Gefühle Lesen - Wie Sie Emotionen Erkennen Und Richtig Interpretieren (PDFDrive)
Gefühle Lesen - Wie Sie Emotionen Erkennen Und Richtig Interpretieren (PDFDrive)
Gefühle lesen
Wie Sie Emotionen erkennen
und richtig interpretieren
2. Auflage
Second Holt Paperbacks Edition 2007 bei Henry Holt and Company, LLC: Emotions
Revealed. Recognizing Faces and Feelings to Improve Communication and Emotional Life
Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Kuhlmann-Krieg und Matthias Reiss
(Kapitel10)
10 11 12 13 14 5 4 3
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verla
ges unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-8274-2568-3
Für Bert Boothe, Steve Foote, Lynne Huffman,
Steve Hyman, Marty Katz, Steve Koslow,
Jack Maser, Molly Oliveri, Betty Pickett,
Eli Rubinstein, Stan Schneider, Joy Schulterbrandt,
Hussain Tuma und Lou Wienckowski
vom National Institute of Mental Health
und für
Danksagung XI
Einleitung XIII
4. Emotionales Verhalten 74
�achwort 353
Anmerkungen 358
Bildnachweise 37 7
Index 37 9
Vorwort zur zweiten Auflage
* www. http://face.paulekman.com/default.aspx
Danksagung
Von all dem, was ich in den letzten 40 Jahren über Gefühle
gelernt habe, ist in dieses Buch alles eingeflossen, was mir zur
Verbesserung des persönlichen emotionalen Lebens nützlich
erscheint. Ein Großteil des hier Berichteten ist durch eigene
wissenschaftliche Experimente oder die Untersuchungen an
derer Emotionsforscher untermauert, aber nicht alles. Ich
habe meine Forschungen insbesondere darauf konzentriert,
den Niederschlag von Emotionen im Gesichtsausdruck zu
lesen und zu messen. Mit diesen Kenntnissen war ich in der
Lage, auf den Gesichtern von Freunden, Fremden und Fa
milienmitgliedern Feinheiten zu erkennen, die so gut wie je
dem anderen entgehen; so habe ich eine ganze Menge mehr
gelernt, als ich bisher durch Experimente wissenschaftlich
überprüfen konnte. Wenn das, was ich schreibe, einzig und
allein auf meinen Beobachtungen beruht, mache ich das durch
Formulierungen wie "ich habe beobachtet", "ich glaube", und
"mir scheint" kenntlich. Gründen sich meine Aussagen auf
wissenschaftliche Experimente, zitiere ich die Forschung, auf
die ich mich berufe, in den Anmerkungen.
Vieles von dem, was ich im vorliegenden Buch niederge
schrieben habe, ist durch meine Untersuchungen zur Mimik
in verschiedenen Kulturen beeinflusst. Die Erkenntnisse aus
diesen Studien haben meine Sicht der Psychologie im Allge
meinen und der von Emotionen im Besonderen auf immer
verändert. Meine an so unterschiedlichen Orten wie Papua
Neuguinea, den USA, Brasilien, Argentinien, Indonesien und
der ehemaligen Sowjetunion gewonnen Befunde haben mich
ganz eigene Vorstellungen vom Wesen der Gefühle entwi
ckeln lassen.
Am Beginn meiner Forschung, Ende der Fünfzigerjahre,
hat mich Mimik überhaupt nicht interessiert. Damals hatten
2 Gefühle lesen
* Ich fand letztlich genau das Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte. Das ist
der Idealfall. I n der Verhaltensforschung sind E rgebnisse glaubwürdiger, wenn
sie den Erwartungen des Wissenschaftlers zuwiderlaufen, als wenn sie diese be
stätigen. In den meisten anderen Wissenschaftszweigen ist das Gegenteil der Fall:
Man schenkt einem B efund mehr Glauben, wenn man ihn vorhergesagt hat. Das
l iegt daran, dass aufgrund der dort herrschenden Tradition alle Ergebnisse durch
die Wiederholung von Experimenten durch andere Wissenschaftler überprüft
werden und so eventueller Voreingenommenheit oder I rrtümern wirksam begeg
net wird. In der Verhaltensforschung gibt es diese Tradition leider nicht. Experi
mente werden nur selten wiederholt, sowohl von dem, der sie durchgeführt hat,
als auch von anderen. Ohne diesen Sicherheitsanker aber sind Verhaltensforscher
anfälliger dafür, unfreiwillig nur das zu finden, was sie zu finden hoffen.
1 . Emotionen quer durch die Kulturen 5
hatte, uns erz ählt hatte. Die Anga hatten mehrmals australi
sche Beamte angegriffen, die versucht hatten, dort einen Re
gierungsposten aufrechtzuerhalten. B ei ihren Nachbarn
waren sie für ihr finsteres Misstrauen bekannt. Und die Män
ner lebten bis zum Tag der Hochzeit in homosexuellen Be
ziehungen. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl- Eibesfeldt
musste wenige Jahre später bei dem Versuch, mit ihnen zu
arbeiten, um sein Leben laufen.
Nach dieser Zusammenkunft beschloss ich, mich dem Stu
dium des Gesichtsausdrucks zu verschreiben. Ich wollte nach
Neuguinea gehen und versuchen, Beweise für das zu finden,
was mir zu diesem Z eitpunkt zur Gewissheit geworden
war - dass zumindest ein Teil unserer Gefühlsmimik univer
sal ist. Und ich wollte eine objektive Methode erarbeiten, mit
der sich Gesichtsbewegungen messen ließen, sodass j eder
Wissenschaftler obj ektiv nachvollziehen könnte, was Silvan
und mir so klar ins Auge stach.
Ende 1967 begab ich mich ins südöstliche Bergland von
Neuguinea, um die Kultur der Fore zu studieren, eines Vol
kes, das auf einer Höhe von knapp 2 500 Metern in verstreu
ten kleinen Dörfern lebt. Ich beherrschte die Sprache der Fore
nicht, aber mit der Hilfe einiger Jungen, die in einer Missions
schule Pidginenglisch gelernt hatten, konnte ich vom Engli
sehen über Pidgin zum Fore radebrechen und wieder zurück.
Ich hatte Aufnahmen von Gesichtsausdrücken mitgebracht,
in erster Linie jene, die mir Silvan für meine Untersuchun
gen an alphabetisierten Kulturen überlassen hatte, Kulturen
also, die des Lesens und Schreibens m ächtig waren (auf Sei
te 13 finden sich drei Beispiele) . Außerdem hatte ich Foto
grafien von ein paar Angehörigen der Fore dabei, die ich aus
dem Filmmaterial herauskopiert hatte, weil ich fürchtete, sie
könnten Probleme damit haben, den Gesichtsausdruck von
Weißen zu deuten. Ich hatte sogar Sorge, sie könnten womög
lich grunds ätzlich außerstande sein, überhaupt etwas mit Fo
tografien anzufangen, hatten sie doch so etwas nie zuvor
gesehen. In der Vergangenheit hatten einige Anthropologen
10 Gefühle lesen
* Trotz all dieser Vorsicht unsererseits behauptete 1 5 Jahre später dennoch ein
Anhänger der These, emotionales Ausdrucksverhalten sei erlernt und nicht an
geboren, dass wir unseren Versuchspersonen auf i rgendeine Weise ein Signal
gegeben haben müssten, welches Bild sie zu wählen hätten. Er wusste nicht wie,
aber er war einfach davon überzeugt, wei l er seinen Standpunkt, das Ausdrucks
verhalten sei kulturspezilisch, nicht aufgeben konnte.
1 . Emotionen quer durch die Kulturen 15
Freude Trauer
Zorn E kel
* Als ich vor 30 Jahren erstmals etwas über diese automatischen Bewertungs
mechanismen schrieb, habe ich nicht genauer gesagt, welche Sinne daran womög
lich beteiligt sein könnten. Wahrscheinlich kann es jeder unserer Sinne sein: Sehen,
Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken. Ich nehme zwar an, dass dem Sehen eine
besondere Bedeutung zukommt, doch das spiegelt vielleicht nur meine persönl i
c h e Neigung wider. I c h w a r mein Leben lang überaus empfänglich f ü r d a s , was
ich sah, mein Interesse an Gefühlen begann ja damit, dass mich Gesichtsausdrücke
so besonders faszinierten. Im Folgenden sollten wir davon ausgehen, dass j edes
Sinnesorgan die automatischen Bewertungsmechanismen mit I n formationen ver
sorgen kann.
30 Gefühle lesen
das zutrifft, dann dürfte die Evolution wohl auch eine wich
tige Rolle bei der Festlegung der universalen Themen gespielt
haben, durch die Gefühle ausgelöst werden. Die Themen sind
angelegt, nicht erworben; lediglich die Variationen, Ausfor
mungen und Durchfü hrungen des Themas werden er
lernt. 10
Ohne Zweifel hat die natürliche Selektion viele Aspekte
unseres Lebens geformt. Denken Sie nur an das Primatenmerk
mal des opponierbaren Daumens. Bei den meisten anderen
Tieren findet sich diese Eigenschaft nicht, wie also ist der
Mensch daran gekommen? Vermutlich waren diejenigen un
ter unseren Vorfahren, die in ferner Vergangenheit zufällig
durch genetische Variation mit diesem nützlichen Merkmal
zur Welt gekommen waren, erfolgreicher bei der Produktion
und Aufzucht ihres Nachwuchses und im Umgang mit Räu
bern und Beute. Also haben sie den folgenden Generationen
mehr Nachwuchs hinterlassen, bis im Laufe der Zeit schließ
lich beinahe jeder über dieses Merkmal verfügte. Das Vor
handensein eines opponierbaren Daumens wurde selektiert,
und jetzt ist es Teil unseres genetischen Erbes.
In ganz ähnlichem Sinne würde ich davon ausgehen, dass
diejenigen, die auf eine Störung ihres Handeins mit heftigen
Versuchen zur B eendigung dieser Störung reagierten und
dabei ihre Absichten klar signalisierten, mit größerer Wahr
scheinlichkeit einen Konkurrenzkampf gewannen, gleich
gültig, ob dabei um Nahrung oder einen Partner gestritten
wurde. Sie hatten höchstwahrscheinlich mehr Nachkommen,
und im Laufe der Zeit trug schließlich jeder das Zornthema
in sich.
Die beiden Erklärungen für die Existenz von universalen
Themen - artkonstantes Lernen und Evolution - machen
unterschiedliche Aussagen darüber, wann bestimmte Dinge
passieren beziehungsweise passiert sind. Die evolutionäre Er
klärung verweist auf unsere fernste Vergangenheit als den
Zeitpunkt, zu dem die Emotionsthemen (und andere Aspek
te unserer Emotionen, die ich in späteren Kapiteln erläute -
38 Gefühle lesen
* E. 0. Wilson hat die Angst vor Sch langen in einer Weise diskutiert, die sich
mit der, die ich hier darstelle, sehr gut deckt. Er bezieht sein Konzept zwar nicht
ausdrücklich auf Emotionen, aber es stimmt unzweifelhaft mit dem, was ich zum
Vorhandensein einer Emotionsdatenbank gesagt habe, überein (vergleiche sein
Buch Die Einheit des Wissens, München, 1 9 9 8 , hier insbesondere die Seiten 1 7 1 -
174) .
40 Gefühle lesen
* Nach meinen Gesprächen mit seiner Heiligkeit dem Dalai Lama über das, was
er als destruktive Emotionen bezeichnet, und über den Versuch, sich mithilfe bud
dhistischer Praktiken von ihnen zu befreien, habe ich den Eindruck gewonnen,
dass das von ihm und anderen in dieser Hinsicht Erreichte letztlich ein Ersetzen
automatischer Bewertungsmechanismen durch reflektierte ist. Nach vielen Jah
ren des Übens scheint es möglich, dass man in den meisten F ä llen die Wahl hat,
nicht emotional zu reagieren, oder wenn doch, dann so zu handeln und zu reden,
dass man anderen damit keinen Schaden zufügt. Ich hoffe, in den kommenden
Jahren herausfinden zu können, wie das möglich wird, und ob es andere Mittel
gibt, es in kürzerer Zeit zu erreichen.
46 Gefühle lesen
Lächeln, sondern nur für das, was sich bei meinen früheren
Untersuchungen als echter Ausdruck von Freude erwiesen
hatte (siehe Kapitel 9 ) .22
Wir hatten die Menschen bei diesen Untersuchungen ge
beten, bestimmte Gesichtsbewegungen zu imitieren, aber ich
glaube, wir hätte dieselben Ergebnisse erzielt, wenn sie für
jedes Gefühl die entsprechenden Stimmlaute hätten produ
zieren müssen. Für die meisten Menschen ist es allerdings
weit schwieriger, den stimmlichen Ausdruck einer Emotion
zu erzeugen als den entsprechenden Gesichtsausdruck. Eine
Frau fanden wir immerhin, die dazu in der Lage war, und bei
ihr waren die Ergebnisse von Mimik und stimmlichem (vo
kalen) Ausdruck gleich.
Emotionales Erleben von sich aus anzustoßen, die eigene
Physiologie zu verändern, indem man vors ätzlich das Er
scheinungsbild eines Gefühls kreiert, ist sicher nicht die
geläufigste Art, wie Menschen Gefühle erleben. Dennoch
kommt es womöglich sehr viel häufiger vor, als wir zunächst
annehmen würden. Dem Dichter Edgar Allan Poe war es be
kannt; er schrieb darüber in seiner Erz ählung Der entwendete
Brief:
Wenn ich herausbekommen möchte, wie klug oder wie dumm, wie
gut oder wie böse einer ist, oder was ihm im Augenblick so durch
den Kopf geht, dann passe ich meinen Gesichtsausdruck so genau
wie möglich dem seinen an und warte bloß ab, was für Gedanken
oder Gefühle nun mir im Kopfe oder Herzen aufsteigen, gleichsam
in Übereinstimmung, als passendes Gegenstück zu dem Aus
druck.
gen können. Emotionen können uns den Zugriff auf all das
verwehren, was wir wissen, auf Informationen, die wir sonst
sofort abrufbereit hätten, die uns aber unzugänglich bleiben,
solange das Gefühl besteht. Wenn uns ein unangebrachtes
Gefühl beherrscht, deuten wir das Geschehen so, dass es mit
diesem Gefühl im Einklang steht, und ignorieren unser Wis
sen, das nicht mit ihm übereinstimmt.
Emotionen ä ndern unsere Sicht der Welt und unsere
Interpretation des Handeins anderer. Wir versuchen nicht in
Frage zu stellen, warum wir ein bestimmtes Gefühl empfin
den, vielmehr bemühen wir uns, es zu bestätigen. Wir be
werten das Geschehen in einer Weise, die mit dem bestehen
den Gefühl konsistent ist; so rechtfertigen und erhalten wir
es. In vielen Situationen kann uns das helfen, unsere Auf
merksamkeit zu fokussieren und die Entscheidung zu steu
ern, wie wir auf das anstehende Problem reagieren und wie
wir bewerten sollen, was auf dem Spiel steht. Aber es kann
uns auch in Schwierigkeiten bringen, weil wir, wenn wir von
einem Gefühl überwältigt sind, bereits erworbenes Wissen,
das unser Gefühl ins Wanken bringen könnte, vergessen oder
missachten und neue Informationen aus unserer Umwelt, die
nicht zu unser augenblicklichen Gefühlslage passen, ignorie
ren. Mit anderen Worten: Derselbe Mechanismus, der unsere
Aufmerksamkeit lenkt und zentriert, kann unsere Fähigkeit
untergraben, mit neuen Informationen einerseits und mit be
reits in unserem Gehirn gespeichertem Wissen andererseits
angemessen umzugehen.*
Angenommen, jemand schäumt vor Wut, weil man ihn in
aller Ö ffentlichkeit erniedrigt hat. Während seines Zorns
wird es ihm nicht leicht fallen zu beurteilen, ob das, was ge
sagt wurde, tats ächlich als Angriff gemeint war. Bereits vor-
* Das hier Beschriebene deckt sich in vielem mit der Darstellung des Psycholo
gen Jerry Fodor, wie Information "verkapselt" werden kann. Er meint damit die
Tatsache, dass Information, die nicht zur aktuellen Weltsicht eines Menschen passt,
Information, die der Betreffende gespeichert hat und kennt, phasenweise unzu
gänglich wird.
56 Gefühle lesen
würden - ist uns von Nutzen. Es warnt andere und uns selbst,
wenn uns etwas gegen den Strich geht. Eine solche Warnung
kann Veränderungen herbeiführen, manchmal erzeugt sie
aber auch auf der anderen Seite nur Ärger. Aus Zorn erwächst
oft der Versuch, die Welt zu ändern, sich für soziale Gerech
tigkeit einzusetzen, für die Menschenrechte zu kämpfen.
Würden wir diesen Antrieb tats ächlich eliminieren wol
len ? Wäre das Leben wirklich lebenswert ohne Erregung,
ohne die Befriedigung unserer Sinne, ohne den Stolz auf un
sere Leistungen und die unseres Nachwuchses, ohne Freude
an den vielen seltsamen und unerwarteten Dingen, die im
Leben passieren? Emotionen sind kein Blinddarm, kein
rudimentärer Apparat aus lä ngst vergangenen Zeiten, den
wir nicht brauchen und daher entfernen sollten. Emotionen
sind der Mittelpunkt unseres Lebens. Sie machen es lebens
wert.
Statt Emotionen komplett abzuschalten, hätten die meis
ten von uns gerne die Fähigkeit, die emotionale Reaktion auf
spezielle Auslöser selektiv ausschalten zu können. Wir hätte
gerne eine "Entfernen"-Taste, um einen speziellen Auslöser
oder eine Kombination von Auslösern, ein Schema oder eine
Sorge, die in unserer emotionalen Alarmdatenbank gespei
chert sind, zu löschen. Leider gibt es keinerlei überzeugende
Hinweise darauf, dass so etwas möglich ist.
Einer der herausragendsten Hirn- und Emotionsforscher,
der Psychologe Joseph LeDoux, schrieb, » ... dass das kondi
tionierte Furchtlernen besonders unverwüstlich ist und viel
leicht sogar eine vollkommen unauslöschliche Form des
Lernens darstellt. 3 ... Die Unauslöschlichkeit der erlernten
Furcht hat Vor- und Nachteile. Natürlich ist es sehr nützlich,
dass unser Gehirn sich Reize und Situationen merken kann,
die einmal mit Gefahr verbunden waren. Aber diese mäch
tigen Erinnerungen, die unter traumatischen Umständen ent
stehen, können sich auch in den Alltag drängen und in
Situationen hineinplatzen, in denen sie nicht sonderlich hilf
reich sind ...« 4
3. Können wir beeinflussen, was uns emotional werden lässt? 61
* Nicht alles j edoch, was uns emotional reagieren l ä sst, ist das Ergebnis einer
Konditionierung. Frijda weist darauf hin, dass manche emotionalen Stimuli >>we
nig mit Erfahrungen zu tun haben, bei denen ein bestimmter Reiz von abschre
ckenden oder angenehmen Konsequenzen begleitet war<<. Emotionen resultieren
oft aus >>fi ktiven Konsequenzen oder Ursachen ... Der Verlust eines Arbeitsplat
zes, das Ertragenmüssen von Kritik, die subjektive Wahrnehmung von Anzeichen
der Vernach l ä ssigung oder Geringschätzung, Lob und beobachtete Normverstö
ße [Handlungen, die gegen unsere liebgewonnenen Werte verstoßen] , all diese
Begebenheiten werden mehr oder minder indirekt mit dem jeweiligen unangeneh
men oder angenehmen Zustand verknüpft, den sie irgendwie signalisieren und der
ihnen emotionale Lebendigkeit einhaucht«. Ich sehe darin alle möglichen Varia
tionen zu den universalen Emotionsthemen, manche davon allerdings in einiger
maßen entfernter Beziehung.
3. Können wir beeinflussen, was uns emotional werden lässt? 63
* Wir könnten herausfinden, was von beidem tats ä chlich der Fall ist, indem wir
ihre physiologischen Parameter bei einem solchen Ereignis messen, aber für mei
ne Aussage ist dies nicht von Belang.
64 Gefühle lesen
für den Auslöser, auch ohne dass die Erfahrung von großer
Dichte war oder unablä ssig wiederholt wurde.
Ein sechster Faktor ist der cif.fektive 7jp, dem die betreffen
de Person zuzurechnen ist? Wir alle unterscheiden uns in Ge
schwindigkeit und Intensität unserer emotionalen Reaktion
und in der Zeit, die wir brauchen, um uns von einem emoti
onalen Erlebnis zu erholen. Mit dieser Frage haben sich mei
ne Untersuchungen in den letzten zehn Jahren befasst. (Im
Resumee werden neben Geschwindigkeit, Stärke und Dauer
vier weitere Aspekte beschrieben, die den affektiven Typ ei
nes Menschen bestimmen.) Menschen, die generell rascher
und intensiver emotional reagieren, haben es sehr viel schwe
rer, einen brisanten Auslöser zu entschärfen.
Lassen Sie uns nun darüber nachdenken, wie Tim daran
gehen könnte, den Auslöser für seine Reaktion in seiner Wirk
samkeit abzuschwächen. Im ersten Schritt sollte er sich da- -
rüber klar werden, was genau ihn so ärgerlich macht. Vielleicht
weiß er nicht, dass Sticheleien einer dominanten Person für
ihn einen extrem wirksamen Wutauslöser darstellen. Die au
tomatischen Bewertungsmechanismen operieren im Bereich
von Millisekunden, bevor das Bewusstsein tätig wird, wo
möglich bevor ihm klar wird, was ihn so aufregt. Vielleicht
weiß er, dass es H änseleien sind, nicht aber, dass die durch
jemanden erfolgen müssen, der eine gewisse Macht über ihn
hat. Vielleicht realisiert er auch nicht, dass es hier eine Verknüp
fung zu seiner Kindheitserfahrung der erbarmungslosen vä
terlichen Neckereien gibt. Möglicherweise ist Tim extrem
defensiv eingestellt, nicht bereit zu akzeptieren, dass er wütend
wird oder der Tatsache ins Auge zu sehen, dass sein Vater
grausam war. Zunächst einmal muss er erkennen, dass er zor
nig ist, er muss die Empfindungen in seinem Körper zur
Kenntnis nehmen (Anregungen, wie das zu bewerkstelligen
ist, gebe ich in Kapitel 6 zum Thema Zorn) , und er muss die
Wirkung verstehen, die er auf andere Menschen hat.
Angenommen, Tim beginnt zu realisieren, dass er zuwei
len über Gebühr zornig wird, weiß aber nicht warum. Sein
3. Können wir beeinflussen, was uns emotional werden lässt? 69
Sie haben einen Termin bei Ihrem Chef. Sie wissen nicht, wo
rum es geht, kennen die Agenda nicht und haben nicht um
das Treffen gebeten. Die Sekretärin Ihres Chefs hat Ihnen
bei der Terminabsprache nur gesagt, es sei "sehr wichtig".
Wie Sie reagieren - ob Sie ängstlich verärgert oder traurig
dreinblicken, ob Sie Haltung bewahren oder ob Sie zu unbe
teiligt scheinen, was immer Sie sagen oder tun -, kann für
den Ausgang dieser Begegnung von entscheidender Bedeu
tung sein. Vertrauen Sie Ihren emotionalen Reaktionen, oder,
wenn es sein muss, Ihrer Fähigkeit, diese zu kontrollieren?
Oder würden Sie sich vorher Mut antrinken oder vielleicht
ein Beruhigungsmittel nehmen?
Es ist schwer, nicht emotional zu reagieren, wenn viel auf
dem Spiel steht, also eben dann, wenn wir am leichtesten zu
heftigen Emotionen neigen. Unser Gefühl ist oftmals unser
verl ä sslichster Ratgeber und l ä sst uns genau das tun und
sagen, was der j eweiligen Situation angemessen ist, aber bei
niemandem ist das immer so. B ei mancher Gelegenheit
wünschten wir uns, wir h ätten nicht unter dem Einfluss un
serer Gefühle gehandelt oder geredet. Aber wenn es möglich
wäre, dass wir unsere Emotionen einen Augenblick lang völ
lig abschalteten, würde womöglich alles nur schlimmer, denn
die Menschen um uns herum müssten annehmen, wir seien
unbeteiligt oder sogar unmenschlich.* Unsere Emotionen zu
durchleben, sich mit dem, was geschieht, auseinanderzuset
zen und dabei ein Verhalten an den Tag zu legen, das weder
* Eine Ausnahme gibt es. Wenn ein anderer Mensch uns oder anderen nach dem
Leben trachtet, dann haben wir in unserem Zorn unter Umständen das Recht, der
Person, von der die Bedrohung ausgeht, Schaden zuzufügen, wenn es keine andere
Möglichkeit gibt zu verhindern, dass jemand verletzt wird. Nach einigem Zögern
schloss sich auch der Dalai Lama dieser Auffassung an.
76 Gefühle lesen
* Das ist ein ernsthaftes Problem bei jeder Art von Lügendetektor. Polygraphen
anwender versuchen die Befürchtung einer unschuldigen Person, fälschlicherwei
se eines Vergehens bezichtigt zu werden, zu beschwichtigen, indem sie auf die
Zuverl ä ssigkeit des Apparats verweisen; er ist aber nicht besonders zuverl ässig,
und da die Leute das zunehmend zu erfahren bekommen, kann es durchaus sein,
dass sich bei Unschuldigen dieselbe Angst manifestiert wie bei Schuldigen.
4. Emotionales Verhalten 83
sie hier nur deshalb beschrieben, weil sie uns Aufschluss da
rüber geben, mit was für einem Gefühl wir es jeweils zu tun
haben. Genau wie Mimik und Stimme erfolgen auch sie un
willkürlich, sind aber vermutlich wesentlich leichter zu un
terdrücken. Genau wie Mimik und Stimme sind auch sie
universal und angeboren, müssen also nicht erlernt werden.
Alles andere, was wir tun, wenn wir emotional reagieren,
ist erlernt und nicht angelegt und höchstwahrscheinlich kul
tur- oder gar persönlichkeitsspezifisch. Solche erlernten Ges
ten und Handlungen sind ebenso wie die Wörter, die wir
sprechen, ein Produkt unserer immerwährenden, lebenslan
gen Erfahrung und Bewertung dessen, was bei der Ausein
andersetzung mit diesem oder jenem Emotionsauslöser und
bei der Bewältigung eines emotionalen Erlebnisses funktio
niert und was nicht. Handlungen, die sich mit den in uns an
gelegten automatisierten Aktionen vereinbaren lassen, lernen
wir leichter und rascher. Bei Angst eignen wir uns beispiels
weise leichter ein Handlungsmuster an, das einem physischen
oder psychischen Rückzug gleichkommt, als eines, das einem
Angriff entspricht. Aber für jede Emotion lä sst sich jedes be
liebige physische Handlungsmuster etablieren. Einmal erlernt
laufen diese Handlungsmuster automatisch ab, geradeso als
wären sie tats ächlich angelegt.
Wir können willentlich Einfluss nehmen und unsere Re
flexe und Impulse verdrängen, sie durch ganz andere Aktionen
ersetzen oder auch ersatzlos streichen. Diese Einflussnahme
kann ebenfalls automatisiert werden und wird dann nicht ,
mehr willentlich ausgeübt, sondern von einer erworbenen
Gewohnheit diktiert. Der Mann, der sich abkapselt und kei
ne Miene verzieht, tut dies vermutlich ohne nachzudenken
und nicht aus einer bewussten Entscheidung heraus. Ob vor
s ätzlich oder von einer eingefleischten Gewohnheit diktiert,
den Ausdruck von Emotionen und emotionales Handeln zu
beeinflussen, kann ausgesprochen schwierig sein, wenn das
Gefühl sehr intensiv ist. Den meisten Menschen wird es den
noch leichter fallen, eine Handlung zu unterdrücken, als jed-
4. Emotionales Verhalten 89
* Es gibt auch neurochemische Veränderungen. Obschon diese viele der von mir
diskutierten Eigenschaften haben, will ich sie hier nicht behandeln.
94 Gefühle lesen
weiß man, dass sich die Reizschwelle für das Auslösen von
Reaktionen im autonomen Nervensystem radikal ändern lässt.
Als man beispielsweise Frauen, die in ihrer Kindheit miss
braucht oder misshandelt worden waren, aufforderte, vor ei
ner Gruppe von Zuhörern zu sprechen - eine Aufgabe, vor
der es manchen Leuten graut -, produzierten diese mehr
Stresshormone als die Frauen einer Gruppe von glückliche
ren Versuchspersonen. 1 8
Affektprogramme umfassen mehr als nur das, was unsere
evolutionäre Vergangenheit festgeschrieben hat, weil es un
seren Vorfahren dienlich war. Sie enthalten auch das, was sich
für uns in unserem eigenen Leben bei den wichtigsten For
men des Austausches mit anderen - den emotionalen näm
lieh - als nützlich erwiesen hat. Das initiale Regulationsmus
ter, das mit j eder unserer Emotionen assoziiert ist, variiert
von einer Person zur nächsten; seine Beschaffenheit hängt
davon ab, was der oder die Betreffende früh im Leben gelernt
hat. Auch das wird den Affektprogrammen hinzugefügt, und
einmal darin aufgenommen, läuft es genauso automatisch ab,
als sei es durch die Evolution vorgegeben worden, und wird
immun gegen Veränderungen. Und schließlich werden auch
Verhaltensmuster ins Affektprogramm aufgenommen, die
wir im Verlauf unseres Lebens für den Umgang mit verschie
denen Emotionsauslösern lernen; diese können mit den vor
gegebenen kongruent sein oder auch ganz anders aussehen.
Wie bereits gesagt, laufen auch sie, einmal erlernt, automa
tisch ab.
Ich glaube nicht, dass wir die vorgegebenen Instruktionen
in unseren Affektprogrammen neuschreiben können, aber
der Beweis dafür steht noch aus. Wir können versuchen, ge
gen diese Anweisungen anzugehen, aber das erfordert unge
heure Anstrengungen, eben weil wir sie nicht zu löschen oder
zu überschreiben vermögen. (Eine Ausnahme bilden Verlet
zungen des Gehirns , die solche Instruktionen sch ädigen
können.) Wenn wir in der Lage wären, die Instruktionen zu
überschreiben, dann müssten wir auch hin und wieder
4. Emotionales Verhalten 97
Tomkins ist sogar der Ansicht, dass ein Weg zum Verständ
nis der Unverwechselbarkeit einer Persönlichkeit darin be
steht, herauszufinden, ob j emand z u charakteristischen
Gefühlsverknüpfungen neigt. Seiner Ansicht nach sind wir
uns überdies oftmals nicht unserer ursprünglichen, primä
ren Emotion bewusst, sondern lediglich der sekund ären emo
tionalen Reaktion darauf. Wir realisieren möglicherweise nicht
die zunä chst empfundene Furcht, sondern fühlen lediglich
den Ärger in Reaktion darauf. Leider gibt es keinerlei Unter
suchungen zu diesen hoch interessanten Überlegungen.
Man sollte nicht vergessen, dass E motionen nur selten
allein, das heißt in reiner Form, vorkommen. Das, worauf wir
in unserer Umgebung reagieren, ä ndert sich oftmals sehr
rasch; an was wir uns bei einer Situation erinnern und was
wir uns vorstellen, kann sich ändern; auch unsere Bewertung
ändert sich, und wir reagieren womöglich auf ein Gefühl mit
einem weiteren. Normalerweise erleben Menschen einen ste
ten Strom von emotionalen Reaktionen, und zwar nicht stets
denselben. Manchmal sind einzelne Emotionen durch ein
paar Sekunden voneinander getrennt, sodass einige der ur
sprünglichen Emotionen abebben können, bevor neue begin
nen, und manchmal überlappen und vermischen sie sich.
Es gibt noch eine weitere sehr wichtige Frage zu beden
ken. Ich hatte erklärt, dass Affektprogramme nicht geschlos
sen, sondern offen sind. Das ganze Leben hindurch werden
unausgesetzt neue emotionale Verhaltensweisen erlernt und
den bereits vorgegebenen hinzugefügt. Diese Eigenschaft un
serer Affektprogramme macht es möglich, dass wir uns den
Lebensumständen um uns herum beliebig anpassen können.
Das ist der Grund dafür, dass unsere emotionalen Reaktionen
nicht nur von unserer evolutionären Vergangenheit geprägt
sind, sondern auch von unserer persönlichen Vergangenheit
und Gegenwart. Automobile sind kein Teil unserer evolutio
nären Vergangenheit, aber die komplexen Aktionen, die wir
nicht als Kinder, sondern als junge Erwachsene im Zusam
menhang mit ihnen erlernen, werden in unsere Angstreaktion
4. Emotionales Verhalten 101
* Meine spärlichen Erfahrungen mit Meditation und das, was ich von Freunden
und Kollegen mit viel Erfahrung in meditativen Praktiken weiß, haben mich da
von überzeugt, dass dies eine andere Möglichkeit ist, eine derartige Achtsamkeif zu
erreichen. In einer soeben begonnenen Untersuchung werde ich mehr darüber er
fahren, wie das geschieht, und die i nneren Veränderungen dokumentieren, die
sich dabei ergeben.
110 Gefühle lesen
* Eine Ausnahme bilden vielleicht Fälle, bei denen ein Kind unter einer unheil
baren Krankheit gelitten hat, oder in manchen Kulturen auch der Tod eines gera
de geborenen S ä uglings, für den die Familie nicht sorgen kann.
5. Trauer und Verzweiflung 1 19
* Der Psychologe Nico Frijda beschreibt Ä hnliches, wenn er sagt: >>Trauer tritt
oft nicht dann zutage, wenn man von Tod oder Verlust erfährt; eine solche Nach
richt besteht nur aus Worten. Trauer bricht sich oft erst Bahn, wenn man ins leere
Haus zurückkehrt.«
5. Trauer und Verzweiflung 1 23
stattgefunden hat und Zeit genug war, sich mit dem bevor
stehenden Tod auseinanderzusetzen. In solchen Fällen beo
bachtet man bei den Trauernden kaum Verzweiflung und nur
vorübergehende Traurigkeit, wenn der Tod schließlich ein
tritt. War die Beziehung überdies schwierig, womöglich mit
vielen Konflikten und beträchtlicher Unzufriedenheit belas
tet, so kann der Tod auch eine Erleichterung sein.
Tritt der Tod eines geliebten Menschen plötzlich und un
erwartet ein, ohne dass Zeit war, sich darauf einzustellen,
kommt es nicht selten vor, dass die trauernden Hinterbliebe
nen den Toten noch a m Leben wähnen. Dr. Ted Rynearson
hat sich ausführlich mit der Frage befasst, wie Menschen auf
den plötzlichen Tod einer geliebten Person reagieren; er hat
festgestellt, dass viele Trauernde Gespräche mit den Verstor
benen führen und irgendwie daran glauben, dass dieser sie
hören kann und ihnen antwortet. 2 Ist die Todesursache ein
Unfall, ein Mord oder Selbstmord, kann es Jahre dauern, bis
diese Gespräche aufhören und der Trauernde endlich voll
ständig akzeptiert, dass der Betreffende tot ist.
Einen ä hnlich intensiven Ausdruck der Trauer wie bei
Bettye Shirley kann man sogar beobachten, wenn jemand,
der mit einem furchtbaren Verlust rechnet, die gute Nach
richt empfängt, dass der verloren Geglaubte wohlauf ist. In
diesem ersten Augenblick der Erleichterung bricht sich alle
zuvor empfundene Verzweiflung schlagartig Bahn. Die vor
weggenommene, aufgestaute Trauer findet nun ihren Aus
druck. In diesem Augenblick empfindet der B etreffende
Trauer und Erleichterung zugleich. Aufgestaute Emotionen,
die aus dem einen oder anderen Grund unterdrückt worden
sind, brechen heraus, wenn die Lage sicher geworden ist, auch
wenn das Gefühl der gegenw ärtigen Situation überhaupt
nicht mehr angemessen ist.
Es gibt eine weitere mögliche, bislang jedoch noch nicht
untersuchte Erklärung dafür, dass manchmal alle Zeichen
der Verzweiflung, einschließlich der Tränen, zu beobachten
sind, wenn jemand eine zutiefst erfreuliche Nachricht emp -
1 24 Gefühle lesen
ermordet. Die Flüchtlinge, die sich auf dem Weg nach Tuzla
befanden, sahen überall am Weg die Leichen von Zivilisten.
Sie kamen an geschwärzten, noch rauchenden H äusern vor
über, die von Serben in Brand gesetzt worden waren, manch
mal während die Bewohner darin Schutz suchten. Sie sahen
die Leichen von Männern, die zu fliehen versucht hatten, von
den B äumen h ä ngen. Die Menschen auf dieser Fotografie
sind bosnische Muslime in Tuzla, einem anderen vermeint
lich sicheren Gebiet. Soeben haben sie eine Liste der Über
lebenden zu Gesicht bekommen und erfahren, dass viele -
die meisten ihrer Väter, Brüder und Ehemä nner - nicht
überlebt hatten.
Kaum j emand kann wohl dem D rang widerstehen, ein
Kind, das solche Verzweiflung zeigt, zu trösten. Der Impuls,
ihm die Hand zu reichen und zu helfen, ist Fundament allen
Sinns für Gemeinschaft. Motiviert wird dieser Impuls, zu
mindest teilweise, durch das Leid, das wir empfinden, wenn
wir einen anderen Menschen leiden sehen, insbesondere, wenn
es ein hilfloses und verzweifeltes Kind ist. Das ist eine der
Funktionen, die dieser Gesichtsausdruck hat: der Schrei nach
Beistand, die Übertragung des eigenen Leids auf andere, da
mit diese helfen. Und es ist ein gutes Gefühl, jemand ande
ren zu trösten. Jemandem beizustehen, sein Leid zu mindern,
verschafft dem Tröstenden ein positives Erlebnis.
Dieselben Gefühle - der Wunsch zu trösten und zu helfen
haben sich vermutlich in Ihnen geregt, als sie den Ausdruck
auf Bettye Shirleys Gesicht gesehen haben, möglicherweise
allerdings nicht ganz so stark. Die meisten von uns verspüren
weniger Hemmungen, ein fremdes Kind zu trösten als einen
fremden Erwachsenen, auch wenn dessen Leid unübersehbar
ist. Der Soziologe Erving Goffman hat beobachtet, dass es
wenige Schranken gibt, die uns hindern, fremde Kinder zu
berühren: sie zu trösten, wenn sie Kummer haben, sie spie
lerisch zu tätscheln, wenn sie an einem vorbei gehen. (Er
schrieb dies in den Sechzigerjahren, als Pädophilie noch nicht
in einem derartigen Ausmaß Anlass zur Sorge gab.)
1 28 Gefühle lesen
* Ihre Ursachen und ihr EinAuss auf unser Leben wären zwei andere Möglichkei
ten der Unterscheidung zwischen Emotionen, Stimmungen, emotionalen Persön
lichkeitsmerkmalen und emotionalen Störungen ; diese sollen uns hier aber nicht
interessieren.
1 32 Gefühle lesen
Leid Bettye Shirleys und des kleinen Jungen nicht kalt, sie
veranlassen Sie, helfen zu wollen. Bettye Shirley durchlebt
die schlimmste Tragödie, die Eltern widerfahren kann, der
kleine Junge die größte Angst, die ein Kind haben kann.
Die meisten Menschen werden, wenn sie Bettyes Aufnah
me betrachten oder sich über die Übungen für Erinnerung
und Gesichtsmuskeln dem Gefühl nähern, Traurigkeit emp
finden, nicht aber Verzweiflung. Wird das Gefühl extrem
stark oder hält es lange an, wandelt es sich unter Umständen
in Verzweiflung. Wenn Sie mit diesen Empfindungen besser
vertraut werden und sich vergegenwärtigen, wie sie sich an
fühlen, besteht eine größere Chance, dass Sie sie schon im
Entstehen bemerken und dass Ihnen bewusst wird, wenn Sie
im Begriff sind, eine Verlusterfahrung zu machen.
Ich habe hier nur die häufigsten Empfindungen beschrie
ben, die sich im Verlauf des Gefühls von Trauer - des The
mas, wenn Sie so wollen - einstellen, aber j eder Mensch
empfindet individuelle Varianten der Trauer oder jeder belie
bigen anderen Emotion. Die meisten von uns glauben, dass
alle Menschen Emotionen auf dieselbe Art und Weise füh
len wie wir selbst oder dass diese Form die einzig richtige ist.
Aber Menschen unterscheiden sich sehr darin, wie bereitwil
lig sie Traurigkeit aufkommen lassen, wie rasch der Übergang
von Trauer zu Verzweiflung und wieder zurück erfolgt und
wie lange traurige Gefühle bei ihnen anhalten. Das Wissen,
wie man selbst reagiert und wie man sich von den Menschen
unterscheidet, an denen einem etwas liegt, kann helfen, mög
liche Missverständnisse und Kommunikationsfehler in Be
zug auf diese Emotion zu umgehen.
Manche Menschen können das Gefühl der Traurigkeit ge
nießen, wenn auch sicher keine so intensive Trauer wie j ene,
die Bettye Shirley erlebt. Solche Menschen lesen Romane, die
auf die Tränendrüse drücken, gehen in Kinoschnulzen, von
denen es heißt, sie seien "traurig schön", und schauen ent
sprechende Fernsehsendungen. Und es gibt einige wenige
Menschen, die eine extreme Abneigung gegen Trauer und
1 38 Gefühle lesen
vor vier Jahren aufgenommen habe. Ich bat sie damals nicht,
ein bestimmtes Gefühl darzustellen; vielmehr machte ich ihr
vor, welche spezifischen Gesichtsmuskeln sie bewegen soll
te. Ich habe Tausende von Aufnahmen gemacht, um genau
die zu erhalten, an denen ich erkl ären konnte, wie die subti
len Veränderungen im Ausdruck zustande kommen. Ich habe
(mit Ausnahme weniger Bilder von mir in anderen Kapiteln)
stets nur eine Person als Modell genommen, damit Sie nicht
durch individuelle Merkmale der betrachteten Person abge
lenkt werden und sich auf die Veränderungen im mimischen
Ausdruck konzentrieren können.
Ich will mit den Augen beginnen - mit Augenlidern und
Augenbrauen. Bild B zeigt eine neutrale, unemotionale Miene;
so können Sie Eves Gesicht, wie es ohne Emotion aussieht,
A B c
(neutral)
D E
1 44 Gefühle lesen
F G
H
1 46 Gefühle lesen
schauen Menschen auch nach unten, wenn sie lesen oder müde
sind, aber wenn sich dieses Attribut zu den traurigen Augen
brauen addiert, ist die Botschaft eindeutig.
Die Augenbrauen bilden sehr wichtige, extrem zuverl ä s
sige Hinweise auf Traurigkeit. Sie sind i n dieser Stellung nur
selten anzutreffen, wenn nicht tats ächlich Trauer -empfun
den wird, denn nur wenige Leute können diese Bewegung
vorsätzlich vollführen. Es gibt Ausnahmen: Sowohl bei Woo
dy Allen als auch bei Jim Carrey ist sie oft zu sehen. Während
die meisten Menschen ihre Rede durch das Hochziehen oder
Senken der Augenbrauen zu unterstreichen pflegen, verwen
den diese beiden Schauspieler häufig die Traueraugenbraue,
um ein Wort zu betonen. Es lä sst sie mitfühlend, warmher
zig und freundlich erscheinen, was aber kein echtes Abbild
dessen sein muss, was sie fühlen. Bei Leuten, die ihren Wor
ten auch mit dem Hochziehen der Braueninnenseiten Aus
druck verleihen, hat diese Bewegung nicht viel z u sagen, für
j eden anderen aber ist sie ein wichtiges Signal für Traurig
keit.
Richten wir nun unser Augenmerk darauf, wie sich der
Mund beim mimischen Ausdruck der Trauer verändert. Foto
K zeigt nur leicht heruntergezogene Mundwinkel, in L ist die
Bewegung stärker, in M noch einmal verstärkt. Dies ist ein
weiteres Anzeichen für einen sehr leichten Anflug von Trau
rigkeit, das aber auch auftreten kann, wenn jemand versucht
zu kontrollieren, wie viel Trauer er nach außen zeigt. In Bild
K L M
5. Trauer und Verzweiflung 1 47
N 0 p
1 48 Gefühle lesen
Q R s
ten L ächeln. Decken Sie den Mund mit der Hand ab, und
schon sehen Sie, dass sie traurig aussieht. Bedecken Sie die
Augenbrauen, wirkt sie fröhlich. Ein solcher Ausdruck kommt
bei bittersüßen Erfahrungen vor - beispielsweise der Erin
nerung an einen schönen Moment, in die sich Traurigkeit
mischt, weil dieser unwiederbringlich vorüber ist. Er kann
auch auftreten, wenn jemand versucht, seine Traurigkeit mit
einem Lächeln zu überspielen oder zu verbergen. Bild R zeigt
eine Mischung aus Angst und Trauer - Trauer in den Augen
brauen, Angst in den weit aufgerissenen Augen. Decken Sie
auch hier mit der Hand zuerst die Augenbrauen ab, um den
Ausdruck von Angst in den Augen zu erkennen, und anschlie
ßend die Augen; nun sehen Sie, dass die Brauen exakt diesel
be Stellung haben, die wir bereits zuvor als Ausdruck der
Trauer gesehen haben. Bild S könnte eine Mischung aus Trau
rigkeit und Überraschung darstellen, denn die Lippen sind
leicht geöffnet, die Augen ebenfalls, aber nicht so sehr wie
bei der Trauer/Angst- Mischung auf dem mittleren Foto.
Das letzte Bild, T, zeigt eine Mischung aus s ämtlichen uns
schon bekannten Signalen der Trauer und ein weiteres Zei
chen. Die Innenseiten der Augenbrauen sind erhoben, die
oberen Lider leicht gesenkt, die Mundwinkel weisen nach un
ten. Das neue Merkmal ist ein leichtes Anheben der Wangen,
durch das sich zwei Falten von den Nasenflügeln zu den
Mundwinkeln bilden; man bezeichnet sie als Nasolabialfal
ten. Der Muskel, der die Wangen anhebt, lä sst diese Falte ent-
5. Trauer und VerzweiAung 1 49
Fangen Sie damit erst an, wenn Sie sich entspannt fühlen und
imstande, sich näher mit diesem Gefühl zu befassen.
Ärger und Zorn
Das Gesicht von Angriff und Gewalt heißt Zorn. Der sepa
ratistische Demonstrant rechts im Bild hat soeben den kana
dischen Polizisten geschlagen, der Demonstrant links holt
bereits aus . Wir wissen allerdings nicht, was vor diesem
Augenblick passiert ist. Hat der Polizist den Demonstranten
angegriffen? Hat dieser sich also lediglich verteidigt, oder
ging seiner gewalttätigen Attake keine Provokation voraus ?
Ist die Reaktion auf einen Angriff das "Zornthema", jener
allgemeingültige, universale Auslöser für Wut und Zorn ?
Emotionstheoretiker haben eine ganze Reihe von zornaus
lösenden Themen vorgeschlagen, aber es gibt keine Beweise
1 56 Gefühle lesen
Zorn sie übermannt habe und sie das, was sie gesagt haben,
nicht wirklich meinen. Ihre wirklichen Ansichten und Über
zeugungen sind unter dem Eindruck dieses Gefühls verzerrt
worden. Die altbekannte Redensart "Ich habe den Kopf ver
loren" fasst dies in Worte. Entschuldigungen fallen nicht
leicht, wenn noch eine Spur von Zorn vorhanden ist, und
Entschuldigungen vermögen den angerichteten Schaden nicht
immer gutzumachen.
Wenn wir auf unseren emotionalen Zustand Achtgeben und
uns dabei unserer Empfindungen nicht nur bewusst werden,
sondern darüber hinaus auch innehalten und überlegen, ob
wir unseren Zorn ausleben wollen oder nicht, bedeutet die
Entscheidung, unserem Zorn nicht nachzugeben, einen ziem
lichen Kampf. Einigen von uns wird sie mehr abverlangen
als anderen, denn manche Menschen geraten rascher und hef
tiger in Zorn als andere. In diesem Zustand geht es darum,
kein Unheil anzurichten, nicht Gleiches mit Gleichem zu ver
gelten, dem Zorn des anderen nicht noch mehr eigenen Zorn
entgegenzusetzen, nichts Unverzeihliches zu sagen, die Ant
wort von Zorn auf Ärger herunter zu regulieren oder auch
äußere Anzeichen der eigenen Wut zu eliminieren. In ande
ren Fällen wollen wir unseren Zorn ausleben, und wie ich sp ä
ter aus führen werde, können H andlungen, die im Zorn
geschehen, auch nützlich und notwendig sein.
David Lynn Scott III., ein 26 Jahre alter, selbst ernannter
Ninja-Kämpfer, vergewaltigte und ermordete 199 2 die Toch
ter von Maxine Kenny. Im Jahre darauf wurde er verhaftet,
die Verhandlung fand allerdings erst vier Jahre sp äter statt.
Nach der Anklageerhebung erhielten Maxine und ihr Ehe
mann Don im Verlauf des Verfahrens Gelegenheit, eine Aus
sage zu machen. Maxine sprach Scott direkt an: »Sie halten
sich also für einen Ninj a ? Kommen Sie in die Realität zu
rück! Wir sind hier nicht im kaiserlichen Japan, und selbst
wenn, so wären Sie nie und nimmer ein Ninja, weil Sie ein
Feigling sind ! Sie schleichen nachts herum und lauern schwarz
angezogen und bewaffnet unschuldigen, wehrlosen Frauen
6. Ärger und Zorn 1 63
auf. ... Sie haben vergewaltigt und getötet, weil Ihnen das ein
falsches Machtgefühl gab. Sie gleichen einer dreckigen ekel
haften Schabe, die sich des Nachts in Mauerritzen verbirgt
und alles besudelt. Ich habe keinerlei Mitleid mit Ihnen ! Sie
haben meine Tochter Gail vergewaltigt, gequ ält und brutal
ermordet, nicht nur einmal auf sie eingestochen, sondern sie
benmaL Sie kannten kein Erbarmen, als sie verzweifelt um
ihr Leben rang, wie man an den zahllosen Wunden an ihren
Händen gesehen hat. Sie haben kein Recht zu leben.« Scott,
der niemals einen Anflug von Reue gezeigt hatte, lächelte
Mrs. Kenny während ihrer Rede unverwandt an. Als sie zu
ihrem Platz zurückging, schlug Maxine Kenny auf Scotts
Kopf ein und musste von ihrem Ehemann und den Polizis
ten mühsam zurückgehalten werden.
Was uns in vielen Fällen veranlasst, unseren Ärger im Zaum
zu halten und nicht zur Wut auswachsen zu lassen, ist der
Umstand, dass wir oft verpflichtet sind, die Beziehung zu der
Person, auf die wir so zornig sind, aufrechtzuerhalten. Ob es
1 64 Gefühle lesen
haben es sehr viel schwerer als wir anderen, wenn sie ihre
Zornreaktion unterdrücken und verhindern wollen, dass er
sich zur blanken Wut auswächst. Maxine glaubt zwar nicht,
dass sie zum Kurzschluss neigt, weiß aber, dass sie explodie
ren kann, »wenn meine Familie in irgendeiner Weise bedroht
wird«.
Maxine berichtete mir: »Ich erlebe Emotionen immer sehr
intensiv. ... Ich glaube, dass die Menschen ihre Gefühle un
terschiedlich stark erleben; Menschen sind von unterschied
licher emotionaler Struktur, und bei manchen l ä u ft alles
intensiver ab.« Ich erkl ärte Maxine und Don, dass ich über
genau das, was sie mir beschrieben, wissenschaftlich arbeite
te, und der Ansicht sei, dass sie völlig Recht h ätten (die ent
sprechenden Arbeiten sind am Ende von Kapitel 1 und im
Schlusskapitel beschrieben) .
Wir alle unterscheiden uns darin, wie intensiv wir jede ein
zelne Emotion erleben. Manche Menschen besitzen vielleicht
einfach nicht die Fähigkeit, sich extrem aufzuregen, und wür
den nie im Leben von blinder Wut gepackt. Die unterschied
liche Ausprägung von Zorn hängt nicht allein damit zusam
men, wie leicht jemandem die Sicherung durchbrennt, sondern
auch mit dessen Explosionskapazität - wie viel Dynamit, um
im Bild zu bleiben, in ihm steckt -, und das ist bei jedem an
ders. Die Wissenschaft kennt die Ursache für diese Unter
schiede bisher nicht, und es ist unbekannt, wie viel davon ge
netisch bedingt ist und wie viel durch die Umwelt. Aller
Wahrscheinlichkeit nach spielt beides eine Rolle. 8 Weiter hin
ten in diesem Kapitel werde ich einige meiner Arbeiten mit
Menschen beschreiben, die bekanntermaßen außergewöhn
lieh zornig werden können.
Maxine sagte mir, sie habe nicht im Voraus gewusst, dass
sie auf David Scott losgehen werde. Sie hatte gedacht, sie kön
ne ihn beschimpfen und es dabei bewenden lassen. Aber eine
Schimpfkanonade kann Schleusen ö ffnen, sie bringt den
vorhandenen Zorn dazu, sich selbst zu n ähren, zu wachsen
sodass es immer schwerer wird, auf die Bremse zu treten und
1 66 Gefühle lesen
* Don leidet noch immer unter der entsetzlichen Erfahrung von damals; er durch
lebt Höllenqualen und seine Trauer will nicht nachlassen. Heute h ält er sich für
einen Feigling, weil er damals im Gerichtssaal, als er die Gelegenheit gehabt hät
te, Scott nicht umgebracht hat. Er berichtet, er sei auf dem College Ringer gewe
sen und h ätte Scott bei einer der vielen Gelegenheiten, bei denen er an i h m
vorbeigehen musste, problemlos d a s Genick brechen können. I c h h a b e D o n er
k l ä rt, dass ein Angriff auf Scott ein Racheakt gewesen wäre, und dass keine Ra
che zu üben nichts mit Feigheit zu tun habe. Feigheit wäre es gewesen, wenn er
dabei gewesen und seine Tochter nicht beschützt h ä tte, als Scott sie angriff. Ich
bin sicher, er h ätte ihr geholfen, wenn er die Chance gehabt h ä tte. Wenn er sich
heute als Feigling fühlt, so vielleicht deshalb, weil er nicht akzeptieren kann, dass
sie tot ist; er kann sich nicht damit abfinden, dass er sie nicht schützen konnte, weil
er diese Chance nie bekam.
6. Ärger und Zorn 1 67
die meisten von uns, haben die Möglichkeit, uns gegen Un
heil, gegen Gewalt in Wort und Tat zu entscheiden. Maxine
hat sich aus freien Stücken dazu entschlossen, vor Gericht zu
sprechen und so starke Worte zu finden, wie sie nur konnte.
Sie ist stolz auf ihren Hass, den sie noch immer empfindet.
Ich nehme an, dass die meisten Menschen Gewalt anwen
den würden, wenn es den Anschein hat, dass ein solches Han
deln die Ermordung ihres Kindes verhindern könnte - aber
ist das wirklich ein Kontrollverlust? Wenn Gewalt zu einem
nützlichen Ergebnis führt, werden die wenigsten Menschen
sie verurteilen, selbst wenn sie keineswegs impulsiv, sondern
sorgsam geplant ist. Sogar seine Heiligkeit der Dalai Lama ist
der Ansicht, dass Gewalt unter solchen Umständen gerecht
fertigt sein kann. 9
Ich weiß, dass selbst unter solch extremen Umständen nicht
jeder gewalttätig wird. Es kann nicht sein, dass diese Men
schen einfach eine höhere Reizschwelle für Zorn haben, dass
erst eine schlimmere Provokation stattfinden muss, damit sie
die Kontrolle verlieren, denn eine schlimmere lä sst sich kaum
vorstellen. Bei Studien, in denen ich Leute gebeten habe, die
am stärksten Wut erzeugende Situation zu beschreiben, die
sie sich für eine beliebige Person irgendwo auf der Welt vor
stellen könnten, wurde am häufigsten die Todesdrohung ge
genüber einem Familienmitglied genannt. Doch auch wenn
der Einsatz von Gewalt das Leben dieses Angehörigen ret
ten könnte, glaube ich nicht, dass jeder dazu schreiten wür
de. Manch einer würde aus Angst nicht handeln, andere weil
absoluter Gewaltverzicht für sie ein zentraler Wert ist.
Maxine Kennys Angriff auf den Mörder David Scott ist et
was anderes. Er konnte den Mord an ihrem Kind nicht ver
hindern; es war Rache. Wir verstehen sie, dennoch würden
die meisten von uns nicht so handeln. Jeden Tag stehen El
tern in irgendeinem Gerichtssaal demjenigen gegenüber, der
ihr Kind ermordet hat, und suchen keine gewaltsame Vergel
tung. Dennoch ist es schwer, nicht mit Maxine Kenny zu füh
len, nicht das Gefühl zu haben, dass das, was sie getan hat,
1 68 Gefühle lesen
zu tun, das einem großen Spaß macht, aber nicht immer. Mein
Rat lautet, sich von Leuten fern zu halten, wenn man gereizt
ist und dies bemerkt. Oft wird einem das erst nach dem ersten
Wutausbruch klar; man erkennt dann, dass dies passiert ist,
weil man ohnehin bereits in reizbarer Verfassung war.
Nachdem in diesem Kapitel so häufig betont wurde, wie
wichtig es ist, seinen Zorn in den Griff zu bekommen, mag
es den Anschein haben, als sei Zorn weder nützlich noch von
evolution ärem Wert. Oder er war nur für unsere J äger-und
Sammler-Vorfahren nützlich, nicht aber für uns. Eine solche
Einstellung übersieht eine Reihe von sehr nützlichen Funk
tionen von Ärger und Zorn. Zorn kann uns motivieren, das,
was uns erzürnt, aufzuhalten oder zu verändern. Der Zorn
auf Ungerechtigkeiten motiviert Handeln, das zum Ziel hat,
diese zu ändern.
Es ist nicht sinnvoll, den Zorn eines anderes Menschen
einfach zu absorbieren und überhaupt nicht darauf zu reagie
ren. Wenn wir wollen, dass der andere mit seinen Attacken
aufhört, muss er erfahren, dass das, was er getan hat, uns
missfällt. Lassen Sie mich dies an einem anderen Beispiel er
klären. Matthew und sein Bruder Martin haben unterschied
liche Talente und Fähigkeiten; beide haben das Gefühl, sich
in ihrem jetzigen Job festgefahren zu haben. Sie treffen Sam,
der viele Kontakte in der Geschä ftswelt unterh ält, die bei
den helfen könnten, eine bessere Stellung zu finden. Bislang
hat Matthew das Gespräch beherrscht, er hat Martin unter
brochen und ihm kaum Gelegenheit gegeben, seinen Teil zu
der Unterhaltung beizutragen. Martin ist frustriert und wird
ärgerlich. Er sagt: "Hey, du nimmst Sam die ganze Zeit für
dich in Beschlag, lass mich auch mal was sagen". Sagt er dies
mit Zorn in Stimme oder Miene, macht er auf Sam vielleicht
keinen guten Eindruck. Er mag Matthew zwar bremsen, aber
das hätte seinen Preis, denn ihm vorzuwerfen, er nehme den
anderen in Beschlag, ist eine Beleidigung. Matthew wieder
um könnte mit einer bissigen Bemerkung reagieren; dann
könnten beide nicht mehr mit Sams Hilfe rechnen.
6. Ärger und Zorn 1 75
sen wir den Grund für unseren Zorn kennen. Ist uns jemand
bei unserem Tun in die Quere gekommen, hat uns j emand
Schaden angedroht, unsere Selbstachtung verletzt, uns zu-
rückgewiesen oder gab der Zorn des anderen oder eine un
rechte Handlung den Ausschlag? War unsere Wahrnehmung
richtig, oder waren wir ohnehin in gereizter Stimmung? Kön
nen wir wirklich etwas unternehmen, um dem Übel abzuhel
fen, und beseitigt es die Ursache für unseren Zorn, wenn wir
diese ansprechen?
Zorn und Angst treten sehr h äufig in derselben Situation,
in Reaktion auf dieselben Bedrohungen auf, doch Zorn kann
dazu beitragen, Angst zu mindern und die nötige Energie
freizusetzen, um der Bedrohung aktiv zu begegnen. Man hat
Zorn auch als Alternative zur Depression gesehen - man gibt
nicht sich selbst, sondern anderen die Schuld an der erlitte
nen Misere -, aber es ist nicht sicher, denn Zorn kann auch
zusammen mit Depressionen auftreten. 18
Zorn informiert andere, dass Schwierigkeiten ins Haus ste
hen. Wie alle Emotionen sendet auch Zorn über Mimik und
Stimme sein Signal, und zwar ein m ächtiges. Ist ein anderer
Mensch Ursache unseres Zorns, teilt unser wütender Ge
sichtsausdruck diesem mit, dass sein Tun nicht auf unsere
Zustimmung stößt. Es kann uns nützen, wenn andere das
wissen - freilich nicht immer, aber die Natur hat uns nun ein
mal nicht mit einem Schalter ausgerüstet, mit dem wir unse
re Emotionen j e nach Wunsch abschalten können.
So wie manche Menschen Traurigkeit genießen, genießen
andere ihren Zorn. 1 9 Sie suchen förmlich einen zünftigen
Streit. Ein feindseliger Wortwechsel oder verbale Angriffe
haben für sie etwas Aufregendes und Befriedigendes. Man
che Menschen schätzen sogar eine erbitterte körperliche Aus
einandersetzung. N ähe oder die Wiederherstellung von Nähe
nach einer wutentbrannten Auseinandersetzung ist für sie
kein Problem. Manche Ehepaare empfinden ihre Sexualität
nach einer heftigen oder gar gewalttätigen Auseinanderset
zung als aufregender und leidenschaftlicher. Umgekehrt gibt
6. Ärger und Zorn 1 77
klärt, misst man mit dieser Methode nicht die Intensität der
Emotion selbst, sondern zeichnet sämtliche Bewegungen der
Gesichtsmuskulatur auf. Die Assistenten, welche die Auf
zeichnungen durchführten und auswerteten, wussten nicht,
wer von den Versuchspersonen als Typ A und wer als Typ B
eingestuft worden war. Sie sahen sich die Videob änder wieder
holt in Zeitlupe an und notierten die einzelnen Bewegungen
der Gesichtsmuskeln. B ei der Auswertung der Ergebnisse
stellten wir fest, dass ein bestimmter Gesichtsausdruck - ein
partieller Ausdruck des Zorns, den wir als stechenden Blick
(glare) bezeichneten (siehe das folgende Foto) und bei dem
lediglich die oberen Augenlider gesenkt und die unteren leicht
angehoben werden - bei Typ -A- Personen häufiger zu beo
bachten war als bei Typ - E - Personen.
stechender Blick
Wort Zorn mit seinem Gesicht. Der Ausdruck muss ein Stück
weit transformiert werden, sodass die Person, die ihn sieht,
nicht irrtümlich annimmt, man sei in dem Moment wirklich
ärgerlich. Im typischen Falle geschieht das, indem nur ein
Teil der Mimik zum Ausdruck gelangt. Bei einem referen
ziellen Zornausdruck werden womöglich nur die Oberlider
leicht angehoben, nur die Lippen leicht zusammengepresst
oder nur die Augenbrauen leicht gerunzelt. Lä sst man mehr
als eine solche Andeutung sehen, so irritiert dies nicht nur
den Betrachter, sondern es kann in einem selbst auch das Ge
fühl neu erstehen lassen. Wie Sie bei der Nachahmung des
mimischen Ausdrucks im vorherigen Kapitel bemerkt haben
sollten, setzt ein Gefühl in der Regel wieder ein, wenn man
alle Muskelbewegungen des zugehörigen Gesichtsausdrucks
wiederholt.
Gewalt
So wie zu jeder Emotion eine Stimmung gehört, die von die
ser Emotion gefärbt ist, so gibt es auch für jede Emotion eine
entsprechende pathologische psychische Verfassung, bei der
die betreffende Emotion eine große Rolle spielt. Das meist
dafür gebrauchte Wort "emotionale Störungen" (emotional dis
order) trägt diesem Umstand Rechnung. Im Falle von Trauer
und Verzweiflung heißt die zugehörige Störung Depression.
Depressive Patienten werden von ihren Gefühlen überwäl
tigt, sie können Trauer und Verzweiflung nicht mehr regu
lieren, und diese durchdringen und beeinflussen jeden Aspekt
ihres Lebens. Zorn, der so außer Kontrolle gerät, dass er das
Leben des B etroffenen beeinträchtigt, zeigt sich bei Men
schen, die zu bestimmten Formen von Gewalt neigen.
Es herrscht keine Einigkeit darüber, was denn nun eigent
lich als Gewalt zu bezeichnen ist. Manche Forscher betrach
ten verbale Angriffe, Beleidigungen und Spott als Formen
von Gewalt; daher unterscheidet ihre Forschung nicht expli
zit zwischen Menschen, die ausschließlich verbal angreifen,
6. Ärger und Zorn 1 83
hat. Nicht nur der Polizei wird Gewalt unter Umständen nach
gesehen : Wenige Menschen würden jemanden verurteilen,
der zu Gewalt als Mittel greift, um das Leben von Familien
angehörigen oder sogar Fremden zu retten. Auch Gewalt,
mit der nicht schlimmere Gewalt verhütet werden soll, son
dern deren Motiv allein Rache und Vergeltung sind, ist nach
vollziehbar, wenn wir sie auch weniger gutheißen.
Meine Kollegin und gute Freundin, die Evolutionsphilo
sophin Helena Cronin 24 , wies in einer Diskussion über diese
Fragen darauf hin, dass bestimmte Formen von Gewalt in
allen Kulturen und zu jeder Zeit im Laufe der uns bekann
ten Geschichte als gerechtfertigt angesehen wurden. Untreue,
der Verdacht auf Untreue und die angedrohte oder tats äch
lich erfolgte Zurückweisung durch einen Sexualpartner sind
die häufigsten Gründe für einen Mord, und M änner töten
sehr viel h äufiger Frauen, als Frauen M änner umbringen.
Cronin schreibt dies ebenso wie andere Evolutionsforscher
der Tatsache zu, dass der Mann sich praktisch nie sicher sein
kann, ob er tats ächlich der Vater des Nachwuchses ist. Im
Einklang mit diesem Standpunkt stehen die Ergebnisse ei
ner der größten Studien zur Analyse von Morden, denen zu
folge einer von sechs aufgeklärten Morden ein Gattenmord
ist; in drei Vierteln aller F älle waren Frauen die Opfer. Zu
meiner Überraschung war der Gattenmord in allen Stadien
einer gesetzlich verankerten Ehe und quer über alle sozialen
und ökonomischen Schranken hinweg gleich häufig. 25
Mord an einem Vorgesetzten aus Rache für eine unfaire
Behandlung wird ebenfalls weit häufiger von Männern als
von Frauen verübt, denn für Männer haben Hierarchie- und
Statusfragen eine größere Bedeutung als für Frauen. Bevor
wir uns zu weit vom Thema - Gewalt als Folge einer emotio
nalen Störung - entfernen, lassen Sie mich anmerken, dass
wir vom evolutionären Standpunkt aus besser erkennen kön
nen, warum bestimmte Formen von Gewalt vorkommen, wer
diese Gewalttaten begeht und warum die Gesellschaft diese
möglicherweise akzeptiert. Solche Formen der Gewalt mögen
6. Ärger und Zorn 1 85
merkt hat, dass er zornig ist. Beinahe jeder hat schon einmal
die Erfahrung gemacht, dass ein anderer vor ihm bemerkt
hat, dass er sich ärgert. Der andere reagiert auf winzige Sig
nale im Gesicht oder darauf, dass die Stimme fester oder lau
ter wird. Weil die Lippen im Zorn schmaler werden, reagieren
wir manchmal auf Menschen mit schmalen Lippen fälsch
lieh so, als seien diese mürrisch, kalt und feindselig.
Schauen Sie noch einmal das Bild von Maxine Kenny an.
Auch bei ihr sind die Augenbrauen finster gesenkt, ihre Au
gen blicken stechend. Sie hat die Lippen geöffnet, den Kie
fer nach vorne geschoben, ein recht häufiges Signal für Zorn.
Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum diese Bewegung
bei Zorn so häufig zu beobachten ist - aber sie ist es.
Die junge Frau auf der folgenden Aufnahme habe ich eines
Tages in dem Dorf fotografiert, das mir in den Bergen von
6. Ärger und Zorn 1 93
verhaltener Zorn
stets wird dieser Muskel tätig. Auch wenn jemand ins grelle
Sonnenlicht hinaustritt, kann man beobachten, dass er die
Brauen zusammenzieht, um die Augen zu beschatten.
Ich habe keine Zeitungsfotos finden können, auf denen
verhaltener Ärger zu sehen ist, so wie man ihn im täglichen
Leben so häufig antrifft, bevor er außer Kontrolle gerät. Es
bedarf nur minimaler Veränderungen im Gesicht, um einen
starken Eindruck von Ärger zu vermitteln, wie das obige Bild
von mir selbst zeigt. Ich habe es vor 20 Jahren aufgenom
men, es zeigt den Versuch, Zorn auszudrücken, ohne mein
Gesicht tats ächlich zu bewegen. Ich habe mich darauf kon
zentriert, die Muskeln nur anzuspannen, sie nicht so stark
kontrahieren zu lassen, dass sich die H aut bewegt. Zuerst
habe ich die Muskeln in meinen Augenbrauen angespannt,
mit denen ich die Brauen normalerweise runzeln und senken
würde, dann diej enigen, die das Oberlid nach oben ziehen
sollten, und schließlich die Muskeln in meinen Lippen, die
meinen Mund schmaler machen. Es ist kein freundliches Ge
sicht; es könnte massiv unterdrückten Zorn widerspiegeln
oder auch nur Verstimmung. Wir wollen uns nun Aufnah-
6. Ärger und Zorn 195
A B c
(neutral)
D E F
G H
6. Ärger und Zorn 1 97
K L M
er zeigt lediglich an, dass sie vorliegt. Wenn Sie sehen, dass
jemand wütend ist, wissen Sie noch lange nicht, was ihn auf
geregt hat. Bei den Fotos von den Kanadiern und Maxine
Kelly ist es keine Frage. Aber angenommen, j emand blickt
verärgert drein, während Sie sich mit ihm unterhalten. Rich
tet sich dieser Ärger gegen Sie ? Gegen etwas, was Sie gerade
oder früher getan haben, oder gegen etwas, von dem ihr Ge
genüber annimmt, dass Sie es tun werden? Oder richtet sich
sein Ärger nach innen, ist der oder die Betreffende wütend
auf sich selbst? Vielleicht richtet sich sein Ärger auch gegen
eine dritte Person, die im Gespräch aufgetaucht ist, oder auch
gegen jemanden, der nicht erwähnt wurde, sondern ihm so
eben in den Sinn gekommen ist.
All dies lä sst sich aus dem Gesichtsausdruck allein unmög
lich beantworten. Manchmal ergibt sich die Antwort aus dem,
was sich ereignet hat, dem, was gesagt worden ist und was
nicht, was bereits geschehen ist oder vermutlich noch ge
schieht. Manchmal werden Sie es nicht herausbekommen. Zu
wissen, dass jemand zornig ist, ist zunächst einmal sehr wich
tig, denn Zorn ist die für unser Zusammenleben mit ande
ren gefährlichste Emotion, aber Sie können nicht i mmer
sicher sein, ob dieser Zorn sich gegen Sie richtet.
Einige der schwächsten Anzeichen für Ärger (aus den Auf
nahmen A, C und D) können auch Zeichen von Verblüffung
oder Konzentration sein. Auch gibt es mimische Anzeichen,
bei denen nicht sicher ist, ob der Zorn nur leicht ausgeprägt,
gerade im Entstehen begriffen oder massiv unterdrückt ist
(siehe die Aufnahmen G, H, I, L und M sowie das Foto auf
Seite 194). Darauf werde ich sp äter noch zurückkommen.
Wir wollen uns zun ächst damit befassen, was wir tun kön
nen, wenn wir einen klar erkennbaren Gesichtsausdruck vor
uns haben, bei dem wie in Bild E und F keinerlei Zweifel be
steht, dass der Betreffende wütend ist. Ich benutze dieselben
Beispiele wie am Ende des letzten Kapitels, damit der Leser
sieht, wie anders es um seine Alternativen bestellt ist, wenn
er es statt mit Trauer und Verzweiflung mit Zorn zu tun be-
200 Gefühle lesen
kommt. Sie werden auch sehen, dass das, was Sie tun kön
nen, in hohem Maße von Ihrer Beziehung zu der wütenden
Person abh ängt, ob Sie deren Vorgesetzter, Untergebener,
Freund, Geliebter, Vater, Mutter oder Kind sind.
In den meisten Fällen h ält der mimische Ausdruck einer
Emotion etwa zwei Sekunden lang an, manche dauern nur
eine halbe Sekunde, andere bis zu vier, aber kürzer oder län
ger sind sie selten. Die Dauer eines Gesichtsausdrucks steht
in der Regel in Beziehung zur Intensität der empfundenen
Emotion. Eine länger andauernde Mimik signalisiert zumeist
ein stärkeres Gefühl als eine kürzere. Dabei gibt es allerdings
Ausnahmen. Eine sehr kurze, stark ausgeprägte Mimik (Auf
nahmen E und F) lä sst darauf schließen, dass der Betreffen
de versucht, das Gefühl zu überspielen oder zu verbergen.
Das kann durch willentliche Anstrengung geschehen oder
unterbewusst gesteuert sein. Ein nur kurz zu beobachtender
Gesichtsausdruck sagt uns aber nicht, welches von beiden der
Fall ist, sondern nur, dass unser Gegenüber ihn zu verbergen
versucht. Ein länger anhaltender schwach ausgeprägter Ge
sichtsausdruck (siehe die Aufnahmen G, H, I, L, M und mein
Foto von Seite 194) l ä sst auf eine willentlich kontrollierte
Emotion schließen. Würde eine dieser mimischen Varianten
nur sehr kurz sichtbar - eine halbe oder vielleicht eine Se
kunde lang -, wäre der Zorn wahrscheinlich nur schwach
ausgeprägt oder gerade im Entstehen begriffen und wohl
nicht willentlich unterdrückt. Was ich an dieser Stelle über
die Dauer eines Gesichtsausdrucks und dessen Relation zur
Intensität der gefühlten Emotion beziehungsweise ihrer Kon
trolle gesagt habe, gilt nicht nur für Ärger und Zorn, sondern
auch für alle anderen Emotionen.
Angenommen, sie überbringen einem Ihnen unterstellten
Mitarbeiter die Nachricht, dass er nicht befördert wird, und
der Betreffende zeigt einen eindeutigen Ausdruck der Verär
gerung. Gleicht seine Mimik den Aufnahmen E oder F oder
ist sie womöglich noch stärker ausgeprägt, weiß er vermut
lich selbst, dass er zornig ist, vor allem, wenn Sie diesen Aus -
6. Ärger und Zorn 201
ner empfunden haben, die mit dem Gesicht zur Kamera saßen.
Echte Überraschung kann nur wie hier durch ein plötzliches,
unerwartetes Ereignis ausgelöst werden. Läuft ein unerwar
tetes Ereignis allm ählich ab, überrascht es uns nicht mehr.
Es muss unvermittelt eintreten, und wir dürfen nicht darauf
vorbereitet sein. Die Männer, die die Artistirr fallen sahen,
waren gänzlich unvorbereitet, durch nichts gewarnt.
Als ich vor Jahren Medizinstudenten beibringen sollte,
Emotionen zu erkennen und zu verstehen, habe ich bei jeder
Vorlesung ein anderes Gefühl in ihnen zu erzeugen versucht.
Um sie zu überraschen, ließ ich zum Beispiel eine Bauchtän
zerin mit den Füßen stampfend und Finger schnipsend hin
ter einem Paravent hervor tanzen. In einem Nachtclub mit
türkischer Musik wäre niemand überrascht gewesen, sie zu
sehen, in einer Vorlesung an der Medizinischen Hochschule
aber passte sie nicht in den Kontext, und ihr plötzliches lärmen
des Erscheinen löste bei den Studenten Überraschung aus.
Wir haben im Falle einer Überraschung nicht viel Z eit,
unsere Reaktionen vors ätzlich zu beeinflussen und unser Ver
halten zu organisieren. Das ist in den meisten F ällen kein
Problem - es sei denn, wir befänden uns in einer Situation,
in der wir uns nicht überrascht zeigen dürften. Wenn wir bei-
208 (;efühle lesen
viel eher mit dem Umstand zu tun, dass ihr zeitlicher Ablauf
so unverrückbar feststeht.* Überraschung kann nicht länger
als höchstens ein paar Sekunden dauern, auf die meisten an
deren Emotionen trifft das nicht zu. Sie können sehr kurz
sein, aber auch sehr lange anhalten. Angst, die oft auf Über
raschung folgt, kann von extrem kurzer Dauer sein, aber auch
lange Zeit hindurch anhalten. Als ich einmal tagelang auf die
Ergebnisse einer Biopsie zu warten hatte, aus denen hervor
gehen würde, ob ich Krebs hatte oder nicht, und wenn ja, wie
weit die Krankheit bereits fortgeschritten war, litt ich unter
immer wiederkehrenden langen Angstepisoden. Ich war die
vier Tage des Wartens zwar nicht unabl ä ssig von Angst ge
peinigt, aber es gab immer wieder Phasen, in denen ich mich
etliche Sekunden, manchmal Minuten hindurch ängstigte.
Zum Glück war die Biopsie negativ; das erfüllte mich mit
Erleichterung, einem angenehmen Gefühl, über das ich in
Kapitel 9 berichten werde.
Ich halte, es für sinnvoll, Überraschung in unsere Abhand
lung der einzelnen Emotionen einzuschließen, mit dem Vor
behalt eben, dass sie über ein spezielles Merkmal verfügt - eine
feste, begrenzte Dauer. Aber schließlich verfügt jede der bis
her von uns betrachteten Emotionen über eine besondere Ei
genart. So zeichnet sich der Gemütszustand von Trauer und
Verzweiflung dadurch aus, dass er über zwei Ausprägungen
verfügt, die häufig miteinander abwechseln, das passive, re
signierte Gefühl der Trauer und der erregte Zustand der Ver
zweiflung; und diese Emotion kann länger anhalten als alle
anderen. Zorn unterscheidet sich von den übrigen Gefühlen
denten. Die Studenten erkannten die Mimik von Angst, Abscheu, Traurigkeit und
Glück, doch sobald man ihnen die Angst- und die Überraschungsmiene der Leu
te aus Neuguinea zeigte, setzten sie diese ebenso oft mit Ü berraschung wie mit
Angst gleich. Ich kann wirklich nicht erkl ä ren, warum das so ist. Nicht nur wir
hatten dieses Problem; auch mein Kollege Kar! Heider stieß, als er diese Aufgabe
einer anderen Eingeborenengruppe in Neuguinea stellte, bei der Unterscheidung
von Überraschung �,�nd Angst auf dieselben Schwierigkeiten. Das weckt gewisse
Zweifel daran, dass sich die beiden Emotionen deutlich voneinander abgrenzen
lassen.
210 Gefühle lesen
Armen. Und eventuell stellen Sie sogar fest, dass Sie mit Kör
per und Gesicht leicht zurückweichen.
Wenn Sie panischer Schrecken ergreift, wissen Sie es in der
Regel; mit den Empfindungen einer leichten Sorge, wie Sie
sie angesichts einer zukünftigen und nicht besonders großen
Bedrohung empfinden würden, sind Sie möglicherweise we
niger vertraut. (Ich persönlich glaube, dass die Empfindun
gen Panik ähneln, aber weit weniger heftig sind. Bisher sind
allerdings noch keine Untersuchungen zu der Frage unter
nommen worden, ob Sorge und Panik mit unterschiedlichen
subjektiven Erfahrungen assoziiert sind.)
Lassen Sie uns nun versuchen, Empfindungen zu erzeu
gen, die den besorgten Zustand charakterisieren. Rufen Sie
sich eine Situation ins Ged ächtnis, in der Sie damit gerech
net haben, dass etwas Schlimmes passiert, keine Katastro
phe, aber doch etwas, das Sie gerne vermeiden würden.
Vielleicht hatten Sie Angst davor, dass Ihnen ein Weisheits
zahn gezogen werden muss oder man bei Ihnen eine Darm
spiegelung vornehmen wird. Die Sorge könnte auch einen
Bericht betreffen, den Sie verfasst haben, und Sie bangen
jetzt, ob er so geschätzt wird, wie Sie es sich erhoffen. Oder
Sie grübeln, wie Sie in der letzten Mathematikklausur abge
schnitten haben. Haben Sie ein solches Szenario vor Augen -
denken Sie daran, es muss in der Zukunft liegen, Sie wissen
davon, müssen aber abwarten und können zum gegenwär
tigen Zeitpunkt nichts tun, um möglichen Schaden abzu
wenden - konzentrieren Sie sich erneut auf die Empfindungen
in Gesicht und Körper. Es sollte eine stark abgeschwä chte
Version von Panikgefühlen sein.
die Schusswaffe sah, die sich als nächstes auf ihn hätte rich
ten können. (Dem schmerzvollen Ausdruck auf O swalds
Gesicht kann man entnehmen, dass der Schuss bereits abge
feuert worden ist und Leavelles entsprechende Schreckreak
tion bereits vorüber sein muss) . Detective Leavelle dürfte
obendrein zornig auf den Attentäter Ruby gewesen sein, denn
seine Aufgabe wäre es gewesen, einen solchen Angriff zu ver
hindern. Ich habe bereits erwähnt, dass wir im Falle einer
Bedrohung nicht selten beides spüren - Angst und Zorn -,
und das ist hier der Fall.
Betrachten wir die subtileren Anzeichen von Angst und
Überraschung im Gesicht noch einmal genauer.
A B c
(neutral)
D E F
G H
7. Überraschung und Angst 231
K L
M N 0
p Q
nicht, dass sich überm äßig oft die Frage stellt, wie man auf
die Überraschung eines anderen reagieren soll - mit Ausnah
me der eingangs erwähnten Beispiele von Personen, die durch
Dinge zu überraschen waren, die sie eigentlich hätten wis
sen müssen. 1 1 ) Im Großen und Ganzen betrachte ich wieder
die in den anderen Kapiteln bereits vorgestellten Situationen,
um zu erl äutern, wie anders wir von unserem Wissen um die
Angst eines anderen Gebrauch machen sollten, als wir es im
Falle von Trauer und Zorn tun würden.
In den letzten beiden Kapiteln habe ich betont, dass wir
keinesfalls glauben dürfen, wir wüssten, wodurch ein be
stimmter Gefühlsausdruck zustande kommt. Der mimische
Ausdruck einer Emotion sagt uns nichts über deren Ursache.
Meist können wir diese aus dem Situationskontext erschlie
ßen, aber nicht immer. In Kapitel 4 habe ich einen Trug
schluss erwähnt, den ich als Othello - Fehler bezeichnet habe:
die Annahme, über die Ursache für ein Gefühl Bescheid zu
wissen, ohne zu bedenken, dass dieses auch einen völlig an
deren Grund haben könnte.* Unser Gefühlszustand, unsere
Erwartungen und Überzeugungen, was wir glauben wollen
und sogar was wir nicht glauben wollen, all das hat Eiri'fluss
darauf, wie wir einen Gesichtsausdruck interpretieren, oder
genauer: was wir für dessen Ursache halten. Sorgsam die Si
tuation zu berücksichtigen, in der man mit ihm konfrontiert
wird, kann die Möglichkeiten eingrenzen, doch auch das bie
tet keine Gewissheit. Othello hat es nicht geholfen. Wenn Sie
nie vergessen, dass der mimische Ausdruck einer Emotion
nichts über deren Ursache verrät und es andere Gründe da
für geben kann als j ene, die Sie erwarten, können Sie den
Othello - Fehler vielleicht vermeiden.
Schauen Sie noch einmal die Gesichtsausdrücke auf den
Bildern D, E, F, H, I, L und N genauer an. Jeder davon könnte
* Sie werden sich erinnern, dass Othello seine Gattin ermordete, weil er nicht
begriff, dass ihre Angst, er könne ihr womöglich nicht glauben, genauso aussehen
könnte wie die Angst vor der Bestrafung ihres angeblichen Ehebruchs. Othello
beging diesen Fehler, weil er vor Eifersucht raste.
7. Überraschung und Angst 235
Der Mann sah mir zu, wie ich eine von den amerikanischen
Konservendosen leerte, die ich mir in das entlegene Dorf der
Fore in den Bergen von Papua-Neuguinea mitgebracht hat
te. Als ich merkte, wie er mich betrachtete und was für einen
Gesichtsausdruck er machte, ließ ich die Gabel fallen und
griff zur Kamera, die ich stets um den Hals trug. (Zum Glück
wussten die Fore damals noch nicht, wozu eine Kamera gut
ist, und waren gewohnt, mich ohne ersichtlichen Grund diesen
seltsamen Gegenstand vor Augen nehmen zu sehen; daher
wurde der Mann sich seiner Pose gar nicht bewusst und wand
te sich nicht ab, bevor ich auf den Auslöser drücken konnte.)
Abgesehen von der Tatsache, dass das Bild den klassischen
Ausdruck des Ekels darstellt, verdeutlicht diese Geschichte
8. Ekel und Verachtung 239
... ein Gefühl der Abneigung. Der Geschmack von etwas, das man
ausspucken möchte ; allein der Gedanke daran, so etwas zu essen,
kann einen anekeln. Ein Geruch, den man aus den Nasengängen
vertreiben oder dem man ausweichen möchte ; und wieder kann al
lein der Gedanke daran, wie etwas Ekel erregendes riechen könnte,
für massiven Abscheu sorgen. Der Anblick von etwas, von dem Sie
annehmen, dass es widerlich schmeckt oder riecht, kann Sie ane
keln. Auch Geräusche können dies bewirken, dann n ämlich, wenn
sie mit einer scheußlichen Begebenheit assoziiert sind. Und schließ
lich kann eine Berührung, das Fühlen von etwas Abstoßendem, ei
nem schleimigen Objekt zum Beispiel, Ekel auslösen.
Nicht nur Geschmack, Gerüche und Berührungen, nicht nur der
Gedanke daran, nicht nur Anblick und Klang können Abscheu her
vorrufen, auch die Handlungen und die Erscheinung von Menschen,
ja sogar Ideen vermögen dies. Menschen können von abstoßender
Erscheinung und ihr Anblick widerwärtig sein. Manche Menschen
empfinden Ekel, wenn sie missgestaltete, verkrüppelte oder h ä ssli
che Mitmenschen erblicken. Der Anblick von Blut oder einer Ope
ration ekelt etliche Menschen. Manche menschlichen Handlungen
sind ebenfalls Ekel erregend, man kann angewidert sein von dem,
was ein anderer tut. Jemand, der einen Hund oder eine Katze miss
handelt oder quält, kann zum Gegenstand des Abscheus werden.
Jemand, der sich Praktiken verschreibt, die andere als sexuelle Per
version empfinden, kann Ekel erregen. Eine Einstellung oder Ver
haltensweisen gegenüber Menschen, die als entwürdigend gelten,
können andere Ekel empfinden lassen. 1
* Ich habe zwar über die Jahre Dutzende von Fotografien gesammelt, auf denen
jede der anderen Emotionen abgebildet ist, aber von Ekel habe ich keine. Eine
professionelle Fotoagentur, die ich bat, mir solche Bilder zu beschaffen, konnte
nur mit gestellten Aufnahmen aufwarten; bei allen anderen Emotionen fanden
sich problemlos passende Pressefotos. Das ist kein Wunder, denn Ekel erregende
Szenen sind nicht attraktiv. Zeitungs - und Zeitschriftenherausgeber und deren
Inserenten müssen zu dem Schluss gekommen sein, dass sich mit solchen Bildern
nichts verkaufen l ä sst.
240 (;efühle lesen
Leute das Wasser nicht mehr. Rozin ist der Ansicht, dass ein
Produkt, das unseren Körper verlä sst, im selben Augenblick
für uns zu etwas Ekelhaftem wird.
Ekel wird erst irgendwann zwischen vier und acht Jah
ren zu einer eigenständigen Emotion. Es gibt zunächst nur
Ablehnung, das Zurückweisen von Dingen, die schlecht
schmecken, aber noch keinen Ekel. Rozin bat Kinder und
Erwachsene, Schokolade zu berühren oder zu essen, die wie
Hundekot geformt war. Bis zum Alter von vier bis sieben J ah
ren haben Kinder damit nicht die geringsten Probleme, die
meisten Erwachsenen aber weigern sich. Ähnliches passiert,
wenn Sie einen sterilisierten Grashüpfer in ein Glas Milch
oder Saft geben: Kinder unter vier Jahren h ält sein Anblick
nicht vom Trinken ab. *
Kinder und Jugendliche entwickeln in Bezug auf Ekel eine
besondere Faszination. Rozin erinnert daran, dass Geschenk
artikelläden überaus realistische Nachbildungen von Erbro
chenem, Auswurf, Schleim und Fäkalien verkaufen und dass
es vor allem kleine Jungen sind, die diese Dinge erstehen. Es
gibt eine ganze Witzgattung, die sich um Ekel dreht und mit
diesem Thema spielt. In der bei Jugendlichen so beliebten
Fernsehserie Beavis and Butthead und in den für kleinere Kin
der konzipierten Serien Captain Underpants und Garbage Pail
* Rozin erkl ärt diesen Unterschied damit, dass kleinere Kinder noch nicht über
die kognitiven Fähigkeiten verfügen, die für das Empfinden von Ekel notwendig
sind - die Fähigkeit zum Beispiel, eine Diskrepanz zwischen Schein und Wirk
lichkeit wahrzunehmen wie etwa beim Schokoladen- Hundekot. Das steht im Ein
klang mit seiner Ansicht, dass andere Tiere keinen Ekel empfinden. I n meinen
Augen wäre es allerdings eine außerordentliche Tatsache, wenn eine so grundle
gende Reaktion auf die Außenwelt einzig und allein dem Menschen vorbehalten
sein sollte, daher habe ich den Tierverhaltensforscher Frans de Waal danach ge
fragt. Er schrieb zurück: >>Diese Emotion muss bei anderen Primaten auch vor
ha!'lden sein. E kel muss ursprünglich etwas mit der Ablehnung bestimmter
Nahrungsmittel zu tun gehabt haben, und das kommt bei anderen Primaten na
türlich vor. Was allerdings einen charakteristischen Gesichtsausdruck betrifft, so
ist diese Frage schwerer zu beantworten.« Derzeit ist die Angelegenheit also noch
offen, weil offenbar bislang niemand erforscht hat, ob es bei anderen Primaten ei
nen Gesichtsausdruck gibt, der typisch für die Zurückweisung von Nahrung ist,
und, faJJs dem so ist, ob dieser auch in Reaktion auf soziale Verstöße gezeigt
wird.
242 Gefühle lesen
* Mein Lektor hat angemerkt, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Über
windung von Ekelbarrieren durch Eltern und durch Liebespaare. So weit ich es
beurteilen kann, sind Babywindeln immer ekelhaft, selbst wenn es sich um das ei
gene Baby h andelt. Liebende Eltern überwinden ihren Ekel, um für das Kind zu
sorgen, aber sie fühlen ihn nach wie vor. Beim Sex aber ist das anders. Die Zunge
der richtigen Person im Mund zu spüren ist nicht im mindesten ekelhaft - ganz
im Gegenteil. Im ersten Fall wird der Ekel also überwunden oder verdrängt, im
zweiten wird er zu etwas völlig anderem transformiert.
8. Ekel und Verachtung 247
* Die tibetischen Buddhisten verwenden diese Begriffe etwas anders, aber doch
in ähnlicher Weise. Ihr Begriff für das, was wir als unsere Fähigkeit zum Mitge
fühl bezeichnen, heißt dem Dalai Lama zu folge in der Übersetzung etwa "die Un
fähigkeit, einen anderen leiden zu sehen". Nicht, dass man sich von diesem Anblick
zurückzieht, im Gegenteil : »Es ist das, was uns dazu veranlasst, zu erschrecken,
wenn man sieht, dass einem anderen Schaden zugefügt wird, zu leiden, wenn man
jemand anderen leiden sieht.« Der buddhistische Gebrauch des Begriffs Mitleid
(compassion) beinhaltet beträchtlich mehr, als wir mit diesem Wort meinen. Dies
zu erläutern, würde uns weit vom Begriff des Ekels wegführen, aber es ist erwäh-
250 Gefühle lesen
nenswert, dass die Buddhisten sowohl Mitfühlen als auch Mitleiden als mensch
liche Fertigkeiten betrachten, die zwar nicht erlernt, wohl aber kultiviert werden
müssen, damit sie zum Vorschein kommen. Ich fasse das so auf, dass wir daran
arbeiten müssen, alle menschlichen Wesen als unsere N ächsten zu betrachten und
die Aversion gegen die blutigen Spuren des Leidens und die durch Krankheit be
dingten Beeinträchtigungen aufzuheben; dies ist Arbeit, weil die Natur uns die
Umsetzung nicht leicht gemacht hat.
8. Ekel und Verachtung 251
A
(neutral)
B c D
256 Gefühle lesen
E F G
H
8. Ekel und Verachtung 257
K L
258 Gefühle lesen
uns aber auch dieser Begriff nicht genau, um welche der vie
len möglichen positiven E motionen es sich im Einzelnen
handelt.
Meiner Ansicht nach gibt es mehr als ein Dutzend positi
ve Emotionen, jede davon universal und jede so unterschied
lich, wie Trauer, Zorn, Angst, Ekel und Verachtung es sind.
So wie es eine Palette an Gefühlen gibt, die wir gewöhnlich
nicht allzu gerne empfinden, gibt es eine Reihe von gut un
terscheidbaren Emotionen, die wir gerne spüren. Das Pro
blem mit Bezeichnungen wie Ver;gnügen, Freude oder Frohliehsein
ist, dass sie nicht spezifisch genug sind. Sie suggerieren fälsch
lich einen einheitlichen Geistes - und Gefühlszustand. Das
ist aber nicht der Fall, so wie auch die Begriffe erregt und ne
gativ uns j a auch nicht verraten, ob jemand traurig, zornig,
ängstlich oder angewidert ist. Unsere Sprache verfügt nicht
für alle die positiven Emotionen, die ich in diesem Kapitel
beschreibe, über spezifische Begriffe; daher habe ich bei an
deren Sprachen Anleihen gemacht, um einige der wichtigen
Emotionen dieser Gruppe zu benennen.
Über die meisten positiven Gefühle wissen wir nicht allzu
viel, hat sich doch nahezu die gesamte Emotionsforschung,
meine eigene eingeschlossen, eher auf die negativen Emo
tionen konzentriert. Die Aufmerksamkeit war zumeist auf
Gefühle gerichtet, die für uns selbst und andere problema
tisch werden (können) . Wir wissen dementsprechend mehr
über psychische Krankheit als über psychische Gesundheit.
Das Bild wandelt sich heute und positive Emotionen rücken
wieder vermehrt ins Blickfeld. 2 Ich glaube, dass wir sehr da
von profitieren können, wenn wir unsere angenehmen Emo
tionen kennen und besser verstehen lernen, sind sie doch
einen Großteil unseres Lebens hindurch von ausschlagge
bender Bedeutung für unsere Motivation.
Lassen Sie uns mit dem sensorischen oder sinnlichen Genie
ßen (senso ry pleasures) beginnen. Es gibt Dinge, die sich ange
nehm anfühlen, und auch berührt zu werden kann sich gut
anfühlen, vor allem, wenn die Berührung durch jemanden
9. Positive Emotionen 265
erfolgt, an dem uns etwas liegt, und wenn sie fürsorglich oder
sensibel ist. Es gibt Anblicke, die in wunderbarer Erinnerung
bleiben - ein prachtvoller Sonnenuntergang zum Beispiel. Es
gibt Geräusche, die angenehm sind, etwa das Rauschen von
Meereswellen, das Pl ätschern eines Bergbaches, Wind in den
Baumwipfeln und verschiedenartigste Musik. Mit Geschmack
und Geruch hatten wir uns bereits im Zusammenhang mit
Ekel ein wenig beschäftigt. Den meisten Menschen schme
cken Süßigkeiten; die F ähigkeit, saure, bittere oder stark
gewürzte Dinge zu genießen, scheint sich erst sp äter zu ent
wickeln. Den Geruch von Zersetzung und Verwesung emp
findet fast jeder als unangenehm, doch manche Käsesorten
werden von einigen Menschen hoch geschätzt, obwohl sie
einen Geruch haben, den die meisten Menschen als scheuß
lich empfinden. Ich nehme an, für jeden unserer fünf Sinne
gibt es eine Reihe von universalen Themen und eine Menge
erlernte Variationen dazu.
Ungeklärt ist bislang die Frage, ob die einzelnen Arten von
sinnlicher Lust lediglich unterschiedliche Wege zu derselben
emotionalen Erfahrung und daher als eine einzige Emotion
aufzufassen sind oder ob wir sie als fün f unterschiedliche
Emotionen - visueller, taktiler, olfaktorischer, auditarischer
und gustatorischer Natur - betrachten sollten. Eines Tages
wird die Forschung diese Angelegenheit geklärt haben, dann
nämlich, wenn sie nachweisen kann, ob und wie sich alle die
se Formen sinnlichen Genießens in ihren subjektiven Emp
findungen, in den Signalen, die unter ihrem Eindruck an
andere übermittelt werden, und in den für sie typischen phy
siologischen Veränderungen unterscheiden. Für den Augen
blick will ich sie als fünf verschiedene Emotionen behandeln,
denn ich hege die vage Vermutung, dass die Wissenschaft tat
sächlich Unterschiede zwischen ihnen finden wird, und zwar
nicht nur in Bezug auf das beteiligte Sinnesorgan.
Mein Lehrer Silvan Tomkins pflegte sinnliches Genießen
nicht als Emotion zu betrachten. Er behauptete, dass eine
Emotion im eigentlichen Sinne durch beinahe alles hervor-
266 Gefühle lesen
* Ich rede hier nicht von einer Stimmung, in der wir uns ein paar Stunden hin
durch entspannt, ruhig und zufrieden zurücklehnen, wie ich es auf den Seiten
70-73 beschrieben habe.
268 Gefühle lesen
rung, die ich vor Jahren gemacht habe, verleitet mich zu der
Annahme, dass es sich hierbei um eine eigene Emotion han
delt. 5 Ich lernte damals Richard Schechner kennen, Profes
sor für Theaterwissenschaft an der New York University, und
binnen fünf Minuten entdeckten wir eine ganze Reihe von
Gemeinsamkeiten in unserem Leben - genauer gesagt so vie
le, dass es schier unfassbar war: Beide waren wir aufgewach
sen in Newark, New Jersey, beide hatten wir dieselbe Schule
besucht, sind uns aber, weil Richard ein Jahr jünger ist als ich,
nie begegnet. Wir sind beide in denselben Vorort umgezo
gen, und zwar in dasselbe Haus ! Jetzt noch, da ich darüber
schreibe, ergreift mich wieder dasselbe ungläubige Staunen,
dass mich schon damals befallen hat. Richards Eltern hatten
das Haus nach dem Tod meiner Mutter von meinem Vater
gekauft, und Richards Zimmer war dasselbe, in dem auch ich
geschlafen hatte !
Zu den charakteristischen Kriterien von staunender Er
griffenheit gehören die Seltenheit der Situation und das Ge
fühl des Überwältigtseins angesichts einer unbegreiflichen
Tatsache. Im Unterschied zu den meisten anderen Autoren,
die über solch tiefes Erstaunen geschrieben haben, glaube
ich, dass es sehr wichtig ist, dieses von Angst abzugrenzen,
obwohl beide Emotionen sich durchaus vermischen können,
wenn wir von etwas Überm ächtigem, schwer Begreiflichem
bedroht werden. Es handelt sich um einen intensiven, an sich
angenehmen Zustand. Nahezu alles Unglaubliche, Unfassba
re und Faszinierende kann Quelle unserer staunenden Er
griffenheit sein. Wir verstehen nicht, was es ist oder wie es
geschehen konnte, aber wir ängstigen uns nicht - es sei denn,
es bedroht unsere Sicherheit, dann entwickeln wir zus ätzlich
Angst. Dacher Keltner und Jonathan Haidt erklären in ihrer
Theorie über das "ehrfürchtige Staunen" (einen Begriff, den
sie und andere Forscher für die Kombination aus Verwun
derung und Angst verwenden; englisch awe) , es gehe dabei
um »Dinge, die zu begreifen unserem Geist schwerfällt.« 6
Vielleicht war das tiefe Erstaunen früher in unserer Geschich-
270 Gefühle lesen
te, als die Menschen noch sehr viel weniger über die Welt um
sie herum wussten, nicht so selten. Es gibt kaum wissenschaft
liche Untersuchungen über staunende Ergriffenheit; man ma
che sich nur klar, wie schwierig es sein dürfte, diese Emotion
in einem Labor künstlich zu erzeugen, damit sie sich gründ
lieh vermessen ließe.
Darwin schrieb über die Gänsehaut, die durch tiefes Er
staunen hervorgerufen werden kann. Sie ist in der Tat eine
der stärksten physischen Empfindungen, die mit dieser Emo
tion einhergehen. Aus meiner persönlichen Erfahrung her
aus kann ich sagen, dass sich beim Auslösen dieses Gefühls
ein leichtes Kribbeln im Nacken und auf den Schulterblät
tern einstellt. Unter Umständen verändert sich auch die At
mung; es kommt nicht unbedingt zu einem Seufzer der
Erleichterung, aber zu tieferem Ein- und Ausatmen. Ungläu
biges Kopfschütteln ist nicht selten. Niemand weiß bisher,
ob es für dieses Gefühl eigene Signale in Miene, Stimme oder
Körperhaltung gibt.
Wenn man Menschen bewundert, sie attraktiv oder cha
rismatisch findet, bringt dies Gefühle hervor, die mit stau
nender Ergriffen heit eng verwandt sind, aber auch hier
behaupte ich, dass es sich um etwas anderes handelt. Bewun
derung bringt nicht dieselben Veränderungen - Gänsehaut,
veränderte Atmung, Seufzer oder Kopfschütteln - mit sich
wie tiefes Erstaunen. Wir wollen solchen Menschen folgen,
fühlen uns zu ihnen hingezogen, aber wenn wir staunen, ste
hen wir still und fühlen uns nicht bemüßigt zu handeln. Er
innern Sie sich nur daran, wie die Menschen in dem Film
Unheimliche Begegnung der dritten Art beim Anblick der beleuch
teten Raumschiffe reagieren.
Ekstase oder Verzückung, jener Zustand entrückter, selbst
vergessener Seligkeit, den manche Menschen durch Medita
tion, andere durch N aturerlebnisse, wieder andere durch
sexuelle Erfahrungen mit einem wahrhaft geliebten Men
sehen erreichen, kann als weitere positive Emotion betrach
tet werden. Ähnlich wie Erregung und tiefes Erstaunen ist
9. Positive Emotionen 271
* Der Psychologe Michael Lewis h ä lt für das, was ich als ftero bezeichne, an dem
Begriff Stolz fest, wobei er Stolz explizit von Hybris abgrenzt. Er merkt dazu
allerdings an, dass es vielen nicht gelingt, den "ftero-Typ" des Stolzes von Hybris
zu trennen - also dem Gefühl der eigenen Überlegenheit.
9. Positive Emotionen 273
lieh ein Wort für genau diese Erfahrung: ndchifl (nachess). Der
Autor Leo Rosten definiert ndchifl als »den Glanz aus Zufrie
denheit samt Stolz, den einzig Kinder ihren Eltern verleihen
können: ,Ich hob sejer ndchifl '«10 Ein mit diesem verwandtes
jiddisches Wort ist kweln, das Rosten folgendermaßen defi
niert: >>Vor ungeheurem Stolz und Zufriedenheit strahlen,
meist über die Leistungen eines Kindes oder Enkelkindes.
So stolz und glücklich zu sein, dass einem vor lauter stolzge
schwellter Brust schier die Knöpfe wegplatzen.«11 Ndchiflbe
schreibt die Emotion, kweln den dazugehörigen Ausdruck in
Gestik und Miene. Nach Aussagen meiner Tochter können
Kinder ndchifl auch angesichts der Leistungen ihrer Eltern
empfinden. Dies wiederum lä sst mich ndchifl hobn, und nun
kwel ich.
Ndchifl sorgt dafür, dass Eltern nicht nachlassen in ihrem
Bestreben, Aufwachsen und Leistungen ihrer Kinder zu för
dern. Leider fehlt es Eltern manchmal an ndcheß, wenn ihre
Kinder Herausragendes leisten und es weiter bringen als sie
selbst. Solche Missgunst führt häufig zu einer Art Konkur
renzkampf zwischen Eltern und Kindern, und das kann für
beide höchst destruktiv sein. Ähnliche Konkurrenzkämpfe
habe ich in der akademischen Welt mehr als einmal zwischen
Lehrer und Schüler beobachtet. "Warum ist sie zu der Tagung
eingeladen worden ? Ich bin der Fachmann, sie war meine
Studentin." Ein Lehrer muss genau wie Vater oder Mutter
angesichts der Leistungen seiner Schüler ndchifl empfinden,
wenn diese lernen sollen, fiero zu sein und sich davon zu wei
teren Höhenflügen anstacheln zu lassen, da sie vom Lehrer
erwarten, dass dieser kwelt. Diese Beispiele werfen die interes
sante Möglichkeit auf, dass es womöglich positive Emotionen
gibt, die manche Menschen niemals erfahren werden. Das
gilt sicher für körperliche Beeinträchtigungen, durch die der
eine oder andere sinnliche Genuss gestört sein kann, aber
vielleicht gibt es auch psychologische Handicaps, welche die
Fähigkeit blockieren, gewisse angenehme Emotionen zu er
leben.
274 Gefühle lesen
* Ich würde zwar nie annehmen, dass ein zehn Monate altes Baby lügt, wenn es
einem Fremden ein "Nicht- Duchenne - L ächeln" prä sentiert, aber immerhin ist
es i n diesem Alter bereits imstande, ein soziales Lä cheln hervorzubringen, jene
Art von Lä cheln, die wir das ganze Leben hindurch einem Fremden bei der ers
ten Begegnung entgegenbringen.
9. Positive Emotionen 287
A B
c D
Wangen hoch, lä sst die Haut unter den Augen Falten bilden,
und verengt die Augenöffnung, sodass in den Augenwinkeln
Krähenfüße entstehen - alles ohne jede Beteiligung des Ring
muskels.
In Bild D sind im Vergleich dazu die Augenbrauen und die
Haut zwischen Augenlid und Augenbraue durch den Ring
muskel heruntergezogen. D zeigt ein breites Lächeln der Freu
de, C ein sehr breites unfrohes L ächeln. Aufnahme C ist
übrigens eine Fotomontage aus D und dem neutralen Foto
E. Foto F ist ebenfalls eine Fotomontage, bei der die lächeln
den Lippen aus D in das neutrale Bild E eingefügt wurden.
Es sollte Ihnen seltsam vorkommen, und das liegt daran, dass
ein natürliches breites Lächeln s ä mtliche der in D gezeigten
Veränderungen um Augen und Wangen mit sich bringt. Ich
habe diese Montage angefertigt, um die Tatsache zu veran
schaulichen, dass an einem sehr breiten Lächeln eben nicht
nur die Lippen beteiligt sind, sondern auch die Wangen und
die Bereiche rund um die Augen.
Es gibt viele verschiedene Arten von "künstlichem" Lä
cheln. Manche, wie das höfliche Lächeln, bestehen nur aus
den lächelnden Lippen. Dasselbe findet sich auch, wenn je
mand beim Zuhören lächelt, um dem Sprecher Übereinstim
mung oder Verständnis zu signalisieren. Bei anderen Formen
9. Positive Emotionen 289
E (neutral) F
zögerliches Lächeln
290 GefühJe lesen
G H
9. Positive Emotionen 293
ist definiert als die blanke Freude, die man empfindet, wenn
man ein Risiko eingeht und sich der Herausforderung gegen
übersieht, eine andere Person in den Griff zu bekommen.
Verachtung, Erregung und Vergnügen vereinen sich wahr
scheinlich zur Lust am Betrügen. Sie ist nur schwer einzu
d ä mmen und bringt die Person oft zum Prahlen, was die
Lüge erkennbar werden lä sst. Am wahrscheinlichsten ist die
Freude am Betrügen, wenn man die Zielperson des Lügners
für jemanden hält, der sich nur schwer austricksen lä sst. Und
das trifft auch zu, wenn andere, die mit dem Lügner verbün
det sind, anwesend sind, die wissen, dass hier gelogen wird.
Bei den beschriebenen Emotionen handelt sich nicht um
die einzigen, die man vielleicht empfindet, wenn man sich
auf eine schwerwiegende Lüge einlässt, eine Lüge, deren Fol
gen für den Lügner und die Zielperson von Bedeutung sind.
Der Lügner ist vielleicht aus einer Reihe von Gründen ärger
lich über seine Zielperson. Er kann jedoch der Auffassung
sein, er müsse den Ärger verbergen, um mit der Lüge durch
zukommen. In ähnlicher Weise kann beim Lügner Ekel ge
genüber seiner Zielperson aufkommen. Oder er empfindet
eine dieser Emotionen gegenüber sich selbst, weil er sich auf
die Lüge einlä sst.
Bevor wir auf einen weiteren Punkt kommen, ist es wich
tig, drei bedeutsame Einschränkungen zu beschreiben. Wei
ter oben habe ich erläutert, dass es keine Anzeichen für das
Lügen selbst gibt, sondern nur Hot Spots . Emotionen, die
nicht zum Kontext passen, können ein solcher Hot Spot sein.
Doch es kann aus vielen Gründen zu Emotionen kommen,
nicht nur weil jemand lügt. Auf Seite 80 habe ich betont, dass
emotionale Signale uns nichts darüber verraten, wodurch sie
herbeigeführt wurden. Wir riskieren, Othellos Fehler zu ma
chen, wenn wir zu folgendem Schluss kommen: Eine Emo
tion, die wir wahrnehmen, beruht auf Lügen. Dann
berücksichtigen wir n ämlich andere Faktoren nicht, die die
Emotion ausgelöst haben könnten. Obwohl es verlockend
ist, ein solches vorzeitiges Urteil zu fällen, müssen wir mit
1 0. Lügen und Emotionen 307
den, dann ist das s o etwas wie die sprichwörtliche Suche nach
der Nadel im Heuhaufen. Aber wenn man die Nadel nicht
findet, so könnte dies einen enormen Schaden anrichten. Es
ist schlicht nicht möglich, mit jedem Menschen, der auf ei
nem amerikanischen Flughafen eintrifft, ein Gespräch zu
führen. Israelische Sicherheitsbeamte können diesen Ansatz
verfolgen, weil nur 50 000 Menschen am Tag über den ein
zigen internationalen Flughafen des Landes ein- und ausrei
sen. Doch in den Vereinigten Staaten kann man nicht mit
allen zwei Millionen Reisenden am Tag Gespräche führen.
Am Flughafen wird das Ticket überprüft, das Gepäck
durchleuchtet und die Namen mit einer Liste von Personen
verglichen, nach denen man sucht. Durch die Verhaltensbe
obachtung kommt jetzt eine weitere Ebene der Sicherheits
überprüfung hinzu. Das Programm, das von der Transpor
tation Security Administration entwickelt wurde und in dem
jetzt unser Training zur Beurteilung der Ehrlichkeit enthal
ten ist, heißt SPOT für Screening Passengers by Observa
tional Techniques (Rasterung von Passagieren mithilfe von
Beobachtungstechniken) . (Wir haben auch an einem entspre
chenden Program m für britische Flugh ä fen mitgewirkt.)
Beim SPOT- Personal geht es nicht u m die Leute, die Ihr
Handgep äck durchsuchen oder Sie bitten, Ihre Schuhe aus
zuziehen. Sie stehen etwas abseits und beobachten alle Per
sonen, um etwas aufzuspüren, was nicht ganz stimmt. Sie
suchen nach Menschen, die sich etwas anders benehmen als
die meisten, die in der Schlange warten. Es kann ein Mikro
ausdruck sein oder eine von vielen anderen Verhaltensweisen
auf der Checkliste. Wenn sie eine gewisse Anzahl verdächtiger
Anzeichen aufweisen, geht der SPOT-Beamte auf die Person
zu und stellt einige Fragen, w äh rend sie weiterhin in der
Schlange bleibt. In der übergroßen Mehrzahl der Fälle ent
decken sie eine harmlose Ursache für das ungewöhnliche
Verhalten. Beispielsweise kann sich herausstellen, dass eine
Person, die viele Anzeichen von Besorgnis zeigt, sich daran
zu erinnern versucht, ob sie den Ofen ausgestellt hat, als sie
318 Gefühle lesen
haben wir zwar auch - wie nahezu allen anderen Studien über
Emotionen - individuelle Unterschiede gefunden, doch da
die Beweise für das Vorliegen von Universalien so schlagend
waren, konnte man die individuellen Unterschiede zunächst
vernachl ä ssigen.
Mich hatte die Frage nach den Universalien zunächst an
gezogen, weil sie auf eine so illustre Geschichte zurückblickt;
berühmte Leuten haben darüber gestritten. Nachdem dieser
Disput zu meiner Zufriedenheit gelöst war, begann mich die
Untersuchung der individuellen Unterschiede zu locken, weil
ich darin eine Möglichkeit sah, mein eigenes Leben und das
meiner Familie und meiner Freunde, besser zu verstehen. Ich
versuche nicht herauszufinden, warum wir uns bezüglich un
serer emotionalen Erfahrungen unterscheiden. Zunächst ein
mal geht es darum, den Finger auf diese Unterschiede zu
legen und festzustellen, worin sie bestehen, um die Grund
lage für eine individuelle Charakterisierung des emotionalen
Profils zu schaffen. Mich erstaunt es, dass einige der grund
legendsten Fragen über die individuellen Unterschiede emo
tionaler Erfahrung bislang nie gestellt, geschweige denn
beantwortet worden sind.
Wir wissen, dass Menschen sich hinsichtlich der für sie ty
pischen Intensität einer bestimmten emotionalen Erfahrung
unterscheiden. Für manche Menschen ist eine sehr heftige
Zornreaktion typisch, andere empfinden Zorn eher gem ä
ßigt bis ged ämpft (auch ohne dass sie ihre Wut vors ätzlich
kontrollieren müssen) . Manche Menschen werden rascher
zornig als andere, und bei einigen h ält Zorn lange an, wäh
rend er bei anderen rasch verraucht ist. Wenn Zorn abzueb
ben beginnt, kann das schnell geschehen oder nur ganz all
m ählich. Allein zu diesen vier unterschiedlichen Varianten
einer emotionalen Reaktion - Spontaneität, Stärke und Dau
er sowie der Zeitspanne, die es braucht, bis sie abklingt und
wieder Normalniveau erreicht - lässt sich eine Fülle von in
teressanten Fragen stellen. Regt sich jeder, der sehr rasch zor
nig wird, auch rasch wieder ab, oder gibt es auch den Fall,
Resümee: Mit Emotionen leben 323
B evor ich zum Ende komme, möchte ich noch ein paar
Emotionen erwähnen, über die ich in diesem Buch bisher
nicht berichtet habe : Schuld, Scham und Verlegenheit.* 2 Diese
Emotionen scheinen das letzte der oben genannten Kriterien
nicht zu erfüllen: Für sie gibt es keine deutlichen Signale, an
hand derer sie sich leicht voneinander oder von Traurigkeit
unterscheiden lassen. Bei Schuld und Scham ist dies freilich
sinnvoll, denn wer diese Emotionen empfindet, will in der
* Im Jahre 1 872 behauptete Charles Darwin, wie ich glaube zu Recht, dass Ver
legenheit hervorgebracht wird durch Aufmerksamkeit, die dem eigenen Selbst
insbesondere der äußeren Erscheinung - zuteil wird; dies gilt für die Reaktion auf
Lob und Tadel gleichermaßen.
Resümee: Mit Emotionen leben 327
Testan leitung
Sie benötigen ein Blatt liniertes Papier, auf dem Sie oben die
B egriffe Zorn, Angst, Trauer, Ekel, Verachtung, Überra
schung und Freude notieren; dies sind Ihre möglichen Alterna
tiven für die in den folgenden 14 Fotografien dargestellten
Gesichtsausdrücke. Die Z eilen darunter nummerieren Sie
von 1 bis 14 durch. Sollten die vorgegebenen Begriffe das
nicht treffen, was Sie in dem jeweiligen Bild zu sehen glauben,
können Sie ein beliebiges anderes Wort dafür notieren. Außer
dem benötigen Sie einen Streifen Papier als Lesezeichen.
Es genügt, wenn Sie die einzelnen Bilder zunächst nur den
Bruchteil einer Sekunde anschauen; dies entspräche einem
Mikroausdruck. Sp äter werden Sie Gelegenheit haben, sie
länger anzuschauen und herauszufinden, ob Sie dann besser
abschneiden.
Sie sollten das Gesicht in annähernd derselben Größe wahr
nehmen, wie Sie es Wirklichkeit auch sehen würden. Da das
Bild kleiner ist als der Kopf eines Menschen, müssen Sie es
auf Armesl änge von sich entfernt halten, dann zeigt sich auf
Ihrer Retina in etwa dasselbe Bild, als s äße Ihnen jemand in
normaler Gesprächsdistanz gegenüber.
Es ist wichtig, dass sie immer nur ein Bild zur Zeit betrach
ten. Schauen Sie es so kurz wie irgend möglich an und klap
pen Sie dann das Buch sofort zu. (Lassen Sie ein Lesezeichen
darin, dann finden Sie die Stelle nachher leichter wieder.) In
Anhang: Gesichter lesen - der Test 333
manchen Fällen werden Sie nicht wissen, was für eine Emo
tion die Aufnahme darstellt, aber schauen Sie keinesfalls ein
zweites Mal. Folgen sie Ihrer Eingebung, vertrauen Sie Ihrer
Intuition, notfalls raten Sie, denn vielleicht erkennen Sie den
Ausdruck - erinnern Sie sich, er ist universal und in unserer
Wahrnehmung eingegraben -, ohne dies zu realisieren. Schrei
ben Sie einen der oben auf der Seite aufgelisteten Emotions
begriffe oder einen, der I hrer Ansicht nach besser passt,
neben die Bildnummer, und fahren Sie fort, bis Sie alle Bil
der bewertet haben.
Nun bekommen Sie eine zweite Chance, j etzt dürfen Sie
länger hinsehen. Es empfiehlt sich, eine Pause von ein paar
Minuten einzulegen und ein neues Blatt zu verwenden, da
mit Sie sich nicht so leicht Ihrer ersten Entscheidungen erin
nern. Wenn Sie bereit sind, halten Sie das Buch erneut auf
Armeslänge vor sich und schauen die Fotos nacheinander an,
dieses Mal jeweils eine Sekunde lang (sagen Sie im Geist lang
sam "eintausend") ; schreiben Sie anschließend erneut Ihre
Deutung nieder. Sie fragen sich vielleicht, warum Sie nur eine
Sekunde auf das Bild blicken dürfen, denn Gesichtsausdrü
cke halten mit Sicherheit oft länger an. Wir haben jedoch fest
gestellt, dass im Verlauf eines Gesprächs ein Gesichtsausdruck
zwischen einer halben und zweieinhalb Sekunden erhalten
bleibt. Manche mögen länger als eine Sekunde bestehen, aber
sie konkurrieren um Ihre Aufmerksamkeit mit den Worten,
Gesten und Äußerungen Ihres Gegenübers und Ihren eige
nen Gedanken zu dem, was die betreffende Person sagt und
tut, von anderen Ablenkungen gar nicht zu reden.
Wenn Sie den Test zum zweiten Mal durchgeführt haben,
können Sie ihn sich, wenn Sie die Geduld dazu haben, ein
drittes Mal vornehmen; dieses Mal schauen Sie so lange auf
die Fotos, wie Sie wollen.
Wenn Sie bereit sind, die Antworten anzuschauen, blät
tern Sie weiter bis Seite 320. Notieren Sie, wie oft Sie per In
tuition beziehungsweise mit etwas Übung richtig gelegen
haben.
Foto 1
Foto 2
Foto 3
Foto 4
Foto 5
Foto 6
Foto 7
Foto S
Foto 9
Foto 1 0
Foto 1 1
Foto 1 2
Foto 1 3
Foto 14
348 Gefühle lesen
Foto I
Leichte Traurigkeit. Wenn Sie nach einem verwandten Wort suchten, trä
fen auch "niedergeschlagen", "trübselig" oder "deprimiert" zu. Der Aus
druck zeigt sich vor allem in den herunterh ängenden Oberlidern. Müde
und schläfrig könnte auch zutreffen, nicht als Synonyme, sondern weil
die Augenlider im Falle von Müdigkeit ganz ä hnlich aussehen wie bei
Traurigkeit. Senken sich die Augenlider aufgrund von Müdigkeit, ist aller
dings häufig zugleich zu beobachten, dass der Blick seinen Fokus verliert;
manchmal tritt auch ein G ähnen oder ein Kopfzittern auf. N ä heres zum
Thema Traurigkeit finden Sie in Kapitel 5.
Foto 2
Ekel. Wieder kämen auch andere, verwandte Begriffe in Betracht, aller
dings keine aus der Zornfamilie - also nicht "verärgert" zum Beispiel
oder "gereizt". Das Schlüsselsignal ist die leichte Kontraktion jenes Mus
kels, der die Augen verengt und der Nase ein gerümpftes Aussehen ver
leiht. Kapitel 8 erkl ärt genauer, wie sich E kel und Wut unterscheiden
lassen.
Foto 3
Wieder leichte Traurigkeit, dieses Mal erkennbar an den leicht herun
tergezogenen Mundwinkeln. Vergleichen Sie die Lippen in diesem Bild
mit denen aus Foto 1 ; dort sind sie entspannt. Trauer wird durch die Stel
lung von Lippen oder Augenlidern oder beiden ausgedrückt. Näheres sie
he Kapitel 5 .
Foto 4
Leichte Freude. Jeder Begriff in dieser Färbung - "zufrieden", "in bester
Ordnung", "gutes Gefühl" - passt auch. Vergleichen Sie die Lippen aus
diesem Bild mit denen in Foto 1. Kapitel 9 beschreibt das äußere Erschei
nungsbild von Vergnügen.
Foto 5
Extrem kontrollierter oder sehr schwach ausgeprägter Zorn - oder auch
Entschlossenheit. Man kann hier nicht ganz sicher sein, solange der ein
zige Hinweis in leicht zusammengepressten, schmalen Lippen besteht.
Aber es ist gut, diesen Hinweis nicht zu übersehen, mag er noch so mehr
deutig sein, denn wenn Sie ihm in Wirklichkeit begegnen, können Sie in
der Regel aus dem, was Sie oder der Betreffende getan oder gesagt haben,
schließen, ob es sich um ein Zeichen von Ärger oder von Entschlossen
heit handelt. Es kann sich hier um das allererste Anzeichen aufziehender
Anhang: Gesichter lesen - der Test 349
Wut handeln und Sie somit frühzeitig warnen, bevor es kein Zurück mehr
gibt. Manchmal ist dieses Signal bereits erkennbar, wenn der andere selbst
noch gar nicht bemerkt hat, dass er ärgerlich wird. Mehr über Ärger und
Zorn findet sich in Kapitel 6.
Foto 6
Leichte oder sehr kontrollierte Angst. Der häufigste Fehler besteht da
rin, dies als Anzeichen von Ekel zu missdeuten. Der Schlüssel für Angst
sind die leicht angespannten Lippen. Gelegentlich wird jemand, der über
eine Situation spricht, in der er Angst empfunden hat, oder sich an eine
solche erinnert, diesen abgeschwächten Ausdruck an den Tag legen, auch
ohne in diesem Moment das Gefühl zu empfinden. Angst wird in Kapi
tel 7 besprochen.
Foto 7
Noch einmal Ekel, diesmal nicht an den Augen und der Nase erkennbar,
sondern an der leicht hochgezogenen Oberlippe. Auch Geringschätzung
äußert sich so. Ekel wird ausführlich in Kapitel 8 besprochen.
Foto 8
Erregt, unglücklich, elend, bestürzt ... Dies sind lauter mögliche Beschrei
bungen, die allesamt mit dem Ärgerthema "Hindernis auf dem Weg zum
Ziel" zu tun haben. Vielleicht handelt es sich hier sogar um extrem kon
trollierten Zorn. Die gesenkten Brauen und die angespannten Unterlider
sind ein Signal für Wut. Mehr darüber und über die Unterscheidung zwi
schen diesen Möglichkeiten siehe Kapitel 6
Foto 9
Ein maskierter Ausdruck des Zorns. Eve sieht froh aus, weil sie lächelt,
aber die Augenbrauen passen nicht zu einer positiven Emotion. Es könnte
ein Versuch sein, Zorn (der sich in der Stellung der Augenbrauen spiegelt)
mit einem fröhlichen Lächeln zu überspielen, oder eine Mischung aus Är
ger und Freude oder auch eine gewisse Belustigung darüber, dass man ver
wirrt oder durcheinandergebracht worden ist. Die Augenbrauen in diesem
Foto gleichen denen in Bild 8, nur fällt hier die Bewegung ein kleines biss
eben stärker aus. Mehr zum Thema Ärger und Zorn in Kapitel 6.
Foto 1 0
Angst oder Überraschung - oder auch gespannte Aufmerksamkeit. Es is1
schwer, dies mit Sicherheit zu entscheiden, wenn sich das Signal allein auJ
die hochgezogenen Oberlider beschränkt. Im Falle von Angst oder Über·
raschung wäre es entweder eine nur gering ausgeprägte Empfindung ode1
aber eine sehr kontrollierte Form eines starken Gefühls. Angst und Über·
raschung sind in Kapitel 7 erkl ärt.
350 Gefühle lesen
Foto I I
Kontrollierter Zorn, sehr m ä ßige, eben beginnende Verärgerung oder
auch Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzentrieren. Besteht das Sig
nal allein in den hochgezogenen Brauen, kann nur der Zusammenhang
helfen, die richtige Deutung zu finden. Mehr zum Thema Ärger und Zorn
in Kapitel 6.
Foto 1 2
Sorge, B efürchtung oder kontrollierte Angst. Diese Stellung der Augen
brauen ist eines der verl ässlichsten Anzeichen für diese Gefühle. Kapi
tel 7 erläutert, wie es sich vom Augenbrauensignal der Überraschung unter
scheidet.
Foto 1 3
Kontrollierter Zorn oder Verärgerung. Den entscheidenden Hinweis gibt
der vorgeschobene Unterkiefer. Die unteren Augenlider sind leicht ange
spannt. Das gesamte Spektrum der Ärger- und Zornsignale beschreibt
Kapitel 6 .
Foto 1 4
Verächtlich, selbstzufrieden oder geringschätzig. D i e Anspannung des
einen Mundwinkels signalisiert diese Gruppe miteinander verwandter
Emotionen. Mehr über Verachtung und darüber, wie sie sich von Ekel
unterscheidet, findet sich in Kapitel 8.
Machen Sie sich keine Gedanken darüber, wie oft Sie falsch
gelegen haben. Die meisten Menschen, die diese Aufnahmen
nur kurz betrachten, tippen nicht öfter als fünfmal richtig.
Selbst bei längerem Betrachten trifft das Urteil der meisten
Menschen höchstens zehnmal zu. Die Aufgabe ist nicht leicht,
denn die Gesichtsausdrücke sind nur partiell oder schwach
ausgeprägt, und manchmal überlagern sich auch zwei Emo
tionen. Die Emotionen zielsicherer herauszufiltern sollte ein
facher werden, wenn Sie die Erklärungen gelesen haben, die
Ihnen sagen, wie sich die einzelnen Gefühle im Gesicht ma
nifestieren, und wenn Sie viele Aufnahmen gesehen haben,
die subtile Ausprägungen der einzelnen Regungen zeigen
und Ihnen damit helfen, diese Signale bewusster wahrzuneh
men.
Anhang: Gesichter lesen - der Test 351
Gehirn plausibel. 3
Probieren Sie die Achtsamkeits -Meditation am besten ein
mal aus, um herauszufinden, ob Sie damit zurechtkommen.
Um es noch einmal zu sagen: Dies ist keine leichte Aufgabe,
und Sie werden in Ihrem Gefühlsleben nur bei regelmäßiger
356 Gefühle lesen
4. Emotionales Verhalten
1 . Dank an Peter Goidies Ü berlegungen zu diesem Thema in seinem
Buch The Emotions (2000) Oxford University Press, New York: 1 1 3 .
2 . Ekman, P . (1985) Telfing Lies: Clues to Deceit in the Marketplace, Marriage,
and Politics. W. W. Norton, New York. Die dritte Auflage wurde 2002
von W. W. Norton herausgegeben. [Deutsche Ausgabe der 1. Auflage
( 1 989) Weshalb Lügen kurze Beine haben. De Gruyter, B erlin, New
York] .
3. Gottman, J . M., Levenson, R. W. (1 999) How stable is marital inter
action over time? Family Processes 3 8 : 1 59-165.
4. Genaueres zum Othello - Fehler bei der Einsch ätzung einer vermeint
Iichen Lüge findet sich in meinem Buch Telfing Lies (siehe 2 .) .
5. Scherer, K.,Johnstone, T., Klasmeyer, G . (2003) Vocal Expression of
Emotion. I n : D avidson, R . , Goldsmith, H . , Scherer, K. R. (Hrsg.)
Handbook ofAffictive Science. Oxford University Press, New York.
6. Ekman, P., O'Sullivan, M . , Frank, M. (1999) A few can catch a liar.
Psychological Science 1 0 : 263-266 Ekman P., O'Sullivan M. (1991) Who
can catch a liar? American Psychologist 46: 9 1 3 -920.
7. Banse, R., Scherer, K. R. (1996) Acoustic proflies in vocal emotion
expression. journal ofPersonality and Social Psychology 70 : 614-636.
8 . Frijdas Beschreibung der für die einzelnen Emotionen typischen Ak
tionen umfasst, was ich hier schreibe, geht aber um einiges darüber
hinaus. Ich glaube, dass nur diese rudimentären Bewegungsans ätze
angeboren, automatisiert und universal sind.
9. Levenson, R. W., Ekman, P., Heider, K., Friesen, W. V. (1 992) Emo
tion and autonomic nervous system activity in the Minangkabau of
West Sumatra. Journal of Personality and Social Psychology 62 : 972-988.
Levenson, R. W., Carstensen, L. L., Friesen, W. V., Ekman, P. (1991)
Emotion, physiology, and expression in old age. Psychology and Aging
6 : 28-35. Levenson, R. W., Ekman, P., Friesen, W. V. (1990) Volun
tary facial action generates emotion speci fic autonomic nervous sys
tem activity. Psychophysiology 27: 363-384. Ekman, P., Levenson, R. W.,
Friesen, W. V. (1983) Autonomie nervous system activity distinguishes
between emotions. Science 221 : 1 208-1 210.
1 0 . Stein, N . L., Ornstein, P. A., Tversky, B., Brainerd, C . (1997) (Hrsg.)
Memoryfor Everyday and Emotional Events. Lawrence Erlbaum Associ
ates, Mahwah, N .J .
Anmerkungen 365
7. Ü berraschung un d Angst
Thema Angst und Besorgnis und die von ihnen aufgeführten Befunde
anderer: Rhudy, J. L., Meagher, M. W. (2000) Fear and anxiety: Diver
gent effects on human pain thresholds. Pain 84: 65-75.
5. Ebenda.
6 . Schmidt, L. A., Fox, N . A. (1999) Conceptual, biological and behav
ioral distinctions among different categories of shy children. I n :
Schmidt, L. A., Sculkin, J . (Hrsg.) Extreme Fear, Shyness, and Social Pho
bia: Origins, Biological Mechanisms, and Clinical Outcomes. Oxford Univer
sity Press, New York: 47-66.
7. Ebenda.
8. Kagan , J. (1999) The concept of behavioral inhibition. Ebenda: 3-1 3.
9. Crozier, W. R. (1999) Individual differences in childhood shyness:
Distinguishing fearful and self- conscious shyness. Schmidt und Fox,
Conceptual, biological and behavioral distinctions. Ebenda: 14-29 und
47-66.
10. Einen (;roßteil des hier (;esagten habe ich Ohmans außerordentlich
interessantem Kapitel "Fear and anxiety: Evolutionary, cognitive, and
clinical perspectives." entnommen. Ohman, A. (2000) In: Lewis, M.,
Haviland-Jones J . (Hrsg.) The Handbook of Emotions. 2 . Auflage. The
(;uilford Press, New York: 573-593.
1 1 . Siehe Ekman, P. (1985) Telling Lies: Clues to Deceit in the Marketplace,
Marriage, and Politics. W. W. Norton, New York [Deutsche Ausgabe der
1. Auflage (1989) Weshalb Lügen kurze Beine haben. De (;ruyter, Berlin,
New York] Eine dritte Auflage ist 2002 bei W. W. Norton erschienen.
9. Positive Emotionen
1 . Buell, H. (Hrsg.) Moments. Black Dog and L eventhal, New York:
108.
2. Siehe unter anderem Synder, C . R., Lopez, S . J . (Hrsg.) (2002) The
Handbook of Positive Psychology. Oxford University Press, New York.
Eine kritische Würdigung erfährt diese Arbeit in R. Lazarus, Does
the positivity movement have legs ? (in Vorbereitung) PsychologicaJ
lnquiry.
3. Fredrickson, B. L., Branigan, C . (2001) Positive emotions. In: Mayne,
T. ] . , Bonanno, G. A. (Hrsg.) Emotions: Current Issues and Future Direc
tions. The Guilford Press, New York: 1 23-1 5 1 .
4 . Zum Thema Humor siehe Ruch, W., Ekman, P . (2001) T h e expres
sive pattern of laughter. In: Kaszniak, A. W. (Hrsg.) Emotion, Qualia,
and Consciousness. Word Scientific Publisher, Tokyo : 426-443. Siehe
auch Bachorowski, J., Owren, M . J. (2001) Not all laughs are alike :
Voiced but not voiced laughter readily elicits positive affect. Psychologi
cal Science 1 2 : 252-257.
5. Ekman, P. (1 992) An argument for basic emotions. Cognition and Emo
tion 6 : 1 69-200.
6. Keltner, D., Haidt , J . (2003) Approaching awe, a moral, aesthetic, and
spiritual emotion. Cognition and Emotion 17: 297-314.
7. Mein Dank an Paul Kaufman, dem auffiel, dass ich diese Emotion
ausgelassen hatte.
8. Ich habe dazu einen zweiten italienischen Fachmann für Emotionen
372 Gefühle lesen
befragt, Pio Ricci Bitti. Er hat mir bestätigt, dass ftero wohl der beste
Begriff für das ist, was ich hier beschreibe. Er nennt noch einen wei
teren Ausdruck - appagato - , aber ich habe mich für ftero entschieden,
weil mir sein Klang zu der beschriebenen Erfahrung besser zu pas
sen scheint. Das Wort selbst ist jedoch nicht so wichtig, der springende
Punkt ist, dass mit ihm eine weitere Art von positiver Emotion cha
rakterisiert wird.
9. Lewis, M. (2000) Self- conscious emotions. In: Lewis, M., Haviland
Jones, J. (Hrsg.) The Handbook of Emotions. 2. Auflage. The Guilford
Press, New York.
10. Rosten, L. (1968) Thejoys of Yiddish. Packet Books, New York. 257.
1 1 . Ebenda.
1 2 . Haidt,J. (2000) The positive emotion of elevation. Prevention and Treat
ment 3.
1 3 . Lazarus, R., Lazarus, B . N . (2001) T h e emotion of gratitude. Vorge
stellt auf einer Konferenz der American Psychological Association,
San Francisco, Kalifornien.
14. Smith, R. H., Turner, T. J., Garonzik, R., Leach, C. W., Vuch-Druskat,
V., Weston, C. M. (1996) Envy and Schadenfreude. Personality and Social
Psychology Bulletin 22: 1 58-168. Brigham, N. L., Kelso, K. A.,Jackson,
M. A., Smith, R. H. (1 997) The roles of invidious comparison and de
servingness in sympathy and Schadenfreude. Basic andApplied Social Psy
chology 1 9 : 363-380.
15. Mein Dank gilt Jenny Beer, die mich darauf aufmerksam machte.
1 6 . Ein sehr interessanter Beitrag über Liebe ist Solomon, R. C. (1988)
A bout Love. Sirnon und Schuster, New York. Eine neuere Zusam
menfassung der Forschung zum Thema Liebe, in der diese als Emotion
behandelt wird, liefern Hatfield, E . , Rapson, R. J. (2000) Love and
attachment processes. In: Lewis and Haviland-Jones, The Handbook of
Emotions (siehe 9.) .
17. Siehe folgende Artikel : Diener, E. (2000) Subjective well- being: The
science of happiness and a proposal for a national index. American Psy
chologist 5 5 : 34-43. Myer, D. G. (2000) The funds, friends, and faith
of happy people. American Psychologist 5 5 : 56-67.
1 8 . Eine Zusammenfassung dieser und ä h nlich gelagerter Forschung
findet sich in Averill, J. R., More, T. A. (2000) Happiness. In: Lewis
and H aviland-Jones The Handbook of Emotions. (siehe 9.) : 663-676.
19. Ebenda.
20. Peterson, C . (2000) The future of optimism. American Psychologist 55 :
44-55.
21. Eine neuere Übersicht und die neuesten B e funde fi nden sich i n :
Danner, D. D . , Snowdon, D . A . , Friesen, W. V. (2001) Positive emotions
in early life and longevity: Findings from the nun study. Journal ofPer
sonality and Social Psychology 8 0 : 804-81 3 .
Anmerkungen 373
land, S., Miller, I . ( 1 9 92) The nature and severity of self- reported
embarrassing circumstances. Personality and Social Psychology Bulletin 1 8
(2) : 190-1 9 8 .
3. Keltner, D. (1 995) Signs of appeasement: Evidence for t h e distinct
displays of embarrassment, amusement, and shame. Journal of Person
ality and Social Psychology 68: 441-454. Vergleiche dazu auch meine Aus
einandersetzung mit seinen B e obachtungen in Ekman, P. ( 1 9 9 7 )
Conclusion: What w e have learned b y measuring facial behavior. In:
Ekman, P., Rosenberg, E. L. (Hrsg.) What the Face Reveals. Oxford Uni
versity Press, New York: 469-495.
4. Mehr über Neid findet sich in Salovey, P. (1991) (Hrsg.) The Psycho/ogy
ofJea/ousy and Enry. The Guilford Press, New York. Siehe auch Kapitel
10 des faszinierenden Buchs von Ben Ze'ev, A. (2000) The Subt/ety OJ
Emotions. MIT Press, Cambridge, Mass.
5. Davidson, R . ] . , Scherer, K. R., Goldsmith, H . H. (2003) Handbook OJ
Alfective Sciences. Oxford University Press, New York.
Nachwort
1. Goleman, D. (2003) Destructive Emotions: How Can We Overcome Them
Bantarn Books, New York [Deutsche Ausgabe (2003) Dialog mit den
Da/ai Lama. Wie wir destruktive Emotionen überwinden k innen.
i Hanser
München, Wien] .
2. Bennett- Goleman, T., Dalai Lama (2002) Emotiona/A/chemy. How th
Mind Can Hea/ the Heart. Three Rivers Press, New York [Deutsche Aus
gabe (2002) Emotionale Alchemie. Krüger, Frankfurt am Main ] . Wal
lace, A., Quirolo, L. (Hrsg.) (2001 ) Buddhism with an Attitude. Snov
Lion Publications, Ithaka/N.Y. Kabat-Zinn, J . (1 995) Wherever You G
There You Are. Mindfu/ness Meditation in Everydqy Lift. Hyperion, Nev
York [Deutsche Ausgabe (1 995) Stark aus eigener Kraft. Barth, Bern
München, Wien] .
376 Gefühle lesen
L M
Shakespeare, W. 8 1 T
Shirley, B . 1 1 8-120, 1 23, 1 27,
1 34-1 39, 142, 145, 149, 223 Tarnung 302
Sicherheit, Flughafen 316, 317 Täuschung 300, 310
Signale, siehe Emotionssignale Tavris, C . 168, 341
sinnliches Genießen (sensory Temperament 92, 1 29
pleasures) XX, 264-266 Terroristen, suchen 316
Sorenson, R. 13, 332 Tierphobie 253
Sorge (worry, anxiety) XIX, 225, Tod 24, 47, 8 1 , 1 14, 118, 1 20,
229 f, 232, 350 1 2 2 f, 1 34 f
Sorsby, C . XII Tomkins, S . XVIII, 3 f, 8 , 84,
soziale Phobie 253 93, 99 f, 1 29, 220, 265, 267, 277,
Spionageabwehr 314 366
spontanes Denken 301 Tränen 83, 1 23, 1 28, 1 30, 1 34,
SPOT (Screening Passengers by 1 37
Observational Techniques) 317 Transpiration 28, 46, 90, 97
Sprachen XIX f, 3, 17, 49, 264, Trauer, Traurigkeit (sadness) XIX,
272, 276 1 1 7-154, 303, 304
Sprecherwechsel 297 Mimik 1 38-154
staunende Ergriffenheit (wonder, physisches Empfinden
wonderment) XX, 268-270, 1 34-1 36
275, 278 f und Medikamente 1 24 f
stechender Blick (glare) 178, 190, willkürliches Hervorrufen
192 f, 1 9 6 , 227 1 34-1 36
Steinzeitkulturen 6 f, 33, 1 22 Troisi, A. 1 57, 367
Stimme XVI, 28, 7 1 , 80, 83-89, Trost 1 2 5 , 149, 1 52 f
176, 267, 283, 330 Tuzla 1 26 f, 1 30, 1 34, 139 f, 149 f
Stimmungen 7 1 -73, 1 3 1 , 1 59, Twin Towers 3 1 1
177, 1 82 , 217, 280, 325, 357, 364 Typ -AlB - Persönlichkeit 177 f,
Stirm, L. 263, 278 196, 368
Stolz XX, 272 f
siehe auch jiero, kwe/n und ndcheß
stonewalling (Mauern) 80, 171 u
Störung
emotionale (emotional disorder) Überdruss (fed-up disgust) 244
1 31-133, 1 82-1 86, 2 1 7, 223, Überlebenswille 1 8
252, 282 f, 366 Überraschung XVII, 206-237
mentale 186 Mimik 228-237, 304
psychische XVII, 1 32, 1 87, und Angst 14-17, 210, 228,
242, 282, 340 231 f, 349
siehe auch Belastungsstörung Unglücklichsein (unhappiness)
Strafverfolgung 3 1 3 XIX, 5, 83, 1 7 1 , 286, 349
subjektives Wohlbefinden 29, 280 f und Lächeln 5
symbolische Gesten 5 Universalien XVII, 1-22, 30-
Index 38'
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