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Werkausgabe in 13 Bänden

Band 5
Raymond Chandler
Die kleine Schwester
Roman
Neu übersetzt von Walter E. Richartz
ISBN: 3257202067

gescannt von leifheit 05/2004


formatiert von Brrazo

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1
Auf der Riffelglasscheibe der Tür steht mit
abblätternder schwarzer Farbe: »Philip Marlowe …
Ermittlungen.« Es ist eine recht schäbige Tür am
Ende eines recht schäbigen Korridors, in einem
Gebäude von der Sorte, wie sie ungefähr in dem Jahr
entstanden, als das Kachelbad das Fundament der
Kultur wurde. Die Tür ist zugeschlossen, aber ne-
benan ist noch eine Tür mit der gleichen Aufschrift,
die nicht zugeschlossen ist. Kommen Sie rein – es ist
niemand da, nur ich und eine große Schmeißfliege.
Aber nur, wenn Sie nicht aus Manhattan, Kansas,
sind.
Es war einer dieser hellen klaren Sommermorgen,
die wir in Kalifornien im Vorfrühling haben, bevor
der Hochnebel einsetzt. Die Regenzeit ist vorbei.
Die Hügel sind noch grün, und aus dem Tal jenseits
der Hügel von Hollywood ist Schnee auf den Bergen
zu sehen. Die Pelzgeschäfte kündigen ihren
Jahresausverkauf an. Puffhäuser, die auf sech-
zehnjährige Jungfrauen spezialisiert sind, machen

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einen Riesen-Reibach. Und in Beverly Hills fangen
die Jacaranda-Bäume zu blühen an.
Ich hatte die Schmeißfliege seit fünf Minuten
verfolgt, ich wartete darauf, dass sie sich niederließ.
Sie wollte sich nicht niederlassen. Sie wollte einfach
Loopings machen und den Prolog zu ›Bajazzo‹
singen. Ich hielt die Fliegenklatsche hoch in der
Luft, fertig zum Zuschlagen. Auf der Schreib-
tischecke war ein heller Flecken Sonnenlicht, und
ich wusste, früher oder später würde sie dort landen.
Aber als sie landete, sah ich sie nicht gleich. Das
Surren hörte auf, und da saß sie. Und dann klingelte
das Telefon.
Langsam und geduldig, Zentimeterweise, streckte
ich meine linke Hand danach aus. Langsam nahm
ich den Hörer auf und sprach sanft hinein: »Bitte
warten Sie einen Augenblick.«
Ich legte den Hörer behutsam auf die braune
Fließpapier-Unterlage. Die Fliege war noch da,
glänzend, blaugrün und voller Schlechtigkeit. Ich
holte tief Atem und schlug zu. Was von ihr übrig
war, flog halb durch den Raum und fiel auf den
Teppich. Ich ging hin, nahm sie an ihrem heilen
Flügel und ließ sie in den Papierkorb fallen.
»Danke, dass Sie gewartet haben«, sprach ich in
den Hörer.
»Ist dort Mr. Marlowe, der Detektiv?« Es war eine
dünne, ziemlich eilige Kleinmädchenstimme. Ich

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sagte, hier sei Mr. Marlowe, der Detektiv. »Wie viel
verlangen Sie für Ihre Dienste, Mr. Marlowe?«
»Was hätten Sie denn von mir gewollt?« Die
Stimme wurde ein bisschen spitzer. »Ich kann es
Ihnen wohl nicht gut übers Telefon sagen. Es - es ist
sehr vertraulich. Bevor ich die Zeit dranhänge, in Ihr
Büro zu kommen, müsste ich so etwa wissen …«
»Vierzig am Tag und die Auslagen. Falls es nicht
so ein Job ist, der für eine Pauschale erledigt werden
kann.«
»Das ist viel zuviel«, sagte die dünne Stimme. »Da
könnte es ja viele hundert Dollar kosten, und ich
kriege nur ein kleines Gehalt und …«
»Wo sind Sie jetzt?«
»Na, in einem Drugstore. Es ist gleich nebenan von
dem Haus, wo Ihr Büro ist.«
»Da hätten Sie fünf Cents sparen können. Der Lift
ist gratis.«
»Was - was haben Sie gesagt?«
Ich sagte es alles nochmals. »Kommen Sie mal
rauf und lassen Sie sich anschauen«, fügte ich hinzu.
»Wenn Sie die richtige Sorte Ärger haben, kann ich
Ihnen ziemlich genau sagen …«
»Erst muss ich etwas mehr von Ihnen wissen«,
sagte die dünne Stimme sehr fest. »Es handelt sich
um eine sehr heikle Sache, sehr persönlich. Ich kann
nicht einfach mit jedem darüber reden.«

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»Wenn es so heikel ist«, sagte ich, »dann brauchen
Sie vielleicht einen weiblichen Detektiv.«
»Meine Güte, ich wusste gar nicht, dass es die
gibt.« Pause. »Aber ich glaube, mit einem weib-
lichen Detektiv ginge es gar nicht. Wissen Sie, Orrin
lebte in einer sehr üblen Gegend, Mr. Marlowe.
Jedenfalls fand ich, dass sie übel war. Der Verwalter
in dem Mietshaus ist ein sehr unangenehmer
Mensch. Er roch nach Schaps. Trinken Sie, Mr.
Marlowe?«
»Na ja, wo Sie grade davon reden …«
»Ich glaube nicht, dass ich einen Detektiv
beschäftigen möchte, der Alkohol zu sich nimmt –
egal in welcher Form. Ich bin auch kein Freund von
Tabak.«
»Wäre es Ihnen recht, wenn ich eine Orange
schäle?«
Ich hörte ein scharfes Einatmen am anderen Ende
der Leitung. »Sie könnten wenigstens wie ein
Gentleman reden«, sagte sie.
»Probieren Sie es lieber mit dem Klub der alten
Herren«, erklärte ich ihr. »Ich glaube, da gibt's noch
ein paar, aber ich bin nicht sicher, ob die Sie da
ranlassen.« Ich legte auf.
Es war ein Schritt in der richtigen Richtung, aber er
ging nicht weit genug. Ich hätte die Tür verriegeln
und mich unter dem Schreibtisch verkriechen sollen.

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2

Fünf Minuten später summte der Summer an der


Außentür des anderen halben Büros, das ich als
Warteraum benutze. Ich hörte, wie sich die Tür
wieder schloss. Dann hörte ich weiter nichts. Die
Tür zwischen mir und da drüben war halb offen. Ich
lauschte und dachte: Da ist jemand einfach in das
falsche Büro geraten und ist gleich wieder
umgekehrt. Dann kam ein schwaches Klopfen auf
Holz. Darauf dieses Räuspern, das man zu
demselben Zweck benutzt. Ich nahm meine Füße
vom Schreibtisch, stand auf und schaute. Da war sie.
Sie brauchte ihren Mund gar nicht aufzumachen, ich
wusste gleich, wer sie war. Und nie hat jemand
weniger wie Lady Macbeth ausgesehen. Sie war eine
kleine, säuberliche, irgendwie tantig aussehende
junge Frau mit steifem, stumpfen braunen Haar und
randloser Brille. Sie trug ein braunes Schneider-
kostüm, und über der Schulter an einem Riemen
hing eine von diesen ungefügen viereckigen
Taschen, bei denen man an eine barmherzige
Schwester denken muß, die einem Verwundeten
Erste Hilfe leistet. Auf dem stumpfen braunen Haar
lag ein Hut, der seiner Mutter zu früh entrissen
worden war. Sie hatte kein Make-up, kein Lippenrot,
keinen Schmuck. Mit der randlosen Brille sah sie
aus wie so eine Bibliothekarin.

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»So redet man nicht mit Leuten am Telefon«, sagte
sie scharf. »Sie sollten sich schämen.«
»Ich bin nur zu stolz, um es zu zeigen«, sagte ich.
»Kommen Sie rein.« Ich hielt ihr die Tür auf. Dann
schob ich ihr den Stuhl unter.
Sie setzte sich etwa drei Zentimeter vom Rand.
»Wenn ich so mit einem von Dr. Zugsmiths
Patienten reden würde«, sagte sie, »würde ich meine
Stellung verlieren. Er achtet sehr darauf, wie ich mit
Patienten rede - auch mit schwierigen Patienten.«
»Wie geht's dem alten Burschen? Ich habe ihn
nicht mehr gesehen, seit damals, als ich vom
Garagendach fiel.«
Sie sah überrascht aus und ganz ernst. »Aber Sie
können unmöglich Dr. Zugsmith kennen.« Die
Spitze einer ziemlich blassen Zunge kam zwischen
ihren Lippen heraus, listig, auf der Suche nach
nichts.
»Einen Dr. Zugsmith kenne ich«, sagte ich, »in
Santa Rosa.«
»Aber nein. Es ist Dr. Alfred Zugsmith in
Manhattan. Also Manhattan in Kansas - nicht
Manhattan, New York.«
»Muß wohl ein anderer Dr. Zugsmith sein«, sagte
ich. »Und wie ist Ihr Name?«
»Ich weiß nicht, ob ich ihn nennen möchte.«
»Erst mal schnuppern, was?«

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»So könnte man es sagen, ja. Wenn ich einem
völlig fremden Menschen meine Familienangelegen-
heiten erzählen soll, dann habe ich wenigstens das
Recht, mir zu überlegen, ob ich zu dem Betreffenden
Vertrauen haben kann.«
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie eine
süße kleine Schlange sind?«
Die Augen hinter ihrer randlosen Brille blitzten.
»Das will ich nicht hoffen.«
Ich griff nach einer Pfeife und fing an, sie zu
füllen. »›Hoffen‹ ist nicht das richtige Wort«, sagte
ich. »Werfen Sie mal diesen Hut weg, und kaufen
Sie sich so eine raffinierte Brille mit farbigem Rand.
Sie wissen schon, eine von diesen schrägen, die so
orientalisch aussehen …«
»Dr. Zugsmith würde so was niemals erlauben«,
sagte sie schnell. Gleich darauf: »Meinen Sie
wirklich?« und errötete ein ganz klein wenig.
Ich hielt ein Streichholz an die Pfeife und blies den
Rauch über den Schreibtisch.
Sie rückte etwas ab.
»Wenn Sie mir den Auftrag geben«, sagte ich,
»dann bin ich der Mann, dem Sie den Auftrag geben.
Ich. So wie ich bin. Wenn Sie glauben, Sie können
in diesem Geschäft einen Laienprediger finden, dann
spinnen Sie. Ich habe das Telefongespräch abgebro-
chen, trotzdem sind Sie gekommen. Also brauchen

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Sie Hilfe. Also, wie heißen Sie, und wo drückt der
Schuh?«
Sie starrte mich nur an.
»Hören Sie«, sagte ich, »Sie kommen aus
Manhattan in Kansas. Letztes Mal, als ich das
Lexikon auswendig gelernt habe, war das eine
Kleinstadt nicht weit von Topeka. Zirka Zwölf-
tausend Einwohner. Sie arbeiten für Dr. Zugsmith,
und Sie suchen jemand namens Orrin. Manhattan ist
ein kleiner Ort. Muss es sein. Nur ein halbes
Dutzend Orte in Kansas sind größer. Ich weiß schon
genug über Sie, um Ihre ganze Familiengeschichte
herauszufinden.«
»Aber warum wollen Sie denn das?« fragte sie
beunruhigt.
»Ich?« sagte ich. »Ich will gar nichts. Ich habe die
Leute satt, die mir Geschichten erzählen. Ich sitze
hier bloß, weil ich nirgendwo anders hin kann. Ich
will nicht arbeiten. Ich will gar nichts.«
»Sie reden zuviel.«
»Ja«, sagte ich, »ich rede zuviel. Männer, die allein
sind, reden immer zuviel. Oder sie reden überhaupt
nicht. Sollen wir vom Geschäft reden? Sie sehen
nicht wie der Typ aus, der Privatdetektive aufsucht,
besonders keine Privatdetektive, die Sie nicht
kennen.«

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»Weiß ich«, sagte sie ruhig. »Und Orrin wäre blau
vor Zorn. Mutter wäre auch wütend. Ich habe Ihren
Namen einfach aus dem Telefonbuch – «
»Welche Methode?« fragte ich. »Und mit offenen
oder geschlossenen Augen?«
Einen Augenblick lang starrte sie mich an, als sei
ich eine Art Missgeburt. »Sieben und dreizehn«,
sagte sie ruhig.
»Wie?«
»Marlowe hat sieben Buchstaben«, sagte sie, »und
Philip Marlowe hat dreizehn. Sieben zusammen mit
dreizehn …«
»Wie heißen Sie?« Ich fauchte fast.
»Orfamay Quest.« Sie kniff ihre Augen wie zum
Weinen. Sie buchstabierte mir ihren Vornamen, alles
ein Wort. »Ich lebe bei meiner Mutter«, fuhr sie fort
und fing an, schneller zu reden, als ob meine Zeit sie
Geld kosten würde. »Mein Vater starb vor vier
Jahren. Er war ein Doktor. Mein Bruder Orrin wollte
auch Chirurg werden, aber dann sattelte er um, auf
Ingenieurwesen, nach zwei Jahren Medizin. Und
dann, vor einem Jahr, fing er für die Cal-Western-
Flugzeug-Werke zu arbeiten an, in Bay City. Es
wäre nicht nötig gewesen. Er hatte einen guten Job
in Wichita. Ich glaube, er wollte einfach irgendwie
raus, nach Kalifornien. Ziemlich alle wollen das.«

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»Fast alle«, sagte ich. »Wenn Sie schon die
randlose Brille tragen, könnten Sie wenigstens
entsprechend reden.«
Sie kicherte; mit gesenkten Augen zog sie mit der
Fingerspitze eine Linie auf dem Schreibtisch.
»Meinen Sie die mit den schrägen Gläsern, mit
denen man irgendwie orientalisch aussieht?«
»Hmhm. Jetzt mal zu Orrin. Wir haben ihn jetzt in
Kalifornien und in Bay City. Was machen wir jetzt
mit ihm?«
Sie überlegte einen Moment mit gerunzelter Stirn.
Dann prüfte sie mein Gesicht, als ob sie einen
Entschluss fasste. Dann brachen die Worte aus ihr
heraus: »Es sah Orrin gar nicht ähnlich, nicht
regelmäßig zu schreiben. Er hat in den letzten sechs
Monaten nur zweimal an Mutter und dreimal an
mich geschrieben. Und der letzte Brief kam vor
einigen Wochen. Mutter und ich machten uns
Sorgen. Und dann hatte ich Urlaub, und ich kam her,
um ihn zu besuchen. Er war vorher nie von Kansas
weg gewesen.« Sie unterbrach sich. »Machen Sie
sich keine Notizen?« fragte sie.
Ich knurrte.
»Ich dachte, Detektive würden immer irgendwas in
kleine Notizbücher schreiben.«
»Für die Gags sorge ich schon«, sagte ich. »Sie
erzählen die Story. Also, Sie hatten Urlaub und
kamen hierher. Und weiter?«

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»Ich hatte Orrin geschrieben, dass ich kommen
würde, aber ich bekam keine Antwort. Ich schickte
ihm ein Telegramm aus Salt Lake City, aber darauf
antwortete er auch nicht. Also konnte ich nichts
weiter tun, als hinfahren, wo er wohnte. Es ist ein
furchtbar langer Weg. Ich fuhr mit einem Bus. Es ist
in Bay City. Idaho Street Nr. 449.«
Sie hielt wieder an, wiederholte dann die Adresse,
und ich schrieb sie noch immer nicht auf. Ich saß
einfach da, betrachtete ihre Brille, ihr weiches
braunes Haar, ihren Mund ohne Lippenstift und die
Zungenspitze, die zwischen den blassen Lippen
hervorkam und wieder verschwand. »Vielleicht
kennen Sie Bay City nicht, Mr. Marlowe.«
»Haha«, sagte ich. »Über Bay City weiß ich bloß
so viel, dass ich mir jedes Mal einen neuen Kopf
kaufen muss, wenn ich hinfahre. Soll ich Ihnen das
Ende von Ihrer Story erzählen?«
»Waa-as?« Ihre Augen wurden so groß, dass sie
durch ihre Brille aussahen wie so was, was man in
einem Tiefseeaquarium sieht.
»Er ist weggezogen«, sagte ich. »Und Sie wissen
nicht, wohin er gezogen ist. Und Sie haben Angst,
dass er ein lasterhaftes Leben führt, in einer Luxus-
wohnung auf dem Dach der Regency Towers, in der
Gesellschaft von einem Etwas mit einem langen
Nerzmantel und einem interessanten Parfüm.«
»Also wirklich, um Himmels willen!«

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»Oder bin ich frech?«
»Bitte, Mr. Marlowe«, sagte sie schließlich, »so
etwas glaube ich überhaupt nicht von Orrin. Und
wenn Orrin das hörte, würde es Ihnen leid tun. Er
kann furchtbar böse werden. Aber ich weiß: irgend-
was ist passiert. Es war nur eine billige Pension, und
den Verwalter mochte ich überhaupt nicht. Ein
grässlicher Kerl. Er sagte, Orrin sei vor ein paar
Wochen weggezogen, und er wüsste nicht wohin
und es wäre ihm auch egal, alles was er wollte, wäre
ein guter Schuss Gin. Ich verstehe nicht, wieso Orrin
überhaupt in so einem Haus wohnen konnte.«
»Haben Sie gesagt ›ein Schuss Gin‹?« fragte ich.
Sie errötete. »So hat es der Verwalter gesagt. Ich
erzähl's Ihnen nur wieder.«
»Schon gut«, sagte ich. »Weiter.«
»Ja, dann rief ich an seinem Arbeitsplatz an. Sie
wissen, die Cal-Western-Company. Und die sagten,
er ist entlassen worden, zusammen mit vielen
anderen, und weiter wüssten sie nichts. Dann ging
ich zum Postamt und fragte, ob Orrin eine
Adressenänderung irgendwohin angegeben hätte.
Und sie sagten, sie könnten mir keine Auskunft
geben. Das wäre gegen die Vorschriften. Also sagte
ich ihnen, wer ich sei, und der Mann sagte, naja,
wenn ich seine Schwester wäre, würde er nachsehen.
Also ging er nachsehen und kam zurück und sagte
nein. Orrin hatte keine Adressenänderung angege-

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ben. Er hätte vielleicht einen Unfall haben können
oder was.«
»Haben Sie mal dran gedacht, die Polizei danach
zu fragen?«
»Ich würde nicht wagen, die Polizei zu fragen.
Orrin würde mir das nie verzeihen. Selbst in guten
Zeiten ist es schon schwierig mit ihm. Unsere
Familie …«, sie zögerte, und da war was in ihren
Augen, das sie da nicht haben wollte. So fuhr sie
atemlos fort: »Unsere Familie ist nicht so eine
Familie …«
»Hören Sie«, sagte ich müde, »ich rede ja nicht
von einem Burschen, der Brieftaschen stiehlt. Ich
rede davon, dass er vielleicht von einem Auto
angefahren wurde und sein Gedächtnis verloren hat
oder zu schwer verletzt ist, um reden zu können.«
Sie warf mir einen abschätzigen Blick zu, nicht
gerade bewundernd. »Wenn es so was wäre, würden
wir es wissen«, sagte sie. »Jeder hat irgendwelche
Sachen in den Taschen, an denen man sieht, wer er
ist.«
»Manchmal sind nur die Taschen übrig.«
»Wollen Sie mir Angst machen, Mr. Marlowe?«
»Anscheinend würde ich damit nicht weit
kommen! Also bitte, was, glauben Sie denn, ist
passiert?«

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Sie legte ihren dünnen Zeigefinger an ihre Lippen
und berührte sie sehr vorsichtig mit dieser Zungen-
spitze. »Ich schätze, wenn ich das wüsste, wäre ich
nicht zu Ihnen gekommen. Wieviel verlangen Sie
dafür, ihn zu finden?«
Einen langen Augenblick lang gab ich ihr keine
Antwort darauf, dann sagte ich: »Sie meinen, allein,
und niemandem was sagen?«
»Ja. Ich meine, allein und niemandem was sagen.«
»Hm, hm. Kommt drauf an. Ich habe Ihnen gesagt,
was mein Tarif ist.«
Sie hielt ihre Hände über dem Schreibtischrand
gefaltet und presste sie fest zusammen. Sie hatte so
ungefähr die sinnloseste Kollektion von Gesten, die
ich je gesehen habe.
»Ich dachte, wo Sie doch Detektiv sind und so, da
könnten Sie ihn ganz schnell finden«, sagte sie. »Ich
kann unmöglich mehr aufbringen als zwanzig
Dollar. Ich muss mir hier mein Essen bezahlen und
mein Hotel, und die Rückfahrt, wissen Sie, das ist so
furchtbar teuer, und das Essen im Zug …«
»In was für einem Hotel wohnen Sie denn?«
»Ich - ich will's Ihnen lieber nicht sagen, wenn es
Ihnen nichts ausmacht.«
»Warum?«

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»Ich will einfach lieber nicht. Ich habe so eine
furchtbare Angst vor Orrins Zorn. Und dann, ich
kann Sie doch immer anrufen, oder?«
»Hm, hm. Also wovor haben Sie nun eigentlich
Angst, Miss Quest, außer vor Orrins Zorn?« Meine
Pfeife war mir ausgegangen. Ich riß ein Streichholz
an, hielt es über den Pfeifenkopf und beobachtete sie
dabei.
»Ist Pfeiferauchen nicht eine sehr schmutzige
Gewohnheit?«
»Wahrscheinlich«, sagte ich. »Aber, damit ich es
aufgebe, braucht es mehr als zwanzig Dollar. Und
versuchen Sie nicht immer, meine Fragen zu
umgehen.«
Sie fuhr auf. »So können Sie nicht mit mir reden.
Pfeiferauchen ist eine schmutzige Gewohnheit.
Mutter erlaubte Vater nie, im Haus zu rauchen, nicht
mal in den letzten zwei Jahren, nachdem er seinen
Schlaganfall gehabt hatte. Manchmal saß er so mit
seiner leeren Pfeife. Aber sie mochte das nicht
besonders. Wir hatten auch viele Schulden, und sie
sagte, sie könnte es sich nicht leisten, ihm für
unnütze Sachen wie Tabak Geld zu geben. Die
Kirche brauchte es nötiger als er.«
»Allmählich begreife ich«, sagte ich langsam. »In
so einer Familie wie Ihrer muss ja einer mit einem
schwarzen Pelz dabei sein.«

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Sie stand abrupt auf und presste ihren Erste-Hilfe-
Koffer an ihren Körper. »Ich mag Sie nicht«, sagte
sie. »Ich glaube nicht, dass ich Sie nehmen werde.
Wenn Sie andeuten wollen, dass Orrin etwas
Schlimmes gemacht hat - also, ich kann Ihnen
versichern, Orrin ist nicht das schwarze Schaf in
unserer Familie.«
Ich zuckte mit keiner Wimper. Sie machte kehrt
und marschierte zur Tür und legte die Hand auf den
Drehgriff, und dann machte sie wieder kehrt und
marschierte zurück, und plötzlich fing sie an zu
weinen. Ich reagierte darauf genauso wie ein
ausgestopfter Fisch auf geschnibbelten Köder
reagiert. Sie zog ihr kleines Taschentuch raus und
betupfte ihre Augenwinkel.
»Und jetzt, nehme ich an, werden Sie die P-Polizei
rufen«, sagte sie mit stockender Stimme. »Und die
Z-Zeitung von Manhattan wird alles rauskriegen,
und sie werden Sch-Schlimmes über uns bringen.«
»Sie nehmen das überhaupt nicht an. Hören Sie
auf, an meinen Gefühlen herumzuzerren. Zeigen Sie
mal ein Foto von ihm.«
Sie streckte ganz schnell ihr Taschentuch weg und
zog etwas anderes aus ihrer Tasche. Sie reichte es
über den Tisch. Einen Umschlag. Dünn, aber ein
paar Schnappschüsse konnten drin sein. Ich schaute
nicht hinein.

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»Beschreiben Sie ihn, wie Sie ihn im Kopf haben«,
sagte ich.
Sie konzentrierte sich. So hatte sie eine Gelegen-
heit, mit ihren Augenbrauen Theater zu machen. »Im
vergangenen März war er achtundzwanzig Jahre alt.
Er hat hellbraunes Haar, viel heller als meines, und
hellere Augen, und er bürstet sich das Haar gerade
nach hinten. Er ist sehr groß, über 1,80. Aber er
wiegt nur ungefähr hundertdreißig Pfund. Er ist
irgendwie knochig. Früher trug er einen kleinen
blonden Schnurrbart, aber Mutter sorgte dafür, dass
er ihn abschnitt. Sie sagte …«
»Lassen Sie's gut sein. Der Pfarrer brauchte ihn als
Kissenfüllung.«
»Sie können nicht so über meine Mutter reden«,
schrillte sie und wurde blass vor Wut.
»Ach, hören Sie doch auf mit dem Blödsinn. Es
gibt 'ne Menge Sachen, die ich von Ihnen nicht weiß.
Aber Sie können jetzt aufhören, das Maiglöckchen
zu spielen. Hat Orrin irgendwelche besonderen
Merkmale, wie Muttermale oder Narben, oder den
dreiundzwanzigsten Psalm auf die Brust tätowiert?
Und machen Sie sich nicht die Mühe, rot zu
werden.«
»Sie brauchen mich nicht anzuschreien. Warum
sehen Sie das Foto nicht an?«
»Er wird wohl seine Kleider anhaben. Schließlich
sind Sie seine Schwester. Sie müssten es wissen.«

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»Nein, hat er nicht«, sagte sie knapp. »Er hat eine
kleine Narbe auf der linken Hand, wo man ihm eine
Warze weggemacht hat.«
»Wie steht's mit seinen Angewohnheiten? Was für
Vergnügungen hat er - außer Nicht-rauchen, Nicht-
trinken und Nicht-mit-Mädchen-gehen? «
»Aber - woher wissen Sie denn das?«
»Hat Ihre Mutter mir erzählt.«
Sie lächelte. Ich fragte mich langsam, ob sie
vielleicht eine Maske hatte. Sie besaß sehr gleich-
mäßige weiße Zähne, und sie zeigte ihr Zahnfleisch
nicht. Das war schon etwas. »Was sind Sie albern«,
sagte sie. »Er lernt viel, und er hat eine sehr teure
Kamera, und damit macht er gern Schnappschüsse
von Leuten, wenn sie es nicht merken. Sie werden
manchmal wütend darüber. Aber Orrin sagt, die
Leute müssten sich mal sehen, wie sie wirklich
sind.«
»Hoffen wir, dass ihm das nicht passiert«, sagte
ich. »Was für eine Kamera ist es denn?«
»Einer von diesen kleinen Apparaten mit einer sehr
guten Linse. Man kann fast bei jedem Licht knipsen.
Eine Leica.«
Ich öffnete das Kuvert und nahm ein paar kleine
Abzüge heraus, sehr scharf. »Die wurden aber nicht
mit so was aufgenommen«, sagte ich.

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»Aber nein. Die hat Philip gemacht, Philip
Andersen. Ein Junge, mit dem ich mal eine Weile
gegangen bin.« Sie schwieg einen Moment und
seufzte. »Und ich glaube, deshalb bin ich wirklich
hergekommen, Mr. Marlowe. Einfach, weil Sie auch
Philip heißen.«
Ich sagte nur: »Aha«, aber irgendwie berührte es
mich. »Was passierte mit Philip Andersen?«
»Aber es geht um Orrin …«
»Weiß ich«, fuhr ich dazwischen. »Aber was
passierte mit Philip Anderson?«
»Er ist immer noch in Manhattan.« Sie blickte zur
Seite. »Mutter mochte ihn nicht so gern. Vielleicht
wissen Sie, wie das ist.«
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß, wie das ist. Wenn Sie
wollen, können Sie ein bisschen weinen. Ich werde
es nicht gegen Sie verwenden. Ich bin auch nur ein
großes Tränentier.«
Ich betrachtete die beiden Bilder. Eines davon
guckte nach unten und half mir nichts. Das andere
war ein ganz ordentliches Bild von einem großen,
linkischen, vogeligen Typ mit engstehenden Augen,
einem dünnen graden Mund und einem spitzen
Kinn. Er hatte den Ausdruck im Gesicht, den ich
erwartet hatte. Wenn du vergessen hast, einen Fleck
von deinen Schuhen zu wischen - er würde es dir
bestimmt sagen. Ich legte die Fotos weg und
betrachtete Orfamay Quest, versuchte irgend etwas

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in ihrem Gesicht zu finden, das auch nur entfernt
ihm ähnlich war. Unmöglich. Nicht die kleinste Spur
von Familienähnlichkeit, was natürlich überhaupt
nichts bedeutet. Hat nie was bedeutet.
»Also gut«, sagte ich. »Ich werde mal da hinfahren
und es mir ansehen. Aber Sie müssten sich denken
können, was passiert ist. Er ist in einer fremden
Stadt. Eine Zeitlang verdient er viel Geld. Vielleicht
mehr, als er je im Leben verdient hat. Er lernt eine
Art von Leuten kennen, die er früher nie gekannt
hat. Und es ist eine ganz andere Stadt - Sie können
mir glauben, ich kenne Bay City - als Manhattan in
Kansas. Er hat einfach über die Stränge geschlagen
und will nicht, dass seine Familie es erfährt. Er wird
schon wieder in Ordnung kommen.«
Sie schwieg einen Augenblick und starrte mich an,
dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Orrin ist nicht
der Typ, der so was macht, Mr. Marlowe.«
»Jeder ist der Typ«, sagte ich. »Besonders ein
Bursche wie Orrin. Der Typ aus der Kleinstadt mit
dem frommen Getue, die ganze Zeit mit der Mutter
am Hals und dem Pfarrer an der Hand. Hier draußen
ist er einsam. Er hat Moneten. Er möchte sich ein
bisschen Wärme und Licht kaufen, und nicht von der
Sorte, wie es durch das Ostfenster einer Kirche
kommt. Nicht dass ich irgendetwas dagegen hätte.
Aber davon hatte er schon reichlich abbekommen,
stimmt's?«

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Sie nickte lautlos mit dem Kopf.
»Also fängt er an herumzuspielen«, fuhr ich fort,
»und er versteht nicht richtig zu spielen. Das muss
man auch können. Er sitzt in der Klemme mit
irgendeinem Nüttchen und einer Flasche Fusel, und
er kommt sich vor, als hätte er dem Bischof die
Hosen geklaut. Schließlich, der Bursche wird bald
neunundzwanzig, und wenn ihm danach ist, sich im
Schlamm zu wälzen, ist das seine Sache. Später wird
er schon jemand finden, dem er die Schuld gibt.«
»Ich mag Ihnen nicht glauben, Mr. Marlowe«,
sagte sie langsam. »Schon wegen Mutter …«
»Es war die Rede von zwanzig Dollar«, fuhr ich
dazwischen.
Sie schien schockiert. »Muss ich Sie jetzt
bezahlen?«
»Wie hätte man es denn in Manhattan, Kansas, ge-
macht?«
»Wir haben keine Privatdetektive in Manhattan.
Bloß die normale Polizei. Jedenfalls glaube ich
nicht.«
Sie grub wieder in ihrer Werkzeugtasche und zog
einen roten Geldbeutel heraus, und diesem entnahm
sie einige Scheine - alle fein zusammengefaltet und
extra. Drei Fünfer und fünf Einer. Viel schien
danach nicht übrig zu sein. Sie entfaltete die Scheine
auf dem Schreibtisch, legte sie aufeinander und

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schob sie rüber. Sehr langsam, sehr bekümmert, als
ob sie ein Lieblingskätzchen ersäufen müsste.
»Ich geb Ihnen eine Quittung«, sagte ich.
»Ich brauche keine Quittung, Mr. Marlowe.«
»Ich schon. Sie geben mir Ihren Namen und Ihre
Adresse nicht, also möchte ich irgend etwas mit
Ihrem Namen drauf.«
»Wozu?«
»Um zu zeigen, dass ich Sie vertrete.« Ich holte
den Quittungsblock raus, fertigte die Quittung aus
und hielt ihr den Block hin, um das Doppel zu
unterschreiben. Sie wollte nicht. Einen Augenblick
später nahm sie widerstrebend den harten Bleistift
und schrieb ›Orfamay Quest‹ in säuberlicher Büro-
Handschrift quer über das Doppel.
»Immer noch keine Adresse?« fragte ich.
»Lieber nicht.«
»Dann melden Sie sich - jederzeit. Meine
Privatnummer ist auch im Telefonbuch. Bristol
Apartments, Apartment 428.«
»Ich werde Sie wahrscheinlich nicht aufsuchen«,
sagte sie kühl.
»Ich hab Sie noch nicht gebeten«, sagte ich.
»Wenn Sie wollen, rufen Sie so um vier an.
Vielleicht habe ich dann was. Vielleicht auch nicht.«
Sie erhob sich. »Ich hoffe, Mutter wird es nicht
falsch finden«, sagte sie, wobei sie mit ihrem

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blassen Fingernagel an ihrer Lippe kratzte. »Ich
meine, dass ich hergekommen bin.«
»Erzählen Sie mir nichts mehr von den Sachen, die
Ihrer Mutter nicht gefallen«, sagte ich. »Lassen Sie
diesen Teil einfach weg.«
»Also hören Sie!«
»Und hören Sie mit Ihrem ›Also hören Sie‹ auf.«
»Ich finde, Sie sind ein sehr streitsüchtiger
Mensch«, sagte sie.
»Nein, Sie finden das nicht. Sie finden mich
reizend. Und ich finde, Sie sind eine faszinierende
kleine Lügnerin. Sie glauben doch wohl nicht, dass
ich das alles für Ihre zwanzig Dollar tue, oder?«
Sie warf mir einen abwägenden, plötzlich recht
kühlen Blick zu. »Wofür denn dann?« Und dann, als
ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Weil es nach
Frühling riecht?«
Ich antwortete immer noch nicht. Sie wurde ein
bisschen rot. Dann kicherte sie.
Ich hatte nicht den Mumm, ihr zu sagen, dass ich
ganz einfach gelangweilt war vom Nichtstun.
Vielleicht war es auch wirklich der Frühling. Und
etwas in ihren Augen, das viel älter als Manhattan,
Kansas, war.
»Ich finde Sie sehr nett - ehrlich«, sagte sie leise.
Dann drehte sie sich schnell um, fast rannte sie aus
dem Büro. Draußen auf dem Gang machten ihre

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Schritte winzige, scharfe Pick-Geräusche, etwa wie
wenn Mutter auf die Esstischkante klopft, wenn
Vater verstohlen nach einem zweiten Stück Kuchen
langen will. Wo er doch kein Geld mehr hat. Kein
Gar-Nichts. Wo er bloß in seinem Schaukelstuhl
sitzt, auf der Veranda hinten in Manhattan, Kansas,
mit seiner leeren Pfeife im Mund. Auf der Veranda
schaukelt, langsam, vorsichtig, denn nach einem
Schlaganfall muss man alles langsam tun und
vorsichtig. Und auf den nächsten warten. Und mit
der leeren Pfeife im Mund. Ohne Tabak. Nichts tun,
nur warten.
Ich steckte Orfamay Quests zwanzig sauer
verdiente Dollars in einen Umschlag, schrieb ihren
Namen drauf und warf ihn in die Schreibtisch-
schublade. Die Idee war mir nicht angenehm, mit so
einem Haufen Geld in der Gegend herumzulaufen.

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3

Man konnte Bay City schon lange kennen, ohne


die Idaho Street zu kennen. Und man konnte viel
von der Idaho Street kennen und doch nicht die
Nummer 449. Die Straßenseite davor hatte ein
kaputtes Pflaster und war fast wieder zu Erde
geworden. Der verbogene Zaun eines Holzlagers
grenzte an das aufgebrochene Trottoir auf der gegen-
überliegenden Straßenseite. Einen halben Block
weiter oben bogen die rostigen Geleise einer
Feldbahn ab und auf ein hohes Holzgatter zu, das
zugekettet und anscheinend seit zwanzig Jahren
nicht mehr geöffnet worden war. Kleine Jungen
hatten mit Kreide auf das Gatter und den Zaun
geschrieben und Bilder gemalt.
No. 449 hatte vorne eine flache, farblose Veranda,
darauf räkelten sich fünf liederliche Schaukelstühle
aus Rohr; etwas Draht und die Feuchtigkeit der
Strandluft hielten sie zusammen. Die grünen
Jalousien der unteren Fenster des Hauses waren zu
zwei Dritteln heruntergezogen und voller Risse.
Neben der Eingangstür war ein großes Schild mit
Druckschrift ›Keine Zimmer frei‹. Es war auch
schon lange dort. Es war ausgebleicht und voll
Fliegendreck. Durch die Tür kam man in einen
langen Vorplatz, nach dem ersten Drittel der Länge
gingen Treppen nach oben. Rechts war ein schmales

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Bord, mit einem Kopierstift an einer Kette. Da
waren ein Klingelknopf und ein gelb und schwarzes
Schild mit der Inschrift ›Verwalter‹ darüber, mit drei
Reißnägeln befestigt, von denen keine zwei gleich
waren. Gegenüber an der Wand war ein Münz-
telefon.
Ich drückte die Klingel. Irgendwo in der Nähe
klingelte es, aber es passierte nichts. Ich klingelte
nochmals. Das gleiche Nichts passierte. Ich
wanderte weiter bis zu einer Tür mit einem
schwarzweißen Metallschild ›Verwalter‹. Da klopfte
ich dran. Dann trat ich mit dem Fuß dagegen. Es
schien niemanden zu stören, dass ich mit dem Fuß
dagegen trat.
Ich ging wieder aus dem Haus und an der Seite
entlang, wo ein schmaler Betonweg zum Liefe-
ranteneingang führte. Es sah aus, als wäre er an der
Stelle, wo auch die Wohnung des Verwalters war.
Alles andere in dem Haus bestand wohl nur aus
Zimmern. Ein schmutziger Mülleimer stand dort auf
einer kleinen Veranda und eine Holzkiste voller
Schnapsflaschen. Die rückwärtige Tür, hinter dem
Fliegengitter, war offen. Innen war es düster. Ich
legte mein Gesicht an das Gitter und lugte hinein.
Durch die offene Innentür, auf der gegenüber-
liegenden Seite vom Lieferanteneingang, sah ich
einen einfachen Stuhl, über der Lehne hing ein
Männerjackett, und auf dem Stuhl saß ein Mann in

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Hemdsärmeln mit einem Hut auf. Es war ein kleiner
Mann. Ich konnte nicht erkennen, was er machte,
aber offenbar saß er am Ende des eingebauten
Frühstückstisches in der Frühstücksnische.
Ich schlug auf die Tür mit dem Gitter. Der Mann
kümmerte sich nicht drum. Ich schlug nochmals
drauf, fester. Diesmal kippte er seinen Stuhl nach
hinten und wandte mir ein schmales Gesicht zu, mit
einer Zigarette drin. »Was willste?« bellte er.
»Verwalter.« »Nicht da, Kumpel.« »Wer sind Sie
denn?« »Was interessiert Sie das?« »Ich will ein
Zimmer.«
»Keins frei, Kumpel. Kannst du keine großen
Buchstaben lesen?«
»Ich hab zufällig was anderes gehört«, sagte ich.
»Ach nee?« Er klopfte die Asche von seiner
Zigarette, indem er mit einem Nagel dran schnippte,
ohne die Zigarette aus seinem schmalen, traurigen
Mund zu nehmen. »Bohr's dir mit'm Finger ins
Hirn.«
Er ließ seinen Stuhl wieder nach vorne kippen und
machte weiter mit dem, was er machte.
Ich machte ein Geräusch, als ich von der Veranda
stieg, und kein Geräusch, als ich wieder raufstieg.
Ich probierte die Fliegentür vorsichtig. Sie war
zugehakt. Ich hob den Haken mit der offenen Klinge
eines Taschenmessers und kriegte ihn aus der Öse.

- 31 -
Das klimperte ein bisschen, aber da drüben, in der
Küche, wurde lauter geklimpert.
Ich trat in das Haus, durchquerte den Lieferanten-
vorplatz, ging durch die Tür in die Küche. Der
kleine Mann war zu beschäftigt, um mich zu
bemerken. Die Küche hatte einen Gasherd mit drei
Flammen, ein paar Borde mit fettigem Geschirr,
einen angeschlagenen Eisschrank und die
Frühstücksnische. Der Tisch in der Frühstücksnische
war mit Geld bedeckt. Das meiste waren Scheine,
aber Münzen waren auch dabei, bis zu Dollar-
stücken. Der kleine Mann zählte es, machte Häuf-
chen und machte Eintragungen in einem kleinen
Notizbuch. Er feuchtete seinen Bleistift an, ohne die
Zigarette zu berühren, die in seinem Gesicht befe-
stigt war.
Es müssen wohl mehrere Hundert Dollar auf dem
Tisch gewesen sein.
»Zahltag?« fragte ich jovial.
Der kleine Mann drehte sich schnell um. Einen
Augenblick lang lächelte er und sagte nichts. Es war
das Lächeln eines Mannes, dessen Gedanken nicht
lächeln. Er entfernte den Zigarettenstummel aus dem
Mund, ließ ihn auf den Boden fallen und trat darauf.
Er zog eine neue aus seinem Hemd, steckte sie in
dasselbe Loch in seinem Gesicht und fing an, nach
einem Streichholz zu suchen.

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»Gut, wie Sie reinkamen«, sagte er liebenswürdig.
Da er kein Zündholz fand, wandte er sich lässig zu
seinem Stuhl und langte in die Jackentasche. Etwas
Schweres bumste an das Holz des Stuhls. Ich hatte
ihn am Handgelenk, bevor das schwere Ding aus der
Tasche heraus war. Er warf sich mit dem Körper
zurück, und die Jackentasche erhob sich in meiner
Richtung. Ich entriss ihm den Stuhl.
Er setzte sich hart auf den Fußboden und schlug
mit dem Kopf an das Ende des Frühstückstisches.
Das hinderte ihn aber nicht daran, mir in den
Unterleib zu treten. Ich trat zurück, mit der Jacke in
der Hand und holte eine 0.38 aus der Tasche, an der
er herumgespielt hatte.
»Sitzen Sie doch nicht so auf dem Boden herum,
bloß damit es gemütlich aussieht«, sagte ich.
Er richtete sich auf; er tat sehr angeschlagen, mehr
als er war. Seine Hand tastete hinten an seinem
Kragen herum, es blinkte metallisch hell, als sein
Arm auf mich zuschoss. Er war schon ein scharfer
kleiner Kampfhahn.
Ich wischte ihm eine ans Kinn mit seinem eigenen
Schießeisen, und er setzte sich wieder auf den
Boden. Ich trat auf die Hand, die das Messer hielt.
Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, aber er gab
keinen Ton. Also stieß ich das Messer in eine Ecke.
Es war ein langes, dünnes Messer, und es sah sehr
scharf aus.

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»Sie sollten sich schämen«, sagte ich. »Mit
Revolvern und Messern auf Leute loszugehen, die
bloß ein Dach überm Kopf suchen. Sogar heutzutage
ist das unüblich.«
Er hielt seine schmerzende Hand zwischen den
Knien, drückte sie und fing an, durch die Zähne zu
pfeifen. Der Klaps ans Kinn hatte ihm anscheinend
nicht weh getan. »Okay«, sagte er. »Okay. Ich bin
auch nicht vollkommen. Nimm das Geld und hau ab.
Aber glaub ja nicht, dass wir dich nicht kriegen.«
Ich betrachtete die Kollektion von kleinen
Scheinen und mittleren Scheinen und Münzen auf
dem Tisch. »Man zahlt Ihnen wohl nicht gern, da Sie
solche Waffen mit sich führen«, sagte ich zu ihm.
Ich ging rüber zu der Tür nach innen und probierte
sie. Sie war nicht verschlossen. Ich schaute zurück.
»Ich werfe Ihre Kanone in den Briefkasten«, sagte
ich. »Das nächstemal lassen Sie sich die Marke
zeigen.«
Er pfiff noch immer leise durch die Zähne und hielt
seine Hand. Er sah mich verkniffen, nachdenklich
an, dann wischte er das Geld in eine schäbige
Aktentasche und drückte sie zu. Er nahm seinen Hut
ab, glättete ihn, setzte ihn wieder schräg auf den
Hinterkopf und schenkte mir ein ruhiges, wirkungs-
volles Lächeln.
»Lassen Sie's gut sein mit der Knarre«, sagte er.
»In der Stadt gibt's genug Alteisen. Aber Sie

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könnten die Klinge bei Clausen abgeben. Hab viel
dran gearbeitet, um sie so hinzukriegen.«
»Auch damit gearbeitet?« sagte ich.
»Vielleicht.« Er schnippte die Finger zu mir hin.
»Vielleicht treffen wir uns bald mal wieder. Wenn
ich einen Freund dabei habe.«
»Sagen Sie ihm, er soll ein sauberes Hemd
anziehen«, sagte ich, »und Ihnen auch eines leihen.«
»Mannomann«, sagte der kleine Mann verärgert,
»was sind wir doch gleich für harte Burschen, wenn
die uns diesen Stern angepinnt haben.«
Er ging leise an mir vorbei und über die Holztreppe
der Hinterveranda. Seine Schritte tappten zur Straße
und verklangen. Sie hörten sich sehr ähnlich an wie
Orfamays Absätze, als sie den Gang eines Büro-
hauses entlanggeklappert waren. Irgendwie hatte ich
ein leeres Gefühl, als hätte ich meine Trümpfe falsch
gezählt. Keinerlei Grund dafür. Vielleicht war es die
stählerne Kondition des kleinen Mannes. Kein
Klagelaut, kein Poltern, nur das Lächeln, das durch-
die-Zähne-Pfeifen, die leichte Stimme und die
Augen, die nichts vergaßen.
Ich ging rüber und hob das Messer auf. Die Klinge
war lang und rund und dünn, wie eine Feile ohne
Holzgriff, die abgeschliffen worden war. Der Griff
und das Heft waren leichtes Plastik und schienen aus
einem Stück. Ich hielt das Messer am Griff und gab

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ihm einen kurzen Stoß in Richtung auf den Tisch.
Die Klinge flog raus und zitterte im Holz.
Ich holte tief Atem, steckte den Griff wieder an
und hebelte die Klinge wieder vom Tisch los. Ein
merkwürdiges Messer, zweckmäßig konstruiert und
in keiner Hinsicht erfreulich.
Ich öffnete die Tür jenseits der Küche und ging
durch, mit dem Messer und dem Revolver in einer
Hand.
Es war ein Wohnzimmer mit Klappbett, das
Klappbett war runtergeklappt und zerwühlt. Ein
stark gepolsterter Stuhl war da, in eine Seitenlehne
war ein Loch gebrannt. An der Wand neben dem
Vorderfenster stand ein hohes eichenes Schreibpult
mit schrägen Türen wie altmodische Kellertüren. In
der Nähe stand eine Studio-Couch, und auf der
Couch lag ein Mann. Seine Füße in knotigen grauen
Socken hingen über das Couchende. Sein Kopf hatte
das Kopfkissen um einen halben Meter verfehlt. In
Anbetracht der Farbe der Kissenhülle war das nicht
so schlimm. Sein oberer Teil steckte in einem
farblosen Hemd und einem gewöhnlichen grauen
Hängepullover. Sein Mund war offen, sein Gesicht
glänzte vor Schweiß, und er schnaufte wie ein alter
Ford mit einer defekten Kühlerdichtung.
Auf einem Tisch neben ihm war ein Teller voller
Zigarettenstummel, von denen einige nach Heim-
arbeit aussahen. Auf dem Boden eine fast volle

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Ginflasche und eine Tasse, die anscheinend Kaffee
enthalten hatte, aber keineswegs vor kurzem. Der
Raum war zur Hauptsache mit Gin und schlechter
Luft gefüllt, aber es gab auch Anklänge an Mari-
huanarauch.
Ich öffnete ein Fenster, lehnte meine Stirn gegen
das Fliegennetz, um etwas reine Luft in meine
Lungen zu kriegen, und blickte auf die Straße. Zwei
Knirpse traten ihre Räder am Zaun des Holzlagers
entlang und stoppten von Zeit zu Zeit, um die Werke
der Toilettenkunst auf den Brettern zu studieren.
Sonst bewegte sich nichts in der Nachbarschaft.
Nicht mal ein Hund. Unten an der Ecke stand Staub
in der Luft, als ob da grade ein Auto vorbeigefahren
wäre.
Ich ging rüber zu dem Pult. Darin war ein
Meldebuch, also blätterte ich zurück bis ich auf den
Namen Orrin P. Quest stieß; er war in einer klaren
peniblen Handschrift geschrieben, und daneben
stand die Nummer 214, die von einer anderen Hand
stammte, die keineswegs klar und penibel war. Ich
ging das Meldebuch bis zum Ende durch, fand aber
keine neue Eintragung für Zimmer 214. Ein Kunde
namens G. W. Hicks hatte Zimmer 215. Ich schloss
das Buch in das Pult ein und wanderte hinüber zur
Couch. Der Mann unterbrach sein Schnarchen und
Blasen und schlug mit seinem Arm auf seinen
Körper, als ob er grade eine Rede halten wollte. Ich

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beugte mich runter, klemmte seine Nase fest
zwischen den ersten und zweiten Finger und stopfte
ihm eine Handvoll Pullover in den Mund. Er hörte
auf zu schnarchen und riss seine Augen auf. Sie
waren glasig und blutunterlaufen. Er wehrte sich
gegen meine Hand. Als ich sicher war, dass er ganz
wach war, ließ ich ihn los, griff mir die Ginflasche
vom Boden und goss etwas in ein Glas, das
umgekippt daneben lag. Dann zeigte ich dem Mann
das Glas.
Seine Hand streckte sich aus; eine schöne Angst,
wie von einer Mutter, die ein verlorenes Kind
begrüßt, lag in dieser Bewegung.
Ich zog es aus seiner Reichweite und sagte: »Sind
Sie der Verwalter?«
Er leckte sich die trockenen Lippen und sagte »Gr-
r-r-r.«
Er versuchte das Glas zu erhaschen. Ich stellte es
vor ihn auf den Tisch. Er packte es vorsichtig mit
beiden Händen und schüttete den Gin in sich hinein.
Dann lachte er herzhaft und schmiss mit dem Glas
nach mir. Ich fing es irgendwie auf und stellte es
wieder richtig auf den Tisch. Der Mann betrachtete
mich von oben bis unten und probierte es - erfolglos
- mit einem strengen Blick. »Wassis?« krähte er mit
ärgerlichem Ton. »Verwalter?«

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Er nickte und fiel fast von der Couch. »Bin wohl
ein bisschen besauft«, sagte er. »Irgendwie 'n
bisschen klein bissen besauft.«
»Es geht«, sagte ich. »Sie atmen noch.« Er stellte
seine Füße auf den Boden und stemmte sich
aufrecht. Er gackerte mit plötzlichem Vergnügen,
machte drei unsichere Schritte, sank nieder auf seine
Hände und Füße und versuchte ein Stuhlbein zu
beißen.
Ich zog ihn wieder auf seine Füße, setzte ihn in den
stark gepolsterten Sessel mit der verbrannten Lehne
und goss ihm noch einen Schuss von seiner Medizin
ein. Er trank sie, schüttelte sich heftig, und auf
einmal schienen seine Augen vernünftig zu werden -
und schlau. Solche Trinker haben einen gewissen
Augenblick des Gleichgewichts, einen Augenblick
für die Wirklichkeit. Man weiß nie, wann er kommt
und wie lang er dauert.
»Wer sind Sie, zum Teufel?« knurrte er.
»Ich suche einen Mann namens Orrin P. Quest.«
»Ha?«
Ich sagte es noch mal. Er wischte sich übers
Gesicht mit seinen Händen und sagte lakonisch:
»Ausgezogen.«
»Wann ausgezogen?«
Er wedelte mit der Hand, fiel fast aus seinem
Sessel und wedelte mit der anderen Hand, um

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wieder ins Gleichgewicht zu kommen. »Gib mir
einen Schnaps«, sagte er.
Ich goss noch mal einen Schuss Gin ein und hielt
ihn außerhalb seiner Reichweite. Gib her«, sagte der
Mann dringlich, »mir geht's nicht gut.«
»Ich will nur wissen, wo Orrin P. Quest jetzt
wohnt.«
»Sieh mal einer an«, sagte er humorvoll und
machte einen schwächlichen Versuch, das Glas zu
erreichen, das ich hielt.
Ich setzte das Glas auf den Boden und holte eine
von meinen Geschäftskarten für ihn raus. »Vielleicht
hilft Ihnen das beim Nachdenken«, sagte ich zu ihm.
Er betrachtete die Karte genau, verzog sein
Gesicht, knickte sie einmal und knickte sie noch
mal. Er legte sie auf den Handteller, spuckte drauf
und warf sie über seine Schulter.
Ich reichte ihm das Glas Gin. Er trank mir zu,
nickte würdevoll und warf auch das Glas über seine
Schulter. Es rollte über den Boden und bumste an
die Wandleiste. Der Mann erhob sich mit über-
raschender Leichtigkeit, stieß den Daumen in
Richtung auf die Decke, bog die Finger darunter
zusammen und machte ein scharfes Geräusch mit
Zähnen und Zunge.
»Hau ab«, sagte er. »Ich habe Freunde.« Er sah auf
das Telefon an der Wand, dann wieder listig auf

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mich. »Ein paar Jungen, die es dir besorgen
werden«, sagte er höhnisch. Ich sagte nichts.
»Glaubstu nicht, was?« knurrte er, plötzlich verär-
gert. Ich schüttelte den Kopf.
Er ging auf das Telefon los, klaubte den Hörer vom
Haken und wählte die fünf Zahlen einer Nummer.
Ich sah ihm zu. Eins-drei-fünf-sieben-zwei. Damit
war seine Kraft für diesmal erschöpft. Er ließ den
Hörer fallen und gegen die Wand knallen und setzte
sich auf den Boden daneben. Er holte ihn ans Ohr
und knurrte zur Wand: »Gimmir mal Doc.« Ich
lauschte still. »Vince! Den Doktor!« rief er
ärgerlich. Er schüttelte den Hörer und schleuderte
ihn fort. Er ging mit den Händen zu Boden und fing
an, im Kreis herum zu kriechen. Als er mich
bemerkte, schien er erstaunt und verärgert. Er
rappelte sich wieder auf seine Füße und streckte die
Hand aus. »Gib was zu trinken.«
Ich holte mir das runtergefallene Glas und leerte
die Ginflasche hinein. Er nahm es in Empfang,
würdevoll wie eine trunkene Matrone, trank es aus -
mit einem heiteren Schwung -, wanderte dann ruhig
zur Couch rüber und legte sich hin; das Glas legte er
als Kissen unter den Kopf. Er schlief sofort ein.
Ich hängte den Telefonhörer wieder an seinen
Haken, warf noch mal einen kurzen Blick in die
Küche, befühlte den Mann auf der Couch und holte
einige Schlüssel aus seiner Tasche. Einer davon war

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ein Hauptschlüssel. Die Tür zum Hausflur hatte ein
Schnappschloß; ich richtete es so ein, dass ich
wieder reinkommen konnte, und stieg die Treppe
hinauf. Unterwegs hielt ich an und schrieb ›Doc
Vince 13572‹ auf einen Umschlag. Vielleicht war es
eine Spur. Das Haus war ganz still, als ich
weiterstieg.

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4

Der Hauptschlüssel des Verwalters - es war viel dran


gefeilt worden - öffnete das Schloss von Zimmer
214 lautlos. Ich stieß die Tür auf. Das Zimmer war
nicht leer. Ein vierschrötiger, kräftiger Mann stand
gebückt über einen Koffer auf dem Bett, den Rücken
zur Tür. Hemden, Socken und Unterwäsche waren
auf dem Bettbezug ausgebreitet, und er packte sie
ruhig und sorgfältig, wobei er eintönig durch die
Zähne pfiff.
Er erstarrte, als die Türangel knarrte. Seine Hand
fuhr schnell nach dem Kissen auf dem Bett.
»Bitte, verzeihen Sie«, sagte ich, »der Verwalter
sagte mir, das Zimmer sei leer.«
Er war kahl wie eine Pampelmuse. Er trug
dunkelgraue Flanellhosen und einen durchsichtigen
Plastikhosenträger auf einem blauen Hemd. Seine
Hände kehrten von dem Kissen zurück, zu seinem
Kopf und wieder herunter. Dann drehte er sich um
und hatte Haare.
Es sah so natürlich aus wie Haar eben aussieht,
weich, braun und ohne Scheitel. Darunter funkelte er
mich an.
»Anklopfen schadet nie«, sagte er.
Er hatte eine schwere Stimme und ein breites,
klares Gesicht, das viel gesehen hatte.

- 43 -
»Warum sollte ich? Wenn der Verwalter sagt, dass
es leer sei?«
Er nickte beruhigt. Das Funkeln verschwand aus
seinen Augen. Ich kam weiter ins Zimmer, auch
ohne Einladung. Ein Groschenmagazin lag aufge-
schlagen, Rücken nach oben, auf dem Bett neben
dem Koffer. Eine Zigarre qualmte in einem grünen
Glasaschenbecher. Das Zimmer war gut in Ordnung
und sauber - für dieses Haus.
»Er hat wohl gedacht, Sie seien schon
ausgezogen«, sagte ich mit einer Miene voll guter
Absichten, nichts als die Wahrheit im Sinn.
»In einer halben Stunde haben Sie es«, sagte der
Mann.
»Was dagegen, dass ich mich mal umsehe?«
Er lächelte freudlos. »Sie sind wohl noch nicht
lange in der Stadt, was?«
»Warum?«
»Mögen Sie das Haus und die Nachbarschaft?«
»Nicht besonders«, sagte ich. »Aber das Zimmer
ist wohl in Ordnung.«
Er grinste, und man konnte eine Jacketkrone aus
Porzellan sehen - zu weiß für die anderen Zähne.
»Wie lange suchen Sie schon?«
»Fange grade an«, sagte ich. »Wozu die vielen
Fragen?«

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»Ich muss lachen über Sie«, sagte der Mann ohne
zu lachen. »Sie sehen sich keine Zimmer an. Sie
greifen zu ohne hinzusehen, und diese Gegend ist
derart überfüllt, dass ich zehn Dollar kriegen könnte,
wenn ich nur sage, dass hier was leer ist!«
»Schade«, sagte ich. »Ein Mann namens Orrin P.
Quest hat mir das mit dem Zimmer gesagt. Also
diesen Zehner können Sie nicht verprassen.«
»Tatsächlich?« Kein Augenzwinkern. Kein
Muskel, der sich rührte. Ebensogut hätte ich mit
einer Schildkröte reden können. »Werden Sie nicht
frech zu mir«, sagte der Mann. »Es ist nicht gesund,
zu mir frech zu werden.«
Er nahm seine Zigarre aus dem grünen
Glasaschenbecher und paffte ein bisschen. Durch
den Rauch warf er mir einen kalten grauen Blick zu.
Ich zog eine Zigarette raus und kratzte mich mit ihr
am Kinn.
»Was passiert denn den Leuten, die frech zu Ihnen
werden?« fragte ich ihn. »Müssen die Ihre Perücke
halten?«
»Lassen Sie meine Perücke aus dem Spiel«, sagte
er wütend.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Am Haus ist ein Schild ›Keine Zimmer frei‹«,
sagte der Mann. »Wieso kommen Sie her und wollen
eins?«

- 45 -
»Sie haben den Namen nicht mitgekriegt«, sagte
ich. »Orrin P. Quest.« Ich buchstabierte ihn ihm vor.
Das gefiel ihm auch nicht besser. Es herrschte
tödliches Schweigen.
Er drehte sich unvermittelt um und legte einen
Haufen Taschentücher in seinen Koffer. Ich kam ein
bisschen näher ran. Als er sich zurückdrehte, war so
etwas wie ein wachsamer Zug in seinem Gesicht.
Aber es war schon vorher ein wachsames Gesicht
gewesen.
»Freund von Ihnen?« fragte er lässig.
»Wir sind zusammen groß geworden«, sagte ich.
»Ein ruhiger Typ«, sagte der Mann ungezwungen.
»Wir haben uns manchmal zusammen die Zeit
vertrieben. Arbeitet bei Cal-Western, stimmt's?«
»Früher mal«, sagte ich.
»Oh. Er ist gegangen?«
»Entlassen.«
Wir starrten einander weiterhin an. Das brachte uns
auch nicht weiter. Das hatten wir beide schon zu
lange in unserem Leben gemacht, um davon Wunder
zu erwarten.
Der Mann steckte sich seine Zigarre wieder ins
Gesicht und setzte sich auf das Bett neben seinem
offenen Koffer. Aus einem Augenwinkel bemerkte
ich den eckigen Griff eines automatischen

- 46 -
Revolvers, der unter einem Paar schlecht gefalteter
Unterhosen hervorlugte.
»Dieser Quest ist schon vor zehn Tagen hier
ausgezogen«, sagte der Mann nachdenklich. »Und
der meint, das Zimmer sei leer, was?«
»Nach dem Meldebuch ist es leer«, sagte ich.
Er machte ein verächtliches Geräusch. »Der
Saufbold da unten hat das Buch sicher schon einen
Monat nicht mehr angeschaut. Oh - Moment mal.«
Sein Blick schärfte sich, seine Hand bewegte sich
nachlässig über den offenen Koffer und versetzte
irgendeinem unwichtigen Ding in der Nähe des
Revolvers einen kleinen Stoß. Als die Hand
weiterwanderte, war der Revolver nicht mehr zu
sehen.
»Ich muss wohl den ganzen Morgen ein bisschen
gedöst haben, sonst wäre ich schlauer gewesen«,
sagte er. »Sie sind ein Bulle.«
»Ganz recht. Sagen wir, ich bin ein Bulle.«
»Wo fehlt's denn?«
»Nirgendwo fehlt's. Ich wollte bloß wissen, warum
Sie das Zimmer haben.«
»Ich bin herübergezogen, von Nummer 215
gegenüber. Das Zimmer hier ist besser. Weiter
nichts. Einfach. Zufrieden?«

- 47 -
»Vollkommen«, sagte ich und beobachtete die
Hand, die die Kanone erreichen konnte, wann sie
wollte.
»Was für ein Bulle? Städtisch? Zeigen Sie mal die
Marke.«
Ich sagte nichts.
»Ich glaub nicht, dass Sie keine Marke haben.«
»Wenn ich Sie Ihnen zeige, sagen Sie, sie ist
gefälscht - so ein Typ sind Sie. Also Sie sind
Hicks.« Er sah überrascht aus.
»George W. Hicks«, sagte ich. »Steht im
Meldebuch. Zimmer 215. Sie haben mir doch grade
erzählt, dass Sie von 215 rübergezogen sind.« Ich
blickte im Zimmer umher. »Wenn Sie eine Tafel
hätten, würde ich's Ihnen hinschreiben.«
»Eigentlich brauchen wir uns hier nicht um die
Wette anzupöbeln«, sagte er. »Klar, ich bin Hicks.
Sehr erfreut. Und Ihr werter Name?«
Er streckte seine Hand aus. Ich schüttelte seine
Hand - aber nicht grade so, als ob ich mich nach
diesem Moment gesehnt hätte. »Ich heiße
Marlowe«, sagte ich, »Philip Marlowe.«
»Wissen Sie was?« sagte Hicks höflich. »Sie sind
ein verdammter Lügner.«
Ich lachte ihm ins Gesicht.
»Mit dieser forschen Masche kommen Sie nicht
weit, mein Junge. In wessen Auftrag sind Sie hier?«

- 48 -
Ich zog meine Brieftasche heraus und gab ihm eine
von meinen Geschäftskarten. Er las sie nachdenklich
und klopfte mit der Kante an seine Porzellankrone.
»Er hätt sich können dünnemachen und mir keinen
Ton sagen«, sagte er grüblerisch.
»Sie führen so eine lockere Rede, wie Ihre Perücke
locker ist.«
»Lassen Sie das mit der Perücke, sonst verbrennen
Sie sich den Mund.«
»Ich wollte sie nicht essen«, sagte ich. »So hungrig
bin ich nicht.«
Er machte einen Schritt auf mich zu, seine rechte
Schulter hing schräg. Fast ebenso tief hing die Lippe
von seinem wutverzerrten Mund.
»Hauen Sie mich nicht. Ich bin versichert«, sagte
ich zu ihm.
»Ach, verdammt. Wieder so ein Spinner.« Er
zuckte mit den Achseln und nahm seine Lippe
wieder rauf in sein Gesicht. »Was wollen Sie denn?«
»Ich muss diesen Orrin P. Quest finden«, sagte ich.
»Warum?«
Ich gab keine Antwort.
Nach einem Augenblick sagte er: »Na schön. Ich
bin auch ein vorsichtiger Mensch. Deshalb ziehe ich
ja weg.«
»Vielleicht mögen Sie den Hasch-Geruch nicht.«

- 49 -
»Das auch«, sagte er tonlos. »Auch andere Sachen
nicht. Deshalb ist Quest fort. Anständiger Kerl. Wie
ich. Ich glaube, da haben ihm ein paar hartgesottene
Burschen Angst gemacht.«
»Soso«, sagte ich. »Deshalb hat er keine neue
Adresse hinterlassen. Und warum haben die ihm
Angst gemacht?«
»Sie haben doch grade von dem Hasch-Geruch
geredet, oder? Er wäre doch der Typ, der damit zur
Polizei geht, glauben Sie nicht?«
»In Bay City?« fragte ich. »Wozu die Mühe. - Na
ja, jedenfalls vielen Dank, Mr. Hicks. Geht's weit
weg?«
»Nicht weit«, sagte er. »Nein. Nicht sehr weit.
Gerade weit genug.«
»Was ist denn Ihre Masche?« fragte ich ihn.
»Masche?« Er schien gekränkt.
»Na ja. Wem klopfen Sie auf die Tasche, mein ich.
Wo machen Sie Ihren Schnitt?«
»Sie irren sich, Mann. Ich bin ein pensionierter
Optiker.«
»Haben Sie dazu die 45er da drin?« Ich zeigte auf
den Koffer.
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber«,
sagte er griesgrämig. »Die ist seit Jahren in der
Familie.« Er betrachtete noch einmal meine Karte.

- 50 -
»Privatdetektiv, was?« sagte er nachdenklich. »Was
für eine Arbeit machen Sie denn so?«
»Alles, was halbwegs ehrlich ist.«
Er nickte. ›»Halbwegs‹ ist ein dehnbares Wort.
›Ehrlich‹ auch.«
Ich produzierte für ihn ein schmieriges Grinsen.
»Wie recht Sie haben«, gestand ich. »An einem
stillen Nachmittag setzen wir uns mal zusammen
und dehnen sie.« Ich streckte meine Hand aus,
schnappte mir die Karte zwischen seinen Fingern
und steckte sie in meine Tasche. »Besten Dank für
Ihre Mühe«, sagte ich.
Ich ging raus und schloss die Tür, dann hielt ich
mein Ohr dran und lauschte. Ich weiß selbst nicht,
was für ein Geräusch ich erwartete. Jedenfalls hörte
ich es nicht. Ich hatte ein Gefühl, dass er genau da
stand, wo ich ihn verlassen hatte, und die Stelle
ansah, von der ich verschwunden war. Ich ging
geräuschvoll den Gang entlang und stoppte oben an
der Treppe.
Unten, vor dem Haus, fuhr ein Auto ab. Irgendwo
wurde eine Tür geschlossen. Ich ging lautlos zurück
zu Zimmer 215 und benutzte den Hauptschlüssel,
um reinzukommen. Leise zog ich die Tür zu, schloss
sie ab und wartete einfach.

- 51 -
5

Keine zwei Minuten waren vergangen, als Mr.


George W. Hicks sich auf den Weg machte. So leise
kam er heraus, dass ich ihn nicht gehört hätte, wenn
ich nicht gerade auf diese Art von Bewegung
gewartet hätte. Ich hörte das schwache metallische
Geräusch, als der Türknopf gedreht wurde. Dann
langsame Schritte. Dann wurde die Tür sehr behut-
sam geschlossen. Die Schritte entfernten sich. Das
schwache Knarren entfernter Treppenstufen. Dann
nichts. Ich wartete auf das Geräusch der Haustür. Es
kam nicht. Ich öffnete die Tür von 215 und schlich
noch einmal den Flur entlang bis zur Treppe. Unten
war ein Geräusch von einer vorsichtig geöffneten
Tür. Ich lugte hinunter und sah Hicks in die
Wohnung des Verwalters gehen. Die Tür schloss
sich hinter ihm. Ich wartete auf das Geräusch von
Stimmen. Es kamen keine Stimmen.
Ich zuckte die Achseln und ging zurück zu 215.
Es gab Anzeichen, dass das Zimmer bewohnt war.
Ein kleines Radio auf dem Nachttisch, ein
ungemachtes Bett mit Schuhen drunter und ein alter
Bademantel, der vor den löcherigen grünen
Jalousien hing, um das blendende Licht abzuhalten.
Ich sah mir das alles an, als ob es irgend etwas
bedeutete, dann trat ich wieder auf den Flur und
schloss die Tür zu. Eine weitere Wallfahrt

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unternahm ich nach Zimmer 214. Die Tür war
diesmal nicht verschlossen. Ich durchsuchte das
Zimmer mit Sorgfalt und Geduld und fand nichts,
das irgendwie mit Orrin P. Quest zusammenhing.
Ich erwartete auch nichts. Kein Grund, dass ich was
erwarten sollte. Aber man soll immer nachsehen.
Ich stieg die Treppe hinunter, horchte vor der Tür
des Verwalters, hörte nichts, ging rein und durch,
um die Schlüssel auf das Pult zu legen. Lester B.
Clausen lag auf der Couch, das Gesicht zur Wand,
taub für die Welt. Ich durchsuchte das Pult, fand ein
altes Kontobuch, das anscheinend mit eingenom-
menen Mieten, bezahlten Auslagen und mit nichts
anderem zu tun hatte. Ich sah mir nochmals das
Meldebuch an. Es war nicht auf dem laufenden, aber
in Anbetracht des Typs auf der Couch war das ganz
erklärlich. Orrin P. Quest war weggezogen. Jemand
hatte sein Zimmer übernommen. Jemand anders
hatte das Zimmer, das auf Hicks eingetragen war.
Der kleine Mann, der in der Küche das Geld gezählt
hatte, passte gut in die Gegend. Dass er eine Kanone
und ein Messer bei sich hatte, war eine Kuriosität,
über die man im Polizei-Hauptquartier, Idaho Street,
kein Wort verlieren würde.
Ich lüpfte mir das kleine Telefonbuch von Bay City
vorn Haken neben dem Pult. Ich dachte, dass es
wohl keine Affäre sein würde, den Kunden heraus-
zufinden, der zu dem Namen ›Doc‹ oder ›Vince‹ und

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zu der Nummer eins-drei-fünf-sieben-zwo gehörte.
Aber zuerst blätterte ich noch einmal im Meldebuch
zurück. Etwas, das ich besser schon vorher gemacht
hätte. Die Seite mit der Eintragung von Orrin P.
Quest war rausgerissen. Ein vorsichtiger Mensch,
Mr. George W. Hicks. Sehr vorsichtig.
Ich klappte das Meldebuch zu, warf noch einen
Blick auf Lester B. Clausen, rümpfte meine Nase
über die abgestandene Luft und den ekligen süßen
Geruch nach Gin und nach was anderem und machte
mich wieder auf den Weg zur Tür. Als ich dort
angekommen war, kam mir zum ersten Mal etwas in
den Sinn. Ein Betrunkener wie Clausen müsste
eigentlich laut schnarchen. Er müsste wie ein Wilder
schnarchen, mit allen Arten von Verstopfung,
Gurgeln und Schnaufen. Er machte keinerlei
Geräusch. Eine braune Armeedecke war über seine
Schultern und den unteren Teil seines Kopfes
gezogen. Er schien es bequem zu haben, er war
friedlich. Ich beugte mich über ihn und sah nach
unten. Eine nicht ganz zufällige Falte hob die Decke
von seinem Hinterkopf ab. Ich schob sie weg. Ein
viereckiger, gelber Holzgriff war hinten an Lester B.
Clausens Hals angebracht. Auf einer Seite des
gelben Griffs war der Aufdruck Ȇberreicht durch
Crumsen & Co, Eisenwaren«. Die Stelle, wo der
Griff saß, war genau unter dem Hinterhauptknochen.

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Es war der Griff von einem Eisdorn, zum
Zerkleinern von Stangeneis.
Ich legte einen netten kleinen Spurt ein, um mich
aus der Gegend zu entfernen. Am Stadtrand, kurz
vor der Gemeindegrenze, klemmte ich mich in eine
Telefonzelle und rief die Polizei an.
»Polizei Bay City. Moot«, sagte eine rauhe
Stimme. Ich sagte: »Idaho Street Nr. 449. In der
Wohnung des Verwalters. Er heißt Clausen.«
»Was?« sagte die Stimme. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ist mir ziemlich
rätselhaft. Aber der Mann heißt Lester B. Clausen.
Haben Sie das?«
»Wieso ist das wichtig?« sagte die rauhe Stimme
arglos.
»Das Morddezernat wird sich dafür interessieren«,
sagte ich und hängte ein.

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6

Ich fuhr nach Hollywood zurück und schloss mich


mit dem Telefonbuch von Bay City in mein Büro
ein. Ich brauchte eine Viertelstunde, um herauszu-
finden, dass der Teilnehmer mit der Nummer eins-
drei-fünf-sieben-zwei in Bay City ein Dr. Vincent
Lagardie war, angeblich ein Neurologe, mit
Wohnsitz und Praxis in der Wyoming Street; nach
meinem Stadtplan war das nicht gerade mitten in der
besten Wohngegend, aber auch noch nicht
außerhalb. Ich schloss das Telefonbuch von Bay
City in meinen Schreibtisch, ging runter in den
Drugstore an der Ecke, nahm ein Sandwich und,
eine Tasse Kaffee und benutzte die Telefonzelle, um
Dr. Vincent Lagardie anzurufen. Eine Frau meldete
sich, und es war etwas mühsam, zu Dr. Lagardie
selbst durchzukommen. Als ich es geschafft hatte,
war seine Stimme ungeduldig. Er war, wie er sagte,
sehr beschäftigt, mitten in einer Untersuchung. Ich
habe noch nie von einem Doktor gehört, bei dem es
anders war. Ob er Lester B. Clausen kannte? Er hatte
nie von ihm gehört. Was war der Zweck meiner
Frage?
»Mr. Clausen versuchte Sie heute morgen anzu-
rufen«, sagte ich. »Er war zu betrunken, um normal
reden zu können.«

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»Aber ich kenne Mr. Clausen nicht«, erwiderte die
kühle Stimme des Doktors. Es hatte nicht mehr den
Anschein, dass er in Eile war.
»Na ja, dann ist es auch gut«, sagte ich. »Ich wollte
bloß sichergehen. Irgend jemand hat ihm einen
Eisdorn in den Hals gesteckt.«
Eine stille Pause. Dr. Lagardies Stimme war jetzt
von geradezu öliger Höflichkeit. »Ist es der Polizei
gemeldet worden?«
»Freilich«, sagte ich. »Aber das braucht Ihnen
nichts auszumachen - außer, natürlich, wenn es Ihr
Eisdorn war.«
Er überging das. »Mit wem spreche ich?« fragte er
verbindlich.
»Sie sprechen mit Hicks«, sagte ich. »George W.
Hicks. Ich bin gerade dort ausgezogen. Mit solchen
Sachen will ich nichts zu tun haben. Ich habe mir
nur gedacht, wo Clausen Sie doch anrufen wollte -
also, bevor er tot war, meine ich -, da könnte es Sie
doch interessieren.«
»Tut mir leid, Mr. Hicks«, sagte Dr. Lagardies
Stimme. »Aber ich kenne Mr. Clausen nicht. Ich
habe nie von Mr. Clausen gehört, hatte nie irgend
etwas mit ihm zu tun. Und für Namen habe ich ein
ausgezeichnetes Gedächtnis.«
»Na, das ist ja schön«, sagte ich. »Sie werden ihn
jetzt auch nicht mehr kennenlernen. Aber es könnte

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ja sein, dass irgend jemand wissen will, warum er
versucht hat, Sie anzurufen - es sei denn, ich
vergesse, es weiterzuerzählen.«
Einen Moment lang war Totenstille. Dr. Lagardie
sagte: »Ich wüsste nicht, was dazu zu sagen wäre.«
Ich sagte: »Ich auch nicht. Vielleicht rufe ich Sie
noch mal an. Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr.
Lagardie. Es ist keine große Geschichte. Ich bin nur
ein bisschen durcheinander und brauche einen
Freund. Irgendwie dachte ich, ein Doktor – so was
wie ein Pfarrer …«
»Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung«, sagte Dr.
Lagardie. »Kommen Sie ohne Bedenken, wenn Sie
einen Rat brauchen.«
»Ich danke Ihnen, Doktor«, sagte ich inbrünstig.
»Vielen, vielen Dank.«
Ich legte auf. Wenn Dr. Lagardie schlau war,
würde er nun die Polizei in Bay City anrufen und
denen die ganze Geschichte erzählen. Wenn er nicht
anrief, war er nicht schlau. Es wäre vielleicht
nützlich, das herauszukriegen. Oder auch nicht.

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7

Das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte


genau um vier. »Haben Sie Orrin schon gefunden,
Mr. Marlowe?«
»Noch nicht. Wo sind Sie?«
»Na, in dem Drugstore neben dem Haus …«
»Also, dann kommen Sie rauf, und spielen Sie
nicht Mata Hari«, sagte ich.
»Können Sie denn nie mal ein bisschen höflich
sein?« sagte sie pikiert.
Ich legte auf und flößte mir einen Schuss Old
Forester ein, um meine Nerven für die Fragerei zu
stärken. Als ich noch schlürfte, hörte ich ihre
Schritte den Gang entlang trippeln. Ich ging rüber
und öffnete die Tür.
»Kommen Sie hier rein, hier ist nicht so'n
Gedränge«, sagte ich. Sie setzte sich steif hin und
wartete.
»Alles, was ich rauskriegte«, sagte ich, »ist, dass in
dieser Höhle in der Idaho Street Gras verkauft wird.
Also Marihuana-Zigaretten.«
»Oh, wie grässlich«, sagte sie.
»Das Gute geht immer mit dem Schlechten einher
in diesem Leben«, sagte ich. »Orrin muß was
gemerkt haben und hat wohl gedroht, es der Polizei
zu melden.«

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»Glauben Sie«, sagte sie in ihrer Klein-Mädchen-
Manier, »dass sie ihm dafür weh tun könnten?«
»Na ja, wahrscheinlich haben sie ihm erst mal
Angst eingejagt.«
»Oh, die könnten Orrin nicht erschrecken, Mr.
Marlowe«, sagte sie entschieden. »Er wird sehr
böse, wenn Leute sich mit ihm anlegen wollen.«
»Sicher«, sagte ich. »Aber wir reden über verschie-
dene Sachen. Man kann jedem Angst einjagen - mit
der richtigen Methode.«
Sie machte einen bockigen Mund. »Nein, Mr.
Marlowe. Orrin können sie nicht erschrecken.«
»Na schön«, sagte ich. »Also sie haben ihn nicht
erschreckt. Vielleicht haben sie ihm nur ein Bein
abgeschnitten und es ihm um die Ohren geschlagen.
Was machen Sie denn dann - schreiben Sie an den
Verbraucherschutz?«
»Sie wollen mich hochnehmen«, sagte sie
förmlich. Ihre Stimme war so kühl wie Kantinen-
suppe. »Ist das alles, was Sie den ganzen Tag
gemacht haben? Bloß, dass Orrin ausgezogen ist und
dass es eine schlechte Gegend war? Das hatte ich
schon selbst erfahren, Mr. Marlowe. Ich habe
gedacht, wo Sie doch ein Detektiv sind und so …«
Sie ließ die Stimme sinken und den halben Satz in
der Luft.

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»Ich habe ein bisschen mehr gemacht«, sagte ich.
»Ich habe dem Verwalter etwas Gin gegeben und
habe im Meldebuch geblättert und habe mit einem
Mann namens Hicks geredet. George W. Hicks. Er
trägt eine Perücke. Ich glaube, Sie kennen ihn
vielleicht nicht. Er hat Orrins Zimmer, oder er hatte
es. Und da habe ich gedacht, vielleicht …« Jetzt war
ich an der Reihe mit meinem halben Satz in der Luft.
Sie fixierte mich mit ihren blassblauen Augen, die
von den Brillengläsern vergrößert wurden. Ihr Mund
war klein und fest und zusammengepresst, ihre
Hände auf dem Schreibtisch vor ihrer großen Hand-
tasche ineinander geklammert, der ganze Körper
steif und starr und förmlich und ablehnend.
»Ich habe Ihnen zwanzig Dollar bezahlt, Mr.
Marlowe«, sagte sie kalt. »Ich war der Meinung,
dass damit eine Tagesarbeit bezahlt werden sollte.
Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie eine
Tagesarbeit geleistet haben.«
»Nein«, sagte ich. »Das ist richtig. Aber der Tag ist
noch nicht vorbei. Und machen Sie sich keine
Sorgen wegen der zwanzig Lappen. Die können Sie
zurück haben. Ich hab sie nicht mal angekratzt.«
Ich machte die Schreibtischschublade auf und holte
ihr Geld heraus. Ich schob es über den Schreibtisch.
Sie schaute es an, aber sie berührte es nicht. Ihr
Blick hob sich langsam und traf auf den meinen.

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»So habe ich es nicht gemeint. Ich weiß, Sie
machen es so gut Sie können, Mr. Marlowe.«
»Bei dem bisschen, was Sie mir erzählt haben.«
»Aber ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß!«
»Glaub ich nicht.«
»Wenn Sie das nicht glauben, kann ich sicher
nichts dagegen machen«, sagte sie spitz. »Schließ-
lich, wenn ich schon alles wüsste, was ich wissen
wollte, würde ich nicht herkommen und Sie bitten,
es rauszukriegen, oder?«
»Ich sage nicht, dass Sie alles wissen, was Sie
wissen wollen«, antwortete ich. »Die Sache ist die,
dass ich nicht alles weiß, was ich wissen will, um
Ihren Auftrag zu erledigen. Und was Sie mir
erzählen, passt nicht zusammen.«
»Was passt nicht zusammen? Ich habe Ihnen die
Wahrheit gesagt. Ich bin Orrins Schwester. Ich
glaube, ich weiß, was für ein Mensch er ist.«
»Wie lange hat er für Cal-Western gearbeitet?«
»Das habe ich Ihnen erzählt. Er ist ungefähr vor
einem Jahr nach Kalifornien gekommen. Er fing
gleich an zu arbeiten, den Job hatte er praktisch
schon in der Tasche, als er wegfuhr.«
»Wie oft schrieb er nach Hause? Bevor er mit dem
Schreiben aufhörte.«

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»Jede Woche. Manchmal öfter. Er schrieb immer
abwechselnd an Mutter und an mich. Natürlich
waren die Briefe für uns beide.«
»Worüber?«
»Sie meinen, worüber er schrieb?«
»Was haben Sie denn gedacht?«
»Sie brauchen mich nicht anzuschnauzen. Er
schrieb über seine Arbeit und die Fabrik und die
Leute dort, und manchmal über einen Film, in dem
er gewesen war. Oder über Kalifornien. Er schrieb
auch über die Kirche.«
»Nichts über Mädchen?«
»Ich glaube nicht, dass Orrin sich viel aus
Mädchen machte.«
»Und er wohnte die ganze Zeit am selben Ort?«
Sie nickte, sie wirkte verwirrt.
»Und er hörte wann zu schreiben auf?«
Darüber hieß es nachdenken. Sie kniff die Lippen
zusammen und drückte eine Fingerspitze an die
Unterlippe. Schließlich sagte sie: »Ungefähr vor drei
oder vier Wochen.«
»Von welchem Datum ist denn der letzte Brief?«
»Ich - es tut mir leid, ich kann Ihnen das genaue
Datum nicht sagen. Aber es war, wie ich gesagt
habe, drei oder vier…«

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Ich unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Irgend etwas Ungewöhnliches drin? Stand
irgendwas Abnormes drin, oder was Normales nicht
drin?«
»Gar nicht. Er schien genau wie die anderen.«
»Haben Sie keine Freunde oder Verwandte in
dieser Landesgegend?«
Sie blickte mich sehr sonderbar an, wollte etwas
sagen, schüttelte dann heftig den Kopf. »Nein.«
»Also gut. Ich werde Ihnen erzählen, was hier nicht
stimmt. Ich rede gar nicht davon, dass Sie mir nicht
sagen, wo Sie wohnen, vielleicht weil Sie befürchten
könnten, dass ich mit einer Pulle Schnaps anrücke
und Ihnen einen unzüchtigen Antrag mache.«
»Das ist nicht besonders nett, was Sie da reden«,
sagte sie.
»Was ich sage, ist nie nett. Ich bin nicht nett. Nach
Ihren Begriffen kann niemand nett sein, der nicht
wenigstens drei Gebetsbücher hat. Aber etwas bin
ich: ein hartnäckiger Frager. Was an der ganzen
Sache nicht stimmt, ist, dass Sie keine Angst haben.
Weder haben Sie selbst Angst, noch Ihre Mutter.
Und Sie sollten höllische Angst haben!«
Sie drückte mit ihren klammen kleinen Fingern
ihre Tasche an ihren Busen. »Meinen Sie, es ist ihm
was passiert?« Ihre Stimme erstarb zu einer Art

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kummervollem Flüstern, wie bei einem Leichen-
bestatter, der um eine Anzahlung bittet.
»Ich hab keine Ahnung, was passiert ist. Aber in
Ihrer Lage, wo Sie doch wissen, was Orrin für ein
Typ ist, wie seine Briefe immer kamen und dann
nicht mehr, da kann ich mir einfach nicht vorstellen,
dass man erst auf die Sommerferien wartet, bis man
anfängt, Fragen zu stellen. Ich kann mir auch nicht
vorstellen, dass man die Polizei umgeht, die einen
Apparat zum Aufspüren von Menschen hat. Um
dann zu einem Ein-Mann-Unternehmen zu gehen,
von dem Sie nie gehört haben, und ihn zu bitten, in
den Hinterhöfen herumzustöbern. Und ich kann mir
auch Ihre liebe alte Mutter nicht vorstellen, wie sie
dasitzt, in Manhattan, Kansas, und Woche um
Woche des Pfarrers Winter-Unterwäsche stopft. Und
kein Brief von Orrin. Keine Nachricht. Und alles,
was sie macht, ist tief aufseufzen und noch ein Paar
Hosen flicken.«
Sie sprang empört auf. »Sie sind ein fürchterlicher,
abstoßender Mensch«, sagte sie giftig. »Ich glaube,
Sie sind hundsgemein. Wie können Sie es wagen, zu
sagen, dass Mutter und ich uns keine Sorgen
gemacht haben! Wie können Sie es wagen!«
Ich schob die Banknoten im Wert von zwanzig
Dollar ein bisschen weiter auf die andere Seite des
Schreibtisches. »Sorgen im Wert von genau zwanzig
Dollar, meine Liebe«, sagte ich. »Aber weswegen

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Sorgen - das weiß ich nicht. Und eigentlich will ich's
auch gar nicht wissen. Jetzt stecken Sie einfach
diesen dicken Packen wieder in Ihre Satteltasche und
vergessen Sie, dass Sie mich je gesehen haben.
Vielleicht kommen Sie morgen auf die Idee, es dem
nächsten Detektiv zu leihen.«
Sie ließ das Schloss ihrer Tasche mit dem Geld
heftig zuschnappen. »Ich glaube kaum, dass ich Ihr
schlechtes Benehmen vergesse«, zischte sie. »Noch
nie hat irgend jemand auf der Welt in dieser Art mit
mir geredet.«
Ich stand auf und schlenderte um den Schreibtisch
herum. »Sie sollten nicht zu viel darüber nach-
denken. Am Ende gefällt es Ihnen noch.«
Ich streckte meine Hand aus und zog ihr rasch die
Brille ab. Sie trat einen halben Schritt zurück,
stolperte beinahe, und ich legte ganz instinktiv den
Arm um sie. Ihre Augen wurden groß, sie legte ihre
Hände auf meine Brust und stieß sich ab. Ein Küken
konnte nicht kräftiger sein.
»Ohne die Brille sind die Augen wirklich toll«,
sagte ich voller Bewunderung.
Sie entspannte sich, ließ ihren Kopf etwas nach
hinten sinken und öffnete ein bisschen die Lippen.
»So machen Sie's wohl mit allen Kunden«, sagte sie
leise. Ihre Hände hingen wieder zu beiden Seiten.
Die Tasche schubberte an meinem Bein. Ihr Gewicht
lag auf meinem Arm. Wenn sie wollte, dass ich sie

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losließ, dann hatte sie eine komische Art, das
mitzuteilen.
»Ich wollte bloß nicht, dass Sie das Gleichgewicht
verlieren«, sagte ich.
»Ich wusste, dass Sie ein aufmerksamer Mensch
sind.« Sie lockerte sich noch mehr. Ihr Kopf sank
hintenüber. Ihre Augenlider senkten sich, flatterten
ein bisschen, und ihre Lippen gingen weiter
auseinander. Ein herausforderndes Lächeln erschien
darauf, das man nicht erst lernen muss. »Sie haben
sicher gedacht, ich hab das absichtlich gemacht«,
sagte sie.
»Was absichtlich gemacht?«
»Na ja, stolpern oder so.«
»Tja…«
Sie hob schnell einen Arm und legte ihn um
meinen Hals und zog. Da küsste ich sie eben.
Entweder das oder ihr eine schmieren. Sie drückte
ihren Mund einen Moment lang heftig auf meinen,
dann schmiegte sie sich still und kuschelig in meine
Arme. Dann kam ein langer, weicher Seufzer.
»In Manhattan, Kansas, könnte man Sie wegen so
was einsperren.«
»Wenn es irgendeine Gerechtigkeit gäbe, könnte
man mich einsperren, nur weil ich da bin.«
Sie kicherte und klopfte mit einer Fingerspitze auf
meine Nasenspitze. »Sicher sind Sie mehr für

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rasante Mädchen«, sagte sie und sah mich von der
Seite an. »Na, wenigstens brauchen Sie keinen
Lippenstift abzuwischen. Vielleicht tue ich das
nächste Mal etwas auf.«
»Vielleicht setzen wir uns lieber auf den Boden«,
sagte ich. »Mein Arm wird lahm.«
Sie kicherte wieder und machte sich zierlich los.
»Sie werden sicher denken, dass ich schon oft
geküsst worden bin«, sagte sie.
»Alle Mädchen werden geküsst.«
Sie nickte, sah mich so an, von unten herauf, dass
ihre Iris von Wimpern halb verdeckt war. »Sogar auf
Wohltätigkeitsparties spielen sie Pfänder mit
Küssen«, sagte sie.
»Sonst gab's ja auch keine Wohltätigkeitsparties«,
sagte ich.
Wir sahen uns an, ausdruckslos.
Schließlich begann sie: »Alsooo …« Ich reichte ihr
ihre Brille zurück. Sie setzte sie auf. Sie machte die
Tasche auf, betrachtete sich in einem kleinen
Spiegel, wühlte in der Tasche herum und zog die
Hand heraus - geschlossen.
»Tut mir leid, dass ich so böse war«, sagte sie und
schob etwas unter den Löscher auf meinem Schreib-
tisch. Sie schenkte mir noch ein dünnes Lächeln,
begab sich zur Tür und machte sie auf. »Bin bald

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wieder da«, sagte sie vertraulich. Und draußen war
sie, klapp-klapp-klapp den Gang entlang.
Ich ging rüber, nahm den Löscher hoch und
glättete die zerknitterten Zahlungsmittel, die drunter
lagen. Es war kein großartiger Kuss, aber
anscheinend hatte ich noch mal die Gelegenheit, die
zwanzig Dollar zu kriegen.
Das Telefon klingelte, noch bevor ich wieder bei
meinen Sorgen um Mr. Lester B. Clausen war.
Zerstreut nahm ich auf. Die Stimme, die ich
vernahm, war eine kurz angebundene Stimme, aber
fett und verstopft, als ob sie einen Vorhang oder
einen langen weißen Bart durchdringen müsste.
»Marlowe dort?« sagte sie.
»Am Apparat.«
»Haben Sie ein Sicherheitsfach, Marlowe?«
Langsam hing mir die Höflichkeit zum Hals
heraus. »Schluss mit den Fragen. Reden Sie mal.«
»Ich hab Sie was gefragt, Marlowe.«
»Und ich habe nicht geantwortet«, sagte ich.
»Ganz einfach.«
Ich langte nach vorn und drückte die Telefongabel
runter. Ich hielt sie unten, während ich nach einer
Zigarette wühlte. Ich wusste, dass er gleich wieder
anrufen würde. Das machen sie so, wenn sie sich für
harte Burschen halten. Sie haben ihr Schlusswort

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noch nicht gesprochen. Als es wieder klingelte,
redete ich gleich weiter.
»Wenn Sie einen Vorschlag haben, machen Sie
ihn. Außerdem sagt man ›Mister‹ zu mir, solange ich
noch kein Geld gekriegt habe.«
»Zügeln Sie mal Ihr Temperament ein bisschen,
guter Freund. Ich sitze in der Tinte. Ich brauche
Hilfe. Etwas Bestimmtes muss sicher verwahrt
werden. Ein paar Tage. Nicht länger. Und Sie
können dabei ganz schnell ein bisschen was
verdienen.«
»Was heißt ›ein bisschen‹?« fragte ich. »Und wie
schnell?«
»Was Zweistelliges. Hier, bei mir; wartet auf Sie.
Ich halte es warm.«
»Ich höre es schnurren«, sagte ich. »Wo ›hier‹, wo
wartet es?«
Ich hörte die Stimme zweimal, einmal, als ich es
hörte, und noch mal das Echo in meinem Kopf.
»Zimmer 332, Van Nuys Hotel. Klopfen Sie
zweimal schnell, zweimal langsam. Nicht zu laut.
Ich brauche Tempo. Wie schnell können Sie …«
»Was ist denn das, was ich aufheben soll?«
»Das kann warten, bis Sie hier sind. Ich sagte, ich
hab's eilig.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Einfach Zimmer 332.«

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»Besten Dank für die Mühe«, sagte ich. »Adieu.«
»Halt. Warten Sie doch, Idiot! Es ist keine heiße
Ware oder was Sie denken. Kein Eis. Keine
Juwelengehänge. Es ist eben zufällig eine Menge
Geld wert – für mich, und für alle anderen wertlos.«
»Ihr Hotel hat ein Safe.«
»Wollen Sie in Armut sterben, Marlowe?«
»Warum nicht? Rockefeller starb arm. Noch mal
Adieu.«
Die Stimme veränderte sich. Sie verlor ihre
Weichheit. Sie sagte scharf und schnell: »Wie steht's
denn so in Bay City?«
Ich sagte nichts. Wartete nur. Durch den Draht kam
ein schwaches Glucksen. »Ich dachte, es würde Sie
interessieren, Marlowe. Also Zimmer 332. Steigen
Sie ein, mein Freund. Machen Sie los.«
Aus dem Hörer knackte es mir ins Ohr. Ich legte
auf. Ohne jeden Grund rollte ein Bleistift vom
Schreibtisch runter, seine Spitze traf den Glas-
Untersetzer eines der Schreibtischbeine und brach
ab. Ich hob ihn auf und spitzte ihn langsam und
sorgfältig mit der Bleistiftspitzmaschine, die am
Fensterbord angeschraubt war; dabei drehte ich den
Bleistift, damit es schön gleichmäßig wurde. Ich
legte ihn in den Behälter auf dem Schreibtisch und
klopfte meine Hände ab. Zeit hatte ich, soviel ich

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wollte. Ich blickte aus dem Fenster. Ich sah nichts.
Ich hörte nichts.
Mit noch weniger Grund sah ich auf einmal
Orfamay Quests Gesicht ohne die Brille und
gepudert und angemalt und mit blondem Haar, vorne
hochfrisiert und in der Mitte ein Band drumge-
bunden. Ich versuchte, mir dieses Gesicht vorzu-
stellen, in Großaufnahme, wie es gerade von irgend-
einem Supermann aus der Romanoff Bar, einem von
der zügellosesten Sorte, angeknabbert wurde.
Ich brauchte neunundzwanzig Minuten, um zum
Van Nuys Hotel zu kommen.

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8

Früher mal, lange her, besaß es wohl eine gewisse


Eleganz. Das war vorbei. Erinnerungen an alte
Zigarren hingen in der Lobby wie die verschmutzte
Vergoldung an der Decke und wie die durchge-
drückten Federn seiner ledernen Klubsessel. Der
Marmor am Empfangspult war gelbbraun vor Alter.
Aber der Bodenbelag war neu und hatte etwas
Drahtiges, wie der Zimmerportier. Ich überging ihn
und wanderte hinüber zum Zigarrenstand an der
Ecke, wo ich ein 25-Cent-Stück hinlegte, für eine
Packung Camel. Das Mädchen hinter der Theke war
strohblond, sie hatte einen langen Hals und müde
Augen. Sie legte die Zigaretten vor mich hin, dazu
ein Heftchen Streichhölzer, und steckte mein
Wechselgeld in den Schlitz einer Büchse mit der
Aufschrift ›Der Gemeinde-Fonds dankt Ihnen‹.
»Das war Ihnen doch recht, nicht wahr?« sagte sie
und lächelte rührend. »Das war Ihnen doch recht,
dass Ihr Geld an die armen, kleinen, hilflosen Kinder
geht, mit krummen Beinen und so, ja?«
»Und wenn's mir nicht recht wäre?« sagte ich.
»Ich hole die sieben Cents wieder raus«, sagte das
Mädchen, »aber das würde sehr weh tun.« Sie hatte
eine tiefe, gedehnte Stimme mit etwas wie einer
feuchten Liebkosung drin, wie ein feuchtes Bade-
tuch. Ich ließ den sieben Cents noch ein Viertel-

- 73 -
dollarstück folgen. Jetzt bekam ich das extragroße
Lächeln von ihr. Es brachte ihre Mandeln besser zu
Geltung.
»Sie sind sehr nett«, sagte sie. »Das sieht man
gleich. Viele Kerle wären daher gekommen und
hätten einem Mädchen Anträge gemacht. Stellen Sie
sich vor. Wegen sieben Cents. Einen Antrag.«
»Wer ist denn jetzt Geschäftsführer hier?« fragte
ich sie, ohne auf ihr Angebot einzugehen.
»Es gibt zwei.« Ihre Hand schwebte langsam und
elegant an ihren Hinterkopf, und mir schien es mehr
als eine Handvoll blutroter Fingernägel zu sein, die
dabei vorgeführt wurden. »Mr. Hady ist es in der
Nacht und Mr. Flack tagsüber. Jetzt ist es Tag, also
müßte Mr. Flack dran sein.«
»Wo kann ich ihn finden?«
Sie beugte sich über die Theke und ließ mich ihr
Haar riechen, wobei sie mit einem zentimeterlangen
Fingernagel in die Richtung der Lifttüren zeigte. »Es
ist dort den Gang vor, neben dem Raum des
Gepäckträgers. Sie können den Raum des Gepäck-
trägers nicht übersehen, denn er hat halbe Türen,
und oben dran steht ›Gepäckträger‹ in Goldbuch-
staben. Aber da ist die Hälfte zurückgeklappt, also
werden Sie's wohl nicht sehen können.«
»Werd's schon sehen«, sagte ich. »Und wenn ich
mir eine Türangel an den Hals schrauben muss. Wie
sieht denn der Flack aus?«

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»Na ja«, sagte sie, »er ist so ein Kleiner,
Dicklicher, mit einem kleinen Bärtchen. So ein
vierschrötiger Typ. Irgendwie untersetzt, aber nicht
groß.« Ihre Finger glitten lässig die Theke entlang,
bis zu einem Punkt, wo ich sie hätte ganz unauffällig
berühren können. »Er ist uninteressant«, sagte sie.
»Wozu das Ganze?«
»Geschäfte«, sagte ich, und machte, dass ich
wegkam, bevor sie mit Catchergriffen anfing.
Vom Lift aus warf ich noch einen Blick auf sie. Sie
starrte mir mit einer Miene nach, von der sie wohl
behauptet hätte, sie sei nachdenklich.
Der Raum des Gepäckträgers lag am Korridor auf
halbem Weg vor dem Ausgang zur Spring Street.
Die Tür dahinter war halb offen. Ich lugte an ihr
vorbei, trat dann ein und machte hinter mir zu.
Ein Mann saß an einem kleinen Schreibtisch, auf
dem Staub war, ein sehr großer Aschenbecher und
wenig sonst. Er war kurz und dicklich. Er hatte was
Dunkles, Stubbeliges unter seiner Nase, etwa zwei
Zentimeter lang. Ich setzte mich ihm gegenüber und
legte eine Karte auf den Schreibtisch.
Er griff ohne besondere Erregung nach der Karte,
las sie, drehte sie um und las die Rückseite mit der
gleichen Sorgfalt wie die Vorderseite. Auf der
Rückseite stand nichts. Er nahm die Hälfte einer
Zigarre aus seinem Aschenbecher und drehte die
Nase seitwärts zum Anzünden.

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»Wo brennt's denn?« brummte er mir zu.
»Nix brennt. Sind Sie Flack?«
Er sparte sich die Antwort. Auf mir lag ein
unverwandter Blick, mit dem er seine Gedanken
verbarg, oder auch nicht - je nachdem, ob er welche
zu verbergen hatte.
»Ich will ein bisschen was wissen, von einem
Gast«, sagte ich.
»Der Name?« fragte Flack ohne Begeisterung.
»Ich weiß nicht, unter was für einem Namen er hier
lebt. Er ist in Zimmer 332.«
»Unter welchem Namen lebte er, bevor er
herkam?« fragte Flack.
»Das weiß ich auch nicht.«
»Na schön, wie sah er denn aus?« Flack war jetzt
misstrauisch. Er las noch einmal meine Karte, aber
das vermittelte ihm keine neuen Kenntnisse.
»Ich hab ihn nie gesehen, soviel ich weiß.«
Flack sagte: »Vielleicht bin ich überarbeitet.
Kapier's nicht.«
»Ich bekam einen Anruf von ihm«, sagte ich. »Er
wollte, dass ich ihn besuche.«
»Halte ich Sie auf?«
»Jetzt hören Sie einmal gut zu, Flack. In meinem
Beruf macht man sich manchmal Feinde. Das
müssten Sie wissen. Dieser Herr wollte was von mir.

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Sagt mir, ich soll rüberkommen, vergisst seinen
Namen anzugeben und legt auf. Ich dachte, ich
erkundige mich erst mal, bevor ich da raufgehe.«
Flack nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte
geduldig: »Ich bin in einem miesen Zustand.
Verstehe immer noch nicht. Begreife gar nichts
mehr.«
Ich beugte mich über den Schreibtisch und sprach
ganz langsam und deutlich zu ihm: »Die ganze
Sache ist vielleicht bloß eine clevere Tour, mich in
ein Hotelzimmer zu locken, mich dann abzumurksen
und dann leise abzuhauen. Sie wollen doch nicht,
dass so was in Ihrem Hotel passiert, was, Flack?«
»Nehmen Sie mal an, dass es mir was ausmacht«,
sagte er. »Meinen Sie, dass Sie so wichtig sind?«
»Rauchen Sie dieses Stück Hanfseil, weil es Ihnen
schmeckt, oder weil Sie so scharf damit aussehen?«
»Meinen Sie«, sagte Flack, »für fünfundvierzig
Lappen in der Woche kann man was Besseres
rauchen?« Er sah mich starr an.
»Ich habe noch kein Spesenkonto«, sagte ich zu
ihm. »Kein Geschäft zu machen.«
Er machte ein Geräusch der Trauer, stand müde auf
und ging aus dem Zimmer. Ich zündete mir eine
Zigarette an und wartete. Nach kurzer Zeit kam er
zurück und warf eine Meldekarte auf den
Schreibtisch. Dr. G. W. Hambleton, El Centro,

- 77 -
Kalifornien, stand darauf, mit klarer, runder Schrift,
mit Tinte. Der Angestellte hatte noch andere Sachen
drauf geschrieben, darunter die Zimmer-Nummer
und den Preis pro Tag. Flack zeigte mit einem
Finger drauf, dem eine Maniküre fehlte, oder
wenigstens eine Nagelbürste.
»Kam hier an 14 Uhr 27«, sagte er. »Also heute,
meine ich. Noch nichts auf der Rechnung. Zimmer-
miete für einen Tag. Kein Telefonanruf. Gar nichts.
Genügt das?«
»Wie sieht er aus?« fragte ich.
»Hab ihn nicht gesehen. Meinen Sie, ich stelle
mich hier vor die Theke und knipse Bilder von
ihnen, während sie sich einschreiben?«
»Danke«, sagte ich. »Dr. G. W. Hambleton, El
Centro. Verbindlichen Dank.« Ich gab ihm die
Meldekarte zurück.
»Wenn irgend etwas ist, was mich betrifft«, sagte
Flack, während ich rausging, »Sie wissen ja, wo ich
bin. Oder sagen wir: wo ich begraben bin.«
Ich nickte und ging raus. Es gibt solche Tage.
Jeder, den man trifft, hat eine Macke. Allmählich
fängt man an, sich im Spiegel zu betrachten und zu
grübeln.

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9

Zimmer 332 war auf der Rückseite des Gebäudes in


der Nähe der Tür zum Feuerausgang. Der Korridor
dorthin roch nach altem Teppich und Möbelwachs
und nach der grauen Namenlosigkeit von tausend
trübseligen Existenzen. Der Sandeimer unter dem
aufgewickelten Feuerwehrschlauch war voller
Zigarettenkippen und Zigarrenstumpen - der
Ausbeute von vielen Tagen. Blechmusik von einem
Radio dröhnte durch ein offenes Oberlicht. Durch
ein anderes Oberlicht war zu entnehmen, dass dort
Leute unter einem lebensgefährlichen Lachanfall
litten. Am Gangende vor Zimmer 332 war es stiller.
Ich klopfte zweimal lang und zweimal kurz nach
der Anweisung. Es passierte nichts. Ich fühlte mich
ausgelaugt und alt. Ich fühlte mich, als hätte ich
mein Leben lang nie was anderes gemacht, als in
billigen Hotels an Türen geklopft, und niemand hätte
daran gedacht zu öffnen. Ich versuchte es noch mal.
Dann drehte ich den Türknopf und ging rein. Ein
Schlüssel mit einem roten Plastikanhänger hing
gerade noch von innen im Schlüsselloch.
Es gab einen kurzen Flur und rechts ein Bad.
Durch den Flur sah man die obere Hälfte eines
Bettes, und auf ihm lag ein Mann in Hemd und
Hose.
Ich sagte: »Dr. Hambleton?«

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Der Mann gab keine Antwort. Ich ging an der Tür
zum Bad vorbei auf ihn zu. Ich bemerkte einen
Hauch von Parfüm und wollte mich umdrehen - aber
nicht schnell genug. Eine Frau, die in dem Bad
gewesen war, stand da und hielt ein Handtuch über
die untere Gesichtshälfte. Über dem Handtuch waren
dunkle Gläser. Und dann die Krempe eines
breitkrempigen Strohhuts, in einem staubigen
Graublau. Darunter quoll blaßblondes Haar. Blaue
Schmuckknöpfe an den Ohren glänzten weiter
hinten im Schatten. Die Sonnenbrille hatte ein
weißes Gestell mit flachen breiten Seitenbügeln. Das
Kleid passte zum Hut. Ein gestickter Seidenoder
Kunstseidenmantel hing offen über dem Kleid. Sie
trug Fechthandschuhe, und in ihrer rechten Hand
war ein Revolver. Weißer Elfenbeingriff. Vielleicht
eine 32er.
»Drehen Sie sich um und legen Sie die Hände auf
den Rücken«, sagte sie durch das Handtuch. Mit der
Stimme, die durch das Handtuch undeutlich klang,
konnte ich ebenso wenig anfangen wie mit der
dunklen Brille. Es war nicht die Stimme, mit der ich
am Telefon gesprochen hatte. Ich bewegte mich
nicht. »Glauben Sie bloß nicht, ich mach Spaß«,
sagte sie. »Ich gebe Ihnen genau drei Sekunden.«
»Könnten wir nicht sagen: eine Minute? Ich sehe
Sie so gern an.«

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Sie machte eine drohende Bewegung mit der
kleinen Pistole. »Drehen Sie sich um«, fauchte sie,
»aber schnell.«
»Mir gefällt auch Ihre Stimme.«
»Also gut, wenn Sie es haben wollen, dann wollen
Sie es eben so haben.« Sie hatte einen verbissenen,
gefährlichen Ton.
»Vergessen Sie nicht, dass Sie eine Dame sind«,
sagte ich, drehte mich um und hob meine Hände bis
zu den Schultern hoch. Die Mündung einer
Schusswaffe bohrte sich hinten in meinen Hals.
Meine Haut wurde vom Atem fast gekitzelt. Das
Parfüm war irgendwas Elegantes, nicht stark, nicht
durchdringend. Der Revolver an meinem Hals
verschwand, und einen Moment lang war
blendendes Feuer in meinem Kopf. Ich stöhnte, fiel
vornüber auf meine Hände und Knie und griff
schnell nach hinten. Meine Hand berührte ein Bein
in einem Nylonstrumpf - aber sie rutschte ab, was
schade war. Das Bein fühlte sich hübsch an. Die
Wucht eines weiteren Schlags auf den Kopf
beendete dieses Vergnügen, und ich gab den
heiseren Ton eines Mannes von mir, der schlimm
dran ist. Ich fiel zu Boden. Die Tür öffnete sich. Ein
Schlüssel klapperte. Die Tür schloss sich. Der
Schlüssel drehte sich. Stille.
Ich rappelte mich auf und ging ins Bad. Ich nahm
ein Handtuch von der Stange, machte es nass und

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wässerte meinen Kopf damit. Er fühlte sich an, als
ob ein Schuhabsatz ihn getroffen hätte. Jedenfalls
war es sicher kein Pistolengriff. Es war ein bisschen
Blut dran - nicht viel. Ich spülte das Handtuch aus,
stand da mit der Hand auf der Wunde und fragte
mich, warum ich ihr nicht brüllend nachgerannt war.
Aber stattdessen warf ich einen Blick in das offene
Medizinschränkchen über dem Waschbecken. Das
Oberteil von einem Gefäß mit Talkum war
abgerissen worden. Talkum lag über das ganze Bord
verstreut. Eine Zahnpastatube war aufgeschnitten.
Jemand hatte etwas gesucht.
Ich ging zurück zu dem kleinen Flur und versuchte,
ob die Zimmertür aufging. Von außen abge-
schlossen. Ich bückte mich und blickte durchs
Schlüsselloch. Aber es war so ein versetztes Schloss,
mit dem äußeren und inneren Schlüsselloch in
verschiedenen Höhen. Das Mädchen mit der dunklen
Brille mit weißem Gestell wusste nicht viel über
Hotels. Ich drehte den Innenriegel, der das äußere
Schloss öffnete, machte die Tür auf, warf einen
Blick auf den leeren Gang und schloss die Tür
wieder.
Nun wandte ich mich zu dem Mann auf dem Bett.
Er hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt - aus
gutem Grund.
Jenseits des kleinen Flurs verbreiterte sich das
Zimmer auf zwei Fenster zu, durch die die

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Abendsonne schien, ein schräges Lichtbündel, das
fast über das Bett reichte und unter dem Hals des
Mannes endete, der dort lag. Wo es endete, steckte
etwas Blauweißes, Glänzendes, Rundes. Er lag ganz
bequem zur Hälfte auf seinem Gesicht, die Hände
seitlich angelegt und ohne Schuhe. Die Hälfte seines
Gesichts lag auf einem Kissen, und er schien
ausgeruht. Er trug ein Toupet. Als ich das letzte Mal
mit ihm gesprochen hatte, war sein Name George
W. Hicks. Jetzt Dr. G. W. Hambleton. Die gleichen
Anfangsbuchstaben. Nicht dass es noch drauf
ankäme. Ich würde nicht mehr mit ihm sprechen.
Blut war keins da. Keinerlei Blut - das gehört zu den
wenigen Vorteilen einer sachgemäßen Eisdorn-
Arbeit.
Ich faßte seinen Hals an. Er war noch warm.
Während ich das machte, wanderte der Sonnenstrahl
vom Griff des Eisdorns zu seinem linken Ohr. Ich
wandte mich ab und sah mich im Zimmer um. Das
Gehäuse der Telefonklingel war geöffnet und
offengelassen worden. Die Hotel-Bibel war in die
Ecke geworfen worden. Der Schreibtisch war
durchsucht worden. Ich ging zu einem Schrank und
sah hinein. Es hingen Kleider drin und ein Koffer,
den ich schon gesehen hatte. Ich fand nichts, das von
Bedeutung schien. Ich hob einen Homburg vom
Boden auf, legte ihn auf den Schreibtisch und ging
noch einmal in das Bad. Worum es jetzt ging, war,
ob die Leute, die Dr. Hambleton den Eisdorn

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appliziert hatten, das, was sie suchten, gefunden
hatten. Sie hatten sehr wenig Zeit gehabt.
Ich durchsuchte das Bad sorgfältig. Ich nahm den
Deckel des Wasserkastens des Klosetts ab und zog.
Es war nichts drin. Ich guckte in das Überlaufrohr.
Da hing kein Faden, an dem etwas Kleines
angebunden war. Ich durchsuchte den Sekretär. Er
war leer bis auf ein altes Kuvert. Ich hob die
Hotelbibel vom Boden auf und blätterte sie durch.
Ich prüfte die Rückseiten von drei Bildern und
untersuchte den Teppichrand. Der Teppich war dicht
an der Wand festgesteckt, und kleine Stauban-
sammlungen waren in den Vertiefungen, die durch
die Teppichnägel entstanden waren. Ich legte mich
auf den Boden und untersuchte die Unterseite des
Betts. Ergebnis gleich Null. Ich stellte mich auf
einen Stuhl und sah in die Glasschale der
Beleuchtung. Sie enthielt Staub und tote Motten. Ich
betrachtete das Bett. Es war von einem Könner
gemacht und danach nicht berührt worden. Ich
tastete das Kissen ab, unter dem Kopf des toten
Mannes, dann holte ich das zweite Kissen aus dem
Schrank und prüfte seine Zipfel. Nichts.
Dr. Hambletons Jacke hing über eine Stuhllehne.
Ich wühlte sie durch und wusste doch genau, dass
hier die geringste Aussicht war, etwas zu finden.
Jemand hatte mit einem Messer das Futter und die
Schulterpolster bearbeitet. Streichhölzer waren drin,

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einige Zigarren, eine dunkle Brille, ein billiges,
unbenutztes Taschentuch, der Abschnitt von einer
Kinokarte aus Bay City, ein kleiner Kamm, eine
ungeöffnete Packung Zigaretten. Ich betrachtete sie
bei Licht.
Es gab keine Anzeichen, dass daran manipuliert
worden war. Ich manipulierte daran. Ich riß sie auf,
durchsuchte sie, fand nur Zigaretten.
Nun blieb nur noch Dr. Hambleton selbst. Ich
drehte ihn um und fuhr in seine Hosentaschen.
Wechselgeld, noch ein Taschentuch, eine kleine
Tube Zahnpasta, noch mehr Streichhölzer, ein
Schlüsselbund, ein Heft mit Bus-Fahrplänen. In
einer Schweinsleder-Brieftasche waren ein Brief-
markenheftchen, ein zweiter Kamm (endlich mal ein
Mann, der wirklich seine Perücke pflegte), drei
flache Päckchen mit weißem Pulver, sieben
gedruckte Karten mit der Aufschrift ›Dr. G. W.
Hambleton, O. D. Tustin Building, El Centro,
California, Hours 9-12 and 2-4 and by Appointment.
Telephone El Centro 5406‹. Es gab keinen
Führerschein, keine Sozialversicherungs- oder
sonstige Versicherungskarte, eigentlich kein
Ausweispapier. 164 Dollar in Banknoten waren in
der Brieftasche. Ich steckte die Brieftasche wieder
dorthin, wo ich sie gefunden hatte.
Ich nahm Dr. Hambletons Hut vom Schreibtisch
hoch und untersuchte das Schweißband und das

- 85 -
Hutband. Der Fachbogen des Hutbands war mit
einem spitzen Messer aufgetrennt worden, lose
Fäden hingen runter. Im Fachbogen war nichts
versteckt. Keine Spur von früherem Auftrennen und
Zunähen.
So sah es aus. Wenn die Killer wussten, was sie
suchten, dann war es etwas, das in einem Buch
versteckt werden konnte, in einem Klingelkasten,
einer Zahnpastatube oder in einem Hutband. Ich
ging noch mal ins Bad und betrachtete noch mal
meinen Kopf. Noch immer quoll ein klein bisschen
Blut raus. Ich spülte es noch mal mit kaltem Wasser
und trocknete die Wunde mit Toilettenpapier, das
ich im Klosett wegspülte. Ich ging zurück und stand
einen Augenblick vor Dr. Hambleton, sah auf ihn
hinab und fragte mich, was er falsch gemacht hatte.
Er hatte den Eindruck eines ziemlich schlauen
Kopfes gemacht. Das Sonnenlicht war inzwischen in
die hintere Ecke des Zimmers gewandert, vom Bett
fort und runter in eine trübselige Schmutzecke.
Plötzlich grinste ich, bückte mich schnell, und
noch immer mit dem Grinsen auf meinem Gesicht,
so unangebracht es war, nahm ich Dr. Hambletons
Perücke ab und stülpte sie um. Ganz einfach alles.
Am Saum der Perücke war mit Klebeband ein Stück
orangefarbenes Papier befestigt, darüber ein Stück
Cellophan. Ich zog es ab, drehte es um und sah, dass
es ein nummerierter Abholschein aus dem Foto-

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geschäft von Bay City war. Ich steckte ihn in meine
Brieftasche und setzte die Perücke vorsichtig wieder
auf den toten kahlen Eierkopf.
Ich ließ das Zimmer unabgeschlossen, denn ich
hatte nichts zum Abschließen.
Vorne im Korridor röhrte das Radio noch immer
durch das Oberlicht, und das übertriebene
betrunkene Lachen begleitete es von gegenüber.

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10

Der Mann vom Fotoladen in Bay City sagte am


Telefon: »Ja, Mr. Hicks, wir haben sie fertig. Sechs
Vergrößerungen, Hochglanz, von Ihrem Negativ.«
»Wann machen Sie zu?« fragte ich.
»Oh, ungefähr in fünf Minuten. Wir machen um
neun Uhr morgens auf.«
»Ich hole sie morgen früh ab. Vielen Dank.«
Ich legte auf, griff mechanisch in das Rückgabe-
loch und fand einen Fünfer von jemandem. Ich ging
zur Essenstheke und kaufte mir dafür eine Tasse
Kaffee; dort saß ich und schlürfte und hörte den
Autohupen zu, die sich draußen auf der Straße
beklagten. Alte Bremsbeläge kreischten. Ein
dumpfes Gemurmel von Füßen ununterbrochen auf
dem Trottoir. Es war kurz nach fünf Uhr dreißig. Ich
trank meinen Kaffee aus, stopfte eine Pfeife, ging
langsam einen halben Block zurück in das Van Nuys
Hotel. Im Schreibzimmer steckte ich den orange-
farbenen Fotoladenabschnitt in einen zusammen-
gefalteten Bogen Hotel-Schreibpapier und adres-
sierte einen Umschlag an mich selbst. Ich klebte eine
Express-Marke drauf und warf ihn in den großen
Postbehälter neben den Liftschächten. Dann ging ich
nochmals vor zu Flacks Büro.

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Wie zuvor schloss ich die Tür und setzte mich ihm
gegenüber. Anscheinend hatte Flack sich keinen
Zentimeter bewegt. Er kaute missmutig auf
demselben Zigarrenstumpen, und seine Augen
waren immer noch voll der Leere. Ich zündete mir
noch mal meine Pfeife an, mit einem Streichholz,
das ich an der Kante seines Schreibtisches anriss. Ich
runzelte die Stirn.
»Dr. Hambleton macht nicht auf«, sagte ich.
»Was?« Flack sah mich abwesend an.
»Der Gast von 332. Wissen Sie noch? Er macht
nicht auf.«
»Und? Was soll ich machen? Aus dem Korsett
platzen?«
»Ich habe mehrmals geklopft«, sagte ich. »Keine
Antwort. Dachte, vielleicht nimmt er ein Bad oder
was, obwohl man nichts hörte. Ging eine Weile fort
und probierte es dann noch mal. Genau dasselbe,
keiner rührt sich.«
Flack sah auf eine Zwiebeluhr, die er aus seiner
Westentasche geholt hatte. »Um sieben zische ich
ab«, sagte er. »Mann Gottes. Eine Stunde Weg,
wenn's reicht. Mann, bin ich hungrig.«
»So wie Sie arbeiten, kein Wunder«, sagte ich.
»Sie müssen bei Kräften bleiben. Konnte ich
irgendwie Ihr Interesse für Zimmer 332 erregen?«

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»Sie sagen, er war nicht da«, sagte Flack gereizt.
»Na und? Er war nicht da.«
»Ich habe nicht gesagt, dass er nicht da war. Ich
habe gesagt, er machte nicht auf.«
Flack beugte sich vor. Mit äußerster Langsamkeit
nahm er die Trümmer der Zigarre aus seinem Mund
und tat sie in den Aschenbecher. »Also mal los.
Äußern Sie sich deutlicher«, sagte er mit Vorsicht.
»Vielleicht laufen Sie mal rauf und schauen nach«,
sagte ich. »Vielleicht ist es schon eine Weile her,
seit Sie mal eine gute Arbeit mit einem Eisdorn
gesehen haben.«
Flack legte seine Hände auf die Seitenlehnen
seines Stuhls und presste sie fest an das Holz. »Aä«,
sagte er schmerzlich. »Aä.« Er rappelte sich auf und
öffnete seine Schreibtischschublade. Er nahm, einen
großen schwarzen Revolver heraus, klappte das
Magazin heraus, betrachtete die Ladung, blinzelte
durch den Lauf, klickte die Trommel wieder ein. Er
knöpfte seine Weste auf, steckte den Revolver in
seinen Gürtel. Im Notfall hätte er ihn wohl in
weniger als einer Minute erreichen können. Er
stülpte sich seinen Hut auf und machte eine
Daumenbewegung zur Tür.
Wir gingen schweigend in den dritten Stock. Wir
gingen den Flur entlang. Nichts hatte sich verändert.
Kein Geräusch hatte zugenommen oder nach-
gelassen. Flack eilte vorwärts, zur Nummer 332 und

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klopfte gewohnheitsmäßig. Versuchte, die Tür zu
öffnen. Sah sich um, sah mich mit schiefem Mund
an.
»Sie haben gesagt, die Tür sei nicht zuge-
schlossen«, murrte er.
»So habe ich's nicht gesagt. Aber sie war
unverschlossen.«
»Jetzt ist sie zu«, sagte Flack und förderte einen
Schlüssel an einer langen Kette zutage. Er schloss
die Tür auf und warf einen Blick durch den Flur. Er
drehte den Knopf langsam und lautlos und stieß die
Tür ein paar Zentimeter auf. Er horchte. Von
drinnen kein Laut. Flack trat noch mal zurück und
zog den schwarzen Revolver aus seinem Gürtel. Er
zog den Schlüssel aus der Tür, tat sie weit auf und
richtete seinen Revolver schön gerade nach vorn wie
der finstere Killer-Boss im Mafia-Film. »Gehen
wir«, zischte er aus einem Mundwinkel.
Über seine Schulter konnte ich sehen, dass Dr.
Hambleton genau so wie vorher dalag, aber der Griff
des Eisdorns war nicht mehr im Blickfeld. Flack
beugte sich vor und bewegte sich vorsichtig ins
Zimmer hinein. Er erreichte die Badezimmertür,
legte sein Auge an den Spalt, stieß dann die Tür auf,
so dass sie gegen die Wanne prallte. Er ging hinein,
kam wieder heraus und trat vorwärts in das Zimmer,
alle Muskeln waren gespannt, - ein Mann, der auf
Nummer sicher geht.

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Er fasste nach der Schranktür, brachte seinen
Revolver in Anschlag und riß sie weit auf. Kein
Verdächtiger war drin.
»Schauen Sie unters Bett«, sagte ich.
Flack beugte sich rasch und schaute unters Bett.
»Schauen Sie unter den Teppich«, sagte ich.
»Wollen Sie mich hochnehmen?« Er war böse.
»Ich seh Sie eben gerne arbeiten.«
Er beugte sich über den toten Mann und betrachtete
den Eisdorn.
»Jemand hat diese Tür verschlossen«, sagte er
hochmütig. »Oder Sie haben gelogen, dass sie offen
war.«
Ich sagte nichts.
»Werden sicher die Bullen gewesen sein«, sagte er
langsam. »Hier geht wohl nichts mehr zu
vertuschen.«
»Sie können nichts dafür«, sagte ich zu ihm. »So
was passiert sogar in guten Hotels.«

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11

Der rothaarige Assistenzarzt füllte einen


Totenschein aus und steckte seinen Kugelschreiber
in die Außentasche seiner weißen Jacke. Er klappte
den Block zu und hatte ein schwaches Lächeln im
Gesicht.
»Rückenmarksverletzung genau unter dem
Hinterhauptknochen. Man könnte meinen«, sagte er
sorglos, »ein sehr empfindlicher Punkt. Wenn man
weiß, wo er ist. Und vermutlich weiß man das.«
Der Polizeidetektiv Leutnant Christy French
brummte: »Glauben Sie, ich sehe das zum
erstenmal?«
»Nein. Sicher nicht«, sagte der Arzt. Er warf dem
toten Mann noch einen letzten Blick zu, drehte sich
um und verließ das Zimmer. »Ich benachrichtige den
Gerichtsarzt«, rief er über die Schulter. Die Tür
schloss sich hinter ihm.
»Eine Leiche ist für diese Typen nicht mehr als für
mich ein aufgewärmter Kohl«, sagte Christy French
bitter, in Richtung auf die Tür. Sein Kollege, ein
Polizist namens Fred Beifus, kniete auf dem Boden
neben dem Telefonklingelgehäuse. Er hatte es
eingestäubt, wegen der Fingerabdrücke, und den
übrigen Puder weggeblasen. Er betrachtete die
Flecken durch ein kleines Vergrößerungsglas. Er
schüttelte den Kopf und zupfte dann etwas von der

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Schraube ab, mit der das Gehäuse festgeschraubt
war.
»Graue Baumwollhandschuhe für Sargträger«,
sagte er verärgert. »Kosten etwa 4 Cent das Paar im
Großhandel. Sehr ergiebig in Abdrücken, diese Bude
hier. Die haben wohl was im Klingelkasten
gesucht?«
»Offenbar irgendwas, das da reinpasst«, sagte
French. »Mit Abdrücken habe ich sowieso nicht
gerechnet. Diese Eisdorn-Sachen sind eine
Spezialität. Wir kriegen die schon, diese Fachleute,
eines Tages. Erstmal nur das Gröbste.«
Er leerte die Taschen des toten Mannes und legte
den Inhalt auf das Bett neben den stillen und schon
etwas wächsernen Körper. Flack saß auf einem Stuhl
neben dem Fenster und blickte mürrisch hinaus. Der
zweite Geschäftsführer war erschienen, hatte mit
bekümmertem Gesichtsausdruck nichts gesagt und
war wieder fortgegangen. Ich lehnte an der Wand
neben dem Bad und zupfte an den Fingern.
Flack sagte plötzlich: »Ich vermute, mit dem
Eisdorn kann auch eine Frau arbeiten. Man kann sie
überall kaufen. Zehn Cents. Um einen zu klauen,
kann man ihn hinten in den Hüfthalter stecken und
da aufbewahren.«
Christy French warf ihm einen kurzen
verwunderten Blick zu. Beifus sagte: »Mit was für
Frauen haben Sie sich denn herumgetrieben, Süßer?

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Bei den Strumpfpreisen heutzutage kann sie sich
genausogut eine Säge reinstecken.«
»Da hab ich nicht dran gedacht«, sagte Flack.
Beifus sagte: Ȇberlass uns das Denken, mein
Schatz. Dafür muss man ausgestattet sein.«
»Sie brauchen nicht so mit mir zu reden«, sagte
Flack.
Beifus zog seinen Hut ab und machte eine
Verbeugung. »Bitte, Mr. Flack, rauben Sie uns doch
nicht unser kleines Vergnügen.«
Christy French sagte: »Und außerdem, eine Frau
würde immer weiter stechen. Sie würde gar nicht
merken, wann es vorbei ist. Viele von den Typen
wissen das nicht. Der das hier gemacht hat, war ein
Könner. Erwischte das Rückenmark gleich beim
ersten Mal. Und noch was - der Bursche muß
stillhalten, damit es geht. Das heißt, es war mehr als
einer, oder er war betäubt, oder der Killer war ein
Freund von ihm.«
Ich sagte: »Wie der betäubt gewesen sein kann, ist
mir unklar, wenn es der war, der mich angerufen
hat.«
French und Beifus betrachteten mich beide mit
dem gleichen Ausdruck von Geduld und
Langeweile. »Wenn«, sagte French, »und da Sie ja
den Mann nicht kennen - wie Sie sagen - besteht da
immer eine geringe Möglichkeit, dass Sie die

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Stimme auch nicht kennen. Können Sie mir folgen
oder denke ich zu rasch?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Was schreiben denn
Ihre Verehrer darüber?«
French grinste.
»Bei dem ist das reine Verschwendung«, sagte
Beifus zu French. »Sparen Sie's lieber auf für Ihren
Vortrag im Freitagmorgen-Club. Einige von diesen
alten Damen von der Blaulippen-Riege sind sehr
scharf auf die Feinheiten der Kunst des Mordes.«
French rollte sich eine Zigarette und zündete sie
mit einem großen Küchenstreichholz an, das er an
einer Stuhllehne anriss. Er seufzte.
»Sie haben diese Technik in Brooklyn entwickelt«,
erklärte er. »Die Burschen von Sunny Moe Stein
haben sich darauf spezialisiert, aber sie haben es
übertrieben. Es war so weit gekommen, dass man
über kein leeres Grundstück gehen konnte, ohne ein
Stück Arbeit von ihnen zu finden. Dann kamen sie
hierher, jedenfalls die, die übrig waren. Möchte
wissen, warum sie das hier gemacht haben.«
»Vielleicht haben wir hier mehr leere
Grundstücke«, sagte French, fast traumverloren.
»Als Weepy Moyer letzten Februar Sunny Moe
Stein in der Franklin Avenue kaltmachen ließ, hat
der Auftragskiller es mit einem Revolver erledigt.
Moe hätte das gar nicht gefallen.«

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»Bestimmt war das der Grund, warum sein Gesicht
so enttäuscht aussah, als sie das Blut abgeputzt
hatten«, bemerkte Beifus.
»Wer is'n Weepy Moyer?« fragte Flack.
»Er war der zweite nach Moe in der Bande«,
erklärte ihm French. »Das hier könnte leicht von ihm
kommen. Natürlich braucht er es nicht selbst
gemacht zu haben.«
»Warum denn nicht?« fragte Flack säuerlich.
»Lest ihr Kerle denn nie Zeitung? Moyer ist jetzt
ein feiner Herr. Er kennt die feinsten Leute. Hat
sogar einen anderen Namen. Und was die Sache mit
Sunny Moe Stein betrifft, da hatten wir ihn zufällig
gerade im Gefängnis, in Haft wegen Glücksspiels.
Wir konnten ihm nichts beweisen. Aber wir haben
ihm ein sehr schönes Alibi verschafft. Und sowieso,
ich habe schon gesagt, er ist ein feiner Herr, und
feine Herren laufen nicht herum und stecken den
Leuten Eisdorne rein. Sie geben Aufträge.«
»Haben Sie denn mal was über Moyer in der Hand
gehabt?« fragte ich.
French sah mich scharf an. »Wieso?«
»Ich hatte nur eine Idee. Aber sie ist sehr
wackelig«, sagte ich.
French sah langsam zu mir herüber. »Nur unter uns
Pfarrerstöchtern«, sagte er, »wir haben nie wirklich
beweisen können, dass der Kerl, den wir geschnappt

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hatten, Moyer war. Verbreiten Sie's nicht weiter.
Das soll niemand wissen, außer ihm selbst, und sein
Anwalt, und der Bezirksrichter und die Streifen-
polizei und das Rathaus und circa zwei- oder
dreihundert andere Leute.«
Er schlug sich mit der leeren Brieftasche des toten
Mannes an die Hüfte und setzte sich aufs Bett. Er
lehnte sich nachlässig an das Leichenbein, machte
eine Zigarette an und gestikulierte mit ihr.
»Aber jetzt haben wir genug herumgesponnen.
Also, Fred, wie weit sind wir jetzt? Erst mal, dieser
Kunde hier war nicht sehr helle. Er lief unter dem
Namen Dr. G. W. Hambleton und hatte gedruckte
Karten mit einer El Centro Adresse und einer
Telefonnummer. Man brauchte nur zwei Minuten,
um rauszukriegen, dass so eine Adresse und so eine
Telefonnummer nicht existieren. Ein heller Junge
gibt sich nicht so eine Blöße. Weiter, der Bursche ist
jedenfalls nicht bei Kasse. Er hat vierzehn Lappen
hier drin und so circa zwei Dollar Kleingeld. An
seinem Schlüsselbund gibt's keinen Autoschlüssel
oder Tresorschlüssel oder irgendeinen Haus-
schlüssel. Alles, was er hat, ist ein Kofferschlüssel
und sieben zurechtgefeilte Hauptschlüssel. Übrigens
erst kürzlich zurechtgefeilt. Ich schätze, er wollte
sich wohl ein bisschen im Hotel umsehen. Meinen
Sie, dass diese Schlüssel in Ihrem Schuppen hier
gehen würden, Flack?«

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Flack kam herüber und starrte auf die Schlüssel.
»Zwei davon haben die richtige Größe«, sagte er.
»Bloß vom Hinsehen kann ich nicht sagen, ob sie
gehen. Wenn ich einen Hauptschlüssel will, muss
ich zum Büro gehen. Ich habe nur einen
Außenschlüssel. Ich kann ihn nur benutzen, wenn
der Gast fort ist.« Er zog einen Schlüssel aus der
Tasche, einen Schlüssel an einer langen Kette, und
verglich ihn. Er schüttelte den Kopf. »Die passen
nicht, da müsste man noch dran arbeiten«, sagte er.
»Noch viel zuviel Metall dran.«
French knipste Asche in seinen Handteller und
blies sie herunter. Flack kehrte zu seinem Stuhl am
Fenster zurück.
»Nächster Punkt«, erklärte Christy French. »Er hat
keinen Führerschein und überhaupt keinen Ausweis.
Keines von seinen Kleidungsstücken ist in El Centro
gekauft. Irgendeine Tour zum Geldverdienen hatte
er, aber er sieht nicht so aus, und er ist nicht der Typ
von einem Scheckbetrüger.«
»Sie haben ihn ja nicht in seinen guten Zeiten
gesehen«, warf Beifus ein.
»Und dieses Hotel ist sowieso der falsche
Schuppen für sowas«, fuhr French fort. »Es hat
einen miesen Ruf.«
»Jetzt hören Sie mal!« wollte Flack anfangen.
French unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
»Ich kenne jedes Hotel in der Gegend. In meinem

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Beruf muss ich sie kennen. Für fünfzig Lappen
könnte ich in jedem Zimmer in diesem Hotel in einer
Stunde einen doppelten Striptease mit französischen
Extras kriegen. Sie können mir nichts vormachen.
Sie haben Ihren Job und ich habe meinen. Aber
machen Sie mir nichts vor. Also gut. Der Gast hatte
etwas bei sich, das er nicht gern hier behalten wollte.
Das heißt, er wusste, dass jemand hinter ihm her war
und immer näher kam. Also bietet er Marlowe
hundert Dollar, damit er es für ihn verwahrt. Aber er
hat nicht soviel Geld bei sich. Also muss er
vorgehabt haben, Marlowe in die Sache hereinzu-
ziehen, wo Geld herausschaute. Geklaute Juwelen
können es nicht gewesen sein. Es musste schon
etwas Halblegales sein. So richtig, Marlowe?«
»Das ›halb‹ können Sie weglassen«, sagte ich.
French lächelte schwach. »Also muss das, was er
hatte, etwas gewesen sein, das man flach oder
zusammengerollt lagern konnte - in einem
Telefonkasten, in einem Hutband, in einer Bibel, in
einer Talkbüchse. Wir wissen nicht, ob es gefunden
wurde oder nicht. Aber wir wissen, dass wenig Zeit
war. Nicht viel mehr als eine halbe Stunde.«
»Wenn es Dr. Hambleton selbst war, der telefoniert
hat«, sagte ich. »Dieses Schlupfloch haben Sie selbst
gebohrt.«
»Irgendwie wäre das sinnlos. Die Killer haben
doch kein Interesse, dass er schnell gefunden wird.

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Wozu sollten sie jemanden hierher in dieses Zimmer
locken?« Er wandte sich an Flack. »Kann man
irgendwie feststellen, wer ihn besucht hat?«
Flack schüttelte düster seinen Kopf. »Man braucht
nicht am Empfangsschalter vorbei, um zum Lift zu
kommen.«
Beifus sagte: »Vielleicht war das ein Grund,
warum er hier eingezogen ist. Das, und die
gemütliche Atmosphäre.«
»Na gut«, sagte French. »Der, der ihn umgelegt
hat, konnte rein und raus, ohne dass jemand fragte.
Alles, was er wissen musste, war die Zimmer-
nummer. Und das ist auch ungefähr alles, was wir
wissen. Stimmt's, Fred?«
Beifus nickte.
Ich sagte: »Nicht ganz. Es ist eine hübsche
Perücke, aber es ist eben eine Perücke.«
French und Beifus drehten sich gleichzeitig um.
French streckte seine Hand aus, nahm vorsichtig das
Haar von dem toten Mann und pfiff durch die
Zähne. »Ich habe mich vorhin schon gewundert, was
dieser verdammte Arzt so zu grinsen hat«, sagte er.
»Der Saukerl hat es noch nicht mal erwähnt. Siehst
du, was ich sehe, Fred?«
»Ich sehe bloß einen Kerl ohne Haar«, antwortete
Beifus.

- 101 -
»Vielleicht hast du ihn wirklich nie gesehen.
Mileaway Marston. Hat früher für Ace Devore
geschmuggelt.«
»Tatsächlich!« Beifus lachte leise. Er lehnte sich
hinüber und klopfte sanft auf den toten Kahlkopf.
»Wie ist es dir denn immer ergangen, Mileaway? Ich
hab dich so lange nicht bei uns gesehen, dass ich
dich fast vergessen hätte. Aber wir kennen uns ja.
Immer auf die sanfte Tour.«
Der Mann da auf dem Bett sah alt und hart aus,
eingeschrumpft, ohne seine Perücke. Die gelbe
Maske des Todes begann starre Züge in sein Gesicht
zu drücken.
French sagte ruhig: »Na, jetzt ist mir schon wohler.
Dieser Gauner wird uns nicht rund um die Uhr
beschäftigen. Soll er doch zum Teufel gehen.« Er
legte die Perücke zurück, über ein Auge und erhob
sich vom Bett. »Und ihr beide habt jetzt genug
gekriegt«, sagte er zu Flack und mir. Flack stand
auf.
»Besten Dank für den Mord, Liebling«, sagte
Beifus zu ihm. »Falls Sie noch mehr haben in Ihrem
netten Hotel, vergessen Sie unseren Service nicht.
Wenn er auch nicht gut ist, aber er ist prompt.«
Flack ging durch den Flur und riss die Tür auf. Ich
folgte ihm nach draußen. Auf dem Weg zum Lift
sprachen wir nichts. Auch nicht auf dem Weg nach
unten. Ich wanderte neben ihm her in sein kleines

- 102 -
Büro, ging hinter ihm hinein und schloss die Tür. Er
schien überrascht.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und griff nach
dem Telefon. »Ich muss dem zweiten Geschäfts-
führer einen kurzen Bericht geben«, sagte er.
»Wünschen Sie etwas?«
Ich quirlte eine Zigarette zwischen meinen
Fingern, hielt dann ein Streichholz dran und blies
langsam den Rauch über den Tisch. »Einhundert-
fünfzig Dollar«, sagte ich.
Flacks kleine, aufmerksame Augen verwandelten
sich in runde Löcher in einem von jedem Ausdruck
gereinigten Gesicht. »Machen Sie keine Witze, wo's
nicht passt«, sagte er.
»Nach den Darbietungen dieser beiden Witzbolde
da oben könnten Sie mir das kaum verbieten. Aber
ich mache keine Witze.« Ich trommelte ungeduldig
auf den Schreibtischrand und wartete.
Über Flacks kleinem Bärtchen erschienen kleine
Schweißperlen. »Ich hab was zu erledigen«, sagte er
nun mit einem Kloß in der Kehle. »Hauen Sie ab
und bleiben Sie dort.«
»Na so was! So ein harter kleiner Junge«, sagte
ich. »Dr. Hambleton hatte 164 Dollar in seiner
Brieftasche, als ich ihn durchsuchte. Und er hat mir
hundert Dollar versprochen, zum Behalten, das
haben Sie doch gehört. Jetzt sind in derselben
Brieftasche noch vierzehn Dollar. Und die Zimmer-

- 103 -
tür habe ich nicht abgesperrt. Jemand anders hat sie
abgesperrt. Sie haben sie abgesperrt, Flack.«
Flack griff an seine Stuhllehne und drückte sie.
Seine Stimme kam aus einem Brunnenloch, als er
sagte: »Sie können mir nichts beweisen.«
»Muss ich das?«
Er holte die Pistole aus seinem Gürtel und legte sie
auf den Schreibtisch vor sich hin. Er starrte darauf
herab. Die Pistole konnte ihm auch keinen Rat
geben. Er nahm die Augen wieder hoch und sah
mich an: »Sagen wir - Fifty-fifty?« sagte er nieder-
geschlagen.
Einen Augenblick herrschte Schweigen zwischen
uns. Er zog sein altes, schäbiges Portemonnaie
heraus und suchte darin herum. Er holte eine
Handvoll Münzen heraus und breitete Scheine auf
dem Schreibtisch aus, teilte sie in zwei Haufen und
schob einen zu mir. Ich sagte: »Ich will die ganzen
hundertfünfzig.«
Er kauerte sich in seinen Sessel und starrte auf eine
Tischecke. Nach einer langen Zeit seufzte er. Er
legte die beiden Haufen aufeinander und schob sie
rüber - auf meine Seite des Schreibtisches.
»Ihm hat es nichts mehr genützt«, sagte Flack.
»Nimm dein Scheißgeld und verschwinde. Dich
vergesse ich nicht, Freundchen. Ich kriege Bauch-
weh, wenn ich euch bloß sehe, ihr Kerle. Was weiß

- 104 -
ich, vielleicht hast du ihm schon einen halben
Tausender rausgezogen.«
»Ich würde alles nehmen. Der Killer hätte es auch
so gemacht. Wozu die vierzehn Dollar übriglassen?«
»Wozu habe ich ihm denn die vierzehn gelassen?«
fragte Flack; seine Stimme war müde, und er machte
eine ungewisse Bewegung mit seinen Fingern am
Rand des Schreibtisches. Ich nahm das Geld, zählte
es und warf es ihm wieder hin.
»Weil Sie diesen Job haben und ihn abschätzen
können. Sie wissen, daß er wenigstens die
Zimmermiete haben musste und ein paar Dollar
Kleingeld. Die Polizei würde dasselbe erwarten. Da,
ich will das Geld nicht. Ich will was anderes.« Er
starrte mich an, sein Mund stand offen. »Ich will das
Geld nicht mehr sehen«, sagte ich. Er griff danach
und stopfte es zurück in sein Portemonnaie. »Was
denn anderes?« Seine Augen waren klein und
nachdenklich. Seine Zunge bewegte sich hinter der
Unterlippe. »Ihre Lage in diesem Handel scheint mir
auch nicht so glänzend zu sein.«
»Ich glaube, da täuschen Sie sich ein bisschen.
Wenn ich wieder raufgehen müsste und müsste
Christy French und Beifus erzählen, dass ich schon
mal da oben war und die Leiche durchsucht habe,
dann würden sie mich zwar herunterputzen. Aber sie
würden begreifen, dass es nicht wegen einer
krummen Tour ist, wenn ich was verschwiegen

- 105 -
habe. Sie würden wissen, dass irgendwo dahinter ein
Kunde von mir steht, den ich schützen muss. Bei mir
würden sie toben und mich anschnauzen. Aber mit
Ihnen würden sie was anderes machen.«
Ich hielt an und beobachtete das schwache Glänzen
der Feuchtigkeit, die jetzt auf seine Stirn trat. Er
schluckte fast. Seine Augen waren voller Elend.
»Hören Sie auf mit der Wichtigtuerei und rücken
Sie mal raus mit Ihrem Geschäft«, sagte er. Plötzlich
grinste er ziemlich gaunerhaft. »Sin'n bisschen spät
dran, um sie zu decken, was?« Der alltägliche,
höhnische Ausdruck, den er sonst an sich hatte,
kehrte wieder in sein Gesicht zurück - ganz
allmählich, aber gern.
Ich drückte meine Zigarette aus, holte eine neue
heraus und machte der Reihe nach alle die
langsamen, sinnlosen, beruhigenden Gesten des
Anzündens, Wegtuns des Streichholzes, des
Rauchausstoßens nach einer Seite, tief Inhalierens,
als ob dieses schäbige kleine Büro eine Bergspitze
wäre, hoch über dem Wogenden Ozean - alle die
ausgelaugten, abgedroschenen Manieriertheiten
meines Berufs.
»Na schön«, sagte ich. »Ich gebe ja zu, dass es 'ne
Frau war. Ich gebe zu, dass sie da oben gewesen sein
muss, als er schon tot war, wenn Sie das befriedigt.
Ich glaube, nur wegen des Schocks ist sie
weggerannt.«

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»Na klar«, sagte Flack boshaft. Das breite
höhnische Grinsen war wieder heimgekehrt. »Oder
vielleicht hatte sie schon einen Monat lang keinen
mehr erstochen. Irgendwie aus der Übung.«
»Aber warum musste sie seinen Schlüssel
nehmen«, sagte ich, wie zu mir selbst. »Und warum
wird er am Empfang abgegeben? Warum geht man
nicht weg und lässt alles wie's ist? Und wenn man
schon unbedingt abschließen musste – warum kann
man den Schlüssel nicht in eine Sandkiste werfen
und zuschütten? Oder ihn mitnehmen und verlieren?
Warum mit dem Schlüssel etwas machen, was sie
mit dem Zimmer in Zusammenhang brachte?« Ich
ließ meine Augen abwärts wandern und starrte Flack
an - schwer und dumm. »Es sei denn natürlich, dass
man sie gesehen hat, als sie das Zimmer verließ -
schon den Schlüssel in der Hand - und dass man ihr
aus dem Hotel heraus folgte.«
»Wozu hätte irgend jemand das tun sollen?« fragte
Flack.
»Weil der, der sie sah, sofort hätte in das Zimmer
gehen können. Weil er einen Hauptschlüssel hatte.«
Flacks Augen sprangen auf, sahen mich an und
senkten sich wieder - alles in einem Zug.
»Er muss ihr also gefolgt sein«, sagte ich, »er muss
gesehen haben, wie sie den Schlüssel am Schalter
hingelegt hat und aus dem Hotel schlenderte, und er
muss ihr noch etwas weiter gefolgt sein.«

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Flack sagte witzig: »Wie kommt es nur, dass Sie so
toll sind?«
Ich lehnte mich vor und zog das Telefon zu mir
her. »Ich rufe lieber Christy an, damit es vorbei ist«,
sagte ich. »Je länger ich drüber nachdenke, desto
mehr wird mir bange. Vielleicht hat sie ihn ja
umgebracht. Ich kann keine Mörderin decken.«
Ich nahm den Hörer vom Haken. Flack ließ seine
feuchte Faust auf meinen Handrücken sausen. Das
Telefon machte einen Satz. »Lassen Sie das.« Seine
Stimme schluchzte beinahe. »Ich folgte ihr zu einem
Auto, das weiter unten an der Straße geparkt war.
Die Nummer hab ich. Mann Gottes, geben Sie mir
eine Chance!« Er wühlte wild in seinen Taschen
herum. »Wissen Sie, was sie mir für diesen Job
geben? Zigaretten- und Zigarrengeld und kaum
einen Zehner drüber! Warten Sie mal eben. Ich
glaube …«, er blickte abwärts und vertauschte ein
paar schmutzige Kuverts, wählte schließlich eines
aus und schlenzte es zu mir hin. »Auto-Nummer«,
sagte er müde, »und wenn es Ihnen Spaß macht - ich
kann mich nicht mehr erinnern, wie sie war.«
Ich sah mir den Umschlag an. Eine Autonummer
war wirklich drauf gekritzelt. Bös geschmiert und
blass und undeutlich, so wie es hastig auf ein Papier
geschrieben wird, das jemand auf der Straße in der
Hand hält. 6 N 333. California 1947.

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»Zufrieden?« Es war Flacks Stimme. Oder,
jedenfalls, sie kam aus seinem Mund. Ich riss die
Nummer ab und warf ihm das Kuvert wieder hin.
»4 P 327«, sagte ich und beobachtete seine Augen.
Nichts zuckte darin. Keine Spur von Spott oder
Heimlichtuerei. »Aber woher weiß ich, dass es nicht
einfach eine Nummer ist, die Sie schon vorher
hatten?«
»Sie müssen mir einfach glauben.«
»Beschreiben Sie den Wagen«, sagte ich.
»Cadillac Cabrio, nicht ganz neu, Verdeck offen.
Etwa i942er Modell. Irgendwie staubiges Grau.«
»Beschreiben Sie die Frau.«
»Sie woll'n aber 'ne Menge für Ihre Piepen, was,
Schnüffler?«
»Dr. Hambletons Piepen.«
Er krümmte sich ein bisschen. »Na schön. Weißer
Mantel mit was farbig Gesticktem drauf. Breiter
blauer Strohhut. Dunkle Brille. Zirka 1,60. Gebaut
wie von Dior.«
»Würden Sie sie wiedererkennen - ohne Brille?«
fragte ich vorsichtig.
Er tat, als ob er denken würde. Dann schüttelte er
den Kopf, nein.
»Wie war noch mal die Autonummer, Flacky?« Ich
hatte ihn überrascht.

- 109 -
»Welche?« sagte er.
Ich beugte mich über den Schreibtisch und ließ
etwas Zigarettenasche auf seinen Revolver fallen.
Ich starrte ihm noch mal ein bisschen in die Augen.
Aber ich wusste, dass er jetzt dran war. Anscheinend
wusste er es auch. Er griff nach seinem Revolver,
blies die Asche davon weg und tat ihn zurück in die
Schublade seines Schreibtischs.
»Also los. Schieben Sie ab«, sagte er durch die
Zähne. »Erzählen Sie doch den Bullen, dass ich eine
Leiche gefleddert habe. Na und? Vielleicht verliere
ich meinen Job. Vielleicht schmeißen sie mich in
den Bau. Na und? Wenn ich rauskomme, bin ich ein
gemachter Mann. Klein-Flacky braucht sich nicht
mehr krummzulegen wegen Kaffee und Keksen.
Glauben Sie bloß nicht, daß diese dunklen Gläser
Klein-Flacky täuschen können. Ich hab zu viele
Filme gesehen, um diese süße Möse nicht zu
kennen. Und wenn Sie mich fragen, diese Kleine
wird sich 'ne ganze Weile halten. Die is' im
Kommen – und wer weiß – « er warf mir trium-
phierend einen schlüpfrigen Blick zu » – eines Tages
braucht sie auch eine Leibwache. Einen Dauer-
posten, um aufzupassen, dass sie keine Schwierig-
keiten hat. Jemand, der die Tricks kennt und nicht so
anspruchsvoll ist mit den Piepen … Was ist 'n los?«

- 110 -
Ich hielt meinen Kopf schräg und beugte mich vor.
Ich horchte. »Es kam mir vor, als ob eine Glocke
läutet«, sagte ich.
»Kirchen gibt's nicht hier in der Gegend«, sagte er
verächtlich. »Das ist Ihr Superhirn aus Platin, das
Sprünge kriegt.«
»Bloß eine Glocke«, sagte ich. »Sie schlägt - so
heißt das wohl.«
Flack lauschte jetzt auch. »Ich hör nix«, sagte er
scharf.
»Oh, Sie können sie nicht hören«, sagte ich. »Sie
sind natürlich der einzige Typ auf der Welt, der sie
nicht hört.«
Er hockte bloß so da und starrte mich an, seine
bösen, kleinen Augen halb geschlossen, und sein
böses, kleines Bärtchen glänzte. Eine seiner Hände
zuckte auf der Tischplatte, eine sinnlose Geste.
Ich überließ ihn seinen Gedanken, die vermutlich
so klein, mies und verängstigt waren wie der ganze
Mann.

- 111 -
12

Das Apartmenthaus lag am Doheny Drive, direkt


unterhalb vom Sunset Boulevard. Genau genommen
waren es zwei Gebäude, eines hinter dem anderen,
locker durch einen gepflasterten Hof verbunden, mit
einem Brunnen und einer Art Brücke, mit einem
Zimmer drin. In der Eingangshalle aus Kunstmarmor
waren Briefkästen und Klingeln. Über drei von den
sechzehn waren keine Namen. Mit den Namen, die
ich las, konnte ich nichts anfangen. Hier war noch
allerhand Arbeit zu tun. Ich probierte die Eingangs-
tür, fand sie unverschlossen, und noch immer war
allerhand Arbeit zu tun. Draußen standen zwei
Cadillacs, ein Lincoln Continental und ein Packard
Clipper. Keiner von den Cadillacs hatte die richtige
Farbe oder Nummer. Auf der anderen Seite der
Einfahrt lümmelte sich ein Kerl in Reithosen in
einem flachen Lancia; er ließ ein Bein über die
Wagentür baumeln. Er rauchte und blickte hinauf zu
den blassen Sternen, die wissen, warum sie so weit
von Hollywood weg sind. Ich wanderte den steilen
Hang hinauf zum Boulevard und dann einen Block
nach Osten und klemmte mich in so einen
Schwitzkasten von einer Freilufttelefonkabine. Ich
wählte jemand an, der Peoria Smith hieß und der so
hieß, weil er stotterte - noch ein kleines Rätsel, das
ich aus Zeitmangel nie lösen konnte.

- 112 -
»Mavis Weld«, sagte ich, »Telefonnummer.
Marlowe hier.«
»K-k-k-klar«, sagte er. »M-M-Mavis Weld, was?
Sie w-wollen ihre T-t-telefon-n-nummer?«
»Kostenpunkt? «
»Z-z-ehn D-d-dollar«, sagte er.
»Vergessen Sie's«, sagte ich.
»M-m-moment m-mal! Ich darf doch die Nummern
von den M-M-miezen nicht sagen. Als Hilfsre-
quisiteur ist das Risiko zu groß.«
Ich wartete und zog meinen eigenen Atem ein.
»Natürlich gibt's die Adresse noch dazu«,
jammerte Peoria - das Stottern vergaß er.
»Ich zahle fünf«, sagte ich. »Die Adresse habe ich
schon. Und lassen Sie das Feilschen. Wenn Sie
glauben, Sie sind der einzige Studioganove, der
Geheimnummern verscherbelt, dann …«
»Bleiben Sie dran«, sagte er müde und ging sein
kleines rotes Buch holen. Ein verdrehter Stotterer. Er
stotterte nur, wenn er nicht aufgeregt war. Er kam
zurück und sagte sie mir. Natürlich eine Crestview-
Nummer. Wer in Hollywood keine Crestview-
Nummer hat, ist ein Nichts. Ich machte die Stahl-
und-Glas-Kabine ein bisschen auf, um etwas Luft
hereinzulassen, während ich noch mal wählte.
Nachdem es zweimal geklingelt hatte, kam eine
schleppende Stimme, sehr sexy. Ich zog die Tür zu.

- 113 -
»Ja-a-a«, gurrte die Stimme.
»Bitte Miss Weld.«
»Und wer wünscht Miss Weld, bitte?«
»Ich hab ein paar Szenenfotos, die ich heute Abend
von Whitey abgeben soll.«
»Whitey? Und wer ist Whitey, Amigo?«
»Der erste Fotograf im Studio«, sagte ich. »Wissen
Sie das nicht? Ich komme rauf, wenn Sie mir sagen,
in welches Apartment. Ich bin ein paar Häuser
weiter.«
»Miss Weld nimmt ein Bad.« Sie lachte. Vermut-
lich war es dort, wo sie war, ein silbernes Perlen.
Wo ich war, klang es, als ob jemand Untertassen
wegstellt. »Aber natürlich bringen Sie die Fotos. Sie
kann's sicher kaum erwarten, sie zu sehen. Die
Apartmentnummer ist vierzehn.«
»Sind Sie dann auch da?«
»Aber natürlich. Aber sicher. Warum fragen Sie
denn?«
Ich hing ein und schwankte hinaus in die frische
Luft. Ich ging den Berg runter. Der Kerl in den
Reithosen hing immer noch aus dem Lancia heraus,
aber einer von den Cadillacs war weg, und zwei
Buick Cabrios hatten sich zu den Wagen vor dem
Haus gesellt. Ich drückte die Klingel bei Nummer
14, ging weiter durch den Hof, wo ein hellrotes
chinesisches Geißblatt von einem Tiefstrahler

- 114 -
beleuchtet wurde. Ein anderes Licht beschien einen
großen dekorativen Teich voller fetter Goldfische
und schweigsamer Seerosen, deren Blüten sich zur
Nacht geschlossen hatten. Ein paar Steinbänke
waren zu sehen und eine Schaukel. Das Etablis-
sement sah nicht besonders teuer aus, nur daß es in
diesem Jahr überall teuer war. Das Apartment war
im zweiten Stock, eine von zwei gegenüber-
liegenden Türen an einem breiten Treppenabsatz.
Ein Glockenspiel tönte, und ein großes dunkles
Mädchen in Breeches öffnete die Tür. ›Sexy‹ war
ein sehr schwaches Kompliment für sie. Die
Breeches und ihr Haar waren kohlschwarz. Sie trug
eine weiße Seidenbluse mit einem blutroten Schal,
der lose um ihren Hals lag. Nicht ganz so blutrot wie
ihr Mund. Sie hielt eine lange braune Zigarette in
einer dünnen goldenen Pinzette. Die Finger, die sie
hielten, waren nicht zu knapp geschmückt. Ihr
schwarzes Haar war in der Mitte geteilt, und eine
schneeweiße Scheitellinie lief den Kopf hinauf und
verschwand. Zwei dicke Wellen ihres glänzend
schwarzen Haares lagen je auf einer Seite ihres
schlanken braunen Halses. Jede von ihnen wurde
von einer blutroten Spange gehalten. Aber es war
lange her, dass sie ein kleines Mädchen war.
Sie blickte scharf auf meine leeren Hände.
Szenenaufnahmen sind gewöhnlich ein bisschen zu
groß, um sie in die Tasche zu stecken.

- 115 -
Ich sagte: »Miss Weld, bitte.«
»Sie können mir die Fotos geben.« Die Stimme
war kühl, schleppend und unverschämt, aber mit den
Augen war es anders. Da dranzukommen war nicht
schwerer als beim Friseur.
»Für Miss Weld persönlich. Verzeihung.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, sie nimmt ein Bad.«
»Ich werde warten.«
»Sind Sie sicher, dass Sie die Fotos dabei haben,
Amigo?«
»Ich werde nie sicher sein. Warum?«
»Ihr Name?« Beim zweiten Wort fror ihre Stimme,
wie eine Feder, die sich in einem plötzlichen
Zugwind erhebt. Dann gurrte sie und schwebte und
stieg und wirbelte, und die leise Einladung eines
Lächelns zupfte zärtlich an ihren Mundwinkeln, sehr
langsam, wie ein Kind, das versucht, eine Schnee-
flocke aufzuheben.
»Ihr letzter Film war wunderbar, Miss Gonzales.«
Das Lächeln schoss wie ein Blitz über ihr Gesicht
und veränderte es völlig. Der Körper straffte sich
und bebte vor Wonne.
»Aber es war großer Mist«, sagte sie glücklich.
»Ganz bestimmt ein gottverdammter Mist, mein
süßer Liebling. Sie wissen verdammt gut, dass er
Mist war.«

- 116 -
»Für mich ist nichts Mist, wenn Sie dabei sind,
Miss Gonzales.«
Sie trat von der Türe zurück und winkte mich
herein. »Wir werden einen Drink nehmen«, sagte
sie. »Den gottverdammtesten Drink werden wir
nehmen. Ich liebe Schmeicheleien, egal, wie
verlogen sie sind.«
Ich ging rein. Wenn ich einen Revolver an der
Niere gespürt hätte, wäre ich gar nicht überrascht
gewesen. Sie hatte sich so hingestellt, dass ich ihre
Brüste regelrecht mit der Hand wegdrücken musste,
um durch die Tür zu kommen. Sie roch so, wie das
Tadsch Mahal im Mondschein aussieht. Sie schloss
die Tür und tänzelte hinüber zu einer kleinen
tragbaren Bar.
»Whisky? Oder wollen Sie lieber was Gemixtes?
Ich mixe einen absolut grauenhaften Martini«, sagte
sie.
»Whisky ist gut, danke.«
Sie machte ein Paar Drinks in ein Paar Gläser, die
man auch als Schirmständer benutzen konnte. Ich
setzte mich auf einen Chintz-Sessel und sah mich
um. Die Wohnung war altmodisch. Sie hatte einen
falschen Kamin mit Holzattrappen und Gasbeleuch-
tung und einem Marmorsims mit Sprüngen im Gips,
ein paar Klecksereien an der Wand, die so schlimm
aussahen, dass sie sicher viel gekostet hatten, und
einen alten schwarzen, abgestoßenen Flügel, auf

- 117 -
dem wenigstens kein spanischer Schal drauflag. Eine
Menge neuer Bücher in hellen Umschlägen lagen
herum, und in der Ecke stand eine Doppelbüchse mit
einem hübsch geschnitzten Kolben und einer
Seidenschleife um die beiden Läufe. Humor aus
Hollywood.
Die dunkle Dame in den Breeches gab mir ein Glas
und setzte sich auf die Lehne meines Sessels. »Sie
können mich Dolores nennen, wenn Sie wollen«,
sagte sie und nahm einen herzhaften Schluck aus
ihrem Humpen.
»Danke.«
»Und wie kann ich Sie nennen?«
Ich grinste.
»Natürlich«, sagte sie, »bin ich mir vollkommen
klar, dass Sie ein gottverdammter Lügner sind und
keinerlei Fotos in den Taschen haben. Ich will gar
nicht fragen, was für ein Geschäft Sie haben -
bestimmt ist es was sehr Privates.«
»Ach nee.« Ich schlürfte ein paar Zentimeter von
meinem Drink.
»Was für eine Art Bad nimmt eigentlich Miss
Weld? Eins mit guter alter Seife, oder so was mit
arabischen Gewürzen drin?«
Sie schwenkte die Reste der braunen Zigarette mit
der kleinen goldenen Klammer. »Vielleicht möchten
Sie ihr helfen? Das Bad ist da drüben - durch den

- 118 -
Durchgang und nach rechts. Sehr wahrscheinlich ist
die Tür nicht zugeschlossen.«
»Wenn es so leicht ist - nein«, sagte ich.
»Oh«, sie schenkte mir wieder ihr strahlendes
Lächeln. »Sie mögen es gern schwierig im Leben.
Ich muss aufpassen, dass man nicht so leicht bei mir
ankommt, was?« Sie erhob sich lässig von meiner
Stuhllehne und machte ihre Zigarette aus, wobei sie
sich bückte, so dass man die Umrisse ihrer Hüften
sah.
»Machen Sie sich keine Mühe, Miss Gonzales. Ich
bin bloß jemand, der hier was zu erledigen hat. Ich
habe kein Bedürfnis, jemanden zu vergewaltigen.«
»Nein?« Das Lächeln wurde weich, träge und, ich
finde kein besseres Wort, herausfordernd.
»Aber ich werde schon noch draufkommen«, sagte
ich.
»Sie sind ein ganz amüsantes Mistvieh«, sagte sie,
zuckte die Achseln und ging durch den Durchgang,
wobei sie ihren halben Liter Whisky-Soda mit sich
führte. Ich hörte ein leises Klopfen an einer Tür und
ihre Stimme: »Liebling, da ist ein Mann hier, der
sagt, er hat ein paar Standfotos aus dem Studio.
Sagte er. Muy guapo tambien. Con cojones.«
Eine Stimme, die ich schon mal gehört hatte, sagte
scharf: »Halt's Maul, du Miststück. Ich komme
gleich raus.«

- 119 -
Die Gonzales kam summend durch den Durch-
gangsbogen. Ihr Glas war leer. Sie ging wieder zur
Bar. »Aber Sie trinken ja gar nicht«, rief sie, als sie
mein Glas sah.
»Ich habe schon gegessen. Mehr als zwei Liter
gehen nicht in meinen Magen. Ich verstehe ein
bißchen Spanisch.«
Sie warf ihren Kopf herum. »Hat es Sie
schockiert?« Ihre Augäpfel drehten sich hin und her.
Ihre Schultern machten den Fächertanz.
»Ziemlich schwer, mich zu schockieren.«
»Aber Sie haben gehört, was ich gesagt habe?
Madre de Dios. Es tut mir schrecklich leid.«
»Bestimmt«, sagte ich.
Sie hatte sich den nächsten Whisky-Soda gemacht.
»O ja, es tut mir so leid«, seufzte sie. »Vielmehr:
es kommt mir so vor. Manchmal weiß ich es selber
nicht. Manchmal ist mir alles verdammt egal. Bringt
einen ganz durcheinander. Alle meine Freunde sagen
mir, dass ich viel zu offenherzig bin. Es hat Sie doch
wirklich schockiert, nicht?« Sie war wieder da, auf
der Lehne meines Sessels.
»Nein. Aber wenn ich mich gerne schockieren
lassen wollte, dann wüsste ich, wo.« Sie griff lässig
nach dem Glas hinter sich und lehnte sich zu mir.
»Aber ich wohne nicht hier«, sagte sie. »Ich wohne
im Chateau Bercy.«

- 120 -
»Allein?«
Sie versetzte mir einen leichten Schlag auf die
Nasenspitze. Gleich darauf hatte ich sie auf dem
Schoß, sie versuchte ein Stück von meiner Zunge
abzubeißen. »Sie sind ein sehr süßer Mistkerl«, sagte
sie. Ihr Mund war so heiß, wie Münder nur sein
können. Ihre Lippen brannten wie Trockeneis. Ihre
Zunge fuhr heftig über meine Zähne. Ihre Augen
sahen riesengroß und schwarz aus, und das Weiße
war darunter zu sehen.
»Ich bin so müde«, hauchte sie in meinen Mund.
»Ich bin so ausgelaugt, so furchtbar müde.«
Ich fühlte ihre Hand in meiner Brusttasche. Ich
drückte ihre Hand weg, aber meine Brieftasche hatte
sie schon. Sie tänzelte lachend damit fort, machte sie
auf, wühlte drin, wobei ihre Finger herumschossen
wie kleine Schlangen.
»Freut mich sehr, dass ihr beiden euch so gut
versteht«, sagte eine kühle Stimme von der Seite
her. Im Durchgang stand Mavis Weld.
Ihr Haar wehte nachlässig herum, sie hatte sich
nicht die Mühe eines Make-up gemacht. Sie trug
einen Morgenmantel und nicht viel mehr. Ihre Beine
hatten am Ende kleine grün-silberne Pantoffeln. Ihre
Augen waren leer, ihre Lippen verächtlich. Aber
jedenfalls war es dasselbe Mädchen, mit oder ohne
dunkle Brille.

- 121 -
Die Gonzales warf ihr einen blitzschnellen Blick
zu, machte meine Brieftasche zu und warf sie mir
rüber. Ich fing sie auf und steckte sie weg. Sie
schlenderte zu einem Tisch, nahm eine schwarze
Tasche mit einem langen Riemen, hängte ihn über
die Schulter und machte sich auf den Weg zur Tür.
Mavis Weld bewegte sich nicht, sah sie nicht an.
Sie sah mich an. Aber es war keinerlei Gefühl in
ihrem Gesicht. Die Gonzales öffnete die Tür, warf
einen Blick nach draußen und hatte sie schon fast
geschlossen, als sie sich noch einmal umdrehte.
»Er heißt Philip Marlowe«, sagte sie zu Mavis
Weld. »Nett - findest du nicht?«
»Ich habe nicht gedacht, dass du dir die Mühe
machst, nach dem Namen zu fragen«, sagte Mavis
Weld. »Meistens kennst du sie gar nicht lange
genug.«
»Ach ja«, antwortete die Gonzales mit
Gelassenheit. Sie wandte sich an mich und lächelte
mir ein bisschen zu. »Was für eine reizende Art, ein
Mädchen eine Hure zu nennen, nicht wahr?«
Mavis Weld sagte nichts. Ihr Gesicht hatte keinen
Ausdruck.
»Wenigstens«, sagte die Gonzales sanft, während
sie die Tür noch einmal öffnete, »habe ich in letzter
Zeit nicht mit irgendwelchen Pistolenhelden
geschlafen.«

- 122 -
»Bist du sicher, dass du das noch weißt?« fragte
Mavis Weld in genau demselben Ton. »Mach die
Tür auf, Liebling. Heute ist der Tag, um den Abfall
rauszutragen.«
Die Gonzales blickte langsam über die Schulter auf
sie, sehr gerade, mit einem Messer in den Augen.
Dann machte sie ein schwaches Geräusch zwischen
Lippen und Zähnen und riss die Tür weit auf. Hinter
ihr fiel sie zu, mit einem schmetternden Knall.
Der Lärm bewirkte noch nicht einmal ein Zucken
in dem gleichförmigen dunkelblauen Glanz von
Mavis Welds Augen.
»Und jetzt - wie wär's, wenn Sie das gleiche täten -
nur etwas ruhiger«, sagte sie.
Ich holte ein Handtuch und rieb an dem Lippenrot
auf meinem Gesicht. Es hatte genau die Farbe von
Blut, frischem Blut. »Das kann jedem passieren«,
sagte ich. »Ich hab sie nicht geknutscht - sie hat
mich geknutscht.«
Sie marschierte zur Tür und riss sie auf. »Zieh
Leine, kleiner Träumer. Mach dich auf die Beine!«
»Ich habe was mit Ihnen zu besprechen, Miss
Weld.«
»Ja, kann ich mir vorstellen. Raus. Ich kenne Sie
nicht. Ich will Sie nicht kennen. Und wenn ich das
wollte, dann wäre das weder der Tag dafür noch die
Stunde.«

- 123 -
»Zeit und Ort und der Geliebte - nie sind sie alle
zusammen«, sagte ich.
»Was ist los?« Jetzt versuchte sie, mit der Spitze
ihres Kinns mich loszuwerden, aber noch nicht mal
sie schaffte das.
»Browning. Der Dichter, nicht der Revolver. Ich
bin sicher, daß Sie den Revolver lieber hätten.«
»Hören Sie mal, Kleiner, muß ich erst den
Verwalter holen, damit er Sie die Treppe runterdotzt
wie einen Basketball?«
Ich ging rüber und drückte die Tür zu. Sie hielt
sich dran, solang sie konnte. Sie trat mich nicht
direkt, aber es fiel ihr schwer, mich nicht zu treten.
Ich versuchte, sie unauffällig von der Tür
wegzudrücken. Sie ließ sich nicht für einen Fünfer
wegdrücken. Sie hielt ihren Platz, eine Hand noch
immer zum Türknopf ausgestreckt, die Augen voll
dunkelblauer Wut.
»Wenn Sie so nahe bei mir stehen wollen«, sagte
ich, »sollten Sie vielleicht lieber etwas anziehen.«
Sie zog ihre Hand zurück und holte fest aus. Der
Schlag klang fast so wie Miss Gonzales, als sie die
Tür zuknallte, aber er brannte. Und er erinnerte mich
an eine wunde Stelle auf meinem Hinterkopf.
»Habe ich Ihnen weh getan?« fragte sie sanft.
Ich nickte.

- 124 -
»Das ist gut.« Sie nahm wieder einen Anlauf und
schlug mich noch mal, wenn möglich noch stärker.
»Vielleicht sollten Sie mich lieber küssen«, hauchte
sie. Ihre Augen waren klar und feucht und
schmelzend. Ich warf einen Blick abwärts. Ihre
rechte Hand war sehr fachmännisch geballt. Und sie
war auch nicht zu klein, um damit zu arbeiten.
»Glauben Sie mir«, sagte ich. »Es gibt nur einen
Grund, warum ich es nicht tue. Noch nicht mal,
wenn Sie Ihre kleine schwarze Pistole dabei hätten.
Oder den Schlagring, den Sie sicher im Nachttisch
liegen haben.«
Sie lächelte höflich.
»Es könnte ja sein, dass ich mal für Sie arbeite«,
sagte ich. »Außerdem laufe ich nicht hinter jedem
Paar Beine her, das ich zu sehen kriege.« Ich sah
runter auf die ihren. Ich konnte sie gut sehen, und
das Fähnchen auf der Ziellinie war nicht größer, als
es sein darf. Sie zog ihren Morgenmantel fest
zusammen, drehte sich um und ging kopfschüttelnd
rüber zu der kleinen Bar.
»Ich bin frei, weiß und einundzwanzig«, sagte sie.
»Ich habe alle Arten von Anbändeln gesehen.
Wenigstens dachte ich das. Wenn ich Ihnen keine
Angst machen kann, Sie nicht reinlegen oder
verführen kann, wie kann ich Sie denn sonst
herumkriegen?«
»Na jaa …«

- 125 -
»Hören Sie auf«, unterbrach sie mich scharf und
drehte sich um, mit einem Glas in der Hand. Sie
trank, warf den Kopf herum, so dass ihr lockeres
Haar flog, und lächelte ein dünnes Lächeln. »Geld
natürlich. Wie idiotisch von mir, dass ich daran nicht
gedacht habe.«
»Geld wäre nicht schlecht«, sagte ich.
Ihr Mund verzerrte sich vor Abscheu, aber die
Stimme war beinahe liebevoll. »Wieviel Geld?«
»Na, hundert Dollar würden reichen - für den
Anfang.«
»Sie sind billig. Ein billiger kleiner Gauner,
stimmt's? Sagt hundert Piepen. Nennt man hundert
Piepen schon Geld in deinen Kreisen, Liebling?«
»Schön, dann sagen wir zweihundert. Damit kann
ich in Pension gehen.«
»Immer noch billig. Natürlich wöchentlich. Soll's
in einem schönen, sauberen Kuvert sein?«
»Das Kuvert können Sie sich sparen. Ich würd's
nur schmutzig machen.«
»Und was würde ich dann für das Geld kriegen,
mein süßer kleiner Schnüffler? - Ich weiß doch
genau, was Sie sind.«
»Eine Quittung würden Sie kriegen. Wer hat Ihnen
gesagt, dass ich ein Schnüffler bin?«

- 126 -
Einen Augenblick lang sah man ihre wirklichen
Augen, dann fiel sie wieder in ihre Rolle. »Es muss
wohl der Geruch gewesen sein.«
Sie nahm ein bisschen von ihrem Drink und blickte
über das Glas auf mich mit einem leisen,
verächtlichen Lächeln.
»Allmählich glaube ich, dass Sie Ihre eigenen
Dialoge schreiben«, sagte ich. »Ich habe mich
immer gefragt, was an ihnen so besonders war.«
Ich duckte mich. Ein paar Tropfen trafen mich. Das
Glas zerbrach an der Wand hinter mir. Die Scherben
fielen lautlos.
»Und damit«, sagte sie, in völliger Ruhe, »habe ich
wohl meinen Vorrat an mädchenhaftem Charme
aufgebraucht.«
Ich ging rüber und nahm meinen Hut. »Ich habe
nie geglaubt, dass Sie ihn getötet haben«, sagte ich.
»Aber ich müsste schon einen Grund haben, wenn
ich es nicht erzählen soll, dass Sie dort waren. Es ist
ganz praktisch, wenn man Geld für eine Anzahlung
kriegt - es wäre eine Basis. Und wenn ich dann noch
die Informationen bekäme, ohne die ich die
Anzahlung nicht annehmen kann.«
Sie nahm eine Zigarette aus einem Kästchen, warf
sie in die Luft, fing sie mühelos mit den Lippen auf
und zündete sie mit einem Streichholz an, das sie
irgendwie hergezaubert hatte.

- 127 -
»Lieber Himmel! Soll ich jemanden ermordet
haben?« fragte sie.
Ich hielt noch immer diesen Hut. Ich kam mir blöd
damit vor. Ich weiß nicht, warum. Ich setzte ihn auf
und ging zur Tür.
»Sie haben doch sicher das Fahrgeld nach Hause«,
sagte die verächtliche Stimme hinter mir.
Ich antwortete nicht. Ich ging einfach weiter. Als
ich an der Tür war und sie gerade öffnen wollte,
sagte sie: »Ich bin auch sicher, dass Miss Gonzales
Ihnen ihre Adresse und Telefonnummer gegeben
hat. Von ihr werden Sie sicher so gut wie alles
kriegen - auch Geld, wie ich gehört habe.«
Ich ließ den Türknopf los und ging schnell zurück
durch das Zimmer. Sie rührte sich nicht, und das
Lächeln auf ihren Lippen verrutschte um keinen
Millimeter.
»Hören Sie«, sagte ich. »Sie werden es nicht
glauben. Aber ich bin hierher gekommen mit der
komischen Idee, dass Sie vielleicht eine Frau sind,
die Hilfe braucht - und für die es ziemlich schwer
wäre, jemand anderen zu finden, auf den sie sich
verlassen könnte. Ich habe mir überlegt, daß Sie
wohl in dieses Hotel gegangen sind, um irgend
jemand zu schmieren. Und da Sie selbst dahin
gegangen sind und riskiert haben, dass man Sie
erkannte - und dass Sie auch wirklich erkannt
worden sind, von einem Hausdetektiv, dessen

- 128 -
moralische Grundsätze ungefähr so strapazierfähig
sind wie ein altes Spinnennetz -, das alles hat mich
drauf gebracht, dass Sie tief in der Tinte sitzen - in
einem Hollywood-Schlamassel, was in Wirklichkeit
bedeutet: Schluss mit der Karriere. Aber Sie sind
nicht in der Tinte, o nein! Sie stehen direkt unter
dem kleinen Scheinwerfer und spielen das ganze
Schmierenrepertoire herunter, wie für die miesesten
Hollywood-Schinken, in denen Sie je eine Rolle
hatten, wenn man das eine Rolle nennen kann …«
»Aufhören!« sagte sie zwischen den Zähnen, die so
zusammengepresst waren, dass sie knirschten.
»Hören Sie auf, Sie schmieriger, erpresserischer
Schlüssellochgucker.«
»Sie brauchen mich nicht«, sagte ich. »Sie
brauchen keinen Menschen. Sie sind so verdammt
schlau, Sie könnten sich sogar aus einem Banksafe
herausreden. Okay. Nur zu, reden Sie sich raus. Ich
halte Sie nicht ab. Aber sagen Sie dann nicht, ich
soll zuhören. Ich würde hemmungslos weinen, bloß
bei dem Gedanken, dass so ein kleiner Ausbund von
einem unschuldigen Mädchen schon so schlau sein
kann. Mir wird weh ums Herz wie bei Margaret
O'Brien.«
Sie bewegte sich nicht, und sie atmete nicht, als ich
an der Tür war, und auch nicht, als ich sie öffnete.
Ich weiß nicht warum. So gut war der Schnaps auch
nicht.

- 129 -
Ich stieg die Treppen hinunter und über den Hof
und aus der Eingangstür und wäre fast mit einem
schlanken, dunkeläugigen Mann zusammengerannt,
der da stand und eine Zigarette anzündete.
»Verzeihung«, sagte er ruhig. »Ich habe wohl im
Weg gestanden.«
Ich ging um ihn herum, dann bemerkte ich, dass
seine erhobene rechte Hand einen Schlüssel hielt.
Ich griff danach und riss ihn aus seiner Hand -
vollkommen ohne Grund. Ich sah mir die Nummer
an, die eingeprägt war. Nr. 14, das Apartment von
Mavis Weld. Ich warf ihn hinter einen Busch.
»Den brauchen Sie nicht«, sagte ich, »die Tür ist
offen.«
»Oh, natürlich«, sagte er. Auf seinem Gesicht war
ein sehr eigentümliches Lächeln. »Wie dumm von
mir.«
»Jawohl«, sagte ich. »Wir sind alle beide dumm.
Jeder ist dumm, der sich mit dieser Schlampe
einlässt.«
»Das würde ich nicht unbedingt sagen«, antwortete
er still, und seine kleinen, traurigen Augen
beobachteten mich ziemlich ausdruckslos.
»Sie müssen es auch nicht«, sagte ich. »Ich habe es
gesagt, an Ihrer Stelle. Tut mir leid. Ich hole Ihren
Schlüssel.« Ich ging hinter den Busch, hob ihn auf
und gab ihn ihm.

- 130 -
»Vielen Dank«, sagte er. »Übrigens …« Er blieb
stehen. Ich blieb auch stehen. »Hoffentlich platze ich
da nicht in einen interessanten Krach rein«, sagte er.
»Das täte ich nicht gern.« Er lächelte. »Aber
nachdem wir beide Freunde von Miss Weld sind -
darf ich mich vorstellen: ich heiße Steelgrave. Habe
ich Sie nicht schon mal gesehen?«
»Nein, Sie haben mich noch nicht gesehen, Mr.
Steelgrave«, sagte ich. »Ich heiße Marlowe, Philip
Marlowe. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass wir
uns schon mal gesehen haben. Und, so komisch das
klingt, ich habe noch nie von Ihnen gehört, Mr.
Steelgrave. Und es wäre mir völlig gleichgültig,
sogar wenn Sie Weepy Moyer hießen.« So ganz
habe ich nie verstanden, warum ich das sagte. Es gab
keinen besonderen Grund dafür, dass ich es sagte,
außer, daß der Name irgendwo gefallen war. Eine
seltsame Ruhe kam über sein Gesicht. Ein
merkwürdig starrer Blick in seinen stillen Augen. Er
nahm die Zigarette aus seinem Mund, betrachtete die
Glut, schnippte etwas Asche ab, obgleich gar keine
Asche zum Abschnippen dran war; er sprach mit
niedergeschlagenem Blick: »Weepy Moyer.
Merkwürdiger Name. Ich glaube nicht, dass ich ihn
schon gehört habe. Ist das jemand, den ich kennen
müsste?«
»Nicht, wenn Sie nicht eine besondere Schwäche
für Eisdorne haben«, sagte ich und ging fort. Ich

- 131 -
ging die Treppe runter, hinüber zu meinem Auto,
warf einen Blick zurück, bevor ich einstieg. Da
stand er und sah zu mir hinunter, die Zigarette
zwischen den Lippen. Aus dieser Entfernung konnte
ich nicht sehen, ob sein Gesicht irgendeinen Aus-
druck hatte. Er bewegte sich nicht und machte auch
keinerlei Gesten, als ich zu ihm rüber sah. Er wandte
sich nicht ab. Stand bloß da. Ich stieg ein und fuhr
weg.

- 132 -
13

Ich fuhr östlich des Boulevards, aber nicht nach


Hause. An der La Brea Street bog ich nach Norden
ab und von da zur Highland und hinaus über den
Cahuenga Pass und wieder hinunter den Ventura
Boulevard, vorbei an den Filmstudios und vorbei an
den Siedlungen Sherman Oaks und Encino. Ich
fühlte mich nie einsam bei diesem Trip. Man ist nie
einsam auf dieser Straße. Schnelle Jungen in Fords
mit nackten Fahrgestellen schossen aus den
Kolonnen und wieder hinein, um Millimeter an
einem Kotflügel vorbei - aber eben immer irgendwie
vorbei. Müde Männer in ihren staubigen Cabrios
oder Limousinen zuckten zusammen, fassten das
Steuerrad fester und brummten weiter nordwärts
oder westwärts nach Hause, zum Essen, vor sich
einen Abend mit der Sportseite, mit dem knisternden
Radio, mit dem Geplärr ihrer verwöhnten Kinder
und dem Gequassel ihrer dummen Frauen. Ich fuhr
vorbei an protzigen Neonreklamen und den falschen
Fassaden dahinter, an den schmierigen Imbißstuben,
die unter diesen Farben wie Paläste aussahen, vorbei
an den kreisförmigen Drive-in-Lokalen, die sich
fröhlich ausnahmen wie Zirkusse, mit den zirpenden
Auto-Serviererinnen mit metallischen Augen, mit
schimmernden Theken und den verschwitzten,
fettigen Küchen, wo selbst Kröten sich vergiften

- 133 -
konnten. Schwere Lastzüge donnerten die Sepulveda
herunter, von Wilmington und San Pedro, und
fuhren über die Brücke in Richtung auf die
Kammstraße; von den Verkehrsampeln fuhren sie im
ersten Gang los, brüllend wie Löwen im Zoo.
Hinter Encino blinkte nur selten ein Licht von den
Hügeln durch dichte Bäume. Die Häuser der
Filmstars. Filmstars - bah. Die Veteranen von
tausend Betten. Hör auf, Marlowe, heute abend bist
du nicht menschlich.
Die Luft wurde kühler. Die Straße wurde schmaler.
Autos kamen jetzt so selten, daß die Scheinwerfer
weh taten. Die Steigung ging hinauf, an Kalkfelsen
entlang, und oben auf der Spitze, gerade vom Ozean
her, tanzte eine Brise leichtfüßig durch die Nacht.
In einem Lokal in der Nähe von Thousand Oaks aß
ich zu Abend. Schlecht, aber schnell. Stopf sie und
schmeiß sie raus. Mordsgeschäft. Wir können uns
hier nicht damit aufhalten, dass Sie hier bei Ihrer
zweiten Tasse Kaffee sitzen, Mister. Ihr Platz ist
Gold wert. Sehen Sie die Leute da vorne hinter der
Absperrung? Die wollen essen. Oder jedenfalls
meinen sie, dass sie essen müssen. Weiß der
Himmel, warum sie gerade hier essen wollen. Sie
wären zu Hause besser dran, mit einer Büchse. Sie
sind einfach ruhelos. Wie Sie. Sie müssen einfach
ihr Auto rausholen und irgendwohin fahren. Genau
die richtigen Einfaltspinsel für die Gauner, die sich

- 134 -
diese Restaurants zusammengekauft haben. Da
haben wir's wieder. Du bist heute Abend nicht
menschlich, Marlowe.
Ich zahlte und machte einen Abstecher in eine Bar,
um noch einen Brandy auf dieses New Yorker
Kotelett zu gießen. Aber wieso New York, dachte
ich. Solche gußeiserne Sachen machen sie in Detroit.
Ich trat hinaus in die Nachtluft - wie man die
verpachten kann, hatte bisher noch keiner
herausgefunden. Aber wahrscheinlich versuchten es
schon viele. Eines Tages würden sie es schaffen.
Ich fuhr weiter bis zu der Abkürzung bei Oxnard
und fuhr am Meer entlang heimwärts. Die großen
Vierachser und Achtachser zogen alle nordwärts,
über und über behangen mit orangeroten Lampen.
Rechts von mir schleppte sich der große breite
Pazifik ans Ufer wie eine Putzfrau, die heimkehrt.
Kein Mondschein, kein Getue, kaum ein Geräusch
am Strand. Kein Geruch. Nichts von dem heftigen,
wilden Geruch des Meeres. Es war ein
kalifornisches Meer. Kalifornien, der Warenhaus-
Staat. Das meiste von allem und das Beste von
nichts. Da sind wir wieder. Du bist nicht menschlich
heute Abend, Marlowe.
Na gut, warum sollte ich auch? Da sitze ich in
diesem Büro, spiele herum mit einer toten Fliege,
und herein platzt dieser armselige kleine Gegenstand
aus Manhattan, Kansas, und klopft mich klein zu

- 135 -
einem mickerigen Zwanziger, der ihren Bruder
finden soll. Der muss eine trübe Tasse sein, aber sie
will ihn unbedingt finden. Nun mache ich mich also,
meinen Schatz an die Brust drückend, auf nach Bay
City, und was mir da begegnet, ist eine derart müde
Routine, dass ich fast im Stehen einschlafe. Ich lerne
nette Menschen kennen, mit oder ohne Stich im
Hals. Ich gehe fort und bin ganz ohne Deckung.
Dann kommt sie an, nimmt mir die Zwanzig weg,
gibt mir einen Kuss und gibt mir die Zwanzig
wieder, weil ich nicht einen ganzen Tag lang gear-
beitet habe.
Also besuche ich Dr. Hambleton, einen
pensionierten (und wie!) Augenarzt aus El Centro,
und stoße schon wieder auf diesen neumodischen
Halsschmuck. Und den Bullen sage ich nichts. Ich
nehme bloß das Toupet aus, von dem Typ, und
spiele ihnen was vor. Warum? Für wen laß ich mir
diesmal den Hals abschneiden? Für eine Blondine
mit rasanten Augen und zu vielen Schlüsseln? Für
eine Maid aus Manhattan, Kansas? Ich weiß es
nicht. Was ich weiß ist, daß etwas anders ist als es
aussieht, und mein alter, müder, aber immer
zuverlässiger Riecher sagt mir: wenn das Spiel so
gespielt wird, wie die Karten verteilt sind, dann wird
die falsche Person den Einsatz verlieren. Ist das
mein Bier? Ja, was ist eigentlich mein Bier? Weiß
ich das? Habe ich das irgendwann gewußt? Lassen
wir das. Du bist nicht menschlich heute Abend,

- 136 -
Marlowe. Vielleicht war ich es nie und werde es nie
sein. Vielleicht bin ich ein Gespenst mit der Lizenz
eines Privatdetektivs. Vielleicht werden wir alle so
in der kalten, halbdunklen Welt, wo immer das
Falsche passiert und nie das Richtige.
Malibu. Noch mehr Filmstars. Noch mehr blaue
und rosa Badewannen. Noch mehr Betten mit
Quasten. Noch mehr Chanel Nr. 5. Noch mehr
Lincolns Continental und noch mehr Cadillacs.
Noch mehr Sturmzerzaustes Haar und Sonnenbrillen
und Getue und affektierte Stimmen und Strandhaus-
Moral. Jetzt halt man an. Gibt doch ganz nette
Leute, die beim Film arbeiten. Du hast die falsche
Einstellung, Marlowe. Du bist heute Abend nicht
menschlich.
Ich roch Los Angeles, bevor ich da war. Es roch
abgestanden und wie ein altes Wohnzimmer, das
lange abgeschlossen war. Aber die farbigen Lichter
täuschten einen. Die Lichter waren wunderbar. Es
müsste ein Denkmal für den Mann geben, der die
Neonlichter erfunden hat. Fünfzehn Stock hoch,
massiv Marmor. Das war doch mal ein Kerl, der
etwas aus nichts machte.
Und dann ging ich in einen Film, in dem Mavis
Weld mitspielte. Eine dieser Glas-und-Chrom-
Affären, wo alleuviel lächelten und zuviel redeten
und es genau wussten. Die Damen stiegen ständig
eine weitgeschwungene Treppe hinauf, um ihre

- 137 -
Kleider zu wechseln. Die Herren nahmen ständig
Zigaretten mit Monogramm aus teuren Etuis und
knipsten sie sich gegenseitig mit teuren Feuerzeugen
an. Und die Serviererin hatte krumme Schultern,
weil sie andauernd Tabletts mit Drinks über die
Terrasse an den Swimming-pool schleppen musste,
und der Swimming-pool war so groß wie der
Huronsee, aber erheblich sauberer.
Der erste Held war ein liebenswürdiger Mann mit
viel Charme, wenn auch zum Teil etwas gelblich an
den Rändern. Der Star war eine schlechtgelaunte
Brünette mit Verachtung in den Augen und ein paar
bösen Großaufnahmen, in denen sie fünfundvierzig
Liegestützen rücklings machte – so energisch, dass
sie sich leicht die Handwurzel brechen konnte.
Mavis Weld spielte die zweite Heldin, und sie
spielte sie gedämpft. Sie war gut, aber sie hätte
zehnmal besser sein können. Aber wenn sie zehnmal
besser gewesen wäre, hätte man die Szenen
rausgenommen, um dem Star nicht zu schaden. Es
war eine der saubersten Seiltänzereien, die ich je
gesehen habe. Aber von jetzt an würde es kein
Hochseil mehr sein, auf dem sie ging. Es würde ein
Klavierdraht sein. Und sehr hoch gespannt. Und kein
Netz würde darunter sein.

- 138 -
14

Ich hatte einen Grund, ins Büro zurückzukehren. Ein


Eilbotenbrief mit einem orangeroten Abholschein
darin musste inzwischen dort angekommen sein. Die
meisten Fenster im Gebäude waren dunkel, aber
nicht alle. Auch in anderen Geschäften arbeiten die
Leute nachts. Der Liftmann sagte »'n Abend« aus
der Tiefe seiner Kehle und schaukelte mich hoch. Im
Korridor waren offene, erleuchtete Eingänge, wo die
Putzfrauen noch immer den Abfall vieler nutzloser
Stunden wegwischten. Ich ging um die Ecke, vorbei
am gurgelnden Surren eines Staubsaugers, schloss
mein dunkles Büro auf und öffnete die Fenster. Ich
saß an meinem Schreibtisch und tat nichts, noch
nicht mal denken. Kein Eilbrief. Der ganze Lärm des
Gebäudes, abgesehen von den Staubsaugern, schien
ausgelaufen zu sein, auf die Straße, und schien sich
zwischen den kreisenden Rädern zahlloser Wagen
verlaufen zu haben. Dann fing jemand draußen, ir-
gendwo im Gang, zu pfeifen an - ›Lilli Marleen‹ -
elegant und virtuos. Ich wusste, wer das war. Der
Nachtwächter, der an den Bürotüren rüttelte. Ich
knipste die Deckenlampe an, und er ging vorbei,
ohne zu rütteln. Seine Schritte entfernten sich, dann
kamen sie wieder, mit einem anderen Geräusch,
mehr schlurfend. Der Summer tönte im nächsten
Büro, das noch nicht verschlossen war. Das musste

- 139 -
der Eilbriefbote sein. Ich ging raus, um ihn in
Empfang zu nehmen, aber er war's nicht.
Ein dicker Mann in himmelblauen Hosen zog die
Tür zu, mit jener schönen Gelassenheit, die nur
dicke Männer erreichen können. Er war nicht allein,
aber ihn sah ich zuerst an. Es war ein Riesenmann
und breit. Weder jung noch hübsch, aber er sah gut
gebaut aus. Über den himmelblauen Gabardine-
Hosen trug er eine zweifarbige Freizeitjacke, von
der es einem Zebra übel geworden wäre. Am Hals
war sein kanariengelbes Hemd weit offen, und
musste es auch sein, damit sein Hals durchkam. Er
war ohne Hut, und sein großer Kopf war mit einer
ausreichenden Menge lachsfarbenen Haars verziert.
Die Nase war gebrochen, aber gut wieder
zusammengewachsen, und ein Sammlerstück war sie
sowieso nie gewesen.
Die Kreatur neben ihm war eine kümmerliche
Type mit roten Augen und Nasenschnüffeln. Alter
etwa zwanzig, eins-siebzig, dürr wie Bohnenstroh.
Seine Nase zuckte, und sein Mund zuckte, und seine
Hände zuckten, und er sah recht unglücklich aus.
Der dicke Mann lächelte jovial. »Mr. Marlowe,
oder irre ich?«
Ich sagte: »Wer sonst?«
»Es ist etwas spät für einen Geschäftsbesuch«,
sagte der große Mann, und hinter seiner
bedauernden Geste verschwand das halbe Büro.

- 140 -
»Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus. Oder sind
Sie schon völlig ausgefüllt mit Ihren Geschäften?«
»Spotten Sie nicht. Meine Nerven sind dünn«,
sagte ich. »Wer ist denn der kaputte Typ?«
»Komm mal her, Alfred«, sagte der große Mann zu
seinem Kumpan. »Und zier dich nicht so.«
»In die Bude von 'nem Bullen«, sagte Alfred zu
ihm.
Der dicke Mann wandte sich zu mir - die Milde
selbst: »Warum sagen diese Ganoven immer so was?
Es ist nicht komisch. Es ist nicht witzig. Es bedeutet
nichts. Ist schon ein Problem, dieser Alfred. Ich habe
ihn weg von dem Stoff, Sie wissen schon -
wenigstens zeitweise. Sag mal ›Guten Tag‹ zu Mr.
Marlowe, Alfred.«
»In'n Arsch stecken«, sagte Alfred.
Der dicke Mann seufzte. »Ich heiße Quaddel«,
sagte er. »Joseph P. Quaddel.«
Ich sagte nichts.
»Na los, lachen Sie schon«, sagte der dicke Mann.
»Ich kenne das schon. Ich habe den Namen schon so
lange ich lebe.« Er kam auf mich zu mit
ausgestreckter Hand. Ich nahm sie. Der dicke Mann
lächelte lieblich in meine Augen. »In Ordnung,
Alfred«, sagte er, ohne sich umzusehen.

- 141 -
Alfred machte eine scheinbar geringfügige und
unwichtige Bewegung; danach war ein schwerer
automatischer Revolver auf mich gerichtet.
»Vorsicht, Alfred«, sagte der dicke Mann und hielt
meine Hand mit einem Griff, mit dem er einen
Stahlträger geknickt hätte. »Noch nicht.«
»In der Bude von 'nem Bullen«, sagte Alfred. Der
Revolver zielte auf meine Brust. Sein Finger legte
sich auf den Drücker. Ich beobachtete den Finger.
Ich wusste genau, bei welcher Stellung des Fingers
sich der Bolzen lösen würde. Es war schon fast egal.
Es passierte irgendwo anders in einem miesen Film.
Es passierte nicht mit mir.
Der Bolzen des Revolvers klackte ins Leere. Alfred
senkte die Waffe mit verärgertem Knurren, und sie
verschwand da, wo sie hergekommen war. Jetzt fing
er wieder an zu zucken. An seinen Hantierungen mit
dem Revolver war keinerlei Nervosität gewesen. Ich
hätte gern gewusst, was das für eine Droge war, von
der er entwöhnt war.
Der dicke Mann ließ meine Hand los, das joviale
Lächeln bedeckte noch immer das ganze, große,
gesunde Gesicht.
Er klopfte auf eine Tasche. »Ich habe das
Magazin«, sagte er. »Alfred spurt nicht mehr richtig
neuerdings. Das kleine Miststück hätte Sie vielleicht
erschossen.«

- 142 -
Alfred setzte sich in einen Sessel, kippte ihn gegen
die Wand und schnaufte durch den Mund.
Ich ließ meine Absätze wieder zu Boden.
»Er hat Sie sicher erschreckt«, sagte Joseph P.
Quaddel.
Ich schmeckte das Salz auf meiner Zunge.
»So ein harter Bursche sind Sie nicht«, sagte
Quaddel und stupste mir mit einem dicken Finger in
den Mägen.
Ich trat von dem Finger zurück und betrachtete
seine Augen.
»Was kostet es?« fragte er, beinahe gütig.
»Wir wollen in meinen Salon gehen«, sagte ich.
Ich drehte ihm den Rücken zu und machte mich
auf den Weg durch die Tür zum anderen Büro. Es
war Schwerarbeit, aber ich schaffte es. Ich schwitzte
durch und durch. Ich ging um den Schreibtisch
herum und stellte mich dahinter und wartete. Mr.
Quaddel folgte mir gemütlich. Der Süchtige kam
hinter ihm und zuckte.
»Sie haben nicht zufällig einen Comic hier, oder?«
fragte Quaddel. »Er bleibt dann artig.«
»Setzen Sie sich«, sagte ich. »Ich schaue mal
nach.«
Er griff nach der Sessellehne, ich riss eine
Schublade auf und legte meine Hand um den Griff
einer Luger. Ich ließ sie langsam hochkommen und

- 143 -
sah Alfred an. Alfred hatte nicht mal einen Blick für
mich übrig. Er studierte eine Ecke in der Decke und
passte auf, dass ihm der Mund nicht ins Auge
schwamm.
»Das ist alles, was ich habe an Comics«, sagte ich.
»Das werden Sie nicht brauchen«, sagte der dicke
Mann jovial.
»Um so besser«, sagte ich, wie jemand anders, der
aus der Ferne sprach, hinter der Mauer. Ich konnte
die Worte gerade noch hören. »Aber falls doch -
bitte sehr. Und die ist geladen. Soll ich's Ihnen
beweisen?«
Der dicke Mann sah so beunruhigt aus, wie er nur
konnte. »Tut mir leid, dass Sie es so auffassen«,
sagte er. »Ich bin so an Alfred gewöhnt, dass ich ihn
kaum mehr bemerke. Vielleicht haben Sie recht.
Vielleicht muss ich wirklich mal was mit ihm
machen.«
»Ganz recht«, sagte ich. »Machen Sie es heute
Nachmittag, bevor Sie hier hergekommen sind. Jetzt
ist es zu spät.«
»Nicht so schnell, Mr. Marlowe.« Er schob seine
Hand vor. Ich schlug mit der Luger drauf. Er war
schnell, aber nicht schnell genug. Ich machte mit
dem Visier des Revolvers einen Riss in seinen
Handrücken. Er packte die Hand und lutschte an
dem Riss. »Also bitte! Alfred ist mein Neffe. Kind

- 144 -
von meiner Schwester. Ich passe ein bisschen auf
ihn auf. Er würde keiner Fliege weh tun, bestimmt!«
»Das nächste Mal, wenn Sie herkommen, schenke
ich ihm eine Fliege, zum Nicht-Wehtun«, sagte ich.
»Nun seien Sie mal nicht so, Mann. Bitte, seien Sie
nicht so. Ich habe ein hübsches kleines Angebot…«
»Halt's Maul«, sagte ich. Ich setzte mich langsam
hin. Mein Gesicht brannte. Es fiel mir schwer,
überhaupt deutlich zu sprechen. Ich fühlte mich ein
bisschen besoffen. Ich sagte langsam und schwer:
»Ein Freund von mir hat mir mal von einem
Burschen erzählt, mit dem man so eine Tour
versucht hat. Er saß am Schreibtisch, wie ich jetzt.
Er hatte eine Kanone, genau wie ich jetzt. Auf der
anderen Seite vom Schreibtisch waren zwei Männer,
wie Sie und Alfred. Der Mann auf meiner Seite
wurde allmählich sehr sauer. Er konnte nichts
dagegen machen. Er fing an zu zittern. Er konnte
kein Wort reden. Er hatte bloß immer diese Kanone
in der Hand. Und so schoss er, wortlos, zweimal
unten durch den Schreibtisch, genau, wo Ihr Bauch
ist.«
Der dicke Mann zeigte eine blassgrüne Farbe und
wollte aufstehen. Aber dann überlegte er sich's
anders. Er zog ein gewaltsam aussehendes
Taschentuch aus seiner Tasche und betupfte sein
Gesicht. »Das haben Sie in einem Film gesehen«,
sagte er.

- 145 -
»Stimmt«, sagte ich. »Aber der Mann, der den
Film gemacht hat, hat mir erzählt, wo er die Idee her
hat. Und die war nicht aus einem Film.« Ich legte
die Luger vor mich auf den Schreibtisch und sagte
mit einer natürlicheren Stimme: »Man muss
vorsichtig sein mit Feuerwaffen, Mr. Quaddel. Man
kann nie wissen, was in einem Mann vorgeht, dem
man mit einer schweren Armeepistole im Gesicht
herumfuchtelt - vor allem, wenn er nicht weiß, dass
sie nicht geladen ist. Es hat mich einen Moment lang
nervös gemacht. Ich habe seit heute Mittag kein
Morphium mehr gefixt.«
Quaddel betrachtete mich sorgfältig mit schmalen
Augen. Der Rauschgifttyp stand auf, ging zu einem
anderen Stuhl, drehte ihn um, setzte sich drauf und
lehnte seinen fettigen Kopf gegen die Wand. Aber
seine Nase und seine Hände zuckten immer noch.
»Ich habe gehört, dass Sie ziemlich hartgesotten
sind«, sagte Quaddel langsam – seine Augen waren
kühl und wachsam.
»Da haben Sie was Falsches gehört. Ich bin sehr
sensibel. Bei jeder Kleinigkeit breche ich
zusammen.«
»Hmhm. Verstehe.« Er starrte mich lange wortlos
an. »Vielleicht haben wir es falsch angefangen.
Macht es Ihnen was aus, wenn ich meine Hand in
die Tasche stecke? Ich habe keine Waffe.«

- 146 -
»Nur zu«, sagte ich. »Sie würden mir die denkbar
größte Freude machen, wenn ich mit ansehen
könnte, wie Sie 'ne Kanone ziehen.«
Er runzelte die Stirn, holte dann sehr langsam eine
flache Geldtasche aus Schweinsleder heraus und
entnahm ihr einen knusperigen neuen Hundert-
dollarschein. Er legte ihn auf den Rand der
Glasplatte auf dem Tisch, holte dann einen weiteren
von der Sorte heraus, dann, einen nach dem anderen,
noch drei. Er legte sie penibel in eine Reihe auf den
Schreibtisch, einen an den anderen. Alfred ließ
seinen Stuhl wieder auf den Boden kippen und
starrte das Geld an; sein Mund bibberte.
»Fünf zweistellige«, sagte der Mann. Er legte seine
Tasche zusammen und steckte sie wieder weg. Ich
betrachtete jede Bewegung, die er machte. »Und das
alles bloß für ein Nasenschnäuzen. Stimmt's?«
Ich sah ihn nur an.
»Sie suchen niemand«, sagte der dicke Mann. »Sie
haben keinen finden können. Sie haben keine Zeit,
um für einen zu arbeiten. Sie hören nichts und Sie
sehen nichts. Alles klar. Fünf Klare mit zwei Nullen.
In Ordnung?«
Kein Ton war im Büro, nur Alfreds Nasen-
schnüffeln. Der dicke Mann wandte seinen Kopf.
»Ruhig, Alfred. Du kriegst eine Fixe, wenn wir
gehen«, sagte der dicke Mann zu ihm. »Benimm

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dich mal ein bisschen.« Er hielt seine Hand an den
Mund und saugte wieder an der Wunde.
»Mit Ihnen als Vorbild müsste das leicht sein«,
sagte ich.
»Arsch stecken«, sagte Alfred.
»Begrenzter Wortschatz«, sagte der Dicke. »Sehr
begrenzt. Wie steht's damit, Kamerad?« Er zeigte
auf das Geld. Ich fühlte ein bisschen an dem
Revolvergriff herum. Er lehnte sich etwas nach
vorne. »Mach's dir leicht, Mann. Ist ganz einfach.
Das ist ein Vorschuss. Sie brauchen nichts zu tun
dafür. Was Sie tun, ist nichts. Wenn Sie eine ordent-
liche Zeitlang gar nichts tun, kriegen Sie später noch
mal so viel. Ist doch einfach, oder?«
»Und für wen tue ich dieses Nichts?« fragte ich.
»Für mich. Joseph P. Quaddel.«
»Und was sind Sie?«
»Agent in Geschäften, könnten Sie sagen.«
»Was sind Sie sonst noch? Außer dem, was ich
selber erfinden kann?«
»Sie könnten sagen, ich bin ein Bursche, der einem
Burschen was Gutes tun will, der einem Burschen
keinen Ärger machen will.«
»Und wie könnte ich diesen liebenswerten
Menschen nennen?« fragte ich.
Joseph P. Quaddel sammelte die fünf Hundert-
dollarnoten zusammen, machte das Päckchen an den

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Kanten hübsch gerade und schob es über den
Schreibtisch. »Sie könnten sagen, es ist ein Bursche,
der lieber Geld ausspuckt als Blut vergießt«, sagte
er. »Aber er hat nichts gegen das Blutvergießen,
wenn es sein muss.«
»Wie gut kann er mit einem Eisdorn umgehen?«
fragte ich. »Dass er mit einem Revolver nicht
besonders ist, habe ich gesehen.«
Der dicke Mann kaute an seiner Unterlippe, dann
zog er daran mit einem stumpfen Zeigefinger und
Daumen und kaute von innen dran herum wie eine
Kuh ihr Futter. »Über Eisdorne reden wir nicht«,
sagte er nach einiger Zeit. »Worüber wir reden, ist,
wie Sie von dem glatten Pflaster runterkommen, wo
Sie sich sehr weh tun könnten. Wogegen, wenn Sie
überhaupt von jedem Pflaster wegbleiben, sind Sie
fein raus und Geld kommt rein.«
»Wer ist die Blondine?« fragte ich.
Er dachte drüber nach und nickte. »Vielleicht sind
Sie schon zu tief drin«, seufzte er. »Vielleicht ist's
schon zu spät, um ein Geschäft zu machen.«
Nach einem Augenblick beugte er sich vor und
sagte sanft: »Also gut. Ich frag noch mal nach bei
meinem Brötchengeber, wie weit ich gehen kann.
Vielleicht können wir noch immer ein Geschäft
machen. Das Angebot bleibt bestehen, bis Sie
wieder was von mir hören. Klar?«

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Ich war einverstanden. Ich nickte. Er stützte sich
mit den Händen auf den Schreibtisch und stand
langsam auf, wobei er das Schießeisen beobachtete,
das ich auf der Löschunterlage hin und her schob.
»Behalten Sie das Geld«, sagte er. »Los, Alfred.«
Er drehte sich um und ging mit festen Schritten aus
dem Büro.
Alfreds Augen verdrehten sich, sie folgten ihm;
dann machte er einen Satz zum Geld hin. Die große
Automatische erschien in seiner Hand, ebenso
wunderbar wie vorher. Pfeilschnell wie ein Aal war
er am Schreibtisch. Er hielt den Revolver auf mich
gerichtet und nahm das Geld mit der linken Hand.
Es verschwand in seiner Tasche. Er grinste mir zu,
ein glattes, sanftes, leeres Grinsen, nickte und
entfernte sich, wobei er anscheinend gar nicht
wahrgenommen hatte, dass ich ebenfalls einen
Revolver hielt.
»Komm endlich, Alfred«, rief der dicke Mann von
draußen. Alfred schlüpfte durch die Tür, und weg
war er.
Die äußere Tür öffnete sich und schloss sich.
Schritte gingen den Flur entlang. Dann Stille. Ich
saß da und dachte darüber nach und konnte mir nicht
darüber klar werden, ob es die reine Idiotie war, oder
eine neue Art, jemanden das Fürchten zu lehren.
Fünf Minuten später klingelte das Telefon.

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Eine fette, freundliche Stimme sagte: Ȇbrigens,
Mr. Marlowe, Sie kennen sicher Sherry Ballou, nicht
wahr?«
»Nee.«
»Sheridan Ballou, die Firma. Den großen Agenten.
Sollten Sie gelegentlich mal aufsuchen.«
Ich hielt das Telefon einen Moment, schweigend.
Dann sagte ich: »Ist er ihr Agent?«
»Vielleicht«, sagte Joseph P. Quaddel und
unterbrach sich kurz. »Sie wissen doch genau, daß
wir nur kleine Fische sind, Mr. Marlowe. Sonst
nichts. Nur ein paar ganz kleine Fische. Jemand
wollte ein bisschen was über Sie erfahren. Und so
schien es am leichtesten zu gehen. Aber anscheinend
ging es nicht.«
Ich antwortete nicht. Er legte auf. Fast im gleichen
Moment klingelte das Telefon wieder.
Eine verführerische Stimme sagte: »Sie mögen
mich wohl nicht, was, Amigo?«
»Doch. Aber bohren Sie nicht dauernd.«
»Ich bin zu Hause im Chateau Bercy. Ich bin
einsam.«
»Rufen Sie einen Hostessendienst an.«
»Ach bitte. So redet man doch nicht. Es geht um
was Wichtiges.«
»Glaub ich gern. Aber nicht wichtig für mich.«

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»Diese Schlampe - was sagt sie über mich?«
zischte sie.
»Nichts. Vielleicht hat sie Sie eine Tijuana-
Schnepfe in Reithosen genannt. Stört es Sie?«
Das belustigte sie. Das Silberkichern hielt eine
Weile an. »Sie immer mit Ihren Sprüchen. Stimmt
doch, ja? Aber wissen Sie, vorher habe ich nicht
gewusst, dass Sie ein Detektiv sind. Dadurch wird
alles anders.«
Ich hätte ihr sagen können, dass es nichts änderte.
Ich sagte: »Miss Gonzales, Sie haben von etwas
Wichtigem gesprochen. Worum geht's denn da?
Wenn es kein Trick ist.«
»Wollen Sie einen großen Haufen Geld verdienen?
Einen Riesenhaufen Geld?«
»Meinen Sie jetzt - ohne erschossen zu werden?«
Durch den Draht hörte man ihren angehaltenen
Atem. »Si«, sagte sie nachdenklich. »Das muss man
auch überlegen. Aber Sie sind so mutig, so groß,
so …«
»Ich bin um neun Uhr morgens in meinem Büro,
Miss Gonzales. Ich bin dann wesentlich mutiger.
Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …«
»Haben Sie ein Rendezvous? Ist sie hübsch?
Hübscher als ich?«
»Zum Donnerwetter«, sagte ich. »Denken Sie nie
an was anderes als das?«

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»Geh zum Teufel, mein Schatz«, sagte sie und
hängte einfach ab.
Ich knipste die Lichter aus und ging. Etwas weiter
vorn im Flur stieß ich auf einen Mann, der auf die
Nummern an den Türen blickte. Er hatte einen
Eilbrief in der Hand. Ich musste also ins Büro
zurückgehen und den Brief ins Safe schließen. Das
Telefon klingelte wieder, während ich das machte.
Ich ließ es klingeln. Mir reichte es für einen Tag.
Es war mir einfach egal. Meinetwegen hätte es die
Königin von Saba sein können, in ihrem Cellophan-
pyjama oder ohne ihn - ich war zu müde. Mein Kopf
fühlte sich an wie ein Eimer voll nassem Sand.
Es klingelte immer noch, als ich an der Tür war.
Nichts zu machen. Ich musste zurück. Instinkt war
stärker als Müdigkeit. Ich nahm den Hörer auf.
Orfamay Quests Zwitscherstimme .sagte: »Oh, Mr.
Marlowe, so lange versuche ich schon, Sie zu
erreichen. Ich bin so aufgeregt. Ich bin …«
»Morgen früh«, sagte ich. »Bürozeit zu Ende.«
»Bitte, Mr. Marlowe … nehmen Sie's mir doch
nicht übel, daß ich mich habe gehen …«
»Morgen früh.«
»Aber ich muss Sie unbedingt sprechen.« Ihre
Stimme blieb nicht mehr ganz auf Zimmerlautstärke.
»Es ist furchtbar wichtig.«
»Jaja.«

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Sie schniefte. »Sie - Sie haben mich geküsst.«
»Inzwischen habe ich netter geküsst«, sagte ich.
Zum Teufel mit ihr. Zum Teufel mit allen Weibern.
»Ich habe was von Orrin gehört«, sagte sie.
Einen Moment lang war ich verblüfft, dann lachte
ich. »Sie sind eine süße kleine Lügnerin«, sagte ich.
»Wiedersehen.«
»Aber es stimmt wirklich. Er hat mich angerufen.
Mit dem Telefon. Direkt hier, wo ich wohne.«
»Gut«, sagte ich. »Dann brauchen Sie gar keinen
Detektiv. Und wenn doch, dann haben Sie einen
besseren in Ihrer eigenen Familie. Ich habe noch
nicht mal rausgebracht, wo Sie wohnen.«
Darauf eine kurze Pause. Jedenfalls, sie brachte
mich dazu, mit ihr zu reden. Sie schaffte es, dass ich
nicht auflegte. Das musste man ihr lassen.
»Ich hatte ihm geschrieben, wo ich wohnen
wollte«, sagte sie schließlich.
»Hmhm. Nur hat er den Brief nicht bekommen,
weil er weggezogen ist und keine neue Adresse
hinterlassen hat. Wissen Sie noch? Versuchen Sie's
noch mal, wenn ich nicht so müde bin. Gute Nacht,
Miss Quest. Und Sie brauchen mir nicht zu sagen,
wo Sie jetzt sind. Ich arbeite nicht für Sie.«
»In Ordnung, Mr. Marlowe. Ich bin jetzt soweit
und rufe die Polizei. Aber ich tue es nicht gern, ich
tue es gar nicht gern.«

- 154 -
»Warum nicht?«
»Weil es um Mord geht, Mr. Marlowe. Und Mord
ist ein sehr hässliches Wort – finden Sie nicht?«
»Kommen Sie schon her«, sagte ich. »Ich warte.«
Ich legte auf. Ich holte die Flasche mit dem Old
Forester raus. Ich würde nicht sagen, daß es mit
Gemütsruhe war, als ich mir einen Drink eingoß und
ihn durch die Gurgel schüttete.

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15

Diesmal kam sie forsch herein. Ihre Bewegungen


waren kurz, rasch und entschlossen. Auf ihrem
Gesicht war so ein kleines, dünnes, helles Lächeln.
Sie legte ruhig ihre Tasche ab, nahm Platz im
Kundensessel und lächelte weiter.
»Nett von Ihnen, dass Sie gewartet haben«, sagte
sie. »Sie haben sicher noch nicht mal was
gegessen.«
»Falsch«, sagte ich. »Ich hab mein Essen gehabt.
Ich trinke jetzt Whisky. Sie schätzen es nicht, wenn
man Whisky trinkt, oder?«
»Absolut nicht.«
»Das ist prima«, sagte ich. »Ich hatte gehofft, dass
Sie dabei bleiben.« Ich stellte die Flasche auf den
Tisch und goss mir noch einen ein. Ich trank ein
bisschen davon und warf ihr, über das Glas weg,
einen schmierigen Blick zu.
»Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie bald
nicht mehr verstehen können, was ich Ihnen sage«,
sagte sie böse.
»Was den Mord betrifft«, sagte ich. »Jemand, den
ich kenne? Wie ich sehe, sind Sie nicht ermordet -
noch nicht.«
»Bitte, nicht so grässlich, wenn es sich vermeiden
lässt. Ich kann nichts dafür. Am Telefon haben Sie

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mir nicht glauben wollen, also musste ich Sie
irgendwie überzeugen. Orrin hat mich wirklich
angerufen. Aber er wollte nicht sagen, wo er war
und was er machte. Ich weiß nicht warum.«
»Er wollte, dass Sie das selber rauskriegen«, sagte
ich. »Er will Ihren Charakter bilden.«
»Das ist nicht komisch. Es ist noch nicht mal
schlau.«
»Aber frech ist es, das müssen Sie zugeben«, sagte
ich. »Wer ist denn ermordet worden? Oder ist das
auch ein Geheimnis?«
Sie fummelte ein bisschen mit ihrer Tasche herum,
nicht genug, um über ihre Verlegenheit hinweg-
zukommen, denn sie war nicht verlegen. Aber
genug, um mich so zu reizen, dass ich mir noch
einen Drink genehmigte.
»Dieser schreckliche Mann in der Pension da ist
ermordet worden. Mr. - Mr. - ich habe den Namen
vergessen.«
»Wir wollen ihn beide vergessen«, sagte ich.
»Wenigstens einmal wollen wir was zusammen
tun.« Ich steckte die Whiskyflasche in die
Schreibtischschublade und stand auf. »Hören Sie
mal, Orfamay, ich frage Sie gar nicht, woher Sie das
alles wissen. Oder besser, woher Orrin das alles
weiß. Wenn er's wirklich weiß. Sie haben ihn also
gefunden. Das war ja das, was ich für Sie tun sollte.

- 157 -
Oder er hat Sie gefunden, was auf dasselbe
hinausläuft.«
»Es ist nicht dasselbe«, weinte sie. »Ich habe ihn
gar nicht richtig gefunden. Er wollte mir nicht sagen,
wo er wohnt.«
»Na ja, wenn es so ist wie die vorige Wohnung,
kann ich das verstehen.«
Sie presste ihre Lippen zusammen - ein schmaler
Strich des Abscheus. »Er wollte mir überhaupt
nichts sagen.«
»Nur etwas über Morde«, sagte ich. »Über so
Kleinigkeiten.«
Sie lachte sprudelnd. »Das hab ich doch nur gesagt,
um Ihnen Angst zu machen. Ich weiß ja gar nichts
von einem Mord, Mr. Marlowe. Sie haben so kalt
und weit weg geklungen. Ich dachte, Sie würden mir
nicht mehr helfen wollen. Und - na ja, ich hab es
einfach erfunden.«
Ich atmete ein paar Mal tief und betrachtete meine
Hände. Ich machte langsam meine Finger grade. Ich
stand auf. Ich sagte kein Wort.
»Sind Sie böse auf mich?« fragte sie schüchtern
und machte mit einer Fingerspitze einen kleinen
Kreis auf dem Schreibtisch.
»Ich müsste Ihnen eine runterhauen«, sagte ich.
»Und spielen Sie nicht dauernd die Unschuldige.
Sonst haue ich vielleicht woanders drauf.«

- 158 -
Mit einem Ruck hielt sie den Atem an. »Was fällt
Ihnen ein!«
»Das haben Sie schon gesagt«, sagte ich. »Sie
haben es schon zu oft gesagt. Halten Sie Ihren Mund
und machen Sie, dass Sie rauskommen. Denken Sie,
es macht mir Spaß, wenn man mich zu Tode
erschreckt? Ach so - hier.« Ich riss die Schublade
auf, nahm die zwanzig Dollar raus und schmiss sie
vor sie hin. »Nehmen Sie bloß dieses Geld weg.
Stiften Sie's für ein Krankenhaus oder ein
Forschungsinstitut. Es macht mich ganz nervös, hier
bei mir.«
Ihre Hand griff automatisch nach dem Geld. Ihre
Augen hinter den Gläsern waren rund und erstaunt.
»Mein Gott«, sagte sie und raffte ihre Tasche
zusammen, mit einer hübschen, vornehmen Geste.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass man Sie so leicht
erschrecken kann. Ich dachte, Sie sind hart und
abgebrüht.«
»Ich tue nur so«, brummte ich und umkreiste den
Schreibtisch. Sie lehnte sich zurück in ihrem Sessel,
von mir weg. »Das bin ich nur, wenn so kleine
Mädchen wie Sie da sind, die ihre Fingernägel nicht
wachsen lassen. Innen bin ich nur Mus.« Ich griff
mir einen ihrer Arme und zog sie hoch. Ihr Kopf bog
sich zurück. Ihre Lippen öffneten sich. An diesem
Tag war ich ein Mordskerl mit den Frauen.

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»Aber du suchst mir Orrin, nicht wahr?« flüsterte
sie. »Es war alles gelogen. Alles, was ich dir gesagt
habe, war gelogen. Er hat mich gar nicht angerufen.
Ich - ich weiß gar nichts.«
»Parfüm.« Ich schnüffelte. »Aber, aber, kleines
Schätzchen. Sie hat ja Parfüm hinter die Ohren getan
- und das alles für mich!«
Ihr kleines Kinn nickte, einen Zentimeter auf und
ab. Ihre Augen schmolzen. »Nimm mir die Brille ab,
Philip«, flüsterte sie. »Es macht mir gar nichts aus,
wenn du mal ein bisschen Whisky trinkst. Wirklich
nicht.«
Unsere Gesichter waren zirka zehn Zentimeter
auseinander. Ich traute mich nicht, ihr die Brille
abzunehmen. Vielleicht hätte ich ihr auf die Nase
gehauen.
»Ja«, sagte ich, mit einer Stimme wie von Orson
Welles, der den Mund voller Kekse hat. »Ich suche
ihn dir, Liebling, wenn er noch lebt. Und gratis.
Keine zehn Cents Auslagen dabei. Nur etwas will
ich dafür wissen.«
»Was, Philip?« fragte sie weich und öffnete ihre
Lippen noch ein bisschen weiter.
»Wer war das schwarze Schaf in eurer Familie?«
Sie zuckte von mir weg, wie ein erschrecktes Reh
es gemacht hätte, wenn ich ein Reh erschreckt hätte

- 160 -
und es weggezuckt wäre. Sie starrte mich an mit
steinernem Gesicht.
»Sie haben gesagt, Orrin war nicht das schwarze
Schaf in der Familie. Wissen Sie noch? Mit einer
besonderen Betonung. Und als Sie Ihre Schwester
Leila erwähnten, da sind Sie schnell drüber wegge-
gangen, als ob es ein geschmackloses Thema wäre.«
»Ich … ich erinnere mich nicht, dass ich so was
gesagt habe«, sagte sie sehr langsam.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte ich. »Was für
einen Namen benutzt Ihre Schwester beim Film?«
»Film?« sie klang undeutlich. »Oh, Sie meinen
Kinofilm. Aber ich habe doch nie gesagt, dass sie
beim Film ist. Ich habe nie so was über sie gesagt.«
Ich schenkte ihr mein allerschönstes, gemütliches,
schiefes Grinsen. Plötzlich wurde sie wütend.
»Kehren Sie vor Ihrer eigenen Tür mit meiner
Schwester Leila«, fuhr sie mich an. »Lassen Sie
meine Schwester Leila aus Ihren schmutzigen
Reden.«
»Was für schmutzige Reden?« fragte ich. »Soll ich
raten?«
»Alles, was Sie denken, ist Schnaps und Frauen«,
kreischte sie. »Ich hasse Sie!« Sie rannte zur Tür, riß
sie auf und war draußen. Durch den Gang lief sie im
Galopp.

- 161 -
Ich ging wieder um meinen Schreibtisch herum
und ließ mich in den Sessel fallen. Ein ziemlich
komisches Mädchen. Wirklich ziemlich komisch.
Etwas später fing das Telefon wieder an zu klingeln,
es ging wohl nicht anders. Nach dem vierten
Klingeln legte ich den Kopf in die Hand, angelte
nach dem Hörer, holte ihn mir ans Gesicht.
»Bestattungsunternehmen McKinley der Letzte«,
sagte ich.
Eine weibliche Stimme rief »Waas?« und brach in.
brüllendes Gelächter aus. 1921, in der Polizei-
kantine, war das schon ein großer Lacherfolg. Was
für ein Witzbold. Wie der Schnabel von einem
Kolibri. Ich machte die Lampen aus und ging heim.

- 162 -
16

Um acht Uhr fünfundvierzig am nächsten Morgen


konnte man mich ein paar Häuser vor dem
Fotogeschäft von Bay City sehen, wo ich parkte -
befrühstückt, friedlich, in der Hand die Lokal-
zeitung, die ich durch eine Sonnenbrille las. Ich
hatte schon die Zeitung von Los Angeles
durchgeackert, in der nichts über Eisdorne im Van
Nuys Hotel oder sonst einem Hotel stand. Nicht mal
›Geheimnisvoller Tod in einem City Hotel‹, ohne
Angabe von Namen oder der Art der Waffe. Die
›Bay City News‹ waren sich nicht zu gut, um über
einen Mord zu berichten. Sie setzten ihn gleich auf
die Frontseite, direkt neben die Fleischpreise.

Einheimischer in Pension in der Idaho Street


erstochen aufgefunden

»Durch einen anonymen Telefonanruf wurde die


Polizei gestern zu einer Adresse in der Idaho Street
geschickt, gegenüber dem Holzlager der Firma
Seamans & Jansing. Als sie durch die unver-
schlossene Wohnungstür traten, entdeckten Beamte
den Verwalter des Hauses, Lester B. Clausen, 45, tot
auf der Couch in seiner Wohnung. Clausen war mit
einem Eisdorn in den Hals gestochen worden, die
Waffe befand sich noch im Körper. Nach einer

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vorläufigen Untersuchung gab Richter Frank L.
Crowdy bekannt, dass Clausen stark getrunken hatte
und zur Todeszeit möglicherweise nicht bei
Bewusstsein war. Die Polizei fand keine Anzeichen
eines Kampfes.
Polizeileutnant Moses Maglashan übernahm sofort
den Fall und befragte die Bewohner des Logier-
hauses, als sie von ihrer Arbeit zurückkehrten, aber
die Umstände des Verbrechens blieben bisher im
Dunkeln. Auf die Fragen von Reportern erklärte
Richter Crowdy, dass Clausen möglicherweise
Selbstmord begangen haben könnte, dass jedoch die
Lage der Wunde dies unwahrscheinlich mache. Bei
der Überprüfung des Meldebuchs ergab es sich, dass
eine Seite kürzlich herausgerissen worden war.
Leutnant Maglashan erklärte nach eingehender
Befragung der Bewohner, dass ein gedrungener
Mann mittleren Alters, mit braunem Haar und
ausgeprägten Gesichtszügen, mehrere Male in der
Eingangshalle des Logierhauses gesehen worden ist,
dass jedoch keiner der Mieter seinen Namen oder
seine Beschäftigung kannte. Nachdem alle Zimmer
sorgfältig untersucht worden waren, ergab sich nach
Meinung von Maglashan, dass einer der Bewohner
vor kurzem mit ziemlicher Eile ausgezogen war.
Aber durch die Verstümmelung des Meldebuchs,
dem besonderen Charakter der Gegend und das
Fehlen einer genauen Personenbeschreibung des

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Vermissten werde seine Auffindung außerordentlich
schwierig.
›Ich habe keine Ahnung, warum Clausen ermordet
wurde‹, erklärte Maglashan gestern Abend zu später
Stunde. ›Aber ich hatte den Mann schon einige Zeit
unter Beobachtung. Viele Personen aus seiner
Umgebung sind mir bekannt. Es ist ein schwieriger
Fall, aber wir werden ihn lösen.«

Es war ein hübsches Stück Prosa, und Maglashans


Name wurde nur Zwölfmal im Text erwähnt und
dann noch zweimal in Bildunterschriften. Auf Seite
drei war ein Foto von ihm, wie er einen Eisdorn hielt
und ihn ansah, wobei tiefe Gedanken seine Stirne
furchten. Es gab ein Foto von der Idaho Street 449,
mehr als lebensecht, und ein Foto von etwas mit
einem Laken drüber, daneben Maglashan, der finster
darauf deutete. Außerdem war eine Nahaufnahme
vom Bürgermeister darin, der sehr bedeutend aussah
hinter seinem amtlichen Schreibtisch, sowie ein
Interview mit ihm über die Frage der Verbrechens-
entwicklung nach dem Kriege. Er sagte genau das,
was man von einem Bürgermeister erwartet - ein
Schuß J. Edgar Hoover, leicht verdünnt, und mit
einigen besonders bösen Grammatikfehlern gewürzt.
Um drei Minuten vor neun öffnete sich die Tür des
Fotoladens, und ein älterer Neger machte sich daran,
den Schmutz vom Trottoir in den Rinnstein zu

- 165 -
kehren. Um neun Uhr machte ein junger Bursche,
mit Brille, von ordentlichem Aussehen, die Tür auf
und pflockte sie ein; da ging ich rein mit dem
schwarz-orangen Abschnitt, den Dr. G. W.
Hambleton an die Innenseite seiner Perücke geklebt
hatte.
Der junge Mann von ordentlichem Aussehen prüfte
mich mit einem kurzen Blick, als ich den Abschnitt
und etwas Geld gegen ein halbes Dutzend glänzende
Abzüge eintauschte - achtfache Vergrößerungen des
Negativs. Er sagte nichts, aber so wie er mich ansah,
schien er sich zu erinnern, dass ich nicht der Mann
war, der das Negativ gebracht hatte.
Ich ging hinaus, setzte mich in den Wagen und
betrachtete den Fang. Auf den Bildern waren ein
Mann und ein blondes Mädchen zu sehen, die in
einer vollbesetzten Kabine eines Restaurants saßen
und was zu essen vor sich hatten. Sie blickten auf,
als seien sie plötzlich aufmerksam geworden und
hätten kaum noch reagieren können, bevor die
Kamera klickte. An der Beleuchtung war zu sehen,
dass kein Blitzlicht benutzt worden war.
Das Mädchen war Mavis Weld. Der Mann war
ziemlich klein, ziemlich dunkel, ziemlich ausdrucks-
los. Ich erkannte ihn nicht. Kein Grund, warum ich
ihn hätte erkennen sollen. Das Lederpolster hatte ein
Muster mit kleinen tanzenden Paaren. Es war also
das Lokal ›The Dancers‹. Dadurch wurde es noch

- 166 -
weniger klar. Ein Fotoamateur auf Jagd, der ohne
Genehmigung des Geschäftsführers Schnappschüsse
versuchte, würde da so schnell rausfliegen, dass er
bis nach Hollywood und Vinestreet rollte. Ich dachte
mir, es muss wohl mit einer versteckten Kamera
gemacht worden sein, so wie sie Ruth Snyder im
elektrischen Stuhl geknipst haben. Er musste die
kleine Kamera an einem Riemen unter dem Kragen
gehabt haben, die Linse guckte aus der offenen
Jacke, und er hatte sich vielleicht einen Auslöser
gebastelt, den er aus der Tasche betätigen konnte. Es
war nicht besonders schwer zu erraten, wer das Bild
geknipst hatte. Mr. Orrin P. Quest musste sich rasch
und geschmeidig bewegt haben, dass er so
herauskam und das Gesicht noch vorn am Kopf
hatte.
Ich steckte die Bilder in die Westentasche, dabei
berührte ich mit den Fingern einen zerknitterten
Zettel. Ich holte ihn raus und las: »Doktor Vincent
Lagardie, Wyoming Street 965, Bay City.«
Das war der ›Vince‹, mit dem ich telefoniert hatte
und den Lester B. Clausen vielleicht versucht hatte
zu erreichen.
Ein älterer Polyp schlenderte an einer Zeile von
geparkten Wagen entlang und markierte die Reifen
mit gelber Kreide. Er sagte mir, wo die Wyoming
Street war. Ich fuhr hin. Es war eine ost-westliche
Straße, ein gutes Stück außerhalb des Geschäfts-

- 167 -
zentrums; sie lief parallel zu zwei nummerierten
Straßen. Die Nummer 965, ein grauweißes Holz-
haus, lag an einer Ecke. An der Tür ein Messing-
schild mit der Inschrift ›Vincent Lagardie, Dr. med.,
Sprechstunden 10.00-12.00 und 2.30-4.00‹.
Das Haus sah ruhig und anständig aus. Eine Frau
mit einem widerspenstigen kleinen Jungen stieg die
Treppe hinauf. Sie las das Schild, sah auf eine Uhr,
die an ihrem Revers angesteckt war und kaute
unentschlossen auf ihrer Lippe. Der kleine Junge sah
sich vorsichtig um und trat sie dann an den Knöchel.
Sie fuhr zusammen, aber ihre Stimme war geduldig.
»Aber Johnny, das macht man doch nicht mit Tante
Fern«, sagte sie milde.
Sie öffnete die Tür und zerrte den kleinen Affen
hinter sich hinein. Schräg gegenüber, an der
Kreuzung, lag ein großes, altväterliches Haus mit
einem bedeckten Säulenvorbau, der für das Haus
viel zu klein war. Im Rasen davor waren Schein-
werfer eingesteckt. Zu beiden Seiten des Zugang-
wegs standen Rosenbüsche in Blüte. Auf einem
großen Schild über dem Vorbau stand ›Garland,
Haus des ewigen Friedens‹. Ich überlegte mir, wie es
Dr. Lagardie gefiel, wenn er aus seinem Fenster auf
das Bestattungsinstitut blickte. Vielleicht bewog es
ihn zur Vorsicht.
Ich kehrte an der Kreuzung um und fuhr zurück
nach Los Angeles; ich ging in mein Büro, um nach

- 168 -
der Post zu sehen und um meine Beute aus dem Bay
City-Fotoladen in den stark lädierten grünen Tresor
zu schließen — mit Ausnahme eines Abzuges. Ich
setzte mich an meinen Schreibtisch und betrachtete
den Abzug durch ein Vergrößerungsglas. Auf dem
Tisch, vor dem dunklen, dünnen, ausdruckslosen
Mann, der neben Mavis Weld saß, lag eine Zeitung,
die ›News Chronicle‹. Ich konnte gerade noch die
Schlagzeile lesen.

Halbschwergewichtsboxer erliegt Kampfverletzung.

Nur eine Mittags-Sportausgabe, oder eine spät am


Abend konnte so eine Schlagzeile drucken. Ich zog
das Telefon zu mir her. Gerade, als ich meine Hand
darauf legte, klingelte es.
»Marlowe? Hier spricht Christy French, aus der
Stadt. Gibt's was Neues?«
»Nichts, wenn Ihr Fernschreiber geht. Ich habe
eine Zeitung aus Bay City gelesen.«
»Ham wir auch«, sagte er gemütlich. »Hört sich an
wie derselbe Kerl, was? Die gleiche Situation,
gleiche Einzelheiten, die gleiche Mordwaffe, und die
Zeiten passen zusammen. Ich hoffe zu Gott, es
bedeutet nicht, dass Sunny Moe Steins Firma wieder
im Geschäft ist.«

- 169 -
»Wenn es die sind, dann haben sie eine andere
Technik«, sagte ich. »Gestern Abend habe ich es
noch mal nachgelesen. Steins Leute haben immer
viele Löcher in ihre Opfer gestochen. Eines hatte
über hundert Stichwunden.«
»Sie könnten ja was dazulernen«, sagte French, ein
bisschen ausweichend, als ob er nicht gerne darüber
redete. »Weswegen ich Sie anrufe, ist Flack. Haben
Sie seit gestern Nachmittag was von ihm gesehen?«
»Nein.«
»Er ist verduftet. Kam nicht zur Arbeit. Das Hotel
hat bei der Wirtin angerufen. Er hat gestern Nacht
gepackt und fuhr weg. Wohin ist nicht bekannt.«
»Ich habe ihn nicht gesehen und nichts von ihm
gehört«, sagte ich.
»Kam es Ihnen nicht ein bisschen komisch vor,
dass unsere Leiche nur vierzehn Dollar im Sack
hatte?«
»Ein bisschen schon. Sie haben es schon gesagt.«
»Ich rede ins unreine. Da stimmt was nicht. Flack
hat Angst, oder er ist zu Geld gekommen. Entweder
hat er was gesehen und bekam Geld, um zu
verschwinden, oder er hat den Kunden ausge-
nommen und vierzehn Dollar drin gelassen, damit es
besser aussah.«

- 170 -
Ich sagte: »Könnte beides stimmen. Oder beides
zugleich. Wer das Zimmer so gründlich durchsucht
hat, hat nicht nach Geld gesucht.«
»Wieso nicht?«
»Als dieser Dr. Hambleton mich anrief, habe ich
ihm das Hotel-Safe empfohlen. Das interessierte ihn
nicht.«
»So ein Typ würde sowieso nicht gerade Sie
angestellt haben, um sein Geld festzuhalten«, sagte
French. »Er würde überhaupt nichts bei Ihnen
aufbewahren lassen. Er wollte Schutz oder er wollte
einen Komplizen – oder vielleicht nur einen Boten.«
»Bedaure«, sagte ich. »Er hat mir genau das
gesagt, was ich Ihnen gesagt habe.«
»Und als Sie sahen, dass er tot war, als Sie
hinkamen«, sagte French mit etwas zu großer
Lässigkeit, »konnten Sie ihm ja wohl keine von
Ihren Geschäftskarten überreicht haben.«
Ich hielt das Telefon sehr stramm und dachte
schnell noch einmal zurück an mein Gespräch mit
Hicks im Logierhaus in der Idaho Street. Ich sah,
wie er meine Karte zwischen seinen Fingern hielt
und auf sie herunterblickte. Und dann sah ich, wie
ich sie schnell aus seiner Hand zog, bevor er sie
festhalten konnte. Ich atmete tief ein und ließ den
Atem langsam wieder raus.

- 171 -
»Kaum«, sagte ich. »Und hören Sie auf, mich zu
Tode zu erschrecken.«
»Er hatte aber eine, Freundchen. Sie war zweimal
geknickt in der Uhrentasche in der Hose. Beim
ersten Mal haben wir sie nicht gefunden.«
»Ich habe Flack eine Karte gegeben«, sagte ich mit
verkniffenen Lippen.
Es herrschte Stille. Ich konnte im Hintergrund
Stimmen hören und das Klacken einer Schreib-
maschine. Schließlich sagte French trocken: »Na
schön. Wir sehen uns später.« Er legte abrupt auf.
Ich legte den Hörer sehr langsam in die Gabel und
bewegte meine verkrampften Finger. Ich starrte auf
das Foto, das vor mir auf dem Schreibtisch lag. Ich
ersah aus ihm nur, dass zwei Leute, von denen ich
den einen kannte, im Lokal ›The Dancers‹ aßen. Die
Zeitung auf dem Tisch gab das Datum an oder
machte es feststellbar.
Ich wählte den ›News Chronicle‹ und fragte nach
der Sportredaktion. Vier Minuten später schrieb ich
auf einen Block: Ritchie Belleau, ein populärer
Halbschwergewichtsboxer, starb im ›Sisters
Hospital‹ am 19. Februar kurz vor Mitternacht an
den Folgen von Verletzungen, die er am Abend
zuvor in einem Hauptkampf im Hollywood Legion
Stadium erlitten hatte. Die Mittags-Sportausgabe des
›News Chronicle‹ vom 20. Februar hatte die
Schlagzeile.

- 172 -
Ich wählte noch einmal dieselbe Nummer und
fragte nach Kenny Haste in der Lokalredaktion. Er
war früher Kriminalreporter gewesen, und ich
kannte ihn seit Jahren. Wir schwatzten eine Minute
über alles Mögliche, dann sagte ich:
»Wer hat denn bei euch über den Mord an Sunny
Moe Stein geschrieben?«
»Tod Barrow. Er ist jetzt beim ›Post Despatch‹.
Warum?«
»Ich hätte gerne die Details, wenn es welche gab.«
Er sagte, er würde jemand zum Leichenhaus
schicken, die Akte holen lassen und mich
zurückrufen; zehn Minuten später rief er zurück. »Er
war in seinem Auto, zwei Straßen vor dem Chateau
Bercy an der Franklin Avenue: er wurde zweimal in
den Kopf geschossen. Die Zeit: etwa 11 Uhr 15
nachts.«
»Und das Datum: 20. Februar«, sagte ich. »Oder
war's das wirklich?«
»Jawohl, stimmt. Keine Zeugen, keine
Verhaftungen, außer die übliche Stammbesetzung
von Buchmachern, früheren Box-Agenten und
anderen berufsmäßigen Verdächtigen. Was steckt
denn dahinter?«
»Sollte nicht ein alter Kumpel von ihm ungefähr zu
dieser Zeit in der Stadt sein?«
»Hier steht nichts darüber. Name?«

- 173 -
»Weepy Moyer. Ein Freund bei den Polypen sagte
irgendwas von einem Geldmann aus Hollywood, den
man auf Verdacht eingesperrt und später wegen
Mangels an Beweisen freigelassen hätte.«
Kenny sagte: »Warte mal. Langsam erinnere ich
mich wieder -, ja! Ein Kerl namens Steelgrave,
Besitzer von ›The Dancers‹, soll ein Spieler sein und
so weiter. Netter Bursche, ich habe ihn kennen
gelernt. Er war eine Niete.«
»Was willst du damit sagen, eine Niete?«
»Irgendein Schlaumeier hat es den Polypen
gesteckt, der wäre Weepy Moyer, und sie hielten ihn
zehn Tage in Haft wegen eines ungeklärten Falles in
Cleveland. In Cleveland wussten sie nichts. Er hatte
nichts mit dem Mord an Stein zu tun. Die ganze
Woche war Steelgrave hinter Schloß und Riegel.
Keinerlei Kontakte. Der Freund der Polizei hatte
einen Groschenkrimi gelesen.«
»Das tun sie alle«, sagte ich. »Daher ihre kesse
Lippe. Vielen Dank, Kenny.«
Wir verabschiedeten uns und legten auf; ich lehnte
mich in meinen Sessel und betrachtete mein Foto.
Nach einer Weile nahm ich eine Schere und schnitt
das Stück heraus, auf dem die zusammengefaltete
Zeitung mit der Schlagzeile zu sehen war. Ich schob
die beiden Stücke je in einen Umschlag und steckte
sie zusammen mit dem Blatt aus dem Block in
meine Tasche.

- 174 -
Ich wählte die Nummer von Mavis Weld an der
Crestview Avenue. Nach längerem Klingeln
antwortete eine Frauenstimme. Es war eine
zurückhaltende und förmliche Stimme, die ich,
vielleicht schon mal gehört hatte oder auch nicht. Sie
sagte nur: »Hallo?«
»Hier spricht Philip Marlowe. Ist Miss Weld da?«
»Miss Weld wird nicht vor dem späten Abend
zurück sein. Möchten Sie etwas ausrichten lassen?«
»Sehr wichtig. Wo kann ich sie erreichen?«
»Tut mir leid. Ich bin nicht informiert.«
»Kann ihr Agent es wissen?«
»Möglich.«
»Wissen Sie bestimmt, daß Sie nicht Miss Weld
sind?«
»Miss Weld ist nicht da.« Sie legte auf.
Da saß ich nun und lauschte der Stimme. Zuerst
dachte ich ja, dann dachte ich nein. Je mehr ich
dachte, desto weniger wußte ich's. Ich ging runter
zum Parkplatz und holte den Wagen raus.

- 175 -
17

Auf der Terrasse von ›The Dancers‹ fingen die


Frühaufsteher allmählich an, zu Mittag zu trinken.
Vor dem verglasten Raum im Oberstock hatte man
die Markise herausgedreht. Ich fuhr um die Kurve,
die dann zum Sunset Boulevard hinunterführt, und
hielt gegenüber vor einem viereckigen, zwei-
stöckigen Gebäude aus rosa Backsteinen an, das
kleine weiße Bleiglasfenster in einem Erker hatte,
einen griechischen Giebel über der Eingangstür und
etwas, das von der anderen Straßenseite wie ein
antiker zinnener Türklopfer aussah. Über der Tür
waren ein gefächertes Rundfenster und der Name
Sheridan Ballou & Co. in strengen schwarzen
Holzbuchstaben angebracht. Ich schloss meinen
Wagen ab und ging zur Eingangstür hinüber. Sie war
weiß und hoch und breit, und das Schlüsselloch war
groß genug, dass eine Maus durchschlüpfen konnte.
Innen im Schlüsselloch war das eigentliche Schloss.
Ich probierte den Türklopfer, aber auch daran hatte
man gedacht. Es war alles aus einem Stück und nicht
zum Klopfen.
Also tätschelte ich eine der schlanken, gekehlten
weißen Säulen, öffnete die Tür und spazierte direkt
in den Empfangsraum, der die ganze Vorderseite des
Gebäudes ausfüllte. Er war mit dunklen, antik
aussehenden Möbeln und vielen Sesseln und

- 176 -
Polsterbänken aus einem gesteppten, chintzartigen
Zeug ausgestattet. An den Fenstern waren Spitzen-
vorhänge und Chintzeinfassungen darum herum, die
zu dem Chintz des ganzen Mobiliars passten. Ein
geblümter Teppich war da und viele Leute, die Mr.
Sheridan Ballou besuchen wollten.
Einige davon waren gut aufgelegt und voller
Hoffnung. Einige sahen aus, als seien sie schon seit
Tagen dort. Ein kleines Mädchen in der Ecke
schniefte in ihr Taschentuch. Niemand beachtete sie.
Man zeigte mir verschiedene Profile von der besten
Seite, bis die Anwesenden festgestellt hatten, dass
ich niemanden kaufen wollte und dort nicht
beschäftigt war.
Eine Rothaarige, die gefährlich aussah, saß lässig
an einem schicken Adam-Schreibtisch und sprach in
ein blendendweißes Telefon. Ich ging zu ihr hin; sie
applizierte mir ein paar kalte blaue Pillen in Gestalt
ihrer Augen und heftete sie dann an das Deckensims,
das rings um den Raum lief.
»Nein«, sagte sie ins Telefon. »Nein, tut mir leid.
Ich fürchte, es hat keinen Sinn. Viel zu beschäftigt.«
Sie legte auf, hakte irgendwas auf einer Liste ab und
schenkte mir noch einen ihrer stählernen Blicke.
»Guten Morgen. Ich möchte Mr. Ballou
besuchen«, sagte ich.

- 177 -
Ich legte meine einfache Visitenkarte auf ihren
Schreibtisch. Sie nahm sie an einer Ecke und
belächelte sie heiter.
»Heute?« erkundigte sie sich freundschaftlich.
»Diese Woche?«
»Wie lange dauert es denn gewöhnlich?«
»Es hat schon sechs Monate gedauert«, sagte sie
fröhlich. »Kann Ihnen sonst niemand helfen?«
»Nein.«
»Bedaure. Nichts zu machen. Kommen Sie mal
wieder, ja? So ungefähr kurz vor Weihnachten.« Sie
trug einen weißen Wollrock, eine tiefrote Seiden-
bluse und ein schwarzes Samtjäckchen mit kurzen
Ärmeln. Ihr Haar war eine feurige Abendsonne. Sie
trug ein goldenes Kettchen mit Topasen, Topas-
Ohrringe und einen Topas-Schmuckring in Form
eines Schildes. Ihre Fingernägel passten genau zur
Bluse. Sie sah aus, als brauchte sie ein paar Wochen
zum Anziehen.
»Ich muss ihn sehen«, sagte ich.
Sie las erneut meine Karte. Sie lächelte wunder-
schön.
»Das muss jeder«, sagte sie. »Also hören Sie, Mr.
– Mr. Marlowe. Sehen Sie alle diese reizenden Leute
an. Jeder von ihnen sitzt hier, seit das Büro
aufgemacht hat - vor zwei Stunden.«
»Es ist wichtig.«

- 178 -
»Zweifellos. Darf ich fragen, worum es geht?«
»Ich möchte was Schmutziges verhökern.«
Sie nahm eine Zigarette aus einer Kristallschale
und zündete sie mit einem Kristallfeuerzeug an.
»Verhökern? Sie meinen für Geld? In Hollywood?«
»Vielleicht.«
»Was ist es denn Schmutziges? Sie brauchen keine
Angst zu haben, mich zu schockieren.«
»Es ist etwas obszön, Miss … Miss …« - ich bog
meinen Hals, um das Schild auf ihrem Schreibtisch
zu lesen.
»Helen Grady«, sagte sie. »Na ja, so eine kleine
wohlerzogene Obszönität hat noch nie was
geschadet, oder?«
»Ich habe nicht gesagt ›wohlerzogen‹.«
Sie lehnte sich vorsichtig zurück und blies mir
Rauch ins Gesicht.
»Also kurz: Erpressung.« Sie seufzte. »Mensch,
verduften Sie mal schleunigst, bevor Ihnen ein paar
fette Polypen in den Schoß fliegen!«
Ich saß auf der Ecke ihres Schreibtisches, fing eine
große Handvoll von ihrem Zigarettenrauch und blies
ihn ihr ins Haar. Sie duckte sich verärgert. »Hauen
Sie ab, Sie Flegel!« sagte sie mit einer Stimme, die
zum Farbe-Abbeizen gereicht hätte.
»Aber, aber! Was ist denn aus dem vornehmen
Akzent geworden?«

- 179 -
Ohne ihren Kopf zu drehen, sagte sie scharf: »Miss
Vane.«
Ein großes, schlankes, elegantes Mädchen mit
hochmütigen Augenbrauen blickte auf. Sie war
gerade durch eine Innentür getreten, die täuschend
wie ein buntes Glasfenster aussah. Das dunkle
Mädchen kam herüber. Miss Grady gab ihr meine
Karte: »Spink.«
Miss Vane ging mit der Karte durch das bunte
Fenster nach innen.
»Setzen Sie sich und schonen Sie Ihre Knöchel,
Großmaul«, teilte mir Miss Grady mit. »Vielleicht
werden Sie eine Woche hierbleiben.«
Ich setzte mich in einen Ohrensessel aus Chintz,
dessen Rückenlehne meinen Kopf um 20 cm
überragte. Ich kam mir vor wie eingelaufen. Miss
Grady schenkte mir wieder ihr Lächeln, die Marke
mit den handpolierten Kanten, und bog sich wieder
zu ihrem Telefon.
Ich sah mich um. Das kleine Mädchen in der Ecke
hatte aufgehört zu weinen und schminkte sein
Gesicht mit kühler Gleichgültigkeit. Ein sehr großer,
vornehm aussehender Typ holte schwungvoll einen
graziösen Arm heran, um auf seine elegante
Armbanduhr zu blicken, und erhob sich in weibi-
scher Manier. Er setzte einen perlgrauen Homburg
dandyhaft schräg auf seinen Kopf, überprüfte seine
gelben Wildlederhandschuhe und seinen Stock mit

- 180 -
Silberknopf und schlenderte gemächlich hinüber zu
der rothaarigen Empfangsdame.
»Ich warte jetzt schon zwei Stunden, um Mr.
Ballou aufzusuchen«, sagte er eisig mit einer vollen,
süßen Stimme, die durch sehr viel Übung so
hingetrimmt worden war. »Ich bin es nicht gewöhnt,
dass irgend jemand mich zwei Stunden warten
lässt.«
»Tut mir sehr leid, Mr. Fortescue. Mr. Ballou ist
heute morgen einfach unbeschreiblich beschäftigt.«
»Es tut mir leid, dass ich ihm keinen Scheck hier
lassen kann«, bemerkte der große, elegante Typ mit
müder Verachtung. »Wahrscheinlich das einzige,
was ihn interessieren könnte. Jedoch, nachdem
dies …«
»Moment mal, mein Junge.« Der Rotkopf nahm
ein Telefon hoch und sagte: »Ja… hat Goldwyn das
gesagt? Kannst du keinen erreichen, der nicht
spinnt? … Also, versuch's noch mal.« Sie schmiss
den Hörer in die Gabel. Der große Typ hatte sich
nicht bewegt.
»Nachdem das jedoch nicht möglich ist«, sprach er
weiter, als hätte er nie aufgehört, »möchte ich ihm
gerne eine Nachricht hinterlassen.«
»Bitte, tun Sie das«, sagte Miss Grady zu ihm.
»Irgendwie werd ich's schon machen, dass er sie
kriegt.«

- 181 -
»Dann richten Sie ihm bitte liebe Grüße aus, und
dass er ein dreckiges Borstenvieh ist.«
»Sag lieber Schwein, mein Schatz«, sagte sie. »Er
versteht kein Englisch.«
»Dann sagen Sie Schwein und noch mal Schwein«,
sagte Fortescue zu ihr, »und fügen Sie noch ein
bisschen leicht geschwefelten Wasserstoff und die
allerbilligste Marke Hurenparfüm dazu.« Er setzte
seinen Hut zurecht und prüfte sein Profil noch
einmal im Spiegel. »Und nun wünsche ich Ihnen
einen angenehmen Morgen und zum Teufel mit
Sheridan Ballou & Co.«
Der große, schlanke Schauspieler schritt vornehm
hinaus und benutzte seinen Stock, um die Tür zu
öffnen.
»Was ist denn los mit ihm?« fragte ich.
Sie betrachtete mich mitleidig. »Billy Fortescue?
Nichts ist los mit ihm. Er kriegt keine Rolle, also
kommt er jeden Tag herein und zieht diese Schau ab.
Er meint, dass ihn vielleicht jemand dabei sieht und
es ihm gefällt.«
Langsam machte ich den Mund zu. Man kann eine
ganze Weile in Hollywood leben und doch nie eine
Szene sehen, die brauchbar für einen Film ist.
Miss Vane erschien in der Tür nach innen und
winkte mir mit dem Kinn. Ich ging an ihr vorbei.
»Hier entlang, zweite rechts.« Sie beobachtete mich,

- 182 -
während ich den Gang entlang zu der zweiten Tür
ging, die offen war. Ich ging hinein und machte die
Tür zu.
Ein dicklicher, weißhaariger Jude saß am Schreib-
tisch und lächelte mir zärtlich zu. »Gott zum Gruß«,
sagte er. »Ich bin Moss Spink. Was haben wir für
Sorgen, mein Junge? Nehmen Sie mal den Parkplatz
hier. Zigarette?« Er öffnete etwas, das wie eine
Truhe aussah, und wollte mich mit einer Zigarette
beglücken, die kaum länger als dreißig Zentimeter
war. Sie steckte in einem extra Glasröhrchen.
»Besten Dank«, sagte ich. »Tabak rauch ich nicht.«
Er seufzte. »Na schön. Ihr Spiel. Also woll'n wir
mal sehn. Sie heißen Marlowe. Wie? Marlowe.
Marlowe. Ich hab noch nie von einem Marlowe
gehört.«
»Kann sein«, sagte ich. »Ich habe auch noch nie
von einem Spink gehört. Ich wollte einen Herrn
namens Ballou besuchen. Klingt das wie Spink? Ich
suche niemand, der Spink heißt. Und ganz unter vier
Augen: Leute, die Spink heißen, können mir
gestohlen bleiben.«
»Antisemit, was?« sagte Spink. Er winkte
großzügig mit der Hand, an der ein kanariengelber
Diamant hing, wie eine Verkehrsampel auf Gelb.
»Jetzt haben Sie sich mal nicht so. Setzen Sie sich
und stauben Ihr Hirn ab. Sie kennen mich nicht. Sie
wollen mich nicht kennen. In Ordnung. Ich bin nicht

- 183 -
beleidigt. In diesem Geschäft braucht man immer
jemanden, der nicht so leicht beleidigt ist.«
»Ballou«, sagte ich.
»Jetzt seien Sie mal vernünftig, mein Freund.
Sherry Ballou ist jemand, der sehr viel zu tun hat. Er
arbeitet zwanzig Stunden am Tag, und danach ist
immer noch was auf dem Terminkalender. Setzen
Sie sich hin und reden Sie mit dem kleinen Spink.«
»Was machen Sie denn hier?« fragte ich ihn.
»Ich bin sein Schutz, mein Freund. Ich muß ihn
abschirmen. Jemand wie Sherry kann schließlich
nicht jeden empfangen. Ich empfange manche Leute
für ihn. Ich bin genau wie er - natürlich mit gewissen
Grenzen.«
»Vielleicht bin ich auf der anderen Seite der
Grenze«, sagte ich.
Spink stimmte mir freundlich zu: »Vielleicht.« Er
zog ein dickes Klebeband von einem einzelnen
Zigarrenbehälter aus Aluminium ab, holte zärtlich
die Zigarre heraus und untersuchte sie sorgfältig auf
Muttermale. »Will ich gar nicht abstreiten. Könnten
wir nicht mal ein bisschen was vorzeigen? Dann
sehen wir ja. Bis jetzt haben Sie bloß Sprechproben
gegeben. So was hören wir so oft, daß es uns
überhaupt nicht mehr beeindruckt.«
Ich sah ihm zu, wie er sein Feuerzeug schnappen
ließ und seine eindrucksvolle Zigarre anzündete.

- 184 -
»Woher weiß ich denn, dass Sie ihn nicht hinters
Licht führen?« fragte ich listig.
Spinks Äuglein blinzelten, und es kam mir fast so
vor, als stünden Tränen darin. »Ich und Sherry
Ballou betrügen?« fragte er mit gebrochener,
gedämpfter Stimme – das reinste Staatsbegräbnis.
»Ich? Eher würde ich meine eigene Mutter
betrügen.«
»Das heißt auch nicht viel mehr«, sagte ich. »Ich
kenne ja Ihre Mutter nicht.« Spink legte seine
Zigarre in einen Aschenbecher von der Größe eines
Vogelbads. Er wedelte mit seinen Armen. Schmerz
verzerrte sein Herz. »Freund, o Freund. Wie reden
Sie nur«, jammerte er. »Ich liebe Sherry Ballou wie
meinen Vater. Ja mehr noch. Mein Vater - na ja,
lassen wir das. Also los, Junge. Ein bisschen
Menschlichkeit. Kommen Sie zu mir - Freundschaft
und Vertrauen. Spinnen Sie mal Ihr Garn für den
kleinen Spink, ja?«
Ich zog ein Kuvert aus meiner Tasche und warf es
ihm über den Schreibtisch. Er zog das einzelne Foto
heraus und betrachtete es ernsthaft. Er legte es auf
den Schreibtisch. Er hob den Blick zu mir, sah
abwärts auf das Foto und wieder auf mich. »Na
und?« fragte er hölzern. Auf einmal war nichts mehr
in seiner Stimme, nichts von dem guten alten
Vertrauen, nichts von der Freundlichkeit, von der er

- 185 -
immer geredet hatte. »Was ist denn da so Tolles
dran? «
»Muß ich Ihnen sagen, wer die Frau ist?«
»Wer ist der Kerl?« zischte Spink.
Ich sagte nichts. Ich hab gefragt, wer der Kerl ist.«
Spink kreischte beinahe. »Spuck's aus, spuck's aus.«
Ich sagte immer noch nichts. Spink griff langsam
nach dem Telefon und ließ dabei seine harten hellen
Augen auf meinem Gesicht ruhen.
»Nur zu. Rufen Sie sie an«, sagte ich. »Rufen Sie
in der City an, fragen Sie nach Leutnant Christy
French vom Morddezernat. Noch so ein Junge, der
sich nichts sagen lassen will.«
Spink nahm die Hand vom Telefon. Er stand
langsam auf und verschwand mit dem Foto. Ich
wartete. Draußen auf dem Sunset Boulevard strich
der Verkehr vorbei, eintönig, weit weg. Lautlos»
tropften die Minuten in den Brunnen. Einen
Augenblick lang tanzte der Rauch von Spinks
brennender Zigarre in der Luft, dann wurde er von
der Öffnung des Air-Conditioners eingesaugt. Ich
schaute die unzähligen Fotos an den Wänden an, alle
mit Autogramm, alle Sherry Ballou gewidmet, von
jemand in ewiger Freundschaft. Ich schätzte, dass sie
wohl alle zweite oder dritte Klasse waren, wenn sie
schon in Spinks Büro hingen.

- 186 -
18

Nach einer Weile kehrte Spink zurück und machte


ein Zeichen, dass ich folgen solle. Ich folgte ihm
durch den Gang durch zwei Türen in ein Vorzimmer
mit zwei Sekretärinnen. Danach weitere Doppel-
türen aus schwerem schwarzem Glas mit silbernen
Pfauen, die in die Scheiben geätzt waren. Die Türen
öffneten sich von selbst, wenn wir uns näherten.
Ich stieg drei Teppichstufen abwärts in ein Büro, in
dem nichts fehlte außer einem Swimming-pool.
Zwei Stockwerke hoch, ringsherum eine Empore
voll mit Bücherborden. In einer Ecke standen ein
großer Steinway-Konzertflügel, viel Glas und helle
Holzmöbel, ein Schreibtisch so groß wie ein
Badmintonplatz, Sessel und Couches und Tische,
und auf einer der Couches ein Mann ohne Jacke, mit
offenem Hemd und einem Angoraschal; den
Angoraschal hätte man im Dunkeln gefunden - so
wie er schnurrte. Auf den Augen und der Stirn des
Mannes lag ein weißes Tuch, und ein geschmeidiges
Mädchen war gerade dabei, an einem Tisch daneben
ein frisches Tuch über einer silbernen Schüssel mit
Eiswasser auszuwringen.
Der Mann war ein großer, gutgebauter Bursche mit
welligem dunklem Haar und einem kräftigen
braunen Gesicht unter dem weißen Tuch. Ein Arm
hing zum Teppich herunter, zwischen den Fingern

- 187 -
hing eine Zigarette, von der ein kleines bisschen
Rauch sich kräuselte.
Das blonde Mädchen wechselte behände die
Tücher. Der Mann auf der Couch stöhnte. Spink
sagte: »Das ist der Junge, Sherry. Heißt Marlowe.«
Der Mann auf der Couch stöhnte. »Was will er
denn?«
Spink sagte: »Er will nicht heraus damit.«
Der Mann auf der Couch sagte: »Wozu hast du ihn
dann hereingeholt? Ich bin müde.«
Spink sagte: »Du weißt ja, wie's ist, Sherry.
Manchmal geht's eben nicht anders.«
Der Mann auf der Couch sagte: »Was war's noch
mal für ein wundersamer Name?«
Spink drehte sich zu mir um: »Jetzt können Sie
sagen, was Sie sagen wollten. Und zwar mal ein
bisschen hoppla, Marlowe.«
Ich sagte nichts.
Nach einem Augenblick hob der Mann auf der
Couch langsam den Arm mit der Zigarette am Ende.
Er drückte die Zigarette müde an den Mund und sog
an ihr mit der ungeheuren Mattigkeit eines
dekadenten Adeligen, der in seinem halbkaputten
Schloß verschimmelt.
»Ich rede mit dir, Kerl«, sagte Spink böse. Die
Blondine wechselte erneut das Tuch, ohne jemanden
anzusehen. Eine Stille lastete im Raum, so beißend

- 188 -
wie Zigarettenrauch. »Na los, Mann. Jetzt raus
damit!«
Ich zog eine von meinen Camels raus, zündete sie
an, wählte einen Sessel und setzte mich. Ich streckte
meine Hand aus und betrachtete sie. Der Daumen
zuckte alle paar Sekunden auf und ab.
Spinks Stimme fuhr schneidend in die Stille: »Hey,
Sherry hat keinen ganzen Tag lang Zeit.«
»Was würde er denn den ganzen übrigen Tag
machen?« hörte ich mich selbst fragen. »Auf einer
weißen Seidencouch liegen und sich die Fußnägel
vergolden lassen?«
Die Blondine drehte sich plötzlich um und starrte
mich an. Spinks Mund stand sperrangelweit auf. Er
zwinkerte. Der Mann auf der Couch hob langsam die
Hand zu einer Ecke des Handtuchs über seinen
Augen. Er nahm so viel von dem Handtuch weg,
dass ein nussbraunes Auge zu mir hin blickte. Sanft
fiel das Handtuch wieder zurück.
»So können Sie hier nicht reden«, sagte Spink
streng.
Ich stand auf. Ich sagte: »Ich habe leider mein
Gebetsbuch vergessen. Ich sehe zum ersten Mal,
dass Gott auf Provisionsbasis arbeitet.«
Eine Minute lang sagte niemand etwas. Die
Blondine wechselte noch mal das Handtuch.

- 189 -
Unter dem Handtuch sagte der Mann auf der
Couch: »Macht, dass ihr rauskommt, meine Lieben.
Alle bis auf den neuen Jungen.«
Von Spink erhielt ich einen schmalen, hasserfüllten
Blick. Die Blondine ging schweigend raus.
Spink sagte: »Warum kann ich ihn nicht hochkant
rausschmeißen?«
Die müde Stimme unter dem Handtuch sagte: »Ich
habe darüber schon so lange nachgedacht, dass es
unwichtig ist. Raus.«
»Okay, Boss«, sagte Spink. Er zog sich widerwillig
zurück. An der Tür blieb er noch mal stehen, fauchte
mich noch einmal lautlos an und verschwand.
Der Mann auf der Couch wartete, bis sich die Tür
geschlossen hatte, dann sagte er: »Wieviel?«
»Sie können hier nichts kaufen.«
Er riss das Handtuch von seinem Kopf, warf es auf
die Seite und stand langsam auf. Er setzte seine
handgenähten, rauhledernen, durchbrochenen
Schuhe auf den Teppich und wischte sich mit der
Hand die Stirn. Er sah müde aus, aber nicht
zerstreut. Er griff sich noch eine Zigarette von
irgendwoher, zündete sie an und starrte
niedergeschlagen durch den Rauch auf den Boden.
»Weiter«, sagte er.
»Ich weiß nicht, warum Sie vor meiner Wenigkeit
diese große Show abgezogen haben«, sagte ich.

- 190 -
»Aber soviel Grips traue ich Ihnen doch zu, dass Sie
wissen, dass Sie hier nichts kaufen können, was
dann auch wirklich nur Ihnen gehört.«
Ballou nahm das Foto, das Spink in seiner Nähe
auf einen langen niederen Tisch gelegt hatte. Er
streckte eine matte Hand aus. »Das Teil, das da
rausgeschnitten ist, ist sicher die Pointe vom
Ganzen, stimmt's?«
Ich zog das Kuvert aus meiner Tasche und gab ihm
das ausgeschnittene Stück; ich sah zu, wie er die
beiden Stücke zusammensetzte.
»Mit einer Lupe können Sie die Schlagzeile lesen«,
sagte ich.
»Auf meinem Schreibtisch liegt eine - bitte.«
Ich ging hinüber und nahm die Lupe von seinem
Schreibtisch. »Sie sind's gewöhnt, dass man Sie
bedient, was, Mr. Ballou?«
»Ich zahle dafür.« Er betrachtete das Foto durch
die Lupe und seufzte. »Ich glaube, ich habe den
Kampf gesehen. Man sollte auf diese Männer besser
aufpassen.«
»So wie Sie auf Ihre Kunden«, sagte ich.
Er legte die Lupe nieder und lehnte sich zurück,
um mich mit kühlen, ruhigen Augen anzusehen.
»Das ist der Junge, dem ›The Dancers‹ gehört.
Heißt Steelgrave. Die Dame ist natürlich Kundin bei
mir.« Er machte eine vage Geste zu einem Sessel

- 191 -
hin. Ich setzte mich drauf. »An wieviel hatten Sie
denn gedacht, Mr. Marlowe?«
»Wofür?«
»Alle Abzüge und das Negativ. Die ganze Chose.«
»Zehn Mille«, sagte ich und beobachtete seinen
Mund. Der Mund lächelte ziemlich freundlich.
»Aber es muss noch etwas näher erklärt werden,
nicht? Ich sehe hier nur, dass da zwei Leute in einem
öffentlichen Lokal zusammen essen. Das ruiniert
wohl kaum den Ruf meiner Kundin. Ich nehme doch
an, dass es das war, woran Sie dachten.«
Ich grinste. »Sie können nichts kaufen, Mr. Ballou.
Ich hätte ja ein Positiv von dem Negativ machen
können, oder ein zweites Negativ von einem Abzug.
Wenn das Bild irgendwas beweist, dann könnten Sie
nie wissen, ob der Beweis aus der Welt ist.«
»Nicht grade eine gute Methode für einen
Erpresser, um ins Geschäft zu kommen«, sagte er,
immer noch lächelnd.
»Ich frage mich immer, warum Leute überhaupt
einem Erpresser was zahlen. Sie können es ja nie
kaufen. Trotzdem zahlen sie, manchmal immer und
immer wieder. Und am Schluss sind sie genauso
weit wie am Anfang.«
»Die Angst von heute«, sagte er, »kommt immer
vor der Angst von morgen. Es ist die Basis der
dramatischen Wirkung, dass der Teil größer ist als

- 192 -
das Ganze. Wenn man einen berühmten Filmstar in
einem Film in großer Gefahr sieht, dann teilt man
die Angst mit ihm, gefühlsmäßig. Trotzdem weiß ja
der logische Verstand, dass es der Star des Filmes ist
und dass ihm nichts Schlimmes geschehen darf.
Wenn Spannung und Bedrohung nicht stärker wären
als der Verstand, dann gäbe es kein Drama.«
Ich sagte: »Sie werden wohl recht haben«, und
blies etwas von meinem Camel-Rauch in die
Gegend.
Seine Augen wurden etwas schmaler. »Wenn es
nun darum geht, ob man wirklich etwas kaufen
kann: wenn ich Ihnen einen erheblichen Preis zahlen
würde und dennoch nicht bekäme, was ich gekauft
habe, dann würde ich Sie schon drankriegen. Würde
Ihnen die Knochen im Leib kaputtschlagen lassen.
Und wenn Sie dann wieder aus dem Krankenhaus
kämen und sich wieder kräftig fühlten, dann könnten
Sie ja versuchen, mich einsperren zu lassen.«
»Ist mir auch schon passiert«, sagte ich. »Ich bin
Privatdetektiv. Ich weiß, wovon ich rede. Warum
reden Sie überhaupt mit mir?«
Er lachte. Er hatte ein angenehmes, tiefes,
müheloses Lachen. »Mein Lieber, ich bin ein Agent.
Ich rechne immer ein bisschen damit, dass ein
Händler noch was in der Hinterhand hat. Aber über
zehn Mille wollen wir nicht reden. Soviel hat sie
nicht. Bis jetzt macht sie ja nur tausend in der

- 193 -
Woche. Obwohl, ich gebe zu, sie hat's nicht mehr
weit zum großen Geld.«
»Damit wäre sie schnell am Ende«, sagte ich und
zeigte auf das Foto. »Kein großes Geld, kein
Swimming-pool mit Unterwasserbeleuchtung, kein
Silbernerz, kein Name in Leuchtschrift, kein gar
nichts. Alles im Winde verweht.«
Er lachte verächtlich.
»Also: es macht nichts, wenn ich das den Polypen
da drinnen zeige?« sagte ich.
Er lachte nicht mehr. Seine Augen wurden schmal.
Er fragte sehr ruhig: »Wieso würde die das
interessieren?«
Ich stand auf. »Ich glaube nicht, dass wir ins
Geschäft kommen, Mr. Ballou. Sie sind ein sehr
beschäftigter Mensch. Ich werde mich mal
dünnmachen.« Er erhob sich von der Couch, ein
Meter achtzig das Ganze, und reckte sich. Es war ein
prächtiger Koloss von einem Mann. Er kam herüber
und stellte sich vor mich. Seine nussbraunen Augen
hatten kleine goldene Flecken. »Lassen Sie mal
sehen, wer Sie sind, Freundchen.«
Er streckte seine Hand aus. Ich legte meine offene
Brieftasche hinein. Er las die Kopie meiner Lizenz,
holte noch ein paar Sachen aus der Brieftasche .und
betrachtete sie. Er gab sie zurück.

- 194 -
»Also, was würde denn passieren, wenn Sie Ihr
Bildchen den Polypen zeigen würden?«
»Ich müsste es erst mal in Verbindung bringen mit
einer anderen Sache, an der die gerade arbeiten -
etwas, das gestern Nachmittag im Van Nuys Hotel
passiert ist. Ich würde es auch mit dem Mädchen in
Verbindung bringen: sie will nicht mit mir reden,
deshalb rede ich mit Ihnen.«
»Sie hat mir gestern Abend davon erzählt«, seufzte
er.
»Wie viel erzählt?« fragte ich.
»Dass ein Privatdetektiv namens Marlowe ihr seine
Dienste aufzwingen wollte, aufgrund der Tatsache,
dass sie in einem Hotel in der City gesehen wurde,
in unangenehmer Nähe eines Ortes, wo ein Mord
verübt worden war.«
»In wie großer Nähe?« fragte ich.
»Hat sie nicht gesagt.«
»So sehen Sie aus.«
Er ging von mir weg zu einem hohen runden
Behälter in der Ecke. Er entnahm ihm einen aus
einer ganzen Anzahl von kurzen dünnen Rohr-
stöcken. Er fing an, auf dem Teppich auf und ab zu
marschieren, wobei er den Rohrstock rasch neben
seinem rechten Schuh sausen ließ.

- 195 -
Ich setzte mich wieder hin, machte meine Zigarette
aus und atmete tief ein. »So was gibt's nur in
Hollywood«, brummte ich.
Er machte eine scharfe Kehrtwendung und sah
mich an. »Wie bitte?«
»Dass ein augenscheinlich normaler Mensch in
einem Haus hin und her stolziert wie ein englischer
Gent, mit einem Dandystöckchen in der Hand.«
Er nickte. »Ich habe mich von einem Produzenten
bei M. G. M. anstecken lassen. Amüsanter Kerl.
Jedenfalls hat man es mir erzählt.« Er hielt an und
deutete mit dem Stock auf mich. »Sie machen mir
Spaß, Marlowe. Also wirklich. Sie sind so
durchsichtig. Jetzt wollen Sie mich als eine Schaufel
benutzen, damit Sie sich aus dem Dreck befreien
können, in dem Sie drin sitzen.«
»Da ist was Wahres dran. Aber der Dreck, in dem
ich sitze, ist gar nichts gegen den Dreck, in dem Ihre
Kundin sitzen würde, wenn ich nicht das gemacht
hätte, weswegen ich im Dreck sitze.«
Einen Augenblick lang stand er ganz still. Er
schleuderte den Stock von sich weg, wanderte
hinüber zu einer Hausbar und machte in einem
Schwung beide Schranktüren auf. Er goß irgendwas
in zwei dickbauchige Gläser. Eines davon trug er zu
mir herüber. Dann ging er zurück und holte sein
eigenes. Er setzte sich damit auf die Couch.

- 196 -
»Armagnac«, sagte er. »Wenn Sie mich kennen
würden, wüssten Sie die Ehre zu schätzen. Dieses
Zeug ist ziemlich rar. Die Deutschen haben fast alles
weggeputzt. Und den Rest nahmen die unseren. Also
Ihr Wohl.«
Er hob das Glas, schnüffelte und nahm einen
winzigen Schluck. Ich goß mir meinen auf einen
Zug herunter. Es schmeckte wie guter französischer
Weinbrand.
Ballou schien schockiert. »Lieber Gott, Sie müssen
das in kleinen Schlucken nehmen, nicht
runterkippen!«
»Ich kippe es runter«, sagte ich. »Tut mir leid. Sie
hat Ihnen auch gesagt, dass sie bös in der Tinte
sitzen würde, wenn mir nicht das Maul gestopft
würde.«
Er nickte.
»Hat sie einen Vorschlag gemacht, wie man mir
das Maul stopfen könnte?«
»Ich hatte den Eindruck, dass sie gerne hätte, wenn
man es mit irgendeinem stumpfen Gegenstand
erledigte. Also probierte ich es mit einer Mischung
aus Schmiergeld und Drohung. Wir haben da weiter
unten in der Stadt eine kleine Organisation, die auf
den Schutz von Filmleuten spezialisiert ist.
Anscheinend haben sie Ihnen keine Angst machen
können, und zum Bestechen war es nicht genug
Geld.«

- 197 -
»Die haben mir ganz schön angst gemacht«, sagte
ich. »Ich hätte beinahe eine Luger auf sie
losgelassen. Dieser Morphinist mit seiner dicken
Kanone hat eine Mordsschau abgezogen. Und wenn
Sie sagen, es sei nicht genug Geld gewesen - es
kommt immer drauf an, wie man es mir anbietet.«
Er schlürfte noch ein bisschen von seinem
Armagnac. Er zeigte auf das Foto, das vor ihm lag -
die beiden zusammengefügten Teile.
»Wir waren soweit, dass Sie das zu den Polypen
bringen wollten. Und dann - weiter?«
»Ich glaube, soweit waren wir noch nicht. Wir
waren bei der Frage, warum sie das mit Ihnen
besprochen hat, statt mit ihrem Freund. Er war
gerade angekommen, als ich fortging. Er hat einen
eigenen Schlüssel.«
»Offenbar hat sie es eben nicht getan.« Er sah mit
gerunzelter Stirn in seinen Armagnac.
»Das gefällt mir«, sagte ich. »Es würde mir noch
besser gefallen, wenn der Kerl nicht ihren
Wohnungsschlüssel hätte.«
Er blickte auf - ein bisschen traurig: »Mir auch. Es
würde uns allen besser gefallen. Aber bei
Schauspielern war es immer so - bei jeder Art von
Schauspielerei. Wenn diese Leute nicht so wild und
unordentlich leben würden, würden sie auch nicht so
starke Gefühle haben - na ja, und dann könnten sie
auch solche Gefühle nicht einfangen und sie auf ein

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paar Meter Zelluloid festhalten oder sie über die
Rampe bringen.«
»Ich rede nicht von ihrem Liebesleben«, sagte ich.
»Aber sie muss sich doch nicht unbedingt mit einem
zusammentun, dem sie auf den Fersen sind.«
»Dafür gibt's keinen Beweis, Marlowe.«
Ich zeigte auf das Foto. »Der Mensch, der das
aufgenommen hat, ist vermisst und unauffindbar. Er
ist wahrscheinlich tot. Zwei andere Leute, die unter
der gleichen Adresse wohnten, sind auch tot. Einer
von ihnen wollte diese Bilder verscherbeln, bevor
sie ihn totgemacht haben. Sie ist selber in sein Hotel
gekommen, um die Ware in Empfang zu nehmen.
Der ihn getötet hat, ist auch gekommen. Sie bekam
die Ware nicht, und der Killer bekam sie auch nicht.
Sie wussten nicht, wo sie suchen sollten.«
»Und Sie wussten es?«
»Ich hatte Glück. Ich hatte ihn ohne Perücke
gesehen. Vielleicht sind das alles keine Beweise.
Man hätte allerlei dagegen anführen können. Aber
wozu die Mühe? Zwei Menschen sind getötet
worden, vielleicht drei. Sie ging ein enormes Risiko
ein. Warum? Sie wollte das Bild. Dieses Bild war
ein enormes Risiko wert. Noch mal - warum? Es
sind nur zwei Leute, die an einem bestimmten Tag
zusammen essen. An dem Tag, an dem Moe Stein
auf der Franklin Avenue niedergeschossen wurde.
An dem Tag, an dem ein gewisser Steelgrave im

- 199 -
Gefängnis saß, weil die Bullen einen Tipp bekamen,
dass nach ihm gefahndet würde und er Weepy
Moyer hieße. Das geht aus den Unterlagen hervor.
Aber das Foto zeigt, dass er gar nicht im Gefängnis
war. Und dadurch, dass es ihn an diesem besonderen
Tag zeigt, beweist es, wer er ist. Und sie weiß das.
Und er hat immer noch den Wohnungsschlüssel.«
Ich machte eine Pause, und wir betrachteten
einander ausgiebig. Ich sagte:
»Sie wollen doch nicht unbedingt, dass die Polypen
dieses Bild bekommen, oder? Sieg oder Platz oder
Verloren: die würden sie kreuzigen. Und am Ende
der ganzen Affäre würde es überhaupt nichts mehr
ausmachen, ob Steelgrave Moyer ist, oder ob Moyer
Stein ermordet hat oder ihn ermorden ließ, oder ob
er nur zufällig an dem Tag mit einem Passierschein
rauskam, an dem er ermordet wurde. Wenn er damit
durchkäme, dann gäbe es immer genügend viele
Leute, die glaubten, dass es Bestechung war. Und ihr
würden sie gar nichts abnehmen. Sie wäre für die
öffentliche Meinung eine Gangsterbraut. Für Ihre
Branche wäre sie vollständig und endgültig
erledigt.«
Ballou schwieg einen Moment und betrachtete
mich ausdruckslos. »Und was ist jetzt mit Ihnen?«
fragte er sanft.
»Das hängt zum großen Teil von Ihnen ab, Mr.
Ballou.«

- 200 -
»Was wollen Sie denn eigentlich?« Seine Stimme
war jetzt dünn und bitter.
»Genau das, was ich von ihr wollte und nicht
bekommen konnte. Etwas, was mir ein eindeutiges
Recht gibt, in ihrem Interesse zu arbeiten, und zwar
so lange, bis es nach meiner Meinung nicht
weitergeht.«
»Und zwar, indem Sie Indizien vorenthalten?«
fragte er gespannt.
»Sofern es Indizien sind. Die Polypen können
nichts rauskriegen, ohne dass Miss Weld mit
hineingezogen wird. Vielleicht kann ich es. Sie
würden sich diese Mühe gar nicht machen. Für sie
ist es gar nicht so wichtig. Für mich schon.«
»Warum?«
»Sagen wir mal, es ist eben mein Beruf. Vielleicht
habe ich noch andere Gründe, aber der genügt
schon.«
»Wie viel verlangen Sie?«
»Gestern Abend haben Sie es mir geschickt.
Gestern habe ich es nicht annehmen wollen - jetzt
würde ich es annehmen. Zusammen mit einem Brief
mit Unterschrift, in dem ich beauftragt werde, einen
Erpressungsversuch an einem Ihrer Kunden zu
untersuchen.«
Ich erhob mich mit meinem leeren Glas, wanderte
hinüber und stellte es auf den Schreibtisch. Als ich

- 201 -
mich vorbeugte, hörte ich ein schwaches, sirrendes
Geräusch. Ich trat hinter den Schreibtisch und zog
rasch eine Schublade auf. Ein Drahtaufnahmegerät
kam zum Vorschein, auf einem mit Scharnier
befestigten Bord. Der Motor lief, und der dünne
Draht bewegte sich gleichmäßig von der einen Spule
zur anderen. Ich sah zu Ballou hinüber.
»Sie können es abstellen und die Aufnahme
mitnehmen«, sagte er. »Sie werden es mir wohl
nicht verdenken, dass ich es benutzt habe.«
Ich legte den Hebel um zum Rückspulen, und der
Draht lief in der entgegengesetzten Richtung und
wurde so schnell, dass ich ihn nicht mehr sehen
konnte. Es gab eine Art von scharfem Klagelaut, wie
zwei Tunten, die sich um ein Stück Seife raufen. Der
Draht löste sich von der Spule, und der Apparat kam
zur Ruhe. Ich nahm die Spule ab und versenkte sie
in meine Tasche.
»Vielleicht haben Sie ja noch eine«, sagte ich. »Ich
muss das Risiko eingehen.«
»Sie sind wohl ziemlich selbstsicher, was,
Marlowe?«
»Ich wünschte, ich wär's.«
»Drücken Sie mal auf den Knopf am Ende des
Schreibtischs, ja?«

- 202 -
Ich drückte ihn. Die schwarze Glastür öffnete sich,
und ein dunkles Mädchen kam mit einem
Stenografierblock herein.
Ballou fing an zu diktieren, ohne sie auch nur
anzusehen.
»Brief an Mr. Philip Marlowe, mit seiner Adresse.
Sehr geehrter Herr Marlowe: Hiermit werden Sie
von unserer Agentur beauftragt, einen Erpressungs-
versuch an einem ihrer Klienten zu überprüfen,
dessen Einzelheiten Ihnen mündlich mitgeteilt
wurden. Ihr Honorar beträgt einhundert Dollar pro
Tag, mit einem Vorschuss von fünfhundert Dollar,
dessen Empfang Sie auf einer Kopie des Briefes
quittieren können. Bläh, Bläh, Bläh. Das ist alles,
Eileen. Bitte sofort.«
Ich gab dem Mädchen meine Adresse, und sie ging
hinaus.
Ich nahm die Drahtspule aus meiner Tasche und
legte sie wieder in das Fach zurück.
Ballou schlug die Beine übereinander; er ließ die
glänzende Spitze seines Schuhs auf und ab wippen
und betrachtete sie. Er fuhr mit der Hand durch sein
festes dunkles Haar.
»Eines Tages«, sagte er, »werde ich den Fehler
machen, vor dem es einem Menschen in meiner
Stellung am allermeisten graut. Dann werde ich mit
jemandem ein Geschäft machen, auf den ich mich
verlassen kann, und ich werde einfach zu clever

- 203 -
sein, um ihm wirklich zu vertrauen. Hier, behalten
Sie das besser.« Er hielt mir die beiden Stücke des
Fotos hin.
Fünf Minuten später ging ich. Die Glastüren
öffneten sich, sobald ich einen Meter vor ihnen war.
Ich ging an den beiden Sekretärinnen vorbei und den
Gang entlang, vorbei an der offenen Tür von Spinks
Büro. Es war kein Geräusch drin, aber ich konnte
seinen Zigarrenrauch riechen. Im Empfangsraum
schienen noch genau dieselben Leute in den
Chintzmöbeln herumzusitzen. Miss Helen Grady
schenkte mir ihr Samstagabend-Lächeln. Miss Vane
strahlte mich an. Ich war vierzig Minuten lang beim
Chef gewesen. Nun war ich ein Fabeltier, wie auf
einer Darstellung seltener Lebewesen.

- 204 -
19

Der Studioportier an dem halbkreisförmigen


Schreibtisch hinter Glas legte den Telefonhörer auf
und kritzelte auf einen Block. Er riß ein Blatt ab und
schob es durch den höchstens zwei Zentimeter
breiten Schlitz zwischen Glasscheibe und
Schreibtischplatte. Seine Stimme kam durch die
Sprechmembran, die in die Glasscheibe eingesetzt
war; sie klang metallisch.
»Geradeaus bis zum Ende des Ganges«, sagte er.
»Dann werden Sie in der Mitte des Hofes einen
Springbrunnen sehen. George Wilson wird Sie dort
abholen.«
Ich sagte: »Danke. Ist das kugelsicheres Glas?«
»Klar. Wieso?«
»Nur so«, sagte ich. »Ich habe noch nie gehört,
dass sich jemand mit dem Schießeisen eine
Filmkarriere verschafft hat.«
Hinter mir kicherte jemand. Ich drehte mich um
und sah ein Mädchen in Hosen, mit einer roten
Nelke hinter dem Ohr. Sie grinste.
»O Mann, wenn es bloß mit einem Schießeisen
ginge!«

- 205 -
Ich wanderte hinüber zu einer olivgrünen Tür, die
keinen Türgriff hatte. Sie gab einen Summton von
sich, und ich konnte sie aufstoßen. Dahinter war ein
olivgrüner Korridor mit kahlen Wänden und einer
Tür am anderen Ende. Eine Falle. Wenn man bis
dahin gekommen war und etwas nicht in Ordnung
war, konnten sie einen noch immer aufhalten. Die
Tür am Ende machte dasselbe Geräusch und klinkte
aus. Ich hätte gern gewusst, woher der Portier
wusste, dass ich dort angekommen war. Ich sah nach
oben und bemerkte seine Augen, die mir über einen
schrägen Spiegel nachstarrten. Als ich die Tür
berührte, verschwanden die Augen im Spiegel. Die
dachten an alles.
Man war im Freien in der heißen Mittagssonne,
Blumen blühten heftig in einem kleinen Innenhof
mit Fliesenwegen, einer Marmorbank und einem
kleinen Teich in der Mitte. Neben der Marmorbank
war der kleine Springbrunnen zum Trinken. Auf der
Bank ruhte ein älterer, wunderschön angezogener
Herr und betrachtete drei beigefarbene Boxerhunde,
die gerade einige Begonien-Rosen aus der Erde
scharrten. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck von
stiller, aber lebhafter Befriedigung. Er beachtete
mich nicht, als ich näher kam. Einer der Boxer, der
größte von ihnen, lief herbei und wässerte auf die
Marmorbank neben sein Hosenbein. Er beugte sich
runter und klopfte den harten, kurzbehaarten
Hundekopf. »Sind Sie Mr. Wilson?« fragte ich.

- 206 -
Er blickte auf und sah mich ausdruckslos an. Der
mittlere der drei Boxer kam dazu und schnüffelte
und pisste auf die Pfütze des Vorgängers.
»Wilson?« Er hatte eine träge Stimme mit etwas
südlichem Akzent. »O nein. Ich heiße nicht Wilson.
Müsste ich so heißen?«
»Verzeihung.« Ich ging zu dem Trinkbrunnen und
besprühte mein Gesicht mit dem Wasserstrahl.
Während ich es mit einem Taschentuch abwischte,
tat der kleinste Boxer seine Schuldigkeit auf der
Marmorbank.
Der Mann, der nicht Wilson hieß, sagte liebevoll:
»Sie machen es immer genau in der gleichen
Reihenfolge. Es fasziniert mich.«
»Was machen sie?« fragte ich.
»Pissen«, sagte er. »Anscheinend nach dem Alter.
Sehr ordentlich. Erst Maisie. Sie ist die Mutter.
Dann Mac. Der ist ein Jahr älter als Jock, der Kleine.
Immer gleich. Sogar in meinem Büro.«
»In Ihrem Büro?« fragte ich, und niemand konnte
blöder aussehen, niemand bei irgendeiner Frage.
Er hob seine weißlichen Augenbrauen in meine
Richtung, nahm eine einfache braune Zigarre aus
dem Mund, biss das Ende davon ab und spuckte es
in den Teich.
»Das ist nicht gut für die Fische«, sagte ich.

- 207 -
Er sah mich von unten herauf an. »Ich züchte
Boxer. Zum Teufel mit den Fischen.«
Ich dachte, es ist eben Hollywood. Ich zündete eine
Zigarette an und setzte mich auf die Bank. »Also in
Ihrem Büro«, sagte ich. »Na ja, jedem Tierchen sein
Pläsierchen — stimmt's?«
»Machen es an die Ecke vom Schreibtisch. Immer
wieder. Macht meine Sekretärinnen wahnsinnig. Sie
sagen, es zieht in den Teppich, sagen sie. Was ist
bloß heutzutage mit den Weibern los? Mich stört das
nicht. Ich habe es sogar ganz gern. Man hat die
Hunde immer lieber, man sieht sie sogar gerne
pissen.«
Einer der Hunde schmiss eine herrlich blühende
Begonie vor seine Füße auf den Fliesenweg. Er
nahm sie und warf sie in den Teich.
»Die Gärtner werden das nicht mögen, schätze
ich«, bemerkte er und setzte sich wieder hin. »Na ja,
wenn es ihnen nicht passt, können sie immer …« Er
hörte plötzlich auf und beobachtete ein schlankes
Mädchen, eine Botin in gelben Hosen, die
absichtlich einen Umweg machte, um durch den
Innenhof zu kommen. Sie warf ihm einen schnellen
Blick zu und ging weiter - mit Musik in den Hüften.
»Wissen Sie, was mit diesem Geschäft los ist?«
fragte er.
»Das weiß keiner«, sagte ich.

- 208 -
»Zuviel Sex«, sagte er. »Nichts dagegen zur
rechten Zeit und am rechten Ort. Aber wir kriegen es
in Waggonladungen. Wir waten darin. Wir haben es
bis zum Hals. Allmählich wird es so klebrig wie
Fliegenfänger.« Er stand auf. »Und außerdem haben
wir zu viele Fliegen. Erfreut, Sie zu treffen,
Mister …«
»Marlowe«, sagte ich. »Sie werden mich nicht
kennen.«
»Ich kenne überhaupt keinen«, sagte er.
»Gedächtnis futsch. Sehe zu viele Leute. Ich heiße
Oppenheimer.«
»Jules Oppenheimer?«
Er nickte. »Genau. Zigarre?« Er hielt mir eine hin.
Ich zeigte ihm meine Zigarette. Er schmiss die
Zigarre in den Teich, dann verzog er plötzlich das
Gesicht. »Gedächtnis is futsch«, sagte er wehmütig.
»Jetzt hab ich fünfzig Cents verschwendet. Das
sollte ich nicht machen.«
»Ihnen gehört das Studio«, sagte ich.
Er nickte abwesend. »Ich hätte die Zigarre
aufheben sollen. Spare fünfzig Cents - wie viel hast
du dann?«
»Fünfzig Cents«, sagte ich und fragte mich, was er
da eigentlich quasselte.
»In diesem Geschäft nicht. Wenn du fünfzig Cents
sparst, zahlst du höchstens noch fünf Dollar für

- 209 -
Buchführung.« Er schwieg und machte den drei
Boxern ein Zeichen. Sie hörten mit ihrem Buddeln
auf und sahen ihn an. »Ich mache bloß das
Finanzielle«, sagte er. »Das ist leicht. Kommt,
Kinder, heim ins Bordell.« Er seufzte. »Fünfzehn-
hundert Kinos«, fügte er hinzu.
Ich muss wohl wieder meinen blöden Gesichts-
ausdruck auf mir gehabt haben. Er winkte mit der
Hand zum Innenhof. »Man braucht bloß fünfzehn-
hundert Kinos. Es ist, verdammt noch mal, leichter
als reinrassige Boxer zu züchten. Das Filmgeschäft
ist das einzige Geschäft auf der Welt, wo man alle
Fehler machen kann, die es gibt, und immer noch
verdient.«
»Es muss auch das einzige Geschäft in der Welt
sein, in dem man drei Hunde an den
Büroschreibtisch pissen lassen kann«, sagte ich.
»Man muss einfach fünfzehnhundert Kinos
haben.«
»Der Anfang wird schwer sein«, sagte ich.
Er sah erfreut aus. »Ja. Der ist wirklich schwer.« Er
sah über den grünen, kurzgeschorenen Rasen auf das
vierstöckige Gebäude, das eine Seite des offenen
Rechteckes bildete. »Das da drüben sind alles
Büros«, sagte er. »Ich gehe da nie hin. Sie sind
ständig am Renovieren. Werde ganz krank, wenn ich
sehe, was sich die Leute alles in ihre Zimmerfluch-
ten stellen. Es sind die teuersten Spezialisten der

- 210 -
Welt. Ich gebe ihnen alles, was sie wollen, soviel
Geld sie wollen. Warum? Einfach so, ohne Grund.
Gewohnheitssache. Is völlig egal, was sie machen
oder wie sie es machen. Man braucht bloß
fünfzehnhundert Kinos.«
»Aber es wäre Ihnen sicher nicht recht, wenn man
das schreiben würde, Mr. Oppenheimer?«
»Sind Sie ein Zeitungsmann?«
»Nein.«
»Schade. Bloß aus Jux sollte es mal jemand
versuchen, diese ganz simple Tatsache in die
Zeitung zu bringen.« Er unterbrach sich und
schnaubte verächtlich. »Niemand würde es drucken.
Die haben Angst. Also los, Kinder!«
Der große Hund, Maisie, lief herbei und stellte sich
neben ihn. Der mittlere machte noch eben eine
weitere Begonie kaputt und stellte sich dann neben
Maisie. Der kleine, Jock, stellte sich in die Reihe.
Aber dann hatte er eine plötzliche Eingebung und
hob das Bein gegen einen von Oppenheimers
Hosenaufschlägen. Maisie stupste ihn kurz, damit er
aufhörte.
»Sehn Sie?« Oppenheimer strahlte. »Jock wollte
mal zwischenrein. Maisie wollte es nicht zulassen.«
Er beugte sich nieder und tätschelte Maisies Kopf.
Sie sah bewundernd zu ihm auf.

- 211 -
»Die Augen eines Hundes«, sagte Oppenheimer
gedankenvoll, »das Unvergesslichste auf der Welt.«
Er schlenderte auf dem Fliesenpfad zum
Direktionsgebäude hin, gemächlich neben ihm die
drei Boxer.
»Mr. Marlowe?«
Ich drehte mich um und entdeckte, dass ein großer,
hellhaariger Mann, mit einer Nase, so groß wie ein
gewinkelter Ellenbogen, sich mir genähert hatte.
»Ich bin George Wilson. Erfreut, Sie zu sehen. Wie
ich sehe, kennen Sie Mr. Oppenheimer.«
»Hab mit ihm geredet. Er erzählte mir, wie man im
Filmgeschäft arbeitet. Offenbar braucht man einfach
nur fünfzehnhundert Kinos.«
»Ich arbeite seit fünf Jahren hier. Ich habe noch
kein Wort mit ihm gewechselt.«
»Sie werden einfach nicht von den richtigen
Hunden angepisst.«
»Da könnten Sie Recht haben. Womit kann ich
Ihnen helfen, Mr. Marlowe?«
»Ich möchte zu Mavis Weld.«
»Sie ist bei der Arbeit. Sie ist bei einem Film, der
gerade gedreht wird.«
»Könnte ich sie eine Minute bei der Arbeit sehen?«
Er schien Zweifel zu haben. »Was für einen
Passierschein haben Sie bekommen?«

- 212 -
»Einen gewöhnlichen Passierschein, glaube ich.«
Ich hielt ihn ihm hin. Er sah ihn an.
»Ballou schickt Sie. Er ist ihr Agent. Ich glaube, es
geht im Studio zwölf. Wollen Sie mit rüber gehen?«
»Wenn Sie Zeit haben.«
»Ich bin der Mann für die Öffentlichkeitsarbeit.
Dafür ist meine Zeit da.«
Wir wanderten auf dem Fliesenweg auf eine Lücke
zwischen zwei Gebäuden zu. Dort führte eine
Betonstraße zum Hintergelände und zu den Studios.
»Waren Sie bei Ballou im Büro?«
»Da komme ich her.«
»Das muß wohl ein Mordsunternehmen sein. Ich
wollte das auch mal versuchen, mit dieser Branche.
Aber da hat man nichts als Ärger.«
Wir kamen an einigen Studiopolizisten vorbei,
dann bogen wir in einen schmalen Pfad zwischen
zwei Studios. Ein rotes Blinklicht war über dem
Weg, über einem Eingang mit der Nummer zwölf
war eine rote Lampe, und über der Lampe schellte
ständig eine Glocke. Wilson hielt neben dem
Eingang an. Ein weiterer Polizist saß in seinem Stuhl
nach hinten gekippt und nickte Wilson zu. Er sah an
mir auf und ab, mit jenem leblosen Ausdruck, der
sich auf ihnen festsetzt wie Schimmel auf der
Kellerwand.

- 213 -
Die Glocke und das Blinklicht hörten auf, und das
rote Licht ging aus. Wilson öffnete eine schwere
Tür, und ich folgte ihm hinein. Innen war noch eine
Tür. Noch tiefer drinnen schien es, verglichen mit
dem Sonnenlicht, pechschwarz zu sein. Dann sah ich
gebündelte Scheinwerfer in der gegenüberliegenden
Ecke. Der Rest des riesigen Tonstudios schien leer
zu sein.
Wir gingen auf die Lampen zu. Als wir näher
kamen, wirkte der Boden wie mit schwarzen Kabeln
zugedeckt. Es gab Reihen von Klappstühlen und
mehrere tragbare Umkleideräume mit Namen an den
Türen. Wir waren auf der falschen Seite der Bühne,
und ich konnte nur die hölzernen Rückseiten und
links und rechts eine große Projektionsfläche sehen.
Ein paar Rückfilmprojektoren surrten an der Seite.
Eine Stimme rief: »Laß sie laufen.« Eine Klingel
schrillte. Dann belebten sich die Projektionsflächen
wie mit Wellengischt. Eine zweite, ruhigere Stimme
sagte: »Achten Sie auf Ihre Positionen, es könnte
sein, daß wir die kleine Szene gleich vertonen. Los,
tummelt euch.«
Wilson blieb stehen und berührte meinen Arm. Die
Stimmen der Schauspieler kamen aus unbestimmter
Richtung, weder laut noch deutlich, ein
bedeutungsloses Murmeln.

- 214 -
Plötzlich verschwand das Bild von einer der
Leinwände. Eine geschmeidige Stimme ohne jede
Modulation sagte »Schnitt«.
Wieder schrillte die Klingel, ein allgemeines
Geräusch von Bewegung war zu hören. Wilson und
ich gingen weiter. Er flüsterte mir ins Ohr: »Wenn
Ned Gammon diese Einstellung nicht vor Mittag
fertig hat, kriegt Torrance sein Fett.«
»Oh, das ist Torrance!« Dick Torrance war damals
grade einer der bekannteren zweitklassigen Stars, ein
ziemlich verbreiteter Typ eines Hollywood-
Schauspielers, den keiner wirklich mochte, den aber
viele schließlich nahmen, weil's nichts Besseres gab.
»Wie war's, wenn du die Szene noch mal machen
würdest, Dick?« fragte die ruhige Stimme, während
wir gerade um die Ecke der Kulisse kamen; jetzt sah
man, was es war - das rückwärtige Deck einer
Vergnügungsjacht. Auf dem Schauplatz waren zwei
Mädchen und drei Männer. Einer von ihnen war
mittleren Alters, in Sportkleidung, und lümmelte
sich auf einem Decksessel. Einer trug weiße Hosen
und hatte rotes Haar und sah aus wie der
Jachtkapitän.
Der dritte war ein Jachtamateur mit einer hübschen
Mütze, die blaue Jacke mit Goldknöpfen, mit weißen
Schuhen und weißen Hosen und hochmütigem
Charme. Das war Torrance. Eine der Damen war
eine dunkle Schönheit, die mal jünger gewesen war:

- 215 -
Susan Crawley. Die andere war Mavis Weld. Sie
trug einen weißen Badeanzug aus Haifischhaut.
Offensichtlich war sie gerade an Bord gekommen.
Der Make-up-Mann sprühte Wasser auf ihr Gesicht,
ihre Arme und an das Ende ihres blonden Haars.
Torrance hatte keine Antwort gegeben. Er drehte
sich ruckartig um und starrte auf die Kamera.
»Meinen Sie, ich kann meinen Text nicht?«
Aus dem dunklen Hintergrund kam ein
grauhaariger Mann in grauer Kleidung. Er hatte
brennende schwarze Augen, aber seine Stimme war
kühl.
»Falls Sie ihn nicht absichtlich geändert haben«,
sagte er, mit einem festen Blick auf Torrance.
»Es könnte ja sein, dass ich es nicht gewöhnt bin,
vor einem Hinterprojektor zu spielen, der immer
gerade in der Mitte der Szene leer läuft.«
»Sie haben recht, sich zu beschweren«, sagte Ned
Gammon. »Das Dumme ist, dass da nur 70 Meter
Film reingehen, und daran bin ich schuld. Wenn Sie
eben nur ein bisschen schneller spielen könnten – «
»Pah«, schnaufte Torrance. »Wenn ich mich
beeilen würde, vielleicht könnte man dann auch
Miss Weld dazu bewegen, etwas schneller auf die
Jacht zu klettern, als man braucht, um das
verdammte Schiff zu bauen.«

- 216 -
Mavis Weld warf ihm einen schnellen,
verachtungsvollen Blick zu.
»Das Tempo der Weld ist genau richtig«, sagte
Gammon. »Und sie spielt es auch genau richtig.«
Susan Crawley hob blasiert die Schultern. »Ich
hatte das Gefühl, dass sie ein bisschen mehr
aufdrehen könnte, Ned. Es ist gut, aber es könnte
besser sein.«
»Wenn es besser wäre, meine Liebe«, sagte Mavis
Weld sanftmütig, »könnte vielleicht jemand glauben,
dass hier wirklich gespielt würde. In deinem Film
würdest du doch so was nicht haben wollen, oder?«
Torrance lachte. Susan Crawley wandte sich um
und sah ihn böse an. »Was gibt's zu lachen, Mister
Dreizehn?«
Torrances Gesicht erstarrte zu einer kalten Maske.
»Wie war der Name noch mal?« er zischte beinahe.
»Lieber Himmel, wollen Sie sagen, Sie wissen das
nicht?« sagte Susan Crawley verwundert. »Sie
werden Mister Dreizehn genannt, weil jede Rolle
von Ihnen vorher von zwölf anderen abgelehnt
worden ist.«
»Tatsächlich«, sagte Torrance kühl, dann brach er
wieder in Gelächter aus. Er wandte sich an Ned
Gammon. »Okay, Ned. Nachdem jetzt alle ihr
Rattengift losgeworden sind, können wir es Ihnen
vielleicht so bringen, wie Sie es brauchen.«

- 217 -
Ned Gammon nickte. »Nichts reinigt die Luft so
wie ein bisschen Schmiere. Also gut, jetzt geht's
los.«
Er ging zurück neben die Kamera. Der Assistent
rief: »Lass laufen!«, und die Szene lief ohne Störung
durch.
»Schnitt«, sagte Gammon. »Kann kopiert werden.
Mittagspause für alle.«
Die Schauspieler kamen über ein paar Holztreppen
herunter und nickten Wilson zu. Zuletzt kam Mavis
Weld, die sich die Zeit genommen hatte, einen
Frottemantel und ein Paar Strandsandalen
anzuziehen. Sie blieb ruckartig stehen, als sie mich
sah. Wilson trat nach vorne.
»Tag, George«, sagte Mavis Weld. »Wollen Sie
was von mir?«
»Mr. Marlowe möchte kurz mit Ihnen sprechen.«
»Mr. Marlowe?«
Wilson warf mir einen schnellen, scharfen Blick
zu. »Von der Agentur Ballou. Ich dachte, Sie kennen
ihn.«
»Ich habe ihn vielleicht mal gesehen.« Sie sah
mich noch immer starr an. »Was gibt's denn?«
Ich sagte nichts.
Nach einem Augenblick sagte sie: »Danke,
George. Kommen Sie doch lieber mit in meine
Garderobe, Mr. Marlowe.«

- 218 -
Sie drehte sich um und ging am anderen Ende des
Bühnenbildes vorbei. Eine grünweiße Umkleide-
kabine stand an der Wand. Der Name an der Tür:
Miss Weld. An der Tür drehte sie sich und blickte
sich vorsichtig um. Dann heftete sie ihre
wunderschönen blauen Augen auf mein Gesicht.
»Und nun, Mr. Marlowe?«
»Sie kennen mich doch noch?«
»Ich glaube schon.«
»Sollen wir da weitermachen, wo wir aufgehört
haben – oder machen wir reinen Tisch und ein neues
Spiel?«
»Irgendjemand hat Sie hier reingelassen. Wer?
Wieso? Ich möchte eine Erklärung.«
»Ich arbeite für Sie. Ich habe einen Vorschuss
bekommen, und Ballou hat die Quittung.«
»Schön haben Sie sich das ausgedacht. Und wenn
ich jetzt nicht wünsche, dass Sie für mich arbeiten? -
Was wird das schon für eine Arbeit sein!«
»Na schön, wie Sie wollen«, sagte ich. Ich holte
das Foto von den ›Dancers‹ aus meiner Tasche und
zeigte es vor. Sie sah mich einen langen Augenblick
lang unbeweglich an, dann senkte sie die Augen. Sie
blickte auf den Schnappschuss von sich und
Steelgrave in der Sitzecke. Sie besah ihn ernst und
still. Dann hob sie sehr langsam die Hand und fasste
nach einer Strähne von feuchtem Haar auf einer

- 219 -
Seite ihres Gesichts. Sie zitterte ganz schwach. Ihre
Hand streckte sich her, und sie nahm das Foto. Sie
starrte es an. Die Augen hoben sich wieder -
langsam, langsam.
»Nun?« fragte sie.
»Ich habe das Negativ und noch ein paar Abzüge.
Sie hätten sie haben können, wenn Sie mehr Zeit
gehabt und an der richtigen Stelle gesucht hätten.
Oder wenn er lebendig geblieben wäre und sie Ihnen
verkauft hätte.«
»Mir ist ein bisschen kühl«, sagte sie. »Und ich
muss was essen.« Sie hielt mir das Foto hin.
»Ihnen ist ein bisschen kühl, und Sie müssen was
essen«, sagte ich. Mir schien, als bewegte sich eine
Ader an ihrem Hals. Aber das Licht war nicht
besonders. Sie lächelte schwach. Nach Art von
gelangweilten Adeligen.
»Mir ist nicht klar, was das alles bedeuten soll«,
sagte sie.
»Sie halten sich zu häufig auf Jachten auf. Was Sie
sagen wollen ist, ich kenne Sie und ich kenne
Steelgrave, also, was ist an dem Foto dran, dass
irgend jemand mir ein Hundehalsband mit Brillanten
dafür geben würde?«
»Genau«, sagte sie. »Was ist damit?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber wenn man
das herauskriegen muss, damit Sie endlich Ihre

- 220 -
blasierte Tour aufgeben, dann kriege ich es raus.
Und dabei ist Ihnen immer noch kühl, und Sie
müssen was essen.«
»Und Sie haben zu lange gewartet«, sagte sie
ruhig. »Sie haben nichts zu verkaufen. Außer
vielleicht Ihr Leben.«
»Das würde ich billig abgeben. Einfach aus Liebe
zu einer dunklen Brille und einem hellblauen Hut
und einem Loch im Kopf von einem
Bleistiftabsatz.«
Ihr Mund verzog sich, als würde sie gleich lachen.
Aber in ihren Augen war kein Lachen.
»Nicht zu vergessen drei Ohrfeigen«, sagte sie.
»Wiedersehen, Mr. Marlowe. Sie sind zu spät
gekommen. Viel, viel zu spät.«
»Für mich oder für Sie?« Sie griff hinter sich und
öffnete die Garderobentür.
»Ich glaube, für uns beide.« Sie ging schnell hinein
und ließ die Tür offen.
Ich ging hinein und machte die Tür zu. Es war
keine von den üblichen luxuriösen Star-Garderoben.
Nur das Nötigste. Eine abgeschabte Couch war drin,
ein Sessel, ein kleiner Schminktisch mit Spiegel und
zwei Lampen, davor ein harter Stuhl und ein Tablett,
auf dem Kaffee stand. Mavis Weld griff nach unten
und steckte den Stecker einer elektrischen
Heizsonne in die Steckdose. Dann nahm sie ein

- 221 -
Handtuch und rieb die feuchten Haarsträhnen
trocken. Ich setzte mich auf die Couch und wartete.
»Geben Sie mir eine Zigarette.« Sie warf das
Handtuch zur Seite. Ihre Augen kamen dicht an
mein Gesicht, als ich ihr die Zigarette anzündete.
»Wie hat Ihnen die kleine Szene gefallen, die wir da
auf der Jacht improvisiert haben?«
»Biestig.«
»Wir sind alle biestig. Manche lächeln mehr als
andere, das ist der ganze Unterschied. Schau-
spielerei. Es hat was Billiges. Es ist immer so
gewesen. Früher mussten die Schauspieler durch
Hintertüren eintreten. Für die meisten müsste das
immer noch so sein. Große Anspannung, großer
Zeitdruck, großer Hass, und das entlädt sich dann in
hässlichen kleinen Szenen. Sie haben nichts zu
bedeuten.«
»Sie reden um den heißen Brei.«
Sie hob ihre Hand und fuhr mir mit der
Fingerspitze über Schläfe und Wange. Es brannte
wie glühendes Eisen. »Wie viel Geld verdienen Sie,
Marlowe?«
»Vierzig Dollar im Tag und Spesen. Soviel
verlange ich meistens. Ich nehme auch fünfund-
zwanzig. Ich habe auch noch weniger genommen.«
Ich dachte an Orfamays abgenutzten Zwanziger.

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Sie machte noch mal dasselbe mit ihrem Finger,
und ich tat nichts dagegen, packte nicht ihre Hand.
Sie entfernte sich von mir und setzte sich in den
Sessel, wobei sie ihren Mantel zusammenzog. Die
Heizsonne machte den kleinen Raum warm.
»Fünfundzwanzig Dollar am Tag«, sagte sie
kopfschüttelnd.
»Kleine einsame Dollars.«
»Sind sie sehr einsam?«
»Einsam wie ein Leuchtturm.«
Sie schlug die Beine übereinander, und der leichte
Glanz ihrer Haut schien den Raum auszufüllen.
»Also, dann fragen Sie mal«, sagte sie und machte
keinerlei Anstalten, ihre Schenkel zu verbergen.
»Wer ist Steelgrave?«
»Ein Mann, den ich seit Jahren kenne. Und mag. Er
besitzt ein paar Sachen. Ein paar Restaurants. Wo er
herkommt, weiß ich nicht.«
»Aber Sie kennen ihn sehr gut?«
»Warum fragen Sie nicht, ob ich mit ihm schlafe?«
»Solche Fragen stelle ich nicht.«
Sie lachte und schnippte die Asche von ihrer
Zigarette. »Miss Gonzales würde es Ihnen gern
erzählen.«
»Zum Teufel mit Miss Gonzales.«

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»Sie ist dunkel und schön und leidenschaftlich.
Und sehr, sehr freundlich.«
»Und exklusiv wie ein Briefkasten«, sagte ich.
»Zum Teufel mit ihr. Noch mal zu Steelgrave – hat
er mal Ärger gehabt?«
»Wer hat das nicht?«
»Ich meine mit der Polizei.«
Ihre Augen wurden größer, sie waren etwas zu
unschuldig. Ihr Lachen war etwas zu silbern.
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Der Mann ist
millionenschwer.«
»Wie hat er das geschafft?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Also gut. Sie wissen es nicht. Sie verbrennen sich
gleich die Finger mit der Zigarette.« Ich beugte mich
hinüber und nahm den Stummel aus ihrer Hand. Ihre
Hand lag offen auf ihrem nackten Bein. Ich berührte
den Handteller mit der Fingerspitze. Sie rückte von
mir ab und machte eine Faust aus der Hand.
»Lassen Sie das«, sagte sie scharf.
»Wieso? Als Kind habe ich das oft bei Mädchen
gemacht.«
»Ich kenne das.« Sie atmete kürzer. »Ich komme
mir sehr jung dabei vor, jung, unschuldig und
irgendwie unartig. Aber es ist lange her, dass ich
jung und unschuldig war.«

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»Dann wissen Sie also wirklich nichts über
Steelgrave?«
»Es wäre mir lieb, wenn Sie sich endlich
entschließen könnten, ob Sie mich unter
Mordanklage stellen oder mich lieben wollen.«
»Es ist nicht eine Frage des Entschließens«, sagte
ich.
Nach einem Schweigen sagte sie: »Hören Sie,
Marlowe, ich muss wirklich etwas essen. Ich arbeite
heute Nachmittag. Sie wollen doch nicht, dass ich
auf offener Szene zusammenbreche?«
»Das machen doch nur Stars.« Ich stand auf.
»Also, jetzt gehe ich. Nicht vergessen: ich arbeite
für Sie. Wenn ich glaubte, dass Sie jemand
umgebracht haben, würde ich das nicht tun. Aber Sie
waren am Ort. Sie sind ein großes Risiko einge-
gangen. Da gab es irgendwas, was Sie dringend ha-
ben wollten.«
Sie nahm sich noch einmal das Foto von
irgendwoher, betrachtete es und biss sich die Lippen.
Sie hob die Augen, ohne den Kopf zu bewegen.
»Das wird es wohl kaum gewesen sein.«
»Es war etwas, das so gut versteckt war, dass es
nicht gefunden wurde. Aber was für einen Wert hat
es? Sie und ein Mann namens Steelgrave an einem
Tisch in den ›Dancers‹. Ist nichts dabei.«
»Gar nichts dabei«, sagte sie.

- 225 -
»Also muss es etwas sein, was mit Steelgrave zu
tun hat - oder mit dem Datum.«
Ihre Augen senkten sich schnell wieder auf das
Bild. »Da ist nichts, woraus man das Datum
ersieht«, sagte sie schnell. »Selbst wenn es
irgendwie wichtig wäre. Höchstens das ausge-
schnittene Stück«
»Hier.« Ich reichte ihr das herausgeschnittene
Stück. »Aber Sie brauchen eine Lupe. Zeigen Sie's
Steelgrave. Fragen Sie ihn, ob es was bedeutet. Oder
fragen Sie Ballou.«
Ich machte mich auf den Weg zur Tür der
Garderobe. »Reden Sie sich nicht ein, dass man das
Datum nicht feststellen könnte«, sagte ich über die
Schulter. »Steelgrave tut es auch nicht.«
»Sie bauen auf Sand, Marlowe.«
»Meinen Sie?« Ich drehte mich um und sah sie an,
ohne zu lächeln. »Meinen Sie wirklich? O nein! Sie
sind dorthin gegangen. Der Mann ist ermordet
worden. Sie hatten einen Revolver. Er war ein
bekannter Krimineller. Und ich habe etwas gefunden
- und die Polizei wäre nur zu glücklich, wenn ich es
vor ihnen verstecken würde. Weil da soviel Indiz
dranhängt, wie Salz im Meer ist. Solange die Polente
es nicht findet, habe ich meine Lizenz. Und solange
niemand anders es findet, kriege ich keinen Eisdorn
in den Hals. Finden Sie, daß ich einen überbezahlten
Beruf habe?«

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Sie saß einfach da und sah mich an, eine Hand lag
auf dem Knie und drückte es. Die andere Hand
fingerte rastlos auf der Lehne des Sessels.
Ich brauchte nur den Kopf zu drehen und
rauszugehen. Ich weiß nicht, warum es einem so
schwer gemacht wurde.

- 227 -
20

Im Korridor vor meinem Büro war der übliche


lebhafte Publikumsverkehr, und als ich die Tür
öffnete und in die lautlose Muffigkeit meines
kleinen Wartezimmers trat, war es das gewöhnliche
Gefühl, als sei man in einen Brunnen gefallen, der
vor zwanzig Jahren ausgetrocknet ist und zu dem
niemand mehr kommt. Der Geruch von altem Staub
lag in der Luft, so abgestanden wie ein Interview mit
einem Fußballer.
Ich öffnete die zweite Tür, und dahinter war die
gleiche tote Luft, der gleiche Staub auf dem Furnier,
dasselbe gebrochene Versprechen eines leichten
Lebens. Ich machte die Fenster auf und das Radio
an. Es fing überlaut zu spielen an, und als ich es
leiser gestellt hatte, kam es mir vor, als hätte das
Telefon schon eine Weile geklingelt. Ich nahm
meinen Hut ab und den Hörer auf.
Höchste Zeit, dass ich mal wieder von ihr hörte.
Ihre feste kühle Stimme sagte: »Diesmal ist es mir
wirklich ernst.«
»Na los.«
»Bisher habe ich gelogen. Jetzt lüge ich nicht. Ich
habe wirklich was von Orrin gehört.«
»Weiter.«

- 228 -
»Sie glauben mir nicht. Ich höre es aus Ihrer
Stimme.«
»Sie können an meiner Stimme gar nichts hören.
Ich bin ein Detektiv. Wie haben Sie von ihm
gehört?«
»Er telefonierte aus Bay City.«
»Moment mal.« Ich legte den Hörer auf die
fleckige Löschblattunterlage und zündete meine
Pfeife an. Nur keine Eile. Lügen sind immer
geduldig. Ich nahm wieder auf.
»Wir haben doch diese Masche schon mal
abgezogen«, sagte ich. »Sie sind recht vergesslich
für Ihr Alter. Ich glaube nicht, dass Dr. Zugsmith
das gerne sehen würde.«
»Bitte spotten Sie nicht. Es ist sehr ernst. Er hat
meinen Brief bekommen. Er ging zum Postamt und
fragte nach seiner Post. Er wusste, wo ich wohnen
wollte. Und ungefähr wann. So hat er angerufen. Er
ist bei einem Doktor, den er dort kennen gelernt hat.
Macht irgendwelche Arbeit für ihn. Ich habe Ihnen
ja erzählt, daß er zwei Jahre Medizin studiert hatte.«
»Heißt der Doktor irgendwie?«
»Ja, ein komischer Name. Dr. Vincent Lagardie.«
»Moment mal. Da ist jemand an der Tür.«
Ich legte den Hörer sehr vorsichtig ab. Vielleicht
war er sehr zerbrechlich. Vielleicht bestand er aus
hauchdünnem Glas. Ich zog ein Taschentuch heraus

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und wischte mir den Handballen - in dem der Hörer
gelegen hatte. Ich stand auf, ging zu der
Einbaugarderobe und blickte auf mein Gesicht in
dem fleckigen Spiegel. Ja, ja, das war ich. Ich sah
angespannt aus. Ich hatte anstrengend gelebt.
Dr. Vincent Lagardie, 965 Wyoming Street. Schräg
gegenüber vom ›Garland-Haus des ewigen
Friedens‹. Holzhaus an der Ecke. Still. Hübsche
Gegend. Freund vom verblichenen Clausen.
Vielleicht. Nach seiner Aussage nicht. Vielleicht
doch.
Ich kehrte zum Telefon zurück, meine Stimme
klang gepresst vor Unbehagen. »Wie buchstabieren
Sie das?« fragte ich.
Sie buchstabierte es schnell und genau. »Also
brauchen wir nichts zu machen, was?« sagte ich.
»Jedes Blümchen hat sein Engelchen, oder wie sagt
man es in Manhattan, Kansas?«
»Bitte, reden Sie nicht so mit mir. Orrin hat großen
Ärger. Irgendwelche …« — ihre Stimme bebte ein
bisschen, und der Atem ging schneller.
»Irgendwelche Gangster sind hinter ihm her.«
»Reden Sie keinen Unsinn, Orfamay. Gangster
gibt's nicht in Bay City. Die arbeiten alle beim Film.
Was hat Dr. Lagardie für eine Telefonnummer?«
Sie gab sie mir. Sie stimmte. Ich will nicht gerade
sagen, daß die Teile allmählich zusammenpassten,
aber wenigstens sah es so aus, als gehörten sie alle

- 230 -
zum gleichen Puzzle. Und mehr kann man kaum
erwarten.
»Bitte fahren Sie hin, besuchen Sie ihn, helfen Sie
ihm. Er hat Angst, aus dem Haus zu gehen.
Schließlich habe ich Sie bezahlt.«
»Ich hab's zurückgegeben.«
»Na ja, und ich hab's Ihnen wieder angeboten.«
»Sie haben mir auch andere Dinge so halbwegs
angeboten, die ich lieber nicht angenommen habe.«
Es blieb still.
»Also gut«, sagte ich. »Also schön. Wenn ich noch
so lange frei herumlaufe. Ich habe selber einen
Haufen Ärger.«
»Warum?«
»Gelogen und nicht die Wahrheit gesagt. Ich falle
immer damit rein. Ich habe nicht so viel Glück wie
gewisse Leute.«
»Aber ich lüge nicht, Philip. Ich lüge bestimmt
nicht. Ich bin in Panik.«
»Dann atmen Sie mal tief und seien Sie in Panik,
damit ich es hören kann.«
»Sie könnten ihn töten«, sagte sie ruhig.
»Und was macht Dr. Lagardie währenddessen?«
»Er weiß natürlich nichts davon. Bitte, bitte gehen
Sie hin. Ich habe die Adresse hier. Einen
Augenblick.«

- 231 -
Und nun klingelte das Glöckchen, dieses
Glöckchen, das ganz am Ende des Korridors
klingelt, gar nicht laut, aber man sollte es hören.
Egal, was da sonst noch für Geräusche sind, man
sollte es unbedingt hören.
»Er wird im Telefonbuch sein«, sagte ich. »Und
komischerweise habe ich sogar ein Telefonbuch von
Bay City. Rufen Sie um vier an. Oder um fünf.
Sagen wir lieber fünf.«
Ich legte schnell auf. Ich erhob mich und stellte das
Radio ab, nachdem ich nichts davon mit
Bewusstsein gehört hatte. Ich schloss die Fenster.
Ich zog die Schublade meines Schreibtisches auf,
holte die Luger raus und schnallte sie um. Ich stülpte
mir den Hut auf den Kopf. Beim Rausgehen warf ich
noch einen Blick auf das Gesicht im Spiegel.
Ich sah aus, als sei ich entschlossen, mich von
einem Felsen zu stürzen.

- 232 -
21

Im ›Haus des ewigen Friedens‹ wurde gerade eine


Begräbnisfeier beendet. Ein großer grauer Leichen-
wagen wartete vor dem Seitenausgang. Autos
drängten sich auf beiden Straßenseiten, drei
schwarze Limousinen hintereinander an Dr.
Lagardies Etablissement entlang. Leute kamen
langsam den Weg von der Begräbniskapelle herunter
und stiegen in ihre Autos. Ich hielt kurz davor und
wartete. Die Wagen bewegten sich nicht. Dann
kamen drei Leute mit einer Frau, die tief verschleiert
war und ganz in Schwarz. Sie trugen sie beinahe zu
einer großen Limousine. Der Oberleichenbestatter
sprang herum und machte geschmeidige kleine
Gesten und Körperbewegungen von der Grazie eines
Chopin-Nocturnes. Sein gesetztes graues Gesicht
war so lang, dass man es zweimal um den Hals
wickeln konnte.
Einige Trauergäste trugen den Sarg durch das
Seitentor hinaus, dann kamen die professionellen
Sargträger, nahmen ihnen die Last ab und hoben sie
von hinten in den Leichenwagen, mit einer
Leichtigkeit, als sei sie nicht schwerer als ein Korb
mit Hörnchen. Blumen häuften sich darüber zu
einem Hügel. Die Glastüren wurden geschlossen,
und überall in der Nähe starteten Motoren.

- 233 -
Ein paar Augenblicke später war nichts übrig außer
einer Limousine auf der anderen Seite und dem
Oberleichenbestatter, der an einem Rosenbusch
schnüffelte und sich dann ins Innere begab, um das
eingenommene Geld zu zählen. Mit einem
strahlenden Lächeln verschwand er in seinem
hübschen klassizistischen Windfang, und die Welt
war wieder leer und bewegungslos. Die restliche
Limousine hatte sich nicht bewegt. Ich fuhr vorbei,
kehrte um und stellte mich dahinter. Der Fahrer trug
eine blaue Uniform und eine weiche Mütze mit
einem glänzenden Schirm. Er beschäftigte sich mit
einem Kreuzworträtsel aus der Morgenzeitung. Ich
setzte eine von diesen verspielten Sonnenbrillen auf
meine Nase und ging an ihm vorbei zu Dr. Lagardies
Haus. Er sah nicht auf. Als ich ein paar Meter weiter
war, nahm ich die Gläser ab und tat, als wollte ich
sie mit meinem Taschentuch putzen. Ich beobachtete
ihn durch eines der Spiegelgläser. Er sah noch
immer nicht auf. Es war einfach ein Mann über
einem Kreuzworträtsel. Ich setzte die Brille wieder
auf und ging um das Haus herum zu Dr. Lagardies
Eingangstür.
Auf dem Schild über der Tür stand: Klingeln, dann
eintreten. Ich klingelte, aber die Tür blieb zu, und
ich konnte nicht eintreten. Ich wartete. Klingelte
wieder. Wartete wieder. Drinnen war Stille. Dann
öffnete sich die Tür sehr langsam um einen Spalt,

- 234 -
und ein dünnes, ausdrucksloses Gesicht über einer
weißen Uniform blickte zu mir heraus.
»Bedaure. Der Doktor empfängt heute keine
Patienten.« Sie sah zwinkernd auf die Spiegelgläser.
Sie mochte sie nicht. Ihre Zunge bewegte sich
ruhelos hinter den Lippen.
»Ich möchte zu einem Mr. Quest. Orrin P. Quest.«
»Zu wem?« Ein schwacher, erschrockener Glanz
war tief in ihren Augen.
»Quest. Q wie Quintessenz, U wie ungehemmt, E
wie Erscheinung, S wie surrealistisch, T wie tot.
Alle zusammen ergeben das Wort Bruder.«
Sie sah mich an, als wäre ich gerade vom
Meeresgrund aufgestiegen, mit einer Meerjungfrau
unter dem Arm.
»Bitte entschuldigen Sie. Dr. Lagardie empfängt
heute…«
Sie wurde von unsichtbaren Händen zur Seite
geschoben, dann stand ein dunkler, geisterhafter
Mann in der halboffenen Tür.
»Ich bin Dr. Lagardie. Worum geht es bitte?«
Ich gab ihm eine Karte von mir. Er las sie. Er sah
mich an. Er hatte den blutleeren, verkniffenen
Ausdruck eines Mannes, der eine Katastrophe
erwartet.
»Wir haben miteinander telefoniert«, sagte ich.
»Wegen eines Mannes namens Clausen.«

- 235 -
»Bitte, kommen Sie rein«, sagte er schnell. »Ich
erinnere mich nicht, aber kommen Sie mal rein.«
Ich ging hinein. Der Raum war dunkel, die
Rollvorhänge waren heruntergezogen, die Fenster
geschlossen. Es war dunkel und es war kalt.
Die Sprechstundenhilfe zog sich zurück und setzte
sich hinter einen kleinen Schreibtisch. Es war ein
gewöhnliches Wohnzimmer mit hell angemalter
Holztäfelung, die früher, entsprechend dem
mutmaßlichen Alter des Hauses, dunkel gewesen
war. Leichte Sessel standen herum und in der Mitte
ein Tisch mit Zeitschriften. Es sah genauso aus, wie
es wirklich war: ein Empfangsraum eines Arztes, der
seine Praxis in einem ehemaligen Wohnhaus hatte.
Auf dem Schreibtisch vor der Praxishilfe klingelte
das Telefon. Sie fuhr zusammen, und ihre Hand hob
sich, dann hielt sie inne. Sie starrte auf das Telefon.
Etwas später hörte es auf zu klingeln.
»Wie war noch mal der Name, den Sie
erwähnten?« fragte Dr. Lagardie mich weich.
»Orrin Quest. Seine Schwester hat mir erzählt, dass
er irgendwelche Arbeiten für Sie verrichtet, Doktor.
Ich suche ihn seit Tagen. Gestern Nacht hat er sie
angerufen. Wie sie sagte, von hier aus.«
»Es gibt hier niemanden dieses Namens«, sagte Dr.
Lagardie höflich. »Es hat auch noch nie so jemanden
gegeben.«

- 236 -
»Sie kennen ihn also gar nicht?«
»Habe noch nie von ihm gehört.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum er dann
seiner Schwester so etwas erzählen sollte.«
Die Praxishilfe betupfte heimlich ihre Augen.
Plötzlich surrte das Telefon auf ihrem Schreibtisch,
und sie fuhr wieder zusammen. »Nehmen Sie nicht
auf«, sagte Dr. Lagardie, ohne den Kopf zu wenden.
Wir warteten, solange es läutete. Alle Leute
warten, wenn das Telefon läutet. Nach einiger Zeit
hörte es auf.
»Sie können nach Hause gehen, Miss Watson. Hier
gibt es nichts mehr zu tun.«
»Vielen Dank, Doktor.« Sie saß bewegungslos da,
sah auf den Schreibtisch. Sie drückte die Augen
zusammen und zwinkerte mit ihnen. Dann schüttelte
sie, ein wenig verzweifelt, den Kopf.
Dr. Lagardie wandte sich wieder zu mir. »Gehen
wir doch in mein Büro.«
Wir gingen hinüber durch eine andere Tür, die zu
einem
Vorplatz führte. Ich ging wie auf Eiern. Die
Atmosphäre dieses Hauses war voller Vorahnung. Er
öffnete eine Tür und ließ mich in ein Zimmer, das
einmal ein Schlafzimmer gewesen sein mußte, aber
nichts erinnerte an ein Schlafzimmer. Es war ein
kleines, enges Arztbüro. Durch eine offene Tür sah

- 237 -
man den Ausschnitt eines Untersuchungsraums. In
der Ecke war ein Sterilisierapparat in Betrieb. Eine
Menge Spritzen wurden darin gekocht.
»Das sind aber viele Spritzen«, sagte ich. Ich habe
immer so rasche Einfälle.
»Setzen Sie sich, Mr. Marlowe.«
Er begab sich hinter den Schreibtisch, setzte sich
und griff zu einem langen, dünnen Brieföffner-
messer.
Er sah mich mit seinen sorgenvollen Augen von
unten herauf an. »Nein, ich kenne niemand namens
Orrin Quest, Mr. Marlowe. Ich kann mir keinerlei
Grund vorstellen, warum jemand dieses Namens
behaupten sollte, dass er hier in meinem Haus ist.«
»… und sich versteckt«, sagte ich.
Seine Augenbrauen hoben sich. »Wovor?«
»Vor gewissen Leuten, die ihm vielleicht gern
einen Eisdorn ins Genick stoßen wollen. Auf Grund
der Tatsache, dass er ein bisschen zu fix mit seiner
kleinen Leica ist. Indem er Bilder von Leuten macht,
wenn sie für sich sein wollen. Oder vielleicht ist es
auch noch was anderes, wie Hasch dealen, wobei er
seine Erfahrungen gemacht hat. Spreche ich in
Rätseln?«
»Sie waren es, der die Polizei hergeschickt hat«,
sagte er kühl.
Ich sagte nichts.

- 238 -
»Sie waren es, der anrief und berichtete, dass
Clausen tot sei.«
Ich sagte das gleiche wie vorher.
»Sie waren es, der mich anrief und mich fragte, ob
ich Clausen kenne. Ich sagte, ich kenne ihn nicht.«
»Aber das stimmte nicht.«
»Aber ich hatte keinerlei Verpflichtung, Ihnen
Informationen zu geben, Mr. Marlowe.«
Ich nickte, holte eine Zigarette heraus und zündete
sie an. Dr. Lagardie warf einen Blick auf seine Uhr.
Er drehte sich mit seinem Stuhl und schaltete den
Sterilisator aus. Ich schaute auf die Spritzen. Ein
Haufen Spritzen. Ich hatte schon einmal mit einem
Menschen in Bay City Ärger gehabt, der einen
Haufen Spritzen abkochte.
»Was für eine Masche ist es denn?« fragte ich ihn.
»Der Jachthafen?«
Er nahm das bösartig aussehende Papiermesser in
die Hand - sein Griff hatte die Form einer nackten
Frau. Er drückte mit der Spitze auf die
Daumenwölbung. Ein Tropfen dunkles Blut trat aus.
Er legte den Daumen an den Mund und leckte ihn.
»Ich liebe den Geschmack von Blut«, sagte er
sanftmütig.
Ein entferntes Geräusch war zu hören, als ob
jemand die Eingangstür öffnete und schloss. Wir
horchten beide aufmerksam. Wir horchten auf die

- 239 -
Schritte, die sich über die Stufen vor dem Haus
entfernten. Wir horchten mit aller Kraft.
»Miss Watson ist nach Hause gegangen«, sagte Dr.
Lagardie. »Wir sind allein im Haus.« Er brütete
darüber nach und leckte wieder den Daumen. Er
legte das Messer mit Sorgfalt auf die Lösch-
unterlage. »Ach so, die Frage nach dem Jachthafen«,
fuhr er fort. »Sie denken zweifellos daran, wie nahe
Mexiko ist. Und wie leicht Marihuana …«
»Ich dachte eigentlich nicht mehr so sehr an
Marihuana.« Ich blickte wieder auf die Spritzen. Er
folgte mir mit den Augen. Er hob die Schultern.
Ich sagte: »Warum so viele?«
»Geht Sie das was an?«
»Mich geht gar nichts was an.«
»Aber anscheinend erwarten Sie Antwort auf Ihre
Fragen?«
»Ich rede ja nur«, sagte ich. »Ich warte, dass was
passiert. Irgendwas wird in diesem Haus passieren.
Ich spüre, wie es aus der Ecke schielt.«
Dr. Lagardie leckte noch Blutstropfen von seinem
Daumen.
Ich sah ihn scharf an. Aber ich kam nicht weiter
rein in ihn. Er war still, dunkel und kaputt, und das
ganze Elend des Lebens lag in seinen Augen. Aber
noch immer war er freundlich.

- 240 -
»Soll ich Ihnen mal was über die Spritzen sagen«,
sagte ich.
»Aber bitte!« Er griff wieder zu dem langen
dünnen Messer.
»Hören Sie auf damit«, sagte ich heftig. »Ich
kriege die Gänsehaut, wenn ich bloß hinschaue. Wie
wenn einer mit Schlangen schläft.«
Er legte das Messer wieder ab und lächelte. »Wir
drehen uns im Kreis«, meinte er.
»Wir kommen schon hin. Noch mal zu den
Spritzen. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Fall,
der mich in diese Gegend hier führte. Ich bekam es
mit einem Doktor namens Almore zu tun. Der
wohnte drüben in der Altair Street. Er hatte eine
komische Praxis. Nachts schob er los mit einer
großen Tasche voller Injektionsnadeln - alle fertig
zum Spritzen. Alle dick voller Stoff. Er hatte schon
eine merkwürdige Praxis. Trinker, süchtige Reiche,
von denen es mehr gibt, als die Leute glauben,
hochgepeppte Leute, die sich so weit gebracht
hatten, dass sie nie mehr zur Ruhe kamen.
Chronische Schlaflose und was es sonst noch für
Neurotiker gibt, die nicht normal leben können. Die
müssen ihre kleinen Pillen haben und ihre kleinen
Schüsse in den Arm. Man muss ihnen über den Berg
helfen. Allmählich wird es alles ein einziger Berg.
Gutes Geschäft für den Doktor. Almore war der
Doktor, den sie brauchten. Man kann es jetzt ruhig

- 241 -
sagen. Er ist vor einem Jahr gestorben. An seiner
eigenen Medizin.«
»Und Sie glauben, dass ich vielleicht seine Praxis
geerbt habe?«
»Jemand wird sie schon geerbt haben. Solange es
Patienten gibt, wird es einen Doktor geben.«
Er wirkte noch stärker erschöpft als vorher.
»Lieber Freund, ich glaube, Sie sind ein Dummkopf.
Ich habe Dr. Almore nicht gekannt. Und ich habe
auch nicht die Art von Praxis, die Sie ihm
zuschreiben. Was die Spritzen angeht – nur um diese
Kleinigkeit aus der Welt zu schaffen – sie werden
heute in der Medizin ständig benutzt, oft für ganz
harmlose Arzneien wie Vitaminspritzen. Und
Nadeln werden stumpf. Und wenn sie stumpf sind,
tun sie weh. Deshalb benutzt man eben im Laufe des
Tages ein Dutzend oder mehr. Und in keiner von
ihnen ist Rauschgift.«
Er hob langsam den Kopf und starrte mich mit
unbeweglicher Verachtung an.
»Vielleicht irre ich mich«, sagte ich. »Nachdem ich
gestern diesen Haschgeruch in Clausens Haus roch
und er Ihre Telefonnummer wählte und Sie dann
beim Vornamen nannte – durch alle diese Vorgänge
habe ich wohl die falschen Schlüsse gezogen.«
»Ich habe mit Süchtigen zu tun gehabt«, sagte er.
»Welcher Arzt hat das nicht? Es ist nur
Zeitverschwendung.«

- 242 -
»Sie werden manchmal geheilt.«
»Man kann ihnen ihren Stoff wegnehmen.
Schließlich, nach großen Leiden, kommen sie ohne
ihn aus. Das heißt nicht, dass sie geheilt sind, mein
Freund. Dadurch beseitigt man nicht die emotionale
Schwäche, durch die sie süchtig geworden sind. Man
macht aus ihnen dumpfe Nihilisten, die in der Sonne
sitzen, Däumchen drehen und vor lauter Langeweile
und Antriebslosigkeit sterben.«
»Das ist eine ziemlich böse Theorie, Doktor.«
»Sie haben mit dem Thema angefangen. Ich habe
es aus dem Weg geräumt. Ich werde jetzt auf ein
anderes Thema kommen. Sie haben vielleicht eine
gewisse gespannte Atmosphäre in diesem Haus
bemerkt. Sogar hinter Ihren idiotischen Spiegel-
gläsern. Die Sie jetzt ruhig abnehmen können. Sie
sehen damit keineswegs aus wie Cary Grant.«
Ich nahm sie ab. »Ich habe gar nicht mehr dran
gedacht.«
»Die Polizei ist hier gewesen, Mr. Marlowe. Ein
gewisser Leutnant Maglashan, der Clausens Tod
untersucht. Er würde Sie gerne kennen lernen. Soll
ich ihn mal anrufen? Er würde sicher gleich
wiederkommen.«
»Na schön, rufen Sie ihn an«, sagte ich. »Ich bin
hier nur grade vorbeigekommen - auf meinem Weg
zum Selbstmord.«

- 243 -
Seine Hand bewegte sich zum Telefon, aber sie
wurde durch die magnetischen Kräfte des Papier-
messers abgelenkt. Er griff wieder danach.
Anscheinend konnte er es nicht lassen.
»Damit könnte man einen Menschen töten«, sagte
ich.
»Ohne weiteres« — er lächelte ein wenig.
»Vier Zentimeter hinten in den Hals, genau auf die
richtige Stelle unter dem Hinterhauptbein.«
»Mit einem Eisdorn ginge es besser«, sagte er.
»Vor allem mit einem kurzen, entsprechend
zurechtgefeilten. Er würde sich nicht biegen. Wenn
man das Rückenmark nicht träfe, würde man nicht
viel Schaden anrichten.«
»Man muss also medizinisch ein bisschen
beschlagen sein?« Ich zog eine zerdrückte alte
Packung Camel raus und fummelte eine aus dem
Cellophan.
Er lächelte immer weiter. Sehr schwach und
ziemlich traurig. Es war nicht das Lächeln eines
Mannes, der Angst hat. »Das schadet nichts«, sagte
er sanft. »Aber jeder einigermaßen geschickte
Mensch könnte sich die Technik in zehn Minuten
aneignen.«
»Orrin Quest hat ein paar Jahre Medizin studiert«,
sagte ich.

- 244 -
»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich niemand mit
diesem Namen kenne.«
»Sicher, weiß ich. Und ich glaube Ihnen nicht.«
Er zuckte die Achseln. Aber schließlich wanderten
seine Augen immer wieder zu dem Messer.
»Wir sind so ein paar Herzchen«, sagte ich. »Da
sitzen wir und spulen den guten alten Dialog über
den Schreibtisch herunter. Als ob wir sonst keine
Sorgen hätten. Wo wir doch beide noch vor
Dunkelheit im Kittchen sitzen werden.«
Er hob wieder seine Augenbrauen. Ich führ fort:
»Sie, weil Clausen Sie beim Vornamen genannt
hat. Und vielleicht sind Sie der letzte gewesen, mit
dem er geredet hat. Ich, weil ich lauter Sachen
gemacht habe, die ein Privatdetektiv sich einfach
nicht leisten kann. Verstecken von Beweismitteln,
Verstecken von Information oder eine Leiche finden
und nicht sofort mit dem Hut in der Hand bei diesen
reizenden, unbestechlichen Polypen von Bay City zu
erscheinen. Oh, ich bin unten durch. Aber heute
Nachmittag ist irgendein aufregender Geruch in der
Luft. Irgendwie ist es mir egal. Oder vielleicht bin
ich verliebt. Es ist mir einfach egal.«
»Sie haben getrunken«, sagte er langsam.
»Nur Chanel Nr. 5 und Küsse und den schweren
Glanz von köstlichen Beinen und eine halbernste

- 245 -
Einladung von tiefblauen Augen. Nur solche
harmlosen Sachen.«
Er sah trauriger aus als zuvor. »Frauen können
einen Mann furchtbar schwach machen, nicht
wahr?« sagte er.
»Clausen.«
»Ein hoffnungsloser Alkoholiker. Sie wissen wohl,
wie Alkoholiker sind. Sie trinken, trinken und essen
nichts. Und ganz allmählich mit dem Vitaminmangel
kommen die Symptome des Deliriums. Man kann
nur eines für sie tun.« Er wandte sich um und
schaute auf den Sterilisator. »Spritzen, nichts als
Spritzen. Ich komme mir schmutzig vor. Ich habe an
der Sorbonne promoviert. Ich praktiziere zwischen
schmutzigen kleinen Leuten in einer schmutzigen
kleinen Stadt.«
»Warum?«
»Weil mir vor ein paar Jahren etwas passiert ist - in
einer anderen Stadt. Fragen Sie nicht so viel,
Marlowe.«
»Er hat Sie beim Vornamen genannt.«
»Bei Leuten aus gewissen Schichten ist das eine
Gewohnheit. Vor allem bei früheren Schauspielern.
Und früheren Gangstern.«
»Ach«, sagte ich. »Weiter ist nichts dabei?«
»Nichts.«

- 246 -
»Also, dann ist es nicht wegen Clausen, dass die
Polypen sie beunruhigen, wenn sie herkommen. Sie
haben Angst wegen dieser anderen Sache, die früher
mal woanders passiert ist. Oder ist es vielleicht
Liebe?«
»Liebe?« Er ließ das Wort langsam von der Zunge
gleiten, als kostete er den Geschmack so lange wie
möglich. Ein bitteres kleines Lächeln blieb übrig,
wie der Geruch von Pulver, nachdem ein Schuss
abgefeuert wurde. Er zuckte die Achseln und schob
einen Zigarettenkasten, der hinter dem Ablagekorb
gestanden hatte, zu mir herüber.
»Also keine Liebe«, sagte ich. »Ich versuche ja nur
zu raten, was Sie denken. Hier sitzen Sie also, ein
Mann mit einem Grad von der Sorbonne und mit
einer billigen, kleinen Praxis in einer billigen und
miesen kleinen Stadt. Das kann ich sehen. Also, was
machen Sie hier? Was ist passiert, Doktor?
Rauschgift, Abtreibung, oder waren Sie vielleicht
zufällig der Sanitäter für die Gangster in irgendeiner
wilden Stadt im Osten?«
»Wie zum Beispiel?« - Er lächelte dünn.
»Wie zum Beispiel Cleveland.«
»Eine ziemlich kühne Behauptung, mein Freund.«
Seine Stimme war jetzt wie Eis.
»Meinetwegen kühn«, sagte ich. »Aber wenn
jemand, wie ich, ein recht beschränktes Gehirn hat,
dann versucht er gern, alles, was er weiß, in einen

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Zusammenhang zu bringen. Oft ist das falsch, aber
bei mir ist es eine Berufskrankheit. Wenn Sie
zuhören wollen - der Zusammenhang ist dieser.«
»Ich höre.« Wieder nahm er das Messer hoch und
stocherte ein wenig auf der Löschunterlage auf
seinem Schreibtisch herum.
»Sie kannten Clausen. Clausen ist sehr
fachmännisch mit einem Eisdorn umgebracht
worden, er wurde getötet, während ich in dem Haus
war, einen Stock höher, und mit einem Gauner
namens Hicks redete. Hicks machte sich eilig aus
dem Staub und nahm eine Seite des Meldebuchs mit,
die Seite, auf der der Name von Orrin Quest stand.
Später, am selben Nachmittag, wurde Hicks in Los
Angeles mit einem Eisdorn ermordet. Sein Zimmer
war durchsucht worden. Eine Frau war dort, die
gekommen war, um ihm etwas abzukaufen. Sie
kriegte es nicht. Ich hatte mehr Zeit zum Suchen. Ich
fand es. Erste Annahme. Clausen und Hicks wurden
von dem gleichen Mann getötet, aber nicht
unbedingt aus dem gleichen Grund. Hicks wurde
getötet, weil er jemand anderen um sein Geschäft
gebracht hat. Clausen getötet, weil er ein redseliger
Trunkenbold war, der möglicherweise den
mutmaßlichen Mörder von Hicks kannte. Also bis
hierhin – was meinen Sie dazu?«
»Für mich ganz uninteressant«, sagte Dr. Lagardie.

- 248 -
»Aber Sie hören zu. Vermutlich bloß aus
Höflichkeit. Also schön. Nun, was hatte ich
gefunden? Ein Foto eines Filmstars und eines
früheren Gangsters aus Cleveland – vielleicht, der
jetzt Restaurantbesitzer in Hollywood ist usw., wie
sie an einem bestimmten Tag zusammen essen. An
einem Tag, an dem dieser Ex-Gangster eigentlich im
Kreisgefängnis eingesperrt sein sollte, an einem Tag,
an dem der frühere Kompagnon des Ex-Gangsters in
der Franklin Avenue in Los Angeles nieder-
geschossen wurde. Und warum saß er im Kittchen?
Ein Hinweis, dass er eben der sei, der er war - und
Sie können über die Polizei in Los Angeles sagen,
was Sie wollen, aber sicher versuchen sie die
schweren Jungen aus dem Osten wieder aus der
Stadt zu treiben. Von wem bekamen sie den Tipp?
Nun, dieser, den sie verhaftet hatten, hatte ihnen
zugleich den Tipp gegeben, denn der frühere
Kompagnon machte Schwierigkeiten und musste
beseitigt werden, und wenn er im Gefängnis saß,
hatte er ein erstklassiges Alibi für die Tatzeit.«
»Alles Phantasie.« Dr. Lagardie zeigte ein müdes
Lächeln. »Wilde Phantasie.«
»Genau. Es wird noch schlimmer. Die Polypen
konnten dem Ex-Gangster nichts nachweisen. Die
Polizei in Cleveland hatte kein Interesse. Die Polizei
in Los Angeles lässt ihn laufen. Aber sie hätten ihn
nicht laufen lassen, wenn sie das Foto gesehen

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hätten. Das Foto war also bestens zur Erpressung
geeignet, zunächst mal gegen den ehemaligen
Cleveland-Typ, wenn er wirklich der Mann ist;
zweitens gegen den Filmstar, weil sie mit ihm in der
Öffentlichkeit gesehen worden war. Ein guter Mann
konnte sich mit diesem Foto ein Vermögen
verdienen. Hicks war nicht gut genug. Nächster
Absatz. Zweite Annahme. Orrin Quest, der Knabe,
den ich zu finden versuche, hat dieses Foto
aufgenommen. Es wurde mit einer Contax oder
Leica gemacht, ohne Blitzlicht, ohne dass die
Personen überhaupt merkten, dass sie fotografiert
wurden. Quest besaß eine Leica und machte so was
gern. In diesem Fall hatte er natürlich ein eher
geschäftliches Interesse. Frage, wie bekam er
überhaupt die Gelegenheit, das Foto zu machen?
Antwort, der Filmstar war seine Schwester. Sie ließ
es zu, dass er zu ihr ging und mit ihr sprach. Er war
arbeitslos und brauchte Geld. Gut möglich, dass sie
ihm was gegeben hat, unter der Bedingung, dass er
sich von ihr fern hielt. Sie will nichts mit ihrer
Familie zu tun haben. Immer noch wilde Phantasie,
Doktor?«
Er sah mich grüblerisch an. »Weiß nicht«, sagte er
langsam. »Ein paar Ansätze sind da. Aber warum
erzählen Sie mir diese recht gefährliche
Geschichte?«

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Er holte sich eine Zigarette aus dem Kästchen und
warf auch mir eine lässig zu. Ich fing sie auf und
betrachtete sie. Eine ägyptische, dick und oval, ein
bisschen zu mächtig für mich. Ich zündete sie nicht
an, ich saß nur so da und hielt sie zwischen den
Fingern und beobachtete seine dunklen, unglück-
lichen Augen. Er zündete sich seine eigene Zigarette
an und rauchte nervös.
»Jetzt betrachten wir uns mal Ihre Rolle in diesem
Spiel«, sagte ich. »Sie kannten Clausen. Beruflich,
wie Sie sagen. Ich zeigte ihm, dass ich ein
berufsmäßiger Schnüffler bin. Sofort versuchte er,
Sie anzurufen. Er war zu betrunken, um reden zu
können. Ich wusste nun die Nummer und habe Ihnen
später erzählt, dass er tot sei. Warum? Wenn Sie auf
Draht waren, mussten Sie die Polizei anrufen. Aber
das taten Sie nicht. Warum? Sie kannten Clausen,
Sie hätten einige seiner Mieter kennen können.
Beweist nichts gegen Sie, auch nicht für Sie. Absatz.
Dritte Annahme. Sie kannten Hicks oder Orrin
Quest, oder beide. Die L. A.-Polypen konnten die
Identität des früheren Cleveland-Gangsters nicht
beweisen oder wollten es nicht. Geben wir ihm einen
Namen, nennen wir ihn Steelgrave. Aber offenbar
musste irgend jemand den Beweis haben - wenn
man wegen dieses Fotos Leute umbringen konnte.
Haben Sie irgendwann mal eine Praxis in Cleveland
gehabt, Doktor?«

- 251 -
»Keineswegs.« Seine Stimme schien weit weg zu
sein. Seine Augen waren auch weit weg. Seine
Lippen öffneten sich kaum weit genug, um die
Zigarette zu halten. Er war sehr ruhig.
Ich sagte: »Im Telefonamt haben sie einen ganzen
Raum voller Telefonbücher. Telefonbücher aus dem
ganzen Land. Da habe ich Sie herausgesucht. Eine
ganze Flucht von Räumen in einem Geschäftshaus in
der City«, sagte ich. »Und jetzt dies - eine fast
unauffindbare Praxis in einer kleinen Stadt an der
Küste. Am liebsten hätten Sie ja Ihren Namen
geändert, aber das war nicht möglich, wenn Sie Ihre
Approbation behalten wollten. Irgend jemand muss
sich dieses Ding ausgedacht haben, Doktor. Clausen
war ein verkommener Typ, Hicks war ein
Dummkopf, Orrin Quest ein schmieriger Schleicher.
Aber man konnte sich ihrer bedienen. Mit Steelgrave
konnten Sie es persönlich nicht aufnehmen. Sie
hätten nicht mal lange genug gelebt, um sich noch
die Zähne zu putzen. Sie mussten mit Strohmännern
arbeiten, mit Strohmännern, die ersetzbar waren.
Nun - kommen wir der Sache näher?«
Er lächelte schwach und lehnte sich mit einem
Seufzer zurück in seinen Sessel. »Vierte Annahme,
Mr. Marlowe«, sagte er, beinahe flüsternd. »Sie sind
ein Vollidiot.«
Ich grinste und nahm ein Streichholz, um seine
dicke ägyptische Zigarette anzuzünden.

- 252 -
»Zu allem Überfluss«, sagte ich, »ruft mich auch
noch Orrins Schwester an und erzählt mir, er sei in
Ihrem Haus. Ich gebe zu, jedes einzelne ist ein
schwaches Argument. Aber irgendwie laufen alle bei
Ihnen zusammen.« Ich paffte friedlich meine
Zigarette.
Er beobachtete mich. Sein Gesicht schien zu
verschwimmen, es wurde undeutlich, es schien sich
zu entfernen und zu nähern. Ich fühlte eine
Beklemmung in der Brust. Meine Gedanken
bewegten sich im Schildkrötentrab.
»Was ist denn hier los?« hörte ich mich murmeln.
Ich fasste die Armlehne meines Sessels und hievte
mich hoch. »Schön blöd war ich, was?« sagte ich,
und hatte meine Zigarette noch immer im Mund und
rauchte sie noch immer. »Blöd« war wohl nicht das
richtige Wort. Muss mir ein neues ausdenken.
Ich war aus dem Sessel raus, und meine Füße
steckten in zwei Betonröhren. Wenn ich redete,
schien meine Stimme durch Watte zu dringen.
Ich ließ die Stuhllehne los und griff nach der
Zigarette. Ich verfehlte sie mehrmals, dann endlich
hatte ich meine Hand darum herum. Fühlte sich
nicht an wie eine Zigarette. Fühlte sich an wie das
Hinterbein von einem Elefanten. Mit scharfen
Fußnägeln. Sie stachen mir in die Hand. Ich schüt-
telte meine Hand, und der Elefant nahm sein Bein
weg.

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Eine undeutliche, aber riesengroße Gestalt drehte
sich vor mir, und ein Maulesel schlug aus und traf
mich auf der Brust. Ich setzte mich auf den
Fußboden.
»Ein bisschen Kaliumcyanid«, sagte eine Stimme
durch ein transatlantisches Telefon. »Nicht tödlich,
noch nicht mal gefährlich. Nur entspannend …«
Ich bemühte mich, vom Boden loszukommen. Sie
müssen das mal versuchen. Aber lassen Sie den
Boden vorher festnageln. Dieser Boden drehte sich
rundum. Etwas später beruhigte er sich ein bisschen.
Ich ließ es bei 45 Grad gut sein. Ich nahm mich
zusammen und fing an, irgendwohin zu gehen. Am
Horizont war etwas, vielleicht Napoleons Mau-
soleum. Als Ziel war das gut genug. Dorthin brach
ich auf. Mein Herz schlug schnell und schwer, und
ich hatte Mühe, meine Lungen weit zu machen. So
wie wenn man beim Fußball außer Atem kommt.
Man denkt, man wird nie wieder Atem kriegen. Nie
wieder, nie, nie.
Dann war's nicht mehr Napoleons Mausoleum. Es
war ein Floß auf einer Strömung. Ein Mann war
drauf. Den hatte ich mal irgendwo gesehen. Netter
Kerl, wir kamen gut zusammen aus. Ich ging los zu
ihm und traf mit der Schulter auf eine Wand. Ich
wurde herumgewirbelt. Ich versuchte irgendwas zu
fassen, um Halt zu finden. Außer dem Teppich war
nichts. Wie kam ich da herunter? Sinnlos zu fragen.

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Es ist ein Geheimnis. Jedes Mal, wenn man eine
Frage stellt, hauen sie dir den Boden ins Gesicht. Na
ja, ich fing an, auf dem Teppich zu krabbeln. Ich lag
auf dem, was früher meine Hände und Knie gewesen
waren. Da war nichts zu fühlen, also kein Beweis.
Ich kroch auf eine dunkle Holzwand zu. Oder
vielleicht war's auch schwarzer Marmor. Wieder Na-
poleons Mausoleum. Was habe ich bloß mit dem
Napoleon gemacht? Warum will er mir immer sein
Mausoleum aufdrängen? »Brauch 'n Schluck
Wasser«, sagte ich.
Ich wartete auf das Echo. Kein Echo. Niemand
sagte was. Vielleicht hatte ich es nicht gesagt.
Vielleicht war es nur so eine Idee gewesen.
Kaliumcyanid. Das ist ein langes Wort, mit dem
man sich da abgeben soll, wenn man durch einen
Tunnel kriecht. Nichts Tödliches, sagte er. Na schön,
das ist bloß Spaß. Vielleicht nennt man es halb-
tödlich. Philip Marlowe, 38, Inhaber einer
Privatlizenz, mit zweifelhaftem Leumund, wurde
gestern Abend von der Polizei beobachtet, wie er
durch den Hochwasserabfluss kroch, auf dem
Rücken einen Konzertflügel. Beim Verhör in der
Polizeistation der University Heights erklärte
Marlowe, dass er den Flügel dem Maharadscha vom
Coot-Berar bringen wollte. Auf die Frage, warum er
Sporen anhätte, erklärte Marlowe, das Geständnis
eines Kunden sei ihm heilig. Marlowe ist jetzt in
Untersuchungshaft. Polizeichef Hornside sagte, dass

- 255 -
die Polizei noch nichts weiter sagen könne. Auf die
Frage, ob der Flügel nicht verstimmt sei, erklärte
Polizeichef Hornside, er habe den Minutenwalzer
drauf in fünfunddreißig Sekunden gespielt, und
soweit er erkennen könne, seien in dem Klavier
keine Saiten enthalten. Er deutete an, dass etwas
anderes drin sei. Polizeichef Hornside sagte schroff,
eine vollständige Presseverlautbarung werde
innerhalb von zwölf Stunden abgegeben. Es wird
vermutet, dass Marlowe versucht hatte, eine Leiche
verschwinden zu lassen.
Aus der Dunkelheit schwamm ein Gesicht zu mir.
Ich änderte die Richtung und bewegte mich auf das
Gesicht zu. Aber es war zu spät am Nachmittag. Die
Sonne ging unter. Es wurde schnell dunkel. Es gab
kein Gesicht. Es gab keine Wand, keinen
Schreibtisch. Dann gab es auch keinen Boden mehr.
Es gab gar nichts mehr.
Nicht mal mich gab es.

- 256 -
22

Ein großer schwarzer Gorilla mit einer großen


schwarzen Pfote hatte seine große schwarze Pfote
auf meinem Gesicht und versuchte sie durch-
zudrücken bis zu meinem Hinterkopf. Ich drückte
zurück. Es ist meine Spezialität, bei einem Streit auf
der schwächeren Seite zu stehen. Dann erkannte ich,
dass er mich daran hindern wollte, die Augen zu
öffnen.
Ich entschloss mich, die Augen trotzdem zu öffnen.
Andere haben's getan, also warum ich nicht? Ich
nahm meine Kräfte zusammen, machte den Rücken
steif, bewegte die Schenkel und Knie und benutzte
die Arme als Seile, um ganz langsam das enorme
Gewicht meiner Augenlider hochzuhieven.
Ich blickte zur Decke. Ich lag mit dem Rücken am
Boden – eine Lage, in die meine Berufung mich
schon öfter gebracht hat. Ich ließ meinen Kopf hin
und her rollen. Meine Lungen fühlten sich steif an,
und mein Mund war trocken. Das Zimmer war
einfach Dr. Lagardies Sprechzimmer. Derselbe
Sessel, derselbe Schreibtisch, dieselben Wände und
dasselbe Fenster. In der Luft eine Stille mit Rouleaus
davor.
Ich richtete mich auf, lag auf meinen Hüften, auf
die Arme gestützt und schüttelte den Kopf. Er
rotierte ein wenig. Er spulte sich zweitausend Meter

- 257 -
tief, dann holte ich ihn rauf und kam wieder zu mir.
Ich zwinkerte. Derselbe Boden, derselbe
Schreibtisch, dieselben Wände. Aber kein Dr.
Lagardie.
Ich befeuchtete die Lippen und machte ein
unbestimmtes Geräusch, auf das niemand reagierte.
Ich stellte mich auf meine Füße. Ich war schwindlig
wie ein Derwisch, schwach wie eine müde
Waschmaschine, ich hing durch wie ein
Dachsbauch, war so scheu wie eine Spitzmaus, und
meine Chancen waren so gering wie die von einem
Ballettmädchen mit einem Holzbein. Ich tappte
hinüber, auf die Rückseite des Schreibtisches, ließ
mich in Dr. Lagardies Sessel fallen und durchsuchte
unsystematisch seine Gerätschaften nach einer
passend aussehenden Flasche mit flüssigem
Nährstoff. Nichts zu machen. Ich raffte mich wieder
hoch. Ich war so schwer aufzuheben wie ein toter
Elefant. Ich stolperte herum und blickte in weiß
emaillierte Schränke, die alles enthielten, wonach
manche Leute sich die Hacken abgelaufen hätten.
Endlich - es kam mir vor wie nach vier Jahren
Arbeitslager - umfasste meine kleine Hand einen
Viertelliter Äthylalkohol. So stand's auf dem Etikett.
Jetzt brauchte ich nur noch ein Glas und etwas
Wasser. Ein guter Mann müsste das auch noch
schaffen. Ich bewegte mich durch die Tür zum
Untersuchungsraum. In der Luft war immer noch der
aromatische Duft überreifer Pfirsiche. Beim

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Durchgehen stieß ich an beide Seiten des
Türrahmens und machte eine kleine Pause, um noch
mal richtig Ausschau zu halten.
In diesem Augenblick kam mir zu Bewusstsein,
daß draußen in der Diele Schritte herunterkamen.
Ich lehnte mich müde gegen die Wand und horchte.
Langsame, schlurfende Schritte, nach jedem eine
lange Pause. Anfangs schienen sie zu schleichen.
Dann schienen sie nur sehr, sehr müde. Ein alter
Mann will seinen letzten Ohrensessel erreichen. Es
gab zwei von unserer Sorte. Und dann, ganz ohne
Grund, musste ich an Orfamays Vater denken, da
draußen in Manhattan, Kansas, auf seiner Veranda,
wie er still zu seinem Schaukelstuhl schlurft und
seine kalte Pfeife in der Hand hat, um sich zu setzen,
auf den Rasen vor dem Haus zu schauen und sich
ein hübsches, sparsames Rauchvergnügen zu
gönnen, für das man keine Streichhölzer und keinen
Tabak braucht, und das den Wohnzimmerteppich
nicht beschmutzt. Ich rückte ihm seinen Schaukel-
stuhl zurecht. Am schattigen Ende der Veranda,
dicht bewachsen mit Bougainvilleen, half ich ihm,
sich zu setzen. Er sah auf und dankte mir mit seiner
heilen Gesichtshälfte. Alser sich zurücklehnte,
kratzten seine Fingernägel auf den Stuhllehnen.
Die Fingernägel kratzten, aber nicht auf
irgendwelchen Stuhllehnen. Es war ein echtes
Geräusch. Es war in der Nähe, außen an einer

- 259 -
geschlossenen Tür, die vom Untersuchungsraum zur
Diele führte. Ein dünnes, schwaches Kratzen,
vielleicht ein kleines Kätzchen, das hereinwollte. Na
los, Marlowe, du bist doch ein alter Tierfreund. Geh
mal rüber und lass das Kätzchen rein. Ich machte
mich auf. Ich schaffte es mit Hilfe der hübschen
Untersuchungsliege, mit den Ringen am Ende und
mit den hübschen sauberen Handtüchern. Das
Kratzen hatte aufgehört. Armes kleines Kätzchen da
draußen, das rein wollte. In meinem Auge entstand
eine Träne und rann über meine faltige Wange. Ich
ließ die Untersuchungsliege los und durchquerte
gute vier Meter bis zur Tür. In meinem Inneren
hämmerte das Herz. An den Lungen hatte ich immer
dieses Gefühl, dass sie ein paar Jahre gelagert
hatten. Ich atmete tief ein, schnappte mir den
Türknopf und öffnete ihn. Im allerletzten
Augenblick fiel es mir ein, zur Pistole zu greifen. Es
fiel mir ein, und dabei blieb es. Ich bin jemand, der
sich einen Einfall lieber noch mal bei Licht besieht.
Ich hätte den Türknopf wieder loslassen müssen. Es
erschien einfach ein zu großes Unternehmen. Statt
dessen drehte ich den Kopf und öffnete die Tür.
Mit vier gekrümmten Fingern aus weißem Wachs
war er am Türrahmen festgeklammert. Er hatte tiefe
Augen - millimetertief, blass, graublau, weit offen.
Sie blickten mich an, aber sie sahen mich nicht.
Unsere Gesichter waren zentimeterdicht aneinander.
Mitten in der Luft prallte unser Atem zusammen.

- 260 -
Meiner war schnell und heftig, seiner war ein
schwaches Säuseln, nicht ganz ein Röcheln. Blasiges
Blut kam aus seinem Mund und rann zum Kinn.
Irgendwas zog meinen Blick nach unten. Blut
sickerte langsam im Innern seiner Hose, dann in den
Schuh, und aus dem Schuh floß es gemächlich auf
den Boden. Es gab schon eine kleine Pfütze Ich
konnte die Schusswunde nicht sehen. Seine Zähne
klappten aufeinander, und ich glaubte, dass er reden
würde oder versuchte zu reden. Aber das war das
einzige Geräusch, das von ihm kam. Er hatte
aufgehört zu atmen. Sein Unterkiefer sank herunter.
Dann begann das Rasseln. Natürlich ist es kein
Rasseln. Es ist überhaupt nicht wie ein Rasseln.
Gummisohlen quietschten auf dem Linoleum
zwischen dem Läufer und der Türschwelle. Die
weißen Finger glitten vom Türrahmen ab. Der
Körper des Mannes fing an, sich auf seinen Beinen
zu drehen. Die Beine wollten ihn nicht mehr tragen.
Sie spreizten sich. Sein Oberkörper warf sich herum,
wie ein Schwimmer vor einer Woge, und flog auf
mich.
Im gleichen Augenblick erhob sich ein anderer
Arm, den man bisher nicht sehen konnte, und fuhr
wie elektrisiert herüber, mit einer Bewegung, die
offenbar keine lebendige Ursache mehr hatte.
Gerade als ich seinen Körper packte, schlug mir der
Arm über die linke Schulter. Eine Biene stach mich

- 261 -
zwischen die Schulterblätter. Abgesehen von der
Alkoholflasche, die ich in der Hand gehabt hatte, fiel
noch etwas auf den Boden und rollte an die Fußleiste
der Wand.
Ich presste meine Zähne fest zusammen, machte
meine Beine breit und fasste ihn unter den Armen.
Ein Gewicht von fünf Männern. Ich trat etwas
zurück und versuchte ihn aufrecht zu halten. Es war
ungefähr so, als wollte man einen umgestürzten
Baum Hochhieven. Ich ging mit ihm zu Boden. Sein
Kopf schlug auf. Ich konnte es nicht ändern. Es war
nicht genug von mir an der Arbeit, um es zu ändern.
Ich legte ihn ein bisschen ordentlicher hin und löste
mich von ihm. Ich kniete mich hin, beugte mich vor
und horchte. Das Rasseln hörte auf. Es folgte eine
lange Stille. Dann kam ein gedämpfter Seufzer, sehr
ruhig, gleichgültig und ohne Hast. Wieder die Stille.
Noch ein Seufzer, noch langsamer, gelöst und
friedlich wie ein Sommerlüftchen, das an
schaukelnden Rosen vorüberzieht.
Dann geschah etwas mit seinem Gesicht und hinter
dem Gesicht, es geschah dieses Unerklärliche, das in
diesem immer wieder verblüffenden und unergründ-
lichen Augenblick geschieht, dieses Sichglätten, die
Rückkehr durch die Jahre, bis hin zum Alter der
Unschuld. Das Gesicht zeigte nun eine undeutliche,
innere Heiterkeit, fast spitzbübisch hoben sich die
Mundwinkel. Dabei war das alles sehr töricht, denn -

- 262 -
wenn ich überhaupt etwas wusste - so wusste ich
genau, daß Orrin P. Quest nicht dieser Typ von
einem Jungen gewesen war.
In der Ferne heulte eine Sirene. Ich blieb auf den
Knien und lauschte. Sie heulte und verschwand. Ich
stellte mich auf die Füße, ging rüber und blickte
durch ein Seitenfenster nach draußen. Vor dem
›Haus des ewigen Friedens‹ bahnte sich eine weitere
Beerdigung an. Wieder war die Straße dick voller
Autos. Leute wanderten langsam den Weg neben
den Teerosen hinauf. Ganz langsam gingen sie, die
Männer hielten ihre Hüte in den Händen, lange
bevor sie die kleine Vorderveranda erreicht hatten.
Ich ließ den Vorhang herunter, ging zurück, nahm
die Flasche mit dem Äthylalkohol, wischte sie mit
meinem Taschentuch ab und legte sie beiseite. Ich
hatte kein Interesse mehr am Alkohol. Als ich mich
noch einmal bückte, wurde ich durch einen Stich
zwischen meinen Schulterblättern daran erinnert,
dass da noch etwas darauf wartete, aufgehoben zu
werden. Etwas mit einem runden weißen Holzgriff,
das dicht an der Fußleiste lag. Ein Eisdorn mit einer
Klinge, die auf höchstens sieben Zentimeter
heruntergefeilt war. Ich hielt ihn gegen das Licht
und besah die nadeldünne Spitze. Vielleicht hing ein
klein bisschen von meinem Blut daran. Ich ließ
einen Finger neben der Spitze vorbeigleiten. Kein
Blut. Die Spitze war sehr scharf.

- 263 -
Ich polierte noch ein bisschen mit meinem
Taschentuch, dann bückte ich mich und legte den
Eisdorn auf den Teller seiner rechten Hand, die sich
wächsern und weiß vom stumpfen Flor des Teppichs
abhob. Es sah zu gestellt aus. Ich rüttelte den Arm,
so dass der Eisdorn aus der Hand auf den Boden
rollte. Ich überlegte, ob ich seine Taschen durch-
suchen sollte, aber das hatte eine andere Hand,
unbarmherziger als meine, sicher schon besorgt.
In einem plötzlichen Anfall von Panik durchsuchte
ich statt dessen meine Taschen. Es war nichts
weggekommen. Sogar die Luger war im Schulter-
halfter geblieben. Ich zog sie raus und roch an ihr.
Sie war nicht abgefeuert worden, aber das hätte ich
mir sowieso schon denken können. Man läuft nicht
mehr lang herum, wenn man von einer Luger ge-
troffen wurde.
Ich stieg über die dunkelrote Pfütze im Türeingang
und sah mich in der Diele um. Das Haus war noch
immer still und erwartungsvoll. Die Blutspur führte
mich wieder zurück, durch ein Zimmer, das wie eine
Studierstube möbliert war. Eine kleine Liege war
drin, ein Schreibtisch, einige Bücher und
medizinische Zeitschriften, ein Aschenbecher mit
fünf dicken ovalen Stummeln darin. Ein metallisches
Glitzern neben einem Bein der Liege erwies sich als
ein gebrauchtes Geschoß einer 32er Automatic. Ein

- 264 -
anderes Geschoß fand ich unter dem Schreibtisch.
Ich steckte beide in meine Tasche.
Ich kehrte zurück und stieg die Treppe hinauf. Es
gab zwei Schlafzimmer, die in Benutzung waren, in
einem waren alle Bezüge abgenommen. Weitere
Stummel von Dr. Lagardie waren in einem
Aschenbecher. In dem anderen Schlafzimmer befand
sich Orrin Quests kümmerliche Garderobe, sein
zweiter Anzug und sein Mantel hingen säuberlich im
Schrank, seine Hemden, Socken und Unterwäsche
lagen ebenso säuberlich in den Schubladen einer
Kommode. Hinten, unter den Hemden, fand ich eine
Leica mit einem f/2-Objektiv.
Ich ließ diese Sachen liegen, wie sie lagen, und
ging wieder hinunter in den Raum, wo der tote
Mann lag, den solche Kleinigkeiten nicht mehr
kümmerten. Aus schierer Bosheit wischte ich noch
ein paar Türknöpfe ab, stand unentschlossen vor
dem Telefon im Vorzimmer und ging fort, ohne es
anzurühren. Die bloße Tatsache, dass ich noch
immer herumlief, war ein ziemlich guter Hinweis
darauf, dass der gute Dr. Lagardie niemand
umgebracht hatte.
Auf der anderen Straßenseite krochen noch immer
die Leute über den Weg hinauf zu der merkwürdig
kleinen Veranda des Bestattungsinstituts. Im Inneren
hörte man eine klagende Orgel.

- 265 -
Ich ging um das Hauseck, stieg in mein Auto und
fuhr weg. Ich fuhr langsam und atmete mit aller
Kraft, aber irgendwie bekam ich noch immer nicht
genug Luft.
Ungefähr vier Meilen vom Meer endet Bay City.
Ich hielt vor dem letzten Drugstore an. Es war mal
wieder an der Zeit, einen von meinen anonymen
Telefonanrufen zu tätigen. Na los, dann holt euch
mal die Leiche, Jungs. Wer ich bin? Bloß einer, der
Glück hat und sie immerzu für euch aufstöbert.
Auch bescheiden. Nicht mal mein Name braucht
genannt zu werden.
Ich blickte in den Drugstore durch das große
gläserne Schaufenster. Ein Mädchen mit einer
schrägen Brille las eine Illustrierte. Sie sah ein
bisschen wie Orfamay Quest aus. Irgendwas
schnürte meine Kehle zu.
Ich kuppelte ein und fuhr los. Sie hatte ein Recht
darauf, es als erste zu erfahren - mit oder ohne
Gesetz. Und ich war sowieso schon weit vom Gesetz
entfernt.

- 266 -
23

Vor der Tür blieb ich stehen, den Schlüssel in der


Hand. Dann ging ich lautlos zu der anderen Tür, die
immer unverschlossen ist. Ich stand davor und
horchte. Vielleicht war sie schon drin und wartete,
mit glänzenden Augen hinter ihren schrägen
Brillengläsern und mit dem kleinen feuchten
Mündchen, das geküsst sein wollte. Ich müsste ihr
dann etwas erzählen, schlimmer als alle ihre
Träume, und dann, etwas später, würde sie
fortgehen, und ich würde sie nie wieder sehen.
Ich hörte nichts. Ich ging zurück, schloss die
andere Tür auf, nahm die Post hoch, trug sie rüber
und warf sie auf den Schreibtisch. Es war nichts
dabei, was mich besonders stärkte. Ich ließ die Post
liegen, ging rüber, entriegelte die Zwischentür und
öffnete sie — nach einem langen, trägen
Augenblick. Ich warf einen Blick hinüber. Leer und
still. Vor meinen Füßen lag ein gefaltetes Stück
Papier. Es war unter der Tür durchgeschoben
worden. Ich nahm es auf und entfaltete es.
»Bitte rufen Sie mich im Apartmenthaus an. Sehr
dringend. Muss Sie unbedingt sprechen.« Die
Unterschrift war »D«.
Ich wählte die Nummer vom Chateau Bercy und
fragte nach Miss Gonzales. Wer denn am Apparat

- 267 -
sei, bitte? Einen Augenblick bitte, Mr. Marlowe.
Tut, tut. Tut, tut.
»Allooh?«
»Heute haben wir den Akzent wohl ein bisschen
dick aufgelegt.«
»Oh, Sie sind es, Amigo. Ich habe so lange in
Ihrem komischen kleinen Büro gewartet. Können
Sie zu mir herüber kommen und mit mir reden?«
»Unmöglich. Ich erwarte einen Anruf.«
»Kann ich zu Ihnen kommen?«
»Worum geht's denn eigentlich?«
»Das kann man nicht am Telefon besprechen,
Amigo.«
»Na dann kommen Sie mal.«
Ich saß und wartete, dass das Telefon klingelte. Es
klingelte nicht. Ich sah aus dem Fenster. Auf dem
Boulevard brodelte die Menge, die Küche von der
Cafeteria nebenan stieß Düfte von ihren
überbackenen Sandwichs aus der Ventilatoröffnung.
Die Zeit verging. Ich saß über den Schreibtisch
gekrümmt, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte
auf den gelben Wandverputz. Dort sah ich die blasse
Gestalt eines sterbenden Mannes, der einen kurzen
Eisdorn in der Hand hielt, und ich fühlte den Stich
zwischen meinen Schulterblättern. Herrlich, was
Hollywood aus einem macht. Eine strahlende
Schönheitskönigin aus einer armseligen Bauerntrine,

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die eigentlich die Hemden eines Lastwagenfahrers
bügeln müßte, einen maskulinen Helden mit
schimmernden Augen und einem strahlenden
Lächeln, dampfend vor Sex, aus einem hochge-
schossenen Jungen, der sonst mit einem
Henkelmann zur Arbeit gegangen wäre. Aus einer
texanischen Kellnerin, die so kultiviert ist wie eine
Comic-Figur, entsteht eine kosmopolitische
Kurtisane, die sechsmal mit sechs Millionären
verheiratet war und schließlich so blasiert und
dekadent ist, dass sie es aufregend findet, einen
Möbelträger mit verschwitztem Unterhemd zu
verführen.
Und mittels Fernsteuerung ist es in Hollywood
sogar möglich, einen Kleinstadtspießer wie Orrin
Quest innerhalb weniger Monate in einen eiskalten
Totmacher zu verwandeln und seine simple Bosheit
zum exemplarischen Sadismus eines Massenmörders
zu verfeinern.
Sie brauchte etwas über zehn Minuten für den
Weg. Ich hörte, wie die Tür sich öffnete und schloss;
ich ging rüber in das Wartezimmer, und da stand sie,
die große amerikanische Sündenblume. Der Anblick
haute mich um. Ihre Augen waren schwarz, tief und
ohne ein Lächeln.
Wie am vorigen Abend war sie ganz in Schwarz,
aber diesmal in einem Schneiderkostüm, mit einem
breiten schwarzen Strohhut, der herausfordernd

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schräg saß; der Kragen ihrer weißen Seidenbluse lag
über dem Kragen ihres Jacketts; ihr Hals war braun
und geschmeidig, ihr Mund rot wie die Feuerwehr.
»Ich habe lange gewartet«, sagte sie. »Ich habe
noch nicht gegessen.«
»Ich schon«, sagte ich. »Blausäure. War
vorzüglich. Bis eben habe ich schön blau
ausgesehen.«
»Ich bin heute nicht besonders unterhaltsam,
Amigo.«
»Sie brauchen mich gar nicht zu unterhalten«,
sagte ich. »Ich unterhalte mich schon selbst. Ich
gebe mir eine Vorstellung, dass ich mich auf dem
Parkett wälze. Wir wollen mal rübergehen.«
Wir gingen rüber in meine private Denkanstalt und
setzten uns. »Tragen Sie immer Schwarz?« fragte
ich.
»Aber ja. Das ist aufregender, wenn ich mich
ausziehe.«
»Müssen Sie immer wie eine Nutte reden?«
»Sie wissen nicht viel über Nutten, Amigo. Die
betragen sich immer sehr anständig. Außer den
billigen, natürlich.«
»Jawohl«, sagte ich. »Schönen Dank für die
Auskunft. Was ist denn jetzt das Dringende, worüber
wir reden müssen? Mit Ihnen ins Bett gehen ist nicht
so dringend. Das kann man jeden Tag.«

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»Sie haben schlechte Laune.«
»Na schön, dann habe ich schlechte Laune.«
Sie holte eine ihrer langen braunen Zigaretten aus
ihrer Tasche und klemmte sie sorgfältig in die
goldene Pinzette. Sie wartete, damit ich sie ihr
anzündete. Ich unterließ es, da gab sie sich selber
Feuer, mit einem Goldfeuerzeug.
Sie hielt ihr Kitschdings in einer lang und schwarz
behandschuhten Hand und blickte mich mit flachen,
schwarzen Augen an, in denen keinerlei Humor war.
»Möchten Sie mit mir ins Bett gehen?«
»Das möchte fast jeder. Aber wie war's, wenn wir
den Sex erst mal beiseite ließen?«
»Für mich gibt es keine scharfe Grenze zwischen
Sex und Geschäft«, sagte sie ruhig. »Und Sie
können mich nicht runtermachen. Sex ist ein Netz,
mit dem man Tölpel fängt. Einige von den Tölpeln
sind nützlich und großzügig. Manchmal ist einer
dabei, der gefährlich ist.«
Sie schwieg nachdenklich.
Ich sagte: »Wenn Sie darauf warten, dass ich
irgendwas darüber sage, wer ein gewisser Jemand ist
– bitte: ich weiß, wer es ist.«
»Können Sie es beweisen?«
»Wahrscheinlich nicht. Die Polypen konnten es
auch nicht.«

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»Die Polypen«, sagte sie verächtlich. »Die sagen
nicht immer alles, was sie wissen. Sie beweisen
nicht alles, was sie beweisen könnten. Ich nehme an,
Sie wissen, daß er vergangenen Februar zehn Tage
im Gefängnis saß.«
»Ja.«
»Ist es Ihnen nicht komisch vorgekommen, dass er
keine Kaution gestellt hat, um freizukommen?«
»Ich weiß ja nicht, weswegen er verhaftet war.
Falls er ein Hauptzeuge war …«
»Glauben Sie nicht, dass er sich hätte freikaufen
können, wenn er wirklich gewollt hätte?«
»Ich habe nicht viel drüber nachgedacht«, log ich.
»Ich kenne den Herrn ja nicht.«
»Haben Sie denn nie mit ihm gesprochen?« fragte
sie nachlässig, ein bisschen zu nachlässig.
Ich gab keine Antwort.
Sie lachte kurz auf. »Gestern Abend, Amigo. Vor
Mavis Welds Apartment. Ich saß in einem Wagen
auf der anderen Straßenseite.«
»Es hätte ja Zufall sein können, dass ich ihn traf.
War das der Kerl?«
»Sie können mir nichts vormachen.«
»Na schön. Miss Weld hat mich ziemlich schlecht
behandelt. Ich war sauer, als ich fortging. Dann traf
ich diesen Gigolo mit seinem Schlüssel in der Hand.
Ich reiße ihm den aus der Hand und schmeiße ihn in

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die Büsche. Ich entschuldige mich und hole ihn
wieder zurück. Irgendwie war er ein ganz netter
Kerl.«
»Sehrr nett«, gurrte sie. »Er war auch mal mein
Freund.«
Ich grunzte.
»Vielleicht kommt es Ihnen merkwürdig vor, aber
Ihr Liebesleben interessiert mich nicht so
wahnsinnig, Miss Gonzales. Ich nehme an, dass es
sehr weitreichend ist - die ganze Latte von Stein bis
Steelgrave.«
»Stein?« fragte sie sanft. »Wer ist Stein?«
»Ein schwerer Junge aus Cleveland, der sich
letzten Februar vor Ihrem Apartmenthaus abknallen
ließ. Er hatte dort eine Wohnung. Ich dachte, dass
Sie ihn vielleicht kannten.«
Sie gab ein kleines Silberlachen von sich. »Es gibt
schon noch Männer, die ich nicht kenne, Amigo.
Sogar im Chateau Bercy.«
»Nach den Berichten ist er zwei Straßen weiter
niedergeschossen worden«, sagte ich. »Mir gefällt's
besser, wenn es gleich bei Ihnen passiert ist. Und Sie
haben aus dem Fenster geschaut und zugesehen, wie
es passiert ist. Und haben gesehen, wie der Mörder
fortgerannt ist, und unter einer Straßenlaterne drehte
er sich noch mal um, und das Licht fiel auf sein
Gesicht, und Sie hätten schwören können, dass es

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Steelgrave, der alte Junge, war. Erkannt haben Sie
ihn an seiner Gumminase und weil er seinen hohen
Hut mit den Tauben drauf getragen hat.«
Sie lachte nicht.
»Wenn es Ihnen so besser gefällt«, sagte sie weich.
»Damit könnten wir mehr Geld rausholen.«
»Aber Steelgrave war im Gefängnis«, lächelte sie.
»Und wenn er nun wirklich nicht gesessen hätte, und
wenn ich auch, sagen wir mal, zufällig einen
gewissen Dr. Chalmers gut gekannt hätte, der
damals gerade Gefängnisarzt war und der mir, in
einem intimen Augenblick, erzählt hat, dass er
Steelgrave einen Passierschein zum Zahnarzt
verschafft hat - natürlich unter Bewachung, aber der
Wachmann war ein vernünftiger Mensch —, und
zwar genau an dem Tag, an dem Stein erschossen
wurde - auch wenn das alles stimmen würde –
sollten wir Steelgrave doch besser nicht damit
erpressen!«
»Ich mag keine großen Worte«, sagte ich, »aber ich
habe keine Angst vor Steelgrave oder vor einem
Dutzend Steelgraves auf einem Haufen.«
»Ich schon, Amigo. In diesem Land ist ein Zeuge
eines Bandenmords seines Lebens nicht sicher.
Nein, nein, wir werden Steelgrave nicht erpressen.
Und wir werden auch nicht über Mr. Stein
auspacken, den ich vielleicht gekannt habe - oder
auch nicht. Es genügt, daß Mavis Weld mit einem

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bekannten Gangster eng befreundet ist und mit ihm
gesehen wird.«
»Wir müssten erst beweisen, dass er ein bekannter
Gangster ist.«
»Können wir das nicht?«
»Wie denn?«
Sie machte ein enttäuschtes Mündchen. »Aber ich
war ganz sicher, dass Sie das in den letzten Tagen
herausgebracht hätten.«
»Wieso?«
»Meine privaten Indizien.«
»Für mich haben sie keinen Wert, wenn Sie sie für
sich behalten.«
Sie streifte ihren braunen Zigarettenstummel an
meinem Aschenbecher ab. Ich beugte mich vor und
drückte den Stummel mit einem Bleistift aus. Sie
berührte meine Hand ganz leicht mit einem
behandschuhten Finger. Ihr Lächeln war das
Gegenteil eines Schlafmittels. Sie lehnte sich zurück
und legte die Beine übereinander. In ihren Augen
tanzten Fünkchen. Für sie war es schon eine zu
lange Zeit ohne Flirt.
»Liebe ist so ein schwaches Wort«, sagte sie
nachdenklich. »Es wundert mich schon immer, dass
diese Sprache, in der es so viele Liebesgedichte gibt,
mit so einem matten Wort dafür auskommt. Da ist
kein Leben drin, da schwingt nichts mit. Ich muss

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dabei an kleine Mädchen in zerknitterten Sommer-
kleidern denken, mit blassrosa Lächeln, mit
schüchternen Stimmchen, und sehr wahrscheinlich
mit unmöglicher Unterwäsche.«
Ich sagte nichts. Mühelos fand sie wieder den
Übergang zum Geschäft.
»Mavis wird jetzt fünfundsiebzigtausend Dollar
pro Film bekommen, und schließlich werden es
hundertfünfzigtausend sein. Sie ist mitten im
Aufstieg, und nichts kann sie aufhalten. Höchstens
ein schlimmer Skandal.«
»Dann muss eben jemand ihr erzählen, wer
Steelgrave ist«, sagte ich. »Warum tun Sie's nicht?
Und außerdem, nehmen wir mal an, wir haben alle
Beweise — was wird denn Steelgrave machen,
während wir uns die Weld vornehmen?«
»Warum muss er es denn wissen? Ich glaube
kaum, dass sie es ihm sagen würde. Mehr noch, ich
glaube kaum, dass sie sich noch weiter mit ihm
treffen würde. Aber für uns wäre das sowieso nicht
wichtig - wenn wir den Beweis hätten. Und wenn sie
das wüsste.«
Ihre schwarz behandschuhte Hand machte eine
Bewegung zu ihrer schwarzen Tasche hin, hielt an,
trommelte ein wenig auf den Schreibtischrand und
kehrte wieder in die Höhe ihres Schoßes zurück. Sie
hatte die Tasche nicht angesehen. Ich auch nicht.

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Ich erhob mich. »Ich könnte ja auch Miss Weld
gegenüber Verpflichtungen haben. Haben Sie daran
mal gedacht?«
Sie lächelte nur.
»Und wenn das der Fall wäre«, sagte ich, »meinen
Sie nicht, dass Sie jetzt schleunigst aus meinem
Büro verschwinden sollten?«
Sie legte ihre Hände auf die Lehnen ihres Sessels
und schickte sich an aufzustehen. Noch immer
lächelte sie. Ich schnappte mir die Tasche, bevor sie
sich weiterbewegte. Ihre Augen begannen zu
sprühen. Sie machte ein Geräusch, als wollte sie
spucken.
Ich machte die Tasche auf, wühlte darin und fand
einen weißen Umschlag, der mir ein bisschen
bekannt vorkam. Ich schüttelte ein Foto heraus, das
Foto von ›The Dancers‹, beide Teile zusammen-
gesetzt und auf ein Blatt Papier geklebt.
Ich machte die Tasche zu und warf sie ihr hin.
Sie war jetzt aufgestanden, hatte die Lippen
hochgezogen. Sie war sehr still.
»Wie interessant«, sagte ich und schnappte mit
einem Finger auf die Hochglanzoberfläche des
Abzugs. »Wenn es nicht gefälscht ist. Ist das
Steelgrave?«
Das Silberlachen sprudelte wieder. »Sie sind
wirklich ein lachhafter Typ, Amigo. Wirklich. Ich

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hätte nicht geglaubt, dass so was heute noch
hergestellt wird.«
»Vorkriegsware«, sagte ich. »Wir werden jeden
Tag rarer. Wo haben Sie das her?«
»Aus Mavis Welds Tasche in Mavis Welds
Bühnengarderobe. Als sie beim Drehen war.«
»Weiß sie's?«
»Sie weiß es nicht.«
»Ich möchte wissen, wo sie das her hat.«
»Von Ihnen.«
»Blödsinn.« Ich runzelte die Stirn. »Wo hätte ich
es denn herhaben sollen?«
Sie streckte die behandschuhte Hand über den
Schreibtisch. Ihre Stimme war kühl. »Geben Sie's
mir bitte zurück.«
»Ich werde es Mavis Weld zurückgeben. Und
obwohl ich das nicht gerne sage, Miss Gonzales,
zum Erpresser bin ich denkbar ungeeignet. Mir fehlt
einfach das einnehmende Wesen.«
»Geben Sie das her«, sagte sie scharf. »Wenn Sie
es nicht…«
Sie unterbrach sich. Ich wartete darauf, dass sie
weitersprach. Auf ihren glatten Gesichtszügen lag
ein verächtlicher Ausdruck.
»Also gut«, sagte sie. »Es war mein Fehler. Ich
dachte, Sie hätten Grips. Jetzt sehe ich, dass Sie

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auch nur ein blöder Privatdetektiv sind. Dieses
schäbige kleine Büro«, sie machte eine schwarz
behandschuhte Geste, »und das schäbige bisschen
Leben, das sich hier abspielt – ich hätte wissen
müssen, was Sie für ein Idiot sind.«
»Jetzt wissen Sie's«, sagte ich.
Langsam wandte sie sich um und ging zur Tür. Ich
kam um den Schreibtisch herum, und sie ließ sich
von mir die Tür öffnen. Langsam ging sie hinaus.
Dieser Gang war ihr nicht auf der Handelsschule
beigebracht worden.
Sie ging den Korridor entlang, ohne sich
umzusehen. Sie ging wunderschön.
Der Türschließer zog die Tür zu und ließ sie weich
einklinken. Es schien sehr lange zu dauern. Ich stand
davor und sah zu, als hätte ich es noch nie vorher
gesehen. Dann wandte ich mich um und kehrte zu
meinem Schreibtisch zurück. Und jetzt klingelte das
Telefon.
Ich nahm es auf und meldete mich. Es war Christy
French. »Marlowe? Wir brauchen Sie hier auf dem
Präsidium.«
»Sofort?«
»Wenn möglich noch schneller«, sagte er und legte
auf.
Ich holte das zusammengeklebte Foto unter der
Löschunterlage hervor und legte es zu den anderen

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in den Tresor. Ich setzte meinen Hut auf und schloss
das Fenster. Worauf sollte ich noch warten? Ich
betrachtete die grüne Spitze des Sekundenzeigers
auf meiner Uhr. Es war noch lange hin bis fünf Uhr.
Der Sekundenzeiger machte die Runde auf dem
Zifferblatt wie ein Hausierer. Die Zeiger zeigten vier
Uhr zehn. Man könnte meinen, dass sie bis dahin
angerufen hätte. Ich zog mir die Jacke aus, schnallte
den Hüftgurt ab und schloss ihn zusammen mit der
Luger in der Schreibtischschublade ein. Die Polypen
haben es nicht so gern, wenn man auf ihrem Gelände
ein Schießeisen trägt.
Auch wenn man eine Genehmigung dafür hat. Sie
haben es gern, wenn man recht bescheiden
ankommt, den Hut in der Hand, die Stimme leise
und höflich, mit ganz und gar leeren Augen.
Wieder sah ich auf die Uhr. Ich horchte. An diesem
Nachmittag wirkte das Haus leise. Bald würde es
ganz still sein, und dann würde die Madonna mit
dem dunkelgrauen Mop durch den Gang geschlurft
kommen und würde an den Türknöpfen rütteln.
Ich zog meine Jacke wieder an, schloss die
Verbindungstür ab, schaltete den Summer ab und
trat hinaus in den Korridor. Da klingelte das
Telefon. Ich hängte fast die Tür aus, als ich ins Büro
zurückstürzte. Es war ihre Stimme, aber sie hatte
einen Klang, den ich noch nie gehört hatte. Ein
kühler, ausgeglichener Klang, gar nicht flach oder

- 280 -
leer oder tot, auch keineswegs kindlich. Es war die
Stimme einer Frau, die ich nicht kannte und doch
irgendwie kannte. Ich wusste, was mit der Stimme
los war, bevor sie mehr als drei Worte gesagt hatte.
»Ich habe Sie angerufen, weil Sie's mir gesagt
haben«, sagte sie. »Aber Sie brauchen mir nichts zu
erzählen. Ich bin dort gewesen.«
Ich hielt den Hörer mit beiden Händen.
»Sie waren dort«, sagte ich. »Ja. Ich hab's gehört.
Und nun?«
»Ich habe mir ein Auto … geliehen«, sagte sie.
»Ich habe auf der anderen Straßenseite geparkt. Es
waren so viele Autos dort, dass Sie mich nicht
bemerkt hätten. Da ist ein Beerdigungsinstitut. Ich
bin Ihnen nicht gefolgt. Als Sie da rauskamen,
versuchte ich hinter Ihnen herzugehen, aber ich
kenne mich da nicht aus und habe Sie aus den
Augen verloren. Deshalb bin ich wieder
zurückgegangen.«
»Weswegen sind Sie denn zurückgegangen?«
»Ich weiß es eigentlich nicht. Ich dachte, dass Sie
irgendwie komisch aussahen, als Sie aus dem Haus
rauskamen.
Oder vielleicht hatte ich einfach so ein Gefühl.
Weil es doch mein Bruder ist und so. Also bin ich
wieder hingegangen und habe geläutet. Niemand
machte auf. Ich fand das auch merkwürdig.

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Vielleicht bin ich neurotisch oder so was. Ganz
plötzlich war mir so, als ob ich unbedingt in das
Haus hinein müsste. Ich wusste nicht wie, aber ich
musste rein.«
»Mir geht's auch manchmal so«, sagte ich, und es
war auch meine Stimme, aber jemand musste meine
Zunge zum Schmirgeln benutzt haben.
»Ich rief die Polizei an und erzählte, dass ich
Schüsse gehört hätte«, sagte sie. »Da kamen sie an,
und einer von ihnen stieg durch das Fenster in das
Haus. Dann öffnete er dem Andern die Tür. Und
mich wollten sie nicht reinlassen. Ich musste ihnen
alles erzählen, wer er war, dass ich das mit den
Schüssen gelogen hatte, aber dass ich Angst hatte,
dass Orrin etwas passiert sei. Und ich musste ihnen
auch von Ihnen erzählen.«
»Das ist schon recht«, sagte ich. »Ich hätte es ihnen
selbst gesagt, nachdem ich Sie gesprochen hatte.«
»Es ist unangenehm für Sie, nicht?«
»Ja.«
»Werden die Sie einsperren oder was?«
»Vielleicht.«
»Sie haben ihn da auf dem Boden liegen lassen.
Tot. Wahrscheinlich ging es nicht anders.«
»Ich hatte meine Gründe«, sagte ich. »Vielleicht
werden sie nicht gut klingen, aber ich hatte welche.
Für ihn war es sowieso egal.«

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»Oh, Sie werden schon Ihre Gründe gehabt
haben«, sagte sie. »Sie sind sehr schlau. Sie haben ja
immer Gründe für alles. Na schön, jetzt werden Sie
der Polizei wohl auch Ihre Gründe erzählen
müssen.«
»Nicht unbedingt.«
»O doch, das werden Sie«, sagte die Stimme, und
sie hatte einen freudigen Beiklang, den ich mir nicht
erklären konnte. »Bestimmt werden Sie das. Die
zwingen Sie dazu.«
»Wir wollen uns nicht drüber streiten«, sagte ich.
»In meinem Beruf muss man tun, was man kann, um
den Klienten zu schützen. Manchmal geht man ein
Bisschen weit. Ich bin ein bisschen weit gegangen.
Jetzt können sie mich drankriegen. Aber ich habe es
nicht nur für Sie getan.«
»Sie haben ihn auf dem Boden liegen lassen, tot«,
sagte sie. »Und mir ist es egal, was sie mit Ihnen
machen. Ich glaube, wenn Sie ins Gefängnis
kommen, wäre es mir recht. Bei so was sind Sie
bestimmt sehr tapfer.«
»Klar«, sagte ich. »Immer ein frohes Lächeln im
Gesicht. Haben Sie gesehen, was er in der Hand
hielt?«
»Er hatte nichts in der Hand.«
»Na ja, dann lag es neben der Hand.«

- 283 -
»Da war nichts. Gar nichts war da. Was soll denn
das gewesen sein?«
»Das ist schön«, sagte ich. »Das freut mich
wirklich. Also, adieu. Ich fahre jetzt zum Präsidium.
Ich soll dorthin kommen. Viel Glück, falls ich Sie
nicht mehr sehe.«
»Behalten Sie lieber Ihr Glück«, sagte sie.
»Vielleicht brauchen Sie es. Und ich will es nicht
haben.«
»Ich habe für Sie getan, was ich konnte«, sagte ich.
»Vielleicht, wenn Sie mir am Anfang etwas mehr
erzählt…«
Sie legte auf, während ich sprach.
Ich legte den Hörer sanft in die Gabel, als ob er ein
Baby wäre. Ich zog ein Taschentuch heraus und
wischte mir die Innenseite meiner Hände ab. Ich
ging zum Waschbecken und wusch mir Hände und
Gesicht. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht,
trocknete es fest mit dem Handtuch ab und be-
trachtete es im Spiegel.
»Du bist wirklich von einem Felsen gestürzt«,
sagte ich.

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24

Mitten im Zimmer stand ein langer gelber


Eichentisch. Seine Ränder waren von brennenden
Zigaretten stellenweise angesengt. Dahinter war ein
Fenster mit Maschendraht über dem Rauhglas.
Ebenfalls hinter dem Tisch, über einem Durch-
einander von unordentlich ausgebreiteten Papieren,
Polizeileutnant Fred Beifus. Am Ende des Tisches,
auf zwei Füßen eines Armsessels zurückgekippt, saß
ein großer, stämmiger Mann mit einem Gesicht, das
mich irgendwie an ein Gesicht erinnerte, das ich
schon mal gerastert in einer Zeitung gesehen hatte.
Er hatte ein Kinn wie 'ne Parkbank. Er hatte das
Schaftende eines Zimmermannsbleistifts zwischen
den Zähnen. Er schien wach zu sein und zu atmen,
aber ansonsten saß er nur da.
Auf der anderen Seite des Tisches waren zwei
Schreibtische mit Rouleauverschluß und ein weiteres
Fenster. Einer der Schreibtische stand mit dem
Rücken zum Fenster. Eine Frau mit orangefarbenem
Haar tippte einen Bericht auf einem Schreib-
maschinentischchen neben dem Schreibtisch. An
dem anderen Schreibtisch, der quer zum Fenster
stand, saß Christy French in einem zurück gekippten
Drehstuhl, mit den Füßen auf einer Schreibtisch-
ecke. Er blickte aus dem Fenster, das offen stand
und eine großartige Aussicht auf den

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Polizeiparkplatz und die Rückseite einer Reklame-
wand bot.
»Setzen Sie sich hierhin«, sagte Beifus mit einer
Geste.
Ich setzte mich ihm gegenüber auf einen steifen
Eichenstuhl ohne Lehnen. Er war längst nicht mehr
neu, und auch neu war er nicht schön gewesen.
»Das ist Leutnant Moses Maglashan von der
Polizei von Bay City«, sagte Beifus. »Er liebt Sie
auch nicht mehr als wir.«
Leutnant Moses Maglashan nahm den
Zimmermannsbleistift aus seinem Mund und
betrachtete die Abdrücke seiner Zähne auf dem
dicken, eckigen Bleistiftgriff. Dann betrachtete er
mich. Seine Augen wanderten an mir entlang und er-
forschten mich, registrierten mich. Er sagte nichts.
Er nahm den Bleistift wieder in den Mund.
Beifus sagte: »Vielleicht bin ich schwul, aber für
mich haben Sie nicht mehr Sex-Appeal als eine
Schildkröte.« Er machte eine halbe Wendung zu der
Schreibdame in der Ecke. »Millie.«
Sie drehte sich fort von der Maschine zu einem
Stenoblock, ohne aufzusehen. »Name Philip
Marlowe«, sagte Beifus. »Falls Sie pingelig sind – er
hat ein ›e‹ am Ende. Lizenznummer?«
Er sah mich an. Ich sagte es ihm. Die rote Fee
schrieb ohne aufzublicken. Es wäre eine Beleidigung

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gewesen, wenn man von ihrem Gesicht gesagt hätte,
dass es eine Uhr anhalten könnte. Ein flüchtiges
Pferd hätte davor angehalten.
»Wenn Sie jetzt in Stimmung sind«, sagte Beifus
zu mir, »können Sie jetzt von vorne anfangen und
alles erzählen, was Sie gestern ausgelassen haben.
Versuchen Sie nicht zu sieben. Lassen Sie's einfach
laufen. Wir wissen genug, um alles nachzuprüfen.«
»Ich soll eine Erklärung abgeben?«
»Eine sehr vollständige Erklärung«, sagte Beifus.
»Ist das nicht schön?«
»Und es soll freiwillig und ohne Zwang sein?«
»Na klar. So ist es doch immer.« Beifus grinste.
Maglashan sah mich einen Augenblick ruhig an.
Die rote Fee drehte sich wieder zu ihrer Maschine.
Es war noch nichts für sie. Durch dreißig Jahre
Arbeit war sie äußerst rationell geworden.
Maglashan nahm einen abgetragenen schweins-
ledernen Handschuh aus seiner Tasche, zog ihn über
seine rechte Hand und machte Fingergymnastik.
»Wozu das?« fragte ihn Beifus.
»Ich muss mir manchmal meine Nägel knabbern«,
sagte Maglashan.
»Komisch. Ich knabbere immer nur an der rechten
Hand.« Er hob seine trägen Augen, um mich
anzustarren. »Manche Leute sind freiwilliger als
andere«, sagte er lässig. »Es heißt, sie machen es mit

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den Nieren. Andere Burschen habe ich gesehen, die
waren nicht so freiwillig, aber nachdem sie freiwillig
geworden waren, mussten sie alle viertel Stunde aufs
Klo. Konnten anscheinend ihr Wasser nicht halten.«
»Kaum zu glauben«, sagte Beifus staunend.
»Ferner gibt's die Typen, die nur noch rauh flüstern
können, wenn sie reden«, fuhr Maglashan fort. »So
wie Boxer, die groggy sind, weil sie zuviel mit dem
Hals abgeblockt haben.«
Maglashan sah mich an. Offenbar war ich dran.
»Und außerdem gibt's noch den Typ, der überhaupt
nicht zum Klo geht«, sagte ich. »Die sind einfach zu
eifrig. Sitzen dreißig Stunden ununterbrochen auf
der Brille. Dann fallen sie runter, und die Milz reißt
oder die Galle schlägt leck. Sie sind übereifrig. Und
nach den Schnellverhandlungen frühmorgens, wenn
die Zellen sich geleert haben, findet man sie tot in
einer dunklen Ecke. Vielleicht hätten sie einen
Doktor gebraucht, aber man kann schließlich nicht
an alles denken, stimmt's, Leutnant?«
»Wir denken ziemlich scharf in Bay City«, sagte
er. »Wenn wir was zum Denken kriegen.«
An den Winkeln seines Kinns waren harte
Muskelknoten. Ganz hinten in seinen Augen war ein
rötlicher Schein.
»Ich könnte wundervoll mit Ihnen arbeiten«, sagte
er. »Einfach wundervoll.«

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»Bestimmt, das glaube ich auch, Leutnant. Ich
habe mich in Bay City immer so wohl gefühlt –
solange ich bei Bewusstsein war.«
»Ich würde Sie schon bei Bewusstsein halten,
Freundchen. Lange. Würde ich besonders drauf
achten. Höchstpersönlich.«
Christy French drehte langsam seinen Kopf und
gähnte. »Wovon werden die Polypen in Bay City nur
so scharf?« fragte er.
»Legen Sie Ihre Nüsse in Salzwasser ein oder
was?«
Beifus streckte seine Zunge vor, so dass die Spitze
sichtbar wurde, und ließ sie über die Lippen laufen.
»Wir sind immer scharf gewesen«, sagte
Maglashan, ohne hinzusehen. »Wir sind gerne
scharf. Solche Wichte wie dieser Typ hier kommen
uns grade recht dafür.« Er wandte sich wieder zu
mir. »Also Sie sind das Schätzchen, das wegen
Clausen angerufen hat. Sie sind recht geschickt mit
so einem Münztelefon, was, Liebling?«
Ich sagte kein Wort.
»Ich rede mit Ihnen, Schätzchen«, sagte
Maglashan. »Ich hab Sie was gefragt, Schätzchen.
Und wenn ich was frage, krieg ich 'ne Antwort.
Verstanden, Schätzchen?«
»Reden Sie nur so weiter, dann geben Sie sich
selber die Antwort«, sagte Christy French. »Und

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vielleicht gefällt Ihnen dann die Antwort nicht, und
vielleicht sind Sie dann so scharf, dass Sie sich mit
diesem Handschuh k. o. schlagen müssen. Bloß,
damit man's glaubt.«
Maglashan setzte sich steif auf. Auf seinen
Wangen glühten rote Flecken so groß wie Fünfzig-
Cent-Stücke.
»Ich komme hierher und will Unterstützung«, sagte
er langsam zu French. »Die große Abreibung kann
ich zu Hause kriegen. Von meiner Frau. Es passt mir
nicht, dass irgendwelche Klugschnacker mich hier
herunterputzen.«
»Sie kriegen Ihre Unterstützung«, sagte French.
»Bloß ziehen Sie nicht diese billige Kinoschau hier
ab.« Er drehte sich auf seinem Stuhl und sah mich
an. »Also, nehmen wir mal ein neues Blatt Papier,
und spielen wir noch mal den Anfang der
Untersuchung. Ihre Argumente kenne ich alle. Ich
bin hier nicht der Richter. Die Frage ist einfach,
wollen Sie jetzt reden, oder wollen Sie als
Kronzeuge festgenagelt werden?«
»Fragen Sie«, sagte ich. »Wenn die Antworten
Ihnen nicht gefallen, können Sie immer noch das mit
dem Kronzeugen machen. Und wenn Sie das
machen, dann muss ich erst mal telefonieren.«
»Richtig«, sagte French. »Wenn wir das machen.
Aber das brauchen wir nicht. Wir können auch ein
Dauerverhör machen. Es kann zehn Tage dauern.«

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»Zu essen gibt's Corned Beef in Dosen«, warf
Beifus fröhlich ein.
»Genaugenommen: legal wäre das nicht«, sagte
French. »Aber wir machen das immer so. Genauso,
wie Sie auch ein paar Sachen machen, die Sie
vielleicht besser nicht gemacht hätten. Oder wollen
Sie behaupten, dass Sie immer legal gewesen sind?«
»Nein.«
Maglashan gab ein inbrünstiges »Ha!« von sich.
Ich sah hinüber zu der orangeroten Fee, die wieder
vor ihrem Stenoblock saß, schweigsam und
gleichgültig.
»Sie haben einen Klienten, den Sie schützen
müssen«, sagte French. »Vielleicht.«
»Das heißt, Sie hatten einen Klienten. Eine
Klientin. Sie hat Sie verpfiffen.« Ich sagte nichts.
»Heißt Orfamay Quest«, sagte French und
beobachtete mich.
»Stellen Sie Ihre Fragen«, sagte ich. »Was war in
der Idaho Street los?«
»Ich bin hingefahren, um ihren Bruder zu suchen.
Sie sagte, er sei weggezogen, und sie war hierher
gekommen, um ihn zu besuchen. Sie war
beunruhigt. Der Verwalter, Clausen, war zu
besoffen, um vernünftig zu reden. Ich sah ins'
Meldebuch und stellte fest, dass jemand anderer in
das Zimmer von Quest gezogen war. Ich redete mit

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dem Mann. Er erzählte mir nichts, was ich brauchen
konnte.«
French griff nach hinten, nahm einen Bleistift vom
Schreibtisch und klopfte damit an seine Zähne.
»Haben Sie den Mann noch mal wieder gesehen?«
»Ja. Ich habe ihm gesagt, wer ich wäre. Als ich
wieder die Treppe runterkam, war Clausen tot. Und
jemand hatte eine Seite aus dem Meldebuch
gerissen. Die Seite mit Quests Namen drauf. Ich rief
die Polizei an.«
»Aber dort geblieben sind Sie nicht?«
»Ich wusste nichts über Clausens Ermordung.«
»Aber Sie sind nicht dageblieben«, wiederholte
French. Maglashan produzierte ein wildes Geräusch
mit seiner Kehle und warf den Zimmermanns-
bleistift durchs ganze Zimmer. Ich sah zu, wie er
gegen die Wand prallte und auf den Boden und
liegen blieb.
»Das ist richtig«, sagte ich.
»In Bay City«, sagte Maglashan, »könnten wir Sie
dafür umbringen.«
»In Bay City könnten Sie mich umbringen, weil
ich einen blauen Schlips trage«, sagte ich.
Er wollte aufstehen. Beifus sah ihn von der Seite
an und sagte: »Lassen Sie das Christy machen. Es
gibt immer noch eine zweite Vorstellung.«

- 292 -
French ließ sich nicht stören. »Wir können Sie
dafür ruinieren«, sagte er.
»Betrachten Sie mich als ruiniert«, sagte ich. »Ich
habe dieses Geschäft sowieso nie gemocht.«
»Also, dann kamen Sie zurück in Ihr Büro. Was
weiter?«
»Ich habe meinem Klienten berichtet. Danach rief
mich einer an und bat mich, ins Van Nuys Hotel zu
kommen. Es war derselbe Kerl, mit dem ich in der
Idaho Street geredet hatte, aber unter anderem
Namen.«
»Das hätten Sie uns mal erzählen können.«
»Wenn ich das erzählt hätte, dann hätte ich alles
erzählen müssen. Damit hätte ich gegen die
Bedingungen verstoßen, unter denen ich engagiert
war.«
French nickte und beklopfte sich mit dem Bleistift.
Er sagte langsam: »Durch einen Mord werden solche
Bedingungen ungültig. Durch zwei Morde werden
sie zweimal ungültig. Durch zwei Morde mit der
gleichen Methode - dreimal. Es sieht nicht gut für
Sie aus, Marlowe. Gar nicht gut.«
»Ich sehe noch nicht mal für meinen Klienten gut
aus«, sagte ich. »Nach dem, was heute war.«
»Was war denn heute?«
»Sie erzählte mir, ihr Bruder hätte sie von dem
Haus dieses Arztes angerufen. Dr. Lagardie. Der

- 293 -
Bruder sei in Gefahr. Ich sollte schnell hinfahren
und ihm helfen. Ich fuhr schnell hin. Dr. Lagardie
und seine Sprechstundenhilfe hatten zugemacht. Sie
wirkten verängstigt. Die Polizei war dort gewesen.«
Ich sah Maglashan an.
»Wieder einer von seinen Anrufen«, knurrte
Maglashan.
»Diesmal war ich's nicht«, sagte ich.
»Also gut. Weiter«, sagte French, nach einem
Moment.
»Lagardie bestritt, irgendwas über Orrin Quest zu
wissen. Er schickte sein Mädchen nach Hause. Dann
steckte er mir eine vergiftete Zigarette zu, und ich
war eine Zeitlang weg. Als ich zu mir kam, war ich
allein im Haus. Auf einmal war ich nicht mehr
allein. Orrin Quest, oder was von ihm übrig war,
kratzte an der Tür. Er fiel um, als ich sie aufmachte.
Mit der letzten Kraft versuchte er, mich mit dem
Eisdorn zu stechen.« Ich wackelte mit den Schultern.
Dazwischen war es noch ein bisschen steif und tat
weh, aber sonst nichts.
French warf einen scharfen Blick auf Maglashan.
Maglashan schüttelte den Kopf, aber French sah ihn
weiter an. Beifus fing leise an zu pfeifen. Erst
konnte ich die Melodie nicht erkennen, dann
erkannte ich sie. Es war ›Der alte Moses 's tot‹.

- 294 -
French wandte seinen Kopf und sagte langsam:
»Es ist kein Eisdorn bei der Leiche gefunden
worden.«
»Ich hab ihn liegen gelassen, wo er lag«, sagte ich.
Maglashan sagte: »Sieht so aus, als ob ich mal
wieder den Handschuh anziehen muß.« Er strammte
ihn zwischen den Fingern. »Irgendwer ist hier ein
verdammter Lügner, und ich bin's nicht.«
»Schon gut«, sagte French. »Schon gut. Bitte kein
Drama jetzt. Also, nehmen wir mal an, der Junge
hatte wirklich einen Eisdorn in der Hand: das
beweist nicht, dass er damit geboren wurde.«
»Er war zugefeilt«, sagte ich. »Ganz kurz. Vom
Griff bis zur Spitze vielleicht sieben Zentimeter.
Geliefert werden sie nicht so.«
»Wieso wollte er Sie denn stechen?« fragte Beifus
mit spöttischem Grinsen. »Sie waren auf seiner
Seite. Sie waren im Auftrag seiner Schwester
gekommen, um ihn zu retten.«
»Ich war einfach irgendwas, das ihm das Licht
wegnahm«, sagte ich. »Etwas, das sich bewegte, das
vielleicht ein Mensch war und vielleicht der Mann,
der ihn verwundet hatte. Er stand da und starb. Ich
hatte ihn vorher nie gesehen. Wenn er mich je
gesehen hat, dann ohne mein Wissen.«

- 295 -
»Es wäre so eine nette Freundschaft gewesen«,
sagte Beifus seufzend. »Abgesehen von dem
Eisdorn, natürlich.«
»Die bloße Tatsache, dass er das in der Hand hielt
und mich damit stechen wollte, kann auch was
bedeuten.«
»Was, zum Beispiel?«
»Ein Mensch in seinem Zustand handelt instinktiv.
Er erfindet keine neue Technik. Er erwischte mich
zwischen den Schulterblättern, ein kleiner Stich, die
letzte schwache Anstrengung eines Sterbenden. Es
wäre vielleicht an einer anderen Stelle, und ein viel
tieferes Loch gewesen, wenn er gesund gewesen
wäre.«
Maglashan sagte: »Wie lange müssen wir
eigentlich noch mit diesem Affen herumalbern? Ihr
redet mit ihm, als ob er ein Mensch wäre. Lassen Sie
mich mal mit ihm reden – auf meine Art. «
»Der Chef mag das nicht«, sagte French lässig.
»Zum Teufel mit dem Chef.«
»Der Chef mag keine Kleinstadtpolypen, die sagen
›Zum Teufel mit ihm‹«, sagte French.
Maglashan presste seine Zähne fest zusammen, der
Umriss seines Unterkiefers sah weiß aus. Seine
Augen wurden schmäler und glitzerten. Er tat einen
tiefen Atemzug durch die Nase.

- 296 -
»Besten Dank für die Zusammenarbeit«, sagte er
und stand auf. »Ich gehe.« Er kam um die Ecke des
Tisches herum und hielt neben mir an. Er streckte
seine linke Hand aus und hob wieder mein Kinn
hoch.
»Wir sehen uns wieder, Liebling. Bei mir zu
Hause.«
Zweimal wischte er mir übers Gesicht mit dem
offenen Ende seines Handschuhs. Die Knöpfe
schmerzten stark. Ich hob meine Hand hoch und rieb
mir die Unterlippe.
French sagte: »Zum Donnerwetter, Maglashan,
setzen Sie sich hin und lassen Sie den Mann seinen
Part reden. Und lassen Sie die Finger von ihm.«
Maglashan sah sich nach ihm um und sagte:
»Glauben Sie, Sie können mir dumm kommen?«
French zuckte nur die Achseln. Nach einer Weile
fuhr sich Maglashan mit seiner großen Hand über
den Mund und schlurfte zu seinem Sessel zurück.
French sagte: »Erzählen Sie uns mal, was Sie von
der ganzen Sache halten, Marlowe.«
»Unter anderem hat Clausen wahrscheinlich mit
Hasch-Zigaretten gehandelt«, sagte ich. »In seiner
Wohnung roch es nach Marihuana. Als ich ankam,
war ein scharfer, kleiner Kerl grade am Geldzählen
in der Küche. Er hatte eine Kanone und eine scharfe,
dünne Feile, und beides versuchte er an mir

- 297 -
auszuprobieren. Ich nahm ihm das weg, und er ver-
schwand. Er war wohl der Verbindungsmann. Aber
Clausen war derartig vollgesoffen, daß man sich auf
ihn nicht mehr verlassen konnte. Im Syndikat mögen
sie so was nicht.
Das Männlein dachte, ich sei ein Polyp in Zivil.
Diese Leute konnten nicht zulassen, dass Clausen
gefasst wurde. Man hätte ihn zu leicht aushorchen
können. Sobald die einen Polypen im Haus rochen,
musste Clausen weggeräumt werden.«
French sah Maglashan an. »Was sagen Sie dazu?«
»Möglich ist es«, sagte Maglashan widerwillig.
French sagte: »Nehmen wir an, es war so - was hat
das alles mit Orrin Quest zu tun?«
»Einen Joint kann jeder rauchen«, sagte ich.
»Wenn man sich langweilt oder einsam ist oder
deprimiert oder arbeitslos, ist es vielleicht sehr
verlockend. Aber wenn man ihn raucht, wird man
verdreht und gleichgültig. Verschiedene Menschen
reagieren verschieden auf Marihuana. Manche
werden bösartig davon, andere bloß ›was-geht's-
dich-an‹. Vielleicht hat Orrin Quest jemandem
eingeheizt und mit der Polizei gedroht. Es könnte
gut sein, daß die drei Morde mit der Hasch-Bande zu
tun haben.«
»Das passt nicht gut zu dem zurechtgefeilten
Eisdorn von Quest«, sagte Beifus.

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Ich sagte: »Nach dem, was unser Leutnant hier
sagt, hatte er keinen. Ich muss mir das wohl
eingebildet haben. Außerdem - vielleicht hat er ihn
bloß aufgesammelt. Vielleicht gehören sie zur
Ausstattung in Dr. Lagardies Haus. Liegt über ihn
was vor?«
Er schüttelte den Kopf. »Bisher nicht.«
»Mich hat er nicht umgebracht. Vielleicht hat er
überhaupt niemand umgebracht«, sagte ich. »Quest
hat seiner Schwester erzählt - so sagt sie wenigstens
-, daß er für Dr. Lagardie arbeitete - aber ein paar
Gangster seien hinter ihm her.«
»Dieser Lagardie«, sagte French und pickte mit
seinem Kugelschreiber auf dem Löschblatt herum,
»was meinen Sie denn, was mit dem los ist?«
»Er hat mal in Cleveland praktiziert. Recht
großkotzig in der City. Er muss Gründe gehabt
haben, dass er in Bay City untergetaucht ist.«
»Soso, Cleveland«, meinte French gedehnt und
betrachtete eine Ecke der Zimmerdecke. Beifus
betrachtete seine Papiere. Maglashan sagte: »Sicher
ein Abtreiber. Ich habe den schon lange im Auge.«
»In welchem denn?« fragte ihn Beifus sanft.
Maglashan wurde rot.
French sagte: »Vielleicht nicht in demselben Auge
wie die Idaho Street.«

- 299 -
Maglashan erhob sich heftig. »Wenn ihr euch hier
so verdammt schlau vorkommt, dann interessiert es
euch vielleicht auch, dass wir bloß die Polizei von
einer Kleinstadt sind. Wir müssen uns manchmal
ganz schön ins Zeug legen. Trotzdem, die
Marihuana-Theorie gefällt mir. Vielleicht sparen wir
uns damit 'ne Menge Arbeit. Ich werde mir das
gleich mal genauer ansehen.«
Er marschierte zur Tür und verschwand. French
sah ihm nach. Beifus auch. Als die Tür sich schloss,
sahen sie einander an.
»Ich wette, heute Abend gibt's wieder eine
Razzia«, sagte Beifus.
French nickte.
Beifus sagte: »In einer Wohnung einen Stock über
einer Wäscherei. Und dann fahren sie an den Strand
und schnappen sich drei oder vier Vagabunden und
verstecken sie in der Wohnung. Und dann, nach der
Razzia, stellen sie sie in eine Reihe, für die
Fotofritzen.«
French sagte: »Du redest zu viel, Fred.«
Beifus grinste und schwieg. French sagte zu mir:
»Wenn Sie mal raten sollten, was würden Sie raten,
wonach die in dem Zimmer im Van Nuys gesucht
haben?«

- 300 -
»Einen Aufbewahrungsschein für einen Koffer voll
Pot.« »Nicht schlecht«, sagte French. »Und was
denken Sie, wo er gewesen sein könnte?«
»Ich habe drüber nachgedacht. Als ich in Bay City
mit Hicks redete, hatte er keine Perücke auf. Zu
Hause trägt man sie eben nicht. Aber im Bett, im
Van Nuys, hatte er sie auf. Vielleicht hat er sie nicht
selber aufgesetzt.«
French sagte: »Und?«
Ich sagte: »Das wäre nicht so übel, um so einen
Schein zu verstecken.«
French sagte: »Man könnte ihn mit einem Stück
Tesafilm ankleben. Ganz gute Idee.«
Es war still. Die orangerote Fee machte sich wieder
ans Tippen. Ich betrachtete meine Fingernägel. Sie
hätten sauberer sein können. Nach einer Pause sagte
French langsam: »Denken Sie bloß nicht, Sie hätten
es überstanden, Marlowe. Raten wir mal weiter.
Warum sollte Dr. Lagardie eine Bemerkung über
Cleveland zu Ihnen machen?«
»Ich habe mir die Mühe gemacht, das
nachzuprüfen. Ein Doktor kann seinen Namen nicht
ändern, wenn er weiterpraktizieren will. Bei dem
Eisdorn mußte man an Weepy Moyer denken.
Weepy Moyer hatte seine Geschäfte in Cleveland.
Zwar, die Technik mit dem Eisdorn war nicht die-
selbe, aber ein Eisdorn war es. Sie haben ja selber
gesagt, die Jungs könnten was dazugelernt haben.

- 301 -
Und bei diesen Gangstern ist immer irgendwo ein
Doktor im Hintergrund.«
»Ziemlich wild«, sagte French. »Ziemlich weit
hergeholt.«
»Würde es mir was nützen, wenn ich es schlüssiger
machte?«
»Können Sie das denn?«
»Versuchen könnte ich's.«
French seufzte. »Die kleine Quest ist in Ordnung«,
sagte er. »Ich habe mit ihrer Mutter da hinten in
Kansas geredet. Sie ist wirklich hergekommen, um
ihren Bruder zu suchen. Und sie hat Sie wirklich
dafür engagiert. Sie hat Sie gut beurteilt. Bis zu
einem gewissen Punkt jedenfalls. Sie hatte wirklich
den Verdacht, dass ihr Bruder in eine krumme Sache
verwickelt war. Haben Sie was an der Sache ver-
dient?«
»Nicht viel«, sagte ich. »Ich habe ihr das Geld
zurückgegeben. Sie hatte nicht viel.«
»Da brauchen Sie wenigstens keine Steuern zu
zahlen«, sagte Beifus.
French sagte: »Wir wollen Schluss machen. Jetzt
ist der Bezirksrichter dran. Und wie ich Endicott
kenne, braucht er nach dem Dienstag noch eine
Woche, bis er weiß, wie es laufen soll.« Er machte
einen Wink zur Tür hin.

- 302 -
Ich stand auf. »In Ordnung, wenn ich die Stadt
nicht verlasse?« fragte ich.
Sie machten sich nicht die Mühe zu antworten.
Ich stand einfach so da und sah sie an. Die Wunde
zwischen meinen Schultern schmerzte irgendwie
trocken, das Fleisch drum herum war hart. Eine
Seite meines Gesichts und vom Mund spannte, da
wo Maglashan mir mit seinem abgetragenen
schweinsledernen Handschuh eine gewischt hatte.
Ich war im tiefen Wasser. Es war dunkel und trübe,
und der Geschmack von Salz war in meinem Mund.
Sie saßen einfach da und sahen mich wieder an.
Die orangerote Fee klapperte an der Schreib-
maschine. Polypen-Slang war für sie genauso wenig
eine Delikatesse wie Beine für einen Ballettmeister.
Sie hatten die ruhigen wetterharten Gesichter von
stark trainierten Männern. Sie hatten Augen, wie
diese Typen meistens haben, wolkig grau wie
frierendes Wasser. Den festgeschlossenen Mund,
harte Fältchen an den Augenwinkeln, den hohlen,
harten, ausdruckslosen Blick, nicht direkt grausam,
doch tausend Meilen jenseits der Güte. Die
trübseligen Kleider von der Stange, stillos getragen,
irgendwie verächtlich; das Aussehen von Leuten, die
arm sind und doch stolz auf ihre Macht, die immer
drauf aus sind, dass man sie fühlt, die es dir stecken
und dann rumdrehen, grinsen und hinsehen, wie du
dich windest, skrupellos ohne Bosheit, grausam und

- 303 -
doch nicht immer unfreundlich. Was sollte man auch
von ihnen erwarten? Zivilisiertheit bedeutet ihnen
nichts. Was ihnen vor Augen kam, waren wir
Versager, der Schmutz, der Bodensatz, die
Perversionen und der Ekel.
»Was stehen Sie denn rum?« fragte Beifus scharf.
»Sollen wir Ihnen noch einen dicken, fetten Schmatz
geben? Kein knusperiges Witzchen mehr auf Lager?
Ein Jammer.« Seine Stimme sackte ab, nur noch ein
schwaches Brummen. Er runzelte die Stirn und griff
nach einem Stift auf dem Tisch. Mit einer schnellen
Handbewegung brach er ihn entzwei und hielt mir
die beiden Hälften hin, nebeneinander auf dem
Handteller.
»Diese kleine Chance geben wir Ihnen noch«,
sagte er tonlos, jetzt ohne das geringste Lächeln.
»Schieben Sie ab, und bringen Sie alles in Ordnung.
Was meinen Sie wohl, warum wir Sie noch mal
laufen lassen? Maglashan hat Ihnen ein Hinter-
türchen aufgemacht. Nutzen Sie's aus.«
Ich hob meine Hand und strich mir über die
Lippen. In meinem Mund waren zu viele Zähne.
Beifus senkte seinen Blick zum Tisch, nahm ein
Papier und fing an, es zu lesen. Christy French
drehte sich in seinem Sessel, legte seine Füße auf
das Pult und starrte durch das offene Fenster auf den
Parkplatz. Die orangerote Fee hörte auf zu tippen.

- 304 -
Plötzlich erfüllte eine schwere Stille den Raum - wie
eine runtergefallene Torte.
Ich ging hinaus, ich schwamm durch die Stille wie
durch Wasser.

- 305 -
25

Das Büro war wieder leer. Keine Brünetten mit


schönen Beinen, keine Mädchen mit schrägen
Brillengläsern, keine dunklen Dandys mit den
Augen von Gangstern.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und sah zu,
wie das Tageslicht hinschwand. Die Geräusche der
Nach-Hause-Gehenden waren verklungen. Draußen
fingen die Neonschilder an, einander über den
Boulevard anzustrahlen. Irgendwas musste
geschehen, aber ich wusste nicht was. Egal, was ich
tat, es war nutzlos. Ich machte meinen Schreibtisch
sauber und horchte nach dem Schaben eines Eimers
auf den Korridorfliesen. Ich legte meine Papiere
weg, in die Schublade, stellte den Füller-Ständer
gerade, nahm ein Staubtuch, wischte das Glas ab
und dann das Telefon. Im nachlassenden Licht war
es dunkel und dünn. Diesen Abend wollte es nicht
klingeln. Keiner wollte mich mehr anrufen,
jedenfalls nicht jetzt, um diese Zeit. Vielleicht
überhaupt nicht mehr.
Ich legte das Staubtuch wieder weg, zusammen-
gefaltet, mit dem Staub drin, lehnte mich zurück und
saß einfach da, rauchte nicht, dachte nicht. Ich war
ein leerer Mensch. Hatte kein Gesicht, keinen Sinn,
keinen Charakter, kaum einen Namen. Ich wollte
nichts essen. Ich wollte nicht mal was trinken. Ich

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war das Kalenderblatt von gestern, das zerknüllt im
Papierkorb lag.
Ich holte mir das Telefon her und wählte die
Nummer von Mavis Weld. Es klingelte, klingelte,
klingelte. Neunmal. Das ist viel geklingelt,
Marlowe. Wird wohl niemand zu Hause sein. Für
dich niemand da. Ich legte auf. Wen willst du jetzt
anrufen? Hast du irgendwo einen Freund, der
vielleicht deine Stimme hören will? - Nein.
Niemand.
Mach, dass das Telefon klingelt, bitte. Mach, dass
es jemanden gibt, der anruft und mich wieder in die
Menschheit einstöpselt. Meinetwegen auch ein
Bulle. Meinetwegen ein Maglashan. Niemand
braucht mich zu lieben. Ich will nur weg von diesem
eisigen Stern.
Das Telefon klingelte.
»Amigo«, sagte ihre Stimme. »Es gibt Ärger.
Bösen Ärger. Sie möchte Sie sehen. Sie mag Sie
gern. Sie glaubt, Sie sind ein ehrlicher Kerl.«
»Wo?« fragte ich. Es war nicht eigentlich eine
Frage, bloß so ein Geräusch von mir. Ich sog an
einer kalten Pfeife, stützte den Kopf auf die Hand
und brütete über dem Telefon. Wenigstens eine
Stimme, mit der man reden konnte.
»Kommen Sie?«

- 307 -
»Heute Abend setze ich mich sogar zu einem
kranken Papagei. Wohin soll ich kommen?«
»Ich komme zu Ihnen. In fünfzehn Minuten bin ich
vor Ihrem Bürohaus. Der Weg da raus ist nicht leicht
zu finden.«
»Und wie ist es mit dem Rückweg«, sagte ich,
»oder ist uns das egal?«
Aber sie hatte schon eingehängt.
Unten, an der Theke des Drugstores, hatte ich noch
Zeit, zwei Tassen Kaffee herunterzuschütten und ein
heißes Käse-Sandwich zu essen, in dem zwei
Stückchen Ersatz-Schinken vergraben waren - wie
tote Fische im Schlick eines trockengelegten
Tümpels.
Ich mochte es. Ich war völlig durchgedreht.

- 308 -
26

Es war ein schwarzes Mercury-Cabrio mit hellem


Verdeck. Das Verdeck war zurückgeschlagen. Als
ich mich über die Tür beugte, rutschte Dolores
Gonzales zu mir hin auf den Ledersitz.
»Fahren Sie doch bitte, Amigo. Ich fahre eigentlich
nie sehr gern.«
Das Licht vom Drugstore erhellte ihr Gesicht. Sie
hatte sich wieder umgezogen, aber es war wieder
alles schwarz, außer einer feuerfarbenen Bluse.
Hosen und eine Art lockerer Jacke, wie ein Freizeit
Jackett für Männer.
Ich lehnte mich gegen die Wagentür. »Warum hat
sie mich nicht selbst angerufen?«
»Konnte sie nicht. Sie hatte die Nummer nicht, und
sie hatte sehr wenig Zeit.
»Wieso? «
»Anscheinend war es, als gerade jemand einen
Augenblick das Zimmer verlassen hatte. «
»Und wo ist das, von wo sie angerufen hat? «
»Ich weiß nicht, wie die Strasse heißt. Aber ich
finde das Haus. Deshalb bin ich gekommen. Steigen
sie bitte ein, wir müssen uns beeilen. «
»Vielleicht, sagte ich. »Aber vielleicht steige ich
auch nicht ein. Das Alter und die Arthritis machen
mich vorsichtig. «

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»Immer die kleinen Witze«, sagte sie. »Was für ein
seltsamer Mann.«
Witze, solange es geht,« sagte ich. Und ein ganz
gewöhnlicher Bursche, der bloß einen Kopf hat –
und mit dem ist manchmal recht übel umgegangen
worden. Und diese ›manchmal‹ haben so angefangen
wie jetzt.«
»Schlafen Sie heute abend mit mir?« fragte sie
weich.
»Das ist so ne Sache. Wahrscheinlich nicht.«
»Es wäre keine Zeitverschwendung,« sagte sie.
»Ich bin keine von diesen künstlichen Blondinen,
mit so ner Haut, wo man Streichhölzer dran
anzünden kann. Nicht so eine frühere Wäscherin mit
großen Knochenhänden und scharfen Knien und
sinnlosen Brüsten.«
»Bitte,« sagte ich, »können wir mal eine halbe
Stunde ohne Sex auskommen? Es ist eine prima
Sache, wie ein Banana-Split. Aber manchmal würde
man sich lieber die Gurgel abschneiden. Vielleicht
hätte ich mir lieber meine abschneiden sollen.«
Ich ging um den Wagen herum, schob die Beine
unters Steuer und ließ den Motor an.
»Wir fahren nach Westen,« sagte sie, »Beverly
Hills durch und dann weiter.«

- 310 -
Ich ließ die Kupplung los und glitt um die Ecke
nach Süden, Richtung Sunset. Dolores zog eine ihrer
langen braunen Zigarren heraus.
»Haben Sie einen Revolver dabei?« fragte sie.
»Nein. Was soll ich mit einem Revolver?« Ich
drückte mit der Innenseite meines Arms gegen die
Luger im Schulterhalfter.
»Vielleicht ist es wirklich so besser.« Sie klemmte
die Zigarette in das kleine goldene Klemmdings und
zündete sie mit dem Feuerzeug an. Das Licht, das ihr
Gesicht erhellte, schien in ihren tiefschwarzen
Augen zu versinken.
Auf dem Sunset Boulevard fuhr ich nach Westen,
ließ mich auf der dreispurigen Fahrbahn von
Rennfahrern mitreißen, die ihre Fahrzeuge jagten -
nach nirgendwo, um nichts zu tun.
»Was für eine Art von Ärger hat Mavis Weld?«
»Ich weiß nicht. Sie sagte nur, dass sie in der
Klemme sitzt und Angst hätte und Ihre Hilfe
brauchte.«
»Können Sie sich wirklich keine bessere
Geschichte ausdenken?«
Sie antwortete nicht. Ich hielt vor einer
Verkehrsampel und sah sie von der Seite an. Sie
weinte leise im Dunkeln.

- 311 -
»Ich würde Mavis Weld nie das geringste zuleide
tun«, sagte sie. »Ich erwarte ja gar nicht, dass Sie
mir glauben.«
»Andererseits«, sagte ich, »es ist vielleicht ganz
gut, dass Ihnen was Vernünftiges eingefallen ist.«
Sie begann, auf dem Sitz zu mir her zu rutschen.
»Bleiben Sie auf Ihrer Seite«, sagte ich. »Ich habe
genug mit dem Fahren zu tun.«
»Darf ich nicht meinen Kopf an Ihre Schulter
legen?«
»Bei diesem Verkehr nicht.«
An der Fairfax hielt ich vor einer grünen Ampel,
um jemanden links abbiegen zu lassen. Hinter mir
wurde wild gehupt. Als ich weiterfuhr, fuhr der
Wagen, der hinter mir gewesen war, neben mich,
und ein fetter Kerl im Unterhemd schrie herüber:
»Kauf dir lieber 'ne Hängematte!«
Und weiter preschte er, und schnitt derart meine
Fahrbahn, dass ich bremsen musste.
»Früher mochte ich diese Stadt«, sagte ich, um nur
irgendwas zu sagen und nicht so sehr denken zu
müssen. »Lange her. Am Wilshire Boulevard waren
Bäume. Beverly Hills war eine ländliche Kleinstadt.
Westwood war leere Berge, Grundstücke wurden für
elfhundert Dollar angeboten - und keine
Interessenten. Hollywood war ein paar Holzhäuser
auf der Straße zwischen den beiden Städten. Los

- 312 -
Angeles war nur ein großer, ausgedörrter, sonniger
Ort mit hässlichen, stillosen Häusern, aber gutmütig
und friedlich. Es hatte genau das Klima, dem sie
heute nachjagen. Die Leute schliefen draußen auf
der Veranda. Die kleinen Klüngel, die sich für
Intellektuelle hielten, nannten es das Athen
Amerikas. Das war es nicht, aber es war auch nicht
dieser Slum mit Neonbeleuchtung.«
Wir überkreuzten die La Cienega und weiter, wo
der Strip eine Kurve macht. ›The Dancers‹ war
prächtig erleuchtet. Die Terrasse war proppevoll.
Der Parkplatz sah aus wie Ameisen auf einer
überreifen Frucht.
»Jetzt haben wir Typen wie diesen Steelgrave als
Restaurant-Besitzer. Wir haben Kerle wie diesen
Dicken, der mich da vorhin angeödet hat. Und wir
haben das große Geld, die Scharfschützen, die
Provisionstypen, die Schnellverdiener, die Ganoven
aus New York, Chicago und Cleveland. Dann haben
wir die Glitzer-Restaurants und Nachtklubs, die sie
managen, die Hotels und die Apartmenthäuser, die
sie besitzen, die Gauner und Knasttypen, und die
weiblichen Banditen, die drin wohnen. Die Luxus-
händler, die Chi-Chi-Innenarchitekten, die lesbi-
schen Modellschneiderinnen, das ganze hartge-
sottene Großstadtgesindel mit weniger Charakter als
ein Pappbecher. Draußen in den schicken Vororten
liest der gute alte Papa seine Sportnachrichten vor

- 313 -
seinem Panoramafenster, hat die Schuhe
ausgezogen, hält sich für Oberklasse, weil er eine
Garage für drei Wagen hat. Mama sitzt an ihrem
Edelkitsch-Frisiertisch und versucht die Säcke unter
den Augen wegzumalen. Und der Junge hängt
pausenlos am Telefon und telefoniert mit einem
Schulmädchen nach dem anderen, die alle Pidgin-
Englisch reden und Kondome in den Handtaschen
haben.«
»So ist es in allen Großstädten, Amigo.«
»Richtige Städte haben noch was anderes, ein paar
Rippen unter dem wabbeligen Fleisch. Los Angeles
hat Hollywood - und kann es nicht ausstehen. Dabei
sollten sie noch froh sein. Ohne Hollywood wäre
Los Angeles nur ein großes Versandhaus. Alles aus
dem Katalog, was man woanders viel besser
bekommt.«
»Sie sind heute Abend verbittert, Amigo.«
»Ich sitze ein bisschen in der Klemme. Der einzige
Grund, dass ich in diesem Auto neben Ihnen sitze
ist, dass ich so viel Ärger habe, dass ein bisschen
mehr davon bloß noch der Zuckerguss ist.«
»Haben Sie denn was verbrochen?« fragte sie und
näherte sich mir auf dem Sitz.
»Na ja, ich habe ein paar Leichen eingesammelt«,
sagte ich. »Man kann es so und so betrachten. Die
Polypen mögen es nicht, wenn die Arbeit von uns

- 314 -
Amateuren gemacht wird. Sie haben ihre eigene
Firma.«
»Was werden sie denn mit Ihnen machen?«
»Vielleicht jagen sie mich aus der Stadt - es ist mir
schon egal. Drängeln Sie nicht' so. Ich brauche den
Arm zum Schalten.«
Sie zog sich beleidigt zurück. »Ich finde, mit Ihnen
umzugehen ist richtig scheußlich«, sagte sie. »An
der Lost Canyon Road fahren Sie rechts.«
Etwas später fuhren wir an der Universität vorbei.
In der Stadt waren jetzt alle Lichter an, ein
Lichtermeer erstreckte sich bergabwärts nach Süden
und fast unendlich weiter. Über unseren Köpfen
dröhnte ein Flugzeug, verlor an Höhe, seine beiden
Signallichter blinkten abwechselnd. An der Lost
Canyon kurvte ich nach rechts, vorbei an den großen
Einfahrten, die nach Bel-Air führten. Die Straße
ging nun im Zickzack und stieg an. Es gab zu viele
Wagen; die Scheinwerfer funkelten böse über die
geschwungenen weißen Betonauffahrten herunter.
Eine kleine Brise wehte vom Pass herunter. Man
roch den Duft von wildem Salbei, die
durchdringende Würze des Eukalyptus, den stillen
Staubgeruch. Fenster leuchteten vom Berghang. Wir
kamen an einer großen weißen Monterey-Villa
vorbei, sie hatte sicher an die 70 000 Dollar
gekostet; vorne dran war ein Leuchtschild ›Cairn
Terrier‹.

- 315 -
»Die nächste rechts«, sagte Dolores.
Ich bog ein. Die Straße wurde enger und steiler.
Hinter den Mauern oder hinter dichtem Gebüsch
waren Häuser, aber man konnte nichts sehen. Dann
teilte sich die Straße, und ein Polizeiwagen mit
rotem Scheinwerfer parkte davor; in der rechten
Abzweigung standen zwei Wagen im rechten
Winkel. Eine Taschenlampe winkte auf und ab. Ich
fuhr langsamer und hielt direkt neben dem
Polizeiwagen an. Innen saßen zwei Bullen und
rauchten. Sie rührten sich nicht.
»Was is' los?«
»Amigo, ich habe keine Ahnung.« Ihre Stimme
hatte einen gedämpften, vorsichtigen Klang.
Vielleicht hatte sie ein bisschen Angst. Ich wusste
nicht wovor.
Ein großer Mann, der mit der Lampe, trat von der
Seite an den Wagen, leuchtete mich an und senkte
die Lampe wieder.
»Die Straße wird heute Abend nicht benutzt«, sagte
er. »Wollen Sie jemanden bestimmten besuchen?«
Ich zog die Handbremse und griff nach einer
Lampe, die Dolores aus dem Handschuhfach holte.
Ich knipste sie an und richtete sie auf den großen
Mann. Er trug teuer aussehende Hosen, ein
Sporthemd mit Anfangsbuchstaben auf der
Brusttasche und einen gepunkteten Shawl um den
Hals. Er hatte eine Hornbrille und schwarz-

- 316 -
glänzendes, welliges Haar. Er sah so richtig nach
Hollywood aus.
Ich sagte: »Gibt's irgendeinen Grund - oder spielen
Sie einfach Polizei?«
»Die Polizei ist da drüben, wenn Sie mit ihr reden
wollen.« In seiner Stimme lag ein verächtlicher Ton.
»Wir sind nur einfache Bürger. Wir wohnen hier.
Das ist hier eine gute Wohngegend. Wir sorgen
dafür, dass es so bleibt.«
Ein Mann mit einem Sportgewehr trat aus dem
Schatten und stellte sich neben den Großen. Das
Gewehr lag in seinem Armwinkel, die Mündung
nach unten. Aber er sah nicht so aus, als hätte er es
nur zum Vergnügen bei sich.
»Mir soll's recht sein«, sagte ich. »Ich hab hier
nichts im Sinn. Ich will bloß zu einer bestimmten
Adresse.«
»Zu welcher?« fragte der Große kühl.
Ich wandte mich an Dolores. »Zu welcher?«
»Es ist ein weißes Haus, oben auf dem Berg«,
sagte sie.
»Und was wollten Sie da oben machen?« fragte der
große Mann.
»Der Herr, der dort wohnt, ist mein Freund«, sagte
sie spitz.
Er leuchtete ihr einen Augenblick ins Gesicht. »Sie
sehen toll aus«, sagte er. »Aber Ihren Freund mögen

- 317 -
wir nicht. Wir mögen keine Typen, die in dieser
Gegend Spielhöllen aufmachen wollen.«
»Ich weiß nichts von einer Spielhölle«, sagte
Dolores mit scharfer Stimme.
»Die Polente auch nicht«, sagte der Große, »und
die wollen es auch nicht wissen. Wie heißt denn Ihr
Freund, Schätzchen?«
»Das geht Sie nichts an«, zischte Dolores.
»Fahr nach Hause und strick einen Strumpf,
Liebling«, sagte der große Mann. Dann wandte er
sich zu mir. »Die Straße wird heute Nacht nicht
benutzt«, sagte er. »Jetzt wissen Sie warum.«
»Und Sie glauben, Sie können das durchsetzen?«
fragte ich ihn.
»Da müssen schon ein paar mehr kommen, um uns
davon abzubringen. Sie sollten mal sehen, was wir
für Steuern zahlen. Und wenn die dann für Gesetz
und Ordnung sorgen sollen, dann drehen die bloß
Däumchen, die da in dem Streifenwagen und alle
anderen im Revier.«
Ich entriegelte die Tür und machte sie auf. Er trat
zurück und ließ mich aussteigen. Ich ging hinüber
zum Streifenwagen. Die beiden Bullen waren faul
zurückgelehnt. Ihren Funkempfänger hatten sie leise
gestellt, ein kaum hörbares Murmeln. Der eine von
ihnen kaute gleichmäßig einen Kaugummi.

- 318 -
»Wie war's, wenn Sie mal diese Straßensperre
beseitigen würden, damit ehrliche Bürger weiter-
fahren können?« fragte ich ihn.
»Keine Anweisung, Freund. Wir sind nur hier, um
für Ruhe zu sorgen. Wenn jemand irgendwas
anstellen will, halten wir die Hand vor.«
»Da oben soll ja ein Spielsalon sein.«
»Soll«, sagte der Polyp.
»Glauben Sie's nicht?«
»Ich versuch's noch nicht mal, Freund«, sagte er
und spuckte an meiner Schulter vorbei.
»Hören Sie, wir haben da oben was Dringendes zu
erledigen!« Er sah mich ausdruckslos an und gähnte.
»Besten Dank, Freund«, sagte ich.
Ich kehrte zu dem Mercury zurück, zog meine
Brieftasche und überreichte dem großen Mann eine
Karte. Er leuchtete sie an und sagte: »Na und?«
Er machte die Lampe aus und stand schweigend
da. Sein Gesicht zeichnete sich schwach in der
Dunkelheit ab.
»Ich muss hier was erledigen. Für mich ist es sehr
wichtig. Lassen Sie mich durch, dann brauchen Sie
vielleicht morgen die Sperre nicht mehr.«
»Große Worte, lieber Freund.«
»Meinen Sie, ich hätte das Geld, um einen privaten
Spielklub zu besuchen?«

- 319 -
»Aber sie könnte es haben«, er warf einen
schnellen Blick auf Dolores. »Sie hat Sie vielleicht
nur zum Schutz mitgebracht.«
Er wandte sich an den Mann mit dem Gewehr.
»Was meinst du?«
»Versuchen wir's. Es sind bloß zwei und beide
nüchtern.«
Der Große knipste wieder die Taschenlampe an
und schwenkte sie seitwärts hin und her. Ein Motor
wurde angelassen. Einer der Wagen fuhr rückwärts
an die Böschung. Ich stieg ein, ließ den Mercury an
und fuhr durch die Lücke; ich konnte im
Rückspiegel sehen, wie der Wagen wieder in Stel-
lung ging und dann sein Fernlicht wieder
ausschaltete.
»Ist das der einzige Weg, wo man hier rein und
rauskommt?«
»Das glauben die, Amigo. Es gibt noch einen Weg,
aber das ist eine Privatstraße durch ein Grundstück.
Wir müssen einen Umweg durchs Tal machen.«
»Wir wären beinahe nicht durchgekommen«, sagte
ich zu ihr. »Jemand ist da wohl doch nicht so
gefährlich dran.«
»Ich wusste, dass Sie es schaffen würden, Amigo.«
»Irgendwas stinkt hier«, sagte ich böse. »Und
wilde Lilien sind das nicht.«

- 320 -
»So ein misstrauischer Mann. Wollen Sie mich
nicht mal küssen?«
»Das hätten Sie mal vorher, an der Sperre,
anwenden sollen. Der Große sah einsam aus. Sie
hätten ihn hinter einen Busch ziehen können.«
Sie schlug mir mit dem Handrücken auf den Mund.
»Sie Miststück«, sagte sie lässig. »Nächste Einfahrt
links, bitte.«

Wir erreichten die Höhe eines Hügels, und


plötzlich endete die Straße in einem breiten,
schwarzen Kreis, der mit weißgetünchten Steinen
eingefaßt war. Direkt vor uns war ein Drahtzaun mit
einem breiten Tor und auf dem Tor ein
Schild: ›Privatstraße. Keine Durchfahrt‹. Das Tor
standoffen, und an einem der Pfosten hing ein
Vorhängeschloß am Ende einer Kette. Ich fuhr mit
dem Wagen um einen weißen Oleanderbusch und
befand mich auf dem Parkplatz eines langen weißen
Hauses mit einem Ziegeldach und einer Garage für
vier Wagen in der Ecke, unter einem rings
ummauerten Balkon. Die beiden breiten Garagentore
waren verschlossen. In dem Haus war kein Licht.
Die weißen Stuckwände schimmerten bläulich unter
dem Mond, der hoch am Himmel stand. Vor einigen
der unteren Fenster waren Jalousien geschlossen.
Vier randvolle Müllbehälter standen nebeneinander
am Fuß der Treppe. Eine große, leere Mülltonne

- 321 -
stand auf dem Kopf. Zwei Eisenfässer standen da,
voller Papier.
Kein Geräusch kam aus dem Haus und kein
Lebenszeichen. Ich brachte den Mercury zum
Stehen, machte die Lichter und den Motor aus und
saß nur da. Dolores rutschte zur Ecke. Der Sitz
schien zu beben. Ich streckte die Hand aus, berührte
sie. Sie zitterte.
»Was ist los?«
»Bitte steigen Sie aus«, sagte sie, als ob ihre Zähne
klapperten.
»Und was ist mit Ihnen?«
Sie öffnete die Tür an ihrer Seite und sprang
heraus. Ich stieg an meiner Seite aus, ließ die Tür
offen und den Zündschlüssel stecken. Sie kam
hinten um den Wagen herum, und als sie sich
näherte, konnte ich ihr Zittern schon fast fühlen,
bevor sie mich berührte. Dann drückte sie sich fest
an mich, Hüfte an Hüfte und Brust an Brust. Ihre
Arme schlangen sich um meinen Hals.
»Ich bin sehr dumm«, sagte sie weich. »Er wird
mich dafür umbringen - genauso, wie er Stein
umbrachte. Küss mich -«
Ich küsste sie. Ihre Lippen waren heiß und trocken.
»Ist er da drin?«
»Ja.«
»Wer noch?«

- 322 -
»Sonst niemand - außer Mavis. Er wird sie auch
umbringen.«
»Hör …«
»Küss mich noch mal. Ich habe nicht lange zu
leben, Amigo. Wenn man das Werkzeug von so
einem Mann ist, stirbt man jung.«
Ich stieß sie von mir fort, aber sanft.
Sie trat zurück und hob schnell ihre rechte Hand.
Jetzt war da ein Revolver drin.
Ich sah den Revolver an. Ein schwacher Glanz lag
auf ihm, vom Mond. Sie hielt ihn gerade, und jetzt
zitterte ihre Hand nicht.
»Wie würde ich mich beliebt machen, wenn ich
jetzt abdrücken würde«, sagte sie.
»Die würden das unten an der Straße hören.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ein kleiner Hügel
ist dazwischen. Ich glaube nicht, dass sie das hören
würden, Amigo.«
Ich dachte, der Revolver würde hochziehen, wenn
sie abdrückte. Wenn ich mich im richtigen Moment
fallen ließe - aber so gut war ich nicht. Ich sagte
nichts. Meine Zunge lag dick in meinem Mund.
Langsam, mit einer müden, weichen Stimme,
sprach sie weiter. »Bei Stein war's egal. Den hätte
ich selbst umgebracht - mit Freuden. Dieses
Miststück. Sterben ist nichts Besonderes, Töten ist
nichts Besonderes. Aber Leute in den Tod

- 323 -
locken …« Sie brach mit einer Art Schluchzer ab.
»Amigo, irgendwie mochte ich Sie. Ich müsste über
so einen Quatsch längst hinaus sein. Mavis hat ihn
mir weggenommen, aber ich wollte nicht, dass er sie
umbringt. Die Welt ist voll von Männern, die genug
Geld haben.«
»Er sieht wie ein netter kleiner Kerl aus«, sagte ich
und beobachtete die Hand, die die Waffe hielt. Nicht
das geringste Zittern war zu sehen.
Sie lachte verächtlich. »Natürlich, so sieht er aus.
Deswegen ist er das geworden, was er ist. Sie
glauben, Sie seien abgebrüht, Amigo. Sie sind ein
weicher Pfirsich gegen Steelgrave.« Sie senkte den
Revolver, und jetzt hätte ich springen müssen. Aber
ich war noch immer nicht gut genug.
»Er hat ein Dutzend Männer umgebracht«, sagte
sie. »Immer mit einem Lächeln. Ich kenne ihn seit
langer Zeit. Ich kannte ihn schon in Cleveland.«
»Mit dem Eisdorn?« fragte ich.
»Wenn ich Ihnen die Kanone gebe, töten Sie ihn
dann für mich?«
»Glauben Sie mir denn, wenn ich es verspreche?«
»Ja.« Irgendwo unten am Berg war ein
Autogeräusch. Aber es schien so fern wie der Mars,
so sinnlos wie das Schnattern der Affen im
brasilianischen Urwald. Es hatte nichts mit mir zu
tun.

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»Ich würde ihn umbringen, wenn ich müsste«,
sagte ich und leckte mir die Lippen.
Ich neigte mich ein bisschen vor, mit gebeugten
Knien, wieder bereit zu springen.
»Gute Nacht, Amigo. Ich trage Schwarz, weil ich
schön und böse bin - und verloren.«
Sie hielt mir die Waffe hin. Ich nahm sie. Ich stand
einfach da und hielt sie. Einen stillen Augenblick
lang bewegte sich keiner von uns. Dann lächelte sie,
warf ihr Haar zurück und sprang ins Auto. Sie ließ
den Motor an und schlug die Tür zu. Sie ließ den
Motor leer laufen und sah mich an. Jetzt war ein
Lächeln in ihrem Gesicht.
»Ich war doch ganz gut eben, oder?« sagte sie
sanft.
Dann stieß der Wagen heftig zurück, mit schrillem
Reifenquietschen auf der Asphaltdecke. Die
Scheinwerfer flammten auf. Der Wagen warf sich
herum und war schon hinter dem Oleanderbusch.
Die Lampen schwenkten nach links, in die
Privatstraße. Die Lampen glitten zwischen den
Bäumen davon, und das Geräusch mischte sich in
das fortwährende Schrillen der Baumfrösche. Dann
hörte auch das auf und einen Augenblick war
überhaupt kein Geräusch. Und keinerlei Licht außer
dem müden alten Mond.
Ich nahm das Magazin aus dem Revolver. Es
waren sieben Patronen drin. Eine weitere war im

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Lauf. Zwei fehlten an der vollen Ladung. Ich roch an
der Mündung. Es war nach der letzten Reinigung
daraus gefeuert worden. Vielleicht zweimal gefeuert.
Ich legte das Magazin wieder ein und hielt die
Waffe auf dem Handteller. Sie hatte einen weißen
Elfenbeingriff. Kaliber 0.32.
Auf Orrin Quest war zweimal geschossen worden.
Die gebrauchten Patronen, die ich vom Zimmer-
boden aufsammelte, hatten Kaliber 0.32.
Und gestern nachmittag, in Zimmer 332 des Hotels
Van Nuys, hatte eine blonde Frau mit einem
Handtuch vor dem Gesicht eine 0.32 Automatik mit
einem Elfenbeingriff auf mich gerichtet. Man kann
sich viel zuviel einfallen lassen, was solche Sachen
betrifft. Man kann sich auch zu wenig einfallen
lassen.

- 326 -
27

Auf den Gummiabsätzen ging ich rüber zur Garage


und versuchte, eines der breiten Tore aufzumachen.
Es gab keine Handgriffe, sie wurden offenbar mit
Hilfe eines Schalters betrieben. Ich leuchtete den
Rahmen mit einer kleinen Stablampe ab, aber kein
Schalter sah mich an.
Ich ließ es bleiben und schlenderte zu den
Abfallbehältern. Eine Holztreppe führte zu einem
Lieferanteneingang Ich nahm nicht an, dass die Tür
mir zu Gefallen unverschlossen war. Unter der
Veranda war noch eine Tür. Sie war nicht
verschlossen und ließ mich ein in die Dunkelheit
und den Geruch von gebündeltem Eukalyptusholz.
Ich machte die Tür hinter mir zu und leuchtete
wieder mit der kleinen Lampe. In der Ecke war
wieder eine Treppe, daneben so was Ähnliches wie
ein stummer Diener. Benutzen konnte ich ihn nicht,
dafür war er nicht stumm genug. Ich fing an, die
Treppe hinaufzusteigen.
Irgendwo in der Ferne summte etwas. Ich hielt an.
Das Summen hörte auf. Ich ging weiter. Das
Summen kam nicht wieder. Ich stieg hinauf an eine
Tür, glatt und fugenlos, ohne Knopf. Wieder so ein
Spielzeug.
Diesmal fand ich den Schalter dafür. Es war eine
ovale Platte, die im Türrahmen eingelassen war. Zu

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viele schmutzige Hände hatten drauf gedrückt. Ich
drückte drauf, die Tür hakte aus und sprang aus dem
Schloss. Ich öffnete sie zärtlich wie eine junge
Krankenschwester, die ihr erstes Baby entbindet.
Innen war eine Diele. Durch die Jalousienritzen des
Fensters schien das Mondlicht auf eine weiße
Ofenecke und einen verchromten Rost darauf. Die
Küche war groß genug für einen Tanzkurs. Ein
Durchlass mit Bogen führte zu einer Anrichte, die
bis zur Decke gekachelt war. Ein Spülbecken, ein
riesenhafter Eisschrank, der in die Wand eingelassen
war, viele elektrische Sachen, um Drinks zu machen,
ohne sich zu bewegen. Wählen Sie Ihr Gift, drücken
Sie aufs Knöpfchen, und vier Tage darauf erwachen
Sie auf dem Massagetisch eines Sanatoriums.
Auf der anderen Seite der Anrichte eine
Schwingtür. Hinter der Schwingtür ein dunkles
Esszimmer, dessen anderes Ende zu einem
verglasten Wintergarten hinausging, durch den das
Mondlicht strömte wie Wasser durch die offenen
Schleusen eines Damms.
Irgendwo zweigte ein Teppichbelegter Gang ab.
Hinter einem weiteren flachen Durchgang stieg eine
Wendeltreppe in eine weitere Finsternis, aber sie
glänzte, als sie bei so was Ähnlichem wie
Glasziegeln mit Chromstahl ankam.
Schließlich erreichte ich einen Raum, der wohl das
Wohnzimmer war. Die Vorhänge waren zu, und es

- 328 -
war sehr dunkel, aber es fühlte sich groß an. Die
Dunkelheit hing schwer darin, und meine Nase
schnüffelte einen nachhängenden Geruch, der
bedeutete, dass hier vor nicht allzu langer Zeit je-
mand gewesen war. Ich hielt den Atem an und
horchte. Vielleicht lauerten Tiger im Dunkeln und
beobachteten mich. Oder Kerle mit großen Pistolen,
die plattfüßig dastanden und leise, mit offenen
Mündern atmeten. Oder gar nichts und zuviel
Einbildung am falschen Ort.
Ich bewegte mich vorsichtig zurück zur Wand und
tastete nach einem Lichtschalter. Lichtschalter gibt's
immer. Jeder hat Lichtschalter. Meistens rechts,
wenn man eintritt. Man geht in einen dunklen Raum
und will Licht. Na schön, man findet einen
Lichtschalter am normalen Platz in der normalen
Höhe. Aber hier nicht. Dieses Haus war anders. Die
hatten hier eine komische Art, Türen und Lampen zu
betätigen. Vielleicht war es diesmal irgendein
ausgefallener Trick, zum Beispiel ein A über ein
hohes C zu singen, oder auf einen flachen Knopf
unter dem Teppich zu treten, oder vielleicht musste
man einfach sprechen, nur sagen »Es werde Licht«,
und ein Mikrofon nahm es auf und verwandelte die
Vibration in einen schwachen elektrischen Impuls,
und ein Transformator schaukelte ihn hoch, bis
genug Spannung da war, um einen lautlosen
Quecksilberschalter zu bewegen.

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Ich war an diesem Abend durchgedreht. Ich war
jemand, der Gesellschaft an einem dunklen Ort
brauchte und dafür gerne einen hohen Preis bezahlt
hätte. Die Luger unter dem Arm und die 0.32er in
der Hand machten mich zu einem Mordskerl.
Doppelschießer Marlowe, der Junge aus der
Zyankali-Gosse.
Ich machte die Lippen stramm und sagte laut:
»Grüß Gott allerseits. Braucht hier jemand einen
Detektiv?«
Niemand antwortete, nicht mal ein halbes Echo.
Das Geräusch meiner Stimme fiel auf die Stille wie
ein müdes Haupt in ein Daunenkissen.
Dann kam ein gelbes Licht auf, oben hinter der
Deckenleiste, die am Rand des riesigen Raumes
entlang ging. Es wurde allmählich heller, als ob es
mit einem Weichregler betätigt würde wie im
Theater. Schwere pfirsichfarbene Vorhänge
bedeckten die Fenster.
Die Wände waren auch pfirsichfarben. Am anderen
Ende, seitlich, war eine Bar, schräg vor der Ecke,
deren hinteres Ende sich bis in die Anrichte
erstreckte. Es gab eine Sitzecke mit kleinen
Tischchen und Polstersitzen. Es gab Tiefstrahler und
Sessel und Kuschelsitze und das übliche Zubehör
eines großen Wohnraums, und außerdem gab es
lange Tische mit Überzügen in der Mitte.

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Die Burschen an der Straßensperre hatten schon
Recht. Aber die Bude war ausgestorben. Kein Leben
in dem Raum. Fast kein Leben. Nicht ganz ohne
Leben.
Eine Blondine in einem blassbraunen Pelzmantel
stand angelehnt an einem Armsessel. Ihre Hände
steckten in den Manteltaschen. Ihr Haar hing
unordentlich herum, und ihr Gesicht war nicht so
weiß wie Kalk, weil das Licht nicht weiß war.
»Ebenfalls grüß Gott«, sagte sie mit abgestorbener
Stimme. »Ich glaube noch immer, dass Sie zu spät
kommen.«
»Zu spät für was?«
Ich ging auf sie zu, eine Bewegung, die immer ein
Vergnügen war. Sogar jetzt, sogar in diesem allzu
stillen Haus.
»Sie sind ziemlich schlau«, sagte sie. »Ich hätte
nicht gedacht, dass Sie so schlau sind. Sie sind also
rein gekommen. Sie …« - Ihre Stimme hakte aus
und erstickte in der Kehle.
»Ich brauche was zu trinken«, sagte sie nach einer
schweren Pause. »Sonst falle ich noch um.«
»Das ist ein herrlicher Mantel«, sagte ich. Ich war
jetzt bei ihr. Ich streckte die Hand aus und fasste sie
an. Sie bewegte sich nicht. Ihr Mund schob sich vor
und zurück und zitterte.

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»Steinmarder«, flüsterte sie. »Vierzigtausend
Dollar. Geliehen. Für den Film.«
»Gehört das auch zum Film?« Ich machte eine
halbkreisförmige Geste zum Raum.
»Dieser Film beendet alle Filme - jedenfalls für
mich. Ich muss jetzt diesen Drink haben. Wenn ich
jetzt versuche zu laufen …« - die glockenklare
Stimme verhauchte. Ihre Augenlider zuckten auf und
ab.
»Los - fallen Sie in Ohnmacht«, sagte ich. »Wenn
Sie wieder hochkommen, fang ich Sie auf.«
Ihr Gesicht mühte sich um ein Lächeln. Sie kniff
die Lippen zusammen, sie kämpfte mit sich, um
aufrecht zu bleiben.
»Wieso bin ich zu spät gekommen?« fragte ich.
»Wofür zu spät?«
»Zu spät, um erschossen zu werden.«
»Quatsch. Den ganzen Abend hab ich mich drauf
gefreut. Miss Gonzales hat mich hergebracht.«
»Ich weiß.«
Ich streckte die Hand aus und fasste noch mal den
Pelz an. Vierzigtausend Dollar fassen sich gut an,
sogar wenn sie geliehen sind.
»Dolores wird wahnsinnig enttäuscht sein«, sagte
sie, mit einem weißen Rand um den Mund.
»Nein.«

- 332 -
»Sie hat Sie genau ins Schussfeld gebracht - genau
wie Stein.«
»Vielleicht wollte sie das. Aber sie hat es sich
anders überlegt.«
Sie lachte. Es war ein dummes, künstliches
Lachen, wie von einem Kind, das bei einer
Kinderparty mondän sein will.
»Was sind Sie doch für ein Weiberheld«, flüsterte
sie.»Wie machen Sie das nur, Mister Fabelhaft? Mit
gedopten Zigaretten? Ihr Anzug kann es nicht sein,
auch nicht Geld oder Persönlichkeit. Das haben Sie
alles nicht. Sie sind nicht jung, Sie sind nicht schön.
Sie haben die besten Tage hinter sich …«
Sie redete immer schneller, wie ein Motor mit
einem kaputten Regler. Am Schluss schnatterte sie.
Als sie aufhörte, segelte ein ausgehauchter Seufzer
durch die Stille, ihre Knie knickten ein, und dann
fiel sie direkt nach vorne in meine Arme.
Wenn es gespielt war, war's gut gemacht. Ich hätte
alle neun Taschen voll Pistolen haben können, und
sie hätten mir nicht mehr genützt als neun kleine
rosa Kerzen auf einem Geburtstagskuchen.
Aber es passierte nichts. Keine lederharten Typen,
die an mir herumfummelten, mit Revolvern in den
Händen. Kein Steelgrave lächelte mir zu mit seinem
schwachen, trockenen, fernen Mörderlächeln. Keine
verstohlenen Schritte näherten sich von hinten.

- 333 -
Sie hing in meinen Armen, schlaff wie ein
Geschirrtuch, nicht ganz so schwer wie Orrin Quest
- weil auch nicht ganz so tot; aber sie war schwer
genug, dass die Sehnen in meinen Kniegelenken
schmerzten. Ihre Augen waren geschlossen, als ich
ihren Kopf von meiner Brust wegzog. Ihr Atem war
lautlos, und sie hatte diesen bläulichen Schein auf
den geöffneten Lippen.
Ich schob meine rechte Hand unter ihre Knie, trug
sie hinüber zu einer goldenen Couch und legte sie
lang hin. Ich richtete mich auf und ging weiter zur
Bar. An der Ecke stand ein Telefon, aber ich kam
nicht durch die Flaschen durch. Ich musste über die
Theke hechten. Ich erwischte eine Flasche, die
richtig aussah, mit einem blausilbernen Etikett und
fünf Sternen drauf. Der Korken war locker. Ich
schüttete einen dunklen, stark duftenden Kognak in
ein unpassendes Glas und schwang mich wieder
über die Theke; die Flasche nahm ich mit.
Sie lag noch genauso wie vorhin, aber ihre Augen
waren offen.
»Können Sie ein Glas halten?«
Sie konnte, wenn man etwas half. Sie trank den
Kognak und drückte den Rand des Glases fest an die
Lippen, wie um sie zur Ruhe zu zwingen. Ich sah,
wie sie in das Glas atmete und wie es beschlug.
Allmählich entstand ein Lächeln auf ihrem Mund.
»Es ist kalt heute Abend«, sagte sie.

- 334 -
Sie schwang ihre Beine über den Couchrand und
setzte die Füße auf den Boden.
»Mehr«, sagte sie und hielt das Glas hin. Ich goss
ein. »Und Sie?«
»Trinke nicht. Meine Gefühle werden so schon
genug durchgewalkt.«
Bei dem zweiten Drink schüttelte sie sich. Aber der
blaue Schein auf ihrem Mund war vergangen, die
Lippen glühten nicht mehr wie Verkehrsampeln, und
die kleinen, eingeritzten Linien an ihren
Augenwinkeln waren nicht mehr so deutlich.
»Wer walkt denn Ihre Gefühle durch?«
»Ach, ein Haufen Frauen, die dauernd ihre Arme
um meinen Hals schlingen und in Ohnmacht fallen,
geküsst werden müssen und so weiter. Ein paar
randvolle Tage für einen kaputten Schnüffler und
nicht mal eine Jacht.«
»Keine Jacht«, sagte sie. »Das wäre nichts für
mich. Ich bin reich aufgewachsen.«
»Hmhm«, sagte ich. »Sie sind mit einem Cadillac
im Mund geboren. Und ich könnte auch raten, wo.«
Ihre Augen wurden schmal. »Ja?«
»Sie haben doch nicht geglaubt, dass es niemand
rauskriegt, oder?«
»Ich - Ich -« sie brach ab und machte eine hilflose
Geste. »Mir fällt heute Abend nichts Gutes ein.«

- 335 -
»Das kommt durch den Technicolor-Dialog«, sagte
ich. »Der friert einem den Mund zu.«
»Reden wir nicht wie ein paar Verrückte?«
»Wir könnten auch vernünftig werden. Wo ist
Steelgrave?«
Sie sah mich nur an. Sie streckte ihr leeres Glas
hin, ich nahm es ihr ab und stellte es blindlings
irgendwohin, ohne die Augen von ihr abzuwenden.
Auch sie wandte die ihren nicht ab. Eine lange
Minute schien zu verstreichen.
»Er war hier«, sagte sie schließlich, so langsam, als
müsste sie jedes Wort einzeln erfinden. »Kann ich
eine Zigarette bekommen?«
»Der alte Pausen-Füller, mit der Zigarette«, sagte
ich. Ich holte zwei heraus, nahm sie in den Mund
und zündete sie an. Ich beugte mich vor und steckte
sie zwischen ihre dunkelroten Lippen.
»Was Altmodischeres gibt's kaum«, sagte sie.
»Vielleicht noch den Schmetterlingskuss.«
»Sex ist was Herrliches«, sagte ich. »Wenn man
sich um Antworten rumdrücken will.«
Sie paffte ein bisschen, kniff die Augen, hob die
Hand, um die Zigarette zurechtzurücken. Nach so
vielen Jahren bringe ich es noch immer nicht fertig,
einer Dame die Zigarette dahin zu stecken, wo sie
sie haben will.

- 336 -
Sie machte eine schnelle Kopfbewegung, ließ das
weiche, lockere Haar um ihre Schläfen fliegen und
beobachtete mich, um zu sehen, wie es mich
beeindruckte. Das Weiß war jetzt ganz
verschwunden. Ihre Wangen waren leicht gerötet.
Aber hinter ihren Augen lag noch etwas und wartete.
»Sie sind ganz nett«, sagte sie, als ich keine
Aufregung zeigte. »Dafür, dass Sie so ein Typ sind.«
Auch das überstand ich gut.
»Aber eigentlich weiß ich gar nicht genau, was für
ein Typ Sie wirklich sind, oder?« Sie lachte
plötzlich, und eine Träne kam von nirgendwo und
glitt über die Wange nach unten. »Sie könnten
gottweißwas für ein Kerl sein, und dafür nett.« Sie
nahm die Zigarette ab, legte die Hand an den Mund
und biss sie. »Was ist bloß los mit mir? Bin ich
blau?«
»Sie wollen Zeit gewinnen«, sagte ich. »Aber ich
weiß nicht, was ich glauben soll: Ist es, damit
jemand rechtzeitig herkommt - oder damit jemand
weit genug fortkommt. Aber vielleicht ist es
wirklich nur der Kognak, zusammen mit dem
Schock. Sie sind ein kleines Mädchen und wollen in
Mutters Schürze weinen.«
»Nicht bei meiner Mutter«, sagte sie. »Eher würde
ich in eine Regentonne weinen.«
»Also, das Spiel liegt auf. Jetzt geht's los. Wo ist
Steelgrave?«

- 337 -
»Egal, wo er ist – seien Sie froh. Er wollte Sie
töten. Jedenfalls dachte er das.«
»Sie wollten mich hier haben, stimmt's? Mochten
Sie ihn so gern?«
Sie blies Zigarettenasche von ihrem Handrücken.
Etwas davon kam mir ins Auge, und ich musste
blinzeln.
»Ich muss ihn gemocht haben«, sagte sie.
»Früher.« Sie legte ihre Hand aufs Knie, spreizte die
Finger, betrachtete die Fingernägel. Sie blickte
langsam auf, ohne ihren Kopf zu bewegen. »Es
kommt mir vor wie vor tausend Jahren, da lernte ich
einen ruhigen, netten kleinen Menschen kennen, der
sich gut benehmen konnte und nicht in jeder Kneipe
in der Stadt mit seinem Charme um sich warf. Ja, ich
hatte ihn gern. Ich hatte ihn sehr gern.«
Sie legte ihre Hand an den Mund und biss auf die
Knöchel. Dann steckte sie ebendiese Hand in die
Tasche ihrer Pelzjacke und förderte einen Revolver
mit weißem Griff zutage, dessen Zwilling ich bei
mir hatte.
»Am Ende liebte ich ihn damit«, sagte sie.
Ich ging rüber und nahm ihn aus ihrer Hand. Ich
roch an der Mündung. Ja. Jetzt waren es zwei, aus
denen geschossen worden war.»Wollen Sie ihn nicht
in ein Taschentuch wickeln, so wie sie's immer in
den Filmen machen?«

- 338 -
Ich ließ ihn einfach in meine andere Tasche
rutschen; ein paar interessante Tabakkrümel und
gewisse Samen, die nur am südöstlichen Hang des
Rathauses von Beverly Hills wachsen, konnten dran
kleben bleiben. Vielleicht konnte sich ein
Polizeichemiker eine Zeitlang damit amüsieren.

- 339 -
28

Einen Augenblick lang beobachtete ich sie und biss


auf meine Lippen. Sie beobachtete mich. Ich
bemerkte keine Veränderung des Ausdrucks. Dann
begann ich, den Raum mit Blicken zu durchsuchen.
Von einem der langen Tische hob ich den
Schonbezug hoch. Darunter waren die Felder eines
Roulettes, aber kein Rouletterad. Unter dem Tisch
war nichts.
»Versuchen Sie den Sessel mit den Magnolien
drauf«, sagte sie.
Sie sah nicht hin, und ich musste ihn alleine finden.
Merkwürdig, wie lange ich dazu brauchte. Es war
ein Armsessel mit hoher Rückenlehne, mit
geblümtem Chintz bezogen – so ein Stuhl, der vor
langer Zeit einmal die Zugluft anhalten sollte,
während man vor einem Kamin mit einem Koh-
lenfeuer hockte.
Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich ging rüber,
sanft im ersten Gang. Er stand fast der Wand
gegenüber. Trotzdem war es lächerlich, dass ich ihn
vorhin noch nicht bemerkt hatte, als ich von der Bar
zurückgekommen war. Er lehnte in der Ecke des
Sessels, mit zurückgebogenem Kopf. Seine Nelke
war rot und weiß und sah so frisch aus, als hätte das
Blumenmädchen sie ihm gerade eben ans Revers
gesteckt. Seine Augen waren halb geöffnet, wie

- 340 -
solche Augen es meistens sind. Sie starrten auf einen
Punkt an der Zimmerdecke. Ein Geschoß hatte die
Außentasche seines zweireihigen Jacketts durch-
bohrt. Es war von jemandem abgefeuert worden, der
wusste, wo das Herz saß.
Ich berührte seine Wange, sie war noch warm. Ich
hob seine Hand hoch und ließ sie fallen. Sie war
ganz weich. Sie fühlte sich an wie ein menschlicher
Handrücken. Ich griff nach seiner Halsschlagader.
Es bewegte sich kein Blut in ihm, und ganz wenig
Blut hatte sein Jackett befleckt. Ich wischte meine
Hände mit dem Taschentuch ab und blieb noch eine
Weile stehen - betrachtete sein stilles kleines Ge-
sicht. Alles, was ich getan hatte, alles Unrechte und
alles Richtige - alles umsonst.
Ich kehrte zurück, setzte mich in ihrer Nähe hin
und knetete meine Knie.
»Was hätte ich denn tun sollen - Ihrer Ansicht
nach?« fragte sie. »Er hat meinen Bruder
umgebracht.«
»Ihr Bruder war kein Engel.«
»Er musste ihn nicht töten.«
»Irgend jemand musste es – und zwar schnell.«
Ihre Augen wurden plötzlich weit.
Ich sagte: »Haben Sie sich mal überlegt, warum
Steelgrave mich nie verfolgt hat und warum er
zugelassen hat, dass Sie gestern ins Van Nuys Hotel

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gingen, anstatt selbst zu gehen? Haben Sie sich nie
überlegt, warum ein Kerl mit seinen Möglichkeiten
nie versucht hat, an die Fotos ranzukommen - egal,
mit welchen Mitteln?«
Sie antwortete nicht.
»Wie lange wussten Sie, dass es diese Fotos gab?«
fragte ich.
»Viele Wochen, beinahe zwei Monate. Ich bekam
eines mit der Post, ein paar Tage danach - nachdem
wir zusammen gegessen hatten.«
»Nachdem Stein gekillt wurde.«
»Ja, natürlich.«
»Glaubten Sie, dass Steelgrave Stein getötet hat?«
Nein, warum auch? Das heißt: nicht – bis heute
Abend.«
»Was passierte, nachdem Sie das Foto bekommen
hatten?«
»Mein Bruder Orrin rief mich an und sagte, dass er
seine Stellung verloren hätte und pleite sei. Er wollte
Geld. Er sagte nichts über das Foto. Brauchte er
auch nicht. Es gab nur eine Gelegenheit, bei der es
geknipst worden sein musste.«
»Wie bekam er Ihre Nummer?«
»Telefonnummer? Wie haben Sie sie denn
gekriegt?«
»Gekauft.«

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»Also –« Sie machte eine ungewisse Handbe-
wegung. »Warum rufen wir nicht die Polizei und
bringen es hinter uns.«
»Moment mal. Also wie ging's weiter? Weitere
Abzüge von dem Foto?«
»Jede Woche einen. Ich zeigte sie ihm.« Sie
machte eine Handbewegung zu dem Chintzsessel.
»Es gefiel ihm nicht. Ich sagte ihm nichts von
Orrin.«
»Er muss es gewusst haben. Leute von seiner Sorte
kriegen so was raus.«
»Das glaube ich auch.«
»Aber wo Orrin sich versteckte, das konnte er nicht
wissen. Sonst hätte er nicht so lange gewartet. Wann
haben Sie's Steelgrave gesagt?«
Sie blickte zur Seite. Ihre Finger pressten ihren
Arm. »Heute«, sagte sie mit einer fernen Stimme.
»Warum heute?«
Ihr Atem stockte ihr in der Kehle. »Bitte«, sagte
sie. »Fragen Sie mich nicht so viele sinnlose Sachen.
Quälen Sie mich nicht. Sie können da nichts
machen. Ich glaubte, Sie könnten es - als ich Dolores
anrief. Jetzt geht es nicht mehr.«
Ich sagte: »Na schön. Etwas gibt es, das Sie
anscheinend nicht begreifen. Eines wusste
Steelgrave: egal, wer es war, der hinter diesem Foto
steckte - er wollte Geld, viel Geld. Er wusste: früher

- 343 -
oder später musste der Erpresser sich zeigen. Und
darauf wartete Steelgrave. Das Foto interessierte ihn
überhaupt nicht - höchstens soweit es Sie betraf.«
»Das hat er allerdings gezeigt«, sagte sie müde.
»Auf seine Weise«, sagte ich.
Ihre Stimme drang zu mir, mit eisiger Ruhe. »Er
hat meinen Bruder getötet. Er hat es mir selbst
gesagt. In diesem Moment kam schließlich der
Gangster durch. Komische Leute gibt's in
Hollywood - stimmt's? Auch solche wie mich.«
»Sie haben ihn früher gern gehabt«, sagte ich
brutal.
Auf ihren Wangen erschienen rote Flecken.
»Ich habe niemanden gern«, sagte sie. »Es ist
Schluss damit.«
Sie warf einen kurzen Blick auf den Armsessel.
»Seit gestern Abend konnte ich ihn nicht mehr
leiden. Er fragte mich nach Ihnen aus, wer Sie seien
und so weiter. Ich erzählte es ihm. Ich sagte ihm,
dass ich zugeben musste, dass ich im Van Nuys
Hotel war, als dort ein toter Mann lag.«
»Wollten Sie das der Polizei erzählen?«
»Ich wollte es Julius Oppenheimer erzählen. Er
hätte gewusst, wie man damit fertig wird.«
»Wenn nicht er, dann bestimmt einer von seinen
Hunden«, sagte ich.
Sie lächelte nicht. Ich auch nicht.

- 344 -
»Wenn Oppenheimer nicht damit fertig geworden
wäre, wäre meine Filmkarriere zu Ende gewesen«,
ergänzte sie gleichmütig. »Jetzt ist auch alles andere
zu Ende.«
Ich nahm eine Zigarette und zündete sie an. Ich bot
ihr eine an. Sie wollte keine. Ich war nicht in Eile.
Die Zeit konnte mir nichts mehr anhaben. Nichts
konnte mir etwas anhaben. Ich war draußen.
»Sie sind mir zu schnell«, sagte ich, nach einem
Augenblick. »Als Sie ins Van Nuys gingen, wussten
Sie doch nicht, dass Steelgrave Weepy Moyer war.«
»Nein.«
»Warum gingen Sie dann hin?«
»Ich wollte die Fotos kaufen.«
»Das passt nicht zusammen. Diese Fotos hatten
doch gar keine Bedeutung für Sie. Sie waren einfach
von ihm und Ihnen beim Essen.«
Sie starrte mich an und kniff die Augen zusammen;
dann öffnete sie sie weit. »Ich weine schon nicht«,
sagte sie. »Ich habe gesagt: ich wußte es nicht. Aber
als er dann im Gefängnis war, musste mir klar
werden, dass etwas mit ihm los war, was ich nicht
wissen sollte. Ich habe mir wohl gedacht, dass er in
trübe Geschäfte verwickelt war. Aber nicht, dass er
Leute umbrachte.«
Ich sagte: »Hmhm.« Ich erhob mich und wanderte
wieder zum Armsessel hinüber. Ihre Augen drehten

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sich mir langsam nach. Ich beugte mich über den
toten Steelgrave und tastete unter seinem linken Arm
herum. Da war ein Revolver im Halfter. Ich fasste
ihn nicht an. Ich kehrte zurück und setzte mich
wieder ihr gegenüber.
»Es wird 'ne Menge kosten, die Sache aus der Welt
zu schaffen«, sagte ich.
Zum erstenmal lächelte sie. Es war ein sehr
schwaches Lächeln, aber es war ein Lächeln. »Ich
habe nicht viel Geld«, sagte sie. »Also, so geht's
nicht.«
»Oppenheimer hat das Geld. Für ihn sind Sie jetzt
Millionen wert.«
»Er würde es nicht riskieren. Es gibt heutzutage zu
viele Leute, die im Filmgeschäft herumstochern. Er
nimmt den Verlust in Kauf – in sechs Monaten ist es
vergessen.«
»Sie haben gesagt, Sie würden zu ihm gehen.«
»Ich sagte, wenn ich in der Tinte säße und
eigentlich nichts getan hätte, würde ich zu ihm
gehen. Aber jetzt habe ich etwas getan.«
»Und wie ist es mit Ballou? Für ihn sind Sie auch
viel wert.«
»Keinen roten Heller bin ich wert - für niemand.
Lassen Sie die Hände davon, Marlowe. Sie meinen
es gut, aber ich kenne diese Leute.«

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»Also bin ich an der Reihe«, sagte ich. »Darum
haben Sie mich wohl holen lassen.«
»Ja, wunderbar«, sagte sie. »Du musst es in
Ordnung bringen, Liebling. Umsonst.« Ihre Stimme
war wieder flach und spröde.
Ich ging rüber und setzte mich neben sie auf die
Chaiselongue. Ich nahm mir ihren Arm, zog ihre
Hand aus der Tasche in dem Pelz und nahm sie in
meine Hand. Sie war fast eisig kalt, trotz des Pelzes.
Sie wandte ihren Kopf und sah mich gerade an. Sie
schüttelte leicht den Kopf. »Glaub mir, Liebling, ich
bin's nicht wert - nicht mal, dass du mit mir
schläfst.«
Ich drehte ihre Hand um und zog die Finger
auseinander. Sie waren steif und sperrten sich. Ich
nahm einen nach dem ändern. Ich glättete ihre
Handfläche.
»Sagen Sie mir, warum hatten Sie den Revolver
bei sich?«
»Den Revolver?«
Ȇberlegen Sie nicht lange. Sagen Sie's einfach.
Wollten Sie ihn töten?«
»Warum nicht, Liebling? Ich dachte, ich bedeute
ihm etwas. Vielleicht bin ich ein bisschen eitel. Er
hat mich reingelegt. Den Steelgraves dieser Welt
bedeutet niemand etwas. Und nun bedeutet auch den
Mavis Welds der Welt niemand mehr etwas.«

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Sie rückte etwas von mir ab und lächelte dünn.
»Ich hätte Ihnen die Kanone nicht geben sollen.
Wenn ich Sie umgelegt hätte, käme ich vielleicht
jetzt noch raus.«
Ich zog sie raus und hielt sie ihr hin. Sie nahm sie
und stand schnell auf. Der Revolver war auf mich
gerichtet. Das müde kleine Lächeln trat wieder auf
ihre Lippen. Ihr Finger lag fest am Abzug. »Hoch
schießen«, sagte ich. »Ich habe meine kugelsichere
Unterhose an.«
Sie ließ den Revolver sinken, und einen
Augenblick lang
»Ich glaube, der Text gefällt mir nicht«, sagte sie.
»Ich mag den Dialog nicht. Ich bin nicht so – wenn
Sie das verstehen.«
»Danke. Haben Sie die Nummer von Dolores im
Kopf?«
»Warum. Dolores?«
Als ich nicht antwortete, sagte sie mir die Nummer.
Ich ging durch den Raum zur Ecke und wählte. Die
übliche Prozedur. »Guten Abend, hier Chateau
Bercy, Sie wünschen Miss Gonzales – Ihr Name
bitte? Einen Moment bitte«, summ, summ, und dann
eine Schlafzimmerstimme:
»Hallo?«
»Hier ist Marlowe. Wollten Sie mich wirklich
abknallen lassen?« Ich konnte beinahe hören, wie sie

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den Atem anhielt, nicht ganz. Man kann es nicht
wirklich durchs Telefon hören. Manchmal meint
man, man könnte es.
»Amigo, bin ich aber froh, Ihre Stimme zu hören«,
sagte sie. »Ich bin ja so froh.«
»Wollten Sie oder nicht?«
»Ach – ich weiß nicht. Es macht mich traurig,
wenn ich dran denke. Ich mag Sie sehr gern.«
»Ich bin hier etwas in der Klemme.«
»Ist er …« - lange Pause. Die Hausvermittlung.
Vorsicht. »Ist er da?« »Na ja - irgendwie schon. Er
ist da und ist nicht da.«
Diesmal hörte ich ihren Atem wirklich. Ein langes,
seufzendes Einatmen, fast ein Pfeifen.
»Wer ist sonst noch da?«
»Niemand. Bloß ich und meine Hausarbeit. Ich
wollte. Sie etwas fragen. Es ist besonders wichtig.
Sagen Sie die Wahrheit. Wo haben Sie das Ding her,
das Sie mir heute Abend gegeben haben?«
»Na - von ihm. Er hat es mir gegeben.«
»Wann?«
»Am frühen Abend. Warum?«
»Wie früh?«
»So um sechs Uhr, glaube ich.«
»Warum hat er es Ihnen gegeben?«
»Er bat mich, sie aufzuheben. Er trug immer eine.«

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»Bat Sie, sie aufzuheben. Warum?«
»Das sagte er nicht, Amigo. Er war eben jemand,
der so was machte. Gründe hat er selten angegeben.«
»Ist Ihnen irgendwas da dran aufgefallen? An dem
Ding, das er Ihnen gegeben hat?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Aber sicher. Sie haben bemerkt, dass es zweimal
abgefeuert worden war und nach verbranntem
Pulver roch.«
»Das habe ich nicht gemerkt…«
»Doch, Sie haben. Klar haben Sie. Sie haben sich
Gedanken darüber gemacht. Sie wollten sie nicht
behalten. Sie haben sie ihm zurückgegeben. Sie
haben so was sowieso nicht gerne.«
Ein langes Schweigen folgte. Schließlich sagte sie:
»Ja, natürlich. Aber warum wollte er sie mir geben?
Wenn diese Sache wirklich passiert war?«
»Er hat es Ihnen ja nicht gesagt. Er wollte Ihnen
einfach eine Kanone unterjubeln, und Sie hatten
keine. Wissen Sie noch?«
»Muss ich das aussagen? «
»Si«
»Kann mir auch nichts passieren, wenn ich es
sage? «
»Seit wann interessiert sie das denn? «

- 350 -
Sie lachte leise. »Amigo, sie verstehen mich sehr
gut. «
»Gute Nacht, sagte ich. «
»Moment mal, sie haben immer noch nicht gesagt,
was passiert ist. «
»Ich habe noch nicht mal mit Ihnen telefoniert.«
»Ich legte auf und drehte mich um.
Mavis Weld stand in der Mitte des Raumes und
beobachtete mich.
»Haben sie ihren Wagen hier,« fragte ich.
»Ja.«
»Also los«
»Und was soll ich machen?«
»Nach Hause fahren. Sonst nichts.«
»Damit kommen Sie doch nicht durch,« sagte sie
schwach.
»Sie sind meine Klientin.«
»Ich kann das nicht zulassen. Ich habe ihn getötet.
Warum müssen Sie da mit reingezogen werden? «
»Keine langen Reden. Und wenn Sie wegfahren,
fahren sie den hinteren Weg. Nicht so, wie Dolores
mich hergefahren hat.«
»Sie starrte mir gerade in die Augen und
wiederholte mit angespannter Stimme: Aber ich
habe ihn getötet.«

- 351 -
»Ich verstehe kein Wort.«
Ihre Zähne drückten sich grausam in die
Unterlippe. Sie schien kaum zu atmen. Sie stand
starr. Ich ging zu ihr hinüber und berührte ihre
Wange mit der Fingerspitze. Ich drückte fest drauf
und beobachtete den weißen Fleck, der rot wurde.
Wenn sie mein Motiv wissen wollen, sagte ich, mit
Ihnen hat es nichts zu tun. Ich bin das den Bullen
schuldig. Ich habe in diesem Spiel nicht immer
sauber gespielt. Sie wissen es, und ich weiß es auch.
Ich gebe Ihnen bloß mal einen Grund, um die große
Trommel zu rühren.
Als ob das jemand nötig hätte, sagte sie, wandte
sich um und ging fort. Ich sah ihr nach, bis zum
Durchgang, wartete, dass sie zurücksah. Sie ging
durch, ohne sich umzudrehen. Nach einer langen
Zeit hörte ich ein Surren. Dann das Rumpeln von
etwas schweren – die Garagentür ging auf. Weit weg
startete ein Auto. Es ging in Leerlauf – dann wieder
das Surren. Als das vorbei war, hörte man
Motorgeräusch immer schwächer werden. Dann
hörte ich nichts mehr. Die Stille des Hauses hing um
mich herum wie die Falten dieser Pelzjacke um
Mavis Weds Schultern.
Ich trug das Glas und die Cognacflasche zur Bar
und kletterte drüber. Ich spülte das Glas in einem
kleinen Spülbecken und stellte die Flasche in das
Bord zurück. Diesmal fand ich den verborgenen

- 352 -
Riegel und stieß die Tür gegenüber vom Telefon auf.
Ich ging noch mal zu Steelgrave.
Ich holte den Revolver heraus, den Dolores mir
gegeben hatte, wischte ihn ab und legte seine kleine
schlaffe Hand um den Griff; so hielt ich sie und ließ
dann los. Der Revolver plumpste auf den Teppich.
Er lag da ganz natürlich. Es ging gar nicht um
Fingerabdrücke. Er hatte sicher schon lange gelernt,
wie man keine hinterlässt.
Jetzt hatte ich nur noch drei Revolver übrig. Die
Waffe in seinem Halfter holte ich raus, ging rüber
und steckte sie unter die Bar, in ein Handtuch
gewickelt. Die Luger fasste ich nicht an. Da war
noch die andere Automatik mit weißem Griff. Ich
versuchte mir zu überlegen, wie weit weg von ihm
sie abgefeuert worden war. Weit genug, um keine
Verbrennung zu hinterlassen, aber wohl nicht viel
weiter. Ich stellte mich etwa drei Fuß von ihm weg
und schoss zweimal an ihm vorbei. Die Schüsse
bohrten sich friedlich in die Wand. Ich zog den
Sessel herum, bis er dem Raum zugekehrt war. Ich
legte die kleine Automatik auf den Schutzüberzug
eines der Roulette-Tische. Ich berührte den großen
Muskel am Hals – gewöhnlich das erste, was
erstarrt. Ich konnte nicht sagen, ob es schon
angefangen hatte. Aber seine Haut war kühler als
vorhin.
Besonders viel Zeit hatte ich nicht zu vertrödeln.

- 353 -
Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer des
Polizeipräsidiums in Los Angeles. Die Vermittlung
sollte mich mit Christy French vermitteln. Dann eine
Stimme der Mordkommission, die sagte, er sei
heimgegangen, und um was es ginge. Ich sagte, ein
persönlicher Anruf, auf den er wartete. Sie gaben
mir seine Telefonnummer zu Hause, widerwillig -
nicht, weil sie ihn schonen wollten, sondern weil sie
nie jemandem etwas geben wollen.
Ich wählte, und eine Frau kam dran und kreischte
seinen Namen. Er klang erholt und ruhig.
»Hier ist Marlowe. Was haben Sie grade
gemacht?«
»Meinem Kleinen aus der Witzseite vorgelesen. Er
müsste längst schlafen. Was gibt's denn?«
»Wissen Sie noch, gestern, im Van Nuys Hotel,
wie Sie gesagt haben, wenn jemand was über Weepy
Moyer hätte – der hätte bei Ihnen einen Stein im
Brett.«
»Weiß ich, ja.«
»Einen Stein im Brett könnte ich jetzt brauchen.«
Er klang nicht sehr interessiert. »Was haben Sie
denn über ihn?«
»Ich nehme an, er ist identisch mit Steelgrave.«
»Zu viele Annahmen, Junge. Wir hatten ihn hier im
Bau, weil wir das auch dachten. Es kam nichts dabei
raus.«

- 354 -
»Sie haben einen Tipp bekommen. Das hat er aber
selbst arrangiert. So dass er schön bei euch zu Hause
war, in der Nacht, als Stein abgemurkst wurde.«
»Denken Sie sich das grade aus oder haben Sie
Beweise?« Er klang etwas weniger ausgeruht.
»Könnten Sie beweisen, dass jemand durch einen
Passierschein vom Gefängnisdoktor aus dem Bau
rauskam?«
Ein Schweigen folgte. Ich hörte die Stimme eines
Kindes, das sich beklagte, und die Stimme einer
Frau, die mit ihm sprach.
»So was kommt vor«, sagte French langsam. »Ich
weiß nicht. Das ist eine schwere Beschuldigung. Sie
haben ihn unter Bewachung rausgelassen. Hat er die
Wache rumgekriegt?«
»Das nehme ich an.«
»Überschlafen Sie es noch mal. Sonst noch was?«
»Ich bin hier draußen in Stillwood Heights. In
einem großen Haus, wo sie mit Glücksspielen
anfingen, und die anderen Anwohner wollten das
nicht dulden.«
»Habe davon gelesen. Ist Steelgrave dort?«
»Er ist hier. Ich bin ganz allein mit ihm.«
Wieder eine Stille. Das Kind brüllte, und es kam
mir vor, als hörte ich ein Klatschen. Das Kind brüllte
lauter. French schrie rückwärts jemand an.

- 355 -
»Holen Sie ihn mal ans Telefon«, sagte French
schließlich.
»Heute Abend sind Sie nicht gut, Christy. Wieso
sollte er gerade Sie anrufen?«
»Ah ja«, sagte er. »Blöd von mir. Wie ist denn die
Adresse?«
»Ich weiß nicht. Aber es ist ganz oben am Ende der
Tower Road in Stillwood Heights, und die
Telefonnummer ist Halldale 9-5033. Ich warte hier
auf Sie.«
Er wiederholte die Nummer und sagte langsam:
»Diesmal warten Sie, was?«
»Einmal musste es ja sein.«
Im Telefon klickte es, und ich legte auf.
Ich ging durch das Haus zurück, machte das Licht
an, wo ich Schalter fand und kam an der Hintertür,
am oberen Ende der Treppe, heraus. Es gab dort
einen Scheinwerfer für den Parkplatz. Ich machte
ihn an. Ich stieg die Treppe hinunter und ging zu
dem Oleanderbusch. Das Privattor stand offen wie
vorher. Ich stieß es zu, hängte die Kette ein und ließ
das Hängeschloss einschnappen. Ich kehrte zurück,
gemächlich, betrachtete den Mond, roch die
Nachtluft, horchte auf die Baumfrösche und Grillen.
Ich ging ins Haus, fand den Vordereingang und
machte dort auch das Licht an. Davor war eine große
kreisförmige Auffahrt und eine kreisförmige

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Rasenfläche mit Rosen. Aber man musste am Haus
vorbei zur Hinterseite, um abfahren zu können.
Es war totenstill, außer auf einer Durchfahrt durch
ein benachbartes Grundstück. Wer mochte dort wohl
leben? Weit weg, durch Bäume konnte ich Lichter
eines großen Hauses sehen. Wahrscheinlich
irgendein Hollywood-Bonze, irgendein Zauber-
künstler und Experte für feuchte Küsse, für weiche,
pornographische Schnitte.
Ich kehrte zurück und fühlte den Revolver an, aus
dem ich vorhin geschossen hatte. Er war kalt genug.
Und Mr. Steelgrave sah allmählich so aus, als ob er
wirklich tot bleiben wollte.
Kein Polizeihorn. Aber schließlich das Geräusch
eines Autos, das den Berg hochkam. Ich trat hinaus,
ihm entgegen - ich und mein wunderschöner Traum.

- 357 -
29

Sie kamen daher, wie es sich gehörte, groß, kräftig


und ruhig; in ihren Augen flackerte es aufmerksam,
vorsichtig, misstrauisch.
»Ganz netter Besitz«, sagte French. »Wo ist denn
unser Kunde?«
»Da drin«, sagte Beifus, ohne auf meine Antwort
zu warten.
Sie gingen durch den Raum, ohne große Eile,
standen vor ihm und sahen ernst auf ihn herunter.
»Tot, meinen Sie nicht auch?« bemerkte Beifus,
und das Spiel begann.
French beugte sich hinunter und nahm den
Revolver, der am Boden lag, am Sicherungsriegel,
zwischen Daumen und Zeigefinger. Er drehte die
Augen seitwärts und machte eine Kinnbewegung.
Beifus nahm den anderen Revolver, indem er einen
Bleistift in die Mündung steckte.
»Fingerabdrücke hoffentlich alle an den richtigen
Stellen«, sagte Beifus. Er schnüffelte. »Oh, ja, der
Kleine hier war nicht faul. Wie steht's mit deiner,
Christy?«
»Hat gefeuert«, sagte French. Er schnüffelte noch
mal. »Aber schon 'ne Weile her.« Er nahm eine
Bleistiftlampe aus seiner Tasche und leuchtete in

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den Lauf der schwarzen Pistole. »Vor mehreren
Stunden.«
»In Bay City unten, in einem Haus in der
Wyoming Street«, sagte ich.
Ihre Köpfe drehten sich gleichzeitig zu mir.
»Vermutung?« fragte French langsam.
»Ja.«
Er ging hinüber zu dem zugedeckten Tisch und
legte den Revolver dort hin, in einigem Abstand von
dem anderen. »Mach gleich einen Anhänger dran,
Fred. Das sind Zwillinge. Die Anhänger unter-
schreiben wir beide.«
Beifus nickte und wühlte in seinen Taschen. Er
förderte ein paar Anhänger mit Schnüren heraus. So
wie die Bullen sie bei sich tragen.
French kam wieder zurück zu mir. »Jetzt mal
Schluss mit den Vermutungen: sagen Sie mal, was
Sie wissen.«
»Heute Abend rief mich eine Bekannte an und
sagte, ein Klient von mir sei hier in Gefahr - durch
ihn.« Ich deutete mit dem Kinn auf den toten Mann
im Sessel. »Diese Bekannte fuhr mit mir her. Wir
kamen an der Straßensperre vorbei. Mehrere Leute
haben uns gesehen. Ich bin an der Rückseite des
Hauses ausgestiegen, und sie fuhr zurück.«
»Jemand mit einem Namen?« fragte French.

- 359 -
»Dolores Gonzales, Chateau Bercy Apartments.
An der Franklin Avenue. Sie arbeitet beim Film.«
»Oho«, sagte Beifus und rollte die Augen. »Wer ist
Ihr Klient? Dieselbe?« fragte French.
»Nein, das ist jemand ganz anders.«
»Mit einem Namen?«
»Noch nicht.«
Sie starrten mich mit harten, hellen Gesichtern an.
Die Kinnbacken von French bewegten sich fast
ruckartig. Dicke Muskeln erschienen an den Seiten.
»Wir haben wohl neue Regeln, was?« sagte er
milde.
Ich sagte: »Wir müssen irgendeine Abmachung
haben, betreffend Publicity. Der Staatsanwalt muss
einverstanden sein.«
Beifus sagte: »Sie wissen wohl nicht, wie der
Staatsanwalt ist, Marlowe. Der ist so scharf auf
Publicity wie ich auf zarte junge Gartenerbsen.«
French sagte: »Wir machen Ihnen keinerlei
Versprechen.«
»Sie hat keinen Namen«, sagte ich.
»Lieber Freund, wir haben ein Dutzend Methoden,
um das rauszukriegen«, sagte Beifus. »Warum
dieser Umstand, warum diese Schwierigkeiten für
uns alle?«

- 360 -
»Keinerlei Publicity«, sagte ich. »Außer wenn
wirklich Anklage erhoben wird.«
»Damit kommen Sie nicht durch, Marlowe.«
»Verdammt noch mal«, sagte ich, »dieser Mann
hat Orrin Quest getötet. Nehmen Sie diesen
Revolver mit und vergleichen Sie mit den Kugeln,
die in ihm stecken. Kommen Sie mir wenigstens
soweit entgegen, bevor Sie mich in eine unmögliche
Lage bringen.«
»Ihnen gebe ich noch nicht mal das schwarze Ende
von einem abgebrannten Streichholz«, sagte French.
Ich sagte nichts. Er starrte mich an, die Augen
eiskalt vor Hass. Seine Lippen bewegten sich
langsam, und seine Stimme war mühsam, als er
sagte: »Waren Sie hier, als ihm das verpasst
wurde?«
»Nein.«
»Wer dann?«
»Er«, sagte ich, und sah hinüber auf den toten
Steelgrave.
»Wer noch?«
»Ich werde Sie nicht anlügen«, sagte ich. »Und ich
werde Ihnen kein Wort sagen, das ich nicht sagen
will - außer zu den genannten Bedingungen. Ich
weiß nicht, wer hier war, als er erschossen wurde.«
»Wer war denn hier, als Sie ankamen?«

- 361 -
Ich antwortete nicht. Er drehte langsam den Kopf
und sagte zu Beifus: »Legen Sie ihm Handschellen
an. Hinten.«
Beifus zögerte. Dann nahm er ein Paar stählerne
Handschellen aus seiner linken Hüfttasche und kam
zu mir herüber. »Legen Sie Ihre Hände auf den
Rücken«, sagte er mit unbehaglicher Stimme.
Ich machte es. Er ließ die Handschellen
einschnappen. French kam langsam herüber und
stand vor mir. Seine Augen waren halb geschlossen.
Die Haut um sie herum war grau vor Müdigkeit.
»Ich werde Ihnen jetzt eine kleine Rede halten«,
sagte er. »Sie wird Ihnen nicht gefallen.«
Ich sagte nichts.
French sagte: »Mit uns ist das so. Wir sind Bullen,
und alle hassen uns zutiefst. Und gerade, als ob wir
nicht so schon genug Ärger hätten, müssen wir uns
auch noch mit Ihnen herumschlagen. Gerade, als ob
wir nicht sowieso schon unser Fett bekämen, von
den Revieren, der Bande im Rathaus, dem Chef vom
Dienst, dem Nachtchef, der Handelskammer, von
dem sehr ehrenwerten Herrn Bürgermeister in
seinem getäfelten Büro, das viermal so groß ist wie
die drei miesen Zimmerchen, in denen die ganze
Mordkommission arbeiten muss. Als ob wir nicht
mit hundertvierzehn Mordfällen im Jahr fertig-
werden müssen, in diesen drei Zimmern, wo noch
nicht mal genug Stühle sind, dass eine ganze Schicht

- 362 -
sich auf einmal hinsetzen kann. Unser Leben
verbringen wir damit, in dreckiger Unterwäsche zu
wühlen und faule Zähne zu riechen. Wir steigen in
dunklen Treppenhäusern rauf, um einen Revolver-
helden mit einer Ladung Hasch zu fangen, und
manchmal kommen wir nicht mal bis oben, und
unsere Frauen warten am Abend mit dem Essen, und
auch an allen anderen Abenden danach. Wir
kommen kaum noch nach Hause. Und an den
Abenden, an denen wir heimkommen, sind wir so
verdammt müde, dass wir nicht essen oder schlafen
können oder die ganzen Lügen lesen können, die in
der Zeitung über uns gedruckt werden. Also liegen
wir schlaflos im Dunkeln in einem billigen Haus in
einer billigen Straße und hören, wie die Besoffenen
an der Ecke ihr Vergnügen haben. Und grade, wenn
wir soeben einschlafen, klingelt das Telefon, und wir
stehen auf, und alles fängt wieder von vorne an. Nie
ist was richtig, was wir machen - niemals. Nicht ein
einziges Mal. Kriegen wir mal ein Geständnis, dann
haben wir's aus dem Kerl herausgeprügelt, sagen sie,
und irgendein Wicht tituliert uns vor Gericht mit
Gestapo und grinst, wenn wir mit der Grammatik
nicht zurechtkommen. Machen wir mal einen Fehler,
dann stecken sie uns wieder in Uniform, und es geht
in die Slums, und wir verbringen die schönen kühlen
Sommerabende damit, Besoffene aus dem Rinnstein
zu ziehen, von Huren angeschrieen zu werden und
schmierigen Chikanos Messer abzunehmen. Aber

- 363 -
das reicht noch nicht, um uns ganz glücklich zu
machen. Wir müssen auch noch Sie haben.«
Er hielt an und zog den Atem ein. Sein Gesicht
glänzte ein bisschen, als ob er schwitzte. Er beugte
sich aus der Hüfte vor. »Sie müssen wir auch noch
haben«, fuhr er fort. »Wir müssen solche Schlau-
berger mit privaten Lizenzen haben, die Informa-
tionen zurückhalten, sich um die Ecken verdrücken
und Staub aufwirbeln, den wir schlucken sollen.
Jemand wie Sie, der Beweisstücke geheim hält und
lebende Bilder stellt, mit denen man nicht mal einen
kranken Säugling täuschen kann. Sie haben doch
nichts dagegen, wenn ich Sie einen verdammten,
billigen, betrügerischen Schlüssellochgucker nenne,
was, Kleiner?«
»Liegt Ihnen was dran, dass ich was dagegen
habe?« fragte ich ihn.
Er richtete sich auf. »Genießen würde ich das«,
sagte er. »Mit Re und Contra.«
»Einiges, was Sie sagen, stimmt«, sagte ich. »Nicht
alles. Jeder Privatdetektiv spielt gern sein kleines
Spielchen mit der Polizei. Manchmal ist es ein
bisschen schwierig, rauszukriegen, nach welchen
Regeln gespielt wird. Manchmal traut er der Polizei
nicht, und zwar mit Grund. Manchmal kommt er in
die Klemme, ohne es zu wollen, und muss sein Spiel
spielen, wie es liegt. Meistens hätte er lieber neue
Karten. Er würde gern weiter sein Brot verdienen.«

- 364 -
»Ihre Lizenz ist gestrichen«, sagte French. »Ab
sofort. Also mit diesem Problem brauchen Sie sich
nicht mehr zu befassen.«
»Sie ist gestrichen, wenn die Kommission, die sie
mir gegeben hat, das beschließt. Vorher nicht.«
Beifus sagte ruhig: »Mach weiter, Christy. Das
andere hat noch Zeit.«
»Ich mache weiter«, sagte French. »Auf meine Art.
Dieser Typ hat noch keinen von seinen Sprüchen
gemacht. Ich warte drauf, dass er seine Sprüche
macht. Der kleine Witzbold. Erzählen Sie mir bloß
nicht, dass Sie nichts mehr auf Lager haben,
Marlowe.«
»Also was soll's denn sein, was hätten Sie gern?«
fragte ich ihn.
»Raten Sie mal.«
»Heute Abend sind Sie ein Menschenfresser«,
sagte ich. »Sie wollen mich kaputtmachen. Aber Sie
wollen einen Grund .dafür. Und jetzt soll ich Ihnen
den liefern?«
»Das wäre nicht schlecht«, sagte er durch die
Zähne.
»Was hätten Sie denn an meiner Stelle gemacht?«
fragte ich ihn.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich je so tief
sinke.«

- 365 -
Er leckte an seiner Oberlippe. Seine rechte Hand
hing locker an seiner Seite. Ohne es zu wissen, ballte
und öffnete er seine Finger.
»Immer mit der Ruhe, Christy«, sagte Beifus.
»Lass ihn.«
French bewegte sich nicht. Beifus kam herüber und
stellte sich zwischen uns. French sagte: »Geh hier
weg, Fred.«
»Nein.«
French ballte seine Faust und schlug ihn hart an die
Spitze seines Kinns. Beifus taumelte zurück und
stieß mich aus dem Weg. Seine Knie zitterten. Er
beugte sich vor und hustete. In dieser Haltung
schüttelte er langsam den Kopf. Nach einiger Zeit
richtete er sich grunzend auf. Er drehte sich um und
sah mich an. Er grinste.
»Die neueste Art von Polizeifolter«, sagte er. »Die
Bullen schlagen sich gegenseitig zusammen, und der
Verdächtige kippt um – nur weil er zusehen muss.«
Seine Hand kam hoch und fühlte nach dem Kinn.
Man sah es schon anschwellen. Sein Mund grinste,
aber seine Augen waren noch immer etwas
verschwommen. French stand festgewurzelt,
schweigend.
Beifus zog eine Packung Zigaretten hervor,
schüttelte eine heraus und hielt French die Packung

- 366 -
hin. French sah die Zigaretten an, dann sah er Beifus
an.
»Davon siebzehn Jahre«, sagte er. »Sogar meine
Frau hasst mich.«
Er hob seine offene Hand und wischte leise über
Beifus' Wange. Beifus grinste weiter.
French sagte: »Warst du das, den ich geschlagen
habe, Fred?«
Beifus sagte: »Niemand hat mich geschlagen,
Christy. Ich kann mich an niemanden erinnern.«
French sagte: »Nimm ihm die Handschellen ab und
bring ihn raus in den Wagen. Er ist verhaftet.
Schließ ihn am Sitz an, wenn du meinst, es sei
nötig.«
»Okay.« Beifus trat hinter mich. Die Schellen
öffneten sich. »Dann komm mal mit, mein Freund«,
sagte Beifus.
Ich starrte French ins Gesicht. Er sah mich an wie
eine Tapete. Seine Augen schienen mich überhaupt
nicht wahrzunehmen.
Ich ging durch den Durchgang und aus dem Haus.

- 367 -
30

Seinen Namen habe ich nie erfahren, aber er war


ziemlich kurz und dünn für einen Polypen, und ein
Polyp musste er wohl sein, einmal, weil er dort war,
und dann, weil ich den Griff eines Polizeirevolvers
im ledernen Unterarmhalfter sehen konnte, als er
sich nach einer Karte vorbeugte.
Er sprach nicht viel, aber wenn er sprach, hatte er
eine hübsche Stimme, eine wasserweiche Stimme.
Und er hatte ein Lächeln, das das ganze Zimmer
warm machte.
»Schönes Blatt«, sagte ich und sah ihn über die
Karten an.
Wir spielten eine doppelte Patience. Vielmehr er
spielte. Ich war nur einfach da, sah ihm zu, sah, wie
seine kleinen, zierlichen und sehr sauberen Hände
sich über dem Tisch bewegten, eine Karte berührten,
sie aufnahmen und anderswo ablegten. Während er
so beschäftigt war, spitzte er die Lippen ein wenig
und pfiff, ohne Melodie, ein weiches, dunkles
Pfeifen, wie von einer sehr jungen Lokomotive, die
noch etwas unsicher ist.
Er lächelte und legte eine rote Neun auf eine
schwarze Zehn.
»Was machen Sie in der Freizeit?« fragte ich ihn.

- 368 -
»Ich spiele ziemlich viel Klavier«, sagte er. »Ich
habe einen großen Steinway. .Meistens Mozart und
Bach. Ich bin etwas altmodisch. Die meisten Leute
finden es langweilig. Ich nicht.«
»Hervorragendes Blatt«, sagte ich und legte eine
Karte.
»Sie würden sich wundern, wie schwer einiges von
diesem Mozart ist«, sagte er. »Es hört sich so leicht
an, wenn man es gut gespielt hört.«
»Wer kann denn gut spielen?«
»Schnabel.«
»Auch Rubinstein?«
Er schüttelte den Kopf. »Zu tiefgründig. Zu
gefühlig. Mozart ist nichts als Musik. Ein
Kommentar ist unnötig.«
»Sie werden sicher viele Geständnisse kriegen«,
sagte ich. »Gefällt Ihnen die Arbeit?«
Er bewegte wieder eine Karte und bog seine Finger
ein wenig. Seine Fingernägel waren sauber und kurz.
Man konnte sehen: das war jemand, der gerne die
Hände bewegte, der gern einfache, unauffällige
Bewegungen damit machte, Bewegungen ohne
besondere Bedeutung, aber sanft, fließend und leicht
wie Schwanenflaum. Das gab ihm ein Gefühl dafür,
empfindliche Sachen sorgsam anzufassen, aber nicht
schwach. Jawohl, Mozart. Das sah ich.

- 369 -
Es war etwa fünf Uhr dreißig, und der Himmel
hinter dem Fenster mit Fliegennetz wurde allmählich
hell. Der Rollschreibtisch in der Ecke war
verschlossen. Das Zimmer war dasselbe, in dem ich
einen Nachmittag vorher gewesen war. Am anderen
Ende des Tisches lag der dicke Zimmermanns-
Bleistift; jemand hatte ihn dorthin zurückgelegt,
nachdem Leutnant Maglashan aus Bay City ihn an
die Wand geworfen hatte. Der flache Schreibtisch,
an dem Christy French gesessen hatte, war übersät
mit Asche. Eine Motte umkreiste eine Hängelampe –
so eine zum Herunterziehen, mit so einem grün-
weißen Glasschirm, wie man es noch manchmal in
ländlichen Hotels sieht.
»Müde?« fragte er.
»Kaputt.«
»Sie sollten sich nicht auf solche schwierigen,
dunklen Geschichten einlassen. Ich kann nichts
Interessantes darin sehen.«
»Nicht interessant, einen Mann zu erschießen?«
Er lächelte das warme Lächeln. »Sie haben nie
jemanden erschossen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Normaler Verstand – und viel Erfahrung,
nachdem ich hier mit so vielen Leuten gesessen
habe.«

- 370 -
»Ich glaube, die Arbeit gefällt Ihnen wirklich«,
sagte ich.
»Es ist Nachtarbeit. So habe ich die Tage zum
Üben. Ich mache das schon zwölf Jahre so. Habe
allerhand komische Typen kommen und gehen
sehen.«
Er zog wieder ein As, gerade noch rechtzeitig. Wir
waren fast schon stecken geblieben.
»Kriegen Sie viele Geständnisse?«
»Ich nehme keine Geständnisse ab«, sagte er. »Ich
bereite nur die Stimmung vor.«
»Warum lassen Sie anderen den Rahm?«
Er lehnte sich zurück, und mit dem Rand einer
Karte klopfte er leicht an den Rand des Tisches. Das
Lächeln kam wieder. »Da ist kein Rahm. Wir haben
Sie längst durchschaut.«
»Warum halten Sie mich dann fest?«
Er wollte keine Antwort geben. Er blickte sich um
nach der Uhr an der Wand. »Ich glaube, jetzt
könnten wir was zu essen kriegen.« Er stand auf und
ging zur Tür. Er öffnete sie halb und sprach leise mit
jemandem, der draußen war. Dann kam er zurück,
setzte sich wieder und betrachtete, was wir da an
Karten liegen hatten.
»Hat keinen Zweck«, sagte er. »Noch dreimal, und
wir sitzen fest. Einverstanden, wenn wir noch mal
anfangen?«

- 371 -
»Einverstanden, wenn wir nie angefangen hätten.
Ich spiele nicht Karten. Lieber Schach.«
Er sah rasch auf zu mir. »Warum haben Sie das
nicht gleich gesagt? Ich hätte auch lieber Schach
gespielt.«
»Ich würde lieber schwarzen Kaffee trinken, heiß
und bitter wie die Sünde.«
»Kommt jetzt gleich. Aber ich kann nicht
versprechen, dass er so ist, wie Sie's gewöhnt sind.«
»Ach was, ich esse doch alles… Also: wenn ich
ihn nicht erschossen habe, wer dann?«
»Ich glaube, genau das bringt sie so auf.«
»Die sollten froh sein, dass er tot ist.«
»Sind sie wohl auch«, sagte er. »Aber es gefällt
ihnen nicht, wie es gemacht wurde.«
»Also ich fand, es war eine saubere Arbeit, so
sauber, wie man sie nur wünschen kann.«
Er betrachtete mich schweigend. Er hatte die
Karten zwischen den Händen, alle auf einem
Haufen. Er glättete sie, klappte sie mit Bild nach
unten und teilte sie sehr schnell in zwei Stapel. Die
Karten schienen förmlich aus seiner Hand zu
fließen, ein verwischter Strom.
»Wenn Sie so schnell mit dem Schießeisen wären«,
begann ich.
Der Fluss der Karten stoppte. Ohne erkennbare
Bewegung war nun ein Revolver an ihrer Stelle. Er

- 372 -
hielt ihn mit leichter Hand, auf eine entfernte Ecke
des Zimmers gerichtet. Er verschwand wieder, und
die Karten setzten sich wieder in Bewegung.
»Sie sind viel zu gut für hier«, sagte ich. »Sie
sollten in Las Vegas sein.«
Er nahm einen der beiden Stapel, mischte ihn
schnell ein bisschen, teilte ihn und hatte einen Royal
Flush in Pik.
»An einem Steinway-Flügel bin ich sicherer«,
sagte er.
Die Tür öffnete sich, und ein Mann in Uniform
trug ein Tablett herein.
Wir aßen Corned Beef und tranken heißen, aber
dünnen Kaffee. Jetzt war es heller Morgen.
Um acht Uhr fünfzehn kam Christy French herein
– stand da, mit seinem Hut auf dem Hinterkopf und
dunklen Stellen unter den Augen.
Mein Blick kehrte von ihm zurück zu dem kleinen
Mann am Tisch gegenüber. Aber der war nicht mehr
da. Auch die Karten waren nicht mehr da. Nichts
war da, nur ein Stuhl, der säuberlich an den Tisch
gerückt war, und auf einem Tablett das Geschirr, aus
dem wir gegessen hatten. Einen Augenblick hatte
ich ein unheimliches Gefühl.
Dann kam Christy French von hinten zum Tisch,
zog den Stuhl heraus, setzte sich und stützte sein
Kinn auf die Hand. Er nahm seinen Hut ab und

- 373 -
lockerte sein Haar. Er starrte mich an, mit seinen
harten, missmutigen Augen. Ich war wieder im
Bullen-Land.

- 374 -
31

»Der Staatsanwalt will Sie um neun Uhr sehen«,


sagte er. »Danach werden Sie wohl nach Hause
können. Das heißt, falls er Sie nicht doch noch am
Schlafittchen kriegt. Tut mir leid, dass Sie die ganze
Nacht auf diesem Stuhl aufbleiben mussten.«
»Schon gut«, sagte ich. »Ein bisschen Training
konnte ich brauchen.«
»Ah ja, wieder die alte Masche«, sagte er. Er stierte
trübselig auf die abgegessenen Teller auf dem
Tablett.
»Habt ihr Lagardie?« fragte ich ihn.
»Nein. Aber er ist wirklich ein Doktor.« Seine
Augen trafen sich mit meinen. »Er hat in Cleveland
praktiziert.«
Ich sagte: »Finde ich gar nicht gut, wenn es so
passt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Der kleine Quest wollte Steelgrave drankriegen.
Und da trifft er doch ganz zufällig diesen Burschen
in Bay City, der beweisen konnte, wer Steelgrave
war. Das passt einfach zu gut.«
»Vergessen Sie nicht etwas?«
»Müde genug bin ich; ich könnte sogar meinen
Namen vergessen. Was denn?«

- 375 -
Ich auch«, sagte French. »Aber jemand musste ihm
sagen, wer Steelgrave war. Als das Foto aufge-
nommen wurde, war Moe Stein noch nicht erledigt.
Also, was nützt das Foto, wenn nicht jemand wusste,
wer Steelgrave war?«
»Miss Weld hat es wohl gewusst«, sagte ich. »Und
Quest war ihr Bruder.«
»Sehr schlau sind Sie nicht, mein Lieber.« Er
grinste ein müdes Grinsen. »Warum sollte sie ihrem
Bruder helfen, ihren Freund in die Klemme zu
bringen und sich selbst auch?«
»Ich geb's auf. Vielleicht war das Foto einfach ein
Glückstreffer. Seine andere Schwester - also meine
Klientin - hat mir erzählt, dass er gern verfängliche
Fotos aufnahm. Je verfänglicher, desto besser. Wenn
er lange genug gelebt hätte, wäre er wegen
Verleumdung belangt worden.«
»Wegen Mordes«, sagte French gleichgültig.
»Ach nein!«
»Maglashan hat den Eisdorn gefunden. Er wollte es
Ihnen bloß nicht sagen.«
»Man braucht ja wohl noch etwas mehr an
Beweisen.«
»Es gibt mehr, aber die ganze Sache ist erledigt.
Clausen und auch Marston waren vorbestraft. Der
Junge ist tot. Seine Familie ist angesehen. Er hatte
komische Neigungen und geriet an die falschen

- 376 -
Leute. Es hat keinen Sinn, die Familie reinzuziehen,
nur um zu beweisen, dass die Polizei einen Fall
aufklären kann.«
»Das ist schön von Ihnen. Wie steht's mit
Steelgrave?«
»Damit habe ich nichts mehr zu tun.« Er war im
Begriff aufzustehen. »Wenn es einen Gangster
erwischt hat, wie lange dauert wohl die
Untersuchung?«
»Solange es für Schlagzeilen reicht«, sagte ich.
»Aber hier geht es auch noch um eine Frage der
Identität.«
»Nein.«
Ich starrte ihn an. »Wie meinen Sie das ›nein‹?«
»Einfach – nein. Wir sind sicher.« Er stand jetzt
aufrecht. Er strählte sich das Haar mit den Fingern
und brachte Schlips und Hut in Ordnung. Aus einem
Mundwinkel sagte er halblaut: »Ganz unter uns - wir
waren schon immer sicher. Wir konnten es nur nicht
beweisen.«
»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich sag's nicht weiter.
Wie steht's mit den Revolvern?«
Er blieb stehen und sah auf den Tisch herunter.
Seine Augen erhoben sich ziemlich langsam, bis wir
uns begegneten. »Beide gehörten Steelgrave.
Außerdem hatte er einen Waffenschein. Vom Sheriff
eines anderen Distrikts. Fragen Sie nicht wieso. Eine

- 377 -
der beiden« - er unterbrach sich und blickte auf die
Wand hinter meinem Kopf - »eine davon tötete
Quest… Und dieselbe Waffe tötete Stein.«
»Welche denn?«
Er lächelte schwach. »Das war schon was, wenn
der Ballistiker sie verwechselt hätte und wir es nicht
wüssten«, sagte er. Er wartete, dass ich etwas sagte.
Ich hatte nichts zu sagen. Er machte eine
Handbewegung.
»Also dann, Wiedersehen. Nichts gegen Sie
persönlich, aber hoffentlich zieht Ihnen der
Staatsanwalt die Haut ab – in langen schmalen
Streifen.«
Er drehte sich um und ging.
Ich hätte auch gehen können, aber ich saß nur da
und starrte über den Tisch auf die Wand, als hätte
ich vergessen, wie man aufsteht. Einige Zeit danach
kam die orangerote Fee herein. Sie schloss den Roll-
Schreibtisch auf, nahm ihren Hut von ihrem
unmöglichen Haar und hängte ihre Jacke an einen
nackten Haken an der kahlen Wand. Sie öffnete das
Fenster in ihrer Nähe, nahm die Haube von der
Schreibmaschine und steckte Papier hinein. Dann
sah sie zu mir herüber.
»Warten Sie auf jemanden?«
»Ich wohne hier«, sagte ich. »Schon die ganze
Nacht.«

- 378 -
Einen Augenblick lang sah sie mich unverwandt
an. »Sie waren gestern Nachmittag hier. Jetzt weiß
ich wieder.«
Sie; drehte sich zu ihrer Schreibmaschine, und ihre
Finger fingen an zu fliegen. Durch das offene
Fenster hinter ihr kam Gebrumm der Autos, die
allmählich den Parkplatz füllten. Der Himmel hatte
einen weißen Glanz, es war nicht viel Smog. Es
würde ein heißer Tag werden.
Das Telefon klingelte auf dem Schreibtisch der
orangeroten Fee. Sie sprach unhörbar hinein und
legte auf. Sie blickte wieder zu mir herüber.
»Mr. Endicott ist in seinem Büro«, sagte sie.
»Wissen Sie, wie Sie gehen müssen?«
»Ich habe da mal gearbeitet. Allerdings nicht für
ihn. Wurde entlassen.«
Sie betrachtete mich mit diesem gewissen
Behördenblick. Eine Stimme von irgendwo – nur
nicht aus ihrem Mund – sagte: »Knallen Sie ihm
eine, mit einem nassen Handschuh.«
Ich ging hinüber, stand in ihrer Nähe, sah auf das
orangerote Haar herunter. An den Wurzeln war viel
Grau.
»Wer sagt das?«
»Die Wand«, sagte sie. »Sie redet. Die Stimmen
von toten Männern, die da durch sind und zur Hölle
gefahren.«

- 379 -
Mit leisen Schritten ging ich aus dem Zimmer und
zog die Tür ins Schloss, geräuschlos.

- 380 -
32

Man tritt durch doppelte Schwingtüren ein. Hinter


den Schwingtüren ist ein kombinierter Vermittlungs-
und Informationsschalter, und dort sitzt eines von
diesen alterslosen Mädchen, die man in allen
Behörden der Welt sehen kann. Sie waren nie jung
und werden nie alt sein. Haben keine Schönheit,
keinen Charme, keinen Stil. Sie müssen niemandem
gefallen. Nichts kann passieren. Sie sind
umgänglich, aber nie höflich, nie intelligent oder
kenntnisreich, haben keinerlei Interesse an
irgendwas. Sie sind das, was aus Menschen wird,
wenn sie ihr Leben gegen eine Existenz eintauschen
und ihren Ehrgeiz gegen Sicherheit.
Hinter dem Schalter ist eine Reihe von verglasten
Kabinen, an einer Seite eines langen Raumes.
Dahinter ist der Warteraum, eine Reihe harter
Stühle, alle in die gleiche Richtung, auf die Kabinen
hinblickend.
Etwa die Hälfte der Stühle waren in Benutzung -
Leute, die warteten, mit dem Ausdruck von langem
Warten und der Erwartung von noch längerem
Warten, das vor ihnen lag. Die meisten von ihnen
waren schäbig. Einer kam aus dem Gefängnis, in
gestreifter Kleidung, mit einer Wache. Ein Junge,
mit kalkigem Gesicht, mit dem Körper eines
Fußballspielers, mit leeren, kranken Augen.

- 381 -
Hinter der Reihe der Kabinen war eine Tür mit der
Inschrift Sewell Endicott, Distriktsstaatsanwalt. Ich
klopfte an und trat in ein großes, luftiges
Eckzimmer. Ein ganz nettes Zimmer, altmodisch,
mit schwarzen, ledernen Polsterstühlen und den
Bildern ehemaliger Staatsanwälte und Gouverneure
an den Wänden. Eine Brise bewegte die Tüll-
vorhänge an den vier Fenstern. Ein Ventilator hoch
auf einem Bord surrte und drehte sich langsam hin
und her.
Sewell Endicott saß hinter einem niedrigen,
dunklen Schreibtisch und beobachtete, wie ich
hereinkam. Er zeigte auf einen Sessel ihm
gegenüber. Ich setzte mich. Er war groß, schmal und
dunkel mit lockerem, schwarzem Haar und langen,
feinen Fingern.
»Sind Sie Marlowe?« sagte er mit einer weichen,
südlich angehauchten Stimme.
Ich glaubte nicht, dass darauf eine Antwort nötig
war. Ich wartete einfach.
»Sie sind schlecht dran, Marlowe. Sieht gar nicht
gut aus. Man hat Sie erwischt, wie Sie Beweismittel
unterschlagen haben, mit denen ein Mordfall geklärt
werden konnte. Das heißt die Gerechtigkeit
aufhalten. Sie könnten belangt werden. «
»Was für Beweismittel denn?« fragte ich.
Er nahm ein Foto von seinem Schreibtisch und
betrachtete es stirnrunzelnd. Ich sah hinüber zu den

- 382 -
anderen Leuten in dem Raum. Sie saßen in Sesseln
nebeneinander. Mavis Weld war eine von ihnen. Sie
trug eine dunkle Brille mit breitem weißen Rand. Ich
konnte ihre Augen nicht sehen, aber mir schien, dass
sie mich anschaute. Sie lächelte nicht. Sie saß sehr
still.
Neben ihr saß ein Mann in einem herrlichen
blassgrauen Flanellanzug; im Aufschlag steckte eine
Nelke so groß wie eine Dahlie. Er rauchte eine
Zigarette mit Monogramm und schnippte die Asche
auf den Boden, ohne den Aschenständer neben
seinem Arm zu beachten. Ich kannte ihn von Bildern
her, die ich in Zeitungen gesehen hatte. Lee Farrell,
einer der begehrtesten Anwälte für schwierige Fälle.
Sein Haar war weiß, aber seine Augen waren hell
und jung. Er hatte eine tiefe Sonnenbräune. Er sah
aus, als würde ein Händedruck von ihm tausend
Dollar kosten.
Endicott lehnte sich zurück und trommelte mit
seinen langen Fingern auf der Lehne seines Sessels.
Mit devoter Höflichkeit wandte er sich an Mavis
Weld.
»Und wie gut kannten Sie Steelgrave, Miss Weld?«
»Wir waren eng befreundet. In mancher Hinsicht
war er sehr charmant. Ich kann kaum glauben …«,
sie brach ab und zuckte die Achseln.

- 383 -
»Und Sie sind also bereit zu beeiden, wann und wo
dieses Foto aufgenommen worden ist?« Er drehte
das Foto und zeigte es ihr.
Farrell sagte gleichgültig: »Moment mal. Ist das
das Beweisstück, das Mr. Marlowe unterdrückt
haben soll?«
»Ich stelle die Fragen«, sagte Endicott scharf.
Farrell lächelte. »Nun, falls die Antwort ›Ja‹ ist –
dieses Foto beweist gar nichts.«
Endicott sagte sanft: »Werden Sie meine Frage
beantworten, Miss Weld?«
Sie sagte leicht und ruhig: »Nein, Mr. Endicott, ich
könnte nicht beschwören, wann dieses Bild
aufgenommen wurde oder wo. Ich habe nicht
gemerkt, dass es aufgenommen wurde.«
»Sie brauchen doch nur drauf zu schauen«, meinte
Endicott.
»Alles, was ich weiß, entnehme ich dem Bild«,
sagte sie zu ihm.
Ich grinste. Farrell sah mich an und zwinkerte.
Endicott bemerkte das Grinsen aus einem
Augenwinkel. »Was ist denn da so lustig?« fuhr er
mich an.
»Ich war die ganze Nacht wach. Mein Gesicht
rutscht mir weg«, sagte ich.

- 384 -
Er warf mir einen bösen Blick zu und wandte sich
wieder zu Mavis Weld. »Können Sie das näher
erklären, Miss Weld?«
»Von mir werden viele Fotos aufgenommen, Mr.
Endicott. An vielen verschiedenen Orten und mit
vielen verschiedenen Leuten. Ich war mittags und
abends in ›The Dancers‹ mit Mr. Steelgrave zum
Essen, ebenso wie mit verschiedenen anderen
Herren. Ich weiß nicht, was Sie von mir hören
wollen.«
Farrell kam behände dazu: »Wenn ich Ihre Absicht
recht verstehe, wollen Sie, dass Miss Weld als Ihr
Zeuge auftritt, um dieses Foto in einen
Zusammenhang zu bringen. In was für einem
Verfahren?«
»Das ist meine Sache«, sagte Endicott kurz.
»Jemand hat gestern Abend Steelgrave
totgeschossen. Es kann eine Frau gewesen sein. Es
kann sogar Miss Weld gewesen sein. Es tut mir leid,
dass ich das sagen muss, aber die Möglichkeit be-
steht.«
«Mavis Weld schaute auf ihre Hände. Sie drehte
einen weißen Handschuh zwischen den Fingern.
»Also, nehmen wir mal einen Prozess an«, sagte
Farrell. »Einen, in dem dieses Foto eines Ihrer
Beweismittel ist – falls Sie es da reinziehen können.
Sie können es aber nicht reinziehen. Miss Weld wird
Ihnen den Gefallen nicht tun.

- 385 -
Alles, was sie über das Foto weiß, ist das, was man
sowieso drauf sieht. Was jeder sehen kann. Einen
Zusammenhang könnten Sie nur durch einen Zeugen
herstellen, der beeiden könnte, wie und wo es
aufgenommen wurde. Ich könnte sogar Sachver-
ständige heranziehen, die das Foto als Fälschung
bezeichnen würden.«
»Ich bin sicher, dass Sie das könnten«, sagte
Endicott trocken.
»Der einzige, der über die Umstände des Fotos
etwas aussagen könnte, ist der Mann, der es
aufgenommen hat«, fuhr Farrell ruhig fort. »Wie ich
höre, ist er tot. Ich nehme an, es ist der Grund,
warum er getötet wurde.«
Endicott sagte: »Dieses Foto allein ist ein klares
Indiz, dass Steelgrave zu einer bestimmten Zeit nicht
im Gefängnis war und deshalb für den Mord an
Stein kein Alibi hatte.«
Farrell sagte: »Es ist ein Indiz, falls und sobald Sie
es als Indiz einsetzen, Endicott. Du lieber Gott, ich
muss Ihnen doch nicht das Gesetz erklären. Sie
wissen es. Lassen Sie das Bild aus dem Spiel. Es
beweist gar nichts. Keine Zeitung würde es wagen,
das zu drucken. Kein Richter könnte es als
Beweisstück anerkennen, weil es keinen brauch-
baren Zeugen für den Zusammenhang gibt. Und
wenn das der Beweis ist, den Marlowe unterdrückt

- 386 -
hat, dann hat er im juristischen Sinn nichts
unterdrückt.«
»Ich dachte nicht daran, Steelgrave wegen Mordes
anzuklagen«, sagte Endicott trocken. »Aber ein
bisschen interessiert es mich schon, wer ihn getötet
hat. So seltsam das klingt: die Polizei interessiert
sich für so was. Ich hoffe, das kränkt Sie nicht.«
Farrell sagte: »Mich kränkt gar nichts. Deshalb bin
ich ja was geworden. Sind Sie sicher, dass
Steelgrave ermordet wurde?«
Endicott starrte ihn nur an. Farrell sagte glatt:
»Soweit ich weiß, hat man zwei Revolver gefunden,
und beide waren Steelgraves Eigentum.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Endicott scharf. Er
beugte sich vor und runzelte die Stirn.
Farrell ließ seine Zigarette in den Aschenständer
fallen und zuckte die Achseln. »Mein Gott, so was
spricht sich rum. Mit einer der beiden Waffen war
Quest getötet worden, und Stein ebenfalls. Durch die
andere war Steelgrave selbst umgekommen. Aus
nächster Nähe abgeschossen. Ich will zugeben, dass
diese Burschen gewöhnlich nicht diesen Ausweg
wählen. Aber nichts ist unmöglich.«
Endicott sagte: »Zweifellos. Besten Dank für die
Vermutung. Leider ist sie falsch.«
Farrell lächelte ein wenig und schwieg. Endicott
wandte sich langsam an Mavis Weld.

- 387 -
»Miss Weld, unsere Behörde - zum mindesten ihr
derzeitiger Amtsverwalter - ist nicht unbedingt auf
Publicity aus, wenn diese Publicity jemandem
außerordentlich schadet. Es ist meine Pflicht
festzustellen, ob jemand wegen dieser Morde vor
Gericht gestellt werden muss, und gegen ihn
Anklage zu erheben, wenn ausreichender Verdacht
besteht. Es ist nicht meine Pflicht, Ihre Karriere zu
ruinieren, indem ich Ihr Pech oder Ihre geringe
Menschenkenntnis gegen Sie verwende, weil Sie mit
einem Mann befreundet waren, der zwar nie
verurteilt oder auch nur unter Anklage war, der aber
zweifellos einmal ein Mitglied einer Verbrecher-
bande war. Ich bin der Meinung, dass Sie bezüglich
dieser Fotografie nicht ganz aufrichtig zu mir waren,
aber ich will nicht darauf herumreiten. Es hat keinen
großen Sinn, Sie jetzt zu fragen, ob Sie Steelgrave
erschossen haben. Aber was ich Sie fragen möchte,
ist, ob Sie irgendwelche Kenntnis haben oder
Hinweise geben können, wer ihn getötet haben
könnte.«
Farrell sagte schnell: »Kenntnis, Miss Weld –
keinen bloßen Verdacht.«
Sie sah Endicott direkt ins Gesicht. »Nein.«
Endicott stand auf und verbeugte sich. »Das ist
vorläufig alles, was ich wissen wollte. Danke für
Ihren Besuch.« Farrell und Mavis Weld standen auf.

- 388 -
Ich rührte mich nicht. Farrell sagte: »Werden Sie
eine Pressekonferenz abhalten?«
»Ich glaube, das überlasse ich Ihnen, Mr. Farrell.
Sie sind immer sehr geschickt im Umgang mit der
Presse.«
Farrell nickte und ging, um die Tür zu öffnen. Sie
gingen hinaus. Sie schien mich nicht anzusehen, als
sie hinausgingen, aber irgendwas berührte leicht
meinen Nacken. Sicher ein Zufall. Ihr Ärmel.
Endicott sah auf die Tür, die sich schloss. Er sah
mich über den Schreibtisch an. »Ist Farrell Ihr
Anwalt? Ich habe vergessen zu fragen.«
»Ich kann ihn nicht bezahlen. Ich bin also
verwundbar.«
Er lächelte dünn. »Denen lasse ich alle Tricks
durchgehen und rette dann meine Ehre, indem ich
Sie Fertigmache, was?«
»Ich kann Sie nicht abhalten.«
»Besonders stolz sind Sie wohl nicht auf Ihre Rolle
in der Affäre, was, Marlowe?«
»Ich habe es falsch angefangen. Danach musste ich
es einfach nehmen, wie es kam.«
»Meinen Sie nicht, dass Sie eine gewisse
Verpflichtung vor dem Gesetz haben?«
»Wenn das Gesetz so wäre wie Sie - sicher.«
Er fuhr sich mit seinen langen bleichen Fingern
durch das schwarze krause Haar.

- 389 -
»Darauf könnte ich viele Antworten geben«, sagte
er. »Sie kämen alle auf dasselbe hinaus. Der Bürger
bestimmt, wie das Gesetz ist. Hierzulande haben wir
das noch nicht recht verstanden. Im Gesetz sehen
wir einen Feind. Wir sind eine Nation von
Polizistenhassern.«
»Um das zu ändern, muss viel passieren«, sagte
ich. »Auf beiden Seiten.«
Er beugte sich vor und drückte auf einen Knopf.
»Ja«, sagte er ruhig, »Sie haben recht. Aber einer
muss damit anfangen. Danke, dass Sie gekommen
sind.«
Als ich rausging, trat durch eine andere Tür eine
Sekretärin ein; sie trug eine dicke Akte.

- 390 -
33

Nach dem Rasieren und nach einem zweiten


Frühstück fühlte ich mich nicht mehr ganz so wie
ein Karton voll Sägespäne, in dem die Katze jungt.
Ich stieg rauf zu meinem Büro, schloss die Tür auf
und schnüffelte: abgenutzte Luft und Staubgeruch.
Ich öffnete ein Fenster und sog den Bratendunst von
der benachbarten Cafeteria ein. Ich setzte mich an
meinen Schreibtisch und fühlte mit den
Fingerspitzen, wie klebrig er war. Ich stopfte eine
Pfeife, zündete sie an, lehnte mich zurück und sah
mich im Zimmer um.
Ich sagte: »Guten Morgen, wie geht's?«
Ich redete bloß mit der Büroeinrichtung, den drei
grünen Karteikästen, dem durchgetretenen Stück
Teppich, dem Klientenstuhl mir gegenüber, der
Deckenlampe mit den drei toten Motten, die seit
mindestens sechs Monaten drin lagen. Ich redete mit
der Riffelglasscheibe, dem schmutzigen Türrahmen,
dem Schreibzubehör auf dem Tisch und dem müden,
müden Telefon. Ich redete mit dem Schuppenpanzer
eines Alligators, der Marlowe hieß und der ein
Privatdetektiv war – in unserer blühenden kleinen
Gemeinde. Nicht grade eine Intelligenzbestie, aber
billig. Er war billig, als er anfing, und am Ende noch
billiger.

- 391 -
Ich griff unten rein und stellte die Flasche mit dem
›Old Forester‹ auf die Tischplatte. Sie war etwa ein
Drittel voll. Old Forester. Na, mein Junge, von wem
hast du den auch noch? 1a Qualität. Viel zu teuer für
dich. Muss von einem Klienten sein. Ich hatte mal
einen Klienten.
Das brachte meine Gedanken auf sie, und vielleicht
sind meine Gedanken stärker, als ich weiß. Das
Telefon läutete, und die komische, kleine,
überdeutliche Stimme klang ganz genau wie damals,
als sie mich zum ersten Mal angerufen hatte.
»Ich bin in dieser Telefonzelle«, sagte sie. »Wenn
Sie allein sind, komme ich rauf.«
»Hmhm.«
»Sie sind sicher böse auf mich«, sagte sie.
»Ich bin auf niemanden böse. Nur müde.«
»Sie sind bestimmt böse«, sagte ihre angestrengte
kleine Stimme. »Aber ich komme trotzdem. Es ist
mir gleich, ob Sie wirklich böse auf mich sind.«
Ich legte auf. Ich zog den Korken aus der Flasche
Old Forester und roch daran. Ich schüttelte mich.
Aha, so stand es also. Wenn ich am Whisky nicht
riechen konnte, ohne mich zu schütteln, dann stand
es schlimm mit mir.
Ich steckte die Flasche weg und stand auf, um die
Verbindungstür aufzuschließen. Dann hörte ich sie
durch den Flur trippeln. Diese festen kleinen

- 392 -
Fußtritte würde ich überall wieder erkennen. Ich
öffnete die Tür; sie trat auf mich zu und sah mich
verlegen an.
Es war nichts mehr übrig. Die schräge Brille, die
neue Frisur, der schicke kleine Hut, das Parfüm und
das Make-up. Der Modeschmuck, das Rouge, das
Ganze. Alles weg. Sie war wieder so wie am
Anfang, am ersten Vormittag. Dasselbe braune
Kostüm, dieselbe altmodische Tasche, dieselbe
randlose Brille, das gleiche gezierte, kleine,
engstirnige Lächeln.
»Ich bin's«, sagte sie, »ich fahre nach Hause.«
Sie folgte mir in mein privates Denkzimmer und
setzte sich mit steifer Manier, und ich setzte mich
eben auch irgendwie hin und betrachtete sie.
»Zurück nach Manhattan«, sagte ich. »Hoffentlich
lässt man Sie da rein.«
»Vielleicht muss ich noch mal wiederkommen.«
»Können Sie sich das leisten?«
Sie lachte ein bisschen verlegen. »Das wird mich
gar nichts kosten«, sagte sie. Sie hob die Hand und
berührte die randlose Brille. »Fühlt sich jetzt ganz
dumm an«, sagte sie. »Die andere gefällt mir besser.
Aber Dr. Zugsmith würde sie gar nicht gefallen.«
Sie legte ihre Tasche auf den Schreibtisch und zog
eine Linie mit der Fingerspitze. Auch das war wie
beim ersten Mal.

- 393 -
»Ich weiß nicht mehr, ob ich Ihnen die zwanzig
Dollar zurückgegeben habe oder nicht«, sagte ich.
»Es ist so oft hin und her gegangen, dass ich die
Übersicht verloren habe.«
»Oh, Sie haben sie mir zurückgegeben«, sagte sie.
»Vielen Dank.«
»Bestimmt?«
»Wenn's um Geld geht, vergesse ich nichts. Und
Sie? Geht's Ihnen gut? Haben die Ihnen weh getan?«
»Die Polizei? Ach wo. Dabei haben die sich so
aufgeführt wie noch nie.«
Sie sah kindlich erstaunt aus. Dann blitzten ihre
Augen auf. »Sie müssen sehr tapfer sein«, sagte sie.
»Hatte nur Glück«, sagte ich. Ich griff nach einem
Bleistift und fühlte, wie spitz er war. Er hatte eine
schöne, scharfe Spitze, falls jemand damit schreiben
wollte. Ich wollte nicht. Ich streckte die Hand aus,
hakte mit dem Bleistift hinter den Tragegurt der
Tasche und zog sie zu mir her.
»Fassen Sie die Tasche nicht an«, sagte sie schnell
und streckte die Hand danach.
Ich grinste und zog sie aus ihrer Reichweite.
»Schon gut. Es ist so eine raffinierte kleine Tasche.
Ihnen so ähnlich.«
Sie lehnte sich zurück. In ihren Augen lag eine
schwache Unruhe, aber sie lächelte. »Sie finden, ich

- 394 -
sei raffiniert, Philip? Ich bin doch so was
Gewöhnliches.«
»Das finde ich nicht.«
»Oberhaupt nicht. Ich finde, Sie sind eines der
ungewöhnlichsten Mädchen, die ich je gesehen
habe.« Ich ließ die Tasche an ihrem Riemen
schaukeln und stellte sie an der Ecke des
Schreibtisches ab. Ihre Augen folgten ihr, aber sie
fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte
mich wieder an.
»Sie kennen sicher viele Frauen«, sagte sie.
»Warum« -- sie senkte die Augen und tat wieder das
mit der Fingerspitze – »warum haben Sie nie
geheiratet?«
Ich dachte an die vielen möglichen Antworten. Ich
dachte an alle Frauen, die mir gut genug gefallen
hatten. Nein, nicht an alle. Aber an einige.
»Ich könnte wohl darauf antworten«, sagte ich.
»Aber es würde sich ziemlich altmodisch anhören.
Die, die ich vielleicht heiraten würde - denen habe
ich nicht das Richtige zu bieten. Die anderen braucht
man nicht zu heiraten. Man kriegt sie herum – wenn
sie es nicht zuerst tun.«
Sie errötete bis zu den Wurzeln ihrer dünnen
Haare.
»Sie sind wirklich widerlich, wenn Sie so reden.«

- 395 -
»Bei einigen von den netten ist es auch nicht
anders«, sagte ich. »Ich meine nicht, was Sie gesagt
haben. Ich meine das von mir. Bei Ihnen wäre es
auch nicht so schwer gewesen.«
»Bitte, sprechen Sie nicht so!«
»Na ja – stimmt es denn nicht?«
Sie sah abwärts, auf den Tisch. »Ich wünschte, Sie
würden mir sagen, was mit Orrin passiert ist«, sagte
sie langsam. »Ich bin ganz durcheinander.«
»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er wahrscheinlich
auf die schiefe Ebene geraten ist. Beim ersten Mal,
als Sie kamen. Wissen Sie noch?«
Sie nickte langsam, noch immer rot im Gesicht.
»Hatte einen abnormen häuslichen Hintergrund«,
sagte ich. »Sehr gehemmter Typ, mit sehr hoch
entwickeltem Sinn für die eigene Wichtigkeit. Man
konnte es direkt sehen, auf den Bildern, die Sie mir
gegeben haben. Ich will Ihnen jetzt nicht mit
Psychologie kommen, aber nach meiner Ansicht war
er ein Typ, der wirklich total durchdrehen musste,
wenn er überhaupt durchdrehte. Und dann gibt's da
diese schreckliche Geldgier in Ihrer Familie, bei
allen – mit einer Ausnahme.«
Sie lächelte mich an. Wenn sie dachte, ich hätte sie
gemeint - mir konnte es egal sein.
»Eines möchte ich Sie fragen«, sagte ich. »War Ihr
Vater vorher schon mal verheiratet?«

- 396 -
Sie nickte, ja.
»Na also, Leila hatte eine andere Mutter. Das passt
mir gut. Erzählen Sie mir noch etwas mehr. Ich habe
schließlich 'ne Menge für Sie gemacht, für die sehr
niedrige Summe von null Dollar netto.«
»Sie sind bezahlt worden«, sagte sie scharf. »Gut
bezahlt. Von Leila. Und glauben Sie nicht, dass ich
sie Mavis Weld nennen werde. Fällt mir nicht ein.«
»Sie haben nicht gewusst, dass ich woanders
bezahlt werde.«
»Meinetwegen« - eine lange Pause folgte, während
der ihre Augen wieder zu der Tasche wanderten -
»aber bezahlt worden sind Sie.«
»Na ja, lassen wir das. Warum wollten Sie mir
nicht sagen, wer sie war?«
»Ich schämte mich. Mutter und ich, wir schämten
uns beide.«
»Orrin nicht. Der war Feuer und Flamme.«
»Orrin?« Wieder so ein reinliches, kleines
Schweigen, während sie zur Tasche rübersah.
Allmählich war ich schon neugierig auf die Tasche.
»Der war nun mal hier und wird sich wohl daran
gewöhnt haben.«
»So schlimm ist das doch nicht, wenn man beim
Film ist.«
»Das war ja nicht alles«, sagte sie rasch, ihr Zahn
senkte sich auf den äußeren Rand ihrer Unterlippe,

- 397 -
und etwas blitzte in ihren Augen auf und verlosch
langsam. Ich zündete meine Pfeife wieder an. Ich
war viel zu müde, um ein Gefühl zu zeigen, selbst
wenn ich eines hatte.
»Ich weiß. Oder jedenfalls habe ich es irgendwie
erraten. Wie hat Orrin etwas über Steelgrave
herausgefunden, was die Polizei nicht wusste?«
»Ich - ich weiß nicht«, sagte sie langsam. Sie
tastete sich durch die Worte wie eine Katze auf
Zaunspitzen. »Vielleicht durch diesen Doktor?«
»Aber ja«, sagte ich, mit breitem, warmem
Lächeln. »Er und Orrin wurden Freunde.
Wahrscheinlich das gemeinsame Interesse für spitze
Werkzeuge.«
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihr kleines
Gesicht war jetzt dünn und eingefallen. Ihre Augen
hatten einen wachsamen Blick.
»Jetzt sind Sie wieder gemein«, sagte sie. »Sie
müssen ja immer wieder mal gemein sein.«
»So ein Jammer«, sagte ich. »Ich wäre ein
liebenswerter Mensch, wenn ich mich selbst in Ruhe
ließe. Hübsche Tasche.« Ich griff nach ihr, zog sie
an mich und machte sie auf.
Sie sprang auf und machte einen Satz auf mich zu.
»Lassen Sie die Finger von meiner Tasche!«
Ich sah ihr geradewegs auf die randlose Brille. »Sie
wollen nach Hause fahren, nach Manhattan, Kansas,

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nicht wahr? Gleich heute? Haben Sie Ihre Fahrkarte
und alles?«
Sie biss sich die Lippen und setzte sich langsam
wieder hin.
»Okay«, sagte ich. »Ich halte Sie nicht auf. Bloß
wissen möchte ich, wie viel Zaster Sie bei dieser
Affäre rausgequetscht haben.«
Sie begann zu weinen. Ich öffnete die Tasche und
wühlte sie durch. Da war nichts, bis ich an die
Seitentasche mit Reißverschluss kam. Ich zog sie auf
und griff hinein. Ein flaches Päckchen von neuen
Scheinen war drin. Ich nahm es raus und blätterte.
Zehn Hunderter. Alle neu. Alle hübsch. Glatte
tausend Dollar. Hübsches Reisegeld.
Ich lehnte mich zurück und klopfte mit dem Rand
des Päckchens auf die Tischplatte. Sie saß ruhig da,
starrte midi mit nassen Augen an. Ich nahm ein
Taschentuch aus ihrer Tasche und warf es ihr rüber.
Sie betupfte ihre Augen. Sie beobachtete mich an
dem Taschentuch vorbei. Hin und wieder kam ein
hübscher, kleiner, flehentlicher Seufzer aus ihrer
Kehle.
»Leila hat mir das Geld gegeben«, sagte sie leise.
»Was für ein Stemmeisen haben Sie dafür
gebraucht?«
Sie machte ihren Mund auf, und eine Träne lief
über ihre Wange runter und hinein.

- 399 -
»Lassen wir das«, sagte ich. Ich ließ das
Geldbündel in die Tasche fallen, schnappte die
Tasche zu und schob sie zu ihr rüber. »Mir scheint,
Sie und Orrin gehören zu der Sorte von Leuten, die
sich selbst weismachen können, dass alles richtig ist,
was sie tun. Er kann seine Schwester erpressen, und
dann, wenn ein paar kleine Gangster ihm auf die
Schliche kommen und ihm das Geschäft vermasseln,
ist er fähig, sich an sie ranzumachen und sie mit
einem Eisdorn umzulegen. Wahrscheinlich hat es
ihn noch nicht einmal den Schlaf gekostet in der
Nacht darauf. Sie bringen fast dasselbe fertig. Leila
hat Ihnen das Geld nicht gegeben. Steelgrave hat es
gegeben. Wofür?«
»Sie Saukerl«, sagte sie. »Sie gemeiner Hund. Was
fällt Ihnen ein, so was zu mir zu sagen!«
»Wer hat die Polypen davon verständigt, dass Dr.
Lagardie Clausen kannte? Lagardie glaubte, ich sei
es gewesen. Aber ich war's nicht. Also waren Sie es.
Warum? Um Ihren Bruder auszuräuchern, der nicht
teilen wollte – weil er gerade sein Spiel verloren
hatte und sich verstecken musste? Ich möchte gern
mal ein paar von den Briefen sehen, die er nach
Hause geschrieben hat. Da gibt's sicher was zu lesen.
Ich sehe es vor mir, wie er es ausheckt, wie er
versucht, sie mit der Leica zu kriegen, und still im
Hintergrund der gute Dr. Lagardie, der auf seinen

- 400 -
Anteil wartet. Wozu haben Sie mich denn
angestellt?«
»Ichs war mir nicht sicher«, sagte sie tonlos. Sie
wischte sich wieder die Augen, steckte das
Taschentuch weg und sammelte sich für den
Aufbruch. »Orrin hat nie Namen genannt. Ich wusste
nicht mal, dass Orrin seine Bilder verloren hatte.
Aber ich wusste, dass er sie gemacht hatte und dass
sie sehr wertvoll waren. Ich kam hierher, um
sicherzugehen.«
»In welcher Sache?«
»Dass Orrin mich nicht betrog. Er konnte
manchmal sehr gemein sein. Er hätte das ganze Geld
für sich behalten können.«
»Warum hat er Sie vorgestern Abend angerufen?«
»Er hatte Angst. Dr. Lagardie war nicht mehr mit
ihm zufrieden. Er hatte die Bilder nicht mehr. Die
hatte jemand anders. Orrin wusste nicht, wer. Aber
er hatte Angst.«
»Ich hatte sie. Ich habe sie immer noch«, sagte ich.
»Sie sind in diesem Safe.«
Sie wandte ihren Kopf langsam und sah auf das
Safe. Sie fuhr sich nachdenklich mit einer
Fingerspitze über die Lippen. Sie drehte sich zu mir.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte sie, und ihre Augen
beobachteten mich, wie eine Katze ein Mauseloch
beobachtet.

- 401 -
»Wie war's, wenn wir uns den Tausender teilten?
Sie kriegen die Bilder.«
Sie bedachte es. »Ich kann Ihnen nicht gut so viel
Geld geben, für etwas, das Ihnen nicht mal gehört«,
sagte sie und lächelte. »Bitte geben Sie sie mir.
Bitte, Philip. Leila muss sie zurück haben.«
»Für wie viel Geld?«
Sie runzelte die Stirn und sah gekränkt aus.
»Sie ist jetzt meine Klientin«, sagte ich. »Aber es
wäre kein schlechtes Geschäft, sie zu betrügen - für
einen guten Preis.«
»Ich glaube nicht, dass Sie sie haben.«
»Na schön.« Ich stand auf und ging zu dem Safe.
Einen Augenblick danach war ich mit dem
Umschlag zurück. Ich leerte die Abzüge und das
Negativ auf den Schreibtisch – auf meine Seite des
Schreibtisches. Sie schaute hin und wollte zugreifen.
Ich nahm sie, packte sie zusammen und hielt einen
Abzug so, dass sie ihn ansehen konnte. Als sie
danach griff, zog ich ihn weg. Sie beklagte sich.
»Aber ich kann nichts sehen, von so weit.«
»Näher ran kostet Geld.«
»Ich hätte nie gedacht, dass Sie so ein Gauner
sind«, sagte sie ehrlich entrüstet.
Ich sagte nichts. Ich zündete meine Pfeife wieder
an.

- 402 -
»Ich könnte dafür sorgen, dass Sie sie der Polizei
geben müssen«, sagte sie.
»Versuchen Sie's mal.«
Plötzlich redete sie sehr schnell. »Ich kann Ihnen
einfach das Geld nicht geben, wirklich nicht. Wir –
also Mutter und ich – haben immer noch Schulden,
wegen Vater, und das Haus ist belastet und – «
»Was haben Sie Steelgrave für den Tausender
verkauft?«
Ihr Mund ging auf, und sie sah hässlich aus. Sie
schloss die Lippen und presste sie zusammen. Jetzt
sah ich ein hartes, kleines verkniffenes Gesicht.
»Sie hatten nur eines zu verkaufen«, sagte ich. »Sie
wussten, wo Orrin war. Für diese Information zahlte
Steelgrave die Tausend. Gerne. Es ist eine Frage des
Zusammenhangs von Indizien. Sie würden das nicht
verstehen. Steelgrave ging hin und tötete ihn. Er
zahlte Ihnen das Geld für die Adresse.«
»Leila hat es ihm gesagt«, sagte sie mit einer
Stimme, die wie von ferne klang.
»Leila hat mir gesagt, dass sie's ihm gesagt hat.
Falls nötig, würde Leila aller Welt erzählen, dass
sie's ihm gesagt hat. Genauso, wie sie aller Welt
erzählen würde, dass sie Steelgrave getötet hat -
wenn ihr nichts anderes übrig bliebe. Leila ist
leichtsinnig und nicht sehr moralisch, typisch
Hollywood. Aber sie hat wirklichen Mut, wenn es

- 403 -
nötig ist. Sie hat nichts übrig für Eisdorne. Sie
nimmt kein Blutgeld.« Alle Farbe wich aus ihrem
Gesicht, und es wurde bleich wie Eis. Ihr Mund
bebte und verkrampfte sich, knopfartig. Sie stieß den
Sessel zurück und beugte sich vor, um aufzustehen.
»Blutgeld«, sagte ich ruhig. »Ihr eigener Bruder.
Und Sie haben es so arrangiert, dass die ihn
umbringen konnten. Tausend Dollar Blutgeld.
Hoffentlich werden Sie glücklich damit.«
Sie stand neben dem Sessel und trat ein paar
Schritte zurück. Auf einmal kicherte sie.
Sie kreischte fast. »Wer kann's denn beweisen?
Wer denn wohl? Sie etwa? Wer sind Sie denn? Ein
kleiner Schnüffler, ein Niemand.« Sie brach in ein
schrilles Gelächter aus. »Sie sind doch schon für
zwanzig Dollar zu haben!«
Ich hatte noch immer das Bündel mit den Fotos in
der Hand. Ich riss ein Streichholz an, hielt die
Flamme dran, ließ das brennende Negativ in den
Aschenbecher fallen und sah zu, wie es in einer
Stichflamme verbrannte.
Sie erstarrte, steif vor Entsetzen. Ich fing an, die
Bilder in Fetzen zu reißen. Ich grinste sie an.
»Ein kleiner Schnüffler«, sagte ich. »Bitte, was
wollen Sie denn? Ich habe keine Brüder oder
Schwestern zu verkaufen. Ich verkaufe meine
Klienten.«

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Sie stand steif, mit brennenden Augen. Ich
beendete meine Reißwolf-Arbeit und schob die
Fetzen in den Aschenbecher.
»Nur eines bedaure ich«, sagte ich. »Dass ich nicht
sehen kann, wie Sie ankommen in Manhattan,
Kansas, bei der lieben alten Mutti. Dass ich nicht
sehen kann, wie Sie sich den Tausender teilen. Das
wäre sicher schön anzusehen.«
Ich stocherte mit einem Bleistift in dem
Papierhaufen im Aschenbecher, damit es gut
brannte. Sie kam langsam, schrittweise, an den
Schreibtisch; ihre Augen hafteten fest an dem
glimmenden kleinen Haufen zerrissener Bilder.
»Ich könnte es der Polizei erzählen«, flüsterte sie.
»Ich könnte ihnen viel erzählen. Mir würden sie
glauben.«
»Ich könnte ihnen erzählen, wer Steelgrave
erschossen hat«, sagte ich. »Weil ich weiß, wer es
nicht war. Mir könnten sie auch glauben.«
Der kleine Kopf bog sich ruckartig zurück. Das
Licht funkelte auf den Gläsern. Dahinter waren
keine Augen.
»Keine Angst«, sagte ich, »ich mache es nicht.
Mich würde es nicht genug kosten. Und jemand
anders würde es zuviel kosten.«

- 405 -
Das Telefon klingelte, und sie fuhr zusammen. Ich
drehte mich um, griff danach, drückte mein Gesicht
daran und sagte: »Hallo.«
»Amigo, geht's Ihnen gut?«
Im Hintergrund war ein Geräusch. Ich wandte mich
schnell um und sah, wie die Tür zugezogen wurde.
Ich war allein im Raum.
»Alles in Ordnung, Amigo?«
»Ich bin müde. Ich war die ganze Nacht auf.
Abgesehen
von
»Hat die Kleine Sie angerufen?«
»Die kleine Schwester? Sie war gerade noch hier.
Sie ist auf dem Weg zurück nach Manhattan mit der
Beute.«
»Der Beute?«
»Na, mit dem Taschengeld, das sie von Steelgrave
bekam, weil sie ihren Bruder ausgeliefert hat.«
Eine Stille kam, dann sagte sie ernst: »Das können
Sie ja gar nicht wissen, Amigo.«
»Ich weiß es, so wie ich hier an diesem
Schreibtisch sitze und mich am Telefon festhalte. So
wie ich weiß, dass ich Ihre Stimme höre. Und nicht
ganz so gewiss, aber sicher genug, wie ich weiß, wer
Steelgrave erschossen hat.«

- 406 -
»Sie sind ziemlich unvorsichtig, mir das zu sagen,
Amigo. Ich bin kein Engel. Sie sollten mir nicht so
sehr vertrauen.«
»Ich mache Fehler, aber das wäre keiner. Ich habe
alle Fotos verbrannt. Ich versuchte, sie Orfamay zu
verkaufen. Sie wollte mir nicht genug geben.«
«Sie machen sich sicher lustig, Amigo.«
»So? Über wen denn?«
Ihr Lachen kam glockenartig durch den Draht.
»Würden Sie mit mir essen gehen?«
»Warum nicht? Sind Sie zu Hause?«
»Si.«
»Ich komme bald rüber.«
»Das freut mich aber wirklich.«
Ich legte auf.

Das Spiel war zu Ende. Ich saß im leeren Theater.


Der Vorhang war zu, und schwach darauf projiziert
sah ich die Handlung. Aber schon wurden einige der
Schauspieler undeutlich und unwirklich. Vor allem
die kleine Schwester. In ein paar Tagen würde ich
vergessen haben, wie sie aussah. Denn sie war ja
auch unwirklich. Ich dachte an sie, wie sie
zurückzockelte, nach Manhattan, Kansas, zur lieben
alten Mutti, mit den dicken fetten tausend Dollar in

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ihrer Börse. Ein paar Leute mussten getötet werden,
damit sie sie bekam, aber das würde ihr sicher nicht
lange zu schaffen machen. Ich dachte an sie, wie sie
morgens in das Büro ging – wie hieß der Mann
noch? Richtig, Dr. Zugsmith - und wie sie seinen
Schreibtisch abstaubte, bevor er kam, und die
Zeitschriften im Wartezimmer ordnete. Sie würde
dann ihre randlose Brille tragen, ein einfaches
Kostüm, das Gesicht ohne Make-up, und ihr
Umgang mit den Patienten würde äußerst korrekt
sein.
»Dr. Zugsmith wartet auf Sie, Mrs. Soundso.« Sie
würde die Tür aufhalten, mit einem kleinen Lächeln,
Mrs. Soundso würde an ihr vorbeigehen, und Dr.
Zugsmith würde hinter dem Schreibtisch sitzen und
ungeheuer fachmännisch aussehen mit einem weißen
Kittel und dem Stethoskop, das ihm vom Hals
runterhing.
Eine Patientenakte lag vor ihm, und sein Notizbuch
und sein Rezeptblock lagen schon säuberlich
nebeneinander.
Nichts, was Dr. Zugsmith nicht wusste. Ihn konnte
man nicht täuschen. Er hatte es in seinen
Fingerspitzen. Wenn er einen Patienten betrachtete,
dann kannte er schon die Antworten auf alle Fragen,
die er der Form halber stellte.
Wenn er seine Arzthelferin, Miss Orfamay Quest,
betrachtete, dann sah er eine nette, ruhige junge

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Frau, angezogen, wie es sich für eine Arztpraxis
gehörte, keine roten Fingernägel, kein grelles Make-
up, nichts, was einen konservativen Kunden
erschrecken konnte. Eine ideale Arzthelferin. Miss
Quest.
Wenn Dr. Zugsmith an sie dachte, dann mit
Selbstzufriedenheit. Er hatte aus ihr gemacht, was
sie war. Sie war genau das, was der Doktor
verordnet hatte.
Sehr wahrscheinlich hatte er ihr noch keinen
unzüchtigen Antrag gemacht. Vielleicht machen sie
das nicht in den kleinen Städten. Haha! Ich war in so
einer Stadt auf gewachsen.
Ich setzte mich anders hin, sah auf meine Uhr, und
dann holte ich endlich die Flasche Old Forester aus
dem Fach. Ich roch dran. Es roch gut. Ich goss mir
einen kräftigen Schuss ein und hielt ihn gegen das
Licht.
»Hören Sie, Dr. Zugsmith«, sagte ich laut, so als
ob er auf der anderen Seite des Schreibtisches säße,
mit einem Glas in der Hand, »ich kenne Sie nicht
sehr gut, und Sie kennen mich gar nicht.
Normalerweise gebe ich Fremden keine Ratschläge,
aber ich bekam eine kurze, aber kräftige Lektion von
Miss Orfamay Quest, und deshalb breche ich meine
eigene Regel. Wenn dieses kleine Mädchen mal ir-
gendwas von Ihnen haben will, geben Sie's ihr
schnell. Stehen Sie nicht rum und brabbeln über Ihre

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Einkommensteuer und Ihre Unkosten. Legen Sie nur
ein Lächeln auf und rücken Sie's raus. Lassen Sie
sich nicht auf irgendwelche Diskussionen ein, wem
was gehört. Sorgen Sie dafür, dass Mädchen
zufrieden ist, das ist die Hauptsache. Hick, Doktor,
und lassen Sie keine Harpunen in der Praxis
herumliegen.« Ich trank die Hälfte von meinem
Drink und wartete, dass er mich warm machte.
Danach trank ich die andere Hälfte und steckte die
Flasche weg.
Ich klopfte die alte Asche aus meiner Pfeife und
füllte sie wieder aus einem ledernen Frischhalte-
beutel, den mir ein Bewunderer zu Weihnachten
geschenkt hatte; der Bewunderer hieß zufällig genau
wie ich.
Nach dem Füllen zündete ich die Pfeife an,
sorgsam, ohne Eile, und dann ging ich hinaus und
durch den Korridor, forsch und mannhaft wie ein
Engländer nach der Tigerjagd.

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34

Das Chateau Bercy war alt, aber renoviert. Es hatte


eine Lobby, in die Gummibäume und Plüsch gehört
hätten; stattdessen gab es Glasziegel, indirekte
Beleuchtung, dreieckige Glastische. Sie sah aus, als
hätte ein Kurzurlauber aus der Klapsmühle sie
ausgestattet. Die Farbgebung war Gallegrün,
Leinsamenmusbraun, Trottoirgrau und Affenhintern-
blau. Es wirkte so erquickend wie eine geplatzte
Lippe.
Die kleine Theke war leer, aber der Spiegel
dahinter konnte durchsichtig sein, deshalb versuchte
ich lieber nicht, zur Treppe zu schleichen. Ich
läutete, und ein dicker, weicher Mann quoll von
hinten hervor und lächelte mich an, mit feuchten
weichen Lippen, bläulich weißen Zähnen und
unnatürlich hellen Augen.
»Miss Gonzales, bitte«, sagte ich. »Heiße
Marlowe. Sie erwartet mich.«
»Aber gewiss«, sagte er gestenreich. »Sicher,
gewiss. Ich rufe sofort hinauf.«
Seine Stimme gestikulierte auch.
»Ja, Mr. Marlowe. Miss Gonzales sagt, Sie sollen
gleich raufkommen. Apartment 412.« Er kicherte.
»Aber Sie wissen das wohl.«

- 411 -
»Jetzt weiß ich's«, sagte ich. »Übrigens, waren Sie
letzten Februar hier?«
»Letzten Februar? Letzten Februar? O ja, letzten
Februar war ich hier.« Er buchstabierte es förmlich.
»Wissen Sie noch – die Nacht, als Stein hier
draußen getötet wurde?«
Das Lächeln verschwand eilig aus dem fetten
Gesicht. »Sind Sie ein Polizeibeamter?« Seine
Stimme war jetzt dünn und quietschig.
»Nein. Aber Ihre Hose ist offen, wenn Sie
erlauben.«
Er sah entsetzt nach unten und zog den
Reißverschluss hoch - seine Hände zitterten fast.
»Oh, vielen Dank«, sagte er. »Ich danke Ihnen.« Er
beugte sich über die Theke. »Es war nicht hier
draußen«, sagte er. »Also nicht genau. Es war fast an
der nächsten Ecke.«
»Er lebte hier, stimmt's?«
»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.
Wirklich, ich möchte nicht drüber sprechen.« Er
hielt inne und wischte sich mit seinem Taschentuch
über die Unterlippe. »Warum fragen Sie?«
»Bloß, damit Sie weitersprechen. Sie sollten ein
bisschen vorsichtiger sein, Mann. Ich rieche es an
Ihrem Atem.«

- 412 -
Die Röte ergoss sich über sein ganzes Gesicht bis
zum Hals. »Wenn Sie sagen wollen, dass ich
getrunken habe …«
»Nur Tee«, sagte ich. »Und nur geraucht.«
Ich wandte mich ab. Er war still. Als ich den Lift
erreicht hatte, schaute ich zurück. Er stand da, die
Arme aufgestützt, den Hals verbogen, um mir
nachzusehen. Sogar aus dieser Entfernung schien er
zu zittern.
Der Lift war mit Selbstbedienung. Der vierte Stock
war ein kaltes Grau, dicker Teppich. Ein kleiner
Klingelknopf war neben Apartment 412. Drinnen
läutete es glockenartig. Sofort wurde die Tür
aufgemacht. Ihre herrlichen tiefen Augen sahen
mich an, und der dunkelrote Mund lächelte wich an.
Schwarze Hosen und das feuerfarbene Hemd, genau
wie gestern Abend.
»Amigo«, sagte sie weich. Sie streckte ihre Arme
aus. Ich griff nach ihren Handgelenken, bog sie
zusammen und ließ die Handflächen sich berühren.
Einen Augenblick machte ich Backe-Backe-Kuchen
damit. Der Ausdruck ihrer Augen war feurig und
sehnsüchtig zugleich.
Ich ließ ihre Handgelenke los, schloss die Tür mit
meinem Ellbogen und schlüpfte an ihr vorbei. Es
war wie beim ersten Mal.

- 413 -
»Sie müßten sie versichern lassen«, sagte ich, und
berührte eine davon. Sie war ganz schön konkret.
Die Brustwarze so hart wie Rubin.
Sie brach in ihr lustiges Lachen aus. Ich ging
weiter und sah mir alles an. Es war französisch grau
und staubblau. Nicht ihre Farben, aber sehr nett.
Einen nachgemachten Kamin gab es, ausreichend
Tische und Stühle und Lampen, aber nicht zu viele.
In der Ecke war ein kleines, hübsches Kühlfach.
»Magst du mein kleines Apartment, Amigo?«
»Sagen Sie nicht kleines Apartment. Das klingt
auch wieder nach Nutte.«
Ich sah sie nicht an. Ich wollte sie nicht ansehen.
Ich setzte mich auf eine Couch und rieb mit der
Hand über meine Stirn.
»Vier Stunden Schlaf und ein paar Drinks«, sagte
ich. »Mehr brauchte ich nicht, um Ihnen wieder
Unsinn zu erzählen. Zurzeit habe ich kaum die
Kraft, was Vernünftiges zu sagen. Aber ich muss.«
Sie kam her und setzte sich nahe zu mir. Ich
schüttelte den Kopf. »Dort rüber bitte. Ich muss
wirklich vernünftig reden.«
Sie setzte sich gegenüber und sah mich an, mit
ernsten, dunklen Augen. »Aber bitte, Amigo, wie
Sie es wünschen. Ich bin Ihr Mädchen, wenigstens
wäre ich es gern.«
»Wo haben Sie in Cleveland gelebt?«

- 414 -
»In Cleveland?« Ihre Stimme war sehr weich, fast
zärtlich. »Habe ich gesagt, dass ich in Cleveland
gelebt habe?«
»Sie haben gesagt, Sie haben ihn dort gekannt.«
Sie dachte nach und nickte. »Ich war damals
verheiratet, Amigo. Was ist denn los?«
»Sie haben also wirklich damals in Cleveland
gelebt?«
»Ja«, sagte sie sanft.
»Und Steelgrave haben Sie wie kennen gelernt?«
»Damals war es einfach so: es war schick, einen
Gangster zu kennen. Wohl eine Art umgekehrter
Snobismus. Man besuchte die Lokale, wo die
angeblich hingingen, und wenn man Glück hatte,
eines Abends vielleicht…«
»Sie haben sich von ihm mitnehmen lassen.«
Sie nickte kräftig. »Sagen wir lieber: ich nahm ihn
mit. Er war ein sehr netter, kleiner Mann. Wirklich.«
»Und was war mit dem Ehemann? Ihrem
Ehemann? Oder wissen Sie nicht mehr?«
Sie lächelte. »Die Straßen dieser Welt sind
gepflastert mit abgelegten Ehemännern«, sagte sie.
»Die reine Wahrheit, nicht wahr? Man trifft sie
überall. Sogar in Bay City.«
Damit erreichte ich nichts. Sie zuckte höflich die
Achseln. »Wird schon stimmen.«

- 415 -
»Vielleicht ist er sogar ein Absolvent der
Sorbonne. Vielleicht dämmert er sogar in einer
miesen Kleinstadtpraxis dahin. Wartet und hofft. So
einen Zufall möchte ich richtig auskosten. Er hat
was Poetisches.«
Das höfliche Lächeln blieb unverändert auf ihrem
schönen Mädchengesicht.
»Wir haben uns auseinander gelebt«, sagte sie.
»Weit auseinander. Und dabei haben wir uns eine
Zeitlang so gut vertragen.«
Ich blickte auf meine Finger. Mein Kopf tat mir
weh. Ich ühlte mich nicht mal vierzig Prozent auf
der Höhe. Sie reichte mir eine Zigarettendose aus
Kristall, und ich nahm mir eine. Sie klemmte sich
eine in den goldenen Halter. Sie nahm sie aus einer
anderen Schachtel.
»Ich möchte gern eine von Ihren probieren«, sagte
ich.
»Aber mexikanischer Tabak ist den meisten zu
stark.«
»Wenn es nur Tabak ist«, sagte ich und
beobachtete sie. Ich gab mir einen Ruck. »Nein. Sie
haben Recht. Es würde mir nicht schmecken.«
»Was bedeutet wohl diese kleine Neben-
handlung?« fragte sie vorsichtig.
»Der Kerl am Empfang raucht Gras.«

- 416 -
Sie nickte langsam. »Ich habe ihn gewarnt«, sagte
sie. »Mehr als einmal.«
»Amigo«, sagte ich.
»Was?«
»Sie sprechen nicht viel Spanisch, oder? Vielleicht
können Sie sonst nichts. Das ›Amigo‹ ist schon
abgewetzt.«
»Es soll doch nicht wieder wie gestern werden,
nicht wahr?« sagte sie langsam.
»Nein, es soll nicht. Das einzige ›Mexikanische‹ an
Ihnen sind ein paar Worte und eine umständliche Art
zu reden, damit man denken soll, es sei jemand, der
die Sprache erst lernen musste. Jemand, der ›nicht
wahr‹ sagt, was sonst kein Mensch sagt, normaler-
weise.«
Sie antwortete nicht. Sie paffte leicht an ihrer
Zigarette und lächelte.
»Ich habe großen Ärger in der Stadt«, fuhr ich fort.
»Anscheinend war Miss Weld vernünftig genug, es
ihrem Chef zu erzählen - Julius Oppenheimer -, und
der unternahm etwas. Besorgte ihr Lee Farrell. Ich
glaube nicht, dass sie glauben, dass sie Steelgrave
erschossen hat. Aber sie glauben, dass ich weiß, wer
ihn erschossen hat, und sie mögen mich nicht mehr.«
»Und weißt du es, Amigo?«
»Ich hab Ihnen doch am Telefon gesagt, ich weiß
es.«

- 417 -
Sie sah mich lange und gleichmäßig an. »Ich war
dort.« Diesmal hatte ihre Stimme einen trockenen
und ernsten Klang.
»Es war wirklich ziemlich komisch. Das kleine
Mädchen wollte mal eine Spielhölle sehen. Sie hatte
noch nie so was gesehen, und in der Zeitung hatte
…«
»Wohnte sie hier - bei Ihnen?«
»Nicht in meinem Apartment, Amigo. In einem
Zimmer, das ich hier für sie besorgt habe.«
»Kein Wunder, dass sie mir's nicht erzählen
wollte«, sagte ich. »Aber Sie haben sicher keine Zeit
gehabt, ihr das Geschäft beizubringen.«
Sie runzelte ein bisschen die Stirn und bewegte die
braune Zigarette durch die Luft. Ich beobachtete die
Schrift des Rauches, eine unleserliche Schrift.
»Bitte, lass das. Wie gesagt, sie wollte in dieses
Haus. Also rief sie ihn an, und er sagte, er würde
auch kommen. Als wir hinkamen, war er betrunken.
Ich habe ihn nie vorher betrunken gesehen. Er
lachte, legte seinen Arm um Klein-Orfamay und
sagte zu mir, sie hätte ihr Geld wirklich verdient. Er
sagte, er hätte was für sie, dann zog er ein Bündel
Geldscheine aus seiner Tasche, das in ein Stück
Stoff gewickelt war. Als sie es auswickelte, war ein
Loch in dem Stoff, und das Loch war mit Blut
befleckt.«

- 418 -
»Das war nicht nett«, sagte ich. »Ich würde nicht
mal sagen, es war typisch.«
»Sie kannten ihn nicht sehr gut.«
»Stimmt auch wieder. Weiter.«
»Klein-Orfamay nahm das Geldbündel, starrte es
an, starrte dann ihn an, und ihr kleines weißes
Gesicht war sehr still. Dann dankte sie ihm, öffnete
ihre Tasche, um das Geld reinzustecken - wie ich
glaubte -, es war alles sehr merkwürdig…«
»Zum Schreien«, sagte ich. »Ich hätte am Boden
gelegen vor Lachen.«
»- aber statt dessen nahm sie einen Revolver aus
ihrer Tasche. Es war ein Revolver, den er Mavis
gegeben hatte, glaube ich. Er sah aus wie …«
»Ich weiß genau, wie er aussah«, sagte ich. »Ich
hatte ein paar davon, zum Spielen.«
»Sie drehte sich um und erschoss ihn mit einem
Schuss. Es war sehr dramatisch.«
Sie steckte die braune Zigarette wieder in ihren
Mund und lächelte mich an. Ein sonderbares,
abwesendes Lächeln, als dächte sie an etwas, das
weit weg war.
»Sie haben sie dazu gebracht, dass sie es Mavis
Weld gestand«, sagte ich.
Sie nickte.
»Ihnen hätte Mavis wohl nicht geglaubt.«

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»Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen.«
»Es waren nicht zufällig Sie, die Orfamay die
Tausend gegeben hat, oder - Liebling? Damit sie es
sagte? Sie ist so ein kleines Mädchen, das für
tausend Dollar allerhand machen würde.«
»Darauf gebe ich keine Antwort«, sagte sie
würdevoll.
»Nein. Und gestern Abend, als Sie mich da
rausgebracht haben, da wußten Sie schon, dass
Steelgrave tot war und nichts mehr zu befürchten
war, und das ganze Theater mit dem Revolver war
nur Theater.«
»Ich spiele nicht gern den lieben Gott«, sagte sie
weich. »Es war eben diese Situation, und ich wusste,
irgendwie würden Sie Mavis da heraushelfen. Es
gab sonst niemanden, der das konnte. Mavis wollte
unbedingt die Schuld auf sich nehmen.«
»Ich hätte doch gern einen Drink«, sagte ich. »Ich
bin kaputt.«
Sie sprang auf und ging zu dem kleinen Kühlfach.
Sie kehrte mit ein Paar riesengroßen Gläsern voll
Scotch und Wasser zurück. Sie reichte mir eines und
beobachtete mich über das Glas, als ich probierte. Es
war herrlich, und ich trank etwas mehr. Sie versank
wieder in ihrem Sessel und griff nach dem goldenen
Halter.

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»Ich jagte sie fort«, sagte ich dann. »Also Mavis –
ich spreche von Mavis. Sie erzählte mir, sie habe ihn
erschossen. Sie hatte den Revolver. Das Gegenstück
von dem, den Sie mir gegeben hatten. Sie haben
wohl nicht bemerkt, dass der von Ihnen benutzt
worden war.«
»Ich weiß sehr wenig über Revolver«, sagte sie
sanft.
»Klar. Ich zählte die Patronen darin, und
angenommen, dass er am Anfang voll war, waren
zwei abgefeuert worden. Quest war mit zwei
Schüssen aus einer .32er Automatic getötet worden.
Das gleiche Kaliber. Ich habe mir die leeren Hülsen
aus der Bude dort unten mitgenommen.«
»Wo unten, Amigo?«
Es ging mir allmählich auf die Nerven. Zuviel
Amigo, viel zuviel.
»Natürlich konnte ich nicht wissen, dass es
dieselbe Waffe war, aber man konnte es versuchen.
Nur alles ein bisschen durcheinander bringen und
Mavis das Hintertürchen aufmachen. Also
vertauschte ich die Pistolen, die er bei sich hatte, und
legte die seine hinter die Bar. Die seine war eine
schwarze .38. So was, das er eher bei sich haben
konnte, wenn er überhaupt eine bei sich hatte. Sogar
auf einem geriffelten Griff kann man Abdrücke
machen, aber auf einem Elfenbeingriff muß man

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links ein paar sehr gute Abdrücke hinterlassen. So
eine Waffe würde Steelgrave nie tragen.«
Ihre Augen waren rund und leer und verwirrt. »Ich
fürchte, ich komme da nicht ganz mit.«
»Und wenn er einen Menschen erschoss, dann
schoss er ihn tot und prüfte nach, ob er tot war. Aber
dieser Bursche stand auf und wanderte noch ein
Stück.«
Ein kurzes Aufleuchten erschien in ihren Augen
und war fort.
»Ich würde sogar sagen, daß er noch etwas geredet
hat«, fuhr ich fort. »Aber das hat er nicht. Seine
Lungen waren randvoll mit Blut. Er starb vor
meinen Füßen. Da unten.«
»Aber wo unten? Du hast mir nicht gesagt, was das
war, wo das…«
»Muß ich das?«
Sie nippte an ihrem Glas. Sie lächelte. Sie stellte
ihr Glas ab. Ich sagte: »Sie waren dabei, als Klein-
Orfamay ihm sagte, wo er hingehen musste.«
»O ja, natürlich.« Gut reagiert. Schnell und klar.
Aber ihr Lächeln wirkte ein bisschen müde.
»Nur dass er nicht ging«, sagte ich.
Die Zigarette hielt an, mitten in der Bewegung.
Das war alles. Sonst nichts. Sie bewegte sich
langsam an ihre Lippen. Sie paffte damenhaft.

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»So lagen doch die Dinge von Anfang an«, sagte
ich. »Nur ich wollte es nicht glauben, obgleich ich es
direkt vor der Nase hatte. Steelgrave ist Weepy
Moyer. Das ist klar, oder nicht?«
»Absolut. Und man kann es beweisen.«
»Steelgrave hat sich gebessert, und es geht ihm gut.
Da kommt dieser Stein daher und macht
Schwierigkeiten; will einen Anteil. Nur meine
Vermutung, aber so etwa spielt sich so was ab. Also
gut, Stein muss weg. Steelgrave will niemand töten -
er war nie unter Mordverdacht. Die Polypen von
Cleveland kamen nicht, um ihn zu fangen. Bei
Gericht lag nichts vor. Keine Geheimnisse — nur
dass er eben bei irgendeiner Bande mal eine Rolle
gespielt hatte. Aber Stein musste er loswerden. Also
lässt er sich einsperren. Und dann besticht er den
Gefängnisarzt, kommt heraus, tötet Stein und geht
sofort wieder ins Gefängnis. Sobald der Mord be-
kannt wurde, musste der Jemand, der ihn
rausgelassen hat, alles tun, um alle Indizien dafür zu
vernichten. Weil die Polypen rüberkommen und
allerhand fragen würden.«
»Ganz natürlich, Amigo.«
Ich sah sie an; man sah noch keine Sprünge.
»So weit, so gut. Aber dieser Bursche hatte ja
schließlich ein bisschen Grips. Warum sorgte er
dafür, dass sie ihn zehn Tage lang ins Gefängnis
sperrten? Nummer eins, um sich ein Alibi zu

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besorgen. Nummer zwei, weil er wusste, daß die
Frage seiner Identität mit Weepy Moyer früher oder
später aufkommen würde - also, warum ihnen nicht
die Gelegenheit geben, damit die Sache
ausgestanden war? Damit sie nicht jedes Mal, wenn
wieder einer von den Ganoven in diese Gegend hier
verschlagen wurde, versuchten, Steelgrave
Hereinzuziehen und ihm was anzuhängen.«
»Gefällt dir die Idee, Amigo?«
»Ja. Sehen Sie doch mal. Warum soll er
ausgerechnet an dem Tag in einem Restaurant zum
Essen gehen, an dem er aus dem Bau kam, um Stein
umzulegen? Und wenn er das schon machte, wieso
war gerade an dem Tag Quest in der Gegend, um das
Foto zu knipsen? Stein war noch nicht tot, also
bewies das Bild nichts. Ich hab's gern, wenn Leute
Glück haben, aber das ist zu viel Glück. Noch mal:
auch wenn Steelgrave nicht merkte, dass das Bild
geknipst wurde, so wusste er doch, wer Quest war.
Er muss es gewusst haben. Quest hatte seine
Schwester wegen Geld angezapft, seit er arbeitslos
war, vielleicht schon vorher. Steelgrave hatte einen
Schlüssel für ihr Apartment. Er muss also irgendwas
über diesen Bruder gewusst haben. Aus alle dem
lässt sich ableiten: gerade in dieser Nacht hätte
Steelgrave Stein bestimmt nicht erschossen - auch
wenn er es ursprünglich wollte.«

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»Und jetzt muss ich wohl fragen, wer es dann
war«, sagte sie höflich.
»Jemand, der Stein kannte und an ihn herankonnte.
Jemand, der schon wusste, dass das Foto geknipst
worden war, der wusste, wer Stein war, der wusste,
dass Mavis Weld nahe dran war, ein großer Star zu
werden, der wusste, dass ihr Umgang mit Steelgrave
gefährlich war, und wusste, dass es noch tausendmal
gefährlicher wäre, wenn man Steelgrave den Mord
an Stein anhängen würde. Jemand, der Quest kannte,
weil er ihm in Mavis Welds Apartment begegnet
war und ihn dort zusammengestaucht hatte – und der
war ein Junge, der durch eine solche Behandlung aus
jeder Fassung gebracht wurde. Der wusste, dass
diese -32er mit den Elfenbeingriffen auf den Namen
Steelgrave registriert waren, obwohl er sie nur als
Geschenk für einige Mädchen gekauft hatte, und er
selbst, wenn er einen Revolver trüge, sie nicht
registriert hätte, damit sie nicht mit ihm in Verbin-
dung gebracht werden konnte. Der wusste …«
»Halt!« Ihre Stimme war ein scharfes Messer, aber
weder furchtsam noch zornig. »Hören Sie jetzt
sofort auf, bitte! Ich kann das keine Minute länger
anhören. Gehen Sie jetzt!«
Ich stand auf. Sie war zurückgelehnt, an ihrem
Hals pulsierte das Blut. Sie war hinreißend, sie war
dunkel, sie war tödlich. Und nichts konnte ihr etwas
anhaben, nicht einmal das Gesetz …

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»Warum haben Sie Quest getötet?« fragte ich sie.
Sie stand auf und trat auf mich zu, jetzt wieder
lächelnd.
»Aus zwei Gründen, Amigo. Er war etwas mehr als
ein bisschen irre – er hätte am Ende mich getötet.
Und der andere Grund ist, dass es in der ganzen
Sache nicht ums Geld ging, absolut nicht ums Geld.
Es ging um Liebe.«
Ich war nahe dran, ihr ins Gesicht zu lachen. Aber
ich lachte nicht. Sie war todernst. Es war wirklich
das Letzte!
»Wie viele Männer eine Frau auch haben mag«,
sagte sie sanft, »immer gibt es einen, den sie unter
keinen Umständen an eine andere Frau verlieren
kann. Er war es.«
Ich starrte ihr nur in ihre herrlichen dunklen
Augen. »Ich glaube Ihnen«, sagte ich schließlich.
»Küss mich, Amigo.«
»Lieber Gott!«
»Ich brauche Männer, Amigo. Aber der Mann, den
ich geliebt habe, ist tot. Ich habe ihn getötet. Ich
wollte ihn mit niemandem teilen.«
»Da haben Sie lange gewartet.«
»Ich bin nicht ungeduldig – solange es Hoffnung
gibt.«
»Blödsinn.«

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Sie lächelte ein schönes, freies, absolut natürliches
Lächeln. »Und du, mein Herzchen, du kannst in der
ganzen Sache nichts mehr tun, außer du willst Mavis
Weld endgültig kaputtmachen.«
»Gestern Abend hat sie gezeigt, daß sie bereit war,
sich selbst kaputtzumachen.«
»Falls sie nicht Theater gespielt hat.« Sie sah mich
scharf an und lachte. »Das hat weh getan, nicht
wahr? Du liebst sie.«
Ich sagte langsam: »Das wäre ziemlich idiotisch.
Ich könnte mit ihr im Dunkeln sitzen und Händchen
halten, aber wie lange? Nach einiger Zeit wird sie
doch abschwimmen, in den schimmernden Dunst
von Luxus, teuren Kleidern, Seichtheit, Unwirk-
lichkeit und wohldosiertem Sex. Sie wird kein
wirklicher Mensch mehr sein. Nur eine Stimme von
der Tonspur, ein Gesicht auf der Leinwand. Ich
brauche mehr als das.«
Ich bewegte mich dem Ausgang zu, ohne ihr den
Rücken zuzukehren. Nicht, dass ich einen Schlag
erwartete. Ich glaubte, sie wollte mich lieber so, wie
ich war - unfähig, irgendetwas in der Angelegenheit
zu tun.
Ich schaute zurück, als ich die Tür öffnete.
Schlank, dunkel und mit einem schönen Lächeln.
Sex aus allen Poren. Absolut jenseits aller
moralischen Regeln oder sonst einer vorstellbaren
Welt.

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Sie war schon was Tolles. Ich ging ruhig hinaus.
Sehr leise erreichte mich ihre Stimme, als ich die
Tür schloss.
»Querido - ich habe Sie sehr gern gehabt. Es ist ein
Jammer.«
Ich schloß die Tür.
Als der Fahrstuhl im Erdgeschoß hielt und die Tür
aufging, stand ein Mann und wartete. Er war groß
und dünn, und sein Hut war tief über seine Augen
gezogen. Es war ein warmer Tag, aber er trug einen
dünnen Mantel mit hochgeschlagenen Kragen. Sein
Kinn hatte er eingezogen.
»Dr. Lagardie«, sagte ich leise.
Er warf einen Blick auf mich, ohne mich zu
erkennen. Er betrat den Lift. Ich beeilte mich.
Ich ging rüber zum Empfangspult und hieb auf die
Klingel. Der dicke, fette, weiche Mann kam heraus
und stand da mit einem schmerzhaften Lächeln auf
dem schlaffen Mund. Seine Augen waren nicht ganz
so hell.
»Das Telefon!«
Er griff nach unten und stellte es auf die Theke. Ich
wählte Madison 7911. Die Stimme sagte: »Polizei.«
Es war der Notruf.
»Chateau Bercy Apartments, Ecke Franklin und
Girard in Hollywood. Ein Mann namens Dr. Vincent
Lagardie ist gerade in das Apartment 412 gegangen.

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Er wird von den Beamten der Mordkommission
French und Beifus zum Verhör gewünscht. Hier
spricht Philip Marlowe, ein Privatdetektiv.«
»Ecke Franklin und Girard. Warten Sie dort bitte.
Sind Sie bewaffnet?«
»Ja.«
»Halten Sie ihn fest, wenn er versucht zu
entkommen.«
Ich legte auf und wischte mir den Mund. Der dicke
Weichling lehnte an der Theke, blass um die Augen.
Sie kamen schnell, aber nicht schnell genug.
Vielleicht hätte ich ihn anhalten sollen. Vielleicht
hatte ich eine Ahnung, was er tun wollte, und ließ es
ihn einfach tun. Manchmal, wenn ich deprimiert bin,
versuche ich mir klar darüber zu werden. Aber es ist
zu kompliziert. Die ganze verdammte Affäre war so.
An keinem Punkt konnte ich einfach normal und
selbstverständlich handeln, gleich musste ich wieder
anhalten und mir den Kopf zerbrechen, wie es sich
nun wieder auf irgend jemanden auswirken würde,
dem ich etwas schuldete.
Als sie die Tür aufbrachen, saß er auf der Couch
und hielt sie an sein Herz gedrückt. Seine Augen
waren blind, und blutiger Schaum stand auf seinen
Lippen. Er hatte sich die Zunge durchgebissen.
Unter ihrer linken Brust, dicht an der feuerfarbenen
Bluse, steckte der Silbergriff eines Messers, das ich

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schon mal gesehen hatte. Der Griff hatte die Form
einer nackten Frau. Die Augen von Miss Dolores
Gonzales standen halb offen, und auf ihren Lippen
war ein schwacher Hauch eines herausfordernden
Lächelns.
»Das Lächeln des Hippokrates«, sagte der
Ambulanzarzt und seufzte. »Es steht ihr gut.«
Er warf einen Blick auf Dr. Lagardie, der nichts
sah und nichts hörte, wenn man nach seinem Gesicht
urteilte.
»Ich glaube, hier ging ein Traum zu Ende«, sagte
der Arzt. Er beugte sich vor und drückte ihr die
Augen zu.

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