauptaufgabe von Führungskräften

Seit 2015 wird in der Lufthansa Group aktiv kommuniziert, dass die primäre Aufgabe
von Führungskräften das Führen von Mitarbeitern ist. Führungskräfte müssen daher
nicht mehr zwingend die besten Fachkräfte auf ihrem Gebiet sein. Die Verschiebung des
Aufgabenfokus fällt insbesondere erfahrenen Führungskräften schwer. Die Führungspo-
sitionen sind daher nunmehr auf fünf Jahre befristet; dabei steht keine arbeitsrechtliche
Handhabe im Vordergrund, sondern der ausdrückliche Wunsch des Arbeitgebers, dass
sich eine Führungskraft nach fünf Jahren bewegt. Dieses Ziel wird durch einen Entwick-
lungsprozess unterstützt, der nach vier Jahren angestoßen werden und mit der Führungs-
kraft gemeinsam Karriereperspektiven entwickeln soll. Diese Form der Job Rotation
sieht alle Richtungen vor, denn gemäß der neuen Philosophie des Corporate-Talent-
Managements lautet ein Grundwert: „Up is not the only way!“ Abhängig von Lebens-
phasen wird der Mitarbeiter daher ermutigt, seine Division zu verlassen, ins Ausland zu
gehen oder Führungskraft auf Zeit zu sein. Das Talent-Management leistet mit diesem
Prozess einen expliziten Beitrag zur kulturellen Veränderung der Lufthansa Group: Ein
Unternehmen, das fest auf dem Senioritätsprinzip gründet, charakterisiert seine Mitar-
beiter nunmehr weniger über ihre Position oder die Länge ihrer Betriebszugehörigkeit,
sondern über ihre individuellen Talente und Kompetenzen.
19  Rethinking Talent-Management 321

19.2.4 Übergabe von Entwicklungsverantwortung in das Business

In der Lufthansa Group wird die Verantwortung für die Identifikation und Entwicklung
von Talenten systematisch an das Business übergeben. Gemeinsam mit den Partnern in
den einzelnen Geschäftsfeldern erarbeitet das Talent-Management sogenannte Funkti-
onalstrategien, die dann mit konkreten Entwicklungsaufgaben synchronisiert werden.
Ganz konkret werden mit den administrativen Jobgruppen (zum Beispiel Finance oder
IT) Fragen diskutiert wie: „Was ist unser aktueller Mehrwert für das Unternehmen? Wie
wollen wir wahrgenommen werden? Welche Beiträge können wir zur Umsetzung der
Businessstrategie leisten und welche Workforce benötigen wir dazu?“ Mit der Entwick-
lung der Funktionalstrategien gelingt es dem Talent-Management, sich von der klassi-
schen Personalentwicklung abzuheben, da die Strategie der Organisation fokussiert und
daraus die strategischen Implikationen für die Workforce abgeleitet werden. Modernes
Talent-Management gibt dadurch die eigentliche Entwicklungsverantwortung für Talente
in das Business und redefiniert seine Rolle als methodischer Begleiter der Workforce und
strategischer Kompetenzplaner des Business.

19.3 Talent-Management als Hebel für die Bedarfe des


Business

Selbstverständnis des Talent Managements muss schließlich sein, einen direkten und
bedeutsamen Einfluss auf die Performance der Organisation zu haben. Konkret gelingt
dieser Anspruch beispielsweise über das Placement , das heißt indem die richtigen Mit-
arbeiter am richtigen Platz arbeiten. Strategiegeleitetes Talent-Management bedeutet, das
Unternehmen darin zu unterstützen, effizienter und effektiver auf die Bedürfnisse seiner
Kunden einzugehen. Dafür muss Talent Management ein Verständnis dafür entwickeln,
wo die Gesamtorganisation steht und wo sie hinsteuern will, und nicht zuletzt seine
Angst vor Zahlen und der Messbarkeit der eigenen Leistung ablegen.
Um als strategischer Partner wahrgenommen zu werden, braucht es eine klare Ziel-
richtung, die Talent-Management und Unternehmensstrategie integriert. Langfristig
muss die Struktur der Organisation so flexibilisiert werden, dass die Kompetenzen und
Persönlichkeiten, die von außen ins Unternehmen geholt werden und auch dort verblei-
ben, sich im Unternehmen entsprechend entfalten können. Talent-Management kann
hier als Moderator des Entwicklungsprozesses fungieren. Zudem sollte es als Mittler
der Geschäftsstrategie operieren, indem das eigene Portfolio systematisch aus der Unter-
nehmensstrategie abgeleitet wird. Ein prospektives Vorhaben ist auch, das Potenzial von
People Analytics auszuschöpfen, um Lösungen für konkrete Business Needs und aktu-
elle Fragestellungen des Geschäfts liefern zu können.
322 Å. Lautenberg und L. Kaltenmeier

Über die Autorinnen

Åsa Lautenberg  ist seit dem 1. Juli 2014 zuständig für den
Bereich Corporate HR und Personalstrategie in der Luft-
hansa Group. In dieser Funktion berichtet sie direkt an den
Vorstand (CHRO) und trägt die Verantwortung für alle kon-
zernübergreifenden Personal- und Führungsprozesse, Tools
und Programme in den Bereichen Talent-Management und
Compensation & Benefits. Außerdem leitet sie die Entwick-
lung der Personalstrategie für den Lufthansa Konzern. Bevor
Frau Lautenberg zur Lufthansa Group kam, verbrachte sie
sechs Jahre bei LSG Sky Chefs als Leiterin Management &
Organisationsentwicklung, wo sie die globale Verantwortung
für die Entwicklung der Top-120-Führungskräfte und deren Nachwuchs sowie die Ent-
wicklung der Organisation trug. Frau Lautenbergs Lebenslauf zeigt weiterhin ihre breite
Erfahrung im Talent-Management, Corporate Learning und Change-Management.

Lena Kaltenmeier leitet den Bereich Corporate Talent


Management der Lufthansa Gruppe seit November 2014.
Sie verantwortet alle Produkte und Prozesse zur Gewinnung
zukünftiger und zur Entwicklung aktueller Talente für die
Lufthansa Group. Dies reicht von der Führung und der Wei-
terentwicklung der Employer Brand sowie der Gestaltung
von Recruiting-Prozessen über die Bereitstellung gruppen-
weiter Nachwuchsprogramme und -formate bis hin zu den
Performance-Managementsystemen und -prozessen von
Mitarbeitern und Führungskräften. Die Einführung einer
strategischen Personalplanung und deren Einbettung in die
HR-Produktlandschaft runden neben der Entwicklung von Laufbahnmodellen und der
Gestaltung eignungsdiagnostischer Verfahren das Spektrum des Bereiches ab. Vor ihrem
Einstieg in die Aviation-Industrie war Frau Kaltenmeier als Leiterin und Expertin in ver-
schiedenen Positionen der HR-Bereiche Business-Partner, CoE sowie Shared Service in
der Commerzbank AG tätig.
Digital HR oder HR Digital – Die
Bedeutung der Digitalisierung für HR 20
Mathias Weigert, Horst-Dieter Bruhn und Michael Strenge

Zusammenfassung
Nach Jahren fast endloser Diskussionen um die Bedeutungssicherung bzw. Positionie-
rung und den Wertbeitrag der HR-Funktion verändern die großen Herausforderungen
von Digitalisierung, Demografie und Diversity das Spielfeld der Unternehmensfunk-
tionen. Die Herausforderungen für das Personalmanagement wirken auf Führungs-
kräfte und Mitarbeiter innerhalb der Personalfunktion gleichermaßen.
Die Digitalisierung wird tief eingreifen in das Aufgabenspektrum des Personal-
managements. Die Veränderungen auf der Seite der Beschäftigten aktiv zu steuern
und die Führungsmodelle an die teilweise disruptiven Veränderungen der Arbeits-
welt anzupassen wird zu einer enormen Herausforderung nicht allein für die Perso-
nalentwicklung. Neue oder untergehende Jobfamilien, die Gewinnung von neuen
Mitarbeitern für die digitale Transformation, flexiblere Arbeitszeitmodelle, Projekt-
organisationen mit hohen Anteilen von Freelancern, radikale Kundenorientierung bei
der Entwicklung von Prozessen und Instrumenten sind nur einige der Stichpunkte auf
der Agenda von HR.
Auch auf der Agenda: Die Chancen der Digitalisierung für die Effizienz des eige-
nen Wertbeitrags zu nutzen. Alles das, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert

M. Weigert (*) · H.-D. Bruhn 


Kienbaum Management Consultants, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
H.-D Bruhn
E-Mail: [email protected]
M. Strenge 
Kienbaum Management Consultants, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 323


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_20
324 M. Weigert et al.

werden. Abhängig von der Unternehmensstrategie und dem gewählten Geschäftsmo-


dell wird die Roadmap für die Digitalisierung von HR bestimmt. Auch wenn sie in
unterschiedlichen Geschwindigkeiten realisiert werden, Self Services von Beschäftig-
ten und Managern werden die überwiegend transaktional bestimmten administrativen
Funktionen in HR radikal verändern. Mobile Datenzugriffe und eine hohes Maß an
Transparenz („HR Big Data“) werden das Gesicht der Personalabteilung gegenüber
ihrer Kunden prägen.
Inwieweit die Personaler in der Lage und bereit sind, den digitalen Wandel aktiv
mitzugestalten, sollte zeitnah entschieden werden. Ein Audit dieser Kompetenzen
wird zu einem Standardprodukt der Beratungsbranche werden. Handlungsfelder zu
identifizieren und eine realistische Roadmap zu entwickeln wird darüber entscheiden,
ob HR sein Versprechen der Businesspartnerschaft einhalten kann.

Inhaltsverzeichnis

20.1 Digitalisiert sich HR, oder wird HR digitalisiert?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324


20.2 Was bestimmt den richtigen Grad der Digitalisierung für HR?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
20.2.1 Kann alles das, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert werden? . . . . . . 327
20.2.2 Die Landkarte der Personalprozesse als Grundlage
für das Finden des richtigen Grads der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
20.2.3 Active Sourcing und Talent Acquisition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
20.2.4 Learning & Development. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
20.2.5 Performance-Management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
20.2.6 Personaladministration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
20.2.7 Die Prognosefähigkeit von HR wird eingefordert
und die Akzeptanz von HR bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
20.2.8 Digital Readiness Check. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
20.3 Was sind wichtige Voraussetzungen für die Digitalisierung von HR?. . . . . . . . . . . . . . . . 334
20.4 Ist Personal „bereit“ für die Digitalisierung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

20.1 Digitalisiert sich HR, oder wird HR digitalisiert?

Der mit den Begriffen „Digitalisierung“ und „Industrie 4.0“ umschriebene technologi-
sche Wandel wird Wirtschaft und Gesellschaft verändern. Die digitale Transformation
greift tief ein in das Fundament des unternehmerischen Handelns. Strategie, Struktur,
Prozesse und Kultur durchlaufen einen nachhaltigen Wandel. Geschäftsmodelle, Pro-
dukte und Dienstleistungen werden kundenzentriert radikal neu gedacht. Die digitale
Transformation ist ein dauerhafter – in Teilen sicherlich disruptiver – Prozess und kein
einmaliges Ereignis. Sie verändert die Arbeitswelt aller. Die Konsequenzen für den
Arbeitsmarkt sind weitreichend (Abb. 20.1).
20  Digital HR oder HR Digital … 325

Abb. 20.1  Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt verändern

Abb. 20.2  Die drei D’s der aktuellen Herausforderungen für das Personalmanagement

Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nimmt Fahrt auf. Auch wenn
der digitale Transformationsprozess dabei primär nicht auf die Digitalisierung von HR
abzielt, sondern auf die Veränderung der Gesamtunternehmung, die durch das Personal-
management unterstützt werden muss: Die Digitalisierung erfasst jedes Geschäftsmo-
dell, auch das des Personalmanagements. Das stellt die HR-Funktion mehrfach vor große
Herausforderungen (Abb. 20.2):
326 M. Weigert et al.

• Zum einen muss HR die notwendigen Mitarbeiter für den rasanten digitalen Wandel
an Bord holen, entwickeln und binden und eine unternehmensweite Kultur des ständi-
gen Wandels und die dafür erforderlichen Führungsmodelle etablieren.
• Zum anderen gilt es, die eigenen HR-Prozesse und -Instrumente auf den Prüfstand
zu stellen und die Frage zu beantworten: „Welches Potenzial hat die Digitalisierung,
damit HR sich auf seine strategischen Kernaufgaben fokussieren kann?“

Die HR-Funktion steht also „mittendrin“. Sie kann und muss die Treiberthemen von stra-
tegischer Personal- und Kompetenzplanung, von Qualifizierung, Talent-Management und
Change-Management, von transformationaler Führung und Arbeitswelt 4.0 professio-
nell gestalten. Dabei sind keine isolierten Lösungen und somit die nächste Generation
an nach innen gerichteten HR-Modellen und -Instrumenten gefragt, sondern vielmehr
integrierte und schnelle Lösungen, die gemeinsam mit den Unternehmensfunktionen
IT, Unternehmensentwicklung und den Geschäftsbereichen entwickelt werden. Der alte
Administrationsfokus der Personalarbeit erzeugt hierbei eine falsche Stoßrichtung, auch
der aktuelle Fokus auf Recruiting- und Talent-Management bleibt unzureichend.
Ob in den meisten Branchen „kein Stein auf dem anderen liegen bleibt“, ob digitale
gegenüber analogen Erfolgsfaktoren obsiegen, oder ob intelligente hybride Lösungen
für unternehmerische Innovationen, Produktion, Kundenmanagement und Innenprozesse
entstehen, lässt sich kaum vorhersagen. Dennoch besteht auf den oberen Führungsebe-
nen – aber auch für moderne HR-Funktionen selbst – ein enormer Bedarf an Lösungen
für:

• die digitale Unternehmenstransformation mit den IT-Treibertechnologien von Data


Analytics, Cloud-Lösungen, künstlicher Intelligenz, Social Media, Mobile Apps,
Datensicherheit, Technologien (zum Beispiel Robotik, 3-D-Druck), Augmented Rea-
lity oder Bio-Informatik;
• die Analyse und Akquisition der hierzu notwendigen Digitalkompetenzen in erfolgs-
kritischen Jobgruppen von F&E, Business Development, IT, Supply Chain und Mar-
keting;
• die Mobilisierung der enormen digitalen Potenziale für die Verschlankung und Vernet-
zung interner Prozesse, zu denen die flächendeckend aufgestellte HR-Funktion natür-
lich zählt;
• die interne und externe Vernetzung von Wissensmanagement, Arbeitskapazitäten und
Unternehmenskompetenzen sowie von strategischen Partnerschaften;
• die Gestaltung einer Start-up-affinen Unternehmenskultur mit Teamgeist, Agilität,
Projektfokus, technologischer Affinität, radikaler Kundenzentrierung und unterneh-
merischer Konsequenz.
20  Digital HR oder HR Digital … 327

20.2 Was bestimmt den richtigen Grad der Digitalisierung für


HR?

20.2.1 Kann alles das, was digitalisiert werden kann, auch


digitalisiert werden?

Internetpioniere und Digitalisierungsexperten, wie beispielsweise Lars Hinrichs, Grün-


der des sozialen Netzwerks XING, postulieren schon seit einiger Zeit, „dass alles, was
man digitalisieren kann, auch digitalisiert werden wird“; es sei eben nur eine Frage der
Zeit, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im Jahr 2013 bemerkte. Was bedeutet
dieser unaufhaltsame Trend für die Digitalisierung der Personalfunktion?
Aktuelle Studienergebnisse bestätigen, dass die Mehrzahl der Personaler von einem
Digitalisierungsschub in der Personalfunktion ausgeht (Kienbaum Institut @ ISM 2016).
Sie zeigen eine mäßige Einschätzung des Digitalisierungsgrads im Personalbereich. Den
Kernprozessen Rekrutierung und Personaladministration wird dabei noch das größte
Digitalisierungspotenzial zugewiesen. Grundsätzlich zeigen die Untersuchungen ein
hohes zukünftiges Potenzial für die Digitalisierung der Personalfunktion (Kienbaum Ins-
titut @ ISM 2016).

20.2.2 Die Landkarte der Personalprozesse als Grundlage für das


Finden des richtigen Grads der Digitalisierung

Was sind nun die Prozesse mit hohem Digitalisierungspotenzial, und was ist der richtige
Grad der Digitalisierung? Ein Grundmodell professioneller Personalarbeit sind klar defi-
nierte Personalprozesse, diese bilden eine gute Grundlage zum Ermitteln des richtigen
Digitalisierungsgrads (Abb. 20.3).
Grundsätzlich wird den folgenden Personalprozessen das größte Digitalisierungspo-
tenzial zugewiesen:

• Sourcing und Rekrutierung,


• Personaladministration,
• HR-Berichtswesen/operative Personalplanung,
• Learning & Development,
• Performance und Kompetenzmanagement,
• Compensation & Benefits.

Der richtige Grad der Digitalisierung ist erstens eng mit dem gesamten Grad der Digi-
talisierung des Unternehmens verknüpft. Abhängig von der Unternehmensstrategie und
dem gewählten Geschäftsmodell wird die Roadmap für die Digitalisierung von HR
bestimmt. Dabei ist es ebenso wichtig, die Digitalisierungsnotwendigkeit und -fähig-
keit der Mitarbeiterstruktur zu bestimmen. Hierbei ist zu berücksichtigen, welche
328 M. Weigert et al.

Abb. 20.3  HR-Prozesslandkarte, die der Kienbaum-Untersuchung zum Digitalisierungspotenzial


zugrunde gelegt wurde

Mitarbeitergruppen im Unternehmen beschäftigt sind. Eine der gröbsten Einteilungen


ist die Unterscheidung von Mitarbeitergruppen in den sogenannten „White Collar“ (zum
Beispiel Management) und „Blue Collar“ (zum Beispiel Produktion). Weitere Detaillie-
rung bieten Funktionsfamilienkonzepte. Bei diesen kann noch fokussierter das Digitali-
sierungspotenzial abgeleitet werden. Zugleich wird über eine solche Betrachtung auch
der digitale Reifegrad der Mitarbeiterstruktur abgebildet, dieser bezieht sich nicht nur
auf den beruflichen Alltag, er bezieht vielmehr auch das private digitale Nutzerverhalten
mit ein. Es kann also sein, dass Mitarbeiter in der Produktion während der Arbeitszeit
keinen Zugang zu ihren mobilen Endgeräten haben, sehr wohl aber in der arbeitsfreien
Zeit diese kontinuierlich nutzen. Auch das gilt es grundsätzlich mit in die Überlegungen
einzubeziehen. Gleichzeitig werden aber auch Grenzen der Digitalisierung aufgezeigt,
beispielsweise für Personalprozesse, bei denen analoge Abstimmungen zwingend erfor-
derlich sind. Als ein Beispiel seien Abstimmungen mit dem Sozialpartner erwähnt.
20  Digital HR oder HR Digital … 329

Zweitens ist die Digitalisierung der Personalfunktion vom aktuellen und zukünftigen
technologischen Wandel abhängig. Neue Technologien werden kontinuierlich entwickelt,
mobile Endgeräte werden immer leistungsfähiger, und die „internen Kunden“ ändern
ihre Einstellung gegenüber der Nutzung digitaler Technologien.
Was ist nun konkret möglich?

20.2.3 Active Sourcing und Talent Acquisition

Kaum verwunderlich ist es, dass einem HR-Prozess das größte Digitalisierungspotenzial
zugemessen wird, bei dem die Unternehmensgrenzen verlassen werden und das Internet
für die aktive Ansprache potenzieller Bewerber genutzt wird. Der „klassische“ Rekru-
tierungsprozess, bei dem vakante Positionen – oft noch in Printmedien – ausgeschrie-
ben werden, verliert dramatisch an Bedeutung. Das Medienverhalten der Zielgruppen
entspricht nicht länger dieser Strategie. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass
sich Bewerber nicht mehr bei den Unternehmen bewerben, sondern die Unternehmen bei
potenziellen Bewerbern. Wer geeignete Bewerber ansprechen und im Kampf um (digi-
tale) Talente an vorderster Front stehen will, muss seine Arbeitgeberpräsenz an den Kon-
taktpunkten stärken, an denen die potenziellen neuen Mitarbeiter als Konsumenten von
Informationen im Internet sichtbar werden. „Post and pray“ – also die Veröffentlichung
von Stellenanzeigen in Medien mit möglichst hoher Reichweite wird der punktgenauen
Adressierung von Angeboten im Internet weichen. Die virale Verbreitung derartiger
Angebote über soziale Medien ist genauso gewollt wie wirksam. Nur wer dieses Marke-
ting seiner offenen Positionen und seines Arbeitgeberimages beherrscht und steuert, wird
im Kampf um die Talente kein Opfer der Demografiefalle. Selbstverständlich erzeugt
dieses Vorgehen enorme Datenmengen, die, richtig ausgewertet, für eine Punktlandung
bei den Zielgruppen verwendet werden können. Die Rolle des Talent-Akquisiteurs wird
sich im Zuge des technologischen Wandels verändern. Datenanalysen im Sinne eines
aktiven Online-Marketings werden bedeutsam werden. Das „Active Sourcing“ wird die
Suchstrategien verändern. Personaler mit der Fähigkeit und dem notwendigen Werkzeug
zur aktiven Suche und Ansprache geeigneter Profile werden das Rennen machen. Die
Ansprache der Zielgruppen wird angesichts der Vielfalt möglicher Kontaktpunkte maß-
geschneidert sein müssen, dem Fisch wird der Köder schmecken müssen, nicht umge-
kehrt! Geschwindigkeit wird ein kritischer Erfolgsfaktor bei der Gewinnung zukünftiger
Beschäftigter werden.
Das Internet ist ein Medium des Moments. Wer sich online bewirbt, will nur wenig
Zeit investieren, dann aber zeitnah in den weiteren Prozess des suchenden Unternehmens
eingebunden bleiben. Die Softwareindustrie bedient diesen Wandel mehr als genügend.
Standardisierung und radikale Verschlankung des administrativen Teils der Rekrutierung
und Customizing dort, wo die Individualität des Unternehmens erfolgskritisch ist, prägen
die Strategien der Anbieter. Wer allein an vollständig integrierte Lösungen beispielsweise
einer HR-Suite denkt, wird gut beraten sein, die Vielfalt der Innovationen meist junger
330 M. Weigert et al.

Unternehmen an diese HR-Kernsysteme anzudocken, um die eigene Marktpräsenz im


Internet aufrecht zu erhalten.
Der „klassische“ Recruiter wird im Zuge des Rollenwandels nicht überleben. Dessen
Rolle wird derjenigen eines Marketingspezialisten weichen, für den Daten die maßgeb-
lichen Quellen zielgenauer Kundenansprachen sein werden. Unorthodoxe Kontaktwege
und die Fähigkeit zur Agilität prägen das Profil genauso wie die Bereitschaft, Innovatio-
nen auszuprobieren und deren Effekte und Akzeptanz im internen und externen Arbeits-
markt konsequent zu messen.

20.2.4 Learning & Development

Die Weiterbildung steht im Zuge der Digitalisierung vor der Beantwortung zweier Kern-
fragen:

• Wie verändert sich das Lernverhalten der Beschäftigten, und wie reagiert die Perso-
nalentwicklung auf diesen Trend?
• Welche zukünftigen Inhalte prägen die Kompetenzentwicklung der Beschäftigten?

Zur ersten Frage: Der Referenzrahmen des erstmals bereits 2002 von Charles Jennings
bei Reuters angewandten 70-20-10-Modells durchdringt die Diskussionen über die
Zukunft von Learning & Development. Die traditionelle Weiterbildung trägt demzufolge
nur zu zehn Prozent zur beruflichen Qualifizierung bei. 20 % des Kompetenzaufbaus
resultieren aus Anregungen aus dem beruflichen Umfeld (Kollegen und Vorgesetzte).
Der mit 70 % maßgebliche Teil der individuellen Entwicklung ist jedoch selbst gesteu-
ert, basierend auf der Bewältigung von Aufgaben, für die erforderliche Kompetenzen
kontextgetrieben aufgeladen werden. Dieses Konzept ist nicht neu und schon gar nicht
Ergebnis eines digitalen Wandels. Nur: Die Beschreibung dessen, was im Unternehmen
von den Beschäftigten längst gelebt wird, wirft die Frage auf, welche Unterstützungs-
leistungen Personalentwickler erbringen können, um das Lernen im direkten Arbeits-
kontext nachhaltig zu unterstützen. Die Rolle der Führungskraft für Lernmotivation
und Definition eines selbst organisierten Lernpfades wird dramatisch zunehmen. Auch
werden Lernumgebungen Einzug in die Unternehmen halten, die es den Beschäftigten
erlauben, im Kontext beruflicher Herausforderungen von Erfahrungen anderer zu lernen,
Wissen untereinander zu tauschen und Netzwerke zu bilden. Der enge Rahmen der Per-
sonalentwicklung wird dadurch entgrenzt, der Klassenraum wird virtualisiert. Vorgelebt
wird diese Entwicklung im Rahmen der „Higher Education“. Hochschulen sind heute
Lernorte, für die alle Formen digitaler Wissensvermittlung gängige Praxis sind. Das
Internet stellt ein unermessliches Wissensreservoir dar. Jeder Lernende entwickelt seine
eigenen Strategien, diesen Wissensschatz zu heben. Wenn die nächste Generation in den
Berufsalltag eintritt, wird sie die Unternehmen damit konfrontieren, mit diesen Lernstra-
tegien korrespondierende Lernwelten anzubieten. Somit verändert Digitalisierung die
20  Digital HR oder HR Digital … 331

L&D-Praxis: Lernumgebungen werden konsequent vom Lerner selbst gesteuerte und


selbst organisierte Multiplattformlösungen. Und Lernmedien sind durchgängig digital
und kontextabhängig nutzbar. Welches Ausgabemedium dabei verwendet wird, ist uner-
heblich, Hauptsache es ist mobil nutzbar. Von Augmented Reality in der beruflichen Qua-
lifizierung zu sprechen halten wir derzeit für verfrüht. Wo immer aber die Datenbrille
Einzug in das Unternehmen hält, werden Arbeitsumgebung und Lernumgebung integ-
riert. Wenn der Fachhandwerker für die Wartung komplexer Anlagen auf Daten aus der
Augmented Reality zugreift, wird er mit einer Augenbewegung direkt das erforderliche
Wissen abrufen können, die Informationen sachgerecht im Rahmen einer Lösung verar-
beiten. An dieser Stelle werden HR-Experten im Learning & Development vielleicht gar
nicht mehr die Lösungspartner für derartige Szenarien sein.
Zur zweiten Frage: Mit der Digitalisierung geht der Wunsch einher, die Dynamik und
Aufbruchsstimmung von Start-up-Unternehmen in die Kultur schwerfällig gewordener
Organisationen einfließen zu lassen. Radikal kundenzentrierte Produktentwicklungs-
methoden werden genauso vermittelt werden müssen wie die Frage, welche Kompeten-
zen der Wandel erfordert und welche Führungsmodelle den Weg in die Zukunft weisen
(Abb. 20.4).
Getrieben werden die neuen Inhalte für Personalentwickler sowohl vom Topmanage-
ment wie von denjenigen Beschäftigten, die eine Kultur des digitalen Aufbruchs inter-
nalisiert haben und Arbeitsumgebungen entwickeln wollen, in denen digitale Chancen
auf fruchtbaren Boden fallen und im Rahmen von Marktangeboten agil umgesetzt wer-
den. Die erste Welle, die dabei von Personalentwicklern angestoßen wird, wird sensi-
bilisieren. Die „Digital Awareness“ ist die Voraussetzung für die Umsetzung konkreter
Entwicklungsmaßnahmen, die sich über alle Unternehmensbereiche erstrecken werden.
Die Führungskräfteentwicklung wird eine nächste Generation von Vorgesetzten hervor-
bringen, für die virtuelle Führung in Netzwerken und Design Thinking zu einer alltäg-
lichen Kompetenz werden. Die digitale Welt wird nicht mehr gekennzeichnet sein von
homogenen Teams weitgehend interner Beschäftigter. Sie wird sich entwickeln zu einem
kooperativen Geflecht interner Projektmitarbeiter und externer Freelancer. Wie führt man
derartige Teams zum Erfolg? Wie wirken Führungsstile, wenn Teams ständig mit ver-
änderten Führungskräften zusammenarbeiten? Welcher gemeinsame (Unternehmens-)
Rahmen bildet die Kultur, in der Führung stattfindet? Zu Herausforderungen dieser Art
werden im Zuge der Personalentwicklung Lösungsangebote entwickelt werden müssen,
wenn Führungskräfte den digitalen Wandel gestalten wollen.

20.2.5 Performance-Management

Ein weiteres Beispiel bildet der Prozess des Performance-Managements. Dieser ist aktu-
ell bei vielen Unternehmen noch ein recht unflexibler, jährlich wiederkehrender Perso-
nalprozess. Zukünftig wird dieser Prozess stärker flexibilisiert, Ziele werden unterjährig
angepasst, kontinuierliches Feedback aus unterschiedlichen Quellen wird über das Jahr
332 M. Weigert et al.

Abb. 20.4  Dimensionen des Kulturwandels mit hohem Einfluss auf Inhalte der Personalentwick-
lung

hinweg erhoben und direkt an die Feedbacknehmer zurückgemeldet. Möglich wird das
durch den Einsatz innovativer Technologie, die es den Feedbackgebern ermöglicht,
in einfacher Weise direkte Rückmeldungen zu geben. Dieser Prozess wird nicht nur in
modernen Start-up-Unternehmen eingesetzt, sondern bereits auch in innovativen etab-
lierten Unternehmen implementiert.

20.2.6 Personaladministration

Sämtliche durch Regeln und Routinen geprägte Personalprozesse werden sich verändern.
Dort, wo programmierbare Regelsätze Personalprozesse sinnvoll standardisieren und
automatisieren können, werden Personaler als Akteure entlastet und Effizienzpotenziale
20  Digital HR oder HR Digital … 333

gehoben. Workflows werden zunehmend automatisiert, sodass Algorithmen darüber ent-


scheiden, welche Rolle in einem Prozess die nächste Aufgabe übertragen bekommt.
Sogenannte Self Services werden die Personaladministration der Zukunft verändern.
Ob dabei ausschließlich Plattformen zum Einsatz kommen, die auf die Unternehmens-
grenze beschränkt bleiben, oder ob mobile Anwendungen den Einsatz persönlicher End-
geräte erlauben, ist sicherlich noch nicht beantwortet. Es wird Unternehmen geben, die
den Zugriff auf personalwirtschaftliche Daten für die Beschäftigten und Führungskräfte
öffnen werden. Genauso wird es Organisationen geben, die gute Gründe nennen, dies
nicht zu tun. Die Qualitätssicherung für die verarbeiteten Personaldaten wird vom HR-
Servicecenter und vom Businesspartner auf die digitalen Personalwirtschaftssysteme
verlagert. Datenabgleiche gegen einen vorgegebenen Gestaltungsrahmen werden es
erlauben, Daten zu identifizieren, die durch Personaler qualitätszusichern sind. Dieses
Eingreifen wird jedoch zur Ausnahme werden. Die Personalservicefunktionen werden
sich daher gravierend verändern.

20.2.7 Die Prognosefähigkeit von HR wird eingefordert und die


Akzeptanz von HR bestimmen

Die Personaladministration und die Businesspartner werden Entscheidungen zuneh-


mend datengestützt treffen. Dabei werden rückwärts blickende Daten (Reportings) weni-
ger eine Rolle spielen als analytische Ableitungen für zukünftige Szenarien (Predictive
Analytics). Die dazu erforderlichen Kompetenzen hat HR meist noch nicht. Auch ist die
Datenqualität aktuell genauso wenig ausreichend wie die technologische Ausstattung
von „HR Data Scientists“. Die Datenquellen werden vielfältiger, und die Kunst der Pro-
gnose wird darin liegen, Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammenzutragen und
mittels geeigneter Analyseinstrumente für zukunftsgerichtete Ableitungen zu nutzen. Es
besteht sicherlich noch die große Gefahr, Datenfriedhöfe zu entwerfen, deren Sinnhaftig-
keit genauso wenig geklärt ist wie der Datenschutz. HR wird Szenarien entwickeln müs-
sen, wie der Einstieg in die Prognostik gelingen soll. Pragmatismus wird hierbei helfen,
nur Daten zu erheben, die wirklich zur Evidenz von personalwirtschaftlichen Entschei-
dungen beitragen.

20.2.8 Digital Readiness Check

Inwiefern sich das HR-Geschäftsmodell, die HR-Organisation und die Prozessland-


karte des Personalmanagements adäquat der Herausforderung der Digitalisierung stel-
len, wird zügig zu beantworten sein. Die Beurteilung von Reifegrad und Güte und die
Ableitung einer Roadmap werden verschmelzen mit den üblichen Assessments von HR-
Organisationen. Der „Digital Readiness Check“ für HR wird zu einem Beratungspro-
dukt werden, das Personalberater ihren Kunden unterbreiten. Dabei wird eine aktuelle
334 M. Weigert et al.

Standortbestimmung des Digitalisierungsgrades einem zukünftigen Zielbild gegenüber-


gestellt, um das Digitalisierungspotenzial entlang der Personalprozesslandkarte zu ermit-
teln. Neben den Personalprozessen selber werden auch eingesetzte Personalinstrumente
in die Analyse miteinbezogen. Im Ergebnis wird auf diese Weise radikal mitarbeiterzen-
triert der richtige Grad der Digitalisierung ermittelt. Dabei werden nicht alle relevanten
Personalprozesse zum gleichen Zeitpunkt digitalisiert werden. Vielmehr wird die Digita-
lisierung in Wellen erfolgen, die auch als digitale „Roadmap“ beschrieben werden kön-
nen und die Blaupause für die Implementierung liefern.
Bei der Implementierung werden, ähnlich wie bei der Digitalisierung des Gesamtun-
ternehmens, neue Arbeitsmethoden eingesetzt, um noch mitarbeiterzentrierter zu agie-
ren, agiler und schneller in der Umsetzung zu sein. Häufig eingesetzte Methoden sind
„Design Thinking“, „Lean Start-up“ oder „Rapid Prototyping“.

20.3 Was sind wichtige Voraussetzungen für die Digitalisierung


von HR?

Die Digitalisierung von HR eröffnet viele Chancen und bringt gleichzeitig einige Her-
ausforderungen mit sich. Die Personalfunktion kann Vorreiter der digitalen Transfor-
mation sein, hierzu gilt es, die schon beschriebene digitale HR-Roadmap konsequent
umzusetzen. Im Ergebnis wird die richtige digitale Arbeitswelt geschaffen, in der Mitar-
beiter zukünftig neue Zusammenarbeitsmodelle praktizieren, den kulturellen Wandel als
etwas Positives erleben, neue Technologien nutzen und vor allem neue Führungsmodelle
(er)leben. So wird HR auf ganz natürlichem Wege zum Moderator der digitalen Trans-
formation. Wichtig für das glaubwürdige Ausfüllen dieser Rolle ist, dass HR ihre Haus-
aufgaben umgesetzt hat und die Moderation authentisch ausführen kann.
Im Rahmen einer gemeinsam mit BITKOM (2016) durchgeführten Studie konn-
ten wir nachweisen, dass das Personalmanagement dem Datenschutz zwar eine große
Bedeutung für die digitale Transformation zuweist, dass aber die eigenen Kompetenzen
nicht ausreichen, um Risiken adäquat einschätzen und managen zu können. Angesichts
der bei HR-Managern stark ausgeprägten Bedrohungsszenarien entscheidet zu oft der
Bauch, und nicht der Kopf. Dies führt zu wenig selbstsicher vorangetriebenen Digitali-
sierungsprojekten mit hohen Projektrisiken.
Am Anfang erfolgt die Bestandsaufnahme: Wie steht HR intern im Vergleich zu ande-
ren Unternehmensfunktionen da? Welchen Beitrag liefert HR zur digitalen Transforma-
tion des Gesamtunternehmens? Welche digitalen Kompetenzen sind bereits aufgebaut,
welche nicht? Wie steht es um die Kundenzufriedenheit und Nutzung von bestehenden
digitalen HR-Tools und Prozessen?
Um einen signifikanten Beitrag zur digitalen Transformation zu leisten, muss HR
bewusst werden, dass wir vor einer lang anhaltenden und in Teilen disruptiven Verän-
derung der Arbeitswelt stehen. Somit sind Begeisterungsfähigkeit, Empathie, Flexibili-
tät, aber auch Kommunikation weiterhin unentbehrliche Schlüsselkompetenzen für die
20  Digital HR oder HR Digital … 335

Personalfunktion. Was sicherlich neu sein wird, sind ebenso starke analytische Fähigkei-
ten und damit verbunden der Umgang mit komplexen Datenmengen aus unterschiedli-
chen Datenquellen. Sei es der Umgang mit soziodemografischen Daten, mit neuen KPIs
oder mit Auswertungen von Google Analytics für die neueste Rekrutierungsaktion: HR
muss sich einerseits Big-Data-Kompetenzen aneignen, anderseits wird der Wertbeitrag
von HR im Rahmen der Digitalisierung auch konsequenter in vielfältigen Dimensionen
gemessen werden.
Übergreifende Kernkompetenzen zur Unterstützung der digitalen Transformation
werden darüber hinaus sicherlich in der Agilität, Nutzerzentrierung und wandlungsfähi-
gen Technologien von HR liegen. Dies ist weitestgehend konträr zur eigentlichen DNA.
Allerdings muss die Personalfunktion nicht nur die eigenen Kompetenzen, sondern auch
das eigene Geschäftsmodell und Selbstverständnis an die dynamischen Anforderungen
ihrer hoch vernetzten internen Kunden anpassen. Erfolgreiche HR-Produkte, Services
etc. finden daher auch nur ihre Berechtigung, wenn sie aus Kundensicht zu einer bes-
seren Serviceerfahrung und zu effizienteren und effektiveren Wertschöpfungsprozes-
sen beitragen. Für die Zusammenarbeit mit dem Kunden bedeutet Digitalisierung, dass
neue Wege der Kommunikation entstehen müssen, die schnelles und direktes Feedback
ermöglichen. So lassen sich beispielsweise Vertragsveränderungen als digitale Servi-
ces im Rahmen von Self Services gestalten. Ob und in welchem Umfang sich HR an
Cloud-Lösungen herantraut, wird wohl von der Sensibilität der zu verarbeitenden Daten
abhängen. Mobile Datenzugriffe von Führungskräften und HR werden hingegen erfolgs-
kritisch sein. Eine schnelle Lösung zur Schließung digitaler Kompetenzlücken könnten
sogenannte Gig-Worker darstellen, die ihre Fähigkeiten kurzfristig projektweise anbieten
und dann weiterziehen.

20.4 Ist Personal „bereit“ für die Digitalisierung?

Die Bereitschaft zur Digitalisierung von HR setzt ein „Wollen“ genauso voraus wie ein
„Können“. Ob die Personalfunktion sich der digitalen Herausforderung stellen will,
sollte eigentlich durch gegebene Sachzwänge längst beantwortet sein. Wir sehen aber
eine deutliche Streuung beim Reifegrad dieser „Bereitschaft“. Global agierende Kon-
zerne und kleine, technologieaffine Unternehmen bilden die Speerspitze. Der Mittelstand
beobachtet und tariert Chancen und Risiken aus. In unserer Studie zu HR und Daten-
schutz (Kienbaum und BITCOM 2016) konnten wir nachweisen, dass der Public Sector
dramatisch hinterherhinkt: Es herrscht eine überwiegend risikoaverse Haltung vor. Der
Kenntnisstand zur digitalisierten Personalfunktion ist gering ausgeprägt, und Zukunfts-
technologien wie beispielsweise die Cloud werden von sehr vielen Entscheidern in HR
kategorisch abgelehnt. Dies erschwert die Partizipation an Marktentwicklungen und wird
in der HR-Landschaft zu einer Digitalisierung in deutlich unterschiedlichen Geschwin-
digkeiten führen.
336 M. Weigert et al.

Die Personalfunktion ist im Unternehmen nicht der „First Mover“ bei der Digitali-
sierung. Im Kern kommt es auch nicht vordringlich darauf an, die eigene Profession zu
digitalisieren. Vielmehr gilt es, im Rahmen der Veränderung die notwendigen Unterstüt-
zungen zu leisten, um die Unternehmen und die Beschäftigten in eine digitale Zukunft zu
führen. Digitale Führungskompetenzen, Kundenzentrierung, Agilität und eine Kultur des
Aufbruchs zu etablieren zählen zu den Kernaufgaben von HR, nicht die Suche nach dem
richtigen eigenen Digitalisierungspfad.
HR wird von anderen Funktionen im Unternehmen lernen, wie Digitalisierung funk-
tioniert. Agile Methoden wird HR erst lernen müssen, zumal man nicht vergessen darf,
dass HR aus einer strikt regulierten Vergangenheit kommt, in der Fehler ausschließlich
negativ konnotiert waren. Und Personaler werden ihr Instrumentarium erweitern und
konsequent an den Erwartungen ihrer Kunden ausrichten müssen. Dieses Vermögen steht
seit langem auf der Agenda der Personaler. Und diese Haltung zu entwickeln wird auch
so schnell nicht wieder daraus verschwinden.

Literatur

Kienbaum Institut @ ISM. (2016). Digitalisierung@HR – Strukturen, Prozesse & Kompetenzen


der Zukunft. Personalführung, 5, 58–63.
Kienbaum & BITKOM. (2016). Datenschutz im Personalmanagement 2016. www.hr-und-daten-
schutz.de.
Merkel, A. (7. März 2013). Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf dem Empfang „Internet & Start-
Ups in Deutschland“. Berlin.

Über die Autoren

Mathias Weigert ist Director bei Kienbaum Manage-


ment Consultants und verantwortet das Thema HR Digital.
Er berät seine Mandanten bei der Begleitung der digitalen
Transformation und der Digitalisierung der Personalfunk-
tion. Herr Weigert hat neben einer breiten internationalen
Beratungserfahrung auch fundierte Erfahrung im HR-Linien-
management. Er leitete den Bereich Performance & Reward
für eine global agierende Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in
Europa. Somit deckt Herr Weigert das Thema Transforma-
tion aus zwei unterschiedlichen Perspektiven ab.
20  Digital HR oder HR Digital … 337

Horst Dieter Bruhn hat viele Jahre in der Industrie für


Bildungstechnologien gearbeitet und war Mitgründer eines
HR-Start-ups. Er unterstützt als Senior Expert bei den
Kienbaum Management Consultants Unternehmen bei der
Transformation der Personalfunktion. In diesem Zusam-
menhang begleitet er den Markt digitaler Lösungen für HR
seit vielen Jahren und entwickelt Lösungen für HR-IT und
HR-Prozessexzellenz. Er arbeitet seit Jahren an regelmäßi-
gen Studien zu HR-IT und zum Datenschutz im Personal-
management.

Dr. Michael Strenge ist Senior Consultant bei Kienbaum


Management Consultants und unterstützt Unternehmen bei
der Transformation von Personalbereichen. Neben seiner
Expertise im Bereich Personalstrategie begleitet er Unter-
nehmen bei der Reorganisation ihrer Personalbereiche sowie
bei Personalplanungs- und Talentmanagementprozessen. In
diesem Zusammenhang greift er Fragestellungen zu digita-
len Trends und Lösungen auf.
Big HR Data – Konzept zwischen
Akzeptanz und Ablehnung 21
Stefan Strohmeier

Zusammenfassung
„Big HR Data“ ist ein Konzept, das die Personalprofession polarisiert. Während
einerseits große Chancen und Potenziale für die Personalarbeit hervorgehoben wer-
den, werden andererseits besondere Unzulänglichkeiten und Risiken betont. Der vor-
liegende Beitrag zielt daher auf die Herausarbeitung der faktischen Möglichkeiten,
Big HR Data sinnvoll zu nutzen. Hierzu wird zunächst näher auf den Begriff der Big
HR Data eingegangen. Darauf aufbauend wird untersucht, inwiefern Big HR Data
überhaupt existieren. Als zentraler Beitrag werden schließlich die generellen Anwen-
dungsmöglichkeiten von Big HR Data diskutiert, indem ein einfaches Vorgehensmo-
dell vorgestellt und an einem Anwendungsfall erläutert wird. Der Beitrag schließt mit
einem Ausblick auf künftige Schritte zur Etablierung von Big HR Data.

Inhaltsverzeichnis

21.1 Motivation – Warum eine Beschäftigung mit Big HR Data?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340


21.2 Definition – Was sind Big HR Data?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
21.3 Existenz – Gibt es tatsächlich Big HR Data?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
21.4 Anwendung – (Wie) Kann man Big HR Data nutzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
21.4.1 Vorgehensmodell für Big HR Data. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
21.4.2 Anwendungsfall von Big HR Data. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
21.5 Ausblick – Wie geht es weiter mit Big HR Data?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Über den Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

S. Strohmeier (*) 
Saarland University Lehrstuhl für Management-Informationssysteme,
Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 339


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_21
340 S. Strohmeier

21.1 Motivation – Warum eine Beschäftigung mit Big HR Data?

Big HR Data ist ein Konzept, das die Personalprofession polarisiert. Während einer-
seits große Chancen und Potenziale für die Personalarbeit hervorgehoben werden, wer-
den andererseits besondere Unzulänglichkeiten und Risiken betont. Als Chance wird
beispielsweise die breitere Etablierung einer evidenzbasierten Personalarbeit gese-
hen, die personalwirtschaftliche Aktivitäten und Entscheidungen systematisch auf den
Ergebnissen vorheriger empirischer Analysen aufbaut (zum Beispiel Biemann 2014).
Insbesondere HR-IT-Anbieter und Berater versprechen weiter umfassende wertvolle
Informationen für die Personalarbeit, die von neuen Einsichten über tatsächliche Erfolgs-
kriterien von Bewerbern bis hin zur Prognose individuellen Verhaltens von Mitarbeitern,
wie zum Beispiel Fluktuation, reichen (zum Beispiel Bersin 2012). Auch für die wis-
senschaftliche Personalforschung werden zahlreiche Potenziale gesehen (zum Beispiel
Kaiser und Kraus 2014). Völlig konträr hierzu wird aufgeführt, dass ein bloßes indukti-
ves Datensammeln und -auswerten eben keinen Erkenntnisfortschritt garantiert, sondern
vielmehr das Risiko von Fehlinformation und daraus folgender Fehlentscheidungen birgt
(zum Beispiel Scholz 2014). Insbesondere Arbeitnehmer(-vertreter) und Datenschützer
befürchten darüber hinaus, dass Big HR Data für eine systematische Ausforschung und
engmaschige Überwachung von Mitarbeitern ge- bzw. missbraucht werden (zum Bei-
spiel Schaar 2014). Die Einschätzungen von Big HR Data schwanken entsprechend stark
und reichen von „wirkungsvolle Entscheidungsgrundlage“ (Cachelin 2013) bis zu „infla-
tionäres Anwachsen von Datenmüll“ (Scholz 2014).
In diesem Spannungsverhältnis von Chancen und Risiken zielt der vorliegende Bei-
trag daher auf die Herausarbeitung der faktischen Möglichkeiten, Big HR Data sinnvoll
zu nutzen. Hierzu wird zunächst näher auf den Begriff der Big HR Data eingegangen,
der derzeit durchaus vage und uneinheitlich verwendet wird (Abschn. 21.2 – Defi-
nition). Hierauf aufbauend wird untersucht, inwiefern Big HR Data überhaupt exis-
tieren, denn durchaus nicht jeder größere HR-Datenbestand erfüllt die notwendigen
Kriterien (Abschn. 21.3 – Existenz). Als zentraler Beitrag werden schließlich die gene-
rellen Anwendungsmöglichkeiten von Big HR Data diskutiert (Abschn. 21.4 – Anwen-
dung). Hierzu wird zunächst ein einfaches Vorgehensmodell vorgestellt, das notwendige
Schritte aufdeckt und diskutiert. Dieses Vorgehensmodell wird anschließend mittels
eines konkreten Anwendungsfalls – einer personalwirtschaftlichen Sentimentanalyse –
beispielhaft erläutert. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf künftige Entwicklun-
gen im Bereich Big HR Data (Abschn. 21.5 – Ausblick).

21.2 Definition – Was sind Big HR Data?

Bereits das Grundverständnis von Big Data ist durchaus unklar und es existieren verschie-
dene, nicht durchweg kompatible Auffassungen (zum Beispiel De Mauro et al. 2014; Ward
und Barker 2013). In einem generellen Überblick lassen sich Definitionen unterscheiden,
21  Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung 341

die inhaltliche Schwerpunkte auf die Datenmenge, auf die Datenkomplexität oder auf die
Datentechnologien legen (Ward und Barker 2013). Datenmengenorientierte Definitionen
bestimmen Big Data entsprechend nach einem (willkürlich) festgelegten Datenmindestum-
fang unabhängig von weiteren Kriterien. Datenkomplexitätsorientierte Definitionen zielen
dagegen – relativ unabhängig vom bloßen Umfang – auf die komplizierte Strukturierung
und Formate der Daten, die eine systematische Speicherung und insbesondere Auswer-
tung dieser Daten erschweren. Technologieorientierte Definitionen gehen schließlich von
Big Data aus, wenn zur Speicherung und Analyse der Datenbestände neuere Technologien
(insbesondere Hauptspeicherdatenbanken und Data Mining) notwendig sind, weil konven-
tionelle Technologien (zum Beispiel relationale Datenbanken und Datenabfragen) zuneh-
mend überfordert sind. Eine weit verbreitete Definition, die verschiedene Schwerpunkte
integriert, bezieht sich auf drei Kriterien des Umfangs (engl. „volume“), der Varietät (engl.
„variety“) und der Geschwindigkeit (engl. „velocity“) von Daten (Laney 2001; auf Basis der
englischen Begriffe für die drei Kriterien häufig auch als „3-V-Modell“ bezeichnet). Übli-
cherweise wird erst beim gemeinsamen Vorliegen aller drei Kriterien vom Vorliegen von Big
Data ausgegangen.
Der Datenumfang (engl. „volume“) bezieht sich als erstes Kriterium auf die reine
Datenmenge. Naheliegenderweise besteht eine erste Möglichkeit in der Angabe einer
konkreten Mindestgrenze an Bytes, ab der von „großen“ Datenmengen auszugehen ist.
Allerdings variieren Angaben hierzu stark und weisen weiter auch die Tendenz auf, im
Zeitablauf sukzessive nach oben korrigiert zu werden. Die Angaben der Literatur – bei-
spielsweise 500 Terabyte/Woche (INTEL IT Center 2012) – beziehen sich dabei inzwi-
schen auf Größenordnungen, die vor personalwirtschaftlichem Hintergrund als extrem zu
gelten haben. Eine zweite weichere und technologieorientierte Variante der Bestimmung
großer Datenumfänge besteht darin, solche dann anzunehmen, wenn neuere Speicher-
und Analysetechnologien notwendig werden, um den entsprechenden Datenbestand
überhaupt speichern und analysieren zu können.
Die Datenvarietät (engl. „variety“) bezieht sich auf die unterschiedliche Strukturie-
rung von Daten. Strukturierte HR-Daten werden nach einer vorgegebenen einheitlichen
Struktur in Dateien, Datensätzen und Datenfeldern organisiert und in gängigen Daten-
formaten gespeichert. Ein einfaches Beispiel bietet eine Mitarbeiterdatei, die Informatio-
nen über einen Mitarbeiter strukturiert in einzelnen Datenfeldern ablegt. Unstrukturierten
Daten fehlt dagegen eine einheitliche formale Organisation und damit eine einfache
Auswertbarkeit. Ein einfaches Beispiel bietet etwa eine Arbeitgeberbewertung, die
als Freitext in einer Arbeitgeberbewertungsplattform eingegeben wurde. Kombinatio-
nen aus beiden Varianten – wie beispielsweise E-Mails, die neben strukturierten Daten,
wie Adressen, auch unstrukturierte Daten wie den Nachrichtentext enthalten – werden
als semi-strukturierte Daten bezeichnet (zum Beispiel Strohmeier 2015). Datenvarietät
bedingt zunächst, dass Daten aller drei Kategorien vorliegen. Darüber existiert aller-
dings auch eine intrakategoriale Varietät, wenn sich zum Beispiel unstrukturierte Daten
im Sinne von Audio- und Textdateien nochmals deutlich unterscheiden. Ebenso können
strukturierte Daten in Inhalt, Speicherformat etc. unterschiedlich sein.
342 S. Strohmeier

Die Datengeschwindigkeit (engl. „velocity“) hat als drittes Kriterium zwei Kompo-
nenten: Eine erste Komponente bezieht sich auf die Dateneingangsgeschwindigkeit, das
heißt die Frage, wie lange es von dem Auftreten eines personalwirtschaftlich relevan-
ten Ereignisses bis zur Erfassung und Abspeicherung eines korrespondierenden Datums
dauert. Die zweite Komponente bezieht sich auf die Datenausgangsgeschwindigkeit,
das heißt die Frage, wie lange es vom Abspeichern eines Datums bis zu dessen Aufruf
und Verwendung etwa in einer Abfrage dauert. Für beide Geschwindigkeitskomponen-
ten werden üblicherweise Historien-, Nahzeit- und Echtzeitverarbeitung unterschieden.
Historische Speicherung bedeutet, dass die Erfassung eines Ereignisses erst teilweise
erheblich nach dem Ereignis erfolgt. Analog bedeutet historische Analyse, dass Daten
erst nach Ablauf eines gewissen Zeitraums nach der Speicherung analysiert werden.
Umgekehrt bedeuten Echtzeitspeicherung und -analyse, dass direkt mit dem Auftreten
eines relevanten Ereignisses ein entsprechendes Datum gespeichert wird, das dann auch
unmittelbar für eine Analyse herangezogen wird. Nahzeitspeicherung und -analyse bildet
entsprechend eine Kategorie zwischen Historie und Echtzeit.
Big HR Data sind demnach Daten mit personalwirtschaftlichem Bezug, die sich in
Umfang, Varietät und Geschwindigkeit von konventionellen personalwirtschaftlichen
Datenbeständen signifikant nach oben abheben.

21.3 Existenz – Gibt es tatsächlich Big HR Data?

Die triviale Voraussetzung für jede Nutzung ist, dass in den Unternehmen zunächst über-
haupt Big HR Data existieren. Obwohl in einer aktuelleren empirischen Studie einer
fehlenden Datengrundlage eine nur geringe bis mittlere Bedeutung als Hinderungsgrund
zugesprochen wurde (Hornung und Meißner 2015), kann selbst für mittlere und größere
Unternehmen keineswegs einfach davon ausgegangen werden, dass Big HR Data im obi-
gen Sinne existieren. Im Folgenden werden daher wesentliche, im HR-Management ver-
fügbare und denkbare Datenkategorien kurz vorgestellt und anhand der oben angeführten
Kriterien für Big HR Data evaluiert.
Die mit Abstand wichtigste Datengrundlage der Personalarbeit bilden ohne jede Frage
personalwirtschaftliche Daten aus HR-Systemen. Inzwischen existieren zahlreiche unter-
schiedliche Systemkategorien, deren Daten sich entsprechend auf sehr unterschiedliche
Aspekte und Funktionen wie Planung, Abrechnung, Zeitwirtschaft, Zutritt, Beschaffung,
Entwicklung u. v. a. beziehen (zu einem Überblick über HR-Systemkategorien und HR-
Daten Strohmeier 2008). Erfahrungsgemäß liegen Umfänge über die einzelnen System-
kategorien hinweg bei wenigen hundert KB/Mitarbeiter an Stammdaten bei allerdings
permanentem Zuwachs an zumindest beschränkt historisierten Bewegungsdaten. Ein
Unternehmen mit 10.000 Mitarbeitern weist damit Datenumfänge von wenigen GB auf.
Mit Blick auf die Datenvarietät handelt es sich durchweg um strukturierte Daten. Bezo-
gen auf die Datengeschwindigkeit liegt überwiegend eine historische Datenverarbeitung
21  Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung 343

vor. Ausnahmen hiervon bilden die Bereiche Zeitwirtschaft und Zutritt, die Echtzeitda-
tenverarbeitung aufweisen.
Eine zweite übliche Kategorie besteht in elektronischen Bewerber- und Mitarbeiter-
akten (E-Akte), die systematisch umfangreiche Textdokumente, wie etwa Zeugnisse,
Bescheinigungen oder Arbeitsverträge, speichern (zum Beispiel Strohmeier 2008).
Erwartbare Datenumfänge liegen bei etwa 70 Dokumenten à 200 KB je Mitarbei-
ter. Ein Unternehmen mit 10.000 Mitarbeitern käme damit auf ein Datenvolumen von
etwa 140 GB. Grundsätzlich handelt es sich bei den meist eingescannten Dokumenten
zunächst um unstrukturierte Daten, die mit strukturierten Metadaten beschrieben wer-
den. Während die Metadaten unproblematisch auswertbar sind, bedürfen eingescannte
Papierdokumente hierzu einer zusätzlichen optischen Zeichenerkennung (zum Beispiel
Strohmeier 2008). Die Datenverarbeitungsgeschwindigkeit ist auch hier historisch.
Elektronische (E-) Portfolios sind digitale Sammelmappen, in denen Bewerber und
Mitarbeiter ihre Qualifikationen dokumentieren, reflektieren und präsentieren (zum
Beispiel Strohmeier 2010). Allerdings setzen sich E-Portfolios in Deutschland nur sehr
langsam durch. Zu erwartende Datenumfänge liegen dabei durchschnittlich bei fünf
MB/E-Portfolio. Wird für ein Unternehmen mit 10.000 Mitarbeitern und 2000 Bewer-
bungen/Jahr – kontrafaktisch – angenommen, dass jeder Mitarbeiter und jeder Bewerber
über ein E-Portfolio verfügen, führt dies zu einem Datenvolumen von immerhin 60 GB.
E-Portfolios bestehen großteils aus unstrukturierten Dateien, die aus Text-, aber auch
Audio- und Videodateien bestehen können und damit eine große intrakategoriale Varietät
aufweisen. Da alle diese Dateien mittels strukturierter Metadaten beschrieben werden,
bieten E-Portfolios letztlich semistrukturierte Daten an. Die einzelnen Dateien werden
vom E-Portfolio-Inhaber sukzessive erstellt, weswegen eine historische Datenverarbei-
tung vorliegt.
Logdaten (auch Protokolldaten) beziehen sich auf automatisch erfasste Verwendungs-
daten von Computersystemen. Systemlogdaten beziehen sich auf die Verwendung von
HR-Systemen durch unterschiedliche Anwendergruppen wie HR-Fachleute, Linienma-
nager oder Mitarbeiter. Mittels solcher Daten lässt sich zum Beispiel die systematische
Analyse personalwirtschaftlicher Prozesse, aber auch die Analyse der Verwendung web-
basierter Systeme realisieren (zum Beispiel Strohmeier und Piazza 2011; Strohmeier
et al. 2015). Der Datenumfang variiert stark nach System und natürlich insbesondere
nach Intensität der Nutzung. Weblogfiles liegen etwa bei wenigen KB per Zugriff, kön-
nen aber bei hohen Zugriffszahlen, etwa auf ein webbasiertes Recruiting-System und
längerem Historisierungszeitraum, durchaus im GB-Bereich liegen. Logdateien werden
nach festen Datenschemata abgespeichert und bilden demnach strukturierte Datenbe-
stände. Die automatisierte Aufzeichnung dieser Nutzungsdaten erfolgt jeweils in Echt-
zeit.
Webcontent bezieht sich im weitesten Sinne auf textuelle, visuelle und auditive Inhalte
von Webseiten, also auf Texte, Bilder, Töne, Videos und Animationen. Beispiele für per-
sonalwirtschaftlich relevanten Webcontent beziehen sich etwa auf Qualifikationsprofile
344 S. Strohmeier

in professionell orientierten sozialen Netzwerken (zum Beispiel Pastowsky 2011) oder


auf Arbeitgeberbewertungen auf Arbeitgeberbewertungsplattformen (zum Beispiel Reu-
ter 2015). Der Datenumfang variiert stark in Abhängigkeit von der Art und Anzahl der
Dateien. Etwa reichen für ein GB einerseits wenige Minuten eines hochauflösenden
Bewerbungsvideos, während hierfür andererseits ca. 25.000 Arbeitgeberbewertungen
aus einer Bewertungsplattform notwendig wären. Weil konkrete personalwirtschaftli-
che Anwendungsfälle, die aufzeigen, welche Art von Webcontent sinnvoll verwendet
werden kann, weitgehend fehlen, sind Angaben zum Umfang personalwirtschaftlich
relevanter und verfügbarer Webcontent-Daten sehr schwierig. Webcontent-Daten sind
ihrer Wesensart nach unstrukturiert – soweit nach oder bei der Beschaffung über einen
Webcrawler beschreibende Metadaten hinzugefügt werden, liegen notwendigerweise
semistrukturierte Daten vor. Webcontent kann in Echtzeit bereitgestellt und verarbeitet
werden.
Open Data bieten eine weitere Kategorie von Daten, die durch die zunehmende
Offenlegung von Datenbeständen öffentlicher und privater Institutionen zur Analyse
bereitgestellt werden (zum Beispiel Barnickel und Klessmann 2012). Solche Daten
könnten sich naheliegenderweise auf Entwicklungen der Demografie oder des Arbeits-
marktes beziehen. Gerade im Rahmen der Big-Data-Diskussion wird allerdings auch
auf die zusätzliche Nutzung von zunächst „HR-fern-anmutenden“ Daten abgeho-
ben. Beispielsweise wird berichtet, dass frei verfügbare Wetter(prognose)daten für die
Personaleinsatzplanung einer Drogeriemarktkette verwendet werden, da das Kun-
denaufkommen vom Wetter abhängt. Erneut erschwert das Fehlen von konkreten
personalwirtschaftlichen Anwendungsszenarien, die aufzeigen, welche Open Data exis-
tieren und warum diese für die Personalarbeit relevant sind, eine Abschätzung möglicher
Datenumfänge erheblich. Ähnliches gilt für die Datenstruktur. Open Data dürften wohl
überwiegend strukturierter Natur sein. Allerdings kann eben nicht ausgeschlossen wer-
den, dass in spezifischen Anwendungsfällen auch semi- und unstrukturierte Open Data
verwendet werden. Je nach Art der einbezogenen Open Data ist nicht nur eine histori-
sche, sondern auch eine Nah- und Echtzeitverarbeitung möglich.
Generelle Unternehmensdaten (etwa aus den Bereichen Produktion und Finanzen)
bilden eine weitere Kategorie relevanter Daten. Wiederholt wird ausgeführt, dass es mit
Big HR Data auch möglich sein soll, den Erfolgsbeitrag der Personalarbeit zu belegen
(zum Beispiel Bersin 2012). Mangels konkreter Anwendungsfälle, welche die benötigten
bzw. sinnvollen Unternehmensdaten spezifizieren, bleibt eine Abschätzung der Daten-
umfänge schwierig. Da es sich in der Regel um strukturierte Daten handelt, die in Data
Warehouses bereits verfügbar sind, dürften diese im hohen MB-Bereich zu verorten sein.
Die Speicherung und Analyse solcher Daten erfolgt meistens konventionell historisch.
Mit Sensordaten mag in näherer Zukunft eine weitere Datenquelle für Big HR Data
entstehen (Strohmeier et al. 2016). Mit den Entwicklungen zum „Internet der Dinge“
wird von einer umfassenden Digitalisierung der Arbeitswelt ausgegangen. Dies beinhal-
tet u. a., dass verschiedene Sensoren an Arbeitsgeräten und „Wearables“ am Mitarbei-
ter zahlreiche Daten in zeitlich sehr kurzen Abständen erheben. Sensordaten können sich
21  Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung 345

inhaltlich auf sehr unterschiedliche inhaltliche Aspekte beziehen, wie etwa aktuelle qua-
litative und quantitative Personalbedarfe, Qualifikationsdefizite, aber auch körperliche
Aktivitäten oder psychische Belastungen von Mitarbeitern (zum Beispiel Swan 2012;
Wilson 2013). In Abhängigkeit von Art und Umfang der Sensoren sowie der Datener-
fassungszeitpunkte weisen Sensordatenbestände oft erhebliche Volumina im Petabyte-
Bereich auf (zum Beispiel Fantana et al. 2013). Da Sensoren in der Regel metrische
Daten erfassen, liegen grundsätzlich strukturierte Daten vor. Außerdem liefern Sensoren
Daten in Echtzeit.
Diese grobe Abschätzung macht deutlich, dass auch bei größeren Unternehmen
zunächst nicht unbedingt Datenvolumina vorliegen, die sich in Petabyte-Dimensionen
bewegen. Selbst sehr große Unternehmen dürften kaum Zuwächse von 500 Terabyte an
personalwirtschaftlichen Daten pro Woche verzeichnen. Erst eine umfassende künftige
Nutzung von Sensordaten würde dies grundsätzlich ändern. Mit Blick auf die Datenva-
rietät wird deutlich, dass neben konventionellen strukturierten Daten auch zunehmend
un- bzw. semistrukturierte Daten existieren, wie etwa durch E-Akten, E-Portfolios und
Webcontent dokumentiert. Insofern dürfte dieses Kriterium zunehmend erfüllt sein.
Bezogen auf die Datengeschwindigkeit existieren mit Log-, Zeit- und Zutrittsdaten zwar
personalwirtschaftliche Daten, die in Echtzeit entstehen. Allerdings bilden diese qualita-
tiv wie quantitativ nicht den Schwerpunkt personalwirtschaftlicher Daten. Ebenso wer-
den diese Daten zwar in Echtzeit gespeichert, aber wohl nur in Ausnahmefällen auch
in Echtzeit analysiert. Für eine rein technisch mögliche Echtzeitnutzung von Webcon-
tent fehlt es derzeit an überzeugenden personalwirtschaftlichen Anwendungsszenarien.
Insofern dürfte erneut erst der Übergang zur systematischen personalwirtschaftlichen
Nutzung von Sensordaten hier eine grundlegende Änderung herbeiführen. Dieser gene-
rellen Abschätzung folgend sprechen derzeit insbesondere die Kriterien Datenumfang
und Datengeschwindigkeit gegen eine flächendeckende Existenz von Big HR Data. Die
große Mehrheit der Unternehmen dürfte bei einer strikten Auslegung der obigen Krite-
rien nicht über Big HR Data verfügen. Allerdings zeigt sich gleichwohl, dass sich HR-
Datenbestände durchaus in Richtung Big Data verändern, denn auch der Umfang, die
Varietät und die Geschwindigkeit von HR-Daten nehmen kontinuierlich zu. Empirische
Ergebnisse, wonach 15 % der Unternehmen in Deutschland bereits Big-HR-Data-Analy-
sen durchführen (Hornung und Meißner 2015), dürften entsprechend auf weniger strik-
ten Auffassungen von Big HR Data beruhen und verweisen auf einen letztlich fließenden
Übergang zwischen der Analyse konventioneller und Big-Data-Datenbestände.

21.4 Anwendung – (Wie) Kann man Big HR Data nutzen?

Sehr häufig werden Big HR Data direkt mit personalwirtschaftlichem Nutzen gleich-
gesetzt. Die bloße Existenz von Big HR Data, oder genauer der Trend hin zu einer
zukünftigen Existenz von Big HR Data, impliziert allerdings keineswegs automa-
tisch personalwirtschaftlichen Nutzen. Im Gegenteil bedürfen gerade Big HR Data
346 S. Strohmeier

noch umfassender und komplexer Arbeitsschritte, um – gegebenenfalls – einen Nut-


zen zu erzielen. Im Folgenden wird daher ein einfaches (normatives) Vorgehensmo-
dell präsentiert, das wesentliche generelle Arbeitsschritte einer Big-HR-Data-Analyse
diskutiert (Abschn. 21.4.1). Im Anschluss wird dieses Vorgehensmodell am Beispiel
einer personalwirtschaftlichen Sentimentanalyse beispielhaft dargestellt und erläutert
(Abschn. 21.4.2).

21.4.1 Vorgehensmodell für Big HR Data

Das Vorgehensmodell einer Big-HR-Data-Analyse umfasst zunächst alle typischen Pro-


zessschritte einer allgemeinen Datenanalyse (vgl. Abschn. 21.4.1). Allerdings weisen
diese jeweils Spezifika auf, die im Folgenden herauszuarbeiten sind (Abb. 21.1).
Als Grundlage jeder Big-HR-Data-Analyse hat die Gewährleistung des Datenschutzes
zu gelten – soweit in der Analyse (auch) personenbezogene Daten verwendet werden.
Grundsätzlich gelten die aus der konventionellen personalwirtschaftlichen Datenver-
arbeitung bekannten Regelungen selbstredend analog auch für Big HR Data (zum Bei-
spiel Gola 2015). Darüber hinaus stellen sich im Zusammenhang mit Big HR Data drei
spezifische und grundlegende datenschutzrechtliche Fragestellungen – soweit es sich bei
den jeweiligen Daten (auch) um personenbezogene Daten handelt. Eine erste grundle-
gende Fragestellung bezieht sich auf die Vereinbarkeit der Prinzipien der Datensparsam-
keit und der Datenvermeidung (§ 3a BDSG) mit Big HR Data. Danach sind „so wenig
personenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten und zu nutzen“, wäh-
rend Big HR Data umgekehrt ja gerade auf die Erzeugung und Nutzung von besonders
umfangreichen Datenbeständen zielt. Eine zweite grundlegende Fragestellung bezieht
sich auf die Vereinbarkeit des Prinzips der Zweckbindung (im Sinne des „Volkszählungs-
urteils“ des BVerfG 1983) mit Big HR Data. Danach ist es nicht möglich, Daten „auf
Vorrat“ für unbestimmte Zwecke zu speichern; vielmehr muss im Voraus ein konkreter
Zweck festgelegt werden, für den die Daten gespeichert (und anschließend analysiert)
werden. Big (HR) Data zielt aber dem Grundsatz nach darauf, Daten, die für verschie-
dene Erstzwecke erhobenen wurden, gemeinsam zu speichern und für weitere Zwecke
wiederzuverwenden. Schließlich besteht eine dritte grundlegende Fragestellung in der
Vereinbarkeit des Trennungsgebotes (Anlage zu § 9 BDSG) mit Big HR Data. Nach dem
Trennungsgebot sind für unterschiedliche Zwecke erhobene personenbezogene Daten

Abb. 21.1  Idealtypisches Vorgehensmodell der Big-HR-Data-Analyse


21  Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung 347

auch getrennt zu verarbeiten. Ein Grundprinzip von Big Data besteht aber gerade in der
Zusammenführung heterogener Einzeldatenbestände (wie eben im Kriterium der Daten-
varietät zum Ausdruck kommt), um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Fra-
gestellungen sind Gegenstand der aktuellen Diskussion um Big Data und bedürfen einer
generellen politisch-rechtlichen Klärung (zum Beispiel Schaar 2014; Schmoll 2014).
Eine erste Möglichkeit, in einem Big-HR-Data-Projekt mit diesen Anforderungen umzu-
gehen, besteht schlicht in der Aufhebung des Personenbezugs der Daten durch vollstän-
dige Pseudonymisierung und Anonymisierung. Allerdings existieren durchaus zahlreiche
Verwendungszwecke, die dies nicht zulassen bzw. die dadurch ausgeschlossen werden.
Im Fazit ist die datenschutzrechtliche Situation von Big HR Data derzeit nicht abschlie-
ßend und zufriedenstellend geklärt. In der Folge braucht jedes Big-HR-Data-Projekt
vorab eine sorgfältige und umfassende datenschutzrechtliche Einzelprüfung auf Zuläs-
sigkeit aller Prozessschritte.
Eine sich anschließende betriebswirtschaftliche Aufgabe besteht in der Analyse des
Informationsbedarfs. Diese bezieht sich auch bei Big HR Data auf die konkrete Beant-
wortung der allgemeinen Fragestellungen der Informationsbedarfsanalyse. Zentral sind
hier die Fragen nach dem Inhalt (Welche Information wird benötigt?), dem Adressaten
(Welche Nutzergruppe benötigt diese Information?) und dem Wert (Wie wichtig ist die
Information für die Personalarbeit?) der Information. Nur wenn die Anwendungsinten-
tion und insbesondere auch der damit angestrebte Nutzen konkretisiert sind, kann über
eine Durchführung entschieden werden. Big-HR-Data-Projekte implizieren regelmäßig
einen keineswegs geringen Aufwand und entsprechende Kosten, daher ist vor allem der
erwartete Nutzen eines Projektes kritisch zu hinterfragen.
Aufbauend auf einem bekannten Informationsbedarf muss die Datenbereitstel-
lung erfolgen. Dazu sind zunächst Datenbedarfe abzuleiten und die Datenverfügbarkeit
zu prüfen. Anders als in konventionellen personalwirtschaftlichen Analyseprojekten
(Strohmeier und Piazza 2015) geht es bei Big HR Data eher um die Bestimmung und
Überprüfung genereller Datenbereiche denn um die Bestimmung konkreter Einzeldaten-
felder. Insbesondere wenn der Einsatz von Analyseverfahren vorgesehen ist, welche auf
die Entdeckung bislang unbekannter Muster in Daten gerichtet sind („Data Mining“),
gestaltet sich eine Vorab-Datenbedarfsanalyse schwierig, da sich die (Ir-)Relevanz von
Datenbestände eben erst auf Basis der Analyseergebnisse feststellen lässt (Strohmeier
und Piazza 2013). Je nach Datenkategorie gestaltet sich dann die eigentliche Bereitstel-
lung der Daten unterschiedlich aufwendig. Strukturierte HR-Daten liegen beispielswiese
bereits in verschiedenen HR-Systemen oder noch anwenderfreundlicher bereits integriert
in einem (HR-) Data Warehouse vor. Dagegen muss beispielsweise Webcontent in der
Regel erst mittels eines eigens hierfür eingesetzten Webcrawlers zusammengetragen wer-
den.
Gerade die Eigenschaft der hohen Datenvarietät belegt den Aufwand des nächsten
notwendigen Arbeitsschrittes der Datenaufbereitung. Heterogene Datenbestände aus
heterogenen Quellen bedingen die Notwendigkeit verschiedener vorbereitender Schritte,
die für eine spätere Analyse zwingend sind. Ein erster Aufbereitungsschritt besteht in der
348 S. Strohmeier

Bereinigung existenter Fehler wie Fehlwerte, Duplikate, Tippfehler, Falschwerte etc. in


strukturierten Datenbeständen. Einen weiteren notwendigen Schritt stellt die Harmoni-
sierung strukturierter Datenbestände dar. Es müssen etwa Bezeichnungen von Daten-
feldern und Datenfeldinhalten angepasst werden, oder auch verschiedene Einheiten
und Werte wie etwa unterschiedliche Personalkosten in unterschiedlichen Währungen.
Schließlich besteht ein besonders wichtiger Aufbereitungsschritt in der Zusammenfüh-
rung („Mapping“) aller Datenbestände. Da Datenbestände zu einem Mitarbeiter aus
verschiedenen heterogenen Quellen vorliegen, müssen diese vor einer gemeinsamen
Analyse systematisch zusammengeführt werden. Die Bereinigung, Harmonisierung und
Zusammenführung von Daten unterscheiden sich inhaltlich grundsätzlich nicht von der
Vorgehensweise bei der Bereitstellung konventioneller Daten in einem Data Warehouse
(Strohmeier und Piazza 2015), fallen aber aufgrund der größeren Anzahl und des größe-
ren Umfangs einbezogener Dateien deutlich umfangreicher und damit aufwendiger aus.
Aus diesem Grund können Bereinigung, Harmonisierung und Zusammenführung meist
lediglich in automatisierter Form durchgeführt werden. So können im Rahmen automa-
tisierter Bereinigungen beispielsweise Fehlwerte über Imputationsalgorithmen ergänzt
werden. Ebenso können unterschiedliche Einheiten und Werte automatisiert harmonisiert
werden. Schließlich erlauben sogenannte Entity Resolution bzw. Entity-Matching-Algo-
rithmen eine automatisierte Zusammenführung von Datensätzen. Eine solche voll auto-
matisierte Datenaufbereitung ist zwar einerseits effizient, andererseits aber mit Blick auf
die sich daraus ergebende Datenqualität nicht immer zufriedenstellend.
Der sich anschließende wesentliche Prozessschritt besteht in der Datenanalyse.
Hierfür existiert inzwischen eine größere Bandbreite an Analysemethoden (Strohmeier
2015). Drei wichtige Kategorien bilden abfragende, suchende und mustererkennende
Analysen. Abfragende Analysen („Queries“) zielen auf die Auswahl einer interessieren-
den Teilmenge strukturierter Daten und deren Verwendung zu Berechnung, Gruppie-
rung und Sortierung von entscheidungsrelevanten HR-Kennzahlen. HR-Kennzahlen sind
dabei Größen, die entscheidungsrelevante Information in komprimierter quantitativer
Form wiedergeben. Beispielsweise ist die HR-Kennzahl „Frauenquote“ eine Verhältnis-
zahl, die die Anzahl weiblicher Mitarbeiter im Verhältnis zu allen Mitarbeitern darstellt
(Strohmeier 2015). Abfragen sind in zwei grundlegenden Varianten möglich. Einfache
Abfragen sind auf jeder Art strukturierter Personaldaten möglich, während Abfragen
über mehrere Ebenen und Dimensionen hinweg („Online Analytical Processing/OLAP“)
zunächst eine analyseorientierte Aufbereitung und Abspeicherung benötigen (Strohmeier
2015). Suchende Analysen zielen auf die Identifikation und Anzeige von unstrukturier-
ten Dateien bzw. Dokumenten. Dazu wird ein Such-Term angegeben bzw. mehrere Such-
Terme, die mit Operatoren verbunden werden können. Das Ergebnis einer suchenden
Analyse ist eine gereihte Liste mit Dokumenten, die entsprechend vom menschlichen
Anwender „manuell“ weiter analysiert werden müssen. Mustererkennende Analysen
(auch „Data Mining“, „Knowledge Discovery in Databases“ oder „Predictive Analytics“)
bilden schließlich eine breite Methodenkategorie, die generell auf die automatisierte
Entdeckung unbekannter, valider und potenziell nützlicher Regelmäßigkeiten in Daten
21  Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung 349

zielen (zum Beispiel Piazza 2010; Strohmeier und Piazza 2013). Nach Art der zugrunde
liegenden Daten existieren sehr unterschiedliche Varianten mustererkennender Analysen.
Neben einem generellen Data Mining (etwa auf strukturierten Daten von HR-Systemen)
sind weiter beispielsweise ein spezifisches Process Mining (auf Systemlogdaten), ein
Web (Usage) Mining (auf Weblogdaten) oder ein Text Mining (etwa auf Webcontent
oder elektronischen Akten) möglich.
Aufgrund dieser sehr breiten methodischen Basis für eine große Varietät unter-
schiedlicher Datenbestände und der allen Einzelmethoden gemeinsamen Möglichkeit,
unbekannte Regelmäßigkeiten in den jeweiligen Datenbeständen zu erkennen, bilden
mustererkennende Analysen eine für Big HR Data besonders geeignete Methodenka-
tegorie. Grundsätzlich gilt, dass die Auswahl einer Methode vor dem Hintergrund des
Informationsbedarfes und der tatsächlich verfügbaren Daten zu erfolgen hat. Je nach
Methodentyp sind zusätzliche methodenspezifische Datenaufbereitungsschritte notwen-
dig. Insgesamt steht für Big HR Data damit ein leistungsfähiges, weiterhin wachsendes
Spektrum an Analysemethoden zur Verfügung.
Ein letzter und betriebswirtschaftlich zentraler Schritt besteht in der zielgerichteten
Verwendung der Informationen, die Big HR Data bieten. Grundsätzlich können Infor-
mationen aus Big HR Data sowohl die Wahrnehmung und Konkretisierung personal-
wirtschaftlicher Probleme als auch die sich anschließende Identifikation, Bewertung und
Auswahl diesbezüglicher Handlungsalternativen unterstützen. Allerdings werden auch
sorgfältig angelegte Big-HR-Data-Projekte keineswegs immer eine ideale, sondern meist
eher eine partielle Informationsversorgung anbieten können. So mag eine bestimmte
Big-HR-Data-Analyse zwar ein personalwirtschaftliches Problem aufdecken (zum Bei-
spiel ein schlechtes Arbeitgeberimage des Unternehmens bei potenziellen Bewerbern),
aber keine konkreten Handlungsmöglichkeiten diesbezüglich aufzeigen können. Als
Folge einer Big-HR-Data-Analyse können daher regelmäßig weitere Big-HR-Data-Ana-
lysen notwendig werden, etwa um ein erkanntes Problem zu konkretisieren, nach Ursa-
chen des Problems zu suchen und Handlungsalternativen zu bewerten. In Summe stellen
Big HR Data nicht für jedes Anwendungsproblem unmittelbar einschlägige, direkt ver-
wendbare Informationen bereit, die lediglich „abgerufen“ werden müssen. Vielmehr
bedeutet Big HR Data Analytics eine umfängliche und kreative Erarbeitung notwendiger
personalwirtschaftlicher Informationen auf Basis umfangreicher Daten und Analysen.

21.4.2 Anwendungsfall von Big HR Data

Im Folgenden wird der Anwendungsfall „Personalwirtschaftliche Sentimentanalyse“


kurz vorgestellt (zum Beispiel Brindha und Santhi 2012; Strohmeier et al. 2015), um das
obige Vorgehensmodell exemplarisch zu erläutern.
Eine „personalwirtschaftliche Sentimentanalyse“ bemüht sich mit Blick auf den Infor-
mationsbedarf um systematische Aufschlüsse zum Arbeitgeberimage eines Unterneh-
mens im Internet, um Stärken und Schwächen zu identifizieren und, darauf aufbauend,
350 S. Strohmeier

geeignete Maßnahmen ergreifen zu können. Die konkrete Fragestellung der Sentimen-


tanalyse lautet also: Welche Einstellungen existieren in der (Internet-)Öffentlichkeit
bezüglich verschiedener personalwirtschaftlicher Aspekte wie Vergütung, Betriebsklima
etc.? Aufgrund demografisch bedingter Verknappungen des Arbeitskräfteangebots für
viele Unternehmen ist systematisches Wissen über das Arbeitgeberimage zunehmend
wichtig, da es eventuelle diesbezügliche Handlungsnotwendigkeiten systematisch auf-
deckt. Der konkrete Nutzen einer Sentimentanalyse liegt damit in der langfristigen
Gewährleistung eines positiven Arbeitgeberimages und der damit verbundenen Attrakti-
vität des Unternehmens als Arbeitgeber. Konkrete Adressaten der so geschaffenen Infor-
mation sind etwa Prozessverantwortliche für die Personalbeschaffung.
Grundsätzlich bildet Webcontent, insbesondere in Form von un- bzw. semistrukturier-
ten Bewertungsdaten auf Arbeitgeberbewertungsportalen (zum Beispiel Reuter 2015),
die relevante Datenkategorie. Zur Datenbereitstellung sind Webcrawler notwendig, die
auf verschiedenen Bewertungsportalen entsprechende Information einsammeln. Bereits
hier sind rechtliche Fragestellungen relevant. Da Arbeitgeberbewertungen regelmäßig
anonym abgegeben werden (zum Beispiel Reuter 2015), handelt es sich nicht um per-
sonenbezogene Daten. Entsprechend unterliegen diese nicht dem Datenschutz. Einer
speziellen datenschutzrechtlichen Betrachtung bedürfen allerdings Fälle, in denen Ein-
zelpersonen etwa in Form eines Einzelunternehmens oder eines Personalverantwortli-
chen explizit (mit-) bewertet werden. Eine – allerdings urheberrechtliche – offene Frage
besteht darüber hinaus darin, ob der entsprechende Bewertungscontent einfach „einge-
sammelt“ werden darf, oder ob dieser gegen ein entsprechendes Entgelt vom Portalbe-
treiber zu erwerben ist.
Da Bewertungen auch in Form unstrukturierter Texte vorliegen, ist die Datenauf-
bereitung komplexerer Natur. Zur Analyse mittels Text Mining sind zunächst Trai-
ningsdokumente, die dem „Anlernen“ des Algorithmus dienen, von den eigentlichen
Analysedokumenten, die ausgewertet werden sollen, zu unterscheiden. Beide Dokumen-
tenkategorien sind zunächst einer Vorverarbeitung zu unterziehen, die regelmäßig aus
der Zerlegung des Dokuments in einzelne Terme („Tokenisierung“), deren linguistischer
Kategorisierung („Tagging“) und der Rückführung auf die Stammformen („Lemmatisie-
rung“) besteht. Die so erhaltene Sammlung von Termen wird in einen Vektor je Doku-
ment überführt, der eine quantitative Repräsentation des Textdokuments darstellt (vgl.
Abb. 21.2).
Im Rahmen der Datenanalyse sind zunächst Trainingsdokumente, deren Bewertun-
gen (zum Beispiel Bewertungsgegenstand = Vergütung, Bewertung = positiv) bekannt
sind, auf typische Muster in den Vektormodellen hin zu analysieren. Als mustererken-
nende Datenanalyseverfahren werden hierfür beispielsweise Support-Vector-Maschinen
verwendet. Die gefundenen Muster werden zunächst in Regeln gefasst. Diese Regeln
werden in einem zweiten Analyseschritt auf die (Vektormodelle der) Analysedoku-
mente angewendet, um deren Bewertungsgegenstand (zum Beispiel Bewerbungsprozess)
und Bewertungsergebnis (zum Beispiel negativ) automatisiert zu identifizieren (vgl.
Abb. 21.2).
21  Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung 351

Abb. 21.2   Anwendungsfall „Personalwirtschaftliche Sentimentanalyse“. (Quelle: Strohmeier


et al. 2015)
352 S. Strohmeier

Die Gesamtheit der so gefundenen personalwirtschaftlichen Bewertungsgegenstände


und -ergebnisse könnte in einem Säulendiagramm getrennt nach positiver und negativer
Bewertung visualisiert werden (vgl. Abb. 21.2). Da auch Bewertungsergebnisse anderer
Unternehmen gesammelt, aufbereitet und analysiert werden können, wird es möglich,
ein Bechmarking der eigenen Bewertungen (U1) mit den Bewertungen eines Mitbewer-
berunternehmens (U2) durchzuführen. Auch wenn die Validität (zum Beispiel wegen
„Fake“-Bewertungen) und Repräsentativität (zum Beispiel wegen überrepräsentierter
negativer Bewertung) der im Netz existierenden Arbeitgeberbewertungen durchaus zu
Recht hinterfragt werden, gewinnt man auf diese Weise systematische Aufschlüsse dar-
über, welches Arbeitgeberimage interessierten Bewerbern im Internet faktisch vermit-
telt wird. Dies ist – unabhängig von der Validität und Repräsentativität der analysierten
Bewertungen – durchaus von Interesse für ein Personalmanagement, das an einem positi-
ven Arbeitgeberimage interessiert ist.
Damit hebt der Anwendungsfall „Personalwirtschaftliche Sentimentanalyse“ ins-
besondere auf die gestiegene Datenvarietät ab und zeigt auf, dass auch bisher nicht
berücksichtigte externe unstrukturierte Daten aus dem Web sinnvolle Informationen für
die Personalarbeit bergen können. Da die Bewertungen üblicherweise separat, das heißt
ohne Verbindung zu anderen personalwirtschaftlichen Datenbeständen analysiert werden,
liegen erwartbare Datenvolumina von personalwirtschaftlichen Sentimentanalysen basie-
rend auf 50 KB/Einzelbewertung allerdings eher im Bereich weniger Gigabyte. Ebenso
entstehen zwar im Zeitablauf immer wieder neue Bewertungstexte; allerdings ist im vor-
liegenden Anwendungsfall in Bezug auf die Datengeschwindigkeit weder die Erfassung
noch die Analyse der Daten in Echtzeit sinnvoll und notwendig.

21.5 Ausblick – Wie geht es weiter mit Big HR Data?

Unterstellt man auch für das Konzept der Big HR Data einen „Hype-Zyklus“ (zum Bei-
spiel Honsel 2006), dann verweisen die obigen Ausführungen auf eine frühe Phase, die
von sehr ausgeprägten – positiven wie negativen – Erwartungen gekennzeichnet ist. Ob
sich Big HR Data im Spannungsverhältnis von Akzeptanz und Ablehnung künftig tat-
sächlich durchsetzen wird, hängt wesentlich von der Berücksichtigung der folgenden
Aspekte ab:

• Schaffung von Rechtssicherheit: Da zahlreiche denkbare Anwendungsfälle von Big


HR Data (auch) den Einbezug personenbezogener Daten erfordern und entsprechende
zivil- und strafrechtliche Haftungsrisiken entstehen, ist die rechtsichere Klärung zen-
traler Datenschutzaspekte ein erster grundlegender Aspekt. Wie angesprochen, bil-
den u. a. die Sparsamkeit und Vermeidung, die Zweckbindung und die Trennung von
Daten kritische und zu klärende Punkte.
• Ausgleich von Interessen: Big-HR-Data-Anwendungen bewegen sich im Spannungs-
verhältnis von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen. Ein tragfähiger Ausgleich
21  Big HR Data – Konzept zwischen Akzeptanz und Ablehnung 353

zwischen den Interessen von Mitarbeitern am Schutz ihrer Daten und den Interessen
des Unternehmens an der Ausnutzung der neuen Analysemöglichkeiten – und dessen
Umsetzung in einer entsprechenden Betriebsvereinbarung – ist eine weitere zentrale
Voraussetzung einer künftigen Etablierung.
• Ausarbeitung von Anwendungsfällen („Use Cases“): Wie am Beispiel der personal-
wirtschaftlichen Sentimentanalyse deutlich wird, stellt die Konzeption einer sinn-
vollen personalwirtschaftlichen Anwendung von Big HR Data eine eigenständige,
umfangreiche und komplexe Aufgabenstellung dar. Es reicht daher eben meist nicht
aus, personalwirtschaftlichen Endanwendern einfach umfangreiche Daten und all-
gemeine Analysewerkzeuge zur Verfügung zu stellen, um sinnvolle Anwendungen
zu generieren. Vielmehr dürfte die konkrete Ausarbeitung und Evaluation genereller
Anwendungsfälle (die aufzeigen, für welchen konkreten Informationsbedarf welche
konkreten Datenbestände und welche konkreten Analysen welchen konkreten Nutzen
schaffen) zu einer künftigen Verbreitung von Big-HR-Data-Anwendungen beitragen.
• Umsetzung in Personalsoftware: Ausgearbeitete Anwendungsfälle bedürfen schließ-
lich einer möglichst automatisierten Umsetzung in domänenspezifischer Software.
Dies erleichtert und beschleunigt die praktische Anwendung und „befreit“ personal-
wirtschaftliche Endanwender von aufwendigen nicht personalwirtschaftlichen Tätig-
keiten wie etwa Datenbereitstellung und -aufbereitung.

Die Berücksichtigung dieser Punkte dürfte die künftige Akzeptanz der Analyse großer,
heterogener und schnell entstehender Datenbestände ohne Frage erhöhen und zu deren
praktischen Verbreitung beitragen. Ob der Begriff Big Data im Reigen sich schnell ablö-
sender Modeworte Bestand haben wird, bleibt dagegen abzuwarten – mögliche Nachfol-
ger wie etwa „Smart Data“ stehen schon bereit.

Danksagung  Ich danke Björn Zimmermann, Workday GmbH, und Dirk Linn, p-manent
consulting GmbH, für Angaben zu den Datenvolumina unterschiedlicher personalwirtschaftlicher
Anwendungen.

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Über den Autor

Univ.-Prof. Dr. Stefan Strohmeier  ist der Inhaber des Lehr-


stuhls für Managementinformationssysteme an der Universi-
tät des Saarlandes in Saarbrücken. Er forscht, lehrt und berät
im Themengebiet HR-Informationstechnologie und digitales
Personalmanagement.
Geschäftsmodelle der Personalfunktion
im Wandel 22
Walter Jochmann

Zusammenfassung
Die Unternehmensfunktion Personal/Human Resources ist neben der Finanzfunktion
die ressourcenintensivste Funktion in der Marktfolge von Unternehmungen, somit
als Strategie- oder Servicefunktion nicht direkt am Kernprozess der Wertschöpfung
in der jeweiligen Branche/im Geschäftsmodell beteiligt und auch kein direkter Pro-
zesshebel wie die Einkaufs- oder IT-Funktion. Anders als die Finanzfunktion unter-
liegt sie bis auf Rechtsgebiete in Mitbestimmung/Tarif/Arbeitsrecht kaum rechts- oder
prüfungstechnischen Gestaltungsanforderungen, hat sie sich in den letzten 30 Jahren
von einem Administrationsfokus über den Schwerpunkt Personalentwicklung und
Unternehmenskultur zu einem stärker strategisch und businessorientierten Fachbe-
reich entwickelt – mit dem Anspruch, durch die Gestaltung der entscheidenden int-
angiblen Ressource Personal auf Augenhöhe der Unternehmensführung zu agieren.
Insbesondere in größeren Unternehmensstrukturen hat sich eine Ablösung einer tra-
ditionellen funktions- oder fachgebietsorientierten Organisation der Personalfunk-
tion durch eine klare Rollentrennung in Experteneinheiten, in kundenorientierte HR/
Businesspartner und eine zentralisierte oder outgesourcte Servicefunktion durchge-
setzt – und dies weltweit verbunden mit dem Namen Dave Ulrich. Dabei steht hinter
dieser 3-Säulen-Struktur der Personalfunktion mehr als nur ein Blueprint für Organi-
gramme. Die Bündelung administrativ-transaktionsorientierter Anteile der Personalar-
beit soll Effizienzpotenziale heben, andere Personalfunktionen aus einem Rollen- und
Kompetenzmix herausführen und technologisch-prozessuale Innovationen steuern
(HR-IT und -Digitalisierung). Die Expertenrolle beschreibt unterschiedliche Centers

W. Jochmann (*) 
Kienbaum Consultants International, Gummersbach, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 357


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_22
358 W. Jochmann

of Competence in deren Steuerungs- und Konzeptionsfunktion, die sich bei kom-


plexeren Unternehmensstrukturen mit mehreren Geschäftsfeldern und Regionen/
Landesgesellschaften und Vermeidung von Dopplungen „verjüngend kaskadieren“
und den inhaltlichen Wertbeitrag zu Human Resources mit fortlaufender Innovation
sicherstellen. Nicht zuletzt bildet die Businesspartnerrolle mit ihrem klaren Zielgrup-
penbezug (Kunde Führungskräfte) die geforderte Geschäfts- und Marktorientierung
der Personalfunktion ab, um ein immer komplexer werdendes HR-Instrumente- und
Produktangebot auf die jeweilige Geschäfts- und Führungssituation im Betreuungs-
kreis auszurichten. Der weltweite Siegeszug dieses Rollen- und Organisationsmodells
bleibt allerdings nur bei einem oberflächlichen Blick bestehen – eine Detailanalyse
etwa der Organisationsstrukturen in den DAX-Konzernen, auch der Vergleich inter-
nationaler Konzerne in den Regionen USA, Europa, mittlerer Osten und Asien zeigt
eine beträchtliche Streuung zentraler Organisationsprinzipien. Zudem wird zumin-
dest in Zentraleuropa die Schlüsselrolle des HR-Businesspartners nach über zehn
Jahren an Anforderungsanalyse, Jobdesign und Weiterbildung immer noch unbefrie-
digend eingeschätzt, was sicherlich an einem Mix aus konzeptionellen und kompe-
tenzorientierten Schwachstellen liegt. Wir wollen aufzeigen, welche alternativen
Organisationsmodelle für die Personalfunktion angesichts anspruchsvoller Verände-
rungsanforderungen mit Blick auf Effizienz und Effektivität, mit Blick auf die Trans-
formationsherausforderungen der Digitalisierung und ihrer massiven Auswirkungen
auf den Personalkörper aktuell diskutiert werden.

Inhaltsverzeichnis

22.1 Zielsetzungen und Herausforderungen moderner Personalarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358


22.2 Inhalte der Personalarbeit im Spiegel der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
22.3 Organisationsformate und ihr übergeordneter Rahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Über den Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374

22.1 Zielsetzungen und Herausforderungen moderner


Personalarbeit

Die Personalfunktion ist prinzipiell auf das Management der entscheidenden Ressource
MitarbeiterIn/Personal/Belegschaft ausgerichtet – dies in frühen Jahren mit dem Fokus
Administration und Mitbestimmung, dann mit Ressourcenmanagement/Gewinnung und
Bindung sowie Personalentwicklung, zuletzt mit einem stärker strategischen Anspruch in
der Gestaltung von Führung, Unternehmenskultur und Veränderungen.
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel 359

Somit stehen für die vergangenen zehn Jahre diese HR-internen Veränderungsziele:
Stärkung konzeptionell-beratender Anteile der Personalarbeit mit ihren Res-
sourcen/HR-Jobgruppen und Zeitanteilen.
Nähere Ausrichtung „am Geschäft“ – mit Board-Präsenz, mit einem 1:1-Kun-
denansatz, mit eigenem Geschäftsverständnis und mit Präsenz in zentralen Projek-
ten.
Verbesserung der Effizienz mit resultierender HR-IT und -Prozesskompetenz.
Einführung einer klareren Rollentrennung innerhalb der HR-Jobgruppen – nach
dem Dave-Ulrich-Ansatz.
Ausformulierung einer klaren Positionierung und Steuerung/Governance, somit
auch Verantwortungsrahmen gegenüber Board und Führungskräften.
Upgrading der eigenen Jobprofile, Besetzungsqualitäten und internen Qualifi-
zierungsprogramme (Kienbaum 2014).

Die Bilanz der Veränderungen ist gemischt. Unterschiedlichen Studien zufolge bewegt
sich die Positionierung der Personalfunktion im mittleren bis unteren Drittel aller opera-
tiven und strategisch-unterstützenden Unternehmensfunktionen, wird dabei noch klar als
Dienstleistungsfunktion und weniger als Gestalter oder als Machtfaktor wahrgenommen
und muss gerade in Konzernen des DACH-Raums um die Vertretung auf Vorstands- und
Geschäftsführungsebene kämpfen (Abb. 22.1).

Interne Kunden HR

0.15
Zentraler Einkauf
0.29

0.12
Recht/Compliance/Nachhaltigkeit 0.14

0.04
Kommunikation/PR
0.19

-0.05
IT
-0.04

Finanzen/Controlling -0.08
-0.43

-0.23
Marketing/Vertrieb
-0.62

Unternehmensstrategie/ -0.58
Unternehmensentwicklung -0.57

-1 -0.8 -0.6 -0.4 -0.2 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1


(HR gering) (HR gleich) (HRhöher)

Abb. 22.1  Vergleich des gegenwärtigen unternehmerischen Wertbeitrags der HR-Funktion mit


den anderen Unternehmensbereichen
360 W. Jochmann

Diese liegt aktuell bei den DAX-Unternehmen für solitäre und kombinierte Personal-
vorstände bei knapp 77 % mit abnehmender Tendenz. Hierbei beläuft sich im DAX der
Frauenanteil auf Personalvorstandsebene aktuell auf 27 %, was die Funktion als primä-
ren Treiber der Erhöhung der Besetzungsquote beschreibt (Kodex, R. D. C. G. 2006).
Insgesamt muss mit einer nachhaltig einflussreich gestaltenden Positionierung der Per-
sonalfunktion die Entwicklung von einer indirekt oder ggfs. direkt wirkenden Unterstüt-
zungsfunktion in eine steuernd-gestaltende angestrebt werden – die aktuell etwa 40 %
der Personalbereiche in größeren Unternehmungen schon für sich in Anspruch nehmen
würden (Einschätzungen der Board-Kollegenebene stehen in der Studie aus, werden hof-
fentlich zeitnah als „Kundenperspektive“ ermittelt). Hierzu müssen sich als Kernziele der
Personalarbeit und somit als inhaltliches Herz einer Businessmission die Ausrichtungen
auf ein ganzheitlich-zukunftsorientiertes Ressourcenmanagement des Personalkörpers,
die Mitgestaltung einer attraktiv-leistungsorientierten Führungs- und Unternehmenskul-
tur sowie der Change-Managementbeitrag in unternehmerischen Veränderungsprozessen
durchsetzen.
Die Ist-Situation der Personalfunktion im deutschsprachigen Raum wird in zahlrei-
chen Studien und personalwirtschaftlichen Publikationen beschrieben (Kienbaum 2013;
DGFP 2016) – dabei dominiert noch eindeutig die Perspektive der Selbsteinschätzung
durch die HR-Schlüsselpositionen, nur vereinzelt wird die Perspektive von Geschäfts-
führung oder Kollegenbereichen hinzugefügt (Beck und Bastians 2013). Auf der Stär-
kenseite finden sich dabei auf einer gesamthaft verallgemeinernden Ebene – auch unter
Einbezug der umfangreichen Projekt- und Research-Erfahrungen des Autors:

• fachliche Expertise in Mitbestimmung, Administrationsprozessen und weiteren ausge-


wählten Feldern der Personalarbeit (häufig Personalentwicklung, Vergütungssysteme,
Aufbau und Abbau Belegschaft),
• Service- und Kundenorientierung der HR-Jobgruppen,
• positive Bilanz im Interessenausgleich mit der betrieblichen Mitbestimmung/Krisen-
bewältigung und Personalkostenentwicklung,
• Kompetenzaufbau in Coaching, Führung und Change-Management,
• Akzeptanz der Funktion Personalleitung als Sparringspartner/Berater im Board.

Die Schwächen- oder Verbesserungsseite stellt natürlich auch eine Gesamtdarstellung


dar, die nicht auf einzelne Personalfunktionen generalisiert werden kann. Vorsicht gilt
bei Selbstbild-Fremdbild-Wahrnehmungen; des Weiteren liegt eine beträchtliche Streu-
ung von Leistungs- und Reifegraden in den Personalbereichen sowohl bei den Vertretern
von Großunternehmen als auch mittelständischen Personalfunktionen vor.

• Glaubwürdigkeit in Geschäftsfeld- und Managementkompetenzen.


• Weiterentwicklung von einer Service- und Expertenfunktion in eine gestaltende Busi-
nessfunktion.
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel 361

• Attraktivität für interne und externe Toptalente – als Karrieresprungbrett oder auch
Zielkarriere.
• Wirkliche Veränderungsbereitschaft und Veränderungswirksamkeit der eigenen Struk-
turen und Jobprofile.
• Technologieaffinität (IT, Digitalisierung) und Kombination aus HR-Innovationen und
Vereinfachung/Kundenzentrierung.

Mit Blick auf das aktuelle unternehmerische und gesellschaftliche Umfeld (Treiber Tech-
nologien, Demografie und Wertewandel) entstehen oder verstärken sich personalwirt-
schaftliche Risiken und Herausforderungen, die natürlich in die Prozessverantwortung
der Personalfunktion fallen und besondere Relevanz durch direkte Auswirkungen auf die
Wettbewerbsfähigkeit und Umsatzentwicklung des Unternehmens erhalten:

• Vakanzenrisiko – bedingt durch neue und anspruchsvollere Jobprofile in den Unter-


nehmensfunktionen, durch die demografische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und
durch den resultierenden Druck auf Unternehmens- und Arbeitsplatzattraktivität.
• Retention/Bindung von Leistungs- und Potenzialträgern – in der Wechselwirkung aus
abnehmender klassischer Unternehmensbindung der Generationen Y und Z/Balance
und Nutzenfokus, aus der Wettbewerbsintensität des Arbeitsmarktes für selektive Job-
profile (Fokus MINT) und aus den veränderten Führungs- und Kollaborationsanforde-
rungen digital-vernetzt geprägter Talentgruppen.
• Führungsqualität – mit ihren enormen direkten positiven oder auch negativen Auswir-
kungen auf Mitarbeiterengagement/Commitment (als Weiterentwicklung klassischer
Zufriedenheitskonzepte) und Fehlzeiten, auf die Identifikation von Potenzialträgern
und deren Förderung/Coaching der Kompetenz- und Laufbahnentwicklung sowie der
Schaffung einer kooperations- und zielorientierten Abteilungskultur/Team-Spirit.
• Kompetenz- und Innovationsrisiko – angesichts sich deutlich verändernder, eher
anspruchsvoller werdender Anforderungsprofile in vielen Jobgruppen (Informatik,
Verantwortungsübernahme, Gesamtüberblick, Beitrag Verbesserungen und Inno-
vationen) steigende Bedeutung der Belegschaftskompetenzen als differenzierender
Wettbewerbsfaktor. Hiermit verbunden Anforderungen an eine an Geschäftsfeldverän-
derungen ausgerichtete strategische Personal- und Kompetenzplanung mit Fokus auf
Fachwissen/Instrumente und Arbeitshaltungen.
• Effektivität und Effizienz der Personalfunktion – als Kostenträger mit 0,8 bis 1,3 %
der gesamten Unternehmensausgaben, als Einkäufer/Koordinator weiterer Rekrutie-
rungs- und Bildungsinvestitionen der Gesamtbelegschaft und nicht zuletzt als wesent-
licher Verhandler des gesamten Personalaufwands (je nach Branche zwischen zehn
und 60 % des unternehmerischen Gesamtaufwands und somit in der Regel dominie-
render Ertragsfaktor).
362 W. Jochmann

Abschließend werden im Rahmen der angewendeten SWOT-Gruppierung die Chancen


der Personalfunktion als Treiber einer professionellen Personalarbeit beschrieben – und
mit ihr ein Teil der zukünftigen inhaltlich-strategischen Ausrichtung und HR-Exzellen-
zanforderungen:

• Positionierung als ganzheitlicher Manager der unternehmerischen Personalressource


mit Kosten und Verfügbarkeit, mit Kompetenzen und Engagement – und somit des
entscheidenden Treibers einer digital geprägten Wirtschaftsstruktur.
• Vernetzung auf oberster Unternehmensebene mit Finanzen, IT, Kommunikation und
Digitalbereich – um die zentralen Transformationsprojekte als strategischer Partner
und Berater mitzugestalten.
• Konzeptioneller Lead in der Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 als integraler Bestandteil
einer Unternehmenswelt 4.0 – mit den Schwerpunkten Flexibilisierung, Attraktivität,
Balancemanagement, Agilität und Virtualisierung.
• Mittler der Interessen (Anforderungen, Kernziele und Kompetenzrahmen) von Unter-
nehmung und Mitarbeiterebenen und somit zentraler Verhandlungsführer/Balancema-
nager elementarer Verantwortungsebenen – die bei einer angemessenen Ausgestaltung
keine Widersprüche in sich tragen müssen und deren Fusion eine Grundvoraussetzung
für eine erfolgreiche, vielfach radikale Veränderungsreise der Unternehmen und Insti-
tutionen darstellt.
• Gestalter und Vorbild der „weichen Ebene“ neuer Arbeitswelten und somit von Füh-
rung, Zusammenarbeit und Unternehmenskultur – dies als Konzeptionist, als Mode-
rator, als Berater und Projektmanager bei aller Verantwortung und Lenkungsfunktion
der Board-Ebene und der Gesellschafter.

22.2 Inhalte der Personalarbeit im Spiegel der Digitalisierung

Seit vielen Jahren führen wir Befragungen der Personalleitungen zu den von ihnen
aktuell verfolgten Topthemen durch – mit dem klaren Sieger der Steigerung von Füh-
rungs- und Managementqualität und dem „EBIT-Siegerfaktor“ der Besetzungs- und
Managementqualität der Topfunktionen im Unternehmen. Ansonsten zeigt das Ergeb-
nisbild der Kienbaum HR 4 HR Studie von 2014 für die Personalerseite einen stabilen
Thementrend zu Change-Management, zu Talent-Management (mit den früheren Fokus-
begriffen Nachfolgeplanung und Personalentwicklung), zu Personalgewinnung (aktuell
eher mit strategischem Brand-Fokus) und einer gewissen Renaissance von Personalpla-
nung und Performance/Vergütung. Spannend ist der Perspektivenvergleich mit „nor-
malen Managern“ als Kunden der Personalfunktion – mit deren ähnlicher Sicht auf die
führenden HR-Treiberthemen, mit einem dann eher pragmatischen Blick auf Besetzung
von Vakanzen, auf intensive fachliche und überfachliche Bildungsplanung und -umset-
zung (vgl. Abb. 22.2).
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel 363

Professionals außerhalb von HR HR

28,3%
Steigerung der Führungs- und Managementqualität
39.7% 11,4%
26.1%
Change Management
32.7% 6,6%
26.1%
Talent Management
28.8% 2,7%
26.1%
Arbeitgeberattraktivität
26.9% 0,8%
23.9%
Strategische Personalplanung
19.2% 4,7%
21.7%
Performance Management
18.6%
3,1%
17.4%
HR Effizienzsteigerung
16.7%
0,7%
17.4%
Rekrutierung
16.7% 0,7%
13.0%
Nachfolgeplanung / -management
14.7% 1,7%
13.0%
Kompetenz- und Skill-Management
14.1% 1,1%

0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% 45% 50%

Abb. 22.2  Top 10 der HR-Handlungsfelder aus Sicht von HR und der Professionals außerhalb
von HR. (Quelle: HR 4 HR Studie 2014)

Der Blick auf weitere aktuelle HR-Studien (DGFP 2016) ergänzt die Themen des
digitalen Human-Resources-Management: Aufgrund der Auswirkungen der Digita-
lisierung, die von einem Drittel der befragten Unternehmen als sehr stark eingeschätzt
werden, forciert HR sowohl die effizientere Gestaltung der Personalarbeit als auch eine
verstärkte strategische Integration in das Unternehmen für die kommenden drei Jahre.
Eine populäre Zusammenfassung der modernen Treiberthemen, die über klassische aktu-
elle HR-Prozesse und Produkte hinausgehen, zeigt sich im 3-D-Darstellungsraster aus
Demografie, Diversity und Digitalisierung (vgl. Abb. 22.3).
Dabei hat die demografische Herausforderung/Stichwort „War for Talents“ einige
Jahre die Veränderungsdiskussion in den Personalbereichen geprägt – mit erhebli-
chen Investitionen in Employer Branding, den Aufbau von Recruiting Centers, die IT/
Digitalinvestition in modernes Candidate Sourcing und dem ernsthaften Betreiben
von Personalplanungsinstrumenten und ihren alters- und bedarfsorientierten Män-
gelszenarien. Heute ist die Generalaussage von in Deutschland in fünf bis zehn Jah-
ren fehlenden Arbeitnehmerressourcen zwischen vier und sieben Millionen einer
differenzierten Betrachtung von Zu- und Abwanderung, von global jungen Arbeits-
märkten mit erheblicher aktueller Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt von ernüchternden
364 W. Jochmann

» Arbeitgeberattraktivität
» Beschäftigungsfähigkeit
» Strategische Personalplanung

» Gender » Transformation
Demografie
» Inklusion Geschäftsmodelle
» Generationen » Organisations- &
Jobgruppen-
Diversity kompetenzen
Digitalisierung
» HR Digital

Abb.22.3  Trends und Anforderungen an die Unternehmen: Demografie, Digitalisierung und


Diversity

Jobgruppenprognosen einer digitalen Wirtschaftswelt (Veränderung Kompetenzanforde-


rungen und Arbeitsinhalte 60 bis 90 % aller Jobgruppen, existenzielle Gefährdung 15 bis
50 %) gewichen.
Anders stellt sich die Situation im Themen- und Handlungsfeld Diversity dar – dies
bezogen auf die Hauptdimensionen von Vielfalt zu Geschlecht, Internationalität, Alter
und Funktionserfahrungen. Vor fünf Jahren stand Diversity im Mittelpunkt von Ran-
kings und von politischer Diskussion, bestärkten Studien die EBIT-Relevanz von divers
zusammengesetzten Belegschaften und Führungsmannschaften. Die Kodexanforde-
rungen an kapitalmarktorientierte und öffentliche Unternehmungen haben bislang auf
Aufsichtsratsseite gefruchtet (aktueller Frauenanteil im DAX liegt laut der DSW-Auf-
sichtsratsstudie 2015 bei 26,9 %), auf der Ebene von Vorstand und nachfolgender Füh-
rungsebene allerdings kaum eine Verbesserung erfahren (aktueller Frauenanteil in den
DAX-Vorständen ist laut des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 7,4 %
auf 8,4 % gestiegen (DIW 2015); Anstieg der durchschnittlichen Rate der freiwilligen
Selbstverpflichtung um 20 % seit 2011), und dies angesichts eines ursprünglichen Ziel-
bildes von 20 bis 25 %. Die Situation in den Talent Pipelines für die erste und zweite
Führungsebene hat sich zu Geschlecht und Internationalität in deutschen Konzernen sehr
unterschiedlich entwickelt und ist noch nicht befriedigend. Die erheblichen Streuun-
gen zeigen Fortschritte in Dienstleistungs-, IT- und Konsumgutunternehmungen, zeigen
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel 365

deutliche Nachholbedarfe in Produktions-/ Technologiekonzernen. Während der Frau-


enanteil in der Gesamtbelegschaft zwischen 20 und 55 % liegt, stellen der Aufstieg ins
obere Management und insbesondere die Gestaltung von Babypause und Kindererzie-
hung immer noch eine deutliche Präsenz- und Karrierehürde dar – dies trotz flexibler
Arbeitsformen/Home Office und gestiegener Kinderbetreuungsinvestitionen auf Seiten
von Staat, Gemeinden und Unternehmen.
Aktuell ist Diversity kein Treiberthema in den HR-Statistiken, haben sich notwendige
Pool- und Besetzungsziele vielmehr im Gesamtgebilde Talent-Management sowie in den
Kennzahlen/Key Performance Indicators zur Belegschaftsgestaltung (Workforce Ana-
lytics) abgebildet (Jochmann 2015). Mit der aktuellen Diskussion um die Integration von
Flüchtlingen in den prosperierenden deutschen Arbeitsmarkt hat das Teilthema der Inklu-
sion Auftrieb erhalten – mit seinen kulturellen und qualifikatorischen Herausforderungen
und den Chancen zur Deckung von mittel- und langfristigen Personalbedarfen und natür-
lich zur Steigerung von Vielfalt.
Mit der Digitalisierung verbinden viele Manager und Vertreter von Personalbereichen
aktuell noch recht unterschiedliche Faktoren in Technologie/Informatik, in Geschäfts-
modellentwicklung und in den resultierenden Anforderungen an unternehmerische Ver-
änderungen. Es dominiert das Bild eines sehr hohen Handlungsbedarfes und eine hohe
Verunsicherung zu letztendlichen Lösungen im eigenen Unternehmen:

Beinahe 60 Prozent der Führungskräfte sieht das Innovationspotenzial der digitalen Trans-
formation innerhalb der eigenen Organisation noch nicht ausgeschöpft (Materna und PAC
2015).

Aktuellen Studien zufolge ist jeder Dritte hinsichtlich der Einschätzung der Verände-
rungen verunsichert, rund ein Fünftel befürchtet sogar, sein Arbeitsplatz könnte der
Industrie 4.0 zum Opfer fallen. Ein weiteres knappes Fünftel traut sich nicht zu, die Aus-
wirkungen der Umbrüche auf die Arbeitswelt einzuschätzen (Rochus Mummert 2015).
Laut der jährlich stattfindenden HR-Trendstudie von Kienbaum fühlen sich 64 % der
Teilnehmer im Handlungsfeld der digitalen Transformation noch nicht ausreichend vor-
bereitet oder mit entsprechenden Lösungen versehen (Kienbaum 2015). Eine aktuelle
Kienbaum-Befragung von leitenden HR-Funktionen zeigt folgende Tabelle.
• 41 % rechnen mit einem stabilen Wettbewerbsumfeld in den kom-
366

menden drei Jahren, 55 % mit intensiverem und neuem Wettbewerb –


Gesamtunternehmung Personalbereich
bei einer insgesamt hohen Relevanzeinschätzung der Digitalisierung
für das Unternehmen und sein Geschäftsmodell.
Mobile Application 75%
46%
• Vorhersage eines steigenden Bedarfs nach Experten (Fokus
Data Analytics 67% Informatik/Datenmanagement und Marketing) und Projektleitern,
37%
60%
abnehmender Bedarf nach Führungskräften, Fachkräften Produk-
E-Commerce
6% tion/Operations und Sachbearbeitung/Support – bei insgesamt
Cloud Lösungen 60%
37% leicht zurückgehender Gesamtbelegschaft.
Social Media 52% • Ansteigende Kompetenzanforderungen in Digital/Informatik, in
84%
44%
Persönlichkeit und Führung – bei Stagnation klassischer Fachkom-
Industrielles Internet der Dinge
10%
petenzen.
Technologien 32%
2% • Unzureichender Grad an konkreten und ressourcengesicherten Digi-
Künstliche Intelligenz 29% talstrategien auf Unternehmens- und Geschäftsfeldebene.
9%

Augmented Reality 20% • Dementsprechend auch unzureichende Ausarbeitung von digitalen


4%
Teilstrategien im Rahmen der HR-Strategie.
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
• Bestätigung der aktuell dominierenden Rollendifferenzierung HR
Ergebnisse der Auswirkungen von digitalen Technologien und Anwendungen auf die und Erwartung der größten Digitalauswirkungen auf die (Shared)
Unternehmen und den Personalbereich. (Quelle: Kienbaum Digitalisierungsstrategie 2016) Services-Organisation und die Centers of Competence.
• Erwartung deutlich veränderter interner Kundenerwartungen an
HR-Produkte (App-Welt, Mitarbeiterdaten und Bereichskennzah-
len).
• Entwicklung flexibler Arbeitsformen in recht hoher Umsetzung,
dabei Fokus auf Home Office und mobiles Arbeiten, Leiharbeit/
befristete Ressourcen und Expertenplattformen, virtuelle Teams,
Sabbaticals und Jobsharing.
• Risikozuschreibung auf Schutz von Personaldaten, veraltetes
Führungsverhalten, Work-Life-Balance, Bindung von Talenten und
Verfügbarkeit von geeignetem Personal.
• Leicht positives Fazit zum Gestaltungsanteil der Personalfunktion
bei der digitalen Unternehmenstransformation/Roadmap und der
eigenen Positionierung.
W. Jochmann
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel 367

22.3 Organisationsformate und ihr übergeordneter Rahmen

Die klassische Aufbauorganisation eines Unternehmensbereiches beschreibt ihre Struktur


mit Leitungsfunktion und nachgeordneten Einheiten mit deren Funktion, Leitungsfunk-
tion und zugeordneten Jobgruppen/Positionsbezeichnungen samt Ressourcenausprägung
in Vollzeitäquivalent oder Mitarbeiteranzahl. Ein übergeordnetes Organisationsmodell
folgt einer bestimmten Steuerungslogik – auf Board-Ebene typischerweise im Spek-
trum von reiner Finanzholding über die strategische Holding bis zu einer operativen
Führungseinheit. Die Personalfunktion ist aktuell im DAX als Rein- oder Kombinati-
onsfunktion in knapp 77 % auf der Vorstandsebene vertreten, im Mittelstand steigt der
Prozentsatz auf über 50 %. Sie ist dabei keine direkte Marktfunktion, die am unterneh-
merischen Wertschöpfungsprozess direkt beteiligt ist. Als Marktfolgefunktion kann sie
alternativ als strategisch-steuernde oder als unterstützend-serviceorientierte positioniert
sein, wobei eigener Anspruch in HR-Funktionalstrategien und Wahrnehmung/Nutzung
durch Geschäftsführung und Aufsichtsebene durchaus voneinander abweichen kann.
Es ist typisch für die Personalarbeit, dass sie auf Topebene offiziell hoch wertgeschätzt
und als absoluter Erfolgsfaktor dargestellt wird, dass ihre Leitungsfunktion allerdings
über eine sehr begrenzt übergreifende Entscheidungskraft und maßgebliche Budgetmit-
tel verfügt (Kienbaum, 2013). Deshalb ist es seit vielen Jahren ein Kernziel der Perso-
nalfunktion, sich als strategisch-treibende Kraft auf Topebene zu etablieren, somit auf
Augenhöhe mit den Bereichen Finanzen/Controlling und Unternehmensplanung zu agie-
ren (vgl. Abb. 22.4).
Formale Merkmale einer Organisationsstruktur sagen allerdings noch nichts über die
zugrunde liegende Positionierung, Rollenzuschreibung, Ressourcenstärke und Entschei-
dungsweite aus. Im klassischen Sinne sind alle Marktfolgebereiche primär kompetenzba-
siert strukturiert, also in der Kaskadierung von inhaltlich abgrenzbaren Zuständigkeiten

Finanzen & Controlling

HR

Corporate Development
Entwicklung
HR/ Prozess-
Governance/ innovativer
Kompeten- management
Finance Geschäfts- IT
zen& Kultur & IT
modelle
Communications

Digital

Forschung & Operations/ Marketing &


Beschaffung Supply Chain
Entwicklung Produktion Vertrieb

Transaktionale Unterstützungsprozesse

Abb. 22.4  Die neue Gewichtung der Unternehmensfunktionen


368 W. Jochmann

HR-Strategie & strategisches Controlling


Steuerung Strategische Personalplanung

Führungs- und Unternehmenskultur

Transformation & Organisationsentwicklung

Mitbestimmung/Gremien- und Tarifmanagement

Sourcing & Rekrutierung

Performance-/Kompetenzmanagement
Kerngeschäft

Talentmanagement

Compensation & Benefits

Learning-Management

Gesundheitsmanagement

Personaladministration und -abrechnung

HR-Berichtswesen/Operative Personalplanung & Controlling


Support

HR-Prozessmanagement

HR-IT

HR-Kommunikation

Abb. 22.5  HR-Prozesslandkarte

nach Kriterien von Prozessverantwortung, Expertise und vorgegebenem Steuerungs- und


Risikomanagementauftrag. Deshalb ist die HR-Prozesslandkarte (vgl. Abb. 22.5) der
klassische Ausgangspunkt für die nachfolgende Organisationsgestaltung. In ihrer Ausfor-
mulierung hat sich die Abbildung des Porter-Modells mit den Perspektiven von Steue-
rung, Operations/Kernauftrag und Unterstützungsaufgaben bewährt.
Weniger bewährt hat sich eine davon losgelöste Formulierung des eigenen Steue-
rungsanspruchs, die sich klassischerweise in HR-Funktionalstrategien und hier in den
Bausteinen von Vision/Leitstern, Mission/Geschäftsauftrag, Rollen und Werten wie-
derfindet. Trotz aller inhaltlicher und prozessual-bindender Berechtigung finden der-
artige „Personalstrategien“ häufig mit einem auffällig innen orientierten Fokus) keine
Durchschlagskraft im täglichen Zusammenspiel der Unternehmensfunktionen rund um
Geschäftszahlen, Marktentwicklungen, Innovationsherausforderungen, Expansions- und
Einsparungszyklen. Deshalb betonen wir das Konzept eines eigentlich extern-markt-
orientierten Geschäftsmodells (Wertschöpfungsprinzip, Wettbewerbsdifferenzierung
und Positionierung) als ein intern-marktfolgeorientiertes Schlüsselkonzept auch für die
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel 369

Personalfunktion. Ein HR-Geschäftsmodell muss somit zukunftsorientierte wertstiftende


Antworten auf folgende Fragen liefern:

• Was ist unser einmaliger Wertbeitrag im Rahmen des unternehmerischen Geschäfts-


modells und der notwendigen Wettbewerbsdifferenzierung?
• Welche Gesamtrolle und welche Teilrollen wollen wir im Sinne einer Positionierung,
einer Markenbildung und einer Funktionsausgestaltung wahrnehmen?
• Welchen Steuerungsauftrag wollen wir gegenüber Gesellschaftern und Board-Ebene
wahrnehmen – und mit welchen Verantwortlichkeiten/Entscheidungsbefugnissen ist er
ausgestattet?
• Nach welchen Organisationsprämissen und -prinzipien sollten wir uns aufstellen?

Demnach ist die Entwicklung eines HR-Geschäftsmodells mehr als die moderative
Entwicklung einer Aufbauorganisation für den Personalbereich, welche sich an exter-
nen Benchmarks, an anderen internen Marktfolgebereichen, an der Austarierung von
Interessen wichtiger HR-Player/bisheriger Schlüsselfunktionen und an Kunden-/Mit-
bestimmungserwartungen ausrichtet. Auch die Anwendung des klassischen Organisati-
onsanforderungsdreiecks aus Kundenorientierung, strategisch-innovationsorientierter
Ausrichtung und Kostenorientierung mit Prioritätensetzung und Ressourcenzuordnung
ist unzureichend. Es bedarf vielmehr eines professionellen Prozesses einer markt- und
stakeholderorientierten Positionierungsfestlegung in Begleitung von Geschäftseinfluss,
Wertigkeit und Ressourcen-/Entscheidungsvolumen. Dieser kann durchaus als Strategie-
prozess bezeichnet werden, wobei dessen klassische HR-Innenausrichtung mit Zielen,
Produkten/Leistungen und personellen Anforderungen an diesem Entwicklungspunkt
eher störend ist. Entscheidend für die Vorbereitung der Organisationsdiskussion sind
somit Markt- und Wettbewerbsanalysen, Stakeholder-Gespräche und Anforderungen
interner Kunden, nüchterne externe Leistungs- und Ressourcenbenchmarks sowie Tren-
danalysen. Während wir auf die Ausgestaltung eines personalwirtschaftlichen Wertbei-
trags schon eingegangen sind, fehlt bislang eine übergreifende Steuerungslogik, die sich
auf Exklusivrechte der HR-Funktion und auf die Verantwortungs-/Entscheidungskaska-
dierung über die HR-Ebenen Konzern, Geschäftsbereich, Region und Land/Standort aus-
dehnt.
Abb. 22.6 zeigt eine typische Steuerungslogik in Konzernstrukturen, die sich in mit-
telständischen Strukturen oder zentralisierten Stammhauskonzepten natürlich wesent-
lich vereinfacht – und die sich auf die wesentlichen Werthebel von Personalressourcen,
Unternehmenskultur/Führungsmodell und Transformation/Agilität, alternativ auf eine
zukunftsorientierte HR-Prozesslandkarte beziehen kann (vgl. auch Jochmann 2015).
Eine gesamthafte Ausrichtung an Organisationsprinzipien berücksichtigt neben
den vorgegebenen Organisationsebenen den aktuellen und den angestrebten Reife-
grad, das übergreifende Konzernführungsmodell und die Organisationsmechanik für
Verantwortungszuschreibungen und Prozessaufteilungen – wobei sich übergreifend
Schwerpunktsetzungen alternativ in Effektivität (Top-Line-Ausrichtung), in Effizienz
370 W. Jochmann

5ROH 'HVFULSWLRQ ([DPSOH


*OREDOSURFHVVRZQHULQFRUSRUDWHIXQFWLRQ
&RUSRUDWH6WDQGDUG 6LJQRIIE\&+52V
3URFHVV *OREDO&DUHHU6LWH
2QH,7VROXWLRQDQGFOHDUZRUNIORZ
*OREDO.3,GDVKERDUGUHSRUWLQJ
/HYHORIVWDQGDUGL]DWLRQ
/HYHORIVWDQGDUGL]DWLRQ

3ROLF\SURYLGHREOLJDWRU\SULQFLSOHVSURFHGXUHVDQG
&RUSRUDWH3ROLF\ +LULQJ3ROLF\
VWDQGDUGVIRU%$DQG5+4V
5HVSRQVLELOLW\RIUHSRUWLQJGDVKERDUGOLHVZLWK5+4%$
6KDUHG5HVSRQVLELOLW\

&RUSRUDWH*XLGHOLQH *XLGHOLQHVRXWOLQHVUHFRPPHQGHGVWDQGDUGV
2QERDUGLQJ3URFHGXUH
*XLGHOLQHVFDQEHVXSSRUWHGVXSSOHPHQWHGE\DGGLWLRQDO
JXLGHOLQHVDQGSROLFLHVWKH5+4%$GHILQHV

2SHUDWLRQDO%HVW3UDFWLFH 3URYLGHEHVWSUDFWLFHVWKDWDUHVKDUHGEHWZHHQ
,QWHUQVKLS3URJUDP
&RUSRUDWH5+4DQG%$RQFRPPRQNQRZOHGJHSODWIRUP

Abb. 22.6  HR-Governance und Corporate-Function-Rolle

(Bottom-Line-Ausrichtung), in Markt-/Strategiefokus und innen orientierter Steuerung


beobachten lassen. Des Weiteren bestimmen folgende Organisationsprinzipien die aktu-
elle Strukturierungsdimension von Personalbereichen:

• Subsidiarität – welche Prozesse müssen dezentral-kundennah zugeordnet werden?


• Skalenökonomie – welche Prozesse oder Teilprozesse/Leistungen/Produkte sind aus
Effizienzgründen übergeordnet zu bündeln?
• Mehrwertanforderung – wie vermeiden wir Kompetenz- und Ressourcendopplungen/-
überschneidungen?
• Skalierbarkeit – wie lässt sich unser Organisationsmodell auf unterschiedliche
Geschäftsgrößen, auf Wachstums- oder Schrumpfungsszenarien anwenden?
• Agilität und Virtualität – wie bilden wir modern-flexible und projektbezogene Organi-
sationsprinzipien ab?
• Komplexitätsreduktion – wie vermeiden wir Prozessschnitte und sichern Gesamtver-
antwortungen sowie Simplizität?

Insgesamt lassen sich aktuell sechs Organisationsbilder in Personalbereichen beob-


achten, die sich im Wesentlichen nach Unternehmensgrößen und Internationalität
unterscheiden, die sich zudem im Wandel von traditionell-kompetenzbasierten Struktur-
modellen zu Rollen-/Säulenmodellen befinden (vgl. Abb. 22.7).
Aus den vorausgegangenen Kapiteln wird deutlich, dass wir klare Grenzen im Ulrich-
3-Säulen-Ansatz oder auch seinen Modifikationen sehen müssen, dass eine gewisse
Priorität für den Run/Change-Ansatz für Konzernstrukturen und für den fokussierten
Expertenansatz bei Wachstumsunternehmen/Innovationsführern liegt. Die digitale Trans-
formation erhöht allerdings die Anforderungen an Businessnähe, an technologische
Kompetenzbasierte Dave Ulrich Run-and-change-the- Virtualisierung der
3-Säulen-Plus-Modell Topexpertenmodell
Funktionalorg 3-Säulen-Modell business-Modell HR-Funktion
Mentales Leitmodell der
Positionierung als sehr
Konsequente Flexible Abbildung typischer Bündelung laufendes HR- Befähigung von
schlanke Steuerungs- und
Organisationsstruktur mit Konzernkomplexitäten mit Geschäft und zugehörige Führungskräften und
Schlagkräftiges Expertenfunktion/Vorbild
den Rollen Businesspartner, Unternehmensfunktionen, Prozesse – in der 3-Säulen- Konzernfunktionen für die
Funktionsteam Unternehmensstrategie-
Centers of Competence und Geschäftsfeldern, Regionen, Logik wichtigen HR-Themen/
/Entwicklung
Service Center Ländern und Standorten Leistungen

Aufbau 2. HR-Säule mit allen


change-relevanten HR-
Ausrichtung an pragmatisch- Ausdifferenzierung der HR- Fokus auf strategische und Konsequentes „grüne Wiese
Prozessen – etwa HR-
realistischen One-face-to-the-customer- Rollen etwa mit Steuerung/ business-integrierte HR- denken“/Start-up-Mentalität –
Strategie, Change/
Kundenerwartungen und Modell Governance, mit Beratung Prozesse mit Outsourcing, externen
Transformation/
Mitarbeiterprofilen oder lokaler HR-Mix-Rolle HR-Partnerschaften etc.
Organisationsentwicklung
etc.

Auftraggeber der Change-


Einführung von end2end-
the-Business-Säule sind HR- Verlagerung aller
Verantwortungen in Topführungskräfte agieren
Klare Prozessschnittstellen Business Partner, Vorstand/ Standardprozesse in Shared
Prozessfokus ausgewählten Centers of als oberste HR-Manager – in
und Verantwortlichkeiten Geschäftsführung mit Services/Outsourcing/Befähi
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel

Beratung/Betreuung/Adminis Expertise – etwa für Recruiting, Talent-


national und global mit dieser strategischen gung Führungskräfte als HR-
tration Recruiting/Ressourcing, Management etc.
Rollenstruktur Gesamtprojekten und Partner
Learning, Transformation,
Arbeitsteams mit
interner Arbeitsmarkt
Unternehmensplanung etc.

Bedeutung von HR-Themen


und Hebeln bildet sich in
Zentralisierung von allen Businessfunktionen
Führung durch eine Board- Hervorragende
Mix HR Expertise und Expertenfunktionen und Forcierung von multi-tier- integriert ab – kunden- und
Personalfunktion, evtl. in Mitarbeiterprofile mit
Sachbearbeitung/HR Bündelung von Shared-Services-Lösungen marktferne Funktionen nur
Kombination mit Corporate Topexpertise/Consulting/Busi
Operations Servicefunktionen international noch in den Bereichen, die
Strategy/interner Beratung ness-Background
gesetzlich und vom
Kapitalmarkt her notwendig
sind

Abb. 22.7  Szenarien der Personalfunktion


371
372 W. Jochmann

5XQ &KDQJH

7RS/LQH+56WUDWHJ\DQG2UJDQLVDWLRQ
)URQWHQG

+53DUWQHU +5%HUDWHU
%DFNHQG

+5([SHUWH +5'LJLWDOLVW

%DVH/LQH+52SHUDWLRQV

Abb. 22.8  New HR-Operating Model

Innenkompetenz und an potenziell bahnbrechende Innovationen – denen eigentlich kei-


nes der zuvor genannten und aktuell weltweit diskutierten Modelle gerecht werden kann
(Jochmann 2015, zitiert in Personalwirtschaft 2015). Deshalb stehen wir wahrscheinlich
vor einem gravierenden Einschnitt oder Entscheidungsbedarf in der gesamthaften Aus-
richtung der HR-Funktion – wie sie Dave Ulrich 1997 mit seinem kundenorientierten
Rollenmodell eingeleitet hat und welches in ein vereinfachtes 3-Säulen-Organisati-
onsmodell umgedeutet worden ist. Die damalige Grundaussage bestand in einer radi-
kalen Markt-/Geschäftsausrichtung mit den Rollen Strategischer Partner und Change
Agent, des Weiteren in einer one-face-internen Kundenausrichtung mit der Employee-
Champion-Rolle und einer Service-Prozessbündelung in der Administrativen Experten-
rolle. Die heutige Kernrolle des Businesspartners ist eigentlich die schwer realisierbare
Kombination von drei dieser vier Rollen – ein Ankerpunkt und ein Schwachpunkt des
weltweit führenden (sogenannten) Dave-Ulrich-Modells für Personalbereiche. In einem
Zwischenschritt würden wir vier veränderte HR-Rollen formulieren: HR-Partner, HR-
Experte, HR-Berater und HR-Digitalist (vgl. Abb. 22.8).
Entscheidend ist neben der Akzentuierung dieser Rollen ihre Zuordnungslogik nach
der aktuell prominenten Run/Change-Dimension einerseits (Charan 2014), nach der
generisch validen Dimension Markt und Marktfolge andererseits. Zugegebenermaßen
bildet das Modell den aktuellen Handlungsschwerpunkt im operativ-administrativen
Bereich nur unvollständig ab, sodass wir letztlich ein 6-Rollen-Modell vorschlagen, wel-
ches um die HR-Operations-Rolle einerseits und um die Strategie- und Steuerungsrolle
andererseits ergänzt wird. Dieses neue generische Organisationsmodell stellt allerdings
keinen organisationalen Blueprint dar, der undifferenziert auf komplexe Konzernstruk-
turen mit den bekannten Dimensionen von Unternehmensführung, Geschäftsfeldern,
Regionen, Ländern und Standorten übertragen werden kann. Das Modell bedarf somit
einer unternehmensspezifischen Anpassung, ist flexibel für die Führungsorganisation/
HR-Keyplayer, bestätigt und forciert die Bündelung von Transaktionsprozessen in einer
22  Geschäftsmodelle der Personalfunktion im Wandel 373

Serviceeinheit innerhalb oder außerhalb der HR-Kernorganisation. Es bedeutet allerdings


auch klare Veränderungen vom Status quo:

• Abkehr von einem universellen, HR und Business-kombinierenden Businesspartner-


modell.
• Fokus auf die alte Dave-Ulrich-Rolle des Employee Champions – der mit Beratung
und Betreuung alle Mitarbeiter mitsamt Talenten und Führungskräften direkt umfasst,
somit das populäre Führungskräftebetreuungsmodell und die zugrunde liegenden
Ratios verlässt.
• Trennung der Experten- und der Beraterrolle in wichtigen integrierten Konzern-/
Geschäftsbereichsprojekten – und somit Abbau der Überlastungs- und Fokusschwä-
che der aktuellen Centers of Competence.
• Ausbau der im Run/Change-Modell propagierten Consulting-Kapazitäten, die sich
mit einer agilen Beratungsorganisation flexibel und ganzheitlich in die wirklich ent-
scheidenden Konzernprojekte einfügen und den Stellenwert der HR-Hebel und der
HR-Unit glaubhaft steigern.
• Einführung einer neuen Rolle mit HR-Technologen und Innovatoren, die keinen HR-
Fachhintergrund haben, die disruptiv aktuelle Prozesse infrage stellen und die Inno-
vationsthemen HR Big Data, mitarbeiterorientierte Applikationslandschaft, Design
Thinking in HR u. a. treiben.
• Bestätigung einer nachhaltigen Expertenorganisation in den klassischen HR-Prozes-
sen – allerdings mit konsequenter Abtrennung von anspruchsvoll-operativen Aufga-
ben und deren Überführung in eine expansive Shared-Services-Organisation oder ein
weiterführendes Outsourcing-Modell.

Die Zukunft der HR-Funktion hängt an der wohl einmaligen Chance, die allgegenwärtige
digitale Unternehmenstransformation mit ihren offensichtlichen personalwirtschaftlichen
Erfolgsfaktoren zur klaren Dokumentation eines zentralen Wertbeitrags zu nutzen – durch
bewährt-innovatives HR-Expertenwissen, durch eine (von Dave Ulrich eingeforderte)
konsequente interne und externe Kundenausrichtung und durch Mut zu agil-disruptiven
Konzeptlösungen und Organisationsformaten.

Literatur

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Rochus Mummert (2015). Umfrage: Gut jeder zweite Arbeitnehmer tappt beim Thema Digitali-
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FINAL_PI_HR-Panel_Industrie_4_0.pdf.
Siemann, C. (2015). Transformation hoch zwei. Personalwirtschaft, Sonderheft 2015(12), 4–10.

Weiterführende Literatur

Beyer, K. (2015). MEGATRENDS 2015. Düsseldorf: Deutsche Gesellschaft für Personalführung


e.V.
Siemann, C. (2015). Transformation hoch zwei. Personalwirtschaft, Sonderheft 2015(12).

Über den Autor

Prof. Dr. Walter Jochmann ist Mitglied der Geschäfts-


führung der Kienbaum Consultants International GmbH
und leitet in seiner Funktion als Head of Innovation das
Kienbaum Institut @ ISM. Er betreut Großunternehmen
bei der strategischen Neuausrichtung von Personalberei-
chen, im Change-Management und in der Beurteilung
von Topführungskräften. Darüber hinaus hat er zahlreiche
Publikationen zu Themen aus Personalmanagement und
Change-Management veröffentlicht. Er studierte Psycholo-
gie an der Ruhr-Universität Bochum, wo er auch über die
berufliche Wechselmotivation von Führungskräften promo-
vierte. 2015 wurde er zum Honorarprofessor an die International School of Manage-
ment berufen.
Positive und negative Effekte
der Selbststeuerung auf psychische 23
Gesundheit und Motivation
Stefan Diestel, Wladislaw Rivkin und Klaus-Helmut Schmidt

Zusammenfassung
Turbulente Entwicklungen, globale Krisen und sich dynamisch verändernde Sys-
teme stellen hohe Anforderungen an die Selbststeuerungsfähigkeit von Mitarbeitern
und Führungskräften in nahezu allen Tätigkeitssphären. Hieraus resultieren teilweise
drastische Fehlzeitenanstiege, die im Zusammenhang mit starken Erschöpfungs- und
Depressionssymptomen stehen. Das vorliegende Kapitel ist den Prozessen der Selbst-
steuerung als psychischer Mechanismus von zielbezogener Tätigkeit in modernen
Arbeitswelten gewidmet.
In Anlehnung an die Persönlichkeitssysteminteraktionstheorie unterscheiden wir
zwischen zwei Formen der Selbststeuerung: willentliche Selbstkontrolle und auto-
nome Selbstregulation. Hierbei werden die negativen Folgen von unterschiedlichen
Anforderungen an die willentliche Selbstkontrolle (Emotionsarbeit, Impuls-, Auf-
merksamkeits- und Motivationskontrolle, berufliche Smartphone-Nutzung außerhalb
der Arbeitszeit) für die psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit thematisiert.
Ferner liefert der Beitrag Einblicke in die positiven Wirkungen von autonomer Selbst-
regulation auf Motivation, Gesundheit sowie Leistungsfähigkeit und stellt anschlie-
ßend die Selbstkontrollfähigkeit als personenbezogenen Einflussfaktor dar, der sich
über Trainingsprogramme ausbauen lässt. Der Beitrag schließt mit einer kritischen

S. Diestel (*) 
Kienbaum Institut @ ISM für Leadership & Transformation, Dortmund, Deutschland
E-Mail: [email protected]
W. Rivkin · K.-H. Schmidt 
Leibniz Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), Dortmund, Deutschland
E-Mail: [email protected]
K.-H Schmidt
E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 375


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9_23
376 S. Diestel et al.

Reflexion der in der Praxis sowie Forschung dominierenden Sichtweisen auf Selbst-
steuerung sowie einer Darstellung der Einflüsse von Mindsets auf Selbststeuerung
und der Implikationen für das Human-Resource-Management.

Inhaltsverzeichnis

23.1 Selbststeuerung in modernen Lebens- und Arbeitsumwelten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376


23.2 Zwei Gesichter der Selbststeuerung: Willentliche Selbstkontrolle
und autonome Selbstregulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
23.3 Psychische Kosten der willentlichen Selbstkontrolle bei der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 381
23.3.1 Emotionsarbeit: Kontrolle der eigenen Emotionen als Arbeitsaufgabe. . . . . . . . . 382
23.3.2 Impulskontrolle, Ablenkungen widerstehen
und Überwinden innerer Widerstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
23.3.3 „Ruf‘ mich an: Ich bin bis 23 Uhr erreichbar“:
Berufliche Smartphone-Nutzung außerhalb der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
23.3.4 Protektive Ressourcen: Kontrollspielräume und Psychological Detachment. . . . . 385
23.4 Flow-Erleben bei der Arbeit: Autonome Selbstregulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
23.4.1 Positive Stimmung, affektives Commitment und Work Engagement . . . . . . . . . . 387
23.4.2 Einflüsse der Führung auf Selbstbestimmung und Work Engagement . . . . . . . . . 388
23.4.3 Achtsamkeit als Mechanismus der Selbststeuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
23.5 Selbstkontrollfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
23.5.1 Positive Wirkungen der Selbstkontrollfähigkeit
auf Belastungsbewältigung, Work Engagement und Arbeitsleistung. . . . . . . . . . . 393
23.5.2 Training und Ausbau von Selbstkontrollfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
23.6 Ausblick: Kritische Reflexion der Theorien zur Selbststeuerung,
Einflüsse von Mindsets auf Selbststeuerung und Implikationen für
ein modernes Human-Resource-Management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Über die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

23.1 Selbststeuerung in modernen Lebens- und


Arbeitsumwelten

In einer durch umfassende sowie tief greifende wirtschaftliche, politische und nicht
zuletzt technologische Veränderungen geprägten Arbeits- und Lebensumwelt sind Men-
schen zunehmend mehr gefordert, flexibel zu agieren, alle potenziellen Handlungsop-
tionen abzuwägen, Entscheidungen in ihren Konsequenzen mehrfach zu überdenken,
Fähigkeiten sowie Fertigkeiten angesichts innovativer Technologien kontinuierlich wei-
terzuentwickeln und sich zielgerichtet in teilweise intransparenten Strukturen zu orien-
tierten sowie zugunsten gesellschaftlicher Erwartungen eigene Emotionen zu steuern.
Zur Charakterisierung der die Moderne sowie Postmoderne bestimmenden „permanen-
ten Flut“ hat Peter Sloterdijk (2014, S. 87) die sogenannte zivilisationsdynamische These
formuliert, dass die Menge der durch Zivilisationsprozesse (Produktions-, Ausbeutungs-
und Transformationsprozesse) erzeugten Energie die Fähigkeit zur Bindung und zur
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 377

Absorption (Kontrolle und Nutzung) dieser freigesetzten Energie weit übersteigt. Die
hieraus abgeleiteten Implikationen für persönliche, gesellschaftliche und soziale Verhält-
nisse lassen aktuell sowie zukünftig gewaltige Umwälzungen erwarten, die in ihrem Aus-
maß und ihren Folgen für unsere Kultur mit ihren teilweise instabilen sozialen Systemen
sowie organisatorischen Strukturen bei Weitem noch nicht abschätzbar sind. In den letz-
ten fünfzehn Jahren haben diese Umwälzungen ihren Niederschlag in zahlreichen Kri-
sen (Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Flüchtlingskrise, Terrorkrise etc.) gefunden, die
eine in ökonomischen Parametern der Effizienz sowie Effektivität operationalisierbare
hohe Reaktions- sowie Leistungsfähigkeit von Unternehmen und politischen Institutio-
nen, aber auch einzelner Menschen erforderlich machen. So hat beispielsweise der EU-
Gipfel der Staats- und Regierungschefs zur finanziellen Unterstützung Griechenlands
am 11. Juli 2015 ohne längere Pause insgesamt 17 h gedauert. In Anbetracht der wirt-
schaftspolitischen Tragweite sowie mitunter kaum durchschaubaren Komplexität dieses
Themas waren die beteiligten Akteure in ihrer Selbststeuerung in einer Weise bean-
sprucht, die eine hohe psychische Ausdauer und folglich stark ausgeprägte persönliche
Ressourcen voraussetzt. Eine durch derartige Aufgaben permanent sowie situativ strapa-
zierte Selbststeuerung fordert ihren Tribut, der seine unmittelbaren sowie langfristigen
negativen Wirkungen auf psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit zeitigt. Eine in
zahlreichen Studien hervorgebrachte, wachsende empirische Evidenz dokumentiert eine
unbehagliche Korrespondenz zwischen der zunehmenden zivilisatorischen Dynamik im
„Weltinnenraum des Kapitals“ (Sloterdijk 2014; Zizek 2015) und einem überproportio-
nalen Anstieg der durch psychische Störungen bedingten Fehlzeiten (Badura et al. 2015).
Während sich wechselseitig blockierende politische Akteure sowie in ökonomischen
Umwälzungen umherdriftende Unternehmen eine strukturelle Überforderung der staat-
lichen und wirtschaftlichen Großgebilde widerspiegeln, manifestieren sich die Folgen
von steigenden Anforderungen an die Selbststeuerung bei einer wachsenden Anzahl von
Menschen in motivationalen sowie emotionalen Erschöpfungszuständen. Einer breiten
Öffentlichkeit sind diese Erschöpfungszustände unter dem gleichzeitig beeindruckenden
sowie beängstigen Begriff Burn-out bekannt (Maslach et al. 2001).
Sicherlich muss bei einer schlichten Gleichsetzung von umfassenden gesellschaftli-
chen und individuellen Prozessen Vorsicht geboten sein. Nichtsdestoweniger zwingen die
hier skizzierten, zeitlich koinzidierenden Entwicklungen der zivilisatorischen, krisenge-
prägten Dynamik und der stetig steigenden Erschöpfungssymptome zu der Feststellung,
dass unter dem Einfluss der „permanenten Flut“ die von ihr betroffenen Sphären und die
in diesen Sphären handelnden Individuen sich – wie ein untrennbares sowie voneinander
abhängiges Zwillingspaar – wechselseitig das Versagen ihrer Selbststeuerung spiegeln.
Die Gleichartigkeit der auf beiden Ebenen geforderten und überforderten Selbststeu-
erungsfähigkeit dürfte der Asymmetrie zwischen der im zivilisatorischen Entfaltungs-
prozess freigesetzten und zunehmend gefährlich werdenden „Energien“ einerseits sowie
der zur ihrer Bindung und Kontrolle erforderlichen, allerdings nurmehr begrenzt verfüg-
baren Ressourcen andererseits geschuldet sein (Sloterdijk 2014). Im gesellschaftlichen
378 S. Diestel et al.

sowie im individuellen Fall scheint die „regulatorische Agilität“, die eine flexible sowie
zugleich zielgerichtete Anpassungs- und Absorptionsfähigkeit von Systemen bezeichnet,
von einer endlichen Ressourcenkapazität abhängig zu sein, deren energetische Überbe-
anspruchung ihre Erschöpfung und folglich den Verlust der Selbststeuerung nach sich
zieht (Muraven und Baumeister 2000).

Es werden in Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr Fettreserven


aufgebaut als sich durch Diäten und Bewegungsprogramme verbrennen lassen (Sloterdijk
2014, S. 89).

Mit seinen aus der zivilisationsdynamischen These abgeleiteten (teilweise ironischen)


Schlussfolgerungen deutet Sloterdijk daraufhin, dass der Ressourcen verbrauchende
Mechanismus der entfesselten zivilisatorischen Dynamiken und der Unfähigkeit zur
Kontrolle dieser Dynamiken für gesellschaftliche Großgebilde in gleicher Weise wirk-
sam ist wie für einzelne Personen. Die Analyse und Stabilisierung der Selbststeue-
rungsfähigkeit von Systemen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur obliegt
Volkswirtschaftlern, Politikwissenschaftlern, Soziologen sowie Philosophen, während
die Beantwortung der Frage nach der Funktionsweise und Förderung der Selbststeue-
rungsfähigkeit von handelnden Menschen in diesen Sphären u. a. Aufgabe der Arbeits-
und Organisationspsychologie ist. Insofern ist das primäre Anliegen dieses Beitrags die
differenzierte Auseinandersetzung mit den psychischen Prozessen sowie Wirkungen der
Selbststeuerung bei arbeitsbezogenen Tätigkeiten, um nachhaltig gesundheits-, moti-
vations- sowie leistungsförderliche Gestaltungsmöglichkeiten des modernen Human-
Resource-Managements in Organisationen identifizieren zu können. Dessen leider zu
häufig nur implizit vorausgesetzte, aber nicht explizit formulierte Hauptaufgabe besteht
in der Sicherstellung menschlicher Leistungsprozesse (Jiang et al. 2012). Nach einer
konzeptuellen Beschreibung der Selbststeuerung sowie ihrer Funktionsweise sollen drei
Perspektiven den inhaltlichen Rahmen des vorliegenden Beitrags umreißen: Zum einen
werden die ungünstigen Effekte von aufgabenbezogenen Anforderungen an Prozesse
der Selbststeuerung auf psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit beleuchtet. Zum
anderen fokussiert der Beitrag auf die positiven Motivations-, Kreativitäts- und Leis-
tungspotenziale von Selbststeuerungsprozessen. Schließlich werden persönlichkeitsbezo-
gene Aspekte der Selbststeuerungsfähigkeit reflektiert.

23.2 Zwei Gesichter der Selbststeuerung: Willentliche


Selbstkontrolle und autonome Selbstregulation

In der Psychologie sind unterschiedliche theoretische Vorstellungen sowie begriff-


liche Konzepte der Selbststeuerung etabliert. Allerdings teilen die meisten Auto-
ren die Ansicht, dass Menschen grundlegend in der Lage sind, unter Einsatz von
regulierenden Prozessen der Planung, Koordination sowie Überwachung ihre Handlun-
gen an Zielsetzungen auszurichten, ihre Emotionen sowie ihren emotionalen Ausdruck
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 379

in Übereinstimmung mit wahrgenommenen sozialen Erwartungen zu modifizieren


und ihre Aufmerksamkeit auf aufgabenrelevante Informationen gezielt zu fokussieren
sowie irrelevante Informationen auszublenden (Hofmann et al. 2012). Die Fähigkeit
zur Selbststeuerung ist die zentrale (notwendige) Voraussetzung für teilweise herausra-
gende menschliche Verhaltensleistungen in ganz unterschiedlichen Domänen, wie etwa
im Hochleistungssport, in der Wissenschaft, in der Unternehmensführung sowie in Spit-
zenpolitik, in künstlerischen sowie kreativen Sphären und in stark herausfordernden
Berufen (Sicherheit und Militär, Medizin etc.; de Ridder et al. 2012). Ungeachtet ihrer
mannigfaltigen Potenziale kann eine durch Kapazitätsgrenzen bedingte Überforde-
rung der Selbststeuerung Erschöpfungszustände sowie Leistungsdefizite verursachen,
insbesondere wenn Menschen ihre eigenen Motive, spontan erlebten Emotionen sowie
gewohnheitsmäßigen Handlungsmuster und persönlichen Denkstrategien zugunsten von
äußerlich aufoktroyierten Zielsetzungen willentlich kontrollieren, das heißt unterdrücken
und verändern. Eine Reihe von psychologischen Theorien und Modellen verschafft einen
tieferen Einblick in die Ambivalenz der Selbststeuerung. So differenziert Julius Kuhl
(2001) in seiner Theorie der Persönlichkeitssysteminteraktionen (PSI-Theorie) zwischen
zwei Modi der Selbststeuerung, die in Abhängigkeit von der Kongruenz von innerlich
präferierten und äußerlich festgelegten Zielen psychische Vorgänge des Verhaltens und
Erlebens regulieren. Während sich im Falle eines Konflikts zwischen gewollten und
geforderten Zielen die Selbststeuerung über den Modus der willentlichen Selbstkont-
rolle realisiert, finden Handlungsintentionen bei einer hohen Übereinstimmung zwischen
persönlichen und fremden Zielen ihren Zugang über den Mechanismus der autonomen
Selbstregulation zu Verhaltensprozessen. Dem von Marc Muraven und Roy Baumeis-
ter (2000) entwickelten Modell der Ich-Erschöpfung zufolge verbraucht willentliche
Selbstkontrolle eine begrenzte Ressourcenkapazität und löst über die Erschöpfung die-
ser Ressource Ermüdungszustände sowie den Verlust der Selbststeuerungsfähigkeit aus.
Im Unterschied zur Selbstkontrolle ist die autonome Selbstregulation deutlich weniger
anstrengend und versetzt Menschen in sogenannte motivierende Flow-Zustände, die u. a.
durch einen Verlust des Zeitgefühls, hohe Zielklarheit sowie hohe Konzentration auf eine
in sich geschlossene Aufgabe und durch autotelische Erfahrung (starkes Zufriedenheits-
erleben während der Tätigkeitsausübung) charakterisiert sind (Csikszentmihalyi 1990).

Willentliche Selbstkontrolle und autonome Selbstregulation


Das (vereinfachte) Beispiel eines fiktiven Fußballspielers soll den implikationsrei-
chen Unterschied zwischen beiden Modi der Selbststeuerung veranschaulichen: In der
Rolle des Stürmers ist der fragliche Fußballspieler „in seinem Element“ und reguliert
sein Spielverhalten weitgehend reflexionsfrei sowie ohne willentliche Anstrengung,
da er sich mit dieser Rolle identifizieren und die Anforderungen dieser Rolle mit sei-
nen koordinativen sowie wahrnehmungs- und reaktionsbezogenen Fähigkeiten effek-
tiv bewältigen kann. Diese Form der autonomen Selbstregulation löst in dem Spieler
ein Flow-Erleben aus und lässt ihn im Zustand der intrinsischen Motivation seine
380 S. Diestel et al.

zielorientierten Bewegungsabläufe, sein taktisches Entscheidungsverhalten sowie


seine Ballfertigkeiten optimal einsetzen.
Nun soll derselbe Spieler die für ihn fremde sowie wenig motivierende Rolle eines
Abwehrspielers einnehmen und in gleicher Weise leistungsfähig sein. Hier muss der
fragliche Spieler allerdings sich selbst willentlich stark kontrollieren und mit großer
Anstrengung seine Rollenanforderungen erfüllen. Trotz ähnlicher regulatorischer
sowie physischer Abläufe ist das Fußballspiel für den Spieler deutlich belastender, da
seine persönliche Motivation nicht mit der Ziel- und Aufgabenstellung eines Abwehr-
spielers konvergiert. Zwar vermag der Spieler zeitweise ähnliche spielerische Leistun-
gen zu erbringen wie in der Rolle des Stürmers, aber im weiteren Spielverlauf dürfte
er weniger konzentriert sein, deutlich mehr Fehler machen und nach dem Spiel starke
Erschöpfungssymptome erleben.
Im ersten Falle können zwar Prozesse der Selbststeuerung in einigen Situationen
(beispielsweise unerwarteter Ballpass) begrenzt verfügbare psychische Ressour-
cen verbrauchen, die sich allerdings durch positive intrinsische Motivationszustände
schnell regenerieren lassen, während im zweiten Falle die willentliche Selbstkontrolle
deutlich mehr psychische Ressourcen konsumiert und über die Erschöpfung dieser
Ressource die Selbststeuerung beeinträchtigt.

Julius Kuhl (2001) erklärt die unterschiedliche Funktionsweise beider Modi der Selbst-
steuerung über antagonistisch arbeitende sowie intrapsychisch interagierende Persön-
lichkeitssysteme, die je nach affektiver Aktivierung über Prozesse der willentlichen
Selbstkontrolle oder der autonomen Selbstregulation zielbezogen Verhalten steuern.
Negative Affekte, aufoktroyierte, aber nicht akzeptierte Zielsetzungen sowie intrapsy-
chische Konflikte (sogenannte Dissonanzen) initiieren eine einseitige Fokussierung auf
die als „bedrohlich“ erlebten (tatsächlichen oder spekulativen) Ursachen (sogenanntes
Objekterkennungssystem) und veranlassen eine stark auf (Ursachen- oder Affekt-)Kon-
trolle ausgerichtete Intentionsbildung sowie -realisierung (sogenanntes Intentionsge-
dächtnis). Dieser Steuerungsmechanismus wird metaphorisch als ichgesteuerte Kontrolle
(also Selbstkontrolle) bezeichnet und kann dauerhaft aufgrund der hiermit einhergehen-
den Selbstunterdrückung (Kontrolle über das Selbst) sowie Ressourcenerschöpfung (Ich-
Erschöpfung) zu psychischen Störungen führen. Das hier angesprochene Selbst wird als
das erfahrungsbasierte, integrativ arbeitende sowie kreative Persönlichkeitssystem (soge-
nanntes Extensionsgedächtnis) begriffen, das im Fall seiner Aktivierung im Einklang mit
der intuitiven Verhaltensregulierung weitgehend autonom, lösungs- und einsichtsorien-
tiert sowie intrinsisch motiviert Handlungsabsichten realisiert. Diese autonome Selbst-
regulation (Regulation durch das Selbst) lässt sich durch positive Affekte oder eine mit
persönlichen Motiven übereinstimmende Zielsetzung induzieren. Das Verständnis die-
ser unterschiedlichen regulatorischen Mechanismen und der Voraussetzungen ihrer
Wirksamkeit ermöglicht die Klärung der Frage nach gesundheits- und motivationsför-
derlichen Faktoren der Selbststeuerung in modernen bzw. postmodernen Arbeitswel-
ten. Insofern sind die diametralen Wirkungen von willentlicher Selbstkontrolle sowie
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 381

autonomer Selbstregulation auf psychische Leistungsfähigkeit und Gesundheit sowie


deren Randbedingungen Gegenstand der folgenden beiden Abschnitte.

23.3 Psychische Kosten der willentlichen Selbstkontrolle bei


der Arbeit

Und ich weinte und zitterte wie ein Kind und sprach: Ach, ich wollte schon, aber wie kann
ich es! Erlass mir dies nur! Es ist über meine Kraft! (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zara-
thustra 1886).

Anforderungsprofile sowie Kompetenzmodelle, die jene Fähigkeiten, Fertigkeiten


sowie Kenntnisse (und andere personenbezogene Merkmale) beschreiben, welche für
die Ausübung einer klar umrissenen beruflichen Position erfolgskritisch sind (Campion
et al. 2011), dokumentieren für eine Vielzahl von beruflichen sowie unternehmerischen
Kontexten rollen- und aufgabenbezogenen Anforderungen, deren effektive sowie effi-
ziente Erfüllung die Ausübung von willentlicher Selbstkontrolle erforderlich macht.
So lassen sich Anforderungen, wie: „Bleibt auch bei sehr langen und beanspruchenden
Arbeitszeiten konzentriert und auf die Aufgaben fokussiert“, „Kontrolliert und steuert
die eigenen Emotionen auch in Belastungssituationen“, oder „Versteht es, sich schnell
auf neue oder unbekannte Situationen oder Personen einzustellen“, nicht durch starre,
automatisierte oder gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster bewältigen, sondern ver-
langen nach einer flexiblen, kontrollierten und situationsangemessenen Handlungs-
steuerung. Eine nurmehr zwei Jahrzehnte umfassende Forschungstradition hat auf der
Grundlage zahlreicher experimenteller Studien die empirische Erkenntnis erbracht,
dass die Ausübung von solchen Formen der willentlichen Selbstkontrolle zur Bewäl-
tigung einer Aufgabe die Verhaltensleistung in nachfolgenden Aufgaben mit eben-
falls hohen Selbstkontrollanforderungen erheblich einschränkt (Hagger et al. 2010;
Muraven und Baumeister 2000). Wenn bspw. im Experiment Personen bei sehr bruta-
len oder humorvollen Filmausschnitten ihre Emotionen unterdrücken oder verstärken,
machen sie in unmittelbar anschließenden kognitiven Aufgaben erheblich mehr Fehler
als Personen, die ihre Emotionen vorher nicht kontrollieren. Umgekehrt sind Personen
nach der Kontrolle bestimmter Gedankeninhalte weniger gut in der Lage, anschlie-
ßend ihre Emotionen zu steuern. Schließlich beeinträchtigt der Versuch, bestimmten
Ablenkungen oder Versuchungen zu widerstehen, die Ausdauer bei der nachfolgenden
Bearbeitung einer unlösbaren Nachzeichen-Aufgabe. Andere Formen von eher all-
tagsbezogenen Selbstkontrollanforderungen, wie die sprachliche Kontrolle von sozia-
len Stereotypen und Vorurteilen (Richeson und Trawalter 2005; Richeson et al. 2005),
die Steuerung des Alkoholkonsums und Ernährungsverhaltens (Muraven et al. 2005;
Vohs und Heatherton 2000), die Hemmung aggressiver Verhaltensimpulse (Stucke
und Baumeister 2006) oder die gezielte Eindruckssteuerung (Vohs et al. 2005), ent-
falten ganz ähnliche ungünstige Wirkungen auf Prozesse der Selbststeuerung. Hierbei
sind nicht nur Emotionssteuerung oder Aufmerksamkeit betroffen, sondern auch die
382 S. Diestel et al.

intellektuelle Leistungsfähigkeit (Schmeichel et al. 2003). Diese und ähnliche expe-


rimentelle Befunde haben Mark Muraven und Roy Baumeister (2000) eine begrenzte
psychische Ressource vermuten lassen, die durch unterschiedliche Prozesse der willent-
lichen Selbstkontrolle verbraucht wird und im Falle ihrer Erschöpfung für nachfolgende
Selbstkontrollanforderungen nicht mehr zur Verfügung steht (vgl. oben).
Aus der Perspektive des Modells der Ich-Erschöpfung haben unterschiedliche Auto-
ren die Wirkung von arbeits- sowie aufgabenbezogenen Anforderungen an die willentli-
che Selbstkontrolle auf psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit beleuchtet. Anlass
für das Interesse an derartigen Anforderungen ist die bereits dargestellte Beobachtung
eines erheblichen, durch psychische Störungen bedingten Fehlzeitenanstiegs, der offen-
bar aus der drastischen Verschiebung von einer primär industriell geprägten sowie
produktionsorientierten Arbeitswelt zu wissensbasierten sowie dienstleistungs- und tech-
nologieorientierten Tätigkeitssphären hervorgeht (Cascio 2003; Schmidt und Diestel
2015; Sonnentag und Frese 2013). Die Forschungsbemühungen konzentrieren sich hier-
bei auf drei spezifische Themenfelder: Emotionsarbeit, Selbstkontrollanforderungen und
Smartphones.

23.3.1 Emotionsarbeit: Kontrolle der eigenen Emotionen als


Arbeitsaufgabe

In ihrem epochemachenden Werk „Das verkaufte Herz“ (1983) widmet sich Ariel Hoch-
schild der als Emotionsarbeit bezeichneten intentionalen Steuerung der eigenen tat-
sächlich erlebten Emotionen und im sozialen Interaktionsprozess gezeigten Gefühle
zugunsten eines von der Arbeitsrolle geforderten emotionalen Ausdrucks. Emotionsar-
beit ist ein Kernelement von beruflichen Rollen in zahlreichen Tätigkeitssphären, wie
etwa in der Beratungsbranche, im Banken- und Versicherungssektor, im Bildungswesen,
im Gastronomie-, Flugbegleitungs- sowie Hotelgewerbe und nicht zuletzt in Call- sowie
Servicecentern. Hochschild thematisiert vorwiegend den entfremdenden sowie psychisch
belastenden Charakter der Emotionsarbeit, der sich insbesondere dann in Erschöpfungs-
symptomen manifestiert, wenn Personen in ihrer Arbeitsrolle Gefühle zeigen müssen,
die im Konflikt zu den tatsächlich erlebten Emotionen stehen. Um in solchen Situati-
onen diesen als emotionale Dissonanz beschriebenen Konflikt zugunsten von erwarte-
ten Emotionen aufzulösen, üben Personen willentliche Selbstkontrolle aus, indem sie
eigene Gefühle unterdrücken und geforderte Emotionen über Regulierung der Gestik
sowie Mimik und gezielte Wortwahl darstellen (Robinson und Demaree 2007). Während
emotionale Dissonanz bereits unmittelbar akute Erschöpfungssymptome im täglichen
Arbeitsprozess hervorruft (Diestel et al. 2015), dokumentieren umfassende empirische
(Meta- und Längsschnitt-)Studien eine über andere Prozesse der Emotionsarbeit (Sen-
sitivität, das Zeigen von positiven und negativen Emotionen) hinausgehende längerfris-
tige Wirkung auf Burn-out-Erleben (Diestel und Schmidt 2011; Hülsheger und Schewe
2011; Zapf und Holz 2006). Das oben angesprochene Burn-out ist durch emotionale
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 383

Erschöpfung (chronische Überbelastung bei gleichzeitig erlebtem Mangel an physischen


und psychischen Ressourcen), Zynismus (gleichgültige bis zynische Haltung gegenüber
der eigenen Arbeit sowie seinen Mitmenschen) und schließlich mangelnde persönliche
Erfüllung (subjektiv schlecht bewertete eigene Arbeitsergebnisse sowie Fähigkeiten)
charakterisiert (Maslach et al. 2001). Andere Folgen von emotionaler Dissonanz sind
mangelnde Arbeitszufriedenheit (Pugh et al. 2011), hohe Fehlzeiten (Diestel und
Schmidt 2011) und kognitive Leistungsdefizite (Robinson und Demaree 2007).
Üblicherweise unterscheiden Autoren zwischen zwei regulatorischen Strategien zur
Prävention und Bewältigung von emotionaler Dissonanz. Im Falle des sogenannten
Surface Acting kontrollieren Personen willentlich in der oben beschriebenen Weise ihre
Emotionen mit der Folge, dass die eigene Arbeitsleistung abnimmt und Erschöpfungs-
zustände zunehmen (Hülsheger und Schewe 2011). Wenn hingegen Personen über Deep
Acting in Absehung von situativen Anforderungen den geforderten Gefühlszustand regu-
lativ hervorrufen und tatsächlich erleben, werden die gezeigten Emotionen von Interakti-
onspartnern als authentisch wahrgenommen. Insofern hat Deep Acting eine nachweislich
positive Wirkung auf Kundenzufriedenheit sowie persönliche Erfüllung. Zur Identifika-
tion von protektiven Resilienzfaktoren, die die erfolgreiche Bewältigung von häufig nicht
reduzierbaren Arbeitsanforderungen fördern, haben Heuven et al. (2006) sowie Pugh
et al. (2011) Selbstwirksamkeit untersucht, die die gesundheitsschädliche Wirkung von
emotionaler Dissonanz sowie Surface Acting abschwächt. Selbstwirksamkeit ist eine
Form der personenbezogenen Handlungsüberzeugung, die das Vertrauen in die eigene
Leistungsfähigkeit beschreibt und Einfluss auf günstige Handlungsergebnisse nimmt
(Bandura 1977). Ferner haben Diestel et al. (2015) auf der Grundlage der theoretischen
Annahme einer sich täglich im Schlaf regenerierenden Ressourcenkapazität protektive
(moderierende) Effekte der Schlafqualität (Dauer, Effizienz und erlebte Erholung am
Morgen) auf den Zusammenhang zwischen emotionaler Dissonanz und akuter Erschöp-
fung am Abend analysiert: Mit zunehmender Schlafqualität fallen die ungünstigen Wir-
kungen der Dissonanz auf Erschöpfungs- und Motivationszustände schwächer aus.

23.3.2 Impulskontrolle, Ablenkungen widerstehen und Überwinden


innerer Widerstände

Neben der Forschung zur Emotionsarbeit haben Schmidt und Neubach (2009; für
eine zusammenfassende Darstellung siehe Schmidt und Diestel 2015) andere, eher
verhaltensbezogene Formen von Selbstkontrollanforderungen als Belastungsquel-
len identifizieren können. Hier differenzieren die Autoren zwischen der Kontrolle von
gewohnheitsmäßigen sowie spontanen Reaktionstendenzen (Impulskontrolle), dem Aus-
blenden von ablenkenden oder störenden Informationen bzw. Ereignissen (Ablenkungen
widerstehen) und dem Überwinden innerer Motivationsblockaden zur Bearbeitung von
beispielsweise unattraktiven Aufgaben (Überwinden innerer Widerstände). In unter-
schiedlichen beruflichen Kontexten, wie etwa in Pflege- und Senioreneinrichtungen, in
384 S. Diestel et al.

Ämtern mit viel Bürgerkontakt sowie in Versicherungen erbringen die Autoren den empi-
rischen Nachweis, dass unabhängig von anderen belastenden arbeits- sowie aufgaben-
bezogenen Charakteristika (mangelnde Rollenklarheit, geringe soziale Unterstützung,
starker Arbeitsdruck, hohe Aufgabenkomplexität etc.) alle drei Selbstkontrollanforderun-
gen Zunahmen von Burn-out, depressiven Symptomen sowie Angststörungen (Schmidt
und Neubach 2009) und einen Anstieg von Fehltagen erklären (Diestel und Schmidt
2012). In Übereinstimmung mit der theoretischen Vorstellung, dass im Falle von starkem
Zeitdruck und schwierig werdenden Aufgaben Prozesse der Impuls-, Aufmerksamkeits-
und Motivationskontrolle die Intentionsrealisierung und Zielerreichung sicherstellen
(Hacker 2005; Kuhl 2001), dokumentieren aktuelle Studien, dass unter Arbeitsdruck
stehende sowie mit hoher Aufgabenkomplexität konfrontierte Personen häufig willent-
liche Selbstkontrolle ausüben und folglich über akute Erschöpfungs- sowie Burn-out-
Symptome berichten (Diestel und Schmidt 2009; Prem et al. 2016). Demzufolge erklären
die von Schmidt und Neubach (2009) konzeptualisierten Selbstkontrollanforderungen
die ungünstige Wirkung von weit verbreiteten Arbeitsbelastungen, wie etwa Zeitdruck,
Arbeitsvolumen und Aufgabenschwierigkeit.
Der in laborexperimentellen Studien nachgewiesene quadratisch ansteigende Ver-
brauch der begrenzten Ressourcenkapazität determiniert ferner eine überadditive
Zunahme im Erschöpfungserleben, wenn mehrere Anforderungen an die willentliche
Selbstkontrolle gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander bewältigt werden (Kleinsorge
et al. 2014; Norman und Bobrow 1975). Hieraus folgt unweigerlich eine in verschiede-
nen Feldstudien bereits gezeigte wechselseitige Verstärkung der negativen Einflüsse von
unterschiedlichen Selbstkontrollanforderungen auf die psychische Gesundheit und Leis-
tungsfähigkeit. So weist Schmidt (2010) eine durch Zieldiskrepanzen (erlebter Konflikt
zwischen eigenen Zielen und Zielen der Organisation) zusätzlich verstärkte Wirkung
von Selbstkontrollanforderungen auf Burn-out-Erleben und Fehlzeiten nach. In gleicher
Weise nehmen die psychischen Beanspruchungseffekte von Selbstkontrollanforderun-
gen unter Einfluss von simultan bewältigter emotionaler Dissonanz überproportional
zu (Diestel und Schmidt 2011). Dieses ungünstige Zusammenspiel zwischen mehreren
Anforderungen an willentliche Selbstkontrollprozesse, die um begrenzte psychische
Ressourcenanteile konkurrieren, verweist auf ein häufig unterschätztes Gefährdungspo-
tenzial in Arbeits- und Lebenssphären, die im Angesicht der zivilisationsdynamischen
Umwälzungen sich im besonderen Maße durch wechselnde Rollenerwartungen, konflik-
terzeugende Zielsetzungen und gleichzeitig einwirkende Anforderungen auszeichnen.

23.3.3 „Ruf‘ mich an: Ich bin bis 23 Uhr erreichbar“: Berufliche
Smartphone-Nutzung außerhalb der Arbeit

Die Digitalisierung der Kommunikationsprozesse hat eine substanzielle Veränderung


des Arbeitsverhaltens herbeigeführt, dessen Leistungsergebnisse nurmehr von ständiger
Erreichbarkeit und dem zeit- sowie ortsunabhängigen Zugang zu beruflich relevanten
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 385

Informationen bedingt sind. Das in diesem Zusammenhang wohl einflussreichste tech-


nologische „Gestell“ (Heidegger 1953) ist das Smartphone, das im aktivierten Zustand
unmittelbar über eingegangene E-Mails, Instant-Nachrichten sowie andere Benachrich-
tigungen informiert. Die hierdurch auf alle Zeiträume ausgedehnte Erreichbarkeit soll
eine gesteigerte Produktivität durch Flexibilisierung der Terminpläne und Verkürzung
der Reaktionszeiten bewirken – allerdings häufig zulasten von Regenerationsmöglichkei-
ten: Etwa 42 % der erwerbstätigen Deutschen lesen nach Ende der offiziellen Arbeitszeit
berufsbezogene E-Mails und 28 % antworten auf berufliche Nachrichten außerhalb der
Arbeitszeit (Triesch 10. August 2015). In den letzten drei Jahren haben mehrere Autoren
erste empirische Erkenntnisse über die kurz- sowie langfristige Beanspruchungswirkung
des beruflichen Gebrauchs von Smartphones in der Freizeit einer breiteren Öffentlich-
keit zugänglich gemacht. Zum einen haben Lanaj et al. (2014) in einer aufsehenerre-
genden Studie zeigen können, dass die berufliche Smartphone-Nutzung am Abend die
Schlafqualität erheblich reduziert und über starke Erschöpfungssymptome am Folge-
tag die psychische Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Ein besonderes Merkmal dieses
Zusammenhangmusters liegt in dem Umstand, dass sich die eigenständigen Einflüsse der
beruflichen Smartphone-Nutzung auf psychische Erschöpfung unabhängig von anderen
gleichzeitig verwendeten Medien entfalten. Zum anderen berichten Derks und Bakker
(2012) von chronischen Burn-out-Symptomen, die aus einer intensiven Smartphone-
Verwendung zu beruflichen Zwecken sowie den hiermit einhergehenden Konflikten zwi-
schen Arbeits- und Privatsphäre resultieren.

23.3.4 Protektive Ressourcen: Kontrollspielräume und


Psychological Detachment

Immer dann, wenn rollen- sowie tätigkeitsbezogene Anforderungssituationen Reaktions-,


Emotions-, Ziel-, Motivations- sowie Aufmerksamkeits- oder Koordinationskonflikte
erzeugen, sind Menschen bei der Arbeit gezwungen, sich willentlich zu kontrollieren
(Impuls- und Emotionskontrolle, Wechsel von präferierten Zielen zu extern festgelegten
Zielen, Überwindung innerer Widerstände, Ablenkungen widerstehen und Reaktion auf
arbeitsgezogene Nachrichten außerhalb der Arbeitszeit). In allen drei oben dargestellten
Gegenstandsbereichen beziehen sich die Autoren explizit auf die theoretische Vorstellung
einer endlichen Ressourcenkapazität, die durch willentliche Selbstkontrolle verbraucht
wird (Muraven und Baumeister 2000).
Von dieser Vorstellung ausgehend suchten Autoren nach Mechanismen der Entlas-
tung sowie Regenerierung jener täglich beanspruchten Ressource und fokussierten auf
zwei Faktoren, die selbst bei hohen Anforderungen an die willentliche Selbstkontrolle
starke Erschöpfungssymptome verhindern sollen: Kontrollspielräume und Psychological
Detachment (psychische Distanzierung von der Arbeit). Hierbei ließen sich zahlreiche
Autoren beispielsweise von der Annahme inspirieren, dass situative Kontrollspiel-
räume, die das Ausmaß der Beeinflussbarkeit von Arbeits- und Tätigkeitsprozessen über
386 S. Diestel et al.

eigenständige zeitliche Planung sowie die Wahl der Arbeitsmethode beschreiben (Jack-
son et al. 1993; Karasek 1979), die Erfüllung von Arbeitsaufgaben erleichtern und die
Entwicklung von aufgabenbezogenen Fähigkeiten anregen. Im Fall von großen Kontroll-
spielräumen sind Menschen bei der Arbeit in der Lage, ihre Tätigkeit in einer Weise zu
verrichten, die ihren individuellen Fähigkeiten, Kenntnissen sowie aktuellen Möglich-
keiten der Anforderungsbewältigung angepasst ist. Im Einklang mit dieser Annahme
haben in einer Studie von Ilies, Dimotakis und De Pater (2010) stark unter Zeitdruck
stehende Personen keinen Anstieg im Blutdruck gezeigt, wenn sie über große Kontroll-
spielräume verfügten, während bei niedrigen Kontrollspielräumen tägliche Arbeitsanfor-
derungen eine gesundheitsschädliche Blutdruckzunahme verursachten. In ganz ähnlicher
Weise haben Kühnel, Sonnentag und Bledow (2012) motivationsförderliche Wirkungen
von tagesspezifischen Kontrollspielräumen nachweisen können, insbesondere wenn
die Untersuchungsteilnehmer an einzelnen Tagen starke Arbeitsbelastungen bewältigen
mussten. Für Selbstkontrollanforderungen und emotionale Dissonanz haben Neubach
und Schmidt (2006) sowie Freund et al. (2012) ebenfalls beanspruchungsmindernde
Effekte der Kontrollspielräume dokumentiert. Schließlich haben in der bereits oben
erwähnten Untersuchung Lanaj und Kollegen (2014) zeigen können, dass Kontrollspiel-
räume die Leistungsfähigkeit selbst nach einem durch berufsbezogene Smartphone-Nut-
zung beeinträchtigten Schlaf stabilisieren.
Im Zustand der psychischen Distanzierung erleben Menschen die vollständige Abwe-
senheit von arbeitsbezogenen Angelegenheiten (Sonnentag und Fritz 2007). Über das
kognitive oder mentale Abschalten wird die Voraussetzung zur Regeneration der im
Tätigkeitsprozess beanspruchten psychischen Ressource (Kallus und Uhlich 2001)
außerhalb der Arbeit hergestellt sowie eine positive Bewertung und problemlösungs-
orientierte Bewältigung von Arbeitsanforderungen begünstigt (Sonnentag und Fritz
2015). Beide Prozesse des Psychological Detachment fördern psychische Gesundheit
und Leistungsfähigkeit dergestalt dass die Beanspruchungswirkungen von zunehmen-
den Selbstkontrollanforderungen (Rivkin et al. 2015a), ansteigendem Arbeitsdruck
(Sonnentag et al. 2010) und intensiver berufsbezogener Smartphone-Nutzung (Derks
und Bakker 2012) unter Einfluss von Psychological Detachment deutlich schwächer
ausfallen. Mit dem Blick auf Kontrollspielräume und psychische Distanzierung haben
Autoren überwiegend nach Möglichkeiten gesucht, die aus der häufigen Ausübung von
Selbstkontrolle resultierende Erschöpfung zu verhindern. Anders ausgedrückt liegt der
Schwerpunkt der hier dargestellten Forschungsbemühungen in der Förderung der res-
sourcenabhängigen „ich-bezogenen“ Kontrollprozesse, deren Ziel in der willentlichen
Konfliktaufhebung im Tätigkeitsprozess besteht. Allerdings kann hierdurch nurmehr sehr
bedingt die Frage nach der Förderung der autonomen Selbstregulation im Tätigkeitspro-
zess beantwortet werden, um nicht nur Mitarbeiter sowie Führungskräfte vor Burn-out zu
schützen, sondern auch Leistungs- und Kreativitätspotenziale zu entfalten. In den Worten
der PSI-Theorie ist also eine Perspektivenwendung von der willentlichen Unterdrückung
des Selbst zur Aktivierung des und Regulation durch das Selbst erforderlich.
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 387

23.4 Flow-Erleben bei der Arbeit: Autonome Selbstregulation

23.4.1 Positive Stimmung, affektives Commitment und Work


Engagement

Ich habe mich oft gefragt, ob nicht gerade die Tage, die wir gezwungen sind, müßig zu sein,
diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen? Ob nicht unser Handeln selbst,
wenn es später kommt, nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist, die in untätigen
Tagen in uns geschieht? Jedenfalls ist es sehr wichtig, mit Vertrauen müßig zu sein, mit Hin-
gabe, womöglich mit Freude (Rainer Maria Rilke, Briefe 1904, 1950).

Rilkes Aussage, dass unsere „tiefste Tätigkeit“ der Ausdruck einer in uns vorausgegan-
genen „großen Bewegung“ ist, verweist auf einen Mechanismus, der in der PSI-Theorie
von Kuhl (2001) unter dem Begriff „Willensbahnung“ die Realisierung einer über kog-
nitive Planungsprozesse bereits vorgeformten Handlungsintention kennzeichnet. Hierbei
werden Intentionen allerdings nicht ausschließlich über die Ausübung von willentlicher
Selbstkontrolle in Tätigkeitsprozesse umgesetzt, sondern erreichen ihre Verwirklichung
unter Beteiligung des Selbst (Extensionsgedächtnis), das weitgehend autonom sowie
anstrengungsfrei zielbezogene Tätigkeitsprozesse reguliert. Mit seinem Hinweis auf die
Wichtigkeit von „Vertrauen“, „Hingabe“ und „Freude“ in „müßigen“ sowie „tiefsten“
Tätigkeiten beschreibt Rilke ferner, auf welche Weise sich der Mechanismus der „Wil-
lensbahnung“ aktivieren lässt: über positive Affektzustände. In der psychologischen
Forschung hat insbesondere Barbara Fredrickson (2001) mit ihrer Broaden-and-Build-
Theorie die regulatorische Funktion von positiven Affektzuständen akzentuiert, die über
die Erschließung alternativer Gedankenperspektiven, über die Erweiterung des Verhal-
tensrepertoires sowie über Abschwächung adverser Aktivitäten des Herzkreislaufsystems
Selbststeuerungsprozesse unterstützen. In Übereinstimmung mit dieser Theorie postu-
liert Kuhl (2001), dass die Zunahme von und der Wechsel zu positiven Affektzuständen
Prozesse der autonomen Selbstregulation in der Umsetzung von Handlungsabsichten
begünstigen.
In den letzten Jahren haben unter dieser Perspektive verschiedene Autoren zwei Pro-
zesse untersucht, die psychisches Wohlbefinden, Kreativität sowie Leistung in zielbe-
zogenen Tätigkeitsabläufen fördern: Affektwechsel (Bledow et al. 2013) und affektives
Commitment (Rivkin et al. 2015b, im Druck). Bledow et al. (2013) haben einen erheb-
lichen Anstieg in der aufgabenbezogenen Kreativitätsleistung, die sich u. a. in origi-
nellen, aber auch praktisch realisierbaren und nützlichen Ideen manifestiert, als Folge
eines Stimmungswechsels von negativ gefärbten zu positiv getönten Emotionen nachge-
wiesen. Hierbei argumentieren die Autoren, dass die Ablösung negativer Affekte durch
eine Zunahme von positiven Affekten das motivierende Moment sei, das die kognitive
Flexibilität in der Entwicklung von kreativen Lösungen erweitert und die arbeitsbezo-
gene Leistungsfähigkeit fördert (Bledow et al. 2011). Affektives Commitment lässt sich
symbolisch als psychologisches Band zwischen Arbeitnehmern und ihrer Organisa-
tion umschreiben, welches das individuelle Ausmaß der emotionalen Identifikation und
388 S. Diestel et al.

erlebten Integration widerspiegelt (Meyer und Allen 1997). In Anknüpfung an die Broa-
den-and-Build-Theorie leiten Rivkin et al. (2015b) das Argument ab, dass ein starkes
affektives Commitment ein im Tätigkeitsprozess wirksames positives Gefühl von Sta-
bilität, Sicherheit sowie Zugehörigkeit vermittelt und hierdurch psychische Gesundheit
sowie Leistungsfähigkeit steigert. Im Einklang mit diesem Argument schwächt Commit-
ment die ungünstige Wirkung von Selbstkontrollanforderungen auf Erschöpfung ab und
fördert über das Flow-Erleben im Tätigkeitsprozess (autonome Selbstregulation) Vitalität
sowie intrinsische Motivation (Rivkin et al. 2015b, im Druck).
In beiden Fällen haben die Autoren intrinsische Motivationszustände über Work
Engagement konzeptualisiert und operationalisiert, dessen Erforschung inzwischen eine
eigene Tradition in der Arbeits- und Organisationspsychologie bildet (Bakker 2011).
Work Engagement ist ein dynamisch fluktuierender, aktiv arbeits- und rollenbezogener
Erlebenszustand, der durch hohe Vitalität (wahrgenommene Resilienz, Ausdauer und
Einsatzbereitschaft), starke Hingabe (Inspiration, Stolz und Enthusiasmus) sowie inten-
sive Versunkenheit (Flow-Erleben, reflexionsfreie Aufgabenfokussierung und Verlust des
Zeitgefühls) gekennzeichnet ist. Das steigende Forschungsinteresse an diesem motivie-
renden Erlebenszustand resultiert nicht zuletzt aus seinen beachtlich ausgeprägten posi-
tiven Zusammenhängen mit aufgabenbezogener Leistung und Eigeninitiative bei der
Arbeit (Christian et al. 2011). Mit Blick auf den eingangs erwähnten Fußballspieler und
das Rilke-Zitat reflektiert Work Engagement ein großes selbstregulatorisches Leistungs-
potenzial, das im Unterschied zur willentlichen Selbstkontrolle nicht oder nur zu einem
geringen Teil auf Kosten einer begrenzten Ressourcenkapazität seinen Niederschlag in
hohen aufgaben- und rollenbezogenen Verhaltensleistungen findet.

23.4.2 Einflüsse der Führung auf Selbstbestimmung und Work


Engagement

Der theoretischen Vorstellung von Arnold Bakker (2011) zufolge rufen primär Arbeitsres-
sourcen (hier als arbeitsbezogene materielle oder immaterielle Mittel verstanden, die über
ihre instrumentelle sowie motivierende Funktion Belastungen und deren Beanspruchungs-
folgen abschwächen sowie Leistungsfähigkeit fördern) – wie etwa Kontrollspielräume,
soziale Unterstützung durch Kollegen, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten – Work Enga-
gement hervor, da sie psychologische Grundmotive erfüllen und Menschen bei der Arbeit
zum selbstbestimmten Handeln anregen. Mit dieser Vorstellung bezieht sich Bakker (2011)
auf die sogenannte Self-Determination-Theorie von Richard Ryan und Edward Deci (2008),
die drei kulturell übergreifende sowie zeitlich stabile Grundmotive empirisch identifizierten:

• Kompetenz (effektive Gestaltung und Erbringung von gewünschten Resultaten),


• Autonomie (Entscheidungsspielraum und Gefühl der Freiwilligkeit) und
• soziale Eingebundenheit (enger, vertrauensvoller sowie bedeutungsreicher Kontakt
mit anderen).
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 389

Durch die (antizipierte und eingetretene) Befriedigung dieser drei Grundmotive und die
hiermit hergestellte Motiv- sowie Zielkongruenz verrichten Menschen bei der Arbeit
über Prozesse der autonomen Selbstregulation ihre Tätigkeit und bringen hohe Leis-
tungs- sowie Kreativitätspotenziale zur Entfaltung, die sich in Zuständen des Work Enga-
gement manifestieren (dazu auch Kuhl 2001).
Dieser postulierte sowie empirisch bereits mehrfach gezeigte Zusammenhang wirft
die Frage nach der Rolle der Führung auf, die in ihrer Steuerungs- und Motivations-
funktion Arbeitsressourcen bereitstellt und folglich unmittelbar Einfluss auf die Leis-
tung ihrer Mitarbeiter ausübt. Die häufig allzu emphatisch gepriesene transformationale
Führung hat sich in einschlägigen Untersuchungen als ambivalent erwiesen und lässt
nicht immer positive Wirkungen auf psychische Gesundheit sowie Leistungsfähigkeit
erwarten. Die zunehmend in der Literatur und Praxis verbreitete Skepsis an diesem Füh-
rungsstil ist u. a. der Beobachtung geschuldet, dass transformationale Führungskräfte
unethisches Verhalten unter ihren Mitarbeitern fördern können, wenn derartige Verhal-
tensweisen im Dienste unternehmerischer Interessen stehen (Effelsberg et al. 2013).
Ferner sind Merkmale der transformationalen Führung mit narzisstischen Persönlich-
keitstendenzen assoziiert (Khoo und Burch 2008) und lassen sich bei historisch belas-
teten Personen finden (beispielsweise Mao Zedong; Tourish 2013). Unter dem Eindruck
der zahlreichen Führungsskandale der letzten Jahre zeichnet sich ein wachsendes For-
schungs- und Praxisinteresse an der sogenannten Servant Leadership ab, die durch die
moralphilosophische Perspektive von Immanuel Kant (1788) mit ihren kategorischen
Prinzipien der Verantwortungs- und Pflichtübernahme zur Förderung der freiheitlichen
Selbstständigkeit sowie Selbstbestimmtheit inspiriert ist (Greenleaf 1977; van Dieren-
donck 2011). Diese Prinzipien werden über das Selbstverständnis des Servant Leader
als „erster unter Gleichen“ oder „Diener seiner Mitarbeiter und Organisation“ zum Aus-
druck gebracht und finden in der Orientierung an den Motiven sowie Bedürfnissen der
Mitarbeiter, der Empathie, der emotionalen Unterstützung sowie der Überzeugungskraft
und in konzeptuellen Fähigkeiten, im vorausschauenden Denken und Handeln sowie der
Pflichterfüllung gegenüber der Gesellschaft ihren Niederschlag. Servant Leadership ist
ein nachweislich bedeutsamer Prädiktor für Teameffektivität, Arbeitsleistung und erleb-
ter Gerechtigkeit in Entscheidungsprozessen (van Dierendonck 2011). Der PSI-Theorie
sowie Self-Determination-Theorie zufolge stellen die Merkmale eines solchen Führungs-
stils durch die Erfüllung der drei Grundmotive (Autonomie, Kompetenz und soziale Ein-
gebundenheit) die oben bereits angesprochene Konvergenz von eigenen Motiven sowie
Arbeitszielen im Tätigkeitsprozess her und fördern über den intrapsychischen Zugang
zum Extensionsgedächtnis die autonome Selbstregulation der Mitarbeiter. In Überein-
stimmung mit dieser Argumentation haben Rivkin et al. (2014) positive Effekte von Ser-
vant Leadership auf Indikatoren der psychischen Gesundheit dokumentiert. Schließlich
zeigten Chiniara und Bentein (2016), dass Servant Leadership über die Befriedigung der
drei Grundmotive als psychischer Wirkmechanismus aufgabenbezogene Leistung und
Eigeninitiative steigert.
390 S. Diestel et al.

23.4.3 Achtsamkeit als Mechanismus der Selbststeuerung

In seinem Werk „Erlebnis“ schreibt Rainer Maria Rilke:

Er gedachte der Stunde […], da ein Vogelruf draußen und in seinem Inneren übereinstim-
mend da war, indem er sich gewissermaßen an der Grenze des Körpers nicht brach, beides
zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem, geheimnisvoll geschützt,
nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewusstseins blieb (Rainer Maria Rilke 1913;
zitiert nach Welsch 2012).

Mit Blick auf dieses Zitat setzt sich der Philosoph Wolfgang Welsch (2012) mit einer beson-
deren Bewusstseinsform auseinander, mittels derer ein Mensch unter Verzicht auf eine ich-
bezogene „Aktivität“ sowie „intentionale Weltstrukturierung“ mit feinster Klarheit und
extensiver „Wachheit“ die volle Präsenz der Welt zu erleben vermag (Welsch 2012,
S. 75–80). In einem solchen gegenwartsbezogenen Bewusstseinszustand werden innere
Erlebnisse und äußere Ereignisse in einer reflektierten, wertneutralen sowie fokussierten
Weise wahrgenommen, ohne dass emotionale Einflüsse, irritierende Gedanken oder bewer-
tende Urteilstendenzen sich Geltung verschaffen.1 Unter dem buddhistisch geprägten
Begriff Achtsamkeit haben diese reflexive Bewusstseinsform sowie deren leistungsbezogene
Wirkung zunehmende Beachtung in der psychologischen Forschung der letzten Jahre gefun-
den (Brown und Ryan 2003). Der PSI-Theorie zufolge dürfte Achtsamkeit über die klare
und urteilsfreie Erfahrung das Extensionsgedächtnis aktivieren, das einen Perspektiven-
wechsel in der Analyse von Situationen ermöglicht, neue Einsichten in Vorgängen der Prob-
lemlösung erschließt sowie die Flexibilität der kognitiven Informationsverarbeitung
erweitert (Lutz et al. 2014). Hierdurch werden Prozesse der autonomen Selbstregulation
angeregt, die beispielsweise im Falle hoher Anforderungen an die willentliche Selbstkont-
rolle die begrenzte psychische Ressourcenkapazität entlasten und folglich kognitive Leis-
tungsfähigkeit sowie Gesundheit stabilisieren. In einem Experiment haben Friese, Messner
und Schaffner (2012) gezeigt, dass Achtsamkeit die aus der Ausübung von Selbstkontrolle
resultierenden Erschöpfungszustände abschwächt und die kognitive Konzentrationsfähigkeit
wiederherstellt. Inzwischen lassen aktuelle arbeitspsychologische Befunde auf eine über
autonome Selbstregulation vermittelte positive Wirkung der Achtsamkeit auf Work Engage-
ment schließen (Leroy et al. 2013). Umgekehrt verringern Achtsamkeitszustände das Aus-
maß der in zwischenmenschlichen Interaktionsprozessen in Form von Surface Acting
ausgeübten willentlichen Selbstkontrolle und verhindern folglich Burn-out-Symptome
sowie abnehmende Arbeitszufriedenheit (Hülsheger et al. 2013). Wie Welsch (2012) bereits
angedeutet hat, lösen Achtsamkeitszustände die Ich-Zentrierung in der Selbststeuerung

1Welsch (2012) sieht in diesem Bewusstsein eine grundlegende „Verbundenheit zwischen Mensch
und Welt“, die nicht auf Konstruktionen des menschlichen Verstands beruht, sondern uns Zugang
zu innerweltlichen Wahrheiten (sicheren Erkenntnissen) verschafft. Inwiefern seine Vorstellung
zutrifft, ist eine rein erkenntnistheoretische Frage, deren Klärung Aufgabe eines philosophischen
Diskurses ist.
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 391

(„ich-liche Aktivität“: Intensionsgedächtnis) auf und lassen das Selbst Einfluss auf Aufmerk-
samkeits-, Entscheidungs- sowie Handlungsprozesse in aufgabenbezogenen Tätigkeiten
nehmen.
Autonome Selbstregulation sowie hierdurch erzeugte Flow-Zustände bringen über
Work Engagement nachhaltig Leistungs- und Kreativitätspotenziale in Tätigkeitspro-
zessen zur Entfaltung. Aktuelle psychologische Theorien sowie empirische Erkenntnisse
verweisen auf drei Voraussetzungen für eine durch das Selbst in Gang gesetzte autonome
Regulation:

1. Positive Affektzustände,
2. Erfüllung der Grundmotive nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebunden-
heit sowie
3. Achtsamkeit.

Während der Wechsel zu positiven Affektzuständen beispielsweise durch hohe emo-


tionale Verbundenheit mit dem Unternehmen (affektives Commitment) herbeigeführt
werden kann, tragen Servant Leadership sowie die durch eine solche Führung bereit-
gestellten Arbeitsressourcen zur Erfüllung von Grundmotiven im Tätigkeitsprozess bei.
Insofern leiten sich für das strategische Human-Resource-Management sowie für die
Unternehmensführung zwangsläufig zwei zentrale Ziele ab:

1. Stabilisierung sowie Förderung des affektiven Commitments und


2. Etablierung einer durch ethische Integrität sowie Authentizität charakterisierten Füh-
rungskultur (Schaubroeck et al. 2012).

Die häufig in den Medien berichtete Abnahme des Commitments insbesondere im Ban-
ken- und Dienstleistungssektor sowie die zahlreichen immer wiederkehrenden Fragen
nach der moralischen Verantwortung von Führungskräften lassen aktuell eher ungüns-
tige Bedingungen für die autonome Selbstbestimmtheit von Arbeits-, Fach- und Füh-
rungskräften in vielen Tätigkeitssphären vermuten. Ein von Baumeister und Masicampo
(2007) vermuteter Einflussfaktor für Achtsamkeit ist die im folgenden Abschnitt themati-
sierte Selbstkontrollfähigkeit.

23.5 Selbstkontrollfähigkeit

Dieser Mann hat keine Kontrolle über sich. Und deshalb darf er erst recht keine Kontrolle
über unseren Staat bekommen (Helmut Schmidt über Franz-Josef Strauß, 1980, zitiert nach
Süddeutsche Zeitung 10. November 2015).
Er hatte den Motor eines schweren Lasters, aber die Bremsen von einem Kleinwagen
(Helmut Kohl über Franz-Josef Strauß 2003, zitiert nach Neidhard 06. September 2015).
392 S. Diestel et al.

Die Aussagen von beiden ehemaligen Bundeskanzlern über den wohl umstrittensten und
am stärksten polarisierenden Politiker der deutschen Nachkriegszeit charakterisieren
sein auffälligstes Persönlichkeitsmerkmal, das ihm in seiner von Skandalen geprägten
politischen Laufbahn (Starfighter-Affäre, Spiegel-Affäre, Liebschaft mit einer Abituri-
entin, beabsichtigte Spaltung der CSU von der Schwesterpartei CDU etc.) nicht nur ein-
mal zum Verhängnis wurde: die mangelnde Fähigkeit zur willentlichen Selbstkontrolle.
Obschon eine auf Filmausschnitten, Fremdaussagen sowie biografischen Dokumenten
basierende diagnostische Beurteilung sich nicht unbedingt durch hohe Validität auszeich-
net, lassen die konvergierenden Eindrücke die Einschätzung zu, dass Franz-Josef Strauß
ungeachtet seiner herausragenden intellektuellen sowie rhetorischen Fähigkeiten seine
spontanen, impulsiven Reaktionstendenzen in vielen sozialen Interaktionen nicht zu
unterdrücken, verschiedenen Versuchungen kaum zu widerstehen vermochte und sich zu
unüberlegten sowie folgenschweren Entscheidungen hinreißen ließ. In der Person Franz-
Josef Strauß wird ein psychologisch interessanter Umstand erkennbar, der von Helmut
Kohl mit den Metaphern „Motor“ für Intelligenz und „Bremse“ für Impulskontrolle
bereits präzise umschrieben wurde: Selbst überdurchschnittlich intelligente Menschen
sind nicht vor Fehlentscheidungen, selbst verursachten Misserfolgen sowie impulsiven
bisweilen widersinnigen Handlungen geschützt, wenn sie über eine geringe Selbstkont-
rollfähigkeit verfügen. Während die psychologisch gestützte Eignungsdiagnostik einsei-
tig den positiven Einfluss der Intelligenz auf beruflichen Erfolg sowie Leistungsfähigkeit
akzentuiert, haben erst kürzlich empirische Erkenntnisse zur Selbstkontrollfähigkeit
Eingang in einschlägige Kompetenzmodelle sowie Anforderungsprofile gefunden (Kuhl
et al. 2010).
Tangney et al. (2004) verstehen unter Selbstkontrollfähigkeit eine primär auf Frustra-
tionstoleranz (die Fähigkeit, negative Affekte zumindest zeitweise auszuhalten und auf
positive Affekte in Form von Belohnungen in Erwartung später eintretender Verstärkung
verzichten zu können) basierende zeitlich stabile sowie situationsunabhängige Impuls-
und Reaktionskontrolle sowie eine hohe Konzentrationsfähigkeit und eine ausgeprägte
motivationale Selbstüberwindung. Aktuelle metaanalytische Ergebnisse dokumentieren
enge positive Zusammenhänge zwischen Selbstkontrollfähigkeit sowie psychischer und
physischer Gesundheit, stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen (geringe Schei-
dungsraten) sowie Selbstvertrauen (de Ridder et al. 2012). Ferner demonstrieren Perso-
nen mit hoher Selbstkontrollfähigkeit überdurchschnittliche sportliche, schulische und
akademische Leistungen. Umgekehrt geht mangelnde Selbstkontrollfähigkeit häufig mit
Essstörungen, kriminellen Handlungen, ungewollten Schwangerschaften sowie unange-
brachten sexuellen Verhaltensweisen einher (Muraven und Baumeister 2000). Schließ-
lich sind Kleinkinder mit hoher Frustrationstoleranz ruhiger sowie ausgeglichener, lassen
sich weniger schnell provozieren und neigen weniger zu aggressiven Verhaltensweisen
als Kinder, die Belohnungen schlecht aufschieben können (Funder und Block 1989).
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 393

23.5.1 Positive Wirkungen der Selbstkontrollfähigkeit auf


Belastungsbewältigung, Work Engagement und
Arbeitsleistung

Unter dem Eindruck dieser Befunde hat die Selbstkontrollfähigkeit als personenbezo-
gener Faktor zunehmende Beachtung in der arbeits- und organisationspsychologischen
Forschung gefunden. So haben Stumm et al. (2010) unter statistischer Kontrolle anderer
leistungsrelevanter Persönlichkeitsmerkmale starke positive Zusammenhänge zwischen
Selbstkontrollfähigkeit und (fremdeingeschätzter) Arbeitsleistung identifizieren können.
Zettler (2011) zufolge leistet Selbstkontrollfähigkeit bedeutsame Beiträge zur Eigenin-
itiative, zur hohen Einsatz- sowie Unterstützungsbereitschaft und verhindert Tendenzen
zum kontraproduktiven Arbeitsverhalten. Darüber hinaus scheint eine hoch ausgeprägte
Impuls- sowie Reaktionskontrolle bei Führungskräften ein wirksamer Mechanismus in
der Mitarbeitersteuerung und Teammotivation zu sein: Teamleiter mit einem starken
Machtmotiv (Bedürfnis nach direkter Kontrolle über und sozialer Einflussnahme von
anderen Menschen) fördern dann (und nur dann) Leistungsprozesse unter ihren Team-
mitgliedern, wenn sie sich effektiv in ihren Verhaltenstendenzen kontrollieren können
und über eine hohe soziale Kontaktorientierung verfügen (Steinmann et al. 2015). Im
Falle eines häufig eingesetzten Surface Acting als Ressourcen verbrauchende Emoti-
onsarbeitsstrategie (siehe oben) sind Führungskräfte mit hoher Selbstkontrollfähigkeit
weniger erschöpft und folglich gegenüber ihren Mitarbeiter weniger impulsiv oder auto-
ritär als Führungskräfte, die eine schwach ausgeprägte Selbstkontrollfähigkeit aufweisen
(Yam et al. 2016). Im Einklang mit diesen Befunden können Alten- und Krankenpflege-
kräfte mit hoher Selbstkontrollfähigkeit einen Anstieg in Burn-out-Symptomen infolge
von starken Selbstkontrollanforderungen verhindern (Schmidt et al. 2012). Ferner ist
die positive Wirkung der täglichen Schlafqualität auf die gesundheits- und motivations-
förderliche Bewältigung von emotionaler Dissonanz bei hoher Selbstkontrollfähigkeit
stärker als bei personenbezogenen Defiziten in der Selbstkontrolle (Diestel et al. 2015).
Insgesamt zeigen die in beruflichen Kontexten erbrachten empirischen Erkenntnisse zur
Selbstkontrollfähigkeit, dass Personen mit dieser Eigenschaft

1. bei der Arbeit im Vergleich zu schwacher Selbstkontrolle deutlich leistungsfähiger


sind und mehr Eigeninitiative zeigen,
2. in der Rolle als Führungskraft ihre Mitarbeiter in einer motivations- und leistungsför-
derlichen Weise beeinflussen sowie
3. ihre psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit selbst bei hohen Selbstkontroll-
und Emotionsarbeitsanforderungen stabilisieren können.

23.5.2 Training und Ausbau von Selbstkontrollfähigkeit

Marc Muraven und Roy Baumeister (2000) haben ursprünglich die theoretische
Annahme formuliert, dass Unterschiede in der Selbstkontrollfähigkeit auf den individuell
394 S. Diestel et al.

unterschiedlich ausgeprägten Umfang der begrenzt verfügbaren Ressourcenkapazität


zurückführbar sind. Mitunter lassen allerdings aktuelle experimentelle Ergebnisse ver-
muten, dass Personen mit hoher Selbstkontrollfähigkeit keine vergleichsweise große
Ressource haben, sondern über wirksame Strategien der Handlungssteuerung verfügen
und hierdurch ressourcenbedingten Erschöpfungszuständen sowie Leistungsabnahmen
unter Einfluss hoher Selbstkontrollanforderungen vorbeugen. Diese Strategien bestehen
u. a. in einer effektiven Handlungsplanung (Intentionsgedächtnis; Kuhl 2001), in einer
effizienten Ressourcenkonservierung sowie -investition (Muraven et al. 2006), in einer
ausgeprägten Selbstüberwachung (Wan und Sternthal 2008) und hohen Handlungsori-
entierung (Gröpel et al. 2014). Insofern sind „willensstarke“, selbstdisziplinierte sowie
kontrollierte Personen sehr gut in der Lage,

1. über selbst hergestellte situative Voraussetzungen einseitig starke willentliche Selbst-


kontrollausübung zu vermeiden (Versuchungen aus dem Weg gehen) sowie ihre
vorgeformten Absichten konsequent zu realisieren (zielgerichtete und situationsange-
passte Intentionsimplementierung),
2. ihre Ressourcen in der Erwartung von nacheinander auftretenden Selbstkontrollanfor-
derungen zu schonen (Anstrengung sowie Ausdauer über unterschiedliche Aufgaben
verteilen),
3. eigene Handlungsschritte aufmerksam wahrzunehmen (sich selbst aus anderer Pers-
pektive sehen) und
4. sich an unterschiedliche Anforderungssituationen flexibel sowie proaktiv anzupassen
(eigene Denk- und Handlungsmuster situationsbedingt verändern).

In Übereinstimmung mit dieser Vorstellung haben Wan und Sternthal (2008) sowie
Gröpel et al. (2014) in experimentellen Studien zeigen können, dass eine ausgeprägte
Selbstreflexion und eine hohe Handlungsorientierung die durch Selbstkontrollausübung
resultierenden Erschöpfungszustände reduzieren sowie die kognitive Leistungsfähigkeit
bei nachfolgenden Aufgaben im Unterschied zu wenig reflektierten und lageorientierten
(in ihrer Handlungssteuerung häufig selbst blockierten) Personen konstant auf hohem
Niveau halten.
Diese und ähnliche Befunde lassen eine Trainierbarkeit der Selbstkontrollfähigkeit
vermuten, die sich durch sukzessive Übung in ihrem Leistungspotenzial und ihrer Aus-
dauer erweitern lässt. Angeregt durch diese Vermutung haben Oaten und Cheng (2006)
mit einem zweimonatigen, individuell angepassten Fitnessprogramm dokumentieren
können, dass körperliche Fitness positive Wirkungen in einem breiten Spektrum von All-
tagssituationen entfaltet, die hohe Selbstkontrollanforderungen beinhalten. So ernährten
sich Teilnehmer des Programms im Vergleich zu einer Kontrollgruppe deutlich gesün-
der, verringerten ihren Alkohol-, Nikotin- sowie Koffeinkonsum und zeigten auch in
anderen Verhaltensbereichen wie zum Beispiel im Kaufverhalten, der Emotionskont-
rolle sowie Gewissenhaftigkeit durchgehend positive Veränderungen. In einer weiteren
Studie erbringen Oaten und Cheng (2007) ferner den Nachweis, dass durch das gezielte
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 395

Training von Selbstkontrolle auch längerfristige Wirkungen angestoßen werden können.


Hierbei entwickelten sie ein Trainingsprogramm zur Überwachung und Verbesserungen
von finanziellen Angelegenheiten, in dem die Teilnehmer durch selbst kontrolliertes Ver-
halten Verschuldung sowie impulsives Geldausgeben vermeiden und stattdessen Geld
ansparen sollten. Selbst nach vier Monaten waren die positiven Wirkungen auf selbst
kontrollierte Verhaltensweisen beobachtbar. In beiden zitierten Studien waren leistungs-
bezogene Unterschiede zwischen Teilnehmern der Trainingsprogramme und Kontroll-
personen auch in laborexperimentellen Aufgaben der kognitiven Konzentrations- sowie
Aufmerksamkeitssteuerung bedeutsam. Die Ergebnisse der Studien von Oaten und
Cheng (2007) liefern hilfreiche Hinweise auf Möglichkeiten der Förderung der eigenen
Selbstkontrollfähigkeit im Alltag. Insbesondere regelmäßige, strukturierte, sportliche
Aktivitäten, die keine physischen Grenzen übersteigen, sondern physische sowie psy-
chische Ausdauer beispielsweise durch Optimierung der Sauerstoff- und Blutversorgung
als biologische Voraussetzungen einer hohen Selbstkontrollleistung steigern, dürften zu
einer verbesserten Selbststeuerung im Falle von starken Selbstkontrollanforderungen bei-
tragen. Auf der Grundlage dieser Annahme haben Schmidt et al. (2016) zeigen können,
dass eine über das Sauerstoffaufnahmevermögen der Lunge operationalisierte physische
Fitness die ungünstigen Effekte von beruflichen Selbstkontrollanforderungen auf akute
Burn-out-Symptome abschwächt. Demzufolge können Personen mit hoher physischer
Fitness, die sich trainieren und folglich ausbauen lässt, sich selbst bei starkem berufli-
chem Stress vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen schützen.
Eine stark ausgeprägte Selbstkontrollfähigkeit lässt auf ein ausdifferenziertes, fle-
xibles sowie vorausschauend planendes Intentionsgedächtnis schließen, das mit seinen
(oben genannten) Strategien der Selbststeuerung einerseits in schwierigen Anforde-
rungssituationen begrenzte Ressourcen zu konservieren und andererseits sich nach
Absichtsbildung schnellen sowie stabilen Zugang zur intuitiven Verhaltenssteuerung zu
verschaffen vermag, um die Erreichung seiner Handlungsziele selbst im Falle interferie-
render oder konkurrierender Einflüsse sicherzustellen. Diese bereits oben angesprochene
„Willensbahnung“ wird u. a. über Achtsamkeitszustände im Handlungsprozess realisiert
(Baumeister und Masicampo 2007): Eine wertneutrale und wache Wahrnehmung von
äußeren und inneren Umständen sowie eine fokussierte und momentbezogene Reflexion
gewährleisten eine präzise und konsequente Umsetzung der vorgeformten Intentionen
in Handlungsschritte bei gleichzeitiger Flexibilität der Handlungspläne, die situations-
bedingt gewechselt werden können, um die Intentionsrealisierung bei sich ändernden
Umständen zu garantieren. Folglich nehmen Baumeister und Masicampo (2007) an, dass
Personen mit hoher Selbstkontrollfähigkeit deutlich achtsamer im Verhalten und Erle-
ben sind als Personen, die impulsiv sind, Versuchungen kaum widerstehen können und
gemeinhin als wenig gewissenhaft gelten. Wie oben bereits angedeutet, liegt der Schlüs-
selmechanismus der über Achtsamkeit hergestellten Willensbahnung in der Aufhebung
der Selbstkontrolle (Ich-Aktivität) und im Wechsel zur autonomen Regulation durch das
Selbst. Demzufolge kann Selbstkontrollfähigkeit im zielgerichteten Tätigkeitsprozess ihr
Gegenteil implizieren – nämlich die Ablösung der willentlichen Selbstkontrolle. Anders
396 S. Diestel et al.

formuliert: Selbstkontrollfähigkeit beinhaltet die Fähigkeit, zwischen beiden Modi der


Selbststeuerung in Abhängigkeit situativer Bedingungen (zum Beispiel motivierende
Arbeitsressourcen) sowie persönlicher Voraussetzungen (zum Beispiel innere Wider-
stände) flexibel zu wechseln.

23.6 Ausblick: Kritische Reflexion der Theorien zur


Selbststeuerung, Einflüsse von Mindsets auf
Selbststeuerung und Implikationen für ein modernes
Human-Resource-Management

Prozesse der Selbst- und Handlungssteuerung sind Gegenstand zahlreicher psychologi-


scher Theorien, die sich in ihren Perspektiven sehr ähnlich sind und auf gleichen Grund-
annahmen beruhen.
So begreift beispielsweise Winfried Hacker (2005; vgl. auch Frese und Zapf 1994)
zielbezogene Tätigkeit als eine umfassende sowie auf Planungs- und Steuerungspro-
zessen basierende Handlungsregulation, die unterschiedliche automatisierte und kont-
rollierte, sensomotorische, sprach- und wahrnehmungsverarbeitende sowie komplexe,
intellektuelle Vorgänge beinhaltet. Seiner Theorie zufolge werden Tätigkeitsprozesse
nach dem kognitiven Test-Operate-Test-Exit-Prinzip (kurz TOTE) gesteuert, das einen
kontinuierlichen Abgleich zwischen aktuellen Handlungsergebnissen und vorher defi-
nierten Zielen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen beschreibt. Im Fall einer Ziel-
abweichung werden Handlungsschritte regulativ korrigiert, rekalibriert oder zugunsten
alternativer Handlungspläne unterbrochen. In ganz ähnlicher Weise deuten Inzlicht und
Schmeichel (2012) Prozesse der willentlichen Selbstkontrolle als Analyse von Zieldis-
krepanzen sowie als Operationen zur Reduktion von identifizierten Zieldiskrepanzen.
Ihrem Verständnis zufolge ist die unmittelbar aus der Selbstkontrollausübung resultie-
rende Leistungsabnahme durch einen simultanen Wechsel in Prozessen der Motivation
sowie Aufmerksamkeit verursacht, die sich nach willentlicher Anstrengung im mangeln-
den Willen zur Selbstkontrollausübung sowie in der hiermit einhergehenden fehlenden
Wahrnehmung von Zielabweichungen niederschlagen.
Im Wesentlichen leiten sich beide Theorien aus einer einseitig mechanistischen Pers-
pektive ab, die primär durch das Anliegen einer vollständigen Beschreibung sowie eines
begrifflichen Verständnisses der Funktionsweise von menschlicher Selbststeuerung moti-
viert ist. Folglich bringt dieser mechanische Fokus auf Selbststeuerung das Bild eines
„Motors“ (Inzlicht und Schmeichel 2012, S. 456) hervor, dessen Energie bzw. Ressourcen
verbrauchende Prozesse sowie Leistungsfähigkeit sich auf der Grundlage von „physika-
lischen“ Regeln und stabilen Gesetzmäßigkeiten präzise wie ein Uhrwerk nachzeichnen
lassen. Dieses von beiden (und anderen) Theorien nahegelegte Bild erinnert an Martin
Heideggers Konzept des „Gestells“, das vom (post-)modernen Menschen als technisches
Mittel zur Verobjektivierung der Welt (in diesem Fall des Menschen) und zur funktiona-
len Manipulation derselben (als Ressource) instrumentalisiert wird (Heidegger 1953).
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 397

Vor diesem Hintergrund wird der sich selbst steuernde Mensch selber zum konditionier-
und programmierbaren Gestell, das im Dienste der unternehmerischen Wertschöpfung
auf Kosten einer begrenzten und demzufolge zu stabilisierenden Ressource seine Tätig-
keit nach klar definierten Zielen sowie Aufgaben verrichtet. Wenngleich eine derartige
Perspektive wichtige Einblicke in die Grenzen sowie Möglichkeiten der Selbststeuerung
liefert, birgt die Betrachtung der Selbststeuerung als Gestell das Risiko einer Überbean-
spruchung sowie einer fehlenden Förderung der autonomen Selbstregulation. Mit Ver-
weis auf Heideggers Gestell macht Slavoj Zizek (2014, S. 35–36) in seiner Analyse der
menschlichen Haltung zur Welt darauf aufmerksam, dass der „auf ein Objekt technischer
Manipulation reduzierte Mensch“ die zwangsläufige Folge einer strukturierenden Rah-
mung, eines Verhältnisses zur Welt bzw. zum Menschen ist, der als verwertbarer „Auto-
mat“ seine Fähigkeit verliert, „für die Realität offen zu sein“, sich also achtsam und
autonom selbst zu regulieren. Für Zizek ist nicht die Technik, also der Mechanismus der
Selbststeuerung, der Grund für die Möglichkeit der „Selbstzerstörung“ (beispielsweise
in Form von Burn-out), sondern unsere Perspektive auf den Menschen, die fürderhin die
Bedingung dieser Möglichkeit darstellt.
Zizeks Begriff von strukturierender Rahmung im Verständnis von sowie im Umgang
mit Menschen lässt sich psychologisch in Mindsets übersetzen, die als kognitive Sche-
mata persönliche Grundüberzeugungen (sogenannte Beliefs) über das eigene Wesen
und die eigenen Eigenschaften beinhalten. Carol Dweck (2012) unterscheidet zwischen
deterministischen („fixed“) und flexiblen („growth“) Mindsets: Während Fixed Mind-
sets in starren Annahmen über stabile sowie vollständig prädispositionierte mensch-
liche Merkmale verankert sind, implizieren Growth Mindsets eine durch Übung sowie
Training bewirkte Veränderung und Verbesserung von grundlegenden menschlichen
Fähigkeiten. In experimentellen Studien haben Autoren Mindsets über Intelligenz, Per-
sönlichkeit sowie willentliche Selbstkontrolle untersucht. So haben Blackwell, Trzes-
niewski und Dweck (2007) über einen Zeitraum von zwei Jahren eine kontinuierliche
Leistungszunahme in Mathematikprüfungen bei Schülerinnen sowie Schülern festge-
stellt, deren Einstellungen durch Growth Mindsets in Form von hoher Lern- sowie
Wissensorientierung geprägt waren. Im Unterschied zu Growth Mindsets fiel die Mathe-
matikleistung bei Schülerinnen und Schülern mit Fixed Mindsets (eigene Leistung als
Demonstration persönlicher Talente) im selben Zeitraum ab. Dieselben Autoren haben in
anschließenden Experimenten gezeigt, dass Mindsets die üblicherweise in der Psycholo-
gie als zeitlich sehr stabil sowie dispositionell determinierte geltende intellektuelle Leis-
tung beeinflussen können: Wenn Jugendliche bei richtig gelösten Intelligenzaufgaben
für ihre Anstrengung gelobt worden (Growth Mindsets), dann haben sie ihre Leistung in
folgenden Sequenzen selbst nach Misserfolgserleben gesteigert. Im Falle einer Attribu-
tion (Ursachenzuschreibung) auf eigene unveränderliche Talente (Fixed Mindsets) wurde
die Leistung nach induziertem Misserfolg sogar deutlich schlechter. Schließlich haben
Job et al. (2010) die Beobachtung gemacht, dass die Überzeugung einer sich automatisch
regenerierenden Ressourcenkapazität (Growth Mindset) die leistungsmindernde Wirkung
von willentlicher Selbstkontrolle deutlich schwächer ausfallen lässt als bei der Annahme
398 S. Diestel et al.

einer endlichen Ressource (Fixed Mindset). Das heißt: Personen, die glaubten, dass sich
ihre Ressource schnell erholen kann, waren nach Ausübung von willentlicher Selbstkon-
trolle kaum erschöpft und in ihrer Leistungsfähigkeit wenig beeinträchtigt. Insbesondere
der letzte hier dargestellte Befund hat in der Forschung zur Selbststeuerung eine starke
Skepsis an der Gültigkeit der Ressourcentheorie von Muraven und Baumeister begründet
(Inzlicht und Schmeichel 2012).
Als Antwort auf die eingangs erwähnte „permanente Flut“ führt Peter Sloterdijk
(2009, S. 14) den Begriff „Übung“ ins Feld, der nach seiner Vorstellung „jede Opera-
tion [beschreibt], durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausfüh-
rung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird […]“. Diese Vorstellung liegt
den Growth Mindsets zugrunde, deren Prinzipien in der Lernorientierung (Entwicklung
eigener Fähigkeiten sowie Fertigkeiten durch sukzessives Training – vgl. Selbstkont-
rollfähigkeit), selbstmotivierenden Anstrengung (fokussierte Kraftinvestition bewirkt
eine Optimierung der eigenen Leistung – vgl. Flow-Erleben) sowie Fehlerorientierung
(Fehler und Schwächen können zur Leistungssteigerung beitragen – vgl. Selbstrefle-
xion und Achtsamkeit) liegen. Julius Kuhl (2001) sieht im Willen (als höchste Reprä-
sentationsebene eigener Gedanken, Gefühle sowie Ziele etc.) die zentrale Koordination
des dynamischen Zusammenspiels der vier oben beschriebenen Persönlichkeitssysteme.
Inspiriert durch Friedrich Nietzsche (1886), der den „löwenartigen“ Willen zur Macht
als die „Lust und Kraft der Selbstbestimmung“, das heißt den Weg zur Autonomie (sich
selbst sein eigenes Gesetz gebend) begreift, postuliert Kuhl (2001), dass der Wille und
seine Prinzipien die Realisierung eigener Handlungsziele sowie -intentionen und folg-
lich die Entfaltung sowie Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Potenziale steu-
ert (vgl. auch Ryan und Deci 2000). Der Wille formt sich seine eigenen Prinzipien in
Gestalt von Mindsets, die den strukturierenden Rahmen für die eigene Persönlichkeit
und Fähigkeiten bilden. Insofern ist die grundlegende Sicht über uns selbst als „Gestell“
(Fixed Mindset: Automat mit begrenzter Ressource) oder als „Löwe“ (Growth Mindset:
autonomes Selbst mit hohen Leistungs- und Kreativitätspotenzialen) für die Möglichkeit
zur autonomen Selbstregulation, zur Förderung eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten
sowie zur Veränderung und Verbesserung der eigenen Eigenschaften bestimmend. Eine
solche Schlussfolgerung soll allerdings nicht zu der spontanen, von Selbstüberschät-
zung geprägten Eingebung von unbegrenzten Ressourcen, Fähigkeiten oder – ganz kon-
kret – beruflichen Perspektiven verleiten: „Wer einst fliegen lernen will, der muss erst
stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen: – man erfliegt das Fliegen
nicht!“ (Nietzsche 1886). Im Einklang mit diesem Zitat haben Vohs et al. (2012) in einer
Reihe von Experimenten nachweisen können, dass Growth Mindsets zwar kurzfristig die
Erschöpfungsfolgen von willentlicher Selbstkontrolle abschwächen, aber nicht gänzlich
verhindern können. Selbst Personen, die von einer unbegrenzten Ressource ausgingen
und in den ersten anstrengenden Aufgaben keine Leistungsdefizite zeigten, wiesen nach
mehreren sukzessiv auftretenden Selbstkontrollanforderungen eine starke Abnahme ihrer
Selbststeuerung sowie erhebliche Erschöpfungssymptome auf. Demzufolge sind der
eigenen Entwicklung sowie Potenzialentfaltung gewisse natürliche Grenzen gesetzt, die
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 399

sicherlich flexibler sowie dynamischer sind als gemeinhin angenommen, aber nicht voll-
ständig aufgehoben werden können.
Die hier dargestellten theoretischen Überlegungen sowie empirischen Ergebnisse
sollen die Gestaltung von Arbeits- und Lernumgebungen in einer Weise anregen, die
autonome Selbstregulation begünstigt und Erschöpfungszustände infolge von hohen
Selbstkontrollanforderungen abschwächt. Eine solche Gestaltung in Coachings, Trai-
nings oder anderen Formen der Personal- sowie Teamentwicklung, aber auch von
Arbeitsbedingungen kann durch Mindsets inspiriert sein, die sich im Menschenbild einer
Unternehmenskultur widerspiegeln und folglich die Strategie des Human-Resource-
Managements beeinflussen (Schein 1990). Das wohl aktuell am häufigsten diskutierte
Beispiel für Motivationsförderung sind die Arbeitsumgebungen von Google, die durch
kreative sowie künstlerische Architekturen, ausdifferenzierte Versorgungsstrukturen (Fri-
seur, Fitnessstudio, Sportanlage, Kinderbetreuung, kostenlose Getränke und Speisen etc.)
sowie agile Arbeitsverhältnisse charakterisiert sind. Ungeachtet der Frage nach der hier
zugrunde liegenden Unternehmensstrategie dürften solche Bedingungen auf die Förde-
rung der autonomen Selbstregulation abzielen. Nichtsdestotrotz ist eine ausschließlich
auf autonomer Selbstregulation basierende Tätigkeit angesichts der sich häufig uner-
wartet stark wandelnden Umstände unrealistisch und möglicherweise in Anbetracht der
Notwendigkeit von Selbstkontrollfähigkeit auch nicht wünschenswert. Selbststeuerung
als psychischer Mechanismus der zielbezogenen Tätigkeit ist ein stark fluktuierendes,
häufig situativ sowie subjektiv bedingtes dialektisches Wechselspiel zwischen willentli-
cher Selbstkontrolle sowie autonomer Selbstregulation (Bledow et al. 2013; Rivkin et al.,
im Druck). Der oben beschriebene Fußballspieler wird wohl in der von ihm bevorzugten
Rolle als Stürmer im (ungünstigen) Spielverlauf (unter Umständen nicht selten) willent-
liche Selbstkontrolle ausüben und seine psychischen Ressourcen beanspruchen, obwohl
er sich in dieser Rolle leichter über Prozesse der autonomen Selbstregulation in Zustände
des Flow-Erlebens versetzen kann als in anderen Rollen. Insofern sollte sich ein leis-
tungs- und motivationsförderliches Human-Resource-Management durch Merkmale aus-
zeichnen, die den Voraussetzungen sowie Wirkungen beider Formen der Selbststeuerung
in zielbezogenen Tätigkeitsprozessen Rechnung tragen:

1. Unternehmenskultur: Eine eminent wichtige Voraussetzung für autonome Selbst-


regulation sowie für die gesundheitsstabilisierende Bewältigung von hohen Anfor-
derungen an die willentliche Selbstkontrolle ist das affektive Commitment, das heißt
eine starke emotionale Identifikation mit der eigenen Organisation. Unternehmens-
strategien sowie Organisationsentwicklungsmaßnahmen, die zu einer nachhaltigen
Stabilisierung und Erhöhung des affektiven Commitments der Belegschaft beitragen,
reduzieren das Beanspruchungsrisiko, steigern die intrinsische Motivation sowie die
Eigeninitiative und nicht zuletzt die Bereitschaft, umfassende Veränderung sowie
Transformationen mitzutragen und mitzugestalten.
2. Führung und Teamsteuerung: Eine auf ethische Integrität, Transparenz sowie Wert-
schätzung basierende Führung, die neben ihrer Steuerungsfunktion die Bedürfnisse
400 S. Diestel et al.

und Anliegen ihrer Mitarbeiter beachtet sowie stabile Vertrauensverhältnisse herstellt,


wird den Anforderungen einer Arbeitswelt gerecht, die zunehmend durch dynamische
Veränderungen und durch sich radikal entwickelnde digitale Technologien geprägt ist.
Im Zusammenhang mit dieser Art der Führung sind zunehmend flexibel oder agil ope-
rierende Organisationseinheiten auf hohe Kontrollspielräume angewiesen, die ihnen
eine selbstständige Ziel-, Ergebnis- und Prozesssteuerung in Abhängigkeit von wech-
selnden Rahmenbedingungen erlauben.
3. Mitarbeiter: Auf individueller Ebene sind scheinbar triviale, aber häufig stark ver-
nachlässigte Prozesse für die Selbststeuerung und ihre Leistungswirkung besonders
bedeutsam: Psychische Distanzierungsfähigkeit (Psychological Detachment) und
Schlafqualität als Ressourcen regenerierende Mechanismen lassen sich beispielsweise
durch trainingsbasierte Präventionsmaßnahmen beeinflussen. In komplexeren sowie
individuell zugeschnittenen Entwicklungsformaten, wie Coachings oder Trainings,
können Mitarbeiter sowie Führungskräfte in ihrer Selbstkontrollfähigkeit und Acht-
samkeit gefördert werden. Schließlich sind Mitarbeiter sowie Führungskräfte durch
regelmäßige, auf Erhöhung der physischen Ausdauer abzielende sportliche Aktivitä-
ten in der Lage, berufliche Selbstkontrollanforderungen erfolgreich und ohne psychi-
sche Beanspruchung zu bewältigen.

Eine integrative Realisierung der hier aufgeführten Maßnahmen dürfte die individu-
elle Selbststeuerungsfähigkeit in (post-)modernen, digitalisierten sowie dynamischen
Arbeits- und Lebenswelten in einer Weise unterstützen, die die von Sloterdijk (2014)
beschriebene „permanente Flut“ nicht nur zu bewältigen, sondern auch mitzugestalten
ermöglicht. Nicht selten und auch nicht grundlos werden die zu Beginn des Beitrags dar-
gestellten tief greifenden Umwälzungen als massive, ja sogar existenzielle Bedrohungen
erlebt, deren Wirkungen sich u. a. in drastisch ansteigenden Fehlzeiten manifestieren
sowie die volkswirtschaftliche Wertschöpfung im zweistelligen Milliardenbereich nach-
weislich und nachhaltig beeinträchtigen (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeits-
medizin 2015). Ein Beispiel ist die digitale Transformation in nahezu allen Lebens- und
Arbeitssphären: Möglicherweise kann das Mindset eines autonom agierenden, also
selbstbestimmten sowie sich selbst entwickelnden Menschen einen substanziellen Bei-
trag zur aktiven Gestaltung sowie zur kreativen Nutzung des digitalen Wandels leisten.
Hiermit ist nicht die „esoterische Selbstverwirklichung“ in Form von narzisstischen
Avataren in sozialen Netzwerken gemeint, sondern die sukzessive und selbst gesteu-
erte Übung in der Entwicklung sowie Verwendung moderner Technologien im Dienste
der „Selbst-Optimierung“, die einerseits das Selbst als Quelle der intuitiven Inspiration
sowie kreativen Lösungsfindung erweitert (Kuhl 2001) und andererseits den Menschen
in seinen grundlegenden Fähigkeiten sowie Leistungsmerkmalen „sich perfektionieren“,
„aufsteigen“ und „überwinden“, also über sich hinaus wachsen lässt (Sloterdijk 2009).
23  Positive und negative Effekte der Selbststeuerung … 401

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406 S. Diestel et al.

Über die Autoren

Prof. Dr. Stefan Diestel ist seit 2014 Hochschullehrer


für Wirtschaftspsychologie an der International School of
Management sowie akademischer Leiter am Kienbaum
Institut @ ISM. Sein Studium der Psychologie (Master of
Science) schloss Stefan Diestel im Jahre 2008 an der Ruhr-
Universität Bochum ab und war bis 2014 als wissenschaft-
licher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung
an der TU Dortmund tätig. 2011 promovierte Stefan Dies-
tel im Fach Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum
zur Wirkung von Selbstkontrollanforderungen und Emoti-
onsarbeit auf psychische Beanspruchung. Neben diesem
Thema ist sein Forschungsinteresse dem Zusammenhang zwischen kognitiven Prozes-
sen und Burn-out-Erleben, der Wirkung von Altersheterogenität auf Gruppeneffektivität
sowie ethischer Führung in Organisationen gewidmet.

Wladislaw Rivkin war nach seinem Studium B.Sc. Wirt-


schaftspsychologie an der Ruhr-Universität Bochum als Trainer
in der Abteilung Personalentwicklung der VTB Bank in Kiew
tätig und hat dort Trainings für Mitarbeiter und Führungskräfte
betreut. Im Anschluss absolvierte er den Master im Fachbereich
Psychologie mit Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsy-
chologie an der Universität Konstanz. Seit 2013 arbeitet Herr
Rivkin am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung und forscht hier
zu den Themen psychische Gesundheit und Führung.

Prof. Dr. Klaus-Helmut Schmidt ist in der Projektgruppe


„Flexible Verhaltenssteuerung“ am Leibniz-Institut für
Arbeitsforschung an der TU Dortmund tätig. Nach dem Stu-
dium der Psychologie, Soziologie und Philosophie an der
Ruhr-Universität Bochum promovierte Klaus-Helmut Schmidt
1987 an der Universität-Gesamthochschule Wuppertal. Die
Habilitation im Fach Psychologie erfolgte 1995 an der Univer-
sität Dortmund. Seine Forschungsbemühungen konzentrieren
sich auf Leistungsmess- und Feedbacksysteme in Unterneh-
men (partizipatives Produktivitätsmanagement), auf Ursachen
von Fehlzeiten sowie auf Einflussfaktoren der Arbeitsmotiva-
tion. In den letzten Jahren hat er sein Interesse verstärkt Selbst- und Emotionskontrollan-
forderungen in beruflichen Kontexten gewidmet und bereits mehrfach Untersuchungen zu
deren Beanspruchungswirkung in verschiedenen Organisationen durchgeführt.
Stichwortverzeichnis

A Auswahl- und Beförderungsprozess, 99


Abfragende Analyse, 348 Autonome Selbstregulation, 379, 391, 399
Absolventen, 253 Autonomie, 210
Absolvententypen, 255 Awareness-Training, 97
Achtsamkeit, 390
Active Sourcing, 329
Affektives Commitment, 387 B
Agency, 85 Babyboomer, 273
Agile Manifesto, 153 Barriere für Frauen, 83
Agile Netzwerke, 40, 45 Beitragskultur, 56
Agile Organisation, 179 Bereitschaft zur Digitalisierung von HR, 335
Agile Produktentwicklung, 152, 157 Beschäftigungsfähigkeit, 196
Aging Workforce, 238 Besetzungsprozess, 320
Aktionsplan, 143 Betriebliches Gesundheitsmanagement, 221
Altersdiversität, 237 Bewegungsphase (Moving), 138
Age Diversity, 213, 239 Bilanz der Veränderungen, 359
Alterskohorte, 265 Bottom-up-Ansatz, 297
Altersstrukturanalyse, 246 Business Model Design, 109
Ambitionierte, 261
Anerkennung, 56
Angst, 58 C
Anonymisierung, 347 Change, 90
Anwendungsfall, 353 Change-Controlling, 144
Arbeit 4.0, 188, 205 Change-Management, 134
Arbeitserlebnis, 53 Change-Manager, 140
Arbeitsmodell, 99 Cloud Working, 212
Arbeitsorganisation, 51 Cluster-Ansätze, 265
Arbeitswelt 4.0, 24, 168, 317 Commitment, 73, 91, 141
Arbeitszufriedenheit, 75 Communality, 85
Audit, 94 Coping-Forschung, 176
Aufbauorganisation, 367 Council, 95
Aufgabenwahlfreiheit, 54 Cross-fertilization, 162
Auftauphase (Unfreezing), 137 Crossfunktionales Team, 154
Ausgestaltung der Personalplanung, 302 Cross-Gender-Mentoring, 98

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 407


W. Jochmann et al. (Hrsg.), HR-Exzellenz,
DOI 10.1007/978-3-658-14725-9
408 Stichwortverzeichnis

D E
Daily Scrum, 154 E-Akte, 343
Data Mining, 341, 347, 348 Effektivität und Effizienz der Personalfunktion,
Datenanalyse, 346, 348 361
Datenaufbereitung, 347 Eigenverantwortliche Steuerung, 53
Datenbereitstellung, 347 Eignungsdiagnostik, 317
Datengeschwindigkeit, 342, 345 Einflussfaktor auf die fluide Intelligenz, 223
Datenschutz, 346 Alter und Umwelt, 223
Datensparsamkeit und Datenvermeidung, 346 Personenbezogene Faktoren, 224
Datenumfang, 341 Einfrierphase (Refreezing), 138
Datenvarietät, 341, 345 Eisberg-Modell, 141
Deep Acting, 383 Emotionale Dissonanz, 382
Delegation, 213 Emotionsarbeit, 382
Demografiemanagement, 255 Employability, 195, 207
Demokratische Kultur, 58 Employer Branding, 311
Demokratische Managementlogik, 52 Energieerzeugung, 116
Demokratische Unternehmensführung, 40 Entgrenzung der Arbeit, 174
Design Thinking, 152, 157 Entgrenzung von Arbeit, 171
Digital Awareness, 331 Entscheidung, 214
Digital Innovative, 35 Entstehung von Sinnerfüllung, 197
Digital Leadership, 213 Entwicklung, 56
Digital Mindset, 17 Entwicklung eines HR-Geschäftsmodells, 369
Digital Natives, 170 Entwicklungsstufen der Industrialisierung, 166
Digitale Transformation, 65, 71, 128, 203, 324, Entwicklungsverantwortung, 321
370, 400 E-Portfolios, 343
Digitale und mobile Kommunikation, 189 Erlebnisorientierte, 260
Digitales Human-Resources-Management, 363 Evidenzbasierte Personalarbeit, 340
Digitalisierte Arbeitsinhalte, 171
Digitalisierung, 7, 132, 160, 166, 189, 263,
309, 324 F
der Kommunikationsprozesse, 384 Fachkompetenz, 207
der Personalfunktion, 327, 329 Fähigkeit zur Selbststeuerung, 379
Digitalstrategie, 146 Faultlines, 248
Disruption, 111 Feedback, 263
Diversität, 19 Fehlerkultur, 318
Diversitätsfreundliche Personalmanagement- Fix the System, 90
praktik, 247 Fix the Women, 90
Diversity, 80, 317, 364 Fixed Mindset, 397
Diversity auf der Organisationsebene, 242 Flexibilität, 171, 210, 291
Diversity-Controlling, 97 Flexicurity, 195
Diversity Leadership, 95 Flow-Zustände, 379
Diversity-Management, 80, 205, 215 Fluide Intelligenz, 221
Diversity-Potenzial, 244 Arbeitsleistung, 225
Diversity-Ziele, 97 Verhaltensprävention, 228
Dürfen, 84 Verhältnisprävention, 227
Dynamisierung, 263 Frauen in Führungspositionen, 81
Dynamisierung der Arbeitswelt, 173 Freiwilligkeit, 54
Stichwortverzeichnis 409

Führung, 4, 262, 318, 320 Informations- und Entscheidungsperspektive,


Führung auf Zeit, 264 239
Führung im Betriebssystem, 45 Informationsbedarf, 347
Führungskompetenz, 51, 65, 213 Innovation, 100, 214
Führungsmodell in Start-ups, 36 Innovation Engine, 130
Führungsqualität, 361 Innovationsteam, 131
Führungsstil, 19 Interaktion, 246
Transaktionale Führung, 20 Interaktionsklima, 70
Transformationale Führung, 19 Ist-Situation der Personalfunktion, 360
Führungswechsel, 46

J
G Job Rotation, 320
Gap-Analyse, 298 Jobsharing, 264
Gender Diversity, 80
Generation Babyboomer, 254
Generation Maybe, 256 K
Generation X, 254, 273 Kampf um die Talente, 329
Generation Y, 160, 210, 253, 274 Karriere, 262
Generation Z, 265 Karrieremotivation, 258
Generationen im Arbeitsleben, 270 Karriereorientierte, 262
Generationenkonzept, 264 Karriereorientierung, 255, 257
Generationsdefinition, 271 Kernaufgabe von Führung, 8
Generationsspezifisches HR-Management, 269 Kernelemente der Digitalisierung, 22
Generationsunterschied, 276 Umbruch, 22
Gen-Y-Mindset, 257 Kernziele der Personalarbeit, 360
Gesetzliche Frauenquote, 81 Kienbaum, 257
Gewinn, 100 Kienbaum Institut @ ISM für Leadership &
Goldfisch-Syndrom, 62 Transformation (2015), 255
Growth Mindset, 397 Kognitive Planungsprozesse, 387
Kollaborationsformate, 263
Kompetenz- und Innovationsrisiko, 361
H Kompetenzmanagement, 318
Hauptspeicherdatenbank, 341 Komplizen-Organisation, 54
Hierarchische Organisation, 18 Können, 84
High Potentials, 94 Kontrollspielräume, 385
Hochschulabsolvent, 255 Kooperation, 211
HR-Exzellenzanforderung, 362 Kritische Mitarbeitersegmente, 294
HR-Prozesslandkarte, 368 Kulturwandel, 215, 319
HR-System, 342, 343 Kundenerlebnis, 53
Humankapital, 319 Kundengewinnung, 97
Hyperspezialisierung, 160, 162

L
I Learning & Development, 330
Individualisierung, 193, 263 Leistungsbereitschaft, 100
Individualisierung der Einzelinteressen, 170 Leistungsfähigkeit und Produktivität, 290
Industrie 4.0, 324 Logdaten, 343
410 Stichwortverzeichnis

M P
Magisches Dreieck der Employability, 196 Paradigmenwechsel, 90
Management-Framework, 50 Partizipation, 263
Markt, 12 Partizipative Demokratie, 57
Maskuline Normen, 87 Peer-Austausch, 98
Matrix der Betroffenheit, 136 Performance, 321
Methodenkompetenz, 207 Performance Engine, 130
Mindset, 397 Performance-Management, 331
Mindset Design Thinking, 159 Personaladministration, 332
Mitarbeiter als Mitunternehmer, 53 Personalentwicklung, 67
Mitarbeiterabkommen, 54 Personalfunktion, 358
Mitarbeiterbezogene Daten, 303 Personalplanung, 295
Mitarbeiterbindungsmanagement, 275 Personalprozess, 327
Mitarbeiterführung, 69 Personenbezogene Diagnostik, 318
Mitarbeitergewinnung, 100 Persönliche Ressourcen, 377
Mitbestimmung, 211 Persönlichkeitssystem, 380
Mobilfunkmarkt, 114 Placement, 321
Mobiltelefonie, 113 Potenzialerfassung, 319
Modell der Ich-Erschöpfung, 382 Predictive Analytics, 348
Modell des Design-Thinking-Prozesses, 158 Prognosefähigkeit von HR, 333
Moore’sche Gesetz, 132 Projektarbeit, 263
Motivations- und Einstellungsaspekte, 290 Promotorenteam, 139
Motivstrukturen, 257 Prozess der Selbststeuerung, 381
Multigenerationenmanagement, 275 Pseudonymisierung, 347
Multioptionsgesellschaft, 190 Psychological Detachment, 385
Mustererkennende Analyse, 348

Q
N Qualifizierungsblaupausen, 300
Neue Arbeitsorganisation, 26 Qualität der Führung, 100
Neugestaltung des Führungsverhaltens, 180 Quantitative Personalplanung, 298
New Competencies, 206
New Economy, 160
New Leadership, 213 R
New Needs, 209 Räumliche Entgrenzung, 172
New Work, 188 Recruiting, 309
Nutzen für Männer, 92 Recruiting- und Entwicklungsmaßnahme, 317
Reflexion, 98
Regulatorische Agilität, 378
O Resilienzfaktoren, 383
Open Data, 344 Retention/Bindung von Leistungs- und Potenzi-
Organisationsbasierte Rahmenbedingungen, alträgern, 361
244 Rolle der Führung, 389
Orientierungsrahmen für Unternehmen Rollenbeschreibung, 293
Haufe-Quadrant, 37
Orientierungsrahmen für Unternehmen und
Leader, 37 S
Orientierungssuchende, 261 Schattenorganisation, 38
Schwarmlogik, 59
Stichwortverzeichnis 411

Scrum, 153 Teambasierte Rahmenbedingung, 241


1.0, 155 Test-Operate-Test-Exit-Prinzip (TOTE), 396
3.0, 155 Text Mining, 349
Scrum und Design Thinking als Führungswerk- Tipping Point, 132
zeug, 162 Top-down-Ansatz, 296
Selbstkontrollanforderung, 383 Top-Down-Design, 38
Selbstkontrollfähigkeit, 391–393 Top-down- vs. Bottom-up-Ansatz, 303
Selbstnominierung, 318 Topmanagement, 91, 247
Selbststeuerung, 377, 397 Tourismusmarkt, 115
Selbstwirksamkeit, 383 Transformation, 108, 166
Self-Determination-Theory, 388 Transformation im unternehmerischen Sinn,
Sensitivitätsanalyse, 297 109
Sensordaten, 344 Transformationale Führung, 6, 9, 15, 245, 389
Sentimentanalyse, 349 Transformationales Führungsverständnis, 27
Servant Leadership, 389 Dringlichkeitsvermittlung, 28
Simulation des Personalbestands, 294 Transformationsfähigkeit, 291
Sinnerleben am Arbeitsplatz, 197 Transformationspartner, 319
Sinnhaftigkeit, 211 Transformationsprozess, 112
Skills, 162 Transformationsstrategie, 10
Skill- und Kompetenz-Shift, 298 Transformationsursache, 119
Smarte Arbeitsumgebung, 181 Transformationsverlauf, 119
Social-Media-Gesamtstrategie, 146 Transparenz, 55, 291
Soft Skills, 196 Trennungsgebot, 346
Soziale Kategorisierungsperspektive, 240 Typologisierung, 264
Sozialkompetenz, 207
Spaßgesellschaft, 256
Stabilisierung der Selbststeuerungsfähigkeit, U
378 Überlastete Organisation, 39
Start-up, 33 Überlebenssicherung, 15
Stellenbezogene Diagnostik, 318 Unconcious Bias, 85
Stereotyp, 85, 255 Ungleichheit der Geschlechter, 93
Strategic Window of Opportunity, 128 Unternehmensdaten, 344
Strategische Personalplanung, 290, 291, 304 Unternehmenskrise, 110
Strategisches Vorgehen, 96 Unternehmenskultur, 83, 263, 318
Strukturelle Entgrenzung, 172 Unternehmenskultur in Start-ups, 35
Strukturierungsdimension von Personalberei- Unternehmensstrategie, 321
chen, 370 Unternehmerisches Miteinander, 57
Subjektives Alter, 248
Suchende Analyse, 348
Surface Acting, 383 V
Systematisches Change-Management, 147 Vakanzenrisiko, 361
Szenarioplanung, 302 Variety, 341
Väternetzwerk, 94
Vaterrolle, 88
T Velocity, 342
Talent Acquisition, 329 Veränderung, 5, 71
Talent Management, 316 Dynamik der Moderne, 6
Teamaufgabe, 245 Verantwortung, 55
Teambasierte Entscheidungsfindung, 56 Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, 192
412 Stichwortverzeichnis

Versandhandel, 117 Willentliche Selbstkontrolle, 379, 392


Vier-Felder-Matrix, 255 Wirtschaftsdemokratie, 58, 61
Virtuelle Welt, 169 Wissensarbeit, 171
Volatile Arbeitswelt, 197 Wollen, 84
Volatilität, 17, 189, 302 Work Engagement, 388
Volume, 341 Work-Life-Balance, 25, 166, 171, 174, 193,
211
Work-Life-Family-Balance, 264
W
Wandel der Arbeitswelt, 191
War for Digital Talents, 210 Z
War for Talents, 310, 363 Zeitliche Entgrenzung, 172
Web Mining, 349 Ziele, 255
Webcontent, 343, 350 Zielvereinbarung, 319
Wertemuster der Gesellschaft, 189 Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens, 14
Wertschätzung, 95 Zukunftsorientiertes Arbeiten, 195
Wertschöpfungsökologie, 60 Zweckbindung, 346
Wertvorstellung, 255

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