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 HERMANN PAUL.

PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

HERMANN PAUL

PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE

1. Auflage 1880, 2. Auflage 1886, 3. Auflage 1898,

4. Auflage 1909, 5. Auflage 1920.

Vorrede zur zweiten Auflage.

Schon ehe der Druck der ersten Auflage vollendet war, konnte ich nicht darüber im Zweifel sein, dass meine
Erörterungen der Ergänzung dringend bedürftig seien, indem manche wichtige Seiten des Sprachlebens darin nur
flüchtig berührt waren. Ich fasste daher sofort eine solche Ergänzung ins Auge und war unablässig darauf bedacht
alles zusammenzutragen, was mir dazu dienlich schien. Doch aber kam mir die Aufforderung meines Verlegers zur
Herstellung einer zweiten Auflage zu rasch und unerwartet, als dass ich derselben sofort hätte Folge leisten können.
Auch jetzt hätte ich lieber noch gezögert, um manches besser ausreifen zu lassen. Ich musste aber schliesslich doch
dem durch die reichliche Nachfrage nach dem Buche berechtigten Drängen des Verlegers nachgeben.

Auch diese zweite Auflage wird vor den Augen mancher Fachgenossen nicht mehr Gnade finden als die erste. Die
einen werden sie zu allgemein, die andern zu elementar finden. Manche werden etwas Geistreicheres wünschen. Ich
erkläre ein für allemal, dass ich nur für diejenigen schreibe, die mit mir der Überzeugung sind, dass die
Wissenschaft nicht vorwärts gebracht wird durch komplizierte Hypothesen, mögen sie auch mit noch so viel Geist
und Scharfsinn ausgeklügelt sein, sondern durch einfache Grundgedanken, die an sich evident sind, die aber erst
fruchtbar werden, wenn sie zu klarem Bewusstsein gebracht und mit strenger Konsequenz durchgeführt werden.

Ohne erhebliche Veränderungen sind aus der ersten Auflage herübergenommen Kap. 13 (=8), 14 (=7), 21 (=13), 23
(=14), auch 9 (=10) abgesehen von der Weglassung des letzten Abschnittes, dessen Gegenstand eine ausführlichere
Behandlung in Kap. 6 gefunden [IV] hat. Etwas belangreichere Veränderungen oder Zusätze haben erfahren die
Einleitung (= Kap. 1), Kap. 2 (=12), 3 (=3), noch mehr 19 (=9 von S. 160 an), 20 (=11), 10 (= der Hauptmasse von 5
und 6). Zum Teil aus der ersten Auflage herübergenommen, zum Teil neu sind Kap. 1 (=2), 5 (=4) und 11 (=
Stücken von 5 und 6). Ganz neu oder nur kurzen Andeutungen der ersten Auflage entsprechend sind Kap. 4, 6, 7, 8,
12, 15, 16, 17, 18 und 22.

Es war anfänglich meine Absicht noch ein methodologisches Kapitel anzufügen über die Scheidung des
Lautwandels von den durch Rücksicht auf die Funktion bedingten Umgestaltungen der Lautform. Ich möchte
indessen nicht gern das wiederholen, was ich schon in den Beiträgen z. Gesch. d. deutschen Spr. u. Lit. VI, 1ff.
ausgeführt habe. Freilich sehe ich sowohl aus der sprachwissenschaftlichen Praxis als aus den theoretischen
Erörterungen der letzten Jahre, dass die dort gegebenen Auseinandersetzungen wenig Beachtung gefunden haben.
Sie sind namentlich von allen denjenigen ignoriert, welche geleugnet haben, dass in der Methode der
morphologischen Untersuchungen neuerdings ein erheblicher Fortschritt gemacht sei.

Freiburg i. B., Juni 1886.

Vorrede zur dritten Auflage.

Das Werk hat diesmal keine so durchgreifende Umgestaltung erfahren wie in der zweiten Auflage. Wesentlich
verändert und erweitert sind Kap. IV und VIII. Von sonstigen Änderungen und Zusätzen sind die erheblichsten in §§
45, 98, 130, 152 161, 172, 176, 184, 195, 202 zu finden.
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

München, April 1898.

Vorrede zur vierten Auflage.

Von der neuen Auflage wird man wohl vor allem eine Auseinandersetzung mit dem ersten Bande von Wundts
Völkerpsychologie (Leipzig 1900. ²1904) erwarten. Leider kann ich mich diesem Werke gegenüber, so viel
Anregungen es auch im einzelnen bringt, doch in den Hauptpunkten nur ablehnend verhalten. Eine Reihe von
Einwendungen sind gegen dasselbe von Delbrück (Grundfragen der Sprachforschung, Strassburg 1901) und
Sütterlin (Das Wesen der sprachlichen Gebilde, Heidelberg 1902) erhoben worden. Tiefer in den Kern der Sache
dringt meiner Überzeugung nach Wegener in seiner Anzeige der Schrift von Delbrück im Lit. CBl. 1902, Sp. 401,
der ich, von nebensächlichen Punkten abgesehen, durchaus beistimmen muss.

Der Gegensatz zwischen Wundt und mir beruht nicht so sehr darauf, dass ich mich an die Psychologie Herbarts
angelehnt habe (ohne übrigens dessen metaphysischen Standpunkt einzunehmen), während Wundt sein eigenes
System zugrunde legt. Allerdings mag es damit zusammenhängen, dass die Analogie, der ich (wohl in
Übereinstimmung mit allen heutigen Sprachforschern) eine so grosse Bedeutung für die Sprechtätigkeit und die
Sprachentwickelung beigemessen habe, bei Wundt fast gar keine Rolle spielt (vgl. meine Anm. zu S. 116). Aber
eine viel tiefere und breitere Kluft trennt uns, die sich auf keine Weise überbrücken lässt, in Folge der beiderseitigen
Stellung zu der sogenannten Völkerpsychologie.

Wundt stellt, wie schon der Gesamttitel seines grossen Werkes zeigt, die Völkerpsychologie neben die
Individualpsychologie, und zwar alles Ernstes in einem Sinne, wie ich ihn in der Einleitung meines Buches
bekämpft habe (vgl. meine Anm. zu S. 13). Dazu glaubt er sich berechtigt, sobald zu dem seelischen Leben nicht
mehr eine transzendente Trägerin hinzugedacht wird. Die Veränderungen der Sprache erfolgen nach ihm durch
Veränderungen in der Volksseele, nicht durch solche in den Einzelseelen. Das Problem, welches für [VI] mich im
Mittelpunkt der Untersuchung steht, die Frage, wie sich die Wechselwirkung der Individuen unter einander
vollzieht, ist für Wundt überhaupt kein Problem. Er behandelt daher die Sprache immer nur vom Standpunkt des
Sprechenden, nicht von dem des Hörenden (vgl. S. 122). Auf diesem Wege kann meiner Überzeugung nach kein
volles Verständnis der Sprachentwickelung gewonnen werden.

In manchen Besprechungen des Wundtschen Werkes ist die Zuversicht ausgesprochen, dass von demselben eine
fundamentale Umgestaltung der Sprachwissenschaft ausgehen würde. Ich kann diese Erwartung nicht teilen. Wundt
selbst in seiner Verteidigungsschrift gegen Delbrück (Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, Leipzig 1901) S.
8ff. erklärt, dass es ihm nicht sowohl auf eine Verwertung der Psychologie für die Sprachwissenschaft angekommen
sei, als auf eine Verwertung der Sprachwissenschaft für die Psychologie, dass er aus der Betrachtung der Sprache
psychologische Gesetze haben gewinnen wollen. Ich bezweifle, dass dies möglich ist. Gewiss kann der Psychologe
aus der Sprachgeschichte mancherlei Anregung zum Nachdenken schöpfen. Aber jede Veränderung des
Sprachgebrauches, wie sie die Sprachgeschichte zu verzeichnen pflegt, auch die allereinfachste, ist nach der von mir
vertretenen Auffassung schon das Ergebnis mannigfacher Sprech- und Hörbetätigungen vieler Individuen. Nicht
dies Ergebnis ist ein Gegenstand für den Psychologen, sondern die einzelnen Vorgänge, die es schliesslich
herbeiführen. Sprechtätigkeit im weitesten Sinne, auch die Spracherlernung eingeschlossen, ist das Gebiet, dem sich
die psychologische Forschung zuwenden muss. Hierbei aber wird sie sich auf unmittelbare Beobachtung stützen und
bedarf dazu der Sprachgeschichte nicht. Es bleibt dabei: die Psychologie ist ein unentbehrliches Hilfsmittel zum
Verständnis der Sprachentwickelung, aber die Sprachgeschichte kann ihr diesen Dienst nicht vergelten, wenigstens
nicht unmittelbar. Noch weniger kann die Psychologie aus der Betrachtung von Sprachzuständen Nutzen ziehen,
über deren Vorgeschichte wir keine Quellen haben, wie sie aber von Wundt mit Vorliebe herangezogen werden.
Hier kann uns vielmehr erst die anderswoher geschöpfte Einsicht in das Wesen der Sprachentwickelung, also auch
die anderswoher geschöpfte psychologische Erkenntnis dazu verhelfen, Vermutungen über die Entstehung der
betreffenden Zu- [VII] stände zu wagen, die einigen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit machen können. Ich vermisse
denn auch bei Wundt eine Darlegung der psychologischen Erkenntnisse, die er als mit Hilfe der Sprachwissenschaft
gewonnene angesehen wissen will. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass er mit fertigen psychologischen
Anschauungen an die Sprachbetrachtung herangetreten ist. Darin liegt nach meinen obigen Auseinandersetzungen
durchaus kein Vorwurf. Es konnte nicht anders sein.

Von zusammenfassenden Werken über allgemeine Sprachwissenschaft, die seit der dritten Auflage erschienen sind,
wären noch zu erwähnen Jac. van Ginneken, Grondbeginselen der Psychologische Taalwetenschap, Lier 1904-06
(auch in französischer Bearbeitung: Principes dc linguistique psychologique, Paris 1908) und A. Marty,
Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, erster Band, Halle 1908. Der
Verfasser des ersteren Werkes zeigt eine sehr umfassende Beherrschung der psychologischen und

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

sprachwissenschaftlichen Literatur und enthält manche eigene gute Bemerkungen. Ich kann ihm aber nicht folgen in
dem Bestreben die Sprachentwickelung aus wenigen allgemeinen Grundsätzen restlos abzuleiten. Martys Werk hält
sich in den Grenzen logischpsychologischer Untersuchung, ohne in das dem Sprachforscher eigentümliche Gebiet
überzugreifen. Es liegt mir nichts ferner, als ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Aber es berührt sich deshalb
wenig mit meinen überall an die sprachliche Einzelforschung anknüpfenden Untersuchungen. O. Dittrich ist im
ersten Bande seiner Grundzüge der Sprachpsychologie (Halle 1903) noch nicht über die Einleitung
hinausgekommen (vgl. S. 21). Eingehende prinzipielle Erörterungen enthält das noch unvollendete Werk Vårt Språk
von Ad. Noreen.

Ausser den Auseinandersetzungen mit Wundt, die meist in Anmerkungen gegeben sind, habe ich eine Anzahl von
Veränderungen und Zusätzen angebracht und neuere Literatur eingetragen. Bedeutendere Änderungen des Textes
sind vorgenommen auf S. 64-66, 121-123, 179, 181-182, 401-402.

Die Anwendbarkeit meiner Prinzipien auf nichtindogermanische Sprachen ist mir besonders durch das vortreffliche
Werk von Simonyi [VIII] über die ungarische Sprache bestätigt, sowie auf beschränkterem Gebiete schon früher
durch Reckendorfs Behandlung der arabischen Syntax.

Auf vielfältig geäusserten Wunsch ist diesmal ein Register beigegeben, das von meinem Neffen Dr. Paul Gereke
ausgearbeitet ist.

München, Januar 1909.

Vorrede zur fünften Auflage.

Die Änderungen dieser Ausgabe beschränken sich auf kleine Zusätze und Berichtigungen. Da ich seit Jahren
ausserstande bin, Gedrucktes oder Geschriebenes zu lesen, bedurfte ich bei der Revision fremder Hilfe, die mir
durch Fräulein Dr. Annemarie Deditius und Herrn Dr. Rudolf Blümel geleistet wurde.

München, Januar 1920.

H. Paul.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

EINLEITUNG.

Die Sprache ist wie jedes Erzeugnis menschlicher Kultur ein Gegenstand der geschichtlichen Betrachtung; aber wie
jedem Zweige der Geschichtswissenschaft so muss auch der Sprachgeschichte eine Wissenschaft zur Seite stehen,
welche sich mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden Objektes beschäftigt,
welche die in allem Wechsel gleichmässig vorhandenen Faktoren nach ihrer Natur und Wirksamkeit
untersucht. Es fehlt für diese Wissenschaft eine allgemein gültige und passende Bezeichnung. Unter
Sprachphilosophie versteht man in der Regel doch etwas anderes. Und ausserdem durfte es vielleicht aus einem
Grunde geraten sein diesen Ausdruck lieber zu vermeiden. Unser unphilosophisches Zeitalter wittert darunter leicht
metaphysische Spekulationen, von denen die historische Sprachforschung keine Notiz zu nehmen brauche. In
Wahrheit aber ist das, was wir im Sinne haben, nicht mehr und nicht minder Philosophie als etwa die Physik oder
die Physiologie. Am allerwenigsten darf man diesem allgemeinen Teile der Sprachwissenschaft den historischen als
den empirischen gegenüberstellen. Der eine ist gerade so empirisch wie der andere.

Nur selten genügt es zum Verständnis der geschichtlichen Entwickelung eines Gegenstandes die Gesetze einer
einzelnen einfachen Experimentalwissenschaft zu kennen; vielmehr liegt es in der Natur aller geschichtlichen
Bewegung, zumal wo es sich um irgend einen Zweig menschlicher Kultur handelt, dass dabei sehr verschiedenartige
Kräfte, deren Wesen zu ergründen die Aufgabe sehr verschiedener Wissenschaften ist, gleichzeitig in stätiger
Wechselwirkung ihr Spiel treiben. Es ist somit natürlich, dass eine solche allgemeine Wissenschaft, wie sie einer
jeden historischen Wissenschaft als genaues Pendant gegenübersteht, nicht ein derartig abgeschlossenes Ganze
darstellen kann, wie die sogenannten exakten Naturwissenschaften, die Mathematik oder die Psychologie. Vielmehr
bildet sie ein Konglomerat, das aus verschiedenen reinen Gesetzeswissenschaften oder in der Regel aus [Paul,
Prinzipien.] [2 Einleitung.] Segmenten solcher Wissenschaften zusammengesetzt ist. Man wird vielleicht Bedenken
tragen einer solchen Zusammenstellung, die immer den Charakter des Zufälligen an sich trägt, den Namen einer
Wissenschaft beizulegen. Aber mag man darüber denken, wie man will, das geschichtliche Studium verlangt nun
einmal die vereinigte Beschäftigung mit so disparaten Elementen als notwendiges Hilfsmittel, wo nicht selbständige
Forschung, so doch Aneignung der von andern gewonnenen Resultate. Man würde aber auch sehr irren, wenn man
meinte, dass mit der einfachen Zusammensetzung von Stücken verschiedener Wissenschaften schon diejenige Art
der Wissenschaft gegeben sei, die wir hier im Auge haben. Nein, es bleiben ihr noch Aufgaben, um welche sich die
Gesetzeswissenschaften, die sie als Hilfsmittel benutzt, nicht bekümmern. Diese vergleichen ja die einzelnen
Vorgänge unbekümmert um ihr zeitliches Verhältnis zu einander lediglich aus dem Gesichtspunkte die
Übereinstimmungen und Abweichungen aufzudecken und mit Hilfe davon das in allem Wechsel der Erscheinungen
ewig sich gleich bleibende zu finden. Der Begriff der Entwickelung ist ihnen völlig fremd, ja er scheint mit ihren
Prinzipien unvereinbar, und sie stehen daher in schroffem Gegensatze zu den Geschichtswissenschaften. Diesen
Gegensatz zu vermitteln ist eine Betrachtungsweise erforderlich, die mit mehr Recht den Namen einer
Geschichtsphilosophie verdienen würde, als das, was man gewöhnlich damit bezeichnet. Wir wollen aber auch hier
das Wort Philosophie lieber vermeiden und uns der Bezeichnung Prinzipienwissenschaft bedienen. Ihr ist das
schwierige Problem gestellt: wie ist unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse doch eine
geschichtliche Entwickelung möglich, ein Fortgang von den einfachsten und primitivsten zu den kompliziertesten
Gebilden? Ihr Verfahren unterscheidet sich noch in einer andern Hinsicht von dem der Gesetzeswissenschaften,
worauf ich schon oben hindeutete. Während diese naturgemäss immer die Wirkung jeder einzelnen Kraft aus dem
allgemeinen Getriebe zu isolieren streben, um sie für sich in ihrer reinen Natur zu erkennen, und dann durch
Aneinanderreihen des Gleichartigen ein System aufbauen, so hat im Gegenteil die geschichtliche Prinzipienlehre
gerade das Ineinandergreifen der einzelnen Kräfte ins Auge zu fassen, zu untersuchen, wie auch die
verschiedenartigsten, um deren Verhältnis zu einander sich die Gesetzeswissenschaften so wenig als möglich
kümmern, durch stetige Wechselwirkung einem gemeinsamen Ziele zusteuern können. Selbstverständlich muss
man, um das Ineinandergreifen des Mannigfaltigen zu verstehen, möglichst klar darüber sein, welche einzelnen
Kräfte dabei tätig sind, und welches die Natur ihrer Wirkungen ist. Dem Zusammenfassen muss das Isolieren
vorausgegangen sein. Denn so lange man noch mit unaufgelösten [3 Begriff der Prinzipienwissenschaft.]
Komplikationen rechnet, ist man noch nicht zu einer wissenschaftlichen Verarbeitung des Stoffes durchgedrungen.
Es ist somit klar, dass die Prinzipienwissenschaft in unserm Sinne zwar auf der Basis der experimentellen
Gesetzeswissenschaften (wozu ich auch die Psychologie rechne) ruht, aber doch auch ein gewichtiges Mehr enthält,
was uns eben berechtigt ihr eine selbständige Stellung neben jenen anzuweisen.

Diese grosse Wissenschaft teilt sich in so viele Zweige, als es Zweige der Geschichte gibt, Geschichte hier im
weitesten Sinne genommen und nicht auf die Entwickelung des Menschengeschlechtes beschränkt. Es ist von
vornherein zu vermuten, dass es gewisse allgemeine Grundbedingungen geben wird, welche für jede Art der
geschichtlichen Entwickelung die notwendige Unterlage bilden; noch sicherer aber ist, dass durch die besondere
Natur eines jeden Objektes seine Entwickelung in besonderer Weise bedingt sein muss. Wer es unternimmt die

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Prinzipien irgend einer einzelnen geschichtlichen Disziplin aufzustellen, der muss auf die übrigen, zumal die
nächstverwandten Zweige der Geschichtswissenschaft beständige Rücksicht nehmen, um so die allgemeinen
leitenden Gesichtspunkte zu erfassen und nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Aber er muss sich auf der andern
Seite davor hüten sich in blosse Allgemeinheiten zu verirren und darüber die genaue Anpassung an den speziellen
Fall zu versäumen, oder die auf andern Gebieten gewonnenen Resultate in bildlicher Anwendung zu übertragen,
wodurch die eigentlich zu ergründenden realen Verhältnisse nur verdeckt werden.

Erst durch die Begründung solcher Prinzipienwissenschaften erhält die spezielle Geschichtsforschung ihren rechten
Wert. Erst dadurch erhebt sie sich über die Aneinanderreihung scheinbar zufälliger Daten und nähert sich in Bezug
auf die allgemeingültige Bedeutung ihrer Resultate den Gesetzeswissenschaften, die ihr gar zu gern die
Ebenbürtigkeit streitig machen möchten. Wenn so die Prinzipienwissenschaft als das höchste Ziel erscheint, auf
welches alle Anstrengungen der Spezialwissenschaft gerichtet sind, so ist auf der andern Seite wieder die erstere die
unentbehrliche Leiterin der letzteren, ohne welche sie mit Sicherheit keinen Schritt tun kann, der über das einfach
Gegebene hinausgeht, welches doch niemals anders vorliegt als einerseits fragmentarisch, anderseits in
Komplikationen, die erst gelöst werden müssen. Die Aufhellung der Bedingungen des geschichtlichen Werdens
liefert neben der allgemeinen Logik zugleich die Grundlage für die Methodenlehre, welche bei der
Feststellung jedes einzelnen Faktums zu befolgen ist.

§ 2. Man hat sich bisher keineswegs auf allen Gebieten der historischen Forschung mit gleichem Ernst und gleicher
Gründlichkeit [4 Einleitung.] um die Prinzipienfragen bemüht. Für die historischen Zweige der Naturwissenschaft
ist dies in viel höherem Masse geschehen als für die Kulturgeschichte. Ursache ist einerseits, dass sich bei der
letzteren viel grössere Schwierigkeiten in den Weg stellen. Sie hat es im allgemeinen mit viel komplizierteren
Faktoren zu tun, deren Gewirr, so lange es nicht aufgelöst ist, eine exakte Erkenntnis des Kausalzusammenhangs
unmöglich macht. Dazu kommt, dass ihre wichtigste Unterlage, die experimentelle Psychologie, eine Wissenschaft
von jungem Datum ist, die erst allmählich in nähere Beziehung zur Geschichte gesetzt werden muss. Anderseits aber
ist in demselben Masse, wie die Schwierigkeit eine grössere, das Bedürfnis ein geringeres oder mindestens weniger
fühlbares gewesen. Für die Geschichte des Menschengeschlechts haben immer von gleichzeitigen Zeugen
herstammende, wenn auch vielleicht erst mannigfach vermittelte Berichte über die Tatsachen als eigentliche Quelle
gegolten und erst in zweiter Linie Denkmäler, Produkte der menschlichen Kultur, die annähernd die Gestalt bewahrt
haben, welche ihnen diese gegeben hat. Ja man spricht von einer historischen und einer prähistorischen Zeit und
bestimmt die Grenze durch den Beginn der historischen Überlieferung. Für die erstere ist daher das Bild einer
geschichtlichen Entwickelung bereits gegeben, so entstellt es auch sein mag, und es ist leicht begreiflich, wenn die
Wissenschaft mit einer kritischen Reinigung dieses Bildes sich genug getan zu haben glaubt und sogar geflissentlich
alle darüber hinaus gehende Spekulation von sich abweist. Ganz anders verhält es sich mit der prähistorischen
Periode der menschlichen Kultur und gar mit der Entwickelungsgeschichte der organischen und anorganischen
Natur, die in unendlich viel ferner liegende Zeiten zurückgreift. Hier ist auch kaum das geringste geschichtliche
Element als solches gegeben. Alle Versuche einer geschichtlichen Erfassung bauen sich, abgesehen von dem
Wenigen, was von den Beobachtungen früherer Zeiten überliefert ist, lediglich aus Rückschlüssen auf. Und es ist
überhaupt gar kein Resultat zu gewinnen ohne Erledigung der prinzipiellen Fragen, ohne Feststellung der
allgemeinen Bedingungen des geschichtlichen Werdens. Diese prinzipiellen Fragen haben daher immer im
Mittelpunkte der Untersuchung gestanden, um sie hat sich immer der Kampf der Meinungen gedreht. Gegenwärtig
ist es das Gebiet der organischen Natur auf welchem er am lebhaftesten geführt wird, und es muss anerkannt
werden, dass hier die für das Verständnis aller geschichtlichen Entwickelung, auch der des Menschengeschlechtes
fruchtbarsten Gedanken zuerst zu einer gewissen Klarheit gediehen sind.

Die Tendenz der Wissenschaft geht jetzt augenscheinlich dahin diese spekulative Betrachtungsweise auch auf die
Kulturgeschichte aus- [5 Wert der Prinzipienwissenschaft.] zudehnen, und wir sind überzeugt, dass diese Tendenz
mehr und mehr durchdringen wird trotz allem aktiven und passiven Widerstande, der dagegen geleistet wird. Dass
eine solche Behandlungsweise für die Kulturwissenschaft nicht gleich unentbehrliches Bedürfnis ist wie für die
Naturwissenschaft, und dass man von ihr für die erstere nicht gleich weit gehende Erfolge erwarten darf wie für die
letztere, haben wir ja bereitwillig zugegeben. Aber damit sind wir nicht der Verpflichtung enthoben genau zu
prüfen, wie weit wir gelangen können, und selbst das eventuelle negative Resultat dieser Prüfung, die genaue
Fixierung der Schranken unserer Erkenntnis, ist unter Umständen von grossem Werte. Wir haben aber auch noch gar
keine Ursache daran zu verzweifeln, dass sich nicht wenigstens für gewisse Gebiete auch bedeutende positive
Resultate gewinnen liessen. Am wenigsten aber darf man den methodologischen Gewinn geringschätzen, der aus
einer Klarlegung der Prinzipienfragen erwächst. Man befindet sich in einer Selbsttäuschung, wenn man meint das
einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können. Man spekuliert eben nur
unbewusst, und es ist einem glücklichen Instinkte zu verdanken, wenn das Richtige getroffen wird. Wir dürfen wohl
behaupten, dass bisher auch die gangbaren Methoden der historischen Forschung mehr durch Instinkt gefunden sind
als durch eine auf das innerste Wesen der Dinge eingehende allseitige Reflexion. Und die natürliche Folge davon ist,

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dass eine Menge Willkürlichkeiten mit unterlaufen, woraus endloser Streit der Meinungen und Schulen entsteht.
Hieraus gibt es nur einen Ausweg: man muss mit allem Ernst die Zurückführung dieser Methoden auf die ersten
Grundprinzipien in Angriff nehmen und alles daraus beseitigen, was sich nicht aus diesen ableiten lässt. Diese
Prinzipien aber ergeben sich, soweit sie nicht rein logischer Natur sind, eben aus der Untersuchung des Wesens der
historischen Entwickelung.

§ 3. Es gibt keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwickelung mit solcher Exaktheit
erkennen lassen als bei der Sprache, und daher keine Kulturwissenschaft, deren Methode zu solchem Grade der
Vollkommenheit gebracht werden kann wie die der Sprachwissenschaft. Keine andere hat bisher so weit über die
Grenzen der Überlieferung hinausgreifen können, keine andere ist in dem Masse spekulativ und konstruktiv
verfahren. Diese Eigentümlichkeit ist es hauptsächlich, wodurch sie als nähere Verwandte der historischen
Naturwissenschaften erscheint, was zu der Verkehrtheit verleitet hat sie aus dem Kreise der Kulturwissenschaften
ausschliessen zu wollen. Trotz dieser Stellung, welche die Sprachwissenschaft schon seit ihrer Begründung
einnahm, gehörte noch viel dazu ihre Methode allmählich [6 Einleitung.] bis zu demjenigen Grade der
Vollkommenheit auszubilden, dessen sie fähig ist. Besonders seit dem Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts
suchte sich eine Richtung Bahn zu brechen, die auf eine tiefgreifende Umgestaltung der Methode hindrängte. Bei
dem Streite, der sich darüber entspann, trat deutlich zu Tage, wie gross noch bei vielen Sprachforschern die
Unklarheit über die Elemente ihrer Wissenschaft war. Eben dieser Streit hat auch die nächste Veranlassung zur
Entstehung dieser Abhandlung gegeben. Sie wollte ihr möglichstes dazu beitragen eine Klärung der Anschauungen
herbeizuführen und eine Verständigung wenigstens unter allen denjenigen zu erzielen, welche einen offenen Sinn
für die Wahrheit mitbringen. Es war zu diesem Zwecke erforderlich, möglichst allseitig die Bedingungen des
Sprachlebens darzulegen und somit überhaupt die Grundlinien für eine Theorie der Sprachentwickelung zu ziehen.

§ 4. Wir scheiden die historischen Wissenschaften im weiteren Sinne in die beiden Hauptgruppen: historische
Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften. Als das charakteristische Kennzeichen der Kultur müssen wir
die Betätigung psychischer Faktoren bezeichnen. Dies scheint mir die einzig mögliche exakte Abgrenzung des
Gebietes gegen die Objekte der reinen Naturwissenschaft zu sein. Demnach müssen wir allerdings auch eine
tierische Kultur anerkennen, die Entwickelungsgeschichte der Kunsttriebe und der gesellschaftlichen Organisation
bei den Tieren zu den Kulturwissenschaften rechnen. Für die richtige Beurteilung dieser Verhältnisse dürfte das nur
förderlich sein.

Das psychische Element ist der wesentlichste Faktor in aller Kulturbewegung, um den sich alles dreht, und
die Psychologie ist daher die vornehmste Basis aller in einem höheren Sinne gefassten Kulturwissenschaft.
Das Psychische ist darum aber nicht der einzige Faktor; es gibt keine Kultur auf rein psychischer Unterlage,
und es ist daher mindestens sehr ungenau die Kulturwissenschaften als Geisteswissenschaften zu bezeichnen. In
Wahrheit gibt es nur éine reine Geisteswissenschaft, das ist die Psychologie als Gesetzeswissenschaft. Sowie wir das
Gebiet der historischen Entwickelung betreten, haben wir es neben den psychischen mit physischen Kräften zu tun.
Der menschliche Geist muss immer mit dem menschlichen Leibe und der umgebenden Natur zusammenwirken, um
irgend ein Kulturprodukt hervorzubringen, und die Beschaffenheit desselben, die Art, wie es zu stande kommt,
hängt eben so wohl von physischen als von psychischen Bedingungen ab; die einen wie die andern zu kennen ist
notwendig für ein vollkommenes Verständnis des geschichtlichen Werdens. Es bedarf daher neben der Psychologie
auch einer Kenntnis der Gesetze, nach denen sich die [7 Aufgaben der Prinzipienlehre.] physischen Faktoren der
Kultur bewegen. Auch die Naturwissenschaften und die Mathematik sind eine notwendige Basis der
Kulturwissenschaften. Wenn uns das im allgemeinen nicht zum Bewusstsein kommt, so liegt das daran, dass wir uns
gemeiniglich mit der unwissenschaftlichen Beobachtung des täglichen Lebens begnügen und damit auch bei dem,
was man gewöhnlich unter Geschichte versteht, leidlich auskommen. Ist es doch dabei mit dem Psychischen auch
nicht anders und namentlich bis auf die neuere Zeit nicht anders gewesen. Aber undenkbar ist es, dass man ohne
eine Summe von Erfahrungen über die physische Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vorganges irgend ein
Ereignis der Geschichte zu verstehen oder irgend welche Art von historischer Kritik zu üben im stande wäre. Es
ergibt sich demnach als eine Hauptaufgabe für die Prinzipienlehre der Kulturwissenschaft, die allgemeinen
Bedingungen darzulegen, unter denen die psychischen und physischen Faktoren, ihren eigenartigen Gesetzen
folgend, dazu gelangen zu einem gemeinsamen Zwecke zusammenzuwirken.

§ 5. Etwas anders stellt sich die Aufgabe der Prinzipienlehre von folgendem Gesichtspunkte aus dar. Die
Kulturwissenschaft ist immer Gesellschaftswissenschaft. Erst Gesellschaft ermöglicht die Kultur, erst
Gesellschaft macht den Menschen zu einem geschichtlichen Wesen. Gewiss hat auch eine ganz isolierte
Menschenseele ihre Entwickelungsgeschichte, auch rücksichtlich des Verhältnisses zu ihrem Leibe und ihrer
Umgebung, aber selbst die begabteste vermöchte es nur zu einer sehr primitiven Ausbildung zu bringen, die mit dem
Tode abgeschnitten wäre. Erst durch die Übertragung dessen, was ein Individuum gewonnen hat, auf andere
Individuen und durch das Zusammenwirken mehrerer Individuen zu dem gleichen Zwecke wird ein Wachstum über

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diese engen Schranken hinaus ermöglicht. Auf das Prinzip der Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung ist nicht nur
die wirtschaftliche, sondern jede Art von Kultur basiert. Die eigentümlichste Aufgabe, welche der
kulturwissenschaftlichen Prinzipienlehre zufällt und wodurch sie ihre Selbständigkeit gegenüber den grundlegenden
Gesetzeswissenschaften behauptet, dürfte demnach darin bestehen, dass sie zu zeigen hat, wie die Wechselwirkung
der Individuen auf einander vor sich geht, wie sich der einzelne zur Gesamtheit verhält, empfangend und gebend,
bestimmt und bestimmend, wie die jüngere Generation die Erbschaft der älteren antritt.

Nach dieser Seite hin kommt übrigens der Kulturgeschichte schon die Entwicklungsgeschichte der organischen
Natur sehr nahe. Jeder höhere Organismus kommt durch Assoziation einer Menge von Zellen zu stande, die nach
dem Prinzipe der Arbeitsteilung zusammenwirken [8 Einleitung.] und diesem Prinzipe gemäss in ihrer
Konfiguration differenziert sind. Auch schon innerhalb der Einzelzelle, des elementarsten organischen Gebildes, ist
dies Prinzip wirksam, und durch dasselbe Erhaltung der Form im Wechsel des Stoffes möglich. Jeder Organismus
geht früher oder später zu Grunde, kann aber Ablösungen aus seinem eigenen Wesen hinterlassen, in denen das
formative Prinzip, nach welchem er selbst gebildet war, lebendig fortwirkt, und dem jeder Fortschritt, welcher ihm
in seiner eigenen Bildung gelungen ist, zu gute kommt, falls nicht störende Einflüsse von aussen dazwischen treten.

§ 6. Es durfte scheinen, als ob unsere Prinzipienlehre der Gesellschaftswissenschaft ungefähr das gleiche sei wie
das, was Lazarus und Steinthal Völkerpsychologie nennen, und was sie in ihrer Zeitschrift zu vertreten suchen.
Indessen fehlt viel, dass beides sich deckte. Aus unsern bisherigen Erörterungen geht schon hervor, dass unsere
Wissenschaft sich sehr viel mit Nichtpsychologischem zu befassen hat. Wir können die Einwirkungen, welche der
einzelne von der Gesellschaft erfährt, und die er seinerseits in Verbindung mit den andern ausübt, unter vier
Hauptkategorien bringen. Erstens: es werden in ihm psychische Gebilde, Vorstellungskomplexe erzeugt, zu denen
er, ohne dass ihm von den andern vorgearbeitet wäre, niemals oder nur sehr viel langsamer gelangt wäre. Zweitens:
er lernt mit den verschiedenen Teilen seines Leibes gewisse zweckmässige Bewegungen ausführen, die eventuell
zur Bewegung von fremden Körpern, Werkzeugen dienen; auch von diesen gilt, dass er sie ohne das Vorbild anderer
vielleicht gar nicht, vielleicht langsamer gelernt hätte. Wir befinden uns also hier auf physiologischem Gebiete, aber
immer zugleich auf psychologischem. Die Bewegung an sich ist physiologisch, aber die Erlangung des Vermögens
zu willkürlicher Regelung der Bewegung, worauf es hier eben ankommt, beruht auf der Mitwirkung psychischer
Faktoren. Drittens: es werden mit Hilfe des menschlichen Leibes bearbeitete oder auch nur von dem Orte ihrer
Entstehung zu irgend einem Dienste verrückte Naturgegenstände, die dadurch zu Werkzeugen oder Kapitalien
werden, von einem Individuum auf das andere, von der älteren Generation auf die jüngere übertragen, und es findet
eine gemeinsame Beteiligung verschiedener Individuen bei der Bearbeitung oder Verrückung dieser Gegenstände
statt. Viertens: die Individuen üben auf einander einen physischen Zwang aus, der allerdings eben so wohl zum
Nachteil wie zum Vorteil des Fortschrittes sein kann aber vom Wesen der Kultur nicht zu trennen ist.

Von diesen vier Kategorien ist es jedenfalls nur die erste, mit welcher sich die Völkerpsychologie im Sinne von
Lazarus-Steinthal beschäftigt. Es könnte sich also damit auch nur ungefähr derjenige [9 Kritik des Begriffes
»Völkerpsychologie«.] Teil unserer Prinzipienlehre decken, der sich auf diese erste Kategorie bezieht. Aber
abgesehen davon, dass dieselbe nicht bloss isoliert von den übrigen betrachtet werden darf, so bleibt auch ausserdem
das, was ich im Sinne habe, sehr verschieden von dem, was Lazarus und Steinthal in der Einleitung zu ihrer
Zeitschrift (Bd. I, S. 1-73) als die Aufgabe der Völkerpsychologie bezeichnen.

So sehr ich das Verdienst beider Männer um die Psychologie und speziell um die psychologische Betrachtungsweise
der Geschichte anerkennen muss, so scheinen mir doch die in dieser Einleitung aufgestellten Begriffsbestimmungen
nicht haltbar, zum Teil verwirrend und die realen Verhältnisse verdeckend. Der Grundgedanke, welcher sich durch
das Ganze hindurchzieht, ist der, dass die Völkerpsychologie sich gerade so teils zu den einzelnen Völkern, teils zu
der Menschheit als Ganzes verhalte wie das, was man schlechthin Psychologie nennt, zum einzelnen Menschen.
Eben dieser Grundgedanke beruht meiner Überzeugung nach auf mehrfacher logischer Unterschiebung. Und die
Ursache dieser Unterschiebung glaube ich darin sehen zu müssen, dass der fundamentale Unterschied zwischen
Gesetzeswissenschaft und Geschichtswissenschaft nicht festgehalten[1]) wird, sondern beides immer unsicher
ineinander überschwankt. [10 Einleitung.]

Der Begriff der Völkerpsychologie selbst schwankt zwischen zwei wesentlich verschiedenen Auffassungen.
Einerseits wird sie als die Lehre von den allgemeinen Bedingungen des geistigen Lebens in der Gesellschaft gefasst,
anderseits als Charakteristik der geistigen Eigentümlichkeit der verschiedenen Völker und Untersuchen der
Ursachen, aus denen diese Eigentümlichkeit entsprungen ist. S. 25ff. werden diese beiden verschiedenen
Auffassungen der Wissenschaft als zwei Teile der Gesamtwissenschaft hingestellt, von denen der erste die
synthetische Grundlage des zweiten bildet. Nach keiner von beiden Auffassungen steht die Völkerpsychologie in
dem angenommenen Verhältnis zur Individualpsychologie.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Halten wir uns zunächst an die zweite, so kann der Charakteristik der verschiedenen Völker doch nur die
Charakteristik verschiedener Individuen entsprechen. Das nennt man aber nicht Psychologie. Die Psychologie hat es
niemals mit der konkreten Gestaltung einer einzelnen Menschenseele, sondern nur mit dem allgemeinen Wesen der
seelischen Vorgänge zu tun. Was berechtigt uns daher den Namen dieser Wissenschaft für die Beschreibung einer
konkreten Gestaltung der geistigen Eigentümlichkeit eines Volkes zu gebrauchen? Was die Verfasser im Sinne
haben, ist nichts anderes als ein Teil, und zwar der wichtigste, aber eigentlich nicht isolierbare Teil dessen, was man
sonst Kulturgeschichte oder Philologie genannt hat, nur auf psychologische Grundlage gestellt, wie sie heutzutage
für alle kulturgeschichtliche Forschung verlangt werden muss. Es ist aber keine Gesetzeswissenschaft wie die
Psychologie und keine Prinzipienlehre oder, um den Ausdruck der Verfasser zu gebrauchen, keine synthetische
Grundlage der Kulturgeschichte.

Die unrichtige Parallelisierung hat noch zu weiteren bedenklichen Konsequenzen geführt. Es handelt sich nach den
Verfassern in der Völkerpsychologie `um den Geist der Gesamtheit, der noch verschieden ist von allen zu derselben
gehörenden einzelnen Geistern, und der sie alle beherrscht' (S. 5). Weiter heisst es (S. 11): Die Verhältnisse, welche
die Völkerpsychologie betrachtet, liegen teils im Volksgeiste, als einer Einheit gedacht, zwischen den Elementen
desselben (wie z. B. das Verhältnis zwischen Religion und Kunst, zwischen Staat und Sittlichkeit, [11 Kritik des
Begriffes »Völkerpsychologie«.] Sprache und Intelligenz u. dergl. m.), teils zwischen den Einzelgeistern, die das
Volk bilden. Es treten also hier die selben Grundprozesse hervor, wie in der individuellen Psychologie, nur
komplizierter oder ausgedehnter'. Das heisst durch Hypostasierung einer Reihe von Abstraktionen das wahre Wesen
der Vorgänge verdecken. Alle psychischen Prozesse vollziehen sich in den Einzelgeistern und nirgends sonst.
Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion etc. haben eine konkrete Existenz, und
folglich kann auch nichts in ihnen und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen Abstraktionen. Denn `weg
mit allen Abstraktionen' muss für uns das Losungswort sein, wenn wir irgendwo die Faktoren des wirklichen
Geschehens zu bestimmen versuchen wollen.[2]) Ich will den Verfassern keinen grossen Vorwurf machen wegen
eines Fehlers, dem man in der Wissenschaft noch auf Schritt und Tritt begegnet, und vor dem sich der umsichtigste
und am tiefsten eindringende nicht immer bewahrt. Mancher Forscher, der sich auf der Höhe des neunzehnten
Jahrhunderts fühlt, lächelt wohl vornehm über den Streit der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten und
begreift nicht, wie man hat dazu kommen können, die Abstraktionen des menschlichen Verstandes für realiter
existierende Dinge zu erklären. Aber die unbewussten Realisten sind bei uns noch lange nicht ausgestorben, nicht
einmal unter den Naturforschern. Und vollends unter den Kulturforschern treiben sie ihr Wesen recht munter fort,
und darunter namentlich diejenige Klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun wähnt, wenn sie nur in
Darwinistischen Gleichnissen redet. Doch ganz abgesehen von diesem Unfug, die Zeiten der Scholastik, ja sogar die
der Mythologie liegen noch lange nicht soweit hinter uns, als man wohl meint, unser Sinn ist noch gar zu sehr in den
Banden dieser beiden befangen, weil sie unsere Sprache beherrschen, die gar nicht von ihnen loskommen kann. Wer
nicht die nötige Gedankenanstrengung anwendet, um sich von der Herrschaft des Wortes zu befreien, wird sich
niemals zu einer unbefangenen Anschauung der Dinge aufschwingen. Die Psychologie ward zur Wissenschaft in
dem Augenblicke, wo sie die Abstraktionen der Seelenvermögen nicht mehr als etwas Reelles anerkannte. So wird
es vielleicht noch auf manchen Gebieten gelingen [12 Einleitung.] Bedeutendes zu gewinnen lediglich durch
Beseitigung der zu Realitäten gestempelten Abstraktionen, die sich störend zwischen das Auge des Beobachters und
die konkreten Erscheinungen stellen.
§ 7. Diese Bemerkungen bitte ich nicht als eine blosse Abschweifung zu betrachten.[3]) Sie deuten auf das, was wir
selbst im folgenden rücksichtlich der Sprachentwickelung zu beobachten haben, was dagegen die Darstellung von
Lazarus-Steinthal gar nicht als etwas zu Leistendes erkennen lässt. Wir gelangen von hier aus auch zur Kritik der
ersten Auffassung des Begriffs Völkerpsychologie.

Da wir natürlich auch hier nicht mit einem Gesamtgeiste und Elementen dieses Gcsamtgeistes rechnen dürfen, so
kann es sich in der `Völkerpsychologie' jedenfalls nur um Verhältnisse zwischen den Einzelgeistern handeln. Aber
auch für die Wechselwirkung dieser ist die Behauptung, dass dabei dieselben Grundprozesse hervortreten wie in der
individuellen Psychologie, nur in einem ganz bestimmten Verständnis zulässig, worüber es einer näheren Erklärung
bedürfte. Jedenfalls verhält es sich nicht so, dass die Vorstellungen, wie sie innerhalb einer Seele aufeinander
wirken, so auch über die Schranken der Einzelseele hinaus auf die Vorstellungen anderer Seelen wirkten.
Ebensowenig wirken etwa die gesamten Vorstellungskomplexe der einzelnen Seelen in einer analogen Weise
aufeinander wie innerhalb der Seele des Individuums die einzelnen Vorstellungen. Vielmehr ist es eine Tatsache
von fundamentaler Bedeutung, die wir niemals aus dem Auge verlieren dürfen, dass alle rein psychische
Wechselwirkung sich nur innerhalb der Einzelseele vollzieht. Aller Verkehr der Seelen untereinander ist nur
ein indirekter auf physischem Wege vermittelter. Es bleibt also dabei, es [13 Wechselwirkung zwischen den
Seelen der Individuen.] kann nur eine individuelle Psychologie geben, der man keine Völkerpsychologie oder wie
man es sonst nennen mag gegenüber stellen darf.

8
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Man fügt nun aber wohl in der Darstellung der individuellen Psychologie dem allgemeinen Teile, der die
Grundprozesse behandelt, einen zweiten speziellen Teil hinzu, welcher die Entwickelungsgeschichte der
komplizierten Vorstellungsmassen behandelt, die wir erfahrungsmässig in uns selbst und den von uns zu
beobachtenden Individuen in wesentlich übereinstimmender Weise finden. Dagegen ist nichts einzuwenden, so
lange man sich nur des fundamentalen Gegensatzes bewusst bleibt, der zwischen beiden Teilen besteht. Der zweite
ist nicht mehr Gesetzeswissenschaft, sondern Geschichte. Es ist leicht zu sehen, dass diese komplizierten Gebilde
nur dadurch haben entstehen können, dass das Individuum mit einer Reihe von andern Individuen in Gesellschaft
lebt. Und um tiefer in das Geheimnis ihrer Entstehung einzudringen, muss man sich die verschiedenen Stadien,
welche sie nach und nach in den früheren Individuen durchlaufen haben, zu veranschaulichen suchen. Von hier aus
sind offenbar Lazarus und Steinthal zu dem Begriff der Völkerpsychologie gelangt. Aber ebensowenig wie eine
historische Darstellung, welche schildert, wie diese Entwickelung wirklich vor sich gegangen ist, mit Recht
Psychologie genannt wird, ebensowenig wird es die Prinzipienwissenschaft, welche zeigt, wie im allgemeinen eine
derartige Entwickelung zu stande kommen kann. Was an dieser Entwickelung psychisch ist, vollzieht sich innerhalb
der Einzelseele nach den allgemeinen Gesetzen der individuellen Psychologie. Alles das aber, wodurch die Wirkung
des einen Individuums auf das andere ermöglicht wird, ist nicht psychisch.[4]) [14 Einleitung.]

Wenn ich von den verschiedenen Stadien in der Entwickelung der psychischen Gebilde gesprochen habe, so habe
ich mich der gewöhnlichen bildlichen Ausdrucksweise bedient. Nach unsern bisherigen Auseinandersetzungen ist
nicht daran zu denken, dass ein Gebilde, wie es sich in der einen Seele gestaltet hat, wirklich die reale Unterlage
sein kann, aus der ein Gebilde der andern entspringt. Vielmehr muss jede Seele ganz von vorn anfangen. Man kann
nicht schon Gebildetes in sie hineinlegen, sondern alles muss in ihr von den ersten Anfängen an neu geschaffen
werden, die primitiven Vorstellungen durch physiologische Erregungen, die Vorstellungskomplexe durch
Verhältnisse, in welche die primitiven Vorstellungen innerhalb der Seele selbst zu einander getreten sind. Um die
einer in ihr selbst entsprungenen entsprechende Vorstellungsverbindung in einer anderen Seele hervorzurufen, kann
die Seele nichts anderes tun, als vermittelst der motorischen Nerven ein physisches Produkt erzeugen, welches
seinerseits wieder vermittelst Erregung der sensitiven Nerven des andern Individuums in der Seele desselben die
entsprechenden Vorstellungen hervorruft, und zwar entsprechend assoziiert. Die wichtigsten unter den diesem
Zwecke dienenden physischen Produkten sind eben die Sprachlaute. Andere sind die sonstigen Töne, ferner Mienen,
Gebärden, Bilder etc.

Was diese physischen Produkte befähigt als Mittel zur Übertragung von Vorstellungen auf ein anderes Individuum
zu dienen, ist entweder eine innere, direkte Beziehung zu den betreffenden Vorstellungen (man denke z.B. an
einen Schmerzensschrei, eine Gebärde der Wut) oder eine durch Ideenassoziation vermittelte Verbindung, wobei
also die in direkter Beziehung zu dem physischen Werkzeuge stehende Vorstellung das Bindeglied zwischen diesem
und der mitgeteilten Vorstellung bildet; das ist der Fall bei der Sprache.

§ 8. Durch diese Art der Mitteilung kann kein Vorstellungsinhalt in der Seele neu geschaffen werden. Der Inhalt, um
den es sich handelt, muss vielmehr schon vorher darin sein, durch physiologische Erregungen [15 Wechselwirkung
zwischen den Seelen der Individuen.] hervorgerufen. Die Wirkung der Mitteilung kann nur die sein, dass gewisse in
der Seele ruhende Vorstellungsmassen dadurch erregt, eventuell auf die Schwelle des Bewusstseins gehoben
werden, wodurch unter Umständen neue Verbindungen zwischen denselben geschaffen oder alte befestigt werden.

Der Vorstellungsinhalt selbst ist also unübertragbar. Alles, was wir von dem eines andern Individuums zu
wissen glauben, beruht nur auf Schlüssen aus unserem eigenen. Wir setzen dabei voraus, dass die fremde Seele
in dem selben Verhältnis zur Aussenwelt steht wie die unsrige, dass die nämlichen physischen Eindrücke in ihr die
gleichen Vorstellungen erzeugen wie in der unsrigen, und dass diese Vorstellungen sich in der gleichen Weise
verbinden. Ein gewisser Grad von Übereinstimmung in der geistigen und körperlichen Organisation, in der
umgebenden Natur und den Erlebnissen ist demnach die Vorbedingung für die Möglichkeit einer Verständigung
zwischen verschiedenen Individuen. Je grösser die Übereinstimmung, desto leichter die Verständigung. Umgekehrt
bedingt jede Verschiedenheit in dieser Beziehung nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit des
Nichtverstehens, des unvollkommenen Verständnisses oder des Missverständnisses.

Am weitesten reicht die Verständigung durch diejenigen physischen Mittel, welche in direkter Beziehung zu den
mitgeteilten Vorstellungen stehen; denn diese fliesst häufig schon aus dem allgemeinen Übereinstimmenden in der
menschlichen Natur. Dagegen, wo die Beziehung eine indirekte ist, wird vorausgesetzt, dass in den verschiedenen
Seelen die gleiche Assoziation geknüpft ist, was übereinstimmende Erfahrung voraussetzt. Man muss es demnach
als selbstverständlich voraussetzen, dass alle Mitteilung unter den Menschen mit der ersteren Art begonnen hat und
erst von da zu der letzteren übergegangen ist. Zugleich muss hervorgehoben werden, dass die Mittel der ersten Art
bestimmt beschränkte sind, während sich in Bezug auf die der zweiten ein unbegrenzter Spielraum darbietet, weil
bei willkürlicher Assoziation unendlich viele Kombinationen möglich sind.

9
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Fragen wir nun, worauf es denn eigentlich beruht, dass das Individuum, trotzdem es sich seinen Vorstellungskreis
selbst schaffen muss, doch durch die Gesellschaft eine bestimmte Richtung seiner geistigen Entwickelung erhält und
eine weit höhere Ausbildung, als es im Sonderleben zu erwerben vermöchte, so müssen wir als den wesentlichen
Punkt bezeichnen die Verwandlung indirekter Assoziationen in direkte. Diese Verwandlung vollzieht sich
innerhalb der Einzelseele, das gewonnene Resultat aber wird auf andere Seelen übertragen, natürlich durch
physische Vermittelung in der geschilderten Weise. Der [16 Einleitung.] Gewinn besteht also darin, dass in diesen
anderen Seelen die Vorstellungsmassen nicht wieder den gleichen Umweg zu machen brauchen, um an einander zu
kommen, wie in der ersten Seele. Ein Gewinn ist also das namentlich dann, wenn die vermittelnden Verbindungen
im Vergleich zu der schliesslich resultierenden Verbindung von untergeordnetem Werte sind. Durch solche
Ersparnis an Arbeit und Zeit, zu welcher ein Individuum dem andern verholfen hat, ist dieses wiederum im stande,
das Ersparte zur Herstellung einer weiteren Verbindung zu verwenden, zu der das erste Individuum die Zeit nicht
mehr übrig hatte.

Mit der Überlieferung einer aus einer indirekten in eine direkte verwandelten Verbindung ist nicht auch die
Ideenbewegung überliefert, welche zuerst zur Entstehung dieser Verbindung geführt hat. Wenn z.B. jemandem der
Pythagoräische Lehrsatz überliefert wird, so weiss er dadurch nicht, auf welche Weise derselbe zuerst gefunden ist.
Er kann dann einfach bei der ihm gegebenen direkten Verbindung stehen bleiben, er kann auch durch eigene
schöpferische Kombination den Satz mit andern ihm schon bekannten mathematischen Sätzen vermitteln, wobei er
allerdings ein sehr viel leichteres Spiel hat als der erste Finder. Sind aber, wie es hier der Fall ist, verschiedene
Vermittelungen möglich, so braucht er nicht gerade auf die selbe zu verfallen wie dieser.

Es erhellt also, dass bei diesem wichtigen Prozess, indem der Anfangs- und Endpunkt einer Vorstellungsreihe in
direkter Verknüpfung überliefert werden, die Mittelglieder, welche ursprünglich diese Verknüpfung herstellen
halfen, zu einem grossen Teile für die folgende Generation verloren gehen müssen. Das ist in vielen Fällen eine
heilsame Entlastung von unnützem Ballast, wodurch der für eine höhere Entwickelung notwendige Raum
geschaffen wird. Aber die Erkenntnis der Genesis wird dadurch natürlich ausserordentlich erschwert.

§ 9. Nach diesen für alle Kulturentwickelung geltenden Bemerkungen, deren spezielle Anwendung auf die
Sprachgeschichte uns weiter unten zu beschäftigen hat, wollen wir jetzt versuchen, die wichtigsten
Eigentümlichkeiten hervorzuheben, durch die sich die Sprachwissenschaft von andern Kulturwissenschaften
unterscheidet. Indem wir die Faktoren ins Auge fassen, mit denen sie zu rechnen hat, wird es uns schon hier
gelingen unsere Behauptung zu rechtfertigen, dass die Sprachwissenschaft unter allen historischen Wissenschaften
die sichersten und exaktesten Resultate zu liefern imstande ist.

Jede Erfahrungswissenschaft erhebt sich zu um so grösserer Exaktheit, je mehr es ihr gelingt in den Erscheinungen,
mit denen sie zu schaffen hat, die Wirksamkeit der einzelnen Faktoren isoliert zu betrachten. Hierin liegt ja
eigentlich der spezifische Unterschied [17 Unterschied der Sprachwissenschaft von andern Kulturwissenschaften.]
der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von der populären. Die Isolierung gelingt natürlich um so schwerer, je
verschlungener die Komplikationen, in denen die Erscheinungen an sich gegeben sind. Nach dieser Seite hin sind
wir bei der Sprache besonders günstig gestellt. Das gilt allerdings nicht, wenn man den ganzen materiellen Inhalt ins
Auge fasst, der in ihr niedergelegt ist. Da findet man allerdings, dass alles, was irgendwie die menschliche Seele
berührt, hat, die leibliche Organisation, die umgebende Natur, die gesamte Kultur, alle Erfahrungen und Erlebnisse
Wirkungen in der Sprache hinterlassen haben, dass sie daher von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, von den
allermannigfachsten, von allen irgend denkbaren Faktoren abhängig ist. Aber diesen materiellen Inhalt zu betrachten
ist nicht die eigentümliche Aufgabe der Sprachwissenschaft. Dazu kann sie nur in Verbindung mit allen übrigen
Kulturwissenschaften beitragen. Sie hat für sich nur die Verhältnisse zu betrachten, in welche dieser
Vorstellungsinhalt zu bestimmten Lautgruppen tritt. So kommen von den oben S. 8 angegebenen vier Kategorien
der gesellschaftlichen Einwirkung für die Sprache nur die ersten beiden in Betracht. Man braucht auch vornehmlich
nur zwei Gesetzeswissenschaften als Unterlage der Sprachwissenschaft, die Psychologie und die Physiologie, und
zwar von der letzteren nur gewisse Teile. Was man gewöhnlich unter Lautphysiologie oder Phonetik versteht,
begreift allerdings nicht alle physiologischen Vorgänge in sich, die zur Sprechtätigkeit gehören, nämlich nicht die
Erregung der motorischen Nerven, wodurch die Sprachorgane in Bewegung gesetzt werden. Er würde ferner auch
die Akustik, sowohl als Teil der Physik wie als Teil der Physiologie in Betracht kommen. Die akustischen Vorgänge
aber sind nicht unmittelbar von den psychischen beeinflusst, sondern nur mittelbar, durch die lautphysiologischen.
Durch diese sind sie derartig bestimmt, dass nach dem einmal gegebenen Anstoss ihr Verlauf im allgemeinen keine
Ablenkungen mehr erfährt, wenigstens keine solche, die für das Wesen der Sprache von Belang sind. Unter diesen
Umständen ist ein tieferes Eindringen in diese Vorgänge für das Verständnis der Sprachentwickelung jedenfalls
nicht in dem Masse erforderlich wie die Erkenntnis der Bewegung der Sprechorgane. Damit soll nicht behauptet
werden, dass nicht vielleicht auch einmal aus der Akustik manche Aufschlüsse zu holen sein werden.

10
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Die verhältnismässige Einfachheit der sprachlichen Vorgänge tritt deutlich hervor, wenn wir etwa die
wirtschaftlichen damit vergleichen. Hier handelt es sich um eine Wechselwirkung sämtlicher physischen und
psychischen Faktoren, zu denen der Mensch in irgend eine Beziehung tritt. Auch den ernstesten Bemühungen wird
es niemals [Paul, Prinzipien.] [18 Einleitung.] gelingen die Rolle, welcher jeder einzelne unter diesen Faktoren dabei
spielt, vollständig klar zu legen.

Ein weiterer Punkt von Belang ist folgender. Jede sprachliche Schöpfung ist stets nur das Werk eines Individuums.
Es können mehrere das gleiche schaffen, und das ist sehr häufig der Fall. Aber der Akt des Schaffens ist darum kein
anderer und das Produkt kein anderes. Niemals schaffen mehrere Individuen etwas zusammen, mit vereinigten
Kräften, mit verteilten Rollen. Ganz anders ist das wieder auf wirtschaftlichem oder politischem Gebiete. Wie es
innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Entwickelung selbst immer schwieriger wird die Verhältnisse zu
durchschauen, je mehr Vereinigung der Kräfte, je mehr Verteilung der Rollen sich herausbildet, so sind auch die
einfachsten Verhältnisse auf diesen Gebieten schon weniger durchsichtig als die sprachlichen. Allerdings insofern,
als eine sprachliche Schöpfung auf ein anderes Individuum übertragen und von diesem umgeschaffen wird, als
dieser Prozess sich immer von neuem wiederholt, findet auch hier eine Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung statt,
ohne die ja, wie wir gesehen haben, überhaupt keine Kultur zu denken ist. Und wo in unserer Überlieferung eine
Anzahl von Zwischenstufen fehlen, da ist auch der Sprachforscher in der Lage verwickelte Komplikationen auflösen
zu müssen, die aber nicht sowohl durch das Zusammenwirken als durch das Nacheinanderwirken verschiedener
Individuen entstanden sind.

Es ist ferner auch nach dieser Seite hin von grosser Wichtigkeit, dass die sprachlichen Gebilde im allgemeinen ohne
bewusste Absicht geschaffen werden. Die Absicht der Mitteilung ist zwar, abgesehen von den allerfrühesten
Stadien, vorhanden, aber nicht die Absicht etwas Bleibendes festzusetzen, und das Individuum wird sich seiner
schöpferischen Tätigkeit nicht bewusst. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Sprachbildung namentlich von aller
künstlerischen Produktion. Die Unbewusstheit, wie wir sie hier als Charakteristikum hinstellen, ist freilich nicht so
allgemein anerkannt und ist noch im einzelnen zu erweisen. Man muss dabei unterscheiden zwischen der natürlichen
Entwickelung der Sprache und der künstlichen, die allerdings durch ein absichtlich regelndes Eingreifen zu Stande
kommt. Solche bewussten Bemühungen beziehen sich fast ausschliesslich auf die Herstellung einer Gemeinsprache
in einem dialektisch gespaltenen Gebiete oder einer technischen Sprache für bestimmte Berufsklassen. Wir müssen
im folgenden zunächst gänzlich von denselben absehen, um das reine Walten der natürlichen Entwickelung kennen
zu lernen, und erst dann ihre Wirksamkeit in einem besondern Abschnitte behandeln. Zu diesem Verfahren sind wir
nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. [19 Unterschied der Sprachwissenschaft von andern
Kulturwissenschaften.] Wir würden sonst ebenso handeln wie der Zoologe oder der Botaniker, der, um die
Entstehung der heutigen Tier- und Pflanzenwelt zu erklären, überall mit der Annahme künstlicher Züchtung und
Veredlung operierte. Der Vergleich ist in der Tat in hohem Grade zutreffend. Wie der Viehzüchter oder der Gärtner
niemals etwas rein willkürlich aus nichts erschaffen können, sondern mit allen ihren Versuchen auf eine nur
innerhalb bestimmter Schranken mögliche Umbildung des natürlich Erwachsenen angewiesen sind, so entsteht auch
eine künstliche Sprache nur auf Grundlage einer natürlichen. So wenig durch irgend welche Veredlung die
Wirksamkeit derjenigen Faktoren aufgehoben werden kann, welche die natürliche Entwickelung bestimmen, so
wenig kann das auf sprachlichem Gebiete durch absichtliche Regelung geschehen. Sie wirken trotz alles Eingreifens
ungestört weiter fort, und alles, was, auf künstlichem Wege gebildet, in die Sprache aufgenommen ist, verfällt dem
Spiel ihrer Kräfte.

Es wäre nun zu zeigen, inwiefern die Absichtslosigkeit der sprachlichen Vorgänge es erleichert, ihr Wesen zu
durchschauen. Zunächst folgt daraus wieder, dass dieselben verhältnismässig einfach sein müssen. Bei jeder
Veränderung kann nur ein kurzer Schritt getan werden. Wie wäre das anders möglich, wenn sie ohne Berechnung
erfolgt und, wie es meistens der Fall ist, ohne dass der Sprechende eine Ahnung davon hat, dass er etwas nicht schon
vorher Dagewesenes hervorbringt? Freilich kommt es dann aber auch darauf an die Indizien, durch welche sich
diese Vorgänge dokumentieren, möglichst Schritt für Schritt zu verfolgen. Aus der Einfachheit der sprachlichen
Vorgänge folgt nun aber auch, dass sich dabei die individuelle Eigentümlichkeit nicht stark geltend machen kann.
Die einfachsten psychischen Prozesse sind ja bei allen Individuen die gleichen, ihre Besonderheiten beruhen nur auf
verschiedenartiger Kombination dieser einfachen Prozesse. Die grosse Gleichmässigkeit aller sprachlichen
Vorgänge in den verschiedensten Individuen ist die wesentlichste Basis für eine exakt wissenschaftliche
Erkenntnis derselben.

So fällt denn auch die Erlernung der Sprache in eine frühere Entwickelungsperiode, in welcher überhaupt bei allen
psychischen Prozessen noch wenig Absichtlichkeit und Bewusstsein, noch wenig Individualität vorhanden ist. Und
ebenso verhält es sich mit derjenigen Periode in der Entwickelung des Menschengeschlechts, welche die Sprache
zuerst geschaffen hat.

11
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wäre die Sprache nicht so sehr auf Grundlage des Gemeinsamen in der menschlichen Natur aufgebaut, so wäre sie
auch nicht das geeignete Werkzeug für den allgemeinen Verkehr. Umgekehrt, dass sie [20 Einleitung.] als solches
dient, hat zur notwendigen Konsequenz, dass sie alles rein Individuelle, was sich ihr doch etwa aufzudrängen
versucht, zurückstösst, dass sie nichts aufnimmt und bewahrt, als was durch die Übereinstimmung einer Anzahl mit
einander in Verbindung befindlicher Individuen sanktioniert wird.

Unser Satz, dass die Unabsichtlichkeit der Vorgänge eine exakte wissenschaftliche Erkenntnis begünstige, ist leicht
aus der Geschichte der übrigen Kulturzweige zu bestätigen. Die Entwickelung der sozialen Verhältnisse, des Rechts,
der Religion, der Poesie und aller übrigen Künste zeigt um so mehr Gleichförmigkeit, macht um so mehr den
Eindruck der Naturnotwendigkeit, je primitiver die Stufe ist, auf der man sich befindet. Während sich auf diesen
Gebieten immer mehr Absichtlichkeit, immer mehr Individualismus geltend gemacht hat, ist die Sprache nach dieser
Seite hin viel mehr bei dem ursprünglichen Zustande stehen geblieben. Sie erweist sich auch dadurch als der
Urgrund aller höheren geistigen Entwickelung im einzelnen Menschen wie im ganzen Geschlecht.

§ 10. Ich habe es noch kurz zu rechtfertigen, dass ich den Titel Prinzipien der Sprachgeschichte gewählt habe. Es ist
eingewendet, dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe als die geschichtliche.[5])
Ich muss das in Abrede stellen. Was man für eine nichtgeschichtliche und doch wissenschaftliche Betrachtung der
Sprache erklärt, ist im Grunde nichts als eine unvollkommen geschichtliche, unvollkommen teils durch Schuld des
Betrachters, teils durch Schuld des Beobachtungsmaterials. Sobald man über das blosse Konstatieren von
Einzelheiten hinausgeht, sobald man versucht den Zusammenhang zu erfassen, die Erscheinungen zu begreifen, so
betritt man auch den geschichtlichen Boden, wenn auch vielleicht ohne sich klar darüber zu sein. Allerdings ist eine
wissenschaftliche Behandlung der Sprache nicht bloss möglich, wo uns verschiedene Entwickelungsstufen der
gleichen Sprache vorliegen, sondern auch bei einem Nebeneinanderliegen des zu Gebote stehenden Materials. Am
günstigsten liegt dann die Sache, wenn uns mehrere verwandte Sprachen oder Mundarten bekannt sind. Dann ist es
Aufgabe der Wissenschaft, nicht bloss zu konstatieren, was sich in den verschiedenen Sprachen oder Mundarten
gegenseitig entspricht, sondern aus dem Überlieferten die nicht überlieferten Grundformen und Grundbedeutungen
nach Möglichkeit zu rekonstruieren. Damit aber verwandelt sich augenscheinlich die vergleichende Betrachtung in
eine geschichtliche. Aber auch, wo uns nur eine bestimmte Entwickelungsstufe einer einzelnen Mundart vorliegt, ist
noch wissenschaftliche Betrachtung [21 Unterschied der Sprachwissenschaft von andern Kulturwissenschaften.] bis
zu einem gewissen Grade möglich. Jedoch wie? Vergleicht man z.B. die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes
untereinander, so sucht man festzusetzen, welche davon die Grundbedeutung ist, oder auf welche untergegangene
Grundbedeutung sie hinweisen. Bestimmt man aber eine Grundbedeutung, aus der andere abgeleitet sind, so
konstatiert man ein historisches Faktum. Oder man vergleicht die verwandten Formen untereinander und leitet sie
aus einer gemeinsamen Grundform ab. Dann konstatiert man wiederum ein historisches Faktum. Ja man darf
überhaupt nicht einmal behaupten, dass verwandte Formen aus einer gemeinsamen Grundlage abgeleitet sind, wenn
man nicht historisch werden will. Oder man konstatiert zwischen verwandten Formen und Wörtern einen
Lautwechsel. Will man sich denselben erklären, so wird man notwendig darauf geführt, dass derselbe die
Nachwirkung eines Lautwandels, also eines historischen Prozesses ist. Versucht man die sogenannte innere
Sprachform im Sinne Humboldts und Steinthals zu charakterisieren, so kann man das nur, indem man auf den
Ursprung der Ausdrucksformen und ihre Grundbedeutung zurückgeht. Und so wüsste ich überhaupt nicht, wie man
mit Erfolg über eine Sprache reflektieren könnte, ohne dass man etwas darüber ermittelt, wie sie geschichtlich
geworden ist.[6]) Das einzige, was nun etwa noch von [22 Einleitung.] nichtgeschichtlicher Betrachtung übrig
bliebe, wären allgemeine Reflexionen über die individuelle Anwendung der Sprache, über das Verhalten des
Einzelnen zum allgemeinen Sprachusus, wozu dann auch die Erlernung der Sprache gehört. Dass aber gerade diese
Reflexionen aufs engste mit der Betrachtung der geschichtlichen Entwickelung zu verbinden sind, wird sich im
folgenden zeigen.

1. Angedeutet ist dieser Unterschied allerdings S. 25ff., wo zwischen den synthetischen, rationalen' und den
`beschreibenden' Disziplinen der Naturwissenschaft unterschieden und eine entsprechende Einteilung der
Völkerpsychologie versucht wird. Aber völlige Verwirrung herrscht z. B. S. 15ff. Aus der Tatsache, dass es
nur zwei Formen alles Seins und Werdens gibt, Natur und Geist, folgern die Verfasser, dass es nur zwei
Klassen von realen Wissenschaften geben könne, eine, deren Gegenstand die Natur, und eine, deren
Gegenstand der Geist sei. Dabei wird also nicht berücksichtigt, dass es auch Wissenschaften geben könne,
die das Ineinanderwirken von Natur und Geist zu betrachten haben. Noch bedenklicher ist es, wenn sie
dann fortfahren: `Demnach stehen sich gegenüber Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit'. Hier
muss zunächst Geschichte in einem ganz andern Sinne gefasst sein, als den man gewöhnlich mit dem
Worte verbindet als Wissenschaft von dem Geschehen, den Vogängen. Wie kommt aber mit einem Male
`Mensch' an die Stelle von `Geist'? Beides ist doch weit entfernt sich zu decken. Weiter wird zwischen

12
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Natur und Geist der Unterschied aufgestellt, dass die Natur sich in ewigem Kreislauf ihrer gesetzmässigen
Prozesse bewege, wobei die verschiedenen Läufe vereinzelt, jeder für sich blieben, wobei immer nur das
schon dagewesene wiedererzeugt wurde und nichts neues entstünde, während der Geist in einer Reihe
zusammenhängender Schöpfungen lebe, einen Fortschritt zeige. Diese Unterscheidung, in dieser
Allgemeinheit hingestellt, ist zweifellos unzutreffend. Auch die Natur, die organische mindestens sicher,
bewegt sich in einer Reihe zusammenhängender Schöpfungen, auch in ihr gibt es einen Fortschritt.
Anderseits bewegt sich auch der Geist (das ist doch auch die Anschauung der Verfasser) in einem
gesetzmässigen Ablauf, in einer ewigen Wiederholung der gleichen Grundprozesse. Es sind hier zwei
Gegensätze konfundiert, die völlig auseinander gehalten werden müssen, der zwischen Natur und Geist
einerseits und der zwischen gesetzmässigem Prozess und geschichtlicher Entwickelung anderseits. Nur von
dieser Konfusion aus ist es zu begreifen, dass es die Verfasser überhaupt haben in Frage ziehen können, ob
die Psychologie zu den Natur- oder zu den Geisteswissenschaften gehöre, und dass sie schliesslich dazu
kommen ihr eine Mittelstellung zwischen beiden anzuweisen. Diese Konfusion ist freilich die hergebrachte,
von der man sich aber endlich losreissen sollte nach den Fortschritten, welche die Psychologie einerseits,
die Wissenschaft von der organischen Natur anderseits gemacht hat.
2. Misteli, Zschr f. Völkerps. XIII, 385 hat mich merkwürdigerweise so missverstanden, dass er meint, ich
wolle überhaupt keine Abstraktionen gemacht wissen, während ich natürlich nur meine, dass sich keine
Abstraktionen störend zwischen das Auge des Beobachters und die wirklichen Dinge stellen sollen, die ihn
hindern den Kausalzusammenhang unter den letzteren zu erfassen. Die Belehrung, die er mir über den Wert
des Abstrahierens erteilt, ist daher eben so überflüssig wie seine kritische Bemerkung darüber, dass ich ja
noch weiter gehende Abstraktionen mache als andere.
3. Trotz dieser ausdrücklichen Bitte bemerkt L. Tobler, Lit.-Bl f. germ. und rom. Phil. 1881, Sp. 122 über
meine Einleitung: »Alle diese einleitenden Begriffsbestimmungen fallen mehr in den Bereich einer
philosophischen Zeitschrift und üben auf den weiteren Verlauf der Darstellung keinen Einfluss«. Und
Misteli, a. a. O. S. 400 tritt ihm bei und meint, er hätte nur noch hinzufügen können: glücklicherweise. Ich
muss gestehen, es ist niederschlagend für mich, dass zwei Gelehrte, die doch gerade Interesse für
allgemeine Fragen bekunden, so wenig erkannt haben, was der eigentliche Angelpunkt meines ganzen
Werkes ist. Alles dreht sich mir darum die Sprachentwickelung aus der Wechselwirkung abzuleiten,
welche die Individuen auf einander ausüben. Eine Kritik der Lazarus-Steinthalschen Anschauungen, deren
Fehler eben in der Nichtberücksichtigung dieser Wechselwirkung besteht, hängt daher auf das engste mit
der Gesamttendenz meines Buches zusammen. Misteli ist überhaupt der Ansicht, dass meine allgemeinen
theoretischen Erörterungen von dem Sprachforscher nicht berücksichtigt zu werden brauchten, und dass
dieser mit den herkömmlichen grammatischen Kategorien auskommen könnte. Damit wird der alte
Dualismus zwischen Philosophie und Wissenschaft sanktioniert, den zu überwinden wir heutzutage mit
aller Macht streben sollten.
4. In einer Abhandlung, die in der Ztschr. f. Völkersp. Bd. 17, S. 233 erschienen ist, setzt sich Steinthal auch
mit meiner Kritik auseinander. Leider hat er sich nicht davon überzeugen können, dass die von mir
gemachten Unterscheidungen von Belang sind, wofür doch mein ganzes Buch den Beweis liefert. Meine
obigen Auseinandersetzungen mit den Anschauungen von Lazarus-Steinthal sind auch jetzt durchaus nicht
überflüssig geworden, da dieselben, wenn auch mit mannigfachen Modifikationen, immer wieder Vertreter
finden. Dazu gehört trotz der seinerseits geübten Kritik in dem eigentlich entscheidenden Punkte auch
Wundt. Er hat nicht nur seinem grossen Werke über Sprache, Mythus und Sitte den Titel
Völkerpsychologie gegeben, sondern er erklärt ausdrücklich (I, 1, S. 9), dass, wenn man den Seelenbegriff
im empirischen Sinne gebrauche, in diesem die Volksseele genau mit demselben Recht eine reale
Bedeutung besitze, wie die individuelle Seele eine solche für sich in Anspruch nehme. Ich kann darin nur
einen verhängnisvollen Irrtum sehen. Es ist schwer begreiflich, wie Wundt die Gegner einer solchen
Auffassung beschuldigen kann, dass sie in mythologischer Vorstellungsweise befangen seien. Diese
Gegnerschaft ist ganz unabhängig von irgendwelchen metaphysischen Voraussetzungen über das Wesen
der Seele. Auch wenn man mit Wundt nichts als seelisch anerkennt ausser den Tatsachen des Bewusstseins,
so ist es doch klar, dass es kein anderes Bewusstsein gibt als das einzelner Individuen, und dass man vom
Bewusstsein eines Volkes nur bildlich reden darf im Sinne einer grösseren oder geringeren
Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen im Bewusstsein der einzelnen Individuen. Es ist ferner
klar, dass der Kausalzusammenhang, der zwischen den verschiedenen Akten des Bewusstseins eines
einzelnen Individuums besteht, wie man sich denselben auch denken mag, sei es durch Unbewusst-
seelisches, sei es durch physische Bedingungen vermittelt, nicht ebenso zwischen den Bewusstseinsakten
verschiedener Individuen besteht, dass vielmehr die Art, wie hier eine Kausalverknüpfung zu stande
kommt, eine ganz andere ist, die man nicht ignorieren darf, sondern stets berücksichtigen muss, wenn man
die Verhältnisse, die durch das Zusammenwirken der Individuen geschichtlich geworden sind, richtig
beurteilen will.
5. Vgl. Misteli a. a. O. S. 382ff.
6. O. Dittrich hat (Grundzüge der Sprachpsychologie 43ff. und Die Grenzen der Sprachwissenschaft 10ff.)

13
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

eine ganze Menge auf die Sprache bezügliche Wissenschaften aufgestellt. Hierüber aber ist zu sagen, dass
einige davon Anwendungen der Sprachwissenschaft sind, bei denen dieselbe praktischen Zwecken
dienstbar gemacht wird, und dass diejenigen Disziplinen, die rein theoretischer Natur sind, aufs engste
zusammengehören, und dass es nur zum grössten Schaden der Wissenschaft gereichen könnte, wenn jede
derselben für sich betrieben werden sollte. Dies gilt auch von der sogenannten Sprachpsychologie.
Psychologisch muss die Sprachwissenschaft durchaus sein, auch wo es sich um die Feststellung einzelner
Tatsachen handelt. Sprachpsychologie als eigenes Fach hat weder eine Stellung innerhalb der
Sprachwissenschaft noch innerhalb der Psychologie. Es gibt nur eine Sprachwissenschaft, aber auch nur
eine Psychologie. Oder soll man auch eine besondere Rechtspsychologie, eine Wirtschaftspsychologie etc.
aufstellen? Warum dann nicht auch eine Spielpsychologie, ja eine Schach- oder Skatpsychologie? Wenn
Dittrich (Grenzen S. 6) behauptet, mein Buch sei eigentlich ein flammender Protest gegen meine These
»Sprachwissenschaft ist gleich Sprachgeschichte", so übersieht er, dass auch meine Prinzipienlehre sich
durchaus auf die Entwickelung der Sprache bezieht; dass das Material aus der Sprachgeschichte geschöpft
ist, und dass die daraus gezogenen Schlüsse bestimmt sind, auf die geschichtliche Einzelforschung
zurückzuwirken. Ich wollte nicht etwas aufstellen, was neben der Geschichte herlaufen sollte, ohne das
diese ebenso gut bestehen könnte, sondern etwas, was die Behandlung der Geschichte durchdringen,
derselben einen höheren Grad von Wissenschaftlichkeit geben sollte. Man ist doch wohl berechtigt,
dasjenige zur Geschichtswissenschaft zu rechnen, was ihr erst einen wahrhaft wissenschaftlichen Charakter
verleiht. Daher der Titel meines Buches, und wenn eine englische Bearbeitung desselben geradezu den
Titel führt »Introduction to the Study of the History of Language«, so ist auch dagegen nichts einzuwenden.

INHALT.

Einleitung 4

Notwendigkeit einer allgemeinen theoretischen Wissenschaft (Prinzipienlehre) neben der Sprachgeschichte wie
neben jedem Zweige der Geschichtswissenschaft . Nähere Bestimmung ihrer Aufgabe . Prinzipienlehre zugleich
Grundlage für die Methodenlehre . Übertragung der in der Naturwissenschaft üblichen Betrachtungsweise auf die
Kulturwissenschaft . Die Sprachwissenschaft unter den historischen Wissenschaften der vollkommensten Methode
fähig . Zusammenwirken psychischer und physischer Faktoren in aller Kulturentwickelung . Kulturwissenschaft
immer Gesellschaftswissenschaft . Kritik der Lazarus-Steinthalschen Völkerpsychologie . Wechselwirkung der
Seelen aufeinander nur indirekt durch physische Vermittelung möglich . Verwandlung indirekter Assoziationen in
direkte . Eigentümlichkeiten der Sprachwissenschaft gegenüber andern Wissenschaften . Wissenschaftliche
Behandlung der Sprache nur durch historische Betrachtung möglich .

Kap. I. Allgemeines über das Wesen der Sprachentwickelung 18

Gegenstand der Sprachwissenschaft . Organismen von Vorstellungsgruppen die Grundlage aller Sprechtätigkeit , die
Träger der geschichtlichen Entwickelung . Erfordernisse für die Beschreibung eines Sprachzustandes . Ursache für
die Veränderungen des Usus die gewöhnliche Sprechtätigkeit . Entwickelungsstadien . Klassifizierung der
Veränderungen . Anfänge der Sprache . Grammatik und Logik .

Kap. II. Die Sprachspaltung 24

Analogieen aus der organischen Natur . Fassung des zu lösenden Problems . Veränderung und Differenzierung .
Verkehrsverhältnisse . Spontaneität und Beeinflussung . Unabhängigkeit der einzelnen Differenzierungen von
einander . Das Bild einer Stammtafel unzutreffend . Allmähliche Abstufung der Dialektunterschiede .
Sprachtrennung . Die Lautverhältnisse das eigentlich Charakteristische . Kunstsprache, Dichtersprache .
Unbegrenztes Wachstum der mundartlichen Verschiedenheiten .

Kap. III. Der Lautwandel 30

Die bei der Erzeugung der Sprachlaute tätigen Faktoren, Bewegungsgefühl und Tonempfindung . Mangel eines
Bewusstseins [X] von den Elementen des Wortes. Das Wort eine kontinuierliche Reihe von unendlich vielen Lauten
. Kontrolle des Gesprochenen . Grenzen des Unterscheidungsvermögens . Ablenkungen von der durch das
Bewegungsgefühl angezeigten Richtung unvermeidlich . Verschiebung des Bewegungsgefühles . Ursachen der

14
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Ablenkung . Bequemlichkeit Nebenursache, Bewegungsgefühl Hauptursache . Kontrolle durch das Lautbild .


Verhältnis des Einzelnen zu seinen Verkehrsgenossen . Lautliche Veränderungen, die nicht auf Verschiebung des
Bewegungsgefühles beruhen . Konsequenz der Lautgesetze .

Kap. IV. Wandel der Wortbedeutung 42

Bedeutungswandel auf Unterschiebung beruhend . Usuelle nnd okkasionelle Bedeutung . Abstrakte und konkrete
Bedeutung . Mehrfache Bedeutung . Mittel, welche abstrakten Wörtern okkasionell konkrete Bedeutung geben .
Mittel zur Spezialisierung der Bedeutung . Abweichung der okkasionellen Bedeutung von der usuellen auch dadurch
möglich, dass erstere nicht alle Elemente der letzteren einschliesst . Übertragung auf das räumlich, zeitlich oder
kausal mit der usuellen Bedeutung Verknüpfte . Notwendigkeit einer Bestimmung für das Hinausgreifen über die
Schranken der usuellen Bedeutung . Verschiedenheit des Verhältnisses zwischen usueller und okkasioneller
Bedeutung in verschiedenen Sprachen . Veränderung des Usus aus der okkasionellen Modifikation entwickelt .
Arten des Bedeutungswandels: Spezialisierung , Beschränkung auf einen Teil des ursprünglichen Inhalts ,
Metapher , Übertragung auf das räumlich, zeitlich oder kausal mit der älteren Bedeutung Verknüpfte , andere Arten ,
Kombination der verschiedenen Arten . Bedeutungswandel in Wortgruppen . Abhängigkeit des Bedeutungsinhalts
von der Bildungstufe des Einzelnen und des ganzen Volkes .

Kap. V. Analogie 57

Stoffliche und formale Gruppen . Proportionengruppen: stofflich-formale , etymologisch-lautliche , syntaktische .


Wirksamkeit der Proportionengruppen bei der Sprechtätigkeit (Analogiebildung) , auf syntaktischem Gebiete , in
Wortbildung und Flexion . Abweichung des analogisch Gebildeten vom Usus . Analogiebildung auf dem Gebiete
des Lautwechsels .

Kap. VI. Die syntaktischen Grundverhältnisse 63

Definition des Satzes . Mittel zur Bezeichnung der Verbindung von Vorstellungen . Subjekt und Prädikat,
psychologisches und grammatisches . Mittel zur Unterscheidung beider: Tonstärke, Wortstellung . Konkrete und
abstrakte Sätze . Scheinbar eingliedrige Sätze . Verba impersonalia . Negative Sätze . Aussage- und
Aufforderungssätze . Fragesätze . Satzerweiterung . Doppeltes Subjekt oder Prädikat . Herabdrückung des Prädikats
zu einer Bestimmung . Unterschiede in der Funktion der Bestimmung . Prädikatives Attribut . Prädikat zum Prädikat
. Verhältnis mehrerer Bestimmungen . Erweiterungen durch Verwendung eines Satzes als Subj. oder Obj. . [XI]
Vereinigung von Selbständigkeit und Abhängigkeit . Indirekte Rede . Satz als Apposition zu einem Nomen , Nomen
zu einem Satz . Parataxis . Stufenweise Annäherung an Hypotaxis . Übergang von Aufforderung und Frage in
Hypotaxis .

Kap. VII. Bedeutungswandel auf syntaktischem Gebiet 78

Vergleichung mit dem Wandel der Wortbedeutung, Unterschied zwischen allgemeiner syntaktischer Beziehung und
der Beziehung zu einem bestimmten Worte . Genitiv und regierendes Subst. . Objektakkusativ . Rektion der
Präpositionen . Apposition und gen. partitivus . Subjekt zu Verben . Substant. und adjektivisches Präd. oder
Attribut . Konjunktionen .

Kap. VIII. Kontamination 82

Begriff . Kontamination auf lautlichem Gebiet , auf syntaktischem ff. Momentane Anomalieen , usuelle ff. Negation
. Pleonasmus . Ellipsen .

Kap. IX. Urschöpfung 89

Bedingungen zur Urschöpfung noch jetzt vorhanden . Sie hat niemals ganz aufgehört . Anwendung der auf andern
Gebieten des Sprachlebens gewonnenen Erfahrungen auf die Urschöpfung . Der junge Sprachstoff hauptsächlich
Bezeichnungen für Geräusche und Bewegungen . Interjektionen . Ammensprache . Lautsymbolik . Die ersten
Urschöpfungen ohne grammatische Kategorie , bezeichnen ganze Anschauungen , werden zunächst ohne Absicht
der Mitteilung hervorgebracht . Unfähigkeit des Urmenschen zu willkürlicher Hervorbringung von Sprachlauten .
Reproduktion notwendig für den Begriff der Sprache . Unterschied der menschlichen und tierischen Sprache .

15
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Kap. X. Isolierung und Reaktion dagegen 96

Möglichkeit eines allgemeingültigen Systems der Gruppierung für jede Entwickelungsperiode . Wechsel in diesem
System . Isolierung . Das System lediglich bedingt durch Übereinstimmung in Lautgestalt und Bedeutung .
Ursachen der Isolierung . Zerstörung der etymologisch-lautlichen Gruppen , der syntaktischen , der formalen und
stofflichen a) durch den Bedeutungswandel , b) durch den Lautwandel . Reaktion mit Hilfe der Ausgleichung .
Beseitigung der durch die Stellung im Satze entstandenen Doppelformigkeit . Ausgleichung zwischen lautlich
differenzierten Formen aus gleichem Stamme oder Wörtern aus gleicher Wurzel (stoffliche Ausgleichung im
Gegensatz zu der formalen) . Ungleichmässigkeiten im Eintreten derselben in Folge fördernder oder hemmender
Umstände : Lautliche Momente , grössere oder geringere Festigkeit des Zusammenhanges , Intensität der
gedächtnismässigen Einprägung , Mitwirken der formalen Gruppierung . Verwandlung eines zufällig entstandenen
bedeutungslosen Unterschiedes in einen bedeutungsvollen . Verwandlung von Elementen des Wortstammes in
Flexionsendungen . Unabsichtlichkeit aller lautlichen Differenzierung . [XII]

Kap. XI. Bildung neuer Gruppen 109

Tilgung von Unterschieden durch den Lautwandel . Gänzlicher Zusammenfall . Znsammentreten unverwandter
Wörter zu stofflichen Gruppen: einfachste Art der Volksetymologie . Kompliziertere Art der Volksetymologie durch
lautliche Umformung . Verdeutlichung durch Zusammensetzung . Zusammenfall auf formalen Gebiete und Folgen
dieses Zusammenfalls a) bei funktioneller Gleichheit , b) bei funktioneller Verschiedenheit .

Kap. XII. Einfluss der Funktionsveränderung auf die Analogiebildung 116

Eintritt in eine andere Gruppe verändert die Richtung der Analogiebildung . Folgen der Verwandlung eines
Appellativums in einen Eigennamen . Übertritt in eine andere Wortklasse . Verschmelzung einer syntaktischen
Verbindung zu einer Worteinheit . Erstarrung . Einwirkung des Bedeutungswandels auf die Konstruktion .
Umdeutung einer Konstruktion unter dem Einflusse einer synonymen .

Kap. XIII. Verschiebungen in der Gruppierung

der etymologisch zusammenhängenden Wörter 120

Die Gruppierung der etymologisch zusammenhängenden Wörter und Formen in den Seelen einer späteren
Generation muss vielfach anders ausfallen, als es der ursprünglichen Bildungsweise entsprechen würde; die Folge
davon ist Analogiebildung, die aus dem Gleise der ursprünglichen Bildungsgesetze heraustritt . Beispiele .
Verschmelzung zweier Suffixe . Verschiebung der Beziehungen in der Komposition . Verschiebung in dem
Verhältnis der verschiedenen Bedeutungen des gleichen Wortes .

Kap. XIV. Bedeutungsdifferenzierung 124

Ursachen der Entstehung eines Überflusses in der Sprache . Tendenz zur Beseitigung alles Überflusses . Blosse
negative Beseitigung und positive Nutzbarmachung . Lautdifferenzierung zum Zwecke der
Bedeutungsdifferenzierung nur scheinbar . Doppelwörter . Verwandte Vorgänge in Folge partieller Gleichheit der
Bedeutung . Syntaktische Differenzierung .

Kap. XV. Psychologische und grammatische Kategorie 130

Die anfängliche Harmomie zwischen psychologischer und grammatischer Kategorie wird im Laufe der Zeit gestört
und sucht sich dann wieder herzustellen; die Beobachtung dieser Vorgänge gibt Belehrung über die ursprüngliche
Entstehung der grammatischen Kategorieen . Die einzelnen Kategorieen: Geschlecht , Numerus , Tempus , Genus
des Verbums .

Kap. XVI. Verschiebung der syntaktischen Gliederung 139

Widerstreit zwischen psychologischer und grammatischer Gliederung . Zweigliedrigkeit und Vielgliedrigkeit .


Psychologisches Prädikat , Subjekt und Bindeglieder . Satzglieder, die regelmässig psychologisches Subj. oder Präd.

16
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

sind . Umschreibungen zur Vermeidung des Widerstreits . Ausgleichung des Widerstreits . Psychologisches
Verhältnis der adverbialen Bestimmungen . [XIII] Seltenheit des Widerstreits in Sprachen von geringer formaler
Ausbildung . Rollentausch zwischen dem Bestimmten und der Bestimmung . Auseinanderreissung des grammatisch
eigentlich Zusammengehörigen: Adjektivum und abhängiger Genitiv , Substantivum und Genitiv , Verbum und
Adverbium , Infinitiv und davon abhängiges Glied . Entstehung der Verbindungswörter . Verwandlung von
indirekter Beziehung in direkte . Ein Glied, das zu zwei verbundenen Gliedern gehört, wird zum ersten gezogen und
zu der Verbindungspartikel in Relation gesetzt . Verschiebungen im zusammengesetzten Satz ff. Übergang von
Abhängigkeit zur Selbständigkeit . Umkehrung des Verhältnisses von Haupt- und Nebensatz . Durchbrechung der
Grenzen zwischen Haupt- und Nebensatz .

Kap. XVII. Kongruenz 149

Kongruenz ausgegangen von solchen Fällen, in denen die Übereinstimmung des einen Wortes mit dem andern ohne
Rücksichtnahme auf dasselbe sich ergeben hat, und von da analogisch auf andere Fälle übertragen . Fälle, in denen
sekundäre Entstehung der Kongruenz historisch verfolgbar ist . Schwanken der Kongruenz zwischen zwei Satzteilen
. Erste Grundlagen der Kongruenz .

Kap. XVIII. Sparsamkeit im Ausdruck 153

Sparsamere oder reichlichere Verwendung der sprachlichen Mittel vom Bedürfnis abhängig . Die Ansetzung von
Ellipsen ist entweder auf ein Minimum einzuschränken oder aber anzuerkennen, dass es zum Wesen des
sprachlichen Ausdrucks gehört elliptisch zu sein . Ergänzung aus dem Vorhergehenden oder Folgenden . Fehlen von
Mittelgliedern . Ergänzung aus der Situation .

Kap. XIX. Entstehung der Wortbildung und Flexion 158

Entstehungsweise der etymologischen Gruppen . Normale Entstehungsweise alles Formellen in der Sprache ist die
Komposition . Entstehung der Komposition aus den verschiedenartigsten Wortgruppen . Relativität des
Unterschiedes zwischen Kompositum und Wortgruppe . Die Ursache, wodurch eine Wortgruppe zum Kompositum
wird, ist nicht engerer Anschluss in der Aussprache oder Akzent, sondern eine Isolierung der Verbindung gegenüber
ihren Teilen . Enstehung von Kompositis aus kopulativen Verbindungen , aus der Verbindung eines Substantivums
mit einer Bestimmung , eines Verbums mit einem Adverbium , mit einem Objektsakkusativ , mit einer
präpositionellen Bestimmung . Komplexe, die ohne zusammengeschrieben zu werden doch Eigenschaften eines
Kompositums zeigen . Koordination von Kompositionsglied und selbständigem Wort . Lautveränderungen mit
isolierender Wirkung . Grenzen, innerhalb deren ein Kompositum noch als solches erscheint . Ursprung der
Ableitungs- und Flexionssuffixe . Kritik der Analyse indogermanischer Grundformen .

Kap. XX. Die Scheidung der Redeteile 171

Die Scheidung der Redeteile beruht nicht auf streng durchgeführten logischen Prinzipien . Berücksichtigt sind dabei
Bedeutung an sich, [XIV] Funktion im Satzgefüge, Verhalten in Bezug auf Flexion und Wortbildung . Kritik der
üblichen Einteilung . Zwischenstufen und Übergang zwischen den einzelnen Redeteilen ff. Subst. und Adj. . Nomen
und Verbum . Partizipium . Nomem agentis . Nomen actionis . Infinitiv . Adverbium und Adjektivum .
Präpositionen und Konjunktionen .

Kap. XXI. Sprache und Schrift 181

Vorzüge und Mängel der Schrift gegenüber der Rede . Leistungsfähigkeit der üblichen Alphabete . Verdeckung der
mundartlichen Verschiedenheiten durch die Schrift . Unfähigkeit der Schrift als Kontrolle gegen Lautveränderungen
zu dienen . Verselbständigung der Schrift gegen die Aussprache , im Zusammenhange mit der Entwickelung zu
grösserer Konstanz in der Schreibung . Mittel zur Erreichung dieser Konstanz . Beseitigung des Schwankens
zwischen gleichwertigen Lautzeichen . Einwirkung der Etymologie . Zurückbleiben der Schrift hinter der
Aussprache .

Kap. XXII. Sprachmischung 188

Sprachmischung im weitern und engern Sinne . Mischung verschiedener Sprachen, Mundarten, Zeitstufen .

17
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Zweisprachigkeit . Zwei Hauptarten der Beeinflussung durch ein fremdes Idiom . A) Aufnahme fremden
Sprachmaterials ff. Veranlassungen zur Aufnahme fremder Wörter . Stufen der Einbürgerung . Behandlung des
fremden Lautmaterials . Assimilierung der schon aufgenommenen Wörter . Mehrfache Entlehnung des nämlichen
Wortes . Wiederangleichung eines Lehnwortes an sein Original . Konkurrenz mehrerer Sprachen bei der Entlehnung
. Pleonastische Verbindung eines einheimischen Suffixes mit einem fremden . Entlehnung von Ableitungs- und
Flexionssuffixen . B) Beeinflussung der inneren Sprachform ff. Dialektmischung . Entlehnung aus einer älteren
Sprachstufe .

Kap. XXIII. Die Gemeinsprache 195

Die Gemeinsprache nichts Reales, sondern nur eine ideale Norm , bestimmt durch den Usus eines engen Kreises .
Schriftsprache und Umgangssprache . Bühnensprache . Regelung der Schriftsprache . Diskrepanz zwischen Schrift-
und Umgangssprache . Natürliche und künstliche Sprache . Verschiebungen in dem Verhältnisse der Individuen zur
Gemeinsprache . Zwischenstufen zwischen Gemeinsprache und Mundart . Entstehung der Gemeinsprache .

Register 205

Verzeichnis von Abkürzungen 209

ERSTES KAPITEL.

ALLGEMEINES ÜBER DAS WESEN DER SPRACHENTWICKELUNG.

§ 11. Es ist von fundamentaler Bedeutung für den Geschichtsforscher, dass er sich Umfang und Natur des
Gegenstandes genau klar macht, dessen Entwickelung er zu untersuchen hat. Man hält das leicht für eine
selbstverständliche Sache, in Bezug auf welche man gar nicht irre gehen könne. Und doch liegt gerade hier der
Punkt, in welchem die Sprachwissenschaft die Versäumnis von Dezennien noch nicht lange angefangen hat
nachzuholen.

Die historische Grammatik ist aus der älteren bloss deskriptiven Grammatik hervorgegangen, und sie hat noch
sehr vieles von derselben beibehalten. Wenigstens in der zusammenfassenden Darstellung hat sie durchaus die alte
Form bewahrt. Sie hat nur eine Reihe von deskriptiven Grammatiken parallel aneinander gefügt. Das Vergleichen,
nicht die Darlegung der Entwickelung ist zunächst als das eigentliche Charakteristikum der neuen Wissenschaft
aufgefasst. Man hat die vergleichende Grammatik, die sich mit dem gegenseitigen Verhältnis verwandter
Sprachfamilien beschäftigt, deren gemeinsame Quelle für uns verloren gegangen ist, sogar in Gegensatz zu der
historischen gesetzt, die von einem durch die Überlieferung gegebenen Ausgangspunkte die Weiterentwickelung
verfolgt. Und noch immer liegt vielen Sprachforschern und Philologen der Gedanke sehr fern, dass beides nur ein
und dieselbe Wissenschaft ist, mit der gleichen Aufgabe, der gleichen Methode, nur dass das Verhältnis zwischen
dem durch Überlieferung Gegebenen und der kombinatorischen Tätigkeit sich verschieden gestaltet. Aber auch auf
dem Gebiete der historischen Grammatik im engeren Sinne hat man die selbe Art des Vergleichens angewandt: man
hat deskriptive Grammatiken verschiedener Perioden aneinander gereiht. Zum Teil ist es das praktische Bedürfnis,
welches für systematische Darstellung ein solches Verfahren gefordert hat und bis zu einem gewissen Grade immer
fordern wird. Es ist aber nicht [24 Erstes Kapitel. Allgemeines über die Sprachentwickelung.] zu leugnen, dass auch
die ganze Anschauung von der Sprachentwickelung unter dem Banne dieser Darstellungsweise gestanden hat und
zum Teil noch steht.

Die deskriptive Grammatik verzeichnet, was von grammatischen Formen und Verhältnissen innerhalb einer
Sprachgenossenschaft zu einer gewissen Zeit üblich ist, was von einem jedem gebraucht werden kann, ohne vom
andern missverstanden zu werden und ohne ihn fremdartig zu berühren. Ihr Inhalt sind nicht Tatsachen, sondern nur
eine Abstraktion aus den beobachteten Tatsachen. Macht man solche Abstraktionen innerhalb der selben
Sprachgenossenschaft zu verschiedenen Zeiten, so werden sie verschieden ausfallen. Man erhält durch Vergleichung
die Gewissheit, dass sich Umwälzungen vollzogen haben, man entdeckt wohl auch eine gewisse Regelmässigkeit in
dem gegenseitigen Verhältnis, aber über das eigentliche Wesen der vollzogenen Umwälzung wird man auf diese
Weise nicht aufgeklärt. Der Kausalzusammenhang bleibt verschlossen, so lange man nur mit diesen Abstraktionen
rechnet, als wäre die eine wirklich aus der andern entstanden. Denn zwischen Abstraktionen gibt es überhaupt
keinen Kausalnexus, sondern nur zwischen realen Objekten und Tatsachen. So lange man sich mit der

18
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

deskriptiven Grammatik bei den ersteren beruhigt, ist man noch sehr weit entfernt von einer wissenschaftlichen
Erfassung des Sprachlebens.

§ 12. Das wahre Objekt für den Sprachforscher sind vielmehr sämtliche Äusserungen der Sprechtätigkeit an
sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung auf einander. Alle Lautkomplexe, die irgend ein Einzelner je
gesprochen, gehört oder vorgestellt hat mit den damit assoziierten Vorstellungen, deren Symbole sie gewesen sind,
alle die mannigfachen Beziehungen, welche die Sprachelemente in den Seelen der Einzelnen eingegangen sind,
fallen in die Sprachgeschichte, müssten eigentlich alle bekannt sein, um ein vollständiges Verständnis der
Entwickelung zu ermöglichen. Man halte mir nicht entgegen, dass es unnütz sei eine Aufgabe hinzustellen, deren
Unlösbarkeit auf der Hand liegt. Es ist schon deshalb von Wert sich das Idealbild einer Wissenschaft in seiner
ganzen Reinheit zu vergegenwärtigen, weil wir uns dadurch des Abstandes bewusst werden, in welchem unser
Können dazu steht, weil wir daraus lernen, dass und warum wir uns in so vielen Fragen bescheiden müssen, weil
dadurch die Superklugheit gedemütigt wird, die mit einigen geistreichen Gesichtspunkten die kompliziertesten
historischen Entwickelungen begriffen zu haben meint. Eine unvermeidliche Notwendigkeit aber ist es für uns, uns
eine allgemeine Vorstellung von dem Spiel der Kräfte in diesem ganzen massenhaften Getriebe zu machen, die wir
beständig [25 Gegenstand der Wissenschaft.] vor Augen haben müssen, wenn wir die wenigen dürftigen Fragmente,
die uns daraus wirklich gegeben sind, richtig einzuordnen versuchen wollen.

19
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Nur ein Teil dieser wirkenden Kräfte tritt in die Erscheinung. Nicht bloss das Sprechen und Hören sind
sprachgeschichtliche Vorgänge, auch nicht bloss weiterhin die dabei erregten Vorstellungen und die beim leisen
Denken durch das Bewusstsein ziehenden Sprachgebilde. Vielleicht der bedeutendste Fortschritt, den die neuere
Psychologie gemacht hat, besteht in der Erkenntnis, dass eine ganze Menge von psychischen Vorgängen sich
ohne klares Bewusstsein vollziehen, und dass Alles, was je im Bewusstsein gewesen ist, als ein wirksames
Moment im Unbewussten bleibt. Diese Erkenntnis ist auch für die Sprachwissenschaft von der grössten Tragweite
und ist von Steinthal in ausgedehntem Masse für dieselbe verwertet worden. Alle Äusserungen der Sprechtätigkeit
fliessen aus diesem dunklen Raume des Unbewussten in der Seele. In ihm liegt alles, was der Einzelne von
sprachlichen Mitteln zur Verfügung hat, und wir dürfen sagen sogar etwas mehr, als worüber er unter gewöhnlichen
Umständen verfügen kann, als ein höchst kompliziertes psychisches Gebilde, welches aus mannigfach untereinander
verschlungenen Vorstellungsgruppen besteht. Wir haben hier nicht die allgemeinen Gesetze zu betrachten, nach
welchen diese Gruppen sich bilden. Ich verweise dafür auf Steinthals Einleitung in die Psychologie und
Sprachwissenschaft. Es kommt hier nur darauf an uns ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit zu veranschaulichen.[1])
[26 Erstes Kapitel. Allgemeines über die Sprachentwickelung.]
Sie sind ein Produkt aus alledem, was früher einmal durch Hören anderer, durch eigenes Sprechen und durch
Denken in den Formen der Sprache in das Bewusstsein getreten ist. Durch sie ist die Möglichkeit gegeben, dass das,
was früher einmal im Bewusstsein war, unter günstigen Bedingungen wieder in dasselbe zurücktreten kann, also
auch, dass das, was früher einmal verstanden oder gesprochen ist, wieder verstanden oder gesprochen werden kann.
Man muss nach dem schon erwähnten allgemeinen Gesetze daran festhalten, dass schlechthin keine durch die
Sprechtätigkeit in das Bewusstsein eingeführte Vorstellung[2]) spurlos verloren geht, mag die Spur auch häufig so
schwach sein, dass ganz besondere Umstände, wie sie vielleicht nie eintreten, erforderlich sind, um ihr die Fähigkeit
zu geben wieder bewusst zu werden. Die Vorstellungen werden gruppenweise ins Bewusstsein eingeführt und
bleiben daher als Gruppen im Unbewussten. Es assoziieren sich die Vorstellungen auf einander folgender Klänge,
nach einander ausgeführter Bewegungen der Sprechorgane zu einer Reihe. Die Klangreihen und die
Bewegungsreihen assoziieren sich untereinander. Mit beiden assoziieren sich die Vorstellungen, für die sie als
Symbole dienen, nicht bloss die Vorstellungen von Wortbedeutungen, sondern auch die Vorstellungen von
syntaktischen Verhältnissen. Und nicht bloss die einzelnen Wörter, sondern grössere Lautreihen, ganze Sätze
assoziieren sich unmittelbar mit dem Gedankeninhalt, der in sie gelegt worden ist. Diese wenigstens ursprünglich
durch die Aussenwelt gegebenen Gruppen organisieren sich nun in der Seele jedes Individuums zu weit reicheren
und verwickelteren Verbindungen, die sich nur zum kleinsten Teile bewusst vollziehen und dann auch unbewusst
weiter wirken, zum bei weitem grösseren Teile niemals wenigstens zu klarem Bewusstsein gelangen und
nichtsdestoweniger wirksam sind. So assoziieren sich die verschiedenen Gebrauchsweisen, in denen man ein Wort,
eine Redensart kennen gelernt hat, unter einander. So assoziieren sich die verschiedenen Kasus des gleichen
Nomens, die verschiedenen tempora, modi, Personen des gleichen Verbums, die verschiedenen Ableitungen aus der
gleichen Wurzel vermöge der Verwandtschaft des Klanges und der Bedeutung; ferner alle Wörter von gleicher
Funktion, z. B. alle Substantiva, alle Adjektiva, alle Verba; ferner die [27 Vorstellungsgruppen als Grundlage der
Sprechtätigkeit.] mit gleichen Suffixen gebildeten Ableitungen aus verschiedenen Wurzeln: ferner die ihrer
Fnnktion nach gleichen Formen verschiedener Wörter, also z.B. alle Plurale, alle Genitive, alle Passive, alle
Perfekta, alle Konjunktive, alle ersten Personen; ferner die Wörter von gleicher Flexionsweise, z. B. im Nhd. alle
schwachen Verba im Gegensatz zu den starken, alle Masculina, die den Plural mit Umlaut bilden im Gegensatz zu
den nicht umlautenden; auch Wörter von nur partiell gleicher Flexionsweise können sich im Gegensatz zu stärker
abweichenden zu Gruppen zusammenschliessen; ferner assoziieren sich in Form oder Funktion gleiche Satzformen.
Und so gibt es noch eine Menge Arten von zum Teil mehrfach vermittelten Assoziationen, die eine grössere oder
geringere Bedeutung für das Sprachleben haben. Alle diese Assoziationen können ohne klares Bewusstsein zu
Stande kommen und sich wirksam erweisen, und sie sind durchaus nicht mit den Kategorien zu verwechseln, die
durch die grammatische Reflexion abstrahiert werden, wenn sie sich auch gewöhnlich mit diesen decken.

§ 13. Es ist ebenso bedeutsam als selbstverständlich, dass dieser Organismus von Vorstellungsgruppen sich bei
jedem Individuum in stetiger Veränderung befindet. Erstlich verliert jedes einzelne Moment, welches keine
Kräftigung durch Erneuerung des Eindruckes oder durch Wiedereinführung in das Bewusstsein empfängt, fort und
fort an Stärke. Zweitens wird durch jede Tätigkeit des Sprechens, Hörens oder Denkens etwas Neues hinzugefügt.
Selbst bei genauer Wiederholung einer früheren Tätigkeit erhalten wenigstens bestimmte Momente des schon
bestehenden Organismus eine Kräftigung. Und selbst, wenn jemand schon eine reiche Betätigung hinter sich hat, so
ist doch immer noch Gelegenheit genug zu etwas Neuem geboten, ganz abgesehen davon, dass etwas bisher in der
Sprache nicht Übliches eintritt, mindestens zu neuen Variationen der alten Elemente. Drittens werden sowohl durch
die Abschwächung als durch die Verstärkung der alten Elemente als endlich durch den Hinzutritt neuer die
Assoziationsverhältnisse innerhalb des Organismus allemal verschoben. Wenn daher auch der Organismus bei den
Erwachsenen im Gegensatz zu dem Entwickelungsstadium der frühesten Kindheit eine gewisse Stabilität hat, so
bleibt er doch immer noch mannigfaltigen Schwankungen ausgesetzt.

Ein anderer gleich selbstverständlicher, aber auch gleich wichtiger Punkt, auf den ich hier hinweisen muss, ist

20
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

folgender: der Organismus der auf die Sprache bezüglichen Vorstellungsgruppen entwickelt sich bei jedem
Individuum auf eigentümliche Weise, gewinnt aber auch bei jedem eine eigentümliche Gestalt. Selbst wenn er sich
bei verschiedenen ganz aus den gleichen Elementen zusammensetzen sollte, so werden doch diese Elemente in
verschiedener Reihenfolge, in ver- [28 Erstes Kapitel. Allgemeines über die Sprachentwickelung.] schiedener
Gruppierung, mit verschiedener Intensität, dort zu häufigeren, dort zu selteneren Malen in die Seele eingeführt sein,
und wird sich danach ihr gegenseitiges Machtverhältnis und damit ihre Gruppierungsweise verschieden gestalten,
selbst wenn wir die Verschiedenheit in den allgemeinen und besonderen Fähigkeiten der Einzelnen gar nicht
berücksichtigen.

Schon bloss aus der Beachtung der unendlichen Veränderlichkeit und der eigentümlichen Gestaltung eines jeden
einzelnen Organismus ergibt sich die Notwendigkeit einer unendlichen Veränderlichkeit der Sprache im ganzen und
einer fortwährenden Herausbildung von dialektischen Verschiedenheiten.

§ 14. Die geschilderten psychischen Organismen sind die eigentlichen Träger der historischen Entwickelung.
Das wirklich Gesprochene hat gar keine Entwickelung. Es ist eine irreführende Ausdrucksweise, wenn man sagt,
dass ein Wort aus einem in einer früheren Zeit gesprochenen Worte entstanden sei. Als physiologisch-
physikalisches Produkt geht das Wort spurlos unter, nachdem die dabei in Bewegung gesetzten Körper wieder zur
Ruhe gekommen sind. Und ebenso vergeht der physische Eindruck auf den Hörenden. Wenn ich die selben
Bewegungen der Sprechorgane, die ich das erste Mal gemacht habe, ein zweites, drittes, viertes Mal wiederhole, so
besteht zwischen diesen vier gleichen Bewegungen keinerlei physischer Kausalnexus, sondern sie sind unter
einander nur durch den psychischen Organismus vermittelt. Nur in diesem bleibt die Spur alles Geschehenen,
wodurch weiteres Geschehen veranlasst werden kann, nur in diesem sind die Bedingungen geschichtlicher
Entwickelung gegeben.

Das physische Element der Sprache hat lediglich die Funktion die Einwirkung der einzelnen psychischen
Organismen auf einander zu vermitteln, ist aber für diesen Zweck unentbehrlich, weil es, wie schon in der
Einleitung nachdrücklich hervorgehoben ist, keine direkte Einwirkung einer Seele auf die andere gibt. Wiewohl an
sich nur rasch vorübergehende Erscheinung, verhilft es doch durch sein Zusammenwirken mit den psychischen
Organismen diesen zu der Möglichkeit auch nach ihrem Untergange Wirkungen zu hinterlassen. Da ihre Wirkung
mit dem Tode des Individuums aufhört, so würde die Entwickelung einer Sprache auf die Dauer einer Generation
beschränkt sein, wenn nicht nach und nach immer neue Individuen dazu träten, in denen sich unter der Einwirkung
der schon bestehenden neue Sprachorganismen erzeugten. Dass die Träger der historischen Entwickelung einer
Sprache stets nach Ablauf eines verhältnismässig kurzen Zeitraumes sämtlich untergegangen und durch neue ersetzt
sind, ist wieder eine höchst einfache, aber darum nicht minder beherzigenswerte und nicht minder häufig übersehene
Wahrheit. [29 Beschreibung eines Sprachzustandes.]

§ 15. Sehen wir nun, wie sich bei dieser Natur des Objekts die Aufgabe des Geschichtschreibers stellt. Der
Beschreibung von Zuständen wird er nicht entraten können, da er es mit grossen Komplexen von gleichzeitig
neben einander liegenden Elementen zu tun hat. Soll aber diese Beschreibung eine wirklich brauchbare Unterlage
für die historische Betrachtung werden, so muss sie sich an die realen Objekte halten, d. h. an die eben geschilderten
psychischen Organismen. Sie muss ein möglichst getreues Bild derselben liefern, sie muss nicht bloss die Elemente,
aus denen sie bestehen, vollständig aufzählen, sondern auch das Verhältnis derselben zu einander veranschaulichen,
ihre relative Stärke, die mannigfachen Verbindungen, die sie unter einander eingegangen sind, den Grad der Enge
und Festigkeit dieser Verbindungen; sie muss, wollen wir es populärer ausdrücken, uns zeigen, wie sich das
Sprachgefühl verhält. Um den Zustand einer Sprache vollkommen zu beschreiben, wäre es eigentlich erforderlich,
an jedem einzelnen der Sprachgenossenschaft angehörigen Individuum das Verhalten der auf die Sprache
bezüglichen Vorstellungsmassen vollständig zu beobachten und die an den einzelnen gewonnenen Resultate unter
einander zu vergleichen. In Wirklichkeit müssen wir uns mit etwas viel Unvollkommenerem begnügen, was mehr
oder weniger, immer aber sehr beträchtlich hinter dem ldeal zurückbleibt.

Wir sind häufig auf die Beobachtung einiger wenigen Individuen, ja eines einzelnen beschränkt und vermögen auch
den Sprachorganismus dieser wenigen oder dieses einzelnen nur partiell zu erkennen. Aus der Vergleichung der
einzelnen Sprachorganismen lässt sich ein gewisser Durchschnitt gewinnen, wodurch das eigentlich Normale in der
Sprache, der Sprachusus bestimmt wird. Dieser Durchschnitt kann natürlich um so sicherer festgestellt werden, je
mehr Individuen und je vollständiger jedes einzelne beobachtet werden kann. Je unvollständiger die Beobachtung
ist, um so mehr Zweifel bleiben zurück, was individuelle Eigentümlichkeit und was allen oder den meisten gemein
ist. Immer beherrscht der Usus, auf dessen Darstellung die Bestrebungen des Grammatikers fast allein gerichtet zu
sein pflegen, die Sprache der Einzelnen nur bis zu einem gewissen Grade, daneben steht immer vieles, was nicht
durch den Usus bestimmt ist, ja ihm direkt widerspricht.

21
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Der Beobachtung eines Sprachorganismus stellen sich auch im günstigsten Falle die grössten Schwierigkeiten in den
Weg. Direkt ist er überhaupt nicht zu beobachten. Denn er ist ja etwas unbewusst in der Seele Ruhendes. Er ist
immer nur zu erkennen an seinen Wirkungen, den einzelnen Akten der Sprechtätigkeit. Erst mit Hilfe von vielen
Schlüssen kann aus diesem ein Bild von den im Unbewussten lagernden Vorstellungsmassen gewonnen werden. [30
Erstes Kapitel. Allgemeines über die Sprachentwickelung.]

Von den physischen Erscheinungen der Sprechtätigkeit sind die akustischen der Beobachtung am leichtesten
zugänglich. Freilich aber sind die Resultate unserer Gehörswahrnehmung grösstenteils schwer genau zu messen und
zu definieren, und noch schwerer lässt sich von ihnen eine Vorstellung geben ausser wieder durch direkte Mitteilung
für das Gehör. Weniger unmittelbar der Beobachtung zugänglich, aber einer genaueren Bestimmung und
Beschreibung fähig sind die Bewegungen der Sprechorgane. Dass es keine andere exakte Darstellung der Laute
einer Sprache gibt, als diejenige, die uns lehrt, welche Organbewegungen erforderlich sind, um sie hervorzubringen,
das bedarf heutzutage keines Beweises mehr. Das Ideal einer solchen Darstellungsweise ist nur da annähernd zu
erreichen, wo wir in der Lage sind, Beobachtungen an lebendigen Individuen zu machen. Wo wir nicht so glücklich
sind, muss uns dies Ideal wenigstens immer vor Augen schweben, müssen wir uns bestreben, ihm so nahe als
möglich zu kommen, aus dem Surrogate der Buchstabenschrift die lebendige Erscheinung, so gut es gehen will,
herzustellen. Dies Bestreben kann aber nur demjenigen glücken, der einigermassen lautphysiologisch geschult ist,
der bereits Beobachtungen an lebenden Sprachen gemacht hat, die er auf die toten übertragen kann, der sich
ausserdem eine richtige Vorstellung über das Verhältnis von Sprache und Schrift gebildet hat. Es eröffnet sich also
schon hier ein weites Feld für die Kombination, schon hier zeigt sich Vertrautheit mit den Lebensbedingungen des
Objekts als notwendiges Erfordernis.

Die psychische Seite der Sprechtätigkeit ist wie alles Psychische überhaupt unmittelbar nur durch
Selbstbeobachtung zu erkennen. Alle Beobachtung an andern Individuen gibt uns zunächst nur physische Tatsachen.
Diese auf psychische zurückzuführen gelingt nur mit Hilfe von Analogieschlüssen auf Grundlage dessen, was wir an
der eigenen Seele beobachtet haben. Immer von neuem angestellte exakte Selbstbeobachtung, sorgfältige Analyse
des eigenen Sprachgefühls ist daher unentbehrlich für die Schulung des Sprachforschers. Die Analogieschlüsse sind
dann natürlich am leichtesten bei solchen Objekten, die dem eigenen Ich am ähnlichsten sind. An der Muttersprache
lässt sich daher das Wesen der Sprechtätigkeit leichter erfassen als an irgend einer anderen. Ferner ist man natürlich
wieder viel besser daran, wo man Beobachtungen am lebenden Individuum anstellen kann, als wo man auf die
zufälligen Reste der Vergangenheit angewiesen ist. Denn nur am lebenden Individuum kann man Resultate
gewinnen, die von jedem Verdachte der Fälschung frei sind, nur hier kann man seine Beobachtungen beliebig
vervollständigen und methodische Experimente machen. [31 Sprachbeschreibung. Ursache der Sprachveränderung.]

Eine solche Beschreibung eines Sprachzustandes zu liefern, die im stande ist eine durchaus brauchbare Unterlage für
die geschichtliche Forschung zu liefern,[3]) ist daher keine leichte, unter Umständen eine höchst schwierige
Aufgabe, zu deren Lösung bereits Klarheit über das Wesen des Sprachlebens gehört, und zwar in um so höherem
Grade, je unvollständiger und unzuverlässiger das zu Gebote stehende Material, und je verschiedener die
darzustellende Sprache von der Muttersprache des Darstellers ist. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn die
gewöhnlichen Grammatiken weit hinter unsern Ansprüchen zurückbleiben. Unsere herkömmlichen grammatischen
Kategorien sind ein sehr ungenügendes Mittel die Gruppierungsweise der Sprachelemente zu veranschaulichen.
Unser grammatisches System ist lange nicht fein genug gegliedert, um der Gliederung der psychologischen Gruppen
adäquat sein zu können. Wir werden noch vielfach Veranlassung haben die Unzulänglichkeit desselben im einzelnen
nachzuweisen. Es verführt ausserdem dazu das, was aus einer Sprache abstrahiert ist, in ungehöriger Weise auf eine
andere zu übertragen. Selbst wenn man sich im Kreise des Indogermanischen hält, erzeugt die Anwendung der
gleichen grammatischen Schablone viele Verkehrtheiten. Sehr leicht wird das Bild eines bestimmten
Sprachzustandes getrübt, wenn dem Betrachter eine nahe verwandte Sprache oder eine ältere oder jüngere
Entwicklungsstufe bekannt ist. Da ist die grösste Sorgfalt erforderlich, dass sich nichts Fremdartiges einmische.
Nach dieser Seite hin hat gerade die historische Sprachforschung viel gesündigt, indem sie das, was sie aus der
Erforschung des älteren Sprachzustandes abstrahiert hat, einfach auf den jüngeren übertragen hat. So ist etwa die
Bedeutung eines Wortes nach seiner Etymologie bestimmt, während doch jedes Bewusstsein von dieser Etymologie
bereits geschwunden und eine selbständige Entwickelung der Bedeutung eingetreten ist. So sind in der Flexionslehre
die Rubriken der ältesten Periode durch alle folgenden Zeiten beibehalten worden, ein Verfahren, wobei zwar die
Nachwirkungen der ursprünglichen Verhältnisse zu Tage treten, aber nicht die neue psychische Organisation der
Gruppen.

§ 16. Ist die Beschreibung verschiedener Epochen einer Sprache nach unseren Forderungen eingerichtet, so ist damit
eine Bedingung erfüllt, wodurch es möglich wird sich aus der Vergleichung der verschiedenen Beschreibungen eine
Vorstellung von den stattgehabten Vorgängen zu bilden. Dies wird natürlich um so besser gelingen, je näher [32
Erstes Kapitel. Allgemeines über die Sprachentwickelung.] sich die mit einander verglichenen Zustände stehen.

22
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Doch selbst die leichteste Veränderung des Usus pflegt bereits die Folge des Zusammenwirkens einer Reihe von
Einzelvorgängen zu sein, die sich zum grossen Teile oder sämtlich unserer Beobachtung entziehen.

Suchen wir zunächst ganz im allgemeinen festzustellen: was ist die eigentliche Ursache für die Veränderungen des
Sprachusus? Veränderungen, welche durch die bewusste Absicht einzelner Individuen zu Stande kommen, sind
nicht absolut ausgeschlossen. Grammatiker haben an der Fixierung der Schriftsprachen gearbeitet. Die Terminologie
der Wissenschaften, Künste und Gewerbe ist durch Lehrmeister, Forscher und Entdecker geregelt und bereichert. In
einem despotischen Reiche mag die Laune des Monarchen hie und da in einem Punkte eingegriffen haben.
Überwiegend aber hat es sich dabei nicht um die Schöpfung von etwas ganz Neuem gehandelt, sondern nur um die
Regelung eines Punktes, in welchem der Gebrauch noch schwankte, und die Bedeutung dieser willkürlichen
Festsetzung ist verschwindend gegenüber den langsamen, ungewollten und unbewussten Veränderungen, denen der
Sprachusus fortwährend ausgesetzt ist. Die eigentliche Ursache für die Veränderung des Usus ist nichts anderes
als die gewöhnliche Sprechtätigkeit. Bei dieser ist jede absichtliche Einwirkung auf den Usus ausgeschlossen. Es
wirkt dabei keine andere Absicht als die auf das augenblickliche Bedürfnis gerichtete Absicht seine Wünsche und
Gedanken anderen verständlich zu machen. Im übrigen spielt der Zweck bei der Entwickelung des Sprachusus keine
andere Rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der Entwickelung der organischen Natur angewiesen hat: die
grössere oder geringere Zweckmässigkeit der entstandenen Gebilde ist bestimmend für Erhaltung oder Untergang
derselben.

§ 17. Wenn durch die Sprechtätigkeit der Usus verschoben wird, ohne dass dies von irgend jemand gewollt ist, so
beruht das natürlich darauf, dass der Usus die Sprechtätigheit nicht vollkommen beherrscht, sondern immer ein
bestimmtes Mass individueller Freiheit übrig lässt. Die Betätigung dieser individuellen Freiheit wirkt zurück auf den
psychischen Organismus des Sprechenden, wirkt aber zugleich auch auf den Organismus der Hörenden. Durch die
Summierung einer Reihe solcher Verschiebungen in den einzelnen Organismen, wenn sie sich in der gleichen
Richtung bewegen, ergibt sich dann als Gesamtresultat eine Verschiebung des Usus. Aus dem anfänglich nur
Individuellen bildet sich ein neuer Usus heraus, der eventuell den alten verdrängt. Daneben gibt es eine Menge
gleichartiger Verschiebungen in den einzelnen Organismen, die, weil sie sich nicht gegenseitig stützen, keinen
solchen durchschlagenden Erfolg haben. [33 Ursache der Sprachveränderung.]

Es ergibt sich demnach, dass sich die ganze Prinzipienlehre der Sprachgeschichte um die Frage konzentriert: wie
verhält sich der Sprachusus zur individuellen Sprechtätigkeit? wie wird diese durch jenen bestimmt und wie
wirkt sie umgekehrt auf ihn zurück?[4])

Es handelt sich darum, die verschiedenen Veränderungen des Usus, wie sie bei der Sprachentwickelung
vorkommen, unter allgemeine Kategorien zu bringen und jede einzelne Kategorie nach ihrem Werden und ihren
verschiedenen Entwickelungsstadien zu untersuchen. Um hierbei zum Ziele zu gelangen, müssen wir uns an solche
Fälle halten, in denen diese einzelnen Entwickelungsstadien möglichst vollständig und klar vorliegen. Deshalb
liefern uns im allgemeinen die modernen Epochen das brauchbarste Material. Doch auch die geringste Veränderung
des Usus ist bereits ein komplizierter Prozess, den wir nicht begreifen ohne Berücksichtigung der individuellen
Modifikation des Usus. Da, wo die gewöhnliche Grammatik zu sondern und Grenzlinien zu ziehen pflegt, müssen
wir uns bemühen alle möglichen Zwischenstufen und Vermittelungen aufzufinden.

Auf allen Gebieten des Sprachlebens ist eine allmählich abgestufte Entwickelung möglich. Diese sanfte Abstufung
zeigt sich einerseits in den Modifikationen, welche die Individualsprachen erfahren, anderseits in dem Verhalten der
Individualsprachen zu einander. Dies im einzelnen zu zeigen ist die Aufgabe meines ganzen Werkes. Hier sei
zunächst nur noch darauf hingewiesen, dass der einzelne zu dem Sprachmateriale seiner Genossenschaft teils ein
aktives, teils ein nur passives Verhältnis haben kann, d.h. nicht alles was er hört und versteht, wendet er auch selbst
an. Dazu kommt, dass von dem Sprachmateriale, welches viele Individuen übereinstimmend anwenden, doch der
eine dieses, der andere jenes bevorzugt. Hierauf beruht ganz besonders die Abweichung auch zwischen den einander
am nächsten stehenden lndividualsprachen und die Möglichkeit einer allmählichen Verschiebung des Usus. [34
Erstes Kapitel. Allgemeines über die Sprachentwickelung.]

§ 18. Die Sprachveränderungen vollziehen sich an dem Individuum teils durch seine spontane Tätigkeit, durch
Sprechen und Denken in den Formen der Sprache, teils durch die Beeinflussung, die es von andern Individuen
erleidet. Eine Veränderung des Usus kann nicht wohl zu Stande kommen, ohne dass beides zusammenwirkt. Der
Beeinflussung durch andere bleibt das Individuum immer ausgesetzt, auch wenn es schon das Sprachübliche
vollständig in sich aufgenommen hat. Aber die Hauptperiode der Beeinflussung ist doch die Zeit der ersten
Aufnahme, der Spracherlernung. Diese ist prinzipiell von der sonstigen Beeinflussung nicht zu sondern, erfolgt auch
im allgemeinen auf die gleiche Weise; es lässt sich auch im Leben des einzelnen nicht wohl ein bestimmter Punkt
angeben, von dem man sagen könnte, dass jetzt die Spracherlernung abgeschlossen sei. Aber der graduelle

23
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Unterschied ist doch ein enormer. Es liegt auf der Hand, dass die Vorgänge bei der Spracherlernung von der
allerhöchsten Wichtigkeit für die Erklärung der Veränderung des Sprachusus sind, dass sie die wichtigste
Ursache für diese Veränderungen abgeben. Wenn wir, zwei durch einen längeren Zwischenraum von einander
getrennte Epochen vergleichend, sagen, die Sprache habe sich in den Punkten verändert, so geben wir ja damit nicht
den wirklichen Tatbestand an, sondern es verhält sich vielmehr so: die Sprache hat sich ganz neu erzeugt und diese
Neuschöpfung ist nicht völlig übereinstimmend mit dem Früheren, jetzt Untergegangenen ausgefallen.

§ 19. Bei der Klassifizierung der Veränderungen des Sprachusus können wir nach verschiedenen
Gesichtspunkten verfahren. Ich möchte zunächst einen wichtigen Unterschied allgemeinster Art hervorheben. Die
Vorgänge können entweder positiv oder negativ sein, d.h. sie bestehen entweder in der Schöpfung von etwas
Neuem oder in dem Untergang von etwas Altem, oder endlich drittens sie bestehen in einer Unterschiebung, d.h.
der Untergang des Alten und das Auftreten des Neuen erfolgt durch den selben Akt. Das letztere ist ausschliesslich
der Fall bei dem Lautwandel. Scheinbar zeigt sich die Unterschiebung auch auf andern Gebieten. Dieser Schein wird
dadurch hervorgerufen, dass man die Zwischenstufen nicht beachtet, aus denen sich ergibt, dass in Wahrheit ein
Nacheinander von positiven und negativen Vorgängen vorliegt. Die negativen Vorgänge beruhen immer darauf,
dass in der Sprache der jüngeren Generation etwas nicht neu erzeugt wird, was in der Sprache der älteren vorhanden
war; wir haben es also, genau genommen, nicht mit negativen Vorgängen, sondern mit dem Nichteintreten von
Vorgängen zu tun. Vorbereitet aber muss das Nichteintreten dadurch sein, dass das später Untergehende auch schon
bei der älteren Generation selten geworden ist. [35 Spontaneität u. Beeinflussung. Arten d. Sprachveränderung.
Ursprung d. Sprache.] Eine Generation, die ein bloss passives Verhältnis dazu hat, schiebt sich zwischen eine mit
noch aktivem und eine mit gar keinem Verhältnis.

Anderseits könnte man die Veränderungen des Usus danach einteilen, ob davon die lautliche Seite oder die
Bedeutung betroffen wird. Wir erhalten danach zunächst Vorgänge, welche die Laute treffen, ohne dass die
Bedeutung dabei in Betracht kommt, und solche, welche die Bedeutung treffen, ohne dass die Laute in
Mitleidenschaft gezogen werden, d.h. also die beiden Kategorien des Lautwandels und des Bedeutungswandels.
Jeder Bedeutungswandel setzt voraus, dass die auf die Lautgestalt bezügliche Vorstellungsgruppe noch als die
gleiche empfunden wird, und ebenso jeder Lautwandel, dass die Bedeutung unverändert geblieben ist. Das schliesst
natürlich nicht aus, dass sich mit der Zeit sowohl der Laut als die Bedeutung ändern kann. Aber beide Vorgänge
stehen dann in keinem Kausalzusammenhange mit einander; es ist nicht etwa der eine durch den andern veranlasst
oder beide durch die gleiche Ursache. Für andere Veränderungen kommen von vornherein Lautgestalt und
Bedeutung zugleich in Frage. Hierher gehört zunächst die uranfängliche Zusammenknüpfung von Laut und
Bedeutung, die wir als Urschöpfung bezeichnen können. Mit dieser hat natürlich die Sprachentwickelung
begonnen, und alle anderen Vorgänge sind erst möglich geworden auf Grund dessen, was die Urschöpfung
hervorgebracht hat. Ferner aber gehören hierher verschiedene Vorgänge, die das mit einander gemein haben, dass
die schon bestehenden lautlichen Elemente der Sprache neue Kombinationen eingehen auf Grund der ihnen
zukommenden Bedeutung. Der wichtigste Faktor dabei ist die Analogie, welche allerdings auch auf rein lautlichem
Gebiete eine Rolle spielt, aber doch ihre Hauptwirksamkeit da hat, wo zu gleicher Zeit die Bedeutung mitwirkt.

§ 20. Wenn unsere Betrachtungsweise richtig durchgeführt wird, so müssen die allgemeinen Ergebnisse derselben
auf alle Sprachen und auf alle Entwickelungsstufen derselben anwendbar sein, auch auf die Anfänge der Sprache
überhaupt. Die Frage nach dem Ursprunge der Sprache kann nur auf Grundlage der Prinzipienlehre beantwortet
werden. Andere Hilfsmittel zur Beantwortung gibt es nicht. Wir können nicht auf Grund der Überlieferung eine
historische Schilderung von den Anfängen der Sprache entwerfen. Die Frage, die sich beantworten lässt, ist
überhaupt nur: wie war die Entstehung der Sprache möglich. Diese Frage ist befriedigend gelöst, wenn es uns
gelingt die Entstehung der Sprache lediglich aus der Wirksamkeit derjenigen Faktoren abzuleiten, die wir auch jetzt
noch bei der Weiterentwickelung der Sprache immerfort wirksam sehen. Übrigens lässt sich ein Gegen- [36 Erstes
Kapitel. Allgemeines über die Sprachentwickelung.] satz zwischen anfänglicher Schöpfung der Sprache und blosser
Weiterentwickelung gar nicht durchführen. Sobald einmal die ersten Ansätze gemacht sind, ist Sprache vorhanden
und Weiterentwickelung. Es existieren nur graduelle Unterschiede zwischen den ersten Anfängen der Sprache und
den späteren Epochen.

§ 21. Noch auf einen Punkt muss ich hier kurz hinweisen. In der Opposition gegen eine früher übliche
Behandlungsweise der Sprache, wonach alle grammatischen Verhältnisse einfach aus den logischen abgeleitet
wurden, ist man soweit gegangen, dass man eine Rücksichtnahme auf die logischen Verhältnisse, welche in der
grammatischen Form nicht zum Ausdruck kommen, von der Sprachbetrachtung ganz ausgeschlossen wissen will.
Das ist nicht zu billigen. So notwendig es ist einen Unterschied zwischen logischen und grammatischen Kategorien
zu machen, so notwendig ist es auf der andern Seite sich das Verhältnis beider zu einander klar zu machen.
Grammatik und Logik treffen zunächst deshalb nicht zusammen, weil die Ausbildung und Anwendung der Sprache
nicht durch streng logisches Denken vor sich geht, sondern durch die natürliche, ungeschulte Bewegung der

24
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Vorstellungsmassen, die je nach Begabung und Ausbildung mehr oder weniger logischen Gesetzen folgt oder nicht
folgt. Aber auch der wirklichen Bewegung der Vorstellungsmassen mit ihrer bald grösseren bald geringeren
logischen Konsequenz ist die sprachliche Form des Ausdrucks nicht immer kongruent. Auch psychologische und
grammatische Kategorie decken sich nicht. Daraus folgt, dass der Sprachforscher beides auseinander halten muss,
aber nicht, dass er bei der Analyse der menschlichen Rede auf psychische Vorgänge, die sich beim Sprechen und
Hören vollziehen, ohne doch im Sprachlichen Ausdruck zur Erscheinung zu gelangen, keine Rücksicht zu nehmen
brauchte. Gerade erst durch eine allseitige Berücksichtigung dessen, was in den Elementen, aus denen sich die
individuelle Rede zusammensetzt, an sich noch nicht liegt, was aber doch den Redenden vorschwebt, und vom
Hörenden verstanden wird, gelangt der Sprachforscher zur Erkenntnis des Ursprungs und der Umwandlungen der
sprachlichen Ausdrucksformen. Wer die grammatischen Formen immer nur isoliert betrachtet ohne ihr Verhältnis zu
der individuellen Seelentätigkeit, gelangt nie zu einem Verständnis der Sprachentwickelung.

1. Ich glaube an diesen Anschauungen festhalten zu müssen trotz dem Widerspruche neuerer Psychologen,
die es für unzulässig erklären, mit Unbewusstem in der Seele zu operieren, zu denen insbesondere Wundt
gehört. Nach Wundt existiert nichts Geistiges ausserhalb des Bewusstseins; was aufhört, bewusst zu sein,
hinterlässt nur eine physische Nachwirkung. Durch diese müsste demnach der unleugbare Zusammenhang
zwischen früheren und späteren Bewusstseinsakten vermittelt sein; durch diese müsste es ermöglicht
werden, dass etwas, was früher einmal im Bewusstsein war, von neuem ins Bewusstsein treten kann, ohne
dass ein neuer sinnlicher Eindruck die unmittelbare Ursache ist. Vorausgesetzt, es verhielte sich wirklich
so, so ist darauf zu sagen, dass uns diese physischen Nachwirkungen, deren Vorhandensein ich durchaus
nicht leugnen will, trotz aller Physiologie und Experimentalpsychologie noch recht unbekannt sind, und
dass, auch wenn sie viel bekannter wären, doch nicht abzusehen ist, wie sich daraus die ohne sinnliche
Eindrücke entstehenden Bewusstseinsvorgänge ableiten liessen. Es bleibt also doch nichts übrig, wenn man
überhaupt einen Zusammenhang zwischen den früheren und späteren Bewusstseinsvorgängen erkennen
will, als auf psychischem Gebiete zu bleiben und sich die Vermittelung nach Analogie der
Bewusstseinsvorgänge zu denken. Man wird der Anschauung, an die ich mich angeschlossen habe,
mindestens das gleiche Recht einräumen dürfen wie einer naturwissenschaftlichen Hypothese, vermittelst
deren es gelingt, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Tatsachen herzustellen, und zu berechnen,
was unter bestimmten Bedingungen eintreten muss. Dass diese Anschauung wirklich etwas Entsprechendes
leistet, dafür bringt, denke ich, auch mein Buch reichliche Beweise.
2. Wenn ich hier und im Folgenden von Vorstellungen rede, so bemerke ich dazu ein für alle Mal, dass ich
dabei auch die begleitenden Gefühle und Strebungen mit einrechne.
3. Übrigens muss das, was wir hier von der wissenschaftlichen Grammatik verlangen, auch von der
praktischen gefordert werden, nur mit den Einschränkungen, welche die Fassungskraft der Schüler
notwendig macht. Denn das Ziel der praktischen Grammatik ist ja doch die Einführung in das fremde
Sprachgefühl.
4. Hieraus erhellt auch, dass Philologie und Sprachwissenschaft ihr Gebiet nicht so gegen einander abgrenzen
dürfen, dass die eine immer nur die fertigen Resultate der andern zu benutzen brauchte. Man könnte den
Unterschied zwischen der Sprachwissenschaft und der philologischen Behandlung der Sprache nur so
bestimmen, dass die erstere sich mit den allgemeinen usuell feststehenden Verhältnissen der Sprache
beschäftigt, die letztere mit ihrer individuellen Anwendung. Nun kann aber die Leistung eines
Schriftstellers nicht gehörig gewürdigt werden ohne richtige Vorstellungen über das Verhältnis seiner
Produkte zu der Gesamtorganisation seiner Sprachvorstellungen und über das Verhältnis dieser
Gesamtorganisation zum allgemeinen Usus. Umgekehrt kann die Umgestaltung des Usus nicht begriffen
werden ohne ein Studium der individuellen Sprechtätigkeit. Im übrigen verweise ich auf Brugmann, Zum
heutigen Stand der Sprachwissenschaft, S. 1ff. [Paul, Prinzipien.]

ZWEITES KAPITEL.

DIE SPRACHSPALTUNG.

§ 22. Es ist eine durch die vergleichende Sprachforschung zweifellos sicher gestellte Tatsache, dass sich vielfach aus
einer im wesentlichen einheitlichen Sprache mehrere verschiedene Sprachen entwickelt haben, die ihrerseits auch
nicht einheitlich geblieben sind, sondern sich in eine Reihe von Dialekten gespalten haben. Man sollte erwarten,
dass sich bei der Betrachtung dieses Prozesses mehr als irgend wo anders die Analogieen aus der Entwickelung

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

der organischen Natur aufdrängen müssten. Es ist zu verwundern, dass die Darwinisten unter den Sprachforschern
sich nicht vorzugsweise auf diese Seite geworfen haben. Hier in der Tat ist die Parallele innerhalb gewisser Grenzen
eine berechtigte und lehrreiche. Wollen wir diese Parallele ein wenig verfolgen, so kann es nur in der Weise
geschehen, dass wir die Sprache des einzelnen, also die Gesamtheit der Sprachmittel über die er verfügt, dem
tierischen oder pflanzlichen Individuum gleich setzen, die Dialekte, Sprachen, Sprachfamilien etc. den Arten,
Gattungen, Klassen des Tierund Pflanzenreichs.

Es gilt zunächst in einem wichtigen Punkte die vollständige Gleichheit des Verhältnisses anzuerkennen. Der grosse
Umschwung, welchen die Zoologie in der neueren Zeit durchgemacht hat, beruht zum guten Teile auf der
Erkenntnis, dass nichts reale Existenz hat als die einzelnen Individuen, dass die Arten, Gattungen, Klassen nichts
sind als Zusammenfassungen und Sonderungen des menschlichen Verstandes, die je nach Willkür verschieden
ausfallen können, dass Artunterschiede und individuelle Unterschiede nicht dem Wesen, sondern nur dem Grade
nach verschieden sind. Auf eine entsprechende Grundlage müssen wir uns auch bei der Beurteilung der
Dialektunterschiede stellen. Wir müssen eigentlich so viele Sprachen unterscheiden als es Individuen gibt. Wenn wir
die Sprachen einer bestimmten Anzahl von Individuen zu einer Gruppe zusammenfassen und die anderer Individuen
dieser [38 Zweites Kapitel. Die Sprachspaltung.] Gruppe gegenüber ausschliessen, so abstrahieren wir dabei immer
von gewissen Verschiedenheiten, während wir auf andere Wert legen. Es ist also der Willkür ein ziemlicher
Spielraum gelassen. Dass sich überhaupt die individuellen Sprachen unter ein Klassensystem bringen lassen
müssten, ist von vornherein nicht vorauszusetzen. Man muss darauf gefasst sein, so viele Gruppen man auch
unterscheiden mag, eine Anzahl von Individuen zu finden, bei denen man zweifelhaft bleibt, ob man sie dieser oder
jener unter zwei naheverwandten Gruppen zuzählen soll. Und in das selbe Dilemma gerät man erst recht, wenn man
die kleineren Gruppen in grössere zusammenzuordnen und diese gegen einander abzuschliessen versucht. Eine
scharfe Sonderung wird erst da möglich, wo mehrere Generationen hindurch die Verkehrsgemeinschaft abgebrochen
gewesen ist.

Wenn man daher von der Spaltung einer früher einheitlichen Sprache in verschiedene Dialekte spricht, so ist damit
das eigentliche Wesen des Vorganges sehr schlecht ausgedrückt. In Wirklichkeit werden in jedem Augenblicke
innerhalb einer Volksgemeinschaft so viele Dialekte geredet als redende Individuen vorhanden sind, und zwar
Dialekte, von denen jeder einzelne eine geschichtliche Entwickelung hat und in stetiger Veränderung begriffen ist.
Dialektspaltung bedeutet nichts anderes als das Hinauswachsen der individuellen Verschiedenheiten über ein
gewisses Mass.

Ein anderer Punkt, in dem wir uns eine Parallele gestatten dürfen, ist folgender. Die Entwickelung eines tierischen
Individuums hängt von zwei Faktoren ab. Auf der einen Seite ist sie durch die Natur der Eltern bedingt, wodurch ihr
ursprünglich auf dem Wege der Vererbung eine bestimmte Bewegungsrichtung mitgeteilt wird. Auf der andern Seite
stehen alle die zufälligen Einwirkungen des Klimas, der Nahrung, der Lebensweise etc., denen das Individuum in
seinem speziellen Dasein ausgesetzt ist. Durch den einen ist die wesentliche Gleichheit mit den Eltern bedingt,
durch den andern eine Abweichung von denselben innerhalb gewisser Grenzen ermöglicht. So gestaltet sich die
Sprache jedes Individuums einerseits nach den Einwirkungen der Sprachen seiner Verkehrsgenossen, die wir von
unserm Gesichtspunkte aus als die Erzeugerinnen seiner eignen betrachten können, anderseits nach den davon
unabhängigen Eigenheiten und eigentümlichen Erregungen seiner geistigen und leiblichen Natur. Auch darin besteht
Übereinstimmung, dass der erstere Faktor stets der bei weitem mächtigere ist. Erst dadurch, dass jede Modifikation
der Natur des Individuums, die von der anfänglich mitgeteilten Bewegungsrichtung ablenkt, mitbestimmend für die
Bewegungsrichtung einer folgenden Generation wird, ergibt sich mit der Zeit eine stärkere Veränderung des Typus.
So auch in der Sprach- [39 Analogien aus der organischen Natur.] geschichte. Wir dürfen ferner von der Sprache
wie von dem tierischen Organismus behaupten: je niedriger die Entwickelungsstufe, desto stärker der zweite Faktor
im Verhältnis zum ersten.

Auf der andern Seite dürfen wir aber die grossen Verschiedenheiten nicht übersehen, die zwischen der sprachlichen
und der organischen Zeugung bestehen. Bei der letzteren hört die direkte Einwirkung der Erzeuger bei einem
bestimmten Punkte auf, und es wirkt nur die bis dahin mitgeteilte Bewegungsrichtung nach. An der Erzeugung der
Sprache eines Individuums behalten die umgebenden Sprachen ihren Anteil bis zu seinem Ende, wenn auch ihre
Einwirkungen in der frühesten Kindheit der betreffenden Sprache am mächtigsten sind und um so schwächer
werden, je mehr diese wächst und erstarkt. Die Erzeugung eines tierischen Organismus geschieht durch ein
Individuum oder durch ein Paar. An der Erzeugung der Sprache eines Individuums beteiligen sich die Sprachen
einer grossen Menge anderer Individuen, aller, mit denen es überhaupt während seines Lebens in sprachlichen
Verkehr tritt, wenn auch in sehr verschiedenem Grade. Und, was die Sache noch viel komplizierter macht, die
verschiedenen individuellen Sprachen können bei diesem Zeugungsprozess im Verhältnis zu einander zugleich aktiv
und passiv, die Eltern können Kinder ihrer eigenen Kinder sein. Endlich ist zu berücksichtigen, dass, auch wenn wir
von der Sprache eines einzelnen Individuums reden, wir es nicht mit einem konkreten Wesen, sondern mit einer

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Abstraktion zu tun haben, ausser, wenn wir darunter die Gesamtheit der in der Seele an einander geschlossenen auf
die Sprechtätigkeit bezüglichen Vorstellungsgruppen mit ihren mannigfach verschlungenen Beziehungen verstehen.

Der Verkehr ist es allein, wodurch die Sprache des Individuums erzeugt wird. Die Abstammung kommt nur
insoweit in Betracht, als sie die physische und geistige Beschaffenheit des einzelnen beeinflusst, die, wie bemerkt,
allerdings ein Faktor in der Sprachgestaltung ist, aber im Verhältnis zu den Einflüssen des Verkehrs ein sehr
untergeordneter.

§ 23. Gehen wir von dem unbestreitbar richtigen Satze aus, dass jedes Individuum seine eigene Sprache und jede
dieser Sprachen ihre eigene Geschichte hat, so besteht das Problem, das zu lösen uns durch die Tatsache der
Dialektbildung auferlegt wird, nicht sowohl in der Frage, wie es kommt, dass aus einer wesentlich gleichmässigen
Sprache verschiedene Dialekte entspringen; die Entstehung der Verschiedenheit scheint ja danach
selbstverständlich. Die Frage, die wir zu beantworten haben, ist vielmehr die: wie kommt es, dass, indem die
Sprache eines jedes einzelnen ihre besondere Geschichte hat, sich gerade dieser grössere oder geringere Grad
von Überein- [40 Zweites Kapitel. Die Sprachspaltung.] stimmung innerhalb dieser so und so
zusammengesetzten Gruppe von Individuen erhält?

Alles Anwachsen der dialektischen Verschiedenheit beruht natürlich auf der Veränderung des Sprachusus. Um so
stärker die Veränderung, um so mehr Gelegenheit ist zum Wachstum der Verschiedenheit gegeben. Aber der Grad
dieses Wachstums ist nicht durch die Stärke der Veränderung allein bedingt, denn keine Veränderung schliesst
notwendig eine bleibende Differenzierung ein, und die Umstände, welche auf die Erhaltung der Übereinstimmung
oder auf die baldige Wiederherstellung derselben wirken, können in sehr verschiedenem Masse vorhanden sein.

Ohne fortwährende Differenzierung kann das Leben einer Sprache gar nicht gedacht werden. Wäre es denkbar, dass
auf einem Sprachgebiete einmal alle Individualsprachen einander vollständig gleich wären, so würde doch im
nächsten Augenblicke der Ansatz zur Herausbildung von Verschiedenheiten unter ihnen gemacht werden. Die
spontane Entwickelung einer jeder einzelnen muss nach den Besonderheiten in der Anlage und den Erlebnissen
ihres Trägers eine besondere Richtung einschlagen. Der Einfluss, den der einzelne übt oder erleidet, erstreckt sich
immer nur auf einen Bruchteil der Gesamtheit, und innerhalb dieses Bruchteils finden bedeutende
Gradverschiedenheiten statt. Demgemäss findet zwar auch eine immerwährende Ausgleichung der eingetretenen
Differenzierungen statt, die darin besteht, dass Abweichungen von dem bisherigen Usus entweder wieder
zurückgedrängt werden oder auf Individuen übertragen, die sie spontan nicht entwickelt haben. Diese Ausgleichung
wird aber nie eine vollständige. Eine annähernde wird sie immer nur innerhalb eines Kreises, in dem ein anhaltender
reger Verkehr stattfindet. Je weniger intensiv der Verkehr ist, um so mehr Differenzen können sich bilden und
erhalten. Noch weiter geht die Möglichkeit zur Differenzierung, wenn gar kein direkter Verkehr mehr besteht,
sondern nur eine indirekte Verbindung durch Mittelglieder.

§ 24. Wäre die Verkehrsintensität auf allen Punkten eines Sprachgebietes eine gleichmässige, so würden wir lauter
Individualsprachen haben, von denen diejenigen, die in enger Verbindung unter einander stünden, immer nur wenig
von einander differieren würden, während zwischen den entgegengesetzten Enden doch starke Verschiedenheiten
entstanden sein könnten. Es würde dann nicht möglich sein eine Anzahl von Individualsprachen zu einer Gruppe
zusammenzufassen, die man einer anderen solchen Zusammenfassung als ein geschlossenes Ganzes
gegenüberstellen könnte. Jede Individualsprache würde als eine Zwischenstufe zwischen mehreren andern
aufgefasst werden können. Ein solches [41 Veränderung und Differenzierung. Verkehrsverhältnisse.] Verhältnis
aber besteht nirgends und hat niemals bestanden. Es wäre nur denkbar, wenn keine natürlichen Grenzen existierten,
keine politischen und religiösen Verbände, wenn etwa das ganze Volk in einer Ebene ohne grösseren Fluss wohnte
in lauter Einzelgehöften in ungefähr gleich weitem Abstande von einander ohne gemeinsame Versammlungsörter.
Auch dann würde wenigstens die Gruppierung zu Familiensprachen stattfinden. In Wirklichkeit aber finden wir
entweder ein Zusammenwohnen in Städten und Dörfern, respektive bei nomadischen Völkerschaften in Horden,
oder, wo das System der Einzelhöfe besteht, doch wenigstens kleinere und grössere politische und religiöse
Verbände mit Versammlungsörtern. In den Gebirgsgegenden sind die einzelnen Täler mehr oder weniger gegen
einander abgeschlossen. Das Meer trennt Inseln ab. Selbst wo keine solche Hemmungen bestehen, liegen oft
unkultivierte Landstrecken, Wald, Heide, Moor etc. zwischen den einzelnen Ansiedelungen. Es ist demnach
notwendig, dass sich den natürlichen wie den politischen und religiösen Verkehrsverhältnissen entsprechend die
Individualsprachen zu Gruppen zusammenschliessen, die verhältnismässig einheitlich und nach aussen
abgeschlossen sind. Solche Gruppen werden also zunächst von den kleinsten Verbänden, den einzelnen Ortschaften
gebildet. Wo ein Zusammenwohnen der Ortsangehörigen stattfindet, da wird jeder einzelne dem andern näher stehen
als dem Angehörigen eines anderen Ortes. Es kann sich also hier eine wirkliche Grenze herausbilden, die nicht
durch Zwischenstufen verdeckt ist. Hier zuerst können deutlich merkbare und zugleich bleibende Verschiedenheiten
entstehen, wie sie zwischen den Angehörigen des gleichen Ortes mindestens auf die Dauer sich nicht halten können.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

So lange aber Nachbarorte einen regen Verkehr unter einander unterhalten, kann es auch sein, dass sich zwischen
ihnen noch gar kein deutlich hervorstechender und dauernder Unterschied bildet, jedenfalls werden die Unterschiede
unerheblich bleiben. Versucht man nun aber um jeden Ortsdialekt diejenigen benachbarten zu gruppieren, die mit
demselben in einem regelmässigen Verkehr stehen, so wird man eine Menge sich gegenseitig durchschneidende
Gruppen bekommen. Es kann für jeden einzelnen Ort die Gruppierung ein wenig anders ausfallen. Es können Orte
hinzutreten oder wegfallen, und auch zu denjenigen, welche bleiben, kann das Verkehrsverhältnis sich etwas
modifizieren.

§ 25. Jede Veränderung des Sprachusus ist ein Produkt aus den spontanen Trieben der einzelnen Individuen
einerseits und den geschilderten Verkehrsverhältnissen anderseits. Ist ein spontaner Trieb gleichmässig über ein
ganzes Sprachgebiet bei der Majorität verbreitet, so wird er sich auch rasch allgemein durchsetzen. Es kann aber
sein, [42 Zweites Kapitel. Die Sprachspaltung.] dass er in den verschiedenen Bezirken sehr verschieden stark verteilt
ist. Unter solchen Umständen muss in den von einander abgelegenen Bezirken, die in keinem Verkehr mit einander
stehn, die Ausgleichung, soweit sie nötig ist, zu verschiedenem Resultate führen. Dazwischen wird dann der Kampf
fortdauern und deshalb nicht leicht zur Entscheidung kommen, weil auf diesen Teil die eine, auf jenen die andere
Seite stärker einwirkt. Dieses Zwischengebiet bildet einen Grenzwall durch welchen die Einflüsse von der einen auf
die andere Seite nicht durchdringen können, oder nur in solcher Abschwächung, dass sie so gut wie wirkungslos
bleiben. Ein solches Zwischengebiet könnte nirgends fehlen, wenn die Kontinuität des Verkehres durch das ganze
Sprachgebiet hindurch eine gleichmässige wäre, wenn nirgends durch räumliche Abstände, natürliche Hindernisse
oder politische Grenzen Verkehrshemmungen verursacht würden. Indem die gegenseitige Beeinflussung der durch
solche Hemmungen getrennten Gebiete auf ein geringes Mass herabgesetzt wird, können sich auch deutliche
Grenzen für dialektische Eigentümlichkeiten herausbilden. Ein völliges Abbrechen des Verkehres ist dazu nicht
nötig. Er braucht nur so schwach zu werden, dass er ohne einen gewissen Grad spontanen Entgegenkommens
wirkungslos bleibt. So kann auch eine zeitweilig bestehende Dialektgrenze allmählich wieder aufgehoben werden,
wenn sich das anfangs fehlende spontane Entgegenkommen späterhin einstellt, oder wenn die gleichen Einflüsse
von verschiedenen Seiten her kommen.

§ 26. Jede sprachliche Veränderung und mithin auch die Entstehung jeder dialektischen Eigentümlichkeit hat ihre
besondere Geschichte. Die Grenze, bis zu welcher sich die eine erstreckt, ist nicht massgebend für die Grenze der
andern. Wäre allein das Intensitätsverhältnis des Verkehres massgebend, so müssten allerdings wohl die Grenzen
der verschiedenen Dialekteigenheiten durchaus zusammenfallen. Aber die spontanen Tendenzen zur Veränderung
können sich in wesentlich anderer Weise verteilen, und danach muss sich das Resultat der gegenseitigen
Beeinflussung bestimmen. Wenn sich z. B. ein Sprachgebiet nach einem dialektischen Unterschiede in die Gruppen
a und b sondert, so kann es sein und wird häufig vorkommen, dass die Sonderung nach einer andern
Eigentümlichkeit damit zusammenfällt, es kann aber auch sein, dass ein Teil von a sich an b anschliesst oder
umgekehrt; es kann sich sogar ein Teil von a und von b einem andern Teile von a und von b gegenüberstellen.

Ziehen wir daher in einem zusammenhängenden Sprachgebiete die Grenzen für alle vorkommenden dialektischen
Eigentümlichkeiten, so erhalten wir ein sehr kompliziertes System mannigfach sich kreuzender Linien. Eine
reinliche Sonderung in Hauptgruppen, die man wieder in [43 Spontaneität und Beeinflussung. Gruppierung der
Dialekte.] so und so viele Untergruppen teilt u. s. f., ist nicht möglich. Das Bild einer Stammtafel, unter dem man
sich früher gewöhnlich die Verhältnisse zu veranschaulichen gesucht hat, ist stets ungenau.[1]) Man bringt es nur zu
stande, indem man willkürlich einige Unterschiede als wesentlich herausgreift und über andere hinwegsieht. Sind
wirklich die hervorstechendsten Merkmale gewählt, so kann man vielleicht einer solchen Stammtafel nicht allen
praktischen Wert für die Veranschaulichung absprechen, nur darf man sich nicht einbilden, dass damit eine wahrhaft
erschöpfende, genaue Darstellung der Verhältnisse gegeben sei.

§ 27. Noch mehr gerät man mit der genealogischen Veranschaulichung ins Gedränge, wenn man sich bemüht dabei
auch die Chronologie der Entwickelung zu berücksichtigen, wie es doch für eine Genealogie erforderlich ist.

Da durch die Entstehung einiger Unterschiede der Verkehr und die gegenseitige Beeinflussung zwischen
benachbarten Bezirken noch nicht aufgehoben ist, so kann bei später eintretenden Veränderungen die Entwickelung
immer noch eine gemeinschaftliche sein. So können Veränderungen noch in einem ganzen Sprachgebiete
durchdringen, nachdem dasselbe schon vorher mannigfach differenziert ist, oder zugleich in mehreren schon
besonders gestalteten Teilen. So ist z. B. die Dehnung der kurzen Wurzelvokale (vgl. mhd. lesen, geben, reden etc.)
in den nieder- und mitteldeutschen Mundarten wesentlich gleichmässig vollzogen, während viele ältere
Veränderungen eine bei weitem geringere Ausdehnung erlangt haben. Wir müssen uns das auch bei der Beurteilung
der älteren Sprachperioden gegenwärtig halten, für die wir auf Rückschlüsse angewiesen sind. Man ist zu sehr
gewohnt alle Veränderungen des ursprünglichen Sprachzustandes, die durch ein ganzes Gebiet hindurch gehen,
dann ohne weiteres für älter zu halten als diejenigen, die auf einzelne Teile dieses Gebietes beschränkt sind, und [44

28
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Zweites Kapitel. Die Sprachspaltung.] man setzt von diesem Gesichtspunkte aus etwa eine gemeineuropäische, eine
slawogermanische, slawolettische, urgermanische, ost- und westgermanische Grundsprache oder
Entwicklungsperiode an. Es ist zwar gar nicht zu leugnen, dass im allgemeinen die grössere Ausdehnung einer
sprachlichen Eigentümlichkeit einen Wahrscheinlichkeitsgrund für ihr höheres Alter abgibt, aber ein sicherer Anhalt
wird damit keineswegs gewährt. Es wird auch ausser den Fällen, bei denen man es positiv nachweisen kann,
verschiedene solche geben, in denen die weiter ausgedehnte Veränderung jünger ist, als die auf einen engeren Raum
beschränkte.

Es sind auch nicht immer die am meisten hervortretenden Eigentümlichkeiten die ältesten. Die jetzt übliche
Hauptteilung des Deutschen in Ober-, Mittel- und Niederdeutsch beruht auf dem Stande der Lautverschiebung.
Diese hat wahrscheinlich nicht vor dem sechsten Jahrhundert begonnen und erstreckt sich bis ins neunte, ja in
einigen Punkten sogar noch weiter. Schon vorher aber gab es erhebliche Unterschiede, die bei der jetzigen
Einteilung in den Hintergrund gedrängt sind. Unter Niederdeutsch z. B. sind drei von alters her nicht unwesentlich
verschiedene Gruppen zusammengefasst, das Friesische, Sächsische und ein Teil des Fränkischen; das Fränkische
ist unter Nieder- und Mitteldeutsch verteilt.

Man kann es auch gar nicht als einen allgemeingültigen Satz hinstellen, dass die Gruppen, die am frühesten
angefangen haben sich gegen einander zu differenzieren, auch am stärksten differenziert sein müssten, oder
umgekehrt, dass bei den am stärksten differenzierten Gruppen die Differenzierung am frühesten begonnen haben
müsste. Die Intensität des Verkehrs kann sich etwas verändern. Die geographische Lagerung der Gruppen zu
einander kann sich verschieben. Auch ohne das kann spontanes Entgegenkommen die Veranlassung werden, das
neue Veränderungen über ältere Grenzen hinwegschreiten, während sie selbst vielleicht da eine Grenze finden, wo
früher keine Grenze war. Oder es kann ein Bezirk, der längere Zeit mit einem benachbarten wesentlich gleiche,
dagegen von den übrigen abweichende Entwicklung gehabt hat, von besonderen starken Veränderungen ergriffen
werden, während der bisher mit ihm die gleichen Bahnen wandelnde Bezirk mit den übrigen auf der älteren Stufe
zurückbleibt.

§ 28. Da es die ausgleichende Wirkung des Verkehrs nicht zulässt, dass zwischen nahe benachbarten Bezirken, die
einen regelmässigen Verkehr unterhalten, zu schroffe Verschiedenheiten entstehen, so stellt beinahe jede kleine
Gruppe eine Übergangsstufe zwischen den nach den verschiedenen Seiten hin benachbarten Gruppen dar. Es ist eine
ganz falsche Vorstellung, die immer noch vielfach verbreitet ist, dass [45 Gruppierung der Dialekte.
Sprachtrennung.] Übergangsstufen immer erst durch sekundäre Berührung zweier vorher abgeschlossener Dialekte
entstünden. Natürlich will ich nicht behaupten, dass sie niemals so entstünden. Ein Übergang kann durch eine
Gruppe gebildet werden entweder dadurch, dass sie die wirkliche Zwischenstufe zwischen zwei in den benachbarten
Gruppen vorliegenden abweichenden Gestaltungen darbietet oder beide nebeneinander, oder dadurch, dass sie einige
dialektische Eigentümlichkeiten mit dieser, andere mit jener Gruppe gemein hat. Bei dieser Gestaltung der
Dialektverhältnisse braucht das Verständnis zwischen benachbarten Bezirken nirgends behindert zu sein, weil die
Abweichungen zu geringfügig sind und man sich ausserdem beiderseitig an dieselben gewöhnt, und es können
darum doch zwischen den fernerliegenden Differenzen bestehen, die eine Verständigung unmöglich machen.

Dies Verhältnis lässt sich an den verschiedensten Sprachen beobachten. Recht deutlich an der deutschen. Einem
Schweizer ist es unmöglich einen Holsteiner, selbst nur einen Hessen oder einen Baiern zu verstehen, und doch ist er
mit diesem indirekt durch ungehemmte Strömungen des Verkehres verbunden. Die allmähliche Abstufung der
deutschen Dialekte im grossen lässt sich vortrefflich an dem Verhalten zu der sogenannten hochdeutschen
Lautverschiebung[2]) beobachten. Die selbe Abstufung im kleinen kann man schon bei einer flüchtigen
Durchmusterung von Firmenich, Germaniens Völkerstimmen gewahr werden. Ein noch viel deutlicheres Bild von
der ausserordentlichen Mannigfaltigkeit der Abstufung gibt der von G. Wenker begründete Sprachatlas. Ebenso
verhält es sich nicht bloss innerhalb der einzelnen romanischen Sprachen, sondern sogar innerhalb des ganzen
romanischen Sprachgebietes. Die Grenzen der einzelnen Nationen sind nur nach den Schriftsprachen, nicht nach den
Mundarten mit einiger Sicherheit zu bestimmen. So teilen z.B. norditalienische Dialekte wichtige
Eigentümlichkeiten mit dem Französischen, und stehen den benachbarten Dialekten Frankreichs näher als der
italienischen Schriftsprache oder der Mundart von Toscana. Das Gascognesche bildet in mehreren Hinsichten den
Übergang vom Provenzalischen (Südfranzösischen) zum Spanischen, das Sardinische den Übergang vom
Italienischen zum Spanischen, etc.

Bei dieser Schilderung der Entwickelung ist Sesshaftigkeit der Individuen vorausgesetzt. Jede Wanderung von
einzelnen oder gar von Massen bringt Modifikationen hervor, die wir als Mischungen in Kapitel 22 zu behandeln
haben. Ebenso modifizierend wirkt das [46 Zweites Kapitel. Die Sprachspaltung.] Vorhandensein einer
Schriftsprache, worüber in Kapitel 23 zu handeln sein wird.

29
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 29. Es kann natürlich auch der Fall eintreten, dass der Verkehr zwischen mehreren Teilen einer
Sprachgenossenschaft vollständig unterbrochen wird durch starke natürliche oder politische Grenzen, durch
Auswanderung des einen Teiles, durch Dazwischenschiebung eines fremden Volkes und dergl. Von diesem
Augenblicke an entwickelt sich auch die Sprache jedes einzelnen Teiles selbständig, und es bilden sich mit der Zeit
schroffe Gegensätze heraus ohne vermittelnde Übergänge. So entstehen mehrere selbständige Sprachen aus einer,
und dieser Prozess kann sich zu mehreren Malen wiederholen.

Es ist kaum denkbar, dass je bis zu dem Augenblicke, wo eine solche Teilung einer Sprache in mehrere
stattgefunden hat, durch das ganze Gebiet hindurch keine merklichen Verschiedenheiten bestanden haben sollten.
Ohne mundartliche Unterschiede ist eine Sprache, die sich über ein einigermassen umfängliches Gebiet erstreckt
und eine längere Entwickelung hinter sich hat, gar nicht zu denken. Man wird daher in der Regel die selbständigen
Sprachen, die sich aus einer gemeinsamen Ursprache entwickelt haben, als Fortsetzungen der Dialekte der
Ursprache zu betrachten haben, und kann annehmen, dass ein Teil der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede
schon aus der Periode ihres kontinuierlichen Zusammenhanges herstammt. Von diesem Teile würde dann das selbe
gelten, was überhaupt von mundartlichen Unterschieden eines zusammenhängenden Sprachgebietes gilt. Es könnte
also, wenn wir die zu selbständigen Sprachen entwickelten Dialekte mit den Buchstaben des Alphabetes bezeichnen,
a einiges mit b gemein haben im Gegensatz zu c und d, anderes mit e im Gegensatz zu b und d, noch anderes mit d
im Gegensatz zu b und c u. s. f., und diese Übereinstimmungen könnten auf einem wirklichen
Kausalzusammenhange beruhen. Von diesem Gesichtspunkte aus müssen z. B. die Verhältnisse der
indogermanischen Sprachfamilien zu einander beurteilt werden. Im einzelnen Falle aber ist es schwer zu
entscheiden, ob zu der Übereinstimmung in der Entwickelung wirklich gegenseitige Beeinflussung beigetragen hat.
Die Unmöglichkeit eines Zusammentreffens auch bei ganz selbständiger Entwickelung lässt sich kaum je dartun.

Die Trennung braucht auch nicht immer mit alten Dialektgrenzen zusammenzufallen, namentlich dann nicht, wenn
sie durch Wanderungen veranlasst wird. Es kann sich ein Teil einer in den wesentlichsten Punkten
übereinstimmenden Gruppe absondern, während der andere mit den übrigen ihm ferner stehenden Gruppen in
Verbindung bleibt. Es können sich auch Teile verschiedener Gruppen zusammen loslösen. So ist z.B. das
Angelsächsische ursprünglich mit dem Friesischen aufs [47 Sprachtrennung. Lautverhältnisse als Charakteristikum.]
engste verwandt, ja es hat wahrscheinlich auf dem Kontinent niemals als besonderer Dialekt existiert, sondern ist
erst entstanden, als friesische Scharen sich von der Heimat loslösten und einige Bestandteile aus andern
germanischen Stämmen mit sich vereinigten. Das Angelsächsische hat dann aber eine Sonderentwickelung gehabt,
während das Friesische im Zusammenhange mit den übrigen deutschen Mundarten geblieben ist. Zwischen englisch
und deutsch gibt es eine scharfe Grenze, zwischen friesisch und niedersächsisch nicht.

§ 30. Das eigentlich charakteristische Moment in der dialektischen Gliederung eines zusammenhängenden Gebietes
bleiben immer die Lautverhältnisse. Ursache ist, dass bei der Gestaltung derselben alles auf den direkten Einfluss
durch unmittelbaren persönlichen Verkehr ankommt. Im Wortschatz und in der Wortbedeutung, im Formellen und
im Syntaktischen macht die mittelbare Übertragung keine Schwierigkeiten. Was hier Neues entstanden ist, kann,
wenn es sonst Anklang findet, ohne wesentliche Alterierung weithin wandern. Aber der Laut wird, wie wir im
folgenden Kapitel sehen werden, niemals genau in der Gestalt weitergegeben, wie er empfangen ist. Wo schon ein
klaffender Riss besteht, da hört überhaupt die Beeinflussung auf lautlichem Gebiete auf. So entwickeln sich denn
hier viel stärkere Differenzen als im Wortschatz, in der Formenbildung und Syntax, und jene Differenzen gehen
gleichmässiger durch lange Zeiten hindurch als diese. Dagegen, wenn eine wirkliche Sprachtrennung eingetreten ist,
können sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen auf andern Gebieten eben so charakteristisch
geltend machen als auf dem lautlichen.

Am wenigsten ist der Wortschatz und seine Verwendung charakteristisch. Hier finden am meisten Übertragungen
aus einer Mundart in die andere wie aus einer Sprache in die andere statt. Hier gibt es mehr individuelle
Verschiedenheiten als in irgend einer andern Hinsicht. Hier kann es auch Unterschiede geben, die mit den
mundartlichen gar nichts zu tun haben und diese durchkreuzen. Auf jeder höheren Kulturstufe entstehen technische
Ausdrücke für die verschiedenen Gewerbe, Künste und Wissenschaften, die vorwiegend oder ausschliesslich von
einer bestimmten Berufsklasse gebraucht und von den übrigen zum Teil gar nicht verstanden werden. Bei der
Ausbildung solcher Kunstsprachen kommen übrigens ganz ähnliche Verhältnisse in Betracht wie bei der Entstehung
der Mundarten. Eben dahin gehört auch der Unterschied von poetischer und prosaischer Sprache, der sich auch auf
Formelles und Syntaktisches erstreckt. Eigenartige Verhältnisse haben im alten Griechenland auch zu absichtlich
kunstvoller Verwendung lautlicher Unterschiede geführt. Es kann aber auch eine poetische Sprache geben (und das
ist das [48 Zweites Kapitel. Die Sprachspaltung.] Gewöhnliche), die in den verschiedensten dialektischen
Lautgestaltungen sich doch immer gleichmässig gegen die prosaische Rede abhebt.

§ 31. Alle natürliche Sprachentwickelung führt zu einem stetigen, unbegrenzten Anwachsen der mundartlichen

30
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Verschiedenheiten. Die Ursachen, welche dazu treiben, sind mit den allgemeinen Bedingungen des Sprachlebens
gegeben und davon ganz unzertrennlich. Es ist eine falsche Vorstellung, der man leider noch in
sprachwissenschaftlichen Werken begegnet, die ein grosses Ansehen geniessen, dass die frühere zentrifugale
Bewegung, durch welche die Mundarten entstanden seien, auf höherer Kulturstufe, bei reger entwickeltem Verkehre
durch eine rückläufige, zentripetale abgelöst werde. Diese Vorstellung beruht auf ungenauer Beobachtung. Die
Bildung einer Gemeinsprache, die man dabei im Auge hat, vollzieht sich nicht durch eine allmähliche Angleichung
der Mundarten aneinander. Die Gemeinsprache entspringt nicht aus den einzelnen Mundarten durch den selben
Prozess, durch welchen eine jüngere Form der Mundart aus einer älteren entsprungen ist. Sie ist vielmehr ein
fremdes Idiom, dem die Mundart aufgeopfert wird. Darüber in Kapitel 23.

1. Gegen die Aufstellung von Stammtafeln hat sich zuerst besonders Schuchardt gewendet, vgl. seine 1870
gehaltene, erst später gedruckte Habilitationsvorlesung Über die Klassifikation der romanischen Mundarten
(Graz 1900). Zu lebhaften Erörterungen führte dann der Vortrag von J. Schmidt, Die
Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen (Weimar 1872). Von neueren Behandlungen
der Frage, wieweit Dialektgrenzen anzuerkennen sind, und wieweit dieselben mit Stammesgrenzen und
politischen Grenzen zusammenfallen, führe ich an: K. Haag, 7 Sätze über Sprachbewegung (Zschr. f.
hochdeutsche Mundarten 1, 138). F. Wrede, Ethnographie und Dialektwissenschaft (Historische Zschr. 88,
22). O. Bremer, Politische Geschichte und Sprachgeschichte (Historische Vierteljahrsschr. 5, 315). K.
Bohnenberger, Sprachgeschichte und politische Geschichte (Zschr. f. hochd. Mua. 3, 321, vgl. auch ib. 4,
129. 241. 6, 129. 299). L. Gauchat, Gibt es Mundartgrenzen! (Arch. f. d. Studium der neueren Spr. 111,
365). E. Tappolet, Über die Bedeutung der Sprachgeographie (Festgabe für H. Morf, 1905, S. 385).
2. Vgl. Braune, Beiträge zur Gesch. d. deutschen Spr. I, 1ff. und Nörrenberg, ib. IX, 371ff.

DRITTES KAPITEL.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

DER LAUTWANDEL.[1])
§ 32. Um die Erscheinung zu begreifen, die man als Lautwandel zu bezeichnen pflegt, muss man sich die
physischen und psychischen Prozesse klar machen, welche immerfort bei der Hervorbringung der Lantkomplexe
stattfinden. Sehen wir, wie wir hier dürfen und müssen, von der Funktion ab, welcher dieselben dienen, so ist es
Folgendes, was in Betracht kommt: erstens die Bewegungen der Sprechorgane, wie sie vermittelst Erregung der
motorischen Nerven und der dadurch hervorgerufenen Muskeltätigkeit zu stande kommen; zweitens die Reihe von
Empfindungen, von welchen diese Bewegungen notwendigerweise begleitet sind, das Bewegungsgefühl, wie es
Lotze[2]) und nach ihm Steinthal genannt haben; drittens die in den Hörern, wozu unter normalen Verhältnissen
allemal auch der Sprechende selbst gehört, erzeugten Tonempfindungen. Diese Empfindungen sind natürlich nicht
bloss physiologische, sondern auch psychologische Prozesse. Auch nachdem die physische Erregung geschwunden
ist, hinterlassen sie eine bleibende psychische Wirkung, Erinnerungsbilder, die von der höchsten Wichtigkeit für
den Lautwandel sind. Denn sie allein sind es, welche die an sich vereinzelten physiologischen Vorgänge unter
einander verbinden, einen Kausalzusammenhang zwischen der frühern und spätern Produktion des gleichen
Lautkomplexes herstellen. Das [50 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] Erinnerungsbild, welches die Empfindung der
früher angeführten Bewegungen hinterlassen hat, ist es, vermittelst dessen die Reproduktion der gleichen
Bewegungen möglich ist. Bewegungsgefühl nnd Tonempfindung brauchen in keinem innern Zusammenhange unter
einander zu stehen. Beide gehen aber eine äusserliche Assoziation ein, indem der Sprechende zugleich sich selbst
reden hört. Durch das blosse Anhören anderer wird das Bewegungsgefühl nicht gegeben, und somit auch nicht die
Fähigkeit den gehörten Lautkomplex zu reproduzieren, wesbalb es denn immer erst eines Suchens, einer Einübung
bedarf, um im stande zu sein einen Laut, den man bis dahin nicht zu sprechen gewohnt ist, nachzusprechen.
§ 33. Es fragt sich, welchen Inhalt das Bewegungsgefühl und die Tonempfindung haben, und bis zu welchem Grade
die einzelnen Momente dieses Inhalts bewusst werden.[3]) Vielleicht hat nichts so sehr die richtige Einsicht in die
Natur des Lautwandels verhindert, als dass man in dieser Hinsicht die Weite und die Deutlichkeit des Bewusstseins
Überschätzt hat. Es ist ein grosser Irrtum, wenn man meint, dass, um den Klang eines Wortes in seiner
Eigentümlichkeit zu erfassen, sodass eine Erregung der damit assoziierten Vorstellungen möglich wird, die
einzelnen Laute, aus denen das Wort sich zusammensetzt, zu deutlichem Bewusstsein gelangen müssten. Es ist
sogar, um einen ganzen Satz zu verstehen, nicht immer nötig, dass die einzelnen Wörter ihrem Klange und ihrer
Bedeutung nach zum Bewusstsein kommen. Die Selbsttäuschung, in der sich die Grammatiker bewegen, rührt
daher, dass sie das Wort nicht als einen Teil der lebendigen, rasch vorüberrauschenden Rede betrachten, sondern als
etwas Selbständiges, über das sie mit Musse nachdenken, so dass sie Zeit haben es zu zergliedern. Dazu kommt,
dass nicht vom gesprochenen, sondern vom geschriebenen Worte ausgegangen wird. In der Schrift scheint allerdings
das Wort in seine Elemente zerlegt, und es scheint erforderlich, dass jeder, der schreibt, diese Zerlegung vornimmt.
In Wahrheit verhält es sich aber doch etwas anders. Gewiss muss bei der Erfindung der Buchstabenschrift und bei
jeder neuen Anwendung derselben auf eine bisher nicht darin aufgezeichnete Sprache eine derartige Zerlegung
vorgenommen sein. Auch muss fortwährend mit jeder Erlernung der Schrift eine Übung im Buchstabieren
gesprochener Wörter Hand in Hand gehen. Aber nachdem eine gewisse Fertigkeit erlangt ist, ist der Prozess beim
Schreiben nicht gerade der, dass jedes Wort zunächst in die einzelnen [51 Bewegungsgefühl und Tonempfindung.
Grad der Bewusstheit.] Laute zerlegt und dann für jeden einzelnen Laut der betreffende Buchstabe eingesetzt würde.
Schon die Schnelligkeit, mit der sich der Vorgang vollzieht, schliesst die Möglichkeit aus, dass seine einzelnen
Momente zu klarem Bewusstsein gelangen, und zeigt zugleich, dass das zu einem regelmässigen Ablauf nicht nötig
ist. Es tritt aber auch ein wirklich abgekürztes Verfahren ein, wodurch die Schrift sich bis zu einem gewissen Grade
von der Sprache emanzipiert, ein Vorgang, den wir später noch näher zu betrachten haben werden. Und sehen wir
nun gar ein wenig genauer zu, wie es mit dieser Zergliederungskunst des Schriftkundigen steht, so wird uns gerade
daraus recht deutlich entgegentreten, wie übel es mit dem Bewusstsein von den Elementen des Wortlautes bestellt
ist. Wir können täglich die Erfahrung machen, dass die vielfachen Diskrepanzen zwischen Schrift und Aussprache
von den Angehörigen der betreffenden Sprachgemeinschaft zum grossen Teil unbemerkt bleiben und erst dem
Fremden auffallen ohne dass auch er in der Regel sich Rechenschaft zu geben vermag, worauf sie beruhen. So ist
ein jeder nicht lautphysiologisch geschulte Deutsche der Überzeugung, dass er schreibt, wie er spricht. Wenn er aber
auch dem Engländer und Franzosen gegenüber eine gewisse Berechtigung zu dieser Überzeugung hat, so fehlt es
doch, von Feinheiten abgesehen, nicht an Fällen, in denen die Aussprache ziemlich stark von der Schreibung
abweicht. Dass der Schlusskonsonant in Tag, Feld, lieb in einem grossen Teile von Deutschland ein anderer Laut ist
als der, welcher in Tages, Feldes, liebes gesprochen wird, dass das n in Anger einen wesentlich andern Laut
bezeichnet als in Land, ist Wenigen eingefallen. Dass man im allgemeinen in Ungnade gutturalen, in unbillig
labialen Nasal spricht, daran denkt niemand. Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn man ausspricht, dass in
lange kein g, in der zweiten Silbe von legen, reden, Ritter, schütteln kein e gesprochen werde, dass der
Schlusskonsonant von leben nach der verbreiteten Aussprache kein n, sondern ein m gleichfalls ohne
vorhergehendes e sei. Ja man kann darauf rechnen, dass die meisten diese Tatsachen bestreiten werden, auch
nachdem sie darauf aufmerksam gemacht worden sind. Wenigstens habe ich diese Erfahrung vielfach gemacht, auch
an Philologen. Wir sehen daraus, wie sehr die Analyse des Wortes etwas bloss mit der Schrift Angelerntes ist und
wie gering das Gefühl für die wirklichen Elemente des gesprochenen Wortes ist.

32
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 34. Eine wirkliche Zerlegung des Wortes in seine Elemente ist nicht bloss sehr schwierig, sie ist geradezu
unmöglich. Das Wort ist nicht eine Aneinandersetzung einer bestimmten Anzahl selbständiger Laute, von denen
jeder durch ein Zeichen des Alphabetes ausgedrückt werden könnte, sondern es ist im Grunde immer eine
kontinuierliche [52 Drittes Kapitel. Der Lantwandel.] Reihe von unendlich vielen Lauten, und durch die
Buchstaben werden immer nur einzelne charakteristische Punkte dieser Reihe in unvollkommener Weise
angedeutet. Das Übrige, was unbezeichnet bleibt, ergibt sich allerdings aus der Bestimmung dieser Punkte bis zu
einem gewissen Grade mit Notwendigkeit, aber auch nur bis zu einem gewissen Grade. Am deutlichsten lässt sich
diese Kontinuität an den sogenannten Diphthongen erkennen, die eine solche Reihe von unendlich vielen Elementen
darstellen, vgl. Sievers, Phonetik Kap. 19, 2. Durch Sievers ist überhaupt zuerst die Bedeutung der Übergangslaute
nachdrücklich hervorgehoben. Aus dieser Kontinuität des Wortes aber folgt, dass eine Vorstellung von den
einzelnen Teilen nicht etwas von selbst Gegebenes sein kann, sondern erst die Frucht eines, wenn auch noch so
primitiven, wissenschaftlichen Nachdenkens, wozu zuerst das praktische Bedürfnis der Lautschrift geführt hat.

Was von dem Lautbilde gilt, das gilt natürlich auch von dem Bewegungsgefühle. Ja wir müssen hier noch weiter
gehen. Es kann gar keine Rede davon sein, dass der Einzelne eine Vorstellung von den verschiedenen Bewegungen
hätte, die seine Organe beim Sprechen machen. Man weiss ja, dass dieselben erst durch die sorgfältigste
wissenschaftliche Beobachtung ermittelt werden können, und dass über viele Punkte auch unter den Forschern
Kontroversen bestehen. Selbst die oberflächlichsten und gröbsten Anschauungen von diesen Bewegungen kommen
erst durch eine mit Absicht darauf gelenkte Aufmerksamkeit zu stande. Sie sind auch ganz überflüssig, um mit aller
Exaktheit Laute und Lautgruppen hervorzubringen, auf die man einmal eingeübt ist. Der Hergang scheint folgender
zu sein. Jede Bewegung erregt in bestimmter Weise gewisse sensitive Nerven und ruft so eine Empfindung hervor,
welche sich mit der Leitung der Bewegung von ihrem Zentrum durch die motorischen Nerven assoziiert. Ist diese
Assoziation hinlänglich fest geworden und das von der Empfindung hinterlassene Erinnerungsbild hinlänglich stark,
was in der Regel erst durch Einübung erreicht wird (d. h. durch mehrfache Wiederholung der gleichen Bewegung,
vielleicht mit vielen missglückten Versuchen untermischt), dann vermag das Erinnerungsbild der Empfindung die
damit assoziierte Bewegung als Reflex zu reproduzieren, und wenn die dabei erregte Empfindung zu dem
Erinnerungsbilde stimmt, dann hat man auch die Versicherung, dass man die nämliche Bewegung wie früher
ausgeführt hat.

§ 35. Man könnte aber immerhin einräumen, dass der Grad der Bewusstheit, welchen die einzelnen Momente des
Lautbildes und des Bewegungsgefühles durch Erlernung der Schrift und sonst durch Reflexion erlangen, ein viel
grösserer wäre, als er wirklich ist; man könnte ein- [53 Grad der Bewusstheit des Lautbildes und des
Bewegungsgefühls.] räumen, dass zur Erlernung der Muttersprache sowohl wie jeder fremden ein ganz klares
Bewusstsein dieser Elemente erforderlich wäre, wie denn unzweifelhaft ein höherer Grad von Klarheit erforderlich
ist als bei der Anwendung des Eingeübten: daraus würde aber nicht folgen, dass es nun auch immerfort wieder in der
täglichen Rede zu dem selben Grade der Klarheit kommen müsste. Vielmehr liegt es in der Natur des psychischen
Organismus, dass alle anfangs nur bewusst wirkenden Vorstellungen durch Übung die Fähigkeit erlangen auch
unbewusst zu wirken, und dass erst eine solche unbewusste Wirkung einen so raschen Ablauf der Vorstellungen
möglich macht, wie er in allen Lagen des täglichen Lebens und auch beim Sprechen erfordert wird. Selbst der
Lautphysiologe von Beruf wird sehr vieles sprechen und hören, ohne dass bei ihm ein einziger Laut zu klarem
Bewusstsein gelangt.

Für die Beurteilung des natürlichen, durch keine Art von Schulmeisterei geregelten Sprachlebens muss daher
durchaus an dem Grundsatze festgehalten werden, dass die Laute ohne klares Bewusstsein erzeugt und perzipiert
werden. Hiermit fallen alle Erklärungstheorien, welche in den Seelen der Individuen eine Vorstellung von dem
Lautsystem der Sprache voraussetzen, wohin z. B. mehrere Hypothesen über die germanische Lautverschiebung
gehören.

§ 36. Anderseits aber schliesst die Unbewusstheit der Elemente nicht eine genaue Kontrolle aus. Man kann
unzähligemale eine gewohnte Lautgruppe sprechen oder hören, ohne jemals daran zu denken, dass es eben diese, so
und so zusammengesetzte Gruppe ist; sobald aber in einem Elemente eine Abweichung von dem Gewohnten eintritt,
die nur sehr geringfügig zu sein braucht, wird sie bemerkt, wofern keine besondern Hemmungen entgegenstehen,
wie überhaupt jede Abweichung von dem gewohnten unbewussten Verlauf der Vorstellungen zum Bewusstsein zu
gelangen pflegt. Natürlich ist mit dem Bewusstsein der Abweichung nicht auch schon das Bewusstsein der Natur
und Ursache der Abweichung gegeben.

Die Möglichkeit der Kontrolle reicht soweit wie das Unterscheidungsvermögen. Dieses geht aber nicht bis ins
Unendliche, während die Möglichkeit der Abstufung in den Bewegungen der Sprechorgane und natürlich auch in
den dadurch erzeugten Lauten allerdings eine unendliche ist. So liegt zwischen a und i sowohl wie zwischen a und u
eine unbegrenzte Zahl möglicher Stufen des Vokalklanges. Ebenso lassen sich die Artikulationsstellen sämtlicher

33
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Zungen-Gaumenlaute in dem Bilde einer kontinuierten Linie darstellen, auf welcher jeder Punkt der bevorzugte sein
kann. Zwischen ihnen und den Lippenlauten ist allerdings kein so unmerklicher Übergang möglich; doch stehen die
denti-labialen in naher Beziehung zu den denti-lingualen [54 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] (th-f). Ebenso ist
auch der Übergang von Verschlusslaut zu Reibelaut und umgekehrt allmählich zu bewerkstelligen; denn
vollständiger Verschluss und möglichste Verengung liegen unmittelbar beisammen. Vollends alle Unterschiede der
Quantität, der Tonhöhe, der Energie in der Artikulation oder in der Exspiration sind in unendlich vielen
Abstufungen denkbar. Und so noch vieles andere. Dieser Umstand ist es vor allem, wodurch der Lautwandel
begreiflich wird.

Bedenkt man nun, dass es nicht bloss auf die Unterschiede in denjenigen Lauten ankommt, in die man gewöhnlich
ungenauer Weise das Wort zerlegt, sondern auch auf die Unterschiede in den Übergangslauten, im Akzent, im
Tempo etc., bedenkt man ferner, dass immer ungleiche Teilchen je mit einer Reihe von gleichen Teilchen
zusammengesetzt sein können, so erhellt, dass eine ausserordentlich grosse Mannigfaltigkeit der Lautgruppen
möglich ist, auch bei verhältnismässig geringer Differenz. Deshalb können auch recht merklich verschiedene
Gruppen wegen ihrer überwiegenden Ähnlichkeit immer noch als wesentlich identisch empfunden werden, und
dadurch ist das Verständnis zwischen Angehörigen verschiedener Dialekte möglich, so lange die Verschiedenheiten
nicht über einen gewissen Grad hinausgehen. Deshalb kann es aber auch eine Anzahl von Variationen geben, deren
Verschiedenheiten man entweder gar nicht oder nur bei besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit
wahrzunehmen im stande ist.

§ 37. Die frühe Kindheit ist für jeden Einzelnen ein Stadium des Experimentierens, in welchem er durch
mannigfache Bemühungen allmählich lernt, das ihm von seiner Umgebung Vorgesprochene nachzusprechen. Ist
dies erst in möglichster Vollkommenheit gelungen, so tritt ein verhältnissmässiger Stillstand ein. Die früheren
bedeutenden Schwankungen hören auf und es besteht fortan eine grosse Gleichmässigkeit in der Aussprache, sofern
nicht durch starke Einwirkungen fremder Dialekte oder einer Schriftsprache Störungen eintreten. Die
Gleichmässigkeit kann aber niemals eine absolute werden. Geringe Schwankungen in der Aussprache des gleichen
Wortes an der gleichen Satzstelle sind unausbleiblich. Denn überhaupt bei jeder Bewegung des Körpers, mag sie
auch noch so eingeübt, mag das Bewegungsgefühl auch noch so vollkommen entwickelt sein, bleibt doch noch
etwas Unsicherheit übrig, bleibt es doch noch bis zu einem gewissen, wenn auch noch so geringen Grade dem Zufall
überlassen, ob sie mit absoluter Exaktheit ausgeführt wird, oder ob eine kleine Ablenkung von dem regelrechten
Wege nach der einen oder andern Seite eintritt. Auch der geübteste Schütze verfehlt zuweilen das Ziel und würde es
in den meisten Fällen verfehlen, wenn dasselbe nur ein wirklicher Punkt ohne alle Ausdehnung wäre, und wenn es
an seinem Geschosse auch nur einen [55 Kontrolle des Gesprochenen. Schwankungen in der Aussprache.] einzigen
Punkt gäbe, der das Ziel berühren könnte. Mag jemand auch eine noch so ausgeprägte Handschrift haben, deren
durchstehende Eigentümlichkeiten sofort zu erkennen sind, so wird er doch nicht die gleichen Buchstaben und
Buchstabengruppen jedesmal in völlig gleicher Weise produzieren. Nicht anders kann es sich mit den Bewegungen
verhalten, durch welche die Laute erzeugt werden. Diese Variabilität der Aussprache, die wegen der engen
Grenzen, in denen sie sich bewegt, unbeachtet bleibt, enthält den Schlüssel zum Verständnis der sonst
unbegreiflichen Tatsache, dass sich allmählich eine Veränderung des Usus in Bezug auf die lautliche Seite der
Sprache vollzieht, ohne dass diejenigen, an welchen die Veränderung vor sich geht, die geringste Ahnung davon
haben.

Würde das Bewegungsgefühl als Erinnerungsbild immer unverändert bleiben, so würden sich die kleinen
Schwankungen immer um den selben Punkt mit dem selben Maximum des Abstandes bewegen. Nun aber ist dies
Gefühl das Produkt aus sämtlichen früheren bei Ausführung der betreffenden Bewegung empfangenen Eindrücken,
und zwar verschmelzen nach allgemeinem Gesetze nicht nur die völlig identischen, sondern auch die unmerklich
von einander verschiedenen Eindrücke mit einander. Ihrer Verschiedenheit entsprechend muss sich auch das
Bewegungsgefühl mit jedem neuen Eindruck etwas umgestalten, wenn auch noch so unbedeutend. Es ist dabei noch
von Wichtigkeit, dass immer die späteren Eindrücke stärker nachwirken als die früheren. Man kann daher das
Bewegungsgefühl nicht etwa dem Durchschnitt aller während des ganzen Lebens empfangenen Eindrücke
gleichsetzen, sondern die an Zahl geringeren können die häufigeren durch ihre Frische an Gewicht übertreffen. Mit
jeder Verschiebung des Bewegungsgefühls ist aber auch, vorausgesetzt, dass die Weite der möglichen Divergenz die
gleiche bleibt, eine Verschiebung der Grenzpunkte dieser Divergenz gegeben.

§ 38. Denken wir uns nun eine Linie, in der jeder Punkt genau fixiert ist, als den eigentlich normalen Weg der
Bewegung, auf den das Bewegungsgefühl hinführt, so ist natürlich der Abstand von jedem Punkte, der als
Maximum bei der wirklich ausgeführten Bewegung ohne Widerspruch mit dem Bewegungsgefühl statthaft ist, im
allgemeinen nach der einen Seite gerade so gross als nach der entgegengesetzten. Daraus folgt aber nicht, dass die
wirklich eintretenden Abweichungen sich nach Zahl und Grösse auf beide Seiten gleichmässig verteilen müssen.
Diese Abweichungen, die durch das Bewegungsgefühl nicht bestimmt sind, haben natürlich auch ihre Ursachen, und

34
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

zwar Ursachen, die vom Bewegungsgefühl ganz unabhängig sind. Treiben solche Ursachen genau gleichzeitig mit
genau gleicher Stärke, nach entgegen- [56 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] gesetzten Richtungen hin, so heben
sich ihre Wirkungen gegenseitig auf, und die Bewegung wird mit voller Exaktheit ausgeführt. Dieser Fall wird nur
äusserst selten eintreten. Bei weitem in den meisten Fällen wird sich das Übergewicht nach der einen oder der
andern Seite neigen. Es kann aber das Verhältnis der Kräfte nach Umständen mannigfach wechseln. Ist dieser
Wechsel für die eine Seite so günstig wie für die andere, wechselt im Durchschnitt eine Schwankung nach der einen
Seite immer mit einer entsprechenden nach der andern, so werden auch die minimalen Verschiebungen des
Bewegungsgefühls immer alsbald wieder paralysiert. Ganz anders aber gestalten sich die Dinge, wenn die Ursachen,
die nach der einen Seite drängen, das Übergewicht über die entgegengesetzt wirkenden haben, sei es in jedem
einzelnen Falle, sei es auch nur in den meisten. Mag die anfängliche Abweichung auch noch so gering sein, indem
sich dabei auch das Bewegungsgefühl um ein Minimum verschiebt, so wird das nächste Mal schon eine etwas
größere Abweichung von dem Ursprünglichen möglich und damit wieder eine Verschiebung des
Bewegungsgefühls, und so entsteht durch eine Summierung von Verschiebungen, die man sich kaum klein genug
vorstellen kann, allmählich eine merkliche Differenz, sei es, dass die Bewegung stetig in einer bestimmten Richtung
fortschreitet, sei es, dass der Fortschritt immer wieder durch Rückschritte unterbrochen wird, falls nur die letzteren
seltener und kleiner sind als die ersteren.

Die Ursache, warum die Neigung zur Abweichung nach der einen Seite hin grösser ist als nach der andern, kann
kaum anders worin gesucht werden, als dass die Abweichung nach der ersteren den Organen des Sprechenden in
irgend welcher Hinsicht bequemer ist. Das Wesen dieser grösseren oder geringeren Bequemlichkeit zu untersuchen
ist eine physiologische Aufgabe. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie nicht auch psychologisch bedingt ist. Akzent
und Tempo, die dabei von so entscheidender Bedeutung sind, auch die Energie der Muskeltätigkeit sind wesentlich
von psychischen Bedingungen abhängig, aber ihre Wirkung auf die Lautverhältnisse ist doch etwas Physiologisches.
Bei der progressiven Assimilation kann es nur die Vorstellung des noch zu sprechenden Lautes sein, was auf den
vorhergehenden einwirkt; aber das ist ein gleichmässig durchgehendes psychisches Verhältnis von sehr einfacher
Art, während alle spezielle Bestimmung des Assimilationsprozesses auf einer Untersuchung über die physische
Erzeugung der betreffenden Laute basiert werden muss.

Für die Aufgabe, die wir uns hier gestellt haben, genügt es auf einige allgemeine Gesichtspunkte hinzuweisen. Es
gibt eine grosse Zahl von Fällen, in denen sich schlechthin sagen lässt: diese Lautgruppe [57 Verschiebung des
Bewegungsgefühls. Ursachen derselben.] ist bequemer als jene, erfordert eine geringere Tätigkeit der
Sprechwerkzeuge. So sind ital. otto, cattivo zweifellos bequemer zu sprechen als lat. octo, nhd. empfangen, als ein
nicht von Ausgleichung betroffenes *entfangen sein würde. Vollständige und partielle Assimilation ist eine in allen
Sprachen wiederkehrende Erscheinung. Wenn es sich dagegen um den Einzellaut handelt, so lassen sich kaum
irgend welche allgemeine Grundsätze über grössere oder geringere Bequemlichkeit des einen oder andern aufstellen,
und alle aus beschränkten Gebieten abstrahierten Theorien darüber zeigen sich in ihrer Nichtigkeit einer reicheren
Erfahrung gegenüber. Und auch für die Kombination mehrerer Laute lassen sich keineswegs durchweg allgemeine
Bestimmungen geben. Zunächst hängt die Bequemlichkeit zu einem guten Teile von den Quantitätsverhältnissen
und von der Akzentuation, der exspiratorischen wie der musikalischen ab. Für die lange Silbe ist etwas anderes
bequem als für die kurze, für die betonte etwas anderes als für die unbetonte, für den Zirkumflex etwas anderes als
für den Gravis oder Akut. Weiter aber richtet sich die Bequemlichkeit nach einer Menge von Verhältnissen, die für
jedes Individuum verschieden sein, aber auch grösseren Gruppen in gleicher oder ähnlicher Weise zukommen
können, ohne von andern geteilt zu werden. Insbesondere wird dabei ein Punkt zu betonen sein. Es besteht in allen
Sprachen eine gewisse Harmonie des Lautsystems. Man sieht daraus, dass die Richtung, nach welcher ein Laut
ablenkt, mitbedingt sein muss durch die Richtung der übrigen Laute. Wie Sievers hervorgehoben hat, kommt dabei
sehr viel auf die sogenannte Indifferenzlage der Organe an. Jede Verschiedenheit derselben bedingt natürlich auch
eine Verschiedenheit in Bezug auf die Bequemlichkeit der einzelnen Laute. Eine allmähliche Verschiebung der
Indifferenzlage wird ganz nach Analogie dessen, was wir oben über die des Bewegungsgefühls gesagt haben, zu
beurteilen sein.

§ 39. Es ist von grosser Wichtigkeit sich stets gegenwärtig zu halten, dass die Bequemlichkeit bei jeder einzelnen
Lautproduktion immer nur eine sehr untergeordnete Nebenursache abgibt, während das Bewegungsgefühl immer
das eigentlich Bestimmende bleibt. Einer der gewöhnlichsten Irrtümer, dem man immer wieder begegnet, besteht
darin, dass eine in einem langen Zeitraume durch massenhafte kleine Verschiebungen entstandene Veränderung auf
einen einzigen Akt des Bequemlichkeitsstrebens zurückgeführt wird. Dieser Irrtum hängt zum Teil mit der Art
zusammen, wie Lautregeln in der praktischen Grammatik und danach auch vielfach in Grammatiken, die den
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, gefasst werden. Man sagt z. B.: wenn ein tönender Konsonant in den
Auslaut tritt, so wird er in dieser Sprache [58 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] zu dem entsprechenden tonlosen
(vgl. mhd. mîde - meit, rîbe - reip), als ob man es mit einer jedesmal von neuem eintretenden Veränderung zu tun
hätte, die dadurch veranlasst wäre, dass dem Auslaut der tonlose Laut bequemer liegt. In Wahrheit aber ist es dann

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

das durch die Überlieferung ausgebildete Bewegungsgefühl, welches den tonlosen Laut erzeugt, während die
allmähliche Reduzierung des Stimmtons bis zu gänzlicher Vernichtung und die etwa damit verbundene Verstärkung
des Exspirationsdruckes einer vielleicht schon längst vergangenen Zeit angehören. Ganz verkehrt ist es auch, das
Eintreten eines Lautwandels immer auf eine besondere Trägheit, Lässigkeit oder Unachtsamkeit zurückzuführen und
das Unterbleiben desselben anderswo einer besondern Sorgfalt und Aufmerksamkeit zuzuschreiben. Wohl mag es
sein, dass das Bewegungsgefühl nicht überall zu der gleichen Sicherheit ausgebildet ist. Aber irgend welche
Anstrengung zur Verhütung eines Lautwandels gibt es nirgends. Denn die Betreffenden haben gar keine Ahnung
davon, dass es etwas Derartiges zu verhüten gibt, sondern leben immer in dem guten Glauben, dass sie heute so
sprechen, wie sie vor Jahren gesprochen haben, und dass sie bis an ihr Ende so weiter sprechen werden. Würde
jemand im stande sein die Organbewegungen, die er vor vielen Jahren zur Hervorbringung eines Wortes gemacht
hat, mit den gegenwärtigen zu vergleichen, so würde ihm vielleicht ein Unterschied auffallen. Dazu gibt es aber
keine Möglichkeit. Der einzige Massstab, mit dem er messen kann, ist immer das Bewegungsgefühl, und dieses ist
entsprechend modifiziert, ist so, wie es zu jener Zeit gewesen ist, nicht mehr in der Seele.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 40. Eine Kontrolle gibt es aber dennoch, wodurch der eben geschilderten Entwickelung des einzelnen
Individuums eine mächtige Hemmung entgegengesetzt wird: das ist das Lautbild. Während sich das
Bewegungsgefühl nur nach den eigenen Bewegungen bildet, gestaltet sich das Lautbild ausser aus dem
Selbstgesprochenen auch aus allem dem, was man von denjenigen hört, mit denen man in Verkehrsgemeinschaft
steht. Träte nun eine merkliche Verschiebung des Bewegungsgefühles ein, der keine entsprechende Verschiebung
des Lautbildes zur Seite stünde, so würde sich eine Diskrepanz ergeben zwischen dem durch ersteres erzeugten
Laute und dem aus den früheren Empfindungen gewonnenen Lautbilde. Eine solche Diskrepanz wird vermieden,
indem sich das Bewegungsgefühl nach dem Lautbilde korrigiert. Dies geschieht in derselben Weise, wie sich zuerst
in der Kindheit das Bewegungsgefühl nach dem Lautbilde regelt. Es gehört eben zum eigensten Wesen der Sprache
als eines Verkehrsmittels, dass der Einzelne sich in steter Übereinstimmung mit seinen Verkehrsgenossen fühlt.
Natürlich besteht kein bewusstes Streben danach, sondern die Forderung [59 Bewegungsgefühl und Bequemlichkeit.
Kontrolle durch das Lautbild.] solcher Übereinstimmung bleibt als etwas Selbstverständliches unbewusst. Dieser
Forderung kann auch nicht mit absoluter Exaktheit nachgekommen werden. Wenn schon das Bewegungsgefühl des
Einzelnen seine Bewegungen nicht völlig beherrschen kann und selbst kleinen Schwankungen ausgesetzt ist, so
muss der freie Spielraum für die Bewegung, der innerhalb einer Gruppe von Individuen besteht, natürlich noch
grösser sein, indem es dem Bewegungsgefühle jedes Einzelnen doch niemals gelingen wird dem Lautbilde, das ihm
vorschwebt, vollständig Genüge zu leisten. Und dazu kommt noch, dass auch dies Lautbild wegen der bestehenden
Differenzen in den Lautempfindungen sich bei jedem Einzelnen etwas anders gestalten muss und gleichfalls
beständigen Schwankungen unterworfen ist. Aber über ziemlich enge Grenzen hinaus können auch diese
Schwankungen innerhalb einer durch intensiven Verkehr verknüpften Gruppe nicht gehen. Sie werden auch hier
unmerklich oder, wenn auch bei genauerer Beobachtung bemerkbar, so doch kaum definierbar oder gar, selbst mit
den Mitteln des vollkommensten Alphabetes, bezeichenbar sein. Wir können das nicht nur a priori vermuten,
sondern an den lebenden Mundarten tatsächlich beobachten, natürlich nicht an solchen , die einen abgestuften
Einfluss der Schriftsprache zeigen. Finden sich auch hie und da bei einem Einzelnen, z. B. in Folge eines
organischen Fehlers stärkere Abweichungen, so macht das für das Ganze wenig aus. § 41. So lange also der
Einzelne mit seiner Tendenz zur Abweichung für sich allein den Verkehrsgenossen gegenüber steht, kann er dieser
Tendenz nur in verschwindend geringem Masse nachgeben, da ihre Wirkungen immer wieder durch regulierende
Gegenwirkungen paralysiert werden. Eine bedeutendere Verschiebung kann nur eintreten, wenn sie bei sämtlichen
Individuen einer Gruppe durchdringt, die wenigstens im Verhältnis zu der Intensität des Verkehrs im Innern, nach
aussen hin einen gewissen Grad von Abgeschlossenheit hat. Die Möglichkeit eines solchen Vorganges liegt in
denjenigen Fällen klar auf der Hand, wo die Abweichung allen oder so gut wie allen Sprechorganen bequemer liegt
als die genaue Innehaltung der Richtung des Bewegungsgefühls. Sehr kommt dabei mit in Betracht, dass die schon
vorhandene Übereinstimmung in Akzent, Tempo etc. in die gleichen Bahnen treibt. Dasselbe gilt von der
Übereinstimmung in der Indifferenzlage. Aber das reicht zur Erklärung nicht aus. Wir sehen ja, dass von demselben
Ausgangspunkte aus sehr verschiedenartige Entwickelungen eintreten, und zwar ohne immer durch
Akzentveränderungen oder sonst irgend etwas bedingt zu sein, was seinerseits psychologische Veranlassung hat.
Und wir müssen immer wieder fragen: wie kommt es, dass gerade die Individuen dieser Gruppe die und die
Veränderung [60 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] gemeinsam durchmachen. Man hat zur Erklärung die
Übereinstimmung in Klima, Bodenbeschaffenheit und Lebensweise herbeigezogen.[4]) Es ist aber davon zu sagen,
dass bisher auch nicht einmal der Anfang zu einer methodischen Materialiensammlung gemacht ist, aus der sich die
Abhängigkeit der Sprachentwickelung von derartigen Einflüssen wahrscheinlich machen liesse. Was im einzelnen in
dieser Hinsicht behauptet ist, lässt sich meist sehr leicht ad absurdum führen. Kaum zu bezweifeln ist es, dass
Eigentümlichkeiten der Sprechorgane sich vererben, und nähere oder weitere Verwandtschaft ist daher gewiss mit
zu den Umständen zu rechnen, die eine grössere oder geringere Übereinstimmung im Bau der Organe bedingen.
Aber sie ist es nicht allein, wovon der letztere abhängt. Und ebensowenig hängt die Sprachentwickelung allein vom
Bau der Organe ab. Überdies aber tritt die dialektische Scheidung und Zusammenschliessung sehr vielfach mit der
leiblichen Verwandtschaft in Widerspruch. Man wird sich demnach [61 Verhältnis des Einzelnen zu seinen
Verkehrsgenossen.] immer vergeblich abmühen, wenn man versucht das Zusammentreffen aller Individuen einer
Gruppe lediglich als etwas Spontanes zu erklären, und dabei den andern neben der Spontaneität wirkenden Faktor
übersieht, den Zwang der Verkehrsgemeinschaft.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 42. Gehen wir davon aus, dass jedes Individuum besonders veranlagt und in besonderer Weise entwickelt ist, so ist
damit zwar die Möglichkeit ausserordentlich vieler Variationen gegeben, nimmt man aber jedes einzelne Moment,
was dabei in Betracht kommt, isoliert, so ist die Zahl der möglichen Variationen doch nur eine geringe. Betrachten
wir die Veränderungen jedes einzelnen Lautes für sich, und unterscheiden wir an diesem wieder Verschiebung der
Artikulationsstelle, Übergang von Verschluss zu Engenbildung und umgekehrt, Verstärkung oder Schwächung des
Exspirationsdruckes u. s. f., so werden wir häufig in der Lage sein nur zwei Möglichkeiten der Abweichungen zu
erhalten. So kann z. B. das a sich zwar nach und nach in alle möglichen Vokale wandeln, aber die Richtung in der es
sich bewegt, kann zunächst doch nur entweder die auf i oder die auf u sein. Nun kann es zwar leicht geschehen, dass
sich die zwei oder drei möglichen Richtungen in einem grossen Sprachgebiete, alles zusammengefasst, ungefähr die
Wage halten. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass das an allen verschiedenen Punkten zu jeder Zeit der Fall sein
sollte. Der Fall, dass in einem durch besonders intensiven Verkehr zusammengehaltenen Gebiete die eine Tendenz
das Übergewicht erlangt, kann sehr leicht eintreten lediglich durch das Spiel des Zufalls, d. h. auch wenn die
Übereinstimmung der Mehrheit nicht durch einen nähern innern Zusammenhang gegenüber den ausserhalb der
Gruppe stehenden Individuen bedingt ist, und wenn die Ursachen, die nach dieser bestimmten Richtung treiben, bei
den einzelnen vielleicht ganz verschiedene sind. Das Übergewicht einer Tendenz in einem solchen beschränkten
Kreise genügt, um die entgegenstehenden Hemmungen zu überwinden. Es wird die Veranlassung, dass sich der
Verschiebung des Bewegungsgefühles, wozu die Majorität neigt, eine Verschiebung des Lautbildes nach der
entsprechenden Richtung zur Seite stellt. Der Einzelne ist ja in Bezug auf Gestaltung seiner Lautvorstellungen nicht
von allen Mitgliedern der ganzen Sprachgenossenschaft abhängig, sondern immer nur von denen, mit welchen er in
sprachlichen Verkehr tritt und wiederum von diesen nicht in gleicher Weise, sondern in sehr verschiedenem Masse
je nach der Häufigkeit des Verkehres und nach dem Grade, in welchem sich ein jeder dabei betätigt. Es kommt nicht
darauf an, von wie vielen Menschen er diese oder jene Eigentümlichkeit der Aussprache hört, sondern lediglich
darauf, wie oft er sie hört. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass dasjenige, was von der gewöhnlich vernommenen
Art abweicht, wieder unter sich [62 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] verschieden sein kann, und dass dadurch die
von ihm ausgeübten Wirkungen sich gegenseitig stören. Ist nun aber durch Beseitigung der vermittelst des
Verkehres geübten Hemmung eine definitive Verschiebung des Bewegungsgefühles eingetreten, so ist bei
Fortwirken der Tendenz eine weitere kleine Abweichung nach der gleichen Seite ermöglicht. Mittlerweile wird aber
auch die Minorität von der Bewegung mit fortgerissen. Genau dieselben Gründe, welche der Minderheit nicht
gestatten in fortschrittlicher Bewegung sich zu weit vom allgemeinen Usus zu entfernen, gestatten ihr auch nicht
hinter dem Fortschritt der Mehrheit erheblich zurückzubleiben. Denn die überwiegende Häufigkeit einer Aussprache
ist der einzige Massstab für ihre Korrektheit und Mustergültigkeit. Die Bewegung geht also in der Weise vor sich,
dass immer ein Teil etwas vor dem Durchschnitt voraus, ein anderer etwas hinter demselben zurück ist, alles aber in
so geringem Abstande von einander, dass niemals zwischen Individuen, die in gleich engem Verkehr unter einander
stehn, ein klaffender Gegensatz hervortritt.[5])

§ 43. Innerhalb der nämlichen Generation werden auf diese Weise immer nur sehr geringfügige Verschiebungen zu
stande kommen. Merk- [63 Wirkung des Verkehrs. Übertragung auf die jüngere Generation.] lichere
Verschiebungen erfolgen erst, wenn eine ältere Generation durch eine neu heranwachsende verdrängt ist. Zunächst,
wenn eine Verschiebung schon bei der Majorität durchgedrungen ist, während ihr eine Minorität noch widersteht, so
wird sich das heranwachsende Geschlecht naturgemäss nach der Majorität richten, zumal wenn die Aussprache
derselben die bequemere ist. Mag nun die Minorität auch bei der älteren Gewohnheit verharren, sie stirbt allmählich
aus. Weiterhin aber kann es sein, dass sich das Bewegungsgefühl der jüngeren Generation von Aufang an nach einer
bestimmten Richtung hin abweichend von dem der älteren gestaltet. Die selben Gründe, welche bei der älteren
Generation zu einer bestimmten Art der Abweichung von dem schon ausgebildeten Bewegungsgefühl treiben,
müssen bei der jüngeren auf die anfängliche Gestaltung desselben wirken. Man wird also wohl sagen können, dass
die Hauptveranlassung zum Lautwandel in der Übertragung der Laute auf neue Individuen liegt. Für diesen
Vorgang ist also der Ausdruck Wandel, wenn man sich an das wirklich Tatsächliche hält, gar nicht zutreffend, es ist
vielmehr eine abweichende Neuerzeugung.

§ 44. Bei der Erlernung der Sprache werden nur die Laute überliefert, nicht die Bewegungsgefühle. Die
Übereinstimmung der selbsterzeugten mit den von anderen gehörten Lauten gibt dem Einzelnen die Gewähr dafür,
dass er richtig spricht. Dass dann auch das Bewegungsgefühl sich in annähernd gleicher Weise gebildet hat, kann
nur unter der Voraussetzung angenommen werden, dass annähernd gleiche Laute nur durch annähernd gleiche
Bewegungen der Sprechorgane erzeugt werden können. Ist es möglich, durch verschiedene Bewegungen einen
annähernd gleichen Laut zu erzeugen, so muss es auch möglich sein, dass sich das Bewegungsgefühl desjenigen, der
die Sprache erlernt, anders gestaltet als dasjenige der Personen, von denen er sie lernt. Für einige wenige Fälle wird
wohl eine solche abweichende Gestaltung des Bewegungsgefühles als möglich zugegeben werden müssen. So sind
z. B. die dorsalen t- und s-Laute im Klange nicht sehr von den alveolaren verschieden, trotzdem die Artikulation
wesentlich verschieden ist. Linguales und uvulares r sind zwar noch ziemlich leicht zu unterscheiden, und es pflegt
auch, soviel mir bekannt ist, in den verschiedenen Mundarten entweder das eine oder das andere durchzugehen; aber
der Übergang des einen in das andere ist doch wohl kaum anders zu erklären, als dass abweichende

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Hervorbringungen nicht korrigiert wurden, weil die Abweichungen des Klanges nicht genug auffielen.

§ 45. Es gibt nun noch andere lautliche Veränderungen, die nicht auf einer Verschiebung oder abweichenden
Gestaltung des Bewegungsgefühls beruhen, die man also von dem bisher geschilderten Lautwandel im engeren
Sinne zu scheiden hat, die aber das mit ihm gemein haben, [64 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] dass sie ohne
Rücksicht auf die Funktion des Wortes vor sich gehen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Veränderung der
Elemente, aus denen sich die Rede zusammensetzt, durch Unterschiebung, sondern nur um eine Vertauschung dieser
Elemente in bestimmten einzelnen Fällen.[6])
Es gehört hierher zunächst die Erscheinung der Metathesis. Es sind folgende Hauptarten zu unterscheiden. Erstens:
zwei unmittelbar auf einander folgende Laute werden umgestellt, vgl. angelsächsisch fix neben fisc, ácsian (áhsian)
neben áscian = ahd. eiscôn (forschen), lat. ascia gegenüber griech. axínê, got. aqizi (Axt), dialektisch-franz. fisque =
fixe, sesque - sexe, lat. vespa aus *vepsa wie deutsch Wespe gegen oberd. Wefse, vulgärlat. ispe = ipse, span.
escarbar aus scabrare, olvidar = franz. oublier; ags. fierst = frist, irnan = rinnan, nhd. (ursprünglich nd.) bersten =
mhd. bresten, Born neben Brunnen, Bernstein, zu brennen, Kersten, Karsten aus Christian, mnd., auch md. nâlde,
ndl. naald aus nâdel[7]). Zweitens: zwei nicht aufeinander folgende, in der Regel irgendwie verwandte Laute [65
Lautveränderungen ohne Verschiebung des Bewegungsgefühls.] vertauschen ihre Stellen; am häufigsten ist die
Vertauschung zwischen r und l, vgl. ahd. erila neben elira = nhd. erle - eller, ags. weleras Lippen gegen got.
wairilos, it. dialektisch grolioso = glorioso, toskanisch balire = it. barile (Fass), span. milagro aus miraculum,
span.-port. palabra aus parabola; aber auch andere Konsonanten werden vertauscht: ahd. ezzih, welches vor der
Lautverschiebung *etik gelautet haben muss, = lat. acetum, franz. étincelle aus *stincilla = scintilla, sizilianisch
vispicu aus episcopus, nordd. mundartl. Schersant = Sergeant, span. ajuagas (Beulenkrankheit der Pferde) neben
aguaja (zu lat. aqua), mailändisch valmasia = it. malvasia, it. padule neben palude, it. cofaccia (Kuchen) neben
focaccia (zu focus), dialektisch-it. telefrago = telegrafo. Drittens: seltener ist es, dass ein Konsonant in eine andere
Silbe tritt, ohne dass ein anderer seine frühere Stelle einnimmt. Am häufigsten erfährt r diese Versetzung, vgl.
dialektisch-it. crompare = comprare, it. strupo neben stupro und span. estrupo neben estupro (stuprum), mlat.
lampreda neben lampetra, franz. abreuver aus *adbibrare, mlat. cocodrillus (aus crocodilus), woraus it.
coccodrillo, mhd. kokodrille. Schuchardt hat in Bezug auf diese Fälle die Ansicht vertreten, dass zunächst
Assimilation, dann Dissimilation eingetreten sei (also z. B. stupro - *strupro - strupo), eine Erklärung, die
mindestens teilweise zutreffen mag.
Ferner gehören hierher Assimilationen zwischen zwei nichtbenachbarten Lauten wie lat. lilium aus griech. leírion,
lat. quinque aus *pinque, urgermanisch *finfi (fünf) = *finhwi, sanskr. çvaçuras statt *svaçuras (= lat. socer), lat.
bibo gegen aind. pibâmi, lat. barba statt des nach deutsch Bart zu erwartenden *farba (wobei freilich auch
Zusammensetzungen wie imberbis, in denen b lautgesetzlich entwickelt war, mitgewirkt haben können), griech.
Mekaklê^s aus Megaklê^s, lat. forfex aus forpex.[8])

Häufiger sind Dissimilationen zwischen zwei nicht aneinander angrenzenden gleichen Lauten, wobei für den einen
ein nur ähnlicher Laut eintritt. Am gewöhnlichsten ist dabei die Ersetzung von r durch l und demnächst die
umgekehrte, vgl. ahd. turtiltûba aus lat. turtur, murmulôn aus lat. murmurare, marmul aus lat. marmor, mhd. martel
neben marter aus martyrium, prîol neben prîor, nhd. Mörtel = mhd. mörtel neben mörter aus lat. mortarium, mhd. u.
anhd. körpel neben körper, anhd. erkel neben Erker, Christoffel aus Christophorus, Herbolzheim aus Herbortsheim,
it. mercoledi aus Mercurii dies, vulgär balbieren = barbieren, mlat. almaria (woraus mhd. almer) aus armarium,
mlat. [66 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] pelegrinus neben peregrinus, ahd. fluobra (Trost) gegen asächs. frôfra
und ags. frófor, vulgärlat. meletrix = meretrix, Maulbeere, mhd. mûlbere aus ahd. mûrberi (lat. morum); mhd.
pheller neben phellel aus lat. palliolum, lat. consularis, militaris gegen aequalis etc., lucrum, simulacrum gegen
piac(u)lum, caeruleus zu caelum, griech. kephalargê's aus kephalalgê's. Andere Veränderungen: Knäuel aus älterem
Kläuel (mhd. kliuwel), Knoblauch aus älterem Kloblauch (zu Kloben), Knüppel aus Klüppel (= Klöppel), it.
calonaco neben canonico, Bologna (franz. Boulogne) aus Bononia, Palermo aus Panormus, Girolamo aus
Hieronymus, anhd. Nollhard, Nollbruder aus Lollhard, Lollbruder, franz. niveau zu libella, vulgärlat. conuclus
(Grundlage für die romanischen Sprachen) aus *coluclus (zu colus), anhd. Marbel aus marmel (Marmor), murbeln
aus murmeln; Kartoffel aus Tartuffel, lat. meridies aus medidies, Fibel aus Bibel, Blachfeld = flach Feld. Meistens,
aber nicht immer ist es der Konsonant in der unbetonten Silbe, der ausweicht.

Als Dissimilation kann auch der Ausfall eines Lautes betrachtet werden, wenn er dadurch veranlasst ist, dass der
gleiche Laut in der Nähe steht, vgl. Köder aus Körder (ahd. querdar), fodern neben fordern, mhd. und anhd. mader
= Marder, Polier (Palier) aus mhd. parlier, Hatschier neben Hartschier (aus it. arciere), maschieren in vielen
deutschen Mundarten für marschieren, lat. fragare neben fragrare, praestigia zu praestringere, it. frate, prete,
griech. phatría neben phratría, drúphaktos (hölzerner Verschlag) zu phrássô, ékpaglos zu pléssô, lat. laterna neben
lanterna, vulgärlat. cinque, cinquaginta (Grundlage für die romanischen Sprachen) aus quinque, quinquaginta,
griech. putizô zu ptúô, mhd. pherit (Pferd) aus älterem pherfrit; lateinische Perfekta wie steti, spopondi werden
zunächst auf *stesti, *spospondi zurückgehen. In den meisten Fällen schwindet der Konsonant in der unbetonten

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Silbe. Das Zusammenwirken mit geringer Tonintensität zeigt sich besonders bei dem Ausfall eines Nasals vor
Konsonant im Deutschen. Auf der schwächsten Tonstufe kann der Ausfall zwar in jeder Umgebung eintreten (vgl.
mhd. helde = helende, gebe wir = geben wir), doch ist er besonders in den Fällen verallgemeinert, in denen ein
anderer Nasal in der Nachbarschaft stand, vgl. mhd. künec = ahd. kuning, honec = ahd. honang, senede zu senen,
nhd. Pfennig aus phenninc, Wernigerode gegen Elbingerode, Leineweber zu Leinen, Schöneberg, Schönebeck gegen
Schwarzenberg (alte Dative). Auch eine ganze Silbe kann neben einer ähnlichen, mit dem gleichen Konsonanten
anlautenden ausfallen, vgl. lat. semestris statt *semimestris, nutrix statt *nutritrix, stipendium statt *stipipendium,
griech. hêmédimnon neben hêmimédimnon, amphoreús neben amphiphoreús, kelainephê's statt *kelainonephê's;
hierher gehören auch tragikomisch statt tragikokomisch und Mineralogie statt *Mineralologie. [67
Lautveränderungen ohne Verschiebung des Bewegungsgefühls. Lautgesetze.]

Alle diese Vorgänge fliessen jedenfalls aus der nämlichen Ursache, die so häufig Veranlassung zum Versprechen
wird.[9]) Dass sich beim Sprechen häufig die Reihenfolge der Wörter, Silben oder Einzellaute verschiebt, indem ein
Element sich zu früh ins Bewusstsein drängt, ist eine bekannte Tatsache. Es ist ferner bekannt, dass es besondere
Schwierigkeiten macht ähnliche und doch verschiedene Laute rasch hintereinander korrekt auszusprechen. Hierauf
beruht ja der Scherz mit Sprechkunststücken wie der Kutscher putzt den Postkutschkasten u. dgl.[10]) Desgleichen
ist es schwierig, dasselbe Element mehrmals kurz hintereinander in verschiedenen Kombinationen auszusprechen,
vgl. das Sprechkunststück Fischers Fritz isst frische Fische; frische Fische isst Fischers Fritz. Dass es für gewisse
Versprechungen begünstigende Bedingungen gibt, dass sie daher bei verschiedenen Personen und wiederholt
auftreten, wird also nicht zu leugnen sein. Zur normalen Form können dann die Versprechungen durch die
Überlieferung auf die jüngere Generation werden. Dass diese auch von sich aus bei der Nachbildung des richtig
Vorgesprochenen Umbildungen in entsprechender Richtung vornimmt, dürfte sich durch Beobachtungen an der
Kindersprache bestätigen. Als Beispiele von Assimilation im Kindermunde kann ich anführen Plampe für Lampe,
Plappen für Lappen. Am leichtesten begreifen sich die besprochenen Vorgänge, wenn sie Fremdwörter betreffen,
die dem eigenen Idiom nicht geläufige Lautfolgen enthalten. Bei diesen kommt ungenaue Perzeption und
mangelhafte Einprägung hinzu. Die Erscheinungen sind daher auch nicht immer leicht von denjenigen zu trennen,
die wir in Kapitel 22 als Lautsubstitution kennen lernen werden. Ebenso bedarf es in manchen Fällen der Erwägung,
ob nicht Volksetymologie im Spiele ist. Neben den Fremdwörtern sind es besonders Ortsnamen, an denen diese
Vorgänge häufig sind, einerseits wohl deshalb, weil die Namen von unbedeutenden Orten gewöhnlich nur innerhalb
einer kleinen Verkehrsgruppe zur Anwendung kommen, bei der sich Neuerungen leichter durchsetzen als auf einem
grösseren Gebiete, anderseits weil bei den Ortsnamen der Zusammenhang mit den zugrundeliegenden Appellativen
geschwächt oder ganz verloren ist, weshalb analogische Wiederherstellung der alten Formen unterbleibt, vgl.
Kapitel 10.
§ 46. Es bleibt uns jetzt noch die wichtige Frage zu beantworten, um die so viel gestritten ist: wie steht es um die
Konsequenz [68 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.] der Lautgesetze?[11]) Zunächst müssen wir uns klar machen,
was wir denn überhaupt unter einem Lautgesetze verstehen. Das Wort `Gesetz' wird in sehr verschiedenem Sinne
angewendet, wodurch leicht Verwirrung entsteht. In dem Sinne, wie wir in der Physik oder Chemie von Gesetzen
reden, in dem Sinne, den ich im Auge gehabt habe, als ich die Gesetzeswissenschaften den
Geschichtswissenschaften gegenüber stellte, ist der Begriff `Lautgesetz', nicht zu verstehen. Das Lautgesetz sagt
nicht aus, was unter gewissen allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten muss, sondern es konstatiert nur die
Gleichmässigkeit innerhalb einer Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen.

Bei der Aufstellung von Lautgesetzen ist man immer von einer Vergleichung ausgegangen. Man hat die
Verhältnisse eines Dialektes mit denen eines andern, einer älteren Entwickelungsstufe mit denen einer jüngeren
verglichen. Man hat auch aus der Vergleichung der verschiedenen Verhältnisse innerhalb desselben Dialektes und
derselben Zeit Lautgesetze abstrahiert. Von der letzteren Art sind die Regeln, die man auch in die praktische
Grammatik aufzunehmen pflegt. So ein Satz, den ich wörtlich Krügers griechischer Grammatik entlehne: ein t-Laut
vor einem andern geht regelmässig in s über; Beispiele: anusthê^nai von anútô, ereisthê^nai von ereídô, peisthê^nai
von peíthô. Ich habe schon § 39 hervorgehoben, dass man sich durch derartige Regeln nicht zu der Anschauung
verführen lassen darf, dass die betreffenden Lautübergänge sich immer von neuem vollziehen, indem man die eine
Form aus der andern bildet. Die betreffenden Formen, die in einem derartigen Verhältnis zu einander stehen, sind
entweder beide gedächtnismässig aufgenommen, oder die eine ist aus der andern nach Analogie gebildet, worüber in
Kapitel V. Ich bezeichne dies Verhältnis im Folgenden auch nicht als Lautwandel, sondern als Lautwechsel. Der
Lautwechsel ist nicht mit dem Lautwandel identisch, sondern er ist nur eine Nachwirkung desselben. Demgemäss
dürfen wir auch den Ausdruck Lautgesetz nie auf den Lautwechsel beziehen, sondern nur auf den Lautwandel. Ein
Lautgesetz kann sich zwar durch die hinterlassenen Wirkungen in den neben einander bestehenden Verhältnissen
[69 Konsequenz der Lautgesetze.] einer Sprache reflektieren, aber als Lautgesetz bezieht es sich niemals auf diese,
sondern immer nur auf eine in einer ganz bestimmten Periode vollzogene historische Entwickelung.

Wenn wir daher von konsequenter Wirkung der Lautgesetze reden, so kann das nur heissen, dass bei dem

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Lautwandel innerhalb desselben Dialektes alle einzelnen Fälle, in denen die gleichen lautlichen Bedingungen
vorliegen, gleichmässig behandelt werden. Entweder muss also, wo früher einmal der gleiche Laut bestand, auch auf
den späteren Entwickelungsstufen immer der gleiche Laut bleiben, oder, wo eine Spaltung in verschiedene Laute
eingetreten ist, da muss eine bestimmte Ursache und zwar eine Ursache rein lautlicher Natur wie Einwirkung
umgebender Laute, Akzent, Silbenstellung u. dgl. anzugeben sein, warum in dem einen Falle dieser, in dem andern
jener Laut entstanden ist. Man muss dabei natürlich sämtliche Momente der Lauterzeugung in Betracht ziehen.
Namentlich muss man auch das Wort nicht isoliert, sondern nach seiner Stellung innerhalb des Satzgefüges
betrachten. Erst dann ist es möglich die Konsequenz in den Lautveränderungen zu erkennen.

§ 47. Es ist nach den vorangegangenen Erörterungen nicht schwer, die Notwendigkeit dieser Konsequenz darzutun,
soweit es sich um den eigentlichen Lautwandel handelt, der auf einer allmählichen Verschiebung des
Bewegungsgefühles beruht; genauer genommen, müssten wir allerdings sagen die Einschränkung der
Abweichungen von solcher Konsequenz auf so enge Grenzen, dass unser Unterscheidungsvermögen nicht mehr
ausreicht.

Dass zunächst an dem einzelnen Individuum die Entwickelung sich konsequent vollzieht, muss für jeden
selbstverständlich sein, der überhaupt das Walten allgemeiner Gesetze in allem Geschehen anerkennt. Das
Bewegungsgefühl bildet sich ja nicht für jedes einzelne Wort besonders, sondern überall, wo in der Rede die
gleichen Elemente wiederkehren, wird ihre Erzeugung auch durch das gleiche Bewegungsgefühl geregelt.
Verschiebt sich daher das Bewegungsgefühl durch das Aussprechen eines Elementes in irgend einem Worte, so ist
diese Verschiebung auch massgebend für das nämliche Element in einem anderen Worte. Die Aussprache dieses
Elementes in den verschiedenen Wörtern schwankt daher gerade nur so wie die in dem nämlichen Worte innerhalb
derselben engen Grenzen. Schwankungen der Aussprache, die durch schnelleres oder langsameres, lauteres oder
leiseres, sorgfältigeres oder nachlässigeres Sprechen veranlasst sind, werden immer dasselbe Element in gleicher
Weise treffen, in was für einem Worte es auch vorkommen mag, und sie müssen sich immer in entsprechenden
Abständen vom Normalen bewegen. [70 Drittes Kapitel. Der Lautwandel.]

Soweit es sich um die Entwickelung an dem einzelnen Individuum handelt, ist es hauptsächlich ein Einwand, der
immer gegen die Konsequenz der Lautgesetze vorgebracht wird. Man behauptet, dass das etymologische
Bewusstsein, die Rücksicht auf die verwandten Formen die Wirkung eines Lautgesetzes verhindere. Wer das
behauptet, muss sich zunächst klar machen, dass damit die Wirksamkeit desjenigen Faktors, der zum Lautwandel
treibt, nicht verneint werden kann nur dass ein Faktor ganz anderer Natur gesetzt wird, der diesem entgegenwirkt. Es
ist durchaus nicht gleichgültig, ob man annimmt, dass ein Faktor bald wirkt, bald nicht wirkt, oder ob man annimmt,
dass er unter allen Umständen wirksam ist und seine Wirkung nur durch einen andern Faktor paralysiert wird. Wie
lässt sich nun aber das chronologische Verhältnis in der Wirkung dieser Faktoren denken? Wirken sie beide
gleichzeitig, so dass es zu gar keiner Veränderung kommt, oder wirkt der eine nach dem andern, so dass die
Wirkung des letzteren immer wieder aufgehoben wird? Das erstere wäre nur unter der Voraussetzung denkbar, dass
der Sprechende etwas von der drohenden Veränderung wüsste und sich im voraus davor zu hüten suchte. Dass
davon keine Rede sein kann, glaube ich zur Genüge auseinandergesetzt zu haben. Gesteht man aber zu, dass die
Wirkung des lautlichen Faktors zuerst sich geltend macht, dann aber durch den andern Faktor wieder aufgehoben
wird, den wir als Analogie im Folgenden noch näher zu charakterisieren haben werden, so ist damit eben die
Konsequenz der Lautgesetze zugegeben. Man kann vernünftigerweise höchstens noch darüber streiten, ob es die
Regel ist, dass sich die Analogie schon nach dem Eintritt einer ganz geringen Differenz zwischen den etymologisch
zusammenhängenden Formen geltend macht, oder ob sie sich erst wirksam zu zeigen pflegt, wenn der Riss schon
klaffend geworden ist. Im Prinzip ist das kein Unterschied. Dass jedenfalls das letztere sehr häufig ist, lässt sich aus
der Erfahrung erweisen, worüber weiter unten. Es liegt aber auch in der Natur der Sache dass Differenzen, die noch
nicht als solche empfunden werden, auch das Gefühl für die Etymologie nicht beeinträchtigen und von diesem nicht
beeinträchtigt werden.[12]) [71 Konsequenz der Lautgesetze.]

Ebenso zurückzuweisen ist die Annahme, dass Rücksichten auf die Klarheit und Verständlichkeit einer Form einen
Lautübergang verhinderten. Man stösst zuweilen auf Verhältnisse, die eine solche Rücksicht zu beweisen scheinen.
So ist z. B. im Nhd. das mittlere e der schwachen Praeterita und Partizipia nach t und d erhalten (redete, rettete),
während es sonst ausgestossen ist. Geht man aber in das sechzehnte Jahrhundert zurück, so findet man, dass bei
allen Verben Doppelformigkeit besteht, einerseits zeigete neben zeigte, anderseits redte neben redete. Der
Lautwandel ist also ohne Rücksicht auf Zweckmässigkeit eingetreten, und nur für die Erhaltung der Formen ist ihre
grössere Zweckmässigkeit massgebend gewesen.

§ 48. Somit kann also nur noch die Frage sein, ob der Verkehr der verschiedenen Individuen unter einander die
Veranlassung zu Inkonsequenzen geben kann. Denkbar wäre das nur so, dass der Einzelne gleichzeitig unter dem
Einflusse von mehreren Gruppen von Personen stünde, die sich durch verschiedene Lautentwickelung deutlich von

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

einander gesondert hätten, und dass er nun einige Wörter von dieser, andere von jener Gruppe erlernte. Das setzt
aber ein durchaus exzeptionelles Verhältnis voraus. Normaler Weise gibt es innerhalb derjenigen
Verkehrsgenossenschaft, innerhalb deren der Einzelne aufwächst, mit der er in sehr viel innigerem Verbande steht
als mit der weiteren Umgebung, keine derartige Differenzen. Wo nicht in Folge besonderer geschichtlicher
Veranlassungen grössere Gruppen von ihrem ursprünglichen Wohnsitze losgelöst und mit andern
zusammengewürfelt werden, wo die Bevölkerung höchstens durch geringe Ab- und Zuzüge modifiziert, aber der
Hauptmasse nach konstant bleibt, da können sich ja keine Differenzen entwickeln, die als solche perzipiert werden.
Spricht A auch einen etwas anderen Laut als B an der entsprechenden Stelle, so verschmilzt doch die Perzeption des
einen Lautes ebensowohl wie die des anderen mit dem Lautbilde, welches der Hörende schon in seiner Seele trägt,
und es kann demselben daher auch nur das gleiche Bewegungsgefühl korrespondieren. Es ist gar nicht möglich, dass
sich für zwei so geringe Differenzen zwei verschiedene Bewegungsgefühle bei dem gleichen Individuum
herausbilden. Es würde in der Regel selbst dann nicht möglich sein, wenn die äussersten Extreme, die innerhalb
eines kleinen Verkehrsgebietes vorkommen, das einzig Existierende wären. Würde aber auch der Hörende im stande
sein den Unterschied zwischen diesen beiden zu erfassen, so würde doch die Reihe von feinen [72 Drittes Kapitel.
Der Lautwandel.] Vermittelungsstufen, die er immerfort daneben hört, es ihm unmöglich machen eine Grenzlinie
aufrecht zu erhalten. Mag er also auch immerhin das eine Wort häufiger und früher von Leuten hören, die nach
diesem Extreme zu neigen, das andere häufiger und früher von solchen, die nach jenem Extreme zu neigen, so kann
das niemals für ihn die Veranlassung werden, dass sich ihm beim Nachsprechen die Erzeugung eines Lautes in dem
einen Worte nach einem andern Bewegungsgefühl regelt, als die Erzeugung eines Lautes in dem andern Worte,
wenn das gleiche Individuum an beiden Stellen einen identischen Laut setzen würde.

Innerhalb des gleichen Dialekts entwickeln sich also keine Inkonsequenzen, sondern nur in Folge einer
Dialektmischung oder wie wir genauer zu sagen haben werden, in Folge der Entlehnung eines Wortes aus einem
fremden Dialekte. In welcher Ausdehnung und unter welchen Bedingungen eine solche eintritt, werden wir später zu
untersuchen haben. Bei der Aufstellung der Lautgesetze haben wir natürlich mit dergleichen scheinbaren
Inkonsequenzen nicht zu rechnen.

Kaum der Erwähnung wert sind die Versuche, die man gemacht hat, den Lautwandel aus willkürlichen Launen oder
aus einem Verhören zu erklären. Ein vereinzeltes Verhören kann unmöglich bleibende Folgen für die
Sprachgeschichte haben. Wenn ich ein Wort von jemand, der den gleichen Dialekt spricht wie ich, oder einen
andern, der mir vollständig geläufig ist, nicht deutlich perzipiere, aber aus dem sonstigen Zusammenhange errate,
was er sagen will, so ergänze ich mir das betreffende Wort nach dem Erinnerungsbilde, das ich davon in meiner
Seele habe. Ist der Zusammenhang nicht ausreichend aufklärend, so werde ich vielleicht ein falsches ergänzen, oder
ich werde nichts ergänzen und mich beim Nichtverstehen begnügen oder noch einmal fragen. Aber wie ich dazu
kommen sollte zu meinen ein Wort von abweichendem Klange gehört zu haben und mir doch dieses Wort an Stelle
des wohlbekannten unterschieben zu lassen, ist mir gänzlich unerfindlich. Einem Kinde allerdings, welches ein Wort
noch niemals gehört hat, wird es leichter begegnen, dass es dasselbe mangelhaft auffasst und dann auch mangelhaft
wiedergibt. Es wird aber auch das richtiger aufgefasste vielfach mangelhaft wiedergeben, weil das
Bewegungsgefühl noch nicht gehörig ausgebildet ist. Seine Auffassung wie seine Wiedergabe wird sich
rektifizieren, wenn es das Wort immer wieder von neuem hört, wo nicht, so wird es dasselbe vergessen. Das
Verhören hat sonst mit einer gewissen Regelmässigkeit nur da statt, wo sich Leute mit einander unterhalten, die
verschiedenen Dialektgebieten oder verschiedenen Sprachen angehören, und die Gestalt, in welcher Fremdwörter
aufgenommen werden, ist allerdings vielfach [73 Konsequenz der Lautgesetze.] dadurch beeinflusst, mehr aber
gewiss durch den Mangel eines Bewegungsgefühls für die dem eigenen Dialekte fehlenden Laute.

Abgesehen ist hierbei von den oben besprochenen geringfügigen Differenzen zwischen den einzelnen Individuen,
die allerdings nie fehlen, aber im allgemeinen unbemerkt bleiben. Am ehesten kann sich ein Gegensatz zwischen
älterer und jüngerer Generation bemerklich machen. Es ist vielfach behauptet worden, dass dieser Gegensatz in
manchen Mundarten ein ganz schroffer sei. Doch, soweit die Beobachtung richtig ist, handelt es sich, so viel ich
sehe, wieder um einen Fall von Sprachmischung. In der Regel verhält es sich so, dass die jüngere Generation stärker
von der Schule beeinflusst ist und sich daher der Schriftsprache nähert. Wer den Satz vertreten will, dass eine starke
Differenzierung der jüngeren Generation von der älteren durch die mundartliche Entwickelung entstehen kann, der
darf dafür nur solche Abweichungen anführen, die nicht in einer Annäherung an die Schriftsprache bestehen.

§ 49. Es bleiben nun allerdings einige Arten von lautlichen Veränderungen übrig, für die sich konsequente
Durchführung theoretisch nicht als notwendig erweisen lässt. Diese bilden aber einen verhältnismässig geringen Teil
der gesamten Lautveränderungen, und sie lassen sich genau abgrenzen. Einerseits also gehören hierher die Fälle, in
denen ein Laut vermittelst einer abweichenden Artikulation nachgeahmt wird, anderseits die § 45 besprochenen
Metathesen, Assimilationen und Dissimilationen. Übrigens hat tatsächlich auch hier zum Teil vollständige
Konsequenz statt, so namentlich bei der Metathesis unmittelbar auf einander folgender Laute, ferner z. B. bei der

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Dissimilation der Aspiraten im Griechischen (kéchuka, pépheuga) und der entsprechenden im Sanskrit und sonst.

§ 50. Aus dem vorliegenden Sprachmaterial lässt sich die Frage, wieweit die Lautgesetze als ausnahmslos zu
betrachten sind, nicht unmittelbar entscheiden, weil es Sprachveränderungen gibt, die, wiewohl ihrer Natur nach
vom Lautwandel gänzlich verschieden, doch entsprechende Resultate hervorbringen wie dieser. Daher ist unsere
Frage aufs engste verknüpft mit der zweiten Frage: wieweit geht die Wirksamkeit dieser andern Veränderungen und
wie sind sie vom Lautwandel zu sondern? Darüber weiter unten.

1. Mit diesem Kap. vgl. Kruszewski II, 260-8. III, 145-170. Ausführliche prinzipielle Erörterungen auch bei
Noreen, Vårt Språk, Bd 3, S. 5ff.
2. Vgl. dessen Medizinische Psychologie (1852) § 26, S. 304; auch Methaphysik II, S. 586ff. Vgl. noch über
das Bewegungsgefühl G. E. Müller, Zur Grundlegung der Psychophysik, § |10. 1|1 und A. Strümpell
Archiv für klinische Medizin XXII S. 321ff. Wundt gebraucht dafür den Ausdruck Innervation. Jesperson
in Techmers Zschr. III, 206 schlägt die Bezeichnung »Organgefühl« vor, weil das Gefühl nicht nur einer
Bewegung, sondern auch einer Stellung der Sprechorgane entspreche. In einer Anm. dazu verlangt
Techmer Unterscheidung zwischen »Drucksinn« und »innerer Innervationsempfindung«. [Paul, Prinzipien]
3. Vgl. S Stricker, Studien über die Sprachvorstellungen, Wien 1880. B. Erdmann, Archiv für systematische
Philosophie II, 355ff, III, 31ff. 150ff. R. Dodge, Die motorischen Wortvorstellungen, Halle 1896.
Ginneken, Psychologische taalwetenschap I, 1ff.
4. Wundt handelt darüber 1, 473ff. Er unterscheidet drei Ursachen: äussere Naturumgebung, Vermischung
von Völkern und Rassen, Einfluss der Kultur. Über die mittlere werden wir im zwölften Kapitel zu handeln
haben. Meringer (Idg. Forschungen 16, 195 und Neue freie Presse, 21. Jan 1904) scheint der Ansicht zu
sein, wenn ich ihn recht verstanden habe, dass die eigentliche Ursache der Lautveränderungen in den
Gemütsbewegungen der Menschen zu suchen sei. Diese tragen jedenfalls wesentlich dazu bei, die normale
Aussprache zu variieren. Aber da dieselben bei dem einzelnen Menschen wechseln und bei verschiedenen
Individuen sehr verschieden sind, so ist anzunehmen, dass die entgegengesetzten Gemütsbewegungen,
indem sie nach entgegengesetzten Richtungen treiben, sich im allgemeinen das Gleichgewicht halten und
nur ausnahmsweise eine bleibende Wirkung auf die normale Sprache hinterlassen. Wollen wir etwas über
die besonderen Ursachen eines Lautwandels ermitteln, so wird immer die erste Frage sein müssen:
inwiefern hängt er mit andern Lautveränderungen und mit dem allgemeinen Lautcharakter desselben
Dialekts zusammen? Hierüber lässt sich manches Ergebnis gewinnen, und damit wird man sich wohl
vorläufig begnügen müssen. Jedenfalls muss diese Untersuchung erst geführt sein, bevor man irgend eine
weitere Vermutung wagen darf. Ferner muss daran festgehalten werden, dass es in der Natur der
Sprechtätigkeit an sich begründet ist, dass Lautveränderungen mit der Zeit nicht ausbleiben, wenn
dieselben auch bald in grösserem, bald in geringerem Umfange, bald in schnellerem, bald in langsamerem
Tempo sich vollziehen. Es muss auch die Ansicht zurückgewiesen werden, dass stärkere Grade von
Veränderung immer durch tiefgreifende Umwälzungen in den Lebensbedingungen des betreffenden Volkes
hervorgerufen sein müssten. Zum Beweise dafür brauche ich nur auf die bedeutenden Veränderungen
hinzuweisen, welche die deutschen, namentlich viele oberdeutsche Mundarten seit den letzten
Jahrhunderten des Mittelalters durchgemacht haben, Veränderungen, bei denen gerade die sesshaftesten
und sonst konservativsten Bevölkerungsschichten am stärksten beteiligt sind. Dagegen wird man sagen
können, dass die relative Abgeschlossenheit kleinerer Verkehrsgruppen ein förderndes Moment für das
Durchdringen von Lautveränderungen ist, eben weil die ausgleichende Wirkung des weiteren Verkehres
fehlt, die wenigstens in der Mehrzahl der Fälle hemmend wirkt.
5. Wundt muss wohl meine oben gegebenen Auseinandersetzungen schlecht in der Erinnerung gehabt haben,
wenn er (Sprachgesch. und Sprachpsychologie S. 59) es als eine vornehmlich von mir zur Geltung
gebrachte Anschauung bezeichnet, dass eine Neuerung in der Lautgebung bei einem Einzelnen begönne
und sich von ihm aus in weitere und weitere Kreise fortsetzte, während ich doch ausdrücklich das
Zusammentreffen einer Überwiegenden Menge von Einzelnen in ihrer Tendenz als Bedingung für das
Zustandekommen des normalen Lautwandels hingestellt habe. Was soll man nun vollends dazu sagen,
wenn weiterhin (S. 62. 3) meine allgemeinen Anschauungen über das Wesen der sprachlichen
Veränderungen durch die Worte charakterisiert werden: »dieser besonders von H. Paul so stark betonte
Gedanke, in der Sprache könne nur das usuell werden, was ursprünglich individuell gewesen, also von
einem Einzelnen ausgegangen sei«. Einen nur einigermassen ähnlich gefassten Gedanken wird man
vergebens in meinem Buche suchen. Freilich vertrete ich die Ansicht, dass jede Veränderung des
Sprachgebrauches sich nirgends anders als an den einzelnen Individuen vollziehen kann, und dass dabei
immer nur ein Teil derselben Spontan aktiv zu sein braucht, während der andere sich nur aufnehmend
verhält; aber wo habe ich denn behauptet, dass die Spontaneität und Aktivität immer oder auch nur in der

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Regel auf der Seite eines Einzelnen sei? Das Gegenteil ist überall zu finden. Es ist also eine Karrikatur
meiner Auffassung, die Wundt bekämpft, was ihm dann unschwer gelingen muss. Es ist das übrigens kein
vereinzelter Fall. Auch sonst sind die Anschauungen derjenigen, gegen die Wundt polemisiert, von
vornherein unrichtig gefasst, und es werden öfters aus Äusserungen eines Einzelnen, die vielleicht nicht
sehr sorgfältig überlegt sind, Schlüsse auf die Anschauungen einer Gruppe von Forschern gezogen, zu der
Wundt diesen Einzelnen rechnet. Eine nicht unwichtige Rolle spielen dabei Charakterisierungen solcher
angenommenen Gruppen durch ein nicht ganz zutreffendes Schlagwort. Ein Beispiel dafür ist die
Charakterisierung der früheren Lehren vom Bedeutungswandel. Vgl. darüber Marty, Grundlegung S. 544ff.
6. Vgl. Brugmann, Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft S. 50. Ders., Kurze vgl. Grammatik der idg.
Sprachen S. 39ff. 235ff. Delbrück, Die neueste Sprachforschung S. 18. Behrens, Über reziproke Metathese
im Romanischen, Greifswald 1888. Nigra, Metathesi (Zschr. f. rom. Philol. 28, 1). H. Schröder, Beitr. z.
Gesch. d. deutschen Sprache und Lit. 29, 355 und Zschr. f. deutsche Philol. 37, 256. Bechtel, Über
gegenseitige Assimilation und Dissimilation der beiden Zitterlaute, Göttingen 1876. Grammont, La dissi-
mulation consonantique dans les langues indoeuropéennes et dans les langues romanes, Dijon 1895.
Hoffmann-Krayer, Ferndissimilation von r und l im Deutschen (Festschrift zur 49. Versammlung deutscher
Philologen, Basel 1907, S. 491ff.). Edw. Schröder, Pfennig (Zschr. f. deutsches Altert. 37, 124) und
Blachfeld (Nachr. der Gesellsch. der Wissensch. zu Göttingen, philol.histor. Kl. 1908, 15). Meringer und
Mayer, Versprechen nnd Verlesen, Stuttgart 1895. Meringer, Aus dem Leben der Sprache, Versprechen,
Kindersprache. Nachahmungstrieb. Berlin 1906. K. Brugmann, Das Wesen der lautlichen Dissimilationen
(Abh. d. sächs. Gesch. d. W. 57, 139 178). Behaghel, Gesch. d. deutsch. Sprache § 232ff.
7. Wo Metathesis zwischen sonorem Konsonanten und Vokal in unbetonter Silbe vorzuliegen scheint, ist die
Erscheinung allerdings wohl meist als das Ergebnis einer anders gearteten Entwickelung aufzufassen. Es
kann zunächst der Vokal der Silbe geschwunden sein, wodurch dann der konsonantische Sonorlaut
sonantisch geworden ist, und daraus kann sich dann ein neuer Vokal, nun in anderer Stellung entwickelt
haben. So sind wahrscheinlich viele scheinbare Metathesen in den romanischen Sprachen aufzufassen, z. B.
dialektisch-franz. vous pernez = prenez, franz. fromage aus formaticum; vgl. Behrens a. a. O. So wird auch
die mhd. Negationspartikel en- aus ahd. ni zu erklären sein. Eine etwas andere Entwickelung, die
gleichfalls zu scheinbarer Metathesis führt, ist die, dass ohne Vokalausstossung aus folgendem Sonorlaut
ein sogenannter Svarabhakti-Vokal entsteht, der weiterhin bewahrt bleibt, während der ursprüngliche
Vokal ausgestossen wird. Ein sicheres Beispiel ist unser -brecht in Personennamen gegenüber got. bairhts
(glänzend); ahd. erscheint es noch als selbständiges Wort in der Form beraht, daneben aber steht z. B. der
Eigenname Werinbraht (Otfried), und wir haben uns die Entwickelung so zu denken, dass in *Wérinbèraht
zunächst eine Verschiebung des Nebenakzentes eingetreten ist (Wérinberàht), wodurch dann die
Ausstossung des Wurzelvokales veranlasst ist.
8. Nur scheinbar gehören hierher viele vokalische Assimilationen wie z. B. der Umlaut in den germanischen
Sprachen. Diese sind durch eine Modifikation der dazwischenstehenden Konsonanten vermittelt, also in
Wahrheit keine Fernassimilationen. [Paul, Prinzipien.]
9. Von dem reichen Materiale, das in dem angeführten Werke von Meringer und Mayer gesammelt ist,
kommt wenigstens ein grosser Teil für unsere Frage in Betracht.
10. Weitere Beispiele bei Meringer und Mayer S. 87.
11. Vgl. L. Tobler, Über die Anwendung des Begriffs von Gesetzen auf die Sprache (Vierteljahrschrift f.
wissenschaftl. Philosophie III, S. 32ff.). Misteli, Lautgesetz und Analogie (Zschr. f. Völkerps. II, 365. 12,
1). Wundt, Über den Begriff des Gesetzes, mit Rücksicht auf die Frage der Ansnahmslosigkeit der
Lautgesetze (Philosophische Studien III). Schuchardt, Über die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker,
Berlin 1886. Jespersen, Zur Lautgesetzfrage (Techmer III, 188). E. Wechssler, Gibt es Lautgesetze, Halle
1900 (auch in Forschungen zur romanischen Philologie. Festgabe für H. Suchier [im Anhang reichliche
Literaturangaben]). E. Herzog, Streitfragen zur romanischen Philologie. Erstes Bändchen: Die
Lautgesetzfrage. Halle 1904.
12. Die Ansicht, dass etymologische Verwandtschaft den Eintritt des Lautwandels verhindern könne, wird
unter anderm vertreten durch H. Pipping, Zur Theorie der Analogiebildung (Mémoires de la société
néophilologique à Helsingfors IV), Helsingfors 1906. Die Abhandlung ist aber durchaus nicht geeignet
seine Anschauung von den sogenannten »erhaltenden Analogiebildungen« zu erweisen. Wie kann es
derselben zur Stütze dienen, dass sie die notwendige Voraussetzung für missliche Hypothesen des
Verfassers über schwierige Probleme der altnordischen Lautverhältnisse ist? Will man die Frage aus der
Erfahrung entscheiden, so muss man sich doch an die Fälle halten, wo man die Entwickelung in Folge
reichlicher Überlieferung Schritt vor Schritt verfolgen und zweifellos deuten kann. Diese aber sprechen
durchaus für die Richtigkeit der entgegengesetzten Anschauung, vgl. Kapitel X.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

VIERTES KAPITEL.

WANDEL DER WORTBEDEUTUNG.[1])

§ 51. Während der Lautwandel durch eine wiederholte Unterschiebung von etwas unmerklich Verschiedenem zu
Stande kommt, wobei also das Alte untergeht zugleich mit der Entstehung des Neuen, ist beim Bedeutungswandel
die Erhaltung des Alten durch die Entstehung des Neuen nicht ausgeschlossen. In der Regel tritt zunächst das
letztere dem ersteren zur Seite, und wenn dann weiterhin, wie es allerdings oft geschieht, dieses vor jenem
zurückweicht, so ist das erst ein zweiter, durch den ersten nicht notwendig gegebener Prozess. [75 Usuelle und
okkasionelle Bedeutung.]

Darin aber verhält sich der Bedeutungswandel genau wie der Lautwandel, dass er zu Stande kommt durch eine
Abweichung in der individuellen Anwendung von dem Usuellen, die allmählich usuell wird. Die Möglichkeit, wir
müssen auch sagen die Notwendigkeit des Bedeutungswandels hat ihren Grund darin, dass die Bedeutung, welche
ein Wort bei der jedesmaligen Anwendung hat, sich mit derjenigen nicht zu decken braucht, die ihm an und für sich
dem Usus nach zukommt. Da es wünschenswert ist für diese Diskrepanz bestimmte Bezeichnungen zu haben, so
wollen wir uns der Ausdrücke usuelle und okkasionelle Bedeutung bedienen. Wir verstehen also unter usueller
Bedeutung den gesamten Vorstellungsinhalt, der sich für den Angehörigen einer Sprachgenossenschaft mit einem
Worte verbindet, unter okkasioneller Bedeutung denjenigen Vorstellungsinhalt, welchen der Redende, indem er das
Wort ausspricht, damit verbindet und von welchem er erwartet, dass ihn auch der Hörende damit verbinde.[2])

§ 52. Die okkasionelle Bedeutung ist sehr gewöhnlich an Inhalt reicher, an Umfang enger als die usuelle. Zunächst
ist hervorzuheben, dass das Wort okkasionell etwas Konkretes bezeichnen kann, während es usuell nur etwas
Abstraktes bezeichnet, einen allgemeinen Begriff, unter welchen sich verschiedene Konkreta unterbringen lassen.
Ich verstehe hier und im Folgenden unter einem Konkretum immer etwas, was als real existierend gesetzt wird, an
bestimmte Schranken des Raumes und der Zeit gebunden; unter einem Abstraktum einen allgemeinen Begriff,
blossen Vorstellungsinhalt an sich, losgelöst von räumlicher und zeitlicher Begrenzung. Diese Unterscheidung hat
demnach gar nichts zu schaffen mit der beliebten Einteilung der Substantiva in [76 Viertes Kapitel. Wandel der
Wortbedeutung.] Konkreta und Abstrakta. Die Substanzbezeichnungen, denen man den Namen Konkreta beilegt,
bezeichnen an sich gerade so einen allgemeinen Begriff wie die sogenannten Abstrakta, und umgekehrt können die
letzteren bei okkasionellem Gebrauche in dem eben angegebenen Sinne konkret werden, indem sie eine einzelne
räumlich und zeitlich bestimmte Eigenschaft oder Tätigkeit ausdrücken.

Bei weitem die meisten Wörter können in okkasioneller Verwendung sowohl abstrakte wie konkrete Bedeutung
haben. Einige gibt es, die ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind etwas Konkretes zu bezeichnen, denen aber
nichtsdestoweniger die Beziehung auf etwas bestimmtes Konkretes an sich noch nicht anhaftet, sondern erst durch
die individuelle Verwendung gegeben werden muss. Hierher gehören die Pronomina Personalia, Possessiva,
Demonstrativa und die Adverbia Demonstrativa, auch Wörter wie jetzt, heute, gestern. Ein ich, ein dieser, ein hier
dienen von Hause aus zu keinem andern Zwecke als zur Orientierung in der konkreten Welt,[3]) aber an sich sind
sie ohne bestimmten Inhalt, und es müssen erst individualisierende Momente hinzukommen ihnen einen solchen zu
geben. Ferner die Eigennamen. Diese bezeichnen zwar ein Einzelwesen, indem aber der gleiche Name
verschiedenen Personen oder Örtlichkeiten anhaften kann, bleibt doch noch eine Verschiedenheit zwischen
okkasioneller und usueller Bedeutung. Endlich kommt eine kleine Zahl von Wörtern in Betracht, bei denen das, was
sie ausdrücken, als nur einmal existierend gedacht wird, wie Gott, Teufel, Welt, Erde, Sonne. Diese sind zugleich
Gattungs- und Eigennamen, aber nur in gewissem Verstande und von bestimmter, nicht allgemeiner Anschauung
aus. Umgekehrt gibt es Wörter, die ihrer Natur nach nur auf das Allgemeine, nicht auf das Konkrete gehen, wie die
Adverbia und Pronomina je, irgend; mhd. ieman, dehein; lat. quisquam, ullus, unquam, uspiam; aber auch deren
Allgemeinheit erleidet in der okkasionellen Anwendung gewisse Beschränkungen; vgl. z. B. wenn er es je getan hat
- wenn er es je tun wird.

§ 53. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung ist der folgende. Usuell
kann die Bedeutung eines Wortes mehrfach sein, okkasionell ist sie immer einfach, abgesehen von den Fällen, wo
eine Zweideutigkeit beabsichtigt ist, sei es um zu täuschen, sei es des Witzes wegen. Zwar hat Steinthal, Zschr. f.
Völkerps. I, 426 die Ansicht verfochten, dass es überhaupt keine Wörter mit mehrfacher Bedeutung gäbe, jedoch,
wie ich glaube [77 Usuelle und okkasionelle Bedeutung.] mit Unrecht. Zunächst gehören hierher alle die Fälle, in
denen die lautliche Übereinstimmung bei Verschiedenheit der Bedeutung nur auf Zufall beruht, wie bei nhd. Acht =
diligentia - proscriptio - octo. Diese Fälle schliesst natürlich Steinthal aus, indem er voraussetzt, dass man hier nicht
das gleiche Wort, sondern mehrere Wörter anerkenne. Aber lautlich besteht doch Identität, und derjenige, welcher
einen solchen Lautkomplex ausser Zusammenhang aussprechen hört, hat kein Mittel zu erkennen, welche von den

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

verschiedenen damit verknüpften Bedeutungen der Sprechende im Sinne hat. Wir haben also, wenn wir uns an den
wirklichen Tatbestand halten und nichts ungehöriger Weise hinzutun, ein Wort dem usuell mehrfache Bedeutung
zukommt. Wirkliche Mehrheit der Bedeutungen muss man aber auch in sehr vielen Fällen anerkennen, wo nicht
bloss lautliche, sondern auch etymologische Identität besteht. Man vergleiche z. B. nhd. Fuchs vulpes - Pferd von
fuchsiger Farbe - rothaariger Mensch - schlauer Mensch - Goldstück - Student im ersten Semester, boc hircus - Bock
der Kutsche - Fehler, Futter pabulum - Überzug oder Unterzug, Mal Fleck - Zeichen - Zeitpunkt, Messe kirchlicher
Akt - Jahrmarkt, Ort locus - Schuhmacherwerkzeug, Stein lapis - bestimmtes Gewicht - Krankheit, Geschick fatum -
sollertia, geschickt missus - sollers, steuern ein Schiff lenken - Abgaben zahlen - Einhalt tun; mhd. beizen beizen -
mit dem Falken jagen - erbeizen vom Pferde steigen, weide Weide - Jagd - Fischerei - Mal (anderweide zum zweiten
Mal); lat. examen Schwarm - Prüfung. Steinthal will immer nur die Grundbedeutung als die einzige anerkennen,
während er den geschichtlich daraus abgeleiteten die Selbständigkeit abspricht. Seine Ansicht passt aber nur auf den
Zustand, der zu der Zeit besteht, wo die abgeleitete Bedeutung zuerst aus der Grundbedeutung entspringt. Dieser
Zustand dauert nicht fort. In den meisten der angeführten Fälle ist es ohne geschichtliche Studien überhaupt nicht
möglich, den ursprünglichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Bedeutungen zu erkennen, und dieselben
verhalten sich dann gar nicht anders zu einander, als wenn die lautliche Identität nur zufällig wäre. Das ist
namentlich dann der Fall, wenn die Grundbedeutung untergegangen ist. Aber auch in vielen solchen Fällen, wo die
Beziehung der abgeleiteten zur Grundbedeutung noch erkennbar ist, werden wir die Selbständigkeit der ersteren
anerkennen müssen, nämlich überall da, wo sie wirklich usuell geworden ist. Dafür gibt es ein sicheres Kriterium,
nämlich dass ein Wort okkasionell gebraucht in dem betreffenden abgeleiteten Sinne verstanden werden kann ohne
Zuhilfenahme der Grundbedeutung, d. h. ohne dass dem Sprechenden oder Hörenden dabei die Grundbedeutung
zum Bewusstsein kommt. Es [78 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] lassen sich ferner zwei negative
Kriterien aufstellen, woran man erkennt, dass ein Wort nicht einfache, sondern mehrfache Bedeutung hat, nämlich
erstens, dass sich keine einfache Definition aufstellen lässt, wodurch der ganze Umfang der Bedeutung, nicht mehr
nnd nicht weniger, eingeschlossen ist, und zweitens, dass das Wort okkasionell nicht in dem ganzen Umfange der
Bedeutung gebraucht werden kann. Man mache die Probe mit den angeführten Beispielen.

Auch da, wo sich die usuelle Bedeutung als eine einfache betrachten lässt, kann die individuelle ohne konkret zu
werden, davon abweichen, indem sie nur auf eine von den verschiedenen Arten geht, die in dem generellen Begriffe
enthalten sind. Das einfache Wort Nadel z. B. kann im einzelnen Falle als Stecknadel, Nähnadel, Stopfnadel,
Stricknadel, Häkelnadel etc. verstanden werden.[4])
§ 54. Alles Verständnis zwischen verschiedenen Individuen beruht auf der Übereinstimmung in deren psychischem
Verhalten.[5]) Zum Verständnis der usuellen Bedeutung ist nicht mehr Übereinstimmung erforderlich, als zwischen
allen Angehörigen der gleichen Sprachgenossenschaft besteht, soweit sie bereits der Sprache völlig mächtig sind.
Wenn aber im okkasionellen Gebrauch die Bedeutung spezialisiert ist und doch verstanden werden soll, so ist das
nur auf Grund einer noch engeren Übereinstimmung zwischen den sich Unterhaltenden möglich. Es können die
gleichen Worte entweder vollkommen verständlich sein oder unverständlich, respektive Missverständnissen
ausgesetzt je nach der Disposition der angeredeten Personen und der Beschaffenheit der sonstigen Umstände, je
nachdem gewisse zum Verständnis mitwirkende Momente vorhanden sind oder nicht. Diese Momente brauchen an
sich gar nicht sprachlicher Natur zu sein. Wir müssen uns dieselben im einzelnen vergegenwärtigen.

§ 55. Um Wörtern, die an sich eine abstrakte Bedeutung haben, Beziehung auf etwas Konkretes zu geben, dient die
Verknüpfung mit den § 52 bezeichneten Wortarten, deren Funktion es ist das Konkrete auszudrücken, insbesondere
die mit dem Artikel, wo ein solcher ausgebildet ist. Indessen hat sich gerade der Gebrauch des letzteren meist so
entwickelt, dass er nicht auf die Funktion des Individualisierens beschränkt ist, sondern dem Nomen auch da
beigesetzt wird, wo es den Gattungsbegriff ausdrückt. Sprachen, die keinen Artikel entwickelt [79 Mehrfache
Bedeutung. Mittel zur Erzeugung konkreten Sinnes.] haben, verwenden die abstrakten Wörter auch ohne besonderes
sprachliches Kennzeichen zur Bezeichnung von etwas Konkretem.

Mag nun die Beziehung auf das Konkrete an sich ausgedrückt sein oder nicht, zur näheren Bestimmung desselben
müssen andere Mittel hinzukommen. Ein solches bildet erstens die dem Sprechenden und Hörenden gemeinsame
Anschauung. Der Letztere erkennt, dass der Erstere mit dem Worte Baum oder Turm einen bestimmten einzelnen
Baum oder Turm meint, wenn sie den betreffenden Gegenstand eben beide vor Augen haben. Die Anschauung kann
unterstützt und näher bestimmt werden durch Deuten mit den Augen oder Händen und sonstige Gebärden.
Hierdurch kann auch auf solche Gegenstände hingewiesen werden, die man nicht unmittelbar sinnlich wahrnimmt,
von denen man aber weiss, nach welcher Richtung hin sie sich befinden.

Ein zweites Mittel, wodurch das Wort Beziehung auf etwas bestimmtes Konkretes erhält, bildet das im Gespräch,
respektive in der einseitigen Auseinandersetzung des Redenden Vorangegangene. Ist der Sinn eines Wortes einmal
konkret bestimmt, so kann diese Bestimmung im weiteren Verlaufe der Unterhaltung andauern; die Erinnerung an
das vorher Ausgesprochene vertritt die Stelle der unmittelbaren Anschauung. Diese Rückbeziehung kann wieder

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

unterstützt werden durch die Demonstrativ-Pronomina und -Adverbia. Mit der Übertragung derselben von der
Anschauung, wofür sie ursprünglich allein verwendet worden sind, auf das in der Rede Vorangegangene, ist daher
ein treffliches Mittel gewonnen, die von dem Sprechenden beabsichtigte Individualisierung der Bedeutung dem
Hörenden verständlich zu machen.

Drittens kommt in Betracht die besondere Macht, welche die Vorstellung von etwas Konkretem auch ohne die Hülfe
der Anschauung oder vorangegangener Erwähnung übereinstimmend in der Seele der sich Unterredenden haben
kann. Die Übereinstimmung in dieser Hinsicht wird erzeugt durch Gemeinsamkeit des Aufenthaltsortes, der
Lebenszeit, der Stellung und Beschäftigung, überhaupt mannigfacher Erfahrungen. Hierher gehört, was man
gewöhnlich den Gebrauch kat' exochê'n nennt. So wird das Wort Stadt ohne nähere Bestimmung von den
Landleuten einer bestimmten Gegend auf die ihnen zunächstliegende Stadt bezogen, Wörter wie Rathaus, Markt von
den Einwohnern des gleichen Ortes auf Rathaus, Markt eben dieses Ortes, Wörter wie Küche, Speisezimmer von den
Hausgenossen auf Küche, Speisezimmer des von ihnen bewohnten Hauses etc. So verstehen wir unter Sonntag den
uns zunächst liegenden Sonntag, und es braucht dann nur noch angedeutet zu sein, ob von Zukunft oder
Vergangenheit die Rede ist, um zu wissen, welcher Sonntag gemeint ist. Wörter, welche das Verhältnis einer Person
zu einer anderen bezeichnen, werden ohne weiteres auf Personen [80 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.]
bezogen, welche sowohl zum Hörenden wie zum Sprechenden in dem betreffenden Verhältnisse stehn, und zwar ist
auch der Singular vollkommen deutlich, sobald es nur eine Person der Art gibt. So ist für den Verkehr von
Geschwistern untereinander die konkrete Beziehung der Wörter Vater und Mutter, für den Verkehr von
Angehörigen des gleichen Landes die von Kaiser, König etc. selbstverständlich. Auch wo das Verhältnis nur
einseitig entweder zu dem Sprechenden oder zu dem Hörenden besteht, kann doch, durch Nebenumstände
unterstützt, die Beziehung zweifellos werden, so dass z. B. der Vater ebenso viel besagt wie mein Vater oder dein,
euer Vater. Ist ein konkreter Gegenstand früher einmal gleichzeitig dem Sprechenden und dem Hörenden irgendwie
bedeutsam geworden, so kann er durch das auf ihn passende Wort in das Bewusstsein gerufen werden, besonders
wenn die Erinnerung daran noch frisch ist, oder wenn man sich wieder in einer ähnlichen Situation befindet wie
diejenige, in welcher er früher die Aufmerksamkeit an sich gezogen hat. Es sind z. B. zwei Freunde mehrmals auf
einem bestimmten Spaziergange einer ihnen sonst unbekannten Dame begegnet, über die sie einige Worte
gewechselt haben, und sie machen nun wieder den gleichen Gang: so wird die Frage des einen »wird uns heute
wieder die Dame begegnen?« von dem andern richtig bezogen werden.

Viertens kann eine nähere Bestimmung zu Hülfe genommen werden. Eine solche Bestimmung bringt aber in der
Regel an sich keinen konkreten Sinn hervor, sondern nur durch Zusammenwirken mit den andern schon
besprochenen Faktoren. Es muss durch diese entweder dem Worte, welchem die Bestimmung beigefügt wird, schon
eine Beziehung auf eine Gruppe konkreter Dinge gegeben sein, aus denen durch die Bestimmung eine weitere
Aussonderung gemacht wird; oder es muss durch sie dem bestimmenden Worte schon konkrete Beziehung gegeben
sein. Beides kann zusammentreffen. So erhält das Wort Graf durch das Epitheton alt an sich keinen konkreten Sinn.
Ist aber durch die Situation bereits die Beziehung auf eine bestimmte gräfliche Familie gegeben, so wird damit die
Persönlichkeit genau bestimmt. Das Wort Schloss erhält durch das Epitheton königlich oder den Gen. (des) Königs
nur dann einen konkreten Sinn, wenn dem Worte König schon durch die Situation eine konkrete Beziehung gegeben
ist. Eindeutig aber ist die Bezeichnung das Schloss des Königs erst dann, wenn entweder vorausgesetzt werden
kann, dass überhaupt nur ein Schloss des betreffenden Königs existiert, oder wenn in der Situation noch sonst etwas
Individualisierendes liegt, wenn man z. B. schon auf einen bestimmten Ort hingewiesen ist, in dem man sich das in
Frage stehende Schloss liegend denken muss. [81 Okkasionelle Spezialisierung.]

Der konkrete Sinn überträgt sich endlich von einem Worte auf andere dazu in Beziehung gesetzte. In Sätzen wie
Karl zog den Rock aus, ich berührte ihn mit der Hand, ich fasste ihn beim Kopfe, du klopftest mir auf die Schulter
enthalten die Wörter Rock und Hand eine konkrete Beziehung durch das Subjekt, das Wort Kopf durch das Objekt,
Schulter durch den Dat. mir.

Auf dieselbe Weise, wie Gattungsnamen eine bestimmte konkrete Beziehung erhalten, werden auch Eigennamen,
die verschiedenen Individuen zukommen, eindeutig. Der blosse Name Karl genügt, wenn der, den wir meinen, vor
uns steht, wenn wir eben von ihm gesprochen haben, auch ohne das innerhalb einer Familie oder eines engeren
Bekanntenkreises, dem dieser Karl und zwar nur dieser angehört. Sonst bestimmen wir ihn näher, z. B. König Karl
VI. von Frankreich. Ebenso genügt ein Ortsname, der in verschiedenen Gegenden vorkommt, ohne weiteres für die
nähere Umgebung, auch für weitere Kreise, wenn der gemeinte bei weitem der bedeutendste unter den
gleichnamigen Orten ist (vgl. Strassburg); sonst hilft man sich mit einer näheren Bestimmung.

§ 56. Dieselben Momente, durch welche ein Wort konkrete Beziehung erhält, dienen auch zur Spezialisierung der
Bedeutung. Ohne Mitwirkung besonderer Umstände wird man, wenn man ein Wort hört, zunächst an die
gewöhnlichste unter den verschiedenen Bedeutungen desselben oder an die Grundbedeutung denken. Beides fällt

47
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

häufig zusammen. Wo aber mehrere ungefähr gleich häufige Bedeutungen neben einander stehen, da wird nach
einem allgemeinen psychologischen Gesetze die Grundbedeutung eher in das Bewusstsein treten als eine
abgeleitete, ja dies wird selbst oft der Fall sein, wo eine abgeleitete gewöhnlicher ist. Anders dagegen stellt sich die
Sache, sobald in der Seele des Hörenden gewisse Vorstellungsmassen schon vor dem Aussprechen des Wortes
erregt sind oder gleichzeitig mit demselben erregt werden, die eine nähere Verwandtschaft mit einer abgeleiteten
oder selteneren Bedeutung haben. Es macht einen grossen Unterschied, ob ich das Wort Blatt bei einem Spaziergang
im Walde höre oder in einer Kunsthandlung, wo ich mir Stiche oder Photographien besehe, oder in einem
Caféhause, wo über Zeitungen gesprochen wird; ebenso ob ich das Wort Band in einem Posamentiergeschäft höre
oder in einer Böttcherei oder in einer Bibliothek. Unterhalten sich Tischler, Jäger, Ärzte oder sonst Leute von
einerlei Beruf untereinander, so sind sie dazu disponiert alle Wörter von derjenigen Seite her aufzufassen, die ihnen
dieser Beruf nahe legt. Von grosser Bedeutung ist die Verbindung, in der ein Wort auftritt. Durch sie können die
verschiedenen Möglichkeiten der Auffassung eines Wortes auf eine einzige beschränkt [Paul, Prinzipien] [82
Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] werden. Vgl. ein schwarzes Mal - ein zweites Mal - ein reichliches
Mahl, ein wohlgemeinter Rat - ein neu ernannter Rat; Gericht der Geschwornen - Gericht Fische, Fuss des Tisches
- des Berges etc.; Zunge der Wage; Sturm auf der Nordsee - Sturm auf eine Festung - Sturm in meinem Herzen; ein
Ball zu dem hundert Personen geladen sind; ein Kränzchen, welches sich wöchentlich versammelt; Land und Leute -
Wasser und Land - Stadt und Land, Feder und Tinte, ein Fuchs und ein Schimmel; er reitet einen Fuchs, er schraubt
den Hahn auf, er spielt den König aus, es kostet zwei Kronen, drei Adler wurden erbeutet, der Zug setzt sich in
Bewegung - es kommt ein unangenehmer Zug durch das Fenster; eine helle Stimme - heller Sonnenschein, reine
Wäsche - reines Herz, Fritz ist ein Esel; der Mann geht - die Mühle geht - es geht ihm gut - das geht nicht, Karl steht
auf einem Beine - es steht in der Zeitung - die Uhr steht - es steht dir frei etc.

§ 57. In den bisher besprochenen Fällen bestand die Abweichung der okkasionellen Bedeutung von der usuellen
darin, dass die erstere alle Elemente der letzteren in sich enthielt, aber zugleich noch etwas mehr. Es gibt aber auch
eine Abweichung von der Art, dass die okkasionelle Bedeutung nicht alle Elemente der usuellen einschliesst,
wobei sie aber doch zugleich wieder etwas zu der letzteren nicht Gehöriges enthalten kann. Die allgemeine
Grundbedingung für die Möglichkeit einer solchen bloss partiellen Benutzung der usuellen Bedeutung eines Wortes
ist dadurch gegeben, dass sich diese bei weitem in den meisten Fällen aus mehreren Elementen zusammensetzt, die
sich von einander sondern lassen. Jede Vorstellung von einer Substanz enthält notwendigerweise die Vorstellung
mehrerer Eigenschaften. Aber auch viele Vorstellungen von Eigenschaften und Tätigkeiten, die wir mit einem
einzigen Worte bezeichnen können, sind zusammengesetzt. Ganz einfache Qualitäten (natürlich vom
psychologischen Standpunkte aus) bezeichnen z. B. die Benennungen der Farben: blau, rot, gelb, weiss, schwarz.
Und selbst bei diesen ist es möglich, dass sie für Qualitäten verwendet werden, die ihrer eigentlichen Bedeutung
nach nicht vollkommen adäquat sind. Da nämlich jede Farbe mit jeder anderen in beliebigem Verhältnis gemischt
werden kann, so gibt es unendlich viele Übergangsstufen, die unmöglich jede ihre besondere Bezeichnung haben
können. Und so ergibt es sich, dass man bei der Bezeichnung Beimischungen in geringerem Grade unberücksichtigt
lässt, so dass die Grenze, innerhalb deren eine Farbenbenennung anwendbar ist, unsicher und verschiebbar wird.
Einen viel weiteren Spielraum aber für nicht adäquate Verwendung bieten die Wörter, deren Bedeutung ein
Vorstellungskomplex ist. [83 Okkasionelle Spezialisierung und Verallgemeinerung.]

Hierher gehört alles, was man als bildlichen Ausdruck bezeichnet. Man pflegt zu sagen, zur Vergleichung gehöre
ausser den beiden mit einander verglichenen Gegenständen ein tertium comparationis. Dieses tertium ist aber nicht
etwas Neues, was noch dazu käme, sondern es ist derjenige Teil von dem Inhalt der beiden mit einander
verglichenen Vorstellungskomplexe, den sie mit einander gemein haben. Sagen wir von einem Menschen, er ist
einem Schweine gleich oder er ist einem Schweine zu vergleichen, so ist das keine Identifizierung wie bei einer
mathematischen Vergleichung, sondern es soll damit nur gesagt sein, dass eine von den charakteristischen
Eigenschaften, aus denen sich der Begriff Schwein zusammensetzt, auch in der Vorstellung inbegriffen ist, die wir
uns von diesem Menschen machen, d. h. in der Regel die Unflätigkeit. Wir können daher genauer sagen, indem auch
das tertium zum Ausdruck kommt: er ist unflätig wie ein Schwein. Anderseits aber kann man noch einfacher sagen
er ist schweinisch, wobei das Adj. wiederum nicht den vollen Inbegriff aller Eigenschaften eines Schweines
bezeichnet, sondern nur eine Auswahl daraus, und endlich am einfachsten er ist ein Schwein.

§ 58. Noch eine andere Möglichkeit gibt es, wodurch ein Wort über die Schranken seiner eigentlichen Bedeutung
hinausgreifen kann, wiederum natürlich zunächst nur okkasionell. Diese besteht darin, dass etwas, was mit dem
usuellen Bedeutungsinhalt nach allgemeiner Erfahrung räumlich oder zeitlich oder kausal verknüpft ist, unter
dem Worte mitverstanden oder auch allein darunter verstanden wird. Hierher gehört die aus der lateinischen Stilistik
als pars pro toto bekannte Figur, sowie manches andere, was noch im Folgenden zu behandeln sein wird.

§ 59. Bei jedem Hinausgreifen des Wortes über die Schranken seiner usuellen Bedeutung muss noch ein
bestimmendes Moment hinzukommen, wenn die Beziehung richtig verstanden werden soll. Ein solches ist hier noch

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

viel notwendiger als da, wo es sich nur darum handelt zu erkennen, welche von mehreren schon usuellen
Bedeutungen gemeint ist, vgl. § 56. Wir fühlen uns überhaupt nie veranlasst ein Wort in einem Sinne zu verstehen,
welcher nicht alle Elemente der usuellen Bedeutung in sich schliesst, so lange wir nicht durch irgend etwas darauf
hingewiesen werden, dass das unmöglich ist, und zum wirklichen Erfassen des wahren Sinnes gehört dann noch,
dass dieser Hinweis unseren Gedanken auch eine positive Richtung gibt. In dem Sprichworte Eigenlob stinkt,
Freundes Lob hinkt würden wir die Prädikate nicht in bildlichem Sinne verstehen, wenn sie in eigentlichem mit den
Subjekten vereinbar wären. Ähnlich verhält es sich mit Verbindungen wie das Feuer der Leidenschaft, der Durst
nach Rache, der kalte Gruss. [84 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] Wenn Schiller sagt zu Aachen sass
König Rudolfs heilige Macht oder Wolfram von Eschenbach dar nâch sîn snelheit verre spranc erkennen wir an den
Prädikaten, dass die Subjekte Umschreibungen für die Personen sein sollen.

§ 60. Der Unterschied zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung macht sich besonders fühlbar beim
Übersetzen aus einer Sprache (oder Sprachstufe) in eine andere. Das Ziel, welches dabei angestrebt werden kann,
ist möglichste Entsprechung der okkasionellen Bedeutung der Wörter und Wortverbindungen. Dagegen ist es
unvermeidlich, dass das Verhältnis dieser okkasionellen Bedeutung zu der usuellen der betreffenden Wörter in den
beiden Sprachen oft ein sehr verschiedenes ist. Wenn wir z. B. lat. altus bald durch hoch, bald durch tief
wiedergeben, so decken sich im Deutschen okkasionelle und usuelle Bedeutung, während im Lateinischen nur eine
okkasionelle Beschränkung der usuellen Bedeutung vorliegt, nach welcher das Wort sich auf jede Erstreckung in
vertikaler Richtung bezieht. Analog verhält es sich, wenn wir lat. hospes bald durch Wirt, bald durch Gast
übersetzen oder für das mhd. varn, welches jede Art von Bewegung ausdrückt, entweder fahren oder reiten oder
gehen oder noch andere Verba einsetzen.

§ 61. In allen besprochenen Abweichungen der okkasionellen Bedeutung von der usuellen liegen Ansätze zu
wirklichem Bedeutungswandel. Sobald sie sich mit einer gewissen Regelmässigkeit wiederholen, wird das
Individuelle und Momentane allmählich generell und usuell. Die Grenzlinie zwischen dem, was bloss zur
okkasionellen, und dem, was auch zur usuellen Bedeutung eines Wortes gehört, ist eine fliessende. Für das
Individuum ist der Anfang zum Übergang einer okkasionellen Bedeutung in das Usuelle gemacht, wenn bei dem
Anwenden oder Verstehen derselben die Erinnerung an ein früheres Anwenden oder Verstehen mitwirkend wird;
der vollständige Abschluss des Überganges ist erreicht, wenn nur diese Erinnerung wirkt, wenn Anwendung und
Verständnis ohne jede Beziehung auf die sonstige usuelle Bedeutung des Wortes erfolgt. Dazwischen ist eine
mannigfache Abstufung möglich. Innerhalb der engeren oder weiteren Verkehrsgenossenschaften können sich dann
wieder die verschiedenen Individuen auf verschiedenen Stufen des Übergangsprozesses befinden. Es ist aber gar
nicht möglich, dass der Prozess sich an einem Individuum vollziehen könnte, während dessen Verkehrsgenossen
vollständig unberührt davon blieben. Denn zum Wesen des Prozesses gehört es ja eben, dass er durch wiederholte
gleichmässige Anwendung der anfänglich nur okkasionellen Bedeutung zu Stande kommt und dieser muss ein
Verstehen wenigstens von Seiten eines Teiles der Verkehrsgenossen entsprechen, und das Verstehen ist für diese
wiederum mindestens ein [85 Übergang zum Usuellen.] Anfang des Prozesses. Es wird aber auch nicht leicht an
einem einzelnen Individuum der Prozess vollkommen durchgeführt werden, wenn die Beeinflussung, welche es auf
die Verkehrsgenossen ausübt, nicht von diesen zurückgegeben wird. Ein solches Zurückgeben wird natürlich da am
leichtesten sich einstellen, wo nicht bloss Beeinflussung von aussen wirkt, sondern ein spontaner innerer Trieb zu
der nämlichen okkasionellen Verwendung des Wortes, wie er sich naturgemäss aus der Übereinstimmung ergibt, die
zwischen den Individuen rücksichtlich ihrer Verhältnisse besteht.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Ganz besonders wirksam aber für die Verwandlung der okkasionellen Bedeutung in eine usuelle ist die erste
Überlieferung an die nachwachsende Generation. Die Erlernung der Wortbedeutung[6]) erfolgt im allgemeinen
nicht mit Hilfe einer Definition, durch welche die usuelle Bedeutung nach Inhalt und Umfang bestimmt würde. Eine
solche wird überhaupt erst für eine schon ziemlich fortgeschrittene Stufe der Sprachkenntnis möglich und bleibt
auch auf dieser Ausnahme. Das Kind lernt nur okkasionelle Verwendungsweisen des Wortes kennen, und zwar
zunächst nur Beziehungen desselben auf ein durch die Anschauung gegebenes Konkretes. Nichtsdestoweniger
verallgemeinert es diese Beziehung sofort, wenn es dieselbe überhaupt erfasst hat. Ganz natürlich. Die Beziehung
auf das einzelne Konkretum kann überhaupt nicht festgehalten werden. Denn in dem Erinnerungsbilde, welches
dasselbe hinterlässt, liegt an sich gar nichts, woran bei einer neuen Anschauung die reale Identität oder
Nichtidentität mit dem früher Angeschauten erkannt werden könnte. Die richtige Erkenntnis davon beruht immer
erst auf einer Schlusskette und ist sehr häufig überhaupt nicht zu gewinnen. Für das naive Bewusstsein genügt
Übereinstimmung des Vorstellungsinhalts um die Identifikation vorzunehmen, mag reale Identität bestehen oder
nicht. Es genügt auch eine partielle, unter Umständen eine sehr geringfügige Übereinstimmung, solange das
Erinnerungsbild noch sehr unbestimmt und verworren ist. Es kommt dabei in Betracht, dass die Aufmerksamkeit des
Kindes zunächst an bestimmten Seiten eines Gegenstandes oder Vorganges haftet, solchen, die zu seinen Gefühlen
und Begierden in Beziehung stehen, und dass das Erinnerungsbild sich also auf diese beschränkt. So bildet sich vom
Beginn der Spracherlernung an die Gewohnheit nicht bloss einen sondern mehrere Gegenstände oder Vorgänge,
nicht bloss gleiche, [86 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] sondern auch nur irgendwie ähnliche
Gegenstände oder Vorgänge mit dem gleichen Worte zu bezeichnen, und diese Gewohnheit bleibt, auch wenn
anfangs übersehene Unterschiede später bemerkt werden, da sie fortwährend durch den Vorgang der Erwachsenen
unterstützt wird. Es ist aber gar nicht anders möglich, als dass zunächst keine klare Vorstellung über Inhalt und
Umfang der usuellen Wortbedeutung besteht. Das Kind macht eine Menge Fehler, indem es mit dem Worte bald
einen zu reichen, bald einen zu armen Begriff verbindet und ihm demgemäss bald eine zu enge, bald eine zu weite
Verwendung erteilt. Das letztere ist bei weitem das häufigere, um so häufiger, je geringer noch der zu Gebote
stehende Wortvorrat ist. So begreift etwa ein kleines Kind unter Stuhl ein Sofa mit ein, unter Stock einen
Regenschirm, unter Hut eine Haube und andere Kopfbedeckungen. Eine andere Veranlassung zu ungenauer
Auffassung der Bedeutung ergibt sich dadurch, dass die bezeichneten Gegenstände vielfach Teile eines grösseren
Ganzen sind oder mit anderen Gegenständen in der Anschauung unzertrennlich verbunden. Hier wird das Kind
vielfach unsicher sein, wie der Ausschnitt aus der ganzen Anschauung, den das Wort bezeichnen soll, zu begrenzen
ist. Es wird die Grenzen bald weiter, bald enger ziehen, als es der Usus verlangt, mitunter zugleich etwas
Hineingehöriges herauslassen und etwas nicht Hineingehöriges einbegreifen. Übrigens ist das Erlernen neuer Wörter
und neuer Verwendungsweisen der alten keineswegs auf die frühe Kindheit eingeschränkt. Ausdrücke, die seltener
vorkommen, kompliziertere Vorstellungskomplexe bezeichnen, eine höhere Bildung oder spezifische Kenntnis
voraussetzen, hat auch der Erwachsene noch immer zu erlernen, und erlernt er sie nur auf Grund der okkasionellen
Verwendung, so ist er ähnlichen Fehlgriffen ausgesetzt wie das Kind. Alle diese Ungenauigkeiten in Erfassung der
usuellen Bedeutung sind vereinzelt von keinem Belang und werden in der Regel mit der Zeit korrigiert. Doch kann
es nicht ausbleiben, dass in einzelnen Fällen das Zusammentreffen einer grösseren Anzahl von Individuen in dem
gleichen Missverständnisse dauernde Spuren hinterlässt. Wir werden also eine Art des Bedeutungswandels
anzuerkennen haben, die darauf beruht, dass der für die ältere Generation usuellen Bedeutung von der jüngeren eine
nur partiell damit Übereinstimmende untergeschoben wird. Das Gebiet dieser Art des Wandels werden wir aber auf
die selteneren und nicht leicht klar zu fixierenden Begriffe einzuschränken haben, da bei anderen die allmähliche
Korrektur nach dem bestehenden Usus nicht ausbleiben kann.

Gewöhnlich geht der Anstoss zur Bedeutungsveränderung von der älteren Generation aus, die den Usus schon
vollkommen beherrscht; die jüngere hat aber an der Weiterentwickelung einen besonderen Anteil. [87 Übergang
zum Usuellen. Bedeutungswandel durch Spezialisierung.] Dieser besteht darin, dass sich die verschiedenen
Verwendungsweisen eines Wortes von Anfang an etwas anders gruppieren als bei der älteren Generation. Jede
Anwendungsweise kann, weil sie zunächst am einzelnen Falle erfasst wird, für sich ohne Rücksicht auf die übrigen
erlernt werden und daher eine grössere Selbständigkeit erhalten als sie in den Seelen der älteren Generation hatte.
Für die Verselbständigung der abgeleiteten gegenüber der Grundbedeutung kommt noch besonders in Betracht, dass
die letztere nicht selten früher erlernt wird als die erstere. So wird es sich z. B. leicht treffen, dass ein Kind mit
Fuchs zuerst ein Pferd, mit Kamel zuerst einen einfältigen Menschen bezeichnen hört. Dann wird die
Grundbedeutung von Anfang an nicht als Vermittlerin herbeigezogen. So lange ein Individuum den Usus noch nicht
vollständig beherrscht, vermag es auch vielfach nicht zu unterscheiden, ob eine Verwendungsweise, die ihm
vorkommt, bereits usuell oder nur rein okkasionell ist, und es kann daher die okkasionelle, wenn sie sich ihm nur in
Folge begünstigender Umstände stark eingeprägt hat, eben so unbefangen nachahmen wie die usuelle.

Bei weitem in den meisten Fällen entspringt also der Wandel der usuellen Bedeutung aus den Modifikationen in der
okkasionellen Anwendung, ohne dass dabei eine auf Veränderung des Usus gerichtete Absicht mitwirkt. Doch ist es
daneben nicht ausgeschlossen, dass Einzelne mit Bewusstsein einen bestimmten Sinn an ein Wort anzuknüpfen
suchen, und dass solche Bemühungen zum Teil Erfolg haben. Dies bewusste Eingreifen spielt namentlich eine Rolle

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

bei der Ausbildung der Terminologie in Gewerbe, Kunst und Wissenschaft (vgl. § 16).

§ 62. Aus unseren Ausführungen erhellt, dass die Veränderungen der usuellen Bedeutung den verschiedenen
Möglichkeiten der okkasionellen Modifikationen entsprechen müssen.[7]) Die erste Hauptart ist demnach
Spezialisierung der Bedeutung durch Verengung des Umfangs und Bereicherung des Inhalts. Als ein instruktives
Beispiel für den Unterschied zwischen bloss okkasioneller und usueller Spezialisierung kann das Wort Schirm
dienen. Wir können das Wort für jeden schirmenden Gegenstand gebrauchen. Im okkasionellen Gebrauche kann
damit ein [88 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] Ofenschirm, Lampenschirm, Augenschirm,
Regenschirm, Sonnenschirm u. a. gemeint sein. Aber während wir das Wort als Ofenschirm oder Lampenschirm zu
verstehen nur durch eine ganz bestimmte Situation veranlasst werden, liegt es uns auch ohne solche nahe es als
Regenoder Sonnenschirm zu fassen, und wir denken dann kaum mehr so sehr an die allgemeine Funktion des
Schirmens wie an einen Gegenstand von bestimmter Gestalt und Konstruktion. Wir müssen daher anerkennen, dass
sich diese Bedeutung als eine eigene, selbständige von der allgemeineren abgezweigt hat, gleichviel ob sie sich noch
logisch unter dieselbe unterordnen lässt. Denn diese logische Unterordnung ist nur möglich, wenn man von
Momenten absieht, die für die Bedeutung mindestens ebenso wesentlich sind als dasjenige, was man allein
berücksichtigt. Weitere Beispiele sind: Frucht im süddeutschen Gebrauche = »Getreide«, Früchte auf Speisekarten
= »Obst«; Kraut süddeutsch speziell = »Kohl«; Korn, welches einerseits allgemeine Bezeichnung für Getreide
überbaupt ist, anderseits spezielle für die gewöhnlichste, hauptsächlich zur Brotbereitung verwendete Getreideart, in
Norddeutschland für Roggen, in einigen Landschaften für Dinkel oder Weizen oder Hafer. Eine besondere hierher
gehörige Art ist die Verwendung von Stoffbezeichnungen für Produkte aus dem Stoff, vgl. Glas, Feder, Gold -
Silber - Kupfer - Papier (als Geldsorten) etc. Der Lexikograph muss sich bemühen bei der Aufzählung der
speziellen Verwendungen eines Wortes zu scheiden zwischen solchen, die usuell geworden, und solchen, die rein
okkasionell sind, eine Scheidung, die ganz gewöhnlich versäumt wird.

Die angeführten Beispiele zeigen, dass die ältere allgemeinere Bedeutung neben der jüngeren spezielleren ungestört
fortbestehen kann. In anderen Fällen ist die erstere untergegangen. Unser Fass hat ursprünglich jede Art von Gefäss
bezeichnet (vgl. noch Zusammensetzungen wie Salzfass, Tintenfass etc.); Miete ist ursprünglich überhaupt »Lohn«,
»Vergeltung«; List ist noch im Mhd. = »Klugheit« ohne üblen Nebensinn, Reue = »Seelenschmerz« überhaupt,
Hochzeit = »Festlichkeit«; Brunnen ist früher = »Quell«, ohne dass eine künstliche Einfassung dabei zu sein braucht
(vgl. noch Sauerbrunnen u. dgl.); Lehen ist ursprünglich überhaupt »etwas Geliehenes« (vgl. Darlehen); genesen
bedeutet ursprünglich überhaupt »am Leben bleiben«, »mit dem Leben davon kommen«, z. B. auch in einem
Kampfe, einer Hungersnot; nähren ist eigentlich das Kausativum dazu, bedeutet also ursprünglich »am Leben
erhalten«, z. B. auch mit Bezug auf die Tätigkeit des Arztes oder den Schirm im Kampfe.

Spezialisierung der Bedeutung stellt sich namentlich in der Sprache der verschiedenen Standes- und Berufsklassen
ein, indem einer jeden [89 Bedeutungswandel durch Spezialisierung.] gewisse Vorstellungen besonders nahe liegen.
Eines der gewöhnlichsten Mittel zur Schaffung technischer Ausdrücke besteht einfach darin, dass gewissen Wörtern
und Wortverbindungen der allgemeinen Sprache ein bestimmterer Sinn untergelegt wird. Manche von diesen gehen
dann mit dem zunächst in der Klassensprache angenommenen engeren Sinne in die allgemeine Sprache über, in der
dann die ältere weitere Bedeutung teils noch daneben bestehen, teils schon untergegangen sein kann. Vgl. z. B.
Druck, genauer Buchdruck; Stich, genauer Stahlstich, Kupferstich; ags. wrîtan (= nhd. reissen) im Sinne von
»schreiben«; gerben = mhd. gerwen mit dem allgemeinen Sinne »fertig, bereit machen« (zu gar); griech. hópla und
lat. arma, ursprünglich mit dem allgemeinen Sinne »Gerät«. Man erkennt die Bedeutung, welche die verschiedenen
Berufsklassen für das Volksleben im Ganzen haben, an der Zahl der Spezialisierungen, die sie in die allgemeine
Sprache eingeführt haben.

Durch Verwandlung der okkasionellen konkreten Bedeutung gewisser Wörter in usuelle entspringen die
Eigennamen. Alle Personenund Ortsnamen sind erst aus Gattungsbezeichnungen entstanden, und den
Ausgangspunkt dafür bildet der Gebrauch kat' exochê'n. Wir können den Prozess deutlich verfolgen bei sehr vielen
Ortsnamen. In dieser Beziehung sind besonders so allgemeine überall wiederkehrende Bezeichnungen lehrreich wie
Aue, Berg, Bruck, Brühl, Brunn, Burg, Haag, Hof, Kappel, Gmünd, Münster, Ried, Stein, Weiler, Zell, Altstadt,
Neustadt (Villeneuve, Newtown), Neuburg (Neuchâtel, Newcastle), Hochburg, Neukirch, Mühlberg etc. Dergleichen
haben ursprünglich nur den nächsten Umwohnern der betreffenden Örtlichkeit gedient, für welche sie ausreichten,
um diese von andern in der Nähe gelegenen Örtlichkeiten zu unterscheiden. Zu zweifellosen Eigennamen wurden
sie in dem Augenblicke, wo sie auch von Fernerstehenden mit diesem konkreten Sinne übernommen, oder wo sie
durch den Zutritt weiterer isolierender Momente schärfer von den ursprünglich identischen Gattungsbezeichnungen
gesondert wurden. Daneben gibt es freilich eine grosse Klasse von Ortsnamen, die von Anfang an der Natur wahrer
Eigennamen sehr nahe kommen, weil sie aus Personennamen abgeleitet oder durch Personennamen bestimmt sind.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Unter die Spezialisierung können wir auch einen Vorgang einreihen, der gewöhnlich nicht als ein
Bedeutungswandel gefasst wird, nämlich dass sich zu dem, was allein als die Bedeutung des Wortes angesehen zu
werden pflegt, ein gewisser Empfindungston gesellt, in Folge dessen es entweder nur in edler oder nur in gemeiner
Sprache, nur in dieser oder in jener Stilgattung gebraucht werden kann. Man vgl. z. B Wörter wie Weib, Pfaffe,
Mähre, Mahl, Gemahl, Gatte, Lenz, Maid. An diesen lässt sich geschichtlich nachweisen, dass der heute [90 Viertes
Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] damit verbundene Gefühlston erst auf Ideenassoziationen beruht, die sich
innerhalb bestimmter Gebrauchssphären an sie angeschlossen haben.[8])
§ 63. Es gibt auch eine Art von Spezialisierung, die gleich ihren Anfang nimmt, sobald das Wort überhaupt
gebraucht wird. Diese findet sich bei Wörtern, die aus anderen üblichen Wörtern nach den Bildungsgesetzen der
Sprache beliebig abgeleitet werden können, aber doch nur dann wirklich zur Verwendung kommen, wenn ein
besonderes Bedürfnis dazu treibt. Solche Wörter sind vielfach von Anfang an nur mit einer spezielleren Beziehung
zum Grundwort nachzuweisen, als sie die Ableitung an sich ausdrückt. Die von Substantiven abgeleiteten Bildungen
auf -er, mhd. -ære bezeichnen an sich eine Person, die zu dem Begriff des Grundwortes in irgend einer Beziehung
steht, welcher Art diese Beziehung auch sein mag, aber an den einzelnen Wörtern zeigen sich die
verschiedenartigsten Spezialisierungen. Mhd. æhtære von âhte (Acht, Verfolgung) bedeutet sowohl Verfolger wie
Verfolgter; bei der individuellen Anwendung kann jedenfalls niemals beides zugleich darunter verstanden sein.
Unter Schüler hätte an sich auch der Schulmeister begriffen sein können, es liegt aber keine Spur davon vor, dass es
jemals anders als im neuhochdeutschen Sinne gebraucht wäre. So ist ferner Schreiner nie anders als für den
Verfertiger von Schreinen gebraucht, Schäfer nie anders als für den Hüter von Schafen, Bürger nie anders als für
den Bewohner einer Burg oder Stadt, Falkner nie anders als für einen, der mit Falken jagt; Vogeler ist Vogelsteller,
daneben Geflügelhändler. Lateinische Wörter wie praetor, tribunus sind wohl kaum vorher gebraucht, bevor sie zu
Bezeichnungen bestimmter Beamten gemacht wurden. Ähnlich verhält es sich mit Verben wie bechern, buttern,
haaren, hausen, herzen, kernen, karren, köpfen, mauern, stunden, tafeln u. a. Bei vielen Wörtern sind wir ausser
Stande zu entscheiden, ob eine Verwendung in einem allgemeineren Sinne vorangegangen ist oder nicht. Auch viele
Zusammensetzungen sind erst zur Anwendung gelangt, indem man mit ihnen, durch das Bedürfnis veranlasst, einen
spezielleren Sinn verband, als er durch die Bestandteile an sich gegeben ist, vgl. Eisenbahn, Pferdebahn,
Drahtbericht, Fernsprecher, Radfahrer, Zweirad, Standesamt etc.[9]) Die Schöpfung solcher Ableitungen und
Zusammensetzungen mit spezialisiertem Sinne ist das sich am bequemsten dar- [91 Spezialisierung. Beschränkung
auf einen Teil des Vorstellungsinhalts.] bietende und am häufigsten angewendete Mittel, um das Bedürfnis nach
Bezeichnung neu auftretender Begriffe zu befriedigen. Auf diesem Gebiete spielt auch bewusste Absicht eine nicht
geringe Rolle, eine grössere vielleicht als auf irgend einem andern der Sprachentwickelung. Die Etymologie lehrt,
dass auch in den älteren Perioden die Benennung von Gegenständen sehr gewöhnlich nach bestimmten Merkmalen
erfolgt ist, wodurch sie an sich in ihrer Totalität nicht ausgedrückt sind. Doch ist darum gewiss der Schluss nicht
berechtigt, dass alle Substanzbezeichnungen auf diese Weise entstanden sein müssten.

§ 64. Eine zweite, der ersten entgegengesetzte Hauptart des Bedeutungswandels ist die Beschränkung auf einen
Teil des Vorstellungsinhalts, die also eine Erweiterung des Umfanges bedingt. Dieser Vorgang kann seinen
Ausgang nehmen von solchen Fällen, auf die das betreffende Wort zwar noch in der älteren Bedeutung nach allen
ihren Momenten anwendbar ist, so jedoch, dass davon nur ein Teil für den Sprechenden und Hörenden relevant, der
andere irrelevant ist. Als Beispiel kann fertig dienen. Es bedeutet eigentlich, wie die Etymologie zeigt, »in einem zu
einer Fahrt (d. h. auch einem Ritt, einem Gange) geeigneten Zustande«, »zu einer Fahrt gerüstet, bereit«. Wenn z. B.
jemand, von einem andern zu einem Gange aufgefordert, erwidert ich werde mich sogleich fertig machen, so könnte
man das Wort an sich noch in dem ursprünglichen Sinne nehmen. Indessen schon zu einer Zeit, wo dieser noch
lebendig war, musste die Beziehung auf die Beendigung der Vorbereitungen in den Vordergrund treten, während die
Vorstellung von dem zu unternehmenden Gange als etwas bereits Gegebenes und Selbstverständliches im
Hintergrunde blieb. Indem nun bloss das erstere Moment deutlich in das Bewusstsein trat, konnte sich das Gefühl
bilden, als ob damit die ganze Bedeutung erschöpft sei. So konnte man dazu gelangen, fertig auch auf den Abschluss
der Vorbereitungen zu andern Dingen als einer Fahrt (im mhd. Sinne) zu beziehen. Die mittelhochdeutsche
Wendung niht ein brôt umbe (für) ein dinc geben konnte nach dem ursprünglichen Sinne nur in Bezug auf etwas
gebraucht werden, wovon sich annehmen liess, dass man Wert darauf legte es zu haben. Sie wird aber auch in Bezug
auf etwas gebraucht, von dem vermutet werden könnte, dass man Wert darauf legt, es nicht zu haben, es los zu
werden, vgl. sine gæben für die selben nôt ze drîzec jâren niht ein brôt (Wolfram). Wir ersehen daraus, dass der
Bedeutungsinhalt auf die Vorstellung beschränkt ist, dass einem etwas gleichgültig ist, nichts ausmacht.

Welche Momente des Bedeutungsinhalts relevant sind oder nicht, hängt häufig von dem Gegensatz ab, den man im
Sinne hat. Unser gehen bezeichnet ursprünglich das Schreiten mit den Füssen; es kann [92 Viertes Kapitel. Wandel
der Wortbedeutung.] einen Gegensatz zu anderen Fortbewegungsarten wie fahren, reiten etc. bilden, aber auch den
Gegensatz zu dem ruhigen Verharren an einem Orte; Fälle der letzteren Art sind die Veranlassung gewesen, dass die
Fortbewegung als der wesentliche und weiterhin als der alleinige Inhalt der Bedeutung empfunden ist, so dass man
auch sagt (schon frühzeitig) das Schiff, das Mühlrad, die Uhr geht etc. Bei stehen kann einerseits der Gegensatz zu
einer anderen Ruhelage wie liegen, sitzen in Betracht kommen, anderseits der Gegensatz zu einer Bewegung; indem

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

nur noch der letztere als wesentlich für die Bedeutung empfunden wurde, ist man dazu gelangt, es mit Subjekten wie
der Stern, die Wolke, das Wasser, die Uhr zu verbinden. Ähnlich wird noch bei manchen anderen Verben ein Teil
des ursprünglichen Bedeutungsinhaltes ausgeschieden; so bei sitzen, vgl. der Hut sitzt auf dem Kopfe, die Frucht
sitzt am Baume, der Rock sitzt gut; bei setzen, vgl. Fische in einen Teich, den Hut auf den Kopf, Spitzen auf ein
Kleid, einem das Messer an die Kehle setzen; bei fliegen, welches ursprünglich die Bewegung durch Flügel
bezeichnet, dann von jeder Bewegung durch die Luft, ferner auch von eiligem Laufen und Fahren gebraucht wird.

§ 65. Ein Wort kann auch dadurch einen Teil seines Bedeutungsinhaltes einbüssen, dass derselbe in einem
syntaktisch angeknüpften Worte noch einmal ausgedrückt ist. Unser ungefähr ist aus älterem ohngefähr
hervorgegangen = mhd. âne gevære, d. h. eigentlich »ohne feindselige Absicht«. So könnten wir es noch fassen,
wenn es z. B. bei Luther heisst wenn er ihn ohngefähr stösst ohne Feindschaft. Indem aber in einem solchen Falle
schon durch das Verb. eine Schädigung ausgedrückt war, trat in ohngefähr nur noch die Vorstellung der Absicht
hervor, nicht die Absicht des Schädigens, und es wurde dann weiterhin in dem Sinne »ohne Absicht«, »zufällig«
auch in solchen Fällen verwendet, wo es sich gar nicht um ein Schädigen handelt, so schon bei Luther es begab sich
ohngefähr, dass ein Priester dieselbige Strasse hinabzog. Unser arg ist früher = »schlimm«. Wie dieses tritt es
verstärkend zu Wörtern, die an sich etwas Böses Unangenehmes bezeichnen, vgl. ein arges Unwetter, eine arge
Bosheit, ein arger Sünder, er hat sich arg vergangen. Eben, weil die Vorstellung von etwas Schlimmem schon in
den Wörtern, denen es beigefügt wird, liegt, erscheint arg wesentlich nur als Verstärkung. Ein weiterer Schritt war
dann, dass arg in süddeutscher Umgangssprache auch neben etwas Gutem, Angenehmem als Verstärkung
verwendet wurde: sie ist arg schön, es hat mich arg gefreut. Auf ähnliche Weise sind eine ganze Anzahl von
Wörtern zu blossen Verstärkungen geworden , vgl. furchtbar, schrecklich, entsetzlich, ungeheuer (eigentlich [93
Beschränkung auf einen Teil des Vorstellungsinhalts.] »unlieblich«), schmählich, höllisch, verdammt; auch sehr
gehört hierher, denn es bedeutet ursprünglich »schmerzlich«.

In entsprechender Weise kann ein Glied einer Zusammensetzung durch das andere Glied eines Teiles seines
Bedeutungsinhaltes beraubt werden. Die Partikel ver- drückt, soweit sie auf got. fra- zurückgeht, ursprünglich ein
Zugrundegehen oder Zugrunderichten, ein Verderben aus (vgl. verdampfen, -klingen, -salzen, -urteilen). In der
Zusammensetzung mit Verben, die an sich einen zum Schlimmen führenden Vorgang bezeichnen (vgl. z. B.
verschwinden, -faulen, -welken, -tilgen, -zehren, -fehlen), war diese Vorstellung eigentlich doppelt ausgedrückt,
konnte aber nur einfach empfunden werden. Daraus ergab sich die Folge, dass ver- nur noch als Ausdruck dafür
empfunden wurde, dass der Vorgang zum Abschluss gebracht ist. Nunmehr wurde es als Resultatsbezeichnung auch
mit Wörtern verbunden, die keine üble Bedeutung haben, vgl. verheilen, -mischen, -binden, -spüren, -zieren etc. Die
Partikel er- bedeutet zunächst »heraus aus etwas«, woran sich dann weiter die Vorstellung von einer Bewegung aus
der Tiefe in die Höhe angeknüpft hat. Von Zusammensetzungen aus wie etwa erstehen (jünger auferstehen), -
wachsen, -heben ist es wie ver- zu einer allgemeinen Resultatbezeichnung geworden. Schon im Urgerm. hatte ga- (=
nhd. ge-) diese Funktion, die sich entsprechend aus der Bedeutung »zusammen« entwickelt haben wird, etwa von
Verben aus wie got. gabindan, gahaftjan, galukan, ganagljan, gawidan.

§ 66. In den bisher besprochenen Fällen handelt es sich um einen allmählich ohne Bewusstsein sich vollziehenden
Prozess. Es kann aber ein Wort auch mit Bewusstsein gebraucht werden, wo nur ein Teil seines Bedeutungsinhaltes
anwendbar ist, während der andere unberücksichtigt bleibt. Dies ist häufig innerhalb einer Zusammensetzung, vgl.
Erdapfel, Gallapfel, Klatschrose, Apfelwein, Eichelkaffee, Kamillentee, Kaffeebohne, Rehbock, Rehgeiss,
Handschuh, Fingerhut, Tischbein, Seehund. Die Möglichkeit der Entstehung dieser Benennungen ist gegeben durch
die partielle Übereinstimmung zwischen dem durch die Zusammensetzung und dem durch den zweiten Bestandteil
ausgedrückten Vorstellungsinhalt. Die durch das erste Glied gegebene Bestimmung nötigt dazu, das zweite nicht
nach seinem vollen Inhalt zu fassen. Neben einfachen Wörtern kann eine syntaktische Bestimmung den gleichen
Erfolg haben, vgl. der Hals der Flasche, das Haupt der Verschwörung, ein Zweig des Geschlechtes. Endlich genügt
dazu auch ohne eine direkte Bestimmung der Zusammenhang der Rede oder die Situation.

Der oben besprochenen Entstehung der Eigennamen aus Appellativen steht der umgekehrte Übergang von
Eigennamen in Appellativa [94 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] gegenüber. Zwei Fälle sind dabei zu
unterscheiden. Einerseits werden bekannte Personen der Geschichte oder der Dichtung als Repräsentanten der für
sie charakteristischen Eigenschaften gefasst, vgl. ein Cicero (Redner wie Cicero), ein Krösus, Nestor, Adonis, Don
Juan, eine Xantippe; noch weiter ist die Entwickelung gegangen in Mäcen, da die zugrundeliegende Person nicht so,
sondern Mäcenas genannt wird. Anderseits werden besonders häufige, darum nichts Individuelles enthaltende
Personennamen für Typen verwendet, zunächst dann mit Bestimmungen, vgl. eine dumme Lise, Trine, ein
langweiliger Peter, Hans in allen Gassen, ein Prahlhans, Wühlhuber, Angstmeier. Auch diese können zu reinen
Appellativen werden, vgl. Rüpel (= Ruprecht), Metze (= Mechtild).[10])

§ 67. Die zuletzt besprochene Art des Bedeutungswandels verbindet sich leicht, wie sich schon aus den angeführten

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Beispielen ergibt, mit der ersten Hauptart. Indem ein Teil des Bedeutungsinhaltes schwindet, wird ein neues
Moment darin aufgenommen. Sagen wir er ist ein Esel, so nähert sich ein Esel als Prädikat adjektivischer Natur und
wir sind daher wohl berechtigt zu sagen, dass damit nur die für den Esel charakteristische Eigenschaft ausgedrückt
ist. Etwas anders liegt die Sache schon, wenn wir mit Bezug auf eine bestimmte Person sagen der Esel oder in
Bezug auf eine Art von Personen allgemein ein Esel; hier ist die Vorstellung »Mensch« mit in den Inhalt
aufgenommen. Noch entschiedener zeigt sich die Aufnahme einer neuen Vorstellung, wenn der Übergang der
okkasionellen Bedeutung in die usuelle weitere Fortschritte gemacht hat, z. B. in Fuchs = »Pferd von der Farbe des
Fuchses«. Vollends, wenn dann die Grundbedeutung untergegangen ist, vgl. Rappe, welches in der Bedeutung
»Rabe« nicht mehr bekannt ist. Bei den meisten usuell gewordenen Metaphern liegt Verbindung der beiden ersten
Hauptarten des Bedeutungswandels vor.

§ 68. Die Metapher ist eines der wichtigsten Mittel zur Schöpfung von Benennungen für Vorstellungskomplexe, für
die noch keine adäquaten Bezeichnungen existieren. Ihre Anwendung beschränkt sich aber nicht auf die Fälle, in
denen eine solche äussere Nötigung vorliegt. Auch da, wo eine schon bestehende Benennung zur Verfügung steht,
treibt oft ein innerer Drang zur Bevorzugung eines metaphorischen Ausdrucks. Die Metapher ist eben etwas, was
mit Notwendigkeit aus der menschlichen Natur fliesst und sich geltend macht nicht bloss in der Dichtersprache,
sondern vor allem auch in der volkstümlichen Umgangssprache, die immer zu Anschaulichkeit und drastischer [95
Verwandlung von Eigennamen in Appellativa. Metapher.] Charakterisierung neigt. Auch hiervon wird vieles usuell,
wenn auch nicht so leicht wie in den Fällen, wo der Mangel an einer andern Bezeichnung mitwirkt.

Es ist selbstverständlich, dass zur Erzeugung der Metapher, soweit sie natürlich und volkstümlich ist, in der Regel
diejenigen Vorstellungskreise herangezogen werden, die in der Seele am mächtigsten sind. Das dem Verständnis
und Interesse ferner liegende wird dabei durch etwas Näherliegendes anschaulicher und vertrauter gemacht. In der
Wahl des metaphorischen Ausdruckes prägt sich daher die individuelle Verschiedenheit des Interesses aus, und an
der Gesamtheit der in einer Sprache usuell gewordenen Metaphern erkennt man, welche Interessen in dem Volke
besonders mächtig gewesen sind.

§ 69. Eine erschöpfende Übersicht über alle möglichen Arten der Metapher zu geben ist eine kaum zu lösende
Aufgabe. Ich begnüge mich damit, einige besonders gewöhnliche kurz zu besprechen.

Häufig ist die Ähnlichkeit in der äusseren Gestalt das Massgebende, vgl. Kopf (von Kohl oder Salat), Auge,
(Pfauenauge, Fettauge, A. = »Keim an einer Kartoffel oder dergl.«, = »Punkt auf dem Würfel«), Nase (eines
Berges), Ohr (Eselsohr = »umgeknickte Ecke eines Blattes«), Ader (in Pflanzen, im Gestein), Horn (als
Bezeichnung einer Bergspitze, eines Gebäckes, wofür noch üblicher Hörnchen), Kelch (einer Blume), Kessel (in
Talkessel), Würfel (ursprünglich, wie die Etymologie zeigt, nur den zum Würfeln gebrauchten Körper bezeichnend),
Kamm (des Hahnes, der Traube); Pflanzenbezeichnungen wie Löwenmaul, Löwenzahn, Rittersporn, Hahnenfuss. Zu
der Ähnlichkeit der Gestalt kann noch der Umstand kommen, dass etwas als Teil eines grösseren Ganzen in seiner
Lage dem Teile eines anderen Ganzen entspricht, und dies Verhältnis kann die Hauptveranlassung zur Metapher
abgeben, während von einer Ähnlichkeit der Gestalt kaum noch die Rede sein kann, vgl. Kopf (Kehlkopf, Mohnk.,
Säulenk., Brückenk., Nadelk., Nagelk., vgl. auch lat. caput montis), Hals (einer Flasche, einer Säule, eines
Saiteninstrumentes), Bauch (einer Flasche), Rücken (eines Buches, eines Messers, eines Berges), Arm (eines
Wegweisers, eines Flusses), Saum (des Waldes, der Wolken). Mit der Ähnlichkeit der Gestalt kann sich Gleichheit
der Funktion verbinden, vgl. Feder = Stahlfeder, Horn (als Blasinstrument, wenn auch aus Metall verfertigt).
Hierbei kommt noch als begünstigender Umstand hinzu, dass der Gegenstand auf den die Bezeichnung
übergegangen ist, denjenigen, von dem sie entnommen ist, in der Funktion abgelöst hat. Ähnlichkeit der Lage
innerhalb eines Ganzen verbindet sich mit Ähnlichkeit der Funktion bei Fuss (eines Tisches, Stuhles, u. dergl., eines
Berges). Die Funktion kann auch allein massgebend sein, vgl. Haupt (einer Familie, eines [96 Viertes Kapitel.
Wandel der Wortbedeutung.] Stammes, einer Verschwörung u. dergl., vgl. auch die Verwendung in
Zusammensetzungen wie Hauptsache, -bau, -grund), Hand (in Wendungen wie er ist seine rechte Hand) etc.

Die Analogie zwischen räumlicher und zeitlicher Erstreckung macht die Übertragung der für die räumliche
Anschauung geschaffenen Ausdrücke, soweit dabei nur eine Dimension in Betracht kommt, auf zeitliche
Verhältnisse möglich; vgl. lang, kurz, gross, klein, Mass, Teil, Hälfte etc., Ende, Grenze, Zeitraum, Zeitpunkt,
Zeitabschnitt, Mal (ursprünglich »sich abhebender Fleck«); die Präpp. in, an, zu, bis, durch, über, um, von, ausser,
ausserhalb, innerhalb etc.: bisher, hinfort, fortan. Demgemäss können auch die Ausdrücke für Bewegungen auf die
Zeit übertragen werden, vgl. die Zeit geht dahin, vergeht, kommt, im Laufe der Zeit, Zeitläufte: ferner folgen,
reichen, sich ausdehnen, sich erstrecken etc. Die Raumverhältnisse liefern ferner Bezeichnungen für die Intensität,
vgl. grosse Hitze, Kälte etc., ein hoher Grad, die Hitze, die Begeisterung steigt; für Wertschätzung, vgl. die Preise
steigen, fallen, sinken, er steigt, sinkt in meiner Achtung u. dergl., hoch, niedrig, über, unter; auf die Tonabstufung,
vgl. hoch, tief; steigen, fallen, sinken.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Die Verhältnisse und Vorgänge im Raume werden auf das Gebiet des Unräumlichen übertragen. So wird alles
Seelische als in unserem Innern ruhend oder sich bewegend vorgestellt, entweder in bestimmte Teile des Körpers
verlegt oder in die Seele hinein, der dann Attribute des Raumes beigelegt werden, vgl. ein Gedanke geht mir im
Kopfe herum, fährt mir durch den Kopf, das will mir nicht in den Kopf, das liegt mir am Herzen, einem etwas ans
Herz legen, sich etwas zu Herzen nehmen, das fährt mir durch den Sinn, das kommt mir nicht in den Sinn, aus dem
Sinn. Dem entspricht auch der unsinnliche Gebrauch von Wörtern wie fassen, erfassen, auffassen, begreifen, sich
einbilden, es fällt mir ein, fähig (eigentlich »im Stande zu fassen«). Das Verhältnis der Vorstellungen zu einander
wird als ein räumliches gedacht: Vorstellungen verbinden, verknüpfen sich, Empfindungen streiten mit einander.
Desgleichen das Verhältnis der inneren Vorgänge zu den Aussendingen, vgl. sein Herz woran hängen, seine
Gedanken, seinen Sinn, seine Aufmerksamkeit etc. worauf richten, auf etwas verfallen, sich vornehmen, vorstellen.
Die Bezeichnungen für körperliche Wirkung werden auf geistige übertragen, vgl. treiben, ziehen (anz., abz.),
abstossen, Anstoss, drängen, rühren, regen, bewegen, erwägen, leiten, führen. Charakteristisch ist besonders der
lateinische Ausdruck für »denken« cogitare. Die Bezeichnungen für Rechtsverhältnisse knüpfen an sinnliche
Verhältnisse in der räumlichen Welt an, vgl. haben (eigentlich »halten«), geben, nehmen, übertragen, besitzen, recht
(eigentlich »gerade«), richten. Auch die Zustände werden als etwas räumlich Ausgedehntes gefasst, [97 Metapher.
Übertragung auf das räumlich Verknüpfte.] vgl. in Gedanken (versunken, vertieft, verloren), im Rausch, im Zorn,
aus Rache, aus Bosheit, durch Besonnenheit etc. Eine Zustandsveränderung wird als eine Bewegung aufgefasst, vgl.
vom Schlaf zum Wachen, vom Hass zur Liebe übergehen, die Krankheit wendet sich zum Besseren.

Die Verwandtschaft zwischen den durch verschiedene Sinne hervorgerufenen Empfindungen ermöglicht die
Übertragung von dem Eindrucke eines Sinnes auf einen anderen, vgl. süss (auch von Geruch und Ton), schön (vom
Gesicht auf Gehör und Geschmack übertragen), hell (ursprünglich nur auf Gehör bezüglich), lat. clarus (umgekehrt
ursprünglich nur auf Gesicht bezüglich), hart, weich, scharf; rauh (vom Gefühl auf das Gehör übertragen),
schreiende Farben, knallrot; man spricht von Farbenton und Klangfarbe. Die Bezeichnungen für die
Sinneseindrücke werden auf die innere Empfindung übertragen, vgl. süss, bitter, sauer, schön, heiter, trübe, finster,
hart, scharf; rauh, sanft, gelind, satt, schwer, leicht, gross, erhaben, niedrig, hungern, dürsten, drücken, beissen,
reizen, rühren, verwunden, Geschmack. Desgleichen werden geistige Wahrnehmungen durch Ausdrücke für
sinnliche bezeichnet, vgl. fühlen, sehen (einsehen, ans., abs., vors., übers., vers.), spüren, wittern, lat. sapere.

Die Gewohnheit des Menschen die Vorgänge an den leblosen Dingen nach Analogie der eigenen Tätigkeit
aufzufassen hat in der Sprache viele Spuren hinterlassen, vgl. Wendungen wie der Baum treibt Knospen, die Sonne
zieht Wasser, die Erde trinkt die Feuchtigkeit, der Baum will umfallen, das Seil will nicht mehr halten. Fast alle
Verba, die ursprünglich die Tätigkeit eines lebenden Wesens bezeichnen, werden metaphorisch von leblosen Dingen
gebraucht, vgl. atmen, saugen, schlingen, schlucken, speien, sagen (z. B. was will das sagen?), besagen, zusagen (=
»gefallen«), versagen (das Gewehr versagt u. dergl.), sprechen (das spricht dafür, dagegen), versprechen,
ansprechen, fordern, verlangen, (ein)laden, gebieten, verbieten, rufen, schreien (das ist himmelschreiend,
schreiende Farben), deuten, bedeuten, zeigen, (be)weisen, gehorchen, kämpfen, streiten, stehen, sitzen, gehen,
laufen, tun, machen, helfen etc. In der Verwendung des Verb. überhaupt liegt schon ein gewisser Grad von
Personifikation des Subj.

§ 70. Wir kommen zu der dritten Hauptart des Bedeutungswandels, der Übertragung auf das räumlich, zeitlich
oder kausal mit dem Grundbegriff Verknüpfte.

Für ein Ganzes wird stellvertretend ein Teil gesetzt, der ein charakteristisches Merkmal bildet. Wir können uns die
Möglichkeit einer solchen Ausdrucksweise an einem Beispiele wie das folgende klar machen. Wenn jemand auf ein
Gewässer hinausschauend ausruft ein Segel taucht auf, so ist es selbstverständlich, dass dieses Segel sich [Paul,
Prinzipien] [98 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] an einem Schiffe befindet, und das Vorhandensein des
ersteren setzt das des letzteren voraus. So erklären sich Verwendungen wie rant in der mhd. epischen Sprache =
»Schild«, Bogen = »Armbrust«, Klinge = »Schwert«. Besonders gewöhnlich sind Bezeichnungen von Personen oder
Tieren nach charakteristischen Teilen des Körpers und Geistes, vgl. bemoostes Haupt; Lockenkopf, Graukopf,
Kahlkopf, Krauskopf; Dummkopf, Dickkopf, Trotzkopf, Fettwanst, Linkhand, Hasenherz, Lügenmaul, Grossmaul,
Gelbschnabel, Graubart; Rotkehlchen, Rotschwanz, Stumpfschwanz, Blaufuss; starker Geist, schöne Seele; franz.
blanc-bec, grosse-tête, rouge-gorge, rouge-queue, pied-plat, gorge-blanche, mille-pieds; esprit fort, bel esprit. Hier
können wir auch die Verwendung von Blumenbezeichnungen wie Rose für die ganze Pflanze einreihen; desgl. die
von Dorn (Weissdorn, Rotdorn) = Dornstrauch. Im Grunde der gleiche Vorgang ist es, wenn von zwei
Gegenständen, die gewöhnlich mit einander verbunden werden, die Benennung des einen wesentlicheren auf das
Ganze übergeht. So war Fahne ursprünglich der Zeugstreifen, der an die Stange angebunden wurde, jetzt wird die
letztere mit einbegriffen. Speer ist ursprünglich die Speerspitze, jetzt wird der Schaft mit verstanden. Tisch und
Tafel bezeichnen ursprünglich die Tischplatte, die für den Gebrauch auf ein Gestell gelegt wurde.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Psychologisch auf dieselbe Weise zu erklären ist es, wenn nicht das Ganze, sondern der mit einem anderen
verbundene Gegenstand vermittelst des letzteren bezeichnet wird. Vielleicht noch nicht hierher zu stellen sind
Bezeichnungen nach der Kleidung wie Schwarzrock, Rundhut, Blaustrumpf, Rotkäppchen, grüner Domino, Maske,
Perücke. Bei diesen ist wohl eher das Kleidungsstück als ein integrierender Bestandteil der Person gefasst, so dass
sie mit den Bezeichnungen nach Körperteilen auf gleiche Linie zu stellen sind. Anders steht es, wenn ein Teil der
Kleidung zur Bezeichnung des davon bedeckten Körperteils wird. So bezeichnet Schoss ursprünglich nur den Zipfel
des Rockes, Sohle nur die Sandale oder Schuhsohle. Umgekehrt wird ein Körperteil zur Bezeichnung des ihn
bedeckenden Gewandstückes, vgl. Leibchen, (Schnür)leib, (Schnür)brust, Ärmel (eigentlich Ärmchen), Däumling,
Kragen (ursprünglich »Hals«), woran man auch mhd. vingerlîn = »Fingerring« anschliessen kann. Häufig ist es,
dass ein Raum für die Bewohner desselben, für die darin Beschäftigten gebraucht wird, vgl. Stadt (die ganze Stadt
weiss es schon), Land, Haus, Kammer, Kabinett, Hof, Kirche, Frauenzimmer. Anderseits werden Ministerium, Amt,
Gericht, Universität etc. zu Bezeichnungen der Gebäude, in denen sie ihren Sitz haben. Hier anzuführen sind auch
Tafelrunde, Liedertafel, mhd. spiz = »Spiessbraten«. [99 Übertragung auf das räumlich, zeitlich oder kausal
Verknüpfte.]

Gemütsbewegungen werden nach den sie begleitenden Reflexbewegungen bezeichnet, vgl. z. B. beben, zittern,
schauern, erröten, aufatmen, das Maul aufsperren, die Nase rümpfen, die Ohren spitzen, mit den Zähnen knirschen,
die Faust ballen, das Herz schlägt ihm, das versetzt ihm den Atem, die Galle läuft ihm über. Mit Verdunkelung des
ursprünglichen Sinnes werden solche Ausdrücke zu Bezeichnungen der Gemütsbewegung selbst, vgl. sich sträuben,
scheuen, staunen (noch im 18. Jahrh. »starr auf etwas hinsehen«), erschrecken (eigentlich »aufspringen«, sich
entsetzen, scheel (im ursprünglichen Sinne »schielend« nicht mehr üblich), hochfahrend, aufgeblasen, lat. horrere,
despicere, suspicere, invidere, spernere, griech. phóbos; (ursprünglich »Flucht«), franz. craindre (aus tremere).

Vorgänge, die von einer symbolischen Handlung begleitet sind, werden oft bloss durch die letztere angedeutet, und
eine solche Ausdrucksweise kann sich dann erhalten, wenn die Symbole selbst ausser Gebrauch gekommen sind,
vgl. auf den Thron setzen, vom Throne stürzen, unter die Haube bringen, auf den Händen tragen, die Hände in den
Schoss legen.

Gegenstände, durch die etwas hervorgebracht wird, treten stellvertretend für das Hervorgebrachte ein, vgl. griech.
glô^ssa, lat. lingua, deutsch Zunge = »Sprache«, Hand = »Handschrift«, lat. stilus = »Schreibweise«.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Sehr gewöhnlich in den verschiedensten Sprachen geht eine Eigenschaftsbezeichnung über in die Bezeichnung
dessen, dem die Eigenschaft anhaftet; vgl. Alter, Jugend; Menge, Fülle, Enge, Fläche, Ebene, Wüste, Säure;
Mannschaft, Knappschaft, Gesellschaft, Bürgerschaft, Verwandtschaft, Gesandtschaft und viele andere auf -schaft,
welches ursprünglich Beschaffenheit bedeutet; ebenso viele auf -heit (-keit), welches ursprünglich Eigenschaft,
Zustand bedeutet, wie Christenheit, Vielheit, Mehrheit, Gottheit, Schönheit, Vergangenheit, Gelegenheit, Eigenheit,
Kleinigkeit, Süssigkeit, Neuigkeit, Sonderbarkeit, Gefälligkeit. Auf einer Übergangsstufe stehen noch Titel wie
Majestät, Hoheit, Exzellenz etc.; sie standen zunächst parallel mit solchen, wie deine Güte wird mir verzeihen, ich
wende mich an deine Grossmut. Wie die Beispiele zeigen, entstehen auf diese Weise sowohl Kollektivbenennungen
als Benennungen für einzelne Personen und Dinge, nicht immer aber werden die betreffenden Wörter zu
Substanzbezeichnungen. Dasselbe wie von den Eigenschaftsbezeichnungen gilt von den sogenannten Nomina
actionis, den Vorgangs- und Zustandsbezeichnungen, die aus Verben abgeleitet sind, vgl. Rat, Fluss, Zug, Abhang,
Vorhang, Umhang, Vortrab, Zukunft, Einkommen, Regierung, Vorsehung. In diesen Fällen ist die Bezeichnung der
Handlung auf ihr Subjekt [100 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.] übergegangen, sie kann aber auch auf
das Objekt übergehen, Objekt im allerweitesten Sinne genommen; so auf das innere Objekt, wodurch eine
Bezeichnung des Resultates entsteht: Druck, Stich, Holzschnitt, Riss, Bruch, Sprung, Wuchs, Zuwachs, Ertrag,
Erhöhung, Vertiefung, Abhandlung, Versammlung, Vereinigung, Bildung; auf das äussere Objekt, welches
irgendwie von der Tätigkeit berührt wird: Saat, Ernte, Spruch, Sprache, Gang, Durchgang, Übergang, Einfahrt,
Tritt, Abtritt, Zuflucht, Ausflucht, Auszug, Durchschlag, Wohnung, Kleidung; so entstehen also auch Bezeichnungen
für den Ort, wo etwas geschieht, für das Mittel, wodurch etwas bewerkstelligt wird, u. dergl. Die Möglichkeit des
Überganges kann man sich etwa an Verbindungen wie die folgenden veranschaulichen: Im Rat der Ältesten wurde
beschlossen; Er übernahm die Leitung des Zuges; Er vollendete die Arbeit (Tätigkeit oder Resultat) in drei Tagen;
Er nahm eine Abschrift davon; Er brachte allerhand Verzierungen an; Die Leinwand ist auf der Bleiche; Er befindet
sich im Gefängnis (ursprünglich = in Gefangenschaft); vgl. auch Eingang, Ausgang als Aufschrift an Türen. Viel
seltener ist der umgekehrte Vorgang, dass eine Dingbezeichnung sich zu einer Vorgangsbezeichnung entwickelt,
vgl. griechische Bildungen auf -ma wie chárma, thaûma. Aus dem Deutschen könnten wir hierher ziehen Wucher
(ursprünglich nur den Ertrag bezeichnend) und Wette (ursprünglich = »Pfand«); doch kommt dabei in Betracht, dass
diese Wörter, auch wenn sie nicht von alters her bestanden hätten, leicht zu den betreffenden Verben mit dem Sinne
von Vorgangsbezeichnungen hätten gebildet werden können. Kein solches Verhältnis zu einem Verb. besteht bei
Kirche, Schule in Verbindungen wie Kirche, Schule halten, nach (vor) der Kirche, Schule. Ein Ansatz zu einer
derartigen Übertragung liegt auch schon in vor (nach) Tische (der Tafel).[11])

Hierher gehört es auch, wenn man Wirtshäuser durch das Schild bezeichnet (Adler, Hirsch, Krone etc.), Schriften
durch den Namen des Verfassers (ein Goethe, Schiller), oder Werke der bildenden Kunst durch den Namen des
Künstlers (ein Raphael); ferner wenn man jemandem eine Lieblingswendung, die er zu gebrauchen pflegt, als
Spitznamen beilegt, vgl. Heinrich Jasomirgott; oder wenn der Hund in der Ammensprache Wauwau genannt wird u.
dergl.; entsprechend sind auch Pflanzennamen wie Nolimetangere, Vergissmeinnicht zu beurteilen.

§ 71. Wir haben noch einige Modifikationen der Bedeutung zu besprechen, die sich nicht einfach unter eine der drei
Hauptklassen [101 Übertreibung. Litotes.] unterordnen lassen. Es handelt sich dabei um Ausdrucksformen, für die
meistens schon in der Rhetorik der Alten technische Bezeichnungen gefunden sind. Hier sind dieselben deshalb zu
erwähnen, weil sie durch häufige traditionelle Anwendung usuell werden können, wobei sie mehr oder weniger von
ihrer eigentümlichen Färbung einbüssen und sich den einfachen normalen Bezeichnungen nähern.

Besonders die volkstümliche Rede ist voll von Übertreibungen sowohl nach der positiven als nach der negativen
Seite, häufig mit Metaphern verknüpft. Sehr vieles davon ist traditionell und wird von dem Hörenden ohne weiteres
auf das richtige Mass herabgesetzt, vgl. tausend mal, ein Schock mal, ein paar Leute etc. (jetzt vollkommen =
»einige wenige«), Berge von Leichen, ein Strom von Tränen, in Tränen schwimmen, zerfliessen, eine Flut von
Schimpfwörtern, das dauert eine Ewigkeit, endlos, eine Hand voll Leute, federleicht, sich krank, tot lachen, im Blute
baden, das ist zum Rasendwerden, ich möchte aus der Haut fahren, ich sterbe vor Langerweile. Verstärkungen
können geradezu zu Abschwächungen werden, Versicherungen zum Ausdruck des Mangels völliger Sicherheit, vgl.
ganz, recht, ziemlich, fast, gewiss, wohl.

Eine verwandte Erscheinung sind Derbheiten, die darin bestehen, dass den Dingen eine schlimmere Bezeichnung
beigelegt wird, als ihnen eigentlich zukommt. So wird Dreck, ursprünglich = »Exkrement«, für jede Art von
Unreinlichkeit gebraucht, und jetzt meist nicht mehr in dem ursprünglichen Sinne empfunden. Der eigentliche Sinn
von Schimpfwörtern ist häufig vergessen, vgl. Racker, ursprünglich = »Schinder«, Luder, Schelm, beide
ursprünglich = »Aas«. Daran schliesst sich dann leicht eine Abmilderung des Sinnes, die soweit gehen kann, dass
etwas Lobendes, Schmeichelndes beigemischt wird, vgl. Schelm, Schalk (ursprünglich »Knecht«, dann »gemeiner
Mensch«), Luder in landschaftlichem Gebrauch (besonders obersächsisch).

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Auch das Gegenteil der Übertreibung, die Litotes, hat oft das Schicksal, dass sie kaum noch als solche empfunden
wird, vgl. nicht übel, nicht sehr entzückt, ich mag ihn wohl leiden. Im Mhd. werden Wörter, die etwas
Unbedeutendes, Wertloses bezeichnen, geradezu = »nichts« gebraucht, vgl. ich sage iu ein bast, darumbe gâben sie
ein ei. Ferner gebraucht man lützel, wênec, kleine = »nichts«, lützel ieman (wenig jemand) = »niemand«, selten =
»nie«. Wie sehr der Sinn dieser Wörter direkt verneinend geworden ist, zeigt sich darin, dass neben ihnen zuweilen
wie neben niht, nieman, nie die Negation ensteht, vgl. sôn weiz doch lützel ieman, den entar der hagel slahen selten
(den wagt der Hagel nie zu schlagen). [102 Viertes Kapitel. Wandel der Wortbedeutung.]

Der volkstümlichen Derbheit gegenüber steht der Euphemismus,[12]) insoweit er darin besteht, dass aus
Schamgefühl der eigentliche Ausdruck vermieden und durch einen andeutenden ersetzt wird. Sehr leicht wird dann
auch dieser wieder anstössig. Vgl. Ausdrücke wie der Hintere, die Scham, sein Wasser abschlagen, Abtritt, lat.
coitus etc. Ähnlich wie das Schamgefühl ist religiöse oder abergläubische Scheu die Veranlassung zu
umschreibenden Ausdrücken, vgl. Gottseibeiuns.

Höflichkeit und Unterwürfigkeit auf der einen, Eitelkeit auf der andern Seite wird die Veranlassung zur Entwertung
ehrender Bezeichnungen. Die Bezeichnung Herr, die man ursprünglich nur demjenigen beilegte, zu dem man in
einem Abhängigkeitsverhältnis stand, wurde im Laufe des Mittelalters zur allgemeinen Anrede innerhalb der
ritterlichen Gesellschaft und verbreitete sich in der neueren Zeit auf immer weitere Kreise. Noch weiter ist die
Entwertung des ursprünglich entsprechenden Frau gegangen. So ist die Geschichte der Titulaturen überhaupt nichts
anderes als eine Geschichte ihrer allmählichen Herabdrückung. Die gleiche Tendenz macht Wörter, die ursprünglich
eine wirkliche Funktion bezeichnen, zu blossen Titeln vgl. Herzog, Fürst, Graf etc., Rat, Amtmann, Professor etc.
Sie veranlasst und entwertet auch die Anreden mit Ihr, Sie etc.

Auch die Ironie wird in manchen Wendungen stabil. Hierher gehört der Gebrauch gewisser Adjektiva wie schön
(das ist eine schöne Geschichte u. dergl.), nett (ein nettes Pflänzchen), sauber (ein sauberer Patron), erbaulich,
reizend, recht (so recht, das ist die rechte Höhe). Vgl. ferner ich frage viel danach, ich kümmere mich viel darum.
Wie eine ironische Bejahung geradezu als einer Verneinung gleichwertig gefasst werden kann, zeigt eine Stelle bei
Chr. F. Weisse: es ist dem Junker viel um seinen Kammerdiener zu tun, sondern um sich.

§ 72. Die verschiedenen Arten des Bedeutungswandels können natürlich auf einander folgen und so sich
kombinieren, was die Folge haben kann, dass von der ursprünglichen Bedeutung gar nichts übrig bleibt. So hat
Abendmahl einerseits an Bedeutungsinhalt gewonnen, indem es auf das bestimmte Abendmahl Christi und die in
Nachahmung desselben stattfindende Feier beschränkt ist, es hat aber anderseits auch etwas von dem, was eigentlich
in dem Worte liegt, eingebüsst, indem es auch von einer nicht am Abend stattfindenden Feierlichkeit gebraucht
wird. Rosenkranz wird kat' exochén von einem [103 Euphemismus. Entwertung. Ironie. Kombinationen.
Wortgruppen.] Kranze gebraucht, der einem bestimmten Zwecke dient, aber auch von einem Kranze, der gar nicht
aus Rosen besteht. Horn ist ein aus einem Horne verfertigtes Blasinstrument, dann aber auch ein solches von
ähnlicher Form aus anderem Stoffe. Feder bedeutet eine zum Schreiben zugeschnittene Feder, dann aber auch ein
Werkzeug von der nämlichen Funktion aus anderem Stoffe. Es ist überhaupt sehr häufig, dass etwas, was eigentlich
nicht zur Bedeutung eines Wortes gehört, sondern nur akzidentiell damit verknüpft sein kann, allmählich in die
Bedeutung mit aufgenommen wird und dann auch selbständig als die wahre Bedeutung empfunden wird, ohne dass
an die Grundbedeutung noch gedacht wird. So werden namentlich Bezeichnungen für räumliche und zeitliche
Verhältnisse zu Bezeichnungen für Kausalverhältnisse, vgl. Folge, Zweck, Ende (in zu dem Ende), Grund, Mittel,
Weg. Man vgl. auch Zusammensetzungen wie Fensterscheibe, Papiergulden, Goldplombe.

§ 73. Besonders hervorgehoben werden muss, dass der Bedeutungswandel sich nicht bloss an einzelnen Wörtern
vollzieht, sondern, wofür schon manche Beispiele angeführt sind, auch an Wortgruppen als solchen nnd ganzen
Sätzen. So gibt es z. B. eine Menge Verbindungen mit Hand, bei denen wir an die eigentliche Bedeutung dieses
Wortes nicht mehr denken, ausser wenn unsere Aufmerksamkeit ausdrücklich darauf gelenkt wird, wenn wir etwa
über den Ursprung einer solchen Wendung reflektieren, vgl. auf der Hand (flacher, platter Hand) liegen, an die
Hand geben, gehen, an der Hand haben, an der Hand des Buches etc., bei der Hand sein, haben, zur Hand nehmen,
unter der Hand, unter Händen haben, von der Hand weisen, vor der Hand. Man kann nicht sagen, dass hier
eigentümliche Bedeutungen des einzelnen Wortes Hand entwickelt sind, vielmehr ist die Verdunkelung der
Grundbedeutung erst innerhalb der betreffenden Verbindungen eingetreten. Unsere Sprache ist voll von derartigen
Wendungen. Bei manchen kann der Sinn nur mit Hilfe historischer Sprachkenntnis aus der Bedeutung der einzelnen
Wörter abgeleitet werden, vgl. z. B. das Bad austragen, einem ein Bad zurichten, einem das Bad gesegnen, einen
Bären anbinden, einem einen Bart machen, einen Bock schiessen, einen ins Bockshorn jagen, er hat Bohnen
gegessen, einen Fleischergang tun, weder Hand noch Fuss haben, auf dem Holzwege sein, einem einen Korb geben,
Maulaffen feil halten, einem etwas auf die Nase binden, einem den Pelz waschen, einem ein X für ein U machen etc.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 74. Die ganze Masse von Vorstellungen, die in der Seele des Menschen vorhanden ist, sucht sich nach
Möglichkeit an den Wortschatz der Sprache anzuheften. Da nun die Vorstellungskreise [104 Viertes Kapitel.
Wandel der Wortbedeutung.] der einzelnen Individuen in der gleichen Sprachgenossenschaft stark untereinander
abweichen und auch der Vorstellungskreis der Einzelnen immerfort bedeutenden Veränderungen unterliegt, so
müssen sich notwendigerweise in den an den Wortschatz angehefteten Vorstellungen eine Menge von individuellen
Besonderheiten finden, die bei der gewöhnlichen Bestimmung der Bedeutung für die einzelnen Wörter und
Wortgruppen gar keine Berücksichtigung finden. Es ist z. B. die Bedeutung des Wortes Pferd insofern für alle
Individuen gleich, als sie es alle auf den nämlichen Gegenstand beziehen; aber es ist doch nicht zu leugnen, dass ein
Reiter, ein Kutscher, ein Zoologe, jeder in seiner Art, einen reicheren Vorstellungsinhalt damit verbinden als jeder
beliebige andere, der nichts Besonderes mit Pferden zu schaffen hat. Die Vorstellung von dem Verhalten eines
Vaters zu seinem Kinde setzt sich aus einer Reihe von Momenten zusammen, die nicht immer beisammen sind, wo
das Wort Vater angewendet wird. Man kann eine Definition des Wortes aufstellen, die physisch und juristisch
vollkommen ausreicht, aber gerade das, was nach dieser Definition das Wesen der Vaterschaft ausmacht, ist in dem
Vorstellungskomplexe, den ein kleines Kind damit verbindet, gar nicht enthalten. Am merkbarsten sind die
Unterschiede auf dem Gebiete der Empfindung und des ethischen Urteils. Was die Einzelnen unter schön und
hässlich, unter gut und schlecht, unter Tugend und Laster verstehen, lässt sich nicht so ohne weiteres auf einen
allgemeingültigen Begriff bringen, über den niemand mit dem andern streiten könnte.

Indem der Vorstellungskreis eines jeden Einzelnen sich an die zu Gebote stehenden Wörter anheftet, so muss sich
auch die Bedeutung des gesamten Wortschatzes einer Sprache nach der Gesamtheit der in dem Volke vorhandenen
Vorstellungen richten und sich mit diesen verschieben. Die Wortbedeutung bequemt sich immer der jeweiligen
Kulturstufe an. Dies geschieht nicht bloss so, dass für neue Gegenstände und Verhältnisse neue Wörter geschaffen
oder dass auf sie alte Wörter von nur ähnlichen, aber doch deutlich verschiedenen Gegenständen und Verhältnissen
übertragen werden, wie z. B. (Stahl)feder, sondern es gibt hier eine Menge unmerklicher Verschiebungen, die
zunächst gar nicht als Bedeutungswandel beachtet zu werden pflegen und die eine unmittelbare Folge des Wandels
in den Kulturverhältnissen sind. So kann z. B. eine Bezeichnung für Schiff entstanden sein zu einer Zeit, wo es nur
erst die allerprimitivste Art von Schiffen gab, und dann geblieben sein, auch nachdem man bis zu den grössten und
kompliziertesten Fahrzeugen fortgeschritten war. Wir setzen in einem solchen Falle keinen Bedeutungswandel an,
aber doch ist es keine [105 Bedeutungsinhalt und Kulturentwickelung.] Frage, dass die an das Wort Schiff
angeknüpften Vorstellungen andere geworden sind. Und so verhält es sich überhaupt mit den Bezeichnungen von
Geräten, Kleidungsstücken, Gebäuden etc. Man vgl. ferner die Bezeichnungen von Ämtern wie aedilis, quaestor,
Herzog, Graf, Bischof; oder von Instituten wie Lyceum, Akademie. Und vollends in beständiger Umwandlung
begriffen ist der Bedeutungsinhalt, wo es sich um ethische, ästhetische, religiöse, philosophische Vorstellungen
handelt.

1. Zu diesem Kap. vgl. Reisig, Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft, (1839, wieder abgedruckt
bei Heerdegen, Semasiologie). F. Haase, Vorlesungen zur lateinischen Sprachwissenschaft (1874). Pott,
Etymologische Forschungen, Bd. 5. L. Tobler, Versuch eines Systems der Etymologie (Zschr. f. Völkerps.
I, 349). Heerdegen, Untersuchungen zur lateinischen Semasiologie, Erlangen 1875. 78. 81. Ders.,
Lateinische Semasiologie, Berlin 1890. Wölfflin, Über Bedeutungswandel (Verh. der Züricher
Philologenversammlung 1887 S. 61-70). O. Hey, Semasiologische Studien (Jahrb. f. klass. Phil.,
Supplementbd. XVIII, S. 83-212). Ders., Die Semasiologie (Archiv f. lat. Lexikogr. 9, 193). Ein Kapitel
aus der lat. Bedeutungsgeschichte (ib. 13, 201). M. Hecht, die griechische Bedeutungslehre, eine Aufgabe
der klassischen Philologie, Leipzig 1888. F. Schröder, Zur griechischen Bedeutungslehre, Progr. d. Gymn.
Gebweiler 1893. Littré, Comment les mots changent de sens (Mémoires et documents publiés par le musée
pédagogique, fasc. 45). Ders., Pathologie verbale (in Etudes et glanures 1880). A. Darmesteter, La vie des
mots étudiée dans leurs significations, 4 éd. Paris 1893; dazu Bréal, L'histoire des mots (1887, wieder
abgedruckt in La Sémantique). Lehmann, Der Bedeutungswandel im Französischen, Erlangen 1884. G.
Franz, Über den Bedeutungswandel lateinischer Wörter im Französischen, Prog. d. Gym. Wettin 1890.
Morgenroth, Zum Bedeutungswandel im Französischen (Zs. f. französische Sprache u. Lit. XV, 1-23.
XXII, 33-55). Mühlefeld, Abriss der französischen Rhetorik und Bedeutungslehre, Leipz. 1887. Ders., Die
Lehre von der Vorstellungsverwandtschaft und ihre Anwendung auf den Sprachunterricht, Leipz. 1894.
Rosenstein, Die psychologischen Bedingungen des Bedeutungswandels der Wörter, Leipz. Diss. 1884. K.
Schmidt, Die Gründe des Bedeutungswandels, Progr. des kgl. Realgymn. Berlin 1894. Van Helten, Over de
factoren van de begripswijsingen der woorden, Groningen 1894. Engelbert Schneider, Semasiologische
Beiträge I, Progr. des Gymn. Mainz 1892. Stöcklein, Untersuchungen zur Bedeutungslehre, Progr. des
Gymn. Dillingen 1895. Ders., Bedeutungswandel der Wörter, München 1898. Thomas, Über die
Möglichkeiten des Bedeutungswandels (Blätter f. d. Gymnasial-Schulwesen, Bd. XXX, 705-32. XXXII,

59
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

193-219. XXXV, 539-602). Bréal, Essai de Sémantique, Paris 1897.3 1904. E. Martinak, Psychologische
Untersuchungen zur Bedeutungslehre, Leipzig 1901. Jaberg, Pejorative Bedeutungsentwickelung im
Französischen (Zschr. f. rom. Philol. 25, 561. 27, 25. 29, 57). Biese, Die Philosophie des Metaphorischen,
Hamb. u. Leipz. 1893. K. Nyrop, Ordenes liv, Kopenhagen 1901 (deutsch von R. Vogt, Das Leben der
Wörter, Leipzig 1903). A. Waag, Bedeutungsentwickelung unseres Wortschatzes, Lahr 1901.² 1908. K.
Müller-Fraureuth, Aus der Welt der Wörter, Halle 1904. Noreen, Vårt Språk, Bd. 5, 5ff. K. O. Erdmann,
Die Bedeutung des Wortes, 2. Aufl. Leipz. 1910. Erik Wellander, Studium zum Bedeutungswandel im
Deutschen. I. Teil. Upsala Universitets Årskrift 1917 (sehr beachtenswert). Vgl. auch meine Abhandlung
»Über die Aufgaben der wissenschaftlichen Lexikographie« in den Sitzungsber. der philos.-philol. Klasse
der Akad. d. Wiss. 1894, S. 90.
2. Die Einwendungen von K. Marbe (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie S.
493ff.) sind hinfällig, sobald man nur die Worte Vorstellung und okkasionell in dem Sinne nimmt, wie ich
sie genommen wissen will.
3. Allerdings können unsere Demonstrativpronomina (auch das pron. er) jetzt auch auf abstrakte Begriffe
bezogen werden, vgl. der Walfisch gehört unter die Klasse der Säugetiere; er bringt lebendige Junge zur
Welt; oder es ist ein Unterschied zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat; dieser - jener.
4. Treffliche Bemerkungen über die Vieldeutigkeit des sprachlichen Ausdrucks gibt K. O. Erdmann, a. a. O.
S. 1ff.
5. Die folgenden Auseinandersetzungen berühren sich sehr nahe mit den Ausführungen Wegeners in seinem
Buche Aus dem Leben der Sprache, nach einer bestimmten Richtung hin auch mit Bréal, Les idées latentes
du language, Paris 1868.
6. Vgl. Meumann, Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde (Philosophische Studien 20, 152)
und Die Sprache des Kindes, Zürich 1903. Dort sind die wichtigsten Arbeiten über Kindersprache
aufgezählt, die auch für andere Teile der Prinzipienlehre in Betracht kommen. Ich füge dazu noch Axel
Kock, Om barnspråk (Nordisk tidskrift. Årg. 1901). Vgl. auch Marty 1, 701.
7. Eine ganz andere Klassifikation der Arten des Bedeutungswandels gibt Wundt. Ich vermag darin keinen
Fortschritt zu erkennen und verweise auf die eingehende kritische Beurteilung von Marty (Grundlegung I,
543ff.); vgl. auch Rozwadowski in der S. 90, Anm. 2 angeführten Schrift. Die Einteilung, an die ich mich
angeschlossen habe, wird von Wundt als eine bloss logische abgefertigt, bei der die psychischen Motive
ganz im Dunkeln blieben (II, 471ff.). Ich muss es dem unbefangenen Leser überlassen zu beurteilen ob
meine in diesem Kapitel gegebenen Auseinandersetzungen gar nichts zum psychologischen Verständnis
der Vorgänge beitragen.
8. Vgl. K. O. Erdmann, Die Bedeutung des Wortes, S. 78ff. (Nebensinn und Gefühlswert der Worte). Jaberg,
Pejorative Bedeutungsentwicklung (s. oben).
9. Hierüber vgl. man die lehrreichen Ausführungen bei Jan v. Rozwadowski, Wortbildung und
Wortbedeutung, Heidelberg 1904. Wellander a. a. O. will nicht mit Unrecht die Spezialisierung, die gleich
mit der Bildung eines Wortes vorgenommen wird, scharf von dem eigentlichen Bedeutungswandel trennen.
10. Reiches Material bei J. Reinius, On transferred appellations of human beings chiefly in English and Ger -
man I (Göteborg 1903) 12ff.
11. Zu diesem Absatz vgl. C. Collin, semasiologiska studier över abstrakter och konkreter (Från filologiska
föreningen i Lund. Språkliga uppsatser III, 225ff.).
12. O. Hey, Euphemismus und Verwandtes (Archiv für lat. Lexikographie 11, 515). Nyrop, Eufemisme (Dania
6, 195). Bökemann, Französischer Euphemismus, Berlin 1899.

FÜNFTES KAPITEL.

ANALOGIE.[1])

§ 75. Wie schon in Kapitel 1 hervorgehoben worden ist, attrahieren sich die einzelnen Wörter in der Seele, und es
entstehen dadurch eine Menge grösserer oder kleinerer Gruppen. Die gegenseitige Attraktion beruht immer auf einer
partiellen Übereinstimmung des Lautes oder der Bedeutung oder des Lautes und der Bedeutung zugleich. Die
einzelnen Gruppen laufen nicht alle gesondert neben einander her, sondern es gibt grössere Gruppen, die mehrere
kleinere in sich schliessen, und es findet eine gegenseitige Durchkreuzung der Gruppen statt. Wir unterscheiden
zwei Hauptarten, die wir als stoffliche und formale Gruppen bezeichnen wollen.

Eine stoffliche Gruppe bilden z. B. die verschiedenen Kasus eines Substantivums. Diese Gruppe lässt sich dann
noch wieder nach zwei verschiedenen Prinzipien in kleinere Gruppen zerlegen: entweder Kasus des Sing. - des Plur.
(- des Du.), oder Nominativformen (des Sing., Pl., Du.) - Genitivformen etc.; und diese beiden Gruppierungen

60
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

durchkreuzen einander. Ein viel mannigfaltigeres System von einander über- und untergeordneten und sich
durchkreuzenden Gruppen geben die Formen eines Verbums, zumal eines griechischen. Grössere stoffliche Gruppen
mit loseren Zusammenhängen entstehen dann aus der Verbindung aller Wörter, die einander in ihrer Bedeutung
korrespondieren. In der Regel steht der partiellen Übereinstimmung in der Bedeutung eine partielle
Übereinstimmung in der Lautgestaltung zur Seite, welche ihrerseits auf etymologischem Zusammenhang zu beruhen
pflegt. Doch gibt es auch stoffliche Gruppen, die lediglich auf die Bedeutung und nicht auf den Laut basiert sind,
vgl. Ochse (Stier) - [107 Stoffliche und formale Gruppen. Proportionsgruppen.] Kuh, Mann - Weib, Knabe -
Mädchen, Vater - Mutter, Sohn - Tochter, Bruder - Schwester, Mönch - Nonne; alt - neu oder jung, dünn - dick oder
dicht, hier - da und überhaupt alle Gegensätze; sein - werden, werden - machen; sterben - Tod; gut - besser; bin - ist
- war, horáo - eîdon - ópsomai.

Als formale Gruppen bezeichne ich z. B. die Summe aller Nomina actionis, aller Komparative, aller Nominative,
aller ersten Personen des Verbums etc. Es gibt auch hier grössere Gruppen, die kleinere in sich schliessen; so enthält
z. B. die letztgenannte 1. Sg. Ind. Praes., 1. Sg. Konj. Praes. etc. Mithin ist auch eine festere oder lockerere
Verbindung zu unterscheiden. Die Verbindung der funktionellen Übereinstimmung mit einer lautlichen ist bei den
formalen Gruppen bei weitem nicht so Regel wie bei den stofflichen. Gewöhnlich zerfallen die formalen Gruppen in
mehrere kleinere, von denen jede einzelne auch durch lautliche Übereinstimmung zusammengehalten wird, während
sie unter sich differieren, vgl. die Dative libro, anno - mensae, rosae - paci, luci etc. Nach dem grösseren oder
geringeren Grade der lautlichen Übereinstimmung entsteht dann wieder eine Unterordnung kleinerer Gruppen unter
grössere, vgl. gab, nahm - bot, log - briet, riet etc., unter einander immer noch übereinstimmend gegen sagte, liebte
etc.

Die stofflichen Gruppen werden von den formalen durchgängig durchkreuzt.

§ 76. Nicht bloss einzelne Wörter schliessen sich zu Gruppen zusammen, sondern auch analoge Proportionen
zwischen verschiedenen Wörtern. Veranlassung zur Entstehung solcher Proportionengruppen, die zu gleicher Zeit
eine Proportionengleichung bilden, gibt zunächst die eben berührte Durchkreuzung zwischen stofflichen und
formalen Gruppen. Die Basis für die Gleichung ist dabei die Übereinstimmung in der Bedeutung des stofflichen
Elements nach der einen und des formalen Elements nach der andern Richtung, weshalb wir diese Art als stofflich-
formale Proportionengruppen bezeichnen wollen. Es kann dazu auch eine lautliche Übereinstimmung nach beiden
Richtungen treten, vgl. Tag : Tages : Tage = Arm : Armes : Arme = Fisch : Fisches : Fische; führen : Führer :
Führung = erziehen : Erzieher : Erziehung etc.; oder mit der bei allen Proportionen möglichen Vertauschung der
Zwischenglieder Tag : Arm : Fisch = Tages : Armes : Fisches etc. Die lautliche Übereinstimmung kann sich aber
auch auf das stoffliche Element beschränken, vgl. gebe : gab = sage : sagte = kann = konnte; lat. mensa : mensam :
mensae = hortus : hortum : horti = nox : noctem : noctis etc.; rauben : Raub = ernten : Ernte = säen : Saat =
gewinnen : Gewinst; respektive gebe : sage : kann = gab : sagte : [108 Fünftes Kapitel. Analogie.] konnte etc. Von
viel geringerer Bedeutung sind Gleichungen, bei denen die lautliche Übereinstimmung auf das formale Element
eingeschränkt ist, wie gut : besser = schön : schöner, oder bei denen überhaupt gar keine lautliche Übereinstimmung
stattfindet, wie bin : war = lebe : lebte, horáo : eîdon = týpto : étypsa.

Auch innerhalb der zu einer stofflichen Gruppe gehörigen Formen können sich Proportionsgruppen bilden, sobald
eine Gliederung derselben nach verschiedenen Gesichtspunkten möglich ist. So können beim Nomen die Kasus des
Sg. mit denen des Pl. in Proportion gesetzt werden: hortus : horti : horto = horti : hortorum : hortis. Viel
mannigfältigere Proportionen ergibt ein Verbalsystem. Man kann z. B. Gleichungen aufstellen wie amo : amas =
amavi : amavisti = amabam : amabas etc. Es besteht hier also keine Verschiedenheit des stofflichen Elementes in
den korrespondierenden Gliedern wie bei den stofflich-formalen Proportionsgruppen, sondern an deren Stelle eine
teilweise Verschiedenheit in der Funktion des formalen Elementes neben der teilweisen Übereinstimmung. Zu der
Übereinstimmung in der Funktion kann auch hier eine lautliche treten, vgl. amabam : amabas = amaveram :
amaveras.

Eine andere Art von Proportionengleichungen beruht auf dem Lautwechsel, vgl. Klanges (phonetisch klaññes) :
Klang (phon. klañk) = singe : sang = hänge : hängte etc. oder Spruch : Sprüche = Tuch : Tücher = Buch : Büchlein
etc. (Wechsel zwischen gutturalem und palatalem ch). Die Glieder einer jeden Proportion bestehen hier aus Wörtern,
die in etymologischem Zusammenhange stehen, die daher in ihrem stofflichen Elemente Übereinstimmung
hinsichtlich der Bedeutung und Lautgestaltung zeigen, daneben aber eine lautliche Verschiedenheit, die sich in allen
übrigen Proportionen entsprechend wiederholt. Die Bedeutung der formalen Elemente bleibt dabei ganz aus dem
Spiel. So lange wir nur Fälle in Betracht ziehen wie Klanges : Klang = Sanges : Sang = Dranges : Drang, lässt sich
nicht entscheiden, ob wir es nicht vielmehr mit einer stofflich-formalen Proportionengleichung zu tun haben. Der
Lautwechsel muss, wenn er hierher gezogen werden soll, sich in Fällen zeigen, die hinsichtlich des
Funktionsverhältnisses nichts mit einander zu tun haben, und sich dadurch als unabhängig von der Bedeutung

61
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

erweisen. Wir bezeichnen diese Art von Proportionengruppen als die stofflich-lautlichen oder etymologisch-
lautlichen.

Eine weitere Art entsteht aus den syntaktischen Verbindungen. Diese unterscheidet sich von den bisher
besprochenen dadurch, dass die Verbindung der Glieder, aus denen sich die einzelnen Proportionen
zusammensetzen, schon von aussen her in die Seele eingeführt wird. Die Verbindung der analogen Proportionen
unter einander muss gleichfalls erst durch Attraktion im Innern der Seele geschaffen werden. Es [109
Proportionengruppen und ihre Wirksamkeit.] assoziieren sich z. B. Sätze wie spricht Karl, schreibt Fritz etc. (mit
Voranstellung des Prädikats) oder Verbindungen wie pater mortuus, filia pulchra, caput magnum (mit Kongruenz in
Genus, Numerus, Kasus), und es werden dabei die Gleichungen gebildet spricht : Karl = schreibt : Fritz und pater :
mortuus = filia : pulchra = caput : magnum. Mit der äusseren Form der syntaktischen Zusammenfügung assoziiert
sich das Gefühl für eine bestimmte Funktion, und diese Funktion bildet dann in Gemeinschaft mit der äusseren Form
das Band, welches die Proportionen zusammenhält. Alle syntaktischen Funktionen lassen sich nur aus solchen
Proportionen abstrahieren. Daher sind die syntaktischen Proportionengruppen zum Teil auch die notwendige
Vorbedingung für die Entstehung der formalen Gruppen und der stofflich-formalen Verhältnisgruppen. Es können
sich z. B. die Genitive nicht zusammengruppieren, wenn es nicht Verbindungen wie das Haus des Vaters, der
Bruder Karls etc. tun.

§ 77. Es gibt kaum ein Wort in irgend einer Sprache, welches völlig ausserhalb der geschilderten Gruppen stünde.
Es finden sich immer andere in irgend einer Hinsicht gleichartige, an die es sich anlehnen kann. Aber in Bezug auf
die grössere oder geringere Mannigfaltigkeit der Verbindungen, die ein Wort eingeht, und in Bezug auf die Innigkeit
des Verbandes bestehen bedeutende Unterschiede. Die Gruppierung vollzieht sich um so leichter und wird um so
fester einerseits, je grösser die Übereinstimmung in Bedeutung und Lautgestaltung ist, anderseits, je intensiver die
Elemente eingeprägt sind, die zur Gruppenbildung befähigt sind. In letzterer Hinsicht kommt für die
Proportionengruppen einerseits die Häufigkeit der einzelnen Wörter, anderseits die Anzahl der möglichen analogen
Proportionen in Betracht. Wo die einzelnen Elemente zu wenig intensiv sind oder ihre Übereinstimmung unter
einander zu schwach, da verbinden sie sich entweder gar nicht oder der Verband bleibt ein lockerer. Es sind dabei
wieder mannigfache Abstufungen möglich.

§ 78. Diejenigen Proportionengruppen, welche einen gewissen Grad von Festigkeit gewonnen haben, sind für alle
Sprechtätigkeit und für alle Entwickelung der Sprache von eminenter Bedeutung. Man wird diesem Faktor des
Sprachlebens nicht gerecht, wenn man ihn erst da zu beachten anfängt, wo er eine Veränderung im Sprachusus
hervorruft. Es war ein Grundirrtum der älteren Sprachwissenschaft, dass sie alles Gesprochene, so lange es von dem
bestehenden Usus nicht abweicht, als etwas bloss gedächtnismässig Reproduziertes behandelt hat, und die Folge
davon ist gewesen, dass man sich auch von dem Anteil der Proportionengruppen an der Umgestaltung der Sprache
keine rechte Vorstellung hat machen können. Zwar hat schon W. v. Humboldt nachdrücklich [110 Fünftes Kapitel.
Analogie.] betont, dass das Sprechen ein immerwährendes Schaffen ist. Aber noch heute stösst man auf lebhaften
und oft recht unverständigen Widerspruch, wenn man die Konsequenzen dieser Anschauungsweise zu ziehen sucht.

Die Wörter und Wortgruppen, die wir in der Rede verwenden, erzeugen sich nur zum Teil durch blosse
gedächtnismässige Reproduktion des früher Aufgenommenen. Ungefähr eben so viel Anteil daran hat eine
kombinatorische Tätigkeit, welche auf der Existenz der Proportionengruppen basiert ist. Die Kombination
besteht dabei gewissermassen in der Auflösung einer Proportionengleichung, indem nach dem Muster von schon
geläufig gewordenen analogen Proportionen zu einem gleichfalls geläufigen Worte ein zweites Proportionsglied frei
geschaffen wird. Diesen Vorgang nennen wir Analogiebildung. Es ist eine nicht zu bezweifelnde Tatsache, dass
eine Menge Wortformen und syntaktische Verbindungen, die niemals von aussen in die Seele eingeführt sind, mit
Hilfe der Proportionengruppen nicht bloss erzeugt werden können, sondern auch immerfort zuversichtlich erzeugt
werden, ohne dass der Sprechende ein Gefühl dafür hat, dass er den festen Boden des Erlernten verlässt. Es ist für
die Natur dieses Vorganges ganz gleichgültig, ob dabei etwas herauskommt, was schon früher in der Sprache üblich
gewesen ist, oder etwas vorher nicht Dagewesenes. Es macht auch an und für sich nichts aus, ob das Neue mit dem
bisher Üblichen in Widerspruch steht; es genügt, dass das betreffende Individuum keinen Widerspruch mit dem
bisher Erlernten empfindet. In andern Fällen hat zwar eine Aufnahme von aussen stattgefunden, die Nachwirkung
derselben würde aber zu schwach sein, als dass das Aufgenommene wieder in das Bewusstsein gerufen werden
könnte, wenn ihm nicht die Proportionengruppe, in die es eingereiht ist, zu Hilfe käme.

§ 79. Ohne weiteres wird zugegeben werden müssen, dass die wenigsten Sätze, die wir aussprechen als solche
auswendig gelernt sind, dass vielmehr die meisten erst im Augenblicke zusammengesetzt werden. Wenn wir eine
fremde Sprache methodisch erlernen, so werden uns Regeln gegeben, nach denen wir die einzelnen Wörter zu
Sätzen zusammenfügen. Kein Lehrer aber, der nicht ganz unpädagogisch verfährt, wird es versäumen zugleich
Beispiele für die Regel, d. h. mit Rücksicht auf die selbständig zu bildenden Sätze Muster zu geben. Regel und

62
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Muster ergänzen sich gegenseitig in ihrer Wirksamkeit; und man sieht aus diesem pädagogischen Verfahren, dass
dem konkreten Muster gewisse Vorzüge zukommen müssen, die der abstrakten Regel abgehen. Bei dem natürlichen
Erlernen der Muttersprache wird die Regel als solche nicht gegeben, sondern nur eine Anzahl von Mustern. [111
Wirksamkeit der Proportionengruppen.] Wir hören nach und nach eine Anzahl von Sätzen, die auf dieselbe Art
zusammengefügt sind und sich deshalb zu einer Gruppe zusammenschliessen. Die Erinnerung an den speziellen
Inhalt der einzelnen Sätze mag dabei immer mehr verblassen, das gemeinsame Element wird durch die
Wiederholung immer von neuem verstärkt, und so wird die Regel unbewusst aus den Mustern abstrahiert. Eben,
weil keine Regel von aussen gegeben wird, genügt nicht ein einzelnes Muster, sondern nur eine Gruppe von
Mustern, deren spezieller Inhalt gleichgültig erscheint. Denn nur dadurch entwickelt sich die Vorstellung einer
Allgemeingültigkeit der Muster, welche dem Einzelnen das Gefühl der Berechtigung zu eigenen
Zusammenfügungen gibt. Wenn man eine auswendig gelernte Regel häufig genug angewendet hat, so erreicht man
es, dass dieselbe auch unbewusst wirken kann. Man braucht sich weder die Regel noch ein bestimmtes Muster ins
Bewusstsein zu rufen, und man wird doch ganz korrekte Sätze bilden. Man ist somit, wenigstens was das
gewöhnliche Verfahren bei der praktischen Ausübung betrifft, auf einem abweichenden Wege eben dahin gelangt,
wo derjenige sich befindet, der keinen grammatischen Unterricht genossen hat.

Ein Hauptnachteil desjenigen, dem bloss Muster überliefert sind, gegenüber demjenigen, der Regel und Muster
zugleich überliefert bekommen hat, besteht darin, dass er nicht wie dieser von vornherein über den Umfang der
Gültigkeit seiner Muster unterrichtet ist. Wer z. B. die Präposition in zunächst wiederholt mit dem Akk. verbunden
hört, wird dies leicht als die allgemeine Verbindungsweise von in auffassen, und wer es auch bald mit dem Akk.,
bald mit dem Dat. verbunden hört, wird mindestens einige Zeit brauchen, bis er den Unterschied richtig
herausgefunden hat, und mittlerweile vielleicht beides promiscue gebrauchen. Hier kommt man mit Hilfe der Regel
viel schneller zum Ziele. Eine solche Zusammenwerfung zweier Gruppen, die nach dem Usus auseinandergehalten
werden sollen, ist um so eher möglich, je feiner die logische Unterscheidung ist, die dazu erfordert wird, und je
grösserer Spielraum dabei der subjektiven Auffassung gelassen ist. Vor allem aber ist eine Gruppe dann leicht im
Stande ihr Muster über das Gebiet einer verwandten Gruppe auszudehnen, wenn sie diese in Bezug auf die
Häufigkeit der vorkommenden Fälle bedeutend überragt. Und nun gibt es vollends vieles im Sprachgebrauch, was
überhaupt vereinzelt dasteht, was sich weder unter eine mit Bewusstsein abstrahierte Regel noch unter eine
unbewusst entstandene Gruppe einfügt. Alles dasjenige aber, was die Stütze durch eine Gruppe entbehrt oder nur in
geringem Masse geniesst, ist, wenn es nicht durch häufige Wiederholung besonders intensiv dem Gedächtnisse
eingeprägt wird, nicht widerstandsfähig genug gegen die Macht der grösseren [112 Fünftes Kapitel. Analogie.]
Gruppen. So, um ein Beispiel anzuführen, ist es im Deutschen wie in andern indogermanischen Sprachen die Regel,
dass, wo zwei Objekte von einem Verbum abhängen, das eine im Akk., das andere im Dat. steht. Es gibt aber
daneben einige Fälle, und gab früher noch mehr, in denen ein doppelter Akk. steht. Diese Fälle müssen und mussten
besonders erlernt werden. In Folge des Widerspruchs mit der allgemeinen Regel wird das Sprachgefühl unsicher,
und das kann schliesslich zum Untergang der vereinzelten Konstruktionen führen. Man hört heutzutage fast eben so
häufig er lehrt mir die Kunst als er lehrt mich die Kunst, und niemand sagt mehr ich verhehle dich die Sache nach
mittelhochdeutscher Weise, sondern nur ich verhehle dir.

§ 80. Sehr bedeutend ist die schöpferische Tätigkeit des Individuums aber auch auf dem Gebiete der Wortbildung
und noch mehr auf dem der Flexion. Bei den wenigsten Nominal- und Verbalformen, die wir aussprechen, findet
eine rein gedächtnismässige Reproduktion statt, manche haben wir nie vorher gesprochen oder gehört, andere so
selten, dass wir sie ohne Hilfe der Gruppen, an die sie sich angeschlossen haben, niemals wieder in das Bewusstsein
würden zurückrufen können. Das Gewöhnliche ist jedenfalls, dass Produktion und Reproduktion zusammenwirken,
und zwar in sehr verschiedenem Verhältnis zu einander.

Besonders klar sehen wir die Wirkungen der Analogie bei der grammatischen Aneignung der Flexionsformen einer
fremden Sprache. Man lernt eine Anzahl von Paradigmen auswendig und prägt sich dann von den einzelnen
Wörtern nur soviel Formen ein, als erforderlich sind, um die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Paradigma zu
erkennen. Mitunter genügt dazu eine einzige. Die übrigen Formen bildet man in dem Augenblicke, wo man ihrer
bedarf nach dem Paradigma, d.h. nach Analogie. Im Anfang wird man dabei immer das erlernte Paradigma vor
Augen haben. Nachdem man aber erst eine grössere Anzahl von Formen danach gebildet hat und auch diese Spuren
in der Seele hinterlassen haben, erfolgt die Bildung auch ohne dass das Wort, welches als Paradigma gedient hat, in
das Bewusstsein tritt. Die aus andern Wörtern früher gebildeten Formen wirken jetzt mit, und die Folge davon ist,
dass nur das allen gemeinsame formelle Element zum Bewusstsein kommt, während die verschiedenen stofflichen
sich gegenseitig hemmen. Nunmehr ist das Verhältnis des Sprechenden zu den Flexionsformen im Augenblicke der
Anwendung ungefähr das nämliche wie dasjenige, welches bei der natürlichen Erlernung der Muttersprache
gewonnen wird. Diese natürliche Erlernung führt auf einem weniger direkten, schliesslich aber eben so sicheren
Wege zu dem gleichen Ziele. Hierbei findet von Anfang an kein vorzugsweises Haften der formalen [113
Wirksamkeit der Proportionengruppen in Flexion und Wortbildung.] Elemente an ein bestimmtes einzelnes

63
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

stoffliche statt, und die Gesamtheit der möglichen Formen ordnet sich niemals in bestimmter Folge zu einer Reihe
zusammen. Es wird nicht gelehrt, dass sich dieses Wort nach jenem zu richten habe. Der Umstand, dass eine Anzahl
von Formen verschiedener Wörter sich gleichmässig verhalten, genügt das Gefühl zu erzeugen, dass man berechtigt
ist diese Gleichmässigkeit weiter durchzuführen. Nachdem einmal von einer Anzahl von Wörtern die sämtlichen
Formen eingeprägt sind und sich zu Gruppen zusammengeschlossen haben, wird es vom Sprachgefühl als
selbstverständlich betrachtet, dass auch die Formen anderer Wörter solchen Gruppen angehören, dass also z. B. zu
dem Nom. oder Gen. eines Substantivums die übrigen Kasus als notwendiges Komplement gehören. Daher kommt
es ja auch, dass wir nicht jeden Kasus und jede Verbalform als ein besonderes Wort auffassen, sondern unter die
übliche Nennform eines Substantivums oder Verbums (Nom., Inf.) gleich den ganzen Formen komplex
einbegreifen.

Auf dem Gebiete der Wortbildung sind die Verhältnisse nur zum Teil ähnlich wie auf dem der Flexion. Manche
Bildungsweisen allerdings erzeugen sich analogisch ebenso leicht und unbefangen wie die Flexionsformen,
vergleiche namentlich Komparativ und Superlativ aus Positiv. Bei andern rufen die überlieferten Wörter nur in
beschränktem Masse Analogiebildungen hervor, wieder bei andern gar keine. Dieses verschiedene Verhalten ist
einfach bedingt durch die verschiedene Fähigkeit des überlieferten Stoffes zur Gruppenbildung.[2])

§ 81. Da die meisten der in der Sprache üblichen Formen sich in Verhältnisgruppen unterbringen lassen, so ist es
ganz natürlich, dass mit Hilfe der Proportionen häufig Formen geschaffen werden müssen, die schon vorher in der
Sprache üblich waren. Wenn das aber immer der Fall sein sollte, so müssten einerseits alle nach Proportion
bildbaren Formen schon einmal gebildet sein, anderseits müsste eine so vollkommene Harmonie des Formensystems
bestehen, wie sie nirgends anzutreffen ist, oder es dürften wenigstens, wo verschiedene Bildungsweisen neben
einander bestehen, verschiedene Deklinations- oder Konjugationsklassen, verschiedene Arten ein nomen agentis aus
einem Verbum zu bilden etc., niemals die entsprechenden Formen aus verschiedenen Klassen eine analoge Gestalt
haben; es müsste aus jeder einzelnen Form zweifellos hervorgehen, in welche der vorhandenen Klassen das
betreffende Wort gehört. Sobald eine Form ihrer Gestalt nach mehreren Klassen angehören kann, so ist es auch
möglich von ihr aus die andern [114 Fünftes Kapitel. Analogie.] zugehörigen Formen nach verschiedenen
Proportionen zu bilden. Welche von den verschiedenen anwendbaren Proportionen dann sich geltend macht, hängt
durchaus nur von dem Machtverhältnis ab, in welchem sie zu einander stehen.

Eine Proportionsbildung findet gar keine Hemmung in der Seele, wenn für die Funktion, für welche sie geschaffen
wird, bisher überhaupt noch kein Ausdruck vorhanden gewesen ist. Aber auch dann nicht, wenn zwar ein
abweichender Ausdruck bereits üblich, aber dem betreffenden Individuum niemals überliefert worden ist, was bei
etwas selteneren Wörtern häufig genug der Fall ist. Ist aber die übliche Form einmal gedächtnismässig
aufgenommen, so ist es eine Machtfrage, ob in dem Augenblick, wo eine bestimmte Funktion ausgeübt werden soll,
zu diesem Zwecke eine Form durch einfache Reproduktion ins Bewusstsein gehoben wird, oder mit Hilfe einer
Proportion. Es kann dabei der Fall eintreten, dass die Proportion sich zunächst geltend macht, dass aber die früher
geknüpfte Verbindung mit dem Erinnerungsbilde der üblichen Form noch stark genug ist, um hinterher den
Widerspruch der Neubildung mit diesem Erinnerungsbilde bemerklich zu machen. Man besinnt sich dann, dass man
etwas Falsches hat sagen wollen oder schon gesagt hat. Es ist das also eine von den verschiedenen Arten, wie man
sich versprechen kann. Wir werden auch da noch ein Versprechen anerkennen müssen, wo der Sprechende auch
hinterher den Widerspruch mit dem Erinnerungsbilde nicht von selbst gewahr wird, aber denselben sofort erkennt,
wenn er durch eine leise Hindeutung darauf aufmerksam gemacht wird. Die Macht des Erinnerungsbildes kann aber
auch so gering sein, dass es gar nicht gegen die Proportionsbildung aufzukommen vermag und diese ungestört zur
Geltung gelangt.

Durch die Wirksamkeit der Gruppen ist also jedem Einzelnen die Möglichkeit und die Veranlassung über
das bereits in der Sprache Übliche hinauszugehen in reichlichem Masse gegeben. Man muss nun beachten, dass
alles, was auf diese Weise geschaffen wird, eine bleibende Wirkung hinterlässt. Wenn diese auch nicht von Anfang
an stark und nachhaltig genug ist, um eine unmittelbare Reproduktion zu ermöglichen, so erleichtert sie doch eine
künftige Wiederholung des nämlichen Schöpfungsprozesses, und trägt dazu bei die etwa entgegenstehenden
Hemmungen noch mehr zurückzudrängen. Durch solche Wiederholungen kann dann hinzugefügt werden, was dem
Neugeschaffenen etwa noch an Macht fehlte, um unmittelbar reproduziert zu werden.

§ 82. Aber jede solche Überschreitung des Usus erscheint, auf ein Individuum beschränkt, wo sie zu dem Üblichen
ein Mehr hinzu- [115 Analogische Neubildung.] fügt, ohne sich mit demselben in Widerspruch zu setzen, als eine
gewisse Kühnheit, wo sie aber das letztere tut, geradezu als Fehler. Ein solcher Fehler kann vereinzelt bleiben, ohne
zur Gewohnheit zu werden, kann auch, wenn er zur Gewohnheit geworden ist, wieder abgelegt werden, indem man
sich durch den Verkehr das Übliche aneignet, sei es zum ersten Male, oder sei es von neuem. Wenn er aber auch
nicht wieder abgelegt wird, so geht er in der Regel mit dem Individuum zu Grunde, wird nicht leicht auf ein anderes

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

übertragen. Viel leichter überträgt sich eine Schöpfung, die mit keiner früher bestehenden in Konflikt kommt, hier
kann viel eher ein Einzelner den Anstoss geben. Dagegen mit der Ersetzung des bisher Üblichen durch etwas Neues
verhält es sich gerade wie mit dem Laut- und Bedeutungswandel. Nur wenn sich innerhalb eines engeren
Verkehrskreises an einer grösseren Anzahl von Individuen spontan die gleiche Neuschöpfung vollzieht, kann sich
eine Veränderung des Usus herausbilden. Die Möglichkeit eines solchen spontanen Zusammentreffens vieler
Individuen beruht auf der überwiegenden Übereinstimmung in der Organisation der auf die Sprache bezüglichen
Vorstellungsgruppen. Je grösser die Zahl derjenigen, bei denen die Neubildung auftritt, um so leichter wird die
Übertragung auf andere, je mehr gewinnt das, was anfangs als Fehler erschien, an Autorität.

Wie hinsichtlich der Lautverhältnisse und hinsichtlich der Bedeutung, die den Wörtern beigelegt wird, so zeigen
sich auch hinsichtlich der analogischen Neubildung die stärksten Abweichungen vom Usus in der Kindersprache. Je
unvollständiger und je schwächer noch die Einprägung der einzelnen Wörter und Formen ist, um so weniger
Hemmung findet die Neubildung, um so freieren Spielraum hat sie. So haben alle Kinder die Neigung anstatt der
unregelmässigen und seltenen Bildungsweisen, die noch nicht in ihrem Gedächtnis haften, die regelmässigen und
gewöhnlichen zu gebrauchen, im Nhd. z. B. alle Verba schwach zu bilden. Wenn bei zunehmender Entwickelung
des Individuums die Neubildung mehr und mehr abnimmt, so ist das natürlich nicht die Folge davon, dass ein
anfangs vorhandenes Vermögen schwindet, sondern davon, dass das Bedürfnis abnimmt, indem sich für den Zweck,
für den früher die Neubildungen geschaffen wurden, immer mehr gedächtnismässig aufgenommene Formen zur
Verfügung stellen. Im allgemeinen lassen auch auf diesem Gebiete die Abweichungen der Kindersprache keine
Konsequenzen für die allgemeine Weiterentwickelung der Sprache zurück; aber hie und da bleiben doch Spuren.
Insbesondere wird in solchen Fällen, wo schon die Erwachsenen zu Neubildungen neigen, die entsprechende
Neigung bei den Kindern noch stärker hervortreten, und sie werden sich dieser Neigung frei [116 Fünftes Kapitel.
Analogie.] überlassen, sobald die nötige Hemmung durch die Sprache der Erwachsenen fehlt.

Durch eine analogische Neubildung wird eine früher bestehende gleichbedeutende Form nicht mit einem Schlage
verdrängt. Es ist nicht wohl denkbar, dass das Bild der letzteren gleichzeitig bei allen Individuen so verblassen
sollte, dass die Analogiebildung ohne Hemmung vor sich gehen könnte. Vielmehr bewahren immer einige
Individuen die alte Form, während andere sich schon der Neubildung bedienen. So lange aber zwischen diesen und
jenen ein ununterbrochener Verkehr unterhalten wird, muss auch eine Ausgleichung stattfinden. Es müssen daher
einer kleineren oder grösseren Anzahl von Individuen beide Formen geläufig werden. Erst nach einem längeren
Kampfe zwischen beiden Formen kann die Neubildung zur Alleinherrschaft gelangen.[3]).

§ 83. Da die analogische Neuschöpfung die Auflösung einer Proportionsgleichung ist, so müssen natürlich schon
mindestens drei Glieder vorhanden sein, die sich zum Ansatz einer solchen Gleichung eignen. Es muss jedes mit
dem andern irgendwie vergleichbar sein, [117 Vorbedingungen für analogische Neuschöpfung. Lautwechsel.] d. h.
in diesem Falle, es muss mit dem einen im stofflichen, mit dem andern im formalen Elemente eine
Übereinstimmung zeigen. So lässt sich z. B. im Lat. eine Gleichung ansetzen animus : animi = senatus : x, aber nicht
animus : animi = mensa : x. Es kann daher ein Wort in seiner Flexion von anderen nur dann analogische
Beeinflussung erfahren, wenn es mit diesen in der Bildung einer oder mehrerer Formen übereinstimmt. Es kommt
allerdings zuweilen eine Beeinflussung ohne solche Übereinstimmung vor, die man dann aber nicht mit Recht als
Analogiebildung bezeichnet. Es kann eine Flexionsendung wegen ihrer besonderen Häufigkeit als die eigentliche
Normalendung für eine Flexionsform empfunden werden. Dann überträgt sie sich wohl auf andere Wörter auch ohne
die Unterstützung gleichgebildeter Wörter. Von dieser Art ist z. B. im Attischen die Übertragung der Genitivendung
ou aus der zweiten Deklination auf die Maskulina der ersten: polítou statt políteô, wie es Homerischem -ao,
dorischem a entsprechen müsste; die Übereinstimmung beider Klassen im Geschlecht hat hier genügt die
Beeinflussung zu bewirken. Der Gen. Du. der griechischen dritten Deklination hat seine Endung von der zweiten
entlehnt: podoîn nach híppoin. Im Deutschen ist die Genitivendung s auf die weiblichen Eigennamen mit der
Endung a übertragen: Bertas, Klaras. Im Engl., Schwed. und Dän. hat sich -s zu einem allgemeinen Genitivsuffix
entwickelt, sogar für den Pl.

Neuschöpfungen finden natürlich auch auf Grundlage der oben § 76 besprochenen Proportionsgruppen statt, die sich
aus Formen der gleichen stofflichen Gruppe zusammensetzen. Im Mhd. lauten die dritten Personen Pl.: Ind. Präs.
gebent, Konj. geben, Ind. Prät. gâben, Konj. gæben. Im Nhd. ist nach Analogie der drei anderen Formen auch im
Ind. Präs. geben eingetreten; im Spätmhd. ist auch umgekehrt ent in die übrigen Formen eingedrungen. Die 2. Sg.
Ind. Prät. des starken Verbums, die im Mhd. eigentümlich gebildet war (du gæbe, wære), ist nach der Analogie der
andern zweiten Personen umgestaltet.

§ 84. Dass eine schöpferische Wirkung der Analogie auch auf dem Gebiete des Lautwechsels statt hat, ist, soviel
ich sehe, bis jetzt noch wenig beachtet. Der Lautwechsel ist zunächst, wie wir gesehen haben, eine Wirkung des
Lautwandels, die dann eintritt, wenn der gleiche Laut oder die gleiche Lautgruppe sich in Folge verschiedener

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

lautlicher Bedingungen in mehrere gespalten hat. So lange diese Bedingungen fortdauern und ausserdem keine
Störung der Wirkungen des Lautwandels durch andere Einflüsse eintritt, ist es möglich, dass die durch den
Lautwandel entstandenen Formen sich zu Proportionsgruppen ordnen, vgl. die Beispiele in § 76. Wir können dann
den Lautwechsel als einen lebendigen bezeichnen. Fallen dagegen die Bedingungen fort, [118 Fünftes Kapitel.
Analogie.] welche die Ursache der verschiedenen Behandlung des Lautes gebildet haben, so lassen sich keine
etymologisch-lautlichen Proportionen mehr bilden, der Lautwechsel ist erstarrt. So ist z. B. der Wechsel zwischen h
und g in ziehen - Zug, gedeihen - gediegen nicht mehr durch Verhältnisse in der gegenwärtigen Sprache bedingt; die
Ursache, durch welche dieser Lautwechsel ursprünglich hervorgerufen ist, der wechselnde indogermanische Akzent,
ist längst beseitigt. Der Wechsel zwischen hoher - hoch, sehen - Gesicht, geschehen - Geschichte trifft zwar
zusammen mit einem Wechsel der Stellung innerhalb der Silbe; da aber in den meisten Fällen bei ganz analogem
Stellungswechsel kein Lautwechsel mehr statt hat (vgl. rauher - rauh, sehen - sah und sieht, geschehen - geschah
und geschieht), so ist auch dieser Wechsel ein toter. Anders im Mhd., wo es eine dnrchgreifende Regel ist, dass
einem h im Silbenanlaut in der Stellung nach dem Sonanten der Silbe der Laut unseres ch entspricht, also rûher -
rûch, sehen - sach, geschehen - geschach, vor s und t im älteren Mhd. allerdings auch h geschrieben (sihst, siht), im
späteren aber gleichfalls durch ch bezeichnet (sichst, sicht).

Die stofflich-lautlichen Proportionsgruppen sind nun in entsprechender Weise produktiv wie die stofflich-formalen.
Es ist z. B. nicht wohl denkbar, dass die beiden verschiedenen Aussprachen unseres ch von jedermann für jeden
einzelnen Fall besonders erlernt sind, vielmehr wirken auch hier gedächtnismässige Einprägung und
Analogieschöpfung zusammen, und ohne Mitwirkung der letzteren könnte nicht die Sicherheit in dem Wechsel
zwischen beiden gewonnen werden, wie sie wirklich vorhanden ist. Besonders zweifellos ist die Mitwirkung der
Analogie bei den Sandhi-Erscheinungen. Wie sollte man es sich z. B. sonst erklären, dass im Franz. die
auslautenden Konsonanten s, z, t, n konsequent verschieden behandelt werden, je nachdem das sich anschliessende
Wort mit Konsonant oder mit Vokal beginnt? Es ist zwar möglich, dass sich eine Anzahl solcher Verbindungen wie
nous vendons - nous aimons, un fils - un ami seit der Zeit, wo sie durch den Lautwandel entstanden sind, von
Generation zu Generation gedächtnismässig fortgepflanzt haben, aber sicher sind es bei weitem nicht alle, die jetzt
zur Anwendung kommen und früher gekommen sind. Nichtsdestoweniger wird der Wechsel genau beobachtet, auch
von dem grammatisch- Ungeschulten und bei jeder beliebigen neuen Kombination.

Durch die Wirksamkeit der etymologisch-lautlichen Verhältnisgruppen werden im allgemeinen solche Formen
erzeugt, wie sie auch durch den zu Grunde liegenden Lautwandel hervorgebracht sein würden. Doch geschieht es
auch zuweilen, dass neue Formen erzeugt werden, die lautgesetzlich nicht möglich wären. Ursache ist entweder eine
[119 Lautwechsel nach Analogie.] eigentlich nicht berechtigte Umkehrung der Proportionen oder eine Verschiebung
der Verhältnisse durch jüngeren Lautwandel.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Für viele ober- und mitteldeutsche Mundarten gilt das Lautgesetz, dass n im Silbenauslaut geschwunden ist, sich
aber auch im Wortende gehalten hat, wenn es bei vokalischem Anlaut des folgenden Wortes zu diesem
hinübergezogen ist, also z. B. im Alemannischen e ros (ein Ross) e-n ôbet (ein Abend), i due = mhd. ich tuon - due-
n-i. Man ist also daran gewöhnt, dass in vielen Fällen zwischen vokalischem Auslaut und vokalischem Anlaut sich
ein n scheinbar einschiebt, und in Folge davon überträgt sich das n auf Fälle, wo in der älteren Zeit kein n bestanden
hat. So finden sich in der Schweiz[4]) Verbindungen wie wo-n-i wo ich , se-n-iss so ist es, wie-n-e wie ein, so-n-e so
ein, bî-n-em bei ihm, tsüe-n-em zu ihm. Die selbe Erscheinung findet sich im Badischen[5]) in Schwaben, z. B. in
der Mundart der Gegend von Horb:[6]) bei-n-em bei ihnen, zue-n-ene zu ihnen, dî mâ-n-i dich mag ich, lô-n-ems
lass es ihm, gei-n-ems gib es ihm, entsprechend im bairischen Schwaben und in einem angrenzenden Teile des
eigentlich bairischen Gebietes:[7]) si-n-ist sie ist, wie-n-i wie ich etc. Auch im Kärntischen heisst es bâ-n-enk bei
euch.[8]) Im Altprovenzalischen ist die Nebenform fon zu fo (fuit) nach Analogie von bon - bo etc. gebildet.[9])
Hierher gehört auch das n ephelkustikón, soweit es nicht etymologisch berechtigt ist.
In bairischen Mundarten wird nach Vokal zur gleichen Silbe gehöriges r zu schwachem e (a). Im Auslaut vor
vokalischem Anlaut des folgenden Wortes erhält sich r, weil es hinübergezogen wird. Es heisst daher der arm, aber
de jung, er is, aber e hât, mei brueder oder i, aber i ode mei bruede.[10]) In Folge davon entstehen auch
Verbindungen wie wie-r-i wie ich, ge-r-e gehe er, dâ sie-r-i da sehe ich, kae-r-i kann ich, ae-r-i abhin = hinab.[11])
Gleichfalls durch das Verstummen des auslautenden r hervorgerufen sind im Südengl. Verbindungen wie America-
r-and England, idea-r-of. Entsprechend wird mhd. jârâ, nûrâ aus jâ, nû + â zu erklären sein nach Analogie des
Verhältnisses dâ (aus älterem dâr) zu dârane, wâ zu wârane, hie zu hierane, sâ zu sârie. [120 Fünftes Kapitel.
Analogie.] Die satzphonetische Doppelformigkeit ist wohl dasjenige Gebiet, auf dem diese Art von Analogiebildung
am häufigsten erscheint. Doch ist sie nicht darauf beschränkt. Wenn im Spätmittelhochdeutschen nach Abwerfung
des auslautenden e aus zæhe, geschæhe, hæhe etc. zæch, geschæch, hæch entsteht, so liegt wohl schwerlich ein
lautlicher Übergang des h in ch vor; die Formen haben sich vielmehr der Analogie des bereits vorher bestehenden
Wechsels hôch - hôhes, geschehen - geschach etc. gefügt. Ebenso wird es sich verhalten bei sicht, geschicht (in
älterer Zeit noch siht, geschiht geschrieben) aus sihet, geschihet.

1. Vgl. Misteli, Lautgesetz und Analogie (vgl. S. 68). V. Henry, Étude sur l'analogie en général et sur les for-
mations analogiques de la langue grecque. Paris 1883. Wheeler, Analogy, and the scope of its application
in language. Ithaca 1887.
2. Vgl. dazu meine Abhandlung »Über die Aufgaben der Wortbildungslehre« in den Sitzungsber. der philos.-
phil. Klasse der bayer. Akad. d. W. 1896. S. 692ff. [Paul, Prinzipien.]
3. Wundt behandelt einen Teil der Analogiebildungen auf morphologischem Gebiete (die übrigen bleiben von
ihm überhaupt unberücksichtigt) unter dem Abschnitt »Lautwandel« als »assoziative Fernwirkungen der
Laute« (I, 431ff.). Er stellt dieselben in Parallele zu den assoziativen Kontaktwirkungen (Assimilation etc.),
eine Parallelisierung, die nur Irre führen kann, da die betreffenden Erscheinungen völlig verschiedener
Natur sind. Zu den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, gehört Folgendes. Wenn im Nhd. starben an
Stelle des Mhd. sturben getreten ist, so soll nach Wundt das u des letzteren in analoger Weise durch das a
von starb, wie er sich ausdrückt, induziert sein, wie etwa bei der Verwandlung von lat. octo in it. otto des c
durch das nachfolgende t. Das ist offenbar falsch. Denjenigen, die zuerst die Form starben gebildet haben,
ist die Form sturben nicht ins Bewusstsein getreten, denn sonst hätten sie sich eben ihrer bedient. Die
Neubildung konnte nur von Individuen ausgehen, denen die Form sturben nicht genügend eingeprägt war.
Wenn Wundt für einen derartigen Vorgang die Bezeichnung Angleichung für zutreffender erklärt als
Analogiebildung, so ist gerade das umgekehrte richtig. Niemand kann doch bezweifeln, dass, wenn ein
Kind nach ich darf auch wir darfen bildet, dies dadurch bedingt ist, dass es die Form dürfen noch nicht
erlernt hat. Niemand kann auch leugnen, dass, wenn ein Schüler ähnliche Fehler in einer
Übersetzungsarbeit macht (etwa tutundi statt tutudi), dies nur daher kommt, weil er sich die richtige Form
nicht eingeprägt hat. Wie kann man sich aber dagegen sträuben, anzuerkennen, dass die in Frage stehenden
Veränderungen des Sprachgebrauchs auf die nämliche psychologische Grundlage zurückzuführen sind?
Die Auffassung der Analogiebildungen als assoziative Fernewirkungen der Laute hat es übrigens mit sich
gebracht, dass Dissimilationen wie tréphô für *thréphô unter der Rubrik Kontaktwirkungen behandelt sind,
wohin sie doch offenbar nicht gehören. Für sie wäre ein Ausdruck, der den Gegensatz zu Kontakt bildete,
angemessen, wenn auch nicht gerade Ferne-, und Brugmann hat wirklich die Ausdrücke Fernassimilation
und Ferndissimilation dafür verwendet.
4. Vgl. Winteler, Kerenzer Mundart S. 73. 140.
5. Vgl. Heimburger, Beiträge z. Gesch. d. deutschen Spr. u. Lit. 13, 242.
6. Vgl. Kauffmann, Geschichte der schwäbischen Mundart § 190.
7. Vgl. Schmeller, Mundarten Bayerns S. 134.
8. Vgl. Lexer, Kärntisches Wörterbuch S. XIII.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

9. Vgl. Neumann, Zschr. f. rom. Phil. VIII, 257.


10. Vgl. Schmeller, S. 141. Schwäbl, Die altbayerische Mundart § 34.
11. Vgl. ib. S. 142 und Lexer a. a. O. S. XII.

SECHSTES KAPITEL.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

DIE SYNTAKTISCHEN GRUNDVERHÄLTNISSE.[1])


§ 85. Alle Sprechtätigkeit besteht in der Bildung von Sätzen. Freilich besteht keine Einigkeit darüber, was man unter
einem Satze zu verstehen hat. Sehr verschiedene Definitionen sind aufgestellt. Es ist auch nicht zu leugnen, dass
sich dem Versuche, eine vollkommen befriedigende Begriffsbestimmung zu finden, eigentümliche Schwierigkeiten
in den Weg stellen. Die von mir früher gegebene Definition lautete: der Satz ist der sprachliche Ausdruck, das
Symbol dafür, dass sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen in der Seele des
Sprechenden vollzogen hat, und das Mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen Vorstellungen in
der Seele des Hörenden zu erzeugen. Ich wählte eine so allgemeine Fassung, um alle verschiedenen Satzarten
darunter begreifen zu können und manchen engeren Fassungen entgegenzutreten, z. B. dem verbreiteten Irrtum, dass
der Satz ein Verb. fin. enthalten müsse. Verbindungen wie Omnia praeclara rara, Summum jus summa injuria,
Träume Schäume, Ich ein Lügner? Ich dir danken? erkläre ich gerade so gut für Sätze wie Der Mann lebt, Er ist tot.
[2])
Meine Definition ist von verschiedenen Seiten angefochten worden. Wundt wendet sich besonders dagegen, dass der
Satz Ausdruck einer [122 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen Grundverhältnisse.] Verbindung von Vorstellungen
sein soll. Nach ihm beruht er vielmehr auf der Zerlegung eines im Bewusstsein vorhandenen Ganzen in seine Teile
(II. 241), ist Ausdruck für die willkürliche Gliederung einer Gesamtvorstellung in ihre in logische Beziehungen zu
einander gesetzten Bestandteile (245). Hierauf möchte ich zunächst erwidern, dass, wenn wirklich die Zerlegung
eines Ganzen in der Seele des Sprechenden vorangegangen ist, dann doch wieder eine Verbindung vorgenommen
ist, dass daher von dieser Seite meine Definition nicht zu beanstanden ist. Ferner trifft diese vom Standpunkte des
Hörenden zu, auf den Wundt hier so wenig wie anderwärts Rücksicht nimmt.[3]) In ihm werden zunächst durch die
einzelnen Wörter Einzelvorstellungon hervorgerufen, und durch die Verknüpfung der einzelnen Wörter wird er
veranlasst, die Einzelvorstellungen in Beziehung zu einander zu setzen. Es ist aber auch nicht wahr, dass der
Bildung eines jeden Satzes die Zerlegung eines im Bewusstsein vorhandenen Ganzen vorangegangen sein müsse.
Wundt scheint bei seiner Definition allgemeine Sätze im Auge gehabt zu haben, wie sie als Beispiele in der Logik
gebraucht werden (er selbst führt an »das Gras ist grün«), aber im wirklichen Leben keine Rolle spielen. Bei den
meisten sonstigen Sätzen verhält es sich anders. Nehmen wir zunächst Sätze, die eine sinnliche Wahrnehmung
aussprechen. Wenn jemand sagt »Karl lacht«, so kann es sein, dass seine Augen erst auf den Betreffenden gefallen
sind, als er sich schon im Zustande des Lachens befand, und dann träfe Wundts Auffassung zu. Es kann aber auch
sein, dass seine Aufmerksamkeit schon vorher auf den Karl gerichtet war und er nun eine mit demselben vorgehende
Veränderung gewahr geworden ist; dann ist Wundts Auffassung nicht anwendbar. Einleuchtender noch ist folgendes
Beispiel: jemand weiss, dass sich in der Nähe ein Löwe befindet, den er aber im Augenblick nicht sieht, und an den
er auch nicht denkt; da hört er ein Gebrüll; dieser zunächst für sich gegebene Gehörseindruck ruft die Vorstellung
des Löwen wach; er kommt zu dem Satz der Löwe brüllt; hier ist doch nicht erst eine Gesamtvorstellung »der
brüllende Löwe« in ihre Teile zerlegt. Und so werden eine Menge Sätze gebildet, bei denen die Vorstellungen, die
den einzelnen Wörtern entsprechen, erst nach einander ins Bewusstsein getreten sind. Besonders deutlich ist das u.
a. bei Antworten. Wenn A fragt wer hat gesiegt? und B antwortet Fritz hat gesiegt, so ist in B zunächst durch das
Gehörte die Vorstellung des Gesiegthabens erzeugt, die dann ihrerseits die Vorstellung [123 Definition des Satzes.
Mittel der Satzbildung.] Fritz hervorgerufen hat. Vollends versagt Wundts Definition bei negativen
Behauptungssätzen, bei Aufforderungs- und Fragesätzen. Für kompliziertere Satzgebilde gibt Wundt nachträglich
selbst die Ansicht auf, dass die einzelnen Teile schon in einer Gesamtvorstellung enthalten gewesen sein müssten.
[4])
Mit mehr Recht ist gegen meine Definition eingewendet, dass dieselbe auch auf zusammengesetzte Satzglieder wie
der gute Mann passe. Man hat daher verlangt, es müsse noch die Bestimmung aufgenommen werden, dass der Satz
etwas Selbständiges, in sich Abgeschlossenes sei. Geschieht dies aber, so ergibt sich daraus die Konsequenz, dass
dasjenige, was nach allgemeinem Sprachgebrauch Nebensatz genannt wird, nicht als ein Satz anerkannt werden
kann. In Wirklichkeit verhält sich auch der Nebensatz nicht anders als wie ein Satzglied oder unter Umständen nur
wie ein Teil eines solchen. Aber die Möglichkeit ihn gerade auszugestalten wie einen selbständigen Satz hat die
Veranlassung gegeben, ihm die Bezeichnung Satz beizulegen, wobei das Vorhandensein eines verb. fin. als
ausschlaggebend betrachtet ist. Es kommt dazu, dass, wie wir noch sehen werden, die Grenze zwischen abhängigem
und selbständigem Satze eine fliessende ist. Jedenfalls sieht man daran das Schwankende des Satzbegriffs.[5]) Für
die ursprüngliche Satzbildung, bei der es noch keine zusammengesetzten Glieder gab, könnte unsere obige
Definition genügen, und, wie wir noch sehen werden, haben sich die zusammengesetzten Glieder zum Teil aus
Sätzen entwickelt.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 86. Zum sprachlichen Ausdruck der Verbindung von Vorstellungen gibt es folgende Mittel: 1. die
Nebeneinanderstellung der den Vorstellungen entsprechenden Wörter an sich; 2. die Reihenfolge dieser Wörter; 3.
die Abstufung zwischen denselben in Bezug auf die Energie der Hervorbringung, die stärkere oder schwächere
Betonung (vgl. Karl kommt nicht - Karl kommt nicht); 4. die Modulation der Tonhöhe (vgl. Karl kommt als
Behauptungssatz und Karl kommt? als Fragesatz); 5. das Tempo, welches mit der Energie und der Tonhöhe in
engem Zusammenhange zu stehen pflegt;[6]) 6. Verbindungswörter wie Präpositionen, Konjunktionen,
Hilfszeitwörter; 7. die flexivische Abwandlung [124 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen Grundverhältnisse.] der
Wörter, und zwar a) indem durch die Flexionsformen an sich die Art der Verbindung genauer bestimmt wird (patri
librum dat), b) indem durch die formelle Übereinstimmung (Kongruenz) die Zusammengehörigkeit angedeutet wird
(anima candida). Es ist selbstverständlich, dass die beiden letztgenannten Mittel sich erst allmählich durch längere
geschichtliche Entwickelung haben bilden können, während die fünf erstgenannten von Anfang an dem
Sprechenden zur Verfügung stehen. Aber auch 2-5 bestimmen sich nicht immer bloss unmittelbar nach dem
natürlichen Ablauf der Vorstellungen und Empfindungen, sondern sind einer traditionellen Ausbildung fähig.

Je nach der Menge und Bestimmtheit der angewendeten Mittel ist die Art und Weise, wie die Vorstellungen mit
einander zu verbinden sind, genauer oder ungenauer bezeichnet. Es verhält sich in Bezug auf die Verbindungsweise
gerade so wie in Bezug auf die einzelne Vorstellung. Der sprachliche Ausdruck dafür braucht durchaus nicht dem
psychischen Verhältnisse, wie es in der Seele des Sprechenden besteht und in der Seele des Hörenden erzeugt
werden soll, adäquat zu sein. Er kann viel unbestimmter sein.

§ 87. Jeder Satz besteht demnach aus mindestens zwei Elementen. Diese Elemente verhalten sich zu einander nicht
gleich, sondern sind ihrer Funktion nach differenziert. Man bezeichnet sie als Subjekt und Prädikat. Diese
grammatischen Kategorien beruhen auf einem psychologischen Verhältnis. Zwar müssen wir unterscheiden
zwischen psychologischem und grammatischem Subjekt, respektive Prädikat,[7]) da beides nicht immer
zusammenfällt, wie wir noch im Einzelnen sehen werden. Aber darum ist doch das grammatische Verhältnis nur auf
Grundlage des psychologischen auferbaut.

Das psychologische Subjekt ist die zuerst in dem Bewusstsein des Sprechenden, Denkenden vorhandene
Vorstellungsmasse, an die sich eine zweite, das psychologische Prädikat anschliesst. Das Subjekt ist, [125 Mittel der
Satzbildung. Teile des Satzes.] mit Steinthal zu reden, das Apperzipierende, das Prädikat das Apperzipierte. Richtig
bezeichnet v. d. Gabelentz (Zschr. f. Völkerpsychologie 6, 378) die beiden Elemente vom Standpunkte des
Hörenden aus. Das psychologische Subjekt ist nach ihm das, worüber der Sprechende den Hörenden denken lassen,
worauf er seine Aufmerksamkeit hinleiten will, das psychologische Prädikat dasjenige, was er darüber denken soll.
Doch kann diese Art der Bestimmung des Prädikats leicht zu einer so beschränkten Auffassung verführen, wie sie in
unseren Grammatiken gang und gäbe ist. Wir müssen daran festhalten, dass es nur darauf ankommt, dass eine
Vorstellung im Bewusstsein an die andere angeknüpft wird.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wir sind jetzt gewohnt dem Verhältnis des Subjekts zum Prädikat einen engern Sinn unterzulegen. Ist das Prädikat
ein Nomen, so verlangen wir für die normale Satzbildung, dass dasselbe entweder mit dem Subjekt identifiziert
werde, oder dass es den weiteren Begriff bezeichne, welchem der engere des Subjekts untergeordnet wird, oder dass
es eine Eigenschaft angebe, welche dem Begriffe des Subjekts inhäriert. Aber in Sprichwörtern werden auch
Beziehungen ganz anderer Art durch die grammatische Form der Nebeneinanderstellung von Subjekt und Prädikat
ausgedrückt, vgl. ein Mann ein Wort, gleiche Brüder gleiche Kappen, viel Feind' viel Ehr', viele Köpfe viele Sinne,
viel Geschrei wenig Wolle, alter Fuchs alte List, klein Geld kleine Arbeit, neuer Arzt neuer Kirchhof, heisse Bitte
kalter Dank, kurz Gebet tiefe Andacht, roter Bart untreue Art, Gevatter übern Zaun Gevatter wieder herüber, Glück
im Spiel Unglück in der Liebe, mit gefangen mit gehangen, früh gesattelt spät geritten, allein getan allein gebüsst;
entsprechend in anderen indogermanischen Sprachen, vgl. franz. bon capitaine bon soldat, bonne terre mauvais
chemin, longue langue courte main, brune matinée belle journée, froides mains chaudes amours, fèves fleuries
temps de folies, soleil à la vue bataille perdue, point d'argent point de Suisse; engl. like master like man, one man
one vote, small pains small gains, first come first served.[8]) Zwar pflegt man solche Sätze als verkürzte
hypothetische Perioden aufzufassen und demgemäss ein Komma zwischen die beiden Bestandteile zu setzen, aber
dass man sie durch eine hypothetische Periode umschreiben kann (wo viel Geschrei ist, da ist wenig Wolle etc.),
geht uns hier gar nichts an, ihre grammatische Form ist keine andere als die von Sätzen wie Ehestand Wehestand,
die Gelehrten [126 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen Grundverhältnisse.] die Verkehrten, Bittkauf teurer Kauf etc.
Bei den ersten Sätzen, welche Kinder bilden, dient die blosse Aneinanderreihung von Wörtern zum Ausdruck aller
möglichen Beziehungen. Aus der Erfahrung gesammelte Beispiele werden von Steinthal, Einl. S. 534-6 beigebracht,
vgl. Papa Hut (= der Papa hat einen Hut auf), Mama baba (= ich will bei der Mama schlafen).[9]) Wo man sich
einer fremden Sprache zu bedienen genötigt ist, deren man nicht mächtig ist, greift man in der Not zu demselben
primitiven Auskunftsmittel und wird von der Situation unterstützt verstanden. Man bedeutet z. B. jemandem durch
die Worte Wein Tisch, dass er den Wein auf den Tisch stellen soll u. dergl. Die Bedingungen, welche dazu
veranlassen dergleichen Sätze zu erzeugen und es dem Hörenden ermöglichen die nicht ausgedrückte Beziehung der
Begriffe zu erraten, sind natürlich nicht bloss in den Anfängen der Sprechtätigkeit der Einzelnen oder der
Menschheit vorhanden, sondern zu allen Zeiten. Wenn sie auf den höher entwickelten Stufen nur in beschränktem
Masse zur Anwendung kommen, so liegt dies bloss daran, dass vollkommenere Ausdrucksmittel zu Gebote stehen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 88. Zur Unterscheidung von Subjekt und Prädikat gab es ursprünglich nur ein Mittel, die Tonstärke. Im isolierten
Satze ist das psychologische Prädikat als das bedeutsamere, das neu hinzutretende stets das stärker betonte Element.
Dies dürfen wir wohl als ein durch alle Völker und Zeiten durchgehendes Gesetz betrachten. Ein zweites
Unterscheidungsmittel könnte die Wortstellung abgegeben haben. V. d. Gabelentz in dem oben erwähnten Aufsatze
meint (S. 376), dass die Anordnung Subjekt-Prädikat (beides als psychologische Kategorien betrachtet) ausnahmslos
gelte.[10]) Diese Ansicht scheint mir nicht ganz richtig; wir müssen bei Beurteilung dieser Frage die Sprachen und
die Fälle ganz bei Seite lassen, in denen für die Stellung des grammatischen Subjekts und Prädikats durch die
Tradition eine feste Regel herausgebildet ist. Wir dürfen nur solche Fälle heranziehen, in denen beide den Platz
vertauschen können, in denen also die Stellung nicht durch grammatische, sondern lediglich durch psychologische
Normen bedingt ist. Die Ansicht, welche v. d. Gabelentz hegt, dass ein vorangestelltes grammatisches Präd. immer
psychologisches Subj. sei, trifft allerdings in vielen Fällen zu, z. B. in dem Goetheschen Weg ist alles, was du
liebtest, Weg, warum du dich betrübtest, Weg dein Glück und deine Ruh'; sagen wir aber z. B. ein Windstoss ergriff
das Blatt und weg [127 Subjekt und Prädikat.] war es, so kann weg unmöglich als psychologisches Subj. gefasst
werden. Ebenso besteht Übereinstimmung zwischen psychologischem und grammatischem Subjekt, wenn auf die
Bemerkung Müller scheint ein verständiger Mann zu sein ein anderer entgegnet ein Esel ist er; und so in vielen
Fällen. Der Subjektsbegriff ist zwar immer früher im Bewusstsein des Sprechenden,[11]) aber indem er anfängt zu
sprechen, kann sich der bedeutsamere Prädikatsbegriff schon so in den Vordergrund drängen, dass er zuerst
ausgesprochen und das Subjekt erst nachträglich angefügt wird. Dies kommt häufig vor, wenn der Subjektsbegriff
schon vorher im Gespräche da gewesen ist, vgl. die angeführten Beispiele. Dann hat auch der Angeredete in der
Regel, während er das Prädikat hört, schon das dazu gehörige Subj. im Sinne, welches daher auch manchmal eben
so gut wegbleiben kann, vgl. »was ist Maier?« »Kaufmann (ist er)«. Aber auch wenn der Angeredete auf das Subj.
nicht vorbereitet ist, kann lebhafter Affekt die Veranlassung werden, dass sich das Präd. an die Spitze drängt. Der
Sprechende verabsäumt dann zunächst über dem Interesse an der Hauptvorstellung die für den Angeredeten
notwendige Orientierung, und es fällt ihm erst hinterher ein, dass eine solche erforderlich ist. Es ist ein analoger
psychologischer Vorgang, wenn das Subj. zuerst durch ein Pron., dessen Beziehung für den Angeredeten nicht
selbstverständlich ist, und erst hinterher bestimmter ausgedrückt wird, vgl. ist sie blind, meine Liebe? (Lessing); sie
hindert nicht allein nicht, diese Binde (id.); was für ein Bild hinterlässt er, dieser Schwall von Worten? (id.); mhd.
wie jâmerlîch ez stât, daz hêre lant (Walth. v. d. Vogelw.), si ist iemer ungeschriben, diu fröude die sie hâten
(Hartm. v. Aue); franz. elle approche, cette mort inexorable.[12]) Aus den gegebenen Ausführungen erhellt, dass
die Sätze mit vorangestelltem psychologischen Prädikat eine Verwandtschaft haben mit den bald weiter unten zu
besprechenden Sätzen, in denen überhaupt nur das Präd. ausgedrückt wird. Sie sind eine Anomalie gegenüber der
bei ruhiger Erzählung oder Erörterung vorwaltenden Voranstellung des Subjekts, aber doch eine nicht
wegzuleugnende und nicht gar seltene Anomalie. Die Wortstellung kann daher nicht als ein mit den Anfängen der
Satzbildung gegebenes Unterscheidungsmittel von Subj. und Präd. betrachtet werden.[13]) [128 Sechstes Kapitel.
Die syntaktischen Grundverhältnisse.]

§ 89. Wie die einzelnen Wörter konkrete und abstrakte Bedeutung haben können, so auch die Sätze. Konkret ist
ein Satz, sobald eines von den beiden Hauptgliedern, das psychologische Subjekt oder das psychologische Prädikat
konkret ist. Normaler Weise ist es das Subjekt, welches dem Satze konkrete Natur gibt. Konkrete und abstrakte
Sätze brauchen der Ausdrucksform nach nicht verschieden zu sein. Wir können in Bezug auf die menschliche Natur
überhaupt sagen der Mensch ist sterblich, wie wir in Bezug auf einen Einzelnen sagen der Mensch ist unausstehlich,
und nur aus dem Zusammenhange und der Situation lässt sich die verschiedene Natur der Sätze erkennen. In dem
ersteren Satze könnte man auch pluralische Ausdrucksweise einsetzen: die Menschen oder alle Menschen sind
sterblich. Er bleibt dann aber nicht eigentlich abstrakt; denn alle Menschen fasst man wohl richtiger als einen
konkreten Ausdruck = alle Menschen, die existieren. Ist das Subjekt konkret, so kann der Satz nicht abstrakt sein. Es
bleibt allerdings immer noch die verschiedene Möglichkeit, dass das Prädikat als etwas dem Subjekt schlechthin
Zukommendes, als etwas Bleibendes oder sich Wiederholendes gedacht werden kann oder als etwas demselben nur
zu bestimmter Zeit Anhaftendes. Im ersteren Falle besteht gewissermassen eine Mittelstufe zwischen einem
abstrakten und einem konkreten Satze, und es sei daher erlaubt für diese Art von Sätzen in Ermangelung einer
besseren Bezeichnung den Ausdruck abstrakt-konkret zu gebrauchen. Auch dieser Verschiedenheit braucht keine
Verschiedenheit der Ausdrucksform zu entsprechen. Er spricht schnell kann bedeuten »er spricht in diesem
Augenblicke schnell« und »er pflegt schnell zu sprechen«; er ist saumselig kann ein Benehmen in einem einzelnen
Falle oder eine bleibende Charaktereigenschaft bezeichnen. [129 Scheinbare Eingliedrigkeit.]

72
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 90. Unserer Behauptung, dass zum Satze mindestens zwei Glieder gehören, scheint es zu widersprechen, dass wir
Sätze finden, die nur aus einem Worte oder einer eine Einheit bildenden Gruppe bestehen. Der Widerspruch löst
sich so, dass in diesem Falle das eine Glied, in der Regel das psychologische Subjekt, als selbstverständlich keinen
sprachlichen Ausdruck gefunden hat. Es kann aus dem vorher Besprochenen ergänzt werden. Insbesondere ist zu
beachten, dass es in der Wechselrede sehr häufig den Worten des Anderen zu entnehmen ist. Die Antwort pflegt nur
aus einem Prädikate zu bestehen, das Subjekt ist entweder in der Frage enthalten, oder die ganze Frage ist das
psychologische Subjekt : 1. »wer hat dich geschlagen ?« »Max.« 2. »bist du das gewesen ?« »ja« (nein, gewiss,
freilich, doch). Ebenso dienen als Prädikat zu einem von dem Andern ausgesprochenen Satze Bemerkungen wie
zugestanden, einerlei, ganz gleich, wohl möglich, nicht möglich, (wie) seltsam, getroffen, genug, kein Wunder,
Geschwätz, Possen, Lügen, Unsinn. In andern Fällen ist die Anschauung, die vor dem Sprechenden und Hörenden
steht, die Situation das psychologische Subjekt, auf welches die Aufmerksamkeit noch durch Gebärden hingelenkt
werden kann. Diese Anschauung kann die redende oder die angeredete Person sein, vgl. Ihr Diener, gehorsamer
Diener, zu Befehl - willkommen, so traurig? warum so traurig? Ferner gehören hierher namentlich viele
Ausrufungen des Erstaunens und Entsetzens und Hilfsschreie wie Feuer, Diebe, Mörder, sowie viele
Aufforderungen, auch Fragen wie gerade oder ungerade? rechts oder links? Wenn der Prinz in Lessings Emilia
beginnt: Klagen, nichts als Klagen, Bittschriften, nichts als Bittschriften!, so sind das nur Prädikate, das Subjekt
wird durch die Briefe gebildet, die er in die Hand nimmt. Bei solchen dem sprachlichen Ausdruck nach
eingliedrigen Sätzen ist es möglich, dass dasjenige, was für den Sprechenden psychologisches Prädikat ist, für den
Hörenden vielmehr Subjekt wird. Für denjenigen, der beim Anblick eines Brandes ausruft Feuer, ist die Situation
Subjekt und der allgemeine Begriff Feuer Prädikat; dagegen für denjenigen, der Feuer rufen hört, ehe er selbst einen
Brand gewahr wird, ist der Begriff Feuer Subjekt und die Situation Prädikat. Es kann auch Sätze geben, in denen für
beide Teile das Ausgesprochene Subjekt, die Situation Prädikat ist. Es sieht z. B. jemand, dass ein Kind in Gefahr
kommt, so ruft er wohl der Person, welcher die Bewachung desselben anvertraut ist, nur zu das Kind. Hiermit ist nur
der Gegenstand angezeigt, auf den die Aufmerksamkeit hingelenkt werden soll, also das psychologische Subj., das
Präd. ergibt sich für die angeredete Person aus dem, was sie sieht, wenn sie dieser Lenkung der Aufmerksamkeit
Folge leistet. Oder, wenn von zwei Reisegefährten der eine bemerkt, dass der andere seinen [Paul, Prinzipien.] [130
Sechstes Kapitel. Die syntaktischen Grundverhältnisse.] Schirm hat stehen lassen, so genügt der blosse Ausruf dein
Schirm, um diesen das Prädikat dazu ergänzen zu lassen.[14]) Der Vokativ, für sich ausgesprochen, um jemand
herbeizurufen, ihn zu warnen, zu bitten, ihm zu drohen, ihm bemerklich zu machen, dass er unter mehreren jetzt an
der Reihe ist etwas zu tun, ist ein solcher sprachlich, aber nicht psychologisch prädikatloser Satz. Dagegen neben
einem Verbum in der zweiten Person ohne Subjektspron. kann der Vok. als Subj. zu diesem gefasst werden. Man
interpungiert gewöhnlich Karl, komm und komm, Karl, dagegen du komm und komm du, ohne dass ein Unterschied
des Verhältnisses besteht.
§ 91. Hier ist auch festzustellen, wie es sich mit den sogenannten verba impersonalia verhält. Es ist eine vielfach
erörterte Streitfrage, ob dieselben als subjektlos zu betrachten sind oder nicht. Eine kritische Erörterung der darüber
geäusserten Ansichten findet sich in der Schrift von Miklosich »Subjektlose Sätze« (Zweite Auflage. Wien 1883).
Im wesentlichen auf das von Miklosich beigebrachte Material stützt sich ein Aufsatz von Marty in der
Vierteljahrsschr. f. wissenschaftliche Philos. VIII, 56ff.[15]) Um die Frage richtig zu beantworten, [131 Scheinbar
eingliedrige Sätze. Impersonalia.] muss man streng scheiden zwischen der grammatischen Form und dem dadurch
bezeichneten logischen Verhältnis. Sehen wir nur auf die erstere, so kann es natürlich nicht zweifelhaft sein, dass
Sätze wie es rauscht, franz. il gèle, niederserbisch vono se blyska (es blitzt) ein Subjekt haben. Aber alle
Bemühungen dies es, il, vono auch als psychologisches Subjekt zu fassen und ihm eine bestimmte Ausdeutung zu
geben haben sich als vergeblich erwiesen.[16]) Auch von Sätzen wie lat. pluit, griech. húei, sanskr. varsati (es
regnet), lit. sninga (es schneit) kann man annehmen, dass ihnen das formelle Subj. nicht fehlt; denn es kann in der
Verbalendung enthalten sein, unter der sich ja auch ein persönliches er oder sie verstehen lässt. Man könnte sich für
die entgegengesetzte Ansicht allerdings darauf stützen, dass in den betreffenden Sprachen die dritte Person auch
neben einem ausgesprochenen Subjekte stehen kann. Aber es lässt sich durch kein Mittel beweisen, dass das
Impersonale erst aus dieser Verwendungsweise abgeleitet sei. Es ist am natürlichsten auch hier ein formelles Subj.
anzuerkennen. Es verhält sich mit der Personalendung nicht anders als mit dem selbständigen Pron. Indem der Satz
auf die normale Form gebracht ist, hat er ein formelles Subj. erhalten, welches mit dem psychologischen nichts zu
schaffen hat.[17]) Wir müssen eine ältere Stufe voraussetzen, auf welcher der einfache Verbalstamm gesetzt wurde,
eine Stufe, die im Magyarischen wirklich noch vorliegt, wo die 3. Sg. kein Suffix hat (vgl. Miklosich, S. 15). Und
von dieser Stufe können wir uns eine lebendige Vorstellung bilden nach Analogie der eben besprochenen aus einem
nicht verbalen Worte bestehenden Sätze. Diese sind wirklich, was den sprachlichen Ausdruck betrifft, subjektslos.

Das psychologische Subj. ist also in dem Satze es brennt ebenso wenig ausgedrückt als in dem Satze Feuer. Aber
man darf sich dadurch nicht zu der Ansicht verleiten lassen, dass überhaupt keins vorhanden ist. Auch hier findet
eine Verknüpfung zweier Vorstellungen statt. Auf der einen Seite steht die Wahrnehmung einer konkreten
Erscheinung, auf der andern die schon in der Seele ruhende Vorstellung [132 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen
Grundverhältnisse.] von Brennen oder Feuer, unter welche sich die betreffende Wahrnehmung unterordnen lässt.
Nur als unvollständiger Ausdruck für die Verbindung dieser beiden Elemente kann das Wort Feuer ein Satz sein.

73
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Man könnte sich denken, dass beim Verb. in entsprechender Verwendung statt des Impersonale der Inf. üblich
geworden wäre. Und wirklich wird dieser gebraucht, wo es sich um eine Aufforderung handelt. Als Kommandowort
steht z. B. aufsitzen auf gleicher Linie mit marsch, und es kann psychologisch als Imperativ zu dem unpersönlichen
es wird aufgesessen betrachtet werden.

Miklosich und Marty verkennen die Existenz eines psychologischen Subjekts für die unpersönlichen Sätze. Sie
halten dieselben wirklich für eingliedrig mit Berufung auf Brentanos Psychologie und sehen in ihnen einen Beweis
für die Theorie, dass das logische Urteil nicht notwendig zweigliedrig zu sein braucht. Mitbestimmend für diese
Ansicht scheint bei Marty die Beobachtung gewesen zu sein, dass zum Aussprechen einer Wahrnehmung in einem
konkreten, auch sprachlich zweigliedrigen Satze noch etwas anderes erforderlich ist als die Zusammenfügung der
beiden Glieder. Sagen wir z. B. diese Birne ist hart, so müssen wir erst den Gegenstand, von dem wir etwas
aussagen wollen, unter die allgemeine Kategorie Birne, die Eigenschaft, die wir an ihm bemerkt haben, unter die
allgemeine Kategorie hart gebracht haben. Wir müssen also um unser Urteil auszusprechen noch zwei Hilfsurteile
gebildet haben. Vergleichen wir damit den Vorgang beim Aussprechen eines unpersönlichen oder dem sprachlichen
Ausdrucke nach eingliedrigen Satzes wie es brennt oder Feuer, so entspricht hier das Urteil nur dem, was in dem
Satze diese Birne ist hart Nebenurteil war. Man könnte also von diesem Gesichtspunkte aus meinen, dass der
unpersönliche Satz wirklich nicht mehr enthält als das Prädikat eines normalen Satzes, und da der letztere als
zweigliedrig bezeichnet wird, scheint es dann nur konsequent, den ersteren als eingliedrig zu bezeichnen. Dabei
übersieht man aber, dass dasjenige, was in dem einen Falle nur Hilfsurteil war, in dem andern Selbstzweck
geworden ist. Man könnte mit dem gleichen Rechte den Unterschied vernachlässigen, der zwischen dem Satzgliede
der sterbliche Mensch und dem Satze der Mensch ist sterblich besteht. Unter allen Umständen aber ist ein Satz wie
Feuer, es brennt zweigliedrig; denn auch die entsprechenden Hilfsurteile sind zweigliedrig. Von eingliedrigen
Urteilen kann ich mir überhaupt gar keine Vorstellung machen, und die Logiker sollten die Sprache nicht zum
Beweise für die Existenz derselben heranziehen; sonst zeigen sie, dass auch ihr Denken noch sehr von dem
sprachlichen Ausdruck abhängig ist, von dem sich zu emanzipieren doch ihre Aufgabe sein sollte. [133
Impersonalia. Negative Sätze. Aufforderungssätze.]

Nach unseren bisherigen Erörterungen ist es klar, dass dem sprachlichen Ausdruck nach eingliedrige Sätze immer
konkret, nie abstrakt sind. Denn ihre Aufgabe besteht darin, eine konkrete Anschauung mit einem allgemeinen
Begriffe zu vermitteln. Dasselbe gilt von den unpersönlichen Sätzen, in denen das Verb. nicht noch eine
Bestimmung neben sich hat. Mit einer solchen dagegen können sie auch abstraktkonkret sein, vgl. es regnet hier
viel.

§ 92. Wenn wir den Satz als Ausdruck für die Verbindung zweier Vorstellungen definiert haben, so scheinen dem
die negativen Sätze zu widersprechen, die vielmehr eine Trennung bezeichnen. Indessen kommt eine solche
Trennung nicht zum Ausdruck, wenn nicht die betreffenden Vorstellungen im Bewusstsein des Sprechenden
aneinander geraten sind. Wir können den negativen Behauptungssatz als Ausdruck dafür bezeichnen, dass der
Versuch eine Beziehung zwischen zwei Vorstellungen herzustellen missglückt ist. Der negative Satz ist jedenfalls
jünger als der positive. So viel mir bekannt ist, findet die Negation überall einen besonderen sprachlichen Ausdruck.
Es liesse sich aber sehr wohl denken, dass auf einer primitiven Stufe der Sprachentwickelung negative Sätze
gebildet wären, in denen der negative Sinn an nichts anderem zu erkennen gewesen wäre als an dem Tonfall und den
begleitenden Gebärden.

§ 93. Was in Bezug auf den Unterschied zwischen positiven und negativen Sätzen nur als möglich hingestellt
werden kann, das gilt jedenfalls von dem Unterschiede zwischen Aussage- und Aufforderungssätzen.[18]) Ich
wähle die Bezeichnung Aufforderungssätze als die [134 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen Grundverhältnisse.]
indifferenteste. In der Aufforderung ist natürlich Bitte, Gebot und Verbot, Rat und Warnung, Aufmunterung, auch
Konzession und Ablehnung oder Verbitten enthalten. Es bedarf keiner Beispiele dafür, dass für alles dies der gleiche
sprachliche Ausdruck angewendet werden kann, und dass die verschiedenen Nuancen dann nur an dem
verschiedenen Gefühlstone erkannt werden. Wir müssen daran aber auch noch die Wunschsätze anknüpfen. Man
kann einen Wunsch aussprechen in der Erwartung, dass das Aussprechen einen Einfluss auf seine Realisierung hat,
dann ist er eben eine Aufforderung; man kann ihn aber auch ohne eine solche Erwartung aussprechen. Das ist ein
Unterschied, der von dem naiven Bewusstsein des Kindes und des Naturmenschen noch nicht oder wenigstens nicht
immer beachtet wird. Der Dichtersprache und selbst der naturwüchsigen Umgangssprache ist es noch heute geläufig
blosse Wünsche zu Aufforderungen zu steigern und durch den Imperativ auszudrücken. Noch mehr berühren sich
Wunsch und Aufforderung in konjunktivischen oder optativischen Ausdrucksformen.

Wir sind jetzt gewohnt den Aussagesatz als den eigentlich normalen Satz zu fassen. Der Aufforderungssatz ist aber
ebenso ursprünglich, wo nicht gar älter. Die frühesten Sätze, die von Kindern gesprochen werden (die allerfrühesten
bestehen natürlich aus einem einzigen Worte), haben eine Beziehung zu ihren Begierden, sind entweder

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Forderungen oder Aussagen, die gemacht werden, um ein Bedürfnis anzudeuten, das Befriedigung verlangt. Es darf
angenommen werden, dass es sich auf der frühesten Stufe der Sprachentwickelung eben so verhalten hat. Es
bedurfte daher ursprünglich auch zur Charakterisierung des Aufforderungssatzes keines besonderen sprachlichen
Mittels, die einfache Nebeneinanderstellung von Subjekt und Prädikat genügte hier eben so gut wie für den
Aussagesatz, nur der Empfindungston liess den Unterschied erkennen. Noch heute bedienen wir uns ja solcher
Aufforderungssätze in Masse, in denen die Aufforderung nicht als solche charakterisiert ist. Es sind dies die Sätze
ohne Verb. , vgl. Augen rechts, Gewehr auf, Hut ab, hierher, alle Mann an Bord, Scherz bei Seite, aller Anfang mit
Gott, Auge um Auge, die Alten zum Rat, die Jungen zur Tat, Preis dir, Friede seiner Asche, dem Verdienste seine
Kronen, Untergang der Lügenbrut, jedem das Seine, fort mit ihm, her damit etc.; ferner dem sprachlichen
Ausdrucke nach eingliedrige Sätze, bei denen als Subj. die 2. Pers. im Sg. oder Pl. hinzuzudenken ist, wie still,
hurtig, laut, sachte, Wein, Freiheit und Gleichheit, Schritt, Marsch, Platz, Vorsicht, her, weg, hinaus, vorwärts, auf,
zu, an die Arbeit, zum Henker etc. In dieser primitiven Form erscheinen gerade Aufforderungssätze, während sie für
Aussagesätze in der Regel nicht anwendbar ist. Aus diesem negativen Umstande entspringt nun allerdings die Folge,
[135 Aufforderungssätze. Fragesätze.] dass diese Sätze für uns sofort als Aufforderungen zu erkennen sind. Doch
gibt es immer noch Fälle, die zweideutig sind, vgl. Feuer als Alarmruf und Feuer als Kommando.

Auch statt einer bestimmten charakteristischen Form der Verbums kann eine an sich unbestimmte zur Aufforderung
verwendet werden. So das Part. perf., vgl. Rosen auf den Weg gestreut, alles Harms vergessen (Hölty); in die Welt,
in die Freiheit gezogen (Schi.). Häufiger der Inf., vgl. absitzen, Schritt fahren u. dergl.; im It. ist der Inf. üblich nach
Negationen: non ti cruciare; desgleichen im Rum., Prov. und Afranz. (vgl. Diez III, 212). Jolly (Geschichte des Inf.
S. 158. 209) will diese Infinitive aus der ursprünglichen dativischen Funktion des Infinitivs erklären. Eine solche
Erklärung muss allerdings für den imperativischen Inf. im Griech. als zulässig anerkannt werden. Aber der
Gebrauch im Deutschen und Romanischen ist jungen Ursprungs und darf nicht an indogermanische Verhältnisse
angeknüpft werden, für die das Bewusstsein dem Sprachgefühle längst abhanden gekommen war. Für die Epoche, in
welcher dieser Gebrauch sich gebildet hat, ist der Inf. nichts anderes als die Bezeichnung des Verbalbegriffes an
sich, und diese Infinitivsätze sind daher mit Sätzen wie Marsch auf eine Linie zu stellen. Bemerkenswert ist, dass
auch die 2. Sg. des indogermanischen Imperativs den reinen Tempusstamm zeigt (griech. lége).

§ 94. Den Behauptungs- und Aufforderungssätzen stellt man als eine dritte Klasse die Fragesätze[19]) zur Seite. Es
lässt sich aber für eine solche Dreiteilung der Sätze kein einheitliches Prinzip finden, und diese drei Klassen können
nicht einander koordiniert werden. Vielmehr müssen wir eine zwiefache Art von Zweiteilung annehmen. Nicht bloss
die Behauptungs-, sondern auch die Aufforderungssätze haben ihr Pendant in Fragesätzen, vgl. lat. quid faciam
gegen quid facio. Man gebraucht dafür den Ausdruck deliberative Fragen. Wir könnten sie geradezu als
Frageaufforderungssätze bezeichnen.
Von den beiden Hauptarten der Frage ist diejenige, in welcher nur ein Satzglied in Frage gestellt wird, jedenfalls
jüngeren Ursprungs als diejenige, in welcher der ganze Satz in Frage gestellt wird.[20]) Denn [136 Sechstes Kapitel.
Die syntaktischen Grundverhältnisse.] zu der ersteren bedarf es eines besonderen Fragepronomens, respektive -
adverbiums, welches die letztere nicht nötig hat. Das Interrogativum ist in den indogermanischen Sprachen zugleich
Indefinitum. Es gibt meines Wissens kein Kriterium, woran sich erkennen liesse, welche von diesen beiden
Funktionen die ursprüngliche ist. Sich die letztere aus der ersteren entstanden zu denken macht keine Schwierigkeit.
Aber auch das Umgekehrte wäre denkbar, und dann hätten wir einen Weg aus der älteren Art des Fragesatzes in die
jüngere. Auf die Frage ist jemand da? kann man antworten (ja,) der Vater oder (nein,) niemand. Denken wir uns
nun die besondere Fragestellung hinweg, an die wir jetzt gebunden sind, also jemand ist da?, so liegt die Berührung
mit wer ist da? auf der Hand. Noch näher stehen Fragen mit Interrogativum solchen mit Indefinitum da, wo eine
negative Antwort als selbstverständlich erwartet wird, vgl. wer wird das tun? - wird das jemand tun?, was kann ich
antworten? - kann ich etwas antworten? wo ist ein solcher Mensch zu finden? - ist irgendwo ein solcher Mensch zu
finden?

Die Frage, auf welche man als Antwort ja oder nein erwartet, wird in manchen Sprachen durch eine besondere
Partikel, in den germanischen und romanischen Sprachen durch die Wortstellung charakterisiert. Die fragende
Wortstellung ist aber nicht von Anfang an auf den Fragesatz beschränkt gewesen. Wir finden sie z. B. im Ahd., Alts.
und Ags. häufig im Behauptungssatz, vgl. verit denne stuatago in lant, holoda inan truhtîn etc. Die Frage war
demnach an der Stellung allein nicht zu erkennen, und erst der fragende Ton war das entscheidende Merkmal,
wodurch sie sich von der Behauptung schied. Wir haben noch jetzt Fragen, bei denen dieser Ton das einzige
Charakteristikum ist, nämlich diejenigen, welche kein Verbum enthalten, vgl. niemand da? fertig? ein Glas Bier?
(als Frage des Kellners); franz. votre désir? Wir können uns daher leicht eine Vorstellung davon machen, dass es
schon lange Fragesätze gegeben haben kann, ehe irgend ein anderes charakterisierendes Mittel dafür gefunden war
als der fragende Ton. Die Frage ist daher schon auf ganz primitiver Stufe möglich, wenn auch natürlich jünger als
Behauptung und Aufforderung.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Die reine Frage liegt gewissermassen in der Mitte zwischen positiver und negativer Behauptung. Sie verhält sich
neutral. Es kann an und für sich keinen Unterschied machen, ob man sie in eine positive oder negative Form kleidet,
nur dass eben deswegen die positive [137 Fragesätze.] Form als das Einfachere vorgezogen wird und die negative
die Funktion erhält eine Modifikation der reinen Frage auszudrücken.

Es gibt nämlich verschiedene derartige Modifikationen, wodurch die Frage mehr oder weniger dem Charakter des
Behauptungssatzes angenähert werden kann. So wird sie zur zweifelnden Behauptung, bei der man also schon zu
einer bestimmten Annahme geneigt ist und nur noch eine letzte Bestätigung durch einen anderen erwartet. In diesem
Falle tritt die negative Frageform ein bei Erwartung einer positiven Antwort: warst du nicht auch dabei? ich glaubte
dich zu sehen. Es macht für den Sinn keinen wesentlichen Unterschied, wenn man statt dessen die Form des
positiven Behauptungssatzes mit Frageton anwendet: du warst auch dabei? du bist (doch) zufrieden? Man kann also
von beiden Seiten her zu dieser Zwischenstufe gelangen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Ausdruck der Verwunderung. Die Verwunderung ist die subjektive Unfähigkeit
eine Vorstellungsmasse durch eine andere zu apperzipieren trotz einer von aussen, sei es durch eigene
Wahrnehmung, sei es durch Angabe eines andern, gegebenen Anforderung. Hierfür können wir wieder entweder die
Frageform anwenden oder Behauptungsform mit Frageton: ist Franz tot? - Franz ist tot?, bist du schon wieder da? -
du bist schon wieder da? Neutral in dieser Hinsicht sind die Sätze ohne Verbum: du mein Bruder? mir das? schon
da? so früh?, ebenso die infinitivischen: so ein Schelm zu sein? Es kommen auch Ausdrücke der Verwunderung vor,
bei denen das psychologische Subjekt und Prädikat durch und verbunden sind: so jung und schon so verderbt? a
maid and be so martial? (Shaksp.). Abgeschwächt wird der Ausdruck der Verwunderung zu einer blossen
Einleitungsformel für ein Gespräch, vgl. ausgeschlafen? so vergnügt? noch immer bei der Arbeit? u. dergl.

Ein spezieller Fall ist die verwunderte oder entrüstete Abweisung einer Behauptung. Hierfür ist die primitive
Ausdrucksform ohne Verb. finitum besonders beliebt: ich ein Lügner? er und bezahlen? lat. ego lanista? (Cic.),
franz. moi vous abandonner? it. io dir bugie? engl. she ask my pardon? how? not know the friend that served you?
Auch die entrüstete Abweisung einer Zumutung kommt vor, vgl. ich dich ehren? (Goe.), what? I love! I sue! I seek
a wife (Shak.) Solche Sätze müssten wohl den Frageaufforderungen zugerechnet werden.

Die Veranlassung zur Frage ist natürlich ursprünglich ein Bedürfnis des Fragenden. Es gibt aber auch Fragen
(jedenfalls jüngeren Ursprungs), bei denen der Fragesteller über die Antwort, welche darauf gehört, nicht in Zweifel
ist und nur den Angeredeten veranlassen will diese Antwort selbständig zu finden. Hierher gehören die
pädagogischen Fragen. Tritt eine Andeutung darüber hinzu, welche Beantwortung [138 Sechstes Kapitel. Die
syntaktischen Grundverhältnisse.] der Fragende erwartet, so haben wir die Art, welche man gewöhnlich mit dem
unbestimmten Namen rhetorische Fragen bezeichnet. Man nötigt dadurch den Angeredeten eine Wahrheit aus
eigener Überlegung heraus anzuerkennen, wodurch sie ihm energischer zu Gemüte geführt wird, als wenn sie ihm
bloss von aussen mitgeteilt würde. Nichts anderes eigentlich als rhetorische Fragen sind auch die sogenannten
Ausrufungssätze von der Form wie schön ist sie!

§ 95. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat in dem § 87 bezeichneten weiten Sinne ist das Verhältnis, aus dem
die übrigen syntaktischen Verhältnisse entspringen mit einer einzigen Ausnahme, nämlich der kopulativen
Verbindung mehrerer Elemente zu einem Satzgliede. Diese Verbindung kann in den entwickelten Sprachen durch
eine Partikel bezeichnet werden, es genügt aber vielfach noch die blosse Aneinanderreihung, weshalb es uns nicht
wunder nehmen kann, dass man im Anfang jeden besondern sprachlichen Ausdruck für die Kopulation entbehren
konnte.

§ 96. Jede andere Art der Satzerweiterung geschieht dadurch, dass das Verhältnis von Subjekt und Prädikat
mehrmals auftritt. Wir können zwei Grundformen des auf diese Weise erweiterten Satzes unterscheiden. Die erste
besteht darin, dass zwei Subjekte zu einem Prädikate oder zwei Prädikate zu einem Subjekte treten. Ist dabei das
Verhältnis der beiden Subjekte zu dem gemeinsamen Prädikate oder das der beiden Prädikate zu dem gemeinsamen
Subjekte völlig gleich, so lässt sich ein solcher dreigliedriger Satz ohne wesentliche Veränderung des Sinnes mit
einem zweigliedrigen vertauschen, dessen eines Glied eine kopulative Verbindung ist. Daraus ergeben sich
Berührungspunkte und Vermischungen zwischen diesen beiden Satzarten. Am reinsten erscheint die Doppelheit
eines Satzgliedes von der kopulativen Verbindung zu einem Gliede gesondert, wenn das Satzgliederpaar ein ihm
gemeinsam zugehöriges Glied in die Mitte nimmt ohne Anwendung einer kopulativen Partikel, also bei der
sogenannten Konstruktion apò koinoû, wie sie im Mhd. ziemlich häufig ist, vgl. dô spranc von dem gesidele her
Hagene alsô sprach. Sagen wir dagegen da sprang vom Sitze Hagen und sprach so, so haben wir schon eine
Übergangsstufe von doppeltem Prädikate zu einem zusammengesetzten. Dass aber noch keine wirkliche
Zusammenfassung der beiden Prädikate stattfindet, beweist der bei doppeltem Subj. ausnahmslose Sing. des
Prädikats (der Mann ist tot und die Frau). In der älteren Sprache macht sich die Zusammenfassung geltend, wenn

76
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

hinterher noch ein weiteres Prädikat angefügt wird, vgl. Petrus aber antwortete und die Apostel und sprachen (Lu.),
wo wir jetzt auch ein neues Subj. setzen müssen. Viel schwankender ist das Sprachgefühl, wenn keine Trennung
[139 Sätze mit doppeltem Subjekt oder Prädikat.] durch einen Einschub stattfindet. Dann ist es ebensowohl möglich
mehrere Glieder anzunehmen, die eins nach dem anderen mit den übrigen Elementen des Satzes verknüpft werden,
wie ein zusammengesetztes, welches auf einmal angeknüpft wird. Die erstere Auffassung liegt weniger nahe, wenn
das Satzgliederpaar an die Spitze, als wenn es an das Ende gestellt wird. Das Schwanken des Sprachgefühls
bekundet sich darin, dass bei einer Mehrheit von Subjekten, von denen wenigstens das zunächststehende ein Sing.
ist, das Präd. sowohl im Plur. als im Sing. stehen kann. Bei Nachstellung des Prädikats müssen wir allerdings jetzt
den Plur. setzen, aber im Lat. ist auch der Sing. üblich, vgl. Speusippus et Xenocrates et Polemo et Crantor nihil ab
Aristotele dissentit (Cic.); consules, praetores, tribuni plebis, senatus, Italia cuncta semper a vobis deprecata est
(Cic.); filia atque unus e filiis captus est (Caes.); selbst et ego et Cicero meus flagitabit (Atticus). Ebenso it.: le ric-
chezze, gli honori e la virtù è stimata grande; franz. le fer, le bandeau, la flamme est toute prête (Racine); so auch
im älteren Nhd. Wolken und Dunkel ist um ihn her (Lu.); dass ihre Steine und Kalk zugerichtet würde (ib.).

§ 97. Von zwei Prädikaten, die zu einem Subjekte treten, kann aber auch das eine dem andern untergeordnet werden,
und dadurch verwandelt sich das erstere in eine Bestimmung des Subj., wobei aus dem dreigliedrigen Satze ein
zweigliedriger wird. Jetzt dienen uns als Bestimmung des Subj. vornehmlich substantivische und adjektivische
Attribute und Genitive von Substantiven, aber auch durch Präpositionen angeknüpfte Substantiva und Adverbia. Mit
Hilfe dieser verschiedenen Bezeichnungsweisen ist es möglich die Verschiedenheit des logischen Verhältnisses
zwischen dem Bestimmenden und dem Bestimmten bis zu einem gewissen Grade auch sprachlich auszudrücken.
Eine Sprache, die noch keine Flexion und keine Verbindungswörter ausgebildet hat, ist dazu nicht im Stande. Sie hat
wieder kein anderes Mittel als die blosse Nebeneinanderstellung des bestimmten und des bestimmenden Wortes.
[21]) Dass die dem Subj. beigegebene Bestimmung nicht Prädikat ist, kann sich dann, falls nicht etwa schon eine
feste Wortstellung ausgebildet ist, nur daraus ergeben, dass noch ein drittes Wort vorhanden ist, welches durch eine
stärkere Betonung und etwa durch eine kleine Pause von den beiden Wörtern, die zusammen das Subjekt bilden,
abgehoben wird. Das Verhältnis des bestimmenden Elementes zu dem bestimmten ist dem des Prädikats zum
Subjekt in der Weite, wie wir es oben gefasst haben, analog. Und wirklich ist die [140 Sechstes Kapitel. Die
syntaktischen Grundverhältnisse.] Bestimmung nichts anderes als ein degradiertes Prädikat, welches nicht um
seiner selbst willen ausgesprochen wird, sondern nur, damit dem Subj. (Obj.) nun ein weiteres Präd. beigelegt
werden kann. Die Bestimmung des Subjekts hat also ihren Ursprung in Sätzen mit Doppelprädikat.
Die Herabdrückung des Prädikats zu einer blossen Bestimmung können wir uns am besten an denjenigen Fällen
klar machen, in denen ein Verbum finitum davon betroffen ist. Wir haben es dabei mit einem Prozess zu tun, der
sich spontan in verschiedenen Sprachen und Epochen vollzogen hat und zum Teil noch geschichtlich verfolgbar ist.
Den Ausgang bildet die oben § 96 besprochene Konstruktion apò koinoû. Dabei kann es geschehen dass das eine der
beiden Prädikate sich logisch dem andern unterordnet, so dass es durch einen Relativsatz ersetzbar wird.[ 22]) So
zuweilen im Ahd. und Mhd., vgl. mit zühten si ze hûse bat ein frouwe saz darinne (= eine Dame, die darin ihren
Wohnsitz hatte), wer was ein man lac vorme Grâl? (= der vor dem Grale lag), die worhte ein smit hiez Volcân (mit
Namen Vulcan); nist man, thoh er uuolle, thaz gumisgi al irzelle (es gibt keinen Menschen, der, wenn er auch
wollte, die Menschenmenge ganz zählen könnte). Es kann auch ein vom Hauptverbum abhängiger Kasus zugleich
als Subjekt des Nebenverbums dienen: von einem slangen was gebunden (Überschrift einer Fabel von Boner); ich
hab ein sünt ist wider euch (H. Sachs); dar inne sach er glitzen von kolen rot ein glut wart auf sein fallen (die auf
sein Fallen wartete, id.). Die Konstruktion wird gegen den Ausgang des Mittelalters häufiger als früher. Eine viel
grössere Ausdehnung hat der entsprechende Gebrauch im Englischen, Schwedischen und Dänischen gewonnen.
Beispiele aus Shakespeare: there is a devil haunts thee, it is thy [141 Entstehung und Funktion der adnominalen Bes-
timmung.] sovereign speaks to thee, here are some will thank you, I have a mind presages me, it is not you I call for.

In den bisher angeführten Beispielen stand das gemeinsame Glied in der Mitte. Es kommen im Ahd. auch Fälle vor,
in denen es an der Spitze steht oder zwischen das erste Prädikat und seine Bestimmungen eingeschoben ist. Es kann
dabei als Subjekt oder Objekt oder als sonstige adverbiale Bestimmung dienen; es braucht auch nicht zu beiden
Prädikaten das gleiche Verhältnis zu haben. Hierher gehören aus Otfrid mit Unterordnung des zweiten Prädikats
Fälle wie uuer ist thes hiar thenke (wer ist, der das hier denken sollte); nist man nihein in uuorolti thaz saman al
irsageti (es gibt keinen Menschen in der Welt, der das alles zusammen sagen könnte). Das erste Prädikat ist
untergeordnet in folgendem Falle: in selben uuorton er then man thô then êriston giuuan sô uuard er hiar fon
thesemo firdamnot (mit denselben Worten, mit denen er den ersten Mann überwand, ward er hier von diesem
verdammt). Dabei nimmt sô das in selben uuorton noch einmal auf, wie es jeden beliebigen Satzteil aufnehmen
kann. In einem anderen Falle ist der gemeinsame Satzteil durch ein Pron. aufgenommen: allo uuîhi in uuorolti thir
gotes boto sageti, sie quement sô gimeinit ubar thîn houbit.

77
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Am häufigsten ist im Ahd. das apò koinoû im allgemeinen, namentlich negierten Satze mit konjunktivischem
Nebenverbum. Diese Art kennen auch die romanischen Sprachen,[23]) vgl. ait. non vi rimasse un sol non lacrimassi
(es blieb da niemand zurück der nicht geweint hätte); prov. una non sai vas vos non si' aclina (ich weiss keine, die
nicht euch geneigt ist), anc non vi dona tan mi plagues (niemals habe ich eine Dame gesehen, die mir so gefallen
hätte); afranz. or n'a baron ne li envoit son fil (es gibt keinen Baron, der ihm nicht seinen Sohn schickte).
Überblickt man unbefangen die Überlieferung, so wird man die Ansicht nicht aufrecht erhalten können, dass diese
Konstruktion überall, wo sie vorkommt, auf Tradition von der indogermanischen Grundsprache her beruhe, es ist
vielmehr wahrscheinlich, dass sie sich auch in späteren Epochen spontan erzeugt hat, wiewohl schon andere
vollkommenere Ausdrucksformen ausgebildet waren. Ausserhalb des Idg. findet sie sich z. B. im Arabischen, wo
man sich so ausdrückt: ich ging vorüber bei einem Manne schlief, vgl. Steinthal, Haupttyp. 267; ähnlich in andern
nichtindogermanischen Sprachen.[24])

Wenn so das Verb. finitum zur Geltung einer attributiven Bestimmung herabgedrückt werden konnte, wie viel mehr
ein Prädikat, [142 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen Grundverhältnisse.] welches noch keinerlei Kennzeichen
verbalen Charakters an sich hatte. Der Ursprung des attributiven Verhältnisses liegt somit klar zu Tage.

In Bezug auf die Funktion der Bestimmung müssen gewisse Unterschiede hervorgehoben werden, die gewöhnlich
keinen sprachlichen Ausdruck finden, die aber nichtsdestoweniger logisch sehr bedeutsam sind. Die Bestimmung
braucht den Bedeutungsumfang, welchen das als Subj. fungierende Wort an sich oder nach einer anderweitig bereits
gegebenen Begrenzung hat, nicht zu alterieren, indem sie diesem ganzen Umfange zukommt: vgl. der sterbliche
Mensch, der allmächtige Gott, das starre Eis; es kann aber auch, indem sie nur einem Teile von dem zukommt, was
in der usuellen oder bereits durch andere Mittel spezialisierten Bedeutung des betreffenden Wortes enthalten ist,
dieselbe individuell verengern: vgl. alte Häuser, ein altes Haus, ein (der) Sohn des Königs, die Fahrt nach Paris,
Karl der Grosse; ebenso das alte Haus, insofern es in Gegensatz zu einem neuen gestellt wird, wogegen diese
Verbindung nicht hierher gehört, wenn schon ohne das Beiwort feststeht, welches Haus gemeint ist. In den Fällen,
welche unter die zweite Kategorie gehören, ist die Bestimmung unentbehrlich, weil ohne sie das Prädikat nicht
gültig ist. In der ersten Kategorie sind noch folgende Unterscheidungen von Belang. Erstens: die Bestimmung kann
als eine dem Begriffe, welchem sie beigefügt wird, zukommende schon bekannt sein, wie dies bei der Wiederholung
der stehenden Beiwörter in der epischen Sprache der Fall ist, oder es kann durch die Bestimmung etwas Neues
mitgeteilt werden. Im letzteren Falle hat die Bestimmung eine grössere Selbständigkeit, nähert sich dem Werte eines
wahren Prädikates. Wir ziehen in diesem Falle häufig Umschreibung durch einen Relativsatz vor: Karl, welcher arm
war, Ludwig, der ein geschickter Maler war. Zweitens: die Bestimmung braucht gar keine Beziehung zum Prädikat
zu haben, sie kann aber auch in Kausalbeziehung zu demselben stehen, z. B. der grausame Mann achtete nicht auf
das Flehen des Unglücklichen.

Wir haben die Bestimmung als ein abgeschwächtes Präd. aufgefasst. Es gibt nun eine Zwischenstufe, auf welcher
die Bestimmung noch eine grössere Selbständigkeit hat, noch nicht so eng mit dem Subj. verbunden ist, weshalb es
angemessener ist sie als ein besonderes Satzglied anzuerkennen. Hierher gehört, was man gewöhnlich prädikatives
Attribut nennt, z. B. er kam gesund an. Aber auch präpositionelle Bestimmungen können in dem nämlichen
logischen Verhältnisse stehen, z. B. er bat mich auf den Knieen, wofür man ein knieend einsetzen könnte. Loser ist
das Verhältnis des prädikativen Attributes zum Subj. deshalb, weil es nicht eine demselben notwendig und dauernd
anhaftende Eigenschaft, sondern einen zufälligen und vorübergehenden Zustand [143 Grundformen des erweiterten
Satzes. Komplizierungen.] bezeichnet. Es kann daher als ein selbständiges Glied neben Subj. und Präd. betrachtet
werden. Die Selbständigkeit bekundet sich in den meisten Sprachen durch die freiere Wortstellung gegenüber der
gebundenen des reinen Attributs. Im Nhd. hat die nähere Verwandtschaft mit dem Prädikate noch darin ihren
Ausdruck gefunden, dass wie für dieses die unflektierte Form des Adj. gebraucht wird.

Nachdem einmal die Kategorie der Bestimmung sich für das Subj. aus dem Präd. entwickelt hatte, wurde es möglich
nach dieser Analogie auch dem Präd. und weiterhin, nachdem sich die Kategorie des Obj. entwickelt hatte, auch
diesem eine Bestimmung beizugeben. So wurzelt die spätere adnominale Bestimmung durchaus in der
Subjektsbestimmung.

§ 98. Eine zweite Grundform des erweiterten Satzes ist dadurch entstanden, dass sich ein drittes Glied
angeschlossen hat, das im Prädikatsverhältnis steht nicht zum Subj. des einfachen Satzes wie in den behandelten
Fällen, sondern zum Prädikat desselben, welches also ihm gegenüber im Subjektsverhältnis steht. Wir nehmen
natürlich auch hier wieder Subj. und Präd. in dem oben bestimmten weiten psychologischen Sinne. Aus diesem
dritten Gliede sind die verschiedenen adverbialen Bestimmungen entsprungen, also auch das Objekt im engeren
und weiteren Sinne. Es erklärt sich aus diesem Ursprunge, dass auf die adverbialen Bestimmungen gewöhnlich als
auf das eigentliche Hauptprädikat im psychologischen Sinne der stärkste Ton fällt, und dass sie im allgemeinen in
einem loseren Verhältnis zum Verb. stehen als die adnominalen zu ihrem Nomen. Allerdings kann auch bei den

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

ersteren nach Analogie der letzteren der Anschluss ein engerer werden.

§ 99. Nachdem einmal die adverbialen und adnominalen Bestimmungen sich als besondere Kategorieen aus
ursprünglichen Prädikaten herausgebildet haben, ist eine weitere Komplizierung des Satzes möglich, indem eine
schon aus einem bestimmten und einem bestimmenden Elemente bestehende Verbindung wieder durch ein neues
Element bestimmt werden oder ihrerseits als Bestimmung dienen kann, und indem ferner mehrere bestimmende
Elemente zu einem bestimmten oder mehrere bestimmte zu einem bestimmenden treten können, gerade so wie
mehrere Subjekte zu einem Prädikate oder mehrere Prädikate zu einem Subjekte. Beispiele: 1. alle guten Geister,
Müllers älteste Tochter, er gerät leicht in Zorn (zu konstruieren gerät in Zorn + leicht); - 2. sehr gute Kinder, alles
opfernde Liebe, er spricht sehr gut; - 3. trübes, regnerisches (trübes und regnerisches) Wetter, er tanzt leicht und
zierlich; - 4. Karls Hut und Stock, er schilt und schlägt sein Weib.

Die zuerst aufgeführte Verbindungsweise pflegt man als das Verhältnis der Einschliessung zu bezeichnen. Sie ist
nicht immer von der dritten scharf zu sondern. Sage ich z. B. grosse runde Hüte, so [144 Sechstes Kapitel. Die
syntaktischen Grundverhältnisse.] macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob wir diese Verbindung als 1 oder 3
konstruieren. Im Nhd. bietet da, wo zwei Adjektiva zusammentreffen, der Gebrauch der starken oder schwachen
Form ein Mittel das Verhältnis der Beiordnung und das der Einschliessung von einander zu scheiden, ein Mittel,
welches freilich da im Stiche lässt, wo beide Formen lautlich zusammengefallen sind. Aber die Schwierigkeit einer
korrekten Aufrechterhaltung der Unterscheidung zeigt sich in vielen Verstössen der Schriftsteller gegen die Regel
der Grammatik, vgl. die Beispiele bei Andr. Sprachg. S. 38ff.

Konstruktion 3 und 4 lassen im Grunde eine doppelte Auffassung zu. Sie können entweder, wie oben zunächst
angegeben ist, als apò koinoû gefasst werden oder als Zusammenfügung eines Elementes mit zwei zu einer Einheit
kopulativ verbundenen Elementen. Daher zeigt sich bei 4 in den Sprachen, welche grammatische Kongruenz
entwickelt haben, das nämliche Schwanken in der Form des Attributs, wie wir es § 96 in der Form des Prädikats
gefunden haben. Vgl. einerseits franz. le bonheur et le courage constants, la langue et la littérature françaises; lat.
Gai et Appii Claudiorum; anderseits franz. la fille et la mère offensée (Racine); lat. Tiberius et Gajus Gracchus, et
tribunis et plebe incitata in patres (Livius). Aber nicht alle Fälle von derselben grammatischen Form sind in dieser
Weise zweideutig. In den angeführten Fällen bezeichnet jedes von den beiden Substantiven eine selbständige
Substanz. Es kann aber auch sein, dass durch die Verknüpfung nur zwei verschiedene Seiten desselben
Gegenstandes bezeichnet werden, z. B. mein Oheim und Pflegevater. Hier dürfen wir, wo die Verbindung als Subj.
oder Obj. erscheint, nur konstruieren mein + Oheim und Pflegevater. Wo jedes Wort einen besonderen Gegenstand
bezeichnet, zieht man es jetzt im Deutschen, wenigstens bei Singularen vor auch jedem sein besonderes Attribut zu
geben. Mein Oheim und mein Pflegevater bedeutet somit etwas anderes als mein Oheim und Pflegevater. Nur dann
können wir die erste Verbindung auf eine Person beziehen, wenn sie ausdrücklich in Beziehung auf eine solche
gesetzt ist als Prädikat oder als Attribut oder endlich als Anrede. Es erscheint jedoch auch umgekehrt, wiewohl von
den Grammatikern verpönt, häufig die einfache Setzung des Attributs neben mehreren Substantiven, die jedes einen
besonderen Gegenstand bezeichnen, vgl. die massenhaften Beispiele bei Andr. Sprachg. S. 125ff., dazu auch meine
Deutsche Grammatik IV, § 180. So hat Lessing geschrieben über die Grenzen der Malerei und Poesie, Goethe in
einem Briefe das Unverhältnis Ihres jetzigen und vorigen Zustandes.

§ 100. Wir haben im Vorhergehenden schon die Grenzen des sogenannten einfachen Satzes überschritten und in das
Gebiet des [145 Hypotaxe von Sätzen.] zusammengesetzten hinübergegriffen. Es zeigt sich eben bei wirklich
historischer und psychologischer Betrachtung, dass diese Scheidung gar nicht aufrecht erhalten werden kann. Sie
beruht auf der Voraussetzung, dass das Vorhandensein eines Verb. fin. das eigentliche Charakteristikum des Satzes
sei, einer Ansicht, die auf viele Sprachen und Epochen gar nicht anwendbar ist, für keine ganz zutrifft. Wo die
deutliche Ausprägung eines Verb. fin. fehlt, fällt auch die Scheidung zwischen einfachem und zusammengesetztem
Satze in dem gewöhnlichen Sinne fort. Der sogenannte zusammengesetzte und der sogenannte erweiterte Satz sind
daher ihrem Grundwesen nach vollkommen das nämliche. Es ist deshalb auch eine irrige Ansicht, dass die
Herabdrückung eines Satzes zum Satzgliede, die sogenannte Hypotaxe, sich erst auf einer späten Sprachstufe
entwickelt habe. Das Bestehen des erweiterten Satzes, das auch den primitivsten Sprachen nicht fehlt, setzt ja diese
Herabdrückung als vollzogen voraus. Irrtümlich ist ferner die gewöhnliche Ansicht, dass die Hypotaxe durchgängig
aus der Parataxe entstanden sei. Man könnte mit demselben Rechte behaupten, dass die Gliederung eines Satzes in
Subj. und Präd. aus der kopulativen Verbindung zweier Wörter entstanden sei. Diese Ansicht hat sich deshalb bilden
können, weil die älteste Art der Hypotaxe allerdings einer besonderen grammatischen Bezeichnung entbehrt und
bloss eine logisch-psychologische ist. Eine solche logische Unterordnung aber als Beiordnung zu bezeichnen ist
durchaus inkorrekt.

Ein wichtiger Schritt zur Erzeugung komplizierterer Gebilde war, dass das Objektsverhältnis auf einen Satz
übertragen wurde. Sehr häufig werden noch jetzt im Dentschen und ebenso in anderen Sprachen, die schon einen

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

reich entwickelten Satzbau haben, Verbindungen, welche sich in der Form nicht vom Hauptsatze unterscheiden, als
Objekte gebraucht. Hierher gehört die oratio directa. Hierher gehören ferner Sätze wie ich behaupte, er ist ein
Lügner; ich glaube, du rasest; ich sehe, du zitterst; bedenke, es ist gefährlich. Auch Aufforderungen und Fragen
werden in das nämliche Abhängigkeitsverhältnis gestellt: ich bitte dich (bitte), gib es mir; vgl. lat. quaeso cogita ac
delibera; sage, hast du ihn gesehen; sprich, was bekümmert dich; vgl. lat. videte, quantae res his testimoniis sunt
confectae (Cic.); quaero de te, qui possunt esse beati (Cic.); responde, quis me vendit (Plaut.). Seltener ausser neben
dem Passivum begegnen derartige Subjekte: besser ist, du lässt es bleiben; das macht, sie ist sehr mannigfaltig
(Le.).

In allen diesen Fällen haben allerdings die Subjekts- und Objektssätze zugleich eine gewisse Selbständigkeit, und
ohne dass ihnen eine selbständige Geltung beigelegt wird, können sie abgesehen von der oratio directa nicht
gebraucht werden. Wir können z. B. nicht [Paul, Prinzipien.] [146 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen
Grundverhältnisse.] sagen ich glaubte, du bist krank und eben so wenig ich glaubte, du warst krank. Es folgt aber
aus dieser beschränkten Selbständigkeit nicht, dass das Verhältnis zum Hauptverbum ursprünglich parataktisch ist,
sondern in Bezug auf das Hauptverbum besteht entschiedene Hypotaxe und Selbständigkeit nur, insofern von dem
Vorhandensein desselben abgesehen wird. Die Selbständigkeit ist eine grössere, wenn der regierende Satz
nachgestellt oder eingeschoben wird, da dann die Abhängigkeit erst nachträglich bemerkt wird; vgl. er ist ein
Lügner, glaube ich oder er ist, glaube ich, ein Lügner; lat. quid ulli locuti inter se? dic mihi (Plaut.); signi, dic, quid
est? (Plaut.). Im Falle der Einschiebung sind unsere Grammatiker sogar geneigt, vielmehr den eingeschobenen Satz
für den untergeordneten zu halten, und sie könnten sich darauf berufen, dass ein glaube ich ungefähr so viel ist wie
ein wie ich glaube oder meiner Meinung nach oder meines Bedünkens. Im älteren Nhd. ist es ganz üblich einen Satz
zunächst selbständig hinzustellen und ihn dann doch zugleich zum Subj. oder Obj. eines nachfolgenden Satzes zu
machen. Vgl. folgende Beispiele aus Hans Sachs: ein evolk dreissig jar fritlich lebet, verdross den teufel gar; der
frauen wart sein hab vnd gut, geschach nach Christi geburt zware vierhundert vnd auch funfzig jare; des wirt ein
böse letz der lon, deut der schwanz von dem scorpion; das betrübt weib sich selbst erstach vnd nam ein kleglich end,
beschreibt Boccatius; darum jm jedermann wol sprach, tut Plutarchus beweisen. Hier die Ellipse eines das
anzunehmen, wäre durchaus ungerechtfertigt.

Aus der Vereinigung von Selbständigkeit und Abhängigkeit erklärt sich auch der Personengebrauch in derartigen
Sätzen, z. B. er denkt, er hat was Rechtes getan statt ich habe, also nach dem Standpunkte des Sprechenden, nicht
nach dem Standpunkte dessen, dem man den Gedanken zuschreibt; ebenso glaube mir, du bist im Irrtume; er meint,
er kann dich betrügen.

Es kommt auch vor, dass man trotz der logischen Abhängigkeit die ausgeprägte Form der Parataxe wählt. So
allgemein in der Verbindung sei so gut und tue das. Vgl. bei H. Sachs ir seidt gewonet alle zwen vnd tragt mit euch
was nit wil gehn. Andere Beispiele Andr. Sprachg. S. 140, Behaghel ZfdWf. VI, 366 und DWb. unter gedenken II 4
f b; englische bei Storm, Engl. Phil. I, 218.

Die indirekte Rede im Deutschen muss jetzt als etwas grammatisch Abhängiges betrachtet werden, und das
Kennzeichen der Abhängigkeit dabei ist der Konjunktiv. Sehen wir aber auf den Ursprung der Konstruktion, so ist
es klar, dass hier gleichfalls ein Zwitterding zwischen logischer Abhängigkeit und logischer Selbständigkeit zu
Grunde liegt. Eine Konstruktion wie er meint, er könne dich betrügen [147 Hypotaxe und Parataxe von Sätzen.]
verhielt sich ursprünglich nicht anders als das oben angeführte er meint er kann dich betrügen, nur dass die
Behauptung mit geringerer Sicherheit hingestellt und deshalb der Konj. (Opt.) in potentialem Sinne gesetzt ist. Dass
sonst der Gebrauch des Potentialis in Hauptsätzen untergegangen ist, hat die Auffassung des Verhältnisses als
wirklicher grammatischer Abhängigkeit gefördert.

Auch das Verhältnis der Bestimmung zum Bestimmten konnte auf Sätze übertragen werden. Auf diese Weise wurde
ein Satz zur Apposition eines Nomens. Vgl. er sprach die Worte: das tue ich niemals; eins weiss ich: es geschieht
nicht wieder; Folgendes ist mir begegnet: ich traf einen Mann; ein sonderbarer Zufall hat sich gestern zugetragen:
es begegneten sich zwei Freunde etc.; er hat die Gewohnheit: er erwidert nie einen Brief; ich habe die
Überzeugung: du wirst dich noch bekehren. Besonders häufig ist so ein Pron., dem der Satz als Apposition dient,
vgl. das ist sicher, er wird es nicht wagen; es ist besser, du gehst; lat. hoc relicuomst: si infitias ibit, testis mecum est
anulus (Ter.); hoc capio commodi: neque agri, neque urbis odium me unquam percipit (Ter.). Ebenso stehen Sätze
appositionell zu einem demonstrativen Adverbium: er ist so lieb, man kann ihm nicht böse sein.

Ist es nur ein Pron., was durch den Satz bestimmt wird, so kann man sich dasselbe auch ohne wesentliche
Veränderungen des Sinnes wegdenken. Dann hat man wieder die oben besprochene Form, in der der Satz direkt zum
Subj. oder Obj. gemacht wird. Vgl. es ist gewiss, du bleibst mit gewiss ist, du bleibst. Beide Ausdrucksformen
berühren sich also sehr nahe mit einander.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Umgekehrt kann ein Nomen Apposition zu einem Satze werden; vgl. du verdrehst immer die Augen, eine schlechte
Gewohnheit. Besonders üblich ist diese Konstruktion, wenn an das Nomen noch ein Relativsatz angeknüpft wird: er
will aufbrechen, ein Entschluss, der ihm sehr schwer geworden ist. Hier erkennt man wieder deutlich die Apposition
als eine Degradierung des Prädikates. Eben durch diese Degradierung ist der vorausstehende Satz vor der
Degradiernug zu einem blossen Subjekte bewahrt worden.

§ 101. Wir haben so die Entwickelung des Satzes von seiner einfachsten Form zu kompliziertester Gestaltung
verfolgt. Wir wenden uns jetzt zu der parataktischen Aneinanderfügung mehrerer Sätze. Dieselbe steht in
Parallelismus zu der kopulativen Aneinanderreihung koordinierter Satzglieder, weshalb sich auch die ausgebildeten
Sprachen der gleichen Hilfsmittel zur Bezeichnung beider Arten von Verknüpfung bedienen. Im Anfang musste
auch hier die blosse Nebeneinanderstellung genügen. Wenn wir nun gesehen haben, dass bei der Hypotaxe eine
gewisse Selbständigkeit des einen Gliedes bestehen kann, so zeigt sich [148 Sechstes Kapitel. Die syntaktischen
Grundverhältnisse.] auf der anderen Seite, dass eine Parataxe mit voller Selbständigkeit der unter einander
verbundenen Sätze gar nicht vorkommt, dass es gar nicht möglich ist Sätze untereinander zu verknüpfen ohne eine
gewisse Art von Hypotaxe. Als selbständig, als einen Hauptsatz im strengsten Sinne können wir einen Satz nur dann
bezeichnen, wenn er nur um seiner selbst willen ausgesprochen wird, nicht um einem andern Satze eine
Bestimmung zu geben. Demgegenüber müssten wir den Nebensatz definieren als einen Satz, der nur ausgesprochen
wird, um einen andern zu bestimmen. Es liegt nun auf der Hand, dass ein Satz zu gleicher Zeit um seiner selbst
willen ausgesprochen werden und doch auch einem andern als Bestimmung dienen kann, dass es demnach zwischen
den beiden Extremen eine Reihe von Zwischenstufen geben muss. Es liegt ferner auf der Hand, dass gar kein
vernünftiger Grund vorhanden sein könnte Sätze parataktisch an einander zu reihen, wenn nicht zwischen ihnen ein
innerer Zusammenhang bestünde, d. h. wenn nicht einer den andern irgendwie bestimmte. Ein rein parataktisches
Verhältnis zwischen zwei Sätzen in dem Sinne, dass keiner den andern bestimmt, gibt es also nicht; es ist kein
anderer Begriff von Parataxe möglich als der, dass nicht einseitig ein Satz den andern, sondern beide sich
gegenseitig bestimmen.

Reine Parataxe in diesem Sinne besteht zwischen Parallelsätzen, sei es, dass Analoges oder dass Entgegengesetztes
verknüpft wird, er ist krumm, sie ist schief; er lacht, sie weint. Anders aber steht es schon mit der Erzählung. Wenn
jemand berichtet um zwölf Uhr kam ich in N. an; ich ging in das nächste Hôtel; man sagte mir, es sei alles besetzt;
ich ging weiter, so gibt immer der vorhergehende Satz dem folgenden eine zeitliche und auch kausale Bestimmung.
Dies ist aber eine Funktion, an welche in dem Augenblicke, wo er ausgesprochen wird, noch nicht gedacht wird.
Wir haben demnach wieder eine Vereinigung von Selbständigkeit und Abhängigkeit. Wir könnten uns eine
umständlichere Ausdrucksweise denken, in welcher der Satz immer zweimal, einmal als selbständig, einmal als
abhängig gesetzt würde. Statt einer solchen Wiederholung, die wenigstens nur ausnahmsweise wirklich vorkommt,
bedient sich die Sprache der Substitution durch ein Pron. oder Adv. demonstrativum. Es war für die
Entwickelung der Syntax ein höchst bedeutsamer Schritt, dass dem Demonstrativum, dem ursprünglich nur die
Beziehung auf etwas in der Anschauung Vorliegendes zukam, die Beziehung auf etwas eben Ausgesprochenes
gegeben wurde. Dadurch wurde es auch möglich dem psychologischen Verhältnis, dass ein Satz selbständig
hingestellt wird und zngleich als Bestimmung für einen folgenden dient, einen grammatischen Ausdruck zu geben.
Das Demonstrativum kann sich auf einen [149 Stufenweiser Übergang aus Parataxe in Hypotaxe.] ganzen Satz oder
auf ein Satzglied beziehen. Auch in dem letzteren Falle ist vielfach der ganze Satz, welcher dieses Glied enthält,
bestimmend für den folgenden. Sage ich z. B. ich begegnete einem Knaben; der fragte mich, so bezieht sich der auf
einem Knaben; der Bedeutungsinhalt von der ist aber durch den allgemeinen Begriff Knabe nicht erschöpft, sondern
erst unter Hinzuziehung der übrigen Teile des Satzes; es ist der Knabe, welchem ich begegnete. So wird also
gewissermassen durch das Demonstrativum der vorangehende selbständige Satz in ein zusammengesetztes Satzglied
verwandelt, indem sich die übrigen Teile des Satzes dem Worte, auf welches das Demonstrativum hinweist, als
attributive Bestimmung unterordnen.

§ 102. Gehört es nun zum Wesen aller Satzverknüpfung, dass auch die selbständig hingestellten Sätze eine
Beimischung von Unterordnung erhalten, so ist es ganz natürlich, dass von hier aus eine stufenweise Annäherung
an gänzliche Unterordnung möglich ist, indem der selbständige Wert eines Satzes mehr und mehr gegen die
Funktion einem andern als Bestimmung zu dienen zurücktritt. Bei der Erzählung dokumentiert sich die logische
Unterordnung in den indogermanischen Sprachen durch Verwendung der relativen Tempora (Imperf. und Plusqu.).
Vgl. Cincta premebantur trucibus Capitolia Gallis; Fecerat obsidio jam diuturna famem: Juppiter ad solium
superis regale vocatis `Incipe!' ait Marti Ov. Fast. VI, 351. Ähnlich sehr häufig bei Ovid zur Einführung in die
Situation, von der die Erzählung ausgeht. Besonders häufig in den verschiedensten Sprachen ist die Form des
Hauptsatzes mit entschiedener logischer Unterordnung, wenn ein eben, gerade, kaum, schon, noch u. dergl.
beigefügt ist, oder bei Wendungen wie es dauerte nicht lange u. dgl.; vgl. kaum seh' ich mich auf ebnem Plan, flugs
schlagen meine Doggen an (Schiller); lat. vix bene desierat, currus rogat ille paternos (Ov.); im Lat. auch mit
Verbindung durch eine kopulative Partikel: vix ea fatus erat senior, subitoque fragore intonuit laevum (Virg.); nec

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

longum tempus et ingens exiit ad caelum (id.); am häufigsten und auch in unserer jetzigen Sprache allgemein üblich,
erscheint diese Konstruktion mit einem Demonstrativum im Nachsatz: ich war noch nicht eingeschlafen, da hörte
ich einen Lärm; es dauerte nicht lange, so kam er wieder etc.

Im Mhd. ist es nicht selten, dass von zwei asyndetisch neben einander gestellten Sätzen, der erste nur zur
Bestimmung eines Satzgliedes im zweiten dient,[25]) vgl. ein marcgrâve der heiz Herman: mit deme er iz reden
began (Rother); Josephus hiez ein wîser man: alse schiere er den rât vernam, mit michelen listen muose er sich
vristen (Kaiserchronik); ein wazzer heizet In: dâ vâhten die Beiere mit in (ib.). [150 Sechstes Kapitel. Die
syntaktischen Grundverhältnisse.]

Bei Sätzen, die durch ein entweder - oder eingeleitet sind, kann der erste derartig logisch untergeordnet sein, dass er
einem Satze gleich kommt, der durch ein wofern nicht eingeleitet ist, vgl. mhd. die ir christenlîchen anthäiz mit
andern gehäizzen habent gemêret, ... eintweder diu schrift ist gelogen oder si choment in ein vil michel nôt (Heinrich
v. Melk); franz. ou mon amour me trompe, ou Zaïre aujourd'hui pour l'élever à soi descendrait jusqu'à lui
(Voltaire).

Bei umgekehrter Satzfolge lässt sich logische Selbständigkeit und Abhängigkeit nicht in der gleichen Weise
vereinigen. Dient ein Satz einem vorhergehenden als Bestimmung, so ist es von vornherein klar, dass er nur um
dessentwillen ausgesprochen wird, vgl. ich kam nach Hause, es schlug gerade 12 Uhr. Ich musste ihm alles sagen;
er war so neugierig. Am deutlichsten tritt die Abhängigkeit hervor, wenn der bestimmende Satz in den bestimmten
eingeschoben wird. Solche eingeschobenen Sätze (Parenthesen) sind ja in allen, auch noch so entwickelten Sprachen
reichlich im Gebrauch, und zwar unterschiedslos bei den verschiedensten logischen Beziehungen zum regierenden
Satze.

Indem auch Sätze, die eine Aufforderung oder Frage ausdrücken, in logische Abhängigkeit treten, werden sie zu
Bezeichnungen der Bedingung oder des Zugeständnisses. Vgl. geh hin, du wirst sehen oder so (dann) wirst du
sehen; lat. cras petito: dabitur (Plaut.); sint Maecenates, non deerunt, Flacce, Marones (Mart.); auch bei
Verbindung durch Kopulativpartikel: sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist; mhd. der
gebe mir niur eine bône und hab gewandelt (gebüsst) schône (Seifrid Helbling); lat. impinge lapidem et dignum
accipies praemium (Phaedrus), quodvis opta et veniet (Petron); nlat. divide et impera. Aus solcher Anwendung der
Aufforderungssätze sind in verschiedenen Sprachen Satzformen entsprungen, die als abhängig empfunden werden,
indem das, was anfangs nur okkasionell mögliche Auffassung war, usuellen Wert erhalten hat. Vgl. z. B. ich bin dir
nah, du seist auch noch so ferne; oder die englischen Imperative suppose, say (say you can swim, 'tis but a while
Shak.), die gewissermassen zu Konjunktionen geworden sind. Hierher gehören auch die lateinischen
Bedingungssätze mit modo (vgl. ego ista studia non improbo, moderata modo sint), welches nicht als regierende
Konjunktion gefasst werden darf und ja auch noch neben dum stehen kann. Ebenso ist bekanntlich aus der Frage
eine im Deutschen und Englischen sehr übliche und auch den romanischen Sprachen nicht fremde Form der
Bedingungssätze entstanden (willst du es tun, so beeile dich).

1. Zu diesem Kapitel und den folgenden auf Syntax bezüglichen vgl. Reckendorf, Zur allgemeinen Syntax
(Idg. Forschungen 10, 167). R. bespricht in dieser Abhandlung für die allgemeine Sprachwissenschaft
wichtige Eigenheiten des Arabischen, die er eingehend in seinem Werke »Die syntaktischen Verhältnisse
des Arabischen (Leiden 1895-98)« behandelt hat. Die Forschungen Reckendorfs zeigen, wie die aus den
Indogermanischen Sprachen gewonnenen allgemeinen Grundsätze auch auf dem Gebiete der semitischen
Sprachen anwendbar sind.
2. In nichtindogermanischen Sprachen, auch wenn sie deutlich ausgeprägte Verbalformen haben, sind Sätze
ohne Verb. noch viel häufiger. Vgl. über das Arabische Reckendorf S. 169.
3. Eine Berücksichtigung desselben verlangt auch Dittrich (Die sprachwissenschaftliche Definition der
Begriffe »Satz« und »Syntax« in Philos. Studien 19, 93) und versucht eine solche in einer Modifikation der
Wundtschen Definition.
4. Vgl. den Abschnitt »Geschlossene und offene Wortverbindungen« S. 316ff.
5. Noreen (vgl. Vårt Språk 51) sucht der Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen, indem er für den
abgeschlossenen Satz die Bezeichnung »mening« einführt, um dann die Bezeichnung »sats« noch für den
Nebensatz verwenden zu können. Ähnlich will Wechsler (Gibt es Lautgesetze? S. 17) den Ausdruck Satz
durch »Äusserung« ersetzen.
6. Hierunter kann man auch die eventuellen Pausen zwischen den einzelnen Wörtern mit einbegreifen, durch
welche die engere oder weniger enge Zusammenfassung markiert wird.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

7. Widerspruch gegen eine derartige Bestimmung hat Marty erhoben in einer im Archiv f. systematische
Philos. III, S. 174ff. veröffentlichten Abhandlung, die den Titel führt »Über die Scheidung von
grammatischem, logischem und psychologischem Subjekt, resp. Prädikat«. Seine Polemik hat mich nicht
veranlassen können, meine Auseinandersetzungen zu ändern. Seine Bestimmung der Begriffe, die auf die
antike Logik zurückgreift, und die Entwickelung, welche dieselben in der Grammatik erfahren haben,
unberücksichtigt lässt, ist für den Sprachforscher gänzlich unbrauchbar. Dieser hat doch gewiss nicht nur
das Recht, sondern auch die Pflicht, sich seine Terminologie so zu gestalten, wie es der Natur seines
Gegenstandes angemessen ist, und die Brauchbarkeit derselben in der Anwendung ist der beste Prüfstein
ihrer Berechtigung. Dasselbe muss ich der ablehnenden Haltung Wundts gegenüber erklären. Der von ihm
angewendete Ausdruck dominierende Vorstellung bietet keinen Ersatz. Soll man so das Subj. oder das
Präd. bezeichnen?
8. Im Arabischen ist das Verhältnis zweier Substantiva, von denen das eine Subj., das andere Präd. ist, ein
wesentlich freieres als normaler Weise in den indogermanischen Sprachen, vgl. Reckendorf, Idg. F. S. 169,
Synt. Verh. § 7. Beispiele: der Marsch zwischen uns (dauert) drei Nächte; zwei Gruben, deren eine Blut
(mit Blut gefüllt ist).
9. Vgl. auch die von Wundt II, 312. 3 angeführten Sätze.
10. Umgekehrt betrachtet Wegener, S. 31ff. die Voranstellung des Prädikats als das eigentlich Normale, eine
Anschauung, der ich auch nicht beitreten kann.
11. Ich meine hier Subj. in dem oben bestimmten psychologischen Sinne. Das grammatische Subj. tritt nicht
selten später ins Bewusstsein als das grammatische Präd., indem z. B. ein Vorgang wahrgenommen wird,
bevor man über den Gegenstand, an dem er sich vollzieht, ins Klare kommt, vgl. Sigwart, Die
Impersonalien, S. 18.
12. Vgl. andere Beispiele bei Wegener, S. 41.
13. Nach Wundt soll die Betonung schlechterdings massgebend für die Wortstellung sein. Er stellt (S. 359) den
Satz auf: wo die Wortstellung frei, nicht durch eine überlieferte feste Norm oder durch andere Bedingungen
gebunden ist, da folgen sich die Wörter nach dem Grade der Betonung der Begriffe. Dies würde zu der s.
113, Anm. 2 besprochenen Ansicht stimmen, dass die natürliche Ordnung Voranstellung des
psychologischen Prädikates sei. Wundts Satz ist offenbar unrichtig. Man mag jedes beliebige Buch
aufschlagen, jedes beliebige Gespräch anhören, und man wird zahlreiche Sätze finden, in denen das
bedeutsamste und stärkstbetonte Wort nicht am Anfang steht, wiewohl es die Wortstellungsgesetze an sich
gestatteten. Veranlassung zur Voranstellung eines Satzgliedes ist vielmehr in vielen, wir dürfen wohl sagen
in den meisten Fällen der Umstand, dass es psychologisches Subj. ist, und dieses hat keinen starken Ton,
ausser wenn ein Parallelsatz daneben steht, zu dessen Subj. es im Gegensatz steht. Beispiele dafür, wie
dasjenige Glied vorangestellt wird, das an den Inhalt des vorhergehenden Satzes anknüpft, also eben das
psychologische Subjekt, gebe ich § 198. Zu meiner Auffassung stimmt auch, was Reckendorf S. 170 über
Stellung von Subj. und Präd. im Arabischen bemerkt.
14. Wundt (II, 238ff.) sträubt sich dagegen, den hier besprochenen Ausdrucksformen Satznatur zuzuerkennen.
Er bezeichnet sie als Satzäquivalente. Sein Grund ist, dass man zur Bestimmung des Begriffes Satz nichts
hinzunehmen dürfe, was ausserhalb des Gebietes der Sprache läge, also nicht wirklich durch Worte
ausgedrückt sei. Dagegen möchte ich bemerken, dass es eben im Wesen der sprachlichen Mitteilung
begründet ist, dass nicht etwa nur ausnahmsweise, sondern meistens etwas hinzugedacht werden muss, was
mit den Worten an sich nicht gegeben ist, wie ich dies § 51-60 auseinandergesetzt habe (vgl. auch § 21).
Dies ist auch auf die Satzbildung anzuwenden. Auch zu Satzäquivalenten, wenn wir diesen Terminus
annehmen, können die betreffenden Ausdrucksformen doch nur werden, indem etwas Aussersprachliches
hinzugedacht wird. Solange wir bei Feuer nichts denken als die Bedeutung des Wortes an sich, ist es
ebensowenig ein Satzäquivalent wie ein Satz. Wundt unterscheidet übrigens dabei nicht die Fälle, in denen
Ergänzung aus der Situation notwendig ist, von denen, in welcher Rückbeziehung auf sprachliche
Äusserungen stattfindet, in denen man also innerhalb des Gebietes der Sprache bleibt. Merkwürdigerweise
betrachtet dann Wundt einen Ausruf wie welch ein Mann nicht als Satzäquivalent, sondern als wirklichen
Satz (vgl. S. 256ff.), und zwar als einen attributiven Satz. Attributiv ist allerdings dabei welch, aber
attributiv in dem ganz gewöhnlichen Sinne, genau so wie in dem vollständigen Satze welch ein Mann ist
das. Das einfachere welch ein Mann ist, wenn es auch aus mehreren Worten besteht, doch nur ein
Satzglied, und zwar ein Prädikat, zu dem das Subj. aus der Situation zu entnehmen ist. Wundt hätte sich
also nicht auf derartige Ausrufe stützen sollen, um seine Unterscheidung zwischen attributiven und
prädikativen Sätzen zu begründen. Diese Terminologie kann nur verwirrend wirken. Ausserdem sind bei
dieser Einteilung nur die normalen Satzformen der indogermanischen Sprachen berücksichtigt, nicht die
sonst möglichen (vgl. § 87).
15. Vgl. ferner über die Frage Schuppe, Subjektlose Sätze (Zschr. f. Völkerps. 16, 249); Sigwart, Die
Impersonalien, Freiburg i. B. 1888; Puls, Über das Wesen der subjektlosen Sätze, Progr. Gymn. Flensburg
1888/89; Schröder, Die subjektlosen Sätze, Progr. Gebweiler 1889; Goebel, Transactions of the American
Philological Association 19, 20; Siebs, Die sogenannten subjektlosen Sätze (Zschr. f. vergl.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Sprachforschung 43, 253); Erdmann, Logik², 1, 435.


16. Ich spreche hier von dem uns vorliegenden Sprachzustande. Dagegen ist es nicht ausgeschlossen, dass den
Ausgangspunkt für die Entstehung der Impersonalia Sätze gebildet haben, in denen das es eine wirkliche
Beziehung hatte. Vgl. darüber die feinen Ausführungen Sigwarts.
17. Wirklich fehlen kann dagegen das grammatische Subj. im Deutschen vielfach, wenn von dem
unpersönlichen Verb. ein Kasus abhängig ist, der dann das psychologische Subj. bildet, vgl. mich hungert,
mir graut.
18. Wundt teilt die Sätze ein in Aussage-, Ausrufungs- und Fragesätze. Die Ausrufungssätze scheidet er in
Wunschsätze und Gefühlssätze und versteht unter letzteren das, was man gewöhnlich allein als
Ausrufungssätze bezeichnet. Wie er selbst sagt, will er unter Gefühlssätzen solche verstehen, die irgend
einer Gemütsstimmung Ausdruck geben, ohne dass sich damit eine Willensregung verbindet (II, 256). Er
betrachtet dieselben als die ursprünglichste Satzart. Die Beispiele aber, die er anführt, sind ihrer Form nach
nichts weniger als primitiv; denn sie haben die Form von Fragesätzen, und zwar von solchen mit
Fragepron. oder -adv. Den primitiven Sätzen näher stehen jedenfalls solche wie der ist gross oder der
schreit, wenn sie mit dem Ausdruck des Staunens gesprochen werden. Diese müsste man aber doch wohl
unter die Aussagesätze unterordnen. Der Anteil des Gefühles kann keinen Einteilungsgrund für die
Satzarten abgeben. Er kann bei jeder Satzart stark oder schwächer oder gar nicht vorhanden sein. Bei den
primitivsten Sätzen war er gewiss immer stark. Wenn man sie deshalb als Ausrufungssätze bezeichnen will,
so mag man das immerhin tun. Aber damit ist nichts über das logische Verhältnis der Teile des Satzes zu
einander ausgesagt, wonach wir jetzt mit Recht die Satzarten scheiden. Diese Ausrufungssätze müssen
gerade so wie die ohne Affekt gesprochenen in Aussage- uud Aufforderungssätze eingeteilt werden. Denn
dass die letzteren immer Ausdruck eines Affektes sein müssten, ist gleichfalls eine irrige Annahme.
19. Vgl. zum Folgenden Imme, Die Fragesätze nach psychologischen Gesichtspunkten eingeteilt und erläutert,
Programme des Gymn. zu Kleve 1879/81.
20. Es ist bisher noch nicht gelungen eine ganz passende Terminologie für diese beiden Arten zu finden.
Delbrück, SF I, 75 nennt die erste Verdeutlichungsfragen, die zweite Bestätigungsfragen. Imme a. a. O. I,
15 eignet sich den zweiten Terminus an, während er den ersten durch Bestimmungsfragen ersetzt. Mir
scheint aber gerade der Ausdruck Bestätigungsfragen nicht recht geeignet, weil er eigentlich die Erwartung
einer bejahenden Antwort einschliesst. Suchier teilt mir mit, dass sein Lehrer Feussner die Ausdrücke Satz-
und Wortfrage angewendet habe, die jedenfalls passender sind. Andere verhältnismässig passende
Ausdrücke sind Entscheidungs- und Ergänzungsfrage. A. Noreen behandelt die beiden Arten in der
Abhandlung Två olika slags frågesatser (Språk och stil 1, 1). Er schlägt dafür die Ausdrücke rogativ und
quaesitiv vor.
21. Noch ziemlich mannigfache logische Verhältnisse können im Arabischen durch blosse
Nebeneinanderstellung von Substantiven ausgedrückt werden, vgl. Reckendorf, Die Synt. Verhältnisse des
Arab. S. 93.
22. Über diese Erscheinung gibt es eine beträchtliche Literatur, vgl. besonders J. Grimm, Über einige Fälle der
Attraktion (Kl. Schr. 3, 312ff.); Steinthal, Assimilation und Attraktion (Zschr. f. Völkerps. I, 93ff. = Kl.
Schr. 107ff.), vgl. besonders S. 173ff.; Tobler, Über Auslassung und Vertretung des Pronomen Relativum
(Germ. XVII, 257ff.; Jolly, Über die einfachste Form der Hypotaxis im Idg. (Curtius, Studien VI, 217);
Kölbing, Untersuchungen über den Ausfall des Relativpronomens in den germanischen Sprachen,
Strassburg 1872; Erdmann, Syntax Otfrids II, S. 124ff.; Behaghel, Asyndetische Parataxe (Germ. XXIV,
167ff.); Lohmann, Über die Auslassung des englischen Relativpronomens (Anglia III, 115ff.); G. Neckel,
Über die altgermanischen Relativsätze, Berlin 1900. In diesen Schriften findet sich zum Teil eine von der
oben gegebenen stark abweichende Auffassung. Dagegen zu polemisieren habe ich für überflüssig
gehalten, da es mir scheint, dass die Richtigkeit desjenigen Standpunktes, dem ich mich angeschlossen
habe, des Standpunktes von Jolly und Behaghel, einem jeden einleuchten muss, der nicht in den Banden
des eigenen Sprachgefühles und der traditionellen Grammatik befangen ist.
23. Vgl. Diez III, 381.
24. Vgl. Jacobi, Kompositum und Nebensatz, S. 30ff.
25. Vgl. Behaghel in der Einleitung zu Veldekes Eneide S. XXVIII.

SIEBENTES KAPITEL.

BEDEUTUNGSWANDEL AUF SYNTAKTISCHEM GEBIET.

§ 103. Von dem, was in Kap. 4 über die Wortbedeutnng und ihre Wandelungen gesagt ist, lässt sich das
Allgemeinste auch auf die Bedeutung der syntaktischen Verhältnisse anwenden. Auch bei diesen muss man

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

unterscheiden zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung; die usuelle Bedeutung kann eine mehrfache sein,
ihre Wandelungen entspringen aus den Abweichungen der okkasionellen Bedeutung und sie bestehen entweder in
Bereicherung oder in Verarmung des Inhalts mit entsprechender Verengung oder Ausdehnung des Umfangs.
Eigentümliche Verhältnisse aber entstehen dadurch, dass wir es hier mit Beziehungen mehrerer Elemente auf
einander zu tun haben (z. B. amo patrem, amor patris), und dass diese Beziehungen zu engeren und weiteren
Gruppen zusammentreten (z. B. Verbum - Objektsakkusativ, Substantivum - Genitiv eines anderen Substantivums).
Demzufolge müssen wir ausser dem Unterschiede zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung noch eine andere
gleichfalls sehr wichtige Unterscheidung machen, nämlich zwischen der Bedeutung einer allgemeinen Beziehung
schlechthin und derjenigen der Beziehung zu einem bestimmten Worte. Von der allgemeinen Bedeutung, die der
Akk. an sich in seiner Beziehung zu jedem beliebigen Worte hat, und auch von derjenigen, die er in seiner
Beziehung zu jedem beliebigen transitiven Verbum hat, ist diejenige zu unterscheiden, die er in der Beziehung auf
ein bestimmtes einzelnes Verbum hat. Die letztere kann spezieller sein und der allgemeinen Bedeutung gegenüber
mehr oder weniger isoliert. Man hat in neuerer Zeit vielfach die Anschauung der älteren Grammatiker bekämpft,
dass ein Kasus von einem Verbum oder einer Präposition, ein Modus von einer Konjunktion u. s. f. regiert werde,
und statt dessen die Setzung des Kasus oder des Modus aus seiner allgemeinen Bedeutung herzuleiten gesucht. Es
muss aber doch in gewissem Sinne und in gewisser Begrenzung an der alten Lehre fest- [152 Siebentes Kapitel.
Bedeutungswandel auf syntaktischem Gebiet.] gehalten werden. Diese allgemeinen Sätze sollen im folgenden durch
Beispiele belegt werden.

§ 104. Für den Genitiv lässt sich keine einfache Bedeutung aufstellen, aus welcher sich die Funktionen, die derselbe
bereits im Urindogermanischen hat, von selbst ergeben.[1]) Man muss z. B. den von Verben und den von
Substantiven abhängigen Gen. von Anfang an als gesonderte Kategorien ansehen. Betrachten wir die letztere, so
können wir wohl für das Indogermanische behaupten, dass der Gen., wie es im allgemeinen noch im Altgriechischen
der Fall ist, zum Ausdruck jeder beliebigen Beziehung zwischen zwei Substantiven verwendet werden konnte; wir
können daher für diese Kategorie eine einfache Bedeutung von sehr armem Inhalt und sehr weitem Umfang
aufstellen, die nur okkasionell spezialisiert wird. Im Nhd. dagegen ist die Funktion des Gen. neben Substantiven
erheblich eingeschränkt. Manche Gebrauchsweisen, die noch im Mhd. möglich waren, z. B. goldes zein (Stab aus
Gold), langes lebens wân (Hoffnung auf langes Leben) sind jetzt unmöglich geworden. Man muss jetzt nach
spezielleren Bestimmungen suchen, wenn man die Gebrauchsweise des Genitivs angeben will, und dabei wird man
genötigt mehrere Kategorieen zu scheiden, mehrere selbständige Bedeutungen neben einander zu stellen. Diese
würden [153 Genitiv. Akkusativ.] wohl am einfachsten so angegeben werden: Gen. possessivus - Gen. partitivus -
Gen., der anzeigt, dass das regierende Subst. das, was es ist, in Beziehung auf das abhängige ist (z. B. der Bruder
des Mannes, der Gott des Weines, der Dichter des Werkes, die Tat des Helden); die letzte Kategorie kann sich neben
nomina actionis in zwei Unterabteilungen scheiden, Gen. subjectivus und objectivus: die Regierung des Fürsten -
des Landes. Die Aufstellung derartiger Kategorieen hat man neuerdings wohl als eine rein logische Sonderung
betrachtet, die von der Grammatik fern zu halten sei. Das ist aber doch nicht ganz richtig, vorausgesetzt, dass die
Aufstellung in der gehörigen Weise vorgenommen ist. Die betreffenden Kategorieen haben der ursprünglichen
allgemeinen Bedeutung gegenüber Selbständigkeit gewonnen, und erst dadurch ist es möglich geworden, dass sie
allein sich erhalten haben, während die andern Verwendungsweisen, die sich gleichfalls der ursprünglichen
Bedeutung unterordnen würden, untergegangen sind.

§ 105. Analog dem Verhältnisse des Gen. zu dem regierenden Substantivum ist das des Akkusativs zu dem
regierenden Verbum. Wollen wir eine allgemeine Bedeutung des Akk. aufstellen, unter welche sich alle einzelnen
Verwendungsweisen desselben unterordnen lassen, so müssen wir sagen: er bezeichnet überhaupt jede Art von
Beziehung eines Substantivums zu einem Verbum, die sich ausser der des Subjekts zu seinem Prädikate denken
lässt. Dennoch aber können wir ihn nicht in jedem einzelnen Falle, in dem eine solche allgemeine Beziehung
stattfindet, anwenden, und schon in der indogermanischen Grundsprache war das unstatthaft, wenn auch die
Verwendung noch eine viel freiere und ausgedehntere war, wie sich z. B. am Griechischen erkennen lässt. Die
Angabe einer einzigen, alles umfassenden Bedeutung genügt daher nicht; wir müssen verschiedene allmählich
selbstständig gewordene Verwendungsweisen neben einander stellen. Hier kommt nun aber hinzu, dass auch in der
Beziehung auf einzelne Verba ein fester Usus in Bezug auf Gebrauch oder Nichtgebrauch des Akk. und eine
Spezialisierung der Bedeutung eingetreten ist. Wir müssen daher unterscheiden zwischen dem freien Akk., der von
der Natur des Verbums, dem er beigegeben wird, unabhängig ist, und dem gebundenen, der nur zu einer
beschränkten Anzahl von Verben und zu jedem einzelnen in beschränkter Bedeutung gesetzt wird.

Zu den von alters her üblichen freien Verwendungen des Akkusativs gehört die zur Bezeichnung der Erstreckung
über Raum und Zeit (nicht bloss neben Verben gebraucht); ferner der Akk. des Inhalts von Substantiven, die mit
dem Verbum etymologisch verwandt sind (einen schweren Kampf kämpfen); im Lat. der Akk. von Städtenamen auf
die Frage wohin? Eine erst in neuerer Zeit ausgebildete Verwendung ist [154 Siebentes Kapitel. Bedeutungswandel
auf syntaktischem Gebiet.] die neben sonst intransitiven oder als Transitiva eine andere Art von Objekt regierenden

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Verben in Verbindung mit einem prädikativen Adjektivum, vgl. ein Glas voll giessen, die Augen rot weinen, das
Bett nass schwitzen, die Füsse wund laufen; sich satt essen, voll saufen, krank arbeiten, heiser schreien etc. Hier
hätten wir also eine Bedeutungserweiterung. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass zur Entstehung dieser Konstruktion
noch besondere Faktoren mitgewirkt haben; einerseits wohl das noch nicht völlig erloschene Gefühl für die ganz
allgemeine Bedeutung des Akkusativs, anderseits die Analogie von Fällen wie einen tot schiessen, los kaufen,
krumm und lahm schlagen. Ähnlich verhält es sich mit Konstruktionen wie er schwatzt das Blaue vom Himmel
herunter, er hat sich in mein Vertrauen gestohlen, denke dich in meine Lage hinein, sich einschmeicheln, sich
herausreden, sich durchfressen u. dergl.

Eine gewisse Mittelstellung zwischen dem ganz freien und dem gebundenen nimmt der Akk. neben Kompositis ein,
zu denen die Simplicia entweder intransitiv sind oder eine ganz andere Art von Akk. regieren; eine Mittelstellung
insofern, als doch wenigstens eine grössere Anzahl solcher Verba sich zu einer Gruppe zusammenschliessen und
sich in der Bildung und transitiven Verwendung derselben dem Usus gegenüber eine gewisse Freiheit der Bewegung
geltend macht. Insbesondere haben die Komposita mit be- die ganz allgemeine Funktion ein intransitives Verbum
transitiv zu machen oder ein transitives Verbum zu befähigen eine andere Art von Objekt zu sich zu nehmen, vgl.
befallen, beschreiben, bestreiten; besetzen, bewerfen, bezahlen.

Der an ein bestimmtes einzelnes Verbum gebundene Akk. hat in der Regel nur eine, durch den Usus begrenzte
Bedeutung. Doch ist auch Mehrfältigkeit der Bedeutung nicht ganz selten, und diese ist dann teils alt, vielleicht
unmittelbar aus der ursprünglichen allgemeinen Bedeutung des Akkusativs abzuleiten, teils lässt sich zeigen, dass
ursprünglich nur eine Bedeutung üblich gewesen ist, während die andere sich erst allmählich durch okkasionelle
Überschreitung des Usus herausgebildet hat; vgl. Wunden schlagen - den Feind schl. - das Schwert schl., einen mit
Steinen werfen - Steine auf einen w., einen mit dem Messer stechen - ihm das Messer durch das Herz st., ein Zimmer
räumen - einen aus dem Wege r., Blumen zum Kranze winden - einen Kranz w., das Haar flechten - einen Zopf f.,
einen zum Narren machen - einen Narren aus jemand m., Worte sprechen - einen Menschen sprechen etc.; lat.
defendere aliquem ab ardore solis - ardorem solis ab aliquo, prohibere calamitatem a provincia - provinciam a
calamitate. Sicher jüngere Entwickelung, zum Teil nur okkasionelle [155 Akkusativ. Rektion der Präpp. Partitive
Apposition.] namentlich dichterische Freiheit liegt in folgenden Konstruktionen vor: ein Kind schenken (= säugen),
Blumen giessen, Heu füttern, Wasser in einen Eimer füllen, lat. vina cadis onerare (Virg. statt cados vinis), liberare
obsidionem (Liv. statt urbem obsidione), griech. dákrua térgein (»Tränen netzen« statt »mit Tränen benetzen« oder
»Tränen fliessen lassen«, Pind.), haíma deúein (»Blut benetzen« statt »mit Blut b.«, Soph.). Weitere Beispiele bei
Madvig, Kl. Schr. 371[1]. Weil die Beziehung, die der Akk. ausdrückt, an und für sich eine mehrfache sein kann, ist
auch die Verbindung eines Verbums mit mehreren Akkusativen etwas, was sich ganz natürlich ergibt.

§ 106. Von den indogermanischen Präpositionen würde es nicht richtig sein, wenn man sagen wollte, dass sie den
und den Kasus regiert hätten. Vielmehr war der betreffende Kasus direkt auf das Verbum zu beziehen, seine
allgemeine Bedeutung wurde noch empfunden und erhielt durch die Präposition nur eine Spezialisierung, weshalb
denn auch verschiedene Kasus neben der selben Präposition stehen konnten jeder in seiner eigentümlichen
Bedeutung. Diesem ursprünglichen Zustande steht das Griechische noch einigermassen nahe. Mehr und mehr aber
hat der Kasus seine Selbständigkeit gegenüber der Präposition eingebüsst, die Verbindung der Präposition mit dem
Kasus ist gewohnheitsmässig geworden, wobei das Gefühl für die Bedeutung des letzteren verblasst. Bei unseren
neuhochdeutschen Präpositionen, die nur einen Kasus regieren wie zu, um oder mehrere ohne Verschiedenheit des
Sinnes wie trotz, kann von keiner Bedeutung des Kasus mehr die Rede sein; die Anwendung eines bestimmten
Kasus ist nur noch eine traditionelle Gewohnheit, der kein wahrer Wert zukommt. Zwischen dieser Erstarrung und
Gebundenheit und der ursprünglichen Lebendigkeit und Freiheit der Kasus mitten inne steht die Verbindung des
Dat. und Akk. in verschiedenem Sinne nach in, auf, über, unter.

§ 107. Appositionelle Konstruktion tritt vielfach ein, wo bei genauerem Ausdruck ein Gen. part. anzuwenden wäre.
Nicht bloss so, dass die Apposition aus mehreren Gliedern besteht, die zusammen dem Substantivum, wozu sie
gesetzt sind, gleichkommen: sie gingen, der eine hierhin, der andere dorthin; lat. classes populi Romani; alteram
naufragio alteram a Poenis depressam interire (Cic.), capti ab Jugurtha pars in crucem acti pars bestiis objecti sunt
(Sall.). Sondern auch, wo die ganze Apposition nur einen Teil des zugehörigen Subst. repräsentiert: lat. Volsci
maxima pars caesi (Liv.); cetera multitudo decimus quisque ad supplicium lecti (Liv.); nostri ceciderunt tres
(Caes.); entsprechend da, wo das Subj. nur durch die Personalendung des Verb. ausgedrückt ist: plerique meminimus
(die meisten von uns, Liv.); Simoni adesse me quis nuntiate (einer von euch, Plaut.). Mhd.: si weinten sumelîche
(manche [156 Siebentes Kapitel. Bedeutungswandel auf syntaktischem Gebiet.] von ihnen); jâ sint iu doch
genuogen diu mære wol bekant (vielen von euch). Bei Stoffbezeichnungen, die normaler Weise durch den Gen. part.
ausgedrückt werden, tritt daneben das ungenauere appositionelle Verhältnis ein. Vgl. lat.: aliquid id genus statt ejus
generis (Cic.), coronamenta omne genus (Cato), arma magnus numerus (Liv.). Eine besondere Ausdehnung hat
diese einfachere Konstruktionsweise im Nhd. gegenüber dem Mhd. gewonnen, vgl. ein Stück Brot (mhd. stücke

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

brôtes), ein Pfund Mehl, ein Scheffel Weizen, ein Glas Wasser, eine Menge Obst, eine Art Tisch etc. Die kollektiven
Stoffbezeichnungen sind in diesem Falle durchaus indeklinabel. Wir dürfen, wenn wir das Sprachgefühl richtig
analysieren, hier keinen Nom. oder Akk. mehr anerkennen, sondern nur den Stamm schlechthin ohne
Kasusbezeichnung. Die Sprache ist zu der primitiven Konstruktionsweise zurückgekehrt, wie sie vor der Entstehung
der Kasus allein möglich war und wie sie uns in den alten Kompositis vorliegt.

§ 108. Wie das Objekt so kann sich sogar das Subjekt eines Verbums zur Bezeichnung einer von dem bisherigen
Usus abweichenden Beziehung herausbilden. Vgl. neuhochdeutsche Wendungen wie die Bank sitzt voller
Menschen, ihm hängt der Himmel voller Geigen, der Eimer läuft voll Wasser - läuft leer; viel freier ist die
Anwendung solcher Verbindungen mit vol im Mhd., z. B. das hûs saz edeler vrouwen vol, ouch gienc der walt
wildes vol, daz gevilde was vollez pavelûne geslagen (vgl. Haupt zum Erec 2038), noch bei Hans Sachs den (Wald)
sach er springen vol der wilden tiere, all specerey voll würme loffen; ebenso im Dänischen. Vgl. ferner der Narren
Herz ist wie ein Topf, der da rinnt (Lu., auch jetzt noch wird rinnen, laufen so gebraucht); dass unsere Augen mit
Tränen rinnen, und unsere Augenlider mit Wasser fliessen (Lu.); das Gefäss fliesst über; sich vergôz dâ selten mit
dem mete der zuber oder diu kanne (Wolfram); daz von sînen wunden der schilt mit bluote swebete (ders.); it. le vie
correvano sangue (Malespini); span. corrieron sangre los rios (Calderon, vgl. Diez III, 114); lat. culter sanguine
manat, membra sudore fluunt, quae multo pisce natentur aquae (Ovid); engl. the hall thick swarming now with
complicated monsters (Milton); nhd. der Wald erklingt von Gesang; das Fenster schliesst schlecht, ebenso franz. la
fenêtre ne clôt pas bien. Neben einander stehen die Blume riecht - ich rieche die Blume, der Wein schmeckt - ich
schmecke den Wein; entsprechend mhd. stinken, lat. sapere, franz. sentir; ferner ich koche die Suppe - die Suppe
kocht, ich leihe (borge) ihm ein Buch - ich leihe von ihm ein Buch, ich breche den Stab - der Stab bricht, ich reisse
das Kleid entzwei - das Kleid reisst. Stellt man sich auf den Standpunkt, dass das Verhältnis zwischen Subjekt und
Prädikat ein für alle mal fixiert sein soll, so kommt man [157 Subjekt und Prädikat. Apposition.] dazu, für die
angeführten Fälle eine doppelte Bedeutung des Verbums anzusetzen.

Die entsprechende Überschreitung des Usus findet bei der Zusammenfügung eines Substantivums mit einem
adjektivischen Prädikate statt und in noch ausgedehnterem Masse bei attributiver Verbindung. Während das
Adjektivum eigentlich nur für eine dem zugehörigen Substantivum inhärierende Eigenschaft gebraucht werden
sollte, finden wir es auch angewendet, wo nur eine indirekte Beziehung stattfindet. Vgl. auf schuldigen Wegen
(Schi.) = Wegen, auf denen man schuldig wird, einige gelassene Augenblicke (Goe.) = Augenblicke, in denen man
gelassen ist; der hoffnungsvollen Gabe (Goe.); eine Eroberung; wenn sie nicht von selbst überdrüssig wird
(Gemmingen); bei ihrem unbekannten Besuche (Le.) = wobei sie unbekannt bleibt; des Thrones, ungewiss, ob ihn
mehr Vorsicht schützt, als Liebe stützt (Le.) = bei dem es ungewiss ist. Viele solche Freiheiten sind ganz usuell
geworden. Wir sagen allgemein ein trauriges oder fröhliches Ereignis, eine freudige Überraschung, lustige oder
vergnügte Stunden, in jungen Jahren, in gesunden Tagen, eine gelehrte Abhandlung, in trunkenem Zustande,
törichter Weise u. dergl.; er macht einen kränklichen Eindruck, eine karge Gabe. Sicher geht einerseits auf eine
Person, die nicht nötig hat, besorgt zu sein, anderseits auf eine Sache oder Person, um die man nicht nötig hat
besorgt zu sein; ekel einerseits auf eine Person, die leicht Ekel empfindet, anderseits auf einen Gegenstand, vor dem
man sich ekelt. Werden solche freieren Verknüpfungen nach Analogie des normalen Verhältnisses zwischen Subst.
und kongruierendem Adj. aufgefasst, so gelangt man dazu einen Wandel der Wortbedeutung zu statuieren.

Besonders häufig gestattet man sich solche Freiheit bei Partizipien. Vgl. einer reuenden Träne (Le.), lächelnde
Antwort (Goe.), in der schaudernden Stille der Nacht (Le.), zum schaudernden Konzert (Schi.), der König betrachtet
ihn mit nachdenkender Stille (id.), in seiner windenden Todesnot (Goe.), nach dem kostenden Preise (Nicolai), das
schuldende Kostgeld (G. Keller), bedürfenden Falls (Goe.). Allgemein üblich sind sitzende, liegende Stellung,
fallende Sucht, schwindelnde Höhe, im wachenden Traume u. a., jetzt verpönt bei nachtschlafender Zeit. Sehr
gewöhnlich sind im Engl. Verbindungen wie dying day Sterbetag, parting glass Scheidetrunk, writing materials,
dining room, sleeping apartment, falling sickness; vgl. auch franz. thé dansant, café chantant. Tacitus gebraucht
haec plebi volentia fuere statt volenti u. a. dergl. (Draeg. § 193, 3). Beispiele für das Part. Perf. sind ein längst
entwohnter Schauer (Goe.), in diesen letzten zerstreuten Tagen (id.), der beschuldigten Heuchelung (Schi.) = deren
ich beschuldigt werde; engl. the ravish'd hours (Parnell) [158 Siebentes Kapitel. Bedeutungswandel auf
syntaktischem Gebiet.] = die Stunden voller Entzücken. Allgemein üblich ein eingebildeter Mensch, ein Bedienter.
[2])

Häufig werden Zustands- und Vorgangsbezeichnungen als Präd. oder Apposition zu Personenbezeichnungen
gesetzt, vgl. das Kind ist seine ganze Freude, der Stolz, der Trost seines Alters. Es wäre jedenfalls nicht
gerechtfertigt in einem solchen Falle eine Bedeutungsveränderung der betreffenden Wörter anzunehmen, etwa zu
sagen, dass Trost hier Tröster bedeute. Indessen sieht man doch, wie von solcher Verwendung aus Übergang von
nomen actionis zu nomen agentis möglich ist.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Auf gleiche Linie zu stellen ist wohl die freie Anknüpfung eines prädikativen Attributes, die zwar als Nachlässigkeit
verpönt ist, aber doch ziemlich häufig vorkommt, in Fällen wie seltene Taten werden durch Jahrhunderte
nachahmend zum Gesetze geheiligt (Goe.); lustig davonfahrend wurden die Eindrücke des Abends noch einmal
ausgetauscht (Riehl); zurückgekehrt wurde des Ermordeten Kleidung untersucht (Brachvogel). Weitere Beispiele,
meist aus Zeitungen bei Andr. Spr. 113. Hier fühlt man sich veranlasst zu dem prädikativen Attribut ein Subj. zu
ergänzen; aber ebenso könnte man das oben angeführte Beispiel mit nachdenkender Stille ergänzen zu `mit Stille,
während welcher er nachdenkt', ohne dass doch in dem Ausdruck etwas davon liegt.

§ 109. Bei Partizipialkonstruktionen ist nur das zeitliche Verhältnis ausgedrückt, in dem der Zustand oder das
Geschehen, welches durch das Part. bezeichnet ist, zu dem Verb. fin. steht. Es können aber dabei noch mannigfache
Beziehungen bestehen, so dass man bei Auflösung der Partizipialkonstruktion durch einen ganzen Satz, bald diese,
bald jene Konjunktion anwenden muss. Man kann aber darum doch nicht sagen, dass die Partizipialkonstruktion an
sich verschiedene Bedeutungen haben könne, bald die Ursache, bald die Bedingung, bald einen Gegensatz etc.
bezeichne. Diese Verhältnisse bleiben immer nur okkasionell und accidentiell. Anders dagegen verhält es sich mit
Nebensätzen, die durch eine temporale Konjunktion eingeleitet sind. Hier kann das accidentielle Verhältnis zum
regierenden Satze sich an die Konjunktion anheften und zu einem Bestandteile von deren usueller Bedeutung
werden. So muss z. B. die Verwendung von unserem während zur Bezeichnung eines Gegensatzes als eine
besondere usuelle Funktion neben der Grundbedeutung anerkannt werden. Es ergibt sich das abgesehen von
unserem Sprachgefühl daraus, dass diese Funktion [159 Apposition. Konjunktionen.] auch statt hat, wo gar keine
Gleichzeitigkeit des Geschehens zwischen abhängigem und regierendem Satze besteht, vgl. z. B. du belügst mich,
während ich dir immer die Wahrheit gesagt habe. Ebenso müssen wir dem mittelhochdeutschen sît neben seiner
temporalen Bedeutung die unseres jetzigen kausalen da als etwas Selbständiges zuerkennen; denn es kann im
Widerspruch mit der Grundbedeutung bei Gleichzeitigkeit zwischen abbängigem und regierendem Satze gebraucht
werden, vgl. sît ich âne einen vrumen man mîn lant niht bevriden kan, sô gewinne ich gerne einen. Die
Entwickelung kann dann noch weiter gehen, indem die ursprüngliche temporale Bedeutung ganz verloren geht wie
bei nhd. weil. Auf ganz entsprechende Weise gehen Präpositionen von lokaler oder temporaler Bedeutung zu
kausaler über.

1. Auf die Theorieen von der Entstehung der Kasus gehe ich hier nicht ein, da auf diesem Gebiete alles zu
wenig sicher ist, als dass es für die Erkenntnis der allgemeinen Entwickelungsbedingungen verwertet
werden könnte. Ungewiss bleibt es dabei z. B., wieweit die Grundbedeutung der indogermanischen Kasus
durch die Bedeutung bedingt ist, welche die Kasussuffixe vor ihrer Verschmelzung mit dem Stamme als
selbständige Wörter gehabt haben, und wieweit die Kasusbedeutung erst durch Anpassung in Folge der
Verwendung im Satzgefüge entstanden ist. Dass das eine wie das andere für die Entstehung des
indogermanischen Kasussystems in Betracht kommt, kann allerdings wohl kaum zweifelhaft sein. Dass die
Anpassung eine Rolle gespielt hat, ergibt sich ja schon aus dem Mangel einer Unterscheidung zwischen
Nom. und Akk. beim Neutrum, wobei teilweise gar kein Kasussuffix vorhanden ist. Wundt unterscheidet
Kasus der inneren und Kasus der äusseren Determination. Zu den ersteren rechnet er Nom., Akk., Dat.,
Gen. Von ihnen nimmt er an, dass sie gewissermassen notwendige Kasus wären, die in keiner Sprache
fehlten, auch wenn sie nicht durch Suffixe gekennzeichnet wären. Richtig ist an dieser Auffassung, dass die
syntaktischen Beziehungen, die in den indogermanischen Sprachen durch diese Kasus ausgedrückt werden,
schon vorher bestanden haben, ehe besondere Zeichen dafür vorhanden waren. Aber es muss einmal eine
Periode gegeben haben, in der auch für die Beziehungen, die später durch die »Kasus der äusseren
Determination« ausgedrückt werden konnten, die blosse Aneinanderreihung von Wörtern, die aller
Deklinationsformen entbehrten, genügen musste. Wie wenig sich die Wundtsche Unterscheidung wirklich
durchführen lässt, zeigt besonders der Gebrauch des Akk. zur Bezeichnung des Zieles einer Bewegung
(Athenas proficisci), der doch dem Gebrauch des Lokativs und Ablativs parallel ist, die Wundt zu den
Kasus der äusseren Determination rechnet.
2. Weitere Beispiele aus dem Deutschen bei Andr. Spr. S. 827 und in meiner Deutschen Grammatik IV, §§
44, 319, 326.

ACHTES KAPITEL.

KONTAMINATION.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 110. Unter Kontamination[1]) verstehe ich den Vorgang, dass zwei synonyme oder irgendwie verwandte
Ausdrucksformen sich neben einander ins Bewusstsein drängen, so dass keine von beiden rein zur Geltung kommt,
sondern eine neue Form entsteht, in der sich Elemente der einen mit Elementen der andern mischen. Auch dieser
Vorgang ist natürlich zunächst individuell und momentan. Aber durch Wiederholung und durch das
Zusammentreffen verschiedener Individuen kann auch hier wie auf allen übrigen Gebieten das Individuelle
allmählich usuell werden.

Die Kontamination zeigt sich teils in der Lautgestaltung einzelner Wörter, teils in der syntaktischen
Verknüpfung.

§ 111. Verhältnismässig selten ist wohl Mischung aus gleichbedeutenden, aber etymologisch nicht
zusammenhängenden Wörtern. Auf ein charakteristisches Beispiel hat Schuchardt hingewiesen. Im ämilischen
Dialekt gibt es ein Wort cminzipià anfangen, [161 Formen aus verschiedenen Wurzeln.] Kontamination aus den
Wörtern cominciare und principiare der italienischen Schriftsprache. Weitere Beispiele sind spätmhd. und anhd.
krûsp, krausp, aus krûs, kraus und krisp (aus lat. crispus); landschaftl. (nordd.) flispern aus flistern (flüstern) und
fispern (letzteres anhd. und noch landschaftlich); landschaftl. (vgl. Zschr. f. deutsche Wortforschung 7, 139)
Erdtoffel aus Kartoffel und Erdapfel; ahd. antluzzi (Antlitz) aus antlutti und *antliz (= anord. andlit); mhd. traher
aus trahen (Träne) und zaher (Zähre); landschaftl. Grachel aus Granne und Achel, schwed. pryl (Pfriem) aus pryn
und syl; Gemäldnis (15. 16. Jahrh.) aus Gemälde und Bildnis; afranz. oreste aus orage und tempeste. Es ist dies
übrigens ein Gebiet, auf dem begreiflicherweise der Vermutung ein weiter Spielraum gewährt ist, während sichere
Feststellungen schwierig sind.

§ 112. Leichter ergibt sich die Mischung bei etymologischer Verwandtschaft der Synonyma. Vgl. gewohnt aus dem
Adj. mhd. gewon (noch in Gewohnheit, gewöhnlich) und dem Part. mhd. gewent von wenen (gewöhnen); doppelt
aus dem Adj. doppel (= franz. double) und dem noch im vorigen Jahrh. ganz üblichen Part. gedoppelt; nordd. das
Fohlen aus der Fohle (= mhd. vole) und dem Dim. dazu das Füllen; neben seit bestand früher gleichbedeutendes
sint, erhalten in sintemal (= sint dem mâle), woneben die Mischform seintemal vorkommt; eine andere Nebenform
zu seit war mhd. sider, woraus eine Kontaminationsbildung seider entsprungen ist; anhd. erscheint zuweilen
Gefrürste als Mischung aus dem häufigeren Gefrüste, Kollektivbildung zu Frost, und gleichbedeutendem Gefrüre;
ferner Gelübdnis, Gelöbdnis aus Gelübde und Gelöbnis; anhd. und noch landschaftlich ist seind aus
schriftsprachlichem sind (ursprünglich 3. Pl.) und mundartlichem sein (ursprünglich 1. Pl.) In die Syntax greift über
gewahrnehmen bei Schiller aus wahrnehmen und gewahr werden.

§ 113. Formen aus verschiedenen Wurzeln, die sich zu einem Paradigma ergänzen, beeinflussen sich leicht
gegenseitig. Älteres wis (sei) aus ahd. wesan wird im Mhd. allmählich durch bis verdrängt unter dem Einflusse von
bist. Ahd. bim (bin) ist wahrscheinlich eine Kontamination aus im (got.) und *bium (= ags. béom); desgl. nach
umgekehrter Richtung hin ags. éom; ahd. birum, birut (wir sind, ihr seid) sind wahrscheinlich aus *irum, *irut (=
anord. erom, eroð) entstanden mit Herübernahme des b aus der 1. 2 Sg. Griech. hê^mai hat den ihm eigentlich nicht
zukommenden Spiritus asper erhalten, nachdem es als Perf. zu hézomai empfunden wurde. Das e von emoû stammt
vielleicht von egô'.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 114. Wörter, die in ihrer Bedeutung untereinander verwandt sind, wozu insbesondere auch die Gegensätze[2]) zu
rechnen sind, und [162 Achtes Kapitel. Kontamination.] die in Folge davon meist auch häufig miteinander
verbunden werden, beeinflussen sich gegenseitig, besonders, wenn schon vorher zwischen ihnen eine gewisse
lautliche Ähnlichkeit besteht, sei es, dass diese auf Übereinstimmung der Bildungsweise beruht oder nur zufällig ist.
Vgl. alemannisch hara statt hera (her) nach dara (dahin); umgekehrt spätmhd. (elsässisch) der für dar nach her;
ags. þider (dorthin) statt *þäder nach hider (hierhin); engl. neither statt des zu erwartenden *nother (ags. náwðer,
nó[w]þer) nach either; vulgärlat. voster, als Substrat für die romanischen Sprachen vorauszusetzen, statt vester nach
noster; griech. mêkéti mit Entlehnung des k von oukéti; vulgärlat. grevis (it. greve) für gravis nach levis; spätlat.
senexter aus sinister und dexter; franz. anormal aus normal und anomal; lat. noctu nach diu, nocturnus nach
diurnus; spätlat. meridionalis statt meridianus nach septentrionalis; vulgärlat. octember nach september, november;
span. lunes (Montag), miercoles (Mittwoch) nach martes, juéves, viérnes (aus Martis, Jovis, Veneris, sc. dies). Über
die gegenseitige Beeinflussung von aufeinander folgenden Zahlwörtern handelt Osthoff, Morphologische
Untersuchungen I, 92ff.
§ 115. Nicht bloss zwei einzelne Formen kontaminieren sich unter einander, sondern auch eine Form mit einer
formalen Gruppe oder zwei formale Gruppen untereinander. Auf diese Weise entsteht häufig ein Pleonasmus von
Bildungselementen. Neben der gebräuchlichsten Kollektivbildung, wie wir sie in Gebirge, Gebüsch etc. haben,
bestand früher eine mit Suffix ahd. -ahi = mhd. -ech, nhd. -ich (-ig) oder -icht mit sekundärem t, wovon wir Reste in
Reisig, Dickicht haben, anhd. findet sich die letztere mit Vorsetzung des der ersteren entnommenen ge-, vgl. z. B. im
DWb Gekräuticht, Geröhricht, Gespülich(t), Gestäudig, Gesteinicht, Gestockicht, Gesträuchich(t), Gesträussich(t),
Gestrüppig, Gestrüttich(t). Adjektiva auf -icht (= ahd. -aht, -oht), wie töricht waren im älteren Nhd. noch viel
zahlreicher als jetzt; sie berührten sich in der Funktion mit Partizipialbildungen wie gehörnt, gestirnt; das ergab
Bildungen wie gehörnicht, gestirnicht, geknöpflecht, gesprecklicht, gesprenklicht, gesteinicht (vgl. die Belege im
DWb). Durch Kontamination des erwähnten -icht mit -lich entsteht -licht, vgl. im DWb rundlicht, schärfflicht; durch
Kontamination mit -ig entsteht -echtig, wofür Laurentius Albertus in seiner Grammatik (Fa) als Beispiel örechtig
auritus anführt, vgl. auch dornechtig im DWb. Besonders häufig im Anhd. ist die Verbindung von -haft und -ig zu
haftig, das sich in der jetzigen Sprache nur in einer beschränkten Zahl von Wörtern erhalten hat wie leibhaftig,
wahrhaftig, aber in allgemeinem Gebrauch fortlebt in den abgeleiteten Substantiven Lebhaftigkeit, Standhaftigkeit
etc.; vgl. die niederländischen Bildungen auf -achtig. Nhd. Fritzens, Mariens etc. sind aus älterem Fritzen, Marien
entstanden, [163 Bedeutungsverwandte Wörter und Gruppen.] indem daran noch die verbreitetste Genitivendung
angetreten ist; in den ostnordischen Sprachen ist aus der Verbindung der alten Endung des Gen. Pl. - a mit der
geläufigsten Singularendung -s zunächst -as entstanden. Besonders häufig erweitern sich Formen, die auf eine
weniger gewöhnliche Weise gebildet sind, durch das Suffix der normalen Bildungsweise.[3]) So sind ihrer, ihnen,
derer, denen aus ir, in, der, den durch Hinzutritt des Suffixes der Adjektiva gebildet; so schon ahd. inan (ihn) gegen
got. ina. In alemannischen und fränkischen Mundarten tritt an einsilbige Infinitive und starke Partizipia noch die
Endung -e (= -en der Schriftsprache), z. B. sêne (sehen), gsêne (gesehen), in der Mundart von Tauberbischofsheim
sdêne (stehen), gêne (gehen), dûne (tun), gedûne (getan) etc.; in dieser Mundart werden sdêne, gêne, dûne auch als
1. 3. Pl. Ind. Präs. gebraucht; dieselbe Mundart kennt auch Antritt der Endung des starken Part. an ein einsilbiges
schwaches: kode (gehabt); Entsprechendes findet sich schon in mhd. Zeit:[4]) volbrahten, erdahten. Vgl. ferner lat.
jactitare, cantitare, ventitare statt jactare etc. unter Einfluss von volitare etc.; spanische Adjektiva wie celestial,
divinal, humanal (vgl. Michaelis S. 38). Besonders gewöhnlich ist eine Häufung der Suffixe des Komparativs und
Superlativs, vgl. nhd. öftrer (häufig bei Le.); letzteste (Goe.); ahd. mêriro gegen got. maiza; got. aftumists,
auhumists, frumists neben aftuma, auhuma, fruma, dazu hindumists, spedumists; spätlat. pluriores, minimissimus,
pessimissimus, extremissimus, postremissimus; griech. areióteros, chereióteros, prô'tistos u. a.; auch die
gewöhnlichsten Superlativbildungen der verschiedenen indogermanischen Sprachen sind meistens schon durch
Zusammenschluss mehrerer Suffixe entstanden. Ebenso spielt bei den Diminutiven diese Art Häufung eine grosse
Rolle; sie liegt im Deutschen nicht bloss vor in Bildungen wie Ringelchen, Sächelchen, sondern auch schon -chen
und -lein sind aus der Verschmelzung zweier Suffixe entstanden; ähnlich verhält es sich in anderen Sprachen. Auf
entsprechende Weise zu erklären ist das doppelte Präfix in gegessen (mhd. gezzen) und in süd- und ostfränk. gekört
statt kört aus gehoeret.

§ 116. Eine noch bedeutendere Rolle spielt die Kontamination auf syntaktischem Gebiete. Nicht bloss die
nachlässigere Umgangssprache ist voll davon, sondern selbst hervorragende Schriftsteller bieten nicht wenige
Beispiele. Manches ist in den allgemeinen Gebrauch eingegangen.

Beispiele von momentanen Anomalieen, wie sie nicht selten begegnen. Lessing: um deines Lebens wegen,
Mischung aus um . . willen und wegen; entsprechend in der Kölnischen Zeitung: um . . halber [164 Achtes Kapitel.
Kontamination.] (nach Andr. Spr. 194); Ähnliches häufig. Goethe: Freitags als dem ruhigsten Tage, als ob am
Freitage gesagt wäre. Lessing: ich habe nur leugnen wollen, dass ihr alsdann der Name Malerei weniger zukomme,
Mischung aus leugnen . . dass . . zukomme und behaupten . . dass . . weniger zukomme. Stalder (Schweiz. Idioticon):
es ist eine pure Unmöglichkeit, all die mannigfachen Dialekte . . in Regeln einzuklammern oder in Schriftzeichen zu
bringen, und noch weniger die Nuancen derselben; dabei schwebt der Gedanke vor und noch weniger ist es möglich

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

etc. Ähnlich Herder: wo haben sich diese je darauf eingeschränkt, mit einem Beweise aus dem A. T. ihre Lehre zu
unterstützen, und noch minder ihre moralischen Vorschriften? Görres: eine Privatsammlung, die vollständiger
gesammelt hatte, als wenige öffentliche wohl mögen; es sollte in diesem Zusammenhange heissen viele, aber der
Gesamtsinn ist wenige haben so vollständig gesammelt. Hans Sachs: Ein jedes tut, als es dann wolt als jhm von jem
geschehen solt; dabei mischen sich die beiden Gedanken »wie es wollte dass ihm von jenem geschehen sollte« und
»wie ihm geschehen sollte«. Hartmann von Aue: er bereite sich dar zuo als er ze velde wolde komen (aus dar zuo
daz er ze velde kæme und als er ze velde wolde komen). Id.: des weinens tet in michel nôt aus daz weinen tet in und
des weinens was in. Goethe: Im Betragen unterschied sich auch hier der Gesandte von Plotho wieder vor allen
andern, Mischung mit »zeichnete sich aus vor« oder dergl. Goe.: die Schicksale meiner Wanderschaft werden dich
mehr davon überzeugen, als die wärmsten Versicherungen kaum tun können; hier deutet das kaum eigentlich auf
eine ganz andere Ausdrucksweise.

§ 117. Nicht selten ist bei Rückbeziehung die Ungenauigkeit, dass sich statt des wirklich gesetzten Wortes die
Vorstellung eines etymologisch verwandten unterschiebt, dessen sich der Redende gleichfalls hätte bedienen
können. So schiebt sich z. B. die Vorstellung der Einwohner an die Stelle der Stadt oder des Landes, vgl. griech.
Themistoklê^s pheúgei es Kérkuran ô`n autô^n euergétês (Thuc.); lat. Domitius navibus Massiliam pervenit atque
ab iis receptus urbi proeficitur (Caes.); Sutrium, socios populi Romani (Liv.); nhd. so waren wir denn an der Grenze
von Frankreich alles französischen Wesens auf einmal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden wir zu bestimmt und
zu vornehm, ihre Dichtung kalt etc. (Goe.). Nach Ableitungen aus einem Grundworte wird öfters fortgefahren, als
ob das Grundwort selbst gesetzt wäre, vgl. innere Stärke kann man der Bodmerischen und Breitingerischen Kritik
nicht absprechen, und man muss den ersten als einen Patriarchen ansehn (Herder); het ich mich nicht jung tun
verweiben, die er mir jetzt drey jar anhengen thet (H. Sachs);[5]) mhd. in dem palas der wol gekerzet [165
Syntaktische Verhältnisse.] was, die (welche Kerzen) harte liehte brunnen (Wolfram); entwâpent wart der tôte man
und an den lebenden gelegt (als Subjekt zu ergänzen diu wâpen, id.); lat. servili tumultu, quos (als ob servorum da
stünde, Caes.). Am häufigsten ist der Fall, dass das Relativum auf ein Possessivpron. bezogen wird, als wenn das
Personalpron. da stünde, vgl. lat. laudare fortunas meas, qui gnatum haberem tali ingenio praeditum (Terenz);
griech. tê^s emê^s epeisódou, hòn mê't' okneîte (Soph.); mhd. allgemein.
§ 118. Häufig sind Konstruktionsmischungen wie mich freut deines Mutes (Klinger) aus ich freue mich deines Mutes
und mich freut dein Mut; ich konnte mich nicht mehr auf den lieben Namen erinnern (Heine) unter Einfluss von
besinnen; du musst meiner gar nicht in Acht nehmen aus mich in Acht nehmen und meiner achten (Pestalozzi); nötig
haben mit Gen. wie Not haben, vgl. du hast des Schlafs und der Ruhe nötig (Miller), in dem andern leichten haben
wir seiner gar nicht nötig (J. Grimm), wenn nicht das Buch eines Schildes unnötig gehabt hätte (ders.); das gibt
mich Wunder aus nimmt mich und gibt mir (vgl. DWb 4a 1670); das lohnt sich der Mühe aus das lohnt sich und
lohnt der Mühe; das gehört mein (vgl. DWb 4a 2508) aus gehört mir und ist mein. Französisch ist se rappeler de
quelque chose neben se r. quelque chose nach se souvenir de. Im Engl. sagt man allgemein I am friends with him aus
I am friend with him und we are friends; entsprechend in der dänischen Volkssprache han er gode venner med ham
(er ist gute Freunde mit ihm). In der französischen Volkssprache sind Konstruktionen üblich wie nous chantions
avec lui durch Vermischung aus nous chantions, moi et lui und je chantais avec lui; Ähnliches findet sich auch in
anderen romanischen Sprachen und in der Umgangssprache mancher deutschen Landschaften.[6]) Der dänischen
Volkssprache angehörig ist die Wendung jeg følges med ham (eigentlich »ich folge mir mit ihm«) aus jeg følger med
ham und ve følges ad.[7]) Im Griech. kommt vor ho hê'misus toû chrónou, tê`n pleístên tê`s stratiâs aus ho hê'misus
chrónos und tò hê'misu toû chrónou etc.; entsprechend im Span. muchas de virgenes statt muchas virgenes oder
mucho de virgenes, á pocos de dias, una poca de miel, tantas de yerbas, la mas de la gente; it. in poca d' ora, la piu
della gente; ähnliche Mischungen auch im Portug., Prov. und Altfranz.[8]) Ähnlich ist eine Kontamination bei dem
lateinischen Gerundium; poenarum solvendi tempus (Lucrez) aus poenarum solvendarum und poenas solvendi,
exemplorum elegendi potestas (Cic.). Cicero sagt eorum partim in pompa, partim in acie illustres esse voluerunt,
[166 Achtes Kapitel. Kontamination.] wobei sich eorum pars und ii partim mischen; der entsprechende Vorgang ist
im älteren Nhd. gewöhnlich, vgl. teils Leute nennen ihn zum Spott den Unverstand (Cronegk).

Aus der Vermengung komparativischer und superlativischer Ausdrucksweise entstehen im Lat. Verbindungen wie
hi ceterorum Britannorum fugacissimi (Tac.); omnium ante se genitorum diligentissimus (Plinius), vgl. Ziem. Comp.
55ff. Umgekehrt kommt auch der Superl. nach der Weise des Komparativs konstruiert vor, vgl. omni vero
verissimum certoque certissimum (Arnobius). Damit vgl. man anord. hæstr borinn hverjum jofri (Grípisspá, »der
Höchste« statt »höher als jeglicher Fürst«). Eine etwas andere Art von Vermischung zeigen folgende englische
Beispiele: The climate of Pau is perhaps the most genial and the best suited to invalids of any other spot in France
(Murray); Adam the goodliest man of men since born His sons: the fairest of her daughters Eve (Milton); oder
folgendes mittelhochdeutsche: und kuste den wirst getânen (hässlichsten) munt, der im vordes ie wart kunt
(Lanzelet). Ein Verb., das einen Vergleich bezeichnet, erscheint nach Analogie des Komp. konstruiert: ich ziehe es
vor mich mit den Verfassern als mit ihren Büchern zu beschäftigen (Wilbrandt).

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Im Lat. steht öfters neben dem Imp. ein jam dudum, z. B. jam dudum sumite poenas, eine Mischung der Gedanken
»nehmt doch« und »ihr hättet schon längst nehmen sollen«.

Nicht selten ist im Mhd. nach wizzen die Verbindung eines Fragewortes mit dem Inf., z. B. dô enweste er wie
gebâren; man erwartet ein Verb. finitum, und die Konstruktion lässt sich wohl nur so erklären, dass man eine
Einwirkung der Fälle annimmt, in denen der Inf. ohne Fragewort direkt vom Verb. abhing. Dasselbe gilt natürlich
von den entsprechenden romanischen Konstruktionen, vgl. franz. je ne sais quel parti prendre, it. non so che fare
etc. (Diez III, 230). Ähnlich verhalten sich it. non ho che dire, span. non tengo con quien hablar, franz. il trouva à
qui parler, la terre fournit de quoi nourrir ses habitants, schon spätl. non habent quid respondere (vgl. Diez a. a.
O.), engl. how have I then with whom to hold converse (Milton), then sought where to lie hid (id.) u. dergl.

Als eine Kontamination wird es auch zu betrachten sein, wenn von einem Verbum ein Fragesatz abhängig gemacht
wird und zugleich noch das Subjekt dieses Fragesatzes als nominales Objekt, vgl. lat. nosti Marcellum quam tardus
sit (Caelius); viden scelestum ut aucupatur (Plaut.), observatote eum quam blande palpatur mulieri (Terenz); dic
modo hominem qui sit (Plaut.), patriam te rogo quae sit (Plaut.), it. tu 'l saprai bene chi è (Boccaccio), Ähnliches
häufig in den älteren romanischen Sprachen (vgl. Diez III, 391). Ebenso steht nominales Ob- [167 syntaktische
Verhältnisse.] jekt neben einem Objektssatz, vgl. mhd. swenne er sîn sêle sæhe das si in tôtsünden wære, die liset
man si wîlen wæren des wunderlichen Alexandres man, dô hiez in got daz er dar în gienge, die wil ich daz siz
merken; nhd. da ihn sahen alle, die ihn vorhin gekannt hatten, dass er mit den Propheten weissagete (Lu.); analog
auch welchen ihr sprecht, er sei euer Gott (Lu.). Das Objekt des regierenden Satzes kann auch im abhängigen
Objekt sein, vgl. vierhundert Taler, die sie nicht wüsste, wie sie sie bezahlen sollte (Le.). So kann auch neben einem
Subjektssatz mit dass als Subjekt noch das Subjekt oder Objekt desselben als Subjekt des regierenden Satzes treten,
vgl. mich will Antonio von hinnen treiben und will nicht scheinen, dass er mich vertreibt (Goe.); nichts, was ihn
gereuen könnte, dass ers gab (id.).

Statt der selbe der oder der gleiche wie sagt man auch der selbe wie und der gleiche der; ebenso im lat. idem ut, z.
B. in eadem sunt injustitia, ut si in suam rem aliena convertant (Cic.). Häufig begegnet man Wendungen folgender
Art: dass sie nichts spricht kommt daher, weil sie nichts denkt (Le.); das kommt daher, wenn man sich ganze Tage
nicht sieht (Goe.); woher sind so viel Verwirrungen entstanden, als weil man den spätern Zustand einer Sache
vergass (Herder); der Gedanke wurde dadurch notwendig, weil man voraussah (Wieland); wie du mir die
nachsichtsvolle Behandlung eines Generals gegen sein Regiment (Mischung mit Verfahren gegen oder dergl.)
dadurch begreiflich machtest, weil er in seinen ersten Dienstjahren selbst Spiessruten gelaufen sei (Thümmel); dem
Gefühl, welches dadurch beleidigt wurde, wenn jemand zu viel ass (Moritz); Wortstreit, der daraus entsteht, weil
ich die Sachen unter andern Kombinationen sentiere (Goe.); das schliesse ich daraus, weil es mich ärgert (Schi.);
die grösste Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle zu unterscheiden weiss
(Le.); da der allergrösste Verdruss darinne besteht, wenn man jede Kraft besser und lebhafter ausbildet (Goe.); nun
wartete man darauf, bis die ordentlichen Schauspieler wieder wegreisen würden (Moritz); im Falle, wenn man auf
ihn noch zu reflektieren gedächte (Goe.); die Hauptsache davon ist, weil Sie durch Ihre eigene sehr starke
Empfindung Criticus sind (Klopstock); aus der ganz natürlichen Ursache, weil das Wissen unendlich ist (Goe.); aus
dem ganz einfachen Grunde: weil der kluge König schon seine Massregeln genommen (Heine); das macht weil ich
Dir nichts zu schreiben hatte (Tieck); Marianel benützt diese Gelegenheit schon deshalb, damit sie jedes
hingeworfene Wörtlein aufhaschen möge (Holtei); in dem Augenblicke, wenn wir ihn auch seines Bogens beraubt
sehen (Le.); bis auf den Punkt, wenn wir seine Verstandesdeduktionen nicht wollen gelten lassen (Goe.). Allgemein
üblich, zum Teil sogar notwendig sind Verbindungen wie jedesmal wenn [168 Achtes Kapitel. Kontamination.] oder
wo (statt dass), in dem Augenblicke wo (Goe. sagt noch in dem Augenblick, dass er Amen sagte) u. dergl.;
entsprechend im franz. au temps où, früher au temps que; zu dem Zwecke, in der Absicht damit; deshalb, deswegen,
darum, aus dem Grunde weil (vgl. für den älteren Gebrauch noch: deshalb, dass ich selten an den lauten
Gesellschaften Teil nahm Tieck, ihr Mann verbannte sie darum, dass sie nur tote Kinder hatte Mörike); desto besser
weil (mhd. daz), engl. the rather because neben that.

Eine verwandte Erscheinung ist es, wenn, wie häufig, anstatt eines dass in Sätzen, deren Inhalt als nicht der
Wirklichkeit entsprechend gedacht wird, ein als mit folgendem Bedingungssatz steht, vgl. glaubt nicht, als ob der
Zweck nur die Vergnügung wäre (Lichtwer); Sie dürfen aber nicht meinen, als wenn diese kindischen Vorurteile mit
unseren Vorfahren alle wären begraben worden (Le.); liess ich den Verdacht entstehen, als lebt' ich wirklich nicht
mehr (Gutzkow); der Argwohn, als wenn Andreas das Haupt einer geheimen Gesellschaft sei (Tieck); so will ich
mir einbilden, als ob ich die Fragmente zufällig fände (Schi.); indem er sich vorstellt, als ob drei zumal im Bette
lägen (G. Keller); dass Sie mir zutrauen werden, als hätte ich mein Studiren am Nagel gehangen (Le.); du musst
hieraus nicht schliessen, als wenn ich jetzo schon gewiss wäre (Klopstock); manchmal kam es ihm in den Sinn, als
müsse er herrliche Gemälde ausführen (E. T. A. Hoffmann); ihm träumte, als ob die goldne Kette ihm selbst immer
enger sich um den Fuss wickelte (Arnim); es hat verlauten wollen, als ob mehrgedachter Romann dem Peter Kappe

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

die Nase im Gesicht habe verlädieren wollen (Iffland); es sei Nachricht hier, als wenn Kammerrat Rühlemann
unterwegs krank geworden (Goe.); mit dem Namen, der den Vorwurf enthielt, als ob sie die Sache Gottes bloss
weltlichen Rücksichten aufopferten (Schi.); welchen seine Gegner anklagten, als habe er Geld von den Juden
empfangen (Heine); er hat meinen Vater überreden wollen, als ob ich ihn selbst liebte (Gellert). Umgekehrt findet
sich da, wo als ob am Platze wäre, ein Konjunktivsatz ohne Konjunktion, vgl. es war dem Fräulein, sie höre den
blauen Bart erzählen (Wieland); mir ist, ich sei das Wild (Tieck); mir war, ich sei ein Nichts (Storm); wenn man
sich stelle, man wolle fort (Jer. Gotthelf).

Wenn Cicero sagt cum accusatus esset, quod contra rempublicam sensisse eum dicerent, so ist das eine Mischung
aus quod . . sensisse eum dicebant und quod . . sensisset. Weitere Beispiele bei Draeg. § 537. Plato gebraucht sogar
Konstruktionen wie tóde, hôs oîmai, anankaiótaton eînai (vgl. Ziem. 105).

Eine im Mhd. gewöhnliche Konstruktion wäre in gesehe vil schiere mîn liep (es sei denn, dass ich bald meine
Geliebte sehe), ich bin oder [169 Syntaktische Verhältnisse.] sô bin ich tôt. Ungefähr denselben Sinn würde die
parataktische Verbindung geben ich gesihe vil schiere mîn liep oder ich bin tôt. Statt dessen sagt der Minnesinger
Steinmar in gesehe vil schiere mîn lieb alder (= oder) ich bin tôt. Noch auffallender ist eine andere Art der
Mischung, bei der oder vor den Satz mit ne tritt: ich gelige tôt under mînen van, oder ich nebeherte mîn êre
(Kaiserchronik). Noch weitere Beispiele bei Dittmar in Zeitschr. f. d. Philol., Ergänzungsb. S. 211.

§ 119. Ein prädikatives Attribut kann dieselbe Funktion haben wie ein durch eine Konjunktion eingeleiteter
Nebensatz. In Folge davon können manche Konjunktionen auch dem blossen Adj. vorgesetzt werden, wodurch eine
genauere Bezeichnung des Verhältnisses erreicht wird. So besonders im Englischen, vgl. talents angel-bright, if
wanting worth, are shining instruments (Young); nor ever did I love thee less, though mourning o'er thy wickedness
(Shelley); Mac Jan, while putting on his clothes, was shot through the head (Macaulay).[9]) Auch im Deutschen
können wir sagen: ich tat es, obschon gezwungen u. dergl. Entsprechend werden im Lat. manche Konjunktionen
dem Abl. absol. vorgesetzt, vgl. quamvis iniqua pace honeste tamen viverent (Cic.); etsi aliquo accepto detrimento
(Caes.); etsi magno aestu (Cic.).[10]) Die Konjunktionen quasi und sive, die ursprünglich nur satzeinleitend
gewesen sein können, werden ganz allgemein blossen Satzgliedern beigefügt.
Umgekehrt führt die Übereinstimmung in der Funktion zwischen Nebensätzen und präpositionellen Bestimmungen
dazu, Präpositionen zur Einleitung von Nebensätzen anzuwenden. So besonders im Englischen, vgl. for I cannot
flatter thee in pride (Sh.)., after he had begotten Seth (Genesis), without they were ordered (Marryat); besonders all-
gemein sind so til, until üblich. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass hier die Konstruktionen mit for that,
after that etc. daneben stehen. Im Deutschen sind solche Konstruktionen nicht üblich geworden, doch vgl. die
folgenden Beispiele aus Pamphilus Gengenbach: vmb er nit folget Jorams rot ward er schantlich erschlagen dot; mit
grosser andacht er anfing bätten Maria das jm geling vff er die grosse schand möcht retten; wie ers solt gryffen an
vff das vbel nit blib also verschwigen. Auch vor indirekten Fragen steht eine Präp.: at the idea of how sorry she
would be (Marryat), any suspicion of where he had been (id.), all depends upon whether they manage affairs well
(id.), the daily quarrels about who shall squander most (Gay);[11]) vgl. span. este [170 Achtes Kapitel.
Kontamination.] capitulo habla de como el rey non deba consentir; entsprechend im Portug. und Altit.[12])

§ 120. Eine in allen Sprachen häufige Erscheinung ist es, dass eine Negation gesetzt wird, die an die betreffende
Stelle eigentlich nicht gehört, aber dadurch veranlasst wird, dass der Gesamtsinn der Phrase negativ ist. So steht
noch im 18. Jahrh. häufig nach Ausdrücken, die einen negativen Sinn haben, im abhängigen durch dass eingeleiteten
Satze eine uns jetzt unlogisch erscheinende Negation, vgl. es kann nicht fehlen, dass die meisten Stimmen izt nicht
gegen mich sein sollten (Le.); wird das hindern können, dass man sie nicht schlachtet? (Schi.); er suchte daher
Xavern so viel als möglich abzuhalten, dass er nicht viel in Grünbachs Haus oder Garten ging (Miller); der
Verfasser verbittet sich, dass man seine Schrift nicht zu den elenden Spöttereien rechne (Claudius); dir abzuraten,
dass du sie nicht brächtest (Schi.); nun will ich zwar nicht leugnen, dass an diesen Büchern nicht manches zu
verbessern sein sollte (Le.); ich zweifle nicht, dass sie sich nicht beide über diese Kränkung hinwegsetzen werden
(Le.); der Lord Shaftesbury erklärte sich dawider, dass man nicht zu viel Wahrheit sagen sollte (Übersetzung des
Tom Jones 1771). Entsprechend heisst es schon im Mhd. dar umbe liez er daz, daz er niht wolte minnen (Kudrun);
ich wil des haben rât, daz der küene Hartmuot bî mir niht enstât (ib.); weitere Beispiele bringt Dittmar, Zeitschr. f.
d. Philol., Ergänzungsband 299ff. Notwendig ist die Negation schon im Mhd. nicht. Ist der regierende Satz negiert,
so pflegt im Mhd. der abhängige Satz nicht durch eine Konjunktion eingeleitet zu werden; man braucht statt dessen
bloss die Negation en mit dem Konjunktiv, vgl. mîn vrouwe sol iuch niht erlân irn saget iuwer mære. Die
Entstehung dieser Konstruktionen werden wir uns so zu denken haben, dass der Gedanke des abhängigen Satzes
sich einerseits als abhängig von dem regierenden Satze, anderseits als etwas Selbständiges in das Bewusstsein
drängte. Wenn es z. B. in der Kudrun heisst daz wil ich widerrâten, daz ir mich mit besemen gestrâfet nimmer mêr,
so ist das eigentlich eine Mischung aus den beiden Gedanken »davon will ich abraten, dass ihr mich jemals wieder
straft« und »straft mich niemals wieder«. Diese Erklärung ist allerdings nur auf diejenigen Fälle anwendbar, in

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

denen der regierende Satz positiv ist. Erst nachdem die Verwendung der Negation usuell geworden ist, kann sie auf
die Fälle mit negativem regierenden Satze übertragen sein. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, dass die Setzung der
Negation Tradition aus einer Zeit her ist, in welcher eine eigentliche grammatische Subordination des einen Satzes
unter den andern über- [171 Syntaktische Verhältnisse.] haupt noch nicht stattfand. Immerhin haben wir es auch
dann mit einer Kontamination zu tun. Verwandte Erscheinungen liegen im Lat., in den romanischen Sprachen und
anderwärts vor.

In entsprechender Weise erscheint die Negation auch neben dem Inf., wo die Herleitung aus ursprünglicher
Selbständigkeit nicht möglich ist, vgl. freilich hüten wir uns sie nicht an den gnädigen Herrn zu erinnern (Goe.); ihn
zurückzuhalten, nicht wieder vors Krankenbette zu kommen (Miller); ich habe verschworen, nicht mehr an sie zu
denken (Goe.); ich habe es verredet, in meiner gegenwärtigen Lage niemals wieder eine Nacht in Braunschweig zu
bleiben (Le.); der habe ihm verboten, den Ring weder der Königin zu geben, noch dem Grafen zurückzusenden
(Le.). Auch nach einem an sich nicht negativen, aber negierten Ausdrucke lässt sich Negation nachweisen, vgl. vnd
gentzlich kein hoffnung mehr handt zu samb zu kummen nimmer meh (H. Sachs). Ähnlich wie die Setzung der
Negation neben dem Inf. ist die Verwendung von wenig zu beurteilen in einem Satze wie ich hüte mich, so wenig als
möglich daran zu ändern (Goe.).

In verschiedenen Sprachen findet sich eine Negation nach ohne (vgl. Mätzner, Franz. § 268), z. B. franz. sans nul
égard pour nos scrupules (Béranger); span. sin fuerza ninguna (Calderon); it. senza dir niente, span. sin hablar
palabra ninguna; franz. sans que son visage n'exprimât la peine (Saint-Pierre); span. sin que nadie le viese
(Cervantes); nhd. euch sprach ich nie aus, ohne dass mein Herz nicht innigst gerührt ward (Le.); ohne dass wir bei
seiner Beurteilung weder auf irgend ein Gesetz noch auf irgend einen Zweck Rücksicht nehmen (Schi.); ohne dass
ich weder von dem Vorhergehenden noch von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet gewesen wäre (Goe.); wir
können ihn jedoch nicht dahin begleiten, ohne nicht vorher eine seiner interessantesten Jugenderinnerungen
erwähnt zu haben (Nerrlich); ohne auszufahren noch einzulaufen (G. Keller). Ebenso nach ausser: ihr findet
Widersprüche überall, ausser da nicht, wo sie wirklich sind (Le., vgl. Andr. Spr. 145). Nach als, welches auf ein
vorhergehendes nichts bezogen ist, vgl. es mangelt ihm nichts, als dass es nicht gekläret ist (Schoch); es fehlt nichts,
als dass du nicht da bist (Goe.).

Im Nhd. findet sich ein negatives Wort zuweilen neben kaum: nichts mag kaum sein so ungelegen = kaum kann
etwas so schwierig sein (Fischart), vgl. DWb 5, 355; nach schwerlich: er hätte schwerlich mir die Ehre nicht
erzeiget (Herder), schwerlich niemals (Le.), vgl. Sanders 2b, 1048b. Ähnlich ist Setzung von kaum nach ohne, vgl.
Jahre gingen vorüber, ohne dass man es kaum merkte (Herder). Hierher könnte auch der § 71 erwähnte Gebrauch
von mhd. lützel, selten etc. gezogen werden. [172 Achtes Kapitel. Kontamination.]

Noch andere Beispiele eigentlich ungehöriger Negation sind: als er hörte, dass der Prinz dich jüngst nicht ohne
Missfallen gesehen (Le.) statt nicht ohne Wohlgefallen oder ohne Missfallen; zu edel schon, nicht müssig zu
empfangen (Schi.).

Mehrere negative Ausdrücke statt eines schliessen sich zuweilen auch zu einem Kompositum zusammen. So kommt
vor vergesslos = »vergesslich« (s. DWb 12, 424), z. B. so vergesslos ging sie mit allem um (Pestalozzi); vgl. ferner
entunehren, entungnossen, entungnossamen (DWb 3, 641. 2).

§ 121. In vielen der angeführten Beispiele ist durch die Kontamination eine Art Pleonasmus entstanden. Noch
deutlicher zeigt sich ein solcher in den folgenden. Im Lat. findet sich eine Häufung von Vergleichungspartikeln (vgl.
Draeg. § 516, 14), wie pariter hoc fit atque ut alia facta sunt (Plaut.); damit vgl. man unser volkstümliches als wie.
Ähnliche Häufungen sind lat. quasi si (Draeg. § 518, 1b), nisi si (ib. § 557f.z). Im Engl. ist es bekanntlich in vielen
Fällen möglich eine Präposition entweder zum Subst. oder zum regierenden Verbum zu stellen; es kommt aber auch
beides kombiniert vor, vgl. z. B. that fair for which love groan'd for (Shakesp.). Besonders kühn sind Fügungen wie
engl. of our generals (Shakesp.) statt of our general oder our generals. Nicht selten wird zu Ortsadverbien, die an
sich schon die Richtung woher bezeichnen, noch eine die nämliche Richtung bezeichnende Präp. gesetzt, die
eigentlich mit einem die Ruhe an einem Orte bezeichnenden Adv. verbunden werden sollte, vgl. lat. deinde, exinde,
dehinc, abhinc; nhd. von hinnen, von dannen, von wannen. Im Lat. findet sich beim Pass. öfters eine pleonastische
Bezeichnung des Plusqu.: censa fuerunt civium capita (Liv.); sicuti praeceptum fuerat (Sall.); vgl. Draeg. § 134.
Häufig begegnet man Wendungen wie der sich für uns die Erlaubnis erbat, sogleich Abschied nehmen zu dürfen
(Goe.); erlauben Sie, dass ich mich dabei beteiligen darf, vgl. die Beispiele bei Andr. Spr. 136. 7. Weitere Beispiele
für Pleonasmus im Lat. s. bei Schmalz, Lateinische Stilistik § 63-66.

Viele Beispiele bieten auch hier die Steigerungsformen des Adj. und Adv. Im Mhd. wird dem Komparativ öfters

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

noch ein baz hinzugefügt, also groezer baz etc.; ebenso im Lat. (hauptsächlich bei den Komikern) magis oder potius,
im Griech. mâllon (vgl. Ziem. Comp. 154. 5); so auch got. mais wulþrizans. Ähnliches kommt auch beim Superl.
vor, vgl. thia suâsostun mêst (Heliand), málista mégiston (Xen.), die zunächststehendsten (Frankf. Zeit nach Andr.).
Damit zu vergleichen sind Verbindungen wie magis (potius) malle, prius praecipere, pléon protimân (Xen.),
próteron prolambánein (Dem.). Lessing sagt im Laok. niemand hatte mehr Recht, wegen eines solchen Geschwieres
bekannter zu sein. [173 Syntaktische Verhältnisse.] Der Komparativ wird mit einer den Vorzug bezeichnenden
Präp. verbunden, die eigentlich nur neben dem Positiv stehen sollte, hoîsin hê turannìs prò eleutheríês ê^n
aspastóteron (Herodot), hairetô'teron eînai tòn kalòn thánaton antì toû aischroû bíou (Xen.), prae illo plenius
(Gellius), ante alios immanior omnis (Virg.), vgl. Ziem. Comp. 95ff. Auch im Deutschen ist diese Erscheinung
häufig, vgl. ich hân ze friunde mir erkorn den nidern baz der êren gert für einen hôhen sunder tugent (Winsbeke),
mit kunst vnd heylickeit solt er grosser sein für andern (Lu.), so viel der Morgen für der Nacht uns angenehmer ist
(Opitz), doch eine ward herrlicher vor allen andern (Klopstock), wie interessanter denn doch die Reinheit der Form
und ihre Bestimmtheit vor jener markigen Rohheit und schwebenden Geistigkeit ist und bleibt (Goe.). Laurentius
Albertus gibt in seiner Grammatik geradezu als regelmässig an: er ist gelerter für vilen andern. Wolfram v.
Eschenbach stellt die beiden möglichen Wendungen vollständig nebeneinander: diu prüevet manegen für in baz dan
des mæres herren Parzivâl (in bezieht sich auf Parzival). Der Superl. erscheint so gebraucht bei H. Sachs: der aller
liebst für alle gest. Eine andere Art von Pleonasmus besteht darin, dass Wörter, die an und für sich schon etwas
Komparativisches haben, noch mit einem Komparativsuffix versehen werden, vgl. der überwiegendere Teil des
Publikums (Grabbe); asächs. ôðarlîcaron zu ôðarlîc »anders beschaffen«.

Auch manche Erscheinungen, die äusserlich angesehen als Ellipsen bezeichnet werden können, beruhen im Grunde
auf einer Mischung verschiedener Ausdrucksformen. Wenn Schiller sagt ich kann nicht eher ruhig sein, bis ich
Deine Meinung über sie gehört habe, so ist blosses bis statt des korrekten als bis gesetzt, als ob in dem regierenden
Satze kein eher stünde. Diese Konstruktionsweise ist so verbreitet, dass man wohl behaupten darf, dass blosses bis
nach nicht eher häufiger ist als als bis. Ebenso nach nicht früher, vgl. ich dringe in ihr Arbeitszimmer und verlasse
es nicht früher, bis wir besitzen, was mein ist (Gutzkow). Die Richtigkeit unserer Auffassung erhellt, wenn wir zum
Vergleiche Sätze heranziehen wie ich habe so lange keine Ruhe, bis ich mich von der Seite gereinigt habe (Schi.),
Mischung aus ich habe so lange keine Ruhe, als ich mich nicht gereinigt habe und ich habe keine Ruhe, bis ich mich
gereinigt habe. So erklärt sich auch die einfache Setzung von als nach nicht anders, wo nach strenger Logik
doppeltes als stehen sollte, vgl. z. B. dass er sich nicht anders benimmt, als ob er das einzige Wesen in der Welt
wäre (Wieland); nun war es nicht anders, als wenn alle Teufel aus der Hölle zusamt losgelassen wären (Tieck); so
war es nicht anders, als hüpften mir meine Farben entgegen (Stifter). Einfaches als steht hier, als ob kein nicht
anders vorhergegangen wäre.

1. Vgl. Wheeler, Analogy S. 8ff., 19ff. Nyrop, Adjektivernes Könsböjning i de Romanske Sprog S. 38ff.
Jespersen bei Techmer 3, S. 195. Brugmann, Grundriss II, S. 453, Kurze vgl. Gramm. § 947-49 und Jdg.
Forschungen 12, 150. Bréal S. 76ff. Johansson, Zeitschr. f. deutsche Philol. 31, 300 (mit reichen
Literaturangaben). A. Thumb und K. Marbe, Experimentelle Untersuchungen über die psychologischen
Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung, Leipzig 1901. Gust. Cederschiöld, Om kontamination i
nutidssvenskam, Göteborg 1909. Oertel, Über grammatische Perseverationserscheinungen (JF. 31, 49).
Paul, Über Kontamination auf syntaktischem Gebiete (Sitzungsber. der Bayr. Ak. d. Wissensch. Philos.-
philol. u. hist. Klasse. Jhrg. 1919, 2. Abteil.). Es ist von verschiedenen Seiten die Behauptung aufgestellt,
dass sich die Kontamination nicht wesentlich von der Analogiebildung unterscheide, so auch zum Teil in
den zitierten Abhandlungen. Richtig kennzeichnet dagegen E. Herzog den Unterschied, soweit das
morphologische Gebiet in Betracht kommt, in einer Anzeige der Schrift von Thumb und Marbe (Zschr. f.
franz. Sprache 25², 124) mit den Worten: »Wir werden also die Analogiebildung definieren als die
Neuschöpfung einer Form nach einer bestimmten Proportion, wobei die ursprüngliche Form vollständig
aus dem Bewusstsein ausgeschaltet ist«. - »Kontamination ist die Neuschöpfung einer Form durch
Verschmelzung von Bestandteilen zweier Formen, die gleichzeitig ins Bewusstsein kommen.«
2. Vgl. Brugmann, IF 15, 99. [Paul, Prinzipien]
3. Vgl. Brugmann, Morph. Unt. III, 67ff., Zimmer, Streifz. 146.
4. Vgl. Bruder Hermanns Jolande, hrsg. v. Meier, S. XVIII.
5. Weitere Beipiele bei Andr. Spr. 252ff. und in meiner Abh. über Kontamination.
6. Vgl. Ebeling, Archiv für neuere Sprachen 104, 129, wo die ältere Literatur über den Gegenstand
verzeichnet ist.
7. Vgl. Madvig, Kl. Schr. 193².
8. Vgl. Diez III, 152.
9. Vgl. Mätzner III, S. 72.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

10. Vgl. Draeger § 592.


11. Vgl. Mätzner III, S. 445.
12. Vgl. Diez VII, S. 388.

NEUNTES KAPITEL.

URSCHÖPFUNG.

§ 122. Wir haben es uns bisher zum Gesetz gemacht uns unsere Anschauungen über die sprachlichen Vorgänge aus
solchen Beobachtungen zu bilden, die wir an der historisch deutlich zu verfolgenden Entwickelung machen konnten,
und erst von diesen aus Rückschlüsse auf die Urgeschichte der Sprache zu machen. Wir müssen versuchen diesem
Prinzipe auch bei der Beurteilung der Urschöpfung möglichst treu zu bleiben, wenn sich hier auch grössere
Schwierigkeiten in den Weg stellen. Sie unmittelbar zu beobachten bietet sich uns nicht leicht die Gelegenheit. Denn
solche singulären Fälle, von denen uns wohl einmal berichtet wird, wie etwa die willkürliche Erfindung des Wortes
Gas können nicht gerade viel Aufschluss über die natürliche Sprachentwickelung geben. So schwebt denn über dem
Vorgange ein gewisses mystisches Dunkel, und es tauchen immer wieder Ansichten auf, die ihn auf ein
eigentümliches Vermögen der ursprünglichen Menschheit zurückführen, welches jetzt verloren gegangen sein soll.
Solche Anschauungen müssen entschieden zurückgewiesen werden. Auch in der gegenwärtig bestehenden
leiblichen und geistigen Natur des Menschen müssen alle Bedingungen liegen, die zu primitiver Sprachschöpfung
erforderlich sind. Ja, wenn die geistigen Anlagen sich zu höherer Vollkommenheit entwickelt haben, so werden wir
daraus sogar die Konsequenz ziehen müssen, dass auch diese Bedingungen jetzt in noch vollkommenerer Weise
vorhanden sind als zur Zeit der ersten Anfänge menschlicher Sprache. Wenn wir im allgemeinen keinen neuen
Sprachstoff mehr schaffen, so liegt das einfach daran, dass das Bedürfnis dazu nicht mehr vorhanden ist. Es kann
kaum eine Vorstellung oder Empfindung in uns auftauchen, von welcher nicht eine Assoziationsleitung zu dem
überlieferten Sprachstoff hinüberführte. Dies massenhafte Material, auf das wir einmal eingeübt sind, lässt nichts
Neues neben sich aufkommen, zumal da es sich durch mannigfache Zusammenfügung und durch [175 Junge
onomatopoetische Neuschöpfungen.] Bedeutungsübertragung bequem erweitern lässt. Würde man aber das
Experiment machen eine Anzahl von Kindern ohne Bekanntschaft mit irgend einer Sprache aufwachsen zu lassen,
sie sorgfältig abzuschliessen und nur auf den Verkehr unter sich einzuschränken, so brauchen wir kaum zweifelhaft
zu sein, was der Erfolg sein würde: sie würden sich, indem sie heranwüchsen, eine eigene Sprache aus
selbstgeschaffenen Wörtern bilden.

Etwas einem solchen Experimente wenigstens annähernd Gleichkommendes soll wirklich vorliegen. Bekannt ist
durch Max Müllers Vorlesungen der Bericht des Robert Moffat über die sprachlichen Zustände in vereinzelten
Wüstendörfern Südafrikas. Danach sollten sich dort die Kinder während häufiger langer Abwesenheit ihrer Eltern
selbst eine Sprache erfinden. Doch möchte ich ohne die Mitteilung genauerer Beobachtungen nicht zu viel Wert auf
solche Angaben legen.[1])

§ 123. Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Wir sind, glaube ich, zu der Behauptung berechtigt, dass
selbst in den Sprachen der europäischen Kulturvölker die Schöpfung neuen Stoffes niemals ganz aufgehört
hat. Nach allen Fortschritten, welche die indogermanische Etymologie in den letzten Dezennien gemacht hat, bleibt
immer noch ein sehr beträchtlicher Rest von Wörtern, die weder auf Wurzeln der Grundsprache zurückgeführt, noch
als Entlehnung aus fremden Sprachen nachgewiesen werden können. Ja, wenn wir den Wortvorrat der lebenden
deutschen Mundarten durchmustern, so finden wir darin sehr vieles, was wir ausserstande sind zu dem
mittelhochdeutschen Wortvorrat in Beziehung zu setzen. Gewiss müssen wir die Ursache dieses Umstandes zu
einem grossen Teile darin sehen, dass unsere Überlieferung vielfach lückenhaft, unsere wissenschaftlichen
Kombinationen noch unvollkommen sind. Immerhin aber bleibt eine beträchtliche Anzahl von Fällen, in denen
schwer abzusehen ist, wie vermittelst der Lautentwickelung und Analogiebildung eine Anknüpfung an älteren
Sprachstoff je möglich werden soll. Wir werden daher den jüngeren und jüngsten Sprachperioden nicht bloss die
Fähigkeit zur Urschöpfung zuzuschreiben haben, sondern auch die wirkliche Ausübung dieser Fähigkeit. Wir dürfen
auch hier die Ansicht nicht gelten lassen, es seien in der Entwickelung der Sprache zwei Perioden zu unterscheiden,
die eine, in welcher der ursprüngliche Sprachstoff, die sogenannten Wurzeln, geschaffen würde, und eine zweite, in
welcher man sich begnügt hätte aus dem vorhandenen Stoffe Kombinationen zu gestalten. In der Entwickelung der
Volkssprache gibt es keinen Zeit- [176 Neuntes Kapitel. Urschöpfung.] punkt, in welchem die Urschöpfung
abgeschlossen wäre. Anderseits haben sich gewiss kurz nach den ersten Urschöpfungen dieselben Arten der
Weiterentwickelung des ursprünglich Geschaffenen geltend gemacht, wie wir sie in den späteren Perioden
beobachtet haben. Es besteht in dieser Hinsicht zwischen den verschiedenen Entwickelungsphasen kein Unterschied

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

der Art, sondern nur des Grades. Es ändert sich nur das Verhältnis der Urschöpfung zu der traditionellen
Fortpflanzung des Geschaffenen und zu den anderweitigen Mitteln der Sprachbereicherung, der
Bedeutungserweiterung durch Apperzeption, der Kombination einfacher Elemente, der Analogiebildung etc.

§ 124. Das Wesen der Urschöpfung besteht, wie wir schon gesehen haben, darin, dass eine Lautgruppe in Beziehung
zu einer Vorstellungsgruppe gesetzt wird, welche dann ihre Bedeutung ausmacht, und zwar ohne Vermittelung einer
verwandten Vorstellungsgruppe, die schon mit der Lautgruppe verknüpft ist. Eine solche Urschöpfung ist zunächst
ein Werk des Moments, welches untergehen kann, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen. Damit dadurch eine
wirkliche Sprache entstehe, müssen derartige Hervorbringungen auch eine bleibende psychische Nachwirkung
hinterlassen, infolge derer späterhin der Laut vermittelst der Bedeutung, die Bedeutung vermittelst des Lautes
gedächtnismässig reproduziert werden kann. Das Wort muss ferner auch von andern Individuen verstanden und
dann gleichfalls reproduziert werden.

Die Erfahrungen, die wir über die Entstehung neuer Wörter durch Analogiebildung und die Erfassung neuer
Anschauungen mit Hilfe des vorhandenen Wortvorrats gemacht haben, dürfen wir auch für die Beurteilung der
Urschöpfung verwerten. Wir haben bisher immer gesehen, dass die Benennung des Neuen durch eine Apperzeption
mit dem schon Benannten erfolgt, sei es, dass man einfach die schon vorhandene Benennung auf das Neue überträgt,
oder dass man aus derselben ein Kompositum oder eine Ableitung bildet; d. h. also: es besteht ein
Kausalzusammenhang zwischen dem neubenannten Objekte und seiner Benennung, vermittelt durch ein früher
benanntes Objekt. Dieser Kausalzusammenhang ist zunächst notwendig, damit die Benennung bei dem, der sie
zuerst anwendet, hervorgerufen wird, und damit sie von andern verstanden werden kann. Erst durch mehrfache
Wiederholung wird eine solche Kausalbeziehung überflüssig, indem die bloss äusserliche Assoziation allmählich
fest genug geknüpft wird. Die Folgerung, dass auch die Urschöpfung, um überhaupt geschaffen und verstanden zu
werden, eines solchen Kausalzusammenhanges bedarf, ist gewiss nicht abzuweisen. Da es nun ein vermittelndes
Glied nicht gibt, so muss man einen direkten Zusammenhang zwischen Objekt und Benennung [177 Fortdauer auf
den jüngeren Sprachstufen.] erwarten. Ausserdem aber wird das Verständnis ursprünglich ermöglicht gerade so wie
bei der Anknüpfung neuen Vorstellungsinhaltes an ein schon bestehendes Wort mit Hilfe der durch die Situation
gegebenen Anschauung und der Gebärdensprache.

Wir haben gesehen, dass in der Regel nichts in der Sprache usuell werden kann, was nicht spontan von
verschiedenen Individuen geschaffen wird. Auch gehört dazu, dass es von dem gleichen Individuum zu
verschiedenen Zeiten spontan, ohne Mitwirkung des Gedächtnisses geschaffen werden kann. Wenn aber der gleiche
Lautkomplex sich zu verschiedenen Malen und bei verschiedenen Individuen an die gleiche Bedeutung anschliesst,
so muss dieser Anschluss überall durch eine gleichmässige Ursache veranlasst sein, die ihren Sitz in der Natur des
Lautes und der Bedeutung hat, nicht in einem zufällig begleitenden Umstande. Es kann zugegeben werden, dass
gelegentlich auch eine von einem Einzelnen einmal geschaffene Verbindung allgemeine Verbreitung findet. Aber
die Möglichkeit dieses Vorganges ist in bestimmte Grenzen eingeschlossen. Ist etwa derjenige, welcher zuerst eine
Bezeichnung für ein Objekt findet, der Entdecker, Erfinder des betreffenden Objekts, so dass alle übrigen von ihm
darüber unterrichtet werden, so ist damit auch der von ihm gefundenen Bezeichnung eine Autorität verliehen. Bei
den wenigsten Objekten ist ein solches Verhältnis denkbar. In der Regel kann es nur die Angemessenheit der
Bezeichnung sein, was ihr allgemeinen Eingang verschafft, d. h. also wieder die innere Beziehung zwischen Laut
und Bedeutung, die, wo eine Vermittelung fehlt, auf nichts anderem beruhen kann als auf dem sinnlichen Eindruck
des Lautes auf den Hörenden und auf der Befriedigung, welche die zur Erzeugung des Lautes erforderliche Tätigkeit
der motorischen Nerven dem Sprechenden gewährt.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 125. Fassen wir nun die Wörter, bei denen ein begründeter Verdacht vorliegt, dass sie verhältnismässig junge
Neuschöpfungen sind, näher ins Auge, so zeigt sich, dass es vorzugsweise solche sind, welche verschiedene Arten
von Geräuschen und Bewegungen bezeichnen.[2]) Man vgl. z. B. nhd. bambeln, bammeln, bummeln, bimmeln,
batzen (nd. schallend auffallen), bauzen (= batzen - bellen), belfen, belfern, blaffen, blarren, blerren, blatzen,
platzen, pletzen, bletschen, pletschen, platschern, planschen, panschen, plätschern, blodern, plaudern, blubbern,
plappern, blauzen, Böller, bollern, bullern, ballern, boldern, poldern, bompern, bumpern, Buff, buffen, Puff, puffen,
burren, bubbeln, puppeln, puppern, dudeln, [178 Neuntes Kapitel. Urschöpfung.] fimmeln, fummeln, flattern,
Flinder, flindern, Flinderling, flandern, flink, flinken, flinkern, flirren, flarren, flarzen, flartschen, flismen, flispern,
Flitter, flodern, flunkern, flüstern, gackeln, gackern, Gautsche, gautschen, glucken, glucksen, grackeln, hampeln,
humpen, humpeln, hätscheln, holpern, hurren, huschen, kabbeln, kichern, kirren, kischen (zischen), klabastern,
Klachel oder Klächel (bayrisch = Glockenschwengel oder anderes baumelndes Ding), klatschen, kletzen, kleschen
(= klatschen), klimpern, klirren, Klunker, knabbeln, knabbern, knacken, Knacks, knarpeln, knarren, knarzen,
knarschen, knirren, knirschen, knurren, knascheln, knaspeln, knastern, knisten, knistern, Knaster(-bart), knatschen,
knetschen, knitschen, knutschen, knattern, knittern, knuffen, knüffeln, knüllen, knuppern, knuspern, kollern, kullern,
krabbeln, kribbeln, krakeln, kräkeln, kreischen, kuckern (cucurire), lodern, lullen, mucken, mucksen, munkeln,
murren, nutschen, pfuschen, pimpeln, pimpelig, pinken, pladdern, plumpen, plumpsen, prasseln, prusten, quabbeln,
quabbelig, quackeln, quaken, quäken, quieken, quieschen, rappeln, rapsen, rascheln, rasseln, räuspern, rempeln,
Rummel, rumpeln, rüppeln, schlabbern, schlampen, schlampampen, schluckern, schlottern, schlürfen, schmettern,
schnack, schnacken, schrill, schummeln, schwabeln, schwappen, stöhnen, stolpern, strullen, summen, surren,
tatschen, tätschen, tätscheln, ticken, torkeln, turzeln (hessisch = torkeln), tuten, wabbeln, wibbeln, watscheln,
wimmeln, wimmern, wudeln, ziepen, zirpen, zischen, zischeln, zullen und zulpen (saugen), züsseln (schütteln),
zwitschern. Einige Wörter bezeichnen zugleich Schall und Zerplatzen wie Klack, Klaff; andere Schall und
Schmutzfleck wie Klacks, Klecks, Klatsch. Ich habe mich absichtlich auf solche Wörter eingeschränkt, die
frühestens im Spätmittelhochdeutschen nachweisbar sind. Man könnte ebenso eine reichliche Liste derartiger
Wörter aus den älteren germanischen Dialekten zusammentragen, die nichts Vergleichbares in den übrigen
indogermanischen Sprachen haben, desgleichen aus dem Griechischen und Lateinischen. Man wird sich dem
Schlusse nicht entziehen können, dass, wenigstens so weit unsere Beobachtungen zurückreichen, hier das
eigentliche Gebiet der sprachlichen Urschöpfung liegt.

Dass wir bei dieser Art von Wörtern eine innere Beziehung von Klang und Bedeutung empfinden, ist allerdings im
einzelnen Falle kein Beweis dafür, dass sie wirklich einer solchen Beziehung ihren Ursprung verdanken. Denn es
gibt nachweislich eine Anzahl von Wörtern, die erst durch sekundäre Entwickelung eine solche Lautgestaltung oder
eine solche Bedeutung erlangt haben, dass sie den Eindruck onomatopoetischer Bildungen machen. Aber ein
Überblick der Wörter in ihrer Gesamtheit schliesst doch die Annahme durchgehenden Zufalls aus. Es fällt dabei
noch ein Umstand schwer ins Gewicht, nämlich die Häufigkeit ähnlicher, namentlich nur durch den Vokal
verschiedener [179 Junge onomatopoetische Neuschöpfungen. Interjektionen.] Wörter von gleicher oder sehr
ähnlicher Bedeutung, die doch nicht lautgesetzlich aus einer Grundform abgeleitet werden können. So finden sich
auch vielfach in verschiedenen Sprachen ähnlich klingende Wörter dieser Art, die doch nach den Lautgesetzen nicht
verwandt sein können.

Eine besondere Gruppe von onomatopoetischen Wörtern bilden die Nachahmungen von Tierstimmen, die vielfach
zu Benennungen der betreffenden Tiere geführt haben.[3])

Nur aus dem onomatopoetischen Triebe erklären sich auch gewisse Umgestaltungen schon fertiger Wörter. Eines
der charakteristischsten Beispiele ist mhd. gouch = nhd. Kuckuck mit den Zwischenformen guckauch, guckuch und
ähnlichen. Auch diese Bildungen bezeichnen zum Teil Geräusche, zum Teil unruhige Bewegungen. Dergleichen
Umwandlungen sind von dem Lautwandel gänzlich zu trennen und als partielle Neuschöpfungen zu betrachten.
Auch die weiter oben angeführten Wörter können nicht als totale Neuschöpfungen betrachtet werden, wie noch
später zu erörtern sein wird.

§ 126. In diesem Zusammenhange müssen wir auch auf das Wesen der Interjektionen eingehen. Uns muss vor allem
die Frage interessieren, ob man in ihnen mit Recht die primitivsten Äusserungen der Sprechtätigkeit zu sehen hat,
wie von verschiedenen Seiten angenommen, von andern bestritten ist. Wir verstehen unter Interjektionen
unwillkürlich ausgestossene Laute, die durch den Affekt hervorgetrieben werden, auch ohne jede Absicht der
Mitteilung. Man darf aber darum nicht die Vorstellung damit verknüpfen, als wären sie wirkliche Naturlaute, die mit
ursprünglicher Notwendigkeit aus dem Affekte entsprängen wie Lachen und Weinen. Vielmehr sind die
Interjektionen deren wir uns gewöhnlich bedienen, gerade so gut durch die Tradition erlernt wie die übrigen
Elemente der Sprache. Nur vermöge der Assoziation werden sie zu unwillkürlichen Äusserungen, weshalb denn
auch die Ausdrücke für die gleiche Empfindung in verschiedenen Sprachen und Mundarten und auch bei den
verschiedenen Individuen der gleichen Mundart je nach der Gewöhnung sehr verschieden sein können.

98
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wir müssen zwei Arten von Interjektionen unterscheiden. Die einen sind lediglich Ausdruck der inneren
Empfindung, z. B. o, ach, pfui. Von diesen beziehen sich einige auf eine ganz bestimmte Empfindung, z. B. pfui auf
die des Abscheus. Andere, wie o und ach können bei sehr verschiedenen Empfindungen ausgestossen werden, es
sind also artikulierte Substrate, die an und für sich ziemlich indifferent sind [180 Neuntes Kapitel. Urschöpfung.]
und erst durch den begleitenden Gefühlston einen bestimmteren Inhalt bekommen. Ihre Unbestimmtheit wird
allerdings wohl nichts Ursprüngliches sein. Von Hause aus scheint ach nur Interjektion des Schmerzes gewesen zu
sein. Eine andere Interjektion des Schmerzes ouwê (nhd. auweh) hatte im Mhd. eine fast ebenso ausgedehnte
Anwendung erlangt wie nhd. ach, durch welches es jetzt wieder zurückgedrängt ist. Das Traditionelle in der Natur
dieser Interjektionen zeigt sich auch darin, dass sie unter besonders begünstigenden Umständen sogar wie andere
Wörter aus einer fremden Sprache entlehnt werden können. So stammt unser o aus dem Lat. Es ist ferner eine in den
verschiedensten Sprachen zu machende Beobachtung, dass Interjektionen aus andern Wörtern und Wortgruppen
entstehen, vgl. z. B. ach Gott, alle Wetter, Gott sei Dank, leider. Durch Lautveränderungen kann der Ursprung so
sehr verdunkelt werden, dass er selbst bei angestellter Reflexion nicht mehr zu erkennen ist, vgl. herrje (Herr
Jesus), jemine (Jesu domine). Wir sind daher auch bei den in keiner Weise analysierbaren und scheinbar ganz
einfachen Interjektionen nicht von vornherein sicher, ob sie nicht auf ähnliche Weise entstanden sind. Immerhin
aber wird wenigstens ein Teil dieser Interjektionen nicht aus andern Wortklassen entstanden, sondern unmittelbar
auf Empfindungslaute zurückzuführen sein. Aus ihnen können Verba abgeleitet werden wie deutsch ächzen, griech.
pheúzein. Dies sind junge Bildungen, es ist aber auch denkbar, dass auf einer frühen, noch formlosen
Entwickelungsstufe der Sprache Empfindungsinterjektionen unmittelbar verbale Funktion angenommen haben. Über
sonstige Annäherung der Interjektion an andere Redeteile vgl. Kap. XX. Es ist somit die Möglichkeit gegeben, dass
auch ein Teil des nichtinterjektionellen Wortmateriales auf Gefühlsausrufe zurückgeht, die durch Urschöpfung
entstanden sind.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Eine zweite Art von Interjektionen steht in nächster Beziehung zu den besprochenen onomatopoetischen Bildungen.
Sie haben nicht bloss Beziehung zu inneren Gefühlen, sondern auch zu äusseren Vorgängen. Sie sind Reaktionen
gegen plötzliche Erregungen des Gehörsoder Gesichtssinnes. So müssen wir wohl wenigstens ihr ursprüngliches
Wesen auffassen. Sie werden dann auch bei der Erinnerung und Erzählung der solche plötzliche Erregung
wirkenden Vorgänge gebraucht. Ich meine Wörter wie nhd. paff, patsch, bardautz, perdauz, bauz, blauz, blaff, buff,
puff, bums, futsch, hurre, husch, hussa, klacks, klaps, kladderadatsch, knacks, plump, plumps, ratsch, rutsch,
schrumm, schwapp, wupp etc.[4]) Manche dieser Wörter sind auch Substantiva oder haben [181 Interjektionen.
Ablautsbildungen.] Verba zur Seite, und es ist dann zum Teil schwer zu sagen, was eigentlich das Ursprüngliche ist.
Es ist das aber auch nicht von Belang, sobald die Wörter als Reaktionen gegen die Sinneserregung anerkannt sind.
Der onomatopoetische Charakter solcher Interjektionen tritt noch stärker hervor bei der häufig angewendeten
Verdoppelung und Verdreifachung,[5]) ganz besonders wenn dabei die mehrfach gesetzten Elemente durch Ablaut
differenziert werden.[6]) vgl. fickfack, gickgack, kliffklaff, klippklapp, klitschklatsch, klimperklamper,
kribbeskrabbes, krimskrams, mickmack, pinkepanke, ripsraps, ritschratsch, schnickschnack,
schnipschnapp(schnurr), stripstrap(strull), schwippschwapp, ticktack, lirumlarum, bimbambum, piffpaffpuff; engl.
criddle-craddle, widdle-waddle; franz. clic-clac, cric-crac, drelin-drelon. Diese Wörter werden zum Teil auch als
Substantiva gebraucht, und es werden direkt Substantiva so gebildet, vgl. Kringelkrangel, Tingeltangel, lat. murmur,
turtur; auch werden weitere Ableitungen aus solchen Bildungen gemacht wie fickfacken, Fickfacker,
wibbelwabbelig. Übrigens wird dabei mehrfach alter Sprachstoff benutzt, der sonst gar keinen interjektionellen
Charakter hat, vgl. Klingklang, Singsang, hickhack, Mischmasch, Wirrwarr, wischiwaschi, Zickzack. Vgl. auch
onomatopoetische Ausgestaltungen wie klinglingling (vielleicht aus klingklingkling entstanden), hoppsasa. Aus dem
selben Triebe entsprungen, aber in den Grenzen der normalen Sprache sich haltend sind Verbindungen mehrerer nur
durch den Vokalismus verschiedener malender Wörter, wie flimmen und flammen, flimmern und flammern, kickezen
und kackezen, klippen und klappen, klippern und klappern, klistern und klastern, klitschern und klatschern, knistern
und knastern, knirren und knarren, knittern und knattern, kribbeln und krabbeln, krimmen und krammen, kritzen
und kratzen, Gekritz und Gekratz, rischeln und rascheln (alle durch Beispiele aus Schriftstellern belegt). Auch der
Reim spielt bei onomatopoetischen Ausdrücken eine Rolle, vgl. krimmeln und wimmeln, holterdepolter,
Hackemack, Kuddelmuddel, Schurlemurle, Schlampampe; engl. hotch-potch, hum-drum, hurlyburly, helter-skelter.
[7])
§ 127. Onomatopoetisch sind ferner die meisten Wörter der Ammensprache, und auch in ihnen spielt die
Reduplikation eine grosse Rolle, vgl. Wauwau, Putput, Papa, Mama etc. Diese Sprache [182 Neuntes Kapitel.
Urschöpfung.] ist nicht eine Erfindung der Kinder.[8]) Sie wird ihnen so gut wie jede andere Sprache überliefert. Ihr
Wert besteht darin, dass sie einem leicht erkennbaren pädagogischen Zwecke dient. Die innere Beziehung des
Lautes zur Bedeutung, welche in ihr noch besteht und jedenfalls immer neu geschaffen wird, erleichtert die
Verknüpfung beider sehr erheblich. Das geht sogar soweit, dass auch die Wörter der ausgebildeten Sprache teilweise
zuerst in einer Komposition mit Wörtern der Ammensprache erlernt werden, vgl. Wauwauhund, Bähschaf, Puthuhn,
Mukuh u. dergl.
§ 128. Wundt will die onomatopoetischen Wörter nicht als Lautnachahmungen fassen. Nach ihm[9]) ist die
Ähnlichkeit der Sprachlaute mit den Gehörseindrücken, durch die sie hervorgerufen sind, keine im voraus gewollte,
sondern nur eine nachträglich entstandene: sie ist durch das Gefühl vermittelt, das den Eindruck mit dem durch ihn
ausgelösten Laute verbindet. Für die in jüngerer Zeit entstandenen Wörter dürfte das kaum richtig sein, gewiss nicht
für die Wörter der Ammensprache. Wieweit Wundts Auffassung für die Anfänge der Sprache zutrifft, darüber
möchte ich mir kein Urteil erlauben. Als einen Beweis für die Richtigkeit seiner Auffassung macht Wundt geltend,
dass unter den als onomatopoetisch in Anspruch genommenen Wörtern sich auch solche befänden, die eine
Bewegung ohne Geräusch bezeichneten. Es fragt sich aber, ob dieses etwas Ursprüngliches ist und ob nicht zunächst
die Vorstellung eines Geräusches mit in die Bedeutung eingeschlossen war.
Eine andere Art von Urschöpfung, wie sie früher schon mehrfach vermutet ist, soll nach Wundt[10]) darin bestehen,
dass Organe und Tätigkeiten, die zur Bildung der Sprachlaute in Beziehung stehen, mit Wörtern benannt werden,
bei deren Artikulation die gleichen Organe und Tätigkeiten mitwirken. Auf diese Weise sollen z. B. Bezeichnungen
für essen, blasen, Mund, Zunge entstanden sein. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit ist dieser Hypothese nicht
abzusprechen, wenn sich auch inbezug auf die einzelnen zum Beweise beigebrachten Fälle eine Sicherheit kaum
gewinnen lässt.
Misslicher steht es mit dem, was man gewöhnlich als Lautsymbolik bezeichnet, wofür Wundt jetzt den Ausdruck
Lautmetapher verwendet.[11]) Eine Verwandtschaft zwischen dem Klange von Wörtern und ihrer Bedeutung glaubt
man vielfach herauszuhören in der eigenen oder sonst [183 Unterschied zwischen den jüngeren und den ältesten
Urschöpfungen.] vertrauten Sprache, aber wohl meistens erst in Folge einer sekundären Assoziation. Abgesehen
davon ist bei der Beurteilung der subjektiven Auffassung ein weiter Spielraum eröffnet, und man wird
günstigstenfalls kaum über eine gewisse Wahrscheinlichkeit hinausgelangen. Viele auf den ersten Blick plausibel
scheinende Annahmen lassen sich durch die geschichtliche Forschung als unzutreffend erweisen.

§ 129. Zwischen den Urschöpfungen, durch welche eine schon ausgebildete Sprache bereichert wird, und
denjenigen, mit welchen die Sprachschöpfung überhaupt begonnen hat, ist noch ein bedeutender Unterschied. Jene

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

fügen sich, soweit sie nicht reine Interjektionen sind, in das schon bestehende Formensystem ein. Sie erscheinen mit
den zu der Zeit, wo sie geschaffen werden, üblichen Ableitungs- und Flexionssilben. In poltern z. B., wenn es
hierher gehört, ist nur poltdurch Urschöpfung, -ern nach Analogie gebildet. Wir können daher in einem solchen
Worte eigentlich nur eine partielle Urschöpfung anerkennen. Wir sehen übrigens aus diesem Beispiele, dass das,
was man gewöhnlich als Wurzel aus einem Worte abstrahiert, durchaus nicht immer einmal als selbständiges
Element existiert zu haben braucht, auch nicht in einer älteren Lautgestalt, sondern sogleich bei seinem Entstehen
mit einem oder mehreren Suffixen versehen sein kann und versehen sein muss, sobald es der dermalige
Sprachzustand erfordert.

Nicht bloss die Suffixe werden nach Analogie des vorhandenen Sprachmaterials geschaffen, sondern auch die
Funktion als Subst., Verb. etc., und es wird also auch damit etwas in die neuen Wörter hineingetragen, was nicht auf
Urschöpfung beruht.

Bei den ersten Schöpfungen, mit denen die Sprache begonnen hat, kann natürlich von einem solchen Mitwirken
der Analogie keine Rede sein. An ihnen kann noch keine Spur einer grammatischen Kategorie haften. Sie
entsprechen ganzen Anschauungen. Sie sind primitive Sätze, von denen wir uns noch eine Vorstellung machen
können auf Grundlage der § 90 besprochenen aus einem Worte bestehenden Sätze wie Diebe, Feuer. Sie sind also
auch wie diese eigentlich Prädikate, zu denen ein sinnlicher Eindruck das Subj. bildet. Damit der Mensch zum
Aussprechen eines solchen Satzes gelangt, muss aus der Fülle dessen, was gleichzeitig in seine Wahrnehmung fällt,
etwas Bestimmtes ausgesondert werden. Da nun diese Aussonderung noch nicht durch eine logische Operation
bewerkstelligt werden kann, so muss sie durch die Aussenwelt veranlasst werden. Es muss etwas vorgehen, wodurch
die Aufmerksamkeit nach einer bestimmten Richtung hin fixiert wird. Nicht die ruhende und schweigende Welt,
sondern die bewegte und tönende ist es, deren sich der Mensch zuerst bewusst wird, und für die er die ersten
Sprachlaute schafft. An Stelle einer Bewegung [184 Neuntes Kapitel. Urschöpfung.] der Umgebung kann auch eine
Bewegung des eigenen Leibes dienen, wodurch die Augen plötzlich auf einen unerwarteten Anblick gelenkt werden.
Der Eindruck wird natürlich um so intensiver sein, wenn dadurch Freude oder Schmerz, Begierde oder Furcht erregt
werden. Es ist also das die Aufmerksamkeit erregende Objekt zugleich mit dem, was an dem Objekt vorgeht, was
durch den Sprachlaut bezeichnet wird. Wir nähern uns dieser primitiven Sprechweise noch jetzt in Ausrufungen der
Überraschung und im Affekt. Wir können also von den ältesten Wörtern sagen, dass sie den unvollkommenen
Ausdruck einer Anschauung, wie sie später durch einen Satz wiedergegeben wird mit interjektionellem Charakter
verbinden.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 130. Noch in anderer Hinsicht muss es sich mit den ersten Urschöpfungen anders verhalten als mit den später
nachfolgenden. Bei den letzteren kann von Anfang an die Absicht der Mitteilung mitwirken, bei den ersteren nicht.
Zu absichtlicher Ausübung einer Tätigkeit behufs eines bestimmten Zweckes gelangen wir erst, nachdem wir die
Erfahrung gemacht haben, dass dieser Zweck dadurch erreichbar ist, und diese Erfahrung machen wir, indem wir
sehen, dass die unabsichtlich oder in anderer Absicht angestellte Tätigkeit den betreffenden Erfolg gehabt hat. Vor
Schöpfung der Sprache weiss der Mensch nichts davon, dass er einem andern mit Hilfe der Sprachlaute etwas
mitteilen kann. Dieser Grund allein würde genügen, um jede Annahme einer absichtlichen Erfindung zurückweisen.
Wir müssen in Bezug auf die ersten Sprachlaute durchaus bei der Ansicht stehen bleiben, dass sie lediglich ein
Bedürfnis des einzelnen Individuums befriedigen ohne Rücksicht auf sein Zusammenleben mit den andern. Sobald
aber solche Laute von andern Individuen perzipiert werden zugleich mit der sinnlichen Wahrnehmung, die sie
hervorgerufen hat, so kann beides in Beziehung zu einander gesetzt werden. Dass ein anderes Individuum diese
Beziehung empfindet, kann auf dem wirklichen Kausalzusammenhange beruhen, der zwischen der Wahrnehmung
und dem Laute durch Vermittelung der Nervenerregung besteht. Sind die verschiedenen Individuen im wesentlichen
gleich organisiert, so wird der gleiche sinnliche Eindruck in ihnen ungefähr den gleichen Ausdruckslaut erzeugen,
und sie müssen sich, wenn sie denselben von andern hören, sympathetisch berührt fühlen. Gewiss aber ist die Zahl
der so erzeugten Laute eine verhältnissmässig geringe gewesen. Erheblich von einander abweichende
Anschauungen werden den gleichen Laut hervorgerufen haben. Es ist daher auch zunächst noch durchaus nicht
daran zu denken, dass ein solcher Laut, auch wenn er wiederholt von verschiedenen Individuen in der gleichen
Weise hervorgebracht wäre, das Erinnerungsbild einer bestimmten Anschauung wach rufen [185 Älteste
Urschöpfung.] könnte. Alles, was er vermag, besteht nur darin, dass er die Aufmerksamkeit erregt. Spezielleren
Inhalt gibt erst die Anschauung selbst. Dass die Aufmerksamkeit der übrigen Individuen sich auf denselben
Gegenstand lenkt, welcher in dem einen oder in mehreren den Laut hervorgerufen hat, kann zum Teil durch die
begleitenden Gebärden veranlasst sein. Wir werden uns überhaupt zu denken haben, dass die Lautsprache sich in
ihren Anfängen an der Hand der Gebärdensprache[12]) entwickelt hat, dass ihr die Unterstützung durch
dieselbe erst nach und nach entbehrlich geworden ist, je weiter sie sich vervollkommnet hat. Die Gebärdensprache
muss natürlich gleichfalls von unwillkürlichen Triebbewegungen ihren Ausgang genommen haben. Bei ihr ist dieser
Ursprung noch viel leichter erkennbar, weil wir sie auf einer primitiveren Stufe der Entwickelung beobachten
können. Ist es einem Individuum wiederholt gelungen durch eine Triebbewegung die Aufmerksamkeit zu erregen,
mag sie nun in den Augen, den Gesichtszügen, den Händen oder in den Sprechorganen ihr Endziel finden, so wird
es allmählich dazu geführt, dass es mit Hilfe der betreffenden Bewegung auch absichtlich die Aufmerksamkeit zu
erregen sucht, sobald es durch das Bedürfnis dazu gedrängt wird.

Ist einmal die Möglichkeit der absichtlichen Mitteilung erkannt, so hindert nichts mehr, dass zu den durch
unwillkürliche Triebbewegung erzeugten Lauten auch solche hinzutreten, zu deren Erzeugung von Anfang an die
Absicht der Mitteilung mitgewirkt hat. Wir müssen aber betonen die Absicht der Mitteilung, nicht etwa die Absicht,
ein bleibendes Werkzeug der Mitteilung zu schaffen. Eine solche Absicht bleibt wie überall in der natürlichen
Sprachentwicklung, so auch bei der Urschöpfung ausgeschlossen. Es ist das Bedürfnis des Augenblicks, welches
eine neue Lautgruppe hervorbringt. Ob aber eine solche Lautgruppe mit der ersten Hervorbringung zu Grunde geht,
oder ob sie eine bleibende Wirkung hinterlässt, das hängt von ihrer Beschaffenheit und von vielen zufälligen
Umständen ab.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 131. Noch von einer Schwierigkeit müssen wir sprechen, die erst überwunden werden muss, bevor auch nur die
ersten Anfänge einer Sprache sich herausbilden können, einer Schwierigkeit, die, soviel ich sehe, bis jetzt noch
nirgends gewürdigt ist. Der Urmensch, der noch nicht gesprochen hat, kann so wenig wie ein neugeborenes Kind
irgend einen Sprachlaut willkürlich erzeugen. Auch er muss das erst lernen, auch bei ihm kann sich erst allmählich
durch mannigfache Tätigkeit [186 Neuntes Kapitel. Urschöpfung.] der Sprechorgane ein mit einem Lautbilde
assoziiertes Bewegungsgefühl herausbilden, welches dann einen Regulator für sein Sprechen abgeben kann. Man
darf sich daher nicht einbilden, dass eine Lautgruppe, wie sie einmal von einem Individuum hervorgebracht wurde,
nun sofort von den andern hätte nachgeahmt werden können. Nicht einmal dasselbe Individuum konnte sie
absichtlich wiederholen. Die Sache liegt für den Urmenschen noch viel schwieriger als für ein Kind unserer Zeit.
Das letztere ist in der Regel von einer Anzahl von Menschen umgeben, bei denen sich schon wesentlich
übereinstimmende Bewegungsgefühle ausgebildet haben. Es hört daher aus der Menge der möglichen Laute eine
bestimmte abgegrenzte Anzahl immer wieder von neuem. Damit ist von vornherein eine bestimmte Richtung
gegeben, nach welcher sich seine eigenen Bewegungsgefühle entwickeln, der sich seine Sprechversuche immer
mehr annähern. Für den Menschen vor der Sprachschöpfung gibt es keine Norm, keine Autorität. Es scheint
demnach, dass das Sprechen mit einem Durcheinander der verschiedenartigsten Artikulationen, wie sie jetzt
nirgends in einer Sprache beisammen zu finden sind, begonnen haben müsse.[13]) Wie konnte aber aus einem
solchen Gewirr sich eine Gleichmässigkeit des Bewegungsgefühles herausbilden?
Wir werden auch von dieser Seite her wieder zu der Annahme gedrängt, dass gewisse Lautgruppen besonders häufig
nicht nur von dem gleichen, sondern auch von verschiedenen Individuen spontan, d. h. ohne Mitwirkung irgend
welcher Nachahmung im wesentlichen gleichmässig erzeugt sein müssen. Nur für solche den natürlichen
Bedingungen nach bevorzugte Lautgruppen kann sich in Ermangelung einer schon bestehenden Norm ein
Bewegungsgefühl herausbilden. In einer solchen bevorzugten Lage befinden sich am ehesten die reinen Trieblaute,
und an ihnen werden sich die ersten Bewegungsgefühle entwickelt haben. Wir können es uns auch nicht wohl anders
vorstellen, als dass die Bewegungsgefühle für die einzelnen Laute sich sehr langsam eins nach dem andern
entwickelt haben, und dass die traditionelle Sprache in ihren Anfängen sich mit einem Minimum von [187
Kindersprache. Älteste Urschöpfung.] Lautzeichen begnügt haben wird, wenn auch daneben von den verschiedenen
Individuen bald dieser, bald jener Laut gelegentlich hervorgebracht wurde. Lernen doch auch die Kinder nur
langsam einen nach dem andern von den Lauten der ihnen vorgesprochenen Sprache willkürlich hervorbringen. Und
noch in einer anderen Beziehung wird es erlaubt sein, einen Analogieschluss aus der Kindersprache zu ziehen. Das
Kind vermag zunächst nur éinen Konsonanten mit éinem Vokale zu kombinieren, welche Kombination dann in der
Regel verdoppelt wird. Von solcher Form sind die am frühesten erlernten Wörter der Ammensprache (Papa, Mama
etc.), und auf diese Form werden zunächst kompliziertere Wörter reduziert, die das Kind nachzusprechen versucht.
Dies gilt insbesondere auch von Eigennamen, deren so entstandene Umbildungen dann als Koseformen auch in die
Sprache der Erwachsenen übergehen, vgl. Lili, Lulu, Mimi. Auf einer etwas fortgeschritteneren Stufe tritt noch eine
Vereinfachung der Lautkombinationen ein, die dadurch hergestellt wird, dass einzelne Laute fortgelassen, andere
einander angeglichen werden. Man vgl. z. B. aus dem Wortschatze eines zweijährigen Mädchens tata = Martha, tate
= Tante, babel = Gabel, popf = Knopf, dette = Decke, pom = komm, paffe = Kaffee, ottel = Onkel, ottotte = Onkel
Otto, tetz = Cakes, hottört = Hottepferd, apfûf = Apfelmus, tutaus = Kukauge, autîs = ausgiessen, autaz =
auskratzen, aufîs = aufschliessen.[14]) Man kann sich danach eine Vorstellung von der Wortgestaltung der
primitivsten Sprachen machen. Man versteht danach auch die Rolle, welche die Reduplikation ursprünglich gespielt
haben wird. Es wird danach ferner die Vermutung wahrscheinlich, dass sich Konsonantenkombinationen vielfach
erst in Folge von Vokalausstossungen ergeben haben werden. Dass es sich wirklich so verhält, ist jetzt für die
indogermanischen Sprachen durch die neueren Untersuchungen über den Vokalismus der Ursprache erwiesen.
Aus unseren Erörterungen geht hervor, dass eine längere Ausübung der Sprechtätigkeit vorangegangen sein muss,
bis etwas entsteht, was wir allenfalls eine Sprache nennen können in dem Sinne, wie wir von deutscher und
französischer Sprache reden, sollte es auch nur eine aus ein paar Wörtern bestehende Sprache sein. Das, was wir
Urschöpfung genannt haben, ist an sich nicht ausreichend eine Sprache zu schaffen. Es muss gedächtnismässige
Bewahrung des Geschaffenen durch die zu einer Genossenschaft gehörigen Individuen hinzutreten. Erst wo
Sprechen und Verstehen auf Reproduktion beruht, ist Sprache da. [188 Neuntes Kapitel. Urschöpfung.]
Betrachten wir dies als ausreichend für die Anerkennung des Vorhandenseins einer Sprache, so müssen wir auch
vielen Tieren Sprache zuschreiben. Man wird schwerlich bestreiten können, dass die Lock- und Warnrufe derselben
schon etwas Traditionelles, nicht mehr etwas bloss Spontanes sind. Sie repräsentieren ein Entwickelungsstadium,
welches auch die menschliche Sprache durchlaufen haben muss, eben dasjenige, welches wir zu schildern versucht
haben. Damit aber diejenige Art von Sprache entstehe, die wir jetzt bei dem ganzen Menschengeschlechte finden,
gehört noch ein weiterer Schritt dazu. Es ist gewiss von grosser Bedeutung, dass die Zahl der traditionellen Wörter
und damit die Zahl der unterschiedenen Anschauungen bei dem Menschen weit über das Mass irgend einer
Tiergattung hinausgewachsen ist, aber der eigentliche charakteristische Unterschied der Menschensprache von der
Tiersprache oder der jetzt bestehenden Sprache von der früheren Entwickelungsstufe liegt in ganz etwas anderem. In
der Zusammenfügung mehrerer Wörter zu einem Satze besteht der entscheidende Schritt vorwärts. Erst dadurch
wird dem Menschen auch die Möglichkeit gegeben sich von der unmittelbaren Anschauung loszulösen und über
etwas nicht Gegenwärtiges zu berichten.[15])

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

1. Vgl. jetzt über angebliche Worterfindung des Kindes Wundt 1, 277ff.; O. Jespersen, Origin of Linguistic
Species (Scientia Vol. VI).
2. Eine Übersicht über die Theorien der Schallnachahmung gibt Rubinyi, Das Problem der Lautnachahmung
Germ-Rom. Monatschr. V, 497. Reiches Material bietet Leskien, Schallnachahmung und Schallverba im
Litauischen IF 13, 165. [Paul, Prinzipien]
3. Vgl. Wackernagel, Voces variae aminantium, 2. Ausg., Basel 1862. J. Winteler, Naturlaute und Sprache,
Programm der Aargauischen Kantonschule, 1892. O. Hauschild, Naturlaute der Tiere in Schriftsprache und
Mundart, ZfdWf. 12, 1.
4. Diesen stehen auch die imperativischen Interjektionen näher wie pst und die Fuhrmannszurufe.
5. Vgl. O. Weise, Die Wortdoppelung im Deutschen (Zschr. f. deutsche Wortf. 2, 8).
6. Vgl. auch DWb 4² 2008. 9.
7. Vgl. die von Simonyi S. 266 aus dem Ungarischen und Finnischen angeführten Zusammensetzungen.
8. Vgl. Wundt 1, 277ff.
9. 1, 331. 329.
10. 1, 333ff.
11. 1, 336ff.
12. Die Gebärdensprache ist jetzt eingehend von Wundt 1, 136-247 behandelt.
13. Auch die onomatopoetischen Bildungen müssen ursprünglich von einer so bunten Beschaffenheit gewesen
sein. Die noch wirklich vorliegenden, von uns oben besprochenen sind also auch insofern keine reinen
Urschöpfungen, als sie sich aus dem Lautmateriale einer schon ausgebildeten Sprache zusammensetzen.
Indem dieses Material bei der Nachahmung von Tierstimmen und anderen Geräuschen verwendet wird,
geschieht etwas Ähnliches, wie wenn bei musikalischen Nachahmungen derselben die Abstände der
Tonhöhe modifiziert werden, um sie auf die sonst in der Musik üblichen Intervalle zu bringen. Ein weiterer
Schritt ist dann, dass zur Nachahmung auch sinnvolle Wörter und Sätze verwendet werden. Vgl. das reiche
Material bei Wackernagel und Winteler, a. a. O.
14. Andere solche Vereinfachungen führt Wundt 1, 306 auf. Mit Unrecht werden dieselben aber von ihm mit
dem assimilatorischen Lautwandel in Parallele gesetzt.
15. Zu diesem Kap. vgl. jetzt auch meinen Vortrag »Der Ursprung der Sprache« (Beilage zur allgemeinen
Zeitung, Jahrg. 1907, Nr. 13. 14).

ZEHNTES KAPITEL.

ISOLIERUNG UND REAKTION DAGEGEN.[1])

§ 132. Der Zusammenschluss der Sprachelemente zu Gruppen muss, wie wir gesehen haben, von jedem Individuum
einer Sprachgenossenschaft besonders vollzogen werden. Die Gruppen sind also durchaus subjektiver Natur. Da
aber die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, innerhalb einer bestimmten Verkehrsgemeinschaft im
grossen und ganzen die nämlichen sind, so muss auch die Gruppenbildung bei allen der Verkehrsgemeinschaft
angehörenden Individuen vermöge der wesentlichen Übereinstimmung ihrer psychischen Organisation eine analoge
sein. Wie wir daher überhaupt nach einem gewissen Durchschnitt das in einer bestimmten Periode allgemein
Übliche darstellen, sind wir auch im stande für jede Entwickelungsperiode einer Sprache ein im wesentlichen
allgemeingültiges System der Gruppierung aufzustellen. Gerade nur dieses Allgemeine, im Wesen der Elemente, aus
denen sich die Gruppen zusammensetzen, Begründete ist es, woran sich die wissenschaftliche Betrachtung halten
kann, während die individuellen Besonderheiten, von einzelnen, in der grossen Masse verschwindenden Ausnahmen
abgesehen, sich der Beobachtung entziehen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Vergleichen wir nun unsere Abstraktionen über die Gruppierungen aus verschiedenen Zeiten mit einander, so
gewahren wir beträchtliche Verschiedenheiten, und zwar nicht bloss insofern, als eine Anzahl Elemente verloren
gegangen, andere neu entstanden sind; sondern auch da, wo sich die alten Elemente erhalten haben,[2]) gruppieren
sie sich doch anders in Folge einer Veränderung, welche die Lautform oder die Bedeutung oder beides
durchgemacht hat. Was sich früher fest [190 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] aneinander schloss,
hängt jetzt nur noch lose oder gar nicht mehr zusammen. Was früher keinen Zusammenhang hatte, hat sich jetzt
zusammengefunden. Den ersteren Vorgang können wir passend als Isolierung bezeichnen, da auch die Lockerung
des Verbandes wenigstens eine partielle Isolierung ist. Natürlich ist auch dieser Ausdruck auf dem unvermeidlichen
Operieren mit Abstraktionen basiert. Streng genommen dürfte man nicht sagen, dass das früher
Zusammengeschlossene sich isoliert habe, sondern nur, dass das in den Seelen einer früheren Generation
Zusammengeschlossene sich nicht auch in den Seelen einer späteren Generation zusammengeschlossen hat.

Die Gruppenbildung beruht auf Gleichheit oder Ähnlichkeit der Lautform und der Bedeutung. Diese Gleichheit
oder Ähnlichkeit beruht bei weitem in den meisten Fällen im letzten Grunde auf etymologischem
Zusammenhange. Aber nicht der etymologische Zusammenhang an sich ist massgebend für den Zusammenschluss,
sondern auf jeder Sprachstufe immer nur, soweit er sich zur Zeit in totaler oder partieller Gleichheit von Laut oder
Bedeutung zu erkennen gibt; und umgekehrt hat jede zufällig entstandene Gleichheit ganz denselben Erfolg. Aus der
Verkennung dieser unleugbaren Tatsache fliessen so viele Fehler der älteren Sprachwissenschaft.

§ 133. Wir betrachten in diesem Kapitel zunächst die Lockerung und Auseinanderreissung der Gruppen. Veranlasst
wird dieselbe durch Laut- und Bedeutungswandel, zuweilen auch durch die Analogiebildung. Zwar wirkt die
letztere, wie wir noch sehen werden, vorzugsweise zur Herstellung des gestörten Zusammenhanges; indem aber
verschiedene Analogieprinzipe sich gegenseitig stören, kann sie auch die entgegengesetzte Wirkung haben.

Dass die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes sich mehr und mehr gegen einander isolieren können, haben wir
schon in Kap. 4 gesehen. Wir haben ferner ib. § 73 gesehen, dass ein Wort als Element einer festen syntaktischen
Verbindung sich isolieren kann gegenüber seiner sonstigen Verwendungsweise. Ebenso können die in Kap. 5
besprochenen Gruppen von Worten und Wortformen auseinandergerissen werden.

§ 134. Die etymologisch-lautlichen Gruppen werden zerstört, wenn aus irgend welcher Ursache die Bedingungen
wegfallen, die den Lautwechsel veranlasst haben und auf Grund deren er sich dann weiter analogisch geregelt hat.
Durch das Vernersche Gesetz ist im Urgermanischen ein durchgreifender Wechsel zwischen hartem und weichem
Reibelaut entstanden (h-z, þ-ð, f-b, s-z), bedingt durch die Stellung des Akzentes nach der ursprünglichen
(indogermanischen) Betonungsweise. Nachdem diese Betonungsweise durch die jüngere, spezifisch [191
Grundlagen der Gruppenbildung. Lockerung der Gruppen.] germanische ersetzt war, gab es keinen ersichtlichen
lautlichen Grund mehr für den Wechsel, derselbe musste daher als ganz willkürlich erscheinen. Es konnte sich zwar
ein allgemeines Gefühl dafür bilden, dass die betreffenden Laute mit einander zu wechseln pflegten, aber man
konnte sich den Sprachgebrauch nicht mehr anders aneignen, als indem man jede einzelne Form besonders erlernte.
Der Lautwechsel hatte aufgehört ein lebendiger zu sein, er war erstarrt, tot. Zweitens kann ein jüngerer Lautwandel
zerstörend auf diese Art von Gruppen einwirken. Als Beispiel kann hier wieder der Wechsel nach dem Vernerschen
Gesetz dienen. Statt des urgermanischen Wechsels zwischen hartem und weichem Reibelaut haben wir im
Hochdeutschen den Wechsel h-g (daneben ck), d-t, f-b (daneben pp), s-r. Der einartige Wechsel hat sich also in
mehrere ganz verschiedenartige gespalten, und eine solche Spaltung ist immer eine Schwächung. Aber der
eigentliche Hauptfeind der etymologisch-lautlichen Gruppen ist die ausgleichende Wirkung der stofflich-formalen
Proportionengruppen, die weiter unten zu besprechen ist.

§ 135. Die Isolierungen, welche auf syntaktischem Gebiete eintreten können, sind zum Teil schon in Kapitel 7
besprochen. Wir haben hier zunächst die Isolierungen der verschiedenen Bedeutungen eines syntaktischen
Verhältnisses gegen einander. Hierdurch werden die syntaktischen Proportionengruppen nicht gestört, so lange jede
einzelne Funktion des Verhältnisses vollkommen lebendig bleibt. Aber jede Erstarrung durch gewohnheitsmässige
Verbindung mit einem bestimmten Worte ist eine Loslösung aus dem allgemeinen Proportionenverbande. So kann
man z. B. kaum sagen, dass die Verbindung zu dir noch in einem analogen Verhältnis zu der Verbindung irgend
einer andern Präposition mit dem Dativ stünde, geschweige denn, dass eine allgemeinere Funktion des Dativs damit
vom Sprachgefühl in eine analogische Beziehung gesetzt würde. Innerhalb einer engeren Proportionengruppe bleibt
aber auch diese Verbindung noch stehen und zwar einer solchen, in welcher durch alle einzelnen Proportionen
dasselbe Glied hindurchgeht: zu : dir = zu : dem Vater = zu : allen etc.

Hier kann dasjenige Wort beliebig wechseln, an welchem das syntaktische Verhältnis eine besondere formelle
Ausprägung hat. Es gibt noch eine andere Art der Isolierung, bei der gerade dieses Wort fixiert ist, während das
andere, an welchem das Verhältnis keinen Ausdruck findet, beliebig wechseln kann. Diese Isolierung entsteht

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

dadurch, dass Konstruktionsweisen im allgemeinen untergehen, sich aber in einzelnen Resten erhalten, die wegen
ihres häufigen Gebrauches sich besonders stark eingeprägt haben, so dass sie der Unterstützung [192 Zehntes
Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] durch die analogen Proportionen nicht bedürfen und deshalb auch nach
dem Untergange der letzteren dauern können.

So gibt es im Nhd. mehrere Funktionen des Genitivs, die früher vollkommen lebendig waren, jetzt aber auf die
Genitive einiger weniger Wörter beschränkt sind, die nun ganz für sich stehen oder sich zu ganz kleinen Gruppen
zusammenschliessen, welche nur einer sehr geringen oder gar keiner analogischen Ausbreitung fähig sind. Zur
Zeitbestimmung kann abgesehen von den isolierten Formeln derzeit, jederzeit, dieser Tage, nächster Tage nur der
Gen. sing. männlicher und neutraler Substantiva verwendet werden. Wir können sagen des Morgens, eines Morgens,
Abends, Tages, Jahres, aber nicht der Stunde, einer Stunde etc., übrigens auch nicht des Monats. Die betreffenden
Genitive können auch kein beliebiges Adj. zu sich nehmen, sondern es gibt nur stehende Formeln wie eines schönen
Tages, Morgens. Die Funktion der Zeitbestimmung haftet hier nicht mehr an dem Gen. als solchem, sondern an dem
Suffix (e)s, dessen ursprüngliche Identität mit dem Genitivsuffix kaum noch empfunden wird. Man bemerkt dies
noch deutlicher an den Formen ohne Artikel abends, morgens, tags, namentlich aber an der altertümlichen Form
(des) Nachts, die von der Form, die jetzt als eigentlicher Gen. funktioniert, auch lautlich getrennt ist. Noch mehr
isoliert als diese Zeitbestimmungen sind einige Genitive, die ein räumliches Verhältnis bezeichnen: des Weges,
gerades Weges, rechter Hand, linker Hand, allerorten, allerwegen. Ferner einige kausale Genitive: Hungers
sterben, Todes verblichen; auch der Hoffnung, des Glaubens leben, wenn diese Formeln nicht anders aufzufassen
sind. Zahlreicher, aber eben so isoliert sind die, welche ein modales Verhältnis ausdrücken. Es sind dabei
verschiedene Verwendungen zu unterscheiden. Eine Gruppe verwandter Genitive wird prädikativ gebraucht. Man
sagt: ich bin der Ansicht, Meinung, Hoffnung, Zuversicht, des Sinnes, des Glaubens, nur ohne Artikel willens, auch
anderer Ansicht, guter Hoffnung, auch etwa er ging fort, der Meinung, dass etc. Etwas anderer Art sind guten
Mutes, guter Dinge. Schon altertümlich erscheinen reinen Sinnes, göttlicher Natur u. dergl. Unmittelbar wie ein
Adj. zum Subst. gesetzt und gar nicht mehr als Genitive empfunden erscheinen allerhand, mancherhand, einerhand,
keinerhand, allerlei, aller Art etc. Ausserdem sagt man es ist einerlei. Wieder andere Formeln werden adverbial zum
Verbum gesetzt, wie meines Bedünkens, meines Erachtens, alles Ernstes, stehenden Fusses, eilenden Schrittes,
kurzer Hand, leichten Kaufes, unverrichteter Sache, vorsichtigerweise, törichterweise, vernünftigerweise etc.,
vorkommendenfalls, bestenfalls, keinesfalls etc. keineswegs, einigermassen, gewisserm. etc., dergestalt,
solchergestalt. Einige von diesen Formeln werden, wie schon die jetzt übliche Schreibung [193 Lockerung der
etymologisch-lautlichen und syntaktischen Gruppen.] zeigt, geradezu als Adverbia angesehen. Dasselbe gilt von
flugs, spornstreichs, augenblicks, teils, grösstenteils etc. und den aus Adjektiven abgeleiteten anders, rechts, links,
stets, stracks, bereits, besonders, blindlings etc.

Die Formel es sei denn dass ist ein Rest einer im älteren Nhd. noch lebendigen Konstruktionsweise, vgl. 1. Mos. 32,
26 ich lasse dich nicht, du segnest mich denn; noch allgemeiner war dieselbe im Mhd. mit der Negation en und auch
ohne denne. Von dieser älteren Weise haben wir einen gar nicht mehr erkennbaren Rest in dem Adverbium nur =
enwære.

Die Isolierung kann nun endlich noch weiter gehen, indem keines der mit einander verbundenen Glieder mehr frei
wechseln kann, so dass dann also jede einzelne Formel nur noch gedächtnismässig fortgepflanzt wird, ohne irgend
eine neue Verbindung zu erzeugen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Es ist im Nhd. nicht mehr möglich Präpositionen mit einem beliebigen Subst. im Sing. zu verbinden ohne Beifügung
des Artikels. Man kann z. B. nicht sagen an Hause, vor Tür, zu See etc., sondern nur am Hause, vor der Tür, zur
See. In gewissen beschränkteren Umkreisen aber ist es noch möglich Verbindungen ohne Artikel frei zu schaffen, z.
B. vor Liebe, Besorgnis, Kummer etc. (zur Bezeichnung des Hindernisses); auf Ehre, Gewinn, Weisheit, Geld
gerichtet (so kann auf mit jeder Zustands- oder Stoffbezeichnung verbunden werden, um das Ziel des Strebens zu
bezeichnen); zu Gelde, Weine, Wasser werden, machen, und so bei jeder Stoffbezeichnung, aber die Arbeit wird ihm
zur Erholung, zum Genuss, der Knabe wird zum Mann, das Mädchen zur Frau. Andere Verbindungen dagegen
gehören gar keiner schöpferischen Gruppe mehr an, und es lässt sich nichts ihnen noch so vollkommen Analoges
mehr neu schaffen. Am zahlreichsten sind wohl die Formeln mit zu: zu Hause[3]) (aber nicht zu Dorfe, zu Stadt), zu
Wasser, zu Lande (das letztere im Gegensatz zum ersteren, aber nicht mehr wie mhd. ze lande, analog dem zu
Hause), zu Schiffe, Wagen, Fusse, Pferde, zu Anfang, Ende, zu Tische, Bette, Markte, zu Leide, Liebe, Gute, zurück,
zurecht, zunichte; anderes ist jetzt auf die Verbindung mit bestimmten Verben beschränkt, während im älteren Nhd.
vielfach noch eine freiere Gebrauchsweise herrscht: zu Grunde gehen, zu Rande sein mit etwas, zu Berge stehen, zu
Kopfe steigen, mir ist zu Mute, zu Sinne, einem zu Gemüte führen, zu Schaden kommen (aber zum Schaden
gereichen), zu Tode kommen, quälen, zu Statten kommen, zu Wege bringen, zu Gesichte kommen, einem etwas zu
Danke machen, einem zu Willen [194 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] sein, zu Rate gehen,
halten, zu Abend, zu Nacht, zu Mittag speisen, zu Tage bringen, fördern, aber nicht zu Tage = am Tage oder an
diesem Tage, wohl aber heutzutage. Bemerkenswert sind auch die Parallelverbindungen zu Nutz und Frommen, aber
zum Frommen, zum Nutzen, abgesehen von der Wendung sich etwas zu Nutze machen; zu Spiel und Tanz, aber zum
Spiel, zum Tanz; in Freud und Leid, aber in der Freude, im Leide; in Krieg und Frieden, aber im Kriege, im Frieden
(in Frieden hat abweichende Bedeutung); in (durch) Feld und Wald, aber im Felde, im Walde, durch das Feld,
durch den Wald; in Dorf und Stadt, aber im Dorfe, in der Stadt etc.

Ein anderes hierher gehöriges Beispiel ist folgendes. Im Mhd. kann das Adj. in attributiver Stellung, namentlich
nach dem unbestimmten Artikel im Nom. Sg. aller Geschlechter und im Akk. Sg. Neutr. noch in der sogenannten
unflektierten Form gebraucht werden also ein guot (schoene) man, frouwe, kint. Dagegen im Nhd. kann nur die
flektierte Form gebraucht werden: ein guter Mann, eine gute Frau, ein gutes Kind. Zahlreiche Spuren aber hat die
ältere Konstruktionsweise hinterlassen in den uneigentlichen Kompositis, die durch Zusammenwachsen eines Adj.
mit einem Subst. entstanden sind wie Altmeister, Junggesell, Bösewicht, Kurzweil, Neumann etc. Und ferner
erscheint die unflektierte Form noch in einigen stehenden Verbindungen: gut Wetter, schlecht W., ander W., ein gut
Stück, ein gut Teil, ein ander Mal, manch Mal, ein ander Bild (noch im achzehnten Jahrh. ist ander auch sonst
häufig), gut Ding will Weile haben.

Ganz vereinzelte Reste sind: zweifelsohne (im Mhd. kann nachgestelltes âne mit jedem beliebigen Genitiv
verbunden werden), mutterseelenallein (im Mhd. ist alleine mit dem Gen. im Sinne von »getrennt von« in
allgemeinem Gebrauch), Vergissmeinnicht (vergessen früher allgemein mit dem Gen. konstruiert), dass es Gott
erbarme (mhd. mich erbarmet ein dinc mir tut etwas leid).

§ 136. Die syntaktischen Isolierungen sind zum Teil auch Isolierungen auf dem Gebiete der formalen
Gruppierung, da ja diese zum guten Teile auf der syntaktischen Funktion beruht; vgl. namentlich die oben
angeführten Genitive. Die formale Isolierung aber steht wieder in engem Zusammenhange mit der Isolierung des
stofflichen Elementes, soweit dieselbe eine Folge des Bedeutungswandels ist. Eine Trennung der etymologisch
zusammenhängenden Formen wird so lange vermieden, als die Bedeutungsentwickelung der einzelnen sich in
parallelen Linien bewegt. Dies wird um so mehr der Fall sein, je mehr sie immer von neuem auf einander bezogen
werden. Am lebendigsten aber ist die Beziehung, wenn sie nicht bloss jede für sich gedächtnismässig überliefert,
sondern auch fortwährend die eine [195 Lockerung der syntaktischen, formalen und stofflichen Gruppen.] zur
andern nach sonstigen Analogieen hinzugeschaffen werden. Da, wie wir gesehen haben, bei jeder Neuschöpfung
einer Form eine stoffliche und eine formale Gruppe zusammenwirken, so bedingen sich beide gegenseitig in Bezug
auf ihre schöpferische Kraft. Eine formale Isolierung ist fast immer zugleich eine stoffliche. Wenn rechts nicht mehr
als Gen. empfunden wird, so steht es auch nicht mehr in so innigem Zusammenhange mit dem Nom. recht. Kunst
steht in keinem so engen Zusammenhange mit können als Führung mit führen; denn -ung ist ein noch lebendiges
Suffix, mit Hilfe dessen wir jederzeit im stande sind neue Substantiva aus Verben zu bilden, nicht so - st. Ja wir
dürfen weiter behaupten, dass Regierung im Sinne von `regierendes Kollegium', Mischung = Gemischtes, Kleidung
= Mittel zum Kleiden u. dgl. nicht in so engem Zusammenhange mit den betreffenden Verben stehen als Regierung
= das Regieren etc. Denn nur die Bezeichnung einer Tätigkeit ist die vollständig lebende Funktion des Suffixes -
ung, in welcher sich wenigstens den meisten transitiven Verben ein Subst. zur Seite stellen lässt.

Die auf die Flexion bezüglichen Gruppen haben natürlich einen festeren Zusammenhang als die auf die Wortbildung
bezüglichen. Einerseits ist das Mass des gemeinsamen Elementes ein grösseres, anderseits ist das Gefühl für die
Bildungsweise am lebendigsten. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht das Verhalten der Nominalformen des

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Verbums. Sobald sie als wirkliche Nomina gebraucht werden, der Inf. mit dem Artikel versehen, das Part. zur
Bezeichnung einer bleibenden Eigenschaft verwendet wird, ist der Zusammenhang mit den übrigen Verbalformen
gelockert, und damit die Möglichkeit zu einer abweichenden Weiterentwickelung der Bedeutung geschaffen.

Eine Bedeutungserweiterung des Grundwortes oder des dem Sprachgefühl als solches erscheinenden Wortes teilt
sich leichter der Ableitung mit, als umgekehrt eine Bedeutungserweiterung der Ableitung dem Grundwort. Weil
man sich nämlich bei der Ableitung leichter an das Grundwort erinnert als umgekehrt, so knüpft man auch die
Ableitung leichter an alle Bedeutungen des Grundwortes an, als das Grundwort an alle Bedeutungen der Ableitung.
Deshalb geht der Anstoss zur Isolierung gewöhnlich von einer Bedeutungsveränderung der Ableitung aus. Wie das
Grundwort zur Ableitung verhält sich das Simplex zum Kompositum.

Die Ursache zu ungleichmässiger Bedeutungsentwickelung etymologisch verwandter Wörter liegt, soweit sie nicht
erst die Folge anderweitiger Isolierung ist, in der von Anfang an bestehenden Verschiedenheit der Funktion. Ein
Nomen kann sich nach Richtungen hin entwickeln, nach denen ihm das Verbum nicht nachfolgen kann. In wirk-
[196 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] licher Korrespondenz mit dem Verbum stehen nur die
eigentlichen nomina agentis und nomina actionis. Sobald das Nomen agentis zur Bezeichnung einer bleibenden
Eigenschaft oder des Trägers einer bleibenden Eigenschaft, das Nomen actionis zur Bezeichnung eines bleibenden
Zustandes oder eines Produkts, eines Werkzeugs geworden ist, so kann sich dann ein weiterer Bedeutungsinhalt
anheften, wie er sich zu einem Verbum nicht fügt. So ist nhd. Ritter Nomen agentis zu reiten, wird dann zur
Bezeichnung eines Mannes, der das Reiten gewohnheitsmässig, berufsmässig treibt. Dabei bleibt es zunächst noch
mit dem Verbum innig verbunden. Indem dann aber das Wort vorzugsweise von berittenen Kriegern gebraucht wird
und aus diesen berittenen Kriegern sich ein privilegierter Stand entwickelt, ein Orden, in den man feierlich
aufgenommen wird, ist es bei einer Bedeutung angelangt, der überhaupt keine verbale Bedeutung entsprechen kann.
Und so hat es denn noch weiter einen Sinn bekommen, der mit dem ursprünglichen gar nichts mehr zu schaffen hat.
Auch für das Adv. sind manche Bedeutungsentwickelungen möglich, die dem Adj. unmöglich sind. Man denke z. B.
an die allgemein verstärkenden oder beschränkenden Adverbien, wie nhd. sehr = mhd. sêre von einem Adj. sêr
verwundet, ahd. harto und drâto valde von den Adjektiven herti hart und drâti schnell, nhd. in der Umgangssprache
schrecklich, furchtbar, entsetzlich, fast zu fest, auch an solche wie schon zu schön.

§ 137. Die etymologischen Gruppen und die Formen mit lautlicher Übereinstimmung und somit auch die aus beiden
sich zusammensetzenden Proportionengruppen erfahren auch durch den Lautwandel Einwirkungen, die den
Zusammenhalt stark beeinträchtigen oder gänzlich zerstören. Es werden durch denselben eine Menge zwecklose
Unterschiede erzeugt. Denn es ist in den allgemeinen Ursachen des Lautwandels begründet, dass in den seltensten
Fällen sich ein Laut überall da, wo er in der Sprache erscheint, auf die gleiche Art verändert. Selbst ein so spontaner
Lautwandel, wie die urgermanische Lautverschiebung hat doch gewisse hemmende Schranken gefunden, die sich
einer gleichmässigen Durchführung widersetzt haben, indem z.B. in den Verbindungen sk, st, sp die Verschiebung
unterblieben ist. Noch viel mehr Veranlassung zu Differenzierung ursprünglich gleicher Laute liegt da vor, wo die
Veränderung durch die umgebenden Laute oder durch die Akzentuation bedingt ist. So entstehen fast bei jedem
Lautwandel zwecklose Unterschiede zwischen den verschiedenen Ableitungen aus derselben Wurzel, zwischen den
verschiedenen Flexionsformen desselben Wortes (vgl. z. B. gr. stízô - stíxô - stiktós - stígma, nhd. sitze - sass, heiss -
heize - Hitze; schneide - schnitt; [197 Lockerung der Gruppen durch Bedeutungs- und Lautwandel.] friere - Frost
etc.); die gleichen Ableitungs- und Flexionssuffixe spalten sich in verschiedene Formen (vgl. z. B. die
verschiedenen Gestaltungen des indogermanischen Suffixes -tei- in lat. hostis, messis, pars, in got. ansts - gabaurþs
- qiss, die verschiedene Behandlung der Nominativendung -r in altn. sonr - steinn [aus *steinr] - heill - îss - fugl [aus
*fuglr] etc.); ja das gleiche Wort nimmt je nach der Stellung im Satze verschiedene Form an (vgl. die mehrfachen
Formen griechischer Präpositionen wie en - em - eg; sun - sum - sug). Daraus entspringt für die folgenden
Generationen eine unnütze Belastung des Gedächtnisses. Zugleich aber ist auch die unvermeidliche Folge die, dass
die einzelnen Formen wegen des verringerten Masses der lautlichen Übereinstimmung sich jetzt weniger leicht und
weniger fest zu Gruppen zusammenschliessen. Die Folge davon ist, dass sich ein Bedeutungswandel weniger leicht
von einem verwandten Worte auf das andere überträgt. Die Zerstörung der Übereinstimmung in der Lautgestaltung
begünstigt daher die Zerstörung der Übereinstimmung in der Bedeutung.

Das Absterben der lebendigen Bildungsweisen nimmt meist seinen Ausgang von einer lautlichen Isolierung, die
häufig sowohl stofflich als formal ist, die Bedeutungsisolierung kommt erst hinterher. Wir können z. B. im
Germanischen eine Periode voraussetzen, in welcher vielleicht aus jedem intransitiven starken Verbum ein
schwaches Kausativum gebildet werden konnte. Dasselbe unterschied sich schon von der indogermanischen Zeit her
im Wurzelvokal vom Präs. des Grundwortes, indem es aber mit dem Sg. Ind. Prät. übereinstimmte (brinna - brann -
brannjan etc.), war doch eine nahe lautliche Beziehung gewahrt. Aber ein Riss trat schon im Urgerm. ein durch die
Wirkung des Vernerschen Gesetzes, infolge dessen in vielen Fällen eine konsonantische Abweichung des
Kausativums nicht bloss vom Präs., sondern auch vom Sg. Prät. des Grundwortes entstand. Diese Abweichung hat

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

weiterhin im Ahd. mitunter vokalische Abweichungen im Gefolge. Das Kausativum nimmt dann abweichend vom
Sg. Prät., wo es moglich ist, den Umlaut an. So entstehen im Mhd. Verhältnisse wie springen - spranc - sprengen,
varen - vuor - vüeren, sîhen - sêch - seigen, ziehen - zôh - zöugen, genesen - genas - neren. Unter solchen
Umständen war es natürlich, dass Grundwort und Kausativum nun ihre eigenen Wege in der
Bedeutungsentwickelung gingen, so dass z. B in nhd. genesen - nähren niemand mehr einen Zusammenhang fühlt.
Durch die erwähnten Lautveränderungen wird aber auch die Gleichmässigkeit der Bildungsweise angegriffen, und
darunter leidet der Zusammenhang der Kausativa unter einander auch nach der Seite der Bedeutung und wird
schliesslich ganz zerstört. [198 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.]

Das Absterben der indogermanischen Ableitungssuffixe im Germanischen hat seinen ersten Anlass meist in einer
Lautveränderung. So erscheint z. B. das t der Suffixe -tei, -teu, -to etc. nach der Lautverschiebung in fünffacher
Gestalt: t (got. þaurfts »Bedürfnis« zu þaurban, gaskafts »Schöpfung« zu skapjan, mahts »Macht« zu magan,
frawaurhts »Vergehen« zu waurkjan), þ (gaqumþs »Zusammenkunft« zu qiman, gabaurþs »Geburt« zu bairan), d (-
deds »Tat« zu alts. dôn, gamunds »Gedächtnis« zu munan), st (ansts »Gnade« zu unnan, alabrunsts »Brandopfer«
zu brinnan), s (-qiss »Rede« zu qiþan, -stass »Tritt« zu standan, gawiss »Verbindung« zu gawidan). Ein
Bewusstsein für die ursprüngliche Identität dieser verschiedenen Lautgestaltungen kann es natürlich nicht geben.
Die grosse Gruppe zerteilt sich in fünf kleinere. Keinem von den fünf Suffixen kommt Allgemeingültigkeit zu. Dazu
ist der Zusammenhang mit dem Grundwort vielfach gelockert durch Veränderungen des Wurzelauslauts, wofür die
Beispiele schon gegeben sind. Daher ist die unausbleibliche Folge gewesen, dass die alten Suffixe die Fähigkeit
verlieren mussten noch zur Bildung neuer Wörter zu dienen, dass fortan nur noch die alten Bildungen
gedächtnismässig weiter überliefert wurden, und zwar nur so weit, als sie wegen häufigen Gebrauches einer Stütze
durch das Grundwort nicht bedurften. So ist ferner Suffix -no abgestorben, weil es in vielen Fällen in Folge der
Assimilation des n an den vorhergehenden Konsonanten unkenntlich geworden war, vgl. fulls = indog. plnos etc.

§ 138. Der Symmetrie des Formensystems ist also im Lautwandel ein unaufhaltsam arbeitender Feind und Zerstörer
gegenüber gestellt. Man kann sich schwer eine Vorstellung davon machen, bis zu welchem Grade der
Zusammenhangslosigkeit, Verworrenheit und Unverständlichkeit die Sprache allmählich gelangen würde, wenn sie
alle Verheerungen des Lautwandels geduldig ertragen müsste, wenn keine Reaktion dagegen möglich wäre. Ein
Mittel zu solcher Reaktion ist nun aber in der Analogiebildung gegeben. Mit Hilfe derselben arbeitet sich die
Sprache allmählich immer wieder zu angemesseneren Verhältnissen durch, zu festerem Zusammenhalt und
zweckmässiger Gruppierung in Flexion und Wortbildung. So sehen wir denn in der Sprachgeschichte ein ewiges
Hin- und Herwogen zweier entgegengesetzter Strömungen. Auf jede Desorganisation folgt eine Reorganisation. Je
stärker die Gruppen durch den Lautwandel angegriffen werden, um so lebendiger ist die Tätigkeit der
Neuschöpfung.

Wo durch den Lautwandel eine unnötige und unzweckmässige Differenz entstanden ist, da kann dieselbe mit Hilfe
der Analogie beseitigt werden, indem nämlich eine so differenzierte Form allmählich durch eine Neubildung
verdrängt wird, welche die betreffende Differenz [199 Lockerung der Gruppen durch Lautwandel. Ausgleichung.]
nicht enthält. Wir können diesen Prozess als Ausgleichung bezeichnen, nur müssen wir uns klar darüber sein, dass
mit diesem Ausdruck nicht das eigentliche Wesen des Vorgangs bezeichnet ist, dass derselbe sich vielmehr aus einer
komplizierten Reihe von Einzelvorgängen zusammensetzt, wie sie in Kap. 5 analysiert sind.

Gehemmt wird die Ausgleichung durch die stofflich-lautlichen Proportionen. Ein noch lebendiger, durch solche
Proportionen gestützter Lautwandel entzieht sich öfters der Ausgleichung lange Zeit, jedoch ohne dass er derselben
ein unüberwindliches Hinderniss in den Weg stellte. Sind einmal die stofflich-lautlichen Proportionen durchbrochen,
so verliert der Lautwechsel sehr an Widerstandskraft.

§ 139. Wir gehen jetzt dazu über, die verschiedenen Arten der Ausgleichung näher zu betrachten. Wo ein und
dieselbe Form unter dem Einflusse verschiedener Stellung innerhalb des Satzgefüges sich in mehrere
verschiedene Formen gespalten hat, geht der anfängliche Unterschied in der Verwendung dieser Formen verloren,
indem die eine Form auch an solcher Satzstelle gebraucht wird, an welcher die lautliche Entwickelung zur
Erzeugung der andern geführt hat.

109
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

G. Curtius in seinen Studien 10, 205ff. hat gezeigt, dass sich der Auslaut der griechischen Präpositionen sowie der
des Akk. Sing. des Artikels in der älteren Zeit nach dem Anlaut des folgenden Wortes richtet, z. B. kàd dè - kàk
kephalê`n - kàn gónu - kàp pedíon - kàn nómon - kàm mèn - kàr rhóon - kàl lapárên, tòm béltiston - tòn krátiston -
tòn thrasútaton - tòl lâston etc., während in späterer Zeit eine von diesen mannigfaltigen Formen oder die davon
noch verschiedene Adverbialform[4]) zur allgemeinen Normalform wurde.[5])

In den germanischen Sprachen wiederholt sich mehrmals in verschiedenen Perioden der Prozess, dass die
gleichzeitig als Adverbien und als Präpositionen gebrauchten Wörter, je nachdem sie im Satze vollbetont sind oder
enklitisch, und je nachdem sie als Enklitika noch einen Nebenton tragen oder ganz unbetont sind, sich in zwei oder
mehr verschiedene Formen spalten, deren anfänglicher Funktionsunterschied aber nicht festgehalten wird, indem
sich die eine Form an Stelle der andern eindrängt, vgl. darüber Beitr. z. Gesch. d. deutschen Spr. VI, 144. 191ff.
199ff. 207ff. 248ff. 137². Um nur ein Beispiel [200 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] anzuführen,
urgerm. *tô (zu) ist, wo es vollbetont war, also in adverbialem Gebrauche ungeschwächt geblieben, als Proklitikum
dagegen zu *to verkürzt. Aus dem letzteren entstehen unter verschiedenen Akzentbedingungen im Ahd. za - ze - zi.
Diese werden in einigen der ältesten Denkmäler unterschiedslos neben einander gebraucht, in jüngerer Zeit setzt
sich in jedem Dialekt eins davon fest. Alle drei werden im Mhd. zu ze. Neben diesem tritt dann aber die aus *tô
regelrecht entwickelte Form zuo auch als Präp. auf und gelangt in der nhd. Schriftsprache zur Alleinherrschaft.
Ähnlich verhält es sich mit den Formen der Pronomina und des Artikels, vgl. Beitr. 137². 144ff.

In der Übergangszeit vom Ahd. zum Mhd. fällt auslautendes r nach langem Vokal ab in dâ aus dâr, hie aus hier etc.,
bleibt aber erhalten in enger Verbindnng mit einem folgenden Worte, weil es dann zur folgenden Silbe
hinübergezogen wird, also daran, hieran etc. Im Nhd. tritt hier auch sonst an Stelle von hie und verdrängt letzteres
in der Schriftsprache allmählich ganz, abgesehen von der Verbindung hie und da. Umgekehrt finden sich im Mhd.
auch die Verbindungen hie inne, hie ûze und zusammengezogen hinne, hûze, noch jetzt oberdeutsch.

Der Prozess der Differenzierung und Ausgleichung kann sich mehrmals hinter einander wiederholen. Im Ahd. hat
sich ana in ana (Adv.) und an (Präp.) gespalten; die erstere Form hat dann die letztere verdrängt. Im Mhd. spaltet
sich ana wieder in ane und an, und die erste Form wird durch die letztere verdrängt. Eine ähnliche Entwickelung hat
aba (ab) durchgemacht.

Die Einwirkung des Satzgefüges auf die Lautentwickelung begreift sich, wie wir gesehen haben, dadurch, dass eine
Wortgruppe ebenso wie das einzelne Wort als eine Einheit erfasst wird, welche von dem Hörenden nicht erst in ihre
Elemente zerlegt, von dem Sprechenden nicht erst aus ihren Elementen zusammengesetzt wird. Das Verhältnis ist
also dasselbe wie bei einem Kompositum, wie es denn überhaupt, was noch weiterhin zu erörtern sein wird, gar
keine scharfe Grenze zwischen Kompositum und Wortgruppe gibt. Namentlich ist ursprünglich zwischen der
Verbindung der Präposition mit einem Nomen und der mit einem Verbum kaum ein Unterschied zu machen. In
unserem Falle tritt demnach an die Stelle der traditionellen Gestalt der Gruppe eine neugeschaffene
Zusammensetzung.

Es sind dabei zwei verschiedene Wege der Entwickelung möglich. Entweder es greift nur die eine Form in die
Funktion der andern über, oder der Übergriff ist ein wechselseitiger. Letzteres wird natürlich dann eintreten, wenn
die verschiedenen Formen in Bezug auf Häufig- [201 Ausgleichung zwischen Doppelformen.] keit des
Vorkommens einander ungefähr die Wage halten, ersteres, wenn die Häufigkeit der einen die der andern bedeutend
überwiegt. In beiden Fällen ist der Erfolg der, dass zunächst eine zeitlang Doppelformen (respektive Tripelformen
etc.) neben einander herlaufen, aber in dem einen Falle nur auf einem beschränkten Gebiete, während sonst
Einformigkeit bleibt, in dem andern Falle mit unbeschränkter Geltung. Eine allgemeine Einformigkeit ergibt sich
dann erst wieder im Laufe der weiteren Entwickelung durch den Untergang der einen Form. Da, wo der
Mehrformigkeit auf dem einen noch Einformigkeit auf dem andern Gebiete gegenübersteht, kann es natürlich nicht
zweifelhaft sein, welche Form den Sieg davontragen muss. Wo aber die Mehrformigkeit einmal allgemein geworden
ist, da ist auch das Kräfteverhältnis kein so ungleiches, der Kampf nicht so leicht zu entscheiden, der Ausgang von
zufälligen Umständen abhängig, die für uns nicht immer zu erkennen sind. Je ungleicher das Verhältnis ist, um so
kürzer ist auch der Kampf, um so früher beginnt auch der Angriff.

Die Spaltung einer Form in mehrere verschiedene kann so vor sich gehen, dass unter allen Umständen eine
Veränderung eintritt, aber auch so, dass dabei die Grundform neben einer oder mehreren veränderten Formen
bewahrt bleibt. Im letzteren Falle hat bei der weiteren Entwickelung die Grundform an sich keinen Vorzug vor der
abgeleiteten; denn sie wird nicht als solche anerkannt. Wohl aber hat diejenige Form einen Vorzug vor den übrigen,
in welcher das Wort erscheint, wenn es von einer Beeinflussung durch das Satzgefüge unabhängig ist, mag sie die
Grundform sein oder nicht. Der Franzose, der sich nicht wissenschaftlich mit seiner Muttersprache beschäftigt hat,
weiss nichts davon, dass in un ami das n eine ursprünglichere Aussprache hat als in un fils. Er wird, wenn er

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

überhaupt darüber reflektiert, viel eher geneigt sein die Aussprache des n in un ami für eine Abänderung der
normalen zu halten.

Diese Bemerkungen lassen sich mutatis mutandis auf jede andere Art der Ausgleichung durch Analogiebildung
anwenden.

§ 140. Wesentlich derselbe Vorgang ist die Ausgleichung zwischen lautlich differenzierten Formen, die aus dem
gleichen Stamme, oder Wörtern, die aus der gleichen Wurzel gebildet sind. Wir können diese Ausgleichung die
stoffliche nennen im Gegensatz zu der formalen, die sich zwischen den entsprechenden Formen verschiedener
Wörter, den entsprechenden Bildungen aus verschiedenen Wurzeln, zwischen verschiedenen Flexions- oder
Wortbildungssystemen vollzieht. Häufig ist übrigens die stoffliche Ausgleichung zugleich eine formale.

Beispiele liessen sich zu grossen Massen anhäufen. Besonders lehrreich sind gewisse durchgreifende
Differenzierungen, die in einer [202 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] sehr frühen Periode
eingetreten sind. Mit der Reaktion gegen dieselben haben die nachfolgenden Geschlechter oft viele Jahrhunderte zu
tun, während deren immer ein Fall nach dem andern der Ausgleichung zum Opfer fällt, und schliesslich doch nicht
selten noch einige Residua der Differenzierung übrig bleiben. Um so mannigfaltiger und zugleich um so lehrreicher
wird die Entwickelung, wenn nach dem Eintritt der lautlichen Differenzierung die Sprache sich mannigfach
dialektisch gespalten hat. Das grossartigste Beispiel der Art, das mir bekannt ist, liefert die Vokalabstufung der
indogermanischen Ursprache, deren Reste zu beseitigen sich noch jetzt die lebendigen Dialekte bemühen. Auf
germanischem Gebiete stehen obenan die Wirkungen des Vernerschen Gesetzes, wonach im Urgerm. die harten
Reibelaute h, þ, f, s sich nach ursprünglich betonter Silbe erhalten haben, nach ursprünglich unbetonter zu den
entsprechenden weichen (got. g, d, b, z) geworden sind. Die Bewegung, welche dadurch hervorgerufen ist, empfiehlt
sich ganz besonders zum methodologischen Studium, zumal da man sich dabei auf einem sicheren, allgemein
anerkannten Boden befindet. Der Sprachforscher, der sich einmal die Mühe gegeben hat die Reaktionen gegen ein
solches Lautgesetz bis in alle Einzelheiten zu verfolgen, der kann unmöglich solche verkehrten Behauptungen und
Einwendungen betreffs der Analogiebildung vorbringen, wie sie sich leider so vielfach breit machen. Und wie mit
einem Lautgesetze, so ist es mit allen übrigen. Es gibt überhaupt kein Lautgesetz, das nicht, sobald es einmal in
einer Anzahl von Fällen das etymologisch eng Zusammenhängende lautlich differenziert hat auch eine Reaktion
gegen diese Differenzierung hervorriefe, es sei denn, dass der hinterlassene Lautwechsel bleibend durch die
Analogie gestützt wird (vgl. § 84). Das muss als ein Fundamentalsatz der historischen Sprachforschung anerkannt
werden. Man durchsuche alle Sprachen, deren Entwickelung sich kontinuierlich verfolgen lässt, nach einem
derartigen Lautgesetze, das einige Jahrhunderte, nachdem es gewirkt, noch keinerlei Reaktion im Gefolge gehabt
hat. Ich bin überzeugt, es darf getrost für den ehrlichen Finder eine königliche Belohnung ausgesetzt werden,
niemand wird sie verdienen.

§ 141. Wer eine solche Entwickelung im Zusammenhange verfolgt hat, der wird auch nicht, wie dies neuerdings
mehrfach geschehen ist, an eine Formenerklärung, die auf die Annahme von Ausgleichungen basiert ist, den
Anspruch stellen, dass die Ausgleichung in allen von dem Lautgesetze betroffenen Formen gleichmässig und nach
derselben Richtung hin eingetreten sein müsse. Das heisst eine Entwickelung fordern, wie sie der Erfahrung, die wir
aus den wirklich zu beobachtenden Tatsachen abstrahieren können, schnurstracks widerspricht. Solche [203
Stoffliche und formale Ausgleichung.] Forderung beruht auch auf einer offenbaren Begriffsverwechselung. Für den
Lautwandel allerdings muss man verlangen, dass er überall, wo die gleichen lautlichen Bedingungen vorhanden
sind, gleichmässig eintritt. Aber für die Ausgleichung kommt Gleichmässigkeit oder Nichtgleichmässigkeit der
lautlichen Verhältnisse gar nicht in Betracht. Entweder entwickelt sich dabei jede durch stoffliche Verwandtschaft
verbundene Gruppe für sich, oder, wenn mehrere solche Gruppen auf einander einwirken, so geschieht dies dadurch,
dass gleichzeitig formale Ausgleichung im Spiele ist; aber das Betroffensein von dem gleichen Lautgesetze gibt an
sich gar keinen Grund ab zu einer gegenseitigen Beeinflussung bei der Ausgleichung. Dagegen wirken gar manche
fördernde und hemmende Umstände darauf hin, dass der Prozess in den verschiedenen Fällen sehr ungleichmässig
verläuft.

§ 142. Zu diesen gehört auch ein lautliches Moment. Solche Formen, welche durch die Wirkung mehrerer
Lautgesetze differenziert sind, sind der Ausgleichung weniger günstig, als solche, in denen nur eins davon
differenzierend gewirkt hat.

Die bekannte neuhochdeutsche Vokaldehnung tritt abgesehen von ganz bestimmten Verbindungen niemals vor
Doppelkonsonanten ein, wovor im Gegenteil sogar ursprüngliche Länge gekürzt wird (vgl. brachte = mhd. brâhte,
Acht = mhd. âhte etc.). Demnach kommt auch der 2. 3. Sg. und der 2. Plur. Ind. Präs., falls der Endungsvokal
synkopiert ist, Kürze zu, auch da, wo die übrigen Formen des Präs. Dehnung haben eintreten lassen. Bei weitem in
den meisten Fällen aber ist Ausgleichung eingetreten, so stets im schwachen Verbum (z.B. lebe - lebst, lebt), wo die

111
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Vokalqualität durch alle Formen hindurch von jeher die gleiche war; ferner in den starken Verben mit wurzelhaftem
a: trage - trägst, trägt (niederdeutsch mit Kürze dröchst, dröcht). Dagegen hat sich die Kürze der 2. 3. Sing. erhalten
bei den Verben, in denen der Wurzelvokal von Alters her zwischen e und i wechselt, allgemein in nehme - nimmst,
nimmt, trete - trittst, tritt, wenigstens nach der in Niederdeutschland üblichen Aussprache auch in lese - list, gebe -
gibst, gibt. Die Ursache, warum diese Verba der die Quantität betreffenden Ausgleichung besser Widerstand
geleistet haben als die andern, haben wir gewiss in der gleichzeitigen Verschiedenheit der Qualität zu suchen. Das
bestätigt sich noch dadurch, dass sie sich in der 2. Pl. der Ausgleichung nicht entzogen haben. Die Differenz
zwischen a und ä ist nicht so empfunden, weil der Umlaut etwas dem Sprachgefühl sehr Geläufiges ist.

Im Ahd. hätten die Partizipia der Verba lesan, ginesan, uuesan nach dem Vernerschen Gesetze gileran, gineran,
giuueran zu lauten, aber abgesehen von wenigen Resten in den ältesten Denkmälern ist [204 Zehntes Kapitel.
Isolierung und Reaktion dagegen.] mit Anlehnung an das Präs. gilesan, ginesan, giuuesan eingetreten. Dagegen
noch im Mhd. lauten die Partizipia von kiesen, friesen, verliesen mit Beibehaltung des Wechsels gekoren, gefroren,
verloren. Die Gleichheit des Vokalismus im ersteren, die Verschiedenheit im letzteren Falle ist für den
Konsonantismus massgebend gewesen.

Die starken Verba, die im Sg. und Pl. des Prät. gleichen Vokal haben, haben auch den durch das Vernersche Gesetz
entstandenen konsonantischen Unterschied schon frühzeitig aufgehoben, vgl. ahd. sluog - sluogun, hieng - hiengun,
huob - huobnn, hluod - hluodun gegen zôh - zugun, meid - mitun. Man sieht, wie auf diese Weise selbst Formen, die
nicht bloss von dem gleichen Lautgesetze betroffen, sondern auch nach Funktion und sonstiger Bildungsweise
verwandt sind, in verschiedene Disposition gesetzt werden.

Diese Erscheinung verlangt eine psychologische Erklärung. Man sollte zunächst meinen, da das, was wir
Ausgleichung nennen, von einer Neuschöpfung nach Analogie ausgeht, dass die lautliche Gestalt der durch die
Neuschöpfung zurückgedrängten Form dabei gar nicht in Betracht käme. Tritt das Bild der traditionellen lautlich
differenzierten Form ins Bewusstsein, so ist keine Neuschöpfung möglich, tritt es nicht in das Bewusstsein, so ist die
Neuschöpfung freigegeben. Nun ist aber kein Grund abzusehen, warum eine Form deshalb leichter ins Bewusstsein
treten sollte, weil sie sich lautlich stärker von einer verwandten unterscheidet als eine andere. Die Schwierigkeit ist
nur zu lösen, wenn wir das Zusammenwirken rein gedächtnismässiger Reproduktion und schöpferischer
Kombination, wie wir es für die tägliche Hervorbringung der schon in der Sprache üblichen Formen anerkennen
mussten, auch bei der Schöpfung von neuen Formen annehmen. Es gibt einen Zustand, in welchem das Bild der
traditionellen Form nicht mächtig genug ist, um unter allen Umständen leichter ins Bewusstsein zu treten als eine
durch Analogie veranlasste Neubildung, aber doch nicht so schwach, um vor einer solchen widerstandslos
zurückzuweichen. Es liegen also zwei Vorstellungen im Kampfe mit einander darüber, welche von ihnen zuerst in
das Bewusstsein treten und damit die andere zurückdrängen soll. Nur wo ein solches Verhältnis besteht, kommt die
Grösse des Abstandes zwischen der traditionellen Form und der eventuellen Neuschöpfung in Betracht. Ist nämlich
die letztere in Begriff sich zuerst vorzudrängen, so kann ihr doch die erstere, auch ohne deutlich bewusst zu werden,
eine Kontrolle entgegenstellen, welche das Sprachgefühl in Bezug auf jene nicht zu der nötigen unbefangenen
Sicherheit gelangen lässt und so zum Besinnen auf diese treibt. Die Vorstellung der traditionellen Form wirkt aber
um so stärker hemmend, je weiter sie ihrem Inhalte [205 Hemmung der Ausgleichung.] nach von der neuen
Kombination verschieden ist. Ähnlich wie dem Sprechenden ergeht es dem Hörenden. Eine Neubildung wirkt um so
befremdender auf ihn, wird um so schwerer gut geheissen und nachgeahmt, je mehrseitiger sie der überlieferten
Form widerspricht, sofern überhaupt die Erinnerung an dieselbe in seiner Seele noch einigermassen wirkungskräftig
ist.

§ 143. Eine viel wichtigere Rolle als der lautliche Abstand spielen zwei andere Momente bei der Förderung und
Hemmung der Ausgleichung, die grössere oder geringere Festigkeit des Zusammenhangs der etymologischen
Gruppen und die grössere oder geringere Intensität, mit der die einzelnen Formen dem Gedächtnisse
eingeprägt sind.

Die erstere hängt ab von dem Grade der Übereinstimmung in der Bedeutung und von dem Grade lebendiger
Bildsamkeit der einzelnen Formen. Beides steht, wie wir schon gesehen haben, in Wechselbeziehung zu einander.
Die grössere oder geringere Innigkeit des Zusammenhangs kann schon mit der Funktion der Formen an sich
gegeben sein, wie z. B. die Formen des Präs. unter einander enger zusammenhängen als mit denen des Prät., die
Formen desselben Wortes enger unter einander als mit den Formen der aus der gleichen Wurzel abgeleiteten Wörter.
Es kann aber auch durch sekundäre Entwickelung der Verband gelockert werden. Jede Art von Isolierung, welche
die Funktion trifft, erschwert auch die Reaktion gegen die Isolierung, von der die Lautgestalt betroffen ist, und
macht sie, sobald sie selbst einen bestimmten Grad erreicht hat, unmöglich.

Einige Beispiele mögen diese Sätze erläutern. Die durch Wirkung des Vernerschen Gesetzes entstandenen

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

zahlreichen Differenzierungen des Konsonantismus sind innerhalb der Flexion der Nomina schon in den ältesten auf
uns gekommenen Denkmälern ganz getilgt. Wir sehen ihre Spuren aber noch in manchen unterschiedslos neben
einander stehenden Doppelformen. Im Verbum dagegen hat sich die Differenzierung besser bewahrt, offenbar
unterstützt durch die damit zusammentreffende Vokaldifferenzierung (den Ablaut), vgl. mhd. ziuhe - zôch - zugen -
gezogen. Wir können nun mehrfach deutlich beobachten, wie der später eintretende Ausgleichungsprozess damit
beginnt, dass der Unterschied zwischen Sing. und Plur. des Prät. aufgehoben wird, und zwar auch so, dass der Sing.
dadurch erst vom Präs. verschieden gemacht wird. Dies ist in den westgermanischen Dialekten fast in allen
denjenigen Fällen geschehen, in denen keine Verschiedenheit des Vokalismus hemmend im Wege stand, also ahd.
slahu - sluog - sluogun statt *sluoh - sluogun, fâhu - fiang - fiangun statt *fiah - fiangun etc. Ein Beispiel, in dem
auch durch die Verschiedenheit des Vokalismus [206 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] diese
Entwickelung nicht verhindert ist, sehen wir in alts. fîthan. Dieses sollte bei rein lautlicher Entwickelung des Prät.
fôth - fundun bilden. Es heisst aber nur fand - fundun, während im Präs. zwar auch schon findan, aber doch erst
neben fîthan auftritt. Die wenigen nhd. Reste dieses alten Wechsels zeigen sämtlich die Abweichung von den
älteren, noch im Mhd. bestehenden Verhältnissen, dass der Sing. des Prät. an den Plur. angeglichen ist: ziehe - zog
(ahd. zôh) - zogen, leide - litt (ahd. leid) - litten, schneide - schnitt (ahd. sneid) - schnitten, siede - sott (ahd. sôd) -
sotten, erkiese - erkor (ahd. irkôs) - erkoren. Ebenso hat sich der Ablaut zwar im allgemeinen im Nhd. erhalten, aber
zwischen Sg. und Pl. des Prät. ist Übereinstimmung hergestellt.

Vielfach können wir beobachten, dass lautliche Differenzierungen, die innerhalb der verschiedenen Flexionsformen
eines Wortes entweder durchaus oder bis auf geringe Reste beseitigt werden, zwischen etymologisch verwandten
Wörtern bestehen bleiben oder nur da getilgt werden, wo ihre Beziehung zu einander eine sehr enge ist. In den
germanischen Sprachen besteht von altersher ein Wechsel zwischen dem Laute unseres h und unseres ch in der Art,
dass ersteres im Silbenanlaute, letzteres im Silbenauslaute und vor Konsonant steht, vgl. mhd. rûch (rauh) - Gen.
rûhes, ich sihe - er siht (gesprochen wie unser sicht) - er sach - wir sâhen. In der jetzigen Schriftsprache ist dieser
Wechsel in der Flexion beseitigt ausser in hoch, ausserdem ist auch der Komparativ und Superlativ dem Positiv
angeglichen, abgesehen von höher - höchste - und näher - nächste. Sonst aber ist er beibehalten, vgl. sehen -
Gesicht, geschehen - Geschichte, fliehen - Flucht, ziehen - Zucht, schmähen - Schmach. Ein über viele Fälle sich
erstreckender Wechsel auf vokalischem Gebiete war in den altgermanischen Dialekten unter dem Einflusse des
Vokals der folgenden Silbe entstanden, nämlich zwischen e und i und zwischen u und o. Dieser Wechsel ist
innerhalb der Nominalflexion grösstenteils schon vor dem Beginne unserer Überlieferung beseitigt. Innerhalb der
etymologisch zusammenhängenden Wortgruppen ist er im Mhd. noch durchaus bewahrt, abgesehen von den
Femininbildungen aus Bezeichnungen lebender Wesen (vgl. got - gotinne [ahd. gutinna], doch auch noch birin
neben berinne und wolf - wülpinne) und den Deminutiven (vgl. vogel - vögelîn [ahd. fugilî]). Im Nhd. tritt dann die
Ausgleichung nur bei ganz besonders enger Beziehung ein. So regelmässig zwischen Subst. und Adj. bei
Stoffbezeichnungen, z. B. Leder - ledern (mhd. liderîn), Gold - golden (mhd. guldîn), Holz - hölzern (hulzîn),
ausserdem z. B. in Wort - Antwort, antworten (mhd. antwürte, antwürten); Gold - vergolden (altertümlich noch
vergülden). Dagegen heisst es noch Recht - richten, [207 Förderung und Hemmung der Ausgleichung.] richtig,
Gericht; Berg - Gebirge; Feld - Gefilde; Herde - Hirt; hold - Huld; voll - füllen; Koch - Küche etc.

Selbstverständlich tritt da keine Ausgleichung ein, wo durch divergierende Bedeutungsentwickelung das Gefühl für
den etymologischen Zusammenhang ganz geschwunden ist, auch da nicht, wo es so wenig rege mehr ist, dass es
nicht ohne ein gewisses Nachdenken zum Bewusstsein kommt. Das ist z. B. die Ursache, warum die eben
besprochenen Lautdifferenzen in folgenden Fällen bewahrt sind: rauh - Rauchwerk, Rauchware, Rauchhandel; nach
(mhd. nâch) - nahe; Erde - irden, irdisch; Gold - Gulden (substantiviertes Adjektivum). Im Mhd. existieren von
tragen die zusammengezogenen Formen du treist, er treit; diese sind im Nhd. wieder durch trägst, trägt ersetzt, aber
in der Ableitung Getreide ist die Kontraktion bewahrt. Mhd. gar hat in den flektierten Formen ein w (garwe etc.),
welches sich im Nhd. lautgesetzlich zu b entwickeln musste; aber eine Flexion gar - garber konnte auf die Dauer
nicht beibehalten werden, und die flektierten Formen richteten sich nach dem Muster der unflektierten; dagegen in
dem Verb. gerben blieb das b wegen der abweichenden Bedeutungsentwickelung. Jede Sprache auf jeder beliebigen
Entwickelungsstufe bietet reichliche Belege für diese Erscheinung.

§ 144. Die Intensität der gedächtnismässigen Einprägung ist zunächst massgebend für das Kraftverhältnis der
einander gegenüber stehenden Faktoren, in welcher Beziehung die in § 139 gemachten Bemerkungen auch hier
zutreffen. Wenn z. B. im Altnordischen die 1. Sg. Konj. im Präs. wie im Prät. auf a ausgeht (gefa, gæfa), während in
allen übrigen Formen ein i erscheint (gefir, gefi, gefim, gefið, gefi und gæfir, gæfi etc.), so sind natürlich die
Chancen für die erstere sehr ungünstig, und so erscheint denn auch in den jüngeren Quellen gefi, gæfi. Natürlich
kann aber unter Umständen eine vereinzelte gegen mehrere zusammenstimmende Formen den Sieg behaupten, wenn
sie für sich häufiger gebraucht wird als die übrigen zusammen. Wenn z. B. in nhd. ziemen das i durch das ganze
Präs. verallgemeinert ist, wovon dann auch statt des alten starken ein neues schwaches Prät. gebildet ist, während
doch im Mhd. die meisten Formen e haben, so liegt dies daran, dass die 3. Sg. es ziemt wie noch jetzt so schon

113
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

früher an Häufigkeit alle andern überwog.

Die meisten Ungleichmässigkeiten aber in der Behandlung von etymologischen Gruppen, die sonst in vollständigem
Parallelismus zu einander stehen, gehen daraus hervor, dass die einzelnen Gruppen sich in Bezug auf die Häufigkeit
des Vorkommens und damit in Bezug auf die Leichtigkeit, mit der die einzelnen Formen mit ihren traditionellen
Unterschieden gedächtnismässig reproduziert werden können, sehr weit [208 Zehntes Kapitel. Isolierung und
Reaktion dagegen.] von einander unterscheiden. Die seltensten Wörter unterliegen bei sonst gleichen Verhältnissen
der Ausgleichung am frühesten, die häufigsten am spätesten oder gar nicht. Dieser Satz lässt sich nicht bloss
deduktiv, sondern auch induktiv beweisen.

Ausserdem aber wird der Gang der Bewegung durch eine Menge zufälliger Vorgänge in der Seelentätigkeit der
einzelnen Individuen und ihrer Einwirkung auf einander beeinflusst, Vorgänge, die sich unserer Berechnung wie
unserer Beobachtung entziehen. Namentlich spielen solche unserer Erkenntnis verschlossenen Faktoren eine grosse
Rolle in dem Kampfe, den die durch Ausgleichung entstandenen Doppelformen mit einander zu bestehen haben.
Wir müssten eben allwissend sein, sollten wir im stande sein überall die Ursache anzugeben, warum in diesem Falle
so, in jenem anders entschieden ist. Und die Tatsache lässt sich nicht wegleugnen, dass sehr häufig ganz analoge
Fälle in demselben Dialekte, ein und derselbe Fall in verschiedenen Dialekten abweichenden Ausgang haben. So,
um nur ein ganz sicheres Beispiel anzuführen, während das Gotische den sogenannten grammatischen Wechsel
sonst dadurch ausgeglichen hat, dass der Konsonant des Präs. und des Sg. Prät. verallgemeinert ist, sind die Verba
hvairban, swairban, skaidan den umgekehrten Weg gegangen und haben den Konsonanten des Pl. Prät. und des
Part. verallgemeinert, und gerade in dem letzten Verbum ist im Hochdeutschen, welches sonst viel öfter als das
Gotische den Konsonanten des Pl. Prät. durchführt, der Konsonant des Präs. zum Siege gelangt.

§ 145. Natürlich aber ist die Entwickelung in den einzelnen stofflichen Gruppen nicht ganz unabhängig von der
formalen Gruppierung. Namentlich sobald eine lautliche Differenzierung sämtliche zu einer formalen Gruppe
gehörigen etymologischen Parallelgruppen trifft, so ist dadurch ein Zusammenwirken der stofflichen und der
formalen Gruppierung bedingt. Dies Zusammenwirken ist häufig entscheidend für die Richtung der Ausgleichung.
Im Urgermanischen bestand in den zahlreichen Nominalbildungen mit Suffix -no ein Wechsel des dem n
vorangehenden Vokals zwischen u (später weiter zu o-a entwickelt) und e (i), so dass sich beide nach einer
bestimmten Regel auf die verschiedenen Kasus verteilen.[6]) Späterhin wird dann bald u (a), bald e (i) durch alle
Kasus eines Wortes gleichmässig durchgeführt. So stehen im Got. Formen wie þiudans (König) solchen wie
maurgins (morgen) gegenüber, im Altn. Formen wie Jormunn solchen wie Oðinn, und neben einander morgunn und
morginn. Aber die hierhergehörigen Partizipia haben der regellosen Willkür in den sonstigen Formen [209
Widerstand gegen die Ausgleichung. Richtung derselben.] gegenüber im Got. stets -an, im Altn. stets -in. Wie
entscheidend dabei die formale Gruppierung gewesen ist, zeigt sich besonders daran, dass solche Partizipia, die zu
reinen Adjektiven oder zu Substantiven geworden sind, teilweise einen andern Weg eingeschlagen haben, vgl. got.
fulgins (verborgen) gegen fulhans, echtes Part. zu filhan verbergen; aigin (Eigentum), substantiviertes Part. zu aigan
(haben); ferner altn. jotunn (Riese), altes Part. zu eta (essen) mit aktiver Bedeutung.

Aber nicht bloss für die Richtung der Ausgleichung, sondern auch für das Eintreten oder Nichteintreten kann die
formale Gruppierung entscheidend sein. Je weniger die lautliche Differenzierung den formellen Parallelismus der
einzelnen Gruppen unter einander stört, desto widerstandsfähiger sind sie gegen die Tendenzen zur Ausgleichung.
So wäre z. B. die lange Erhaltung der Ablautsreihen im Germanischen nicht möglich gewesen, wenn etwa jedes
Verbum seine eigene Art Ablaut gehabt, wenn es nicht grössere Gruppen von Verben mit dem gleichen Schema
gegeben hätte. So lässt sich denn auch der Nachweis führen, dass die uns erhaltenen Schemata nur eine Auslese aus
den vor Beginn unserer Überlieferung vorhandenen darstellen, indem alle diejenigen, die nur in wenigen
Exemplaren oder nur in einem einzelnen vertreten waren, bis auf geringe Reste untergegangen sind. An andern lässt
sich der Untergang noch historisch verfolgen, z. B. got. truda - traþ - tredum - trudans. Ähnlich verhält es sich mit
dem Umlaut in der 2. 3. Sg. Ind. Präs. der starken Verba: ahd. faru - ferist - ferit, und so noch nhd. fahre - fährst -
fährt.

§ 146. Ein anderer Umstand, der zur Konservierung einer lautlichen Differenz beiträgt, ist das zufällige
Zusammentreffen derselben mit einem Funktionsunterschiede. Wenn z. B. sämtliche Kasus des Sg. sich
übereinstimmend sämtlichen Kasus des Pl. gegenüber stellen, so prägt sich dieses Verhältnis leichter und fester dem
Gedächtnisse ein, als wenn einige Formen des Sg. mit einigen Formen des Pl. sich zusammen andern Formen des
Sg. und Pl. gegenüberstellen. Und so ist es auch natürlich, dass, wo in der Mehrzahl der Fälle die lautliche
Differenzierung mit dem Funktionsunterschiede zusammenfällt, die Ausgleichung sich zunächst auf die näher
zusammengehörigen Gruppen beschränkt und damit die Übereinstimmung zwischen Laut- und
Funktionsunterschied vollständig macht. Im Altdänischen lautet der Pl. von barn (Kind) einem
gemeinskandinavischen Lautgesetze zu Folge børn, barna, børnum, børn, während im Sg. a durchgeht. Das

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Neudänische hat auch für barna børna eintreten lassen. Bei einem andern Worte lagh (Gesetz) ist o schon im
Altdänischen durch den ganzen Pl. durchgeführt. Die Ausgleichung innerhalb der engern Gruppen ist häufig nur die
Vorstufe zu der weiteren Ausgleichung. So dringt auch bei lagh schon im [Paul, Prinzipien] [210 Zehntes Kapitel.
Isolierung und Reaktion dagegen.] Altdänischen das o bisweilen in den Sg., und Neudänisch ist lov durchgeführt.
Das Zusammenfallen mit einem Funktionsunterschiede kann aber auch die Ursache zu dauernder Bewahrung eines
lautlichen Unterschiedes sein, und dies vor allem dann, wenn er zugleich in der eben besprochenen Weise durch die
formale Analogie widerstandsfähig gemacht wird.

Bei dem Zusammentreffen dieser beiden Umstände kann sich die Vorstellung von dem lautlichen Unterschiede so
fest mit der von dem Funktionsunterschiede verbinden, dass dem Sprachgefühl beides unzertrennbar erscheint. Auf
diese Weise wird allmählich der zufällig entstandene bedeutungslose Unterschied zu einem bedeutungsvollen. Er
wird es um so mehr, je weniger die Bedeutungsverschiedenheit durch sonstige Unterschiede in der Lautgestaltung
deutlich gekennzeichnet ist. So vermag sich die Sprache einen Ersatz zu schaffen für den in Folge des lautlichen
Verfalls eintretenden Verlust der charakteristischen Merkmale des Funktionsunterschiedes.

Der Ablaut im germanischen Verbum beruht auf einer Vokaldifferenzierung, die schon in der indogermanischen
Ursprache eingetreten ist. Diese ist eine mechanische Folge des wechselnden Akzentes und hat mit dem
Funktionsunterschiede der einzelnen Formen ursprünglich nichts zu schaffen. Sie war auch für die Ursprache etwas
durchaus Überflüssiges, abgesehen von der Scheidung zwischen Präs. - Impf. und Aorist (vgl. griech. leípô, éleipon,
leípoimi - élipon, lípoimi). Namentlich war der Perfektstamm durch die Reduplikation schon deutlich von dem
Präsensstamm geschieden. Daher sehen wir denn auch im Griech. den Vokalwechsel zwischen Präs. und Perf. in
entschiedenem Verfall begriffen; es heisst zwar noch leípô - léloipa, aber plékô - péplecha, nicht *péplocha. Und
von dem ursprünglichen Wechsel zwischen Sg. und Pl. des Perf. sind nur noch wenige Überreste vorhanden (oîda -
ísmen). Dieser Verfall des Ablauts ist die Folge seiner Überflüssigkeit, und überflüssig war er, weil das alte
charakteristische Kennzeichen des Perfektstammes, die Reduplikation, fort und fort getreu bewahrt blieb, ausserdem
auch der Präsensstamm vielfach noch besonders charakterisiert war. Im Germ. sind umgekehrt der Verfall der
Reduplikation und die Befestignug des Ablautes Hand in Hand gegangen. Man kann zwar nicht sagen, dass das eine
die Ursache des andern gewesen ist. Vielmehr ist der erste Anstoss zum Verfall der Reduplikation durch die
lautliche Entwickelung gegeben, infolge deren gewisse Formen nicht mehr als reduplizierte zu erkennen waren (vgl.
den Typus berum), und die Konservierung des Ablauts ist in erster Linie durch den Reihenparallelismus bedingt.
Aber im weiteren Verlaufe der Entwickelung hat sich ein wechselseitiges [211 Lautliche Differenzierung und
Funktionsunterschied.] Kausalverhältnis herausgestellt. So ist es z. B. charakteristisch, dass im Got. hauptsächlich
noch diejenigen Verba die Reduplikation bewahrt haben, bei denen die indogermanische Vokaldifferenz zwischen
Präs. und Perf. (Prät.) geschwunden ist, und zwar diese sämtlich, vgl. halda - haihald, skaida - skaiskaid, stauta -
staistaut. Immerhin ist auch für das Ahd. ein zwingendes Bedürfnis zur Unterscheidung der Wurzelsilbe des Präs.
und Prät. deshalb noch nicht vorhanden, weil bei jeder einzelnen Person des Ind. sowohl wie des Konj. auch in der
Endung der Unterschied ausgedrückt war. Anders im Mhd., wo in der 1. 2. Pl. des Ind. und im ganzen Konj. der
Unterschied zwischen Präs. und Prät. lediglich auf der Gestalt der Wurzelsilbe beruht, vgl. geben = gâben, gebet =
gâbet, gebe = gæbe etc. Im Nhd. ist dazu auch die 2. Sg. und 3. Pl. Ind. gekommen. Der Ablaut ist also ein immer
notwendigeres Charakteristikum geworden. Aber nur die Unterscheidung zwischen Präs. und Prät., nicht die
Unterscheidung zwischen dem Sg. Ind. Prät. oder nur der 1. und 3. Sg. Ind. Prät. einerseits und den übrigen Formen
des Präteritums anderseits hat einen Wert. Diese letztere, wie sie gleichfalls aus der Ursprache überkommen war,
wurde lediglich durch die Häufigkeit gewisser Verba und den Reihenparallelismus gestützt. So ist sie denn auch in
einigen Klassen schon frühzeitig beseitigt (got. for - forum, faifâh - faifâhum, ahd. fiang - fiangum). In andern hat
sie sich bis ins Nhd. fortgeschleppt, ist endlich aber doch bis auf wenige Reste beseitigt. Sicher ist es ein Fortschritt
in Bezug auf Zweckmässigkeit der Lautgestaltung, wenn wir jetzt nicht mehr wie im Mhd. spranc - sprungen, flouc
- flugen sagen, sondern sprang - sprangen, flog - flogen. Erst im Nhd. hat daher der Ablaut wahrhaft funktionelle
Geltung erlangt. Dabei verdient noch eine Erscheinung Beachtung. Der Unterschied zwischen Sg. und Pl. ist (von
den Präterito-Präsentia abgesehen) in der jetzigen Schriftsprache nur in dem häufigen Verbum werden erhalten, und
auch hier überwiegen bereits Nebenformen mit Beseitigung des Unterschiedes. Dagegen gibt es noch eine Anzahl
von Verben, in denen zwar der Vokal des Sg. in den Pl. gedrungen ist, der Konj. aber seinen eigentümlichen
Vokalismus bewahrt hat: starb - stürbe, schwamm - schwömme (daneben aber schwämme) etc. Da ist schon
innerhalb engerer Grenzen ein lautlicher Gegensatz festgehalten, aber wieder vermöge des Zusammenfalles mit
einem funktionellen. Da aber zum Ausdruck des letzteren der Umlaut allein genügen würde (schwammen -
schwämmen), so wäre das Festhalten des alten Vokals dennoch etwas Überflüssiges. Aber gerade bei denjenigen
Verben, in denen derselbe am festesten haftet (verdürbe, stürbe, würbe, würfe, hülfe), kommt etwas anderes hinzu,
die Unterscheidbarkeit vom Konj. [212 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] Präs.: helfe und hälfe,
welche Form allerdings neben hülfe vorkommt, sind zwar graphisch, aber nicht lautlich von einander geschieden.
Anderseits bildet kein Verbum mit durchgehendem i im Präs. noch einen Konj. Prät. mit ü (vgl. singe - sünge), weil
hier gerade die alte Form nach der in den meisten Mundarten üblichen Ausprache mit dem Konj. Präs.
zusammenfallen würde. Und so erklärt es sich, warum gerade die Verba mit mm und nn noch Doppelformen

115
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

aufweisen (schwämme - schwömme, sänne - sönne, vgl. geschwommen, gesonnen gegen gesungen).

Eine ähnliche Rolle wie der Ablaut hat der durch ein i oder j der folgenden Silbe hervorgerufene Umlaut gespielt. In
der männlichen i-Deklination hatte sich im Ahd. zufällig das Verhältnis herausgebildet, dass der ganze Sg.
unumgelautet bleibt, der ganze Pl. umgelautet wird (gast - gesti etc.), und aus diesem Grunde beharrt die Differenz.
Das Verhältnis wird am besten erläutert, wenn wir damit die Geschichte des gleichfalls durch den folgenden Vokal
bedingten Wechsels zwischen e und i, u und o vergleichen. Die u-Deklination musste im Urgerm. etwa
folgendermassen aussehen.[7])
Sg. Pl. Sg. Pl.
N. meduz midiwiz sunuz suniwiz
G. medauz medewô sonauz sonewô
D. midiu medumiz suniu sunum
A. medu medunz sunu sununz
Ein so unzweckmässiger Wechsel konnte sich nicht lange behaupten. Wir finden daher nur noch im Altnordischen
Reste davon. Das Althochdeutsche hat schon in der ältesten Zeit in sunu das u durchgeführt, in metu, ehu, eru das e,
in situ, quirn das i.[8]) Notwendig zur Unterscheidung ist der Umlaut in der i-Deklination im Ahd. noch nicht, da
die Kasus des Pl. auch sonst von denen des Sg. noch deutlich geschieden sind; auch im Mhd. noch nicht, so lange
das e der Flexionsendungen gewahrt wird, denn der Nom. Akk. Gen. Pl. geste würden wohl, auch wenn sie des
Umlauts entbehrten, mit dem Dat. Sg. gaste nicht leicht verwechselt werden. Sobald aber das e schwindet, wie dies
namentlich in den oberdeutschen Dialekten geschehen ist, bleibt der Umlaut im Nom. und Akk. das einzige
Unterscheidungszeichen zwischen Sg. und Pl. Auf diesem Standpunkte der Entwickelung hat die i-Deklination
einen erheblichen Vorzug vor der a-Deklination, und [213 Lautliche Differenzierung und Funktionsunterschied.] die
rein dynamische Geltung des Umlauts ist vollendet. Das zeigt sich namentlich daran, dass er weit über sein
ursprüngliches Gebiet hinausgreift. Dies Hinausgreifen steht mit dem Fehlen oder Vorhandensein eines
unterscheidenden e im engsten Zusammenhange. So hat gerade im Oberdeutschen der Umlaut fast alle
umlautsfähigen Substantiva der alten a-Deklination ergriffen, vgl. Schmeller, Mundarten Bayerns § 796, Winteler,
Kerenzer Mundart S. 170ff. Man sagt also tag - täg, arm - ärm etc. Die mittel- und niederdeutschen Mundarten und
die Schriftsprache haben diese Tendenz in viel geringerem Grade, und vorwiegend nur bei den mehrsilbigen Wörter
wie sattel, wagen, in denen auch sie das e des Pl. abwerfen. Schon frühzeitig durchgedrungen ist der Umlaut bei den
ursprünglich konsonantisch flektierenden und daher einer Endung im Nom. Akk. Pl. entbehrenden
Verwandtschaftswörtern: mhd. vater - veter, muoter - müeter etc.
§ 147. Auch die formale Ausgleichung, die wir schon mehrfach mit in die Betrachtung hineinziehen mussten, ist
häufig Reaktion gegen eine zwecklose Lautdifferenzierung. Der Hergang ist dann folgender. Es sind innerhalb einer
bis dahin gleichförmigen Bildungsklasse lautliche Diskrepanzen in einer oder mehreren Formen entstanden; so hat
sich z. B. der Gen. bei einigen Wörtern so, bei andern anders gestaltet, während in den übrigen Kasus die
Gleichmässigkeit nicht zerstört ist. Dann macht sich die Tendenz geltend auch in der einen oder den wenigen
differenzierten Formen die nämliche Gleichmässigkeit wieder herzustellen, die partielle Übereinstimmung der
Bildungsweise wieder in eine totale zu verwandeln. Diese Art von Ausgleichung findet sich besonders in
Verbindung mit der stofflichen, wie die angeführten Beispiele zeigen. Sie ist aber auch ausserdem häufig genug. So
gehört z. B. hierher die Ausgleichung zwischen hartem und weichem Reibelaut in den Kasus- und
Personalendungen der altgermanischen Dialekte.[9]) Nach dem Vernerschen Gesetze war þ = idg. t in þ und ð (d), s
in s (hart) und z (weich) gespalten. Es hiess demnach im urgerm. *trdési (du trittst), *trdéþi (er tritt), *trdéþe (ihr
tretet), *trdónþi (sie treten) gegen *bérezi (du trägst), *béreði, *béreðe, *bérondi, während in der 1. Sg. und Pl.
keine Differenzierung eingetreten war; ferner in der o-Deklination Nom. sg. *stigós (Steg), aber *éhwoz (Pferd),
Nom. pl. *stigôs, aber *éhwôz, Akk. pl. *stigóns, aber *éhwonz, während die übrigen Kasusendungen gleich
geblieben waren; und ähnlich in andern Flexionsklassen. Die darauf eingetretene Ausgleichung hat fast überall zu
Gunsten des weichen Lautes entschieden, wobei zu bemerken ist, dass z im Altn. und in den westgerm. Dialekten als
r erscheint, im [214 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion dagegen.] ursprünglichen Auslaut in den letzteren
abfällt. Doch hat in einigen Fällen auch das harte s gesiegt. So steht im Nom. pl. der o-Deklination ags. und altfries.
dagas neben altn. dagar; im Alts. zeigt der Heliand -os, nur vereinzelt o oder a (grurio, slutila), während in der
Freckenhorster Rolle a häufiger ist als os und as; das Ahd. kennt nur a.

Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die Wiederherstellung des Flexions-e im Nhd. in Fällen, wo es schon im Mhd.
geschwunden war. Besonders lehrreich sind die Ableitungen mit -en, -er, -el. Bei den Substantiven bleibt die
mittelhochdeutsche Ausstossung des e bestehen, vgl. des Morgens, dem Wagen, die Wagen, der Wagen, den Wagen
gegen Tages, Tage, Tagen, ebenso Schüssel, Schüsseln gegen Schule, Schulen. Dagegen in den Adjektiven, die
wegen der sonstigen durchgängigen Gleichformigkeit fester zusammengehalten wurden, ist das e nach Analogie der
einsilbigen wieder hergestellt: gefangenes wie langes, gefangene, gefangenen (mhd. gevangen), andere, anderes,
andere (= mhd. ander, anders, ander). Die neuhochdeutschen Formen kommen übrigens schon im Mhd. neben den
synkopierten vor. Wir können dabei wieder Beobachtungen über Isolierung machen. Es heisst ausnahmslos die, den

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Eltern gegenüber die, den älteren; der Jünger, den Jüngern (Subst.) gegen der jüngere, den jüngeren (Adj.); einzeln,
Dat. Pl. des mhd. Adj. einzel; anderseits, unserseits gegen andere Seite, unsere Seite; Vorderseite, Hinterseite,
Oberarm, Unterarm, Edelmann, innerhalb, ausserhalb, oberhalb, unterhalb (unechte Komposita, durch
Zusammenwachsen von Adj. und Subst. entstanden) gegen die vordere Seite etc.; anders gegen anderes.

Ausser in dem § 146 besprochenen Falle ist der Umlaut dynamisch geworden im Konj. der starken und der ohne
Zwischenvokal gebildeten schwachen Präterita, mhd. fuor - füere, sang, Pl. sungen - süngen, mohte - möhte, brâhte
- bræhte etc. Hier ist der Umlaut entweder durchgängig oder wenigstens für den Pl. einziges Unterscheidungsmittel.
Die dynamische Auffassung im Sprachgefühl bekundet sich darin, dass im Nhd. bei der sonstigen Ausgleichung des
Vokalismus doch der Umlaut bleibt (sang, sangen - sänge, für sungen, sünge); ferner noch entschiedener im
Mitteldeutschen in der Übertragung des Umlauts von den ursprünglich vokallosen auf die synkopierten Präterita
(brante - brente statt brante nach Analogie von brâhte - bræhte).[10])

Ein dritter Fall ist der Umlaut im Präs. gegenüber dem Unterbleiben des Umlauts im Prät. und Part.: ahd. brennu -
branta - gibrantêr. Im Part. hat sich auf lautlichem Wege ein Wechsel entwickelt: gibrennit - gibrant-. Das nächste
Resultat der Ausgleichung [215 Formale Ausgleichung.] ist aber unter diesen Umständen, dass die unflektierte Form
gibrennit gegen gibrant zurückgedrängt wird. Dann aber erhält sich der Gegensatz in der Wurzelsilbe zwischen
Präs. und Prät.-Part. Jahrhunderte hindurch konstant, wiewohl er zur Charakterisierung der Formen nicht notwendig
ist.

Auf diese Weise können auch Elemente des Wortstammes in Flexionsendungen verwandelt werden. Dies ist der Fall
in unserer schwachen Deklination. In dieser gehört das n (vgl. Namen, Frauen, Herzen) zu dem ursprünglichen
Stamme. Indem aber jede Spur der ursprünglichen Flexionsendung durch den lautlichen Verfall getilgt ist, und
indem anderseits das n im Nom. (beim Neutrum auch Akk.) Sg. geschwunden ist (Name, Frau, Herz), so ist es zum
Charakteristikum der obliquen Kasus im Gegensatz zum Nom. Sg. geworden. Ein anderes auf solche Weise
entsprungenes Kasussuffix ist das pluralbildende -er (Rad - Räder, Mann - Männer). Die Bildungsweise ist von
einigen neutralen s-Stämmen ausgegangen (vgl. lat. genus - generis), in denen das s lautgesetzlich zu r geworden
war. Im Nom. Sg. musste dasselbe nebst dem vorhergehenden Vokal lautgesetzlich schwinden. Unter der
Einwirkung der vokalischen Deklination entstand dann zunächst im Ahd. folgendes Schema.

Sg. Pl.
N. kalb kalbir
G. kalbir-es kalbir-o
D. kalbir-e kalbir-um
A. kalb kalbir.

Im Gen. und Dat. Sg. war das -ir- jedenfalls unnötig und störend. Daher sind die betreffenden Formen schon in der
Zeit, aus der unsere ältesten Quellen stammen, bis auf vereinzelte Reste verschwunden und durch kalbes, kalbe
ersetzt, die nach dem Muster der Normalflexion aus dem Nom.-Akk. gebildet sind. Nun musste das -ir als
Charakteristikum des Pl. erscheinen, um so mehr, weil es im Nom.-Akk. gar kein anderes unterscheidendes
Merkmal gab. Der funktionelle Charakter des -ir = mhd., nhd. -er dokumentiert sich dann dadurch, dass es
allmählich auf eine Menge von Wörtern übertragen wird, denen es ursprünglich nicht zukommt.

Diese Beispiele werden genügen um anschaulich zu machen, wie eine ohne Rücksicht auf einen Zweck entstandene
lautliche Differenzierung, durch zufälliges Zusammentreffen verschiedener Umstände begünstigt, ungewollt und
unvermerkt in den Dienst eines Zweckes gezogen wird, wodurch dann der Schein entsteht, als sei die Differenz
absichtlich zu diesem Zwecke gemacht. Dieser Schein wird um so [216 Zehntes Kapitel. Isolierung und Reaktion
dagegen.] stärker, je mehr die gleichzeitig entstandenen zweckwidrigen Differenzen getilgt werden. Wir dürfen
unsere aus der verfolgbaren historischen Entwickelung zu schöpfende Erfahrung zu dem Satze verallgemeinern,
dass es in der Sprache überhaupt keine absichtliche zur Bezeichnung eines Funktionsunterschiedes gemachte
Lautdifferenzierung gibt, dass der erstere immer erst durch sekundäre Entwickelung zur letzteren hinzutritt, und
zwar durch eine unbeabsichtigte, den sprechenden Individuen unbewusste Entwickelung vermittelst natürlich sich
ergebender Ideenassoziation.

1. Mit diesem Kap. vgl. Kruszewski V, 133-144. 339-348.


2. Ich meine erhalten natürlich in dem uneigentlichen Sinne, wie man gewöhnlich von Erhaltung in der

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Sprachgeschichte spricht. Wie der Vorgang seinem eigentlichen Wesen nach aufzufassen ist, habe ich
genugsam dargelegt.
3. Man beachte, dass in mehreren dieser Formeln zu noch zur Bezeichnung der Ruhe an einem Orte gebraucht
wird, was nur in ganz bestimmten Verbindungen möglich ist. [Paul, Prinzipien]
4. Dafür muss man wohl z. B. aná, katá, pará ansehen im Gegensatze zu an, kat, par mit ihren verschiedenen
Nebenformen; ebenso ení, perí, potí, protí gegen en, per, pot oder pos, prot oder pros.
5. Wieweit in der wirklichen Aussprache, wieweit bloss in der Schrift, bleibt in einigen Fällen noch
zweifelhaft.
6. Vgl. Beitr. VI, 238ff.
7. Es kommt natürlich für unsern Zweck nicht in Betracht, ob die Endungen genau zutreffend bestimmt sind.
8. Es kommt dabei noch in Betracht, dass für das Ahd. ein lautlicher Übergang des e in i vor u anzunehmen
ist.
9. Vgl. Beiträge VI, 548ff.
10. Vgl. Bech, Germania 15, S. 129ff.

ELFTES KAPITEL.

BILDUNG NEUER GRUPPEN.

§ 148. Wenn im allgemeinen der Lautwandel die Wirkung hat Unterschiede zu erzeugen, wo früher keine vorhanden
waren, so dient er doch auch nicht ganz selten dazu, vorhandene Unterschiede zu tilgen. Das ist unter Umständen
ganz heilsam, meistens aber schädlich, indem auch Unterschiede, welche für die Kennzeichnung der Funktion
wesentlich sind, verloren gehen und ausserdem die reinliche Sonderung der einzelnen Gruppen von einander
unmöglich gemacht wird. Daher pflegt auch diese Wirkung des Lautwandels weitere Folgen zu haben und
namentlich viele analogische Neubildungen hervorzurufen.

§ 149. Der einfachste hierher gehörige Vorgang ist, dass Wörter, die etymologisch gar nicht zusammenhängen und
auch in ihrer Bedeutung nichts mit einander zu schaffen haben, durch sekundäre Entwickelung lautlich
zusammenfallen, z. B. Enkel (talus) = mhd. enkel - Enkel (nepos) = mhd. enenkel, Garbe (manipulus) = mhd. garbe
- Garbe (Schafgarbe) = mhd. garwe, Kiel (carina) = mhd. kiel - Kiel (caulis pennae) = mhd. kil, Märe (narratio) =
mhd. mære - Mähre (equa) = mhd. merhe, Tor (porta) = mhd. tor - Tor (stultus) = mhd. tôre, los (solutus) = mhd. lôs
- Los (sors) = mhd. lôz, Ohm (amphora) = mhd. âme - Ohm (avunculus) = Oheim, Schnur (linea) = mhd. snuor -
Schnur (nurus) = mhd. snur. Massenhafte Beispiele liessen sich namentlich aus dem Englischen anführen.

Mitunter verschmelzen zwei solche Wörter trotz der Verschiedenheit ihrer Bedeutung für das Sprachgefühl in eins.
Niemand wird ohne sprachgeschichtliche Kenntnisse vermuten, dass in unserem unter zwei ganz verschiedene
Wörter zusammengefallen sind, das eine = lat. inter, das andere verwandt mit lat. infra. Schlingen (devorare) ist
mitteldeutsche Form für älteres slinden (vgl. schlund) und hat sich vielleicht deshalb in der Schriftsprache
festgesetzt, weil es mit schlingen = mhd. slingen verschmolzen ist. Bei der Wendung in die Schanze [218 Elftes
Kapitel. Bildung neuer Gruppen.] schlagen denkt man kaum daran, dass man es mit einem andern Worte als dem
gewöhnlichen Schanze zu tun hat; es ist = franz. chance. Über die Mischung von mhd. stat und state in nhd. Statt
vgl. mein Wörterbuch. Noch beweisender sind einige Fälle, in denen formale Beeinflussung stattgefunden hat. Zwar
dass der Übertritt von mahlen (mhd. maln) aus der starken in die schwache Konjugation sich unter dem Einfluss von
malen (mhd. mâlen) vollzogen hat, kann man nur vermuten. Schon weniger fraglich ist es, dass der Übertritt von
laden einladen (= ahd. ladôn) in die starke Konjugation durch laden aufladen (ahd. hladan) veranlasst ist;
umgekehrt kommen von letzterem auch schwache Formen vor, z. B. überladete bei Less., ladest, ladet auch jetzt.
Sicher ist, dass ein starkes er befährt bei Jean Paul zu dem sonst schwachen befahren = mhd. vâren durch
Verwechselung mit dem starken befahren (mhd. varn) veranlasst ist. In Österreich verwechselt man kennen und
können, man sagt z. B.: der Schauspieler hat seine Rolle nicht gekannt. In dem letzten Falle sind zwar etymologisch
verwandte, aber doch wesentlich verschiedene Wörter konfundiert. Im Mhd. existieren zwei etymologisch
verschiedene Partikeln wan, die eine adversativ, die andere begründend = nhd. denn. Die letztere hat eine vollere
Nebenform wande zur Seite. Diese wird nun zuweilen auch in adversativem Sinne angewendet, wo sie von Hause
aus nicht berechtigt ist (vgl. Mhd. Wb. III, 479b). Im Ahd. sind die Präpositionen int- und in in der Komposition mit
einem Verbum vielfach in die Form in- zusammengeflossen, indem das t durch Assimilation in den folgenden
Konsonanten aufgegangen ist. Die Doppelheit int- - in- ist dann auch auf solche Fälle übergegangen, in denen in zu
Grunde liegt, vgl. nhd. entbrennen, entzünden etc. Unser zerhatte früher eine Nebenform ze- (zer- vor Vokal, ze- vor
Konsonant entwickelt). Diese war lautidentisch mit der ihrem Ursprunge nach ganz verschiedenen Präposition ze zu.

118
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Neben diese tratt im Mhd. die Adverbialform zuo, nhd. zu, welche allmählich die Form ze ganz verdrängt hat. Dies
zu finden wir nun auch für ze- = zer-, z. B. bei Luther. Entsprechend ist ags. tô- in der Bedeutung von zer- zu
erklären. Lat. præstare ist in dem Sinne »leisten« eine Ableitung aus *præstus (erhalten nur in dem Adv. præsto)
und sollte daher regelmässig flektiert werden; das Perf. præstiti beweisst die Vermischung mit præ-stare
»voranstehen«.

§ 150. Durch zufälliges partielles Gleichwerden der Lautgestaltung treten unverwandte Wörter zu stofflichen
Gruppen zusammen. Es ist dies die einfachste Art der sogenannten Volksetymologie,[1]) die [219 Lautliches
Zusammenfallen verschiedener Wörter. Volksetymologie.] sich lediglich anf eine Umdeutung durch das
Sprachgefühl beschränkt, ohne dass dadurch die Lautform eine Veränderung erleidet. Vorbedingung dafür ist, dass
die wahre Etymologie des einen Wortes verdunkelt ist, so dass es keine andere, berechtigtere Anknüpfung hat.

Solchen Umdeutungen unterliegen am häufigsten die Glieder eines Kompositums. So wird erwähnen als eine
Zusammensetzung mit wähnen = mhd. wænen gefasst, während es vielmehr das mittelhochdeutsche (ge)wehenen
enthält; bei Freitag denkt man an das Adj. frei. Am meisten sind Eigennamen der Umdeutung ausgesetzt, vgl.
Reinwald, Bärwald, Braunwald, in denen der zweite Bestandteil ursprünglich nicht = silva ist, sondern nomen
agentis zu walten; Glaub-recht, Lieb-recht, die ursprünglich vielmehr Komposita mit brecht = ahd. beraht sind;
Sauerlant, verhochdeutscht aus Sûerland = Süderland. Hier ist die Umdeutung erfolgt, ohne dass sie von Anfang an
durch eine Verwandtschaft der Bedeutung unterstützt worden wäre. Es wirkt bloss die natürliche Erwartung, in
einem Worte, welches seiner Lautgestalt nach den Eindruck eines Kompositums macht, auch bekannte Elemente zu
finden.

Eigennamen widerstreben einer solchen lediglich an den Laut sich haltenden sekundären Beziehung am wenigsten,
weil bei ihnen zwar keine Übereinstimmung, aber auch kein Widerspruch der Bedeutungen möglich ist. Es gibt aber
auch Fälle, in denen es möglich wird zwischen den Bedeutungen der betreffenden Wörter eine Beziehung
herzustellen; vgl. mhd. endekrist, lautlich entwickelt aus antikrist; nhd. Lanzknecht aus Landes Knecht; Wahnwitz,
Wahnsinn, wahnschaffen an Wahn (= mhd. wân) angelehnt, während mhd. wan leer, nichtig zu Grunde liegt;
Friedhof aus mhd. frîthof; Vormund zu Mund Schutz; verweisen, nicht zu weisen (= mhd. wîsen) gehörig, sondern
aus mhd. verwîzen. Umringen ist, wie noch die schwache Flexion zeigt, seinem Ursprunge nach kein Kompositum
von ringen, sondern eine Ableitung aus dem untergegangenen mhd. úmberinc. Aber die Betonung umríngen
beweist, dass es zu einem Kompositum aus um und ringen umgedeutet ist. Eine weitere Konsequenz der Umdeutung
ist dann gewesen, dass man ein Part. umrungen und selbst ein Prät. umrang gebildet hat, vgl. meine Deutsche
Gramm. III 183, Anm. 4. Auch Wörter, die keine [220 Elftes Kapitel. Bildung neuer Gruppen.] Komposita sind,
aber wegen ihrer volleren Lautgestalt den Eindruck von solchen machen, werden auf diese Weise zu wirklichen
Kompositis gestempelt; vgl. Leumund als Leutemund gefasst, aber Ableitung aus got. hliuma (Ohr); weissagen,
schon mhd. wîssagen = ahd. wîzagôn, Ableitung aus wîzago der Wissende, Prophet; trübselig, armselig etc.,
Ableitungen aus Trübsal etc., -sal Ableitungssuffix.

Seltener ist es, dass ein Wort als Ableitung von einem andern gefasst wird, mit dem es ursprünglich nichts zu
schaffen hat. Nhd. Sucht wird vom Sprachgefühl als zu suchen gehörig empfunden, ist aber hervorgegangen aus
mhd. suht (= got. sauhts), das mit mhd. suochen (got. sôkjan) nichts zu schaffen hat. Die neuhochdeutsche
Anlehnung an suchen ist ausgegangen von Kompositis wie Wassersucht, Mondsucht, Gelbsucht, Schwindsucht,
Eifersucht, Sehnsucht, Ehrsucht etc., die man als Begierde nach dem Wasser, nach dem Monde, gelb zu werden, zu
eifern etc. auffasste. H. Sachs fasst -sucht noch als Krankheit, wenn er sagt wann er hat auch die Eifersucht. Vgl.
dagegen den bekannten Spruch Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Laube hat
mit Laub, wozu es jetzt gezogen wird, nichts zu schaffen, da die Grundbedeutung »gedeckter Gang« ist. Laute wird
als zu Laut gehörig empfunden, ist aber ein aus dem Arabischen stammendes Lehnwort. Bei hantieren aus franz.
hanter denkt man an Hand, bei fallieren aus franz. faillir an fallen, bei beschwichtigen, niederdeutscher Form zu
mhd. swiften, an schweigen, bei schmälen (eigentlich schmal, klein machen) an schmähen. Herrschaft, herrlich,
herrschen sind aus hehr abgeleitet (daher mhd. hêrschaft etc.), werden aber jetzt auf Herr bezogen, womit sie
ursprünglich nur indirekt verwandt sind.

119
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 151. Von den besprochenen Erscheinungen zu sondern ist die kompliziertere Art der Volksetymologie. Diese
besteht in einer lautlichen Umformung, wodurch ein Wort, welches durch zufällige Klangähnlichkeit an ein anderes
erinnert, diesem weiter angeglichen wird. Eine solche Umformung kann absichtlich gemacht werden mit dem
Bewusstsein, dass man sich eine Veränderung der richtigen Form gestattet. Derartiger Verdrehungen bedienen sich
manche humoristische Schriftsteller, in ausgedehntestem Masse Fischart. Manche pflanzen sich als traditionelle
Witze fort, besonders in der Studentensprache. Diese absichtlich witzige Umformung bietet dem Sprachforscher
kein Problem. Sie geht ihn nur insofern an, als sie von dem naiven Sinne der Kinder und der Ungebildeten nicht als
Verdrehung erkannt, sondern als die eigentliche Form aufgenommen und weiter verbreitet wird. Es gibt aber
zweifellos auch eine absichtslose und unbewusste Umformung, die sich als solche durch die Abwesenheit jedes
Witzes zu [221 Volksetymologie.] erkennen gibt.[2]) Derselben unterliegen Fremdwörter, Eigennamen und andere
Wörter, deren Etymologie verdunkelt ist, und zwar fast nur Komposita oder solche Wörter, die vermöge ihrer
volleren Lautgestalt den Eindruck von Kompositis machen. Hierbei unterliegt entweder nur das erste Element einer
Veränderung, vgl. Jubeljahr (ebräisch jobel), Dienstag, Huldreich aus mhd. Uolrîch, Maulwurf aus mhd. moltwurf,
lat. aurichalcum aus griech. oreíchalkos; oder nur das zweite, vgl. hagestolz, Reinhold, Gotthold, Weinhold etc. aus
-olt = walt,[3]) abspannen aus mhd. spanen (locken), abstreifen aus mhd. ströufen,[4]) Einöde aus mhd. einoete (-
oete Suffix); oder beide, vgl. Armbrust aus lat. arcubalista, Liebstöckel aus lat. ligusticum, Felleisen aus franz.
valise, Ehrenhold aus Herolt, Pultbrett (von 16. bis 18. Jahrh. üblich) aus Pulpet (lat. pulpitum), griech. sunédrion
aus ebräisch sanhedrin. Der eine Bestandteil ist umgeformt, der andere nur umgedeutet in Abseite, früher apside aus
griech. ápsis; Küssnacht aus Cussiniacum; wahrscheinlich auch in Mailand aus mhd. Mîlân. Wie schon aus diesen
wenigen Beispielen ersichtlich ist, kann die Angleichung dadurch unterstützt sein, dass sich die Bedeutung des
umgeformten Wortes zu der seines Musters in Beziehung bringen liess, aber sie bedarf solcher Unterstützung nicht
notwendig. Für die Erklärung des Vorganges werden wir zunächst zu berücksichtigen haben, dass man ganz
gewöhnlich die Worte und Sätze, die man hört, ihren Lautbestandteilen nach nicht vollkommen exakt perzipiert,
sondern teilweise errät, gewöhnlich durch den nach dem Zusammenhange erwarteten Sinn unterstützt. Dabei rät
man natürlich auf Lautkomplexe, die einem schon geläufig sind, und so kann sich gleich beim ersten Hören statt
eines für sich sinnlosen Teiles eines grösseren Wortes ein ähnlich klingendes übliches Wort unterschieben. Ferner
aber haftet ein Wortteil, der sonst gar keinen Anhalt in der Sprache hat, auch wenn er richtig perzipiert ist, schlecht
im Gedächtnis, und es kann sich daher doch bei dem Versuche der Reproduktion ein als selbständiges Wort
geläufiges Element unterschieben. Und wenn erst einmal, sei es beim Hören oder beim Sprechen, eine solche
Unterschiebung stattgefunden hat, so hat das Untergeschobene vor dem Echten den Vorteil, dass es sich besser dem
Gedächtnis einprägt. Es ist ganz natürlich, dass sich dieser Vorgang im allgemeinen auf längere Worte beschränkt.
Denn kürzere sind [222 Elftes Kapitel. Bildung neuer Gruppen.] leichter zu perzipieren und leichter zu behalten.
Ausserdem aber ist man es gewohnt, dass eine Anzahl einfacher Wörter isoliert da stehen, wenigstens nur mit den
allgemein geläufigen uud beliebig bildbaren Ableitungen gruppiert, während man von einem Worte, welches den
Eindruck eines Kompositums macht, auch erwartet, dass die einzelnen Elemente an einfache Wörter anknüpfbar
sind.

§ 152. Die Tendenz, isoliert stehende und darum fremdartige Wörter an geläufige Sprachelemente anzuknüpfen
zeigt sich auch darin, dass dieselben häufig gestützt werden durch Zusammensetzung mit einer allgemeinen
Gattungsbezeichnung, worauf sie dann in selbständigem Gebrauche untergehen, vgl. Maultier (einfaches Maul aus
lat. mulus veraltet), Elentier (bis ins 17. Jahrh. noch einfaches Elend), Renntier (aus schwed. ren), Tigertier,
Pantertier (beide früher häufig), Walfisch (mhd. wal), Dambock, -hirsch (mhd. tâme), Windhund (mhd. wint),
Auerochse (mhd. ûr), Schermaus (mhd. scher), Bilchmaus (mhd. bilch), Turteltaube (aus lat. turtur), Lindwurm
(mhd. auch linttrache, wofür ahd. noch einfaches lint belegt ist), Mohrrübe (neben Möhre), Kichererbse (mhd.
kicher), Weichselkirsche (mhd. wîhsel, auch nhd. noch Weichsel), Salweide (mhd. salhe), Farnkraut (mhd. farn),
Pfriemkraut (ahd. phrimma), Bilsenkraut (neben Bilse, ahd. bilisa) Lorbaum, -beer (aus lat. laurus), Buchsbaum
(landschaftl. noch Buchs), Mastbaum (neben Mast), Kometstern (im 17. Jahrh. gewöhnlich, noch bei Hebel),
Pöbelvolk (bei Lu. u. a.), Kebsweib (mhd. kebese), Schwiegermutter (mhd. swiger), Schwähervater (landschaftl.,
anhd. Schwäher), Wittfrau (landschaftl.), Waisenkind, Waisenknabe (volkstümlich), Quaderstein, Tuffstein,
Bimsstein (bis ins 17. Jahrh. Bims = mhd. bümez aus lat. pumex), Marmorstein (s. DWb). Bei vielen ist dabei
volksetymologische Umdeutung des ersten Bestandteils eingetreten. Man vergl. dazu auch die Adjektiva quittfrei, -
ledig, -los, purlauter (Belege DWb).

Solche Zusammensetzungen können unter Umständen auch den Vorteil gewähren, dass nach ihrem Muster andere
gebildet werden können, die dann ev. wieder einfache, isoliert dastehende Wörter verdrängen. So sind nach
Schwiegermutter gebildet Schwiegervater, -sohn, -tochter an Stelle der jetzt veralteten Schwäher, Eidam, Schnur.
Ähnlich wird schon in einer früheren Periode die Reihe Stiefvater, -mutter, -sohn, -tochter, -kind entstanden sein; im
Anord. besteht noch einfaches stjúpr = Stiefsohn.

§ 153. Viel durchgreifender als auf dem stofflichen wirkt der lautliche Zusammenfall auf dem formalen Gebiete.

120
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wir scheiden die hierher gehörigen Vorgänge zunächst in zwei Hauptgruppen, nämlich je nachdem Formen
zusammenfallen, die funktionell gleich, oder solche, die funktionell verschieden sind. [223 Verdeutlichung durch
Zusammensetzung. Zusammenfall auf formalem Gebiete.]

Die Aufhebung lautlicher Verschiedenheiten bei funktioneller Gleichheit kann sehr wohltätig wirken, weil sie die
Bildung der formalen Gruppen vereinfacht. Mitunter wird dadurch nur die im vorigen Kapitel besprochene lautliche
Differenzierung wieder aufgehoben. So fallen z. B. die auf gleicher Grundlage beruhenden althochdeutschen
Bildungssilben -ul, -al, -il im Mhd. in -el zusammen, ebenso -un, -an, -in in -en etc. Zwecklos sind aber auch solche
Unterschiede wie die doppelte Bildung des Komparativs und Superlativs im Ahd. -iro, -ist - -ôro, -ôst oder die
beiden synonymen Weisen der Adjektivbildung auf -ag und -îg,[5]) und es ist daher nur ein Vorteil, wenn wir jetzt
nur -er, -[e]st und -ig haben. Auch der Zusammenfall zweier ganzer Flexionsklassen wie der althochdeutschen
Verba auf -ôn und -ên in mhd. -en ist nur eine zweckmässige Vereinfachung.

Aber nicht immer geht lautlicher Zusammenfall so gleichmässig durch ganze Systeme von stofflich-formalen
Proportionen hindurch. Meistens trifft er nur einen Teil der unter einander zusammenhängenden Formen. Dann trägt
er nicht zur Vereinfachung, häufig aber zur Verwirrung der Verhältnisse bei.

a) Der lautliche Zusammenfall geht zwar durch sämtliche Formen eines Flexionssystemes hindurch, er trifft aber in
der einen Flexionsklasse oder in mehreren nur einen Teil der Wörter, die ursprünglich dazu gehören. Während, wie
wir eben gesehen haben, von den drei althochdeutschen Klassen der schwachen Verba im Mhd. zwei ganz
zusammengefallen sind, haben sich ihnen von der dritten Klasse (got. auf -jan) nur die kurzsilbigen vollständig
angeschlossen, die langsilbigen bleiben noch unterschieden durch die alte Synkope des Mittelvokals im Prät. und
Part. Perf. und eventuell durch den Rückumlaut, vgl. manete, lebete, wenete aus manôta, lebêta, wenita zu manen,
leben, wenen neben neicte, brante zu neigen, brennen. Die althochdeutsche i-Deklination ist mit der o-Deklination
in Bezug auf die Endungen vollständig zusammengefallen, in Bezug auf die Gestalt des Stammes im Plur. aber nur,
wenn der Wurzelvokal nicht umlautsfähig ist. Es ist also hier mit dem Zusammenfall immer eine Spaltung
verbunden, respektive eine Spaltung dem Zusammenfall vorangegangen.

b) Der Zusammenfall geht zwar durch alle Wörter mehrerer Flexionsklassen hindurch, aber nicht durch alle Formen
des Flexionssystems. Dieser Fall ist sehr häufig. So ist die zweite lateinische Deklination mit der vierten nur im
Nom. und Akk. Sing. zusammengefallen; ebenso die o- und i-Deklination im Gotischen (fisks, fisk - gasts, gast).
[224 Elftes Kapitel. Bildung neuer Gruppen.]

c) Der Zusammenfall trifft nur einen Teil der Wörter mehrerer Flexionsklassen und nur einen Teil der Formen des
Flexionssystems. So ist im Ahd. der Nom. und Akk. der langsilbigen und mehrsilbigen i-, u- und o-Stämme
zusammengefallen, während diese Kasus bei den kurzsilbigen verschieden geblieben sind, vgl. gast, wald, arm aus
*gasti(z), *waldu(z), *armo(z) gegen wini, sunu und wenigstens vorauszusetzendes *goto oder *gota.

§ 154. Wo der Fall a eingetreten ist, da ist der Zusammenfall wie die Trennung der Flexionsklassen eine definitive,
wogegen keine Reaktion möglich ist. Die bleibende Folge ist eine Verschiebung in den Machtverhältnissen der
betreffenden Gruppen, indem ja die eine einen Zuwachs auf Kosten der andern erhält. Fall b und c dagegen erzeugen
eine Verwirrung in den Gruppierungsverhältnissen. Wo einmal verschiedene lautliche Modifikationen für die
nämliche Funktion angewendet werden, da ist es am zweckmässigsten, wenn die lautliche Verschiedenheit durch
alle Formen eines Systems hindurchgeht, so dass sich die einzelnen Flexionsklassen reinlich voneinander sondern
lassen, dass man es jeder einzelnen Form ansieht, welcher Klasse sie angehört. Sind nun in zwei Klassen einige
Formen übereinstimmend, einige abweichend, so wird ein Wort auf Grund der übereinstimmenden Formen leicht
falsch eingeordnet und es treten an Stelle der traditionellen Formen der einen Klasse Analogiebildungen, die der
andern angehören. Aus dem Schwanken und der Verwirrung, die dadurch entsteht, kann sich dann die Sprache
allmählich wieder zu einfacheren und festeren Verhältnissen durcharbeiten.

Beispiele stehen massenhaft zur Verfügung. Ich verweise insbesondere auf die gegenseitige Beeinflussung der
verschiedenen Deklinationsklassen des Indogermanischen in den Einzelsprachen, die fast immer die Folge des
lautlichen Zusammenfalls in mehreren Kasus, namentlich im Nom. und Akk. Sg. gewesen ist. Meistens haben die so
zusammenfallenden Klassen schon früher einmal eine völlig oder überwiegend identische Bildungsweise gehabt,
und diese ursprüngliche Identität ist erst durch sekundäre Lautentwickelung verdunkelt worden, gegen die eine
sofortige Reaktion deshalb nicht möglich gewesen ist, weil die Differenzierung eine zu sehr durchgehende war. So
ist z. B. die Einheit der indogermanischen Deklination hauptsächlich vernichtet durch die unter dem Einflusse des
Akzentes eingetretene Vokalspaltung und die Kontraktion des Stammauslauts mit der eigentlichen Flexionsendung.
Dies waren so durchgreifende Wandlungen, dass es erst vieler weiterer Veränderungen und namentlich

121
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Abschwächungen bedurfte, um das Getrennte auf einer ganz andern Grundlage teilweise wieder zu vereinigen. [225
Ausgleichung zwischen verschiedenen Bildungsklassen.]

Das Resultat bei dieser Art Ausgleichung ist in der Regel, dass Wörter aus der einen Bildungsklasse in die andere
übertreten, und zwar entweder alle oder nur einige, entweder in allen Formen oder nur in einigen. Für das letztere
mag Folgendes als Beispiel dienen. Im Gotischen sind die Maskulina der i-Deklination im Sg. in die a-Deklination
übergetreten wegen des lautlichen Zusammenfalls im Nom. und Akk., ähnlich im Ahd. Der Plur. bleibt aber in
beiden Dialekten noch verschieden flektiert. Dass die Ausgleichung zunächst bei diesem Punkte stehen bleibt, ist
eine Folge des nie fehlenden Mitwirkens der etymologischen Gruppierung, und es bestätigt sich in sofern dadurch
wieder der Satz: je enger der Verband, je leichter die Beeinflussung.

Es ist entweder nur die eine Gruppe aktiv, während die andere sich mit einer passiven Rolle begnügt, oder es sind
beide Gruppen zugleich aktiv und passiv. Im Nhd. sind eine Menge schwacher Maskulina in die Flexion der starken
auf -en übergetreten, von denen sie sich schon im Mhd. nur durch den Nom. und Gen. Sg. unterschieden, vgl. Bogen
(= mhd. boge), Garten, Kragen, Schaden etc. Es gibt aber auch einige Fälle, in denen umgekehrt ein Maskulinum
auf n in die schwache Flexion übergetreten ist: Heide (= mhd. heiden), Krist(e) (= mhd. kristen), Rabe (= mhd.
raben).

Tritt eine solche gegenseitige Beeinflussung zweier Gruppen an den nämlichen Wörtern hervor, so kann es
geschehen, dass nach längeren Schwankungen sich eine ganz neue Flexionsweise herausbildet. So ist durch
Kontamination der beiden eben besprochenen Klassen eine Mischklasse erwachsen: der Glaube - des Glaubens, der
Gedanke - des Gedankens etc. Die Entstehung dieser Mischklasse erklärt sich einfach, wenn wir bemerken, dass
einmal im Nom. wie im Gen. Doppelformen bestanden haben: der Glaube - der Glauben, des Glauben - des
Glaubens. Es hat sich dann in der Schriftsprache der Nom. der einen, der Gen. der andern Klasse festgesetzt. So ist
ferner aus der gegenseitigen Beeinflussung der schwachen Maskulina mit abgeworfenem Endvokal und der starken
eine Mischklasse entstanden, die den Sing. stark und den Plur. schwach flektiert: Schmerz, -es, -e - Schmerzen.
Entsprechend bei den Neutris: Bett, -es, -e - Betten. Das am weitesten greifende Beispiel der Art im Nhd. ist die
regelmässige Flexion der Feminina auf -e, die zusammengeschmolzen ist aus der alten a-Deklination und der n-
Deklination (der schwachen). Im Mhd. flektiert man noch:

Sg.
N. vröude zunge
G. vröude zungen
D. vröude zungen
A. vröude zungen [Paul, Prinzipien] [<A< TD> NAME="s226">226 Elftes Kapitel. Bildung neuer Gruppen.]
Pl.
N. vröude zungen
G. vröuden zungen
D. vröuden zungen
A. vröude zungen.

Im Nhd. heisst es durch den ganzen Sg. hindurch Freude, Zunge, durch den ganzen Pl. hindurch Freuden, Zungen.
Wieder ein charakteristisches Beispiel einer zweckmässigen Umgestaltung, die ohne Bewusstsein eines Zweckes
erfolgt ist. Die grössere Zweckmässigkeit der neuhochdeutschen Verhältnisse beruht nicht bloss darauf, dass das
Gedächtnis ganz erheblich entlastet ist; es sind auch die beiden allein vorhandenen Endungen in der angemessensten
Weise verteilt. Die Unterscheidung der Numeri ist deshalb viel wichtiger als die Unterscheidung der Kasus, weil die
letzteren noch durch den in den meisten Fällen beigefügten Artikel charakterisiert werden. Im Mhd. kann die vröude
und die zungen Akk. Sg. und Nom. Akk. Pl. sein, der zungen Gen. Sg. und Pl. Diese Unsicherheiten sind jetzt nicht
mehr möglich, dagegen ist nur die Unterscheidung zwischen Nom. und Akk. Sg. bei Zunge aufgehoben. Sehen wir
aber, wie sich die Verhältnisse entwickelt haben, so finden wir als Vorstufe ein allgemeines Übergreifen jeder von
beiden Klassen in das Gebiet der andern, welches sich ganz natürlich ergeben musste, nachdem einmal in drei
Formen (Nom. Sg., Gen. und Dat. Pl.) lautlicher Zusammenfall eingetreten war. So hatte sich ein Zustand ergeben,
dass die meisten Formen sowohl auf -e als auf -en auslauten konnten. Es ist dabei keine einzige Form mit Rücksicht
auf einen Zweck gebildet, sondern nur für Erhaltung oder Untergang der einzelnen Formen ist ihre Zweckmässigkeit
entscheidend gewesen.

Gegenseitige Beeinflussung zweier Gruppen setzt immer voraus, dass das Kräfteverhältnis kein zu ungleiches ist.
Denn andernfalls wird die Beeinflussung einseitig werden, auch durchgreifender und rascher zum Ziele führend. Es

122
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

sind natürlich immer diejenigen Klassen besonders gefährdet, die nicht durch zahlreiche Exemplare vertreten sind,
falls diese nicht durch besondere Häufigkeit geschützt sind. Der geringe Umfang gewisser Klassen andern
gegenüber kann von Anfang an vorhanden gewesen sein, indem überhaupt nicht mehr Wörter in der betreffenden
Weise gebildet sind, meistens aber ist er erst eine Folge der sekundären Entwickelung. Entweder sterben viele
ursprünglich in die Klasse gehörigen Wörter aus, wobei namentlich der Fall in Betracht kommt, dass eine
ursprünglich lebende Bildungsweise abstirbt und nur in einigen häufig gebrauchten Exemplaren sich usuell weiter
vererbt. Oder die Klasse spaltet sich durch lautliche Differenzierung in mehrere Unterabteilungen, die, indem nicht
sogleich dagegen reagiert [227 Beseitigung aller Ungleichmässigkeiten unerreichbar.] wird, den Zusammenhalt
verlieren. Möglichste Zerstückelung der einen ist daher mitunter das beste Mittel um zwei verschiedene
Bildungsweisen schliesslich miteinander zu vereinigen. Beobachtungen nach dieser Seite hin lassen sich z. B. an der
Geschichte des allmählichen Untergangs der konsonantischen und der u-Deklination im Deutschen machen.

Hat einmal eine Klasse eine entschiedene Überlegenheit über eine oder mehrere andere gewonnen, mit welchen sie
einige Berührungspunkte hat, so sind die letzteren unfehlbar dem Untergange geweiht. Nur besondere Häufigkeit
kann einigen Wörtern Kraft genug verleihen sich dem sonst übergewaltigen Einflusse auf lange Zeit zu entziehen.
Diese existieren dann in ihrer Vereinzelung als Anomala weiter.

§ 155. Jede Sprache ist unaufhörlich damit beschäftigt alle unnützen Ungleichmässigkeiten zu beseitigen, für
das funktionell Gleiche auch den gleichen lautlichen Ausdruck zu schaffen. Nicht allen gelingt es damit gleich
gut. Wir finden die einzelnen Sprachen und die einzelnen Entwickelungsstufen dieser Sprachen in sehr
verschiedenem Abstande von diesem Ziele. Aber auch diejenige darunter, die sich ihm am meisten nähert, bleibt
noch weit genug davon. Trotz allen Umgestaltungen, die auf dieses Ziel losarbeiten, bleibt es ewig
unerreichbar.

Die Ursachen dieser Unerreichbarkeit ergeben sich leicht aus den vorangegangenen Erörterungen. Erstens bleiben
die auf irgend welche Weise isolierten Formen und Wörter von der Normalisierung unberührt. Es bleibt z. B. ein
nach älterer Weise gebildeter Kasus als Adverbium oder als Glied eines Kompositums, oder ein nach älterer Weise
gebildetes Partizipium als reine Nominalform. Das tut allerdings der Gleichmässigkeit der wirklich lebendigen
Bildungsweisen keinen Abbruch. Zweitens aber ist es ganz vom Zufall abhängig, ob eine teilweise Tilgung der
Klassenunterschiede auf lautlichem Wege, die so vielfach die Vorbedingung für die gänzliche Ausgleichung ist,
eintritt oder nicht. Drittens ist die Widerstandsfähigkeit der einzelnen gleicher Bildungsweise folgenden Wörter eine
sehr verschiedene nach dem Grade der Stärke, mit dem sie dem Gedächtnisse eingeprägt sind, weshalb denn in der
Regel gerade die notwendigsten Elemente der täglichen Rede als Anomalieen übrig bleiben. Viertens ist auch die
unentbehrliche Übergewalt einer einzelnen Klasse immer erst Resultat zufällig zusammentreffender Umstände. So
lange sie nicht besteht, können die einzelnen Wörter bald nach dieser, bald nach jener Seite gerissen werden, und so
kann gerade durch das Wirken der Analogie erst recht eine chaotische Verwirrung hervorgerufen werden, bis eben
das Übermass derselben zur Heilung der Übelstände führt. Bei so vielen [228 Elftes Kapitel. Bildung neuer
Gruppen.] erschwerenden Umständen ist es natürlich, dass der Prozess auch im günstigsten Falle so langsam geht,
dass, bevor er nur annähernd zum Abschluss gekommen ist, schon wieder neu entstandene Lautdifferenzen der
Ausgleichung harren. Dieselbe ewige Wandelbarkeit der Laute, welche als Anstoss zum Ausgleichungswerke
unentbehrlich ist, wird auch die Zerstörerin des von ihr angeregten Werkes, bevor es vollendet ist.

Wir können uns das an den Deklinationsverhältnissen der neuhochdeutschen Schriftsprache veranschaulichen. Im
Fem. sind die drei Hauptklassen des Mhd., die alte i-, a- und n-Deklination auf zwei reduziert, vgl. § 154. Da nun
auch die Reste der konsonantischen und der u-Deklination (vgl. z. B. mhd. hant, Pl. hende, hande, handen, hende)
sich allmählich in die i-Klasse eingefügt haben, so hätten wir zwei einfache und leicht von einander zu sondernde
Schemata: 1. Sg. ohne -e, Pl. mit -e und eventuell mit Umlaut (Bank - Bänke, Finsternis - Finsternisse), 2. Sg. mit -
e, Pl. -en (Zunge - Zungen). In diese Schemata aber fügen sich zunächst nicht ganz die mehrsilbigen Stämme auf -er
und -el (Mutter - Mütter, Achsel - Achseln), die nach allgemeiner schon mittelhochdeutscher Regel durchgängig das
e eingebüsst haben (wo es überhaupt vorhanden war). Diese würden noch wenig störend sein. Aber es haben auch
sonst viele Feminina das auslautende -e im Sg. eingebüsst, sämtliche mehrsilbige Stämme auf -inn und -ung und
viele einsilbige, wie Frau, Huld, Kost etc. = mhd. frouwe, hulde, koste etc. Der Gang der Entwickelung bei den
letzteren ist wahrscheinlich der gewesen, dass ursprünglich bei allen zweisilbigen Femininis auf - e Doppelformen
entstanden sind je nach der verschiedenen Stellung im Satzgefüge, und dass dann die darauf eingetretene
Ausgleichung verschiedenes Resultat gehabt hat. Ausserdem kommt dabei der Kampf des Oberdeutschen und des
Mitteldeutschen um die Herrschaft in der Schriftsprache in Betracht. Wie dem auch sei, jedenfalls ist eine neue
Spaltung da: Zunge - Zungen, aber Frau - Frauen. Und gleichzeitig ist es wieder vorbei mit der klaren
Unterscheidbarkeit der beiden Hauptklassen. Frau stimmt im Sg. zu Bank, im Pl. zu Zunge. Diese neue Verwirrung
war nun allerdings förderlich für die weitere Ausgleichung. Die Berührung zwischen der Formation Frau mit der
Formation Bank hat zur Folge gehabt, dass eine grosse Menge von Wörtern, ja die Mehrzahl aus der ersteren in die

123
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

letztere hinübergezogen sind, vgl. Burg (Pl. Burgen mhd. bürge), Flut, Welt, Tugend etc., sämtliche Wörter auf -heit,
-keit, -schaft. Auf diesem Wege hätte sich eine einheitliche Pluralbildung erlangen lassen, auf -en (n), und nur im
Sg. wäre noch die Verschiedenheit von Wörtern mit und ohne e geblieben. Aber die Bewegung ist eben nicht zu
Ende gediehen, [229 Zusammenfall funktionell verschiedener Formen.] und erhebliche Reste der alten i-Deklination
stehen störend im Wege.

Ganz ähnliche Beobachtungen lassen sich am Maskulinum und Neutrum machen, nur dass bei diesen noch mehr
verwirrende Umstände zusammentreffen. Auch hier wären die Verhältnisse darauf angelegt gewesen, eine reinliche
Scheidung in der Flexion zwischen den Substantiven ohne -e und denen mit -e im Nom. Sg. herauszubilden (Arm -
Arme, Wort - Worte, aber Funke - Funken, Auge - Augen), wenn nicht wieder die Abwerfung des -e in einem Teile
der Wörter dazwischen gekommen wäre (Mensch - Menschen, Herz - Herzen).

§ 156. Der lautliche Zusammenfall funktionell verschiedener Formen vollzieht sich innerhalb der etymologischen
Gruppen. So wird im Ahd. der Übergang von auslautendem unbetonten m zu n die Veranlassung zum Zusammenfall
der sekundären Endung für die 1. und 3. Pl.: in den älteren Quellen gâbum - gâbun, gâbîm - gâbîn, in den jüngeren
für beide Personen gâbun, gâbîn. In ausgedehntestem Masse ist solcher Zusammenfall veranlasst durch die
Abschwächung der vollen Endvokale des Ahd. zu gleichförmigem e. So steht mhd. tage = ahd. tage (Dat. Sg.) - taga
(Nom. Pl.) - tago (Gen. Pl.); mhd. hanen = ahd. hanin (Gen. Dat. Sg.) - hanun (Akk. Sg., Nom. und Akk. Pl.) -
hanôno (Gen. Pl.) - hanôm (Dat. Pl.), und in den althochdeutschen Formen liegt zum Teil bereits ein Zusammenfall
früher verschiedener Formen vor. Der Zusammenfall geht nicht immer durch eine ganze Flexionsklasse hindurch, er
braucht nur einen Teil der ursprünglich hineingehörigen Wörter zu treffen; vgl. z. B. Tag - Tage - Tagen mit Sessel -
Sessel - Sesseln, Winter - Winter - Wintern und Wagen - Wagen - Wagen. Seltener als bei Flexionsformen ist der
Zusammenfall bei Ableitungen aus der gleichen Grundlage. Da solche Ableitungen schon für sich ein ganzes
System von Formen bilden können, so kann der Zusammenfall nach zwiefacher Richtung hin ein partieller sein. Es
kann einerseits aus mehreren ursprünglich lautlich verschiedenen Wortklassen nur ein Teil der Wörter
zusammenfallen. So können im Ahd. aus jedem Adj. zwei schwache Verba abgeleitet werden, ein intransitives auf -
ên und ein transitives auf -en (= got. -jan). Im Mhd. fallen beide Klassen in den Endungen alle zusammen, in der
Gestalt der Wurzelsilbe aber nur zum Teil, weil die meisten durch das Vorhandensein oder Fehlen des Umlautes
geschieden bleiben, vgl. einerseits leiden aus leidên = unangenehm werden und leiden aus leiden = unangenehm
machen, rîchen reich werden und reich machen, niuwen neu werden und neu machen; anderseits armen arm werden
- ermen arm machen, swâren schwer werden - swæren schwer machen. Es [230 Elftes Kapitel. Bildung neuer
Gruppen.] braucht anderseits der lautliche Zusammenfall sich nicht auf sämtliche Formen zweier verwandter Wörter
zu erstrecken. In nhd. schmelzen sind zwei im Mhd. durchaus verschiedene Wörter zusammengefallen, smëlzen (mit
offenem e), stark und intransitiv, und smelzen (mit geschlossenem e), schwach und transitiv. Der Zusammenfall
erstreckt sich aber nur auf die Formen des Präs., und auch von diesen sind die 2. 3. Sing. Ind. und 2. Sg. Imp.
ausgeschlossen: schmilzt, schmilz - schmelzt, schmelze.

§ 157. Der lautliche Zusammenfall funktionell verschiedener Formen hat nun öfters weitere Konsequenzen. Eine
solche Konsequenz ist die, dass man sich an die lautliche Gleichheit so sehr gewöhnt, dass man sie auch auf Fälle
überträgt, in denen sie durch die Lautentwickelung noch nicht herbeigeführt ist. Im ahd. Verbum ist durch Übergang
des auslautenden m in n die 1. Plur. der 3. Plur. gleich geworden (gâbun aus gâbum - gâbun) mit Ausnahme des Ind.
Präs., wo die Verschiedenheit noch in die mittelhochdeutsche Zeit hinübergenommen wird: geben - gebent. Diese
Verschiedenheit wird zuerst im Md., dann auch im Oberd., wie schon oben bemerkt ist, durch Angleichung der 3.
Pl. an die 3. Pl. des Prät. und des Konj. beseitigt. Es kann sein, dass dabei auch die Gewöhnung an die
Übereinstimmung der 1. und 3. Pl. mitgewirkt hat. Sicher Wirkung dieser Gewöhnung ist es, wenn im
Alemannischen seit dem 14. Jahrhundert Formen auf -ent auch für die 1. Pl. gebraucht werden. Die Ausgleichung
zwischen 1. und 3. Pl. liegt auch in der jetzigen Schriftsprache vor in sind = mhd. sîn - sint; im Obersächsischen
lautet umgekehrt auch die 3. Pl. sein. Ein anderes Beispiel liefert uns die Ausgleichung zwischen Nom. und Akk. im
Deutschen. Im Urgermanischen waren beide Kasus beim Mask. und Fem. meistens noch verschieden. Gleichheit
bestand wahrscheinlich nur im Plur. der weiblichen a-Stämme (got. gibôs, anord. gjafar). Im Ahd. ist wie in den
übrigen westgermanischen Dialekten der Nom. Sg. der o-, i- und u-Stämme und der konsonantischen mit Ausnahme
der sogenannten schwachen Deklination durch Abfall des auslautenden s dem Akk. gleich geworden (fisc, balg,
sunu, man = got. fisks - fisk, balgs - balg, sunus - sunu und anord. fiskr - fisk, belgr - belg, sonr - son, maðr - mann);
ferner ist lautlicher Zusammenfall eingetreten im Nom. Akk. Pl. der schwachen Deklination (hanun, zungûn,
urgerm. wahrscheinlich *hanoniz - *hanonz). Dadurch ist die Veranlassung zu einer weiteren Ausgleichung
gegeben. Die Form des Nom. Pl. der o-, i- und u-Stämme und der konsonantischen ist in den Akk. gedrungen und so
dieselbe Übereinstimmung wie im Sg. hergestellt: taga, balgi (belgi), suni = got. dagôs - dagans, balgeis - balgins,
sunjus - sununs, und anord. dagar - daga, belgir - belgi, [231 Folgen des Zusammenfalls funktionell verschiedener
Formen.] synir - sunu (sonu). Die nach den Lautgesetzen im Ahd. zu erwartenden Formen des Akk. wären *tagun,
*balgin, *sunun. Bei den konsonantischen Stämmen ist auch im Got. und Anord. Ausgleichung eingetreten; urgerm.

124
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

wäre anzusetzen *manniz - *mannunz = ahd. man - *mannun, welche letztere Form durch die erstere verdrängt ist.
Auch bei dem Adj. und dem geschlechtlichen Pron. ist die Nominativform in den Akk. gedrungen blinte (a), die
(dia) = got. blindai - blindans, þai - þans. Bei den weiblichen a-Stämmen hat umgekehrt die lautliche Gleichheit
beider Kasus im Pl. eine Ausgleichung im Sg. herbeigezogen. Es wurden zunächst beide Formen, die des Nom. und
die des Akk. promiscue gebraucht, dann setzte sich im allgemeinen die Akkusativform fest, während die
Nominativform auf bestimmte Fälle beschränkt wurde und mehr und mehr ganz verschwand. Während das
Angelsächsische unterscheidet ziefu - ziefe, âr - âre, haben wir im Ahd. nur die Akkusativformen geba und êra und
nebeneinander als Nom. und Akk. halba und halb, wîsa und wîs etc. Im Nhd. ist weiter im Fem. des schwachen
Adjektivums die Akkusativform durch die Nominativform verdrängt: lange = mhd. lange - langen; ferner die
weibliche Nominativform des Artikels durch die Akkusativform: die = mhd. diu - die; schon im mhd. Nom. siu
durch Akk. sie. Im Rheinfränkischen und Alemanischen findet man endlich auch die Nominativform des Artikels
der akkusativisch verwendet.

Tritt in einer Sprache Zusammenfall der ursprünglich lautlich verschiedenen Kasusformen in sehr ausgedehntem
Masse ein, so kann das Veranlassung dazu werden, dass die vom Zusammenfall verschonten Reste ganz oder
grösstenteils getilgt werden, wie dies im Englischen und in den romanischen Sprachen geschehen ist. Es entstehen
so wieder reine Stammformen, wie sie vor der Kasusbildung bestanden, die man mit Unrecht als Nominativ oder
Akkusativ bezeichnet.

§ 158. Durch partiellen Zusammenfall der Formen verwandter Wörter wird das Gefühl für die Verschiedenheit
dieser Wörter abgestumpft, und es mischen sich daher leicht auch die nicht zusammengefallenen Formen
untereinander. Der oben berührte partielle Zusammenfall von mhd. smëlzen und smelzen hat die Folge gehabt, dass
die starken Formen schmilzt, schmolz, geschmolzen auch transitiv verwendet sind; die schwachen sind jetzt fast ganz
ausser Gebrauch gekommen. Ebenso sind die schwachen Formen von verderben, denen ursprünglich allein
transitive Bedeutung zukam, durch die ursprünglich nur intransitiven starken zurückgedrängt und können jetzt nur
noch im moralischen Sinne gebraucht werden. Bei quellen, schwellen, löschen ist in der gegenwärtig als korrekt
geltenden Sprache der Unterschied [232 Elftes Kapitel. Bildung neuer Gruppen.] gewahrt; aber von löschen
kommen zuweilen schwache Formen in intransitiver Bedeutung vor, z. B. es löscht das Licht der Sterne (Schi.); bei
quellen und schwellen findet sich Vermischung nach beiden Richtungen, z. B. dem das frischeste Leben entquellt
(Goe.) - gleichwie ein Born sein Wasser quillt (Lu.); schwelle, Brust (Goe.); die Haare schwellten (Tieck) - die
Ehrsucht schwillt die Brust (Günther), was ist, das mit Sehnsucht den Busen dir schwillt (Z. Werner), Seifenblasen,
die mein Hauch geschwollen (Chamisso).

1. Vgl. Förstemann, Zschr. f. vgl. Sprachwissenschaft 1, 1. Andresen, Über deutsche Volksetymologie, 6.


Aufl., Heilbronn 1899. Palmer, Folk Etymology, a Dictionary of Verbal Corruptions of Words Perverted in
Form or Meaning by False Derivation or Mistaken Analogy, London 1882. K. Nyrop, Sprogets vilde skud,
Kopenhagen 1882. A. Noreen, Nordisk tidskrift 1882, S. 612. 1887, S. 554 und Spridda Studier, Stockholm
1895. Nyrop und Gaidoz, L'étymologie populaire et le folk-lore (Melusine IV, 505, dazu mehrere kleinere
Nachträge in Bd. V) Wundt I, 459. Kjederqvist, Lautlich-begriffliche Wortassimilationen (Beitr. z. Gesch.
der deutschen Sprache 27, 409). Thurneysen IF 31, 279.
2. Noch ist darauf aufmerksam zu machen, dass dieselbe nicht mit der in Kap. 22 zu besprechenden
Lautsubstitution verwechselt werden darf. Die Wirkungen beider Vorgänge sind nicht immer scharf
auseinanderzuhalten.
3. Das h ist allerdings wohl kaum je gesprochen worden, und dann liegt nur Umdeutung vor, die in der
Orthographie ihren Ausdruck gefunden hat.
4. Dabei kommt aber auch der mundartliche Übergang von eu in ei in Betracht.
5. Abzusehen ist von dem vereinzelten Falle einag - einîg, wo eine Verschiedenheit der Bedeutung vorliegt.

ZWÖLFTES KAPITEL.

EINFLUSS DER FUNKTIONSVERÄNDERUNG AUF DIE ANALOGIEBILDUNG.

§ 159. Die Einordnung der einzelnen Wörter und Formen und der syntaktischen Verbindungen unter die
sprachlichen Gruppen ist immer durch ihre Funktion bedingt. Eine Veränderung der Funktion kann daher
Veranlassung zum Eintritt in eine andere Gruppe werden. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bedingt dann aber

125
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

auch eine Teilnahme an deren schöpferischer Kraft. So entstehen analoge Neuschöpfungen, die sich in einer anderen
Richtung bewegen, als der Ursprung der betreffenden Wortform oder Konstruktionsweise erwarten lässt. Die
folgenden Beispiele mögen dies im einzelnen veranschaulichen.

§ 160. Verwandlung eines Appellativums in einen Eigennamen veranlasst eine entsprechende Veränderung der
Deklination, vgl. die Akkusative und Dative Müllern, Schneidern, Beckern etc. Eine Folge des christlichen
Monotheismus war es, dass von got im Ahd. nach Analogie der Eigennamen ein Akk. gotan gebildet wurde. Damit
zu vergleichen sind die Dat.-Akkusative Vatern, Muttern, wie sie z. B. in Berlin üblich sind.

Nach Ausbildung der Familiennamen werden Vor- und Zuname als eine Einheit gefasst, und man bildet daher z. B.
den Gen. Friedrich Müllers, während man, solange Müller noch als ein Beiname nach der Beschäftigung gefasst
wurde, Friedrichs Müllers sagen musste. Nachdem sich das ursprünglich zur Angabe der Herkunft gebrauchte von
zur Bezeichnung des Adels entwickelt hatte, wurde es gleichfalls in den Namen mit einbezogen, und man bildete z.
B. den Gen. (Karl) von Rottecks (nicht mehr Karls von Rotteck). In der Schweiz, wo Familiennamen wie Von der
Mühl, Auf der Mauer nicht selten sind, fällt jetzt der Hauptton auf die Präp., eine Folge davon, dass das Ganze als
ein Wort gefasst wird. Entsprechend verhält es sich mit Ortsnamen wie Amsteg, Ímhof. [234 Zwölftes Kapitel.
Einfluss d. Funktionsveränderung auf d. Analogiebildung.]

§ 161. Im Lat. war decemviri ursprünglich nichts anderes als »die zehn Männer.« Nachdem man sich aber gewöhnt
hatte, den Ausdruck als Bezeichnung eines bestimmten Kollegiums zu fassen, gelangte man dazu als
Amtsbezeichnung für einen einzelnen den Sg. decemvir zu bilden. Entsprechend gebildet ist der Siebenschläfer aus
die sieben Schläfer (nach der Legende), mhd. der zwelfbote (Apostel) aus die zwelf boten.

Wenn ein Kompositum nicht mehr als solches empfunden wird, folgt es der Analogie der Simplizia. Vgl. die
Partizipia gefressen (mhd. noch frezzen, weil das Verbum eine Zusammensetzung aus *fr- = got. fra- und ezzen ist),
geblieben (mhd. beliben), gegönnt (gan »ich gönne« aus *ga-an), süd.- und ostfränk. gepalde zu palde = behalten.
Entsprechend erklärt sich im Griech. ekátheudon neben katheûdon daraus, dass einfaches heúdô aus dem
gewöhnlichen Gebrauche verschwunden war.

§ 162. Ein völlig substantiviertes Adj. kann der Analogie der alten Substantiva folgen. So konnten Greis und
Jünger, die ursprünglich regelrecht substantivierte schwache Adjektiva waren, in die starke Deklination übertreten.
Aus denselben werden die Feminina Greisin, Jüngerin abgeleitet, ebenso aus anderen Substantivierungen Fürstin,
Obristin, Gesandtin (Frau des Obersten, Gesandten); auch Bekanntin, Verwandtin u. a. kommen vor statt die
Bekannte, Verwandte.

Die griechischen Adverbia auf -ôs sind ursprünglich Kasus der o-Deklination. Nachdem sie sich aber einmal aus
dem Flexionssysteme herausgelöst haben und -ôs als ein Wortbildungssuffix empfunden ist, hat es sich auch auf
andere Stämme übertragen können, die in ihrer Flexion keinen Einfluss von den o-Stämmen her erfahren haben, vgl.
hêdéôs, sôphrónôs etc. Entsprechend verhält es sich mit dem Adverbialsuffix -o im Ahd., welches gleichfalls von
den o-Stämmen auf die alten i- und u-Stämme übertragen ist: kleino, harto nach liobo etc.

Es gibt im Nhd. eine beträchtliche Zahl von Adverbien, die ihrem Ursprunge nach Genitive Sg. aus Nominibus sind,
wie falls, rings, rechts, stracks, blindlings. In dem s empfindet man aber schon lange nicht mehr das
Genitivszeichen, es muss jetzt als ein Adverbialsuffix erscheinen. In Folge davon wird es im Neuhochdeutschen auf
andere Adverbia übertragen, die ihrem Ursprunge nach gleichfalls Kasus von Nominibus oder Verbindungen einer
Präposition mit einem Kasus sind, aber ebensowenig als solche empfunden werden, sondern unter die allgemeine
Kategorie der Adverbien getreten sind, vgl. allerdings (aus aller Dinge Gen. Pl.), schlechterdings, jenseits, diesseits
(mhd. jensît Akk. Sg.), abseits (aus ab Seite), hinterrücks, im 17. Jahrhundert auch hinterrückens (aus älterem
hinterrück, hinterrücken), unterwegs, unterwegens (aus unter Wege, unter Wegen), vollends (älter vollen, vollend)
etc. Die Verwandlung des s aus einem Kasussuffix in ein [235 Übertritt in eine andere Wortklasse. Worteinheit aus
syntaktischer Verbindung.] Wortbildungselement hat es auch ermöglicht, dass dasselbe in Ableitungen
hinübergenommen ist: desfallsig, allenfallsig.

Hans Sachs bildet einen Komparativ flüchser zu flugs. Es ist das eine Folge davon, dass der Substantivkasus auf eine
Linie mit den adjektivischen Adverbien getreten ist, denen ursprünglich allein Komparation zukommt.

§ 163. Wenn eine syntaktische Verbindung zu einer Worteinheit verschmolzen ist, so wird diese neue Einheit nach
Analogie des einfachen Wortes behandelt und dasjenige auf sie übertragen, was in Bezug auf dieses möglich ist. Es
kommt in verschiedenen Sprachen vor, dass eine Partikel sich untrennbar an ein Pron. anlehnt. Die Folge davon

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

kann sein, dass die Flexion nach dem Muster der einfachen Wörter von der Mitte an das Ende verlegt wird. Plautus
gebraucht von i-pse noch den Akk. eumpse, eampse, den Abl. eopse, eapse, die später durch ipsum etc. ersetzt sind.
Eine ähnliche Entwickelung, wie sich besonders an den altnordischen Runenformen nachweisen lässt, hat unser
Pron. dieser durchgemacht, ein Kompositum aus dem Artikel und der Partikel se. Eine grosse Bereicherung
erwächst der Sprache dadurch, dass aus solchen durch sekundäre Verschmelzung entstandenen Kompositis die
nämlichen Ableitungen gebildet werden, wie aus den einfachen Wörtern, und dass sie ebenso wie diese wieder als
Glied eines Kompositums dienen können; vgl. Überwinder, Überwindung, ergiebig, befahrbar, gedeihlich,
Betrübnis, Gefangenschaft, Befangenheit; edelmännisch, hochmütig, jungfräulich, landesherrlich, Landsmannschaft,
Grossherzogtum, Bärenhäuter, Kindergärtnerin; sofortig, bisherig, jenseitig; Rotweinflasche, Gänseleberpastete;
Überhandnahme, Vorwegnahme, Zurücknahme.

§ 164. Nicht selten erstarrt eine Flexionsform, indem sie auf Fälle übertragen wird, denen sie eigentlich nicht
zukommt.[1]) Unser selber ist der Nom. Sg. M. und zugleich der Gen. und Dat. Sg. Fem. und Gen. Pl. eines älteren
Adj. selb, welches als Adj. jetzt nur noch in der selbe erhalten ist. Das gleichbedeutende selbst = älterem selbes ist
der Nom. und Akk. Sg. N. und zugleich Gen. Sg. M. und N. desselben Wortes. Im Mhd. wird das Adj. teils stark,
teils schwach flektiert und richtet sich im Genus, Numerus und Kasus nach dem Nomen, auf das es sich bezieht, also
im selben, ir selber, sîn selbes etc. Wenn nun die im Mhd. erhaltenen Formen sich an Stellen eingedrängt haben, wo
andere am Platze gewesen wären, so kann das erst eine Folge davon gewesen sein, dass das Wort nicht mehr als ein
Adj. empfunden wurde. Indem man in selber nur noch die Funktion einer energischen [236 Zwölftes Kapitel.
Einfluss d. Funktionsveränderung auf d. Analogiebildung.] Indentifizierung empfand, wendete man die Form überall
an, wo eine solche Identifizierung auszusprechen war. Entsprechend verhält es sich mit dem mundartlichen halber:
die Nacht ist halber hin, es ist halber eins; mit einander, statt dessen man im Ahd. regelrechte Flexion hat: ein
anderan, ein andermo etc. Im Mhd. kann man noch sagen beider des vater und des sunes, wobei des vater und des
sunes eigentlich in appositionellem Verhältnis zu beider steht. Gewöhnlicher aber ist beide des vater und des sunes.
Es ist also die Nominativform beide erstarrt, indem der Ursprung der Konstruktion nicht mehr zum Bewusstsein
kommt und die Funktion von beide - und sich unserm sowohl - als auch annähert. Im Lat. hat der Nom. quisque
neben dem Reflexivpron. und dem dazu gehörigen Possessivum sein Gebiet überschritten, z. B. multis sibi quisque
imperium petentibus. Bei Plautus findet sich praesente testibus statt praesentibus, bei Afranius absente nobis; daraus
erkennt man, dass die betreffenden Partizipialformen sich dem Charakter von Präpositionen genähert hatten.
Verbindungen wie agedum conferte, agedum creemus sind die Folge davon, dass man age nicht mehr als 2. Sg. Imp.
empfunden hat, sondern nur als einen allgemeinen ermunternden Zuruf. Entsprechend steht im Griech. áge vor
einem Plural, ebenso eipé, phére, idoú;[2]) ferner im Lat. cave dirumpatis (Plaut.) u. dergl.; in unserer
Umgangssprache zuweilen warte mal, auch wo die Anrede an mehrere Personen gerichtet ist oder an eine, die man
sonst mit Sie anredet. Im älteren Nhd. wird siehe auch bei der Anrede an eine Mehrheit gebraucht; vollständig
erstarrt sind franz. voici, voilà. Im Spätgriechischen werden ô'phelon und ô'phele ohne Rücksicht auf Person oder
Numerus wie Konjunktionen gebraucht. Unser nur ist aus enwære (es wäre denn) entstanden. Dieses enwære hat
sich also auch an Stelle von enwærest, enwæren, ensî, ensîn etc. eingedrängt.
Ein ähnlicher Vorgang ist es, wenn im Spätmhd. sich, abhängig von einer Präp., auch in Sätze dringt, in denen das
Subj. die erste oder zweite Person ist.[3]) Es ist das die Folge davon, dass ein über sich oder unter sich nicht mehr
analysiert, sondern = in die Höhe, in die Tiefe aufgefasst wird; vgl. unser jetziges vor sich gehen und an und für
sich. Daher gebraucht man diese Verbindungen auch, wo sie gar nicht auf das Subjekt, sondern nur auf einen
obliquen Kasus bezogen werden können; z. B. heb hinten über sich das Glas (hebe das Glas in die Höhe, Uhl.
Volkslieder). Dieselbe Erstarrung findet sich bei seiner Zeit, vgl. z. B. die Jugend ist unternehmend, wir sind es
seiner Zeit auch gewesen (Hackländer). Entsprechend bei lat. suo loco, sua sponte, [237 Erstarrung von
Flexionsformen. Einfluss des Bedeutungswandels.] suo nomine. Bei römischen Juristen finden sich Verbindungen
wie si sui juris sumus. Im Anord. hat sich mit Hilfe des Reflexivums ein Medium und Passivum herausgebildet.
Dabei ist das auf sik zurückgehende -sk, jünger z, welches ursprünglich nur der dritten Person zukommen konnte,
zuerst auf die zweite, dann auch auf die erste Person übertragen, z. B. lúkomz statt älterem lúkomk (= *lúko-mik);
das z wurde nicht mehr in seiner ursprünglichen Bedeutung, sondern als Zeichen des Mediums oder Passivums
gefasst. In sehr vielen oberund mitteldeutschen Mundarten wird sich auch als Reflexivum für die 1. Plur. gebraucht,
hie und da auch für die 2. Person. Die gewöhnliche Beschränkung auf die 1. Plur. ist wohl daraus zu erklären, dass
bei dieser die Übertragung durch die formelle Übereinstimmung der Verbalform mit der 3. Plur. erleichtert wurde.
[4]) In bairischen Mundarten wird das Possessivpron. sein auch auf das Fem. und auf den Plur. bezogen, vgl.
Schmeller S. 198.

§ 165. Plautus verbindet die Wörter perire, deperire, demori im Sinne von »sterblich verliebt sein« mit dem Akk.;
desgleichen Virg., Hor. und andere ardere = »in Liebe zu jemand entbrannt sein«. Offenbar ist die Konstruktion
dieser Wörter durch die von amare beeinflusst, weil sie in ihrer metaphorischen Verwendung dem eigentlichen
Sinne desselben nahe kommen. Es lässt sich daraus wohl der Schluss ziehen, dass sie in dieser Verwendung
wenigstens in der Dichtersprache schon etwas verbraucht waren. Denn wäre ihre eigentliche Bedeutung noch voll
lebendig empfunden, so würde eine solche Vertauschung der Konstruktion wohl nicht eingetreten sein. Indessen

127
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

muss hier doch in Betracht gezogen werden, wie viel etwa auf Rechnung einer absichtlichen poetischen Kühnheit zu
setzen ist. Anders verhält es sich in Bezug auf die gewöhnliche prosaische Rede. Auch in dieser kommt es häufig
vor, dass ein Wort die ihm seiner Grundbedeutung nach zukommende Konstruktionsweise mit einer andern
vertauscht, die dazu nicht passt, indem es entweder durch ein bestimmtes einzelnes Wort oder durch eine Gruppe
von Wörtern beeinflusst wird, denen es sich mit der Zeit in seiner Bedeutung angenähert hat. Hier ist der
Konstruktionswechsel ein untrügliches Kriterium für das Verblassen der Grundbedeutung. Namentlich
bekundet sich darin häufig die Loslösung von der ursprünglich zu Grunde liegenden sinnlichen Anschauung. [238
Zwölftes Kapitel. Einfluss d. Funktionsveränderung auf d. Analogiebildung.]

Für diese Loslösung sind besonders instruktiv manche Komposita mit Ortsadverbien. Zu einwirken und Einwirkung
gehört ursprünglich die Präp. in und diese ist im 18. Jahrhundert üblich, vgl. sobald Kunst und Wissenschaft in das
Leben einwirkt (Goe.); durch die Einwirkung in gewisse Werkzeuge (Garve). Wir setzen jetzt wie beim Simplex
wirken ein auf, und dies beweist, dass uns das Gefühl für die sinnliche Anschauung, auf die das ein hinweist,
verloren gegangen ist. Die nämliche Vertauschung hat stattgefunden bei Einfluss, vgl. Folgen, die in ihre
Glückseligkeit einen notwendigen Einfluss haben sollen (Le.), Gesundheit ist ein Gut, welches in alles Einfluss hat
(Garve), und so allgemein im 18. Jahrhundert (auch bei einfliessen = »Einfluss haben« steht früher in und auf);
einschränken, vgl. es hat längst aufgehört in die engen Grenzen eingeschränkt zu sein (Le.) etc.; Eindruck, vgl. die
Nähe des schönen Kindes musste wohl in die Seele des jungen Mannes einen so lebhaften Eindruck machen (Goe.);
welchen tiefen Eindruck er, auf mein ganzes Leben, in mein Herz gemacht hat (Miller); noch sinnlicher: um durch
das Grosse dieses Todes einen unauslöschlichen Eindruck seiner selbst in das Herz seiner Spartaner zu graben
(Schi.); doch erscheint es mit auf schon bei Lessing; eingehen, vgl. da ich in alles einging (auf schon im 18. Jahrh.
gewöhnlich). Abgeneigt, Abneigung gegen oder, wie ältere Schriftsteller auch sagen, vor kann nicht ursprünglich
sein, sondern nur von, vgl. abgeneigt von der bessren Meinung (Le.), Abneigung von den Erdentöchtern (Wieland),
Abneigung von allen literarischen Händeln (Goe.). Für nachdenken über finde ich im DWb den ältesten Beleg aus
Schillers Don Karlos; sonst ist im 18. Jahrhundert und selbst bis in das 19. hinein der blosse Dat. (eigentlich von
nach abhängig) üblich, z. B. um ihren Briefen nachzudenken (Nicolai), ich dachte der Ursache nach (Goe.), und
dachte manchen Dingen nach (Frenssen); entsprechend verhält es sich mit nachsinnen, vgl. als wenn sie einem
grossen Streich nachsänne (Goe.), oft sinn' ich meinen eignen Worten nach (Grillparzer).

Wenn man jetzt sagt sei mir willkommen in meinem Hause, so ist klar, dass der zweite Bestandteil des Wortes nicht
mehr als Part. von kommen gefasst wird. So lange das geschah, verstand sich auch die Angabe einer Richtung, z. B.
willekomen her in Guntheres lant (Nibelungenlied).

Die Konstruktion vergnügt über etwas steht in Analogie zu froh über etwas u. dergl.; sie zeigt, dass vergnügt nicht
mehr als Part. des Verb. vergnügen »zufrieden stellen« empfunden ist, an welches das Mittel durch mit anzuknüpfen
wäre und so lange angeknüpft wurde, als vergnügt die Bedeutung von »zufrieden« hatte; vgl. noch den Wechsel bei
Wieland: Tag meines Lebens hab ich niemand über das Werk eines [239 Konstruktionswechsel in Folge von
Bedeutungswandel.] andern so vergnügt gesehen, als er es mit dem Oberon war. Ähnlich ist neben sich bekümmern,
bekümmert jetzt um das allein Gebräuchliche, während im 16. und 17. Jahrh. daneben noch mit üblich war, vgl. aus
dem Simplizissimus: mit Schulpossen sich nicht viel zu bekümmern; weil Mercurius mit allerhand Staatsgeschäften
bekümmert war. Murner sagt noch vnd hindern jn von synem glück der sinnlichen Grundbedeutung von hindern
»nach hinten drängen« entsprechend, während die Verbindung mit an ein Zeichen für das Eintreten des abstrakten
Sinnes ist. Eine radikalere Umgestaltung hat die Konstruktion von verehren erfahren; man sagt ursprünglich der
Grundbedeutung gemäss einen womit verehren; nachdem dies aber den Sinn »beschenken« angenommen hatte,
machte sich der Einfluss von schenken u. dergl. geltend.

Ein quin conscendimus equos ist eigentlich »warum besteigen wir nicht die Pferde«, dem Sinne nach aber = »lasst
uns die Pferde besteigen«; daher kann man nun auch nach quin einen Imp. oder adhortativen Konj. setzen, z. B. quin
age istud, quin experiamur. Entsprechend ist mhd. wan fürchtent si den stap eigentlich »warum fürchten sie nicht
den Stab«, nähert sich aber dem Sinne »mögen sie den Stab fürchten«; in Folge davon wird nach wan auch der in
Wunschsätzen ohne einleitende Konjunktion übliche Konj. Prät. gesetzt, z. B. wan hæte ich iuwer kunst. Auf die
nämliche Weise erklärt sich wahrscheinlich im Afranz. die Verbindung von car (= quare) mit dem Konditionel und
dem Imp. (vgl. Diez III, 214).

128
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Griech. oukoûn ist ursprünglich = »also nicht« und dient zur Einleitung einer Frage, auf die man eine bejahende
Antwort erwartet. Die mit oukoûn eingeleiteten Sätze sind aber allmählich als direkte positive Behauptungen
aufgefasst. Daher ist der Partikel nur die Funktion des Folgerns verblieben und sie wird in Sätzen verwendet, die gar
nicht mehr als Fragesätze aufgefasst werden können, z. B. neben dem Imperativ, vgl. o 'koûn apágagé me aûthis es
tòn bíon (Lucian).[5]) Ganz die gleiche Entwickelung zeigt im Sanskrit na-nu.[6]) Es dient zunächst wie nonne zur
Einleitung von Fragesätzen, dann aber, indem solche Fragesätze zu Behauptungssätzen umgedeutet sind, lässt es
sich durch »doch wohl« übersetzen, und kommt dann auch in Aufforderungssätzen vor, vgl. nanu ucyatâm = es soll
doch gesagt werden.

Der Acc. c. Inf. konnte ursprünglich jedenfalls nur neben einem transitiven Verbum stehen, so lange der
Subjektsakk. noch als direkt von dem Verb. fin. abhängig empfunden wurde, vgl. darüber Kap. 16. Nachdem aber
die Auffassung sich so verschoben hatte, dass der Acc. [240 Zwölftes Kapitel. Einfluss d. Funktionsveränderung auf
d. Analogiebildung.] c. Inf. als ein abhängiger Satz und der Akk. als Subj. desselben gefasst wurde, war es möglich,
die Konstruktion weit über ihre ursprünglichen Grenzen auszudehnen. So werden im Lat. auch Verba mit dem Acc.
c. Inf. konstruiert, die keinen Objektsakk. bei sich haben können, wie gaudere, dolere, ferner Verbindungen wie
magna in spe sum, spem habeo etc. In sehr vielen Fällen wird dann der Acc. c. Inf. als Subjekt verwendet, so nach
licet, accidit, constat etc., nach fas, jus est etc., bei Passiven neben dem Nom. c. Inf., vgl. non mihi videtur ad beate
vivendum satis posse virtutem (Cic.); Volcos et Aequos extra fines exisse affertur (Liv.). Weiterhin dringt dann der
Acc. c. Inf. auch in Sätze ein, die von einem andern Acc. c. Inf. abhängen. So zunächst in lose angeknüpfte
Relativsätze, z. B. mundum censent regi numine deorum, ex quo illud natura consequi (Cic.), vgl. Draeger § 447, 1.
Ferner in Vergleichungssätze, z. B. ut feras quasdam nulla mitescere arte, sic immitem ejus viri animum esse (Liv.);
addit etiam se prius occisum iri ab eo quam me violatum iri (Cic.), vgl. ib. 448, 1. 453, 2. In die indirekte Frage, z.
B. quid sese inter pacatos facere, cur in Italiam non revehi (Liv.), vgl. ib. 450. Sogar in Temporal- und Kausalsätze,
z. B. crimina vitanda esse, quia vitari metus non posse (Seneca), vgl. ib. 448, 2. 3. Die entsprechende Ausdehnung
findet sich im Griechischen. Die Gewohnheit, das Subj. zum Inf. in der Form des Akk. zu haben, führt hier auch zur
Verwendung dieses Kasus neben dem durch den Art. substantivierten Inf., in welchem Kasus derselbe auch stehen
mag, vgl. aítios toû nikêthê^nai toùs Lakedaimoníous, dià tò tê`n pólin hêrê^sthai hupèr toû taûta mê` gígnesthai.

§ 166. Wenn zwei Konstruktionsweisen sich in ihrer Funktion teilweise decken, so kann bei manchen überlieferten
syntaktischen Verbindungen eine Unsicherheit darüber entstehen, welche von den beiden zu Grunde liegt. So
entsteht eine Umdeutung der Verbindung, und diese Umdeutung lenkt die Wirksamkeit der Analogie in eine neue
Bahn.

Der von einem Subst. abhängige Gen. hat eine ähnliche Funktion wie das attributive Adj. In Verbindungen nun wie
Hamburger Rauchfleisch, Kieler Sprotten liegt als erstes Glied der Gen. der Einwohnerbezeichnung zu Grunde, dem
Sprachgefühl aber liegt es näher dasselbe als ein aus dem Ortsnamen abgeleitetes Adj. zu fassen; jedenfalls beziehen
wir es direkt auf den Ort, und nicht auf die Einwohner. Zwar lehrt noch die Flexionslosigkeit, dass kein wirkliches
Adj. vorliegt. Anderseits aber zeigt die Art, wie der Artikel bei der Verbindung verwendet wird (das Hamburger
Rauchfleisch), dass der Gen. nicht mehr als solcher empfunden wird; denn die Stellung des Gen. zwischen Art. und
Subst. ist jetzt unmöglich geworden. Dem Ahd. ging [241 Konstruktionswechsel.] ein Possessivpron. zu dem Fem.
und dem Plur. sie ab. Man verwendete statt dessen den Gen. dieses Pron. ira, iro. Auch im Mhd. bleibt der Gen. ir,
aber sporadisch fängt man an denselben als Adj. zu fassen und adjektivisch zu deklinieren. Dieser Gebrauch ist im
Nhd. allgemein geworden, und so ist unser Possessivpron. ihr entstanden. Die Berührung des Genitivs mit dem
attributiven Adj. ist wahrscheinlich auch die Veranlassung gewesen, ihn nach den Muster des Adj. prädikativ zu
verwenden, vgl. er ist des Todes, reines Herzens, so sind wir des Herrn (Lu.) etc. Diese Verwendung gehört
allerdings wohl schon der indogermanischen Grundsprache an. [Paul, Prinzipien]

1. Vgl. zum Folgenden Brugmann, Ein Problem der homerischen Textkritik, S. 119ff.
2. Vgl. Brugmann a. a. O. S. 124.
3. Vgl. Brugmann a. a. O.
4. Die von Brugmann a. a. O. S. 123 ausgesprochene Ansicht, das dieses sich aus unsich entstanden sei, kann
ich nicht teilen, weil die Form unsich bereits untergegangen ist, bevor diese Verwendung von sich
auftaucht. Mit Weinhold, Bair. Gram. § 359 und Schuchardt, Slawodeutsches S. 107 slawischen Einfluss
anzunehmen verbietet das Verbreitungsgebiet der Erscheinung.
5. Vgl. Kühner, Griech. Gram. II, 1, S. 717.
6. Auf diesen Parallelismus hat mich Brugmann aufmerksam gemacht.

129
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

DREIZEHNTES KAPITEL.

VERSCHIEBUNGEN IN DER GRUPPIERUNG

DER ETYMOLOGISCH ZUSAMMENHÄNGENDEN WÖRTER.

§ 167. Wenn man sämtliche die gleiche Wurzel enthaltenden Wörter und Formen nach den ursprünglichen
Bildungsgesetzen, wie sie durch die zergliedernde Methode der älteren vergleichenden Grammatik gefunden sind,
zusammenordnet, so erhält man ein mannigfach gegliedertes System oder ein grösseres System von kleineren
Systemen, die ihrerseits wieder aus Systemen bestehen können. Schon ein einziges indogermanisches Verbum für
sich stellt ein sehr kompliziertes System dar. Aus dem Verbalstamme haben sich verschiedene Tempusstämme, aus
jedem Tempusstamme verschiedene Modi, erst daraus die verschiedenen Personen in den beiden Genera entwickelt.
Die analytische Grammatik ist bemüht immer das dem Ursprunge nach nächst Verwandte von dem erst in einem
entfernteren Grade Verwandten zu sondern, immer zwischen Grundwort und Ableitung zu scheiden, alle Sprünge zu
vermeiden und nicht etwas als direkte Ableitung zu fassen, was erst Ableitung aus einer Ableitung ist. Was aber von
ihrem Gesichtspunkte aus ein Fehler in der Beurteilung der Wort- und Formenbildung ist, das ist etwas, dem das
Sprachbewusstsein unendlich oft ausgesetzt ist. Es ist ganz unvermeidlich, dass die Art, wie sich die etymologisch
zusammengehörigen Formen in der Seele der Sprachangehörigen unter einander gruppieren, in einer späteren
Periode vielfach etwas anders ausfallen muss als in der Zeit, wo die Formen zuerst gebildet wurden. Und die Folge
davon ist, dass auch die auf solcher abweichenden Gruppierung beruhende Analogiebildung aus dem Gleise der
ursprünglichen Bildungsgesetze heraustritt. Sekundärer Zusammenfall von Laut und Bedeutung ist dabei vielfach im
Spiel. Welche wichtige Rolle dieser Vorgang in der Sprachgeschichte spielt, mag eine Reihe von Beispielen lehren.

§ 168. Wir haben im Nhd. eine Anzahl von Alters her überlieferter Nomina actionis männlichen Geschlechts neben
entsprechenden [243 Nom. actionis u. Verb. Adj. zu Subst. u. Verb.] Verben, vgl. Fall - fallen, Fang - fangen,
Schlag - schlagen, Streit - streiten, Lauf - laufen, Sang - singen. Wenn wir auf das ursprüngliche Bildungsprinzip
zurückgehen, so werden wir sagen müssen, dass weder das Nomen aus dem Verbum, noch das Verbum aus dem
Nomen abgeleitet ist, sondern beide direkt aus der Wurzel. Wir haben ferner einige Fälle, in denen neben einem
Nomen actionis ein daraus abgeleitetes schwaches Verbum steht, vgl. Hass - hassen, Krach - krachen, Schall -
schallen, Rauch - rauchen, Ziel - zielen, Mord - morden, Hunger - hungern. Im Nhd. sind diese beiden Klassen nicht
auseinander zu halten, namentlich deshalb, weil die Verschiedenheit der Verbalendungen im Präs. ganz
verschwunden ist. Es erscheinen jetzt Schlag - schlagen und Hass - hassen einander vollkommen proportional, und
man bildet nun weiter auch zu anderen Verben, gleichviel welcher Konjugationsklasse sie angehören, Nomina
einfach durch Weglassung der Endung, vgl. Betrag, Ertrag, Vortrag, Betreff, Verbleib, Begehr, Erfolg, Verfolg,
Belang, Betracht, Brauch, Gebrauch, Verbrauch, Besuch, Versuch, Verkehr, Vergleich, Bereich, Schick, Bericht,
Verein, Ärger etc. Im Mhd. steht neben dem Subst. gît ein daraus abgeleitetes Verbum gîtesen. Letzteres entwickelt
sich im Spätmhd. regelrecht zu geitzen, geizen, und daraus bildet sich das Subst. Geiz, welches das ältere geit
verdrängt. Entsprechend ist Blitz gebildet zu blitzen aus blickezen, einer Ableitung aus Blick, das ursprünglich auch
die Bedeutung »Blitz« hatte.[1]).

§ 169. Wo ein Nomen und ein Verbum von entsprechender Bedeutung nebeneinander stehen, da ist es
unausbleiblich, dass die aus dem einen gebildete Ableitung sich auch zu dem andern in Beziehung setzt, so dass sie
dem Sprachgefühl eben sowohl aus dem letzteren wie aus dem ersteren gebildet erscheinen kann, und diese von dem
ursprünglichen Verhältnis abgehende Beziehung kann dann die Veranlassung zu Neubildungen werden. Unser
Suffix -ig (ahd. -ag und -ig) dient ursprünglich nur zu Ableitungen aus Nominibus. Aber es stehen ihrer Form und
Bedeutung nach Wörter wie gläubig, streitig, geläufig in eben so naher Beziehung zu glauben, streiten, laufen wie
zu Glaube, Streit, Lauf, andere wie irrig sogar in näherer Beziehung zu dem betreffenden Verbum, weil das Subst.
Irre in seiner Bedeutungsentwickelung dem Adj. nicht parallel gegangen ist; bei andern wie gehörig, abwendig ist
das zu Grunde liegende Subst. (mhd. hôre) verloren gegangen oder wenigstens nicht mehr allgemein gebräuchlich.
So werden denn eine Anzahl von Adjektiven geradezu aus Verben gebildet, vgl. erbietig (gegenüber dem nominalen
erbötig), ehrerbietig, freigebig, [244 Dreizehntes Kapitel. Verschiebungen der zusammenhängenden Wörter.]
ergiebig, ausfindig (doch wohl mit Anlehnung an mhd. fündec), zulässig, rührig, wackelig, dämmerig, stotterig;
auch abhängig kann seiner Bedeutung nach nicht zu Hang, Abhang, sondern nur zu abhängen gestellt werden.
Ebenso verhält es sich mit den Adjektiven auf -isch, von denen wenigstens neckisch, mürrisch, wetterwendisch als
Ableitungen aus Verben aufgefasst werden müssen, nach dem Muster solcher wie neidisch, spöttisch, argwöhnisch
etc. gebildet. Unser Suffix -er (ahd. -âri, -eri, mhd. -ære, -er), welches jetzt als allgemeines Mittel zur Bildung von
Nomina agentis aus Verben dient, wurde ursprünglich nur zu solchen Bildungen verwendet, wie wir sie noch in

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Bürger, Müller, Schüler und vielen andern Wörtern haben. Im Got. sind sicher nominalen Ursprungs bokareis
(Schriftgelehrter) von boka (im Pl. Buch), daimonareis (Besessener) von daímôn, motareis (Zöllner) von mota
(Zoll), wullareis (Tuchwalker) von wulla (Wolle), liuþareis (Sänger) von einem vorauszusetzenden *liuþ = ahd.
leod, nhd. lied. Demgemäss werden wir wohl auch laisareis (Lehrer) und sokareis (Forscher) nicht von den Verben
laisjan (lehren) und sokjan (suchen) abzuleiten haben, sondern von vorauszusetzenden Substantiven *laisa = ahd.
lêra, nhd. lehre und *soka = mhd. suoche. Diese beiden letzten Wörter zeigen aber bereits die Möglichkeit die
Bildung in Beziehung zu einem Verbum zu setzen. Auch neben liuþareis steht liuþon (singen). An solche Muster
angeschlossen beginnen dann schon im Ahd. die Ableitungen aus Verben. Dass die nominale Ableitung das
Ursprüngliche ist, sieht man namentlich noch an solchen Fällen wie zuhtâri (Erzieher), aus zuht, nicht aus ziohan
abgeleitet, nôtnumftâri (Räuber); vgl. noch nhd. Wächter, Lügner (aus ahd. lugina), Redner (aus ahd. redina). In den
Fällen, wo der Wurzelvokal der nominalen Ableitung nicht zum Präs. des Verbums stimmt, tritt mehrfach eine
verbale Neubildung daneben, und mitunter haben sich beide Bildungen bis ins Neuhochdeutsche gehalten, vgl.
Ritter - Reiter, Schnitter - Schneider, Näther - Näher, Mähder - Mäher, Sänger - Singer (ahd. nur sangâri), Schilter
(als Eigenname) = mhd. schiltære (Mahler) - Schilderer. Die Substantiva auf ahd. -ida (got. iiþa) scheinen
ursprünglich nur aus Adjektiven gebildet zu sein und erst in Folge sekundärer Beziehung aus Verben: kisuohhida zu
kisuohhen, pihaltida zu pihaltan nach chundida - chunden - chund etc.

Wie in der Ableitung verhält es sich auch in der Komposition. Die allmähliche Umdeutung eines nominalen ersten
Kompositionsgliedes in ein verbales und die dadurch hervorgerufenen Neubildungen hat Osthoff[2]) ausführlich
behandelt. So treten z. B. ahd. waltpoto (procu- [245 Anlehnung an Verb. statt an Subst. Suffixverschmelzung.]
rator), sceltwort, betohus, spiloman, fastatag, wartman, spurihunt, erbireht, welche doch die Nomina walt (giwalt),
scelta, beta, spil, fasta, warta, spuri, erbi enthalten, in direkte Beziehung zu den Verben waltan, sceltan, betôn,
spilôn, fastên, wartên, spurien, erben, und von diesen und ähnlichen Bildungen aus entspringt die im Nhd. so
zahlreich gewordene Klasse von Kompositis mit verbalem ersten Gliede wie Esslust, Trinksucht, Schreibfeder,
schreibfaul etc. Hierher gehören namentlich viele Komposita mit -bar, -lich, -sam, -haft,[3]) die aber vom
Standpunkte des Sprachgefühls aus vielmehr als Ableitungen zu betrachten und mit den oben angeführten Bildungen
auf -ig und -isch gleichzustellen sind, vgl. Wörter wie wählbar, unvertilgbar, unbeschreiblich, empfindlich,
empfindsam, naschhaft. Der Übergang zeigt sich besonders deutlich bei solchen Wörtern wie streitbar, wandelbar,
vereinbar. Streitbar kann noch eben so gut auf Streit wie auf streiten bezogen werden, aber unbestreitbar nur auf
bestreiten. Im Mhd. wird wandelbære durchaus auf Wandel bezogen, und da dieses gewöhnlich »Makel« bedeutet,
so bedeutet es auch gewöhnlich »mit einem Makel behaftet«; im Nhd. dagegen ist wandelbar, unwandelbar ganz an
die Bedeutung des Verb. wandeln angelehnt. Im Mhd. gibt es ein Adj. einbære »einträchtig«, ganz ohne Beziehung
auf das Verb. denkbar.

§ 170. Sehr häufig ist der Fall, dass eine Ableitung aus einer Ableitung in direkte Beziehung zum Grundworte
gesetzt wird, wodurch dann auch wirkliche direkte Ableitungen veranlasst werden mit Verschmelzung von zwei
Suffixen zu einem. So erklärt sich z. B. die Entstehung unserer neuhochdeutschen Suffixe -nis, -ner, -ling. Im Got.
liegt noch ganz klar ein Suffix -assus vor (ufar-assus Überfluss). Dasselbe wird aber am häufigsten verwendet zu
Bildungen aus Verbis auf -inon, z. B. gudjinassus (Priesteramt) zu gudjinon (Priesterdienst verrichten). Sobald man
dieses direkt auf gudja (Priester) bezog, musste man -nassus als Suffix empfinden. Ein n fand sich ferner in solchen
Bildungen wie ibnassus aus ibns (eben) und in Ableitungen aus Partizipien wie ahd. farloran-issa. So ist es
gekommen, dass in den westgermanischen Dialekten, von wenigen altertümlichen Resten abgesehen, ein n mit dem
Suffix verwachsen ist. Die Bildungen auf -ner gehen aus von Nominalstämmen, die ein n enthalten, vgl. Gärtner
(mhd. gartenære), Lügner (mhd. lügenære von lügene neben lüge), Hafner (mhd. havenære), Wagner, Redner (ahd.
redinâri aus redina), oder von Verben auf ahd. -inôn, vgl. Gleissner (mhd. gelîchsenære von gelîchsenen). Indem
nun z. B. Lügner zu Lüge, Redner zu Rede, reden in Beziehung gesetzt [246 Dreizehntes Kapitel. Verschiebungen
der zusammenhängenden Wörter.] wird, entsteht Suffix -ner, das wir z. B. finden in Bildner (schon im 14. Jahrh.
bildenære, früher aber bildære), Harfner (mhd. harpfære), Söldner (spätmhd. soldenære, früher soldier). In Künstler
(mhd. kunster) erscheint auch -ler als Suffix, denn wir beziehen es direkt auf Kunst, weil das Verbum künsteln, von
dem es eigentlich abstammt, auf speziellere Bedeutung beschränkt ist. Suffix -ling (in Pflegling, Zögling etc.) geht
aus von solchen Bildungen wie ahd. ediling (der Edele) von edili oder adal, chumiling (nhd. in Abkömmling,
Ankömmling) zu (uo-)chumilo. So stand zwischen jung und jungilinc wohl auch einmal eine Diminutivbildung
*jungilo.

Die neuhochdeutschen Verba auf -igen sind ausgegangen von Ableitungen aus Adjektiven auf -ig. Mhd. einegen,
huldegen, leidegen, nôtegen, manecvaltegen, schedegen, schuldegen stammen unzweifelhaft aus einec, huldec,
leidec, nôtec, schadec, schuldec; aber nhd. vereinigen, beleidigen, beschuldigen wird man eher direkt auf ein, Leid,
Schuld beziehen, und bei huldigen und schädigen ist gar keine andere Beziehung als auf Huld und Schade möglich,
weil die vermittelnden Adjektiva verloren gegangen sind, ebenso nötigen, weil nötig nicht mehr in der Bedeutung
korrespondiert. So entstehen denn andere direkt aus dem Substantivum wie vereidigen, befehligen, befriedigen,

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

einhändigen, beherzigen, sündigen, beschäftigen, oder aus einfachen Adjektiven wie beschönigen, sänftigen,
genehmigen. Die Verba auf -ern und -eln sind hervorgegangen aus einem Kerne von Ableitungen aus Nominibus
auf ahd. -ar und -al (-ul, -il), indem z. B. ahd. spurilôn, (investigare) nicht direkt auf das Verb. spurien, sondern auf
ein vorauszusetzendes Adj. *spuril (= altn. spurall) zurückgeht; jetzt aber werden sie direkt aus einfacheren Verben
abgeleitet, vgl. folgern, räuchern (spätmhd. rouchern, früher rouchen), erschüttern (mhd., noch im 16. Jahrh.
erschütten), zögern (aus mhd. zogen), schütteln, lächeln, schmeicheln (aus mhd. smeichen) etc. Auf entsprechende
Weise haben sich auch die Ableitungen aus Nominibus wie äugeln, frösteln, näseln, frömmeln, klügeln, kränkeln
herausgebildet.

Im Mhd. bilden viele Adjektiva ein Adv. auf lîche, vgl. frôlîche, grôzlîche, lûterlîche, eigenlîche, vermezzenlîche,
sinneclîche, einvalteclîche. Dieserart Formen sind natürlich zunächst von adjektivischen Kompositis auf -lîch
abgeleitet. Indem aber das Adv. des Simplex ausser Gebrauch kommt, stellt sich eine direkte Beziehung zwischen
dem Adv. des Kompositums und dem einfachen Adj. her. Die Entwickelung geht sogar noch weiter, indem nach
Analogie von grimmeclîche, stæteclîche u. dergl., die direkt auf grim oder grimme, stæte bezogen werden, auch
armeclîche, milteclîche, snelleclîche etc. gebildet werden, wiewohl kein armec etc. existiert. Die englischen
Adverbia auf -ly sind des nämlichen Ursprungs. [247 Verwandlung direkter Beziehung in indirekte. Komposita.]

Ähnliche Vorgänge sind offenbar in Menge schon in einer Periode eingetreten, in der wir die allmähliche
Entwickelung nicht verfolgen können. Wir finden in den verschiedenen indogermanischen Sprachen schon auf der
ältesten uns vorliegenden Entwickelungsstufe eine reichliche Anzahl von Suffixen, deren Lautgestalt darauf
hinweist, dass sie Komplikationen mehrerer einfacher Suffixe sind, und die wahrscheinlich alle so entstanden sind,
dass auf die geschilderte Weise eine Ableitung zweiten Grades zu einer ersten Grades geworden ist.

§ 171. Zu vielen Verschiebungen der Beziehungen gibt ferner das Verhalten von Kompositis zu einander Anlass.
Gehen zwei verwandte Wörter eine Komposition mit dem gleichen Elemente ein, so ist es kaum zu vermeiden, dass
eine direkte Beziehung zwischen den beiden Kompositis entsteht, und es ergibt sich die Konsequenz, dass das eine
nicht mehr als Kompositum, sondern als Ableitung aus einem Kompositum aufgefasst wird. Umgekehrt kann eine
Ableitung aus einem Kompositum in direkte Beziehung zu der entsprechenden Ableitung aus dem einfachen Worte
gesetzt werden, und die Folge davon ist, dass sie als ein Kompositum aufgefasst wird.

Ein reichliches Material zum Beleg für diese Vorgänge liefert die Geschichte der Komposition im Deutschen.
Ursprünglich besteht ein scharfer Unterschied zwischen verbaler und nominaler Komposition. In der verbalen
werden nur Präpositionen als erste Kompositionsglieder verwendet, in der nominalen Nominalstämme und
Adverbien, anfangs nur die mit den Präpositionen identischen, später auch andere. In der verbalen ruht der Ton auf
dem zweiten, in der nominalen auf dem ersten Bestandteile. Bei der Zusammensetzung mit Partikeln ist demnach
der Akzent das unterscheidende Merkmal. Sehr häufig ist nun der Fall, dass ein Verbum und ein dazu gehöriges
Nomen actionis mit derselben Partikel komponiert werden. In einer Anzahl solcher Fälle ist das alte Verhältnis bis
jetzt gewahrt trotz des Bedeutungsparallelismus zwischen den beiden Kompositis,[4]) vgl. durchbréchen -
Dúrchbruch, durchschnéiden - Dúrchschnitt, durchstéchen - Dúrchstich, überblícken - Ü'berblick, überfállen -
Ü'berfall, übergében - Ü'bergabe, übernéhmen - Ü'bernahme, überscháuen - Ü'berschau, überschlágen -
Ü'berschlag, überséhen - Ü'bersicht, überzíehen - Ü'berzug, umgéhen - Úmgang (eines Dinges Umgang haben),
unterhálten - Únterhalt, unterschéiden - Únterschied, unterschréiben - Únterschrift, [248 Dreizehntes Kapitel.
Verschiebungen der zusammenhängenden Wörter.] widerspréchen - Wíderspruch. In anderen Fällen hat die
verschiedene Akzentuierung eine verschiedene Lautgestalt der Partikel erzeugt, wodurch sich verbales und
nominales Kompositum noch schärfer von einander abheben. Hier ist im Nhd. das alte Verhältnis nur in einigen
wenigen Fällen erhalten, wo die Bedeutungsentwickelung nicht parallel gewesen ist, wie erlauben - Urlaub, erteilen
- Urteil. Im Mhd. haben wir noch empfángen - ámpfanc, enthéizen - ántheiz, entlâ'zen - ántlâz, entságen - ántsage,
begráben - bígraft, bespréchen - bísprâche, bevâ'hen - bívanc, erhében - úrhap, erstâ'n - úrstende, verbíeten -
vü'rbot (gerichtliche Vorladung), versétzen - vü'rsaz (Versetzung, Pfand), verzíehen - vü'rzoc u. a. In allen diesen
Fällen ist die Diskrepanz, wo die Wörter sich überhaupt erhalten haben, jetzt beseitigt, indem das nominale
Kompositum an das Verbum angelehnt ist: Empfang, Verzug etc. In andern Fällen ist die Ausgleichung schon im
älteren Mhd. eingetreten, und die Partikel ga- (nhd. ge-) ist mindestens schon im Ahd., wo nicht schon im
Urgermanischen stets unbetont. Mitwirkend ist bei diesem Prozesse offenbar das Verhältnis der verbalen Komposita
zu den daraus gebildeten nominalen Ableitungen (mhd. erloesen - erloesære, erloesunge etc.), die ihrerseits erst
Analogiebildungen nach den Ableitungen aus einfachen Verben sind. Auch Inf. und Part., die vielfach zu reinen
Nominibus sich entwickeln (vgl. nhd. Behagen, Belieben, Erbarmen, Verderben, Vergnügen; bescheiden, erfahren,
verschieden etc.) und die aus dem letzteren gebildeten Substantiva (vgl. Gewissen, Bescheidenheit, Bekanntschaft,
Verwandtschaft, Erkenntnis etc.) wirken mit.

Auf der andern Seite ist auch das Prinzip, dass ein verbales Kompositum kein Nomen enthalten kann, für das

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Sprachgefühl etwas durchlöchert, indem Ableitungen wie handhaben, lustwandeln, mutmassen, nottaufen,
radebrechen (durch die schwache Flexion als Ableitung erwiesen, vgl. mhd. -breche), ratschlagen, wetteifern,
argwöhnen, notzüchtigen, rechtfertigen, verwahrlosen aus Handhabe, Notzucht, rechtfertig etc. sowie das durch
Volksetymologie umgedeutete weissagen (ahd. wîzagôn aus dem Adj. wîzag, substantiviert wîzago, der Prophet)
auch als Komposita gefasst werden können. Diese Auffassung zeigt sich an dem gelegentlichen Vorkommen von
Formen wie radebricht (3. Sg. bei A. Gryphius und Platen), ratschlägt (Goe.), ratschlug (schon bei Lu.). Durch
solche Bildungen ist vielleicht das Zusammenwachsen syntaktischer Gruppen zu Kompositis (lobsingen,
wahrsagen) begünstigt.

Eine andere merkwürdige Verschiebung der Beziehungen in der Komposition findet sich durch zahlreiche Beispiele
im Spät- und Mittellateinischen und in den romanischen Sprachen vertreten. Wir haben hier eine grosse Menge von
Verben, die aus der Verbindung einer Präposition mit ihrem Kasus entweder wirklich abgeleitet sind oder [249
Komposita. Verhältnis der verschiedenen Bedeutungen eines Wortes.] wenigstens ihrer Bedeutung nach daraus
abgeleitet erscheinen, vgl. accorporare (ad corpus), incorporare, accordare, excommunicare (ex communione),
extemporare (extemporalis schon im 1. Jahrhundert p. Chr.), emballer, déballer, embarquer, débarquer, enrager,
affronter, achever (ad caput), s'endimancher (sich in den Sonntagsstaat werfen), s'enorgueillir.[5]) Hiermit sind
auch die Bildungen aus Adjektiven verwandt, welche bedeuten »sich in den betreffenden Zustand hineinversetzen«
wie affiner, enivrer, adoucir, affaiblir, ennoblir etc. Die ursprüngliche Grundlage für diese Bildungen ist zweierlei
gewesen. Einerseits Ableitungen aus komponierten Nominibus, vgl. assimilis - assimilare, concors concordare,
deformis - deformare (in der Bedeutung »verunstalten«), degener - degenerare, depilis - depilare, exanimis -
exanimare, exheres - exheredare, exossis - exossare, exsucus - exsucare, demens - dementire, insignis - insignire,
die sich verhalten wie sanus - sanare; ferner dedecus - dedecorare. Anderseits Komposita von denominativen
Verben wie accelerare (celerare dichterisch), adaequare, addensare, aggravare, aggregare, appropinquare,
assiccare, attenuare, adumbrare, dearmare, decalvare, dehonorare, depopulari, despoliare, detruncare,
exhonorare, exonerare, innodare, inumbrare, investire. Beide Klassen mussten allmählich miteinander
zusammengeworfen werden und zumal da, wo in der ersten das zu Grunde liegende Nomen, in der zweiten das
Simplex ausser Gebrauch kam, in dem bezeichneten Sinne umgedeutet werden.

§ 172. Eine ähnliche Verschiebung wie in dem Verhältnis verwandter Wörter zu einander findet sich übrigens auch
schon in Bezug auf das Verhältnis der verschiedenen Bedeutungen des gleichen Wortes. Unter diesen tritt
gewöhnlich eine als die eigentliche Hauptbedeutung hervor. Es ist diejenige, die, wenn das Wort ausser
Zusammenhang ausgesprochen wird und ohne eine besondere Disposition des Hörenden, zunächst in das
Bewusstsein tritt. Meistens ist sie mit der Grundbedeutung identisch, jedoch keineswegs immer, indem diese öfters
seltener geworden ist, mitunter sich nur in bestimmten Formeln erhalten hat. Es macht sich nun die Tendenz geltend,
solche vereinzelte Reste älterer Bedeutung an die jüngere, jetzt zur Hauptbedeutung gewordene anzulehnen, so dass
sie als Ableitungen aus dieser gefasst werden. Tadel bedeutet ursprünglich »Fehler«, »Gebrechen«; in ohne Tadel
haben wir eine direkte Fortsetzung der alten Gebrauchsweise, aber unser heutiges Sprachgefühl erklärt sich auch
diese Verbindung aus der jetzigen Bedeutung. Die Grundbedeutung von Kopf »Napf« [250 Dreizehntes Kapitel.
Verschiebungen der zusammenhängenden Wörter.] liegt zu Grunde den Zusammensetzungen Tassenkopf,
Schröpfkopf, Pfeifenkopf, niemand empfindet sie aber mehr darin, man wird vielmehr an eine uneigentliche
Verwendung von Kopf in dem uns geläufigen Sinne denken. Rat bezeichnet ursprünglich »was jemandem an Mitteln
zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und zur Ausführung seiner Zwecke zu Gebote steht«, so noch in Vorrat,
Hausrat, ferner aber auch in Wendungen wie zu Rate halten, Rat schaffen, dazu kann Rat werden, aber dem
Sprachgefühl fällt es nicht ein, dass hier etwas anderes als die jetzt übliche Bedeutung zu Grunde liegt. Knopf
bezeichnet ursprünglich eine kugelartige Anschwellung an einem Gegenstande, wie noch allgemein in
Stecknadelknopf, und doch fühlt niemand hierin eine ursprünglichere Bedeutung als in Hemdenknopf, Hosenknopf u.
dergl. Auch Knoten bezeichnet ursprünglich eine rundliche Anschwellung, für uns gehört es jetzt aber als etwas
Wesentliches zum Begriffe Knoten, dass derselbe durch eine Verschlingung entstanden ist, und wir sind geneigt in
Flachsknoten eine uneigentliche Verwendung zu sehen. Ebenso scheint uns z. B. in Sonnenblick eine Übertragung
vorzuliegen, während darin die ursprüngliche Bedeutung von Blick »das Blinken« bewahrt ist. Sache auf einen
Prozess bezogen empfinden wir als eine Spezialisierung der allgemeinen Bedeutung, während das historische
Verhältnis vielmehr umgekehrt ist. Bei halten denkt man jetzt zunächst an das handgreifliche Festhalten und wird
darin auch die Grundlage suchen für Wendungen wie auf Ehre halten, Pferde, Dienstboten halten etc., die doch auf
die Grundbedeutung »hüten« zurückgehen. Können ist für uns jetzt »im Stande wozu sein«, und wir ordnen unter
diese allgemeine Bedeutung jetzt auch Verwendungsweisen unter wie etwas auswendig können, französisch können,
lesen können, die doch Fortsetzungen der mittelhochdeutschen Gebrauchsweise des Wortes = »wissen«, »verstehen«
sind.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

1. Über ähnliche »Rückbildungen« im Ungarischen vgl. Simonyi S. 282.


2. Das Verbum in der Nominalkomposition im Deutschen, Griechischen, Slavischen und Romanischen. Jena
1878.
3. Vgl. Osthoff a. a. O. S. 116.
4. Im allgemeinen aber neigen die nominalen Komposita dazu, sich an die uneigentlichen verbalen
anzulehnen, gerade auch wegen der gleichen Betonung, während aus den eigentlichen Substantiva auf -ung
abgeleitet werden, vgl. dúrchfahren = Dúrchfahrt - durchfáhren = Durchfáhrung etc.
5. Mehr Beispiele bei Arsène Darmesteter, Traité de la formation des mots composés dans la langue française
(Bibliothèque de l'école des hautes études. Sciences philologiques et historiques 19) Paris 1875, S. 80ff.

VIERZEHNTES KAPITEL.

BEDEUTUNGSDIFFERENZIERUNG.

§ 173. Es ist, wie wir gesehen haben, im Wesen der Sprachentwickelung begründet, dass sich in einem fort eine
Mehrheit von gleichbedeutenden Wörtern, Formen, Konstruktionen herausbildet. Als die eine Ursache dieser
Erscheinung haben wir die Analogiebildung kennen gelernt, als eine zweite konvergierende
Bedeutungsentwickelung von verschiedenen Seiten her; wir können als dritte hinzufügen die Aufnahme eines
Fremdwortes für einen Begriff, der schon durch ein heimisches Wort vertreten ist (vgl. Vetter - Cousin, Base -
Cousine), unter welche Kategorie natürlich auch die Entlehnung aus einem verwandten Dialekte zu stellen ist.

So unvermeidlich aber die Entstehung eines solchen Überflusses ist, so wenig ist er imstande, sich auf die Dauer zu
erhalten. Die Sprache ist allem Luxus abhold. Man darf mir nicht entgegenhalten, dass sie dann auch die
Entstehung des Luxus vermeiden würde. Es gibt in der Sprache überhaupt keine Präkaution gegen etwa eintretende
Übelstände, sondern nur Reaktion gegen schon vorhandene. Die Individuen, welche das Neue zu dem Alten
gleichbedeutenden hinzuschaffen, nehmen in dem Augenblicke, wo sie dieses tun, auf das letztere keine Rücksicht,
indem es ihnen entweder unbekannt ist, oder wenigstens in dem betreffenden Augenblicke nicht ins Bewusstsein
tritt. In der Regel sind es dann erst andere, die, indem sie das Neue von diesem, das Alte von jenem Sprachgenossen
hören, beides untermischt gebrauchen.

Unsere Behauptung trifft wenigstens durchaus für die gewöhnliche Umgangssprache zu. Etwas anders verhält es
sich mit der Literatursprache, und zwar mit der poetischen noch mehr als der prosaischen. Aber die Abweichung
bestätigt nur unsere Grundanschauung, dass Bedürfnis und Mittel zur Befriedigung sich immer in das gehörige Ver-
[252 Vierzehntes Kapitel. Bedeutungsdifferenzierung.] hältnis zu einander zu setzen suchen, wozu ebensowohl
gehört, dass das Unnütze ausgestossen wird, wie dass die Lücken nach Möglichkeit ausgefüllt werden. Man darf den
Begriff des Bedürfnisses nur nicht so eng fassen, als ob es sich dabei nur um Verständigung über die zum
gemeinsamen Leben unumgänglich notwendigen Dinge handle. Vielmehr ist dabei auch die ganze Summe des
geistigen Interesses, aller poetischen und rhetorischen Triebe zu berücksichtigen. Ein durchgebildeter Stil, zu dessen
Gesetzen es gehört, nicht den gleichen Ausdruck zu häufig zu wiederholen, verlangt natürlich, dass womöglich
mehrere Ausdrucksweisen für den gleichen Gedanken zu Gebote stehen. In noch viel höherem Grade verlangen
Versmass, Reim, Alliteration oder ähnliche Kunstmittel die Möglichkeit einer Auswahl aus mehreren
gleichbedeutenden Lautgestaltungen, wenn anders ihr Zwang nicht sehr unangenehm empfunden werden soll. Die
Folge davon ist, dass die poetische Sprache sich die gleichwertigen Mehrheiten, welche sich zufällig gebildet haben,
zu Nutze macht, sie beliebig wechselnd gebraucht, wo die Umgangssprache den Gebrauch einer jeden an bestimmte
Bedingungen knüpft, sie beibehält, wo die Umgangssprache sich allmählich wieder auf Einfachheit einschränkt.
Dies ist ja eben eins der wesentlichsten Momente in der Differenzierung des poetischen von dem prosaischen
Ausdrucke. Es lässt sich leicht an der poetischen Sprache eines jeden Volkes und Zeitalters im einzelnen der
Nachweis führen, wie ihr Luxus im engsten Zusammenhange mit der geltenden poetischen Technik steht, am
leichtesten vielleicht an der Sprache der altgermanischen alliterierenden Dichtungen, die sich durch einen
besonderen Reichtum an Synonymen für die geläufigsten Begriffe auszeichnet, z.B. für Mann, Weib, Kind, Herr,
Untergebener, Kampf, Pferd, Schwert. Die Möglichkeit der Auswahl dient sehr zur Erleichterung der Alliteration.

Auch bei der volkstümlichen Rede muss als Bedürfnis mit in Anschlag gebracht werden die Neigung zu kräftiger,
oft übertreibender, zu anschaulicher und bildlicher Ausdrucksweise. Wo aber etwas Derartiges nicht in Frage
kommt, ist die Annahme eines viele Jahrhunderte langen Nebeneinanderbestehens von gleichbedeutenden
Doppelformen oder Doppelwörtern aller Erfahrung zuwiderlaufend und muss mit Entschiedenheit als ein
methodologischer Fehler bezeichnet werden, ein Fehler, der allerdings bei der Konstruktion der indogermanischen

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Grundformen früher häufig begangen und neuerdings wieder recht Mode geworden ist.

Bei der Beseitigung des Luxus müssen wir uns natürlich wieder jede bewusste Absicht ausgeschlossen denken. In
der unnützen Überbürdung des Gedächtnisses liegt auch schon das Heilmittel dafür. [253 Beseitigung des Luxus in
der Sprache.]

§ 174. Die einfachste Art der Beseitigung ist der Untergang der mehrfachen Formen und Ausdrucksweisen bis auf
eine. Man kann leicht die Beobachtung machen, dass der Luxus der Sprache nur in beschränktem Masse auch ein
Luxus des einzelnen ist. Auf einem gewissen Gleichmasse in der Auswahl aus den möglichen Ausdrucksformen
beruht am meisten die charakteristische Eigentümlichkeit der individuellen Sprache. Denn ist einmal das eine aus
irgend welchem Grunde geläufiger geworden als das andere, d. h. ist seine Befähigung sich unter gegebenen
Umständen in das Bewusstsein zu drängen eine grössere, so ist auch die Tendenz vorhanden, dass, wo nicht
besondere Einflüsse nach der entgegengesetzten Seite treiben, dies Übergewicht bei einer jeden neuen Gelegenheit
eine Verstärkung erhält. Sobald nun die überwiegende Majorität einer engeren Verkehrsgemeinschaft in der
Auswahl aus irgend einer Mehrheit zusammentrifft, so ist wieder die natürliche Folge, dass sich die
Übereinstimmung mehr und mehr befestigt und nach dem Absterben einiger Generationen eine vollständige wird.
So bilden denn die verschiedenen Möglichkeiten der Auswahl auch eine Hauptrolle für die Entstehung dialektischer
Unterschiede. Natürlich kommt es auch vor, dass die Auswahl auf dem ganzen Sprachgebiete zu dem gleichen
Resultate führt, namentlich da, wo besonders günstige oder besonders ungünstige Bedingungen für die eine Form
vorhanden sind. So sind z. B. Wörter, die keinen bedeutenden Lautkörper haben, wenn sie durch die
Sprachentwickelung noch weiter reduziert werden, im Nachteil gegen solche mit grösserer Lautmasse; vgl. z. B. in
den romanischen Sprachen das Zurückweichen von dare gegen donare, verus gegen veracus, (franz. vrai), dies
gegen diurnum (franz. jour), avis gegen avicellus (franz. oiseau), apis gegen apicula (franz abeille).

§ 175. Neben dieser bloss negativen Entlastung der Sprache gibt es aber auch eine positive Nutzbarmachung des
Luxus vermittelst einer Bedeutungsdifferenzierung des Gleichwertigen. Auch diesen Vorgang dürfen wir uns
durchaus nicht als einen absichtlichen denken. Wir haben gesehen, dass die verschiedenen Bedeutungen eines
Wortes, einer Flexionsform, einer Satzfügung etc. jede für sich und eine nach der andern erlernt werden. Wo nun
eine Mehrheit von gleichwertigen Ausdrücken im Gebrauche ist, deren jeder mehrere Bedeutungen und
Verwendungsarten in sich schliesst, da ergibt es sich ganz von selbst, dass nicht jedem einzelnen im Verkehre die
verschiedenen Bedeutungen gleichmässig auf die verschiedenen Ausdrücke verteilt erscheinen. Vielmehr wird es
sich häufig treffen, dass er diesen Ausdruck früher oder öfter mit dieser, jenen früher oder öfter mit jener Bedeutung
verbunden hört. Sind ihm aber die verschiedenen Ausdrücke jeder mit einer [254 Vierzehntes Kapitel.
Bedeutungsdifferenzierung.] besonderen Bedeutung geläufig geworden, so wird er auch dabei beharren, falls er
nicht durch besonders starke Einflüsse nach der entgegengesetzten Seite getrieben wird.

Wo die einzelnen Momente der Entwickelung nicht historisch zu verfolgen sind, sondern nur das Gesamtresultat
vorliegt, da entsteht häufig der Schein, als sei eine Lautdifferenzierung zum Zwecke der Bedeutungsunterscheidung
eingetreten. Und noch immer scheuen sich viele Sprachforscher nicht, etwas Derartiges anzunehmen. Schon um
solche Aufstellungen definitiv zu beseitigen, ist es von Wichtigkeit, die hierher gehörigen Fälle aus den modernen
Sprachen in möglichster Reichlichkeit zu sammeln.

135
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 176. Zusammenstellungen von Doppelformen, die auf die gleiche Grundlage zurückgehen, sind schon in früher
Zeit versucht und neuerdings reichlich veranstaltet.[1]). Dieselben beschäftigen sich allerdings nur teilweise
eingehender mit der Bedeutungsentwickelung. Auch fällt das in ihnen Zusammengestellte bei weitem nicht alles
unter die Kategorie, mit der wir es hier zu tun haben. Selbstverständlich müssen alle Fälle ausgeschlossen werden, in
denen ein Lehnwort von Anfang an in einer andern Bedeutung aufgenommen ist als ein altheimisches oder ein in
früherer Zeit oder aus anderer Quelle entlehntes Wort, gleichviel ob die Wörter, wenn man weit genug zurückgeht,
auf den gleichen Ursprung führen. Französisch chose und cause stammen beide aus lat. causa, aber ihre
Bedeutungsverschiedenheit ist nicht aus einer Differenzierung auf französischem Boden entstanden, sondern cause
ist als gerichtlicher Terminus entlehnt zu einer Zeit, als chose sich schon zu der allgemeinen Bedeutung `Sache'
entwickelt hatte. So verhält es sich bei weitem mit den meisten Doppelwörtern der romanischen [255
Doppelformen.] Sprachen, die uns deshalb hier gar nichts angehen,[2]) so verhält es sich auch mit
neuhochdeutschen Wörtern wie legal - loyal, Pfalz - Palast, Pulver - Puder, Spital - Hôtel etc. Die
Zusammenstellung solcher Wörter hat eigentlich keinen wissenschaftlichen Zweck, wenn sie auch der Kuriosität
halber interessieren mag. Weiter müssen wir aber auch alle diejenigen Fälle ausschliessen, in welchen die
Bedeutungsdifferenzierung die Folge einer grammatischen Isolierung ist. Wenn z. B. das alte Partizipium
bescheiden noch als Adj. in der Bedeutung modestus gebraucht wird, dagegen als eigentliches Part. beschieden, so
sind zwar in der letzteren Verwendung eine Zeit lang bescheiden und beschieden neben einander hergegangen, aber
niemals ist beschieden = modestus gebraucht.

Auf der andern Seite ist in den angeführten Arbeiten unsere zweite Klasse, in der die Bedeutungsgleichheit erst auf
sekundärer Entwickelung beruht, gar nicht berücksichtigt. An einer gesichteten Zusammenstellung von Fällen, die
als unzweifelhafte Differenzierung gleichbedeutender Ausdrücke zu betrachten sind, fehlt es also dennoch, es wird
sich daher empfehlen mit Beispielen zur Erläuterung des Vorganges nicht sparsam zu sein. Ich wähle dieselben
grösstenteils aus dem Neuhochdeutschen.

§ 177. Die Formen Knabe und Knappe sind im Mhd. vollständig gleichbedeutend und vereinigen beide die
verschiedenen neuhochdeutschen Bedeutungen in sich. Ebenso werden Raben (= nhd. Rabe) und Rappe beide zur
Bezeichnung des Vogels verwendet, während jetzt in der Schriftsprache Rappe auf die metaphorische Verwendung
für ein schwarzes Pferd beschränkt ist.[3]) Eine dritte Form, Rappen mit einem aus den obliquen Kasus in den Nom.
gedrungenen n hat sich für die Münze (ursprünglich mit einem schwarzen Vogelkopf) festgesetzt, die anfänglich
auch Rappe, Rapp heisst und ausserdem als Rabenheller, Rabenpfennig, Rabenbatzen, Rabenvierer bezeichnet wird
(vgl. Adelung). Wie Knabe - Knappe verhalten sich im mhd. bache (Hinterbacken, Schinken) - Bache (urgerm. bakô
- bakkô) zu einander, und es ist daher sehr wahrscheinlich, dass wir es hier mit einer ebenfalls sekundären, nur
bedeutend älteren Bedeutungsdifferenzierung zu tun haben. Erst neuhochdeutsch ist die Unterscheidung zwischen
Reiter (= mhd. rîter) und Ritter, scheuen und scheuchen, die verschiedene Nuancierung in der Anwendung von
Jungfrau und Jungfer. Hain ist eine Kon- [256 Vierzehntes Kapitel. Bedeutungsdifferenzierung.] traktion aus Hagen
und im Mhd. sind beide gleichbedeutend (noch jetzt in Kompositis wie Hagebuche - Hainbuche, Hagebutte -
Hainbutte etc.); Hagen in der abgeleiteten Bedeutung, die jetzt auf Hain beschränkt ist, erscheint bei B. Waldis.

Häufig sind die Doppelformen, die durch die Mischung verschiedener Deklinationsweisen entstanden sind,
differenziert, so Franke - Franken, Tropf - Tropfen (vgl. für die gleichwertige Verwendung die Beispiele bei
Sanders, z. B. Haller: du bist der Weisheit Meer, wir sind davon nur Tröpfe und umgekehrt Wieland: dem armen
Tropfen), Fleck - Flecken, Fahrt - Fährte, Stadt - Stätte (mhd. Nom. vart, stat - Gen. verte, stete); zugleich mit
Verschiedenheit des Geschlechtes der Lump - die Lumpe, der Trupp - die Truppe, der Karren - die Karre, der
Possen - die Posse. Verschiedenheit des Geschlechtes bei gleicher Nominativform wird verwertet in der - das Band
(Beispiele für der Band = fascia, vinculum im Deutschen Wb.), der - die Flur (ersteres nur in der Bedeutung
Hausflur, in welcher Bedeutung aber auch die Flur vorkommt), der - die Haft (schon im Mhd. mit ziemlich
entschiedener Trennung der Bedeutungen), der - das Mensch (letzteres noch im siebzehnten Jahrhundert ohne
verächtlichen Nebensinn), der - das Schild (die Scheidung noch jetzt nicht ganz durchgeführt, vgl. DWb), der - das
Verdienst, der - das Gehalt, der - die See, der - die Schwulst (Beispiele für beide Geschlechter in eigentlicher wie
uneigentlicher Bedeutung im DWb), die - das Erkenntnis (letzteres noch bei Kant sehr häufig = cognitio). Dazu
kommen die Fälle, in denen verschiedene Pluralbildungen sich differenziert haben: Bande - Bänder, Dinge - Dinger
(der jetzigen Verwendung entgegen z. B. bei Luther Luc. 21, 26 für warten der Dinger die kommen sollen auf
Erden), Gesichte - Gesichter (Beispiele von Nichtbeobachtung des Unterschieds im DWb), Lichte - Lichter (die
Unterscheidung nicht allgemein durchgeführt), Orte - Örter (desgleichen), Tuche - Tücher, Worte - Wörter
(Beispiele, in denen ersteres noch wie letzteres verwendet wird, bei Sanders 3, 1662b), Säue - Sauen (vgl. für die
ältere Zeit Stellen wie von den zahmen Sauen entsprossen oder wilde Säue und Bären etc. bei Sanders), Effekte -
Effekten. Im älteren Nhd. kommt von Druck sowohl der Pl. Drucke als Drücke vor; jetzt existiert nur noch der Pl.
Drucke im Sinne von »gedruckte Werke«, wofür Goethe noch Drücke gebraucht, dagegen heisst es Abdrücke,
Eindrücke, Ausdrücke. In ältere Zeit zurück geht die Differenzierung von Tor - Tür (vgl. Sievers, Beitr. z. Gesch. d.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

deutsch. Spr. u. Lit. 5, 111¹) und Buch - Buche (ahd. buoh, noch häufig Fem., ist die alte Nominativform, buocha die
Akkusativform); die alten Nominativformen buoz, wîs, halp sind auf die Verwendung in bestimmten Formeln
beschränkt (mir [257 Doppelformen.] wirdit buoz, managa wîs, einhalb etc., noch jetzt anderthalb, drittehalb),
während sonst die Akkusativformen buoza, wîsa, halba üblich geworden sind.

Diese Benutzung verschiedener Flexionsformen begegnet uns beinahe in allen flektierenden Sprachen. Aus dem
Englischen lassen sich eine Anzahl doppelter Pluralbildungen aufführen: cloths Kleiderstoffe - clothes fertige
Kleider, während in der älteren Sprache so gut wie von den meisten übrigen Wörtern beide Bildungsweisen
untermischt gebraucht werden; pennies Pfennige als Geldstücke - pence als Wertbestimmung; brethren gewöhnlich
im übertragenen Sinne - brothers im eigentlichen. Im Holländischen werden die Plurale auf -en und -s von einigen
Wörtern noch beliebig nebeneinander gebraucht (vogelen - vogels), von andern ist nur der eine üblich (engelen, aber
pachters), wieder von andern aber werden beide nebeneinander mit differenzierter Bedeutung gebraucht, vgl.
hemelen (Himmel im eigentlichen Sinne) - hemels (Betthimmel), letteren (Brief oder Literatur) - letters
(Buchstaben), middelen (Mittel) - middels (Taillen), tafelen (Gesetztafeln u. dergl.) - tafels (Tische), vaderen
(Voreltern) - vaders (Väter), wateren (Wasser) - waters (Ströme). Ähnlich stehen sich bei einigen Wörtern die
Formen auf -en und -eren gegenüber: kleeden (Tischdecken, Teppiche) - kleederen (Kleider), beenen (Gebeine) -
beenderen (Knochen), bladen (Blätter im Buch) - bladeren (im eigentlichen Sinne). Aus dem Dänischen gehört
hierher skatte (Schätze) - skatter (Abgaben), vaaben (Waffen) - vaabener (Wappen). Wo im Altn. a mit o (dem u-
Umlaut) in der Wurzelsilbe der Nomina wechselte je nach der Beschaffenheit der Flexionsendung (z. B. sok[u] -
sakar etc.), da sind im späteren Norwegisch zunächst Doppelformen entstanden, eine mit a, eine mit o, von denen
dann meistens entweder die erstere oder die letztere untergegangen ist. In einigen Fällen aber haben sich beide mit
Bedeutungsdifferenzierung erhalten gata (Gasse) - gota (Fahrweg), grav (Grab) - grov (Grube), mark (Feld) - mork
(Wald), tram (Anhöhe) - trom (Rand).

In der Flexion des Pron. der ist der gegenwärtig bestehende Unterschied im Gebrauche der kürzeren und der
erweiterten Formen erst allmählich herausgebildet. Die Formen der im Gen. Sg. Fem. und im Gen. Pl. aller
Geschlechter und den im Dat. Pl., die jetzt auf den adjektivischen Gebrauch beschränkt sind, kommen im
siebenzehnten Jahrhundert noch häufig, vereinzelt auch noch im achtzehnten im substantivischen vor, z. B. bei
Goethe die Krone, der mein Fürst mich würdig achtet. Dagegen werden umgekehrt derer, denen adjektivisch, selbst
als blosser Artikel gebraucht, vgl. z. B. derer Dinge, derer Leute (Logau), derer Gesetze (Klopstock); zu denen
dingen, zu denen stunden [Paul, Prinzipien] [258 Vierzehntes Kapitel. Bedeutungsdifferenzierung.] (Heinrich von
Wittenweiler, 15. Jahrh.); noch im achtzehnten Jahrh. ist denen in dieser Verwendung häufig in der Schriftsprache,
und noch ist dene mit der üblichen Apokope des n die allgemein herrschende Form in alemannischen und
südfränkischen Mundarten. Ferner ist der gegenwärtig bestehende Gebrauch, dass deren auf den Gen. beschränkt ist,
dagegen im Dat. ausschliesslich der verwendet wird, gleichfalls erst sekundär herausgebildet, vgl. von deren ich
reden, in deren die schmeichler seind (Gailer von Keisersberg), o Fürstin, deren sich ein solcher Fürst verbunden
(Weckherlin). Endlich ist auch der merkwürdige Unterschied, den man jetzt in der Anwendung der Formen derer
und deren macht, erst allmählich herausgebildet; vgl. wie viel seind deren die da haben (Pauli) und umgekehrt mit
mancher Kunst, derer sichs gar nit schemen thar (P. Melissus).

Schaffen als st. Verb. und schöpfen sind aus demselben Paradigma entsprungen: got. skapjan, Prät. skop. Zum Prät.
scuof hat sich im Ahd. neben der alten Form scephen ein neues regelmässiges Präs. scaffan gebildet; im Mhd. ist
dann weiter zu schepfen ein Prät. schepfete und ein Part. geschepfet gebildet. Im Mhd. sind schuof, geschaffen und
schepfete, geschepfet gleichbedeutend, vereinigen die Bedeutung der beiden neuhochdeutschen Wörter in sich.
Dieselbe Vereinigung findet sich im Präs. schepfen. Das Präs. schaffen erscheint allerdings von vornherein auf die
Bedeutung »schaffen« beschränkt.

Zücken und zucken sind ursprünglich gleichbedeutende Doppelformen, vgl. der schon das Schwert zucket (Le.) - den
Anblick eines Zückenden (Herder). Ebenso drücken und drucken.

Die Konjunktion als ist durch alse hindurch aus alsô entstanden. Im Mhd. sind beide vollkommen gleichbedeutend,
beide nach Belieben demonstrativ oder relativ. Ebenso wenig besteht ein Unterschied der Bedeutung zwischen
danne und denne, wanne und wenne. Die jetzige Verschiedenheit des Gebrauches ist durch einen ganz langsamen
Prozess entwickelt, und die Zufälligkeit der Entstehung zeigt sich noch an dem Mangel eines logischen Prinzipes
der Differenzierung. Sekundär ist auch der jetzige Unterschied von warum und worum.

Das Partizipium des Intransitivums verdorben und das des entsprechenden Transitivums verderbt haben sich so
geschieden, dass das letztere nur noch in moralischem Sinne gebraucht wird. Sekundär ist auch der
Bedeutungsunterschied von bewegt und bewogen, vgl. z.B. das Meer . . vom Winde bewogen (Prätorius), der hat im
Tanze nicht die Beine recht bewogen (Rachel), dagegen dass er dadurch bewegt ward, solches in eigener Person zu

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

erfahren (Buch der Liebe).

Die Wörter auf -heit, -keit, -schaft, -tum sind früher wesentlich gleichbedeutend. Sie können sämtlich eine
Eigenschaft bezeichnen, manche [259 Doppelformen und Synonyma.] haben daneben eine Kollektivbedeutung
entwickelt. Auch Wörter auf -nis und einfachere Bildungen wie Höhe, Tiefe berührten sich vielfach mit ihnen. So ist
es auch bis jetzt im Ganzen geblieben, aber im Einzelnen haben sich da, wo mehrere dieser Bildungen
nebeneinander standen, diese meistens irgendwie differenziert. Fälle, in denen die verschiedenen Gebrauchsweisen,
die sich jetzt auf mehrere solcher Bildungen verteilen, einmal vollständig in jeder derselben vereinigt waren, sind
allerdings nicht so häufig, doch vgl. Gemein(d)e, Gemeinschaft, von denen auch Gemeinheit ursprünglich in der
Bedeutung nicht geschieden war. Bemerkenswert sind auch Kleinheit - Kleinigkeit, Neuheit - Neuigkeit. Beispiele
für die frühere unterschiedslose Verwendung des ersten Paares sind im deutschen Wb beigebracht, vgl. so verhält es
sich auch mit gewissen Kleinheiten, die es im Haushalt nicht sind (Goethe-Zelterscher Briefwechsel) - die
ausnehmende Kleinigkeit der Masse (Kant). Über das zweite Paar lehrt Adelung, Neuheit werde gebraucht »als ein
Konkretum, eine neue bisher nicht erfahrne oder erkannte Sache, wofür doch Neuigkeit üblicher ist«, dagegen »die
Neuigkeit einer Nachricht, einer Empfindung, eines Gedankens u. s. f., wofür jetzt in der anständigen Sprechart
Neuheit üblicher ist«.

Entsprechend verhält es sich mit den Adjektiven auf -ig, -isch, -lich, -sam, -haft, -bar, bei denen die jetzt
bestehenden Bedeutungsverschiedenheiten nicht auf Bedeutungsverschiedenheiten der Suffixe an sich beruhen. Ein
treffendes Beispiel ist ernstlich - ernsthaft, vgl. für den älteren Gebrauch die stets gar ernstlich und sauer sieht
(Ayrer) - der ernsthaft fleisz (Fischart).

Im Mhd. sind sô und als (alsô, alse) ganz gleichbedeutend, beide sowohl demonstrativ als relativ. Im Nhd. sind sie
differenziert, zunächst in der Weise, dass so im allgemeinen als Dem., als als Rel. gebraucht wird, vgl. z. B. so wohl
als auch (mhd. sô wol sô oder als wol als), so bald als. Doch Reste des demonstrativen Gebrauchs sind alsbald und
alsdann. Im Mhd. hat lîhte wie vil lîhte die Bedeutung von nhd. leicht und vielleicht. Die Beschränkung der Form
ehe auf die Konjunktion ist sekundär. Noch Gleim schreibt ehe als Klopstock, Goe. er soll eh gewonnen als verloren
haben.

Im Mhd. kann sichern so viel bedeuten wie nhd. versichern und umgekehrt versichern so viel wie nhd. sichern (z. B.
die stat mit mûren und mit graben v.). Die Unterscheidung von sammeln, Sammlung und versammeln, Versammlung
ist dem älteren Nhd. noch fremd; vgl. Moses und Aron . . sammelten auch die ganze Gemeinde, Gott ist fast mächtig
in der samlunge der heiligen (Lu.). - des festlichen Tages, an dem die Gegend mit Jubel Trauben lieset und tritt und
den Most in die Fässer versammelt (Goe.); die Linsen sind gleichsam eine Versammlung [260 Vierzehntes Kapitel.
Bedeutungsdifferenzierung.] unendlicher Prismen (Goe.); dass sie (die Juden in ihrer Zerstreuung) keiner
Versammlung mehr hoffen dürfen (Lu.). Das einfache öffnen wird früher wie jetzt eröffnen in dem übertragenen
Sinne »offenbaren« gebraucht, vgl. du versprichst mir deine Gedanken zu öffnen. Ein ähnliches Verhältnis besteht
öfters zwischen Simplex und Kompositum oder zwischen verschiedenen Kompositis, die ein gemeinsames Simplex
haben.

Bei einem Teile dieser Fälle lassen sich die wahrscheinlichen Ursachen angeben, warum die Verteilung der
Bedeutungen gerade so und nicht anders erfolgt ist. So begreift es sich z. B., wenn der Plur. auf -er (Wörter etc.) da
zur Herrschaft gelangt ist, wo die Vorstellung einer Mehrheit schärfer ausgeprägt ist. Aber meistens lassen sich
solche Ursachen nicht auffinden. Wir werden anerkennen müssen, dass eine innere Beziehung zwischen Lautgestalt
und Bedeutung nicht vorhanden zu sein braucht,[4]) dass vielmehr die Entwickelung durch allerlei zufällige und
darum für uns unerkennbare Bedingungen bestimmt ist. Manchen von den besprochenen Differenzierungen hat erst
die Autorität einzelner Grammatiker zur Durchführung verholfen.

§ 178. Es müssen hier auch einige Vorgänge besprochen werden, die zwar nicht eigentlich Differenzierungen sind,
die aber aus den nämlichen Grundprozessen entspringen wie diese und daher für deren Beurteilung wichtig sind.
Den Ausgangspunkt bildet dabei nicht totale, sondern partielle Gleichheit der Bedeutung.

Der partiellen Gleichheit kann eine totale vorangegangen sein, die zunächst dadurch aufgehoben ist, dass das eine
Wort eine Bedeutungserweiterung erfahren hat, die das andere nicht mitgemacht hat. Dann ist sehr häufig die
weitere Folge, dass das erste aus seiner ursprünglichen Bedeutung von dem letzteren ganz herausgedrängt und auf
die neue Bedeutung beschränkt wird. Kristentuom und kristenheit werden zwar schon von Walther v. d. Vogelweide
im heutigen Sinne einander gegenübergestellt, aber das letztere wird doch mhd. auch noch in der Grundbedeutung =
Christentum gebraucht, vgl. z. B. Tristan 1868 (von einem zu taufenden Kinde) durch daz ez sîne kristenheit in
gotes namen empfienge. Mhd. wîstuom bedeutet dasselbe wie wîsheit, daneben tritt aber die abgeleitete Bedeutung

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

»Rechtsbelehrung« auf, und auf diese wird dann nhd. Weistum beschränkt. Mhd. gelîchnisse kann noch in
demselben Sinne wie gelîchheit gebraucht werden, nhd. gleichnis hat diese ursprüngliche Bedeutung aufgegeben.
Indessen (indes) hat ursprünglich rein temporale Bedeutung, vgl. ich bin indess krank gewesen (Le.); aus dieser ist
es durch unterdessen verdrängt. [261 Übergreifen eines Wortes in die Funktion eines andern. Syntaktisches.]

Häufiger ist es, dass ein Wort, welches früher in seiner Bedeutung von einem anderen ganz verschieden war, irgend
einen Teil von dem Gebiete des letzteren okkupiert und dann allmählich für sich allein in Beschlag nimmt. So ist
böse auf das moralische Gebiet eingeschränkt (mhd. auch boesiu kleit u. dergl.) durch das Übergreifen von schlecht
(ursprünglich »glatt«, »gerade«). Ähnliche Einschränkungen haben erfahren: siech (ursprünglich die allgemeine
Bezeichnung für krank), Seuche, Sucht durch krank, Krankheit (ursprünglich »schwach«, »Schwäche«); arg (mhd.
auch in der Bedeutung »geizig«) durch karg (ursprünglich »klug«); als durch wie (ursprünglich Fragewort, dann
zunächst nur verallgemeinerndes Relativum), ob durch wenn.

Sehr häufig endlich ist es, dass ein neugebildetes oder aus einer fremden Sprache entlehntes Wort ein älteres aus
einem Teile seines Gebietes hinausdrängt. So hat mhd. ritterschaft auch die Bedeutung von Rittertum; nachdem das
letztere Wort gebildet ist, büsst es diese ein. So ist freundlich durch freundschaftlich angegriffen, wesentlich durch
wesenhaft, empfindlich durch empfindsam, einig durch einzig, gemein durch gemeinsam und allgemein, Lehen durch
Darlehen, Stegreif durch Steigbügel, künstlich durch kunstvoll und kunstreich, Bein durch Knochen (ursprünglich
mitteldeutsch).

Diese verschiedenen Vorgänge können in mannigfachen Verknüpfungen untereinander und mit der eigentlichen
Bedeutungsdifferenzierung erscheinen. Soll einmal die Geschichte der Bedeutungsentwickelung zu einer
Wissenschaft ausgebildet werden, so wird es ein Haupterfordernis sein, auf diese Verhältnisse die sorgfältigste
Rücksicht zu nehmen. Auch nach dieser Seite hin bestätigt sich unser Grundsatz, dass das Einzelne nur mit stetem
Hinblick auf das Ganze des Sprachmaterials beurteilt werden darf, dass nur so Erkenntnis des
Kausalzusammenhanges möglich ist. Wie schon die hier gegebenen Andeutungen erkennen lassen, ist dabei gerade
der Mangel durchgehender logischer Prinzipien charakteristisch. Der Zufall, die Absichtslosigkeit liegen zu Tage.

§ 179. Wir haben oben schon mehrfach an das syntaktische Gebiet gestreift. Auch an rein syntaktischen
Verhältnissen zeigen sich die besprochenen Vorgänge.

Im Ahd. waren in der starken Deklination des Adj. Doppelformen für den Nom. Sg. sowie für den Akk. Sg. N.
entstanden: guot - guotêr, guotiu, guotaz. Im Gebrauch dieser Formen besteht zunächst kein Unterschied. Einerseits
wird die sogenannte unflektierte attributiv vor dem Subst. gebraucht, noch im Mhd. allgemein, während sich jetzt
bis auf wenige isolierte Reste die flektierte festgesetzt hat, anderseits wird die flektierte auch da gebraucht, wo sich
später die unflektierte [262 Vierzehntes Kapitel. Bedeutungsdifferenzierung.] festgesetzt hat; so attributiv nach dem
Subst, z. B. Krist guatêr, thaz himilrîchi hôhaz Otfrid, noch im Mhd. der knappe guoter Parzival, ein wolken so
trüebez Heinr. v. Morungen neben dem üblicheren der knappe guot etc.; ferner als Prädikat: ist iuuar mieta mihhilu
Tatian, uuird thu stummêr Otfrid, vereinzelt noch im Mhd., z. B. daz daz wîte velt vollez frouwen wære Parzival 671,
19; so auch ih habetiz io giuuissaz (hielt es immer für gewiss) Otfrid, alsô nazzer muose ich scheiden Walther v. d.
Vogelw. Bei ein und beim Possessivpron. hat sich auch vor dem Subst. die unflektierte Form festgesetzt, früher
standen beide nebeneinander, vgl. sînêr sâmo, sînaz korn, einaz fisgizzi Otfrid.

Die Doppelformen ward und wurde haben sich so geschieden, dass ersteres auf die Bedeutung des Aorists
beschränkt ist, während im Sinne des Imperfektums nur das letztere gebraucht werden kann. Doch ist die Scheidung
nicht durchgeführt, weil wurde in jedem Falle angewendet werden kann. Dass auch im Idg. zwischen dem Ind. des
Impf. und dem des Aor. ursprünglich keine Bedeutungsverschiedenheit bestanden hat, dürfen wir mit ziemlicher
Sicherheit annehmen. Denn die Doppelheit ist wahrscheinlich aus einem einzigen Paradigma entstanden dadurch,
dass eine durch den wechselnden Akzent entstandene Diskrepanz zwischen den Formen nach zwei verschiedenen
Seiten hin ausgeglichen wurde. Noch auf dem uns überlieferten Zustande des Sanskrit sind die Formen nicht in allen
Klassen des Verb. geschieden. Ob man got. wiljau (ich will) einen Opt. Präs. oder Aor. nennen will, ist ganz
gleichgültig. Überhaupt wird das Tempus- und Modussystem des Idg. durch eine Anzahl von
Bedeutungsdifferenzierungen zu Stande gekommen sein, womit der entgegengesetzte Vorgang, Zusammenfall der
Bedeutung verschiedenartiger Bildungen, Hand in Hand ging.

1. Vgl. Nicolas Catherinot, Les Doublets de la Langue Françoise 1683. A. Brachet, Dictionnaire des Doublets
de la langue française, Paris 1868, Supplément, Paris 1871. Thomsen, Bedeutungsentwickelung der

139
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Scheidewörter des Französischen, Diss. Kiel 1890. Caroline Michaelis, Romanische Wortschöpfung,
Leipzig 1876 (darin vorzugsweise Beispiele aus dem Spanischen zusammengestellt, theorethische
Erörterungen namentlich S. 41ff.). Coelho, Formes divergentes de mots portugais (Romania II, 281ff.). Ca-
nello, Gli allotropi italiani (Arch. glott. ital. III, 285). O. Behaghel, Die neuhochdeutschen Zwillingswörter
(Germania 23, 257ff.). Andresen, Wortspaltungen auf dem Gebiete der neuhochdeutschen Schrift- und
Verkehrssprache (Zschr. f. deutsche Phil. 23, 265). Mätzner, Englische Grammatik² I, 221ff. Warnke, Die
neuenglischen Scheideformen, Progr. Coburg 1882. Skeat, Principles of English Etymology, S. 417. Edw.
Allen, English Doublets (Publications of the Modern Language Association of America 23, 184). Axel
Erdmann, Dubbelformer i den moderna engelskan (Upsala Universitets Årsskrift 1886). Noreen, Om ord-
dubletter i nysvenskan (ib.). Western, Om Norske Dobbelformer (Arkiv f. nordisk filologie IV, 1). Bréal,
Les doublets latins (Mémoires de la société de linguistique de Paris I, 162ff., 1868). Ders. La Sémantique,
p. 29ff.
2. C. Michaelis ist gewiss im allgemeinen im Irrtume, wenn sie (S. 42ff.) auch die dem Lateinischen
näherstehende Bedeutung der dem Lateinischen näherstehenden Form als Ergebnis einer Differenzierung
auffasst.
3. Allerdings vermag ich Rabe in der übertragenen Bedeutung nicht nachzuweisen.
4. Anderer Ansicht scheint Wundt zu sein (vgl. 2, 451ff., 463ff.), schwerlich mit Recht.

FÜNFZEHNTES KAPITEL.

PSYCHOLOGISCHE UND GRAMMATISCHE KATEGORIE.

§ 180. Jede grammatische Kategorie erzeugt sich auf Grundlage einer psychologischen. Die erstere ist ursprünglich
nichts als das Eintreten der letzteren in die äussere Erscheinung. Sobald die Wirksamkeit der psychologischen
Kategorie in den sprachlichen Ausdrucksmitteln erkennbar wird, wird sie zur grammatischen. Die Schöpfung der
grammatischen Kategorie hebt aber die Wirksamkeit der psychologischen nicht auf. Diese ist von der Sprache
unabhängig. Wie sie vor jener da ist, wirkt sie auch nach deren Entstehen fort. Dadurch kann die anfänglich
zwischen beiden bestehende Harmonie im Laufe der Zeit gestört werden. Die grammatische Kategorie ist
gewissermassen eine Erstarrung der psychologischen. Sie bindet sich an eine feste Tradition. Die psychologische
dagegen bleibt immer etwas Freies, lebendig Wirkendes, das sich nach individueller Auffassung mannigfach und
wechselnd gestalten kann. Dazu kommt, dass der Bedeutungswandel vielfach darauf wirkt, dass die grammatische
Kategorie der psychologischen nicht adäquat bleibt. Indem dann wieder eine Tendenz zur Ausgleichung sich geltend
macht, vollzieht sich eine Verschiebung der grammatischen Kategorie, wobei auch eigentümliche
Zwitterverhältnisse entstehen können, die keine einfache Einordnung in die bis dahin vorhandenen Kategorieen
zulassen. Die Betrachtung dieser Vorgänge, die wir genauer beobachten können, gibt uns zugleich Belehrung über
die ursprüngliche Entstehung der grammatischen Kategorieen, die sich unserer Beobachtung entzieht. Wir wenden
uns demnach dazu einige der wichtigsten grammatischen Kategorieen von den angedeuteten Gesichtspunkten aus zu
betrachten.

Geschlecht.[1])

§ 181. Die Basis für die Entstehung des grammatischen Geschlechtes bildet der natürliche Geschlechtsunterschied
der menschlichen [264 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und grammatische Kategorie.] und tierischen Wesen.
Wenn ausserdem noch anderen Wesen, auch Eigenschafts- und Tätigkeitsbezeichnungen ein männliches oder
weibliches Geschlecht beigelegt wird, so ist das eine Wirkung der Phantasie, welche diese Wesen nach Analogie
der menschlichen Persönlichkeit auffasst. Aber weder das natürliche Geschlecht noch das der Phantasie ist an und
für sich etwas Grammatisches. Der Sprechende konnte sich etwas als männliche oder weibliche Persönlichkeit
denken, ohne dass im sprachlichen Ausdruck das Geringste davon zu spüren war. Das sprachliche Mittel, woran wir
jetzt das grammatische Geschlecht eines Substantivums erkennen, ist die Kongruenz, in welcher mit demselben
einerseits Attribut und Prädikat, anderseits ein stellvertretendes Pronomen steht. Die Entstehung des grammatischen
Geschlechtes steht daber im engsten Zusammenhange mit der Entstehung eines wandelbaren Adjektivums und
Pronomens. Die geschlechtliche Wandelbarkeit des Adjektivms setzt voraus, dass sich der Geschlechtsunterschied
an einen bestimmten Stammausgang geknüpft hat. Diese Erscheinung liesse sich daraus erklären, dass der
betreffende Stammausgang ursprünglich ein selbständiges Wort gewesen wäre, etwa ein Pron., welchem schon
während seiner Selbständigkeit die Beziehung auf ein männliches oder weibliches Wesen zukam. Notwendig aber
ist diese Annahme nicht. Es liesse sich auch denken, dass rein zufällig sich bei diesem Stammausgange eine
überwiegende Majorität für das männliche, bei jenem eine solche für das weibliche herausgestellt hätte. Der

140
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Geschlechtsunterschied beim Pron. kann sich ebenso wie beim Adj. am Stammausgange zeigen, er kann aber auch
durch besondere Wurzeln ausgedrückt werden. Am stellvertretenden Pron. [265 Geschlecht.] hat sich
wahrscheinlich das grammatische Geschlecht am frühesten entwickelt, gerade so wie es sich an demselben da, wo es
teilweise untergegangen ist, also z. B. im Engl., am längsten erhält.

§ 182. Bei der ersten Entstehung des grammatischen Geschlechtes wird dasselbe durchgängig mit dem natürlichen
in Übereinstimmung gewesen sein. Allmählich konnten Abweichungen davon entstehen, namentlich durch den
Wandel der Wortbedeutung, auch durch bloss okkasionelle Modifikation der Bedeutung. In Folge davon macht sich
das natürliche Geschlecht wieder vollständig geltend, zunächst dadurch, dass es eine Durchbrechung der
grammatischen Kongruenz veranlasst; vgl. Fälle wie eines Frauenzimmers, die sich am artigsten gegen mich
erwiesen hatte (Goe.); die hässlichste meiner Kammermädchen (Wieland); lat. duo importuna prodigia, quos
egestas addixerat (Cic.); capita conjurationis virgis caesi ac securi percussi (Liv.); septem milia hominum in naves
impositos (Liv.); griech. ô^ phíltat', ô^ perissà timêtheìs téknon (Eur.); phíltat' Aigísthou bía (Aesch.). Von hier aus
gelangt man dann zu einem vollständigen Geschlechtswechsel. So werden im Griech. männliche Personen- und
Tierbezeichnungen ohne weiteres auch zu Femininen gemacht, indem sie auf weibliche Wesen übertragen werden.
Es stehen z. B. nebeneinander ho - hê ángelos, didáskalos, iatrós, túrannos, élaphos, híppos[2]) u. a. Umgekehrt hat
man in christlicher Zeit ein ho parthénos[3]) gemacht. Die ursprünglich neutralen Deminutiva erhalten leicht
männliches oder weibliches Geschlecht, wenn die Deminutivbedeutung verdunkelt wird. So ist die Fräulein häufig
mundartlich, auch bei älteren Schriftstellern. Wenn Kollektiva oder Eigenschaftsbezeichnungen zu
Personenbezeichnungen werden, kann ein Geschlechtswechsel die Folge sein. Dem it. la guida entspricht franz. le
guide (ursprünglich Führung); franz. le garde der Wächter ist ursprünglich identisch mit la garde die Wache; vgl.
ferner im Span. el cura der Pfarrer, el justicia der Richter; altbulgarisch junota Jugend, als Masc. Jüngling, starosta
Alter, als Masc. Dorfältester; russ. golova Fem. Haupt, Masc. Anführer. Hundsfott und Range (eigentlich
»Mutterschwein«) sind als Schimpfworte für männliche Personen Masculina geworden. Besonders häufig werden
weibliche Beinamen zu männlichen Personennamen vgl. lat. Alauda, Capella, Stella; it. Colonna, Rosa, Barbarossa,
Malaspina etc.
Massgebend für das Geschlecht ist öfters die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Wortkategorie. Dies liegt mitunter
daran, dass das Geschlecht der allgemeinen Gattungsbezeichnung das der spezielleren Benennung bestimmt. So
erfolgt dann auch ein Geschlechtswandel [266 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und grammatische Kategorie.]
leicht im Anschluss an begriffsverwandte Wörter, ein Vorgang, der unter die § 114 besprochene Art von
Kontamination einzureihen ist. So ist Mittwoch, älter mittewoche (media hebdomas), noch jetzt mundartlich als Fem.
gebraucht, zum Masc. geworden nach den übrigen Bezeichnungen der Wochentage; entsprechend franz. dimanche.
Franz. été ist Masc. geworden nach hivers etc.; minuit ist Masc. geworden nach midi. Die fremden Tiber und Rhone
haben sich der Majorität der deutschen Flussnamen angeschlossen. Im Griech. sind viele Bezeichnungen von
Bäumen und Pflanzen weiblich geworden, nachdem einmal für diese Klasse in Anlehnung an die
Gattungsbezeichnungen drûs und botánê das weibliche Geschlecht das normale geworden war.[4]) Am klarsten
zeigt sich dieser Prozess bei solchen Wörtern, die in ihrer eigentlichen Bedeutung noch ein anderes Geschlecht
aufweisen und nur in der Übertragung auf Pflanzen Feminina sind,[5]) vgl. ho kúanos Stahl - hê kúanos die wegen
der Farbenähnlichkeit danach benannte Kornblume. Ebenso neigen die Städtenamen zum Fem., vgl. hê Kéramos aus
ho kéramos Ton, hê Kissós aus ho kissós Efeu, hê Márathos aus ho márathos Fenchel, hê Ípnos aus ho ipnós Ofen,
hê Ialusós Stadt - ho Iálusos Personenname.[6])
In anderen Fällen sind formelle Gründe die Veranlassung zum Geschlechtswandel geworden. So war man im Lat.
gewohnt, dass die Wörter auf -a, soweit sie nicht Bezeichnungen für männliche Personen waren, weibliches
Geschlecht hatten. In Folge davon erscheinen auch die griechischen Neutra auf -ma bei vorklassischen und
nachklassischen Schriftstellern, jedenfalls in Anschluss an die Volkssprache als Feminina, z. B. schema, dogma,
diadema, und sie sind daher auch in den romanischen Sprachen häufig Feminina.[7]) Das dem Lat. acus
entsprechende it. ago ist Masc. Die altgriechischen Feminina auf -os sind im Neugriechischen grösstenteils beseitigt,
zum Teil durch Übertritt ins Masc., z. B. ho plátanos, ho kupárissos.[8]) Selbst das natürliche Geschlecht hat
zuweilen den Genuswandel nicht verhindert, vgl. prov. papa, profeta als Feminina.[9])
Der Widerspruch zwischen dem überlieferten Geschlechte des einzelnen Wortes und demjenigen, welches man nach
seiner Endung erwartet, kann noch in einer anderen Weise ausgeglichen werden, indem nämlich nicht das
Geschlecht, sondern die Endung vertauscht wird, [267 Geschlecht.] natürlich mit einer solchen, der das betreffende
Geschlecht regelmässig anhaftet. So erscheint im Lat. peristromum neben peristroma. Lat. socrus ergab span. prov.
suegra, port. sogra; lat. nurus it. nuora, span. nuera, port. prov. nora, afranz. nore. Auch dieses Mittels hat sich das
Neugriechische bedient, um die Feminina auf -os zu beseitigen, daher hê parthéna, hê platánê u. a. Schon im
Altgriechischen steht hê mínthê neben hê mínthos, hê ebénê neben hê ébenos u. a.[10]) In einem Teile der Fälle war
das überlieferte Geschlecht zugleich das natürliche, ein Grund mehr, dass es nicht der Endung nachgab, sondern
diese sich unterwarf. Hierher gehört es auch, dass im Griech. die männlich gewordenen a-Stämme das Nominativ-s
angenommen haben (z. B. neanías).[11])

Bis hierher bewegen wir uns auf einem ziemlich sicheren Boden. Misslich aber ist es zu entscheiden, wieweit das

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

natürliche Geschlecht der Phantasie auf den Wandel des grammatischen Geschlechtes eingewirkt hat. Die
subjektive Anschauung der einzelnen Menschen kann sich dem nämlichen Objekte gegenüber sehr verschieden
verhalten. Im heutigen Englisch kann sich diese Subjektivität bis zu einem gewissen Grade ungehemmt geltend
machen, und wir können uns danach eine Vorstellung davon bilden, wie anfänglich die Übertragung des männlichen
und weiblichen Geschlechtes auf Gegenstände, die kein natürliches Geschlecht haben, vor sich ging. In andern
Sprachen ist die freie Tätigkeit der Phantasie durch das überlieferte Geschlecht eingeschränkt; so lange dieses fest
im Gedächtnis haftet, kann sie nicht zur Geltung kommen. Eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die Tradition
wird daher immer erst den Anstoss geben müssen, damit die Phantasie nach dieser Richtung hin in Tätigkeit gerät.
Ist aber einmal das traditionelle Geschlecht dem Sprechenden gar nicht oder nicht genügend eingeprägt, so bedarf es
keiner besonders starken Erregung der Phantasie um ihn dazu zu bringen, dem betreffenden Worte ein beliebiges
Geschlecht beizulegen. Denn der Geschlechtsunterschied hat die Sprache derartig durchdrungen, dass es in vielen
Fällen unmöglich ist, das Geschlecht unbestimmt zu lassen, und man sich also für irgend eins entscheiden muss.
Unter diesen Umständen gibt oft bloss der Zufall den Ausschlag, d. h. irgend ein geringfügiger Umstand, der mit
den Momenten, die ursprünglich die Entstehung des grammatischen Geschlechtes veranlasst haben, gar nichts zu
schaffen zu haben braucht. Man denke an die Verstösse, die man in einer fremden Sprache macht.

§ 183. Was nun auch die positiven Veranlassungen für einen Wandel des Geschlechtes sein mögen, jedenfalls darf
auch die negative [268 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und grammatische Kategorie.] Veranlassung nicht
übersehen werden, die oft von entscheidenderer Bedeutung ist als die positive. Welche Rolle sie spielt, lässt sich
historisch daraus erweisen, dass diejenigen Wörter dem Geschlechtswandel besonders ausgesetzt gewesen sind, bei
denen im Zusammenhange der Rede das Geschlecht am häufigsten eines Charakteristikums entbehrt und sich
deshalb am wenigsten fest einprägt. Im Franz. sind die vokalisch anlautenden Wörter dem Geschlechtswandel
besonders ausgesetzt gewesen, weil vor ihnen der bestimmte Art. unterschiedslos l' lautet. Im Nhd. haben wir im
Plur. gar keinen Geschlechtsunterschied mehr, auch nicht am Artikel. Es ist daher natürlich, dass gerade Wörter, die
am häufigsten im Plur. gebraucht werden, ihr Geschlecht verändert haben, zum Teil in Verbindung mit einer
Veränderung ihrer Lautgestalt, die gleichfalls dadurch ermöglicht ist, das der Sing. weniger fest haftet als der Plur.,
vgl. Wange (mhd. N.), Woge (mhd. der wâc), Locke (mhd. der loc), Träne (mhd. der trahen), Zähre (mhd. der
zaher), Wolke (mhd. daz wolken), Waffe (mhd. daz wâfen), Ähre (mhd. daz äher), Binse (mhd. der binez). Wenn
ferner viele schwache Masculina weiblich geworden sind (vgl. meine Mhd. Gr. § 130, Anm. 4), so wird das damit
zusammenhängen, dass die Deklination der schwachen Masculina und Feminina im Mhd. vollkommen identisch
war. Überhaupt wird kein Wort ein grammatisches Genus annehmen, welches man mit den ihm anhaftenden
Flexionsendungen nicht zu verbinden gewohnt ist, abgesehen von den Fällen, wo das natürliche Geschlecht
einwirkt. Diese passive Bedeutung des formalen Elementes für den Geschlechtswandel ist nicht zu verwechseln mit
dem oben besprochenen aktiven Einflusse desselben, wiewohl sich nicht in jedem einzelnen Falle die Grenzlinie
scharf ziehen lässt.

§ 184. Das Neutrum ist ursprünglich nichts weiter als das Geschlechtslose, wie der Name richtig besagt. Während
das Masc. und das Fem. als psychologische Kategorieen existiert haben, bevor sie zu grammatischen wurden, hat
sich das Neutrum lediglich in Folge der formellen Abhebung der beiden natürlichen Geschlechter und in Folge der
Durchführung der Kongruenz zu einem dritten grammatischen Genus konstituiert.

Das Neutrum findet naturgemässe Anwendung, wo Beziehung auf beide Geschlechter vorliegt. Dem entspricht das
Geschlecht von Wörtern wie Kind (mhd. barn), Kalb. In den älteren germanischen Mundarten werden Pronomina
und Adjektiva, die sich auf ein Masc. und ein Fem. beziehen, in neutraler Form gesetzt. Landschaftlich ist jetzt jedes
von Personen, deren Geschlecht man unbestimmt lässt. Indessen ist dies Prinzip nicht durchgeführt, indem es durch
ein anderes durchkreuzt wird. Wenn von den deutschen Grammatikern die Bezeichnung neutral [269 Geschlecht.
Numerus.] durch sächlich wiedergegeben ist, so passt dieselbe insofern nicht, als viele Sachbezeichnungen das
grammatische männliche oder weibliche Geschlecht angenommen haben. Indessen ist ein Ansatz, das Neutrum
wirklich zur Bezeichnung des Nichtpersönlichen zu machen, von Anfang an da, und dem entspricht es dann, dass
das Masc. zur Bezeichnung des Persönlichen mit Einschluss des Weiblichen gemacht wird. Dies ist der Unterschied
von wer und was beim Fragepron., und zwar wohl schon in der idg. Grundsprache, während ein Fem. wohl von
Hause aus nicht gebildet ist. Entsprechend sind die Unterschiede beim Pron. indef. jemand - etwas (mhd. etewer -
etewaz, ieman - iht), niemand - nichts. Auch das substantivierte Neutrum des Adj., soweit kein bestimmtes Subst.
hinzuzudenken ist, dient zum Ausdruck des Nichtpersönlichen.

Numerus.[12])

§ 185. Auch der Numerus wird zu einer grammatischen Kategorie nur durch Ausbildung der Kongruenz. Auch in
den flektierenden Sprachen ist der Plur. nicht durchweg erforderlich, wo es sich um Bezeichnung einer Mehrheit
handelt. Jede Vielheit kann von dem Sprechenden wieder als eine Einheit zusammengefasst werden. Und so gibt es

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

gerade Bezeichnungen für eine bestimmte Anzahl, die singularisch sind, wie Paar, Schock, Dutzend, Mandel, wie
ursprünglich durchaus tausend, hundert und wahrscheinlich auch andere Zahlwörter. So sind ferner überhaupt die
sogenannten Kollektiva zusammenfassende singularische Bezeichnungen für Mehrheiten. Da nun die Auffassung
einer Masse als Einheit oder Vielheit so sehr vom subjektiven Belieben des Sprechenden abhängt, so kann seine
Auffassung auch in Widerspruch geraten mit derjenigen, welche durch die grammatische Form des gewählten
Ausdruckes angezeigt ist, und diese Abweichung der subjektiven Auffassung dokumentiert sich dadurch, dass sie
statt des grammatischen Numerus die Kongruenz bestimmt, was dann zum Teil auch Abweichungen im Genus zu
Folge hat.

Der häufigste Fall ist, dass auf ein singularisches Kollektivum ein Plur. folgt. In unserer gegenwärtigen
Schriftsprache, die ja überhaupt sehr stark von grammatisch - logischer Schulung beeinflusst ist, ist diese
Erscheinung sehr eingeschränkt. Aber noch im 18. Jahrhundert ist sie häufig wie im Griech. und Lat. und noch jetzt
im Engl. Vgl. ich habe mich offenbaret deines Vaters Hause, da sie noch in Egypten waren (Lu.); im vollen Kreise
des Volks entsprungen, unter ihnen lebend (Herder); civitati persuadet ut exirent (Caes.); ex eo numero, qui per eos
annos consules fuerunt (Cic.); ängstlich im Schlafe liegt das betäubte [270 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und
grammatische Kategorie.] Volk und träumt von Rettung, träumt ihres ohnmächtigen Wunsches Erfüllung (Goe.); das
junge Paar hatte sich nach ihrer Verbindung nach Engagement umgesehen (Goe.); alle Menge deines Hauses sollen
sterben, wenn sie Männer worden sind (Lu.); the whole nation seems to be running out of their wits (Smollet); Israel
aber sog aus in den Streit und lagerten sich (Lu.); dass der Rest von ihnen sich durch Libyen nach Cyrene retteten
und von da in ihr Vaterland zurückkamen (Le.); the army of the queen mean to besiege us (Sh.); pars saxa jactant
(Plaut.); concursus populi, mirantium quid rei esset (Liv.); ho óchlos êthroísthê, thaumázontes kaì ideîn boulómenoi
(Xen.).

Bei manchen Wörtern wird die Verknüpfung mit dem Plur. so häufig, dass man sie selbst als pluralisch auffassen
kann, falls kein formelles Element auf den Sing. deutet. Das ist z. B. der Fall bei engl. people Leute. Die
Entwickelung kann noch weiter gehen, indem der Widerspruch zwischen grammatischem und psychologischem
Numerus dadurch ausgeglichen wird, dass ersterer sich dem letzteren akkommodiert. So ist im Mhd. liute Leute an
Stelle des Singulars liut Volk getreten; ganz analog sind franz. gens (afranz. noch ja furent venu la gent), it. genti
(daneben noch gente), spätlat. populi (Apulejus, Augustinus), engl. folks. Im Ags. bedeutet -waru civitas, der Plur. -
ware cives. Unser die Geschwister ist hervorgegangen aus dem Kollektivum das Geschwister, welches noch im 18.
Jahrhundert üblich war. Im Got. gibt es ein kollektives Neutrum fadrein im Sinne von Eltern. Dieses verbindet man
nicht nur mit dem Plur. des Prädikats, sondern setzt auch den Artikel dazu in den Plur.: þai fadrein, þans fadrein.
Daneben erscheint es dann auch in pluralischer Form: ni skulun barna fadreinam huzdjan, ak fadreina barnam.

Es geschieht auch umgekehrt, dass ein pluralischer Ausdruck die Funktion eines Singulars erhält, indem die dadurch
bezeichneten Teile zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefasst werden. So sagt man ein zehn Mark; engl. a
two shillings; sogar there's not another two such women (Warren). Anhd. ist ein Eier in Schmalz (Rühreier). Am
leichtesten vollzieht sich dieser Übergang bei Wörtern, von denen der Sg. untergegangen ist (Pluralia tantum) oder
wenigstens nicht eine vollständig entsprechende Bedeutung hat. Vgl. mhd. ze einen pfingesten; lat. una, bina castra
etc.; engl. if a gallows were on land; there's some good news (Sh.); that cristal scales (Sh.).[13]) Schliesslich
erhalten solche Pluralia auch singularische Form. Wir gebrauchen jetzt die Festbezeichnungen Ostern, Pfingsten,
Weihnachten als Singulare (eigentlich Dative Plur.). Unser Buch ist im Got. pluralisch: bokos, eigentlich [271
Numerus.] Buchstaben; noch im Ahd. wird der Pl. für ein Buch gebraucht. Lat. castra wird zuweilen als
singularisches Fem. gefasst und bildet einen Gen. castrae; entsprechend ist festa in den romanischen Sprachen zu
einem Sing. fem. geworden. Lat. litterae im Sinne von ,Brief` wird zu it. lettera, franz. lettre; minaciae zu it.
minaccia, franz. menace; nuptiae zu franz. noce neben noces; tenebrae zu span. tiniebla neben tinieblas.

Es gibt mancherlei Gegenstände, von denen immer ein Paar zusammengehört. Ein solches Paar wurde ursprünglich
in den indogermanischen Sprachen durch den Dual bezeichnet, für den dann bei Untergang des Duals der Plur.
eintrat. Es fand aber bei manchen auch infolge der Zusammenfassung Vertauschung mit dem Sg. statt. Hose
bezeichnete ursprünglich die (strumpfartige) Umhüllung eines Beines, wobei kein Zweifel darüber aufkommen
konnte, daß der Mensch mit zwei Hosen bekleidet war. Nachdem aber die Umhüllungen der Beine mit der
Umhüllung des Unterleibs (mhd. bruoch) verbunden waren, konnte neben dem Pl. Hosen der Sg. Hose aufkommen.
Wir sprechen jetzt noch von den Brüsten eines weiblichen Wesens, früher wurde der Dual (Plur.) allgemein für die
menschliche Brust gebraucht. Ebenso sind die Singulare Nase, Tür an die Stelle alter Duale (Nasenflügel, Türflügel)
getreten.

§ 186. Abstrakt gebraucht ist das Wort eigentlich keines Unterschiedes der Numeri fähig. Da aber der äusseren
Form nach ein Numerus gewählt werden muss, so ist es gleichgültig welcher. Die Sätze der Mensch ist sterblich und
die Menschen sind sterblich sagen in abstrakter Geltung das Nämliche aus. Daher ist denn auch ein Wechsel der

143
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Numeri in den verschiedenen Sprachen gewöhnlich. Otfrid macht die Verbindung engilon joh manne. Ein Pron.,
welches sich auf einen abstrakten Ausdruck bezieht, steht zuweilen im Plur.: nicht als ob in ihm kein einziges Punkt
wäre, die hat er (Herder); ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, doch ihre Weine trinkt er gern
(Goe.); nobody knows what is to lose a friend, til they have lost him (Fielding); mhd. swer gesiht die minneclîchen,
dem muoz si wol behagen, daz sie ir tugent prîsent; jedes triftige Beiwort, an denen er glücklich ist (Herder);
insofern ein jeder Schriftsteller in einem besondern kleinen Artikel behandelt wird, die stilistisch mit einander
verbunden sind (Ebert, Christl. lateinische Lit.). Das Präd. kann im Plur. stehen: mhd. daz ieslîcher recke in den
satel saz und ir schar schihten; lat. ubi quisque vident, eunt obviam (Plaut.); uterque sumus defessi (id.); uter
meruistis culpam (id.); neuter ad me iretis (id.); it. come ogni uomo desinato ebbero; engl. neither of them are
remarkable (Blair). Die meisten indogermanischen Sprachen haben zur Bezeichnung der Allgemeinheit ein
singularisches und ein pluralisches Pronomen nebeneinander (jeder [272 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und
grammatische Kategorie.] - alle). Diese können leicht eins in das andere übergehen. So findet sich schon im Lat.
neben omnes der Sg., z. B. militat omnis amans (Ov.); im It. ist der Sg. ogni alleinherrschend geworden. Im Griech.
stehen amphóteros und amphóteroi nebeneinander. Aus beide haben sich singularische Formen herausgebildet.
Häufig ist das Neutr. beides, vereinzelt schon mhd. Ebenfalls schon mhd. ist ze beider sît, vgl. beiderseits. Im
älteren Nhd. kommen andere singularische Verwendungen des Wortes vor: beider Baum (Mathesius), mit beidem
Arm (Lohenstein), auf beyde Weise (Le.). Le. sagt auch das alles dreies auf einmal. Der Plur. jede ist namentlich im
18. Jahrhundert häufig (vgl. DWb. 4², 2290), und umgekehrt findet sich der Sg. aller im Sinne von jeder (vgl. DWb.
1, 209).

§ 187. Unanwendbar ist die Kategorie des Numerus auch bei den reinen Stoffbezeichnungen. Denn erst durch die
Berücksichtigung der Form entstehen Individualitäten, entsteht der Gegensatz von Einzeldingen und Mehrheiten.
Die Stoffbezeichnungen werden daher meistens nur im Sing. gebraucht, welcher die nicht vorhandene numeruslose
Form ersetzen muss. Aus demselben Grunde pflegen sie nicht mit dem unbestimmten Art. verbunden zu werden. Es
stellt sich aber sehr leicht ein Übergang her von einer Stoffbezeichnung zur Bezeichnung für ein Einzelding und
umgekehrt, indem die individualisierende Form leicht hinzu oder weggedacht werden kann, vgl. Haar, Gras, Blüte,
Frucht, Kraut, Korn, Rinde, Tuch, Gewand, Stein, Wald, Feld, Wiese, Sumpf, Heide, Erde, Land, Brot, Kuchen etc.
Hierher gehört auch Huhn, Schwein statt Hühnerfleisch, Schweinefleisch, lat. leporem et gallinam et anserem
(Caes.); lat. fagum atque abietem (Caes.) = Buchen- und Tannenholz. So erklärt sich auch der Sing. in Fällen wie
der Feind zieht heran; der Russe (= das russische Heer) kommt. Entsprechend gebraucht Livius die Singulare
Romanus, Poenus, eques, pedes etc. und wagt sogar die Verbindung Hispani milites et funditor Balearis. Bei Seneca
findet sich sogar multo hoste. Damit vergleiche man mit willkürlicher Beliebung des ganzen Kaufmanns (Micrälius)
u. a. (vgl. DWb. 5, 337).

§ 188. Der Sing., wiederum in der Funktion einer absoluten Form, an der die Kategorie des Numerus noch nicht
ausgeprägt ist, steht im Nhd. von vielen Wörtern nach Zahlen. Ihren Ausgang hat diese Konstruktionsweise
allerdings von solchen Fällen genommen, in denen eine wirkliche Pluralform zugrunde liegt, die nur lautlich mit der
Singularform zusammengefallen ist, so bei Mann - Pfund, Buch. Wenn aber die altertümlichen Formen sich gerade
nach Zahlen erhalten haben, und ihrer Analogie andere Wörter wie Fuss, Zoll, Mark gefolgt sind, so muss das
besondere Ursachen haben. Das Sprachgefühl empfindet [273 Numerus. Tempus.] in den altertümlichen
Verbindungen so wenig wie in den analogisch nachgeschaffenen eine Pluralform. Es ist eben gerade nach einer Zahl
kein Bedürfnis zu einem besonderen Ausdruck für die Mehrheit, da dieselbe schon hinlänglich durch die Zahl
gekennzeichnet ist.[14]) So ist man zu einer gegen den Numerus gleichgültigen, zu einer absoluten Form gelangt,
also wieder zu einem Standpunkte, wie er vor der Entstehung des grammatischen Numerus bestand.
Tempus.[15])
§ 189. Es sind verschiedene Versuche gemacht die Tempora der indogermanischen Sprachen in ein logisches
System zu bringen, wobei es nicht ohne Willkürlichkeit und Spitzfindelei abgegangen ist. Man muss sich auch hier
davor hüten sich bei den logischen Bestimmungen von den vorliegenden grammatischen Verhältnissen und bei der
Beurteilung der letzteren von rein logischen Sonderungen abhängig zu machen. Es findet keine volle Kongruenz der
logischen und grammatischen Kategorieen statt. Es kommt dazu, dass an den indogermanischen Tempora noch
manche Momente zum Ausdruck kommen, die mit Zeitabstufung direkt nichts zu schaffen haben, und für die man
neuerdings den Ausdruck Aktionsart anzuwenden pflegt.[16])

Die Kategorie des Tempus beruht, wenn wir zunächst die Aktionsart bei Seite lassen, auf dem zeitlichen Verhältnis,
in dem ein Vorgang zu einem bestimmten Zeitpunkt steht. Als solcher kann zunächst der Augenblick genommen
werden, in dem sich der Sprechende befindet, und so entsteht der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft, welchem die grammatischen Kategorieen Perfektum, Präsens, Futurum entsprechen. Ich setze das
Perfektum als den eigentlichen Ausdruck für dieses Verhältnis, nicht den Aorist, der allerdings auch in dieser
Funktion vorkommt. Die gewöhnliche Definition, dass das Perf. die vollendete, der Aor. die vergangene Handlung
bezeichne, ist eine blosse Worterklärung, mit der sich kein klarer Begriff verbinden lässt. Das Charakteristische des

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Perf. im Gegensatz zu Aor. und Imperf. liegt darin, dass es das Verhältnis eines Vorganges zur Gegenwart
ausdrückt.

Statt der Gegenwart kann nun aber ein in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegender Punkt genommen
werden, und zu diesem [274 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und grammatische Kategorie.] ist dann wieder in
entsprechender Weise ein dreifaches Verhältnis möglich. Es kann etwas gleichzeitig, vorangegangen oder
bevorstehend sein. Die Gleichzeitigkeit mit einem Punkte der Vergangenheit hat ihren Ausdruck im Imperfektum
gefunden, das ihm Vorausgegangene wird durch das Plusquamperf. bezeichnet, für das in der Vergangenheit
Bevorstehende ist kein besonderes Tempus geschaffen, man muss sich mit Umschreibungen behelfen. Das einem
Punkte der Zukunft Vorangegangene wird durch das Fut ex. bezeichnet, das von diesem aus Bevorstehende kann nur
durch Umschreibung ausgedrückt werden, das Gleichzeitige wird durch das einfache Fut. gegeben. Bei diesem
Schema hat der Aor. und das, was als Ersatz für ihn in den einzelnen Sprachen eingetreten ist, noch keine Stelle
gefunden. Was ihn im Gegensatz zu andern Tempora charakterisiert, ist zunächst nicht die Zeitstufe, sondern die
Aktionsart. Er bezeichnet etwas Momentanes, daher den Eintritt eines Zustandes oder den Abschluss eines
Vorganges. Der Ind. Aor. hat insbesondere Anwendung in der Erzählung gefunden. Dabei bezeichnet er einen in die
Vergangenheit fallenden Vorgang nicht in seinem Verhältnis zur Gegenwart, sondern im Verhältnis zu einem
andern, aber früheren Punkte der Vergangenheit. Hierbei aber wird der betreffende Vorgang nicht als noch
bevorstehend, sondern als schon erfolgt bezeichnet. Der Zeitpunkt, auf den man sich stellt, wird immerfort
gewechselt und nach vorwärts gerückt.

Was ich von dem Verhältnis der wirklich vorliegenden Tempora zu den ideal zu konstruierenden gesagt habe, gilt
uneingeschränkt nur für den Indikativ. Für Infinitiv und Partizipium wird der Zeitpunkt, nach dem man sich richtet,
durch das Verbum finitum, an welches sie angeknüpft sind, bestimmt. Es reicht daher dreifaches Tempus aus.
Dieselben Tempora, die dazu dienen das Verhältnis zu einem gegenwärtigen Augenblicke auszudrücken, werden
auch gebraucht, um das Verhältnis zu einem Punkte der Vergangenheit oder der Zukunft zu bezeichnen.[ 17]) Dies
ist auch die Ursache, warum die Partizipia in Verbindung mit einem Verb. fin. so gut geeignet sind die einer Sprache
mangelnden Tempora zu ersetzen. Der Imperativ ist seiner Natur nach immer futurisch, desgleichen der Konj. und
Opt., soweit sie bezeichnen, dass etwas geschehen soll oder gewünscht wird.

§ 190. Bevor grammatische Tempora ausgebildet waren, musste an ihrer Stelle ein und dieselbe Form funktionieren
und das Tempusverhältnis musste entweder durch besondere Wörter angedeutet oder aus der Situation erraten
werden. Eine besondere gegen den Tempusunterschied gleichgültige Form liegt nicht mehr vor. Aber die Funktion
[275 Tempus.] einer solchen versieht zum Teil das Präsens als das am wenigsten charakteristische Tempus neben
der eigentlich präsentischen. Wir können uns danach eine Vorstellung von den Verhältnissen machen, wie sie vor
der Ausbildung der grammatischen Tempora bestanden.

Als absolutes Tempus fungiert das Präs. zunächst in allen abstrakten Sätzen (vgl. § 89). Ein Satz wie der Affe ist ein
Säugetier erstreckt sich auf Vergangenheit und Zukunft ebenso wie auf die Gegenwart. Ist dem abstrakten Satze ein
anderer untergeordnet, so kann die Handlung desselben der des Hauptsatzes zeitlich vorangehend gedacht und daher
das Perf. gesetzt werden: wenn das Pferd gestohlen ist, bessert der Bauer den Stall. Dem abstrakten Satze ist also
zwar der Tempusunterschied überhaupt nicht fremd, wohl aber die Fixierung eines Ausgangspunktes.

Der konkret-abstrakte Satz hat das mit dem reinabstrakten gemein, dass kein bestimmter einzelner Zeitpunkt
massgebend ist, dass er vielmehr für eine Anzahl verschiedener Zeitpunkte gilt, weshalb in ihm das Präsens
gleichfalls Vergangenheit und Zukunft in sich schliesst. Seine Zeit ist aber doch keine absolute. Sie ist vor- und
rückwärts in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und es können innerhalb dieser Grenzen Unterbrechungen
stattfinden. Es können auch sämtliche Zeitpunkte in die Vergangenheit oder Zukunft fallen, daher kann auch das
Imperfektum oder Perfektum und das Futurum stehen.

Die abstrakten und konkret-abstrakten Sätze können, soweit sie Vorgänge bezeichnen, auch als iterativ angesehen
werden. Wir haben im Nhd. kein Mittel, die iterative Natur des Verb. anzudeuten. Daher sind Sätze wie er hinkt, er
schläft lange, er hört schlecht, spielst du Schach? an sich zweideutig. Andere Sprachen haben eigene
Ausdrucksformen für das Iterativverhältnis. Im Griech. und Lat. dient dazu bei Beziehung auf die Vergangenheit das
Imperf. im Gegensatz zum Aor. (Perf.), was aber doch wieder nicht die einzige Funktion des Imperf. ist.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Im konkreten Satze fungiert das Präs. in sehr vielen Sprachen statt des Futurums. So namentlich, wenn durch irgend
ein anderes Wort genügend bezeichnet ist, dass es sich um ein zukünftiges Geschehen handelt, vgl. ich reise morgen
ab, das nächstens erscheinende Buch; aber auch sonst, wo die Situation kein Missverständnis zulässt. Es überträgt
sich ferner der futurische Charakter des Hauptsatzes auf den Nebensatz, so dass Präs. und Perf. futurischen Sinn
erhalten, vgl. wenn er kommt, werde ich dich rufen; wenn ich die Arbeit beendigt habe, werde ich es dir sagen.
Umgekehrt findet sich im Griech. Präs. des Hauptsatzes nach Fut. des Nebensatzes, vgl. ei haútê hê pólis
lêphthê'setai, [276 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und grammatische Kategorie.] échetai kaì hê pâsa Sikelía
(Eur.).[18]) Im Ahd. wird das Präs. auch ohne jede sonstige Unterstützung futurisch verwendet.
Eine Verwendung des Präs. statt des Prät. ist uns nicht geläufig, abgesehen vom Präs. hist., bei dem doch wohl eine
wirkliche Verrückung des Standpunktes in der Phantasie anzunehmen ist. Im Sanskr. aber findet sich purâ', im
Griech. páros mit dem Präs. im Sinne des Prät., vgl. páros ge mèn oú ti thamízeis = »früher kamst du nicht häufig«
(Hom.).[19])

Es gibt ferner Fälle, in denen das Präs. sich zugleich auf Vergangenheit und Gegenwart bezieht; vgl. ich weiss das
schon lange = ich weiss es jetzt und habe es schon lange gewusst; er ist seit 20 Jahren verheiratet; so lange ich ihn
kenne, habe ich das noch nie an ihm bemerkt; seitdem er in Rom ist, hat er mir nicht geschrieben.

Das relative Zeitverhältnis zweier in die Vergangenheit oder in die Zukunft fallenden Vorgänge bleibt vielfach
unbezeichnet. Wir sagen als ich ihn erreichte neben erreicht hatte, wenn ich ihn finde neben gefunden habe. Im
Griech. steht bekanntlich in Nebensätzen der Aor. statt des lat. Plusquamp., im Lat. selbst nach postquam das Perf.;
im Mhd. steht ganz gewöhnlich das einfache Prät., wo wir jetzt die Umschreibung anwenden, welche das Plusq.
ersetzen muss. Diese ungenauere Verwendung der Tempora ist die altertümlichere. Das Plusquamp. ist erst eine
sekundäre Bildung. Noch gewöhnlicher wird das relative Zeitverhältnis beim Part. vernachlässigt, wobei zum Teil
der Mangel der eigentlich erforderlichen Formen mitwirkt. Vgl. in Zug ans Land steigend, kehrten wir im Ochsen
ein (Goe., weitere Beispiele bei Andr. Sprachg. 112); haec Maurus secum ipse diu volvens tandem promittit (Sall.,
vgl. weitere Beispiele bei Draeg. § 572). Umgekehrt erscheint im Lat. das Part. Perf. mit präsentischer Bedeutung:
moritur uxore gravida relicta (Liv., vgl. Draeg. § 582). Das Part. auf -ndus wird nicht nur futurisch, sondern in
selteneren Fällen auch präsentisch verwendet: volvenda dies, volvendis mensibus (Virg.); alienos fundos signis
inferendis petebat (Cic.); nec vero superstitione tollenda religio tollitur (Cic., vgl. Draeg. § 599). Das deutsche
sogenannte Part. Perf. vereinigt präsentische und perfektische Bedeutung, oder, richtiger gesagt, es kann durativ
gebraucht werden oder zur Bezeichnung des Abschlusses eines Vorganges, vgl. z. B. der noch immer betrauerte,
früh verstorbene Vater.[20]) Daher auch in der älteren Sprache bei der Umschreibung des Pass. das Schwanken
zwischen den Verben sein und [277 Tempus.] werden, das sich erst allmählich zugunsten des letzteren entschieden
hat.
§ 191. Für die Bedeutung der grammatischen Tempora können noch manche Momente sekundärer Natur in Betracht
kommen. Da z. B. ein stattgehabter Vorgang ein Resultat zu hinterlassen pflegt, so kann bei der Angabe, dass ein
Vorgang stattgehabt hat, das nachgebliebene Resultat mitverstanden werden, und dieses eigentlich nur Akzidentielle
in der Bedeutung kann zur Hauptsache werden. Indem aber das Resultat als die eigentliche Bedeutung angesehen
wird, muss die Bedeutung des Perf. als präsentisch erscheinen. Es hat auch die Ansicht Vertretung gefunden, dass
dies die ursprüngliche Funktion des idg. Perf. gewesen sei,[21]) so dass also die Entwickelung den umgekehrten
Verlauf genommen hätte. Diese Annahme ist kaum richtig, lässt sich jedenfalls nicht erweisen. Sicher aber liegt
dieser umgekehrte Verlauf vor bei dem deutschen umschriebenen Perf.[22]) Die Doppelnatur desselben zeigt sich z.
B. an den verschiedenartigen Zeitbestimmungen, die es zu sich nehmen kann, vgl. er ist gestern angekommen - jetzt
ist er angekommen (so kann man auch sagen, wenn die Ankunft schon vor einiger Zeit erfolgt ist). Untergang des
eigentlichen Präs. führt dann zu dem, was man in der deutschen Grammatik Präteritopräsens nennt.

In dem nämlichen logischen Verhältnis, wie das Präs. zu dem das Resultat bezeichnenden Perf. steht, können auch
verschiedene Verba zueinander stehen, vgl. treten - stehen, fallen - liegen, verstummen - schweigen, erwachen -
wachen, entbrennen - brennen, sich setzen - sitzen etc. Während hier das Geraten in einen Zustand und das
Sichbefinden in demselben durch zwei verschiedene sprachliche Ausdrücke wiedergegeben wird, gibt es auch Fälle,
in denen das gleiche Verb. beides bezeichnen kann. Im Mhd. können sitzen, stân, ligen, swîgen den Sinn von sich
setzen, treten, sich legen oder fallen, verstummen haben; vgl. nhd. aufsitzen, aufstehn, abstehn etc. und den jetzigen
oberdeutschen Gebrauch von sitzen. In Folge davon können mhd. ich bin gesezzen und ich sitze gleichbedeutend
sein. Entsprechend ist es, wenn im griech. pheúgô bedeuten kann »ich bin verbannt«, adikô^ »ich bin im Unrecht«.
Hierher gehört es auch, wenn Vorgänge, die der Vergangenheit angehören, deshalb durch ein Präsens bezeichnet
werden, weil ihre Wirkung fortdauert, vgl. er lässt dich grüssen; der Herr schickt mich; ich höre, dass er
zurückgekehrt ist; er schreibt mir, dass alles gut steht etc. So gebraucht man im Griech. akoúô, punthánomai, [278
Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und grammatische Kategorie.] aisthánomai, manthánô u. dergl., und
entsprechend verfahren andere Sprachen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 192. Wir haben schon oben § 189 gesehen, dass die modalen und temporalen Verhältnisse nicht unabhängig
voneinander sind. Da es für den Imperativ charakteristisch ist, dass er einen in die Zukunft fallenden Vorgang
bezeichnet, so begreift es sich, dass das Fut. mit Hilfe der Situation und des Tonfalles imperativisch verstanden
werden kann, vgl. du wirst das sofort tun. Ebenso kann das Fut. optativisch werden, vgl. sic me di amabunt, ut me
tuarum miseritumst fortunarum (Ter.). In den Frageaufforderungssätzen (vgl. § 94) fungieren Konj. und Fut. in der
gleichen Weise, vgl. lat. quid faciamus mit griech. tí poiê'somen. Sogar als Potentialis kann das Fut. gebraucht
werden, vgl. das wird sich so verhalten; entsprechend in der lat. Volkssprache, z. B. haec erit bono genere nata
(Plaut.), vgl. Draeg. § 136; über den nämlichen Gebrauch in den romanischen Sprachen vgl. Diez III, 282; Mätzn.,
Franz. S. 72, 3. 4. 75, 2. Man kann an zwei verschiedene Erklärungen für diese Erscheinung denken. Erstens: da
alles in die Zukunft Fallende etwas Unsicheres ist, so könnte die Bedeutung des Fut. sich so entwickelt haben, dass
nur das Moment der Unsicherheit übrig geblieben wäre. Zweitens aber könnten wir einen Satz wie er wird zu Hause
sein auffassen als »es wird sich herausstellen, dass er zu Hause ist«. Ein Prät. zu diesem potentialen Fut. ist der
französische Conditionel. Derselbe bezeichnet ursprünglich den von einem Zeitpunkte der Vergangenheit aus
zukünftigen Vorgang, wie z. B. noch in dem Satze nous convînmes que nous partirions le lendemain. Als
eigentlicher Conditionel kann er futurischen Sinn haben, muss es aber nicht. Auch im Deutschen gebrauchen wir
entsprechend futurische Umschreibung, die nicht notwendig futurischen Sinn hat, aber im Konj.: ich würde
zufrieden sein. Wie das Fut. in eine modale Bedeutung übergeführt worden ist, so ist umgekehrt im Lat. der Konj.
zum Fut. geworden.

Genus des Verbums.[23])

§ 193. Während die Tempora und die Modi an und für sich nichts Syntaktisches sind und nur durch die Beziehung
aufeinander, also erst im zusammengesetzten Satz zum Ausdruck syntaktischer Verhältnisse werden, ist der
Unterschied zwischen Aktivum und Passivum von Hause aus syntaktischer Natur, indem dadurch nichts anderes
als ein verschiedenes Verhältnis des Prädikatsverbums zum Subj. ausgedrückt wird. Was neben dem Akt. Objekt ist,
wird neben dem Pass. Subjekt. Die Anwendung des Passivums ermöglicht es daher ein psychologisches [279
Tempus und Genus des Verbums.] Subjekt, welches sonst die grammatische Form des Objektes annehmen müsste,
auch zum grammatischen Subj. zu machen, und dies ist ein Hauptgrund für den Gebrauch der passivischen
Konstruktion. Im unpersönlichen Satze ist es an und für sich einerlei, ob man das Akt. oder das Pass. setzt. Der
Sprachgebrauch hat sich so geregelt, dass diejenigen Verba, die normaler Weise persönlich konstruiert werden,
wenn sie ausnahmsweise unpersönlich gebraucht werden, in das Passivum gesetzt werden (es wird gesungen,
getanzt etc.), während bei den normaler Weise unpersönlichen Verben das einfachere Aktivum gesetzt wird (es
regnet, es taut etc.). Es kommen aber Berührungen zwischen aktiver und passiver Konstruktion vor, vgl. der Wald
rauscht - es rauscht, das Haus brennt - es brennt. In den altnordischen Sagas findet sich sehr häufig in den
Einleitungen zu einem Abschnitte die Formel hér segir hier sagt es = hier wird gehandelt. Im Mittellateinischen ist
dicit gleich einem dicitur der klassischen Zeit. In einer Überschrift des althochdeutschen Isidor heisst es hear
quidhit umbi dhea bauhnunga = hier wird gehandelt von der vorbildlichen Darstellung; Ähnliches auch sonst.
Entsprechend ist im Altnordischen der Gebrauch von skal in dem Sinne »man soll (wird)« und anderes.

§ 194. Der Gegensatz zwischen Akt. und Pass. konnte sich erst herausbilden, nachdem die Scheidung zwischen
Subjekt und Objekt sich vollzogen hatte. Vorher musste jedenfalls die einfache Nebeneinanderstellung von Subj.
und Präd. sowohl das passive wie das aktive Verhältnis bezeichnen. Den Wechsel zwischen aktiver und passiver
Bedeutung können wir noch an den Nominalformen des Verbums beobachten, die in ihrer Bildungsweise nichts an
sich haben, was auf die eine oder die andere hinweist.

Das Part. Präs. erscheint im früheren Nhd. öfters in passivem Sinne, vgl. seine dabei hegende verräterische Absicht
(Thümmel), dem in petto habenden Gedicht (Schi.).[24]) Besonders häufig ist vorhabende Reise u. dgl. Im Engl.
sagt man the horses are putting to die Pferde werden angespannt, the casinos are filling etc.[25]) Diese passivische
Verwendung ist genau so aufzufassen wie die in § 108 besprochene freie Anknüpfung des Partizipiums.
Bei unserem sogenannten Part. perf. zeigt es sich sehr deutlich, dass der Unterschied zwischen Aktivum und
Passivum nicht etwas schon der Bildung an sich Anhaftendes sein kann, da ja die Partizipia der transitiven Verba
passivisch, die der intransitiven zum Teil aktivisch gebraucht werden. Auch diese Schranke bleibt nicht vollkommen
[280 Fünfzehntes Kapitel. Psychologische und grammatische Kategorie.] gewahrt. Es entstehen Wendungen wie das
den Grafen befallene Unglück (Goe.), des den Erwartungen nicht entsprochenen Aufenthalts (Gutzkow);
stattgefunden, stattgehabt sind ziemlich allgemein.[26]) Namentlich aber sind eine Anzahl Partizipia transitiver
Verba in aktiver Bedeutung zu reinen Adjektiven geworden, vgl. erfahren, verdient, geschworen, gereist, gelernt,
studiert u. a.

Im Lat. haftet den Partizipien auf -endus, -undus der passivische Sinn ursprünglich nicht notwendig an, vgl.
oriundus, dem sich bei älteren Schriftstellern noch andere wie pereundus untergehend, placendus gefallen etc. an die

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Seite stellen. Ähnliche Beobachtungen lassen sich noch weiter im Lat. wie in andern Sprachen machen.

Dem Inf. ist ursprünglich so gut wie dem Nom. actionis der verbale Genusunterschied fremd. Etwas von
Genuscharakter erhält er zunächst einerseits dadurch, dass ein Objektskasus von ihm abhängig gemacht wird,
anderseits dadurch, dass er auf das Subj. des regierenden Verbums mitbezogen wird (er kann lesen); ferner auf ein
anderes in dem Satze enthaltenes Wort, zu welchem er in keinem direkten grammatischen Verhältnis steht ( befehlen
steht ihm übel an, durch fliehen kann er sich retten etc.). Eine solche Beziehung ist an sich nicht durchaus nötig. Sie
findet z. B. nicht statt in einem Satze wie er befiehlt zu schweigen oder Not lehrt beten. Hier ist der Inf. im Grunde
weder aktiv noch passiv, sondern genuslos. Im Gotischen steht nicht selten der einfache Inf. an Stelle des
griechischen Inf. pass. in Fällen, wo auch wir jetzt den umschriebenen passivischen Inf. anwenden, z.B. warþ þan
gaswiltan þamma unledin jah briggan fram aggilum = egéneto dè apothaneîn tòn ptôchòn kaì anenechthê^nai hupò
tô`n angélôn.[27]) Es wird dies unter Berücksichtigung der ursprünglich neutralen Natur des Infinitivs ganz
begreiflich. Andererseits aber begreift es sich auch, wie das Bedürfnis in den einzelnen indogermanischen Sprachen
allmählich zur Schöpfung eines passiven Infinitivs führen musste. Am meisten Bedürfnis zur Verwendung eines
solchen war natürlich in denjenigen Sprachen, in denen sich der Akk. zum Subjektskasus des Infinitivs
herausgebildet hat.

§ 195. Ein grammatisches Passivum besteht nur da, wo dasselbe aus dem gleichen Stamme wie das Aktivum
gebildet und von demselben durch eine besondere Formationsweise geschieden ist. Annähernd analog dem
Verhältnis von Pass. zu Akt. ist das Verhältnis eines Intransitivums zu dem entsprechenden Kausativum, vgl. fallen -
fällen, hangen - hängen und die nicht aus der nämlichen Wurzel entsprungenen [281 Genus des Verbums.] Paare
werden - machen, sterben - töten, (hin)fallen - (hin)werfen. Doch besteht der Unterschied, dass bei dem
Intransitivum nicht so normaler Weise wie beim Pass. an eine wirkende Ursache gedacht wird. Dieser Unterschied
ist aber leicht verwischbar. Man sagt im Griech. apothnê'skein hupó tinos. Im Lat. wird fio im Präs. vollständig als
Pass. zu facio verwendet.

Das Passivum der indogermanischen Sprachen ist aus dem Medium entstanden. In analoger Weise haben in einer
späteren Epoche die skandinavischen Sprachen ein neues Passivum gleichfalls aus dem Medium gewonnen. Von
diesem skandinavischen Medium steht es fest, dass es durch Verschmelzung des Aktivums mit dem Reflexivpron.
entstanden ist. Im Deutschen haben wir keine formelle Verschmelzung des Reflexivpron. mit dem Verb., wohl aber
eine funktionelle. In einem Satze wie er hat sich getötet ist das Verhältnis von Subj. und Obj. kein anderes wie in er
hat ihn getötet. Es bleibt dabei die Vorstellung von einem tätigen Subjekte und die von einem Objekte, auf das die
Tätigkeit übergeht, gesondert. In anderen Fällen aber verschmelzen beide Vorstellungen miteinander, wovon die
Folge ist, dass das Reflexivum einen an dem Subjekte sich vollziehenden Vorgang bezeichnet, vgl. sich regen,
stellen, setzen, legen, heben, senken, drehen, wenden, schwingen, nähern, entfernen, klären, lösen, versuchen,
freuen, verwundern, irren und viele andere. Das Verhältnis dieser Reflexiva zu den entsprechenden Aktiven ist im
wesentlichen das gleiche wie das der oben angeführten Intransitiva zu den entsprechenden Kausativen. In ihnen ist
ein teilweiser Ersatz für das indogermanische Medium geschaffen, dessen Funktion allerdings eine noch
weitergehende war. Erhält sich ein Verb. bloss als Reflexivum (vgl. sich schämen), so haben wir ein Pendant zu den
Medien des Griechischen, die kein Aktivum neben sich haben und zu den lateinischen Deponentia. Den Übergang
vom Medium zum Passivum können wir dann wieder in Parallele stellen mit dem oben erwähnten Gebrauch der
Intransitiva fio und apothnê'skô. Aus dem Nhd. sind am nächsten zu vergleichen Wendungen wie das lässt sich
hören, das hört sich gut an.

1. Vgl. zu diesem Abschnitt besonders Jellinek IF 19, 295ff. (über Theorieen der älteren Grammatiker).
Grimm Gr. III, 311-563 u. Kl. Schr. III, 349ff. Reisig, Vorlesungen über lateinische Sprachw. § 94-102.
Diez III, 92-8. Meyer-Lübke, Rom. Gramm. II § 19, III § 40-46. Miklosich IV, 17-37. Schroeder S. 89.
Brugmann, Z. f. Spr. 24, 34ff. u. IF 21, 315. Delbrück SF IV, 4-13 u. Syntax, Kap. I. W. Meyer, Die
Schicksale des lateinischen Neutrums im Romanischen, Halle 1883. Lange, De substantivis Graecis femini-
ni generis secundae declinationis capita tria, Lipsiae 1885 (Diss.). Armbruster, Geschlechtswandel im
Französischen, Karlsruhe 1888. Michels, Zum Wechsel des Nominalgeschlechts im Deutschen I (Leipz.
Diss.), Strassburg 1889. Blumer, Zum Geschlechtswechsel der Lehn- und Fremdwörter im Hochdeutschen,
Progr. Oberrealschule Leitmeritz 1890-91. Polzien, Geschlechtswandel der Substantiva im Deutschen,
Hildesheim 1903. Ch. B. Wilson, The Grammatical Gender of English Words in German (Americana
Germanica 1899). Wilmanns, Deutsche Grammatik 3 § 341-342. Paul, Deutsche Grammatik III, § 38-40, §
54-75. Die Frage nach dem Ursprung des grammatischen Geschlechtes ist lebhaft diskutiert, vgl. Brugmann
in Techmers Zschr. IV, 101. Roethe im Vorwort des 3. Bandes d. Grimm'schen Grammatik. Brugmann,
Beitr. z. Gesch. d. deutschen Sprache u. Lit. 15, 523. Roethe, Anzeiger f. deutsches Altertum 17, 181.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Michels, Germania 36, 121. Henning, Zschr. f. vgl. Sprachf. 33, 402. Jacobi, Kompositum und Nebensatz,
S. 115ff. Wheeler, The origin of grammatical gender (Journal of Germ. Philol. 2, 528).
2. Vgl. Lange a. a. O. S. 27ff.
3. Vgl. Lange S. 28.
4. Vgl. Lange a. a. O. S. 35ff.
5. Vgl. ibid. S. 11.
6. Vgl. Lange a. a. O. S. 42ff.
7. Vgl. das Nähere bei W. Meyer S. 93ff.
8. Vgl. Hatzidakis, Zschr. f. vgl. Spr. 27, 82, Lange a. a. O. S. 9.
9. Vgl. W. Meyer S. 9.
10. Vgl. Hatzidakis und Lange a. a. O.
11. Vgl. J. Grimm, Kl. Schr. S. 357.
12. Vgl. Tobler, Zschr. f. Völkerps. 14, 410. Delbrück, Syntax, Kap. II.
13. Vgl. weitere Beispiele aus dem Engl. bei Storm, Englische Phil. I, S. 215.
14. im Ungarischen unterbleibt neben Zahlwörtern durchgängig die Bezeichnung des Plurals.
15. Vgl. zu diesem Abschnitt Brugmann, Ber. der phil.-hist. Class. der sächs. Gesellsch. d. Wissenschaften
1883, S. 169ff.; Delbrück, Syntax, Kap. XVI-XXVIII, wo man auch weitere Literatur verzeichnet findet.
16. Über Aktionsart im Arabischen vgl. Reckendorf S. 172-5. Sehr ausgebildet sind die Bezeichnungen der
Aktionsart im Ungarischen, vgl. Simonyi S. 284ff. [Paul, Prinzipien]
17. Vgl. Brugmann a. a. O. S. 174.
18. Vgl. Brugmann a. a. O. S. 170.
19. Vgl. ib. S. 170ff.
20. Vgl. meine Abhandlung »Die Umschreibung des Perfektums im Deutschen mit haben und sein« (Abh. der
bayer. Akad. I. Cl. XXII Bd. I. Abt.) S. 162.
21. z. B. durch Delbrück.
22. Vgl. meine Abhandlung S. 164ff.
23. Vgl. Delbrück Syntax, Kap. XXXI.
24. Vgl. Grimm Gr. IV, 66. Andr. Sprg. 82.
25. Vgl. Mätzner II, S. 56.
26. Vgl. Andr. Spr. S. 83ff.
27. Vgl. Gram. IV, 57ff.

SECHZEHNTES KAPITEL.

VERSCHIEBUNG DER SYNTAKTISCHEN GLIEDERUNG.

§ 196. Wir haben schon in Kap. VI gesehen, dass die Gliederung eines Satzes, die Art und Weise, wie man seine
Bestandteile zu engeren und weiteren Gruppen zusammenfasst, etwas leicht Verschiebbares ist. Es ist dort auch
bereits angedeutet, dass geradezu ein Gegensatz zwischen dem psychologischen (logischen) Verhältnis der
Satzbestandteile untereinander und ihrem rein grammatischen Verhältnis entstehen kann. Die syntaktischen
Formen wie die Kasus etc. sind zunächst für bestimmte Satzteile wie Subj., Obj., Bestimmung eines Substantivums
etc. geschaffen. Sie bezeichnen aber zugleich ein bestimmteres Verhältnis, als es die blosse Aneinanderreihung der
Wörter vermag. Indem nun die Mittel zu einer solchen bestimmteren Bezeichnung verwertet werden, zugleich aber
die alte, nie ganz zu vernichtende Freiheit in der Verknüpfung der Begriffe waltet, entsteht ein Widerspruch, aus
welchem sich dann, wenn er usuell wird, neue Konstruktionsweisen entwickeln. Die Abweichung von der äusseren
grammatischen Form besteht dabei teils in einer anderen Zusammenfassung und Trennung der einzelnen Elemente,
teils in einer anderen psychologischen Anordnung derselben, wodurch Subj., Präd., Obj., etc. ihre Rollen tauschen.

§ 197. Zweigliedrigkeit ist, wie wir gesehen haben, die Urform des Satzes. Auch die inhaltsreichsten Sätze können
zweigliedrig bleiben, indem alle Bereicherung in einer Erweiterung der beiden Glieder besteht. Es entsteht aber
auch, wie wir gleichfalls schon gesehen haben, durch die Wiederholung des Verhältnisses von Subj. und Präd. eine
Vielgliedrigkeit. Aus dieser nun kann sich wieder eine einfachere Gliederung herausbilden, indem mehrere Glieder
zu einem zusammengefasst werden ohne Rücksicht auf diejenige Gliederung, welche die historische Entwickelung
der betreffenden Satzform verlangen [283 Psychologische und grammatische Gliederung. Prädikat.] würde. Das
Durchbrechen der ursprünglichen Gliederung kann dann sogar noch weiter gehen, indem auch Bestimmungen des
Subj. von demselben losgelöst und mit anderen Elementen verbunden werden, ebenso des Objekts.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Vielgliedrigkeit des Satzes infolge von annähernder Gleichwertigkeit der einzelnen Elemente findet sich besonders
bei ruhiger, zusammenhängender Darstellung. Die gewöhnliche Unterhaltung neigt immer zu Zwei- und
Dreigliedrigkeit.

Am schärfsten von den übrigen Gliedern des Satzes sondert sich zunächst das psychologische Präd. ab als das
wichtigste, dessen Mitteilung der Endzweck des Satzes ist, auf welches daher der stärkste Ton fällt. Der Satz Karl
fährt morgen nach Berlin kann als viergliedrig aufgefasst werden, wenn er ohne irgend welche Vorbereitung des
Hörers ausgesprochen wird, so dass diesem die verschiedenen Bestandteile desselben gleich neu sind. Wir können
dann sagen: zum Subj. Karl tritt das Präd. fährt, zu diesem als Subj. tritt als erstes Präd. morgen, als zweites nach
Berlin. Hierbei wird zwar naturgemäss die letzte Bestimmung etwas stärker hervorgehoben als die übrigen, aber
doch nur um ein Geringes. Dagegen bei bestimmter, dem Sprechenden bekannter Disposition des Angeredeten kann
jedes der vier Glieder scharf abgehobenes Präd. werden. Ist schon von einer Reise die Rede gewesen, die Karl
morgen macht, und nur noch das Ziel unbekannt, so ist nach Berlin Präd. Wir könnten uns dann auch ausdrücken
das Ziel der Reise, die Karl morgen macht, ist Berlin. Ist schon von einer bevorstehenden Reise Karls nach Berlin
die Rede gewesen und nur noch die Zeit unbestimmt, so ist morgen Präd., und wir können dann auch sagen die Fahrt
Karls nach Berlin findet morgen statt. Ist bekannt, dass Karl morgen nach Berlin reist und nur noch nicht, ob er
dahin geht oder reitet oder fährt, so liegt das Präd. in fährt; wir können aber doch nicht eigentlich sagen, dass fährt
psychologisches Präd. sei in Übereinstimmung mit der grammatischen Form, vielmehr ist es gewissermassen in
zwei Bestandteile zu zerlegen, ein allgemeines Verb. der Bewegung und eine Bestimmung dazu, welche die Art der
Bewegung bezeichnet, und nur die letztere ist Präd. Ist endlich bekannt, dass morgen jemand nach Berlin fährt und
besteht nur noch ein Zweifel in bezug auf die Person, so ist das grammatische Subj. Karl psychologisches Präd., und
wir könnten dann auch sagen: derjenige, der morgen nach Berlin fährt, ist Karl. Die hier besprochenen vier
Variationen eines aus den nämlichen Wörtern gebildeten Satzes entsprechen vier verschiedenen Fragen: wohin reist
Karl morgen? - wann reist Karl nach Berlin? - wie reist Karl morgen nach Berlin? - wer reist morgen nach Berlin?
[284 Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen Gliederung.]

Neben dem psychologischen Prädikate kann sich aus den übrigen Satzgliedern eins als eigentliches psychologisches
Subj. besonders herausheben, welches dann dem Prädikate an Wichtigkeit und demgemäss auch an Tonstärke am
nächsten steht. Die übrigen erscheinen dann als Bindeglieder, welche die Verknüpfung von Subjekt und Präd.
vermitteln und die Verknüpfungsweise näher bestimmen. So ist nach psychologischer Analyse in dem Satze Marie
hat Zahnschmerzen nicht hat, sondern Zahnschmerzen Präd., hat nur Bindeglied; in dem Satze Fritz pflegt sehr
schnell zu gehen ist sehr schnell Präd., pflegt zu gehen Bindeglied; in dem Satze er gebärdete sich wie ein
Besessener ist wie ein Besessener Präd., gebärdete sich Bindeglied.

§ 198. Jedes Satzglied, in welcher grammatischen Form es auch erscheinen mag, kann psychologisch betrachtet
Subjekt oder Prädikat oder Bindeglied sein, respektive ein Teil davon. Subjekt und Prädikat können dabei ausser
durch die Betonung durch die Stellung markiert werden. Tritt im Deutschen statt der normalen Voranstellung des
grammatischen Subjektes Voranstellung eines anderen Satzteiles ein, so ist dieser entweder psychologisches Subjekt
oder psychologisches Prädikat, ersteres häufiger als letzteres. Im letzteren Falle ist dieser Teil des Satzes zugleich
der stärkstbetonte, im ersteren nicht. Die Ansicht, der man öfter begegnet, dass die Voranstellung immer dazu diene
den betreffenden Teil des Satzes über alle andern hervorzuheben, ist daher verkehrt.[1])

Regelmässig psychologisches Subj. oder ein Teil desselben ist ein an den Anfang gestelltes rückweisendes
Demonstrativum. Denn eben weil es zurückweist, vertritt es diejenige Vorstellung, von der in der Seele des
Sprechenden und des Angeredeten ausgegangen wird, woran das weitere als etwas neues angeknüpft wird. Vgl. ich
traf einen Knaben, den fragte ich; - dem sagte ich; - bei dem erkundigte ich mich; - darüber war ich erfreut. Oder
ich ging nach Hause, da fand ich einen Brief; ich sah ihn am Sonntag zum letzten Male, damals sagte er mir. Oder
Fritz war gestern bei mir; diesen Menschen möchte ich immer zum Hause hinaus werfen; aber ich muss Rücksicht
auf seine Familie nehmen; aus diesem Grunde kann ich es nicht. Ebenso ist das Relativum regelmässig
psychologisches Subjekt. Das Fragepronomen dagegen ist regelmässig Prädikat oder Teil desselben. Für die
unbestimmte Fassung desselben substituiert dann die Antwort eine bestimmte. Wenn daher Cic. sagt quam utilitatem
aut quem fructum petentes scire cupimus illa? oder tu vero quibus rebus gestis, quo hoste superato contionem
convocare ausus es?, so liegt hier das psychologische [285 Bindeglied. Grammatisches und psychologisches
Subjekt.] Prädikat nicht im Verb. finitum, sondern vielmehr im Partizipium und dem, was dazu gehört. Stets
psychologisches Präd. ist ferner derjenige Satzteil, dessen Verknüpfung mit den übrigen durch eine
Negationspartikel zurückgewiesen wird. Vgl. nicht ihn habe ich gerufen = der, den ich gerufen habe, ist nicht er;
nicht ihm habe ich das Geld gegeben = der, dem ich das Geld gegeben habe, ist nicht er; nicht für ihn war ich
besorgt = der, für den ich besorgt war, ist nicht er. Die Negation gehört daher zwar nicht immer zum
grammatischen, aber stets zum psychologischen Präd., oder richtiger sie bezieht sich immer auf die Verknüpfung
des psychologischen Subjekts mit dem psychologischen Prädikate. Prädikat ist dann natürlich auch der mit dem

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

negierten Satzteil in Parallele gestellte Gegensatz, vgl. nicht am Morgen, sondern am Mittag will ich verreisen.
Ferner jeder durch ein nur, allein, ausschliesslich u. dergl. hervorgehobene Satzteil; denn dafür kann man auch ein
nicht ein anderer (ein anderes), sondern einsetzen. Auch besonders, vor allem, am meisten u. dergl. kennzeichnen
das Präd.

§ 199. Der Widerspruch zwischen grammatischem und psychologischem Präd. lässt sich durch eine umständlichere
Ausdrucksweise vermeiden, von der in manchen Sprachen reichlicher Gebrauch gemacht wird. Vgl. Christen sind
es, die es getan haben oder von denen man es verlangt; engl. 't is thou that robbst me of my lord; franz. c'est moi qui
etc. - franz. c'est à vous que je m'adresse; engl. it is to you, young people, that I speak - was ihn am meisten ärgerte,
war ihre Gleichgültigkeit; engl. what I most prize in woman, is her affections, not her intellect - franz. il fut le pre-
mier à rompre le silence.

Ein Mittel, welches im Deutschen angewendet wird, um das, was sonst grammatisches Präd. werden müsste, zum
Subj. zu machen, ist die Umschreibung mit tun, vgl. verbieten tut es niemand.

In vielen Sprachen findet sich eine interessante Ausgleichung des Widerspruches zwischen grammatischem und
psychologischem Subjekt, nämlich in der Weise, dass das psychologische Subj. im Nom., also in der Form des
grammatischen Subjekts vorantritt und dann noch einmal durch ein Pron. wieder aufgenommen wird, dessen Form
sich nach dem rein grammatischen Verhältnis bestimmt. Vgl. engl. he that can discern the loviliness of things, we
call him poet (Carlyle);[2]) franz. cette confiance, il l'avait exprimée; it. gli amici vostri non gli conosco; mhd.
rüemære unde lügenære, swâ die sîn, den verbiute ich [286 Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen
Gliederung.] mînen sanc; span. claro é virtuoso principe, tanto esta sciencia le plugo; griech. ekeînos dè ou dô'sô
autô^ oûdén; mhd. die Hiunen durch ir haz der garte sich zwei tûsent; franz. tous ces crimes d'état qu'on fait pour la
couronne, le ciel nous en absout; it. quelli che hanno costituita una republica, tra le cose ordinate da loro è stato
(Machiavelli); griech. tò mêdèn ákontá tina exapatê^sai méga méros eis toûto hê tô^n chrêmátôn ktê^sis xumbálletai
(Plato); nhd. ach, der heiligste von unsern Trieben, warum quillt aus ihm die grimme Pein? (Goe.).[3]) Das
Possessivpron. vertritt dabei die Stelle eines Genitivs: mhd. Parzivâl der valschheitswant sîn triuwe in lêrte; engl. 't
is certain, that every man that dies ill, the ill is upon his own head (John 4, 1); span. la villa sin regidores, su triunfo
sera breva; franz. les soudans, qu'à genoux cet univers contemple, leurs usages, leurs droits ne sont point mon
exemple (Voltaire). Eine ähnliche Erscheinung ist es, wenn ein Attribut zum psychologischen Subj. im Nom.
erscheint, vgl. griech. diaskopô^n kaì dialegómenos autâ édoxé moi hoûtos ho anê'r (Plato); édoxen autoîs
apokteînai toùs Mutilênaíous epikaloûntes tê`n apóstasin (Thue.); pathoûsa hoútô deinà pròs tô^n philtátôn oudeìs
hupèr moû daimónôn mêníetai (Aesch.); franz. depuis deux jours, Fatime, absent de ce palais, enfin son tendre
amour le rend à mes souhaits (Voltaire).

Eine noch weitergehende Ausgleichung des Widerspruchs besteht darin, dass das psychologische Subj. geradezu die
Form des grammatischen erhält, also in den Nom. tritt. Am Rhein sagt man nach Andr. Spr. 80 es geben dies Jahr
nicht viele Äpfel. Ebenso wird der Nom. gebraucht nach Hildebrand, DWb 4, 1a, 1404 in Strassburg, im Osterlande,
in Thüringen und Hessen. Aus der Literatur führt Andr. an: es gibt nichts Lächerlicheres als ein verliebter Mann
(Börne). Schon Goethe (j. G. II, 465) sagt, müssen es hier Menschen geben, und Herder: gibts aber keine andere
Empfindbarkeit zu Tränen als körperlicher Schmerz? Im letzten Falle ist also wenigstens die Vergleichung so
behandelt, als gehöre sie zu einem grammatischen Subjekte.

Eine noch auffallendere Erscheinung, die hierher gehört, ist im Engl. die Umbildung einer Konstruktion wie me was
given a book zu I was given a book.[4])

§ 200. Adverbiale Bestimmungen, die gewöhnlich, wie schon der Name zeigt, einfach zum Prädikatsverbum
gezogen werden, spielen in Wirklichkeit sehr verschiedene Rollen im Satzgefüge. Einerseits sind sie wirklich
Bestimmungen des Verbums, vgl. Karl isst langsam, das Kind zappelt mit Händen und Füssen. Liegt dann in der
adver- [287 Subjekt und Prädikat. Adverbiale Bestimmungen.] bialen Bestimmung das eigentlich Wertvolle der
Mitteilung, so kann es als Prädikat, das Verbum als Bindeglied zwischen ihm und dem Subj. gefasst werden. Die
Gliederung kann aber auch die sein, dass das Adv. eine Bestimmung für die Verbindung der übrigen Glieder des
Satzes ist. Eine scharfe Grenze zwischen dieser und der erstbezeichneten Gliederung gibt es nicht. Hierher kann man
alle temporalen, lokalen und kausalen Bestimmungen ziehen. Dieselben sind dann den übrigen Bestandteilen des
Satzes gegenüber gewöhnlich psychologisches Subjekt, zuweilen auch Prädikat, vgl. morgen Abend will ich dich
besuchen, auf dem Tische liegen zwei Bücher; die Bücher liegen nicht auf dem Tische, sondern in dem Kasten. Doch
wird hier überall das Verbum derartig untergeordnet, dass man es auch als Bindeglied fassen kann. Dagegen gibt es
gewisse Fälle, in denen das Adv. nur als Präd. gefasst werden kann, welches einem sonst schon in sich
geschlossenen Satze beigelegt wird. Hierher gehören alle Bezeichnungen für die Modalität der Aussage, wie gewiss,
sicherlich, wahrlich, jedenfalls, wahrscheinlich, wohl, vielleicht, schwerlich, kaum, angeblich. Er wird gewiss

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

kommen ist = es ist gewiss, dass er kommen wird. Hierher gehören ferner leider, oft, selten, vorkommenden Falls,
andernfalls, sonst, billig (in Fällen wie ich muss mich b. wundern), leicht und schwer (in Fällen wie das brennt, löst
sich leicht), unter diesen Umständen, unter dieser Bedingung, bei so bewandter Sache u. dergl.; törichterweise und
alle übrigen Bildungen mit -weise, die sich eben dadurch von den einfachen Adverbien töricht etc. unterscheiden;
diese gehen auf das Prädikat, jene auf die Beziehung zwischen Subj. und Präd. Indem das logische Verhältnis auch
grammatisch deutlich ausgeprägt ist, sind Ausdrucksformen entstanden wie kaum, dass er mich ansieht; vielleicht,
dass eine Träne dann von seinem Auge fällt (Matthisson und so häufig im 18. Jahrhundert); vergebens, dass sein
Oheim ihn aufmuntern will (Goe. und ähnlich öfters); glücklicherweise, dass die Gemälde so hoch stehen (Goe.);
zum Glück, dass der Ring an seinem Finger ist (Wieland); zum Unglück, dass sie auch die Birnbaumscene sahn
(id.); vermutlich, dass eine Rose herausgefallen ist (Wildenbruch); vielmehr, dass der eingepfropfte Zweig selbst
ausartete (Herder); sogar, dass diese Ergiessung der Seele auch Nebenumstände mit sich fortreisst (id.). Stehen
Versicherungen isoliert voran, z. B. gewiss, er wird es tun, so sind sie deutlich Prädikate zu den nachfolgenden
selbständig hingestellten Sätzen.

§ 201. In Sprachen von geringer formeller Ausbildung ist der Widerspruch zwischen psychologischem und
grammatischem Subjekt oder Prädikat viel seltener; denn die Veranlassung dazu ist ja eben die Ausbildung
mannigfaltiger besonderer Ausdrucksformen für die verschiedenen logischen Verhältnisse der Begriffe zueinander.
Die [288 Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen Gliederung.] eigentümlichen, uns sehr fremdartig
berührenden Ausdrucksformen des Dajakischen, die Steinthal, Typen S. 172. 3 anführt, scheinen mir wesentlich
darauf zu beruhen, dass das psychologische Subjekt oder Prädikat auch zum grammatischen gemacht wird, wobei
entweder das erstere oder das letztere an die Spitze tritt, und dass dann auch diese beiden Hauptglieder, wenn sie
selbst schon zusammengesetzt sind, wieder nach dem nämlichen Prinzipe gegliedert werden. Vgl. namentlich nach
Steinthals Übersetzung Boot dieses Boot seiner Wahl = dieses Boot hat er auserwählt; Zeuge zwei diese welches
deine Begierde = welches von diesen beiden Zeugen begehrst du? du Platz meines Gebens = dir habe ich es
gegeben; zu sehr ihr geschoben sein Bank durch dich = du hast die Bank zu sehr geschoben (zu sehr
psychologisches Prädikat).

§ 202. Wie das Verhältnis des Subjekts zum Prädikat im psychologischen Sinne die Umkehrung des grammatischen
Verhältnisses sein kann, so kann dieselbe Umkehrung auch eintreten bei dem Verhältnis des Bestimmten zur
Bestimmung. Am leichtesten kann eine Unsicherheit darüber entstehen, welches eigentlich das bestimmte, welches
das bestimmende Glied ist, wenn zwei Substantiva in appositionellem Verhältnis nebeneinander stehen. Ich kann z.
B. sagen Totila, ein König der Ostgoten oder ein König der Ostgoten, Totila. Ein solcher Rollentausch der beiden
Glieder ist aber nur möglich, wenn ihr Verhältnis zueinander ein loseres ist, wozu Bedingung ist, dass es als etwas
Neues mitgeteilt wird. Dann nähert sich das Ganze der Natur eines Satzes, und dann verhält sich immer das
voranstehende Glied zu dem nachfolgenden wie das Subjekt zum Prädikat. Wird dagegen das Verhältnis als schon
bekannt vorausgesetzt, so ist kein beliebiger Rollentausch möglich, und die Stellung entscheidet nichts. Ist z. B. von
einem Mendelssohn die Rede und es fragt jemand »welcher Mendelssohn ist gemeint?«, so ist in der Antwort »der
Komponist M.« zweifellos Mendelssohn das Bestimmte, trotzdem es nachsteht. Ebenso sind in Herzog Bernhard,
Herr Müller, Bruder Karl, Vater Gleim die Eigennamen das Bestimmte, die Titel und sonstigen charakterisierenden
Epitheta das Bestimmende. Es kommt aber auch, ohne dass das Verhältnis als bekannt vorausgesetzt werden kann,
eine straffere Zusammenfassung der beiden Glieder vor mit Beifügung des bestimmten Artikels, z. B. der
Schneidermeister Schulze. Hierbei gehört der Artikel nicht zu dem ersten Gliede, sondern zum ganzen und fasst
dasselbe eben dadurch zu einer Einheit zusammen. Denn man kann dafür nicht sagen Schulze der Schneidermeister,
sondern höchstens Schulze, ein Schneidermeister oder Schulze, Schneidermeister, wenn dazu noch eine weitere
Bestimmung z. B. in Berlin tritt. Durch diese Veränderung [289 Bestimmung und Bestimmtes.] aber würde der
Zusammenhalt gelockert sein, also die Ausdrucksweise einen anderen Eindruck machen. Bei dieser Fügung ist nun
eigentlich keines von beiden Gliedern entschieden bestimmtes oder bestimmendes. Unter die appositionellen
Verhältnisse mit engerem Verbande gehört auch die Verbindung von Vor- und Zunamen. Es ist nun zweifellos, dass
jetzt in Karl Müller, Max Östreicher, Paul Mendelssohn etc. der Vorname das Bestimmende, der Familienname das
Bestimmte ist; aber ebenso zweifellos, dass das Verhältnis anfangs umgekehrt war. Es hat also eine
Gliederungsverschiebung stattgefunden.

Ein attributives Verhältnis hat sich im Nhd. aus der mhd. Verbindung mit einem partitiven Gen. entwickelt in Fällen
wie ein Fuder Wein (mhd. ein fuoder wînes), ein Pfund Fleisch, eine Menge Menschen, eine Art Forellen. Hiermit
verbindet sich ein Rollentausch, indem für unser Sprachgefühl das voranstehende Subst. als das Bestimmende
erscheint. Zum sprachlichen Ausdruck gelangt dieser Rollentausch, wenn ein paar in dem Sinne »wenige«
unflektiert bleibt (mit ein paar Menschen); vgl. dazu in der bisschen Neige bei Leisewitz. Noch weiter ging die
Entwickelung bei viel, wenig, mehr, sowie den Zahlwörtern zwanzig, dreissig etc., hundert, tausend, die
ursprünglich substantivisch mit Gen. gebraucht, sich in Folge des Rollentausches zu flexionslosen und teilweise
weiter zu flektierten Adjektiven entwickelt haben. Eine entsprechende Verschiebung liegt auch vor in eine

152
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Viertelstunde statt ein Viertel Stunde, wobei freilich auch die Analogie von eine halbe Stunde in Betracht kommt.

Ein adjektivisches Attribut kann nicht so einfach die Rolle mit seinem Substantivum tauschen. Es muss hier aber
einer häufig vorkommenden Fügung gedacht werden, wobei allerdings der Hauptbegriff in das Adj. gelegt wird.
Wenn Grimm sagt jenes heranzuziehen untersagt die mangelnde Lautverschiebung, so müsste man um die
grammatische Form in Übereinstimmung mit der Logik zu bringen die Gliederung umkehren, aber zugleich mit
einer weiteren Veränderung der Konstruktion; der Mangel der Lautverschiebung. Vgl. ferner den verfehlten Ton
guter Gesellschaft (Herder); doch liegt das Hauptübel in der wenigen Zeit, die ich darauf verwenden können (Goe.);
weitere Beispiele bei Andr. Spr. S. 122. 3. Besonders häufig sind im 18. Jahrh. Wendungen, in denen man versucht
den lateinischen Abl. abs. nachzubilden, wie nach überwundenen so mannigfaltigen Hindernissen (Goe.), nach
aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung (Schi.), zwey Wochen nach aufgehobenem Theater zu Gotha (Iffland).

Eine Verschiebung ganz anderer Art haben wir in Wendungen wie ein sein wollendes Original (Herder), so viele
sein wollende Kenner (Ebert an Lessing), sein sollende griechische Simplizität (Iffland), ein [Paul, Prinzipien] [290
Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen Gliederung.] sich dünkender Eigentümer (Kant), alle
Torheiten eines sich dünkenden Genies (Gottw. Müller), einem sich stellenden Tauben (Le.), ein gewesener Soldat,
ein geborener Franzose, eine geborene Müller, ein angeblicher Vetter, der vermeintliche Baron, mit anscheinender
Gleichgültigkeit, die sogenannte Heide; franz. un nommé Richard. Hier sind die Substantiva, die eigentlich
Prädikate zu nicht genannten Subjekten sind, an die Stelle dieser Subjekte getreten und haben damit auch die Form
des Partizipiums bestimmt. Auch in Fällen wie sein früherer (ehemaliger) Herr, seine spätere (zukünftige) Frau sind
die Substantiva eigentlich Prädikate.

§ 203. Indem die Auseinanderreissung des grammatisch eigentlich eng Zusammengehörenden usuell wird, bilden
sich neue Konstruktionsweisen heraus, von denen man, wiewohl sie ihren Ursprung dem Widerspruche zwischen
grammatischer und logischer Gliederung verdanken, doch nicht mehr sagen darf, dass der Widerspruch noch
bestehe. Das ursprünglich nur psychologische Verhältnis hat sich dann zu einem grammatischen entwickelt.

Häufig löst sich so der Genitiv aus der unmittelbaren Verbindung mit dem Worte, von dem er zunächst abhängig
war. Wo er von einem prädikativen Adj. abhängt, ist die Verbindung immer keine ganz enge, und es macht nichts
aus, ob man ihn als abhängig von dem Adj. allein, oder von dem Adj. in Verbindung mit der dazu gehörigen Kopula
auffasst. Er hat daher eine ähnliche Selbständigkeit wie ein von einem Verbum abhängiges Objekt und geniesst
dieselbe Freiheit der Stellung. Vgl. des Erfolges bin ich sicher. Nun ist der häufig von einer solchen Verbindung
abhängige Gen. es lautlich mit dem Acc. (mhd. ez) zusammengefallen und in Folge davon auch vom Sprachgefühl
als Acc. gefasst worden, vgl. ich bin es zufrieden. Ausserdem hat sich traditionell in einigen Fällen der Gen. nichts
zu mhd. niht erhalten, der nun auch als Acc. gefasst werden musste, vgl. ich bin mir nichts Böses bewusst. Durch
diese Umstände ist es begünstigt, aber wohl nicht allein veranlasst, dass weiterhin in mehreren Fällen der als
Objektskasus gefasste Gen. mit dem Objektskasus kat' exochê'n, dem Akk., vertauscht ist, gerade so wie das bei
vielen Verben (erwähnen, vergessen etc.) geschehen ist. Vgl. was ich mir kaum noch bewusst war (Wieland); sind
sie das zufrieden? (Goe. und ähnlich öfters); wir sind die Probe zufrieden (Rückert); das bin ich vollkommen
überzeugt (Le.); so viel bin ich versichert (Le.); ingedenk zu sein die bescheen Fragen (Weistümer). Häufig ist der
Akk. bei habhaft werden, ganz allgemein bei gewahr werden, gewohnt, los, überdrüssig, schuldig sein oder werden.
Wie das Adj. verhält sich natürlich das prädikative Adv., daher inne werden jetzt mit Akk. Begünstigt ist der Eintritt
[291 Verselbständigung des Genitivs.] des Akk. jedenfalls dadurch, dass von solchen Verbindungen auch Sätze mit
dass abhängen konnten (ich bin [es] zufrieden, dass du ihn besuchst), welche als Objekt gefasst werden konnten. Bei
manchen dieser Verbindungen lässt sich nur der Akk. eines Pron. nachweisen. Daraus ersieht man die Einwirkung
des es. Dass aber der Vorgang auch ohne eine solche Unterstützung möglich ist, ergibt sich aus analogen Fällen im
Griech., vgl. epistê'mones ê^san tà prosê'konta (Xen.), éxarnós eimi tà erôtô'mena (Plato).

Die an sich festere Verbindung des Genitivs mit einem Subst. erscheint gleichfalls vielfach gelockert, indem
derselbe logisch nicht mehr von dem Subst. allein, sondern von der Verbindung des Subst. mit einem Verb.
abhängig und dadurch zu einem selbständigen Satzgliede gemacht ist. Sehr häufig ist das im Mhd., z. B. des wirdet
mir buoz (davon wird mir Abhilfe); des hân ich guoten willen; des sît âne sorge; si wurden des ze râte; ich kume
eines dinges an ein ende (ich erfahre etwas ganz genau). Vgl. nhd. des Lärmens ist kein Ende; aller guten Dinge
sind drei; lass, Vater, genug sein des grausamen Spiels (Schi.); nun will ich des Briefs ein Ende machen (Schi.);
dieses Dranges ist kein Ziel zu sehen (Schi.); des ich ein Diener worden bin (Lu.); dieses Gerechten, welches ihr nun
Verräter und Mörder geworden seid (Lu.); ein Schiff, dessen man, so es vorüber ist, keine Spur finden kann (Lu.);
den leichten Erwähnungen, die seiner einige alte Grammatiker tun (Le.); des kann ich Zeugnis geben (Wieland).
Meistens muss man jetzt an Stelle des mhd. Genitivs eine Präposition anwenden. Aber auch hier wurde das
genitivische es umgedeutet und als Nom. oder Akk. aufgefasst und so das logische Subj. oder Obj. vollständig zum
grammatischen gemacht, vgl. es ist genug (mhd. genuoc als Subst. mit dem Gen. verbunden), es ist Not, es ist Zeit

153
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

etc., er will es nicht Wort haben; er hat es Ursache; ich bins nicht im Stande; er weiss es ihm Dank. Die
Gliederungsverschiebung hat aber auch weiterhin die Folge gehabt, dass der Gen. mit dem Nom. oder Akk.
vertauscht ist, wobei jedenfalls wieder die abhängigen Sätze mit dass, die als Subj. oder Obj. gefasst werden
konnten, mitwirkten. Wir sagen jetzt das nimmt mich Wunder wie das wundert mich; mhd. heisst es des nimet mich
wunder = mich ergreift Verwunderung darüber. Beispiele für den Akk. sind wer wird ihm diese kleine Üppigkeit
nicht vielmehr Dank wissen? (Le.); was er mir Schuld gibt (Le., ähnlich auch sonst); in Ansehung der Stärke wird
niemand diese Assertion in Abrede sein (Le., vgl. Blümners Anm. in seiner Ausgabe des Laok., 2. Aufl. S. 588).
Allgemein mit dem Akk. verbunden wird das jetzt als ein einheitlicher Begriff gefasste wahrnehmen (mhd. war =
Beobachtung). Vgl. lateinische Konstruktionen wie quid tibi nos tactiost (Plaut.), quid tibi hanc curatiost [292
Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen Gliederung.] rem (id.), in denen der Akk. nicht als von dem
Subst. allein abhängig gefasst werden kann; ferner infitias ire, auctorem esse aliquid. Dazu griech. hèn mèn prô^tá
soi momphê`n échô (Eur.) und Ähnliches.

In den Sprachen, welche als Negation oder als Verstärkung derselben ein ursprünglich substantivisches Wort
verwenden, findet sich daneben ein Genitiv der ursprünglich von diesem Substantivum abhängig war, allmählich
aber zu einem selbständigen Satzgliede geworden ist und nun als Subj. oder Objekt fungiert, während das Wort, von
dem er ursprünglich abhing, seine substantivische Natur eingebüsst hat. Vgl. franz. il n'a pas (point) d'argent,
eigentlich er hat keinen Schritt (Punkt) von Geld. Dass das Sprachgefühl nicht mehr an eine Abhängigkeit von pas
oder point denkt, ergibt sich unter andern daraus, dass de analogisch auch in andere negative Sätze übertragen wird,
die kein ursprüngliches Subst. enthalten (vgl. il n'y a jamais de lois observées), auch in solche, die nur dem Sinne
nach negativ sind (vgl. sans laisser d'espérance; doit-il avoir d'autre volonté). Ähnlich sind die Verhältnisse im
Mhd., vgl. des enmac niht gesîn; mîn vrouwe bîzet iuwer niht; danach auch alsô grôzer krefte nie mêr recke gewan.
Vgl. noch nhd. sie wollten meines Rates nicht (Lu.); sie hatten der Speise nicht (Klopstock); welcher Epigrammatist
hat dessen nicht (Le.); allgemein hier ist meines Bleibens nicht.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 204. Im Englischen kann sich der von einer Präp. abhängige Kasus von der direkten Verbindung mit derselben
loslösen und sich näher zum Verbum stellen. Diese Loslösung ist weitaus in den meisten Fällen durch das Bestreben
bedingt das psychologische Subjekt an die Spitze des Satzes zu stellen. Vgl. and this rich fair town we make him
lord of (Sh.); washes of all kind I had an antipathy to (Goldsmith); weitere Beispiele bei Mätzn. II, 518. Die beiden
Hauptkategorieen, die hierher gehören, sind die Relativsätze (vgl. a place which we have long heard and read of,
vg. ib. 519) und Passivsätze. (the tailor was seldom talked of, vgl. ib. 65ff.), wobei die passivische Konstruktion wie
in anderen Fällen den Zweck hat, das psychologische Subjekt auch zum grammatischen zu machen. Diese Art
passivischer Konstruktion wird sogar bei transitiven Wörtern, die ein Objekt bei sich haben, angewendet (they were
never taken notice of Sheridan, vgl. ib. 67). Ausserdem ist die Loslösung in Fragesätzen üblich, wo es sich also um
Voranstellung des Prädikats handelt (what humour is the prince of, vgl. ib. 519). Schon in alter Zeit haben die
indogermanischen Präpositionen Gliederungsverschiebungen durchgemacht. Ursprünglich waren sie jedenfalls
Adverbia. Sie konnten neben dem Kasus eines Nomens als Bestimmungen zum Verb. treten. Von hier aus hat sich
einerseits ein näheres Verhältnis zwischen ihnen und dem eigentlich [293 Genitiv. Präpositionen. Infinitiv.] vom
Verb. abhängigen Kasus herausgebildet, wodurch sie zu Präpositionen geworden sind; anderseits sind sie in nähere
Beziehung zum Verb. getreten, wodurch Zusammensetzungen entstanden sind.[5])
§ 205. Ein Satzglied, welches grammatisch von einem Inf. abhängt, kann psychologisch von der Verbindung dieses
Infinitivs mit seinem Regens abhängig werden; vgl. dies Buch werde ich dich nie lesen lassen; das Ding selbst bin
ich weit entfernt zu sehen (Le.); mit welchem sie sich erinnern, gegen mich glücklich gewesen zu sein (Le.). Infolge
davon kann das Sprachgefühl darüber unsicher werden, ob das betreffende Glied eigentlich zu dem Inf. oder zu
seinem Regens in direkte Beziehung zu setzen ist. Dazu kommt, dass diesen Fällen andere sehr ähnlich sehen, in
welchen wirklich die Abhängigkeit von dem Verb. fin. das Ursprüngliche ist, vgl. was ich zu besorgen habe. So
geschieht es, dass eine wirkliche Übertragung der Rektion vom Inf. auf das Verb. fin. stattfindet, die sich deutlich
durch Umsetzung in das Pass. dokumentiert; vgl. hier ist sie (Minna v. Barnhelm) auf Ansuchen des Herrn von
Hecht zu spielen verboten (Le.); die Anklage ist fallen gelassen worden (Allg. Zeitg.); die Stellung des Fürsten
Hohenlohe wird zu untergraben versucht (ib.); wo die Verdorbenheit der Klöster durch eine Reformation
abzustellen gesucht ward (Gervinus). Damit vergleiche man die griechischen Beispiele chilíôn drachmô^n
homologêtheisô^n apolabeîn (»da die Übereinkunft getroffen war, dass ich 1000 Drachmen erhalten sollte« Dem.);
tà hêmîn ex archê^s parangelthénta diexeltheîn (Plato); tô^n proeirêménôn hêmerô^n tà epitê'deia échein (»der
Tage, für welche es befohlen war Vorrat zu haben« Xen.). Auf der nämlichen Verschiebung beruht auch die
Umsetzung von lat. coepi, desino, jubeo, prohibeo in das Pass. (liber legi coeptus est, jubeor interfici), nur dass hier
auch der Inf. in das Pass. tritt, indem eine Doppelbeziehung des zum Subj. gemachten Gliedes stattfindet. Auch bei
possum und queo kommt im älteren Lat. eine derartige Umsetzung vor, z. B. quod tamen expleri nulla ratione
potestur (Lucrez), vgl. Draeger § 93. Ferner gehört hierher die Umdeutung eines von einem Inf. abhängigen Objekts
zum Subj. des regierenden, von Hause aus unpersönlichen Verbums, vgl. ê^n gár ti en autoîs prosê^kon ideîn (»was
es sich ziemte zu sehen« Plato), lógon tinà prosê'konta rhêthê^nai (id.).[6])
§ 206. Wir haben gesehen, dass die verschiedenartigsten Satzteile, indem sich zwei andere neben ihnen als die
eigentlich wesentlichen herausheben, psychologisch als blosse Bindeglieder gefasst werden können. Indem gewisse
Wörter regelmässig so verwendet werden, wird [294 Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen
Gliederung.] die psychologische Kategorie zu einer grammatischen, die betreffenden Wörter werden zu
Verbindungswörtern. Verbindungswort nenne ich ein Wort, welches die Funktion hat das Verhältnis zwischen
zwei Begriffen anzugeben, welches daher auch nur neben zwei solchen Begriffen funktionieren kann, so dass es
weder für sich noch auch bloss mit einem Begriff verbunden etwas Selbständiges darstellen kann. Verbindungswort
zwischen Subj. und Präd. ist die Kopula. Man hat zwar die Berechtigung zur Aufstellung einer solchen Kategorie
bestritten und behauptet, dass man die Kopula wie jedes andere Verb. fin. als Prädikat, das prädikative Subst. oder
Adj. dagegen als Bestimmung des Prädikats zu fassen habe.[7]) Diese Anschauung scheint mir ein Beispiel jenes
Missverständnisses der Forderung einer Scheidung zwischen Grammatik und Logik, worauf ich § 21 hingedeutet
habe, ein Beispiel von einseitiger Rücksichtnahme auf die äussere grammatische Form unter Vernachlässigung des
Funktionswertes. Wir dürfen doch nicht ausser acht lassen, dass Sätze wie Träume sind Schäume, glücklich ist der
Mann, gleichwertig sind mit Sätzen ohne Kopula Träume Schäume, glücklich der Mann, und dass Sätze von der
einfacheren Form offenbar ursprünglich reichlich gebildet worden und erst allmählich durch Sätze mit Kopula mehr
und mehr zurückgedrängt sind. Wollte man dem ist eine Selbständigkeit gegenüber dem substantivischen oder
adjektivischen Prädikate zugestehen, so würden alle hierher gehörigen Sätze Existenzialsätze sein, was sie doch
offenbar dem Sprachgefühl nach nicht sind. Welcher Unsinn würde herauskommen, wenn wir den Satz das ist
unmöglich auffassten als »das existiert als etwas Unmögliches«.

Die Scheu davor die Kopula als ein Verbindungswort anzuerkennen entspringt daraus, dass sie vermöge ihrer
Flexion den verbalen Charakter bewahrt. Bei erstarrten Formen, die keinem flexivischen Wandel unterliegen, scheut
man sich weniger den Übergang vom selbständigen Wort zum Verbindungswort anzuerkennen. Dieser Übergang
kommt immer mit Hilfe einer Gliederungsverschiebung zustande, wie noch weiterhin an einer Reihe von Beispielen
gezeigt werden wird.

155
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 207. Eine besondere Art von Verschiebung der Gliederung besteht darin, dass zwei Satzglieder, die eigentlich nur
eine indirekte Beziehung zueinander haben, indem sie von demselben dritten abhängen, in direkte Beziehung
zueinander gesetzt werden. So ist wohl die Entstehung des prädikativen Akkusativs aufzufassen. Wir können jetzt
ebensogut sagen ich mache ihn zum Narren wie ich mache [295 Verbindungswörter. Verwandlung indirekter
Beziehung in direkte.] einen Narren aus ihm. Es ist also eine doppelte Art des Akkusativs bei machen möglich,
einer, welcher den Gegenstand bezeichnet, den die Tätigkeit trifft, und einer, der das Resultat derselben angibt. Setzt
man beide zugleich zum Verbum, wie das im Mhd. noch in einigen Wendungen möglich ist, z. B. ich mache in
ritter, so muss dabei auch die Vorstellung »er wird Ritter« oder dergleichen mit ins Bewusstsein treten, und so
werden die beiden Akkusative in ein Verhältnis zu einander gesetzt nach der Analogie von Subj. und Präd. Diese
Erklärung ist auf alle Fälle anwendbar, wo in den verschiedenen Sprachen ein Subst. als prädikativer Akk. gebraucht
wird. Die Verwendung des Adjektivums als eines prädikativen Objekts liesse sich dann als eine Analogie nach der
Verwendung des Substantivums fassen. Doch ist ausserdem in Betracht zu ziehen, dass wir neben ich mache einen
Menschen glücklich auch sagen können ich mache einen glücklichen Menschen. Entsprechend ist die Entstehung des
Acc. c. Inf. zu erklären. Der Inf. ist ursprünglich ein zweites Objekt zum regierenden Verbum. So verhält es sich
noch bei unserem ich heisse ihn aufstehen, ich lasse ihn arbeiten etc. Der Inf. kann ja auch ohne einen anderen Akk.
als Objekt stehen (ich lasse arbeiten). Er lehrt mich französisch sprechen ist in der Konstruktion nicht wesentlich
verschieden von er lehrt mich die französische Sprache. So kann man auch lat. neben jubet te facere sagen quod te
jubet. Ebenso hat der Nom. c. Inf. seine Analogie in der passivischen Konstruktion solcher Verba, die einen
doppelten Akk. bei sich haben können. Bibulus nondum audiebatur esse in Syria ist konstruiert wie Cicero per
legatos cuncta edoctus; quod jussi sunt. Die Auffassung des substantivischen Akkusativs als eines Subjekts zu dem
Inf. ergibt sich dann sehr leicht aus der realen Natur des Verhältnisses.

§ 208. Eine andere nicht ganz seltene Art der Verschiebung besteht darin, dass ein Glied, welches eigentlich zu zwei
kopulativ oder adversativ verbundenen Gliedern gehört, bloss als zum ersten gehörig aufgefasst und in Relation zu
einer die beiden verbindenden Partikel gesetzt wird. Unser entweder - oder fassen wir jetzt als zwei korrelative
Partikeln. Aber entweder ist entstanden aus eindeweder und bedeutet eigentlich »eins von beiden«; daher ist
entweder das Auge oder das Herz eigentlich »eins von beiden, das Auge oder das Herz«. Folge der
Gliederungsverschiebung ist die Erstarrung der Form, so dass entweder zu jedem beliebigen Kasus und jeder
beliebigen Wortart gesetzt werden kann. Wo entweder - oder zur Verbindung von Sätzen dient, zeigt sich die
Hineinziehung des ersteren in den ersten Satz auch an der Inversion (entweder ist er tot neben er ist tot). Genau
ebenso verhält es sich mit weder - noch, mit mhd. weder - oder [296 Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der
syntaktischen Gliederung.] = lat. utrum - an, mhd. beide - und = engl. both - and u. a. Wir übersetzen lat. aeque ac
durch »ebenso wie«. Aber ein hic mihi aeque placet atque ille ist eigentlich »dieser und jener gefallen mir in
gleicher Weise.« Dass jedoch eine wirkliche Verschiebung der Gliederung stattgefunden hat, und dass das
vergleichende ac von dem kopulativen bis zu einem gewissen Grade isoliert ist, zeigt der regelmässige Sing. des
Präd. in den Fällen, wo das ac an ein singularisches Subj. angeknüpft wird, ferner die Wortstellung und endlich
solche Fälle, in denen eine Wiedergabe des ac durch und in keiner Weise mehr möglich ist, vgl. aeque a te peto ac
si mea negotia essent. Lehrreich sind verwandte Konstruktionen, die noch nicht normal geworden sind, bei denen
die Verschiebung entweder noch gar nicht eingetreten ist oder wenigstens noch nicht usuell geworden. Zuweilen
steht aeque et = aeque ac: aeque promptum est mihi et adversario meo (Cic.), vgl. Draeg. § 311, 18. Es findet sich
ferner ac oder et auch nach par, similis, idem, alius etc., (vgl. ib.): pariter patribus ac plebi carus; pariter corpore et
animo (Ter.); simul consul ex multis de hostium adventu cognovit et ipsi hostes aderant (Sall.); solet alia sentire et
loqui (Caelius); viae pariter et pugnae (Tac.); omnia fuisse in Themistocle paria et Coriolano (Cic.); haec eodem
tempore Caesari mandata referebantur et legati ab Aeduis veniebant (Caes.). Dieselbe Verschiebung wie bei lat. ac
ist bei anord. ok eingetreten.

§ 209. Die nämlichen Verschiebungen wie innerhalb des einfachen Satzes finden natürlich auch im
zusammengesetzten Satze statt, da ja zwischen einfachem und zusammengesetztem Satze kein eigentlich
wesentlicher und konsequent durchführbarer Unterschied besteht. Der Nebensatz hat die nämliche Funktion wie ein
Satzglied, und es gilt daher auch von ihm dasselbe wie von jedem andern Gliede in Bezug auf die Gliederung der
ganzen Periode. Es ist daher falsch, wenn man, wie gewöhnlich geschieht, eine jede Periode zunächst in Hauptsatz
und Nebensatz (resp. mehrere Nebensätze) abteilt. Erstens ist zu berücksichtigen, dass der Nebensatz ein
unentbehrliches Satzglied wie das Subj. vertreten kann (z. B. dass er nicht kommt, ärgert mich) und dann ist das,
was man den Hauptsatz zu nennen pflegt, in Wahrheit gar kein Satz, sondern nur ein Satzglied oder ein Komplex
von Satzgliedern. Enthält der Nebensatz einen entbehrlichen Bestandteil der Periode, z. B. eine Zeitbestimmung, so
ist es ja allerdings möglich ihr den Hauptsatz als etwas für sich Bestehendes gegenüberzustellen, aber damit gibt
man keine richtige grammatische und nicht immer eine richtige psychologische Gliederung. Die Periode ich fragte
ihn nach seinem Befinden, als ich ihm begegnete zunächst in Haupt- und Nebensatz zu sondern hat nicht mehr
Berechtigung als in dem Satze [297 Zusammengesetzter Satz.] ich fragte ihn gestern nach seinem Befinden zu
gliedern: ich fragte ihn nach seinem Befinden + gestern. Wir können ja auch dem Nebensatze gerade so gut wie dem
Adv. gestern seine Stellung zwischen den übrigen Gliedern geben. Endlich enthält der Nebensatz gar nicht immer

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

ein selbständiges Satzglied, sondern häufig nur einen Teil eines Gliedes, eine Bestimmung zu einem Gliede, so alle
Relativsätze, die sich auf ein Wort des Hauptsatzes beziehen. Der Nebensatz kann nun aber so gut wie jeder andere
Satzteil nach psychologischen Gesichtspunkten eine andere Eingliederung verlangen als nach rein grammatischen,
und er kann ebenso gut wie jeder andere Satzteil an der Gliederungsverschiebung teilnehmen. So ist dann die
Möglichkeit einer Zweiteilung in Haupt- und Nebensatz häufig erst die Folge einer Gliederungsverschiebung. Dabei
ist in der Regel der Nebensatz psychologisches Subj., der Hauptsatz Präd., natürlich in dem weiten Sinne, wie wir
ihn Kap. VI bestimmt haben.

Wenden wir den § 89 zwischen abstrakten, konkreten und konkret-abstrakten Sätzen gemachten Unterschied auf den
zusammengesetzten Satz an, so ergibt sich, dass die hypothetischen Perioden (im weitesten Sinne) die abstrakten
und abstrakt-konkreten umfassen. Abstrakt sind z. B. wenn es regnet, wird es nass; wer Pech angreift, besudelt sich;
abstrakt-konkret wenn du es noch nicht weisst, will ich es dir sagen; so oft er mir begegnet, fragt er mich; wer unter
euch nicht zufrieden ist, mag es sagen. Der Sinn eines jeden abstrakten oder abstrakt-konkreten Satzes lässt sich
daher durch eine hypothetische Periode ausdrücken.

§ 210. Wie es für den grammatisch nicht als abhängig bezeichneten Satz einen stufenweisen Übergang von
Selbständigkeit zu Abhängigkeit gibt, so kann sich der grammatisch als abhängig bezeichnete mehr und mehr der
Selbständigkeit nähern. Bei der oben § 102 charakterisierten Zwischenstufe zwischen logischer Abhängigkeit und
Selbständigkeit kann die grammatische Form bald die der Selbständigkeit, bald die der Abhängigkeit sein. Nach der
Bevorzugung der einen oder der andern unterscheiden sich verschiedene Sprachen und verschiedene Stilgattungen.
So ist es bekanntlich charakteristisch für die historische Periode im Lateinischen, dass die Mitteilung von Tatsachen,
welche an sich neu sind und einen selbständigen Wert haben, die aber zugleich zur zeitlichen und kausalen
Bestimmung einer andern Tatsache dienen, in der Form eines abhängigen Satzes oder einer Partizipialkonstruktion
erfolgt, während im Dentschen die Form des selbständigen Satzes vorgezogen wird. Nicht selten ist in
verschiedenen Sprachen die Anknüpfung eines Relativsatzes, welcher das Vorhergehende gar nicht bestimmt oder
modifiziert, sondern eine selbständige Mitteilung enthält, [298 Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen
Gliederung.] also gleichen Wert mit einem kopulativ angeknüpften Hauptsatze hat. Vgl. er begab sich nach Paris,
von wo er später nach Lyon ging (= und von da ging er); ich traf gestern deinen Vater, mit dem ich mich lange
unterhielt (gegen ich traf heute den Herrn wieder, mit dem ich mich gestern unterhalten hatte). Besonders häufig ist
diese Anknüpfung bekanntlich im Lat., und man ist es hier gewohnt längere Perioden, die durch ein Relativum
eingeleitet sind, als selbständige Sätze zu betrachten. Ein solches lose angeknüpftes Relativum erscheint auch in
Konjunktionssätzen, wie z. B. quod Tiberius quum fieri animadvertit, simul pugionem eduxit (Bell. Hisp.); quae si
dubia aut procul essent, tamen omnes bonos reipubliae subvenire decebat (Sall.).[8]) Ein Kriterium für die
Verselbständigung des Relativsatzes ist der Gebrauch des Imperativs in demselben. Diesen finde ich im griech.
neuen Testament: 2. Tim. 4, 15 hòn kaì sù phulássou und Ebr. 13, 7 hô^n anatheôroûntes tê`n ékbasin tê^s
anastrophês mimeîsthe tê`n pístin; an beiden Stellen auch in Luthers Übersetzung: vor welchem hüte du dich auch
und welcher Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach. Entsprechend ist die Verwendung von quamquam und
etsi = jedoch. Das Aufgeben des Abhängigkeitsverhältnisses tritt uns besonders entgegen in einem Falle wie do
poenas temeritatis meae; etsi quae fuit illa temeritas? (Cic.). So kommt auch unser wiewohl, obgleich vor, wobei
sich das Aufgeben des Abhängigkeitsverhältnisses in der Wortfolge dokumentiert, vgl. wie darfst du dich doch
meinen Augen weisen? wiewohl du kommst mir recht (Hagedorn); obgleich das Weissbrot schmeckt auch in dem
Schloss nicht übel (Hebel).

So tritt denn auch der Fall ein, dass das logische Abhängigkeitsverhältnis geradezu die Umkehrung des
grammatischen ist. Die bekannteste hierher gehörige Kategorie, die sich in vielen Sprachen findet, bilden
Zeitbestimmungen, meist mit eben, gerade, noch, kaum u. dergl., auf welche der logische Hauptsatz nicht bloss, wie
wir § 102 gesehen haben, in der Form des Hauptsatzes, sondern auch in der des Nebensatzes folgen kann; vgl. kaum
war ich angekommen, als ich Befehl erhielt; franz. je n'eus pas mis pied à terre, que l'hôte vint me saluer. Einige
andere Beispiele sind: franz. le dernier des Bourbons serait tué, que la France n'en aurait pas moins un roi
(Mignet) = wenn auch der letzte der Bourbonen getötet wäre, würde Frankreich nichtsdestoweniger einen König
haben; mhd. jane gêt er nie so balde, erne benahte in dem [299 Zusammengesetzter Satz.] walde = mag er auch
noch so schnell gehen, die Nacht wird ihn im Walde überraschen.

§ 211. Die psychologische Gliederung durchbricht auch die Grenzen zwischen Haupt- und Nebensatz. Ein
häufiger Fall ist, dass eine Partikel, die eigentlich dem Hauptsatze angehört, mit einer dazu in Beziehung stehenden
den Nebensatz einleitenden Partikel zu einer Einheit verschmilzt und nun vom Sprachgefühl das Ganze als
Einleitung des Nebensatzes aufgefasst wird. Vgl. sowie (got. swaswe, ahd. sôso), so dass, sobald als, auch wenn; lat.
sicut, simulac, postquam, antequam, priusquam, etsi, etiamsi, tam(en)-etsi. Noch viel wichtiger ist es, dass gewisse
Wörter, namentlich Pronomina oder Partikeln, die ursprünglich dem Hauptsatze angehören, zu
Verbindungsgliedern zwischen diesem und einem psychologisch untergeordneten Satze werden, der bis dahin noch

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von keiner Partikel eingeleitet war, ja überhaupt noch gar kein grammatisches Zeichen der Abhängigkeit hatte.
Diese Wörter pflegen dann als ein Teil des Nebensatzes angesehen zu werden. Auf diese Weise sind eine Menge den
Nebensatz einleitende Konjunktionen entstanden, und dieser einfache Vorgang der Gliederungsverschiebung ist
eines der wesentlichsten Mittel gewesen, eine grammatische Bezeichnung für die Abhängigkeit von Sätzen zu
schaffen. Meistens waren die betreffenden Wörter ursprünglich hinweisend auf den folgenden logisch abhängigen
Satz (vgl. § 100). Hierher gehört die wichtigste deutsche Partikel daz = engl. that, ursprünglich Nom. Akk. des
Demonstrativpronomens. Ich sehe, dass er zufrieden ist ist hervorgegangen aus einem ich sehe das: er ist zufrieden;
vgl. bei Otfrid Vuanta unser lib scal uuesan tház, uuir thíonost duen io thínaz. Nachdem die Hineinziehung in den
Nebensatz und die dadurch bedingte Verwandlung in eine Konjunktion sich vollzogen hatte, konnte diese
Konstruktion ebenso wie der Acc. c. Inf. (vgl. § 165) auch auf Fälle übertragen werden, für die ein Nom. oder Akk.
des Pron. nicht passte, vgl. ich bin überzeugt (davon), dass du Schuld hast; er war (so) betroffen, dass er kein Wort
erwidern konnte. Vielfach ist daz auch mit einer regierenden Präposition in den Nebensatz übergetreten. Vgl. mhd.
durch daz er videlen kunde, weil er zu geigen verstand, eigentlich `deswegen: er konnte geigen'. Ebenso umbe daz,
âne daz, für daz, ûf daz (selten), bedaz (während dem). Erhalten sind davon ohne dass und auf dass; ausser dass,
während dass und anstatt dass müssen wohl als Analogieen nach jenen betrachtet werden, da die betreffenden
Präpositionen nicht den Akk. regieren. Dagegen sind einige Präpositionen mit dem Dat. des
Demonstrativpronomens erst im Nhd. durch Verschiebung zu Konjunktionen geworden: nachdem, seitdem, indem,
währenddem. Vereinzelt erscheint so darum: darum ich es auch nicht länger vertragen, habe ich [300 Sechzehntes
Kapitel. Verschiebung der syntaktischen Gliederung.] ausgesandt (Lu., 1. Thess. 3, 5). Entsprechend verhält es sich
mit engl. for that etc., ags. for þám, æ'r þám. Ferner gehört hierher sô im Ahd. und älteren Mhd. = so dass. So in
Beteuerungen und Beschwörungen: so wahr mir Gott helfe, so wahr ich hier stehe, wofür man auch sagen kann so
wahr wie ich hier stehe. So = wie sehr auch, wiewohl: so gutmütig er (auch) ist, das wird er nicht tun; vgl. mhd. sô
vil ze Salerne von arzenîen meister ist, aber auch mit einem zweiten relativen sô: sô manec wert leben sô liebe
frumt; vgl. dazu engl. Nature, as green as he looks, rests everywhere on dread foundations (Carlisle), eine
Konstruktion, die in der älteren Sprache häufig ist, während die neuere meist nur das zweite relative as setzt; vgl.
ferner afranz. si - com, nfranz. si - que. In den zuletzt besprochenen Fällen ist ausser dem so immer noch ein
weiteres ihm eigentlich nicht angehöriges Element in den Nebensatz gerückt. Ebenso verhält es sich mit nhd. sobald
(als, wie), so lange (als, wie), (in) sofern, (in) soweit. Mit Unrecht wird dies so vielfach als ein ursprüngliches
Relativum aufgefasst. Auch Substantiva, teils mit, teils ohne Artikel, zum Teil in Abhängigkeit von einer Präposition
sind in einen logisch untergeordneten Satz, der ihnen zur Erläuterung diente, (vgl. § 100) eingetreten. Vgl. mhd. die
wîle ich weiz drî hove, nhd. dieweil, alldieweil, derweil, weil = engl. (the) while; nhd. falls, im Falle, sintemal = sint
dem mâle; seit der Zeit er auferstanden ist (Lu.); engl. on (upon) condition, in case (beide auch mit nachfolgendem
that), because.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 212. Auf einem ähnlichen Vorgange beruht im Deutschen mindestens zum Teil der Übergang des
Demonstrativums in das Relativum. Ein solcher Übergang erfolgt auf Grund der oben § 97 besprochenen Art des
apò koinoû. Das gemeinsame Glied kann durch das Demonstrativpronomen der oder durch ein demonstratives Adv.
gebildet werden, vgl. thô liefun sâr thie nan minnotun meist (Otfrid); thâr ther sîn friunt uuas iu êr lag fiardon dag
bigrabanêr (wo der, welcher früher sein Freund gewesen war, den vierten Tag begraben lag, ib.); ni mag diufal
ingegin sîn thâr ir ginennet namon mîn (nicht kann der Teufel widerstehen da, wo ihr meinen Namen nennt, ib.); thu
giangi thara thu uuoltos (du gingst dahin, wohin du wolltest, ib.); der mich liebt und kennt ist in der Weite (Goe.).
[9]) Wir würden hier von unserem Sprachgefühle aus das Pron. oder Adv. als relativ und zum Nebensatze gehörig
auffassen, und diese Auffassung hat sich auch dadurch bekundet, dass sich an Stelle des alten Demonstrativums das
andere, mit dem Fragewort übereinstimmende Relativum eingedrängt [301 Zusammengesetzter Satz.] hat, welches
jetzt in allgemeinen Sätzen allein noch üblich ist: wer wagt, gewinnt; wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht
verloren. Dass aber das Pron. (und demnach auch das Adv.) ursprünglich gleichmässig zum Haupt- und Nebensatze
gehörte, ergibt sich aus folgenden Gründen. Erstens: das Pron. kann mit einem Subst. verbunden auftreten, welches
notwendig auch dem Hauptsatz angehören muss: in droume sie in zelitun then uueg sie faran scoltun (im Traume
gaben sie ihnen den Weg an, den sie fahren sollten, Otfrid), der möhte mich ergetzen niht des mæres mir iuwer munt
vergiht (der möchte mir keinen Trost verschaffen für die Nachricht, die mir Euer Mund verkündet, Wolfram); er sâr
in thô gisagêta thia sâlida in thô gaganta (Otfrid); diu sich gelîchen kunde der grôzen sûl dâ zwischen stuont
(Wolfram). Zweitens: der Kasus des Pronomens richtet sich im Ahd. und Mhd., auch noch im älteren Nhd.
gewöhnlich nach dem Hauptsatz, wenn dieser einen Gen. oder Dat., dagegen der Nebensatz einen Nom. oder Akk.
verlangt: uuê demo in vinstrî scal sîno virinâ stûen (wehe dem, der in Finsterniss seine Verbrechen büssen soll,
Muspilli); ouwê des dâ nâch geschiht (Wolfram); mit all dem ich kan vnd vermag (Hans Sachs). Drittens: das Pron.
kann von einer Präp. abhängen und diese muss gleichfalls mit zum Haupt- und Nebensatz gezogen werden: waz ich
boeser handelunge erliten hân von den ichs wol erlâzen möhte sîn (von denjenigen, von welchen ich wohl damit
hätte verschont bleiben können, Minnesinger). Viertens: ein Fall, der hiervon zu unterscheiden ist, aber gleichwohl
beweisend dafür, dass das Pron. ursprünglich auch dem Hauptsatze angehört, ist der, dass dasselbe von einer Präp.
abhängig ist, die nur dem Hauptsatze angehört, vgl. waz sol trûren für daz nieman kan erwenden (Minnesinger);
daz ich singe ouwê von der ich iemer dienen sol (Heinr. v. Morungen); auch so, dass der Kasus nur den
Forderungen des Hauptsatzes entspricht: der suerit bi demo temple, suerit in demo dâr inne artôt (schwört bei dem,
der darin wohnt, Fragmenta theotisca); den vater êrit dâ zi himili der sun mid den er hât hî in erdi giwunnun
(Summa theologiae). Wird der Nebensatz vorangestellt, dann kann das gemeinsame Glied noch einmal durch ein
Pron. oder Adv. aufgenommen werden, vgl. ther man thaz giagaleizit thaz sih kuning heizit ther uuidarôt in alauuâr
themo keisore sâr (der Mann, welcher es unternimmt sich König zu nennen, der widersetzt sich fürwahr dem Kaiser,
Otfrid); daz erbe ûch ûwere vorderen an brâchten unt mit herscilte ervâchten, welt ir dâ von entrinnen
(Rolandslied); den schaden he uns to donde plecht, dar vor kricht he nun sin recht (Reineke vos).

Für solche Fälle wie die angeführten ist es aus den oben angegebenen Gründen klar, dass das voranstehende Glied
wirklich als [302 Sechzehntes Kapitel. Verschiebung der syntaktischen Gliederung.] ursprünglich gemeinschaftlich
aufgefasst werden muss, und dass die Wiederaufnahme desselben ursprünglich auf gleicher Linie steht mit solchen
Fällen, wie den schaz den hiez er füeren; beide schouwen unde grüezen swaz ich mich dâran versûmet hân
(Walther). Es steht daher auch nichts im Wege anzunehmen, dass Sätze wie ther brût habêt, ther scal ther brûtigomo
sîn (Otfrid) auf die nämliche Art entstanden sind. Doch soll damit nicht gesagt sein, dass nicht auch Relativsätze auf
Grund einer anfänglichen Doppelsetzung des Demonstrativums entstanden sind.

§ 213. Haupt- und Nebensatz können sich auch derartig in einander schlingen, dass eine Sonderung der Elemente
des einen von denen des andern nicht mehr möglich ist, was sich dann auch in der Wortstellung zeigt. Nicht selten
wird in vielen Sprachen der Hauptsatz logisch so untergeordnet, dass man ihn als Bindeglied fassen kann, und
schiebt sich dann in den Nebensatz ein. Der voranstehende Teil desselben bildet dann das psychologische Subjekt
oder Prädikat. Der Fall ist daher besonders häufig in Frage- und in Relativsätzen. Vgl. it. mio padre e mio fratello
dimmi ove sono; lat. tu nos fac ames (Cic.); verbum cave faxis (Plaut.); matrem jubeo requiras (Ov.); ducas volo
hodie uxorem (Ter.); quid vis curem? (Plaut.); quid tibi vis dicam? (id.); engl. something, that I believe will make
you smile (Goldsmith); whereof I gave thee charge thou shouldst not eat (Milton); whose fellowship therefore un-
meet for thee good reason was thou freely shouldst dislike (Milton). Mhd. zuo Amelolt und Nêren nu hoeret wie er
sprach (Alphart); die enweiz ich war ich tuo; nhd. eine Sammlung, an deren Existenz ich nicht sehe warum Nik. An-
tonio zweifeln wollen (Le.). Engl. but with me I see not who partakes; which we would know whence learned (Mil-
ton). Nhd. auf diese veralteten Wörter haben wir geglaubt, dass wir unser Augenmerk vornehmlich richten müssten;
mhd. tiefe mantel wît sach man daz si truogen; zuo sînem brûtloufte bat er daz si quæmen; it. questi mercati giudico
io che fossero la cagione (Macchiavelli); span. los forzados del rey quiere que le dexemos (Cervantes); prov. cos -
selh m'es ops qu'ieu en prenda (es ist nötig, dass ich einen Entschluss in bezug darauf fasse); lat. hanc domum jam
multos annos est quom possideo (Plaut.); mhd. swie si wil, sô wil ich daz mîn fröude stê; it. solo Tancredi avvien
che lei connosca (Tasso); nhd. er hat alles, was man will dass ein Mann haben soll; mhd. daz ich ie wânde daz iht

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

wære; franz. voilà des raisons qu'il a cru que j'approuverais; it. le opere che pajono che abbino in se qualche virtù
(Macchiavelli); nhd. was wollen sie denn, dass aus mir werde? (Le.); wie wollt ihr, dass das geschehe? woher
befehlt ihr denn dass er das Geld nehmen soll? womit wollt ihr dass ich mich beschäftige? die Mischung, mit
welcher ich glaube, dass die Moral in [303 Zusammengesetzter Satz.] heftigen Situationen gesprochen sein will
(Le.). Dabei entsteht in manchen Fällen eine Unsicherheit darüber, ob der voranstehende Satzteil noch von dem
Verbum des grammatischen Nebensatzes oder vielmehr von dem des grammatischen Hauptsatzes abhängig zu
machen ist. Wir helfen uns jetzt vielfach durch eine Doppelsetzung desselben mit verschiedener Konstruktion,
wodurch das Ineinandergreifen von Haupt- und Nebensatz vermieden wird: wovon er wusste, dass er es nie
erlangen würde.

1. Vgl. S. 127, Anm. 3.


2. Weitere Beispiele aus den verschiedenen Perioden des Engl. bei Jespersen, Progress in Language § 162.
3. Sehr üblich sind solche Konstruktionen im Arabischen, vgl. Reckendorf S. 171.
4. Vgl. Alphonso Smith, Studies in English Syntax, S. 66ff.
5. Vgl. Delbrück, Syntax, Kap. XV.
6. Die oben gegebene Darstellung beruht fast ganz auf Madvig Kl. Schr. S. 362.
7. Vgl. Kern, Die deutsche Satzlehre, Berlin 1883.
8. An und für sich beweist allerdings der Gebrauch des Relativums in einem Konjunktionssatz nicht
Lockerung des Abhängigkeitsverhältnisses. Vgl. Lu. Ap. 15, 29 dass ihr euch enthaltet von Götzenopfer
etc., von welchen so ihr euch enthaltet, tut ihr recht (ex hô^n diateroûntes heautoùs eû práxete). Hier ist
das Rel. gebraucht wie sonst als Teil eines Satzgliedes.
9. Auf ähnliche Weise ist im Arabischen das Relativpron. aus dem Demonstrativum entstanden, vgl.
Reckendorf S. 186.

SIEBZEHNTES KAPITEL.

KONGRUENZ.

§ 214. In den flektierenden Sprachen besteht die Tendenz Wörter, die in einer Beziehung zueinander stehen, für die
es kein besonderes Ausdrucksmittel gibt, möglichst in formelle Übereinstimmung miteinander zu setzen. Hierher
gehört die Kongruenz in Genus, Numerus, Kasus, Person, wie sie zwischen einem Subst. und einem dazu gehörigen
Präd. oder Attribut oder einem dasselbe vertretenden Pron. oder Adj. besteht; als verwandte Erscheinungen können
wir auch die Übereinstimmung in Tempus und Modus innerhalb einer Periode anreihen. Diese Kongruenz ist
keineswegs durchgängig als etwas anzusehen, was sich selbstverständlich aus der Natur des logischen Verhältnisses
ergibt. Es ist z.B. gar kein logischer Grund vorhanden, warum das Adj. an dem Geschlechte, Numerus und Kasus
des Substantivums partizipieren müsste. Wir haben uns vielmehr die Sache so zu denken. Den Ausgangspunkt für
die Entstehung der Kongruenz haben solche Fälle gebildet, in denen die formelle Übereinstimmung eines Wortes
mit einem andern nicht durch Rücksichtnahme auf dasselbe herbeigeführt, sondern nur durch die Gleichheit der
Beziehung bedingt ist. Nachdem aber die Kongruenz als solche empfunden ist, hat sie ihr Gebiet durch analogische
Übertragung auf andere Fälle weiter ausgebreitet. Dass dies der Entwickelungsgang gewesen ist, werden wir am
besten erkennen, wenn wir zunächst solche Fälle betrachten, an denen sich die Ausbreitung der Kongruenz noch
geschichtlich verfolgen lässt.

§ 215. Die Übereinstimmung im Geschlecht und Numerus erscheint unlogisch über das ihr eigentlich zukommende
Gebiet ausgedehnt in Fällen, wo durch das Subjekt auf ein noch Unbekanntes hingewiesen wird, welches erst durch
das Präd. einen bestimmten Inhalt erhält. Das Pron., welches das Subj. bildet, sollte dann immer im Sg. Neutr.
stehen und tut es wirklich stets im Nhd.: das ist der Mann; das sind die richtigen; ebenso im franz. ce sont mes
frères. Dagegen erscheint [305 Allgemeines. Ausbreitung der Kongruenz.] es mit dem Präd. in Übereinstimmung
gebracht: engl. these are thy magnific deeds (Milton); it. è questa la vostra figlia? span. esta es la espada; griech.
haútê toi díkê estì theô^n (Hom.); lat. ea demum firma amicitia est (Sall.); haec morum vitia sunt (Cic.); Athenae
istae sunto (Plaut.); quae apud alios iracundia dicitur, ea in imperio superbia atque crudelitas appellatur (Sall.);
doch auch id tranquillitas erit (Seneca); so gewöhnlich im negativen und bedingten Satze. Wir werden diese
Erscheinung wohl am besten so auffassen, dass sich hier das Subj. nach dem Präd. gerichtet hat wie sonst das Präd.
nach dem Subj.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

In kopulativer Verbindung mit pluralia tantum oder Wörtern, die im Plur. eine eigene Bedeutung haben, setzen
lateinische Schriftsteller öfters auch andere Wörter im Plur., die sonst nur im Sing. gebraucht zu werden pflegen:
summis opibus atque industriis (Plaut.); neque vigiliis neque quietibus (Sall.); paupertates - divitiae (Varro); vgl.
Draeg. § 7, 4.

In einem Satze wie man nennt (heisst) ihn Friedrich kommt dem Namen eigentlich kein Kasus zu, es sollte der
blosse Stamm stehen; auch kann man Friedrich und andere Eigennamen, die kein Kasuszeichen enthalten, als
Stamm, als absoluten Kasus auffassen. Man könnte ferner, insofern eine Beziehung auf das Nennen in der Anrede
stattfindet, den Voc. erwarten, und dieser findet sich wirklich im Griech. tí me kaleîte kúrie? (Luk. 6, 46), in der
Vulgata übersetzt quid vocatis me domine?[1]) In Ermangelung eines reinen Stammes muss dann der Nom.
eintreten, der übrigens meistens von dem Voc. nicht zu scheiden ist. Im Got. ist die eben erwähnte Stelle übersetzt
hva mik haitid frauja? Entsprechend übersetzt noch Luther was heisst ihr mich aber Herr, Herr? und so wird der
Nom. (Voc.) auch sonst im Mhd. und Nhd. gebraucht: daz man in hiez der bâruc (Wolfram), ich hiess ihn mein
Montan (Gellert); den ich Herr Stolle nennen hörte (Insel Felsenburg). Das Gewöhnliche aber ist jetzt der Akk., und
schon im Got. heisst es: þanzei jah apaustuluns namnida. Dieser Akk. ist nur durch die Gewohnheit der Kongruenz
veranlasst, die man in Fällen hatte wie got. izei þiudan sik silban taujiþ (der sich selbst zum König macht).

Ebenso sollte in Wendungen wie er hat den Namen Max der reine Stamm, respektive in Ermangelung eines solchen
der Nom. stehen, und so verhält es sich im Deutschen. Im Lat. aber ist eine Konstruktion wie lactea nomen habet
(Ov.) nur poetisch und nachklassisch. Im klassischen Lat. erscheint der Nom. neben nomen nur, wenn dieses [306
Siebzehntes Kapitel. Kongruenz.] selbst Nom. ist, also Kongruenz stattfindet, z. B. cui nomen Arethusa est (Cic.).
Daneben wird der Name in Kongruenz mit der Person, der er beigelegt wird, gebracht, z. B. nomen Mercuriost mihi
(Plaut.). Das entsprechende Schwanken in Bezug auf die Kongruenz findet sich da, wo nomen Akk. ist: filiis duobus
Philippum et Alexandrum et filiae Apamam nomina imposuerat (Liv.) - cui Superbo cognomen facta indiderunt
(Liv.). Dieses Schwanken zeigt am besten, dass die Kongruenz hier nicht aus der Natur der Sache entsprungen ist,
sondern vielmehr aus einer gewissen Verlegenheit der Sprechenden, die in Ermangelung einer absoluten Form einen
Kasus wählen mussten und dabei irgendwo einen Anschluss suchten, gemäss dem schon die Sprache
durchdringenden Prinzipe der Kongruenz.

Eine ähnliche Verlegenheit besteht bei dem prädikativen oder prädikativ-attributiven Nomen neben einem Inf. Das
Neuhochdeutsche ist insofern gut daran, als es eine absolute Form des Adj. hat: es glückte ihm unbekannt zu bleiben.
Das Subst. erscheint, wo es nicht zu vermeiden ist, dass ein bestimmter Kasus sich zu erkennen gibt, immer im
Nom.: nicht nur er strebt danach berühmt zu werden, sondern auch es steht dir frei als verständiger Mann zu
handeln. Im Lat. steht der Nom., wenn ein Anschluss an das Subj. des regierenden Verbums möglich ist: pater esse
disce, omitto iratus esse; poetisch ait fuisse navium celerrimus (Catull); rettulit Ajax esse Jovis pronepos (Ov.);
ebenso im Griechischen, auch beim substantivierten Inf., in welchem Kasus dieser auch stehen mag: orégontai toû
prô^tos hékastos gígnesthai (Thuc.); édoxe pássophos eînai dià tò autòs mê` hoîós t' eînai (Plato). Im Griech. findet
eine solche Anknüpfung auch an einen vom regierenden Satze abhängigen Gen. oder Dat. statt: hápasin anánkê tâ
turánnô polemíô eînai (Plato); hoi Lakedaimónioi Kúrou edéonto hôs prothumotátou pròs tòn pólemon genésthai
(Xen.). An den Dat. in beschränktem Masse auch im Lat.: animo otioso esse impero (Terenz); da mihi fallere, da
justo sanctoque videri (Hor.); nec fortibus illic profuit armentis nec equis velocibus esse (Ov.); allgemein bei licet.
Daneben kommt nach licet mihi zuweilen der Akk. vor (z. B. si civi Romano licet esse Gladitanum, (Cic.); daraus zu
erklären, dass der Akk. der gewöhnliche Subjektskasus beim Inf. ist.[2]) Angleichung an den Dat. kommt auch im
Anord. vor, vgl. leidiz mér at sitja heima sem konum (Laxdoelasaga).
Ich führe noch einige Fälle an, in denen keine Kongruenz durchgeführt ist und zum Teil nicht hat durchgeführt
werden können, bei denen man sich deshalb in Ermangelung des eigentlich einzig berechtigten reinen Stammes mit
dem Nom. beholfen hat. Wir sagen z.B. [307 Ausbreitung und Schwanken der Kongruenz.] dem als eine schreiende
Ungerechtigkeit bezeichneten Befehle, mein Beruf als Lehrer, sogar die Stellung des Königs als erster Bürger des
Staates; in einer Lage wie die seinige neben der seinigen. Im Lat. finden sich Konstruktionen wie Sempronius causa
ipse pro se dicta damnatur; flumen Albim transcendit, longius penetrata Germania quam quisquam priorum (Tac.).
Hierbei finden ipse und quisquam zwar eine Anlehnung bei dem Subjekte des Verb. fin., gehören aber eigentlich nur
zu dem Ablativus abs., in welchem sich ihnen keine Anknüpfung bietet.[3])

§ 216. Namentlich entsteht eine Verlegenheit des Sprechenden da, wo eine grammatische Kongruenz zwischen zwei
Satzteilen dem Sinne nach nicht möglich ist und dazu ein dritter Satzteil tritt, von dem man gewohnt ist, dass er mit
beiden kongruiert. Man muss sich für einen von den beiden entscheiden, und in dieser Beziehung kann sich der Usus
in verschiedenen Sprachen verschieden fixieren, auch in ein und derselben schwanken.

Subjekt - Prädikat - Kopula. Das ursprünglich Normale ist jedenfalls, dass die Kopula sich im Numerus wie jedes
andere Verb. nach dem Subj. richtet, und dementsprechend heisst es z. B. engl. it was my orders, what is six winters;

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

franz. c'est eux, c'était les petites îles; lat. nequa pax est induciae (Gellius). Im Deutschen aber setzen wir zum
Neutrum des Pron. als Subj. bei pluralischem Präd. die Kopula im Plur.: das sind zwei verschiedene Dinge.
Entsprechende Konstruktion mitunter auch bei französischen Schriftstellern, z. B. c'étaient Eponine et Azelma (V.
Hugo). In anderen Fällen würde man jetzt die Verbindung überhaupt vermeiden, vgl. dass, was ihm der Stand gab,
allweilige Hindernisse der theatralischen Würkung wurden (Herder), so weiss ich nit was hurnheusser heyssen
(Lu.). Damit vgl. man griech. tò chôríon toûto, hóper próteron Ennéa hodoì ekaloûnto (Thuc.). Es kommt hierbei in
Betracht, dass der Plur. sich charakteristischer geltend macht als der Sing. Doch ist in mehreren Sprachen auch das
Umgekehrte möglich, dass zu pluralischem Subj. und singularischem Präd. die Kopula im Sing. gesetzt wird: griech.
hai chorêgíai hikanòn eudaimoneías sêmeîón esti (Ant.); lat. loca, quae Numidia appellatur (Sall.); engl. two paces
in the vilest earth is room enough (Sh.); span. los encamisados era gente medrosa (Cervantes); nhd. falsche Wege ist
dem Herrn ein Greuel (Lu.); diese Sternen, die ich mein', ist der Liebsten Augenschein (Opitz); jugendliche
Einkleidungen in Briefe und Gespräche; die Episoden in den Briefen und die fremden Eingänge in den Gesprächen:
scheint mir ein Putz (Herder). Entsprechend verhält es sich mit der Person des Verbums. Engl. it was you, is that
you; franz. c'est moi, c'est nous, [308 Siebzehntes Kapitel. Kongruenz.] c'est vous, in der älteren Sprache auch c'est
eux. Dagegen nhd. das waren Sie, sind Sie das; altfranz. ce ne suis je pas, c'estez vous.

Antizipierendes unbestimmtes Subj. - logisches Subj. - Prädikat. Franz. rarement il arrive des révolutions, il est des
gens de bien. Dagegen deutsch: es geschehen Umwälzungen.

Ein Partizipium als Präd. oder Kopula kann sich im Genus und Numerus nach einem danebenstehenden prädikativen
Subst. richten anstatt nach dem Subj. Vgl. griech. kánta diê'gêsis oûsa tunchánei (Plato); lat. paupertas mihi onus
visum (Terenz); nisi honos ignominia putanda est (Cic.) (dagegen Semiramis puer esse credita est, Justin). Das
Gleiche findet statt beim prädikativen Akk.: griech. tê`n hêdonê`n diô'kete hôs agathòn ón (Plato); bei attributiver
Verwendung: griech. tàs thugatéras paidía ónta (Dem.); lat. ludi fuere, Megalesia appellata (Liv.).

Das Präd. kann sich anstatt nach dem Subj. nach einer zu diesem gehörigen Apposition richten: griech. Thê^bai,
pólis astugeítôn, ek mésês tê^s Helládos anê'rpastai (Aesch.); lat. Corinthum totius Graeciae lumen extinctum esse
voluerunt (Cic.); Volsinii oppidum Tuscorum concrematum est; nhd. die Ägypter aber, dies harte und gesetzmässige
Volk, schlug gleich die Form der Regel und der Gewohnheit auf ihre Versuche (Herder). Auch bei Umsetzung in
den Abl. abs.: omni ornatu orationis tamquam veste detracta (Cic.). Neben distributiver Apposition steht der Sing.
trotz pluralischen Subjekts: hai téchnai tò hautê^s hekástê érgon ergázetai (Plato); die sich nach des Meisters Tode
sogleich entzweiten und offenbar jeder nur eine beschränkte Sinnesart für das Rechte erkannte (Goe.); dâ die
Kahedîne und die sarjande von Semblidac ieslîcher sîner künste pflac (Wolfram); dat etlyke eddelynge vaken eyn
yegen den anderen plach to kempen (Reinke vos); wie die glidmass des corpers alle eyns dem andern dienet (Lu.).

Auffallender ist die Anpassung des Präd. an ein mit dem Subj. verglichenes Nomen; im Genus: magis pedes quam
arma tuta sunt (Sall.); im Numerus: ein Christ, wie die meisten sind, halten unsern Staat für zu niedrig (Herder); me
non tantum literae quantum longinquitas temporis mitigavit (Cic.); ei cariora semper omnia quam decus fuit (Sall.);
im Genus und Numerus: quand on est jeunes, riches et jolies, comme vous, mesdames, on n'en est pas réduites à
l'artifice (Diderot); in der Person: so ein stattlicher Teuffel, als ich bin, soll mich billich schämen (Moscherosch);
hósoi hô'sper hêmeîs epibouleuómetha (Thuc.); in Person und Numerus: hê túchê aeì béltion ê` hêmô^n autô^n
epimeloúmetha (Demosth.); einen Studenten hörte ich eine Rede folgendermassen beginnen: wenn man wie wir dem
Ende des Semesters entgegengehn. Auffallend ist auch die Kongruenz des Präd. mit einem zweiten durch »und
nicht« [309 Schwanken der Kongruenz.] angeknüpften Subjekte: heaven and not we have safely fought to-day
(Shakesp.).

Im Griech. kann sich eine Apposition, wenn sie von dem Nomen zu dem sie gehört, durch einen Relativsatz getrennt
ist, im Kasus nach dem Relativpron. richten: Kúklôpos kechólôtai, hòn ophthalmoû aláôsen, antítheon Polúphêmon
(Odysee); hoi palaioì ekeînoi, hô^n onómata megála légetai, Pittakoû te kaì Bíantos (Plato).

Ein Dem. oder Rel. kann sich anstatt nach dem Subst., auf welches es sich bezieht, nach einem von ihm prädizierten
Nomen richten: lat. Leucade sunt haec decreta; id caput Arcadiae erat (Liv.); quod si non hominis summum bonum
quaereremus, sed cujusdam animantis, is autem esset nihil aliud nisi animus (Cic.); animal hoc, quem vocamus
hominem (Cic.); ii sunt, quam tu nationem appellasti (Cic.); in pratis Flaminiis, quem nunc circum Flaminium
appellant (Liv.); griech. phóbos, hê`n aidô^ eípomen (Plato). Nach dem Relativpron. kann sich dann auch noch das
Präd. des Hauptsatzes richten: Carmonenses, quae est longe firmissima totius provinciae civitas, per se cohortes
ejecit.

Ein Relativpron., welches sich logisch auf ein unbestimmtes Subj. bezieht, pflegt sich nach dem dazu gehörigen

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

bestimmten Prädikat zu richten, natürlich dann auch das Präd. des Pron. So müssen wir im Deutschen sagen: es war
ein Mann, der es mir gesagt hat; es sind die besten Menschen, die dir das raten. Ebenso im Franz.: c'est eux qui ont
bâti. Im Franz. richtet sich dabei auch die Person des Verbums im Relativsatz nach dem bestimmten Präd.: c'est moi
seul qui suis coupable. Dagegen nhd.: du bist es, der mich gerettet hat.

In einem Relativsatze tritt das Verb. in die erste oder zweite Person im Anschluss an das Subj. des regierenden
Satzes, wiewohl das Relativpron. sich auf das Präd. bezieht und danach die dritte Person erfordert würde: lat. non
sum ego is consul, qui nefas arbitrer Gracchos laudare (Cic.); neque tu is es, qui nescias (id.); franz. je suis
l'homme, qui accouchai d'un oeuf (Voltaire); engl. if thou beest he, who in the happy realms of light didst outshine
myriads (Milton); I am the person, that have had (Goldsmith); nhd. ihr seid die beiden einzigen, die mich davor
retten könnt (H. v. Kleist). Diese Konstruktionsweise könnte allerdings auch als Kontamination aufgefasst werden;
in dem Beispiel aus Goldsmith hätten sich also die Gedanken »ich bin die Person, die gehabt hat« und »ich habe
gehabt« miteinander vermischt. Ebenso, wenn sich umgekehrt der Relativsatz nach dem Präd. statt nach dem Subj.
richtet, vgl. franz. ce n'est pas moi, qui en ferai l'épreuve (Feuillet). Dasselbe gilt von einer Fügung wie eine der
penibelsten Aufgaben, die meiner Tätigkeit auferlegt werden konnte (statt konnten, Goe.). Damit vgl. man allaro
barno betsta thero the io giboran wurdi (Heliand) [310 Siebzehntes Kapitel. Kongruenz.] und secga æ'negum þára
þe tírléases trode scéawode (einem der Männer, welche des Ruhmlosen Spur schauten, Beowulf); und so allgemein
im Altsächsischen und Angelsächsischen. So auch gewöhnlich im Neuengl.[4]) z. B. one of the errors which has
been diligently propagated (Irving), this reply has always struck us as one of the finest that ever was made in Par-
liament (Macaulay).

Das Präd. oder Attribut kann anstatt mit dem Subj. oder dem Worte, das es bestimmt, mit einem davon abhängigen
Genitive kongruieren, vgl. ê^lthe d' epì psuchê` Thêbaíou Teiresíao chrúseon skê^ptron échôn (Hom.); noch auffall-
ender engl. there are eleven days' journey from Horeb unto Kadishbarnea (Deut. 1, 2). Im Franz. sagt man la plu-
part de ses amis l'abandonnèrent, aber la plupart du peuple voulait. Wenn sonst häufig nach einem Kollektivum mit
pluralischem partitiven Gen. der Plur. steht (z. B. eine Anzahl Soldaten sind angekommen), so braucht der Gen.
allerdings nicht als die einzige Ursache für den Plur. betrachtet zu werden, da derselbe nach dem Kollektivum an
sich möglich ist, vgl. § 185.

Zuweilen steht im Lat. ein auf eine angeredete Person bezügliches Attribut im Voc.: quibus, Hector, ab oris
expectate venis? (Virg.). Ebenso im Griech.: ólbie, kê^re, génoio (Theokrit).

§ 217. An den gegebenen Beispielen lässt sich also erkennen, in welcher Weise die Kongruenz sich über das ihr
ursprünglich zukommende Gebiet ausgebreitet hat. Wir können uns danach eine Vorstellung davon machen, wie
dieser Prozess sich schon in einer Periode vollzogen hat, die weit über alle unsere Überlieferung zurückreicht.
Freilich muss man berücksichtigen, dass für die älteste Epoche die Ausbreitung der Kongruenz nicht etwas so
Unvermeidliches war, weil noch absolute Formen ohne Flexionssuffixe existierten.

Betrachten wir nun die ersten Grundlagen, von denen die Kongruenz ausgegangen ist. Eine besondere Bewandtnis
hat es mit der Kongruenz des Verbums in Person und Numerus. Die Verbalformen sind ja zumeist durch Anlehnung
eines Personalpronomens an den Tempusstamm entstanden. Wir müssen jedenfalls eine Epoche voraussetzen, in
welcher sich Substantiva in der gleichen Weise mit dem Stamm verbanden und Pronomina auch vor den Stamm
treten konnten. Man konnte daher, um es durch Formeln zu veranschaulichen, ebenso wie gehen ich, gehen du,
gehen er etc. auch sagen gehen Vater, Vater gehen und ich gehen etc. Es gibt verschiedene nichtindogermanische
Sprachen (z. B. das Ungarische), in denen die 3. Person Sg. in Gegensatz zu den übrigen Personen eines Suffixes
entbehrt. In ihnen besteht also noch die ursprüngliche Art der Verknüpfung nach der Formel gehen Vater oder Vater
gehen. Die Weiterentwickelung geht dann aus von [311 Entstehung der Kongruenz.] einer Doppelsetzung des
Subjekts, wozu es auch auf modernen Sprachstufen Analogien gibt. Vgl. der Kirchhof er liegt wie am Tage; die
Glocke sie donnert ein mächtiges Eins; freilich ist er zu preisen, der Mann (vgl. oben § 88); je le sais, moi, il ne
voulut pas, lui; toi, tu vivras vil et malheureux. Hierher müssen wir auch die Vorwegnahme des Subjekts durch ein
unbestimmtes es ziehen (es genügt ein Wort). Die doppelte Ausdrückung des Pronomens tritt ursprünglich nur ein,
wo dasselbe besonders hervorgehoben werden soll. Wie dieselbe sich aber allmählich ausbreiten kann, besonders
durch die lautliche Reduktion der Pronominalformen begünstigt, zeigen bairische Mundarten, in denen wir z. B.
folgende Häufungen finden: mir hammer (= wir haben wir) oder hammer mir, ess lebts (ihr lebt ihr) oder lebts ess.
Es hat sich also an den fertigen Verbalformen noch einmal der Vorgang wiederholt, der sich früher an den
Tempusstämmen vollzogen hat. Die enklitisch angelehnten Pronomina sind mit dem Verbum verschmolzen und
haben ihre ursprüngliche Subjektsnatur mehr und mehr eingebüsst. In der indogermanischen Grundsprache muss die
Entwickelung bereits so weit gediehen sein, dass die Formel Vater gehen schon ganz durch die Formel Vater gehen
er verdrängt war. Das suffigierte Pronomen behauptet aber zunächst noch eine zweifache Funktion. In einigen
Fällen dient es noch als Subjekt (lat. lego, legit), in andern zeigt es nur durch die Kongruenz die Beziehung auf das

163
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Subj. (pater legit, ego scribo). In den meisten modernen indogermanischen Sprachen ist nur die zweite Funktion
übrig geblieben. Die Hauptursache, welche dazu geführt hat die Setzung eines zweiten Subjektspronomens
allgemein zu machen, ist die, dass die Suffixe zur Charakterisierung der Formen nicht mehr ausreichten. Die
Kongruenz des verbalen Prädikates mit dem Subjekte hat übrigens an sich gar keinen Wert. Unsere
Personalendungen würden daher ein ganz überflüssiger Ballast sein, wenn sie nicht einerseits dazu dienten das
Verbum als solches erkennen zu lassen und anderseits in einigen Fällen den Unterschied des Modus auszudrücken,
was aber beides sehr unvollkommen und in unnötig komplizierter Weise geleistet wird.

Was die nominale Kongruenz betrifft, so ist die des Genus und Numerus jedenfalls zuerst an dem rückbezüglichen
Pron. ausgebildet, von welchem ja das grammatische Geschlecht seinen Ursprung genommen hat (vgl. § 181). Die
Kongruenz im Kasus hat sich zuerst bei der Apposition eingestellt. Es besteht zwar auch hier an sich keine absolute
Nötigung das Kasuszeichen doppelt zu setzen.[5]). Indessen liegt [312 Siebzehntes Kapitel. Kongruenz.] es nahe die
Apposition zu einem Satzteile als eine nochmalige Setzung dieses Satzteiles zu fassen. Eine Kongruenz im Gen. und
Numerus tritt bei der Apposition auch jetzt nur ein, wo sie durch die Natur der Sache gefordert wird. Die Kongruenz
des attributiven und prädikativen Adjektivums kann nur aus der Kongruenz des appositionellen und prädikativen
Substantivums erwachsen sein, d. h. ihre Anfänge reichen zurück in eine Epoche, in welcher sich das Adj. noch
nicht als eine besondere Kategorie von der Kategorie des Substantivums losgelöst hatte. Den Ausgangspunkt haben
die Substantiva gebildet, die man in der lateinischen Grammatik Mobilia nennt, wie coquus - coqua, rex - regina
etc. Indem solche Substantiva in Adjektiva übergingen (vgl. unten Kap. XX), behielten sie die Kongruenz bei, und
dieselbe ward so etwas zum Wesen des Adjektivums Gehöriges.
Die Kongruenz im Tempus, die sogenannte consecutio temporum hat sich im allgemeinen nicht über das Gebiet
hinaus ausgedehnt, welches ihr von Anfang an zukommt. Die Ausnahmen von den darüber aufgestellten Regeln
zeigen, dass für das Tempus im abhängigen Satze nicht eigentlich das des regierenden massgebend ist, sondern dass
es sich selbständig aus inneren Gründen bestimmt. Etwas weiter ausgedehnt ist schon die Kongruenz des Modus, die
dann zuweilen auch die des Tempus nach sich zieht, vgl. lat. tantum valuit error, ut, corpora cremata cum scirent,
tamen ea fieri apud inferos fingerent, quae sine corporibus nec fieri possent nec intelligi (statt possunt, Cic.); invitus
feci, ut fortissimi viri T. Flaminii fratrem e senatu ejicerem septem annis postquam consul fuisset (fuerat, Cic.); cum
timidius ageret, quam superioribus diebus consuesset (Caes.).[6]) Sehr ausgedehnt ist diese Angleichung des Modus
im Mhd.

1. Vgl. Ziemer S. 71. [Paul, Prinzipien]


2. Vgl. Ziemer S. 96.
3. Vgl. hierzu Madvig Kl. Schr. 367ff.
4. Vgl. Alphonso Smith, Studies in English syntax, S. 25.
5. Wir sehen das namentlich daran, dass in einer jüngeren Epoche bei besonders enger Verbindung das
Prinzip der Kongruenz wieder aufgegeben und die Flexion des einen Bestandteils fortgelassen ist; vgl.
mhd. des künic Guntheres lîp, an künec Artûses hove; nhd. Friedrich Schillers, des Herrn Müller (bei Goe.
noch des Herrn Carlyle's) etc. H. Sachs sagt sogar Herr Achilli, dem Ritter.
6. Vgl. Draeger 151, 5.

ACHTZEHNTES KAPITEL.

SPARSAMKEIT IM AUSDRUCK.

§ 218. Die sparsamere oder reichlichere Verwendung sprachlicher Mittel für den Ausdruck eines Gedankens hängt
vom Bedürfnis ab. Es kann zwar nicht geleugnet werden, dass mit diesen Mitteln auch vielfach Luxus getrieben
wird. Aber im Grossen und Ganzen geht doch ein gewisser haushälterischer Zug durch die Sprechtätigkeit. Es
müssen sich überall Ausdrucksweisen herausbilden, die nur gerade so viel enthalten, als die Verständlichkeit für den
Hörenden erfordert. Das Mass der angewendeten Mittel richtet sich nach der Situation, nach der vorausgehenden
Unterhaltung, der grösseren oder geringeren Übereinstimmung in der geistigen Disposition der sich Unterhaltenden.
Es kann unter bestimmten Voraussetzungen etwas durch ein Wort dem Angeredeten so deutlich mitgeteilt werden,
als es unter anderen Umständen erst durch einen langen Satz möglich ist. Nimmt man diejenige Ausdrucksform zum
Masstabe, die alles das enthält, was erforderlich ist, damit ein Gedanke unter allen Umständen für jeden verständlich
werde, so erscheinen die daneben angewendeten Formen als unvollständig.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Es begreift sich daher, dass die sogenannte Ellipse bei den Grammatikern eine grosse Rolle gespielt hat. Misst man
allemal den knapperen Ausdruck an dem daneben möglichen umständlicheren, so kann man mit der Annahme von
Ellipsen fast ins Unbegrenzte gehen. Bekannt ist der Missbrauch, der damit im 16. und 17. Jahrhundert getrieben ist.
Indessen war dieser Missbrauch doch nur die weitergehende Durchführung von Anschauungen, die auch jetzt noch
in unseren Grammatiken vertreten sind. Es gilt diesen Masstab aufzugeben und jede Ausdrucksform nach ihrer
Entstehung ohne Hineintragung von etwas Fremdem zu begreifen. Man wird dann die Ansetzung von Ellipsen auf
ein Minimum einschränken. Oder aber man müsste den Begriff der Ellipse in viel ausgedehnterem Masse anwenden,
als [314 Achtzehntes Kapitel. Sparsamkeit im Ausdruck.] es jetzt üblich ist: man müsste zugeben, dass es zum
Wesen des sprachlichen Ausdrucks gehört elliptisch zu sein, niemals dem vollen Inhalt des Vorgestellten adäquat,
so dass also in Bezug auf Ellipse nur ein Gradunterschied zwischen den verschiedenen Ausdrucksweisen besteht.

§ 219. Wir betrachten zuerst die Ergänzung eines Wortes oder einer Wortgruppe aus dem Vorhergehenden oder
Folgenden. Hier kann zunächst die Frage aufgeworfen werden, ob und wieweit man überhaupt berechtigt ist von
einer Ergänzung zu reden. Wir haben oben § 96 gesehen, dass ein Satzteil mehrfach gesetzt werden kann. Die
übrigen Elemente des Satzes haben dann gleichmässig Beziehung zu dem einen wie zu dem andern. Man wird
schwerlich für alle Fälle behaupten, dass diese eigentlich doppelt gesetzt werden müssten, dass sie einmal wirklich
gesetzt, ein zweites (drittes, viertes) Mal zu ergänzen seien. Am wenigsten anwendbar ist der Begriff der Ergänzung
bei der Konstruktion apò koinoû. Aber auch in einem Satze wie er sah mich und erschrak wird man nicht nötig
finden er bei erschrak noch einmal zu ergänzen; und ebenso wenig wird man in der Verbindung mit Furcht und
Hoffnung die Präp. vor Hoffnung ergänzt sein lassen, weil man auch sagen kann mit Furcht und mit Hoffnung. Es
fragt sich aber, ob man nicht den Begriff der Ergänzung ganz fallen lassen und dafür die einmalige Setzung mit
mehrfacher Beziehung substituieren kann. Man muss dazu nur aufhören das, was man gewöhnlich einen Satz nennt,
als eine in sich geschlossene Einheit zu betrachten, und ihn vielmehr als Glied einer fortlaufenden Reihe ansehen.

Gebräuchlich ist es eine Ergänzung anzunehmen in Fällen wie die deutsche und französische Sprache und noch
entschiedener für die Form die deutsche Sprache und die französische. Das wir aber auch hier nichts anderes haben,
als zwei Glieder die in dem nämlichen Verhältnis zu einem dritten stehen, zeigt der Umstand, dass wir zwar nicht im
Deutschen, wohl aber in anderen Sprachen dergleichen Sprechformen mit anderen vertauschen können, wobei die
beiden Glieder zu einer Einheit zusammengefasst zu dem dritten (oder richtiger jetzt zweiten) Gliede gestellt
werden. Dies bekundet sich durch die Anwendung des Plurals. Man sagt z. B. quarta et Martia legiones (neben
legio Martia quartaque, beides bei Cic.), Falernum et Capanum agros (Var. agrum Liv.), it. le lingue greca e latina
(neben la lingua greca e latina), franz. les langues française et allemande, les onzième et douzième siècles, engl. the
german and french languages.

Ein ähnliches Verhältnis haben wir da, wo zu einem gemeinsamen Gliede eine Mehrheit von einander
korrespondierenden Gliedern hinzutritt [315 Ergänzung aus dem Vorhergehenden oder Folgenden.] (Karl schreibt
gut, Fritz schlecht). Dass auch hier die übliche Annahme einer Ergänzung überflüssig, ja unzulässig ist, zeigt wieder
die in manchen Sprachen vorkommende Setzung des Prädikats in den Plur., vgl. Palatium Romulus, Remus
Aventinum ad inaugurandum templa capiunt (Liv.); dementsprechend auch beim Abl. abs.: ille Antiocho, hic
Mithridate pulsis (Tac.). Selbst bei Disjunktion der Subjekte ist der Plur. des Prädikates in verschiedenen Sprachen
neben dem Sing. in Gebrauch: vgl. Sonnensäulen, die weder Zeit noch Regen fäulen (Haller); lat. si quid Socrates
aut Aristippus contra morem consuetudinemque civilem fecerint locutive sint (Cic.); haec si neque ego neque tu
fecimus (Cic.); Roma an Carthago jura gentibus darent (Liv.); franz. ou la honte ou l'occasion le détromperont; ni
la douceur, ni la force n'y peuvent rien; engl. nor wood, nor tree, nor bush are there (Scott). Dieser Plur. ist
jedenfalls von solchen Fällen ausgegangen, in denen ohne wesentliche Veränderung des Sinnes Vertauschung mit
kopulativer Verbindung möglich war, und hat sich dann analogisch auch auf solche ausgedehnt, die keine
Vertauschung zulassen. Er ist ein Beweis dafür, dass das Sprachgefühl sich das einmal gesetzte Prädikat nicht
doppelt gesetzt gedacht hat.

Ein gemeinsam zu Haupt- und Nebensatz gehöriger (respektive in dem einen zu ergänzender Satzteil) findet sich bei
der § 97 besprochenen Art des apò koinoû und auch bei Relativsätzen, die auf andere Weise entstanden sind, z. B.
den lateinischen (qui tacet consentit). Ferner im Mhd., wenn ein konjunktionsloser Nebensatz im Verhältnis des
Objekts zu dem regierenden steht: dâ wânde ich stæte fünde (Minnesinger), er sprach wêre intrunnin (Rother).
Seltener sind andere Fälle: nune weiz ich wie es beginne (Tristan); wes er im gedâhte daz elliu diu wolde bedwingen
(j. Judith); mitthiu ther heilant gisah thio menigi steig ûfan berg (Fragm. theot.); kem einer her mit dem opfer,
brecht auch vil golts darvon (H. Sachs); da ihn die schöne fraw erblicket, winckt ihm (id.); was ich da träumend
jauchzt und litt, muss wachend nun erfahren (Goe.); dass, indem er ihn gesegnete, ihm gebot und sprach (Lu.).

Sehr gewöhnlich werden in der Wechselrede Worte des einen vom andern nicht wiederholt. Doch darf man das
nicht als Argument dafür geltend machen, dass eine Ergänzung anzunehmen notwendig sei. Denn auch die

165
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wechselrede muss als etwas kontinuierlich Zusammenhängendes betrachtet werden.

Als eine starke Anomalie erscheint es uns jetzt, wenn ein Satzglied nicht zwei sich aneinander anschliessenden
Sätzen gemein ist, sondern zwei durch einen dritten getrennten, vgl. swaz er den künic ê geschalt, des wart ir
zehenstunt mêr, und (er) jach, si wære gar ze hêr [316 Achtzehntes Kapitel. Sparsamkeit im Ausdruck.] (Wolfram);
wer mit wölfen wil geulen, der muss auch mit in heulen, sunst thun sie sich bald meulen und (er) ist bei in unwert (H.
Sachs). Ebenso, wenn die Sätze, denen das Glied gemeinsam ist, sich zwar aneinander anschliessen, aber keine
direkte Beziehung zueinander haben, vgl. sô ist geschehen des ir dâ gert und wænent (ihr meint), mir sî wol
geschehen (Hartmann v. Aue).

Das gemeinsame Glied kann zwischen den nicht gemeinsamen stehen, sodass es sich zu einem jeden gleich bequem
fügt (apò koinoû); oder es steht am Anfang oder Schluss des Ganzen: dann ist es zwar dem einen näher, aber immer
noch leicht zu dem andern zu ziehen; oder endlich es ist einer von den Wortgruppen, auf die es gleichmässig zu
beziehen ist, eingefügt: dann erscheint es zunächst nur zu dieser gehörig. Uns sind solche Einfügungen nur in der
ersten Gruppe geläufig. Hierbei hat die Annahme einer Ergänzung in der zweiten (dritten etc.) Gruppe am meisten
für sich. Im Ahd. und Mhd. ist Einfügung in die zweite nicht ganz selten: zi hellu sint gifiarit joh thie andere gikêrit
(Otfrid); mâge und mîne man (meine Verwandten und meine Lehensleute); gelücke und Sîfrides heil; daz ich muoz
und sterben sol. Beispiele aus dem Nhd.: nicht Sonne, Mond und Sternenschein, mir glänzte nur mein Kind (Bürger)
es bell' und wüte, wie der Hund auch immer will (Heinr. Alberts Arien); mir sind das Reich und untertan die Lande
(Klopstock). Vgl. it. il mar tranquillo e l'aure era soave (Petrarca); non pur per l'aria gemiti e sospiri, ma volan
braccia e spalle (Ariost); afranz.: Breton l'ensaigne lor signor (das Feldgeschrei ihres Herrn) e li Romain crient la
lor; griech. oúte bômòs oút' Apóllônos dómos sô'sei se (Eur.). Bei dieser Fügung kann wieder von einer Ergänzung
eigentlich nicht die Rede sein. Vielmehr bleibt die erste Gruppe unvollständig, bis das gemeinsame Glied
ausgesprochen ist, welches dann in diesem Augenblicke zugleich zur Vervollständigung der ersten und der zweiten
Gruppe dient.

§ 220. Die Funktion, welche ein gemeinsames Glied hat, ist oft nicht nach den verschiedenen Seiten hin die gleiche.
Hierdurch entsteht ein Missverhältnis, indem sich das Glied in seiner grammatischen Form nur nach einer Seite
richten kann. Die Scheu vor diesem Missverhältnis, welches sich durch Wiederholung vermeiden lässt, ist in den
verschiedenen Sprachen und Perioden eine sehr verschiedene.

Am unanstössigsten ist überall Nichtübereinstimmung in der geforderten Person (auch im Numerus) des Verbums.
Vgl. er hat mich eben so lieb wie du; du glaubst es, ich nicht; sie reisen morgen ab - ich auch. Als Abnormität aber
erscheint es uns, wenn das gemeinsame Glied sich nach dem zweiten Teile richtet, vgl. autòs mèn húdôr, egô` dè
oînon pínô (Dem.); dass ich im Vater und der Vater in mir ist (Lu.); [317 Ergänzung aus dem Vorhergehenden oder
Folgenden.] non socii in fide, non exercitus in officio mansit (Liv.). Die Differenz des Tempus ist unberücksichtigt
in folgenden Beispielen: hêmeîs homoîoi kaì tóte kaì nûn esmen (Thuc.); álla mèn próteron, álla dè nûn peirâ légein
(Xen.); die Differenz von Tempus und Modus zugleich in folgendem: epeidê^ ou tóte, allà nûn deîxon (Dem.). Eine
ziemlich gewöhnliche Erscheinung ist es wieder, dass der Inf. aus einem Verb. fin. zu entnehmen ist: er hat
gehandelt, wie er musste; noch freier im Mhd. nâch der mîn herze ie ranc und iemer muoz; griech. pánu chalepô^s
échô, oîmai dè kaì humô^n toùs polloùs (Plato). Seltener ist so ein Part. zu entnehmen, vgl. mhd. daz diu minne dich
verleitet, als si manegen hât. Ein und dieselbe Form fungiert im Deutschen zuweilen als Inf. und als Part.: ich habe
es nicht und werde es nicht vergessen (Klopstock); vgl. weitere Beispiele bei Andr. Sprachg. S. 133. H. Sachs sagt
zu ehren sein wir zu euch kumen, ein histori vns für genumen (ähnlich häufig), wiewohl von dem zweiten Verbum
das Perf. hätte durch haben umschrieben werden müssen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Bei den Nomina sind dergleichen Inkongruenzen in der jetzigen Sprache fast durchweg verpönt, erscheinen aber in
der älteren Sprache häufig, zumal im 16. Jahrhundert, zum Teil auch noch bis ins 19. Jahrhundert, und finden sich
auch in anderen Sprachen reichlich. So kongruiert das Adj. nur mit dem nächststehenden von zwei kopulativ
verbundenen Substantiven: aus meinem grossen Kummer und Traurigkeit (Lu.), von eurer Saat und Weinbergen
(Lu.), sein sonstiger Ernst und Trockenheit (Goe.), seiner gewöhnlichen Trockenheit und Ernst (id.), zu Ihrem Glück
und Freude (id.), ohne weiteres Ufer noch Küste (id.); viele Beispiele bei Andr. Sprachg. 127ff.; franz. un homme ou
une femme noyée; it. in publica utilità ed onore, le cità ed i villagi magnifichi; span. toda sa parentela y criados, la
multitud y dolor, los pensiamentos y memorias, un pabellon o tienda; lat. urbem ac portum validum (Liv.). Zu
mehreren Präpositionen, die verschiedene Kasus regieren, wird ein Wort nur einmal gesetzt ohne Anstand, wenn die
verschiedenen Kasus lautlich übereinstimmen, z. B. mit und ohne Kost; aber auch bei Nichtübereinstimmung, z. B.
um und neben dem Hochaltare (Goe.), durch und mittelst der Sprache (Herder); weitere Beispiele bei Andr.
Sprachg. S. 128. Ebenso kann auch neben mehreren Verben die nämliche Form mehrere Kasus repräsentieren, vgl.
lat. quod tactum est et ille adjunxit (Cic.); quae neque ego teneo neque sunt ejus generis (id.); nhd. was geschieht
und ich nicht hindern kann (Le.); eine Dose, die er mit 80 Gulden bezahlt hätte und nur 40 wert wäre (Goe.);[1])
womit uns für die Zukunft der Himmel schmeicheln und bedrohen kann (Goe.); bei dessen [318 Achtzehntes Kapitel.
Sparsamkeit im Ausdruck.] Gebrauch wir einander mehr schmeicheln als verletzen (Goe.);[2]) leidlicher wer mir
vnd het auch lieber das drey oder vierteglich fieber (H. Sachs); bei Zwischenstellung vnd wissen nit jr widervart
mag offt lang haben nit mehr fug (id.). Selbst ein von einer Präp. abhängiges Wort wird zugleich zum Subj. des
folgenden Verbums gemacht: dan leszt er uns fürtragen schon das heilig euangelion durch sein heilige junger,
deuten all christlich prediger (H. Sachs); von ritter Cainis ich lasz het lieb fraw Gardeleye (id.). Die Freiheit wird
auch auf solche Fälle ausgedehnt, wo eigentlich Formen von verschiedener Lautgestaltung verlangt würden.
Namentlich fungiert ein obliquer Kasus zugleich als Subj. zu einem folgenden Verb. So bei asyndetischer
Nebeneinanderstellung: liess der bischoff die seinen über das her laufen, erstachen der etlich (Wiltwolt von
Schaumburg, 1507); mit Zwischenstellung ich war selb bei dieser Handlung, geschach e du warst geborn (H.
Sachs). Ebenso bei Verbindung durch und: sehr häufig im Mhd., vgl. ez möhte uns wol gelingen und bræhten dir die
frouwen; aber auch noch nhd., vgl. er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen und wurden alle voll des heiligen
Geistes (Lu.); den es krenke meinethalben und meinen ohren offenbare (Lu.); auch dem, der sie verfolgt, und fleht
und schenkt und schwöret, wird kaum ein Blick gegönnt, und wird nur halb gehöret (Le.). Bei Verbindung durch
wan (= denn): thut euch bedenken, wan wisset selber je gar wol (H. Sachs). Auch zu der oben § 219 bezeichneten
Anomalie kann noch Inkongruenz hinzutreten, vgl. belîbe ich âne man bî iu zwei jâr oder driu, sô ist mîn herre lîhte
tôt und kument (kommt ihr) in sô grôze nôt (Hartmann v. Aue). Beispiele bei apò koinoû mit logischer
Unterordnung sind schon § 97 gegeben. Im Lat. kann auch ein Nom. einen Akk. mit vertreten: qui fatetur . . et . .
non timeo (Cic.); ein Dat. einen Akk.: cui fidem habent et bene rebus suis consulere arbitrantur (id.). Es kann auch
ein Possessivpron. das betreffende Personalpron. mitvertreten: jâ was ez ie dîn site unde hâst mir dâ mite gemachet
manege swære (Hartmann v. Aue); alsobald stunden seine Schenkel und Knöchel feste, sprang auf (Lu.). Oder ein
dâ, welches mit einem Adv. verbunden ist, das Demonstrativpron.: dâ mite so müezeget der muot und (das) ist dem
lîbe ein michel guot (Gottfrid v. Strassburg). Endlich können zwei verschiedenartige Satzteile zusammengefasst das
Subjekt zu einem folgenden Verb. bilden, vgl. dar vuorte si in bî der hant und sâzen zuo einander nider (Hartmann
v. Aue); dô nam daz Constantînis wîb ir tohter, die was hêrlîch, unde bâtin Dietherîche (Rother); wie herzog Jason
wardt verbrandt von Medea also genandt; hetten doch vor viel Zeit vertrieben (H. Sachs); [319 Ergänzung aus dem
Vorausgehenden. Fehlen von Mittelgliedern.] so hertzlieb von hertzlieb musz scheiden vnd gentzlich kein Hoffnung
mehr handt (id.).

§ 221. Wir haben in Kap. 16 gesehen, dass zwei Hauptbegriffe durch ein oder mehrere Mittelglieder verknüpft sein
können, welche die Art der Verknüpfung genauer bestimmen, sei es dass dieses Verhältnis zugleich psychologisch
und grammatisch ist, oder dass es rein psychologisch ist und sich mit der grammatischen Verknüpfungsweise nicht
deckt. Da nun häufig daneben Ausdrucksweisen vorkommen, welche solcher Mittelglieder entraten, so ist man
leicht geneigt diese für elliptisch zu erklären. Diese Anschauung ist für viele Fälle durchaus zurückzuweisen. Wenn
man z. B. statt Hectoris Andromache und Caecilia Metelli genauer sagen könnte Andromache uxor Hectoris und
Caecilia filia Metelli so folgt daraus doch nicht, dass bei den kürzeren Ausdrucksweisen die Formen uxor und filia
zu ergänzen sind, sondern sie erklären sich ohne solchen Behelf aus der allgemeinen Funktion des Genitivs, und wer
hier eine Ellipse annimmt, muss konsequenterweise mit den Grammatikern des 16. Jahrhunderts bei jedem Genitiv
eine Ellipse annehmen. Daneben finden sich aber solche Ausdrucksformen, für welche der Bezeichnung elliptisch
eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen ist, insofern sie auf Grund vollständigerer Ausdrucksweisen
entstanden sind, bei denen aber darum doch nicht die Auslassung eines bestimmten Wortes anzunehmen ist.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Richtungsbezeichnungen sind gewiss ursprünglich nur neben Verben der Bewegung entwickelt. Man findet nun
öfters eine Richtung angegeben neben Verben, die bereiten oder dergl. bedeuten, vgl. mhd. sich bereite von dem
lande vil manic ritter starc (Nibelungenlied), wir suln ouch uns bereiten heim in mîniu lant (ib.); dô soumte man
(lud man auf) den degenen von dannen wâfen und gewant (ib. C); die sich gegarwet hâten ze strîte ûf daz velt
(Alphart); dô vazte sich der herzoge in des kunigs hof (da rüstete sich der Herzog, um an den Hof des Königs zu
ziehen, Kaiserchronik, und so öfters in diesem Denkmal); vgl. griech. phaneròs ê^n oíkade paraskeuazómenos
(Xen.); ähnlich ekéleusan epì tà hópla (id.)[3]) Ebenso bei mhd. rûmen: heiz inz rûmen von dan (Hartmann v. Aue),
ich rûme dir daz rîche von hinnen vlühticlîche (Rudolf v. Ems). Vgl. ferner griech. ekleípein tê`n pólin eis chôríon.
Es ist nicht anzunehmen, dass bei solchen Wendungen dem Sprechenden etwa der [320 Achtzehntes Kapitel.
Sparsamkeit im Ausdruck.] nicht ausgesprochene Inf. eines bestimmten Verbums wie gehen, bringen oder derg.l
vorgeschwebt hat. Vielmehr ist der psychologische Prozess, dem z. B. die Wendung paraskeuázesthai oíkade ihre
Entstehung verdankt, folgender. Es schweben zunächst die beiden Begriffe des sich Bereitens und des räumlichen
Zieles, um dessen Willen man sich bereitet, vor und verbinden sich direkt miteinander als psychologisches Subj. und
Präd. Indem man aber von Sätzen her wie poreúontai oíkade oder paraskeuázontai oíkade poreúesthai die
Gewohnheit hat das räumliche Ziel in einer bestimmten Form auszudrücken, wendet man diese Form auch hier an.
Es wirkt also zweierlei zusammen: einerseits die schon vor der Entstehung aller formellen Elemente der Sprache
vorhandene und immerdar bleibende Fähigkeit, die Beziehung, in welche zwei Begriffe im Bewusstsein zueinander
getreten sind, mag dieselbe nun eine unmittelbar gegebene oder eine durch andere Begriffe vermittelte sein, durch
Nebeneinanderstellung der Bezeichnungen für diese Begriffe auszudrücken; anderseits die Analogie der
entwickelten Ausdrucksformen.

Das nämliche Verhältnis findet noch in sehr vielen anderen Fällen statt. Es gehören hierher viele der in Kap. VI
besprochenen Ausdrucksformen wie Scherz beiseite, wer da? etc. Nachdem einmal die meisten Wörter formelle
Elemente in sich aufgenommen hatten, konnte die eben bezeichnete und in Kap. VI näher erörterte Fähigkeit sich
gar nicht anders äussern, als indem zugleich die Bedeutung dieser formalen Elemente zur Geltung kam. Wir
betrachten jetzt noch einige weitere hierher gehörige Konstruktionsweisen, die gewöhnlich für elliptisch angesehen
werden.

Den schon besprochenen zunächst stehen Richtungsbezeichnungen nach den Verben können, mögen, sollen, wollen,
dürfen, müssen, lassen, helfen, z. B. ich mag nicht nach Hause, ich lasse dich nicht fort. Diese sind so usuell
geworden, dass sie vom Standpunkte des gegenwärtigen Sprachgefühles aus in keinem Sinne als elliptisch
bezeichnet werden können. Ferner Anwendungen wie er ist weg, er ist nach Rom, die nicht anders aufzufassen sind
wie er ist in Rom, d. h. weg und nach Rom sind als Prädikate zu nehmen, ist als Kopula. Desgleichen er ist von Rom,
woher ist er?, woher hast du das? etc. Auch schreiben nach oder von, sich wohin bemühen, herbei rufen, wünschen,
zaubern sind eigentlich hierherzuziehen. Vgl. dazu weniger gewöhnliche Wendungen wie ich freue mich nach
Hause (Goe.), vielleicht finden Sie auf beiliegendem Blättchen etwas in Ihre Sammlungen (Goe.). Dazu lateinische
Konstruktionen wie quando cogitas Romam? (Cic.), ipsest quem volui obviam (von dem ich wollte, dass er mir
entgegen gehen sollte, Ter.), puto utrumque ad aquas (Cic.). [321 Fehlen von Mittelgliedern.]

Wenn wir sagen ich möchte dich nicht anders, als du bist, so wird man das schwerlich aus einer Ellipse von haben
erklären wollen. Näher würde anders sein liegen; aber durch Einfügung von sein bekäme man eine undeutsche
Konstruktion. So wenig aber hier ein sein ergänzt werden darf, so wenig muss ein sein hinzugedacht werden bei lat.
Strato physicum se voluit (Cic.).

Im Lat. findet sich zuweilen zu einem Subjektsnominativ ein Akk. gesetzt ohne Verbum: sus Minervam, fortes
fortuna, manus manum, dii meliora; quae cum dixisset, Cotta finem (Cic.); ego si litteras tuas (id.); quid tu mihi
testis? Diese Konstruktionen werden dadurch nicht erklärt, dass man ein Verb. angibt, welches als Ergänzung
hinzugefügt werden müsse. Vielmehr muss man sagen: es sind hier zwei Begriffe darum in der Form des Nom. und
Akk. miteinander verknüpft, weil sie in demselben Verhältnis zueinander stehen, wie in einem vollständigeren Satze
Subjekt und Objekt. Entsprechend aufzufassen ist die unmittelbare Verbindung eines Subjektsnominativs mit einer
präpositionellen Bestimmung oder einem Adv., vgl. itaque ad tempus ad Pisones omnes (Cic.); hæc hactenus (wo
hæc freilich auch als Akk. gefasst werden könnte), an tu id melius? (Cic.), ne quid temere, ne quid crudeliter (Cic.);
taûta mèn oûn dè hoútôs (Plato). Dafür gibt es auch im Deutschen Analogieen: in lebhafter Erzählung sagt man ich
rasch hinaus, ich hinterher u. dgl.; vgl. der Graf nun so eilig zum Tore hinaus (Goe.); der Sultan gleich dem Tone
nach (Wieland).

In entsprechender Weise verbindet sich ein Nebensatz mit einem regierenden Satze direkt, der bei vollständigerem
Ausdruck des Gedankens durch Vermittelung eines anderen Nebensatzes oder eines Satzgliedes angeknüpft werden
müsste. Diese Verknüpfungsweise kann dann auch wieder usuell werden, sodass man nichts mehr vermisst. Vgl. wie
viel wir solche Erklärer haben, mögen die herrschenden Vorurteiler zeugen (Herder), wo wir von unserem

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Sprachgefühle aus ein davon vermissen; wie Lavater sich hiebei benommen, sei nur ein Beispiel gegeben (Goe.);
dass ich Sie gestern vorbei liess, sind zwei Ursachen (Goe.); wie oft ich bei euch bin, werdet ihr vielleicht ehestens
ein Dokument zu Gesichte kriegen (Goe.); und fragst du mich nach diesen beiden Schätzen; der Lorbeer ist es und
die Gunst der Frauen (Goe.); dass ichs dir gestehe, da ergriff ihn mein Gemüt (Goe.); besuche deine Brüder, obs
ihnen wohl gehe (Lu.). Hierher gehören auch Wendungen wie was das anbetrifft, was ich davon weiss u. dergl., die
in den verschiedensten Sprachen Analogieen haben. Entsprechend verhalten sich infinitivische Wendungen wie die
Wahrheit zu sagen, es kurz zu sagen, um nur eins anzuführen, um von allem übrigen zu schweigen; ferner kurz (ich
weiss es nicht), mit einem Worte, gerade heraus, beiläufig, à propos. [Paul, Prinzipien] [322 Achtzehntes Kapitel.
Sparsamkeit im Ausdruck.]

§ 222. Eine Ergänzung aus der Situation findet statt, wenn an Stelle eines Substantivums mit einer dazu gehörigen
Bestimmung bloss die letztere gesetzt wird. Hierher gehört nicht etwa der Gute als Bezeichnung für jede beliebige
gute Person oder das Gute als Bezeichnung für jedes beliebige gute Ding. Dabei findet keinerlei Art von Ellipse
statt. Der Begriff der Person, eventuell der männlichen Person und der der Sache sind durch das Geschlecht des
Artikels bezeichnet. Wir haben es hier nur mit den Fällen zu tun, in denen eine Beziehung auf einen spezielleren
Begriff stattfindet; vgl. Rechte, Linke (Hand); calida, frigida (aqua); alter, neuer, süsser, Burgunder, Champagner
etc., ákratos (Wein); agnina, caprina (caro); Appia (via), strata, chaussée; aestiva, hiberna (castra); natalis (dies);
quarta, nona (hora); tê^ husteraía, tê^ trítê (hêméra); octingentesimo post Romam conditam (anno); decima (pars);
Iónios (kólpos); Mousikê' etc. (téchnê); ahd. frenkisga (zunga). Wenn man hier eine Ellipse annehmen will, so ist
nicht viel dagegen einzuwenden. Nur muss man sich klar machen, dass eine entsprechende Ergänzung aus der
Situation, wie wir in Kap. IV gesehen haben, auch in sehr vielen anderen Fällen stattfindet, wo es uns nicht einfällt
eine Ellipse zu statuieren. Wenn wir unter der Alte alten Wein verstehen, so beruht das auf derselben Unterlage, als
wenn wir darunter nicht jeden beliebigen alten Mann verstehen, sondern einen, den wir gerade vor uns haben oder
von dem eben gesprochen ist. In den aufgeführten Fällen ist die besondere Verwendung des Adj. schon mehr oder
weniger usuell geworden. Je fester der Usus geworden ist, um so weniger ist zum Verständnis die Unterstützung
durch die Situation erforderlich. So werden die Bezeichnungen Alter, Neuer wohl nur im Weinhause, beim
Weinhandel oder, wo sonst schon irgendwie die Aufmerksamkeit auf Wein gelenkt ist, von diesem verstanden und
sind überhaupt nur in weinbauenden Gegenden üblich; dagegen Champagner wird ohne alle besondere Disposition
viel eher auf die bestimmte Weinsorte als auf einen Einwohner der Champagne bezogen. Sobald nun die
Unterstützung durch die Situation für das Verständnis entbehrlich ist, so ist auch das Wort nicht mehr als ein Adj. zu
betrachten, sondern als ein wirkliches Substantivum, und es kann dann von einer Ellipse in keinem Sinne mehr die
Rede sein.

Eine ganz entsprechende Entwickelung begegnet uns auch bei genitivischen Bestimmungen. Vgl. lat. ad Martis, ad
Dianae (templum); ex Apollodori (libro); de Gracchi apud censores (oratione); franz. la saint Pierre (fête). Im
Deutschen sind die Festbezeichnungen Michaelis, Johannis, Martini etc. und die Ortsbezeichnungen St. Gallen, St.
Georgen St. Märgen vollkommen selbständig geworden und werden nicht mehr [323 Ergänzung aus der Situation.]
als ergänzungsbedürftig und daher auch nicht mehr als Genitive empfunden.

§ 223. In den besprochenen Fällen erhält ein Satzglied Vervollständigung seines Sinnes aus der Situation. Es kann
aber auch ein Satzglied, es kann das psychologische Subjekt oder Prädikat ganz und gar der Situation entnommen
werden. Hierher gehören die § 90 besprochenen scheinbar eingliedrigen Sätze, wie Feuer, Diebe etc. Auch auf die
Form dieser kann die Analogie der vollständigeren Sätze in der beschriebenen Weise einwirken. Sagt man z. B. in
drohendem Tone abwehrend keinen Schritt weiter, so ist nur das psychologische Präd. ausgesprochen, als Subj. wird
die Person verstanden, an welche die Warnung gerichtet ist. Das aber das erstere in den Akk. tritt, hat die gleiche
Ursache wie bei den Sätzen von der Form Cotta finem. Das Gleiche gilt von Sätzen wie guten Tag, schönen Dank,
herzlichen Glückwunsch u. dgl. In Fällen wie glückliche Reise, keine Umstände, viel Glück und vielen anderen gibt
die Form keine Sicherheit darüber, ob der Akk. gemeint ist. In einem Satze wie manum de tabula lässt sich manum
als psychologisches Subj. de tabula als Präd. auffassen, aber der Akk. manum zeigt, dass auch hierzu wieder ein
Subjekt aus der Situation zu entnehmen und dass das Verhältnis zu demselben nach der Analogie des Objekts zum
Subjekt gedacht ist. Ebenso verhält es sich mit ultro istum a me (Plaut.), ex ungue leonem = ex onúchôn léonta,
malam illi pestem (Cic.) etc. Aus dem Deutschen gehören hierher Sätze wie den Kopf in die Höhe und danach auch
wohl solche wie Gewehr auf, Scherz beiseite, davon ein ander Mal mehr, wenn auch die Lautform den Akk. nicht
erkennen lässt. Auch andere Kasus präpositionelle Bestimmungen und Adverbia können so gebraucht werden, wie
schon die angeführten Beispiele zeigen; vgl. noch sed de hoc alio loco pluribus (Cic.), de conjectura hactenus, nimis
iracunde.

Zuweilen ist auch das psychologische Prädikat aus der Situation zu entnehmen, wobei der Tonfall, Mienen und
Gebärden die Verständlichkeit unterstützen können. So z. B. bei unterdrückten Drohungen ich will (dich), vgl. das
bekannte Virgilische quos ego. Hierher gehören Ausdrücke der Verwunderung oder Entrüstung oder des Bedauerns,

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

die nur den Gegenstand angeben, über den man sich verwundert oder entrüstet oder den man bedauert. Das Prädikat
wird dabei hauptsächlich durch den Gefühlston angedeutet. Vgl. Subjektsnominative wie dieser Kerl, diese Fülle,
der Unglückliche, ich Armer etc. Ferner Infinitive wie so lange zu schlafen, so ein Schuft zu sein; lat. tantamne rem
tam negligenter agere (Terenz), non puduisse verberare hominem senem (id.); Acc. c. Inf.: te nunc sic vexari, sic
jacere, idque fieri mea culpa (Cic.); vgl. Draeg. § 154, 3. [324 Achtzehntes Kapitel. Sparsamkeit im Ausdruck.]

§ 224. Auf die nämliche Weise erklären sich auch isolierte Sätze, die die Form des abhängigen Satzes haben. Sie
sind ursprünglich entweder psychologische Subjekte oder Prädikate, wozu der korrespondierende Satzteil aus der
Situation verstanden wird, können aber durch usuelle Verwendung allmählich den Charakter von selbständigen
Hauptsätzen erlangen. Ursprüngliche Subjekte sind wie die oben angeführten Ausdrücke der Verwunderung und des
Bedauerns auch solche, die mit der Konjunktion dass eingeführt werden: dass du gar nicht müde wirst! dass mir das
begegnen muss! dass dir auch so wenig zu helfen ist! Ferner Bedingungssätze als Drohungen: wenn er mir in den
Wurf kommt -, ertappe ich ihn nur -; lat. verbum si adderis (Terenz). Bedingungssätze als Wunschsätze: wäre ich
erst da! wenn er doch käme! Bedingungssätze, für die man keinen Nachsatz zu finden weiss: wenn du noch nicht
überzeugt bist; wenn er aber nicht kommt; lat. si quidem istuc impune habueris (Terenz). Bedingungssätze als
Abweisungen einer Behauptung oder Zumutung, die aus Unkenntnis der wahren Verhältnisse gemacht wird: wenn
du in mein Herz sehen könntest; wenn du wüsstest, wie leid es mir tut. Ursprüngliche Prädikate oder nach der
grammatischen Form Objekte sind Wunsch- und Aufforderungssätze, mit dass eingeleitet: dass ich doch dabei sein
könnte; mhd. daz si schiere got gehoene; franz. que j'aille à son secours ou que je meure; it. che tu sia maledetto
und in allen romanischen Sprachen.

1. Vgl. Andrs. Sprachg. S. 129. 130.


2. Vgl. ib. S. 133.
3. Indem solche Verbindungen gewohnheitsmässig werden, kann sich die Auffassung von der Bedeutung des
Verbums verschieben, indem die Bewegung in einer bestimmten Richtung als mit dazu gehörig angesehen
und schliesslich zur Hauptsache wird. So ist nhd. schicken ursprünglich »zurecht machen«, Reise
ursprünglich »Aufbruch«, aufbrechen ursprünglich das Gegenteil von aufschlagen (nämlich das Lager).

NEUNZEHNTES KAPITEL.

ENTSTEHUNG DER WORTBILDUNG UND FLEXION.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 225. Wir haben uns vielfach mit der analogischen Neuschöpfung auf dem Gebiete der Wortbildung und Flexion
beschäftigt. Wir müssen jetzt die ursprüngliche, nichtanalogische Schöpfung auf diesem Gebiete ins Auge fassen.
Dieselbe ist nicht etwas Primäres wie die einfachsten syntaktischen Verbindungen, sondern erst etwas Sekundäres,
langsam Entwickeltes. Es gibt, soviel ich sehe, nur drei Mittel, durch die aus blossen einzelnen in keiner inneren
Beziehung zueinander stehenden Wörtern sich etymologische Wortgruppen herausbilden. Das eine ist
Lautdifferenzierung, auf die eine Bedeutungsdifferenzierung folgt. Ein passendes Beispiel dafür wäre die Spaltung
zwischen Impf. und Aor. im Idg. (vgl. § 179).[1]) Ähnliche Spaltungen sind sehr wohl auch schon bei den
primitiven Elementen der Sprache denkbar. Doch bilden sich in den meisten Fällen, die wir beobachten können,
durch solche Differenzierung keine Gruppen, indem dabei das Gefühl der Zusammengehörigkeit verloren geht, und
noch weniger Parallelgruppen, wie in dem angeführten Falle. Ein zweites Mittel ist das Zusammentreffen
konvergierender Bedeutungsentwickelung mit konvergierender Lautentwickelung (vgl. suchen - sucht), worüber §
150 gehandelt ist. Dass ein derartiger Vorgang nur vereinzelt eintreten kann, liegt auf der Hand. Die eigentlich
normale Entstehungsweise alles Formellen in der Sprache bleibt daher immer die dritte Art, die Komposition.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 226. Die Entstehung der Komposition zu beobachten haben wir reichliche Gelegenheit.[2]) In den
indogermanischen Sprachen sind [326 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der Wortbildung und Flexion.] zwei
Schichten von Kompositis zu unterscheiden, eine ältere, die entweder direkt aus der Ursprache überkommen oder
nach ursprachlichen Mustern gebildet ist, und eine jüngere, die unabhängig davon auf dem Boden der
Einzelsprachen entwickelt ist und in den modernen Sprachen einen grossen Umfang gewonnen hat. Letztere sehen
wir grossenteils vor unsern Augen entstehen, und zwar durchgängig aus der syntaktischen Aneinanderreihung
ursprünglich selbständiger Elemente. Es sind dazu Verbindungen jeglicher Art tauglich. So entstehen Komposita aus
der Verbindung des Genitivs mit dem regierenden Substantiv; vgl. nhd. Hungersnot, Hasenfuss, Freudenfest,
Kindergarten, franz. lundi (lunæ dies), Thionville (Theodonis villa), connétable (comes stabuli), Montfaucon (mons
falconis), Bourg-la-Reine, lat. paterfamilias, legislator, plebiscitum; aus der Verbindung des attributiven
Adjektivums mit dem Substantivum, vgl. nhd. Edelmann (mhd. noch edel man, gen. edeles mannes), Altmeister,
Hochmut, Schönbrunn, Oberhand, Liebermeister, Liebeskind, Morgenrot, franz. demi-cercle, doublefeuille, faux-
marché; haute-justice, grand-mère, petite-fille, belle-lettres, cent-gardes, bonjour, prudhomme, prin-temps, Belfort,
Longueville, amourpropre, garde-nationale, ferblanc, vinaigre, Villeneuve, Rochefort, Aigues-Mortes, lat.
respublica, jusjurandum; ferner nhd. einmal, jenseits (mhd. jensît), einigermassen, mittlerweile, franz. encore (hanc
horam), fièrement (fera mente), autrefois, autrepart, toujours, longtemps, lat. hodie, magnopere, reipsa; aus der
appositionellen Verbindung zweier Substantiva, vgl. nhd. Christkind, Gottmensch, Fürstbischof, Prinz-Regent,
Herrgott, Baselland, franz. maître-tailleur, maître-garçon, cardinal-ministre, Dampierre (dominus Petrus),
Dammarie (domina Maria), afranz. damedeus (dominus deus); aus der Koordination zweier Substantive, nhd. nur
zur Bezeichnung der Vereinigung zweier Länder, wie Schleswig-Holstein, Östreich-Ungarn; aus appositioneller
oder kopulativer Verbindung zweier Adjektiva oder der eines Adverbiums mit einem Adjektivum, was sich nicht
immer deutlich unterscheiden lässt, vgl. nhd. rotgelb, bittersüss, altenglisch, niederdeutsch, hellgrün, hochfein,
gutgesinnt, wohlgesinnt, franz. bis-blanc, aigre-doux, sourd-muet, bienheureux, malcontent; aus der Addierung
zweier Zahlwörter, vgl. nhd. fünfzehn, lat quindecim; aus der Verbindung des Adjektivums mit einem abhängigen
Kasus, vgl. nhd. ausdrucksvoll, sorgenfrei, rechtskräftig, lat. jurisconsultus, -peritus, verisimilis; aus der Ver- [327
Zusammensetzung.] bindung zweier Pronomina, respektive des Artikels mit einem Pronomen, vgl. nhd. derselbe,
derjene (jetzt nur noch in der Ableitung derjenige), franz. quelque (quale quid), autant (alterum tantum), lequel; aus
der Verbindung eines Adverbiums oder einer Konjunktion mit einem Pronomen, vgl. nhd. jeder (aus ie-weder) kein
(aus nih-ein), franz. celle (ecce illam), ceci (ecce istum hic), lat. quisque, quicunque, hic, nullus; aus der Verbindung
mehrerer Partikeln, vgl. nhd. daher, darum, hintan, fortan, voraus, widerum, entgegen, immer, franz. jamais, ainsi
(aeque sic), avant (ab ante), derrière (de retro), dont (de unde), ensemble (in simul), encontre, lat. desuper, perinde,
sicut, unquam, etiam; aus der Verbindung einer Präposition mit einem abhängigen Kasus, vgl. nhd. anstatt, zunichte,
zufrieden, vorhanden, inzwischen, entzwei, franz. contremont, partout, endroit, alors (ad illam horam), sur-le-
champ, environ, adieu, affaire, sans-culotte, lat. invicem, obviam, illico (= in loco), denuo (= de novo), idcirco,
quamobrem; aus der Verbindung eines Adverbiums mit einem Verbum, vgl. nhd. auffahren, hinbringen, herstellen,
heimsuchen, misslingen, vollführen, franz. malmener, maltraîter, méconnaître, bistourner, lat. benedicere,
maledicere; aus der Verbindung eines abhängigen Kasus mit seinem Verbum, vgl. nhd. achtgeben, wahrnehmen
(ahd. wara, st. fem.), wahrsagen, lobsingen, handlangen, hochachten, preisgeben, franz. maintenir, colporter,
bouleverser, lat. animadvertere, venum dare - venundare - vendere, crucifigere, usuvenire, manumittere, referre.
Auch mehr als zwei Glieder können so zu einem Kompositum zusammenschiessen.[3]) vgl. nhd. einundzwanzig, ei-
nundderselbe, lat. decedocto (= decem et octo, vgl. Corssen, Aussprache des Lat. ²II, S. 886); franz. tour-à-tour, tê-
teà-tête, vis-à-vis; aide-de-camp, trait-d'union, garde-du-corps, Languedoc, belle-à-voir, pot-au-feu, Fierabras, arc-
en-ciel, Châlons-sur-Marne, lat. duodeviginti, nhd. Brautinhaaren (Blume); lat. plusquamperfectum; nhd.
nichtsdestoweniger, ital. nondimeno. Auch aus abhängigen Sätzen entspringen Komposita, vgl. mhd. enwære
zusammengezogen zu niur etc. = nhd. nur, ital. avvegna (adveniat), avvegnache, chicchessia, lat. quilibet, quamvis,
quantumvis, quamlibet, ubivis. Ebenso aus Sätzen, die der Form nach unabhängig sind, aber doch in logischer
Unterordnung, z. B. als Einschaltungen gebraucht werden, vgl. nhd. weissgott, mhd. neizwaz = ags. nât hwæt = lat.
nescio quid = franz. je ne sais quoi, mhd. deiswâr (= daz ist wâr), franz. peut-être, piéça, naguère, lat. licet, ilicet,
videlicet, scilicet, forsitan, span. quiza (vielleicht, eigentlich, `wer weiss'). Ferner können mit Hilfe von Metaphern
Sätze zu Kompositis gewandelt werden, insbesondere Imperativsätze, vgl. nhd. [328 Neunzehntes Kapitel.
Entstehung der Wortbildung und Flexion.] Fürchtegott, Taugenichts, Störenfried, Geratewohl, Vergissmeinnicht,
Gottseibeiuns, franz. baisemain, passe-partout, rendez-vous, neulat. facsimile, notabene, vademecum,
nolimetangere; nhd. Jelängerjelieber. Schwerer wird ein wirklicher Satz, der seine Selbständigkeit bewahrt, zu
einem Kompositum. Denn das Wesen des Satzes besteht ja darin, dass er den Akt der Zusammenfügung mehrerer
Glieder bezeichnet, während es im Wesen des Kompositums zu liegen scheint die Zusammenfügung als ein
abgeschlossenes Resultat zu bezeichnen. Demungeachtet liegen Satzkomposita in den verschiedensten Sprachen
vor, so namentlich in den indogermanischen und semitischen Verbalformen.

§ 227. Der Übergang von syntaktischem Gefüge zum Kompositum ist ein so allmählicher, dass es gar keine scharfe
Grenzlinie zwischen beiden gibt. Das zeigt schon die grosse Unsicherheit, die in der Orthographie der modernen
Sprachen in Bezug auf Zusammenschreibung oder Trennung vieler Verbindungen besteht, eine Unsicherheit, die

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

dann auch zu einer vermittelnden Schreibweise durch Anwendung des Bindestriches geführt hat. Das Englische
unterlässt vielfach die Zusammenschreibung in Fällen, wo sie anderen Schriftsprachen unentbehrlich scheinen
würde. Im Mhd. sind auch die nach indogermanischer Weise gebildeten Komposita vielfach getrennt geschrieben.

Die Relativität des Unterschiedes zwischen Kompositum und Wortgruppe kann nur darauf beruhen, dass die
Ursache, welche den Unterschied hervorruft, ihre Wirksamkeit in mannigfach abgestufter Stärke zeigt. Man darf
diese Ursache nicht etwa, durch die Schrift verführt, darin sehen wollen, dass sich die Glieder eines Kompositums in
der Aussprache enger aneinander anschlössen, als die Glieder einer Wortgruppe. Verbindungen wie Artikel und
Substantivum, Präposition und Substantivum, Substantivum und attributives Adjektivum oder abhängiger Genitiv
haben genau die gleiche Kontinuität wie ein einzelnes Wort. Man hat dann wohl als Ursache den Akzent betrachtet.
Dass die Einheit eines Wortes auf der abgestuften Unterordnung seiner übrigen Elemente unter das eine vom Akzent
bevorzugte besteht, ist allerdings keine Frage. Aber ebenso verhält es sich mit der Einheit des Satzes und jedes aus
mehreren Wörtern bestehenden Satzteiles, jeder enger zusammengehörigen Wortgruppe. Der Akzent eines
vollständigen Wortes kann dabei vielfach ebenso tief herabgedrückt sein als der eines untergeordneten
Kompositionsgliedes. In der Verbindung durch Liebe hat durch keinen stärkeren Ton als in durchtrieben, zu in zu
Bett keinen stärkeren als in zufrieden, Herr in Herr Schulze keinen stärkeren als in Hausherr. Man kann nicht
einmal den Unterschied überall durchführen, dass die Stellung des Akzents im Kompositum eine feste ist, während
sie in der Wortgruppe wechseln kann. So gut wie ich Hérr [329 Ursachen, durch die aus einer syntaktischen
Verbindung Komposition entsteht.] Schulze im Gegensatz zu Fráu Schulze sage, sage ich auch der Haushérr im
Gegensatz zu die Hausfráu. Es ist auch keine bestimmte Stellung des Hauptakzentes zur Entstehung eines
Kompositums erforderlich, sondern sie ist bei jeder beliebigen Stellung möglich. Nur allerdings, damit die jüngere
Kompositionsweise in Parallelismus zur älteren treten kann, ist es erforderlich, dass die Akzentuation eine gleiche
ist. Damit z. B. eine Bildung wie Rindsbraten oder Rinderbraten als wesentlich identisch mit einer Bildung wie
Rindfleisch empfunden werden konnte, war es allerdings nötig, dass der Hauptakzent auf den voranstehenden
abhängigen Genitiv fiel. Wo aber die Analogie der älteren Kompositionsweise nicht in Betracht kommt, da ist auch
im Deutschen die stärkere Betonung des zweiten Elements kein Hinderungsgrund für die Entstehung eines
nominalen Kompositums.

§ 228. Es ist überhaupt nichts Physiologisches, worin wir den Unterschied eines Kompositums von einer unter
einem Hauptakzente vereinigten Wortgruppe suchen dürfen, sondern lediglich etwas Psychologisches. Eine
Vorbedingung für die Entstehung eines Kompositums, die freilich auch nicht absolut erforderlich ist, mindestens
nicht für die Satzkomposita, besteht darin, dass die zugrundeliegende syntaktische Verbindung als Ausdruck eines
einheitlichen Begriffes gefasst werden kann, und dies ist nur möglich, wenn wenigstens das bestimmende Element
in derselben in seiner allgemeinen Bedeutung zu nehmen ist und nicht in einer konkreten Individualisierung. So
fasst man haushalten jetzt als eine Zusammensetzung, während das Haus verwalten, mit Bezug auf ein bestimmtes
einzelnes Haus gesagt, keinerlei Eigenschaften einer Zusammensetzung hat, und es liegt dies nicht bloss daran, dass
der Artikel die Verschmelzung hindert, sondern es würde sich auch in einer Sprache, die keinen Artikel kennt, nicht
anders verhalten. Unser dar bedeutet ursprünglich dahin mit Hinweis auf einen einzelnen Ort; in diesem Sinne
konnte es keine Verschmelzung mit dem Verb. eingehen; jetzt bezeichnet es in darbieten, -bringen etc., dass etwas
nach einer bestimmten Stelle gerichtet wird, aber ohne dass auf diese hingewiesen wird. Ebenso kann auch ein Gen.
nur im allgemeinen Sinne mit einem folgenden Subst. verschmelzen, vgl. Mannes Mut (Mannesmut) gegen des
(dieses) Mannes Mut. Eine Ausnahme, eigentlich nur eine scheinbare, bilden die Eigennamen (vgl. Karlsbad, -ruhe
etc.), zu deren Natur es gehört, ein Einzelwesen zu bezeichnen, wobei dann die Zusammensetzung wieder ein
Eigenname (eine Ortsbezeichnung) ist.

§ 229. Doch bei weitem nicht alle derartige Verbindungen, die als eine Einheit gefasst werden können und häufig
auch teils in der nämlichen Sprache, teils bei der Übersetzung in eine andere durch [330 Neunzehntes Kapitel.
Entstehung der Wortbildung und Flexion.] ein Wort ersetzt werden können, werden als Zusammensetzungen gefasst
und geschrieben, vgl. z. B. Verzicht leisten (= verzichten), Halt machen, Massregeln ergreifen, in Angriff nehmen, in
Aussicht stellen, in die Hand nehmen, vor Augen haben und viele andere. In der Regel muss etwas anderes
hinzukommen, was das eigentlich Entscheidende für die Entstehung eines Kompositums ist. Es kommt darauf an,
dass das Ganze den Elementen gegenüber, aus denen es zusammengefasst ist, in irgend welcher Weise isoliert wird.
Welcher Grad von Isolierung dazu gehört, damit die Verschmelzung zum Kompositum vollendet erscheine, das lässt
sich nicht in eine allgemeingültige Definition fassen.

Es kommen dabei alle die verschiedenen Arten von Isolierung in Betracht, die wir früher kennen gelernt haben.
Entweder kann das Ganze eine Entwickelung durchmachen, welche die einzelnen Teile in ihrer selbständigen
Verwendung nicht mitmachen, oder umgekehrt die einzelnen Teile eine Entwickelung, welche das Ganze nicht
mitmacht, und zwar sowohl nach Seiten der Bedeutung als nach Seiten der Lautform, oder es können die einzelnen
Teile in selbständiger Verwendung untergehen, während sie sich in der Verbindung erhalten, oder endlich es kann

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

die Verbindungsweise aus dem lebendigen Gebrauche verschwinden und nur in der bestimmten Formel bewahrt
bleiben.

Der Eintritt irgend eines dieser Vorgänge kann genügen, um ein syntaktisches Gefüge zu einem Kompositum zu
wandeln. Man pflegt aber keineswegs jedes zusammengesetzte Satzglied als ein Kompositum zu betrachten, bei dem
bereits eine solche Isolierung eingetreten ist. Gerade diesen Verbindungen müssen wir unsere besondere
Aufmerksamkeit schenken, wenn wir die ersten Ansätze zur Verschmelzung beobachten wollen.

Der Anfang zur Isolierung wird gewöhnlich[4]) damit gemacht, dass das syntaktische Gefüge einen
Bedeutungsinhalt erhält, der sich nicht mehr genau mit demjenigen deckt, der durch die Zusammenfügung der
einzelnen Elemente gewonnen wird. Wir haben diesen Vorgang schon § 73 kennen gelernt. Die Folge ist, dass die
einzelnen Elemente des Gefüges nicht mehr klar zum Bewusstsein kommen. Damit wird [331 Isolierung der
Wortgruppen gegen die Einzelworte.] aber auch die Art ihrer Zusammenfügung verdunkelt, und damit ist der erste
Ansatz zu einer syntaktischen Isolierung gemacht, womit sich auch eine formelle verbindet. Sobald aber erst einmal
ein Anfang gemacht ist, so ist auch die Möglichkeit zu einem weiteren Fortschreiten der Isolierung gegeben.

In Bezug auf die syntaktische Isolierung müssen wir zwei Fälle unterscheiden. Sie braucht nur das Verhältnis der
Kompositionsglieder zu einander zu betreffen wie z. B. in Hungersnot, Edelmann, es kann aber auch die
Verbindung als Ganzes gegenüber den übrigen Bestandteilen des Satzes isoliert werden. Das Resultat ist dann
immer ein unflektierbares Wort, vgl. keineswegs, gewissermassen, jederzeit, alldieweil, zurecht, abhanden,
überhaupt, vorweg, allzumal; lat. magnopere, quare, quomodo, hodie, admodum, interea, idcirco, quapropter,
quamobrem; franz. toujours, toutefois, encore (= hanc horam), malgré (= malum gratum), amont, environ, parmi,
pourtant, cependant, tout-à-coup. Erst durch sekundäre Entwickelung können solche Verbindungen wieder
flektierbar werden, wie z. B. zufrieden, debonnaire (= de bonne air). Wo die Flektierbarkeit durch die Isolierung
nicht gestört wird, da kann der Fall eintreten, dass die Verschmelzung der Glieder durch Flexion im Innern des
Gefüges gehemmt wird, z. B. in einer Verbindung wie das rote Meer, mare rubrum, wobei man durch die Flexion
des roten Meeres, maris rubri etc. immer an die Selbständigkeit der einzelnen Glieder erinnert wird. Es muss erst
ein weiterer Prozess hinzukommen, um die volle Verschmelzung möglich zu machen, nämlich die Erstarrung einer
Flexionsform (in der Regel die des Nominativs Sg.) in Folge der Verdunkelung ihrer ursprünglichen Funktion, ein
Vorgang, den wir § 164 besprochen haben.

Wie wir in § 163 gesehen haben, erhält das Kompositum dieselbe Fähigkeit Ableitungen aus sich zu erzeugen, wie
das einfache Wort der nämlichen Kategorie. Wir finden nun, dass aus einer syntaktischen Verbindung, die noch
nicht als Kompositum betrachtet zu werden pflegt, eine Ableitung nach dem Muster eines einfachen Wortes
gemacht wird, oder dass diese Verbindung wie ein einfaches Wort zu einem Kompositionsgliede nach schon
vorliegenden Mustern gemacht wird. Wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass das Sprachgefühl dieselben als
eine Einheit gefasst hat, dass also jedenfalls ihre Entwickelung zu einem Kompositum bereits bis zu einem gewissen
Grade vollzogen ist.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 230. Kopulative Verbindungen lassen sich unter einen einheitlichen Begriff bringen erstens, wenn die
verbundenen Elemente Synonyma sind, dieselbe Sache von verschiedenem Gesichtspunkte aus darstellen, vgl. Art
und Weise, Grund und Boden, Wind und Wetter, Weg und Steg, Sack und Pack, Handel und Wandel, Schimpf und
[332 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der Wortbildung und Flexion.] Schande, hangen und bangen, tun und
treiben, leben und weben, schalten und walten, wie er leibt und lebt, frank und frei, weit und breit, hoch und teuer,
angst und bange, ganz und gar, drauf und dran, nie und nimmer; zweitens, wenn die verbundenen Elemente
Gegensätze sind, die sich gegenseitig ergänzen vgl. Stadt und Land, Himmel und Hölle, Soll und Haben, Wohl und
Wehe, alt und jung, gross und klein, arm und reich, dick und dünn, lieb und leid, Tun und Lassen, dieser und jener,
einer und der andere, dies und das, ab und an, ab und zu, auf und ab, ein und aus, für und wider, hin und her, hin
und wieder, drüber und drunter, hüben und drüben, hie und da, dann und wann. Dazu kommen noch mancherlei
andere Fälle wie Haus und Hof, Weib und Kind, Kind und Kegel, Mann und Maus. Die beiden Glieder können auch
durch das nämliche Wort gebildet werden, vgl. durch und durch, für und für, nach und nach, über und über, wieder
und wieder, fort und fort, der und der. In dem letzten Falle stehen die beiden Glieder trotzdem in Gegensatz zu
einander. Bei einigen dieser Verbindungen ist schon eine weiter gehende Isolierung eingetreten. Ein Kriterium
dafür, dass eine kopulative Verbindung als eine Einheit gefasst wird, kann man bei Substantiven darin sehen, dass
ein Adj. dazu nur einfach gesetzt wird, wiewohl es entweder nur mit dem ersten Gliede kongruiert,[ 5]) vgl. dieses
Herz und Sinn (Goe.); nach meinem Kopfe und Art (Goe.); durch meinen Rat und Tat (Schröder), oder, was noch
beweisender ist, nur mit dem zweiten, vgl. durch meinen trewen hilff und rat (H. Sachs); mit allem mobilen Hab'
und Gut (Goe.). Charakteristisch ist auch eine eigentümliche Assimilation des Geschlechtes und der Flexion, die bei
Pestalozzi vorkommt: seines Habs und (seines) Guts. Ein anderes häufiger vorkommendes Kriterium ist die
Flexionslosigkeit des ersten Gliedes. Bei den oben angeführten Verbindungen aus an und für sich flexivischen
Wörtern wird meistens die Flexion gemieden, welche an die Selbständigkeit der Glieder erinnern würde, man kann
z. B. nicht sagen mit Sacke und Packe oder Grundes und Bodens. Es findet sich aber auch Flexion bloss am zweiten
Gliede, z. B. des zu Abdera gehörigen Grund und Bodens (Wieland). Vgl. ferner mit Gefahr Leib und Lebens
(Grimmelshausen), von Gott und Rechtswegen (Iffland), von tausend durchgeweinten Tagund Nächten (Goe.); dem
wenigen Glaube, Liebe und Hoffnung (Goe.), bei H. Sachs sogar dem nimmer golt noch geldts gebrach; auch zur
Erhaltung Treu und Glaubens (Möser) wird hierher zu ziehen sein, da jedenfalls an Treu das Genitivverhältnis nicht
ausgedrückt ist. Häufig [333 Isolierung: kopulative Verbindung, Subst. und Bestimmung.] ist die Unterlassung der
Flexion im Innern bei der Verbindung zweier Adjektiva, vgl. die blank- und blossen Widersprüche (Le.), gegen
innund äussern Feind (Goe.), auf ein oder die andere Weise (Le.), mit mein und deinem Wesen (Le.).[6])

Notwendig ist das Unterbleiben der Flexion im Innern auch nach dem heutigen Sprachgebrauch in einem Falle wie
einer schwarz- und weissen Fahne, schwarz- wnd weisse Fahnen, verschieden im Sinne von schwarze und weisse
Fahnen. Dem schwarz- und weiss analog sind die auch zusammengeschriebenen Verbindungen einundzwanzig,
einunddreissig etc., früher flektiert eines und zwanzig. Feste Verbindungen, die keine Flexion im Innern mehr
zulassen, sind ferner all und jeder, ein und alles. Zusammengeschrieben wird einundderselbe, teils mit, teils ohne
Flexion des ein-. Griech. kalokagathós ist wohl unter analogischer Einwirkung der alten indogermanischen
Kompositionsweise entstanden; sonst würde die Stammform kalo- schwerlich erklärbar sein. Gänzliche
Verschmelzung würde wahrscheinlich häufiger sein, wenn nicht die Kopulativpartikel hemmend wirkte. Diese
Hemmung wird aufgehoben, wo dieselbe in Folge der lautlichen Abschwächung nicht mehr als solche erkannt wird,
wie in dem niederdeutschen Ritensplit, zusammengesetzt aus den Imperativen von riten und spliten (reissen und
spleissen). Eine kopulative Verbindung ohne Partikel verschmilzt leichter. So werden schwarzrotgolden und
Östreich-Ungarn, die sich logisch verhalten wie schwarz und weiss und Neapel und Sizilien als wirkliche Komposita
empfunden. In derjenigen Epoche des Indogermanischen, wo es noch keine Flexion und keine Kopulativpartikel gab
oder beides wenigstens nicht notwendig erforderlich war, musste natürlich die Verschmelzung zu einem
Kopulativkompositum (Dvandva) sehr leicht sein.

§ 231. Die Verbindung eines Substantivums mit einer attributiven, genitivischen oder sonstigen Bestimmung
kann alle in Kap. IV besprochenen Arten des Bedeutungswandels durchmachen, ohne dass das Substantivum für
sich davon betroffen wird. Sehr häufig ist es zunächst, dass das Ganze einen reicheren, bestimmteren Inhalt erhält,
als denjenigen, der sich aus der Zusammensetzung der Teile ergibt. Die Bestimmung hebt namentlich häufig nur ein
unterscheidendes Merkmal heraus, während andere daneben bestehende [334 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der
Wortbildung und Flexion.] verschwiegen werden. Dazu können dann weitere Modifikationen treten, in Folge deren
das Epitheton in seiner eigentlichen Bedeutung gar nicht mehr zutreffend ist. So ist in der botanischen Sprache viola
odorata nicht ein wohlriechendes Veilchen, sondern eine bestimmte Veilchenart, die noch durch andere
Eigenschaften, als durch den Wohlgeruch charakterisiert wird und es wird mit diesem Namen auch ein getrocknetes
Veilchen bezeichnet, welches keine Spur von Wohlgeruch mehr von sich gibt, und ebenso die nichtblühende
Pflanze. Unter franz. moyen âge versteht man ein bestimmt begrenztes Zeitalter, ohne dass sich aus dem Worte
moyen an sich eine solche Begrenzung ergibt. Geheimer Rat und Wirklicher Geheimer Rat sind Titel, die als Ganzes
eine bestimmte traditionelle Geltung haben, wie sie aus den Wörtern geheim und wirklich an sich nicht zu
erschliessen ist. Vgl. ferner gelbe - weisse Rüben, grüner - weisser Kohl, der heilige Geist, die heilige Schrift, die

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

schönen Künste, gebrannte Mandeln, kaltes Blut, der blaue Montag, der grüne Donnerstag, der heilige Abend, die
hohe Schule; der Stein der Weisen; die Weisen aus dem Morgenlande. Den angeführten Beispielen von
syntaktischen Verbindungen sind nun viele Komposita analog, teils solche, deren Zusammenwachsen historisch
verfolgbar ist, wie Schwarzwild, Weissbrot, Dünnbier, Rotdorn, Sauerkraut, Edelstein; Haubenlerche, Seidenraupe,
Blumenkohl, Bundesrat, arc-en-ciel; teils solche, deren Bildungsweise schon in eine vorgeschichtliche Zeit
zurückreicht, wie Eisbär, Holzwurm, Hirschkäfer, Steineiche. Nicht selten wird der nämliche Begriff in einer
Sprache durch ein Kompositum, in einer andern durch eine syntaktische Verbindung bezeichnet, vgl. z. B.
Mittelalter mit moyen âge.

Eine Unterabteilung dieser grossen Klasse bilden Gattungsnamen von Örtlichkeiten, die mit Hilfe einer
Bestimmung, die an sich gleichfalls allgemeiner Natur sein kann, zu Eigennamen geworden sind, vgl. die goldene
Aue, das rote Meer, der schwarze See, der breite Weg (Strassenname in Magdeburg und anderswo), die hohe Pforte
(Torname in Magdeburg); die Inseln der Seligen, das Kap der guten Hoffnung. Damit vgl. man die Komposita
Hochburg, Schönbrunn, Kaltbad, Lindenau, Königsfeld; Hirschberg, Strassburg, Steinbach. Hierher gehört es auch,
wenn ein Epitheton, das einem Eigennamen als unterscheidendes Kennzeichen beigefügt ist, zu einem
integrierenden Bestandteile des Eigennamens wird, indem es als an einem bestimmten Individuum haftend erlernt
wird, vgl. Karl der Grosse - der Kahle - der Kühne - der Dicke, Ludwig der Fromme - der Heilige - das Kind,
Wilhelm der Eroberer; Davos Platz - Davos Dörfli; Basel Land - Basel Stadt; Zell am See. Damit vgl. man die
Komposita Althans, Kleinpaul; Gross-Basel - Klein-Basel, Oberfranken - Unterfranken, Eichen-Barleben;
Kirchzarten. [335 Isolierung: Subst. und Bestimmung.]

Bildliche Anwendung eines Wortes wird, wie überhaupt durch den Zusammenhang (vgl. § 59), so insbesondere
durch eine beigefügte Bestimmung als solche erkennbar und verständlich, vgl. der Löwe des Tages, das Haupt der
Verschworenen, die Nacht des Todes, der Abend des Lebens, die Seele des Unternehmens. Dasselbe wird durch ein
bestimmendes Kompositionsglied geleistet. Man wagt deshalb mit Hilfe desselben Metaphern, die man sich in
Bezug auf das einfache Wort nicht gestattet, weil das Kompositionsglied gleich eine Korrektur der Metapher enthält.
Vgl. Neusilber, Katzengold, Ziegenlamm, Bienenkönigin, Bienenwolf, Ameisenlöwe, Äpfelwein, Namensvetter,
Hirschkuh, Heupferd, Seelöwe, Buchweizen, Erdapfel, Gallapfel, Augapfel, Zaunkönig, Stiefelknecht, Milchbruder.

Davon zu unterscheiden sind solche Fälle, in denen das Kompositum auch eine eigentliche Bedeutung hat, und erst
als Kompositum bildlich verwendet wird, wie Himmelsschlüssel, Hahnenfuss, Löwenmaul, Schwalbenschwanz,
Stiefmütterchen, Brummbär.

Fast durchweg syntaktische Verbindungen oder Komposita sind die § 70 besprochenen Bezeichnungen nach Teilen
des Körpers und des Geistes oder Kleidungsstücken, und zwar deshalb, weil die einfachen Wörter als an sich nicht
charakteristisch zu einer solchen Verwendung unbrauchbar sein würden.

Begriffliche Einheiten können syntaktische Verbindungen auch bilden, ohne dass ihre Teile nebeneinander stehen.
Hierher gehören z. B. an - Statt (an Kindes Statt, an meiner Statt), um - willen, ob - gleich (schon, wohl) neben
obgleich, franz. ne - pas und manches Andere, das zum Teil noch im Folgenden zur Sprache kommt.[7])

§ 232. Verfolgen wir nun weiter, wie die Verschmelzung der Bestimmung mit dem Bestimmten durch die
syntaktische und formale Isolierung gefördert wird.

Bei dem Zusammenwachsen des Genitivs mit dem regierenden Substantivum im Deutschen ist zunächst zu
beachten, dass es nur bei Voranstellung des Genitivs eintritt. Die umgekehrte Stellung taugt zunächst deshalb nicht
zur Komposition, weil dabei eine Flexion im Innern der Verbindung stattfindet, wodurch man immer wieder an die
Selbständigkeit der Elemente erinnert wird, weshalb auch z. B. im Lat. die Zusammenfügung in pater-familias
weniger fest ist als in plebiscitum. Ferner besteht bei Voranstellung des Genitivs Analogie in der Betonung zu den
echten Kompositis (ahd. táges stèrro = tágostèrro, [336 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der Wortbildung und
Flexion.] dagegen stérro des táges). Das entscheidende Moment für das Zusammenwachsen liegt aber in
Veränderungen der syntaktischen Verwendung des Artikels. Wie derselbe vielfach zum blossen Kasuszeichen
herabgesunken ist, so ist er insbesondere bei dem Genitiv eines jeden Appellativums, welches nicht mit einem
attributiven Adjektivum verknüpft ist, allmählich unentbehrlich geworden. Nur der deutlich charakterisierte Gen.
Sing. der starken Masculina und Neutra kommt zuweilen noch ohne Artikel vor, namentlich in Sprichwörtern
(Biedermanns Erbe) und Überschriften (Schäfers Klagelied, Geistes Gruss, Wandrers Nachtlied etc.). Im Ahd. fehlt
der Artikel noch ganz gewöhnlich. Indem sich nun bei dem allmählichen Absterben der Konstruktion gewisse
Verbindungen ohne Artikel traditionell fortpflanzten, war die Verschmelzung vollzogen. Begünstigt wurde sie noch
ganz besonders durch die ursprünglich allgemein übliche und dann gleichfalls absterbende Weise, den Gen. wie im

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Griech. zwischen Artikel und dem zugehörigen Substantivum zu setzen. Diese Konstruktion hat sich besonders in
der Sprache des Volksepos lange lebendig erhalten, allerdings nur bei Eigennamen und verwandten Wörtern, vgl. im
Nibelungenlied daz Guntheres lant, daz Nibelunges swert, diu Sîvrides hant, daz Etzelen wîp etc.; Verbindungen wie
der gotes haz, segen, diu gotes hant, etc. sind im dreizehnten Jahrhundert noch allgemein üblich. In der älteren Zeit
konnte der Genitiv eines jeden Substantivums so eingeschoben werden, ohne selbst mit dem Artikel verbunden zu
sein, vgl. ther mannes sun (des Menschen Sohn) häufig bei Tatian, then hîuuiskes fater (patremfamilias) ib. 44, 16
(dagegen thes h. fater 72, 4 147, 8; fatere hîuuiskes 77, 5), ein ediles man (ein Mann von edler Abstammung) Otfrid
IV, 35, 1; ähnliche Einschiebung zwischen Zahlwort und Substantivum in zwâ dûbôno gimachûn (zwei Paar
Tauben) Otfrid I, 14, 24. Indem allmählich unmittelbare Nebeneinanderstellung von Artikel und Substantivum
notwendig wurde, musste die Verbindung vom Sprachgefühl als eine Einheit aufgefasst werden. Mit der Zeit sind
vielfach noch formale Isolierungen hinzugekommen, indem sich die älteren Formen des Genitivs in der
Komposition bewahrt haben (Lindenblatt, Frauenkirche, Hahnenfuss, Schwanenhals, Gänseleber, Mägdesprung,
Nachtigall etc.). Ferner dadurch, dass bei den einsilbigen Masculinis und Neutris im Kompositum gewöhnlich die
synkopierten Formen verallgemeinert sind, im Simplex die nicht synkopierten, vgl. Hundstag, Landsmann,
Schafskopf, Windsbraut gegen Hundes etc. (doch auch Gotteshaus, Liebeskummer). Dazu kommt endlich noch, dass
die Genitivform im Kompositum häufig mit der des Nom. Pl. übereinstimmt und daher vom Sprachgefühl, wo die
Bedeutung dazu stimmt, an diesen angelehnt wird, vgl. Bienenschwarm, Rosenfarbe, Bildersaal, Äpfelwein, [337
Isolierung bei genitivischer und adjektivischer Bestimmung.] Bürgermeister. Im letzten Falle stimmt die Form auch
zum Nom. Sing. in Baierland, Pommerland (ahd. Beiero lant) nur zu diesem, während der Pl. des Simplex seine
Flexion verändert hat.

Die älteste Schicht genitivischer Komposita im Französischen ist hervorgegangen aus den alten lateinischen
Genitivformen ohne Hinzufügung der Präp. de. Im Altfranz. ist solche Konstruktionsweise wenigstens bei
persönlichen Begriffen noch allgemein lebendig, z. B. la volonté le rei (der Wille des Königs); sie musste allmählich
untergehen, weil die Form mit der des Dat. und Akk. zusammengefallen und deshalb die Bezeichnung unklar
geworden war. Einige traditionelle Reste der alten Weise haben sich bis heute erhalten, ohne dass in der Schrift
Komposition bezeichnet würde, vgl. rue St. Jaques etc., église Saint Pierre, musée Napoléon. In andern Fällen ist
die Zusammenfügung fester geworden, teilweise durch anderweitige Isolierung begünstigt, vgl. Hôtel-Dieu,
Connétable (comes stabuli), Château-Renard, Bourg-la-Reine, Montfaucon, Fontainebleau (f. Blialdi). Durch das
Schwinden jedes Kasuszeichens ist im Franz. im Gegensatz zum Deutschen die Verschmelzung auch bei
Nachstellung des Gen. möglich gemacht. Bei der umgekehrten Stellung musste sie erst recht erfolgen, da dieselbe
schon frühzeitig ausser Gebrauch kam; daher Abbeville (abbatis villa), Thionville (Theodonis villa).

§ 233. Das Zusammenwachsen des Adjektivs mit dem zugehörigen Subst. geht im Deutschen namentlich von der
sogenannten unflektierten Form aus, die im attributiven Gebrauch allmählich ausstirbt, vgl. § 135. Im Mhd. sind
(ein) junc geselle, (ein) edel man, (ein) niuwe jâr noch ganz übliche Konstruktionen, im Nhd. können Junggeselle,
Edelmann, Neujahr nur als Komposita gefasst werden. Einen weiteren Ausgangspunkt bilden die schwachen
Nominative von mehrsilbigen Adjektiven auf r, l, n, die im Mhd. ihr e abwerfen, während es im Nhd. nach Analogie
der einsilbigen wieder hergestellt wird. Im Mhd. sind der ober roc, diu ober hant, daz ober teil noch reguläre
syntaktische Gefüge (daher auch noch Akk. die obern hant neben die oberhant), im Nhd. können der Oberrock, die
Oberhand, das Oberteil nur als Komposita gefasst werden, weil es sonst der obere Rock etc. heissen müsste.
Indessen reicht das einfache Beharren bei dem älteren Zustande nicht aus, um wirkliche Komposition zu schaffen,
und viele derartige Komposita sind schon vor dem Eintritt dieser syntaktischen Isolierung entstanden. Schon ahd.
bestehen altfater, frîhals, guottât, hôhstuol und viele andere. Vielmehr ist der Vorgang der, dass die Verbindung so
formelhaft, der Begriff so einheitlich wird, dass sich damit für das Sprachgefühl eine Flexion im Innern des
Komplexes nicht mehr verträgt, und es ist dann natürlich, dass der eigentliche Normalkasus, der [Paul, Prinzipien]
[338 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der Wortbildung und Flexion.] Nom. Sg., der zugleich, weil die
Flexionsendung geschwunden ist, als Stamm des Wortes erscheint, massgebend wird. Seitdem die flexionslose Form
aufgehört hatte, attributiv verwendet zu werden, war Verschmelzung des Adj. mit dem Subst. viel weniger leicht.
Denn die flektierten Formen des Nom. Sg. (guter, gute, gutes) hatten von Anfang an kein so grosses Gebiet und
waren eben wegen der Flexionsendungen nicht so geeignet als Vertreter des Wortes an sich zu gelten. Es war nun
aber auch weniger Bedürfnis zu solchen Verschmelzungen, da bereits eine Menge Komposita mit der flexionslosen
Form vorhanden waren, die auch imstande waren analogische Neubildungen zu erzeugen. Doch zeigen sich auch in
dieser Periode einige Verschmelzungen und Ansätze dazu, teils so, dass eine Verbindung in die Analogie der älteren
verschmolzenen Verbindungen hinübergeführt wird, vgl. Geheimrat neben Geheime(r) Rat, teils so, dass die
flektierte Nominativform verallgemeinert wird, wie in Krausemünze, Jungemagd, in Gutersohn, Liebeskind und
anderen Eigennamen. Bei einigen Wörtern hat sich das Gefühl für die Einheitlichkeit des Begriffs darin kund getan,
dass trotz der Flexion im Innern Zusammenschreibung eingetreten ist, vgl. Langeweile, Hohepriester, Hohelied,
Blindekuh. Lessing schreibt sogar ein Jüngstesgericht en miniature. Vgl. auch derselbe, derjenige.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Auch wo noch keine volle Verschmelzung des attributiven Adjektivums mit dem dazu gehörigen Subst.
stattgefunden hat, werden doch Ableitungen aus der Verbindung gemacht, vgl. hohepriesterlich, langweilig,
kurzatmig, hochgradig, vielzüngig, vielsprachig, rotbäckig, einhändig, vierfüssig, blauäugig, blondhaarig,
kleinstädtisch, einseitig, rechtzeitig, Kleinstädter, Schwarzkünstler, Tausendkünstler, Falschmünzer, Einsilber, die
sich gerade so verhalten wie grossmütig, edelmännisch etc. Sie als nominale Komposita aufzufassen, hindert schon
der Umstand, dass viele der dann vorauszusetzenden Simplicia wie -weilig, -atmig, -gradig gar nicht existieren und
auch früher nicht existiert haben.

Ebenso werden solche Verbindungen zu Kompositionen verwendet, die sich trotz aller Anfeindungen von Seiten der
Grammatiker nicht ausrotten lassen wollen. Der gewöhnliche Einwand, den man gegen Komplexe wie reitende
Artillerie-Kaserne macht, dass ja die Kaserne nicht reite, ist im Grunde nicht stichhaltig. Denn das meint niemand,
der sich dieser Verbindung bedient, und die Gliederung ist nicht reitende + Artillerie-Kaserne, sondern reitende
Artillerie- + Kaserne. Aber man kommt dabei ins Gedränge wegen der flexivischen und nach Kongruenz strebenden
Natur des Adjektivums. Dasselbe richtet sich daher in der Regel nach dem zweiten Elemente, nicht bloss wo es
allenfalls auch auf dieses bezogen werden könnte wie in französischer Sprach- [339 Isolierung: Subst. u. Adj.; Adj.
u. Gen.] lehrer, freie Handzeichnung, sondern auch in anderen Fällen wie in der sauern Gurkenzeit. Bei manchen
dieser Verbindungen ist Zusammenschreibung üblich geworden, vgl. Alteweibersommer, Altweiberzählung
(Herder), Armesünderglöckchen, Siebenmeilenstiefel, Dreimännerwein, Dreikönigstag etc. Nichtsdestoweniger
kommt bei einigen von ihnen Kongruenz des Adjektivums mit dem letzten Bestandteil vor. Goethe schreibt auf dem
Armensünderstühlchen, dagegen Heine auf einem Armesünderbänkchen, die Kölnische Zeitung nebst
Armsündertreppe. Klopstock gebraucht sogar Hohepriestergewand, Luise Mühlbach den Gutennachtsgruss.[8]) Im
Englischen, wo die Flexion nicht stört, machen solche Zusammenfügungen gar keine Schwierigkeit.

Im Franz. geht das Zusammenwachsen leichter vor sich, weil die Kasusunterscheidung verloren gegangen ist. Wenn
bloss noch Sg. und Pl. unterschieden werden, so hat man jedenfalls schon erheblich weniger Veranlassung an die
Fuge erinnert zu werden. Ausserdem kommen manche Verbindungen ihrer Natur nach nur im Sg. (z. B. sainte-écri-
ture, terre-sainte) oder nur im Pl. (z. B. beaux-arts, belles-lettres) vor. Es pflegt sich daher sehr leicht das Gefühl für
die Einheitlichkeit eines solchen Komplexes durch Setzung des Bindestrichs geltend zu machen. Ein anderes
bedeutsameres Kriterium für das Verhalten des Sprachgefühls gibt die Verwendung des article partitif. Formale und
syntaktische Isolierungen können auch hier hinzutreten, um das Gefüge fester zu machen. Im Afranz. haben die
Adjektiva, die im Lat. nach der dritten Deklination flektieren, im Fem. noch kein e angenommen, welches erst später
nach Analogie der Adjektiva dreier Endungen antritt, z. B. grand = grandis, später grande nach bonne etc. In
Kompositis bewahren sich Formen ohne e: grand'mère, grand'messe, Granville, Réalmont, Ville-réal, Rochefort. In
Vaucluse (vallis clausa) hat das Kompositum, von der sonstigen Lautgestalt abgesehen, den im Neufranz.
eingetretenen Geschlechtswechsel des Simplex (le val) nicht mitgemacht. Es erfolgen dann auch Ausgleichungen
ähnlich wie im Deutschen. Bei Adjektiven, die häufiger in der Komposition gebraucht werden, wird die Form des
Masc. und des Sing. verallgemeinert, so in mi-, demi-, mal- (malfaçon, malheur, maltôte), nu- (nu-tête, nu-pieds).
Dadurch ist die Komposition deutlich markiert.

§ 234. Wo im Nhd. der Genitiv mit einem regierenden Adj. zusammengewachsen ist, da zeigt sich auch vielfach,
dass die Konstruktion entweder gar nicht oder nicht mehr allgemein üblich und durch eine andere ersetzt ist, vgl.
ehrenreich - reich an Ehren, geistesarm - arm an Geist, freudenleer - leer von Freuden. [340 Neunzehntes Kapitel.
Entstehung der Wortbildung und Flexion.]

§ 235. Im Nhd. ist es üblich, Adverbia, wo sie nach den allgemeinen syntaktischen Regeln dem Verbum
vorangehen, mit diesem zusammenzuschreiben, vgl. aufheben, vordringen, zurückweichen, wegwerfen etc. Dass
noch keine eigentliche Komposition eingetreten ist, beweist die Umstellung er treibt an, er steht auf etc. Aber
anderseits beweist die Zusammenschreibung, dass man anfängt das Ganze als eine Einheit zu empfinden.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Bei den meisten dieser Verbindungen liegt eine Isolierung gegenüber den Elementen klar vor. Die alten
präpositionalen Adverbia lassen sich überhaupt nicht mehr ganz frei und selbständig verwenden, sondern sind auf
einen bestimmten Kreis von Verbindungen beschränkt. Zu freier syntaktischer Zusammenfügung werden statt ihrer
hauptsächlich Verbindungen mit her und hin verwendet, vgl. hinaus gehen, heran kommen, wesentlich verschieden
von auskommen, ankommen. Es kommt dazu dann meistens eine selbständige Bedeutungsentwickelung der
Verbindung als solcher, vgl. anstehn, ausstehn, vorstehn, zustehn, auslegen, aufbringen, umbringen, zubringen,
auskommen, umkommen, vorwerfen, vorgeben etc. Unterstützt aber ist die Auffassung dieser Verbindungen als
Komposita durch die parallelen Nominalkomposita wie Ankunft, Abnahme, Zunahme, Vorwurf, Ausspruch, Zusage,
Anzeige etc. Diese wirken natürlich am leichtesten auf die Nominalformen des Verbums, bei denen die Verbindung
schon so wie so am stabilsten ist und um so fester wird, je mehr sie sich dem Charakter eines reinen Nomens nähern
(vgl. das folgende Kapitel), am festesten natürlich dann, wenn nur sie, nicht das Verb. finitum in einer bestimmten
Bedeutung üblich werden oder bleiben, vgl. Aufsehen, Nachsehen, Abkommen; ausnehmend. Beim Part. kann sich
die Verschmelzung in der Bildung von Komparativen oder Superlativen zeigen, die nur einen Sinn haben, wenn das
Ganze als eine Einheit gefasst wird, vgl. die zwei entgegengesetztesten Eigenschaften (Goe.), der eingeborenste
Begriff (Goe., unter nachsehenderen Gesetzen (Le.); weitere Beispiele bei Andr. Sprachg. S. 119. Aus der
Verbindung des Verbums mit dem Adv. entspringen dann nominale Ableitungen, die zweifellose Worteinheiten
sind, wie Austreibung, Vorsehung, Auferstehung, Abschreiber, anstellig, ausgiebig, zulässig, angeblich, absetzbar.
[9]) Die demonstrativen Ortsadverbien bewahren natürlich ihre Selbständigkeit aus dem § 228 angegebenen Grunde:
wer da ist, her kommt nicht daist, herkommt. Bei den Nominalformen kommen allerdings Zusammenschreibungen
vor wie sein Hiersein, [341 Isolierungen in Verbindungen mit Verben.] aber man empfindet das Ganze doch nicht so
sehr als eine Einheit wie etwa Einkommen, Zutrauen. Ganz anders steht es mit Dasein im Sinne von »Existenz«; hier
ist eben da nicht individualisierend, so wenig wie dar in darbringen etc., worüber wir schon gesprochen haben. Es
zeigen sich Ansätze dazu auch das Verb. fin. in ein wirkliches Kompositum zu wandeln. Im Journalistendeutsch,
dem sich hierin auch Germanisten anschliessen, ist es üblich geworden zu sagen er anerkennt. Wir sehen demnach
deutlich den Weg, auf dem auch die alten verbalen Komposita im Germanischen (wie durchbréchen, betreiben) und
in den anderen indogermanischen Sprachen aus syntaktischen Verbindungen entstanden sind.
Ein aus einem Adj. abgeleitetes Adv. verschmilzt zuweilen mit den Nominalformen des Verbums. Die erste
Veranlassung dazu wird zum Teil dadurch gegeben, dass der eine von den beiden Bestandteilen metaphorisch
verwendet wird, vgl. tieffühlend, weitgreifend, weittragend, hochfliegend. Noch enger wird die Verbindung, wenn
der erste Bestandteil eine Funktion bewahrt, die er im allgemeinen verloren hat. Hierher gehören namentlich die
Verbindungen mit wohl wie Wohlleben, wohlschmeckend, wohlriechend, wohltuend etc., die aus der Zeit her
überliefert sind, wo wohl noch allgemeines Adv. zu gut war. Vgl. ferner erstgeboren aus der Zeit, wo erst den Sinn
unseres zuerst hatte. Es wirkt auch hier die Analogie nominaler Komposita, vgl. zartfühlend - Zartgefühl,
scharfblicken - Scharfblick. Auch hier kann die Komparation ein Kriterium für den Vollzug der Verschmelzung
sein, vgl. bis zur schwerfälligsten, kleinkauendsten Weitschweifigkeit (Schopenhauer); den schwachdenkendsten Teil
(Le.), das reingestimmteste Instrument (Wieland); die tiefschlafendsten Sinnen (S. v. la Roche), der tieffühlendste
Geist (Goe.), die reingewölbteste Stirn (id.), die freigelegenste Wohnung (id.), die tief- und scharfdenkendsten
Philosophen (Klinger), eines der schwerwiegendsten Blätter (Scherr), süssgestimmter als ein unsterblich Lied
(Klopstock, später beseitigt). Verbreitet sind Superlative wie weitgreifendste, hochgeehrtester, hochverehrtester.
Noch merkwürdiger ist, dass von einer Verbindung, in der das Adv. schon superlativisch ist, noch ein Superlativ
gebildet wird. vgl. die Zunächststehendsten (Frankf. Zeit).[10])
Auf einer ähnlichen Zwitterstufe zwischen Kompositum und syntaktischem Gefüge stehen manche Verbindungen
eines Verbums mit einem Objektsakkusative, vgl. Acht geben oder acht geben, haushalten, standhalten, stattfinden,
teilnehmen; ferner Verbindungen eines Verbums mit einem prädikativen Adj. wie loskaufen, freigeben,
freisprechen, [342 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der Wortbildung und Flexion.] feilbieten, feilhalten,
hochachten, wertschätzen, gutmachen. Die Gründe, welche hier die Annäherung an die Komposition veranlassen,
sind ganz die gleichen wie bei den Verbindungen, die ein Adv. enthalten. Es kommen dabei aber auch zum Teil
Gliederungsverschiebungen in Betracht, namentlich durchgängig bei der Verschmelzung des prädikativen Adj., vgl.
§ 207. Der Übergang zum Kompositum ist natürlich auch hier bei den Nominalformen am leichtesten. Mit einem
Objektsakkusativ verwachsene Partizipia gibt es in grosser Anzahl, vgl. feuerspeiend, grundlegend, notleidend,
leidtragend, wutschnaubend, segenbringend, nichtssagend. Auch hier kann die Komparation als Kriterium für
eingetretene Verschmelzung dienen, vgl. die nichtsbedeutendsten Kleinigkeiten (Sch.), das grundlegendste der
Maigesetze (Köln. Zeit.), am gefährlichsten und feuerfangendsten (Deutscher Reichstag).[11]) Es lässt sich aber
keine scharfe Grenze ziehen zwischen spontaner Verschmelzung und Analogiebildung nach dem Muster der
nominalen Komposita, wie sie zweifellos vorliegt in Wörtern wie saftstrotzend, kraftbegabt, mondbeglänzt, die aber
fast durchweg auf den höheren poetischen Stil beschränkt sind. Überführung in wirkliche Komposition haben wir
bei lobsingen, wahrsagen (wahr substantivisch = Wahrheit), wobei Beeinflussung durch Ableitungen aus
Kompositis wie ratschlagen, weissagen (vgl. § 171) mitgewirkt haben mag. Ableitungen werden auch aus solchen
Verbindungen gebildet, bei denen die Verschmelzung noch nicht vollständig ist, vgl. Haushälter, Teilnehmer,
freigebig; selbst Grundlegung, Preisverteilung, Waffenträger, Holzhauer etc., ferner Bekanntmachung,
Kundgebung, Lostrennung.[12])

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wie die Adverbia, so verschmelzen auch von einer Präposition abhängige Substantiva bis zu einem gewissen Grade
mit dem Verb. Man pflegt zwar Verbindungen wie zu Grunde legen oder in Stand setzen nicht
zusammenzuschreiben ausser beim substantivierten Inf., aber man bildet die Ableitungen Zugrundelegung,
Instandsetzung, Ausserachtlassung, Zuhilfenahme. Dazu die Superlativbildungen an dem sichtbarsten, in die Augen
fallendsten Orte (Le.), dem in der Erde steckendsten Wurm (Heinse).

§ 236. Ich möchte die Aufmerksamkeit noch auf die vielen Verbindungen lenken, die wie die oben angeführten
kopulativen, nicht als [343 Verbindungen mit Verben. Zwischenstufen.] Komposita gefasst zu werden pflegen, die
aber doch einen einheitlichen Begriff repräsentieren, z. B. so wie so, vor wie nach, Mann für Mann, Schritt für
Schritt (vgl. franz. vis-à-vis, dos-à-dos, tête-à-tête), von Neuem, von Hause aus, sobald als möglich, so gut wie, was
für ein etc. Bei manchen dieser Verbindungen ist das Zusammenwachsen zu einer Einheit zugleich eine
Gliederungsverschiebung im Satze, die sich in der Konstruktionsweise bekundet. Wenn z. B. Lessing sagt ein mehr
als natürliches Gift, so ist die attributive Verwendung von mehr als natürlich und die Flexion am Ende nur dadurch
möglich geworden, dass diese Verbindung als eine Einheit gefasst ist wie übernatürlich, und dass damit das Gefühl
für die Weise der Zusammenfügung geschwunden ist. Entsprechend verhalten sich die folgenden Konstruktionen:
mehr als billigen Anteil (Goe.), den wir Deutsche noch nichts weniger als haben (Herder), mit einer nichts weniger
als schönen Bewegung (Le.), in so wenig als mögliche Worte (Le.), ausser der so lang als möglichen Dauer (Le.),
die so viel als mögliche Vermeidung alles Ominösen (Le.), unter gleichviel welchem Vorwande (Spielhagen), wo
sonst sich nichts als rasche Blätter regen (Haller), eine Fabrike, in welcher nichts als Nähnadeln gemacht werden
(Hebel), indem das Fräulein fast nichts als weinte und zitterte (S. v. la Roche). Noch auffallender und dadurch
abweichend, dass auch eine Flexion im Innern des Gefüges vorhanden ist, ist die mehrfach bei Lessing
vorkommende Konstruktion in der letzten ohn eine Zeile. Für so gut wie vgl. man Wendungen wie er hat mirs so gut
wie versprochen. Das zu was für (= qualis) gehörige Subst. war ursprünglich von für abhängig. So ist z. B. was habt
ihr für Pferde eigentlich = »was habt ihr an Stelle der Pferde«. Wenn man aber jetzt sagt mit was für Pferden, so
ergibt sich daraus, dass was für vom Sprachgefühl als ein indeklinables Attribut zu dem Subst., welches eigentlich
von für abhängen sollte, gefasst wird.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 237. Die Unmöglichkeit, zwischen Kompositum und syntaktischem Gefüge eine feste Grenze zu ziehen, zeigt sich
auch darin, dass öfters Glieder eines sonst zweifellosen Kompositums mit selbständigen Wörtern auf gleiche Linie
gestellt werden. Man scheut sich nicht zu sagen öffentliche und Privatmittel, das ordinäre und das Feierkleid. Hans
Sachs verbindet sogar gesotten, pachen und pratfisch. Damit vgl. man bei Herder in einer andern als
Kathedersprache; es ist durch den menschlichen, nicht Standescharakter. Es werden ferner zu dem ersten
bestimmenden Gliede eines Kompositums wie zu einem selbständigen Worte Bestimmungen hinzugefügt, nicht
bloss solche, die allenfalls auch auf das Ganze bezogen werden könnten, wie Dankesworte für die Gnade, sondern
auch andere wie ein Herausforderungslied zum Zweikampf (Le.), ein böses Erinnerungszeichen für ihn an die
treulosen Griechen (Herder), [344 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der Wortbildung und Flexion.]
Reisebeschreibungen in den fünften Weltteil (id., Glaubensfreiheit an Wunder und Zeichen (Goe.), manche
Erpressungsgeschichten unter allerlei Vorwänden (id.), der Vertragsentwurf mit Deutschland (Köln. Zeit.),
hoffnungsvoll auf die Zukunft (Goe.), erwartungsvoll des Ausgangs (Wieland), hopeless to circumvent us join'd
(Milton), fearless to be overmatch'd (id.). Es werden endlich Pronomina auf ein Kompositionsglied bezogen:
Menschengebote, die sich von der Wahrheit abwenden (Lu.), er hatte einen Ameisenhaufen zertreten, die seine
Herrschaft nicht anerkennen wollten (Goe.), es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo er dem Weltgeist näher ist
als sonst (Schi.), ein streitendes Gestaltenheer, die seinen Sinn in Sklavenbanden hielten (id.).[13])
§ 238. Zu Lautveränderungen, die eine isolierende Wirkung haben, ist in den traditionellen Gruppen mannigfache
Veranlassung gegeben. Wir dürfen wohl behaupten, wenn wir die Entwickelung auch nicht historisch verfolgen
können, dass solche Veränderungen meistens zuerst allgemein bei engerer syntaktischer Verbindung eintreten, dann
aber durch Ausgleichung wieder beseitigt werden, und nur da, wo in Folge der Bedeutungsentwickelung die
Elemente schon zu eng mit einander verwachsen sind, bewahrt bleiben. Die leichteste Veränderung ist
Hinüberziehung eines auslautenden Konsonanten zur folgenden Silbe, vgl. nhd. hinein, hieran, allein, einander, lat.
etenim, etiam. Eine solche Hinüberziehung wirkt da nicht isolierend, wo sie wie im Französischen allgemein bei
engerer syntaktischer Verbindung eintritt. Sie kann z.B. in Fällen wie peut-être nicht dazu beitragen, einen engeren
Zusammenhang zu begründen, weil sie auch in il peut avoir eintritt. Wo sie aber durch Einwirkung des
etymologischen Prinzips auf die traditionellen Formen beschränkt wird, da werden diese eben dadurch fester
zusammengefügt. Ferner kommt in Betracht Kontraktion eines auslautenden Vokals mit dem anlautenden des
folgenden Wortes, resp. Elision eines von beiden vgl. lat. reapse, magnopere, aliorsum, rursus (aus *re-vorsus),
franz. aubépine (alba espina), Bonnétable (Ort im Departement Sarthe), malaise, got. sah (dieser, aus sa-uh),
þammuh (diesem, aus þamma-uh), mhd. hinne (= hie inne), hûzen = nhd. haussen, nhd. binnen. Die Ausstossung im
französischen Artikel (l'état) oder in der Präposition de begründet wieder keine Komposition, weil sie nach einer
allgemeinen Regel erfolgt und nicht auf einzelne Formeln beschränkt ist. Ein dritter, häufig vorkommender Fall ist
Assimilation eines auslautenden Konsonanten an den Anlaut des folgenden Wortes, vgl. nhd. Hoffart, Homburg (=
Hohenburg), Bamberg (= Babenberg), empor (= entbor), sintemal (sint dem mâle), lat. illico, affatim, possum. [345
Isolierende Lautveränderungen. Verschmelzung der Kompositionsglieder.] Die durchgreifendste Isolierung aber
wird durch Wirkungen des Akzents geschaffen, vgl. nhd. Nachbar (= mhd. nâchgebûr), Junker (= juncherre),
Jungfer (= juncfrouwe), Grummet (= gruonmât), immer (ie mêr), Mannsen, Weibsen (= mannes, wîbes name), neben
(aus in eban, eneben), lat. denuo (= de novo), illico, franz. celle (ecce illa); vgl. die entsprechenden Erscheinungen
bei den nach indogermanischer Weise gebildeten Kompositis; nhd. Adler (mhd. adel-ar), Wimper (wint-brâ),
Wildpret (wiltbrât oder wiltbræte), Schulze - Schultess (schultheize), Schuster (schuochsûtære, Schuhnäher), Glied
(gelit), bleiben (belîben), franz. conter (computare), coucher (collocare), coudre (consuere), lat.[14]) subigere
(gegen agere), reddere (gegen dare), surgere (aus sub-regere), præbere (aus præ-hibere), contio (aus coventio),
coetus (aus co-itus).

Seltener ist es, dass lautliche Veränderungen der einfachen Wörter die Veranlassung zur Isolierung geben. Es
geschieht das z. B. in der Weise, dass ein auslautender Konsonant durch Hinüberziehen zum folgenden Worte sich
erhält, während er sonst abfällt; vgl. nhd. da (ahd. dâr), wo (ahd. wâr) gegen daran, woran etc., mhd. hieran etc.
gegen hie, sârie gegen sâ. Eine andere Modifikation ist durch die Hinüberziehung vermieden in vinaigre gegen vin.
Wie die geringere Tonstärke eines Kompositionsgliedes Veränderungen hervorrufen kann, denen das Simplex nicht
unterliegt, so kann sie umgekehrt auch schützend wirken, wo das Simplex unter dem Einflusse des Haupttones
verändert wird, vgl. nhd. heran, herein gegen her. Im Nhd. wird der Vokal eines ersten Kompositionsgliedes durch
die folgende Doppelkonsonanz vor der Dehnung geschützt, der das Simplex unterliegt, vgl. Herzog, Hermann,
Herberge, Wollust.

Dieselben Lautveränderungen, welche das Kompositum vom Simplex trennen, trennen auch die einzelnen
Komposita, welche das gleiche Glied enthalten, voneinander, und auch dadurch verliert das Gefühl für die
Selbständigkeit der Glieder an Kraft.

Besonders entscheidend für das Zusammenwachsen der Elemente ist es natürlich auch, wenn das eine als Simplex
verloren geht; vgl. nhd. Bräutigam (ahd. -gumo Mann), Nachtigall (-gala Sängerin), Augenlid (-lid Deckel), einerlei

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

(-leie Art), wahrnehmen, beginnen, befehlen, empfehlen, franz. aubépine (alb-), printemps (primum-), tiers-état
(tertius-), minuit (media-), bonheur (-augurium), ormier (-merum).

§ 239. Wir haben bisher immer nur den Gegensatz von Wortgruppe und Worteinheit im Auge gehabt und uns
bemüht, alle Momente zusammenzufassen, welche dazu dienen, die erstere immer entschiedener [346 Neunzehntes
Kapitel. Entstehung der Wortbildung und Flexion.] zur letzteren umzugestalten. Es kommt dabei aber noch ein
anderer Gegensatz in Betracht. Die geschilderte Entwickelung muss bis zu einem gewissen Punkte gediehen sein,
damit der Komplex den Eindruck eines Kompositums macht, sie darf aber auch nicht über einen gewissen Punkt
hinausgehen, wenn er noch diesen Eindruck machen soll und nicht vielmehr den eines Simplex. Was man vom
Standpunkte des Sprachgefühls ein Kompositum nennen darf, liegt in der Mitte zwischen diesen Punkten.

Syntaktische und formale Isolierung führen nicht leicht zu Überschreitung dieses zweiten Punktes; in der Regel ist
es Untergang des einen Elementes in selbständigem Gebrauche, was die Veranlassung gibt, oder lautliche
Isolierung, namentlich das Zusammenschmelzen des Lautkörpers unter Akzenteinflüssen.

Die Lebendigkeit des Gefühls für die Komposition zeigt sich besonders in der Fähigkeit eines Kompositums, als
Muster für Analogiebildungen zu dienen. Wenn wir die Komposition aus der Syntax abgeleitet haben, so soll damit
keineswegs gesagt sein, dass jedes einzelne Kompositum aus einem syntaktischen Komplex entstanden ist.
Vielmehr sind vielleicht die meisten sogenannten Komposita in den verschiedenen Sprachen nichts anderes als
Analogiebildungen nach solchen, die im eigentlichen Sinne Komposita zu nennen wären. So ist z. B. jedes in der
flexivischen Periode der indogermanischen Grundsprache und vollends jedes innerhalb der einzelsprachlichen
Entwickelung neugeschaffene eigentliche Nominalkompositum als eine Analogiebildung aufzufassen und nicht als
Zusammensetzung eines gar nicht mehr existierenden reinen Stammes mit einem flektierten Worte. Ebenso sind
unsere neuhochdeutschen genitivischen und adjektivischen Komposita zum grossen Teile von Anfang an nicht
syntaktisch gewesen. Das sieht man am besten an solchen Fällen, wo das aus der Genitivendung entstandene s des
ersten Gliedes auf Wörter übertragen wird denen es im Gen. gar nicht zukommt (Regierungsrat etc.), und auf
solche, wo der Genitiv gar nicht hingehört, vgl. wahrheitsliebend nach Wahrheitsliebe, Bauersmann u. dergl.

Wird die Grenze überschritten, bis zu welcher das Kompositum dem Sprachgefühl noch als solches erscheint, so
macht das Gebilde, von den eventuellen Flexionsendungen abgesehen, entweder den Eindruck vollkommener
Einfachheit oder den einer mit einem Suffix oder Präfix gebildeten Ableitung. So nehmen sich Wörter wie nhd. Welt
(mhd. werlt aus wer-alt), Öhmd (mhd. uo-mât), Schulze (mhd. schult-heize), echt (aus mnd. êhaht = mhd. ê-haft),
heute (aus *hiu tagu), heint (mhd. hî-naht), Seibt (ahd. Sigi-boto), bange (aus *bi-ango), gönnen (aus *giunnan),
fressen (got. fra-itan), nicht (aus ni io wiht), lat. demere (aus [347 Entstehung der Ableitungssuffixe und Präfixe.]
*de-emere), promere (aus *pro-emere), surgere (aus *sub-regere), prorsus (aus *pro-versus) nicht anders aus wie
etwa Stand, Hase, bald, binden, pangere, versus; und Wörter wie Adler (ahd. adal-ar), Schuster (mhd.
schuochsûtære), Wimper (ahd. wint-brâwa), Drittel (= dritte Teil), Meinert (= Meinhard) nicht anders als solche wie
Schneider, Leiter, Mittel, Hundert. Auch in Wörtern wie Nachbar, Bräutigam, Nachtigall wird die letzte Silbe nicht
anders aufgefasst werden wie die vollen Ableitungssilben in Trübsal, Rechnung u. dergl.

§ 240. Hier sind wir bei dem Ursprunge der Ableitungssuffixe und Präfixe angelangt. Dieselben entstehen
anfänglich stets so, dass ein Kompositionsglied die Fühlung mit dem ursprünglich identischen einfachen Worte
verliert. Es muss aber noch mehreres andere hinzukommen, damit ein wortbildendes Element entsteht. Erstens muss
das andere Glied etymologisch klar mit einem verwandten Worte oder einer verwandten Wortgruppe assoziiert sein,
was z. B. bei Adler, Wimper nicht der Fall ist. Zweitens muss das Element nicht bloss in vereinzelten Wörtern
auftreten (wie in Nachbar, Bräutigam), sondern in einer Gruppe von Wörtern und in allen mit gleicher Bedeutung.
Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, so kann die Gruppe schöpferisch werden und sich durch Neuschöpfungen
nach den auf dem Wege der Komposition entstandenen Mustern vermehren. Es muss dann aber drittens noch die
Bedeutung des betreffenden Kompositionsgliedes entweder schon im Simplex eine gewisse abstrakte Allgemeinheit
haben (wie Wesen, Eigenschaft, Tun) oder sich innerhalb der Komposition aus der individuelleren, sinnlicheren des
Simplex entwickeln. Dieser letztere Umstand kann sogar unter Umständen entscheidend sein, wenn auch das Gefühl
des Zusammenhangs mit dem Simplex noch nicht ganz verloren ist.

182
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wir haben innerhalb der verfolgbaren historischen Entwickelung Gelegenheit genug zu beobachten, wie auf die
bezeichnete Weise ein Suffix entsteht. Am bekanntesten sind aus dem Deutschen -heit, -schaft, -tum, -bar, -lich, -
sam, -haft. Der Typus eines Wortes wie weiblich z. B. geht zurück auf ein altes Bahuvrîhi-Kompositum,
urgermanisch *wîðolîkiz[15]) eigentlich `Weibergestalt', dann durch Metapher `Weibesgestalt habend'. Zwischen
einem derartigen Kompositum und dem Simplex, mhd. lîch, nhd. Leiche ist eine derartige Diskrepanz anfänglich der
Bedeutungen, später auch der Lautformen herausgebildet, dass jeder Zusammenhang aufgehoben ist. Vor allem aber
hat sich aus der sinnlichen Bedeutung des Simplex `Gestalt, äusseres Ansehen' die ab- [348 Neunzehntes Kapitel.
Entstehung der Wortbildung und Flexion.] straktere `Beschaffenheit' entwickelt. Bei einem Worte wie Schönheit hat
sich erst innerhalb des Westgermanischen aus der syntaktischen Gruppe ein Kompositum, aus dem Kompositum
eine Ableitung entwickelt. Urgerm. *skauniz haiðuz `schöne Eigenschaft', daraus regelrecht lautlich entwickelt ahd.
scônheit. Durch Übertragung der flexionslosen Form in die obliquen Kasus ist die Komposition vollzogen gerade
wie in hôchzît u. dergl., vgl. § 233. Vermöge seiner abstrakten Bedeutung wird dann das zweite Glied zum Suffix,
zumal nachdem es in selbständiger Verwendung verloren gegangen ist.[16])

Auch noch in einer späteren Zeit nähern sich manche zweite Kompositionsglieder dem Charakter eines Suffixes. So
sind schmerzvoll, schmerzensreich in ihrer Bedeutung nicht verschieden von lat. dolorosus, franz. douloureux, der
Unterschied zwischen anmutsvoll und anmutig, reizvoll und reizend ist ein geringer. Das -tel (= Teil) in Drittel,
Viertel etc. ist dem Sprachgefühl ein Suffix. Auch in allerhand, allerlei, gewissermassen, seltsamerweise etc. ist der
Ansatz zur Suffixbildung gemacht. Von -weise könnte man sich recht gut vorstellen, dass es sich bei weiter
gehender Verallgemeinerung zum durchgehenden Adverbialsuffix hätte entwickeln können gerade wie -mente in der
romanischen Volkssprache.

Die Scheidelinie zwischen Kompositionsglied und Suffix kann nur nach dem Sprachgefühl bestimmt werden.
Objektive Kriterien zur Beurteilung desselben haben wir in der Hand, sobald durch die Analogie Bildungsweisen
geschaffen werden, die als Komposita undenkbar sind. So könnte man zwar franz. fièrement noch als fera mente
auffassen, aber z. B. récemment wäre auf recente mente zurückgeführt widersinnig. Die Grundbedeutung unseres -
bar (= mhd. bære) ist `tragend, bringend'. Wörter wie ehrbar, furchtbar, wunderbar würden dazu noch
einigermassen passen; aber schon mhd. magetbære (jungfräulich), meienbære (zum Mai gehörig), scheffenbære
(zum Schöffenamt befähigt) nicht mehr. Vollends entschieden ist der Suffixcharakter, wenn die Analogie zum
Hinübergreifen in ganz andere Sphären führt wie in vereinbar, begreiflich, duldsam etc., die nur als Ableitungen aus
vereinen, begreifen, dulden gefasst werden können (vgl. darüber § 169); oder wenn Suffixverschmelzungen
stattfinden (vgl. darüber § 170) wie in mhd. miltecheit, miltekeit aus miltec-heit, woraus dann Analogiebildungen
entspringen wie einerseits Frömmigkeit, Gerechtigkeit, anderseits Eitelkeit, Heiterkeit, Dankbarkeit,
Abscheulichkeit, Folgsamkeit.

§ 241. Aus diesen Beobachtungen, zu denen wir leicht aus andern Sprachen eine Menge ähnlicher hinzufügen
könnten, müssen [349 Entstehung der Ableitungs- und Flexionssuffixe.] wir schliessen, dass die Suffixbildung nicht
das Werk einer bestimmten vorhistorischen Periode ist, das mit einem bestimmten Zeitpunkte abgeschlossen wäre,
sondern vielmehr ein, so lange die Sprache sich lebendig fortentwickelt, ewig sich wiederholender Prozess. Wir
können speziell vermuten, dass auch die gemeinindogermanischen Suffixe nicht schon alle vor der Entstehung der
Flexion vorhanden waren, wie die zergliedernde Grammatik gewöhnlich annimmt, sondern dass auch die
vorgeschichtliche flexivische Periode nicht ganz unfruchtbar in dieser Beziehung gewesen sein wird. Wir müssen
die vorgeschichtliche Entstehung von Suffixen durchaus nach dem Massstabe beurteilen, den uns die geschichtliche
Erfahrung an die Hand gibt, und mit allen Theorieen brechen, die nicht auf diese Erfahrung basiert sind, die uns
zugleich den einzigen Weg zeigt, auf welchem der Vorgang psychologisch begreifbar wird.

Noch ein wichtiger Punkt muss hervorgehoben werden. Die Entstehung neuer Suffixe steht in stetiger
Wechselwirkung mit dem Untergang alter. Wir dürfen sagen, dass ein Suffix als solches untergegangen ist, sobald
es nicht mehr fähig ist zu Neubildungen verwendet zu werden. In welcher Weise namentlich der Lautwandel darauf
hinwirkt diese Fähigkeit zu vernichten, ist oben § 137 auseinandergesetzt. So stellt sich immer von Zeit zu Zeit das
Bedürfnis heraus ein zu sehr abgeschwächtes, in viele Lautgestaltungen zerspaltenes Suffix durch ein volleres,
gleichmässiges zu ersetzen. Dazu bieten sich häufig die verschmolzenen Suffixkomplexe dar. Man sehe z. B., wie
im Ahd. von den Nomina agentis auf -âri, den Nomina actionis auf -unga, den Abstractis auf -nissa die älteren
einfacheren Bildungsweisen zurückgedrängt werden. In andern Fällen aber sind es die Komposita von der
beschriebenen Art, die den willkommenen Ersatz bieten, in der Regel zunächst neben die älteren Bildungen treten,
dann aber rasch wegen ihrer grösseren Deutlichkeit, ihrer innigeren Beziehungen zum Grundworte ein entschiedenes
Übergewicht über diese erlangen und sie bis auf eine grössere oder kleinere Zahl traditioneller Reste überwältigen.
So verdrängt Schönheit das jetzt veraltete Schöne, Finsterkeit das noch im Mhd. lebendige diu vinster etc.

§ 242. Auf die gleiche Weise wie die Ableitungssuffixe entstehen Flexionssuffixe. Zwischen beiden gibt es ja

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

überhaupt keine scharfe Grenze. Wir haben auch hier für die vorgeschichtlichen Vorgänge einen Massstab an den
geschichtlich zu beobachtenden. Das Anwachsen des Pronomens an den Tempusstamm lässt sich z. B. durch
Vorgänge aus heutigen bairischen Mundarten erläutern, die schon § 217 besprochen sind. Die Bildung eines
Tempusstammes zeigt sich am handgreiflichsten am romanischen Fut.: j'aimerai = amare habeo. Doch es scheint
mir [350 Neunzehntes Kapitel. Entstehung der Wortbildung und Flexion.] überflüssig aus der Masse des allgemein
bekannten und jedem zur Hand liegenden Materials noch weitere Beispiele zusammenzutragen.

§ 243. Zieht man aus unserer Betrachtung die methodologischen Konsequenzen, so wird man zugestehen müssen,
dass das Verfahren, welches früher bei der Konstruktion der Verhältnisse des Indogermanischen eingeschlagen zu
werden pflegte, sehr verwerflich ist. Ich hebe einige nach dem Obigen selbstverständliche Sätze hervor, nach denen
die bestehenden Theorieen zu korrigieren oder gänzlich umzustossen sind.

Wenn man die indogermanische Grundform eines Wortes, auch vorausgesetzt, dass sie richtig konstruiert ist, nach
der üblichen Weise im Stamm und Flexionssuffix und den Stamm wieder in Wurzel und Ableitungssuffix oder
Suffixe zerlegt, so darf man sich nicht einbilden, damit die Elemente zu haben, aus denen das Wort wirklich
zusammengesetzt ist. Man darf z. B. nicht glauben, dass die 2. Sg. Opt. Präs. *bherois (früher als *bharais
angesetzt) aus bher + o + i + s entstanden sei. Erstens muss man in Betracht ziehen, dass zwar die ersten Grundlagen
der Wortbildung und Flexion durch das Zusammenwachsen ursprünglich selbständiger Elemente geschaffen sind,
dass aber diese Grundlagen sobald sie einmal vorhanden waren, auch sofort als Muster für Analogiebildungen
dienen mussten. Wir können von keiner einzelnen indogermanischen Form wissen, ob sie aus einem syntaktischen
Wortkomplex entstanden oder ob sie eine Analogiebildung nach einer fertigen Form ist. Wir dürfen aber auch gar
nicht einmal ohne weiteres voraussetzen, dass der Typus einer Form auf die erstere Weise entstanden sein müsste.
Vielmehr müssen wir auch schon für die älteste Periode den Faktor in Anschlag bringen, der in den jüngeren eine so
grosse Rolle spielt, die Verschiebung des Bildungsprinzipes durch Analogiebildung. So wenig wie wir die Typen
Besuch, unbestreitbar, unveränderlich, Verwaltungsrat auf einen syntaktischen Komplex zurückführen können,
ebenso wenig wird das bei vielen indogermanischen Bildungen statthaft sein. Zweitens muss berücksichtigt werden,
dass auch in denjenigen Formen, die wirklich syntaktischen Ursprungs sind, die Elemente nicht mehr in der
Lautgestaltung vorzuliegen brauchen, die sie vor ihrem Aneinanderwachsen hatten. So wenig wie Schusters aus
Schu + ster + s entstanden ist, so wenig braucht ein indogermanischer Gen. akmenos aus ak + men + os entstanden
zu sein. Eine Reihe von Veränderungen, welche die Elemente erst innerhalb des Gefüges erlitten haben können, hat
man längst erkannt, andere sind neuerdings nachgewiesen. Es ist aber durchaus möglich und sogar wahrscheinlich,
dass die Summe dieser Veränderungen mit dem Erkannten noch lange nicht erschöpft ist. [351 Entstehung der
Ableitungs- und Flexionssuffixe.]

Noch weniger darf man glauben, dass die durch Analyse gefundenen Elemente die Urelemente der Sprache
überhaupt sind. Unser Unvermögen ein Element zu analysieren beweist gar nichts für dessen primitive Einheit.

Gänzlich fallen lassen muss man die für die Geschichte der indogermanischen Flexion beliebte Scheidung in eine
Periode des Aufbaues und eine Periode des Verfalls. Das, was man Aufbau nennt, kommt ja, wie wir gesehen haben,
nur durch einen Verfall zu Stande, und das, was man Verfall nennt, ist nur die weitere Fortsetzung dieses Prozesses.
Aufgebaut wird nur mit Hilfe der Syntax. Ein solcher Aufbau kann in jeder Periode stattfinden, und Neuaufgebautes
tritt immer als Ersatz ein da, wo der Verfall ein gewisses Mass überschritten hat.

1. Ein ganz anderer Vorgang ist es natürlich, wiewohl das gleiche Resultat herauskommt, wenn ein
sekundärer Lautunterschied nach Verlust der übrigen unterscheidenden Merkmale zum einzigen Zeichen
des Funktionsunterschiedes wird, wie in engl. foot - feet, tooth - teeth, man - men. Wo sich dergleichen
Formen in unseren ältesten Überlieferungen finden, wird sich häufig nicht entscheiden lassen, ob sie
diesem oder dem im Text besprochenen Vorgange ihre Entstehung verdanken.
2. Vgl. L. Tobler, Über die Wortzusammenhang, Berlin 1868. H. Jacobi, Kompositum und Nebensatz, Bonn
1897. O. Dittrich, Über Wortzusammensetzung auf Grund der neufranzösischen Schriftsprache (Zschr. f.
roman. Philol. 22, 305. 441. 23, 288. 24, 465. 29, 129. 257; darin reichliche bibliographische Angaben).
Brugmann, Über das Wesen der sogenannten Wortzusammensetzung (Ber. d. philol.-historischen Cl. d.
Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 1900, 359). Paul, Das Wesen der Wortzusammensetzung (IF 14, 251).
Brugmann, Die Wortzusammensetzung in den idg. Sprachen (ib. 18, 59. 127). Neckel, Exozentrische
Komposition IF 19, 249, dazu Leskien IF 23, 204 und Pollak ib. 30, 55 und Zf. ö. G. 59, 1059.
3. Ich unterscheide davon natürlich die Fälle, wo ein Kompositum mit einem andern Worte eine neue
Verbindung eingeht.

184
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

4. Aber nicht immer, wie Dittrich a. a. O. angenommen hat, worin ihm Brugmann beigetreten ist. Dittrich
nimmt an, dass eine syntaktische Verbindung schon dadurch zum Kompositum wird, dass mit ihr ein
reicherer Bedeutungsinhalt verknüpft wird. Er betrachtet demnach z. B. franz. épine blanche, chemin de fer
als Zusammensetzungen. Es ist nicht zu leugnen, dass das eine gewisse Berechtigung hat. Aber abgesehen
davon, dass man sich dadurch mit dem Sprachgebrauch in Widerspruch setzt, so würde man doch wieder
eines besonderen Ausdrucks bedürfen für die Verbindungen, die durch weitergehende, namentlich
syntaktische Isolierungen enger verschmolzen sind. Dazu wären dann noch die Fälle zu berücksichtigen, in
denen die Bedeutung gar nicht den Ausgang für die Verschmelzung bildet.
5. In der älteren Sprache kommt dies allerdings auch bei weniger enger Verbindung vor.
6. Jedoch ist das Unterbleiben der Flexion des ersten Glieds kein zweifelloses Kriterium dafür, dass eine
Zusammenfassung der beiden Glieder zu begrifflicher Einheit stattgefunden hat. Es ist bei der Verbindung
zweier Adjektiva im älteren Nhd. und noch bei Goethe häufig, H. Sachs sagt sogar weder mit böss noch
guten Dingen. Seltener ist es bei der Verbindung zweier Substantiva, vgl. von Thier vnd Menschen (H.
Sachs), von merck vnd steten (id.).
7. Brugmann verwendet für solche Verbindungen die Bezeichnung Distanzkomposita, wobei der von Dittrich
angenommene Begriff von Kompositum zu Grunde liegt.
8. Vgl. Andr. Sprachg. S. 152 und 64.
9. Man könnte versucht sein, diese Wörter vielmehr als nominale Komposita zu fassen, aber man würde sich
dadurch mit dem Sprachgefühl in Widerspruch setzen, und man würde teilweise auf Simplicia kommen, die
gar nicht existieren wie stellig und geblich.
10. Die Beispiele teilweise nach Andr. Sprachg. S. 120 und 42. 3, wo noch mehr aufgeführt werden.
11. Nach Andr. a. a. O.
12. Auch hier könnte ein Zweifel entstehen, ob die betreffenden Wörter nicht als nominale Komposita
aufzufassen sind, aber das Sprachgefühl entscheidet wieder für die oben ausgesprochene Auffassung. Die
Analogie der nominalen Komposition mag allerdings etwas mitgewirkt haben, aber Bildungen wie
Freisprechung, Bekanntmachung würden sich dieser Analogie wegen ihrer Bedeutung nicht fügen; sie
müssten ja sonst = freie Sprechung, bekannte Machung sein.
13. Vgl. auch Siesbye, Dania 10, 39.
14. Man muss, um die Entstehung der angeführten Formen zu verstehen, auf die vorhistorische
Betonungsweise zurückgehen.
15. Mir kommt es hier und im Folgenden nur darauf an, die Bildungsweise zu veranschaulichen, und ich will
nicht behaupten, dass gerade das als Beispiel gewählte Wort zu den ursprünglichen Bildungen gehört habe.
16. Über entsprechende Entstehung von Suffixen aus Kompositionsgliedern im Ungarischen vgl. Simonyi S.
275ff.

ZWANZIGSTES KAPITEL.

DIE SCHEIDUNG DER REDETEILE.

§ 244. Die übliche Scheidung der Redeteile in den indogermanischen Sprachen, wie sie der Hauptsache nach von
den antiken Grammatikern überkommen ist, beruht nicht auf konsequent durchgeführten logischen Prinzipien, sie ist
vielmehr zu Stande gekommen unter Berücksichtigung sehr verschiedener Verhältnisse. Sie trägt daher den
Charakter der Willkürlichkeit an sich. Ihre Mängel lassen sich leicht zeigen. Es würde aber nicht möglich sein etwas
wesentlich Besseres an die Stelle zu setzen, so lange man darauf ausgeht, jedes Wort in eine bestimmte Klasse
unterzubringen. Der Versuch, ein streng logisch gegliedertes System aufzustellen, ist überhaupt undurchführbar.

Es sind drei Punkte die bei der üblichen Einteilung massgebend gewesen sind: die Bedeutung des Wortes an sich,
seine Funktion im Satzgefüge, sein Verhalten in Bezug auf Flexion und Wortbildung.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 245. Was den ersten Punkt betrifft, so korrespondieren zunächst die grammatischen Kategorieen Substantivum,
Adjektivum, Verbum mit den logischen Substanz, Eigenschaft, Tätigkeit oder richtiger Vorgang.[1]) Aber wenn es
auch die eigentliche Funktion des Substantivums ist eine Substanz zu bezeichnen, wozu ein Adj. oder Verb. nicht
fähig ist, so gibt es doch auch substantivische Bezeichnungen der Eigenschaft und des Geschehens. Es gibt ferner
Verba, die dauernde Zustände, Eigenschaften bezeichnen. Die Rücksicht auf die Bedeutung der Wörter an sich hat
ferner dazu mitgewirkt, dass man die Pronomina und die Zahlwörter als besondere Klassen aufgestellt hat. Wenn
man diese nun den Klassen der Substantiva und der Adjektiva koordiniert, so liegt darin ein starker logischer Fehler.
Der Gegensatz von Subst. und Adj. geht [353 Gesichtspunkte für die Scheidung.] auch durch die Pronomina und
Zahlwörter hindurch. Anderseits müsste man, wenn man auf dem Gebiete der Nomina die Pronomina und
Zahlwörter als besondere Klassen ausscheidet, dieselbe Ausscheidung auch auf dem Gebiete der Adverbia
vornehmen; denn bene - huc - bis verhalten sich zueinander wie bonus - hic - duo.

§ 246. Sieht man auf die Funktion im Satzgefüge, so könnte man die Wörter vielleicht zunächst scheiden in solche,
die für sich einen Satz bilden, solche, die fähig sind als Satzglieder zu dienen, und solche, die nur zur Verbindung
von Satzgliedern dienen, Verbindungswörter.

Unter die erste Klasse könnten wir die Interjektionen stellen, die isoliert als unvollkommene Sätze zu betrachten
sind. Aber dieselben kommen doch auch als Satzglieder vor, die mit einem Subst. teils unmittelbar, teils durch
Vermittlung einer Präposition zu einem Satze verbunden werden, vgl. wehe dem Lande, o über die Toren, mhd. ach
mînes lîbes.

Ein vollkommenerer Satz mit Andeutung von Subj. und Präd. ist ursprünglich das Verb. finitum. Wir finden
dasselbe aber daneben schon auf der ältesten überlieferten Stufe als blosses Präd. neben einem besonders
ausgedrückten Subjekte und in unserer jetzigen Sprache nur so, abgesehen vom Imperativ. Es ist daher doch nicht
möglich die Satznatur als Kennzeichen des Verbums hinzustellen. Und weiter sind die sogenannten Hilfszeitwörter
zu Verbindungswörtern degradiert.

Die Verbindungswörter sind, wie wir § 206 gesehen haben, durch eine Gliederungsverschiebung aus selbständigen
Wörtern entstanden. Dieser Prozess wiederholt sich immer von Neuem. Sie sind daher schon deshalb nicht scharf
abzugrenzen. Dazu kommt, dass ein Wort innerhalb des Einzelsatzes, dem es angehört, Selbständigkeit haben, aber
doch zugleich zur Verknüpfung dieses Satzes mit einem andern dienen kann. Sage ich z. B. ein Mensch der das
glaubt ist ein Narr, so ist der innerhalb des Relativsatzes selbständiges Glied, aber zugleich Verbindungswort
zwischen Haupt- und Nebensatz. Das Nämliche gilt überhaupt von dem relativen Pron. und Adv. Es gilt auch von
dem Demonstrativum, soweit es auf den vorhergehenden oder folgenden Satz weist, dagegen wieder nicht, soweit es
auf die vorliegende Anschauung geht.

Versuchen wir dann eine weitergehende Teilung, so verwickeln wir uns wieder in Schwierigkeiten. Das Subst. hat
im Gegensatz zum Adjektivum und Verbum vor allem die Funktion als Subj. zu dienen und danach als Objekt im
weitesten Sinne. Wenn neben den Substanzbezeichnungen auch solche Substantiva geschaffen sind, die eine
Eigenschaft oder ein Geschehen bezeichnen, so beruht dies wohl anfänglich auf einer phantasievollen Anschauung,
durch welche Eigenschaften und [Paul, Prinzipien] [354 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.]
Vorgänge zu Dingen oder Personen gestempelt werden. Weiterhin aber ist es eben die Fähigkeit der
substantivischen Bezeichnungen beliebig als Subj. oder Obj. zu dienen, was die Veranlassung gibt, sie zu schaffen.
Bei alledem aber kann doch wieder auch das Subst. attributiv und prädikativ verwendet werden wie ein Adj., und
können anderseits auch andere Wörter als Subj. fungieren; ich meine nicht etwa bloss als psychologisches Subj. im
weitesten Sinne, sondern auch als grammatisches Subj. in dem üblichen beschränkten Sinne. Vgl. Sätze wie frisch
gewagt ist halb gewonnen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hin ist hin, verloren ist verloren, grün ist die Farbe
der Hoffnung; ehrlich währt am längsten, doppelt genäht hält gut, jung gefreit hat niemand gereut, allzu scharf
macht schartig, gleich wieder ist die beste Bezahlung, geradezu gibt gute Renner. Auch als Obj. kann zuweilen ein
Adj. erscheinen, vgl. er hält gut für böse; ferner abhängig von Präpositionen, vgl. schwarz auf weiss, aus arg ärger
machen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wenden wir uns zu den Verbindungswörtern, so erregt die Klasse der Konjunktionen, wie sie gewöhnlich aufgestellt
wird, allerhand Bedenken. Zunächst ist die Scheidung von den demonstrativen und relativen Adverbien, deren
Stellung oben (S. 353) charakterisiert ist, eine ziemlich willkürliche, indem man z. B. wo als Adv., als, während als
Konjunktionen bezeichnet. Im Einzelsatze unterscheidet man dann Präpositionen und Konjunktionen, je nachdem
Kasusrektion stattfindet oder nicht, d. h. also im allgemeinen je nachdem Hypotaxe oder Parataxe stattfindet.
Vollständig decken sich allerdings diese beiden Unterscheidungen nicht. Dagegen bezeichnet man alle
Verbindungswörter, die Sätze untereinander verknüpfen, als Konjunktionen, während man doch hier auch den
Unterschied zwischen Hypotaxe und Parataxe machen sollte. Man bezeichnet z. B. ehe, seit, während, wo sie im
einfachen Satze auftreten, als Präpositionen, wo sie zur Verknüpfung von Sätzen dienen, als Konjunktionen,
während doch die Funktion in beiden Fällen analog ist.[2])

§ 247. Am konsequentesten lässt sich noch die Scheidung nach der Flexionsweise durchführen. Und in der Tat wird
danach die Scheidung in drei Hauptklassen gemacht, Nomina, Verba und flexionslose Wörter (Indeklinabilia,
Partikeln). Aber auch hierbei zeigen sich die Nominalformen des Verbums und die substantivierten Indeklinabilia
widerstrebend. Und zu einer weiteren Sonderung reicht die Rücksicht auf die Flexion nicht aus. Die indeklinablen
Partikeln lassen sich danach überhaupt nicht weiter einteilen. Die Pronomina weichen in [355 Gesichtspunkte für die
Scheidung. Substantivum und Adjektivum.] der Flexion zum Teil von den übrigen Nomina ab, aber nur zum Teil
und dann wieder untereinander. Der Unterschied zwischen substantivischer und adjektivischer Flexion ist kein
durchgängiger. Auch die Bildbarkeit der Steigerungsformen kann nicht als entscheidendes Kennzeichen des
Adjektivums gelten, da schon die Bedeutung mancher Adjektiva keine Steigerungsformen zulässt.

§ 248. Wenn demnach bei der üblichen Scheidung der Redeteile so verschiedenartige Rücksichten in Frage
kommen, die miteinander in Konflikt geraten können, so ist es ganz natürlich, dass diese Scheidung überhaupt nicht
wirklich durchführbar ist. Die dabei in Betracht kommenden Verhältnisse sind zu mannigfaltig und erscheinen in zu
verschiedenartigen Kombinationen, als dass eine Einordnung in acht oder neun Rubriken genügen könnte. Es gibt
eine Menge Übergangsstufen, vermöge deren ein allmählicher Übergang aus der einen Klasse in die andere möglich
ist. Ein solcher Übergang erfolgt nach den allgemeinen Regeln des Bedeutungswandels und der Analogiebildung,
wie wir sie in den voraufgehenden Kapiteln kennen gelernt haben. Verfolgt man diese Übergänge, so erhält man
damit zugleich Aufklärung über die Ursachen, die ursprünglich eine Differenzierung der Redeteile hervorgebracht
haben.

§ 249. Betrachten wir zunächst den Unterschied zwischen Subst. und Adj. Die formelle Scheidung beider beruht in
den indogermanischen Sprachen auf der Wandelbarkeit des letzteren nach dem Geschlecht und auf der Bildung der
Steigerungsformen. In einzelnen Sprachen haben sich dazu noch weitere Unterscheidungsmittel herausgebildet. So
hat namentlich das germanische Adj. die Möglichkeit einer doppelten, wir können sogar sagen dreifachen
Flexionsweise erlangt (vgl. gut - guter - der gute), wobei sich Formen finden, die in der Flexion der Substantiva gar
keine Analogie haben.

Man ist auf Grundlage solcher Kriterien z. B. nicht zweifelhaft, dass man Hund für ein Subst., jung für ein Adj.
erklären muss. Aber trotz aller formellen Differenzierung kann das Adj. ohne weiteres die Funktion eines
Substantivums erhalten, zunächst okkasionell, dann auch usuell. Es findet dabei eine Bereicherung des
Bedeutungsinhaltes statt, indem entweder die ganz allgemeinen Vorstellungen eines Dinges oder einer Person mit
aufgenommen werden oder speziellere, aus der Situation sich ergebende (vgl. § 222). Diese Operation können wir
okkasionell mit jedem beliebigen Adj. machen, welches denn auch unser jetziger Schreibgebrauch durch
Verwendung der Majuskel als Subst. anerkennt. Durch traditionelle Verwendung kann sich dann aus dem
substantivierten Adj. ein reines Subst. entwickeln, zumal wenn es gegen die sonstigen Formen des Adj. irgendwie
isoliert wird. Der Fortschritt [356 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] in der Substantivierung
bekundet sich hinsichtlich der Konstruktion namentlich durch die Verknüpfung mit einem attributiven Adjektivum,
welches an Stelle des Adverbiums tritt, oder mit einem Gen., der eventuell an Stelle eines vom Adj. regierten Dativs
tritt. Vgl. lat. bonum publicum, malum publicum, amicus fidelis; auch ohne dass die Substantivierung schon so
traditionell geworden ist, sagt man nonnulli nostri iniqui, nonnullis invidis meis (vgl. Draeg. § 16); vgl. ferner engl.
my like, equal, better, younger etc. (Mätzn. III, S. 232), his worthier (Milton); mhd. mîn gelîche (woher nhd. meines
Gleichen). Dabei findet sich Mischung substantivischer und adjektivischer Konstruktion, vgl. lat. multorum bene
factorum (Cic.). In anderer Weise vermischt sich die Auffassung, indem trotz der Substantivierung ein Superlativ
gebildet wird: mei familiarissimi, pessimo publico (vgl. Draeg. § 16). Im Lat. geht die völlige Substantivierung ohne
Schwierigkeiten vor sich, weil keine Abweichung in der Flexion besteht. Im Deutschen dagegen erinnert auch bei
schon sehr fortgeschrittener Substantivierung doch die adjektivische Flexion an die ursprüngliche Natur des Wortes.
Der Bekannte, Verwandte, Gesandte, Vertraute, Geliebte, Verlobte, Beamte, Bediente, Liebste werden jetzt als
Substantiva empfunden und demgemäss konstruiert (der Bekannte des Mannes, mein Bekannter), aber als Adjektiva
verraten sie sich noch durch den regelmässigen Wechsel starker und schwacher Flexion (der Bekannte - ein [mein]

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Bekannter), die entsprechenden Feminina dazu durch die schwache Flexion im Sing., die beim eigentlichen Subst.
ausgestorben ist (der Bekannten gegen der Zunge). In vollständige Substantiva aber umgewandelt sind der Junge
(ein Junge), der Greis (mhd. grîse vom Adj. grîs), der Jünger (die beide aus der schwachen Deklination in die
starke übergetreten sind), Oberst. Älteren Ursprungs sind Feind, Freund, Heiland, mhd. wîgant (Kämpfer), vâlant
(Teufel), alles alte Partizipia Präs., ferner Fürst (alter Superl.), Herr (alter Kompar. von hehr), Mensch (Adj.
mennisch von man) und die Neutra Gut, Übel, Recht, Leid. Diese Verwandlung des Adjektivums in ein Subst. ist
allbekannt und lässt sich in allen Sprachen nachweisen.

§ 250. Nicht so bekannt und viel interessanter ist der umgekehrte Vorgang, die Verwandlung eines Substantivums in
ein Adj. Diese kommt zu Stande dadurch, dass etwas aus dem Bedeutungsinhalt ausgeschieden wird, indem
mindestens von der Vorstellung einer Substanz abgesehen wird, so dass nur die der Substanz anhaftenden Qualitäten
übrig bleiben. Okkasionell findet diese Verwandlung eigentlich schon statt, sobald ein Subst. als Präd. oder Attribut
verwendet wird. Denn es werden dadurch der Substanz des Subjekts oder des bestimmten Wortes nur Qualitäten
beigelegt, es wird nicht ausser dieser noch eine neue Substanz gesetzt. [357 Substantivum und Adjektivum.] Die
Apposition nähert sich namentlich da der Natur des Adjektivums, wo sie zur Spezialisierung einer Gattung
gebraucht wird, zumal wenn die Verbindung noch eine vom Normalen abweichende Kühnheit enthält. Vgl. griech.
anê`r polítês, rhê'tôr, hoplítês etc., gunê` déspoina, sogar parthénos cheír; lat. exercitus victor (Liv.), tirones milites
(Cic.), bellator equus (Virg., Ov.), bos arator (Sueton); franz. un dieu sauveur (Voltaire); flatteur und andere
Wörter auf -eur müssen geradezu auch als Adjektiva angesehen werden. Die adjektivische Natur kann sich durch
Beifügung eines eigentlich nur dem Adj. zukommenden Adverbiums bekunden; vgl. weg du Traum, so Gold du bist
(Goe.); diesen Widerspruch, so Widerspruch als er ist (Le.); so Kriegerinn als sie war (id.); so Bedienter, so weit
unter seinem Herrn er auch immer ist (id. und so öfter); man hält ihn zu sehr für Kind, wenn man sein Ganzes
verwirft, und zu wenig für Kind, wenn man sein Probestück nicht ansehen will (Herder); so ist er Fuchs genug (Le.);
lat. nemo tam puer est (Seneca); franz. il n'est pas si diable qu'il est noir (Sprichwort). Wendungen wie er ist Tor
genug, zu sehr oder zu wenig Geschäftsmann sind ganz üblich.

Einige Substantiva werden im Nhd. in prädikativer Verwendung schon geradezu als Adjektiva empfunden,
unterscheiden sich aber doch dadurch von wirklichen Adjektiven, dass sie nicht attributiv und mit adjektivischer
Flexion gebraucht werden. Hierher ziehen lässt sich wohl schon Herr oder Meister sein (werden). Goethe sagt: als
wenn sie (Narciss und Landrinette) Herr und Meister der ganzen Truppe wären. Hier zeigen die beiden Wörter noch
substantivische Natur, insofern ein Gen. davon abhängt, aber zugleich sind sie wie prädikative Adjektiva behandelt,
da sie sonst nicht unflektiert neben einem pluralischen Subjekte stehen könnten und ausserdem zu der einen
weiblichen Person nicht passen würden. Noch entschiedener hierher zu ziehen ist einem feind sein wegen des
Dativs. Ferner schuld sein, wobei sich die Isolierung gegenüber dem Subst. Schuld in der Orthographie zeigt;
weniger entschieden es ist Not, Zeit, worin es von Hause aus Gen. ist. Noch weiter geht die Isolierung in es ist
schade, indem das Subst. jetzt gewöhnlich Schaden lautet. Im Mhd. war die Entwickelung schon noch weiter
gegangen. Hier wird schade auch als Prädikat zu persönlichen Subjekten gebraucht und es kommt auch ein
Komparativ und Superlativ davon vor, z. B. im Trojanerkrieg Konrads v. Würzb. der was den Kriechen scheder dan
iemen anders bî der zît;[3]) [358 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] ferner wird dazu ein Adv.
gebildet wie zu einem Adj. swie schade er lebe (Mhd. Wb. IIb 63b). Ebenso wie schade wird im Ahd. fruma
(Vorteil) gebraucht, z. B. Otfrid III, 10, 33, ,nist' quad er thô ,fruma thaz` (es ist das kein Vorteil). Schon im Mhd.
ist daraus ein wirkliches Adj. frum, nhd. fromm geworden. Man sagt ein frumer man etc. Wie sehr dabei die
Grenzlinie verwischt wird, zeigt eine Stelle im Flore 1289 daz wirt in nütze unde frume (: kume), wo wir mit
Rücksicht auf die Verbindung nütze das Adj., mit Rücksicht auf das auslautende e noch das Subst. annehmen
müssten. Auch das Adj. ernst, welches bei Luther zuerst auftritt, ist auf die nämliche Weise wie fromm aus dem
Subst. entstanden. Das Subst. Geck ist in nieder- und mitteldeutschen Dialekten zum Adj. geworden. Entwicht aus
mhd. ein wiht, enwiht (eigentlich »ein unbedeutendes Wesen« = »gar nichts, nichtig«) ist im sechzehnten Jahrh.
vollständiges Adj., vgl. entwicht vnd ark (H. Sachs), du bist vil entwichter (id.), die bös entwichten (Ayrer).

Der nämliche Prozess hat sich schon in einer viel früheren Sprachperiode vollzogen. Sämtliche sogenannte
Bahuvrîhi-Komposita sind ursprünglich Substantiva. Denn ein rhododáktulos, barúthumos, bathúthrix, eúelpis,
magnanimus, ignipes, misericors sind ja eigentlich `Rosenfinger, Schwermut, Tiefhaar, gute Hoffnung, Grossinn,
Feuerfuss, mitleidiges Herz'. Der substantivische Ursprung dokumentiert sich zum Teil noch in einem mangelhaften
Ausdruck der adjektivischen Funktion. Die Maskulinform rhododáktulos muss auch für das Femininum dienen.

Etwas anders verlaufen ist die Entwickelung bei barfuss aus bar vuoz (blosser Fuss). Dasselbe wurde zunächst als
Nom. oder Akk. absolutus gebraucht in der Verbindung barvuoz gân. Jetzt wird es als Adj. empfunden. Wirkliche
adjektivische Flexion findet sich z. B. bei Hans Sachs: mit barfussen Füssen.[4])

§ 251. Wenn wir davon absehen, ob das Nomen unter der Kategorie Ding aufgefasst wird oder nicht, so gibt es

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

allerdings noch in einer andern Richtung einen Gegensatz zwischen Subst. und Adj. Das Adj. bezeichnet eine
einfache oder als einfach vorgestellte Eigenschaft. das Subst. schliesst einen Komplex von Eigenschaften in sich.
[359 Substantivum und Adjektivum.] Betrachten wir diesen Unterschied als die Hauptsache, so können wir
allerdings orator in einer Verbindung wie Cicero orator oder Cicero est orator noch als ein reines Subst. fassen.
Aber dieser Unterschied ist wieder nicht festzuhalten. Er kreuzt sich mit den andern Unterschieden, vgl. einerseits
Adjektiva wie königlich, kriegerisch etc., anderseits substantivierte Adjektiva wie der Gute. Auch zwischen diesen
Gegensätzen gibt es eine Vermittelung, die unvermerkt von dem einen zum andern hinüberführt. Der Übergang aus
der Bezeichnung einer einfachen Eigenschaft in die eines Komplexes von Eigenschaften geht so vor sich, dass ein
substantiviertes Adj. kat' exochê'n gebraucht und in dieser Gebrauchsweise traditionell wird. Wer das Wort zuerst so
gebraucht, der ergänzt die Vorstellungen, die in der bisher üblichen Bedeutung des Wortes noch nicht ausgedrückt
sind. Einem späteren aber, dem dieser Gebrauch übermittelt wird, können sich von Anfang an die ergänzten
Vorstellungen ebenso direkt an den Lautkomplex anfügen wie die Grundvorstellung, und diese braucht sich ihm
nicht mehr vor den andern ins Bewusstsein zu drängen. Wenn dies nicht mehr geschieht, so ist von seiten der
Bedeutung der Übergang zum Subst. vollkommen, und durch weitere Isolierungen kann dann die gänzliche
Loslösung vom Adj. eintreten, vgl. die oben angeführten Beispiele.

Der umgekehrte Vorgang, dass in einer Komplikation von Eigenschaften alle übrigen gegen eine einzelne
zurücktreten, lässt sich an adjektivischen Ableitungen aus Substantiven beobachten, die sich zu Bezeichnungen ganz
einfacher Qualitäten entwickeln. Besonders lehrreich sind in dieser Hinsicht die Farbenbezeichnungen, vgl. griech.
porphúreos von porphúra (Purpurschnecke), phoiníkeios von phoínix, aérinos (luftfarben), mê'linos (quittengelb),
lat. coccinus von coccum (Scharlachbeere), croceus, crocinus von crocus, luteus von lutum (Wau), miniaceus von
minium (Zinnober), niveus, roseus, violaceus. In allen diesen Wörtern liegt an und für sich keine Beschränkung der
Beziehung auf die Farbe des mit dem Grundworte bezeichneten Dinges, und sie werden zum Teil auch ohne diese
Beschränkung verwendet, vgl. unguentum crocinum, vinculum roseum (Rosenkranz) etc. Auch Substantiva können
direkt zu Farbenbezeichnungen werden, vgl. porphúra, coccum, crocus, lutum und die modernen lila (= lilac
spanischer Flieder), rosa, die auch adjektivisch verwendet werden (ein rosa Band).

Nach Massgabe dieses Vorganges ist die erste Entstehung von Bezeichnungen für einfache Qualitäten zu beurteilen.
Dass diese jünger sind als die Bezeichnungen für Komplikationen ist selbstverständlich, wenn wir davon ausgehen,
dass ganze Anschauungen die allererste Grundlage sind. Auch hier kann es anfänglich nur die momentane [360
Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] Auffassung des Sprechenden gewesen sein, wodurch die
übrigen in dem Komplexe enthaltenen Qualitäten von der einen in den Hintergrund gedrängt sind. Es ist das im
Grunde derselbe Prozess, wie bei der bildlichen Verwendung eines Wortes. Wenn wir z. B. sagen der Mensch ist ein
Esel, ein Ochse, ein Schaf, ein Fuchs, so haben wir dabei immer nur eine bestimmte Eigentümlichkeit des
betreffenden Tieres im Auge und abstrahieren von den sonstigen Eigenschaften. Dies ist nur möglich, wo ein Wort
prädikativ oder attributiv gesetzt wird. Denn sowie man die Vorstellung eines selbständigen Dinges damit verbindet,
verbindet man auch die Vorstellung des ganzen Komplexes von Eigenschaften damit. Indem bei einer Anzahl von
Wörtern, die sich dazu besonders eigneten, die Verwendungsweise traditionell wurde, war der erste Ansatz zur
Bildung einer besonderen Wortklasse gemacht.

§ 252. Auch der Unterschied zwischen Nomen und Verbum ist trotz der stärkeren formellen Differenzierung kein
absolut fester. Es sind sehr verschiedene Punkte, durch welche das Verb. gegenüber dem Nom. charakterisiert ist:
Personalendung, Unterscheidung von Aktivum und Medium oder Passivum, Modus- oder Tempusbezeichnung. Es
ergibt sich danach die Möglichkeit der Existenz von Formen, die nur einen Teil dieser Charakteristika an sich
tragen, und der Spielraum der Mannigfaltigkeit erweitert sich noch dadurch, dass solche Formen die positiven
Charakteristika des Nomens, Kasusbezeichnung und Geschlechtsunterschied an sich tragen können oder nicht. Und
endlich ist bei einer Differenzierung der Konstruktionsweise des Verbums und Nomens die Gelegenheit zu
mannigfachen Übergängen und Vermischungen gegeben.

Gewöhnlich werden die Personalendungen als das eigentlich formelle Charakteristikum des Verb. angesehen.
Danach würden Part. und Inf. von den Verbalformen ausgeschlossen, genau genommen auch viele Formen der 2.
Sg. Imp.; denn ein bálle oder bále ist nichts anderes als der blosse Stamm des Präs. oder Aor. Die Personalendungen
sind demnach, wenn wir von der 2. Sg. Imp. absehen, ursprünglich ein notwendiges Erfordernis für die Funktion des
Verbums als normaler Satz und weiterhin für seine Funktion als Präd. oder Kopula im normalen Satze. Sie sind aber
doch kein absolutes Erfordernis zur Satzbildung, und andere Eigentümlichkeiten des Verbums sind von ihnen ganz
unabhängig.

§ 253. Der Bedeutungsgegensatz, in den man gewöhnlich das Verb. zum Adj., respektive dem prädikativ oder
attributiv gebrauchten Subst. setzt, hat mit den Verbalendungen an sich nichts zu schaffen. Er kann ohne dieselben
bestehen und kann trotz ihnen fehlen. Ein griechisches enkoteîs, basileúeis kann gerade soviel bedeuten wie énkotos

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

eî, basileùs eî. Der Gegensatz ist nur so lange scharf, als das Adj. [361 Nomen und Verbum.] (Subst.) eine bleibende
Eigenschaft, das Verb. einen zeitlich begrenzten Vorgang ausdrückt. Nun kann aber das Adj. nicht bloss zur
Bezeichnung einer zum Wesen eines Dinges gehörigen Eigenschaft, sondern auch zur Bezeichnung einer
vorübergehenden Eigenschaft gebraucht werden, und damit nähert es sich dem verbalen Charakter. Umgekehrt kann
das Verb. auch zur Bezeichnung von Zuständen, auch von bleibenden Zuständen gebraucht werden. Wie nahe sich
die beiden Bedeutungen des sich Befindens und des Geratens in einen Zustand miteinander berühren, haben wir
oben § 191 gesehen.

§ 254. Indem sich mit adjektivischer Form und Funktion die Bedeutung eines zeitlich begrenzten Vorganges
verbindet, entsteht das Partizipium, welches vor allem den Wert hat, dass es den Ausdruck für ein Geschehen in
bequemer Weise attributiv zu verwenden ermöglicht. Wir können den Übergang aus dem eigentlichen Adj. in das
Part. in mehreren Fällen historisch nachweisen. Unter andern gilt dies von dem deutschen sogenannten Part. Perf.
oder Prät. (gegeben, gelegt), welches so entstanden ist, dass die aus dem Idg. übernommenen Adjektiva auf -no- und
-to- sich in der Bedeutung an die aus der gleichen Wurzel gebildeten Verba derselben angelehnt haben, was dann
weiterhin auch manche formale Anlehnungen zur Folge gehabt hat. Ebenso verhält es sich mit dem lateinischen und
slawischen Part. Perf. Wir müssen eine entsprechende Entstehung auch für die älteren, schon im Idg. vorhandenen
Partizipia annehmen. Wir dürfen ganz gewiss nicht, wie es von manchen Seiten her versucht ist, die Kategorie des
Adj. aus der des Part. entstehen lassen, sondern umgekehrt die erstere muss vollkommen entwickelt gewesen sein,
bevor die letztere entstehen konnte. Sie wird ausgegangen sein von Formen, die ebensowohl als Ableitungen aus
dem Präsens- oder Aoriststamm aufgefasst werden konnten wie als Ableitungen aus der Wurzel, nach deren Muster
dann Adjektivformen zu andern Verbalstämmen gebildet wurden.

Die Teilnahme an dem Tempusunterschiede ist der charakteristische Unterschied des Part. von dem sogenannten
Verbaladjektive. Eine weitere Konsequenz der Anlehnung an die Formen des Verb. ist die Übernahme der
Konstruktionsweise desselben. Als Nomen wird das Part. nur in Rücksicht auf das Subst. konstruiert, zu dem es als
Attribut gestellt wird. Es kann sich aber noch weiter von dem nominalen Charakter entfernen, in dem es seinen
besonderen Weg in der Weiterbildung der Konstruktionsweise geht. Dadurch, dass in unserem er ist gegangen, er
wird gefangen, er ist gefangen worden Kasus und Geschlecht nicht mehr erkenntlich gemacht werden, ist auch das
Gefühl für den nominalen Charakter geschwächt, wenn auch die Konstruktion in den beiden ersten Verbindungen
die des gewöhnlichen Adjektivums ist, in der letzten sich [362 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.]
davon nur durch das worden gegen sonstiges geworden abhebt. Eine völlige Loslösung von der Konstruktionsweise
eines Adj. müssen wir in er hat ihn gefangen, er hat geruht etc. anerkennen. Zwar lässt sich historisch nachweisen,
dass ersteres ursprünglich so viel ist wie `er hat ihn als einen Gefangenen', aber das ist für das jetzige Sprachgefühl
gleichgültig. Früher sagte man habet inan gifanganan, und damals war natürlich der nominale Charakter
unverkennbar. Eigentümlich sind die Verhältnisse bei den entsprechenden Verbindungen in den jetzigen
romanischen Sprachen. Es lässt sich daran deutlich der Übergang aus der allgemein adjektivischen in die speziell
partizipiale Konstruktion beobachten. Im Franz. sagt man zwar j'ai vu les dames, aber je les ai vus, les dames que
j'ai vues. Im Italienischen kann man auch noch sagen ho veduta la donna, ho vedute le donne neben ho veduto. Im
Spanischen ist die Flexion bei der Umschreibung mit haber schon überall getilgt; man sagt la carta que he escrito
gerade wie he escrito una carta. Aber bei der erst später üblich gewordenen Umschreibung mit tener ist sie
umgekehrt überall gewahrt: tengo escrita una carta wie las cartas que tengo escritas.

Umgekehrt aber kann das Part. stufenweise wieder zu rein nominaler Natur zurückgeführt werden. Diese
Rückführung ist eigentlich schon vollzogen, wenn das Part. Präs. für die dauernde oder sich wiederholende
Tätigkeit, das Part. Perf. für das Resultat der Tätigkeit verwendet wird, wie ja jede Form des Präs. oder Perf.
verwendet werden kann. Eine Gebrauchsweise kat' exochê'n oder im metaphorischen Sinne oder sonst irgend eine
Art von Isolierung kann die Verwandlung vollständig machen, vgl. Beispiele wie schlagend, treffend, reizend,
zwingend, bedeutend, getrieben, gelungen, berufen, verstorben, verzogen, verschieden, bekannt, unumwunden,
verlegen, gewogen, verwegen, erhaben, bescheiden, trunken, vollkommen etc. Selbst die Verbindung mit einem
andern Worte nach den Gesetzen verbaler Konstruktion hindert diesen Prozess nicht, nur dass dann das Ganze im
Stande sein muss, sich an die Analogie nominaler Komposition anzulehnen, vgl. ansprechend, auffallend,
ausnehmend, anwesend, abwesend, zuvorkommend, hochfliegend, hellsehend, wohlwollend, fleischfressend,
teilnehmend; abgezogen, ausgenommen, hochgespannt, neugeboren, wohlgezogen etc.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Als ein Charakteristikum für die Verwandlung in ein reines Adj. kann die Bildung eines Komparativs und
Superlativs angesehen werden. Bisweilen erscheint dieselbe jedoch neben verbaler Konstruktion, vgl. dazu erschien
mir nichts wünschenswerteres, den Charakter der Nation ehrenderes (Goe.); die Östreich kräftigendsten Elemente
(Köln. Zeit.).[5]) [363 Nomen und Verbum.] Ein anderes Kriterium ist die Konstruktionsweise, z. B. die Verbindung
mit einem Gen. im Lat.: amans tuorum ac tui (Cic.), religionum colentes (id.), solitudinis fugiens - societatis
appetens (id.).[6])

Zum Subst. wird das Part. wie jedes Adj., und das substantivierte Part. kann wie das adjektivische eine momentane
Tätigkeit oder einen Zustand bezeichnen. Es kann auch ebenso wie dieses substantiviert werden, vgl. der Liebende,
Vorsitzende, Geliebte, Gesandte, Abgeordnete, Beamte (= beamtete), mhd. der varnde, gernde (beide = Spielmann),
aus älterer Zeit Heiland, Freund, Feind etc., Zahn = lat. dens = gr. odoús (Part. zu essen, edere).

§ 255. Auch das Nomen agentis kann ebenso wie das Part. entweder eine momentane oder eine dauernde resp. sich
wiederholende Tätigkeit bezeichnen. In der ersten Verwendung bleibt es immer eng an das Verb. angeschlossen,
und es wäre recht wohl denkbar, dass es ebenso wie das Part. einmal verbale Konstruktionsweise annähme, dass
man etwa sagte der Erzieher den Knaben, wie man ja wenigstens im Kompositum Knabenerzieher den ersten
Bestandteil als Akk. empfindet und in Analogie zu Knaben erziehen setzt. Schon in Verbindungen wie der Sieger in
der Schlacht, der Befreier aus der Not[7]) ist verbaler Charakter ersichtlich, noch mehr in solchen wie griech.
upêrétês toîs nómois oder gar lat. dator divitias, justa orator. Umgekehrt kann das Nom. agentis als Bezeichnung
dauernder oder wiederholter Tätigkeit sich mehr und mehr dem Verb. gegenüber isolieren und damit schliesslich
überhaupt den Charakter eines Nom. agentis einbüssen, vgl. Schneider, Beisitzer, Ritter, Herzog (Heerführer) etc.

§ 256. Noch ein anderer Weg führt vom Verb. zum Nom. Neben den Nomina agentis stehen die Nomina actionis.
Diese können wie die substantivischen Eigenschaftsbezeichnungen ihren Ursprung nur einer Metapher verdanken,
indem die Tätigkeit unter der Kategorie des Dinges aufgefasst wird. Auch sie können eine momentane oder eine
dauernde wiederholte Tätigkeit bezeichnen. Auch sie können sich der verbalen Konstruktion nähern, vgl. die
Befreiung aus der Not, hê toîs nómois hupêresía, Knabenerziehung. Und es ist wieder die Bezeichnung der
dauernden, wiederholten Tätigkeit, die zum Verlust des Charakters eines Nomens actionis führt. Es entwickelt sich
daraus die Bezeichnung eines bleibenden Zustandes, vgl. Besinnung, Bewegung, Aufregung, Verfassung, Stellung,
Stimmung.

Von hier aus ist dann auch eine Weiterentwickelung zu Dingbezeichnungen möglich, wie schon oben § 70 gezeigt
ist. Dabei kann [364 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] das Korrespondieren der Bedeutung mit
der des Verbums abgebrochen werden, vgl. Haltung, Regung, Gleichung, Rechnung, Festung etc. Und durch weitere
Isolierung kann dann jede Spur des verbalen Ursprungs vernichtet werden.

§ 257. Soweit verhält sich das Nom. actionis dem Nom. agentis analog. Es wird aber auch dem verbalen Charakter
noch weit mehr angenähert als dieses, weiter sogar als das Adj. (Part.), nämlich dadurch, dass aus ihm der Infinitiv
(das Supinum) entspringt. Der Inf. verhält sich in sehr vielen Beziehungen dem Part. analog. Aber während dieses
im allgemeinen die adjektivische Form und die adjektivische Konstruktionsweise neben der verbalen bewahrt und
nur hie und da mit Aufhebung der formellen Charakteristika des Adj. für sich eine eigenartige Konstruktionsweise
entwickelt, so ist für den Inf. Isolierung gegenüber der Form und Konstruktionsweise des Nomens Bedingung seiner
Entstehung. Der Inf. ist, wie die formelle Analyse beweist, ein Kasus eines Nom. actionis und muss ursprünglich
nach Analogie der sonst für die Verbindung des Nomens mit dem Verb. geltenden Konstruktionsweisen gesetzt sein.
Aber er darf als Kasus nicht mehr empfunden werden, die Konstruktionsweise darf nicht mehr in Analogie zu den
ursprünglichen Mustern gesetzt werden, oder es ist noch kein Inf. Die isolierte Form und die isolierte
Konstruktionsweise werden dann die Basis für die Weiterentwickelung. Die Form und Konstruktionsweise des Inf.
ist nach der einen Seite hin verbal wie die des Part., nach der andern Seite hin aber nicht nominal, sondern spezifisch
infinitivisch.

Auch für den Inf. gibt es eine stufenweise Rückkehr zu nominaler Natur, aber er findet dabei mehr Hindernisse als
das Part. wegen des Mangels der Flexion. Die Annäherung an den nominalen Charakter zeigt sich daher, solange
nicht besondere Unterscheidungsmittel angewendet werden, zunächst in solchen Fällen, wo die Charakterisierung
durch eine Flexionsendung am wenigsten erforderlich ist, d. h. in der Verwendung als Subjekt oder Objekt. In
Satzformen wie wagen gewinnt, lat. habere eripitur, habuisse nunquam (Sen.), vollends in solchen wie hic vereri (=
verecundiam) perdidit (Plaut.) dürfen wir wohl mit Sicherheit annehmen, dass der Inf. nach Analogie eines Nomens
konstruiert ist. Weniger sicher ist das in solchen wie ich lasse schreiben, ich lerne reiten. Jedenfalls, wenn hier
einmal der Inf. nach Analogie eines Objektsakkusativs gesetzt ist, so ist diese Analogie für das jetzige Sprachgefühl
nicht mehr vorhanden. Schon weniger leicht tritt die Verbindung mit Präpositionen ein. Im Mhd. ist besonders durch
mit dem Inf. üblich; in der römischen Volkssprache tritt die Verbindung von Präpositionen mit dem Inf. an die Stelle

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

des Gerundiums (ad legere für ad legendum etc.); ebenso zuweilen bei Dichtern und späten Prosaikern: [365
Infinitiv.] praeter plorare (Hor.), multum interest inter dare et accipere (Sen.). Eine weitere Annäherung des Inf. an
das Nom. bedarf besonderer begünstigender Umstände. Es gelangen dazu im allgemeinen nur solche Sprachen, die
in dem Artikel ein Mittel der Substantivierung und Kasusbezeichnung haben. Daher ist das Griechische in dieser
Beziehung weiter gegangen als das Lateinische, in welchem letzteren allerdings doch auch Demonstrativpronomina
eine ähnliche Wirkung haben können, vgl. totum hoc philosophari (Cic.), inhibere illud tuum (id.). Das Nhd. aber
und die romanischen Sprachen sind wieder weiter gegangen als das Griechische, indem in ihnen der Inf. auch
rücksichtlich der Flexion dem reinen Nomen gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung ist in den romanischen
Sprachen durch die allgemeine Tilgung des Kasusunterschiedes ermöglicht. Das Altfranzösische und Provenzalische
gehen aber auch soweit dem Inf. das Nominativ -s zu geben: li plorers ne t' i vaut rien; meliers chanza es donars
que penres. Für das Nhd. kommt einerseits der Umstand in Betracht, dass die Kasusunterschiede bei den
Substantiven auf -en bis auf den Gen. getilgt sind, anderseits die Anlehnung des Gerundiums (mhd. gebennes, ze
gebenne) an den Inf., mit dem es ursprünglich gar nichts zu tun hat.

Bei dieser Entwickelung sind auch verschiedene Stufen in Bezug auf die Beibehaltung der verbalen Konstruktion
möglich. Ohne Beifügung eines Artikels oder Pronomens findet sie in der Regel statt, vgl. z. B. mhd. durch behalten
den lîp, durch âventiure suochen. Im Griech. hindert auch der Artikel nicht; man sagt tò skopeîn tà prágmata, tò
heautoùs exetázein, epì tô^ beltíô katastê^sai tê`n hautô^n diánoian. Im Nhd. ist, der Annahme der nominalen
Flexion entsprechend, die verbale Konstruktion auf dasselbe Mass beschränkt wie beim Nom. actionis. Im Mhd.
dagegen kommt zuweilen noch echt verbale Konstruktion vor; ja sogar ein auf den Inf. bezogenes Relativum kann
verbale Konstruktion haben, vgl. Hartmann Greg. 2667 des scheltens des in der man tete; Tristan 1067 diz sehen daz
ich in hân getân. Auch in den romanischen Sprachen findet sich verbale Konstruktion des mit Artikel oder Pron.
versehenen Infinitivs neben nominaler, vgl. it. al passar questa valle (aber auch il trapassar del rio); span. el huir la
occasion (aber auch al entrar de la ciudad); afranz. au prendre le congié, noch bei Montaigne il se penoient du tenir
le chasteau; ferner it. il conoscer chiaramente, span. el bien morir, afranz. son sagement parler.

Sobald der durch die Flexion bewirkte Abstand zwischen Inf. und Nomen getilgt ist, steht der Verwandlung des
ersteren in ein reines Nomen nichts mehr im Wege und diese ist daher im Nhd. sehr häufig, auch in den romanischen
Sprachen nicht selten, vgl. nhd. Leben, Ableben, [366 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] Leiden,
Scheiden, Schreiben, Tun und Treiben, Wesen, Vermögen, Betragen, Belieben, Einkommen, Abkommen,
Auskommen, Ansehen, Aufsehen, Andenken, Vorhaben, Wohlwollen, Wohlergehen, Gutdünken etc.; franz. être,
plaisir, pouvoir, savoir, savoir-faire, savoir-vivre etc. Dabei können dieselben Bedeutungsveränderungen eintreten
wie sonst bei den Nomina actionis und dieselbe Isolierung dem Verbum gegenüber.

§ 258. Die Adverbia sind, soweit wir ihren Ursprung erkennen können, fast durchweg aus erstarrten Kasus von
Nominibus hervorgegangen, teilweise aus der Verbindung einer Präposition mit einem Kasus. Es ist danach zu
vermuten, dass auch die älteste Schicht der Adverbia auf ähnliche Weise aus Nominibus hervorgegangen ist, nur mit
dem Unterschiede, dass dieser Prozess vor die Entwickelung der Flexion fällt, und dass daher noch nicht ein Kasus,
sondern die reine Stammform zur Verwendung gekommen ist. Das Adv. hat die nächste Verwandtschaft mit dem
Adj. Es verhält sich zunächst zum Verbum, dann auch zum Adj. analog wie ein attributives Adj. zu einem Subst.
Diese Proportionalität zeigt sich dann auch darin, dass im allgemeinen aus jedem beliebigen Adj. ein Adv. gebildet
werden kann.

Die formelle Scheidung des Adjektivums von dem Adv. beruht auf der Flexionsfähigkeit des ersteren und der
dadurch ermöglichten Kongruenz mit dem Subst. Wo dies formelle Kriterium fortfällt, da kann auch die Scheidung
von dem Sprachgefühl nicht mehr strikt aufrecht erhalten werden. Im Nhd. ist sie wirklich zum Teil durchbrochen,
nachdem das Adj. in prädikativem Gebrauche unveränderlich geworden ist, und nachdem der im Mhd. meist noch
bestehende Unterschied zwischen der flexionslosen Form des Adj. und dem Adv. (starc - starke, schoene - schône,
guot - wol, bezzer - baz) aufgehoben ist. Wir haben eigentlich kein Recht mehr gut in Sätzen wie er ist gut gekleidet,
er spricht gut und gut in Sätzen wie er ist gut, man hält ihn für gut einander als Adv. und Adj. gegenüberzustellen.
Das Sprachgefühl weiss von diesem Unterschiede nichts. Das ersieht man am besten daraus, dass die Adverbialform
des Superlativs in die Stelle eingerückt ist, die sonst der flexionslosen Form des Adj. zukommt. Man sagt es ist am
besten und selbst du bist am schönsten, wenn etc.

Anderseits nehmen in verschiedenen Sprachen manche Adverbia neben einem Adjektivum adjektivische Flexion an.
So sagt man im Franz. toute pure, toutes pures; entsprechend it. tutta livida, span. todes desnudos etc.; ebenso it.
mezza morte, span. medios desnudos. Auch in vielen deutschen Mundarten sagt man ein ganzer guter Mann, eine
ganze gute Frau; solche schlechte Ware; eine rechte gute Frau (Le.).

Die Funktion des Adjektivums stimmt besonders überein mit der des Adverbiums neben Nomina actionis und

192
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

agentis, vgl. eine gute [367 Adjektivum und Adverbium.] Erzählung, ein guter Erzähler. Hier bezeichnet das Adj.
genau so die Art und Weise eines Vorganges wie sonst das Adv. Die letztere Verbindung ist aber zweideutig, indem
man gut auch auf die Person des Erzählers überhaupt beziehen kann. Diese Zweideutigkeit würde vermieden
werden, wenn man etwa für den einen Fall nach Analogie der verbalen Konstruktion das Adv. anwendete; und so
sagt man im Engl. an early riser. Im Deutschen helfen wir uns durch Vereinigung der Begriffe in ein Wort, vgl.
Frühaufsteher, Langeschläfer, Schönschreiber, Feinschmecker etc., Ableitungen aus früh aufstehen etc. Die
berührte Zweideutigkeit ist übrigens nicht auf die Nomina agentis beschränkt, vgl. ein guter Kutscher, ein arger
Narr, ein grosser Esel, ein junger Ehemann. Das Adj. kann entweder auf die Person schlechthin bezogen werden
oder auf die Eigenschaft, welche ihr durch das Subst. beigelegt wird. Im letzteren Falle verhält es sich zu dem Subst.
wie ein Adv. zu dem Adj., das es bestimmt. Entsprechend verhält sich das Adj. zu substantivischen
Qualitätsbezeichnungen vgl. die hohe Vortrefflichkeit, grosse Güte.

Da Adj. und Adv. derartig miteinander korrespondieren, so ist auch das Bedürfnis vorhanden für jeden einzelnen
Fall beides neben einander zu haben. Nun gibt es aber eine grosse Menge von Adverbien, die nicht aus einem
Adjektivum abgeleitet sind, und die daher auch kein solches zur Seite haben. Hier treibt das Bedürfnis dazu auf das
Adv. auch die Funktion des Adjektivums zu übertragen. Am leichtesten wird das Adv. prädikativ verwendet, indem
neben ihm das Verb. ebenso wie neben dem Adj. zum Verbindungswort herabgesunken ist. In Sätzen wie er ist da,
er ist auf, die Tür ist zu, alles ist vorbei, er wird mir zuwider wird die Konstruktion vom Sprachgefühl nicht anders
aufgefasst als in solchen wie die Tür ist geschlossen, er wird unangenehm. Das Adv. tritt aber auch, indem es einem
Subst. als Bestimmung beigefügt wird, auf gleiche Linie mit dem adjektivischen Attribut. Wenn wir im Nhd. sagen
der Berg dort, die Fahrt hierher, der Baum drüben, so liegt die Gleichstellung mit dem Adj. noch fern wegen der
abweichenden Stellung. Anders steht es schon mit lateinischen (nicht häufigen) Konstruktionen wie nunc hominum
mores vides? (Plaut.), ignari sumus ante malorum (Virg.), discessu tum meo (Cic.).[8]) Am meisten aber nähert sich
das Adv. der adjektivischen Funktion, wo es zwischen Art. und Subst. eingeschoben wird, wie im Griech.: tê`n ekeî
paídeusin, tê`n plêsíon túchên, tô^ nûn génei, hê lían truphê'; im Engl. on the hither side, the above discourse[9]);
im Span.: la sempre señora mia. Im Nhd. ist eine derartige Verwendung des Adv. nicht möglich. Man hat um dem
[368 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] Bedürfnis zu genügen flektierbare Wörter geschaffen.
Einerseits durch sekundäre Ableitungen, die nur attributiv, nicht prädikativ verwendet werden, vgl. alleinig, hiesig,
dortig, obig, jetzig, vorig, nachherig, sofortig, alsbaldig, vormalig, diesseitig; seltener solche, die auch prädikativ
verwendet werden wie niedrig, übrig (auch alleinig in oberdeutschen Mundarten). Anderseits haben manche
Adverbia ohne weiteres Flexionsendung angenommen, was dadurch begünstigt ist, dass in prädikativer Verwendung
das Adj. sich formell nicht vom Adv. abhob, weil die flexionslose Form angewendet wurde. Vgl. nahe, selten,
zufrieden, vorhanden, behende (aus ahd. bi henti), ungefähr, teilweise, anderweit, apart. Dialektisch sagt man ein
zues Fenster, ein weher Finger, bairisch ein zuwiderer Mensch; Arndt sagt etwas Überausses und Ungemeines. Das
aus dem Adv. (eigentlich Dat. Pl.) neugebildete Adj. einzeln hat das diesem zu Grunde liegende Adj. einzel
verdrängt. Auch oft erscheint nicht selten flektiert, z. B. die allzuofte Wiederholung eben desselben Wortes (Le.), vgl
DWb. 7, 1194; allgemein üblich sind dazu adjektivische Steigerungsformen; vgl. dazu lat. propior, proximus zu
prope und griech. engúteros, engútatos zu engús.

In nahe Berührung mit dem Adv. tritt das Adj. als prädikatives Attribut. Dieser Satzteil steht in nächster Beziehung
zum Subj., an welches er durch die Kongruenz angeschlossen ist, ist aber doch demselben gegenüber verselbständigt
und kann eben deshalb auch in eine direkte Beziehung zum Präd. treten. Das Adv. dagegen ist an das Präd.
angeschlossen, kann aber diesem gegenüber in ähnlicher Weise verselbständigt werden und dadurch dem Subj.
näher treten. Es gibt nun auch Fälle, in denen eine Bestimmung ebensowohl zum Subj. wie zum Präd. passt. So
begreift es sich, dass in manchen Sprachen für den gleichen Fall sowohl das Adj. als das Adv. gesetzt werden kann,
oder dass in einer Sprache dieses, in der andern jenes üblich ist. Im Nhd. steht häufig das Adv. einem Adj. anderer
Sprachen gegenüber, vgl. allein gegen lat. solus, franz. seul etc.; zuerst und zuletzt gegen lat. primus und postremus
etc.; gern gegen griech. hekô'n, ásmenos, lat. libens neben libenter; ungern gegen lat. invitus neben seltenerem
invite. Auffallender für uns und auch in den fremden Sprachen nicht allgemein üblich sind Konstruktionen wie
griech. heûdon pannúchioi (Hom.), krê'nê áphthonos rhéousa (Xen.), Asôpós potamòs errhúê mégas (Thuc.), lat.
beatissimi viveremus, propior hostem collocatus, proximi Rhenum incolunt, nocturnusque vocat clamore Cithaeron
(Virg.), Aeneas se matutinus agebat (Virg.), frequens te audivi (Cic.), in agmine atque ad vigilias multus (=
frequenter) adesse (Sall.), est enim multus in laudanda magnificentia (Cic.), is nullus (= non) venit (Plaut.), tametsi
nullus moneas (Ter.); it. che più lontana se ne vada (Ariost). [369 Adj.-Adv. Präpositionen. Konjunktionen.]

§ 259. Die Präpositionen und Konjunktionen sind als Verbindungswörter immer erst in Folge einer
Gliederungsverschiebung aus selbständigen Wörtern entstanden. Diese Verschiebung muss eine definitive sein.
Okkasionell können ja die verschiedenartigsten Satzteile zu Verbindungsgliedern herabgedrückt werden. Erst wenn
ein Wort mit einer gewissen Regelmässigkeit als Verbindungswort verwendet wird, kann es eventuell als Präp. oder
Konj. betrachtet werden. Es gehört dazu aber auch noch eine Isolierung seiner Konstruktionsweise gegenüber

193
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

derjenigen, die es als selbständiges Wort hatte. Aber auch dann kann es daneben als selbständiges Wort
funktionieren, so dass es also nicht möglich ist es einfach unter eine bestimmte Wortklasse unterzubringen. Dies ist
erst möglich, wenn das Wort in seiner selbständigen Verwendung untergegangen ist, oder wenn sich mit den beiden
Verwendungsweisen eine lautliche Differenzierung verbunden hat, oder wenn sonst irgend eine Isolierung
eingetreten ist.

So können wir für die Präposition folgende Definition aufstellen: die Präp. ist ein Verbindungswort, mit welchem
ein Kasus eines beliebigen Substantivums verknüpft werden kann, ohne dass die Verbindungsweise noch in
Analogie zu einer nominalen oder verbalen Konstruktionsweise steht. Nach dieser Definition werden wir
entsprechend in einem Satze wie er hat ihn seinen Verdiensten entsprechend belohnt nicht für eine Präp. erklären,
denn seine Konstruktion ist die des Verbums entsprechen. Anders verhält es sich schon mit anstatt. In anstatt des
Mannes ist der Gen. ursprünglich das reguläre Zeichen der nominalen Abhängigkeit. Ob er aber noch als solches
empfunden wird, hängt davon ab, ob man anstatt noch als Verbindung der Präp. an mit dem Subst. Statt empfindet.
Wo nicht, tritt auch die Konstruktion mit dem Gen. aus der Gruppe, in die sie bisher eingereiht war, heraus, und die
Präp. ist geschaffen. Es kann in diesem Falle das Sprachgefühl recht wohl noch schwankend, bei verschiedenen
Individuen verschieden sein. Denn allerdings ist Statt kein allgemein übliches Subst. mehr, sondern auf gewisse
isolierte Verbindungen beschränkt. Sagt man aber an meiner Statt, so wird man noch stärker an die substantivische
Natur von Statt erinnert. In andern Fällen ist die Isolierung eine absolute geworden. Unser nach ist ursprünglich
Adv. = nahe. Aber zwischen seinem Ende nahe und nach seinem Ende ist jede Beziehung abgebrochen, wiewohl
beide auf die nämliche Konstruktionsweise zurückgehen. Hier ist es die Verdunkelung der etymologischen
Beziehung durch divergierende Bedeutungsentwickelung, was die Isolierung der Konstruktionsweise veranlasst hat.
In anderen Fällen ist es das Verschwinden dieser Konstruktionsweise aus dem lebendigen Gebrauche. Im Idg. wurde
nach dem Komp. wie im Lat. [370 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] der Abl. gebraucht. Diese
Konstruktion war im Altgermanischen noch bewahrt, nur dass der Abl. wie allgemein sich mit dem Instr. und Dat.
mischte. Indem sie im allgemeinen unterging, erhielt sie sich unter andern bei zwei adverbialen Komparativen, die
durch diese Isolierung zu Präpositionen wurden, mhd. ê (nhd. noch in ehedem) und sît (nhd. seit) = got. seiþs in
þanaseiþs, lautlich regelmässiger Komp. zu seiþus. Wie die ältesten Präpositionen des Idg. aus Adverbien
entstanden sind, haben wir § 204 gesehen.

§ 260. Die Entstehung der Konjunktionen lässt sich zum Teil wie die der Präpositionen historisch verfolgen. Die
satzverbindenden entwickeln sich zum grossen Teil aus den konjunktionellen Adverbien oder isolierten Formen der
konjunktionellen Pronomina, die eventuell mit andern Wörtern verknüpft sind (vgl. daher, darum, deshalb,
deswegen, weshalb, indem). Diese Wörter sind also schon satzverknüpfend, bevor sie reine Konjunktionen
geworden sind. Ob man sie als solche gelten lassen will, hängt sehr von der subjektiven Empfindung ab, eine
bestimmte Grenze lässt sich nicht ziehen. Es kommt namentlich darauf an, bis zu welchem Grade der Ursprung des
Wortes verdunkelt ist. Eine solche Verdunkelung ist notwendig, wenn man das Wort als bloss satzverbindend
empfinden soll.

Eine besondere Entstehungsweise von Konjunktionen ist § 211 besprochen. Auch hier liegt meist ein
konjunktionelles, und zwar demonstratives Pron. oder Adv. zu Grunde, entweder für sich oder in Verbindung mit
einem anderen Worte. Doch gibt es auch Fälle ohne Demonstrativum wie nhd. weil, falls, engl. because, in case.
Aber auch hier hat schon den zu Grunde liegenden Substantiven der Hinweis auf das Folgende angehaftet.

Eine Anzahl von Konjunktionen entsteht aus Wörtern, die einen Vergleich ausdrücken; vgl. ingleichen, ebenfalls,
gleichfalls, gleichwohl, andernfalls, übrigens; griech. hómôs, allá; lat. ceterum; ferner die Komparative ferner,
weiter, vielmehr; lat. potius, nihilominus; franz. mais, plutôt, néanmoins. Durch diese Wörter ist auch von Anfang an
eine Beziehung ausgedrückt, es fehlt dagegen an einem Ausdruck dafür, worauf die Beziehung geht; dies muss aus
dem Zusammenhang erraten werden.

Anders verhält es sich dagegen, wo Versicherungen zu satzverbindenden Konjunktionen geworden sind, vgl.
allerdings, freilich, nämlich, wohl, zwar (mhd. ze wâre fürwahr); got. raihtis (aber oder denn); lat. certe, verum,
vero, scilicet, videlicet etc. Diese Wörter drücken an sich gar kein Verhältnis zu einem andern Satze aus. Das
logische Verhältnis, in welchem der Satz, in dem sie enthalten sind, zu einem andern steht, wird ursprünglich, ohne
sprachlichen Ausdruck zu finden, [371 Präpositionen und Konjunktionen.] hinzugedacht. Indem es nun aber gerade
dieses Verhältnis ist, weswegen der Sprechende eine ausdrückliche Versicherung hinzuzufügen für nötig erachtet, so
kommt es, dass allmählich dies Verhältnis als durch die Versicherung ausgedrückt erscheint. Ebensowenig
bezeichnet lat. licet ursprünglich eine Beziehung zu dem regierenden Satze; auch hier hat sich eine ursprünglich nur
gedachte Beziehung sekundär an diese Verbalform angeheftet, die eben dadurch zur Konjunktion geworden ist.

Ein Mittel zur Bezeichnung der Beziehung zweier Sätze oder Satzteile aufeinander liefert die anaphorische Setzung

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

zweier an sich nicht konjunktioneller Adverbia, vgl. bald - bald, jetzt - jetzt, einmal - einmal; modo - modo, nunc -
nunc, tum - tum u. dergl. Hiervon zu scheiden ist natürlich die entsprechende Verwendung von solchen Wörtern, die
an sich schon Konjunktionen sind.

§ 261. Der Parallelismus in dem Verhältnis von Satzgliedern und dem von ganzen Sätzen zueinander zeigt sich
darin, dass die für das eine Verhältnis geschaffenen Verbindungswörter analogisch auf das andere übertragen
werden. So werden von alters her für beide Verhältnisse die gleichen kopulativen und disjunktiven Partikeln
verwendet. Die Übertragung von Satzglied auf Satz kann man deutlich verfolgen bei den Wörtern wie weder,
entweder, mhd. beide, vgl. § 208. Ebenso besteht Übereinstimmung in der Verwendung der demonstrativen und
relativen Vergleichungspartikeln. Hier werden wir die umgekehrte Übertragung von Satz auf Satzglied anzunehmen
haben. Über die sonstige Verwendung ursprünglich satzeinleitender Konjunktionen vor Satzgliedern und über die
von Präpositionen vor Sätzen vgl. § 119.

Der Unterschied von Präp. und Konj. im einfachen Satze ist durch die Kasusrektion der ersteren scharf bestimmt.
Doch finden sich nichtsdestoweniger Vermischungen des Unterschiedes. Ob man sagt ich mit (samt) allen übrigen
oder ich und alle übrigen kommt dem Sinne nach ungefähr auf das Gleiche hinaus, und so geschieht es, dass man zu
einer durch mit hergestellten Verbindung das Präd. oder die Apposition in den Pl. setzt, wo die Berücksichtigung des
eigentlichen grammatischen Verhältnisses den Sg. verlangen würde; vgl. Scherz mit Huld in anmutsvollem Bunde
entquollen dem beseelten Munde (Schi.); griech. Dêmosthénês metà tô^n sustratêgô^n speúdontai (Thuk.); lat. ipse
dux cum aliquot principibus capiuntur (Liv.); filiam cum filio accitos (id.), engl. old Sir John with half a dozen more
are at the door (Sh.); franz. Vertumne avec Pomone ont embelli ces lieux (St. Lambert); weitere Beispiele aus
verschiedenen Sprachen bei Delbrück, Grundriss, 5, 255, aus romanischen bei Diez III, 301, aus slawischen bei
Miklosich IV, 77. 78. [372 Zwanzigstes Kapitel. Die Scheidung der Redeteile.] Hier müssen wir das
Verbindungswort, wenn wir auf den dabei stehenden Kasus sehen, als Präp., wenn wir auf die Gestalt des Prädikats
sehen, als Konj. anerkennen. Beispiele für den wirklichen Übertritt von der Präp. zur Konj. bieten nhd. ausser und
ohne, vgl. z. B. niemand kommt mir entgegen ausser ein Unverschämter (Le.), dass ich nicht nachdenken kann ohne
mit der Feder in der Hand (Le.), kein Gott ist ohne ich (Lu.). Umgekehrt wird die Konj. wan im Nhd. zu einer Präp.
c. Gen., vgl. daz treip er mit der reinen wan eht des alters einen (Konr. v. Würzb.). Man begreift demnach, dass da,
wo noch keine Kasus ausgebildet sind, eine Grenzlinie zwischen Präp. und Konj. kaum bestehen kann.

Die Überführung aus der Unterordnung in die Beiordnung ist noch leichter, wenn von Anfang an keine Kasusrektion
besteht, das Verbindungswort also schon Konjunktion (konjunktionelles Adv.) ist. Dies zeigt sich namentlich bei der
Korrelation sowohl - als auch u. dergl., vgl. die Zurückweisung, welche sowohl Fichte als auch Hegel . . erfahren
haben (Varnhagen v. Ense), Schade, dass Steinhöwel wie Wyle auf die Grille fielen (Gervinus); engl. your sister as
well as myself are greatly obliged to you (Fielding); lat. ut proprium jus tam res publica quam privata haberent
(Frontinus); franz. la santé comme la fortune retirent leurs faveurs à ceux qui en abusent (Saint-Evremont); Bacchus
ainsi qu' Hercule étaient reconnus pour demi-dieux (Voltaire).

1. Schwerlich ist es richtiger, mit Wundt (II, 136) die Bezeichnung von Zuständen als die eigentliche
Funktion des Verbums anzusehen.
2. Über die Verwendung von Präpositionen zur Einleitung von Nebensätzen im Engl. vgl. § 119.
3. Auch von andern Substantiven kommen im Mhd. Steigerungsformen vor, selbst wo das Satzgefüge die
Auffassung als Adj. nicht zulässt. So von zorn vgl. dô enkunde Gîselhêre nimmer zorner gesîn; von nôt,
vgl. dîner helfe mir nie noeter wart; von durft vgl. wand im nie orses dürfter wart. Von Angst gibt es im
älteren Nhd. einen Komp., vgl. also viel engster sol dir werden (Lu., s. DWb. I, 359a). In diesen Fällen hat
nicht sowohl die Analogie des Adj. als die des Adv. gewirkt. Das zeigt schon die häufige Verbindung angst
und bange (bange ist ursprünglich nur Adv.). In Gottfrieds Tristan 17845 heisst in was dô zuo einander vil
anger und vil ander; ange ist Adv. zu enge, ande Subst. (Schmerz). Wir verwenden das Adv. noch so in
mir ist wohl, weh. Lateinische Superlative aus Substantiven kommen bei Plautus vor: oculissime homo,
patrue mi patruissime, jedoch wohl mit beabsichtigter komischer Wirkung. Lafontaine sagt le plus diable
des chats. Über Steigerungsformen von Substantiven im Ungarischen vgl. Simonyi S. 245.
4. Noch eine andere Art des Überganges ist § 166 besprochen.
5. Andr. 119ff.
6. Draeger, § 297.
7. Vgl. noch auffallendere Verbindungen mit Präpositionen bei Andr. S. 209.
8. Vgl. Draeger § 79.
9. Vgl. Mätzner III, S. 148. 9.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL.

SPRACHE UND SCHRIFT.

§ 262. Über die Abweichungen der sprachlichen Zustände in der Vergangenheit von denen in der Gegenwart haben
wir keinerlei Kunde, die uns nicht durch das Medium der Schrift zugekommen wäre. Es ist wichtig für jeden
Sprachforscher niemals aus den Augen zu verlieren, dass das Geschriebene nicht die Sprache selbst ist, dass die in
Schrift umgesetzte Sprache immer erst einer Rückumsetzung bedarf, ehe man mit ihr rechnen kann. Diese
Rückumsetzung ist nur in unvollkommener Weise möglich (auch dessen muss man sich stets bewusst bleiben);
soweit sie aber überhaupt möglich ist, ist sie eine Kunst, die gelernt sein will, wobei die unbefangene Beobachtung
des Verhältnisses von Schrift und Aussprache, wie es gegenwärtig bei den verschiedenen Völkern besteht, grosse
Dienste leistet.

Die Schrift ist aber nicht bloss wegen dieser Vermittlerrolle Objekt für den Sprachforscher, sie ist es auch als ein
wichtiger Faktor in der Sprachentwickelung selbst, den wir bisher absichtlich nicht berücksichtigt haben. Umfang
und Grenzen ihrer Wirksamkeit zu bestimmen ist eine Aufgabe, die uns noch übrig bleibt.

Die Vorteile, welche die geschriebene vor der gesprochenen Rede in Bezug auf Wirkungsfähigkeit voraus hat,
liegen auf der Hand. Durch sie kann der enge Kreis, auf den sonst der Einfluss des Individuums beschränkt ist, bis
zur Weite der ganzen Sprachgenossenschaft anwachsen, durch sie kann er sich über die lebende Generation hinaus,
und zwar unmittelbar auf alle nachfolgenden verbreiten. Es ist kein Wunder, dass diese in die Augen stechenden
Vorzüge gewöhnlich bei weitem überschätzt werden, auch in der Sprachwissenschaft überschätzt sind, weil es etwas
mehr Nachdenken erfordert sich auch diejenigen Punkte klar zu machen, in denen die Schrift hinter der lebendigen
Rede zurückbleibt.

§ 263. Man unterscheidet gewöhnlich zwischen Sprachen, deren Aussprache von der Schrift abweicht, und solchen,
in denen man schreibt, [374 Einundzwanzigstes Kapitel. Sprache und Schrift.] wie man spricht. Wer das letztere
anders als in einem sehr relativen Sinne nimmt, der befindet sich in einem folgenschweren Irrtum. Die Schrift ist
nicht nur nicht die Sprache selbst, sondern sie ist derselben auch in keiner Weise adäquat. Es handelt sich für die
richtige Auffassung des Verhältnisses nicht um diese oder jene einzelne Diskrepanz, sondern um eine
Grundverschiedenheit. Wir haben oben § 34 gesehen, wie wichtig für die Beurteilung der lautlichen Seite der
Sprache die Kontinuität in der Reihe der hintereinander gesprochenen wie in der Reihe der bildbaren Laute ist. Ein
Alphabet dagegen, mag es auch noch so vollkommen sein, ist nach beiden Seiten hin diskontinuierlich. Sprache und
Schrift verhalten sich zueinander wie Linie und Zahl. So viele Zeichen man auch anwenden mag und so genau man
die entsprechenden Artikulationen der Sprechorgane definieren mag, immer bleibt ein jedes nicht Zeichen für eine
einzige, sondern für eine Reihe unendlich vieler Artikulationsweisen. Und wenn auch der Weg für den Übergang
von einer bezeichneten Artikulation zur andern bis zu einem gewissen Grade ein notwendiger ist, so bleibt doch die
Freiheit zu mancherlei Variationen. Und dann erst Quantität und Akzent.

196
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 264. Die wirklich üblichen Alphabete bleiben nun auch hinter dem Erreichbaren weit zurück. Zweck eines nicht
der wissenschaftlichen Phonologie, sondern nur dem gewöhnlichen praktischen Bedürfnisse dienenden Alphabetes
kann niemals sein die Laute einer Sprache von denen einer andern, ja auch nur die eines Dialektes von denen eines
andern unterscheidbar zu machen, sondern nur die innerhalb eines ganz bestimmten Dialektes vorkommenden
Differenzen zu unterscheiden, und dieses braucht auch nur so weit zu geschehen, als die betreffenden Differenzen
von funktionellem Wert sind. Weiter gehen daher auch die meisten Alphabete nicht. Es ist nicht nötig, die durch die
Stellung in der Silbe, im Worte, im Satze, durch Quantität und Akzent bedingten Unterschiede zu bezeichnen,
sobald nur die bedingenden Momente in dem betreffenden Dialekte immer die gleiche Folge haben. Wenn z. B. im
Nhd. der harte s-Laut in Lust, Brust etc. durch das gleiche Zeichen wiedergegeben wird wie sonst der weiche s-Laut,
dagegen in reißen, fließen durch ß (ss), so beruht das allerdings auf einer historischen Tradition (mhd. lust - rîzen);
es ist aber doch sehr fraglich, ob die Schreibung ß sich bewahrt haben würde, wenn nicht im Silbenanlaut das
Bedürfnis vorhanden gewesen wäre zwischen dem harten und dem weichen Laute zu scheiden (vgl. reißen - reisen,
fließen - Fliesen), während in der Verbindung st das s stets hart ist, auch in Formen aus Wörtern, die sonst weiches s
haben (er reist in der Aussprache nicht geschieden von er reißt). Dass die Entstehung aus mhd. z nicht das allein
massgebende gewesen ist, wird durch die [375 Unzulänglichkeit der Schrift.] Schreibung im Auslaut bestätigt. Auch
hier ist kein Unterschied der Aussprache zwischen dem aus mhd. s und dem aus mhd. z entstandenen s; das s in
Haß, heiß wird gesprochen wie das in Glas, Eis. Man schreibt nun ß im Auslaut (für mhd. z) nur da, wo
etymologisch eng verwandte Formen mit inlautenden harten s daneben stehen, also heiß - heißer etc., dagegen das,
[1]) es, alles, aus, auch blos als Adv. und bischen = ein wenig. Man schreibt auch nicht etwa Kreiß - Kreises = mhd.
kreiz - kreizes u. dergl. Aus alledem ist klar, dass die Scheidung der Schreibweise nur von solchen Fällen
ausgegangen ist, in denen eine mehrfache Aussprache in dem gleichen Dialekt möglich war. So ist auch bei der
schriftlichen Fixierung der meisten Sprachen nicht das Bedürfnis empfunden ein besonderes Zeichen für den
gutturalen und palatalen Nasal zu verwenden, sondern man hat dafür dasselbe Zeichen wie für den dentalen
angewendet, während der labiale sein besonderes hat. Ursache war, dass der gutturale und palatale Nasal immer nur
vor andern Gutturalen und Palatalen vorkam, also in den Verbindungen nk, ng etc., und in dieser Stellung
ausnahmslos galt, während der labiale und der dentale auch im Auslaut und im Anund Inlaut vor Vokalen üblich
waren, daher voneinander unterschieden werden mussten. Es ist ferner nicht nötig im Nhd. zwischen dem gutturalen
und dem palatalen ch zu unterscheiden. Denn die Aussprache ist durch den vorhergehenden Vokal zweifellos
bestimmt und wechselt danach innerhalb desselben Stammes: Fach - Fächer, Loch - Löcher, Buch - Bücher, sprach,
gesprochen - sprechen, spricht. Gäbe es dagegen ein palatales ch auch nach a, o, u, ein gutturales auch nach e, i, ä,
ö, ü, so würde allerdings das Bedürfnis nach Unterscheidung vorhanden und vielleicht auch befriedigt sein. Noch
weniger ist es notwendig solche Unterschiede zu bezeichnen, wie sie mit Notwendigkeit durch die Stellung im
Silbenauslaut oder Anlaut bedingt sind, z. B. bei den Verschlusslauten, ob die Bildung oder die Lösung des
Verschlusses hörbar ist. Überall schreibt man kk, tt, pp, während man doch nicht zweimal die gleiche Bewegung
ausführt, sondern die zweite die Umkehr der ersten ist. Nirgends haben auch die vielfachen Ersparungen in der
Bewegung bei dem Übergange von einem Laute zum andern einen schriftlichen Ausdruck gefunden, vgl. darüber
Sievers, Grundzüge der Phonetik[4] § 378ff. ([5] § 404ff.).

§ 265. Allerdings gibt es auch einige Alphabete, z. B. das des Sanskrit, die über das Mass dessen, was das
unmittelbare praktische Bedürfnis erheischt, hinausgehen und strengeren Ansprüchen der Lautphysiologie Genüge
leisten, indem sie auch in solchen Fällen ähnliche, [376 Einundzwanzigstes Kapitel. Sprache und Schrift.] aber doch
nicht gleiche Laute auseinander halten, wo die Unterscheidung für den der Sprache Mächtigen, auch ohne Rücksicht
auf Sinn und Zusammenhang sich von selbst versteht. Viel häufiger aber sind solche Alphabete, die auch hinter der
bezeichneten billigen Anforderung noch zurück bleiben. Die erste Ursache solcher Mangelhaftigkeit ist die, dass fast
sämtliche Völker nicht sich selbständig ihr Alphabet den Bedürfnissen ihrer Sprache gemäss erschaffen, sondern das
Alphabet einer fremden Sprache der ihrigen, so gut es gehen wollte, angepasst haben. Dazu kommt dann, dass in der
weiteren Entwickelung der Sprache neue Differenzen entstehen können, die bei der Einführung des Alphabetes nicht
vorgesehen werden konnten. Dieselben Gründe können übrigens auch einen unnützen Überfluss erzeugen. Beides,
Überfluss und Mangel, sind häufig nebeneinander. Als Exempel kann das Neuhochdeutsche dienen. Mehrfache
Zeichen für den gleichen Laut sind c-k-ch-q, c-z, f-v, v-w, s-ß, ä-e, ai-ei, äu-eu, i-y. Ein Zeichen, welches
verschiedene Laute bezeichnen kann, ohne dass dieselben durch die Stellung ohne weiteres feststehen, ist e, welches
sowohl = französisch é als = französisch è sein kann. In dem Verhältnis von ä und e zeigen sich also Luxus und
Mangel vereinigt. Ähnlich ist es mit v (allerdings nur in Fremdwörtern) in seinem Verhältnis zu f und w. Auch ch
kann in Fremdwörtern verschiedene Geltung haben (Chor - charmant). Zur Bezeichnung der Vokallänge sind
mehrere Mittel in Anwendung, Doppelschreibung, h und e (nach i) und doch bleibt sie in so vielen Fällen
unbezeichnet. Diese Übelstände sind zum Teil so alt wie die Aufzeichnung deutscher Sprachdenkmale und machten
sich früher in noch störenderer Weise geltend. Andere, die früher vorhanden waren, sind allmählich geschwunden.
So war es gleichfalls eine Vereinigung von Luxus und Mangel, wenn u und v, i und j jedes sowohl zur Bezeichnung
des Vokales als des Reibelautes verwendet wurden und nach rein graphischen Traditionen miteinander wechselten.
In mittelhochdeutschen Handschriften sind o - ö, u (û) - ü (iu) - uo - üe meist nicht voneinander geschieden. Und so
könnte man noch weiter in der Aufzählung von Unvollkommenheiten fortfahren, an denen die deutsche

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Orthographie in den verschiedenen Perioden ihrer Entwickelung gelitten hat.

§ 266. Nimmt man nun hinzu, dass die Akzentuation entweder gar nicht oder nur sehr unvollkommen bezeichnet zu
werden pflegt, so ist es wohl klar, dass auch diejenigen unter den üblichen schriftlichen Fixierungen, in denen das
phonetische Prinzip nicht durch die Rücksicht auf die Etymologie und den Lautstand einer älteren Periode
beeinträchtigt ist, ein höchst unvollkommenes Bild von der lebendigen Rede geben. Die Schrift verhält sich zur
Sprache etwa wie eine [377 Unzulänglichkeit der Schrift.] Skizze zu einem mit der grössten Sorgfalt in Farben
ausgeführten Gemälde. Die Skizze genügt, um demjenigen, welchem sich das Gemälde fest in der Erinnerung
eingeprägt hat, keinen Zweifel darüber zu lassen, dass sie dieses vorstellen soll, auch um ihn in den Stand zu setzen
die einzelnen Figuren in beiden zu identifizieren. Dagegen wird derjenige, der nur eine verworrene Erinnerung von
dem Gemälde hat, diese an der Skizze höchstens in Bezug auf einige Hauptpunkte berichtigen und ergänzen können.
Und wer das Gemälde niemals gesehen hat, der ist selbstverständlich nicht imstande, Detailzeichnung,
Farbengebung und Schattierung richtig hinzuzudenken. Würden mehrere Maler zugleich versuchen nach der Skizze
ein ausgeführtes Gemälde herzustellen, so würden ihre Erzeugnisse stark voneinander abweichen. Man denke sich
nun, dass auf dem Originalgemälde Tiere, Pflanzen, Geräte etc. vorkämen, welche sie niemals in ihrem Leben in der
Natur oder in getreuen Abbildungen gesehen haben, die aber eine gewisse Ähnlichkeit mit andern ihnen bekannten
Gegenständen haben, würden sie nicht nach der Skizze auf ihrem eigenen Gemälde diese ihnen bekannten
Gegenstände unterschieben? So ergeht es notwendigerweise demjenigen, der eine fremde Sprache oder einen
fremden Dialekt nur in schriftlicher Aufzeichnung kennen lernt und danach zu reproduzieren versucht. Was kann er
anders tun, als für jeden Buchstaben und jede Buchstabenverbindung den Laut und die Lautverbindung einsetzen,
die er in seinem eigenen Dialekt damit zu verbinden gewohnt ist, und nach den Prinzipien desselben auch Qualität
und Akzent zu regeln, soweit nicht Abweichungen ausdrücklich durch ihm verständliche Zeichen hervorgehoben
sind? Darüber ist man ja auch allgemein einverstanden, dass bei der Erlernung fremder Sprachen, auch wenn sie
sich der gleichen Buchstaben bedienen, mindestens eine detaillierte Beschreibung des Lautwertes erforderlich ist,
und dass auch diese, zumal wenn sie nicht auf lautphysiologischer Basis gegeben wird, nicht das Vorsprechen
ersetzen kann. Selbstverständlich aber ist das gleiche Bedürfnis vorhanden, wenn uns eine richtige Vorstellung von
den Lauten des Dialektes beigebracht werden soll, der mit dem unsrigen zu derselben grösseren Gruppe gehört. Es
kommt darauf an die daraus sich ergebenden Konsequenzen nicht zu übersehen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 267. Auf einem jeden in viele Dialekte gespaltenen Sprachgebiete existieren in der Regel eine grosse Anzahl
verschiedener Lautnuancen, jedenfalls, auch wenn man nur das deutlich Unterscheidbare berücksichtigt und alle
schwer merklichen Feinheiten bei Seite lässt, sehr viel mehr, als das gemeinsame Alphabet, dessen man sich
bedient, Buchstaben enthält. In jedem einzelnen Dialekte aber existiert immer nur ein bestimmter Bruchteil dieser
Nuancen, indem die nächstverwandten [378 Einundzwanzigstes Kapitel. Sprache und Schrift.] sich vielfach
ausschliessen, so dass sich ihre Zahl, wenn man diejenigen nur für eine rechnet, die zu scheiden das praktische
Bedürfnis nicht erfordert, ungefähr mit der Zahl der zur Verfügung stehenden Buchstaben decken mag. Wenn unter
so bewandten Umständen an verschiedenen Punkten Aufzeichnungen in der heimischen Mundart gemacht werden,
so ist gar kein anderes Verfahren denkbar, als dass jeder Buchstabe eben für diejenige Spezies einer grösseren
Gattung von Lauten verwendet wird, die gerade in der betreffenden Mundart vorkommt, also hier für diese, dort für
jene. Dabei kommt es auch vor, dass, wenn zwei nahe verwandte Spezies in einem Dialekte neben einander
vorkommen, ein Zeichen für beide ausreichen muss, während umgekehrt von zwei für die übrigen Dialekte
unentbehrlichen Zeichen für den einen oder andern das eine entbehrlich sein kann. Wir brauchen uns nur einige der
wichtigsten derartigen Fälle anzusehen, wie sie auf dem deutschen Sprachgebiete vorkommen, wobei es sich nicht
bloss um die eigentliche Mundart, sondern auch um die Sprache des grössten Teiles der Gebildeten handelt. Der
Unterschied zwischen harten und weichen Geräuschlauten besteht in Oberdeutschland so gut wie in
Niederdeutschland. Aber während er dort auf der grösseren oder geringeren Energie der Exspiration beruht, kommt
hier[2]) noch ein weiteres Charakteristikum hinzu, das Fehlen oder Vorhandensein des Stimmtons. Das
Obersächsische und Thüringische aber kennen weder eine Unterscheidung durch den Stimmton, noch durch die
Energie der Exspiration. Demnach bezeichnet also z. B. b für den Oberdeutschen einen andern Laut (tonlose Lenis)
als für den Niederdeutschen (tönende Lenis) und wieder einen andern für den Obersachsen (tonlose Fortis). Auch k,
t, p bezeichnen in gewissen Stellungen für den Obersachsen und Thüringer einen andern Laut (hauchlose Fortis) als
für die Masse der übrigen Deutschen (Aspirata).[3]) Das w spricht der Niederdeutsche als labio-dentalen, der
Mitteldeutsche als labio-labialen Geräuschlaut, der Alemanne als konsonantischen Vokal. Das s im Wortanlaut vor t
und p wird in einem grossen Teile Niederdeutschlands als hartes s, im übrigen Deutschland wie sonst sch
gesprochen. Das r ist in einem Teile lingualer, in dem andern uvularer Laut, und noch mannigfache sonstige
Variationen kommen vor. Das g wird in einem Teile Niederund Mitteldeutschlands, auch in einigen oberdeutschen
Gegenden als gutturaler oder palataler Reibelaut gesprochen, entweder durchweg oder nur im Inlaut. Von jeher ist g
in den germanischen Dialekten sowohl [379 Unzulänglichkeit der Schrift.] Zeichen für den Verschlusslaut als für
den Reibelaut gewesen. Den Unterschied in der Aussprache des ch nach der Natur des vorhergehenden Vokales
kennt das Hochalemannische nicht. Dagegen macht es einen Unterschied zwischen f = nd. p und f = nd. f; den
andere Gegenden nicht kennen.

Wo die Gleichheit des Zeichens bei Abweichung der Aussprache zusammentrifft mit etymologischer Gleichheit, da
ist in der Schrift ein dialektischer Unterschied verdeckt. Da dies sehr häufig der Fall ist, zumal wenn man auch die
vielen im einzelnen weniger auffallenden, aber doch im Ganzen sich bemerkbar machenden Abweichungen mit in
Betracht zieht, da ferner meist die Quantität, da vor allem die Modulationen der Tonhöhe und der
Exspirationsenergie unbezeichnet bleiben, so muss man zugestehen, dass es ein erheblicher Teil der dialektischen
Differenzen ist, der in der Schrift nicht zur Geltung kommt. Gerade das macht die Schrift als Verständigungsmittel
für den grossen Verkehr noch besonders brauchbar. Aber es macht sie gleichzeitig ungeeignet zur Beeinflussung der
Aussprache, und es ist eine ganz irrige Meinung, dass man mit dem geschriebenen Worte in derselben Weise in die
Ferne wirken könne wie mit dem gesprochenen in die Nähe.

Wie kann einer z. B. wissen, wenn er das Zeichen g geschrieben sieht, welche unter den mindestens sieben in
Deutschland vorkommenden deutlich unterscheidbaren und zum Teil stark voneinander differierenden Aussprachen
die des Aufzeichners gewesen ist? Wie kann er überhaupt aus der blossen Schreibung wissen, dass so vielerlei
Aussprachen existieren? Was kann er anders tun, als die in seiner Heimat übliche Aussprache dafür einsetzen?

Nur die gröbsten Abweichungen von der eigenen Mundart kann man aus der Schrift ersehen, aber auch ohne dass
man über die spezielle Beschaffenheit der abweichenden Laute etwas Sicheres erfährt. Soweit man die
Abweichungen erkennt, ist man natürlich auch im Stande sie nachzuahmen. Das kann dann aber nur geschehen mit
vollem Bewusstseins und mit voller Absichtlichkeit, indem sich das Nachahmen des fremden Dialekts als etwas
Gesondertes neben die Ausübung des eigenen stellt. Es ist ein Vorgang, der sich von der Aneignung einer fremden
Sprache nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet, der dagegen ganz verschieden ist von jenem unbewussten
Sichbeeinflussenlassen durch die Sprache seiner Verkehrsgenossen, wie es § 37ff. geschildert ist. Grundbedingung
für dasselbe war eben der kleine Raum, innerhalb dessen sich die Differenzen der Einzelnen voneinander bewegen,
und die unendliche Abstufungsfähigkeit der gesprochenen Laute. Innerhalb der Sphäre, in welcher diese Art der
Beeinflussung [380 Einundzwanzigstes Kapitel. Sprache und Schrift.] ihre Stelle hat, zeigt die Schrift noch gar
keine Differenzen und ist deshalb unfähig zu wirken.

199
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 268. Und wie mit der Wirkung in die Ferne, so ist es mit der Wirkung in die Zukunft. Es ist blosse Einbildung,
wenn man meint in der Schrift eine Kontrolle für Lautveränderungen zu haben. So gut wie an verschiedenen Orten
ziemlich stark voneinander verschiedene Laute mit den gleichen Buchstaben bezeichnet werden können, ebensogut
und noch leichter kann das an demselben Orte zu verschiedenen Zeiten geschehen. Kein Buchstabe steht ja mit
einem bestimmten Laute in einem realen Zusammenhange, der sich für sich zu erhalten im Stande wäre, sondern der
Zusammenhang beruht lediglich auf der Assoziation der Vorstellungen. Man verbindet mit jedem Buchstaben die
Vorstellung eines solchen Lautes, wie er gerade zur Zeit üblich ist. Der Vorgang beim natürlichen Lautwandel ist
nun der, wie wir § 38 gesehen haben, dass sich an Stelle dieser Vorstellung unmerklich eine etwas abweichende
unterschiebt, die nun der folgenden Generation von vornherein als mit dem Buchstaben verbunden überliefert wird.
Das mit dem Buchstaben verbundene Lautbild kann daher keinen hemmenden Einfluss auf den Lautwandel
ausüben, weil es selbst durch diesen verschoben wird. Und natürlich überträgt man jederzeit den eben geltenden
Lautwert eines Buchstaben auch auf die Aufzeichnungen der Vergangenheit. Irgend ein Mittel den früheren
Lautwert mit dem jetzigen zu vergleichen, gibt es überhaupt nicht. Dass mit Hilfe wissenschaftlicher
Untersuchungen etwaige Konjekturen über die Abweichungen gemacht werden können, kommt natürlich hier nicht
in Betracht. In der Regel kann sich auch die veränderte Aussprache mit unveränderter Schreibweise lange vertragen,
ohne dass daraus irgend welche Unzuträglichkeiten entstehen. Jedenfalls stellen sich solche erst heraus, wenn die
Veränderung eine sehr starke geworden ist. Dann aber ist eine Veränderung der Sprache nach der Schrift, wenn
überhaupt, nur mit bewusster Absicht möglich, und eine derartige Veränderung würde wieder etwas der natürlichen
Entwickelung durchaus Widersprechendes sein. So lange diese ungestört ihren Weg geht, bleibt nichts anderes übrig
als die Unbequemlichkeiten weiter zu tragen oder die Orthographie nach der Sprache zu ändern.

§ 269. Es ist nun auch mit allen den besprochenen Mängeln der Schrift noch lange nicht der Grad gekennzeichnet,
bis zu welchem das Missverhältnis zwischen Schrift und Aussprache gelangen kann. Wir haben bisher eigentlich
immer nur den Zustand im Auge gehabt, der in der Periode besteht, wo die Sprache erst anfängt schriftlich fixiert zu
werden, wo jeder Schreibende noch selbständig mit an der Schöpfung der Orthographie arbeitet, indem zwar
ungefähr feststeht, [381 Verselbständigung der Schrift gegenüber der Aussprache.] welches Zeichen für jeden
einzelnen Laut zu wählen ist, aber nicht, wie das Wort als Ganzes zu schreiben ist, so dass es der Schreiber immer
erst, so gut es angehen will, in seine Elemente zerlegen und die diesen Elementen entsprechenden Buchstaben
zusammensetzen muss. Es ist aber keine Frage, dass bei reichlicher Übung im Schreiben und Lesen das Verfahren
immer mehr ein verkürztes wird. Ursprünglich ist die Verbindung zwischen den Lautzeichen und der Bedeutung
immer durch die Vorstellung von den Lauten und durch das Bewegungsgefühl vermittelt. Sind aber beide erst häufig
durch diese Vermittelung an einander gebracht, so gehen sie eine direkte Verbindung ein und die Vermittelung wird
entbehrlich. Auf dieser direkten Verbindung beruht ja die Möglichkeit des geläufigen Lesens und Schreibens. Man
kann das leicht durch eine Gegenprobe konstatieren, indem man jemandem Aufzeichnungen in einem Dialekte
vorlegt, der ihm vollständig geläufig ist, den er aber bisher immer nur gehört hat; er wird immer erst einige Mühe
haben sich zurechtzufinden, zumal wenn die Aufzeichnungen sich nicht genau an das System der Schriftsprache mit
allen Übelständen desselben anschliessen. Und noch viel mehr kann man ihn in Verlegenheit setzen, wenn man ihm
aufgibt einen solchen Dialekt, sei es auch derjenige, den er von Kind auf gesprochen hat, selbst in der Schrift zu
verwenden. Er wird eine wirkliche Lösung der Aufgabe immer dadurch umgehen, dass er sich in ungehöriger Weise
von der ihm geläufigen Orthographie der Schriftsprache beeinflussen lässt. Das zeigen alle modernen
Dialektdichter. Diesen Hintergrund der jetzt immer als Analogon dienenden schriftsprachlichen Orthographie
müssen wir uns noch wegdenken, wenn wir uns den Unterschied klar machen wollen zwischen der Stellung, die wir
jetzt der Niederschrift unserer Gemeinsprache gegenüber einnehmen, und derjenigen, welche etwa die
althochdeutschen Schreiber bei Aufzeichnung ihres Dialektes einnahmen. Man wird dann auch nicht leicht vornehm
auf das Ungeschick unserer Vorfahren herabsehen. Man wird vielmehr finden, zumal wenn man nicht alles
durcheinander wirft, sondern den Schreibgebrauch eines jeden Einzelnen für sich untersucht, dass sie die Laute
richtiger beobachten, als es heutzutage zu geschehen pflegt, und das aus einem Grunde, der von anderer Seite her
betrachtet als ein Mangel den heutigen Verhältnissen gegenüber erscheint: ihnen stand noch keine festgeregelte
Orthographie objektiv gegenüber, ihnen wurde daher auch nicht der unbefangene Sinn für den Laut durch den steten
Hinblick auf eine solche Orthographie verwirrt. Das will aber ungefähr ebensoviel sagen als: sie konnten der
Vermittlung des Lautbildes zwischen Schriftbild und Bedeutung noch nicht entbehren. [382 Einundzwanzigstes
Kapitel. Sprache und Schrift.]

§ 270. Beides steht in der engsten Wechselbeziehung zueinander. Wenn jetzt die direkte Verbindung zwischen
Schriftbild und Bedeutung bei allen einigermassen Gebildeten eine sehr starke ist, so ist das zu einem guten Teile
der Konstanz unserer Orthographie zu danken. Man sieht das namentlich an solchen Wörtern, die in der Aussprache
gleich, in der Schrift verschieden sind. Jede Abweichung in der Orthographie, mag sie auch vom phonetischen
Standpunkte aus eine entschiedene Verbesserung sein, erschwert das Verständnis. Wenn das ein schlagender Beweis
für die direkte Verbindung von Schrift und Aussprache ist, so muss anderseits der negative Schluss daraus gezogen
werden: je weniger konstant die Schrift, je weniger ist direkte Verbindung zwischen ihr und der Bedeutung möglich.
Der Mangel an Konstanz kann auf unpassender Beschaffenheit des zu Gebote stehenden Materials oder Ungeschick

200
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

der Schreiber beruhen, indem etwa mehrere Zeichen in der gleichen Verwendung miteinander wechseln oder
umgekehrt ein Zeichen bald in dieser, bald in jener Verwendung auftritt, oder auf dem Fehlen regelnder Autoritäten,
die eine Zusammenfassung und Einigung der verschiedenen orthographischen Bestrebungen ermöglichen könnten.
Er kann aber auch gerade aus lautphysiologischer Vollkommenheit und Konsequenz entspringen. Wenn z. B. die
Schreibung des Stammes in den verschiedenen Formen mit dem Laute wechselt (mhd. tac - tages, neigen - neicte
etc.) oder wenn gar wie im Sanskrit die Schreibung einer und derselben Form mit der Stellung im Satze wechselt, so
stehen der gleichen Bedeutung eine Anzahl Variationen der Schreibung gegenüber, und in Folge davon ist es nicht
möglich, dass sich ein ganz bestimmtes Schriftbild mit der ersteren verbindet. So lange die Konstanz der Schreibung
fehlt, ist mit aller Übung im Lesen und Schreiben die direkte Verbindung nicht vollkommen zu machen. Zugleich
aber wirkt eben die Übung darauf hin allmählich eine grössere Konstanz herbeizuführen. Jeder Fortschritt der
ersteren kommt auch der letzteren zu Gute, und jeder Fortschritt in der letzteren erleichtert die erstere.

So ist denn auch der natürliche Entwickelungsgang der Schreibweise einer Sprache Fortgang zu immer grösserer
Konstanz, auch auf Kosten der lautphysiologischen Genauigkeit. Freilich geht es nicht immer in dieser Richtung
ganz gleichmässig vorwärts. Namentlich starke Lautveränderungen rufen oft Ablenkungen und rückläufige
Bewegungen hervor. Es sind drei Mittel, mit Hilfe deren sich die Schreibung zur Konstanz durcharbeitet:
Beseitigung des Schwankens zwischen mehreren verschiedenen Schreibweisen, Berücksichtigung der Etymologie,
Festhalten an der Überlieferung den Lautveränderungen zum Trotz. Das erste Mittel ist auch vom phonetischen
Gesichtspunkte [383 Luxus von Schriftzeichen und dessen Beseitigung.] betrachtet häufig ein Fortschritt oder
wenigstens kein Rückschritt, nicht selten wird aber damit über das phonetische Prinzip hinausgegriffen, die beiden
andern sind direkte Durchbrechungen dieses Prinzipes. Natürlich aber bleibt daneben doch immer die Tendenz
wirksam, Sprache und Schrift in grössere Übereinstimmung miteinander zu setzen, welche Tendenz teils in der
Beseitigung anfänglicher Mängel, teils in der Reaktion gegen die in einem fort durch den Lautwandel sich
erzeugenden neuen Übelstände sich betätigt. Indem sie in den meisten Fällen mit dem Streben nach Konstanz in
Konflikt gerät, so zeigt die Geschichte der Orthographie das Schauspiel eines ewigen Kampfes zwischen diesen
beiden Tendenzen, wobei der jeweilige Zustand einen Massstab für das derzeitige Kraftverhältnis der Parteien gibt.

Verfolgen wir die Bewegung ins einzelne, so zeigen sich merkwürdige Analogieen zur Entwickelung der Sprache
neben beachtenswerten Verschiedenheiten. Die letzteren beruhen hauptsächlich auf folgenden Punkten: Erstens
geschehen die Veränderungen in der Orthographie mit viel mehr Bewusstsein und Absichtlichkeit als die der
Sprache; doch muss man sich hüten diese Absichtlichkeit zu überschätzen. Zweitens ist bei dem Kampfe um die
Orthographie nicht wie bei dem um die Sprache die ganze Sprachgenossenschaft beteiligt, sondern jedenfalls nur der
schreibende (resp. druckende oder drucken lassende) Teil derselben und dabei die einzelnen in sehr verschiedenem
Grade und mit sehr verschiedenen Kräften; es macht sich in viel stärkerem Grade als in der Sprache das
Übergewicht bestimmter Individuen geltend. Drittens, weil die Wirkungsfähigkeit nicht an die räumliche Nähe
gebunden ist, so können sich auf orthographischem Gebiete ganz andere Verzweigungen der gegenseitigen
Beeinflussungen herausstellen als auf sprachlichen. Viertens stehen die orthographischen Veränderungen dadurch in
entschiedenem Gegensatz zum Lautwandel, dass sie nicht in feinen Abstufungen, sondern immer nur sprungweise
vor sich gehen können.

§ 271. Betrachten wir zunächst die Beseitigung des Schwankens zwischen gleichwertigen Lautzeichen. Ein solches
Schwanken kann auf mehrfache Weise entstehen. Entweder sind die Zeichen schon in der Sprache, der man das
Alphabet entlehnt, gleichwertig verwendet worden. So verhält es sich im Ahd. mit den Doppelheiten i - j, u - v, k - c,
c - z. Oder zwei Zeichen haben zwar in dieser Sprache verschiedenen Wert, es fehlt aber der Sprache, die sie
entlehnt, an einem einigermassen entsprechenden Unterschiede, so dass nun beide auf einen Laut fallen. Namentlich
kommen sie dann leicht beide in Gebrauch, wenn der eine Laut der eigenen Sprache zwischen den zweien der [384
Einundzwanzigstes Kapitel. Sprache und Schrift.] fremden mitten inne liegt. So gab es im Oberdeutschen zur Zeit
der Einführung des lateinischen Alphabetes in der Guttural- und Labialreihe keinen dem lateinischen zwischen
tönender Media und Tenuis vollkommen entsprechenden Unterschied, im Silbenanlaut auch nicht einmal einen
annähernd entsprechenden, sondern nur einen Laut, der sich von der lateinischen Media durch Mangel des
Stimmtons, von der Tenuis durch schwächeren Exspirationsdruck unterschied. Daher ist ein Schwanken zwischen g
und k, b und p entstanden. Auch das Schwanken zwischen f und v (u) und im Mitteldeutschen das Schwanken
zwischen v und b ist auf ähnliche Weise entstanden. Ferner ergeben sich Doppelzeichen erst im Laufe der weiteren
Entwickelung dadurch, dass zwei ursprünglich verschiedene Laute zusammenfallen und ihre beiderseitigen
Bezeichnungen dann miteinander ausgetauscht werden. So fallen z. B. im späteren Mittelhochdeutsch hartes s und z
zusammen, und man schreibt dann auch sas für saz und umgekehrt huz für hus etc., letzteres allerdings von Anfang
an seltener. Endlich aber kann Spaltung durch verschiedene Entwickelung desselben Schriftzeichens eintreten, man
vergleiche lat. i - j, u - v, in unserer Frakturschrift s und s. Besonders gross kann die Mannigfaltigkeit werden, wenn
in einer spätern Periode auf eine ältere Entwickelungsstufe zurückgegriffen wird, wie wir es z. B. an dem Gebrauche
der Majuskeln neben den Minuskeln sehen.

201
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Der auf diese Weise entstehende Luxus wird auf analoge Weise beseitigt wie der Luxus von Wörtern und Formen.
Die einfachste Art ist die, dass das eine Zeichen sich allmählich ganz aus dem Gebrauche verliert. Die andere Art
besteht in der Differenzierung der anfänglich untermischt gebrauchten Zeichen. Dieselbe kann sich innerhalb des
phonetischen Prinzips halten, indem mit dem Luxus ein dicht daneben stehender Mangel ausgeglichen wird, z. B.
wenn im Nhd. i, u und j, v allmählich als Vokal und Konsonant geschieden werden. Nicht selten wird für die
Unterscheidung die Stellung des Lautes innerhalb des Wortes massgebend, ohne dass ein phonetischer Unterschied
vorhanden ist, oder wenigstens ohne dass ein solcher von den Schreibenden bemerkt ist, so wenn j und v lange Zeit
hindurch hauptsächlich im Wortanlaut (auch für den Vokal) gebraucht werden; wenn c im Mhd. (von den
Verbindungen ch und sch abgesehen) ganz überwiegend auf den Silbenauslaut beschränkt wird (sac, tac, neicte,
sackes) und dann im Nhd., weil es in den übrigen Fällen durch etymologische Schreibweise verdrängt wird, nur
noch in der Gemination (ck) verwendet wird; wenn im Mhd. f vor r, l und vor u und verwandten Vokalen viel
häufiger gebraucht wird als vor a, e, o. Eine dritte Weise endlich besteht darin, dass ohne phonetische oder
graphische Motivierung sich [385 Unphonetische Differenzierung. Analogie.] nach Zufall und Willkür in dem einen
Worte diese, in dem andern jene Schreibweise festsetzt. Auf diese Weise regelt sich im Nhd. das Verhältnis von f - v
(Fall - Vater etc.), t - th (Tuch - thun, Gut - Muth etc.)[4]), r - rh, ai - ei, ferner das Verhältnis zwischen
Bezeichnung der Länge und Nichtbezeichnung und zwischen den verschiedenen Weisen der Bezeichnung (nehmen -
geben, Aal - Wahl, viel - ihr etc.). Ein wesentliches Moment dabei und ein Haupthinderungsgrund, der es nicht zur
Durchführung einer einheitlichen Schreibung hat kommen lassen, der sich ja auch neuerdings immer wieder einer
konsequenten Reform der Orthographie in den Weg stellt, ist das Bestreben gleichlautende Wörter von
verschiedener Bedeutung zu unterscheiden. Man vgl. unter andern Ferse - Verse, fiel - viel, Tau - Thau, Ton - Thon,
rein - Rhein, Rede - Rhede, Laib - Leib, Main - mein, Rain - rein, los - Loos, Mal - Mahl, malen - mahlen, war -
wahr, Sole - Sohle, Stil - Stiel, Aale - Ahle, Heer - hehr, Meer - mehr, Moor - Mohr. Sogar verschiedene
Bedeutungen ursprünglich gleicher Wörter werden so unterschieden, vgl. das - daß, wider - wieder etc. Hierher
gehört auch die Festsetzung der früher beliebig zur Hervorhebung verwendeten Majuskeln als Anfangsbuchstaben
für die Substantiva. Auch hierin zeigt sich die Tendenz die Schrift zu Unterscheidungen zu benutzen, welche die
Aussprache nicht kennt. Diese Weise der Differenzierung ist eines der am meisten charakteristischen Zeichen für die
Verselbständigung der geschriebenen gegenüber der gesprochenen Sprache. Sie kommt auch erst da vor, wo eine
wirkliche Schriftsprache sich von den Dialekten losgelöst hat, und ist das Produkt grammatischer Reflexion.
Bemerkenswert aber ist, dass auch diese Reflexion nicht erst Verschiedenheiten der Schreibweise für ihre
Unterscheidungen schafft, sondern nur die zufällig entstandenen Variationen für ihre Zwecke benutzt. Wo keine
solche Variationen vorhanden sind, kann auch der Differenzierungstrieb nicht zur Geltung kommen, vgl. z. B. die §
149 angeführten Homonyma. Übrigens zeigt er sich auch nicht in allen denjenigen Fällen wirksam, wo man es
erwarten könnte.

§ 272. Wie die unphonetische Differenzierung, so macht sich auch die Einwirkung der Etymologie am kräftigsten
und konsequentesten in der Schriftsprache geltend, ist aber doch öfters auch schon in mundartlichen
Aufzeichnungen nicht zu verkennen. Wir können die Verdrängung einer älteren phonetischen Schreibweise durch
eine etymologische mit der Analogiebildung vergleichen, durch welche bedeutungslose Lautunterschiede
ausgeglichen werden, ja wir dürfen sie [386 Einundzwanzigstes Kapitel. Sprache und Schrift.] geradezu als eine auf
die geschriebene Sprache beschränkte Analogiebildung bezeichnen, für die denn auch eben die Gesetze gelten, die
wir schon kennen gelernt haben. Auch hier natürlich ist nicht das etymologische Verhältnis an sich massgebend,
sondern die Gruppierungsverhältnisse auf dem dermaligen Stande der Sprache. Isolierung schützt vor der
Ausgleichung, und umgekehrt bewirkt sekundäre Annäherung von Laut und Bedeutung Hinüberziehung in die
Analogie.

202
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus die wichtigsten Fälle, in denen das Nhd. die phonetische
Schreibweise des Mhd. verlassen und Ausgleichung hat eintreten lassen. Im Mhd. wird die Media im Auslaut und
vor harten Konsonanten in der Schrift[5]) wie in der Aussprache Tenuis, in Nhd. nur in der Aussprache, nicht in der
Schrift: mhd. tac, leit, gap, neicte = nhd. Tag, Leid, gab, neigte. Bewahrung der mittelhochdeutschen Regel haben
wir in Haupt (= houbet, houpt), behaupten, weil keine verwandten Formen mit nicht synkopiertem Vokal mehr
daneben stehen; in dem Eigennamen Schmitt, Schmidt; in Schultheiss, wo die Zusammensetzung mit Schuld nicht
mehr empfunden wird. Im Mhd. wird Konsonantengemination im Auslaut und vor einem andern Konsonanten nicht
geschrieben: man - mannes, brante - brennen. Das Nhd. schreibt die Gemination, wo etymologisch eng verbundene
Formen das Muster dazu geben: Mann, brannte, männlich, Männchen, (doch schon nicht mehr in Brand, Brunst u.
dergl.); jedoch im Pron. man, ferner Brantewein, Brantwein (nicht mehr als gebrannter Wein verstanden); dagegen
mit jüngerer Anlehnung an Herr: herrlich, Herrschaft, herrschen = mhd. hêrlich, hêrschaft, hêrsen aus hêr = nhd.
hehr. Im Mhd. hat ä (å), soweit es überhaupt verwendet wird, rein phonetische Geltung, indem es den offensten e-
Laut bezeichnet. Im Nhd. hat es in der Mehrzahl der Fälle etymologische Geltung, indem es überall eingeführt ist,
wo man sich der Beziehung zu einer nichtumgelauteten Form aus der gleichen Wurzel noch deutlich bewusst ist,
also Vater - Väter, Väterchen, väterlich, Kraft - Kräfte, kräftig, Glas - Gläser, gläsern, kalt - kälter, Kälte, Land -
Gelände, arg - Ärger, ärgern, fahre - fährst, ebenso im Diphthongen: Baum - Bäume, Haut - Häute, häuten,
Bärenhäuter (mhd. hût - hiute); dagegen Erbe, Ente, (mhd. ant, Gen. ente), enge, Engel, besser, regen (Verb.),
wiewohl auch mit offenem e gesprochen, Eule etc., weil hier unumgelautete verwandte Formen fehlen.
Beachtenswert ist die Verschiedenheit von liegen - legen, winden - wenden und hangen - hängen, fallen - fällen; bei
den ersteren findet sich zwar auch a im Prät. (lag, wand), aber es wird nur Präs. zu Präs. in Beziehung gesetzt. Wo
der Gruppenverband [387 Analogie.] gelöst oder wenigstens stark gelockert ist, bleibt e, vgl. Vetter zu Vater, gerben
zu gar, Scherge zu Schar, hegen, Gehege, Hecke zu Hag, Heu zu hauen, fertig zu Fahrt (dagegen hoffärtig), Eltern
gegen älteren, behende gegen Hände, Strecke zu stracks. Die Ausgleichung tritt ferner nicht ein, wo die umgelautete
Form als das Primäre erscheint, vgl. brennen - brannte, nennen - nannte etc. Es lässt sich auch die Beobachtung
machen, dass der Hinzutritt einer weiteren lautlichen Verschiedenheit hemmend wirkt, daher Hahn - Henne, nass -
netzen, henken, Henker gegen hangen. Anderseits wird das e in einigen Fällen auch da, wo es gar nicht durch
Umlaut entstanden, sondern = urgerm. e (ë) ist, doch als solcher aufgefasst, wenn gerade ein Wort mit a daneben
steht, wovon das mit e abgeleitet scheinen kann; vgl. rächen (mhd. rëchen) auf Rache (mhd. râche), schämen (mhd.
schëmen) auf Scham, wägen, erwägen (durch Vermischung von mhd. wëgen mit wegen entstanden) auf Wage
bezogen (dagegen bewegen).

Auch bei der oben besprochenen Regelung von Schwankungen spielt das etymologische Verhältnis eine wesentliche
Rolle. Man schreibt natürlich fahren - Fahrt - Gefährte - Furt etc. mit durchgängigem f. Wo h als Dehnungszeichen
gebraucht wird, wird es in der Regel in allen verwandten Formen bei wechselndem Vokalismus durchgeführt, vgl.
nehmen - nahm - genehm - Übernahme, Befehle - befiehlt - befahl - befohlen - Befehl etc. Als Beispiele für
Isolierung mögen dienen zwar (= mhd. zewâre) gegen wahr, Drittel, Viertel etc. gegen Theil, vertheidigen (aus
tagedingen) gegen tag.

Diese Ausgleichung ist aber in der Regel in bestimmte Grenzen eingeschlossen, indem sie nur da eintritt, wo die
Aussprache dadurch nicht zweifelhaft werden kann. Man kann im Nhd. ohne Schaden lebte mit b schreiben, weil die
Sprache im Silbenauslaut überhaupt keine Unterscheidung zwischen b und p kennt. Aber man darf z. B. ein
Längezeichen nur soweit durch die verwandten Formen durchführen, als der Vokal wirklich lang ist (also genommen
zu nehmen, Furt zu fahren), und die Gemination nur so lange, als der vorhergehende Vokal kurz ist (also kam zu
kommen, fiel zu fallen).

Übrigens wirkt die Analogie (und darin besteht ein Unterschied von den Verhältnissen der gesprochenen Sprache)
auch schützend gegen Veränderungen der älteren Schreibweise. Das lässt sich besonders an der französischen
Orthographie beobachten. Wenn die im Auslaut verstummten Konsonanten in der Schreibung bewahrt werden, so ist
die Ursache die, dass meistens verwandte Formen daneben stehen, in denen man sie noch spricht, und dass sie auch
in derselben Form gesprochen werden, wenn ein mit Vokal anlautendes Wort sich eng anschliesst. Würde man z. B.
fai, lai, gri, il avai, tu a schreiben, so [388 Einundzwanzigstes Kapitel. Sprache und Schrift.] würde ein klaffender
Gegensatz zu faite, laide, grise, avait-il, tu as été eintreten, wie er allerdings in il a - a-t-il nicht vermieden ist. So
würde auch die Gleichmässigkeit der Schreibung gestört werden, wenn man für den nasalierten Vokal ein
besonderes Zeichen einführen wollte; man müsste dann z. B. in cousin und cousine, un und une, ingrat und inégal
verschiedene Zeichen anwenden. Dass die Analogie der verwandten Formen massgebend gewesen ist, sehen wir aus
einer Anzahl von isolierten Formen wie plutôt, toujours, hormis, faufiler, plafond (dagegen plat-bord), verglas (zu
vert), morbleu, morfil, Granville, Gérarcourt, Aubervilliers, fainéant, vaurien, Omont (zu haut).

§ 273. Wenn die Schrift nicht mit der lautlichen Entwickelung der Sprache gleichen Schritt halten kann, so ist leicht
zu sehen, dass die Ursache in nichts anderem besteht, als in dem Mangel an Kontinuität. In den Lautverhältnissen ist

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

es ja wie wir gesehen haben, Kontinuität allein, welche die Vereinigung von steter Bewegung mit einem festen Usus
ermöglicht. Ein gleich fester Usus in der Schrift ist gleichbedeutend mit Unveränderlichkeit derselben, und diese mit
einem stetigen Wachstum der Diskrepanz zwischen Schrift und Aussprache. Je schwankender dagegen die
Orthographie ist, je entwickelungsfähiger ist sie, oder umgekehrt, je mehr sie noch der Entwickelung der Sprache
nachzufolgen sucht, um so schwankender ist sie.

Wir müssen aber ausserdem einige Gesichtspunkte hervorheben, unter denen das Festhalten an der alten Schreibung
bei veränderter Aussprache noch begreiflicher wird. Bei der Beurteilung des Verhältnisses von Schrift und Laut in
einer Sprache mischt sich oft ganz ungehöriger Weise der Standpunkt einer andern Sprache ein, während die
Orthographie einer jeden Sprache aus ihren eigenen Verhältnissen heraus beurteilt sein will. So lange immer einem
bestimmten Schriftzeichen ein bestimmter Laut entspricht, kann von einer Diskrepanz zwischen Schrift und
Aussprache keine Rede sein. Ob das in der einen Sprache dieser, in der andern jener Laut ist, tut nichts zur Sache.
Wenn daher ein Laut sich gleichmässig in allen Stellungen verändert und dabei nicht mit einem andern schon sonst
vorhandenen Laute zusammenfällt, so braucht keine Veränderung der Orthographie einzutreten, und die
Übereinstimmung zwischen Schrift und Aussprache bleibt doch gewahrt. Aber selbst wenn die Veränderung keine
gleichmässige ist, sondern Spaltung eintritt, wenn dann nur wieder keiner unter den verschiedenen Lauten mit einem
schon vorhandenen zusammenfällt, so bleibt in der Regel nichts übrig als die alte Orthographie beizubehalten; denn
man würde, um die Laute zu unterscheiden, mindestens eines Zeichens mehr bedürfen, als zu Gebote stehen, und
das lässt sich nicht willkürlich erschaffen. Nur da ist zu helfen, wo früher ein Luxus [389 Analogie. Zurückbleiben
der Schrift hinter der Lautentwickelung.] vorhanden war, der sich jetzt zweckmässig ausnützen lässt. Um
einigermassen das phonetische Prinzip aufrechtzuerhalten, bedürfte es von Zeit zu Zeit gewaltsamer Erneuerungen,
die sich mit der Erhaltung der Einheit in der Orthographie schlecht vertragen.

Dazu kommt nun, dass die eben besprochene Wirkung der Analogie für die Konservierung der Formen schwer ins
Gewicht fällt. Und endlich ist noch in Betracht zu ziehen, dass durch die Einführung phonetischer Schreibung
manche Unterscheidungen gänzlich vernichtet werden würden, die jetzt noch in der geschriebenen Sprache
vorhanden sind. So würde im Französischen in den meisten Fällen der Pl. nicht mehr vom Sg. verschieden sein, in
manchen auch das Fem. nicht mehr vom Masc. (clair - claire etc.) In denjenigen Fällen aber, wo noch
Verschiedenheiten blieben, würde die jetzt noch in der Schreibung überwiegend bestehende Gleichmässigkeit der
Bildungsweise vernichtet sein.

1. Die Ausnahmen bei der Konjunktion daß erklärt sich aus dem Differenzierungsbedürfnis der Grammatiker.
2. Auf genauere Grenzbestimmungen, die zu geben mir unmöglich ist, kommt es natürlich hier und im
Folgenden nicht an. Die Tatsache ist zuerst festgestellt von Winteler, Grammatik der Kerenzer Mundart, S.
20ff.
3. Vgl. Kräuter, Ztschr. f. vgl. Sprachforschung 21, 30ff.
4. Dass die Unterscheidung von t und th, r und rh wieder aufgehoben ist, kommt für unsern Zweck nicht in
Betracht. [Paul, Prinzipien]
5. Allerdings in den Handschriften nicht so regelmässig als in den kritischen Ausgaben.

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL.

SPRACHMISCHUNG.[1])

§ 274. Gehen wir davon aus, dass es nur Individualsprachen gibt, so können wir sagen, dass in einem fort
Sprachmischung stattfindet, sobald sich überhaupt zwei Individuen miteinander unterhalten. Denn dabei beeinflusst
der Sprechende die auf die Sprache bezüglichen Vorstellungsmassen des Hörenden. Nehmen wir Sprachmischung in
diesem weiten Sinne, so müssen wir Schuchardt darin recht geben, dass unter allen Fragen, mit denen die heutige
Sprachwissenschaft zu tun hat, keine von grösserer Wichtigkeit ist als die Sprachmischung. In diesem Sinne haben
wir die Sprachmischung durch alle Kapitel hindurch berücksichtigen müssen, da sie etwas von dem Leben der
Sprache Unzertrennliches ist. Hier dagegen nehmen wir das Wort in einem engeren Sinne. Hier verstehen wir etwas
darunter, was nicht notwendig zum Leben der Sprache gehört, wenn es auch kaum auf irgend einem Sprachgebiete
ganz fehlt.

204
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Sprachmischung in diesem engem Sinne ist zunächst die Beeinflussung einer Sprache durch eine andere, die
entweder ganz unverwandt ist oder zwar urverwandt, aber so stark differenziert, dass sie besonders erlernt werden
muss; weiterhin aber auch die Beeinflussung einer Mundart durch eine andere, die dem gleichen kontinuierlich [391
Begriff der Sprachmischung. Zweisprachigkeit.] zusammenhängenden Sprachgebiete angehört, auch wenn sie noch
nicht so stark abweicht, dass nicht ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Angehörigen der einen und denen
der andern möglich wäre. Noch eine Art von Sprachmischung gibt es, die darin besteht, dass aus einer älteren
Epoche der gleichen Sprache schon Untergegangenes neu aufgenommen wird.

§ 275. Wir betrachten zuerst die Mischung verschiedener deutlich voneinander abstehender Sprachen. Um den
Hergang bei der Mischung zu verstehen, müssen wir natürlich das Verhalten der einzelnen Individuen beachten. Die
meiste Veranlassung zur Mischung ist gegeben, wo es Individuen gibt, die doppelsprachig sind, mehrere Sprachen
neben einander sprechen oder mindestens eine andere neben ihrer Muttersprache verstehen. Ein gewisses Minimum
von Verständnis einer fremden Sprache ist unter allen Umständen erforderlich. Denn mindestens muss doch das,
was aus der fremden Sprache aufgenommen wird, verstanden sein, wenn auch vielleicht nicht ganz exakt
verstanden.

Veranlassung zur Zweisprachigkeit oder zu einem mehr oder weniger vollkommenen Verständnis einer fremden
Sprache ist natürlich zunächst an den Grenzen zweier Sprachgebiete gegeben, in verschiedenem Grade je nach der
Intensität des internationalen Verkehrs. Ferner durch Reisen der Einzelnen auf fremdem Gebiete und
vorübergehenden Aufenthalt auf demselben; in stärkerem Grade durch dauernden Umzug einzelner und vollends
durch räumliche Verpflanzungen grosser Massen, durch Eroberungen und Kolonisation. Endlich kann ohne
irgendwelche direkte Berührung mit einem fremden Volke die Erkenntnis seiner Sprache durch die Schrift vermittelt
werden. Im letzteren Falle pflegt die Kenntnis auf gewisse durch Bildung hervorragende Schichten der Bevölkerung
beschränkt zu bleiben. Durch die schriftliche Vermittelung ist dann nicht bloss Entlehnung aus einer lebenden
fremden Sprache möglich, sondern auch aus einer zeitlich zurückliegenden Entwickelungsstufe derselben.

Wo Durcheinanderwürfelung zweier Nationen in ausgedehntem Masse stattgefunden hat, da wird auch die
Doppelsprachigkeit sehr allgemein, und mit ihr die wechselseitige Beeinflussung. Hat dabei die eine Nation ein
entschiedenes Übergewicht über die andere, sei es durch ihre Masse oder durch politische und wirtschaftliche Macht
oder durch geistige Überlegenheit, so wird sich auch die Anwendung ihrer Sprache immer mehr auf Kosten der
andern ausdehnen; man wird von der Zweisprachigkeit wieder zur Einsprachigkeit gelangen. Je nach der
Widerstandsfähigkeit der unterliegenden Sprache wird dieser Prozess schneller oder langsamer vor sich gehen, wird
diese schwächere oder stärkere Spuren in der siegenden hinterlassen. [392 Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Sprachmischung.]

Die Mischung wird auch bei dem Einzelnen nicht leicht in der Weise auftreten, dass seine Rede Bestandteile aus der
einen Sprache ungefähr in gleicher Menge enthielte wie Bestandteile aus der andern. Er wird vielleicht, wenn er
beide gleich gut beherrscht, sehr leicht aus der einen in die andere übergehen, aber innerhalb eines Satzgefüges wird
doch immer die eine die eigentliche Grundlage bilden, die andere wird, wenn sie auch mehr oder weniger
modifizierend einwirkt, nur eine sekundäre Rolle spielen. In noch höherem Masse gilt das natürlich für denjenigen,
der sich keine Sprechfähigkeit in der fremden Sprache erworben hat, sondern nur ein besseres oder schlechteres
Verständnis. Bei demjenigen, der zwei Sprachen nebeneinander spricht, kann natürlich jede durch die andere
beeinflusst werden, die Muttersprache durch die fremde und die fremde durch die Muttersprache. Der Einfluss der
letzteren wird sich in der Regel stärker geltend machen. Er ist unvermeidlich, so lange man die fremde Sprache nicht
ganz vollständig und sicher beherrscht. Doch kann auch der Einfluss des fremden Idioms auf das eigene ein sehr
starker werden, wo man sich demselben absichtlich hingibt, was meist die Folge davon ist, dass man die fremde
Sprache und Kultur höher schätzt als die heimische. Ein Unterschied besteht auch zwischen den im Folgenden zu
besprechenden verschiedenen Arten der Beeinflussung. Fremdwörter werden in einer Sprache wohl meistens direkt
durch Individuen eingeführt, welche dieselbe als ihre Muttersprache sprechen. Dagegen ist es unausbleiblich, dass
eine als fremd erlernte Sprache durch Lautsubstitution und Beeinflussung der inneren Sprachform modifiziert wird.

Wenn nun aber auch der Anstoss zur Beeinflussung einer Sprache durch eine andere von Individuen ausgehen muss,
die der einen wie der andern, wenn auch in noch so geringem Grade mächtig sind, so kann sich diese Beeinflussung
doch durch die gewöhnliche ausgleichende Wirkung des Verkehrs innerhalb der gleichen Sprachgenossenschaft
weiter verbreiten und sich so auf Individuen erstrecken, die mit dem fremden Idiom nicht die geringste direkte
Berührung haben. Die letzteren werden dabei nicht bloss von den Angehörigen ihres Volkes beeinflusst, sondern
unter Umständen auch von Angehörigen eines fremden Volkes, die sich ihre Sprache angeeignet haben. Natürlich
werden sie die fremden Elemente immer nur langsam und in geringen Quantitäten aufnehmen.

§ 276. Wir müssen zwei Hauptarten der Beeinflussung durch ein fremdes Idiom unterscheiden. Erstens kann

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

fremdes Material aufgenommen werden. Zweitens kann, ohne dass anderes als einheimisches Material verwendet
wird, doch die Zusammenfügung desselben und seine Anpassung an den Vorstellungsinhalt nach fremdem Muster
gemacht [393 Zweisprachigkeit. Verschiedene Arten der Beeinflussung.] werden; die Beeinflussung erstreckt sich
dann nur auf das, was Humboldt und Steinthal innere Sprachform genannt haben.

Zur Aufnahme fremder Wörter in die Muttersprache veranlasst natürlich zunächst das Bedürfnis. Es werden
demgemäss Wörter für Begriffe aufgenommen, für welche es dieser noch an einer Bezeichnung fehlt. Es wird in der
Regel Begriff und Bezeichnung zugleich aufgenommen aus der nämlichen Quelle. Unter den am meisten in Betracht
kommenden Kategorieen sind hervorzuheben Orts- und Personennamen; ferner aus der Fremde eingeführte
Produkte. Sind dieselben im wesentlichen Naturerzeugnisse, so können die Bezeichnungen dafür mit der Sache von
den unkultiviertesten Völkern auf die kultiviertesten übergehen, wohingegen die Einführung von Kunstprodukten
mit ihren Benennungen eine gewisse Überlegenheit der fremden Kultur voraussetzt, welche allerdings nur sehr
einseitig zu sein braucht. Noch entschiedener ist eine solche Überlegenheit Voraussetzung bei der Überführung von
technischen, wissenschaftlichen, religiösen, politischen Begriffen. Eine starke Kulturbeeinflussung bringt fast immer
einen starken Import von Fremdwörtern mit sich. Ein Bedürfnis mag noch erwähnt werden, welches auch die
Aufnahme von Wörtern aus einer niedrigeren Kultursphäre veranlassen kann, das der Darstellung fremder
Verhältnisse, sei es, dass diese Darstellung den Zweck der Belehrung hat und eine wahrheitsgetreue Schilderung
und Erzählung zu geben sucht, sei es, dass sie für poetische Zwecke verwendet wird. Über das eigentliche Bedürfnis
hinaus geht die Entlehnung, wenn die fremde Sprache und Kultur höher geschätzt wird als die eigene, wenn daher
die Einmischung von Wörtern und Wendungen aus dieser Sprache für besonders vornehm oder zierlich gilt.

Mit entlehnten Wörtern verhält es sich ähnlich wie mit neugeschaffenen. Derjenige, welcher sie zuerst anwendet, hat
in der Regel nicht die Absicht, sie usuell zu machen. Er befriedigt damit nur das momentane Bedürfnis nach
Verständigung. Bleibende Wirkungen hinterlässt eine solche Anwendung erst, wenn sie sich wiederholt, in der
Regel nur, wenn sie spontan von verschiedenen Individuen ausgeht. Das Lehnwort wird erst ganz allmählich üblich.
Es gibt verschiedene Grade der Üblichkeit. Es ist zunächst ein beschränkter, durch räumliche Nähe oder
Übereinstimmung in der Kultur gebildeter Kreis innerhalb einer Volksgemeinschaft, in welchem ein Wort üblich
wird, respektive mehrere solche Kreise. In dieser beschränkten Geltung bleiben viele Wörter, während andere sich
auf alle Schichten der Bevölkerung verbreiten. Sind sie ganz allgemein üblich geworden und haben sie nicht etwa in
ihrer Lautgestalt etwas Abnormes, so verhält sich das Sprachgefühl zu ihnen nicht anders als zu dem einheimischen
Sprach- [394 Zweiundzwanzigstes Kapitel. Sprachmischung.] gut. Vom Standpunkt des Sprachgefühls aus sind sie
keine Fremdwörter mehr.

§ 277. Eine besondere Aufmerksamkeit bei der Entlehnung fremder Wörter verdient das Verhalten gegenüber dem
fremden Lautmaterial. Wie wir gesehen haben, deckt sich der Lautvorrat einer Sprache niemals völlig mit dem einer
andern. Um eine fremde Sprache exakt sprechen zu lernen, ist eine Einübung ganz neuer Bewegungsgefühle
erforderlich. So lange diese nicht vorgenommen ist, wird der Sprechende immer mit denselben Bewegungsgefühlen
operieren, mit denen er seine Muttersprache hervorbringt. Er wird daher in der Regel statt der fremden Laute die
nächstverwandten seiner Muttersprache einsetzen und, wo er den Versuch macht Laute, die in derselben nicht
vorkommen, zu erzeugen, wird er zunächst fehlgreifen. Durch vieles Hören und lange Übung kann er sich natürlich
allmählich eine korrektere Aussprache erwerben, doch ist es bekanntlich selten, dass sich jemand eine fremde
Sprache so vollkommen aneignet, dass er nicht mehr als Ausländer zu erkennen ist. Wo daher eine Sprache ihr
Gebiet über ein ursprünglich anders redendes Volk ausbreitet, da ist es kaum anders möglich, als dass die frühere
Sprache des Volkes irgend welche Spuren in der Lauterzeugung hinterlässt, und dass sich auch sonst stärkere
Abweichungen einstellen, weil das Bewegungsgefühl nicht ganz übereinstimmend ausgebildet ist. Wo die Erlernung
der fremden Sprache nur durch Vermittelung der Schrift erfolgt, da kann natürlich von einer Nachahmung der
fremden Laute gar keine Rede sein, es ist ganz selbstverständlich, dass die Laute der eigenen Sprache
untergeschoben werden.

Wo ein Volk mit einem anderen ausser an den Grenzen nur durch Reisen und Ansiedlungen Einzelner und durch
literarischen Verkehr in Berührung tritt, da wird nur der kleinere Teil die Sprache des fremden Volkes verstehen, ein
noch kleinerer Teil sie sprechen und ein verschwindend kleiner Teil sie exakt sprechen. Bei der Entlehnung eines
Wortes aus einer fremden Sprache werden daher oft schon diejenigen, die es zuerst einführen, Laute der eigenen
Sprache den fremden unterschieben. Aber wenn es auch vielleicht mit ganz exakter Aussprache aufgenommen wird,
so wird sich dieselbe nicht halten können, wenn es weiter auf diejenigen verbreitet wird, die der fremden Sprache
nur mangelhaft oder gar nicht mächtig sind. Der Mangel eines entsprechenden Bewegungsgefühls macht hier die
Unterschiebung, die Lautsubstitution, wie wir es mit Gröber nennen wollen, zur Notwendigkeit. Ist ein fremdes
Wort erst einmal eingebürgert, so setzt es sich auch fast immer aus den Materialien der eigenen Sprache zusammen.
Selbst diejenigen, welche wegen ihrer genauen Kenntnis [395 Lautsubstitution.] der fremden Sprache den Abstand
gewahr werden, müssen sich doch der Majorität fügen. Sie würden sonst pedantisch oder geziert erscheinen. Nur

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

ausnahmsweise bürgert sich unter solchen Umständen ein fremder Laut in einer Sprache ein, natürlich am
leichtesten ein solcher, der einerseits häufig vorkommt, andererseits sich scharf von allen der Sprache ursprünglich
eigenen abhebt. So ist z. B. in die neuhochdeutsche Schriftsprache trotz der massenhaften Lehnwörter nur ein neuer
Laut eingeführt, das Französische j (g) in jalousie, genie, genieren etc. Und auch hierfür setzen nicht bloss die
Volksmundarten, sondern auch die städtische Umgangssprache den Laut unseres sch ein.

Nicht selten werden mehrere verschiedene fremde Laute durch den gleichen einheimischen ersetzt. So werden im
Ahd. lat. f und v beide durch f wiedergegeben (geschrieben zuweilen auch v oder u), vgl. fenstar, fiebar, fîra etc. -
fers, fogat (vocatus), evangelio etc.[2]) Ursache, warum auch v durch f wiedergegeben wird, ist das Fehlen eines
dem lateinischen genau entsprechenden Lautes, indem an Stelle unseres jetzigen w noch konsonantisches u
gesprochen wurde. Ferner wird im Ahd. die lateinische Fortis p ebenso wie die tönende Lenis b durch die
dazwischen liegende tonlose Lenis wiedergegeben, geschrieben bald b, bald p, vgl. beh, (peh) = pix, bira = pirum,
bredigôn = praedicare etc. - becchi (pecchi) = baccinum, buliz = boletum etc. Ursache ist, dass es im Oberdeutschen
nach der Lautverbindung kein tönendes b gab, weil das früher vorhandene seinen Stimmton verloren hatte und keine
Fortis p, weil die früher vorhandene zu ph verschoben war. Umgekehrt kann man den fremden Laut bald durch
diesen, bald durch jenen naheliegenden einheimischen wiedergeben. Doch wird man wohl in der Regel finden, wo
in den Lehnwörtern einer Sprache der gleiche fremde Laut bald durch diesen, bald durch jenen Laut wiedergegeben
ist, dass die Aufnahme der Wörter in verschiedenen Perioden stattgefunden hat. So wird lat. v in den ältesten
deutschen Lehnwörtern durch w wiedergegeben (vgl. wîn, wiccha, pfâwo etc.), wahrscheinlich weil es noch wie das
deutsche v konsonantischem u oder wenigstens noch bilabial war.[3]) In den jüngeren althochdeutschen
Lehnwörtern erscheint es als f (vgl. oben); in denen der modernen Zeit wieder als w.

Als Lautsubstitution können wir es auch betrachten, wenn ungewohnte Konsonantenhäufungen durch Einschiebung
eines Vokales erleichtert werden, vgl. z. B. waranio in der lex Salica und it. guaragno = as. wrennio, it.
lanzichenecco, franz. lansquenet = Lanzknecht. [396 Zweiundzwanzigstes Kapitel. Sprachmischung.]

Wo die Herübernahme eines Wortes nur nach dem Gehör und auf Grund unvollkommener Kenntnis des fremden
Idioms erfolgt, da treten sehr leicht noch weitergehende Entstellungen ein, die auf einer mangelhaften Auffassung
durch das Gehör und auf einem mangelhaften Festhalten durch das Gedächtnis beruhen. In Folge davon werden
namentlich Lautverbindungen, an die man nicht gewöhnt ist, durch geläufigere ersetzt und Kürzungen
vorgenommen. Sehr leicht tritt Volksetymologie dazu.

§ 278. Von den Veränderungen, welche die fremden Wörter bei der Aufnahme erleiden, sind diejenigen zu scheiden,
die sie erst nach ihrer Einbürgerung durchmachen. Da uns aber viele Wörter erst längere Zeit nach ihrer Aufnahme
überliefert sind, so ist diese Scheidung nicht immer so leicht zu machen. Die eingebürgerten Fremdwörter nehmen
natürlich so gut wie die einheimischen an dem Lautwandel teil. Die Teilnahme oder Nichtteilnahme an einem
Lautwandel kann uns da, wo uns die Überlieferung in Stich lässt, Aufschluss geben über die relative Zeit der
Entlehnung. Wenn im Ahd. das lateinische t in einigen Wörtern als t, in andern als z erscheint (vgl. tempal, turri,
abbât, altari - ziagil, strâza, scuzzila), lat. p in einigen als p (b), in andern als ph oder f (vgl. pîna, priestar - phîl,
phlanza, phîfa, pfeffar), so unterliegt es keinem Zweifel, dass die Wörter mit z oder ph oder f eine ältere Schicht von
Entlehnungen darstellen als die mit t und p. Denn die betreffenden Veränderungen hätten nicht eintreten können,
wenn die Wörter nicht schon vor der Lautverschiebung aufgenommen gewesen wären, sodass sie das Schicksal der
echt germanischen teilen konnten.

Ausserdem sind die Fremdwörter bei der Weiterverbreitung denselben assimilierenden Tendenzen unterworfen wie
bei der ersten Aufnahme. Ein Wort kann zunächst von Individuen, die der fremden Sprache vollständig mächtig
sind, ganz oder annähernd genau in der fremden Lautgestalt aufgenommen werden, kann aber, indem es auf solche
Individuen übertragen wird, die der fremden Sprache unkundig sind, doch durch Unterschiebung eines anderen
Bewegungsgefühls, durch Verhören und durch Volksetymologie entstellt werden. Kommt eine solche Entstellung
bei der grossen Masse in allgemeinen Gebrauch, so kann sie auch auf diejenigen zurückwirken, welchen die
originale Lautgestalt sehr wohl bekannt ist. Sie müssen sich trotz ihres besseren Wissens der herrschend gewordenen
Aussprache fügen, wenn sie nicht unverständlich werden oder affektiert erscheinen wollen. In anderen Fällen
dagegen erhält sich im Munde der Gebildeten eine der originalen nahe stehende Lautgestalt, während sich daneben
eine oder mehrere abweichende volkstümliche entwickeln, vgl. z. B. Korporal - Kaporal, Sergeant - Scharsant,
Gensd'armes - Schandarre (so in Niederdeutsch- [397 Veränderung der Lehnwörter nach ihrer Aufnahme.] land),
Kastanie - Kristanje, Chirurgus - Gregorius, renovieren - rennefîren etc.

Eine besondere Art der Assimilation besteht in der Übertragung der einheimischen Akzentuationsweise auf die
fremden Wörter. Diese erfolgt wohl in der Regel nicht von Anfang an bei der ersten Übertragung, sondern erst nach
längerer Einbürgerung. Im Engl. lässt es sich deutlich verfolgen, wie die französischen Wörter, ursprünglich mit

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

französischem Akzent aufgenommen, erst nach und nach zu der germanischen Betonungsweise übergegangen sind.
Im Deutschen lässt sich das Gleiche an den fremden Eigennamen beobachten. Im Ahd. und teilweise noch im Mhd.
betont man noch Adâm, Abêl, Davîd etc. Appellativa dagegen erscheinen schon in den ältesten althochdeutschen
Denkmälern mit zurückgezogenem Akzent und Wirkungen dieser Zurückziehung, vgl. z. B. fogat (vocatus), mettina
(matutina), fenstar. Wahrscheinlich aber ist auch bei diesen die Zurückziehung des Akzentes nicht gleich bei der
Aufnahme eingetreten.

Durch die besprochenen lautlichen Modifikationen wird ein Wort immer mehr seinem Ursprunge entfremdet, sodass
derselbe selbst für denjenigen, der mit der Sprache, aus der es stammt, vertraut ist, unkenntlich werden kann. Zu
solcher Entfremdung können aber auch Veränderungen in der Sprache, aus der das Wort entlehnt ist, beitragen. So
beruht unsere Aussprache der aus dem Französischen entlehnten Wörter zum Teil auf einer jetzt in Frankreich nicht
mehr bestehenden Aussprache, vgl. Paris, Konzert, Offizier etc. Noch weiter haben sich deutsche Wörter von der
Lautgestalt entfernt, in der sie in die romanischen Sprachen übergegangen sind, vgl. z. B. franz. tape, tapon =
Zapfen, it. toppo = Zopf, franz. touaille = oberd. Zwehle, mitteld. Quehle, it. drudo = traut. Ebenso kann die
Bedeutung, mit der das Wort entlehnt ist, sich in der Grundsprache ebensowohl verändern wie in der Sprache, in die
es übergegangen ist, und endlich kann es in der Grundsprache ganz untergehen.

§ 279. Es kann ein und dasselbe Wort mehrmals zu verschiedenen Zeiten entlehnt werden. Es erscheint dann in
verschiedenen Lautgestalten, wovon die jüngere sich nahe an die Grundsprache anschliesst, während die ältere
schon mehr oder minder starke Veränderungen durchgemacht hat. Mitunter ist die Bedeutung, mit der ein Wort bei
der zweiten Entlehnung aufgenommen wird, verschieden von der bei der ersten, und es wird daher gar kein
Zusammenhang zwischen den Formen empfunden, vgl. ordnen - ordinieren, dichten - diktieren, predigen -
prädizieren, ahd. zabal (Spielbrett) - tavala (beide aus tabula); auch prüfen und probieren decken sich nicht in ihrer
Bedeutung. Wo die Bedeutung vollständig übereinstimmt, da geht die ältere Form [398 Zweiundzwanzigstes
Kapitel. Sprachmischung.] leicht unter, vgl. Altar, mhd. schon alter; oder es wird die ältere Form auf die
volkstümliche mundartliche Rede beschränkt, vgl. ade - adieu, Melodei (aus mhd. melodîe regelrecht entwickelt) -
Melodie (neu aus dem Franz.), Phantasei - Phantasie, Känel (Kännel, Kändel, Kener) - Kanal, Kämi - Kamin,
Kappel - Kapelle, Keste - Kastanie. Besonders häufig sind mehrfache Formen in Folge mehrfacher Entlehnung bei
Personennamen. Dabei wird auch vielfach der Ursprung aus der gleichen Grundlage nicht mehr erkannt, indem die
älteren Formen z. T. nur noch als Familiennamen erscheinen. Vgl. Endres - Andreas, Bartel - Bartholomäus, Michel
- Michael, Velten - Valentin, Metz - Mattis - Matthias, Marx - Markus, Zacher - Zacharias, Merten - Martin etc.

Zuweilen wird nicht eine völlig neue Entlehnung vorgenommen, sondern das schon seit längerer Zeit eingebürgerte
und lautlich modifizierte Lehnwort erfährt nur eine partielle Angleichung an das zu Grunde liegende Wort der
fremden Sprache, vgl. mhd. trache = nhd. drache (draco), mhd. tihten = nhd. dichten (dictare), mhd. Krieche = nhd.
Grieche (Graecus).[4]) Auch Jude beruht wohl auf einer Wiederanlehnung an Judaeus, und Jüde ist die einzige
lautgesetzlich entwickelte Form.
§ 280. Wo gleichzeitig zwei nahe verwandte Sprachen auf eine dritte wirken, da geschieht es leicht, dass aus beiden
die einander korrespondierenden Wörter aufgenommen werden, die dann in der Bedeutung übereinstimmen und in
der Lautform wenig voneinander abweichen. Dies Verhältnis finden wir namentlich in den Lehnwörtern aus dem
Lat. und dem Franz. So haben wir nebeneinander ideal und ideell, real und reell, jetzt in ihrer Bedeutung
differenziert, früher gleichwertig; Schiller gebraucht material = materiell. Goethe hat religios = religiös. Einem
norddeutschen Referendar entspricht ein süddeutsches Referendär. Statt Trinität, Majestät etc. bestehen im Mhd.
trinitât, majestât; im 16. und 17. Jahrh. sind beide Formen nachweisbar;[5]) das ä kann nur dem Franz. entstammen.

In diesen Fällen kann es nicht ausbleiben, dass auch die dem Französischen entstammende Form von dem des
Lateinischen Kundigen direkt auf dieses bezogen wird. In anderen Fällen sind Wörter überhaupt nicht direkt aus der
Grundsprache aufgenommen, sondern nur aus einer anderen, in der sie Lehnwörter sind. So sind griechische Wörter
zunächst aus dem Lateinischen zu uns gekommen, daher mit [399 Entstehung aus zwei verwandten Sprachen.]
lateinischer Betonung und mit der Endung -us statt -os. Ebenso sind lateinische Wörter, die ihrerseits wieder dem
Griechischen entlehnt sein können, durch Vermittlung des Französischen auf uns gekommen, vgl. Musik, Protestant,
Agent, September, Artikel, Religion etc., ebenso die Eigennamen Horaz, Ovid etc. Auch hier stellt sich ein für den
der Originalsprache Kundigen direktes Verhältnis her, und die Folge davon ist, dass er, auch wenn er Wörter direkt
aus der Originalsprache entnimmt, diesen eine den durch Vermittlung überkommenen analoge Lautgestalt gibt, dass
er z. B. den griechischen in den lateinischen Akzent umsetzt, dass er die lateinischen Endungen -us, -um und andere
fortlässt, dass er den Ausgang der lateinischen Wörter auf io in ion verwandelt. Hierher gehört es auch, dass Verba,
die direkt dem Lateinischen entnommen sind, die aus dem Französischen stammende Endung - ieren erhalten haben,
vgl. negieren, spazieren, pokulieren, prädizieren, annektieren, regulieren, prästieren, präparieren etc. Aus älterem
personifieren (z. B. bei Le.) ist mit Anschluss an das Lateinische personifizieren geworden.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

§ 281. Wir haben oben § 115 gesehen, dass einer Ableitung, die mit einem weniger gewöhnlichen Suffixe gebildet
ist, leicht noch das für die betreffende Funktion normale Suffix beigefügt wird. Eine besondere Art dieses
Vorganges ist die, dass einem fremden Suffixe noch das synonyme einheimische beigefügt wird, vgl. Historiker,
Physiker, Musiker, Kritiker etc. (Bildungen, die von Adelung noch gemissbilligt werden); Sicilianer, Mantuaner,
Primaner; Italiener; Benediktiner, Rabbiner (nach Adelung besser Rabbine); Athenienser, Waldenser; Genueser,
Bologneser; Galiläer, Pharisäer; Unitarier, Proletarier; Samariter, Jesuiter (volkstümlich); Patrizier, Plebejer;
Kassierer, Tapezierer, Barbierer (neben Kassier etc.); sicilianisch, italienisch, genuesisch; idealisch, kolossalisch
(beides im 18. Jahrh. häufig), kollegialisch, musikalisch, physikalisch, theatralisch, martialisch etc.; kokettisch,
antikisch, barockisch (18. Jahrh.); Prinzessin, Äbtissin (mhd. ebbetisse), Baronessin (18. Jahrh.). Die Verba auf -
ieren sind entstanden, indem an die fertige altfranzösische Infinitivform auf -ier noch die deutschen Verbalendungen
angetreten sind.

§ 282. Es werden immer nur ganze Wörter entlehnt, niemals Ableitungs- und Flexionssuffixe. Wird aber eine
grössere Anzahl von Wörtern entlehnt, die das gleiche Suffix enthalten, so schliessen sich dieselben ebensogut zu
einer Gruppe zusammen wie einheimische Wörter mit dem gleichen Suffix, und eine solche Gruppe kann dann auch
produktiv werden. Es kann sich das so aufgenommene Suffix durch analogische Neubildung mit einheimischem
Sprachgut verknüpfen. Der Fall ist bei Ableitungssilben nicht gerade selten. Wir haben im Deutschen nach dem
Muster von Abtei etc. ein Bäckerei, Gerberei, Druckerei etc.; [400 Zweiundzwanzigstes Kapitel. Sprachmischung.]
nach Bagage etc. Bildungen der Volkssprache wie Takelage, Kledage, Bommelage etc. (vgl. Andr. Volkset. 98);
nach korrigieren etc. hofieren, buchstabieren, sich erlustieren, mhd. wandelieren, bei H. Sachs gelidmasieret.[6])
Vgl. ferner romanische Bildungen wie it. falsardo, mit germanischem Suffix, englische wie oddity, morderous,
eatable mit französischem Suffix.[7]) Es gibt bei uns mehrere Suffixe fremden Ursprungs, die nur in der
Gelehrtensprache üblich sind und sich dann nicht nur mit Elementen aus der gleichen Sprache verbinden, sondern
auch mit solchen aus einer andern fremden, zuweilen auch mit einheimischem Sprachgut, vgl. -ist in Jurist, Purist,
Romanist, Tourist, Manierist, Hornist, Hoboist, Carlist etc.; -ismus in Atavismus, Purismus, Fanatismus,
Somnambulismus etc.; -ianer in Hegelianer, Kantianer etc. Diese Bildungen finden sich zum Teil auch im
Französischen und sind zum Teil wohl aus dieser Sprache entlehnt. Wenn man Bildungen wie Purist und Purismus
wegen der Mischung aus einem lateinischen und einem griechischen Elemente beanstandet, so ist das insofern nicht
zutreffend, als sie weder lateinische noch griechische, sondern deutsche, respektive französische Bildungen sind.
Seltener werden Flexionsendungen auf diese Weise aufgenommen.[8]) Es gehört dazu schon eine besonders innige
Berührung zweier Sprachen. Die französische Pluralbildung mit s ist in Niederdeutschland ziemlich verbreitet:
Kerls, Mädchens, Fräuleins, Ladens, pleonastisch in Jungens. Auch in die Schriftsprache ist sie gedrungen bei
ursprünglich indeklinablen Wörtern: A's, O's, Neins, Abers, Vergissmeinnichts, Stelldicheins; bei Fremdwörtern, die
auf einen vollen Vokal ausgehen und sich deshalb in keine sonstige Deklination einfügen: Papas, Sophas, Mottos,
Kolibris; weniger allgemein üblich und als korrekt anerkannt bei solchen auf -um: Albums. Weiter verbreitet ist die
französische Pluralbildung im Niederländischen, vgl. mans, zons, vaders, broeders, waters, euvels, lakens, vroukens,
vogeltjes und so überhaupt bei den Neutris auf -er, -el, -en und den Deminutiven; pleonastisch angefügt wird das s
in jongens, bladers (neben bladen und bladeren), benders (neben benderen zu ben) u. a. In das Indoportugiesische
ist die englische Genitivendung eingedrungen; man sagt z. B. hombre's casa. Die ausgedehnteste Herübernahme von
Flexionsendungen hat in der Zigeunersprache stattgefunden. So gibt es ein spanisches und ein englisches
Zigeunerisch. [401 Flexionsendungen. Innere Sprachform.]

§ 283. Beeinflussung in Bezug auf die innere Sprachform erfährt eine Sprache, wie schon hervorgehoben,
namentlich durch diejenigen von denen sie als eine fremde gesprochen wird. Doch keineswegs ausschliesslich. Für
die Literatursprache kommt in dieser Hinsicht besonders der Einfluss von Übersetzungen in Betracht.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Wo ein Wort aus einer fremden Sprache sich in seiner Bedeutung nur teilweise mit einem Worte der eigenen
Sprache deckt, da wird man leicht dazu verführt, jenem den vollen Umfang der Bedeutung beizulegen, die diesem
zukommt. Es ist dies ja bei Übersetzungsübungen einer der häufigsten Fehler. Solche Fehler können in
zweisprachigen Gebieten leicht usuell werden.[9]) Ein südslawischer Schriftsteller schreibt habt ihr keine Scheu und
Schande weil sramota »Schande« und »Scham« bedeuten kann. Von den Deutschruthern wird Schnur im Sinne von
»Braut« gebraucht, weil im Slovenischen nevesta Schwiegertochter und Braut bedeutet. Häufig wird im
Slawodeutschen damals von der Zukunft gebraucht; ebenso wo = wohin, weil im Slawischen für beides das
nämliche Wort gebraucht wird.
Ein wesentlich davon verschiedener Vorgang ist es, wenn für einen Begriff, für den es bisher an einer Bezeichnung
gefehlt hat, ein Wort nach dem Muster einer fremden Sprache geschaffen oder mit einem schon bestehenden Worte
eine Bedeutungsübertragung nach diesem Muster vorgenommen wird. Dieser Vorgang ist in der wissenschaftlichen
und technischen Sprache neben der direkten Herübernahme fremden Materials üblich. Man vergleiche z. B. die
Versuche die lateinischen grammatischen Termini durch deutsche wiederzugeben. Jene sind ihrerseits
Nachbildungen der griechischen. Eine tiefer in alle Schichten der Bevölkerung eindringende Wirkung hat auch nach
dieser Richtung die Einführung einer fremden Religion; man vgl. z.B. Wörter wie Beichte, Busse, Gewissen,
Abendmahl, erbauen, Gevatter. Und so sind es überhaupt dieselben Kultureinflüsse, welche die Einführung von
fremdem Wortmaterial veranlassen, die auch fremdes Gedankenmaterial, in einheimisches Gewand gekleidet,
zuführen.[10])
Es werden ferner Wortgruppen, die als solche eine eigentümliche Bedeutung entwickelt haben, nach den einzelnen
Worten übertragen. So sagt man z. B. in Östreich es steht nicht dafür = »es ist den Auf- [402 Zweiundzwanzigstes
Kapitel. Sprachmischung.] wand oder die Mühe nicht wert« nach dem Muster des cechischen nestojé za to.[11]) In
Südwestdeutschland hört man nicht selten nach französischem Muster es macht gut Wetter. Auch diese Art von
Nachbildung, für die ich hier nur einige besonders in die Augen fallende Beispiele gebe, ist etwas Häufiges.[12])
Dazu kommt endlich die Beeinflussung der Syntax.[13]) Da die Slawen für alle Geschlechter und Numeri des
Relativums eine Form verwenden können, so wird im Slawodeutschen häufig was entsprechend verwendet, vgl. ein
Mann, was hat geheissen Jakob; der Knecht, was ich mit ihm gefahren bin; auch ich bin nicht in der Stadt gewesen,
was (= solange) er weg ist. Im 18. Jahrh. schrieb man fast allgemein nach französischem Muster ich lasse ihm das
nicht fühlen u. dergl. Im Litauischen ist die deutsche Konstruktion was für ein Mann wörtlich nachgebildet. Auf die
romanischen und germanischen Sprachen hat vom Beginn ihrer literarischen Verwendung an immer die lateinische
Syntax einen bald stärkeren, bald schwächeren Einfluss gehabt.

Wenn wir zwischen Völkern, die in einer engeren Kulturgemeinschaft stehen, wie z. B. zwischen denen unseres
Abendlandes, eine grosse Übereinstimmung in der inneren Sprachform finden, so beruht dies wenigstens zum Teil
auf Angleichung durch Sprachmischung.

§ 284. Dialektmischung innerhalb eines zusammenhängenden Sprachgebietes hebt sich dann von der normalen
ausgleichenden Wirkung des Verkehrs deutlich ab, wenn sie zwischen Dialekten vor sich geht, deren Gebiete nicht
räumlich nebeneinander liegen. Dagegen ist keine eigentliche Grenze zu ziehen, wenn die Gebiete räumlich
benachbart und in beständigem Verkehr untereinander sind. Man kann dann nur danach einen Unterschied machen,
ob zwischen den betreffenden Dialekten ein scharfer Kontrast besteht oder ob die Verschiedenheiten gering sind und
schon durch Übergangsstufen vermittelt.

Im allgemeinen gilt hier das Gleiche wie von der Mischung verschiedener Sprachen. Wortentlehnung ist auch hier
der am leichtesten und häufigsten eintretende Vorgang. Dagegen wird das Lautmaterial nicht leicht verändert. Es
findet auch hier Substitution der fremden Laute durch die nächstverwandten einheimischen statt. Daher erscheint ein
aus einem verwandten Dialekte aufgenommenes Wort ganz gewöhnlich in der nämlichen Lautgestalt, die es erlangt
haben würde, wenn es aus der Zeit der ehemaligen Spracheinheit her sich erhalten hätte. So wird es sich in der Regel
bei geringeren Differenzen in der Lautentwickelung verhalten. Anders natürlich, wenn zwei Dialekte in ihrer [403
Entlehnung aus verwandtem Dialekt und ältere Sprachstufe.] Entwickelung weiter auseinander gegangen sind,
sodass, was sich etymologisch entspricht, sich nicht mehr phonetisch am nächsten liegt. So ist z. B. das ch in sacht,
Nichte etc. bei der Aufnahme in das Hochdeutsche nicht in das etymologisch entsprechende ft umgesetzt.

Auf literarischem Gebiete entsteht vor der Festsetzung einer Gemeinsprache sehr gewöhnlich eine Mischung
dadurch, dass ein Denkmal aus der Mundart, in der es ursprünglich verfasst ist, in eine andere umgesetzt wird. Das
ist bei schriftlicher wie bei mündlicher Überlieferung möglich. Die Umsetzung bleibt gewöhnlich eine
unvollkommene, zumal wenn sich das Versmass dagegen sträubt. Diese Art von Mischung ist ganz und gar zu
scheiden von derjenigen, welche sich in dem Organismus der Sprachvorstellungen bei den einzelnen Individuen
vollzieht.

§ 285. Entlehnung aus einer älteren Sprachstufe kann natürlich nur durch Vermittlung der Schrift erfolgen. Das

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Lautmaterial kann demnach nie dadurch beeinflusst werden. Diese Art der Entlehnung wird in der Regel nur mit
bewusster Absicht bei literarischer Produktion vorgenommen. Dabei ist ein Unterschied zu beachten. Entweder
sollen dabei gewisse wirkliche oder vermeintliche Vorzüge der älteren Sprache schlechthin wieder zu neuem Leben
erweckt werden, oder die Altertümlichkeiten der Sprache sollen zur Charakterisierung der Zeit dienen, in die man
durch die Darstellung versetzt wird. Im letzteren Falle wird man leicht viel weiter gehen als im ersteren. Eine
Entlehnung ist es auch, wenn man eine untergegangene Bedeutung eines sonst noch lebendigen Wortes neu zu
beleben versucht, wie man es z. B. mit Weib, Frau, Magd, Buhle getan hat.

1. Vgl. zu diesem Kapitel Whitney, On mixture in language (Transactions of the American Philological
Association, 1881); Schuchardt, Slavodeutsches und Slavoitalienisches, Graz 1885, sowie andere Arbeiten
desselben über Mischsprachen; Harrison, Negro English (Anglia VII, 233); Lundell, Norskt Språk (Nordisk
Tidskrift 1882, S. 469); Loewe, Zur Sprach- und Mundartenmischung (Zschr. f. Völkerps. 20, 261);
Windisch, Zur Theorie der Mischsprachen und Lehnwörter (Ber. der phil.hist. Kl. der Sächs. Gesellsch. der
Wissensch. 1897, S. 101); G. Hempl, Languagerivalry and speech-differentation in the case of race-mixture
(Transactions of the American Philological Association 1898, S. 31); Erik Björkman, Blandspråk och
lånord (Sjätte nordiska filologmötes förhandlingar. Upsala 1902); J. Wackernagel (G. G. N. 1904, S. 20),
Sprachtausch und Sprachmischung 11; Jespersen, growth and structure of the English language, Chap. IV,
V, VI.
2. Vgl. Franz, Die lateinisch-romanischen Elemente im Althochdeutschen, Strassburg 1884, S. 20. 22.
3. Vgl. Franz a. a. O.
4. Es kommt bei diesen Wörtern allerdings auch der in einem gewissen Teile von Deutschland eingetretene
lautliche Zusammenfall von Tenuis und Media in Betracht, so dass also das Grundwort vielleicht nur für
die Regelung der Schreibung in der Schriftsprache massgebend gewesen ist.
5. Vgl. J. Grimm, Kl. Schr. 1, 337, wo aber die Auffassung eine andere ist.
6. Kaum hier anzureihen, weil mit der Absicht komische Wirkung zu erzielen gebildet, sind Schöpfungen der
Studentensprache wie burschikos (mit griechischer Adverbialendung), Luftikus, Putzikus, Lumpacius.
7. Vgl. Whitney a. a. O. S. 17. Beispiele von slawischen Suffixen in deutschen Mundarten bei Schuchardt S.
86.
8. Vgl. hierzu Schuchardt S. 8.
9. Vgl. Schuchardt S. 95ff.
10. S. Singer hat in der Zeitschr. f. deutsche Wortf. 3, 220 und 4, 125 ein reichhaltiges Verzeichnis von
deutschen Wörtern gegeben, die in ihrer Bildungsweise und Bedeutungsentwicklung fremden, namentlich
lateinischen und französischen Wörtern entsprechen. Doch ist allerdings die Übereinstimmung allein noch
nicht genügend um jene als Nachbildungen von diesen zu erweisen. Dazu bedarf es namentlich noch
genauerer Untersuchungen über ihr frühestes Vorkommen. [Paul, Prinzipien]
11. Weitere Beispiele aus dem Slawodeutschen bei Schuchardt S. 96ff.
12. Auch hierfür verweise ich auf Singer mit dem gleichen Vorbehalt.
13. Vgl. Schuchardt S. 99ff.

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL.

DIE GEMEINSPRACHE.

§ 286. In allen modernen Kulturländern finden wir neben vielfacher mundartlicher Verzweigung eine durch ein
grosses Gebiet verbreitete und allgemein anerkannte Gemeinsprache. Wesen und Bildung derselben zu untersuchen
ist eine Aufgabe, die wir notwendigerweise bis zuletzt verschieben mussten. Wir betrachten wieder zunächst die
gegebenen Verhältnisse, die sich unserer unmittelbaren Beobachtung darbieten.

Wir sind bisher immer darauf aus gewesen die realen Vorgänge des Sprachlebens zu erfassen. Von Anfang an haben
wir uns klar gemacht, dass wir dabei mit dem, was die deskriptive Grammatik eine Sprache nennt, mit der
Zusammenfassung des Usuellen, überhaupt gar nicht rechnen dürfen als einer Abstraktion, die keine reale Existenz
hat. Die Gemeinsprache ist natürlich erst recht eine Abstraktion. Sie ist nicht ein Komplex von realen Tatsachen,
realen Kräften, sondern nichts als eine ideale Norm, die angibt, wie gesprochen werden soll. Sie verhält sich zu der
wirklichen Sprechtätigkeit etwa wie ein Gesetzbuch zu der Gesamtheit des Rechtslebens in dem Gebiete, für
welches das Rechtsbuch gilt, oder wie ein Glaubensbekenntnis, ein dogmatisches Lehrbuch zu der Gesamtheit der

211
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

religiösen Anschauungen und Empfindungen.

Als eine solche Norm ist die Gemeinsprache wie ein Gesetzbuch oder ein Dogma an sich unveränderlich.
Veränderlichkeit würde ihrem Wesen schnurstracks zuwider laufen. Wo eine Veränderung vorgenommen wird,
kann sie nur durch eine ausserhalb der Norm stehende Gewalt aufgedrängt werden, durch welche ein Teil von ihr
aufgehoben und durch etwas anderes ersetzt wird. Die Veranlassungen zu solchen Veränderungen sind auf den
verschiedenen Kulturgebieten analog. Ein noch so sorgfältig ausgearbeiteter Kodex wird doch immer eine gewisse
Freiheit der Bewegung übrig lassen, und immer werden sich in der [405 Die Gemeinsprache als Norm.] Praxis eine
Reihe von unvorhergesehenen Fällen herausstellen. Der Kodex kann aber auch Schwierigkeiten enthalten, hie und
da mehrfache Deutung zulassen. Dazu kommt nun Missverständnis, mangelhafte Kenntnis von Seiten derer, die
nach ihm verfahren sollten. Er kann endlich vieles Unangemessene enthalten teils von Anfang an, teils infolge einer
erst nach seiner Festsetzung eingetretenen Veränderung der sittlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Diese
Unangemessenheit kann die Veranlassung werden, dass sich das Rechtsgefühl der Gesamtheit oder der
massgebenden Kreise gegen die Durchführung des Gesetzbuchstabens sträubt. Das Zusammenwirken solcher
Umstände führt dann zu einer Änderung des Gesetzbuches durch die Staatsgewalt. Gerade so verhält es sich mit der
Gemeinsprache. Sie ist nichts als eine starre Regel, welche die Sprachbewegung zum Stillstand bringen würde,
wenn sie überall strikte befolgt würde, und nur soweit Veränderungen zulässt, als man sich nicht an sie kehrt.

Bei alledem ist aber doch der Unterschied, dass die Gemeinsprache nicht eigentlich kodifiziert wird. Es bleibt im
allgemeinen der Usus, der die Norm bestimmt. Es kann das aber nicht der Usus der Gesamtheit sein. Denn dieser ist
weit entfernt davon ein einheitlicher zu sein. Auch in denjenigen Gebieten, in welchen die Gemeinsprache sich am
meisten befestigt hat, finden wir, dass die Einzelnen sehr beträchtlich voneinander abweichen, auch wenn wir sie
nur in soweit berücksichtigen, als sie ausdrücklich bestrebt sind die Schriftsprache zu reden. Und selbst wenn diese
Abweichungen einmal beseitigt wären, so müssten nach den allgemeinen Bedingungen der Sprachentwickelung
immer wieder neue entstehen. Sowohl um eine Einheit herbeizuführen als um eine schon vorhandene aufrecht zu
erhalten, ist etwas erforderlich, was von der Sprechtätigkeit der Gesamtheit unabhängig ist, dieser objektiv
gegenüber steht. Als solches dient überall der Usus eines bestimmten engeren Kreises.

§ 287. Wir finden nun aber, so weit unsere Beobachtung reicht, dass die Norm auf zweierlei Art bestimmt wird,
nämlich einerseits durch die gesprochene Sprache, anderseits durch niedergeschriebene Quellen. Soll sich aus der
ersteren eine einigermassen bestimmte Norm ergeben, so müssen die Personen, welche als Autorität gelten, sich in
einem beständigen oder nach kurzen Unterbrechungen immer wiederholten mündlichen Verkehre untereinander
befinden, wobei möglichst viele und möglichst vielseitige Berührungen zwischen den Einzelnen statthaben. In der
Regel finden wir die Sprache einer einzelnen Landschaft, einer einzelnen Stadt als mustergültig angesehen. Da aber
überall, wo schon eine wirkliche Gemeinsprache ausgebildet ist, auch innerhalb eines so engen Gebietes, nicht
unbeträchtliche Verschiedenheiten zwischen [406 Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.] den
verschiedenen Bevölkerungsklassen bestehen, so muss die Mustergültigkeit schon auf die Sprache der Gebildeten
des betreffenden Gebietes eingeschränkt werden. Aber auch von dieser kann sich das Muster emanzipieren, und das
ist z. B. in Deutschland der Fall. Es ist ein reines Vorurteil, wenn bei uns eine bestimmte Gegend angegeben wird, in
der das ,reinste Deutsch` gesprochen werden soll. Die mustergültige Sprache für uns ist vielmehr die auf dem
Theater im ernsten Drama übliche, mit der die herrschende Aussprache der Gebildeten an keinem Orte vollständig
übereinkommt. Die Vertreter der Bühnensprache bilden einen verhältnismässig kleinen Kreis, der aber räumlich
weit zerstreut ist. Die räumliche Trennung widerspricht aber nur scheinbar unserer Behauptung, dass direkter
mündlicher Verkehr notwendiges Erfordernis für die Mustersprache sei. Denn der Grad von Übereinstimmung, wie
er in der Bühnensprache besteht, wäre nicht erreicht und könnte nicht erhalten werden, wenn nicht ein fortwährender
Austausch des Personals zwischen den verschiedenen Bühnen, auch den am weitesten von einander entlegenen
stattfände, und wenn es nicht gewisse Zentralpunkte gäbe und gegeben hätte, die wieder den anderen als Muster
dienen. Dazu kommt, dass hier auch eine kürzere direkte Berührung die gleiche Wirkung tun kann wie in anderen
Fällen eine längere deshalb, weil eine wirkliche Schulung stattfindet, eine Schulung, die bereits durch
lautphysiologische Beobachtung unterstützt wird. Die Ursachen, warum sich gerade die Bühnensprache besonders
einheitlich und abweichend von allen Lokalsprachen gestalten musste, liegen auf der Hand. Nirgends sonst
vereinigte sich ein so eng geschlossener Kreis von Personen aus den verschiedensten Gegenden, die genötigt waren
in der Rede zusammenzuwirken. Nirgends war einem Verkehrskreise so viel Veranlassung zur Achtsamkeit auf die
eigene und fremde Aussprache, zu bewusster Bemühung darum gegeben. Es musste einerseits der Notwendigkeit
sich vor einem grossen Zuschauerkreise allgemein verständlich zu machen, anderseits ästhetischen Rücksichten
Rechnung getragen werden. Aus beiden Gründen konnten dialektische Abweichungen auch nicht mehr in der
Einschränkung geduldet werden, in der sie sich etwa zwischen den verschiedenen lokalen Kreisen der Gebildeten
noch erhalten hatten. Es ist selbstverständlich, dass eine gleichmässig durchgehende Aussprache, an die sich das
Publikum allmählich gewöhnt, das Verständnis bedeutend erleichtert. Jede Ungleichmässigkeit in dieser Beziehung
ist aber auch für das ästhetische Gefühl beleidigend, wenn sie nicht zur Charakterisierung dienen soll. Gerade aber

212
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

weil der Dialekt etwas Charakterisierendes hat, muss er vermieden werden, wo die Charakterisierung nicht
hingehört. Indem nun verschiedene dialektische Nuanzierungen mit einander um die Herrschaft kämpften, bevor
[407 Gesprochene Sprache als Norm.] es zu einer Einigung kam, konnte es geschehen, dass, wenn auch vielleicht im
ganzen die eine überwog, doch in diesem oder jenem Punkte einer andern nachgegeben wurde. Massgebend für die
Entscheidung musste dabei auch das Streben nach möglichster Deutlichkeit sein. Dies Streben musste aber auch zu
einer Entfernung von der Umgangssprache überhaupt führen. Diejenigen Lautgestaltungen, welche in dieser nur
dann angewendet werden, wenn man sich besonderer Deutlichkeit befleissigt, wurden in der Bühnensprache zu den
regelmässigen erhoben. Es wurden insbesondere die unter dem Einflusse des Satzgefüges oder auch der
Wortzusammensetzung entstandenen, von Assimilation oder von Abschwächung in Folge der geringen Tonstärke
betroffenen Formen, nach Möglichkeit wieder ausgestossen und durch die in isolierter Stellung übliche Lautgestalt
ersetzt. Es wurde mehrfach auf die Schreibung zurückgegriffen, wo die Aussprache schon abweichend geworden
war. Gerade in diesen Eigenheiten, welche durch das Bedürfnis nach klarer Verständlichkeit für einen grossen
Zuhörerkreis veranlasst sind, kann übrigens die Bühnensprache nie absolutes Muster für die Umgangssprache
werden. In dieser würde das gleiche angespannte Streben nach Deutlichkeit als Affektation erscheinen.

Durch die Bühne wird also für die Lautverhältnisse eine festere Norm geschaffen als durch die Umgangssprache
eines bestimmten Bezirkes. Aber auf die lautliche Seite beschränkt sich auch ihr regelnder Einfluss. Im übrigen wird
ihr die Sprache von den Dichtern oktroyiert, und sie kann nach den andern Seiten hin nicht ebenso tätig eingreifen
wie die Umgangssprache.

Die Übereinstimmung, welche in der Sprache desjenigen Kreises besteht, der als Autorität gilt, kann natürlich
niemals eine absolute sein. Sie geht in einer Umgangssprache nicht leicht über dasjenige Mass hinaus, welches in
der auf natürlichem Wege erwachsenen Mundart eines engen Bezirkes besteht. In einer künstlichen Bühnensprache
kann man allerdings noch etwas weiter kommen. Und wie die Normalsprache nicht frei von Schwankungen ist, so
unterliegt sie auch allmählicher Wandlung wie sonst eine Mundart. Denn sie hat keine anderen Lebensbedingungen
wie diese. Wenn auch die Norm einem weiteren Kreise sich als etwas von ihm Unabhängiges gegenüberstellen
kann, so kann sie dies nicht ebenso dem engeren massgebenden Kreise, muss vielmehr naturgemäss durch die
Sprechtätigkeit desselben allmählich verschoben werden. Dies würde selbst geschehen, wenn dieser engere Kreis
sich ganz unabhängig von den Einflüssen des weiteren halten könnte. Es ist aber gar nicht denkbar, dass er bei dem
ununterbrochenen Wechselverkehre stets nur gebend, niemals empfangend sein sollte. Und auf diese Weise wird
doch auch die Gemeinsprache durch [408 Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.] die Gesamtheit der
Sprachgenossen bestimmt, nur dass der Anteil, den die Einzelnen dabei haben, ein sehr verschiedener ist.

§ 288. Die andere Norm der Gemeinsprache, welche mit Hilfe der Niederschrift geschaffen ist, bietet manche
erhebliche Vorteile. Erst durch schriftliche Fixierung wird die Norm unabhängig von den sprechenden Individuen,
kann sie unverändert auch den folgenden Generationen überliefert werden. Sie kann ferner auch ohne direkten
Verkehr verbreitet werden. Sie hat endlich, soweit sie nur wieder die niedergeschriebene Sprache beeinflussen soll,
ein sehr viel leichteres Spiel, weil um sich nach ihr zu richten es nicht nötig ist sein Bewegungsgefühl neu
einzuüben, wie man es tun muss um sich eine fremde Aussprache anzueignen. Dagegen hat sie anderseits den
Nachteil, dass sie für Abweichungen in der Aussprache noch einen sehr weiten Spielraum lässt, wie aus unseren
Ausführungen in Kapitel XXI erhellt, daher als Muster für diese nur schlecht zu gebrauchen ist.

Für die Regelung der Schriftsprache im eigentlichen Sinne ist es jedenfalls möglich den Gebrauch bestimmter
Schriftsteller, bestimmte Grammatiken und Wörterbücher als allein massgebende Muster hinzustellen und sich für
immer daran zu halten. Das geschieht z. B., wenn die Neulateiner die Ciceronianische Schreibweise wiederzugeben
trachten. Aber schon an diesem Beispiele kann man wahrnehmen, dass es auch da, wo ein ganz bestimmtes Muster
klar vor Augen steht, schwer möglich ist etwas demselben ganz Adäquates hervorzubringen. Es gehört dazu, dass
man sich mit dem Muster ununterbrochen vollkommen vertraut erhält, und dass man sich ängstlich bemüht alle
anderen Einflüsse von sich fern zu halten. Wem es noch am besten gelingt, der erreicht es nur durch eine
Selbstbeschränkung in der Mitteilung seiner Gedanken, durch Aufopferung aller Individualität und zugleich auf
Kosten der Genauigkeit und Klarheit des Ausdrucks. Wie reich auch der Gedankenkreis eines Schriftstellers sein
mag, so wird doch selbst derjenige, der mit ihm der gleichen Bildungsepoche angehört, in ihm nicht für alles das,
was er selbst zu sagen hat, die entsprechenden Darstellungsmittel finden; viel weniger noch wird es ein späterer,
wenn die Kulturverhältnisse sich verändert haben.

Eine Schriftsprache, die dem praktischen Bedürfnisse dienen soll muss sich gerade wie die lebendige Mundart mit
der Zeit verändern. Wenn sie auch zunächst auf dem Usus eines Schriftstellers oder eines bestimmten Kreises von
Schriftstellern beruht, so darf sie doch nicht für alle Zeiten an diesem Muster unbedingt festhalten, darf sich zumal
nicht exklusiv gegen Ergänzungen verhalten, wo das Muster nicht ausreicht. Der Einzelne darf nicht mehr bei allem,
was er schreibt, das Muster vor Augen haben, sondern er muss wie in der Mundart die [409 Schriftsprache als

213
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Norm.] Sprachmittel unbewusst handhaben mit einem sicheren Vertrauen auf sein eigenes Gefühl, er muss eben
dadurch einen gewissen schöpferischen Anteil an der Sprache haben, und durch das, was er schafft, auf die übrigen
wirken. Der Sprachgebrauch der Gegenwart muss neben den alten Mustern, wo nicht ausschliesslich zur Norm
werden. So verhält es sich mit dem Latein des Mittelalters. Indem die Humanisten die lebendige Entwickelung der
lateinischen Sprache abschnitten und die antiken Muster wieder zu ausschliesslicher Geltung brachten, versetzten sie
eben damit ganz wider ihre Absicht der lateinischen Weltliteratur den Todesstoss, machten sie unfähig fortan noch
den allgemeinen Bedürfnissen des wissenschaftlichen und geschäftlichen Verkehrs zu dienen.

Indem sich eine Schriftsprache von den ursprünglichen Mustern emanzipiert, ist es allerdings unvermeidlich, dass
sie an Gleichmässigkeit einbüsst, dass zwischen den Einzelnen mannigfache Abweichungen entstehen. Aber ein
Zerfallen in verschiedene räumlich getrennte Dialekte, wie es in solchem Falle bei der gesprochenen Sprache
unvermeidlich ist, braucht darum doch nicht einzutreten. Eine, und zwar die wichtigste Quelle der dialektischen
Differenzierung fällt in der Schriftsprache ganz weg, nämlich der Lautwandel. Flexion, Wortbildung,
Wortbedeutung, Syntax bleiben allerdings der Veränderung und damit der Differenzierung ausgesetzt, aber auch
diese in einem geringeren Grade als in der gesprochenen Mundart. Eine Hauptveranlassung zu Veränderungen auf
diesem Gebiete ist ja, wie wir gesehen haben, der Mangel an Kongruenz zwischen den Gruppierungsverhältnissen,
die auf der Lautgestaltung und denen, die auf der Bedeutung beruhen. Von diesem Mangel ist ja natürlich auch die
Schriftsprache in ihrer ursprünglichen Fixierung nicht frei, aber es werden in ihr nicht wie in der gesprochenen
Mundart durch den Lautwandel fortwährend neue Inkongruenzen hervorgerufen, und es werden nicht die
verschiedenen Gebiete durch eine abweichende Lautentwickelung in verschiedene Disposition zur Analogiebildung
gesetzt. Es ist daher zu Veränderungen in den Bildungsgesetzen für Flexion und Wortbildung sehr viel weniger
Veranlassung gegeben. Es treten aber nicht bloss weniger Veränderungen ein, sondern die, welche eintreten, können
sich, so lange der literarische Zusammenhang nicht unterbrochen wird, leicht über das ganze Gebiet verbreiten. Wo
sie nicht die nötige Macht dazu besitzen, werden sie in der Regel auch in dem beschränkten Gebiete, in dem sie sich
etwa festgesetzt haben, übermächtigen Einflüssen weichen müssen. Am wenigsten wird die Einheit der Sprache
gefährdet sein, wenn die alten Muster neben den neuen immer eine gewisse Autorität behaupten, wenn sie viel
gelesen werden, wenn aus ihnen Regeln abstrahiert werden, [410 Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.]
die allgemein anerkannt werden. Erhaltung der Übereinstimmung und Anbequemung an die veränderten
Kulturverhältnisse sind am besten zu vereinigen, wenn man sich in der Syntax und noch mehr in der Formenbildung
möglichst an die alten Muster hält, dagegen in der Schöpfung neuer Wörter und in der Anknüpfung neuer
Bedeutungen an die alten Wörter eine gewisse Freiheit bewahrt. So verhält es sich auch im allgemeinen bei den
gebildeteren mittellateinischen Schriftstellern.

§ 289. An dem Mittel- und Neulateinischen können wir am besten das Wesen einer Gemeinsprache studieren, die
nur Schriftsprache ist.[1]) Die nationalen Gemeinsprachen dagegen sind zugleich Schrift- und Umgangssprachen. In
ihnen stehen daher auch eine schriftsprachliche und eine umgangssprachliche Norm neben einander. Es scheint
selbstverständlich, dass beide in Übereinstimmung mit einander gesetzt und fortwährend darin erhalten werden
müssen. Aber, wie wir im Kap. XXI gesehen haben, ist solche Übereinstimmung in Bezug auf die lautliche Seite im
eigentlichen Sinne gar nicht möglich, und die Verselbständigung der Schrift gegenüber der gesprochenen Rede kann
so weit gehen, dass die gegenseitige Beeinflussung fast ganz aufhört. Und gerade die Einführung einer festen Norm
begünstigt diese Verselbständigung. Es erhellt daraus, wie notwendig eine besondere Norm für die gesprochene
Sprache ist, da sich auf Grundlage der blossen Schriftform kaum eine annähernde Übereinstimmung in den
Lautverhältnissen erzielen lassen würde, eher freilich noch mit einer Orthographie wie die deutsche als mit einer
solchen wie die englische.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass zwischen Schriftsprache und Umgangssprache immer ein stilistischer Gegensatz
besteht, dessen Beseitigung gar nicht angestrebt wird. In Folge davon erhalten sich in der ersteren
Konstruktionsweisen, Wörter und Wortverbindungen, die in der letzteren ausser Gebrauch gekommen sind,
anderseits dringt in die letztere manches Neue ein, was die erstere verschmäht.

Eine absolute Übereinstimmung beider Gebiete in dem, was in ihnen als normal anerkannt wird, gibt es also nicht.
Sie sind aber auch noch abgesehen von den beiden hervorgehobenen Punkten immer von der Gefahr bedroht nach
verschiedenen Richtungen hin auseinander [411 Schrift- u. Umgangssprache. Zwischenstuf. zwischen Gemeinspr. u.
Mundart.] zu gehen. Die massgebenden Persönlichkeiten sind in beiden nur zum Teil die gleichen, und der Grad des
Einflusses, welchen der Einzelne ausübt, ist in dem einen nicht derselbe wie in dem andern. Dazu kommt in der
Schriftsprache das immer wieder erneuerte Eingreifen der älteren Schriftsteller, während in der Umgangssprache
direkt nur die lebende Generation wirkt. Um einen klaffenden Riss zu vermeiden, muss daher immer von neuem
eine Art Kompromiss zwischen beiden geschlossen werden, wobei jede der andern etwas nachgibt.

§ 290. Wir haben oben § 30 gesehen, dass wir das eigentlich Charakteristische einer Mundart im Gegensatz zu den

214
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

übrigen in den Lautverhältnissen suchen müssen. Dasselbe gilt von der Gemeinsprache im Gegensatz zu den
einzelnen Mundarten. Man darf daher eine technische Sprache oder einen poetischen Kunststil ebensowenig mit
einer Gemeinsprache wie mit einer Mundart auf gleiche Linie setzen.

§ 291. In jedem Gebiete, für welches eine gemeinsprachliche Norm besteht, zeigen sich die Sprachen der einzelnen
Individuen als sehr mannigfache Abstufungen. Zwischen denen, welche der Norm so nahe als möglich kommen,
und denen, welche die verschiedenen Mundarten am wenigsten von der Norm infiziert darstellen, gibt es viele
Vermittlungen. Dabei verwenden die meisten Individuen zwei, mitunter sogar noch mehr Sprachen, von denen die
eine der Norm, die andere der Mundart näher steht. Diese ist die zuerst in der Jugend erlernte, von Hause aus dem
Individuum natürliche, jene ist durch künstliche Bemühungen im späteren Lebensalter gewonnen. Hie und da
kommt es allerdings auch vor, dass man von Anfang an zwei nebeneinander erlernt, und durch besondere Umstände
kann mancher auch im späteren Alter veranlasst werden eine von der Norm weiter abweichende Sprache zu erlernen
und sich ihrer zu bedienen. Der Abstand zwischen den beiden Sprachen kann ein sehr verschiedener sein. Er kann so
gering sein, dass man sie im gemeinen Leben nur als etwas sorgfältigere und etwas nachlässigere Aussprache
unterscheidet; in diesem Falle stellen sich leicht auch noch wieder Abstufungen dazwischen. Es kann aber auch ein
klaffender Gegensatz bestehen. Die Grösse des Abstandes hängt natürlich sowohl davon ab, wieweit die natürliche
Sprache von der Norm absteht, als davon, wie nahe ihr die künstliche kommt. In beiden Beziehungen bestehen
grosse Verschiedenheiten. Wenn man die künstliche Sprache im gemeinen Leben schlechthin als Schriftsprache
bezeichnet, so zieht man dabei eine Menge ziemlich erheblicher lokaler und individueller Differenzen nicht in
Rechnung; wenn man die natürliche Sprache schlechthin als Mundart bezeichnet, so übersieht man bedeutende
Abstände innerhalb des gleichen engen Gebietes. Es kommen natürlich auch Individuen vor, die sich nur einer
Sprache bedienen, [412 Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.] einerseits solche, die in ihrer natürlichen
Sprache der Norm schon so nahe kommen oder zu kommen glauben, dass sie es nicht mehr für nötig halten sich
derselben durch künstliche Bemühungen noch weiter zu nähern, anderseits solche, die von den Bedürfnissen noch
unberührt sind, die zur Schöpfung und Anwendung der Gemeinsprache geführt haben.

Je weiter sich die natürliche Sprache eines Individuums von der Norm entfernt, um so mehr wird die daneben
stehende künstliche Sprache als etwas Fremdes empfunden; wir können aber auch im allgemeinen behaupten, um so
mehr Sorgfalt wird auf die Erlernung der künstlichen Sprache verwendet, um so näher kommt man darin der Norm,
namentlich in allen denjenigen Punkten, die sich schriftlich fixieren lassen. In Niederdeutschland spricht man ein
korrekteres Schriftdeutsch als in Mittel- und Oberdeutschland. Ebenso ist das sogenannte ,gut Deutsch' der Schweiz
ein sehr viel korrekteres als etwa das des benachbarten badischen oder württembergischen Gebietes, weil hier die
Stadtmundarten schon der Norm bei weitem mehr genähert sind als dort.

Wenn auf demselben Gebiete viele Abstufungen neben einander bestehen, so müssen sich diese selbstverständlich
fortwährend unter einander beeinflussen. Insbesondere muss das der Fall sein bei den beiden Stufen, die in
demselben Individuum neben einander liegen. Alle Stufen des gleichen Gebietes müssen gewisse
Eigentümlichkeiten miteinander gemein haben. Die der Norm am nächsten stehenden Stufen aus den verschiedenen
Gebieten müssen sich immer noch einigermassen analog zueinander verhalten wie die der Norm am fernsten
stehenden.

§ 292. Überall ist die schriftsprachliche Norm bestimmter, freier von Schwankungen als die umgangssprachliche.
Und noch mehr übertrifft in der wirklichen Ausübung die Schriftsprache nach dieser Seite hin auch die der Norm am
nächsten kommenden Gestaltungen der Umgangssprache. Das ist ein Satz, dessen Allgemeingültigkeit man durch
die Erfahrung bestätigt finden wird, wohin man auch blicken mag, und der sich ausserdem aus der Natur der Sache
mit Notwendigkeit ergibt. Denn erstens müssen, wie wir gesehen haben, alle feineren Unterschiede der Aussprache
in der Schrift von selbst wegfallen, und zweitens gelingt es dem Einzelnen leichter sich eine bestimmte
Schreibweise als eine von seiner bisherigen Gewohnheit abweichende Aussprache anzueignen. Es gehört daher nur
wenig unbefangene Überlegung dazu, um die Verkehrtheit gewisser Hypothesen einzusehen, die für eine frühere
Periode grössere Einheit in der gesprochenen als in der geschriebenen Sprache voraussetzen. [413 Verschiebungen
im Verhältnis der individuellen Sprachen zur Norm.]

§ 293. In dem Verhältnis der einzelnen individuellen Sprachen zur Norm finden in einem fort Verschiebungen statt.
Während dieselben einerseits von den allgemeinen Grundbedingungen der natürlichen Sprachentwickelung sich
nicht emanzipieren können und daher zu immer weiter gehender Differenzierung und damit zu immer weiterer
Entfernung von der Norm getrieben werden, bringen anderseits die künstlichen Bemühungen eine immer grössere
Annäherung an die Norm hervor. Es ist von Wichtigkeit festzuhalten, dass beide Tendenzen neben einander
wirksam sind, dass nicht etwa, wenn die letztere zu wirken anfängt, damit die Wirksamkeit der ersteren aufgehoben
ist. Die stufenweise Annäherung an die Norm können wir zum Teil direkt beobachten. Ausserdem aber finden wir
alle die Entwickelungsstufen, welche die einzelnen Individuen nach und nach durchmachen, an verschiedenen

215
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Individuen gleichzeitig nebeneinander. Suchen wir uns nun die einzelnen Vorgänge klar zu machen, mittelst deren
sich die Annäherung vollzieht.

Erstens: Es lernt ein Individuum zu der bis dahin allein angewendeten natürlichen Sprache eine der Norm näher
stehende künstliche. Das geschieht in den modernen Kulturländern meist zuerst durch den Schulunterricht, und man
lernt dann gleichzeitig die Schriftsprache im eigentlichen Sinne und eine der Schriftsprache angenäherte
Umgangssprache. Man kann aber eine künstliche Sprache auch dadurch erlernen, dass man in einen andern
Verkehrskreis, der sich schon einer der Norm näher stehenden Sprache bedient als derjenige, in dem man bisher
gelebt hat, neu eintritt, oder dass man wenigstens zu einem solchen Kreise in nähere Berührung tritt als zu der Zeit,
wo man zuerst sprechen gelernt hat. In diesem Falle braucht man eventuell gar nicht lesen und schreiben zu lernen.
Das Verhältnis des Individuums zu der neuen Sprache ist natürlich immer erst eine Zeit lang ein passives, bevor es
ein aktives wird, d. h. es lernt zunächst die Sprache verstehen und gewöhnt sich an dieselbe, bevor es sie selbst
spricht. Ein derartiges mehr oder minder intimes passives Verhältnis hat der Einzelne oft zu sehr vielen Dialekten
und Abstufungen der Umgangssprache, ohne dass er jemals von da zu einem aktiven Verhältnis übergeht. Dazu
bedarf es eben noch eines besonderen Antriebes, einer besonders energischen Einwirkung. Die Aneignung der
künstlichen Sprache ist zunächst immer eine unvollkommene, es kann allmählich zu immer grösserer
Vollkommenheit fortgeschritten werden, viele aber gelangen niemals dazu sie sicher und fehlerfrei anzuwenden.
Unter allen Umständen bleibt die früher angeeignete natürliche Sprache eines Individuums bestimmend für den
spezifischen Charakter seiner künstlichen Sprache. Auch da, wo die letztere sich am weitesten von der [414
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.] ersteren entfernt, wird sie doch nicht als eine absolut fremde
Sprache erlernt, sondern immer noch mit Beziehung auf diese, die bei der Anwendung unterstützend mitwirkt. Man
richtet sich zunächst, wie überhaupt bei der Anwendung einer jeden fremden Sprache oder Mundart, soviel als
möglich nach den Bewegungsgefühlen, auf die man einmal eingeübt ist. Die feineren lautlichen Abweichungen der
Mustersprache, die man nachzubilden strebt, bleiben unberücksichtigt. So kann es geschehen, dass, selbst wenn die
betreffende Mustersprache der gemeinschaftlichen Norm so nahe als möglich steht, bei der Nachbildung doch eine
dem ursprünglichen Dialekte gemässe Nuanzierung herauskommt. Nun aber ist weiter in Betracht zu ziehen, dass
der Einzelne in der Regel seine künstliche Sprache von Heimatsgenossen lernt, deren Sprache bereits auf der
Unterlage des nämlichen Dialektes aufgebaut ist. Soweit ferner die künstliche Sprache durch Lektüre erlernt wird,
ist ja die Unterschiebung verwandter Laute aus der eigenen Mundart ganz selbstverständlich. Aber auch Wortschatz
und Wortbedeutung, Flexion und Syntax der künstlichen Sprache bilden sich nicht bloss nach den Mustern, sondern
auch nach dem Bestande der eigenen natürlichen Sprache. Man ergänzt namentlich den Wortvorrat, den man aus der
Mustersprache übernommen hat, wo er nicht ausreicht oder nicht geläufig genug geworden ist, aus der natürlichen
Sprache, gebraucht Wörter, die man in jener niemals gehört hat oder, wenn man sie auch gehört hat, nicht zu
reproduzieren imstande sein würde, wenn sie nicht auch in dieser vorkämen. Man verfährt dabei mit einer gewissen
unbefangenen Sicherheit, weil in der Tat ein grosser oder der grössere Teil der in der natürlichen Sprache üblichen
Wörter auch in der Mustersprache vorkommt, weil man vielfach die Lücken seiner Kenntnis der letzteren auf diese
Weise ganz richtig ergänzt. Es kann dabei aber natürlich auch nicht fehlen, dass Wörter in die künstliche Sprache
hinübergenommen werden, welche die Mustersprache gar nicht oder nur in abweichender Bedeutung kennt. Wo
dasselbe Wort in der Mustersprache und in der natürlichen Sprache vorkommt, bestehen häufig Verschiedenheiten
der Lautform. Finden sich diese Verschiedenheiten gleichmässig in einer grösseren Anzahl von Wörtern, so müssen
sich in der Seele des Individuums, welches beide Sprachen nebeneinander beherrscht, Parallelreihen herstellen (z. B.
nd. water - hd. Wasser = eten - essen = laten - lassen etc.). Es entsteht in ihm ein, wenn gleich dunkles Gefühl von
dem gesetzmässigen Verhalten der Laute der einen Sprache zu denen der andern. In Folge davon vermag es Wörter,
die es nur aus seiner natürlichen Sprache kennt, richtig in den Lautstand der künstlichen Sprache zu übertragen.
Psychologisch ist der Vorgang nicht verschieden von dem, was wir als Analogiebildung bezeichnet haben. Dabei
können [415 Verschiebungen im Verhältnis der individuellen Sprache zur Norm.] durch unrichtige
Verallgemeinerung der Gültigkeit einer Proportion Fehler entstehen, wie ich z. B. von einem in niederdeutscher
Mundart aufgewachsenen Kinde gehört habe, dass es hochdeutsch redend Zeller für Teller sagte.[2]) Dergleichen
bleibt aber meist individuell und vorübergehend, da es immer wieder eine Kontrolle dagegen gibt. Anderseits aber
zeigen sich die Parallelreihen nicht immer wirksam, und es gehen auch Wörter in ihrer mundartlichen von dem
Lautstande der Mustersprache abweichenden Gestalt in die künstliche Sprache über. Übrigens verhält es sich wie
mit dem Lautlichen, so in allen übrigen Beziehungen: in der Regel ist die dem Einzelnen zunächst als Muster
dienende Umgangssprache schon durch ein Zusammenwirken der eigentlichen Normalsprache mit dem heimischen
Dialekte gestaltet.

Zweitens wirkt die künstliche Sprache auf die natürliche, indem aus ihr Wörter, hie und da auch Flexionsformen und
Konstruktionsweisen entlehnt werden. Die Wörter sind natürlich solche, welche sich auf Vorstellungskreise
beziehen, für die man sich vorzugsweise der künstlichen Sprache bedient. Sie werden wie bei der umgekehrten
Entlehnung entweder in den Lautstand der natürlichen Sprache umgesetzt oder in der Lautform der künstlichen
beibehalten. Es gibt keine einzige deutsche Mundart, die sich von einer solchen Infektion gänzlich frei gehalten
hätte, wenn auch der Grad ein sehr verschiedener ist.

216
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Drittens wird bei den Individuen, die eine künstliche und eine natürliche Sprache nebeneinander sprechen, der
Gebrauch der ersteren auf Kosten der letzteren ausgedehnt. Anfangs wird die künstliche Sprache nur da angewendet,
wo ein wirkliches Bedürfnis dazu vorhanden ist, d. h. im Verkehr mit Fremden, die einem wesentlich abweichenden
Dialektgebiete angehören. Dieser erfolgt mehr durch schriftliche als durch mündliche Mittel, es bedarf dafür mehr
einer künstlichen Schriftsprache als einer künstlichen Umgangssprache. Im Verkehr zwischen Heimatgenossen
kommt die künstliche Sprache zuerst da zur Anwendung, wo gleichzeitig auf Fremde Rücksicht genommen werden
muss. Nachdem sie sich für die Literatur und für offizielle Aktenstücke festgesetzt hat, dehnt sie sich überhaupt auf
alle schriftlichen Aufzeichnungen aus, auch die privater Natur, die nicht für fremdes Dialektgebiet bestimmt sind. Es
ist das die natürliche Konsequenz davon, dass man an den literarischen Denkmälern das Lesen und Schreiben
erlernt, infolge wovon es bequemer wird, sich an die darin herrschende Orthographie anzuschließen, als auch noch
für die eigene Mundart eine Schreibung zu erlernen oder selbst zu finden. Weiter wird die [416 Dreiundzwanzigstes
Kapitel. Die Gemeinsprache.] künstliche Sprache üblich für den an schriftliche Aufzeichnungen angelehnten
öffentlichen Vortrag, für Predigt, Unterricht etc. Erst nachdem sie in allen den erwähnten Verkehrsformen eine
ausgedehntere Anwendung gefunden hat, wird sie einem Teile des Volkes, natürlich demjenigen, der sich am
meisten in denselben bewegt, der am meisten durch Literatur, Schule etc. beeinflusst wird, so geläufig, dass sie
derselbe auch für den Privatverkehr in der Heimat zu gebrauchen anfängt, dass sie zur allgemeinen Umgangssprache
der Gebildeten wird. Erst auf dieser Entwickelungsstufe natürlich kann der Gebrauch der Mundart im Umgange für
ein Zeichen von Unbildung gelten, erst jetzt tritt die Mundart in der Wertschätzung hinter der künstlichen Sprache
zurück. In der Schweiz ist man durchgängig noch nicht soweit gelangt. In den höchstgebildeten Kreisen von Basel,
Bern oder Zürich unterhält man sich, solange man keine Rücksicht auf Fremde zu nehmen hat, in der einem jeden
von Jugend auf natürlichen Sprache und nimmt auch in den politischen Körperschaften an Reden in
Schweizerdeutsch keinen Anstoß. Wenigstens annähernd ähnliche Verhältnisse waren in Holstein, Hamburg,
Mecklenburg und anderen niederdeutschen Gegenden noch vor wenigen Dezennien zu finden. In ganz Süd- und
Mitteldeutschland erträgt man wenigstens in der Umgangssprache noch einen bedeutenden Abstand von der
eigentlichen Normalsprache. Schon die Betrachtung der noch bestehenden Verhältnisse kann lehren, wie verkehrt
die Anschauung ist, dass mit der Existenz einer künstlichen und einer natürlichen Sprache von vornherein eine
Herabwürdigung der letzteren gegenüber der ersteren verbunden sein müsste, wie verkehrt es ferner ist, nicht das
Bedürfnis, sondern das Streben durch feinere Bildung von der grossen Masse des Volkes abzustechen zum ersten
Motiv für die Erlernung und für die Schöpfung einer künstlichen Sprache zu machen. Wer dergleichen annimmt,
steckt eben noch in den Vorurteilen einer unwissenschaftlichen Schulmeisterei, die von historischer Entwickelung
nichts weiss. Die Anwendung der künstlichen Sprache im täglichen Verkehr kann in sehr verschieden abgestufter
Ausdehnung statthaben. Zunächst braucht man sie abwechselnd mit der natürlichen. Dabei macht man dann einen
Unterschied je nach dem Grade, in dem derjenige, mit dem man redet, mit der künstlichen Sprache vertraut ist und
sie selbst anwendet. Schliesslich gelangt man vielleicht dazu die natürliche Sprache gar nicht mehr anzuwenden. Es
kommen heutzutage Fälle genug vor, in denen man diese ganze Entwickelung Schritt für Schritt an einem
Individuum verfolgen kann. Man gelangt nirgends zu ausschliesslicher Anwendung der künstlichen Sprache, ohne
dass eine längere oder kürzere Periode der Doppelsprachigkeit vorangegangen wäre. [417 Annäherung der
Individualsprachen an die Norm.]

§ 294. Sind erst eine Anzahl von Individuen dazu gelangt sich der künstlichen Sprache ausschliesslich oder
überwiegend zu bedienen, so erlernt derjenige Teil des jüngeren Geschlechts, welcher vorzugsweise unter ihrem
Einflusse steht, das, was ihnen noch künstliche Sprache war, von vornherein als eine natürliche Sprache. Dass die
ältere Generation auf künstlichem Wege zu dieser Sprache gelangt ist, ist dann für ihr Wesen und ihr Fortleben in
der jüngeren Generation ganz gleichgültig. Diese verhält sich zu ihr nicht anders als die ältere Generation oder
andere Schichten des Volkes zu ihrer von der gemeinsprachigen Norm nicht beeinflussten Mundart. Man muss sich
hüten den Gegensatz zwischen künstlicher und natürlicher Sprache mit dem zwischen Gemeinsprache und Mundart
einfach zu konfundieren. Man muss sich immer klar darüber sein, ob man die verschiedenen individuellen Sprachen
nach ihrer objektiven Gestaltung mit Rücksicht auf ihre grössere oder geringere Entfernung von der
gemeinsprachlichen Norm beurteilen will oder nach dem subjektiven Verhalten des Sprechenden zu ihnen. Von
zwei Sprachen, die man von zwei verschiedenen Individuen hört, kann A der Norm näher stehen als B, und kann
darum doch A natürliche, B künstliche Sprache sein.

Wenn auf einem Gebiete ein Teil an der ursprünglichen Mundart festhält, ein anderer sich einer künstlichen
eingeführten Sprache auch für den täglichen Verkehr bedient, so gibt es natürlich eine Anzahl von Individuen, die
von frühester Kindheit einigermassen gleichmässig von beiden Gruppen beeinflusst werden, und so kann es nicht
ausbleiben, dass verschiedene Mischungen entstehen. Jede Mischung aber begünstigt das Entstehen neuer
Mischungen. Und so geschieht es, daß ein grosser Reichtum mannigfacher Abstufungen auch in der natürlichen
Sprache entsteht. In Ober- und Mitteldeutschland kann man fast überall von der der Norm am nächsten stehenden
Gestaltung bis zu der davon am weitesten abstehenden ganz allmählich gelangen, ohne dass irgendwo ein schroffer
Riss vorhanden wäre. In der Schweiz dagegen, wo die künstliche Sprache noch nicht in den täglichen Verkehr
eingedrungen ist, sich nicht in natürliche Sprache verwandelt hat, gibt es zwar eine Abstufung zwischen den

217
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Mundarten, je nachdem sie stärker oder schwächer von der Schriftsprache beeinflußt sind, aber zwischen der
Schriftsprache und der am stärksten von ihr beeinflussten Mundart besteht ein durch keine Abstufungen vermittelter
Gegensatz.

Wenn jemand von Hause aus eine der Norm näher stehende Sprache erlernt hat, so hat er natürlich kein so grosses
Bedürfnis noch eine künstliche dazu zu erlernen, als wenn er die reine Mundart seiner Heimat erlernt hätte. Er
begnügt sich daher häufig für den mündlichen Verkehr mit der Einsprachigkeit. Die Ver- [Paul, Prinzipien] [418
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.] hältnisse können ihn aber dazu drängen eine noch grössere
Annäherung an die Norm anzustreben, und dann wird er wiederum zweisprachig, und wiederum kann seine
künstliche Sprache einer folgenden Generation zur natürlichen werden, und dieser Prozess kann sich mehrmals
wiederholen.

§ 295. Wir haben uns bisher zu veranschaulichen versucht, wie sich die Verhältnisse gestalten unter der
Voraussetzung, dass schon eine allgemein anerkannte Norm für die Gemeinsprache besteht. Es bleibt uns jetzt noch
übrig zu betrachten, wie überhaupt eine solche Norm entstehen kann. Dass sie in den Gebieten, wo sie jetzt existiert,
nicht von Anfang an vorhanden gewesen sein kann, dass es vorher eine Periode gegeben haben muss, in der nur
Mundarten gleichberechtigt nebeneinander bestanden haben, dürfte jetzt wohl allgemein anerkannt sein. Aber es
scheint doch vielen Leuten schwer zu fallen, sich eine literarisch verwendete Sprache ohne Norm vorzustellen, und
die Neigung ist sehr verbreitet ihre Entstehung so weit als möglich zurückzuschieben. Ich kann darin nur eine
Nachwirkung alter Vorurteile sehen, wonach die Schriftsprache als das eigentlich allein Existenzberechtigte, die
Mundart nur als eine Verderbnis daraus aufgefasst wird. Dass überhaupt Zweifel möglich ist, liegt daran, dass uns
aus den früheren Zeiten nur Aufzeichnungen vorliegen, nicht die gesprochene Rede. Infolge davon ist Vermutungen
über die Beschaffenheit der letzteren ein weiter Spielraum gegeben. Einen Masstab für die Richtigkeit oder
Nichtigkeit dieser Vermutungen können uns bloss unsere bisher gesammelten Erfahrungen über die Bedingungen
des Sprachlebens geben. Was diesen Masstab nicht aushält, kann nicht als berechtigt anerkannt werden.

§ 296. Unter den Momenten, welche auf die Schöpfung einer Gemeinsprache hinwirken, muss natürlich, wie es
schon aus unseren bisherigen Erörterungen hervorgeht, in erster Linie das Bedürfnis in Betracht kommen. Ein
solches ist erst vorhanden, wenn die mundartliche Differenzierung so weit gegangen ist, dass sich nicht mehr alle
Glieder der Sprachgenossenschaft bequem untereinander verständigen können, und zwar dann auch nur für den
gegenseitigen Verkehr derjenigen, deren Heimatsorte weit auseinander liegen, da sich zwischen den nächsten
Nachbarn keine zu schroffen Gegensätze entwickeln. Es kann nicht leicht etwas Bedenklicheres geben, als
anzunehmen, dass sich eine Gemeinsprache zunächst innerhalb eines engeren Gebietes, das in sich noch geringe
mundartliche Differenzen aufzuweisen hat, ausgebildet und erst von da auf die ferner stehenden Gebiete verbreitet
habe. Naturgemäss ist es vielmehr, und das bestätigt auch die Erfahrung, dass eine Sprache dadurch zur
Gemeinsprache wird, dass man sie in Gebieten zum Muster nimmt, deren Mundart sich ziemlich [419 Entstehung
der Gemeinsprache.] weit davon entfernt, während kleinere Differenzen zunächst unbeachtet bleiben. Ja der
gemeinsprachliche Charakter kann dadurch eine besondere Kräftigung erhalten, dass eine Übertragung auf
entschieden fremdsprachliches Gebiet stattfindet, wie wir es an der griechischen koinê' und der lateinischen Sprache
beobachten können.

Soll demnach ein dringendes Bedürfnis vorhanden sein, so muss der Verkehr zwischen den einander ferner
liegenden Gebieten schon zu einer ziemlichen Intensität entwickelt sein, müssen bereits rege kommerzielle,
politische oder literarische Beziehungen bestehen. Von den Intensitätsverhältnissen des weiteren Verkehrs hängt es
auch zum Teil ab, wie gross das Gebiet wird, über welches die Gemeinsprache ihre Herrschaft ausdehnt. Die
Grenzen des Gebietes fallen keineswegs immer mit denjenigen zusammen, die man am zweckmässigsten ziehen
würde, wenn man bloss das Verhältnis der Mundarten zueinander berücksichtigen wollte. Wenn auf zwei
verschiedenen Sprachgebieten die mundartlichen Differenzen ungefähr gleich gross sind, so kann es doch
geschehen, dass sich auf dem einen nur eine Gemeinsprache, auf dem andern zwei, drei und mehr entwickeln. Es ist
z. B. keine Frage, dass zwischen ober- und niederdeutschen Mundarten grössere Unterschiede bestehen, als
zwischen polnischen und czechischen oder serbischen und bulgarischen, ja selbst zwischen polnischen und
serbischen. Es können zwei Gebiete mit sehr nahe verwandten Mundarten rücksichtlich der Gemeinsprachen, die
sich in ihnen festsetzen, nach verschiedenen Seiten hin auseinandergerissen werden, während zwei andere mit
einander sehr fern stehenden Mundarten die gleiche Gemeinsprache annehmen.

Wieviel auf das Bedürfnis ankommt, zeigt auch folgende Beobachtung. Es ist sehr schwer, wo nicht unmöglich,
wenn sich für ein grösseres Gebiet eine Gemeinsprache einigermassen festgesetzt hat, für einen Teil desselben eine
besondere Gemeinsprache zu schaffen. Man kann jetzt nicht mehr daran denken eine niederdeutsche oder eine
provenzalische Gemeinsprache schaffen zu wollen. Auch die Bemühungen eine besondere norwegische
Gemeinsprache zu schaffen scheitern an der bereits bestehenden Herrschaft des Dänischen. Umgekehrt ist es auch

218
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

nicht leicht eine Gemeinsprache über ein grösseres Gebiet zur Herrschaft zu bringen, wenn die einzelnen Teile
desselben bereits ihre besonderen Gemeinsprachen haben, durch die für das nächste Bedürfnis schon gesorgt ist.
Man sieht das an der Erfolglosigkeit der panslawistischen Bestrebungen. Ebenso wirkt auch eine ganz fremde
Sprache, wenn sie sich einmal für den literarischen und offiziellen Verkehr eingebürgert hat, der Bildung einer
nationalen Gemeinsprache hemmend entgegen. So sind die Bestrebungen, eine vlämische Literatursprache zu
gründen, auf grosse Schwierigkeiten ge- [420 Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.] stossen, nachdem
einmal das Französische zu feste Wurzeln geschlagen hat. In sehr ausgedehntem Masse hat das Lateinische als
Weltsprache diesen hemmenden Einfluss geübt.

§ 297. Es ist nur der direkte Verkehr, für welchen das Bedürfnis im vollen Masse vorhanden ist. Für den indirekten
besteht es häufig nicht, auch wenn die Individuen zwischen denen die Mitteilung stattfindet, sich mundartlich sehr
fern stehen. Geht die Mitteilung durch andere Individuen hindurch, deren Mundarten dazwischen liegen, so kann sie
durch mehrfache Übertragungen eine Gestalt erhalten, dass sie auch solchen leicht verständlich wird, denen sie in
der ursprünglichen Mundart nicht verständlich gewesen wäre. Eine solche Übertragung findet selbstverständlich
statt, wenn poetische Produkte mündlich von einem Orte zum andern wandern. Aber ihr unterliegen auch
aufgezeichnete Denkmäler, die durch Abschrift weiter verbreitet werden. Allerdings bleibt die Übertragung
gewöhnlich mehr oder minder unvollkommen, so dass Mischdialekte entstehen. Massenhafte Beispiele für diesen
Vorgang liefern die verschiedenen Nationalliteraturen des Mittelalters. Es ist auf diese Weise ein literarischer
Konnex zwischen Gebieten möglich, die mundartlich schon ziemlich weit voneinander abstehen, ohne die
Vermittelung einer Gemeinsprache. Ja dieses so nahe liegende Verfahren hindert geradezu, dass eine Mundart, in
der etwa hervorragende literarische Denkmäler verfasst sind, auf Grund davon einen massgebenden Einfluss
gewinnt, weil sie gar nicht mit den betreffenden Denkmälern verbreitet wird, wenigstens nicht in reiner Gestalt.
Ganz anders verhält sich die Sache, sobald die Verbreitung durch den Druck geschieht. Durch diesen wird es
möglich ein Werk in der ihm vom Drucker gegebenen Gestalt unverfälscht überallhin zu verbreiten. Und sollen
überhaupt die Vorteile des Druckes zur Geltung kommen, so muss der Druck womöglich für das ganze Sprachgebiet
genügen, und dazu gehört natürlich, dass die darin niedergelegte Sprache überall verstanden wird. Mit der
Einführung des Druckes wächst also einerseits das Bedürfnis nach einer Gemeinsprache, werden anderseits
geeignetere Mittel zur Befriedigung dieses Bedürfnisses geboten. Übrigens ist es auch erst der Druck, wodurch eine
Verbreitung der Kenntnis des Lesens und Schreibens in weiteren Kreisen möglich wird. Vor der Verwendung des
Druckes kann für die Wirksamkeit einer schriftsprachlichen Norm immer nur ein enger Kreis empfänglich gewesen
sein.

§ 298. Das Bedürfnis an sich reicht natürlich nicht aus, eine gemeinsprachliche Norm zu schaffen. Es kann auch
nicht dazu veranlassen, eine solche willkürlich zu ersinnen. So weit geht die Absichtlichkeit auch auf diesem
Gebiete nicht, wie viel grösser sie auch [421 Entstehung der Gemeinsprache.] sein mag als bei der natürlichen
Sprachentwickelung. Überall dient als Norm zunächst nicht etwas neu Geschaffenes, sondern eine von den
bestehenden Mundarten. Es wird auch nicht einmal unter diesen nach Verabredung ausgewählt. Vielmehr muss
diejenige, welche zur Norm werden soll, schon ein natürliches Übergewicht besitzen, sei es auf kommerziellem,
politischem, religiösem oder literarischem Gebiete oder auf mehreren von diesen zugleich. Die Absicht eine
Gemeinsprache zu schaffen kommt erst hinten nach, wenn die ersten Schritte dazu getan sind. Wenigstens ist es
wohl erst in ganz moderner Zeit vorgekommen, dass man ohne eine bereits vorhandene Grundlage den Plan gefasst
hat eine Gemeinsprache zu schaffen, und dann meist nicht mit günstigem Erfolge. Man hat sich dabei die
Verhältnisse anderer Sprachgebiete, die bereits eine Gemeinsprache besitzen, zum Muster genommen. Als die
Gemeinsprachen der grossen europäischen Kulturländer begründet wurden, schwebten noch keine solche Muster
vor. Man musste erst erfahren, dass es überhaupt dergleichen geben könne, ehe man danach strebte.

Bevor irgend ein Ansatz zu einer Gemeinsprache vorhanden ist, muss es natürlich eine Anzahl von Individuen
geben, welche durch die Verhältnisse veranlasst werden sich mit einer oder mit mehreren fremden Mundarten
vertraut zu machen, so dass sie dieselben leicht verstehen und teilweise auch selbst anwenden lernen. Es kann das
die Folge davon sein, dass sie in ein anderes Gebiet übergesiedelt sind oder sich vorübergehend länger darin
aufgehalten haben, oder dass sie mit Leuten, die aus fremden Gebieten herübergekommen sind, viel verkehrt haben,
oder dass sie sich viel mit schriftlichen Aufzeichnungen, die von dort ausgegangen sind, beschäftigt haben. Die auf
diese Weise angeknüpften Beziehungen können sehr mannigfach sein. Ein Angehöriger der Mundart A kann die
Mundart B, ein anderer C, ein dritter D erlernen und dabei wieder umgekehrt ein Angehöriger der Mundart B oder C
oder D die Mundart A etc. So lange sich die wechselseitigen Einflüsse der verschiedenen Mundarten einigermassen
das Gleichgewicht halten, ist kein Fortschritt möglich. Ist aber bei einer Mundart erheblich mehr Veranlassung
gegeben sie zu erlernen als bei allen übrigen, und zwar für die Angehörigen aller Mundarten, so ist sie damit zur
Gemeinsprache prädestiniert. Ihr Übergewicht zeigt sich zunächst im Verkehre zwischen den ihr angehörigen
Individuen und den Angehörigen der andern Mundarten, indem sie dabei leichter und öfter von den letzteren erlernt
wird, als deren Mundart von den ersteren, während die übrigen Mundarten untereinander mehr in einem

219
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

paritätischen Verhältnis bleiben. Der eigentlich entscheidende Schritt aber ist erst gemacht, wenn die dominierende
Mundart auch für den Verkehr zwischen Angehörigen ver- [422 Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Gemeinsprache.]
schiedener anderer Mundarten gebraucht wird. Es ergibt sich das als eine natürliche Folge davon, dass eine grössere
Menge von Individuen mit ihr vertraut ist. Denn dann ist es bequemer sich ihrer zu bedienen, sobald einmal die
heimische Mundart nicht mehr genügt, als noch eine dritte oder vierte dazu zu erlernen. Am natürlichsten bietet sie
sich dar, wenn man sich ebensowohl an diejenigen wendet, die ihr von Natur angehören, als an die übrige Nation,
wie es ja bei dem literarischen Verkehr und unter der Voraussetzung staatlicher Einheit auch bei dem politischen der
Fall ist. In dem Augenblicke, wo man sich der Zweckmässigkeit des Gebrauches einer solchen Mundart für den
weiteren Verkehr bewusst wird, beginnt auch die absichtliche Weiterleitung der Entwickelung.

§ 299. Die Mustergültigkeit eines bestimmten Dialektes ist aber in der Regel nur eine Übergangsstufe in der
Entwickelung der gemeinsprachlichen Norm. Die Nachbildungen des Musters bleiben, wie wir gesehen haben, mehr
oder minder unvollkommen. Es entstehen Mischungen zwischen dem Muster und den verschiedenen heimatlichen
Dialekten der einzelnen Individuen. Es kann kaum ausbleiben, dass auch diese Mischdialekte teilweise eine gewisse
Autorität erlangen, zumal wenn sich hervorragende Schriftsteller ihrer bedienen. Auf der andern Seite unterliegt der
ursprüngliche Musterdialekt als Dialekt stetiger Veränderung, während die Normalsprache konservativer sein muss,
sich nur durch Festhalten an den Mustern vergangener Zeiten behaupten kann. So muss allmählich der Dialekt seine
absolute Mustergültigkeit verlieren, muss mit verschiedenen abweichenden Nuancen um die Herrschaft kämpfen.

Die künstliche Sprache eines grossen Gebietes pflegt demnach in einem gewissen Entwickelungsstadium ungefähr
in demselben Grade dialektisch differenziert zu sein, wie die natürliche innerhalb einer Landschaft. Zu grösserer
Zentralisation gelangt man in der Regel nur durch Aufstellung wirklicher Regeln in mündlicher Unterweisung,
Grammatiken, Wörterbüchern, Akademieen etc. Mit welcher Bewusstheit und Absichtlichkeit aber auch eine
schriftsprachliche Norm geschaffen werden mag, niemals kann dadurch die unbeabsichtigte Entwickelung, die wir
in den vorhergehenden Kapiteln besprochen haben, zum Stillstand gebracht werden; denn sie ist unzertrennlich von
aller Sprechtätigkeit.

1. Eine ganz ausschliesslich nur in der Niederschrift lebende und sich entwickelnde Sprache ist allerdings
auch das Mittellateinische nicht. Es wurde ja auch im mündlichen Verkehre verwendet. Auf die
Entwickelung wird das aber von geringem Einflusse gewesen sein, da die Erlernung doch immer an der
Hand schriftlicher Aufzeichnungen erfolgte. Dagegen ist ein anderer ausserhalb der schriftlichen Tradition
liegender Faktor jedenfalls von grosser Bedeutung gewesen, namentlich für die Gestaltung der Syntax,
nämlich die Muttersprache der Lateinschreibenden.
2. Hebel erzählt: Das wäre nicht veil sagte der Schulz. Denn dort in Lande sagt man veil statt viel wenn man
sich hochdeutsch explizieren will.

220
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

SACHREGISTER.

(DIE ZIFFERN BEZIEHEN SICH AUF DIE PARAGRAPHEN.)

Ablaut: in onomatopoet. (Reduplikations-) Bildungen 126; im german. Verbum (Gründe für Verfall u.
Erhaltung) 146.
Abstraktionen: fälschlich realisierte 6. 11.
Adjektivum: in attributiver Verbindung bei nur indirekter Beziehung 108; Unterschied u. Übergang zwisch. Adj. u. Substant.
249-251, zwischen Adj. u. Adverb. 258.
Adnominale Bestimmungen: Entstehung u. Funktion 97; ihr psycholog. Verhältnis (Rollentausch zwischen bestimmenden u.
bestimmten Gliedern) 202.
Adverbiale Bestimmungen 98; ihr psycholog. Verhältnis 200.
Adverbium: Unterschied u. Übergang zwischen Adv. u. Adjekt. 258.
Akkusativ: Bedeutung 105; prädikativer 207.
Alphabete: Leistungsfähigkeit s. Schrift.
Ammensprache 127; 131.
Analogiebildung: Grundlage (Gruppenbildung, s. dies.) 75-78; Wirkung auf syntaktischem Gebiete 79, in Flexion und
Wortbildung 80; analogische Neubildung 81-83; Wirkung auf dem Gebiete des Lautwechsels 84. - Gibt Anlass zur Isolierung
133, und zur Reaktion dagegen 138 (s. Ausgleichung). - Einfluss der Funktionsveränderung auf die A. 159ff. - A. beruhend auf
Verschiebung in der Gruppierung etymolog. zusammenhängender Wörter 167ff. - Wirkungen auf dem Gebiete der Schrift
(Verdrängung od. Erhaltung einer älteren Schreibweise) 272.
Anomalien: momentane, infolge von Kontamination 116; usuelle 117ff.
apò koinoû 96-97. 212. 213.
Appellativa: in Eigennamen verwandelt 62. 160, aus Eigennamen entstanden 66.
Apposition: partitive 107.
Assimilationen: zwischen zwei nicht benachbarten Lauten 45.
Assoziationen: Verwandlung direkter in indirekte 8; als Grundlage der Sprechtätigkeit 12; veränderlich 13; Träger der
historischen Entwickelung 14; liefern durch Gruppenbildung (s. dies.) die Grundlage zur Analogieschöpfung 75 -78.
Attribut: prädikatives 97, in freier Anknüpfung 108: s. auch adnominale Bestimmungen.
Aufforderungssatz 93.
Ausgleichung: ein Mittel der Reaktion gegen Isolierung (Lautdifferenzierung) 138; A. zwischen Doppelformen 139; stoffliche u.
formale A. 140ff. 147; hemmende u. fördernde Umstände 142ff. (Lautliche Momente 142, Festigkeit des Zusammenhangs der
etymolog. Gruppen 143, Intensität der gedächtnismässigen Einprägung 144, formale Gruppierung 145, Zusammentreffen
lautlicher Differenzen mit Funktionsunterschieden 146f.). [424 Sachregister.]
Aussprache: Variabilität der A. als Ursache einer Verschiebung des Bewegungsgefühles 37; Verhältnis zur Schrift s. dies.
Bedeutung: Begriff der usuellen und okkasionellen B. 51; Unterschiede zwischen beiden 52; mehrfache B. desselben Wortes 54;
Mittel zur Erzeugung konkreten Sinnes 55; okkasionelle Spezialisierung 50-60; Verwandlung okkasioneller in usuelle
Bedeutung 61. - Verschiebung in dem Verhältnis der verschied. Bedeutungen desselben Wortes 172.
Bedeutungswandel: Grundlage (Verhältnis von usueller und okkasione]ler Bedeutung, s. Bedeutung) 51-61; B. durch
Spezialisierung der Bedeutung 62-63, durch Beschränkung auf einen Teil des Vorstellungsinhalts 64-69, durch Übertragung auf
das räumlich, zeitlich oder kausal mit dem Grundbegriff Verknüpfte 70, durch andere Modifikationen (Übertreibung, Litotes,
Entwertung, Ironie) 71; Kombinationen verschiedener Arten des B. 72; B. in Wortgruppen und Sätzen 73; B. und
Kulturentwicklung 74. - B. auf syntaktischem Gebiete 103-109. - Einfluss auf die Konstruktion 165.
Bewegungsgefühl: Begriff 32; Inhalt und Grad der Bewusstheit der einzelnen Momente 33-36, Verschiebung des B. und ihre
Ursachen 37-39; Kontrolle durch das Lautbild 40; Einfluss der Verkehrsgemeinschaft 41-42; Übertragung auf die jüngere
Generation 43-44.
Bequemlichkeit als Ursache einer Vorschiebung des Bewegungsgefühls 38.
Bühnensprache als Norm für eine Gemeinsprache 287.
Consecutio temporum 217.
Derbheiten 71.
Dialekte (s. auch Sprachspaltung): Entstehung 22ff.; Grenzen und Gruppierung 26-28; Grundlage für die Entwickelung
selbständiger Sprachen 29; charakteristische Merkmale 30; Verhältnis zur Gemeinsprache 31. 290ff. - Dialektmischung 284.
Differenzierung: a) Lautdifferenzierung, s. Isolierung u. Ausgleichung; scheinbare L. zum Zwecke der
Bedeutungsdifferenzierung 175ff. b) Bedeutungsdifferenzierung 173ff., bei ursprüngl. totaler Gleichheit der Bedeutung 176-
177, bei partieller Gleichheit 178, auf syntakt. Gebiete 179. c) Phonet. u. unphonet. Diff. zur Beseitigung des Schwankens
zwischen gleichartigen Lautzeichen 271.
Dissimilationen: zwischen zwei nicht aneinander angrenzenden gleichen Lauten 45.
Doppelformen: Ausgleichung dazwischen 139; durch Bedeutungswandel differenziert 176ff.
Eigennamen: Entstehung aus Appellativen 62. 160; Übergang in Appellativa 66.

221
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Eingliedrigkeit: scheinbare, der Sätze 90 -91.


Ellipse 218ff.
Entwertung ehrender Bezeichnungen 71.
Euphemismus 71.
Flexionsendungen: s. Suffixe.
Flexionsformen: erstarrte 164.
Fragesatz 94.
Funktionsveränderung: Einfluss auf Analogiebildung 159ff.
Gemeinsprache: eine ideale Norm 286, bestimmt durch die gesprochene Sprache (Umgangsspr.) 287 u. die Schriftsprache 288. -
Zwischenstufen zwischen G. u. Mundarten (künstl. u. natürl. Sprache) 290ff. (Verhältnis zu den Dialekten auch 31). -
Verschiebungen im Verhältnis der individuellen Sprachen zur Gemeinspr. 293f. - Entstehung der G. 295-299.
Genitiv: Bedeutung 104; isolierte Genitive im Deutschen 135; Verselbständigung 203.
Genus verbi: Entstehung des Aktivs u. Passivs 193; Wechsel zwischen aktiver [425 Sachregister.] u. passiver Bedeutung bei den
Nominalformen des Verb. 194; Bildung des Pass. (Übergang vom Med. zum Pass.) 195.
Geschlecht (der Substantiva): Entstehung des grammat. Geschl. 181; Geschlechtswandel 182-183; Entstehung u. Verwendung
des Neutr. 184.
Grammatik: historische, deskriptive, vergleichende Gr. 11; Verhältnis zur Logik 21.
Gruppenbildung: 1. durch Assoziationen: stoffliche und formale Gruppen 75; Proportionengruppen (stoffl.-formale u. etymolog.-
lautliche) u. syntakt. Gruppen 76ff. - Zerstörung der G., s. Isolierung. - 2. durch Unterschiede tilgenden Lautwandel (s. dies.)
148ff. - Verschiebung in der Gruppierung etymolog. zusammenhängender Wörter 167ff.
Hypotaxe 100. 102.
Impersonalia 91.
Indirekte Rede 100.
Infinitiv: Loslösung des abhängigen Satzgliedes davon 205; Accus. cum inf. 207; nominaler u. verbaler Charakter 257.
Interjektionen 126. 246.
Ironie 71.
Isolierung: Ursache 132f.; I. durch Zerstörung der etymolog.-lautl. Gruppen 134, der syntakt. Gruppen 135, der stofflichen und
formalen Gruppen durch Bedeutungs- und Lautwandel 136-137; Reaktion gegen I. durch Ausgleichung (s. dies.) 138ff. -
Syntakt., formale u. lautliche I. als Ursache der Entstehung eines Kompositums aus einer Wortgruppe 229-239.
Kategorie: psychologische u. grammatische 180-195; s. auch Geschlecht, Numerus, Tempus, Genus verbi.
Komposition: Verschiebung der Beziehungen in der K. 171. - K. ein Mittel zur Bildung etymologischer Gruppen 225. -
Entstehung aus der syntakt. Aneinanderreihung ursprüngl. selbständiger Elemente und Ursachen dafür (Isolierung) 226ff. - Arten
der K.: kopulative Verbindungen 230; Verbindung eines Subst. mit Bestimmung 231-234, eines Verb. mit Adverb.,
Objektsakkusat. od. präposit. Bestimmung 235. - Komplexe nach Art einer K. 236. - Koordination von Kompositionsglied und
selbständigem Wort 237. - Grenzen der K. 239.
Kongruenz: Ausgangspunkt für Entstehung 214; Ausbreitung u. Schwanken 215-216; Grundlagen der K. des Verb. in Person u.
Numerus, des Nomens, des Tempus, des Modus 217.
Konjunktionen: Bedeutungswandel 109; bei prädikat. Attribut 119; als Verbindungsglied zwischen Haupt- und Nebensatz 211;
Unterschied u. Übergang zwisch. Konj. u. Präpos. 259-261. Konstruktionsmischungen: durch Kontamination 118.
Konstruktionswechsel: durch Bedeutungswandel 165, durch Umdeutung der Verbindung 166.
Kontamination: Begriff 110; in der Lautgestaltung 111-115 (von Synonymen ohne etymolog. Verwandtschaft 111 - bei
etymolog. Verwandtschaft 112, von Formen desselben Paradigmas aus verschied. Wurzeln 113, von bedeutungsverwandten
Wörtern 114, von formalen Gruppen [Bildungselementen] 115); auf syntakt. Gebiet 116-121.
Kontinuität der Laute eines Wortes 34.
Kopula: ein Verbindungswort 206; Kongruenz der K. 216.
Kulturwissenschaft: spekulative Betrachtungsweise 2; erfordert Kenntnis des Zusammenwirkens psychischer und physischer
Faktoren 4; ist Gesellschaftswissenschaft 5.
Lautbild: Grad der Bewusstheit 34-36; als Kontrolle gegen eine Verschiebung des Bewegungsgefühls 40.
Lautgesetze: Konsequenz der L. 46-50.
Lautsubstitution: bei Entlehnung fremder Wörter 277. [426 Sachregister.]
Lautsymbolik 128.
Lautwandel: Vorgänge bei der Hervorbringung der Lautkomplexe als Grundlage des L. 32; infolge einer Verschiebung des
Bewegungsgefühls 33 -44; ohne Verschiebung des Bewegungsgefühls 45. - L. tilgt vorhandene Unterschiede a) auf stoffl. Gebiet
148ff.; b) auf formalem Gebiet bei funktioneller Gleichheit 153-155, bei funkt. Verschiedenheit 156-158.
Lautwechsel: Begriff 46; L. durch Analogiebildung 84.
Lehnwörter: Veranlassung zur Entlehnung fremder Wörter und Grade der Üblichkeit 277; Veränderungen nach der Aufnahme
(Assimilation) 278; verschiedene Lautform infolge mehrfacher, zeitl. verschiedener Entlehnung oder nachträglicher Angleichung
an das Original 279 oder infolge Entlehnung aus mehreren Sprachen 280. - Entlehnung aus einer älteren Sprachstufe 285. -
Entlehnung von Suffixen s. dies.
Litotes 71.
Logik: Rücksichtnahme auf die L. bei der Sprachbetrachtung 21.

222
 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Luxus in der Sprache: Ursachen der Entstehung 173; Beseitigung des L. durch Untergang d. mehrfachen Formen 174 u. durch
Bedeutungsdifferenzierung 175ff.
Metapher 68-69.
Metathesis 45.
Negationen: unlogische 120.
Negative Sätze 92.
Nomen: Unterschied u. Übergang zwisch. Nomen u. Verbum 252-257; N. agentis 253; N. actionis 256.
Numerus (der Substantiva): Entstehung der grammat. Kategorie u. Störungen in der Auffassung 185; der N. bei abstraktem
Gebrauch eines Wortes 186; der Singular in der Funktion einer absoluten Form 187f.
Objekt 98.
Onomatopoetische Neuschöpfungen 125 -128.
Orthographie: s. Schrift.
Parataxe 101; Übergang zur Hypotaxe 102.
Pars pro toto 70.
Partizipialkonstruktionen 109.
Partizipium: in attribut. Verbindung bei nur indirekter Beziehung 108; nominaler und verbaler Charakter 254.
Pleonasmus: von Bildungselementen 115, in syntakt. Verhältnissen 121.
Prädikat: psycholog. u. grammat. 87-88, 197ff.
Präfixe: Entstehung 240.
Präpositionen: Rektion 106, zur Einleitung von Nebensätzen 119; im Deutschen ohne Artikel beim Subst. 135; Entwickelung
aus Adverbien (Loslösung des Kasus von der Pr.) 204; Unterschied u. Übergang zwisch. Präpos. u. Konjunktion 259-261.
Prinzipienwissenschaft: Begriff (Verhältnis zu den Gesetzes und Geschichtswissenschaften) 1; Wert für Resultate und Methode
historischer Forschung 2; ihre Aufgaben für die Kulturwissenschaft 4-5; Verhältnis zu der sogenannten Völkerpsychologie 6;
ihre Aufgaben für die Sprachgeschichte 17.
Redeteile: Gesichtspunkte für ihre Scheidung (Bedeutung an sich, Funktion im Satzgefüge, Verhalten inbezug auf Flexion und
Wortbildung) 244-247; Beurteilung der üblichen Einteilung 248; Unterschied u. Übergänge zwisch. den einzelnen Redeteilen:
Subst. u. Adj. 249-251, Nomen u. Verbum 252 -257, Adj. u. Adverb. 258, Präposit. u. Konjunkt. 259-261.
Reduplikation: in onomatopoet. Bildungen 126; beim Verbum 146.
Relativsatz: Verselbständigung 210.
Satz: Definition 85; Teile des S. 87-88; konkrete und abstrakte Bedeutung der Sätze 89; scheinbare Eingliedrigkeit 90-91; Arten
der Sätze 92-94; »erweiterter« Satz 95-99; »zusammengesetzter« Satz 100-102. - s. syntakt. Gliederung.
Satzbildung: Mittel der S. 86. [427 Sachregister.]
Satzglieder: koordinierte 95-97.
Satzteile: s. Satz; - Widerspruch zwisch. ihrem psychol. u. grammat. Verhältnis 197-202 (Subj. u. Präd. 197-199, adverb.
Bestimmungen 200, attribut. Bestimmungen 202).
Schrift: Vorzüge gegenüber der gesprochenen Rede inbezug auf Wirkungsfähigkeit 262; Unzulänglichkeit inbezug auf die
adäquate Bezeichnung der gesprochenen Laute in den einzelnen Sprachen 263-266 und der mundartlich. Verschiedenheiten 267;
Verselbständigung gegenüber der Aussprache 269, und Entwickelung zu grösserer Konstanz 270 durch Beseitigung des
Schwankens zwisch. mehreren Schreibweisen 271, durch Berücksichtigung der Etymologie 272, durch Festhalten an der
Überlieferung den Lautveränderungen zum Trotz 272f.
Schriftsprache: eine Norm für die Gemeinsprache 288; Gegensätze zur Umgangssprache 289ff.
Sparsamkeit im Ausdruck: Bedeutung der Ellipse 218; Ergänzung aus dem Vorhergehenden od. Folgenden 219ff.; Fehlen von
Mittelgliedern 221; Ergänzung aus der Situation 222-224.
Sprachbeschreibung: Schwierigkeit der S. 15.
Sprache: Entstehung der S., s. Urschöpfung; tierische und menschliche S. 131.
Spracherlernung 18.
Sprachmischung: Begriff im engeren u. weiteren Sinne 274; Zweisprachigkeit 275. - Spr. geschieht 1. durch Aufnahme fremden
Materials 276-282 (s. Lehnwörter), 2. durch Beeinflussung der inneren Sprachform 283. - Dialektmischung 284.
Sprachschöpfung: ist Werk eines Individuums, geschieht unbewusst, gleichmässig in den verschiedenen Individuen 9.
Sprachspaltung: Analogieen zur Entwickelung der organischen Natur 22; Ausgleichung und Differenzierung 23-25; Entstehung
selbständiger Sprachen 29.
Sprachusus: Verschiebung des S., s. Sprachveränderung.
Sprachveränderung: Ursache 16-18; Arten 19.
Sprachwissenschaft: Verhältnis zu der Kulturwissenschaft und den historischen Naturwissenschaften 3; Streit über die Methode
3; Unterschied von andern Kulturwissenschaften 9; erfordert geschichtliche Betrachtung der Sprache 10; Gegenstand der S. 11-
12.
Sprechkunststücke 45.
Subjekt: psychologisches u. grammatisches 87-88. 198; in okkasioneller Beziehung zum Verbum 108.
Substantivum: Unterschied u. Übergang zwisch. Subst. u. Adjekt. 249-251; s. auch Nomen.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

Suffixe: Entstehung der Ableitungs- und Flexionssuffixe aus Kompositionsgliedern 240-242. - Aus Elementen des Wortstammes
entstandene Flexionsendungen 147. - Verschmelzung von Suffixen 170. - Pleonastische Verbindung einheimischer Suffixe mit
entlehnten 281; analog. Neubildungen mit entlehnten Ableitungs- und Flexionssuffixen 282.
Syntaktische Gliederung: Verschiebung darin beruht 1. im einfachen Satze auf dem Widerspruch zwischen psychol. und
grammat. Verhältnis der Satzteile u. seiner Ausgleichung 196-202, auf der usuell gewordenen Entwickelung eines nur logischen
Verhältnisses zu einem grammatischen (Auseinanderreissung des grammat. Zusammengehörigen) 203-206, auf Verwandlung
indirekter Beziehungen in direkte 207 -208; 2. im zusammengesetzten Satze auf Verselbständigung des abhängigen Satzes u.
Umkehrung des Verhältnisses von Haupt- und Nebensatz 209-210, auf Durchbrechung der Grenzen zwisch. Haupt- und
Nebensatz 211-213.
Tempus (des Verbums): Ausbildung der grammat. Kategorie 189; Verhältnisse vor der Ausbildung 190; sekundäre Momente für
die Bedeutung der gram- [428 Sachregister.] mat. Tempora 191; Zusammenhang zwischen modalen u. temporalen Verhältnissen
192. - Kongruenz des T., s. consecutio temporum.
Tonempfindung, s. Bewegungsgefühl.
Übertreibungen 71.
Umlaut 146. 147.
Unbewusstes in der Seele 12.
Unbewusstheit der sprachschöpferischen Tätigkeit 9.
Ungenauigkeit: bei Rückbeziehung infolge von Kontamination 117.
Urschöpfung 19; 122, 131.
Ursprung der Sprache 20.
Verbindungswörter: Begriff u. Entstehung 206.
Verdeutlichung: durch Zusammensetzung 152.
Verkehr: Einfluss auf die Individualsprache und die Dialektbildung (ausgleichende u. differenzierende Wirkung) 22-25, auf die
Bildung einer Gemeinsprache 296f.
Vernersches Gesetz 134. 140. 142. 143. 147.
Versprechen 81.
Völkerpsychologie: Kritik des Begriffes 6-7.
Volksetymologie 150f.
Vorstellungen: unübertragbar, auf physischem Wege vermittelt 8.
Vorstellungsgruppen: s. Assoziationen.
Wechselwirkung: zwischen den Seelen der Individuen geschieht auf physischem Wege 7-8.
Wortbildung 225ff. (s. Komposition).
Worteinheit: aus syntakt. Verbindungen entstandene 163.
Wortklasse: Übertritt in eine andere Wortkl. durch Funktionsveränderung 162.
Zusammenfall: lautlicher, etymologisch unverwandter Wörter durch Lautwandel 149.

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 HERMANN PAUL. PRINZIPIEN DER SPRACHGESCHICHTE 

VERZEICHNIS VON ABKÜRZUNGEN.

Andr. Volkset.
Andresen, Über deutsche Volksetymologie. Vierte Auflage. Heilbronn 1883.
Andr. Spr.
Andresen, Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit im Deutschen. Dritte Auflage. Heilbronn 1883.
Delbrück SF.
Delbrück, Syntaktische Forschungen.
Delbrück, Syntax
Delbrück, Vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen, Strassburg 1893ff.
Diez
Diez, Grammatik der romanischen Sprachen. Vierte Auflage. Draeg. oder Draeger
Draeger, Historische Syntax der lateinischen Sprache. Zweite Auflage.
DWb.
Deutsches Wörterbuch von Jac. ud Wilh. Grimm.
Goe.
Goethe.
IF
Indogermanische Forschungen.
Kruszewski
N. Kruszewski, Prinzipien der Sprachentwickelung (Techmers Zschr. f. Sprachwissenschaft I, 295ff.).
Le.
Lessing.
Lu.
Luther.
Madvig, Kl. Schr.
Madvig, Kleine Schriften.
Mätzner engl.
Mätzner, Englische Grammatik. Zweite Auflage.
Mätzner franz.
Mätzner, Syntax der neufranzösischen Sprache.
Michaelis
Caroline Michaelis, Romanische Wortschöpfung.
Morph. Unt.
Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen von Osthoff und
Brugmann.
Schi.
Schiller.
Sh.
Shakespeare.
Simonyi
Simonyi, Die ungarische Sprache. Strassburg 1907. Steinthal, Haupttyp. oder Typen
Steinthal, Charakteristik der Haupttypen des menschlichen Sprachbaus.
Wegener
Wegener, Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens, Halle 1885.
Wundt
Wundt, Völkerpsychologie. Erster Band. Die Sprache. Zweite Auflage. Leipzig 1904.
Ziemer
Ziemer, Junggrammatische Streifzüge im Gebiete der Syntax. Kolberg 1882.
Ziemer, Comp.
Ziemer, Vergleichende Syntax der indogermanischen Comparation, Berlin 1884. Zschr. f. Völkerps.
Zeitschrift für Völkerpsychologie, herausg. von Lazarus und Steinthal.

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