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107.

Vermittlung der Hörfertigkeit 969

Portmann[-Tselikas], Paul
1993 Rezeptive und produktive Fertigkeiten. In: Herder-Instuitut (Hg.), Deutsch als Fremd-
sprache 30(2): 96⫺99. Berlin: Langenscheidt.
Portmann-Tselikas, Paul R.
2001 Aufgaben statt Fragen. Sprachenlernen im Unterricht und die Ausbildung von Fertigkei-
ten. Fremdsprache Deutsch. Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts 24: 13⫺18.
Schwerdtfeger, Inge C.
1989 Sehen und Verstehen. Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin:
Langenscheidt.
Solmecke, Gert
1993 Texte hören, lesen und verstehen. Berlin: Langenscheidt.
Thonhauser, Ingo
2008 Konzeptualisierung von Textkompetenzim Fremdsprachenunterricht mit besonderer Be-
rücksichtigung des GeR. In: Christian Fandrych und Ingo Thonhauser (Hg), Fertigkei-
ten ⫺ integriert oder separiert? 87⫺106. Wien: Praesens Verlag.

Renate Faistauer, Wien (Österreich)

107. Vermittlung der Hörertigkeit


1. Die Wichtigkeit des Hörverstehens
2. Die Besonderheiten des fremdsprachlichen Hörverstehens und die daraus resultierenden
Probleme
3. Hörfertigkeit „vermitteln“
4. Schlussbemerkung
5. Literatur in Auswahl

1. Die Wichtigkeit des Hörverstehens

Wer nicht abgeschnitten vom Rest der Welt sein Dasein fristet, hört täglich in direkter
(in Dialogsituationen) wie in indirekter (über Medien) Kommunikation eine große Zahl
gesprochener Mitteilungen. Im Zusammenhang mit dieser alltäglichen Kommunikation
wird auch in der Fachliteratur immer wieder darauf hingewiesen, dass das Hörverstehen
als Teil der alltäglichen Kommunikation die wichtigste, da mit 45 % am häufigsten ge-
brauchte sprachliche Fertigkeit sei. An zweiter Stelle folgt das Sprechen (30 %), dann das
Lesen (16 %) und schließlich das Schreiben mit gerade einmal 9 % (so eine der Schätzun-
gen bei Hedge 2000: 228). Wer heute eine Fremdsprache erlernt, sei es innerhalb oder
außerhalb des Unterrichts, findet in aller Regel über das Hören Zugang zu ihr und wird
zumindest im Anfangsunterricht mit jedem neu zu lernenden sprachlichen Phänomen
hörend konfrontiert.

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2. Die Besonderheiten des remdsprachlichen Hörverstehens


und die daraus resultierenden Probleme
Hörverstehen ist keine Einbahnstraße, auf der Bedeutung vom Text zum Hörer übermit-
telt wird, sondern ein Vorgang, bei dem Informationen vom Text zum Hörer „aufstei-
gend“ (bottom up) und „absteigend“ (top down) als Sprach- und Sachwissen vom Hörer
zum Text fließen. Durch die Interaktion von Vorwissen und Textinformation entsteht
ein mentales Abbild der gehörten Informationen. Hörverstehen ist deshalb auch keine
passive, sondern eine rezeptive und auf Seiten der Hörenden mit sehr viel Aktivität ver-
bundene Fertigkeit.
Hörverstehen in einer Fremdsprache bereitet Lernenden und Unterrichtenden glei-
chermaßen Probleme; ersteren vor allem wegen der Flüchtigkeit des Hörereignisses und
letzteren wegen der Unsicherheit der Textauswahl sowie insbesondere der Antwort auf
die Frage, was eigentlich erfolgreiches Hörverstehen sei. Angesichts der Komplexität der
beim Hörverstehen ablaufenden Vorgänge und ihres über lange Zeit geringen Automati-
sierungsgrades sowie fehlender sprachlicher und außersprachlicher Vorkenntnisse haben
Anfänger in einer Fremdsprache besondere Schwierigkeiten. Von ihnen hört man immer
wieder, es werde „zu schnell“ gesprochen. Diese Klage, deren Berechtigung kompetente
Hörer nicht bestätigen können, verweist zum einen auf die Tatsache, dass Hörer im
Gegensatz zu Lesern das Tempo der Sprachaufnahme nicht selbst bestimmen können.
Zum anderen wird deutlich, dass Sprachanfänger mehr Zeit für den Verstehensvorgang
benötigen als Fortgeschrittene, da viele Teilprozesse, die später hochgradig automatisiert
sind und damit sehr wenig Zeit beanspruchen, bewusstes und daher zeitaufwendiges
Nachdenken erfordern.
Die Probleme beginnen bereits auf der Lautebene, wo die Erkennung der Lautgestalt
und die Identifizierung der Wörter in einem ununterbrochenen Lautstrom (Segmentie-
rung) mit erheblichem Zeitaufwand verbunden sind. Nicht selten schlägt bereits die Er-
kennung der Lautgestalt fehl, wenn etwa Einzellaute und Lautkombinationen, die in
der Muttersprache der Lernenden nicht vorkommen oder in Ausgangs- und Zielsprache
unterschiedlichen Phonemen zugeordnet werden, oder Dialektfärbungen der Aussprache
die Identifizierung be- oder verhindern. Störgeräusche, die der kompetente Hörer oft gar
nicht bewusst wahrnimmt, stellen für Anfänger in jedem Fall ein großes Hindernis dar.
Die das Verstehen sehr erleichternde Nutzung von Betonung und Intonation für die
Bedeutungserschließung ist für Anfänger noch kaum eine Hilfe. Ein lückenhaftes Voka-
bular kann die Identifizierung von Wörtern überhaupt verhindern, die noch unsichere
Beherrschung der bereits bekannten Wörter ein zu langes Nachdenken erforderlich ma-
chen. Nicht selten führt diese Unsicherheit dazu, dass Lernende den gehörten Text in die
Muttersprache übersetzen, um ihn sich verständlich zu machen ⫺ was nicht nur Zeit
kostet, sondern auch eine zusätzliche Fehlerquelle ist. Wechsel der Sprecher sind häufig
mit einem Wechsel der regionalen, sozialen und individuellen Aussprachevarianten und
damit einem für Anfänger sehr aufwendigen Umschaltvorgang verbunden, der den müh-
sam begonnenen Verstehensvorgang unterbricht oder sogar beendet.
Natürlich geschieht es auch in der Muttersprache, dass Hörer ein Wort oder auch
einen größeren Teil des Gesprochenen nicht aufnehmen Eine Untersuchung kam sogar
zu dem Ergebnis dass Hörer in Alltagsgesprächen normalerweise zwischen 20 % und 40 %
gar nicht mitbekommen und trotzdem verstehen (Gurney 1973: 96⫺97). Kompetente
Hörer nutzen hier die Fähigkeit des Inferierens, also des Erschließens des Nichtverstan-

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denen aus der verstandenen Umgebung. Diese Fähigkeit geht zwar mit Beginn des
Fremdsprachenlernens nicht verloren, wird aber nicht ohne weiteres auch für das fremd-
sprachliche Verstehen nutzbar gemacht, zumal sich ihre Basis wegen der noch geringen
Sprachkenntnisse nur langsam vergrößert. Ähnliches gilt für die sog. Antizipation, die es
dem kompetenten Hörer ermöglicht, aufgrund von Hinweisen (z. B. einer Ankündigung)
eine Vorstellung über das Kommende zu entwickeln, wodurch die zu verstehenden Text-
details reduziert und das Hörverstehen erleichtert wird. Und schließlich nutzt der kompe-
tente Hörer die Redundanz der Sprache zur Reduzierung der aufzunehmenden Textde-
tails, während Anfänger in einer Fremdsprache sie über lange Zeit nicht als solche erken-
nen und demnach auch nicht nutzen können.
Auch die Erkennung und Interpretation grammatischer Strukturen ist in den frühen
Stadien des Fremdsprachenerwerbs kaum automatisiert, sondern erfordert bewusste und
damit zeitraubende Denk- und Erinnerungsarbeit. Wenig ausgebildet ist darüber hinaus
die pragmatische Kompetenz, wodurch es Anfängern schwer fällt, die Funktion von Ge-
hörtem zu erkennen.
Ausgesprochen problematisch ist im Hinblick auf die für das Verstehen verfügbare
Zeit die Neigung von Anfängern beim Hören von Texten, diese nicht ganzheitlich (vgl.
Röhr 1993: 21⫺23), sondern additiv, d. h. Wort für Wort verstehen zu wollen, um so
allmählich die Bedeutung aufzubauen. Hierdurch ist angesichts der Fülle der zu behalten-
den Details sehr bald die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses erschöpft und der Verste-
hensvorgang beendet. Der kompetente Hörer versteht ganzheitlich, d. h. er geht schon
zu Beginn und auch im Fortlauf des Hörereignisses über das Gehörte hinaus, entwickelt
eine Vorstellung vom Textinhalt, unterscheidet auf dieser Basis Wesentliches von weniger
Wesentlichem und ergänzt Fehlendes durch Inferenz. Im weiteren Verlauf des Textes
werden die bereits vorhandenen Vorstellungen erweitert oder auch korrigiert. Immer aber
bleibt das Ergebnis ein bezüglich der zu speichernden Informationsmenge gegenüber der
Summe der aufgenommenen Details erheblich reduziertes Ganzes. Gedächtnisentlastung
und Zeitgewinn sind die Folge, die dann für neue Informationen und die weitere Verar-
beitung des Gehörten zur Verfügung stehen.
Die verhängnisvolle Neigung von Anfängern, Texte additiv verstehen zu wollen, wird
häufig durch den Unterricht selbst noch verstärkt. Zu nennen sind hier die nach wie vor
recht beliebten und auf Textdetails gerichteten „Fragen zum Text“. Sie behandeln jeden
Text als Sammlung von Sachinformationen und überfordern somit das Gedächtnis der
Lernenden, die nicht nur alles verstehen, sondern auch alles behalten müssen. Überforde-
rungen des Gedächtnisses aber setzen die Lernenden unter Druck und verstärken bei
ihnen das ohnehin vorhandene Gefühl, Hörverstehen sei erheblich schwieriger als Lesen
oder Sprechen. Zu nennen ist auch die häufig zu beobachtende Tendenz, jeden Text als
Text zum Lernen zu behandeln, als Transportmittel für einzuübende sprachliche Phäno-
mene, wobei die Aufmerksamkeit auf Details der sprachlichen Form und nicht auf den
Inhalt zu richten und wortwörtliches Verstehen unerlässlich ist. Jeder Konfrontation der
Lernenden mit einem Text sollte also die grundsätzliche Entscheidung vorangehen, ob
es sich um einen Text zum Lernen oder einen Text zum Hören handelt. Je nachdem, um
welche Textart es sich handelt, sollte auch der Umgang damit grundsätzlich verschieden
sein. Beim Text zum Lernen konzentriert sich die Aufmerksamkeit gewöhnlich auf das
noch nicht Verstandene und noch nicht Gelernte, beim Text zum Hören sollte sie sich in
aller Regel auf den Prozess des Verstehens und auf das Verstandene konzentrieren, auch
wenn es sich dabei nur um zunächst kleine, im Laufe der Zeit sich vergrößernde „Verste-

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hensinseln“ handelt. Wenn Unterrichtende sich mit dem Beharren auf einem vordefinier-
ten „richtigen“ Hörergebnis zurückhalten, können die Lernenden ohne Druck experi-
mentieren und Erkenntnisse über mehr oder weniger sinnvolles Umgehen mit Hörtex-
ten gewinnen.
Eine weitere Entscheidung betrifft die Schwierigkeit des Hörtextes. Bei der Textaus-
wahl sind nicht wenige potentielle Ursachen von Schwierigkeiten zu beachten, z. B.
schnelles und/oder undeutliches Sprechen, ungewohnte Dialektfärbungen, schnelle und/
oder überlappende Sprecherwechsel, mangelnde Unterscheidbarkeit der Sprecherstim-
men. Da aber Hörverstehensübungen auf außerunterrichtliche Hörsituationen vorberei-
ten sollen, in denen auf den Entwicklungsstand ihrer Hörfertigkeit nur wenig oder keine
Rücksicht genommen wird, sollten auch Hörtexte keineswegs immer genau auf die Ler-
nenden zugeschnitten sein. Sie sollten aber gerade bei Anfängern auch nicht zu schwierig
sein, um sie nicht zu entmutigen. Auf jeden Fall sollten Hörtexte gewisse Qualitätsan-
sprüche erfüllen. Sie sollten nach Lüger (1993: 113)
⫺ nur Äußerungen enthalten, die in einer gegebenen Situation möglich bzw. wahrschein-
lich sind;
⫺ den Konventionen des Sprachgebrauchs entsprechende Gesprächseinleitungen und
Gesprächsbeendigungen haben;
⫺ die für Dialoge typischen Rückmeldesignale enthalten, also etwa Nachfragen, Ver-
ständnissicherungen und/oder inhaltliche Bestätigungen durch den Hörer sowie Be-
zugnahmen des Sprechers auf Reaktionen des Hörers;
⫺ wenigstens in begrenztem Umfang Charakteristika spontan gesprochener Sprache
aufweisen, die für Alltagsdialoge typisch sind wie etwa gefüllte (ääh) oder ungefüllte
Pausen, das Verschlucken oder undeutliche Aussprechen weniger wichtiger, auch re-
dundanter Laute, Wortteile, Wörter, ungrammatische Formen und andere Fehler,
Denkpausen, Zögern, Selbstkorrekturen;
⫺ nicht nur glatt und ohne Komplikationen verlaufen, sondern auch Modelle für Miss-
verständnisse und ihre Behebung enthalten;
⫺ Elemente der Beziehungsregelung zwischen den Gesprächspartnern enthalten, also
etwa Elemente, die Höflichkeit, Freundlichkeit, Vertrautheit oder Fremdheit, abge-
schwächte Nichtübereinstimmung etc. ausdrücken;
⫺ gesprächsorganisatorische Elemente enthalten, also solche, die etwa den Sprecher-
wechsel regeln.
In diesem Zusammenhang ist noch auf eine weitere Besonderheit fremdsprachlichen Ver-
stehens im Unterricht zu verweisen: Im muttersprachlichen Alltag hören kompetente
Hörer selten einen Text ohne Verstehensabsicht, die nicht zuletzt darüber entscheidet,
wann wir mit unserer Verstehensleistung zufrieden sind: Geht es nur um eine einzelne
Information, um die Bestätigung einer Meinung, um wortwörtliches Verstehen zum Zwe-
cke der Befolgung von Anweisungen? Im Fremdsprachenunterricht dagegen ist die Ver-
stehensabsicht sehr häufig ganz pauschal aufs Zuhören gerichtet („Hört jetzt bitte genau
zu, ich stelle dann später Fragen.“). Die Folge ist in der Regel, dass das Verstehensergeb-
nis oft dem Zufall überlassen bleibt.
Die Notwendigkeit von Sachkenntnissen erfahren auch kompetente Hörer immer
dann, wenn sie einen Text über ein Sachgebiet hören, in dem sie sich nicht auskennen.
Viele zum Verstehen fremdsprachiger Texte erforderliche Sachkenntnisse sind kulturab-
hängig. Daher ist angesichts der Unterschiedlichkeit von Kulturen und der Tatsache,

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dass wir neue Inhalte immer auf der Basis vorhandenen Wissens zu verstehen versuchen,
mit Schwierigkeiten zu rechnen, wenn Lernende mit der Muttersprache erworbene
Kenntnisse auf fremdkulturelle Gegebenheiten übertragen. Miss- bzw. Nichtverstehen
sind die Folge (vgl. Art. 155). Da es ähnliche Übertragungen auch bei der sprachlichen
Form gibt, sollte den Lernenden frühzeitig bewusst gemacht werden, dass Vorwissen
einerseits unverzichtbar, sein Einsatz andererseits nicht ohne Gefahren ist.
Insgesamt ist vor allem für Anfänger jeder Versuch, einen fremdsprachigen Text zu
verstehen, ein Unternehmen mit unsicherem Ergebnis und kann daher mit Frustrations-
und Angstgefühlen verbunden sein, die sich nicht selten in einer allgemeinen Ablehnung
von Hörverstehensübungen niederschlagen. Gerade Anfänger sollten daher keineswegs
unter Druck gesetzt oder durch zu anspruchsvolle Aufgabenstellungen überfordert wer-
den. Ihnen kann man es eigentlich gar nicht „zu leicht“ machen. Lernzielbeschreibungen
setzen nicht ohne Grund auch Grenzen für das fest, was realistischerweise unter be-
stimmten Bedingungen zu erreichen ist. So verweist etwa das Zertifikat Deutsch (Weiter-
bildungs-Testsysteme GmbH u. a. 1999) in seinen Anforderungen an die Hörverstehens-
fertigkeit auf die Kompetenzstufe B1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens,
in dem es heißt: „Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwen-
det wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht“ (Euro-
parat 2001: Kap. 4.4.2.1).

3. Hörertigkeit vermitteln
Streng genommen kann man Hörfertigkeit in einer fremden Spreche nicht vermitteln,
zumindest wenn damit eine Art Unterweisung gemeint ist, die durch gezielte Steuerung
der Übungstätigkeit die Lernenden auf einem geraden Weg vom Nichtverstehen zum
Verstehen von Hörtexten führen will. Bis heute wissen wir über das fremdsprachliche
Hörverstehen im Vergleich z. B. zum Lesen nicht allzu viel, und die einschlägige For-
schung hat noch ein gutes Stück Weges vor sich, bevor sie nicht nur in Teilbereichen eine
gesicherte Basis für die Hörverstehensschulung liefern kann (zum Stand der Forschung
s. Vandergrift 2007). Aber auch auf der Basis des gegenwärtigen Wissensstandes lassen
sich einige grundsätzliche Überlegungen zur Hörverstehensschulung anstellen und sicher
ist, dass die Hörverstehensübung auf keinen Fall eine einfache Konfrontation des Hörers
mit dem Text und die Hörfertigkeit auch keineswegs, wie man vor wenigen Jahrzehnten
noch glaubte, ein Nebenprodukt der Entwicklung der Sprechfähigkeit ist (vgl. auch
Art. 106).
Die Vermittlung der Hörfertigkeit erfolgt vor allem durch die Schaffung von Situatio-
nen und durch die häufige Präsentation von gesprochenen Texten, mit denen die Lernen-
den sich auseinandersetzen können. Auf diese Weise werden sie in die Lage versetzt,
diesen Texten mehr und mehr Informationen über zunehmend komplexe Sachverhalte
zu entnehmen, diese Informationen zu verarbeiten und sie bei Bedarf zum Ausgangs-
punkt eigener Textproduktion zu machen. Ein ganz wichtiger Zweck der Hörverstehens-
schulung ist dabei die angesichts der Geschwindigkeit des Hörvorgangs unerlässliche
Automatisierung grundlegender Teilprozesse des Hörens (Lauterkennung, Segmentie-
rung, Erkennen der grammatischen Strukturen etc.). Unterstützt werden kann sie durch
sog. Komponentenübungen, die in besonderes problematischen Teilbereichen Geläufig-
keit schafft (z. B. Lautdiskriminierung).

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Neben der Automatisierung ist auch die Bewusstmachung ein unerlässlicher Teil der
Vermittlung der Hörfertigkeit. Lernende sollen Problemquellen erkennen können und
Strategien entwickeln (z. B. Konzentration auf das Verstandene), die ihnen die selbstän-
dige Überwindung von Schwierigkeiten ermöglichen (vgl. Art. 93).
Geht es um das Hören ganzer Texte, erscheint zunächst die Schaffung einer konkreten
und zielgerichteten Verstehensabsicht unverzichtbar. Nicht wenige Hörübungen sind
durch eine pauschale und wenig zielgerichtete Verstehensabsicht der Lernenden gekenn-
zeichnet, die dem Versuch Vorschub leistet, alles wortwörtlich verstehen zu wollen.
Darüber hinaus ist das Verstehen eines Textes mit größeren Schwierigkeiten verbun-
den, wenn dieser Text nicht in einem kontextuellen und situativen Zusammenhang steht.
Solche Zusammenhänge herzustellen, kann also das Verstehen im Rahmen einer Hör-
übung erheblich erleichtern, nicht zuletzt dadurch, dass die Basis für Inferenzen vergrö-
ßert wird.
Fremdsprachliches Hörverstehen hat unter einer im Verlauf des Fremdsprachener-
werbs erst allmählich abnehmenden Last von Defiziten bei den Sprach- und Sachkennt-
nissen zu leiden. Da besonders Anfänger zu einem unangemessenen Umgang mit Hörtex-
ten neigen, sollten immer auch weitere Hilfen eingeplant werden, die vor dem Hören,
aber auch begleitend gegeben werden, um die Lernenden bei der Bewältigung zu erwar-
tender Schwierigkeiten zu unterstützen. Solche Hilfen sollten:
⫺ die Schaffung von Verstehensabsichten unterstützen,
⫺ sprachliche und themarelevante Vorkenntnisse aktivieren bzw. fehlende Vorkennt-
nisse ergänzen,
⫺ für eine thematische Einbettung sorgen.
Eine sehr sinnvolle Hilfe ist es auch, die Lernenden einen Teil des Textes vorab hören zu
lassen. Sie können sich dadurch zum einen an Eigenheiten des Textes (z. B. Besonderhei-
ten der Aussprache) gewöhnen und zum anderen Hörerwartungen an den Text aufbauen
und so den Nutzen der Antizipation erfahren. So ist ein ansonsten sehr schwieriger Teil
des Textes, nämlich sein Anfang, leichter zu bewältigen.
Ebenso wichtig sind die Aufgaben, die vor allem den Zweck haben, den Lernenden
das Verstehen von Texten zu erleichtern. Der Aufgabenstellung sollten einige Überlegun-
gen vorausgehen: Mit welcher Art von Text werden die Lernenden es zu tun haben?
Welche Art des Hörens und Verstehens ist ihm angemessen? Welche Verstehensergebnisse
sind unverzichtbar? Mit welcher Verstehensabsicht sollten also die Hörer an diesen Text
herangehen? Insgesamt sollen Aufgaben:
⫺ Verstehensabsichten schaffen bzw. konkretisieren und damit die Verstehensleistung
begrenzen,
⫺ die Aufmerksamkeit der Lernenden auf das Wesentliche des Textes richten und damit
die Fähigkeit fördern, Wesentliches von weniger Wesentlichem zu unterscheiden,
⫺ die notwendige Behaltensleistung begrenzen,
⫺ den Einsatz von Verstehensstrategien fördern,
⫺ die Lernenden zu Reaktionen herausfordern.

4. Schlussbemerkung
Hilfen und Aufgaben haben nicht zuletzt die Funktion, das Hören und Verstehen im
Unterricht für die Lernenden zu einem „authentischen“ Hörerlebnis zu machen. Vor

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allem die Einbettung in Kontext und Situation, aus denen sich eine Verstehensabsicht
entwickeln lässt, kann einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Hörverstehensvorgänge
anregt, die dem jeweiligen Text auch in außerunterrichtlichen Situationen angemessen
wären. Sicherlich erreicht man auf diese Weise keine „echte“ Hörsituation, wie man sie
außerhalb des Unterrichts vorfinden würde. Es kann höchstens darum gehen, Elemente
dieser Situation in das Übungsgeschehen aufzunehmen und so eine vorgestellte Realität
zu schaffen, auf die die Lernenden sich einlassen können. Diese vorgestellte Wirklichkeit
fordert die Lernenden heraus, sich dem ihnen in fremdsprachiger Umgebung sehr häufig
begegnenden Problem zu stellen, schwer bzw. nur sehr teilweise verständlichen Texten
selbständig und unter Verwendung angemessener Strategien Informationen zu entneh-
men. Ob es sich bei dem jeweils gehörten Text um einen „authentischen Text“ handelt,
ist in diesem Zusammenhang zumindest für den Anfangsunterricht zweitrangig, so lange
der zu Übungszwecken verwendete Text die unverzichtbaren Merkmale eines Original-
textes aufweist.

5. Literatur in Auswahl
Europarat
2001 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lehren, lernen, beurteilen. Berlin:
Langenscheidt.
Flowerdew, John und Lindsay Miller
2005 Second Language Listening: Theory and Practice. New York: Cambridge University Press.
Gurney, Roger
1973 Language, Brain and Interactive Processes. London: Arnold.
Hedge, Tricia
2000 Teaching and Learning in the Language Classroom. Oxford: Oxford University Press.
Lüger, Heinz-Helmut
1993 Partnerorientiertes Sprechen in Lehrbuchdialogen? In: Heinz-Helmut Lüger (Hg.), Ge-
sprächsanalyse und Gesprächsschulung, 111⫺123. (Beiträge zur Fremdsprachenvermitt-
lung aus dem Konstanzer SLI 25). Konstanz: Sprachlehrinstitut der Universität.
Nold, Günter und Henning Rossa
2007 Hörverstehen. In: Bärbel Beck und Eckard Klieme (Hg.), Sprachliche Kompetenzen ⫺
Konzepte und Messung. DESI-Studie, 178⫺186. Weinheim: Beltz.
Röhr, Gerhard
1993 Erschließen aus dem Kontext. Lehren, Lernen, Trainieren. Berlin: Langenscheidt.
Solmecke, Gert
2000 Faktoren der Schwierigkeit von Hörtests. In: Sibylle Bolton (Hg.), TESTDAF: Grundla-
gen für die Entwicklung eines neuen Sprachtests Beiträge aus einem Expertenseminar, 7⫺
56. München: Goethe-Institut.
Vandergrift, Larry
2007 Recent developments in second and foreign language listening comprehension research.
Language Teaching 40(3): 191⫺210.
Weiterbildungs-Testsysteme GmbH, Goethe-Institut, Österreichisches Sprachdiplom Deutsch und
Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
1999 Zertifikat Deutsch. Lernziele und Testformat. Frankfurt am Main: Weiterbildungs-Testsys-
teme GmbH.

Gert Solmecke, Eschborn (Deutschland)

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