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Enzyklopädie der Neuzeit Online

Jakobinismus
(3,225 words)

1. Begri ichkeit
Article Table of Contents
J. ist ein kontroverser, ideologisch belasteter politisch-
1. Begri ichkeit
histor. Begri f. Er entwickelte sich aus der
Kurzbezeichnung der Pariser Société des Amis de la 2. Das französische »Modell«
Constitution (»Gesellschaft der Freunde der Verfassung«) 3. Europäische Varianten
nach ihrem Sitzungssaal im aufgelösten Kloster der 4. »Jakobiner« im deutschen
Dominikaner (Jacobins) in der Rue Saint-Honoré. Sprachraum
Engstens mit der »Jakobinerdiktatur« von 1793/94 in 5. Zwischen »Fanatismus«
Frankreich verbunden, gilt der J. als ein Kernelement der und Demokratie
Französischen Revolution. Ob Historiker den franz. J.
kritisch als totalitäre »Maschinerie« [15], wertneutral als
treibende Kraft der revolutionären Radikalisierung,
engagiert als Modell einer sozialen Politik [36], oder gar als Vorbild der kommunistischen
Parteidiktatur ( Karl Marx, Lenin; Kommunismus) verstehen – übereinstimmend betonen sie
den theoretisch-moralischen Rigorismus des J., seinen politischen Absolutheitsanspruch,
seinen organisatorischen und staatlichen Zentralismus.

Obwohl die von Frankreich angeregten demokratischen Bestrebungen des revolutionären


Jahrzehnts im übrigen Europa weder den hohen Organisationsgrad noch die Machtstellung des
franz. J. erreichten, wurden und werden sie ebenfalls unter demselben Terminus des J.
subsumiert [31]; [32]; [12]: Zunächst ein Schimpfwort der zeitgenössischen Gegner, avancierte J.
seit etwa 1950 international zum Leitbegri f der marxistischen, später auch der westdt.
Revolutionsforschung bei ihrer Suche nach dem »demokratischen Erbe« [38].

Rolf Reichardt

2. Das französische »Modell«

Der Pariser Jakobinerklub [2] entstand im Frühjahr 1789 aus informellen Tre fen der
bretonischen Abgeordneten der Nationalversammlung (Club breton), denen sich andere
Deputierte anschlossen, um sich für die Debatten im Parlament abzustimmen. Nach den /
Statuten von 1790/91 konnten nur Männer Mitglied werden, die fünf Gewährsleute beibrachten
sowie eine Eintrittsgebühr von 12 und einen Jahresbeitrag von 24 Livres bezahlten. Die
idealistischen Ziele des Klubs lauteten: einheitliche Meinungsbildung durch o fene Diskussion,
Treue zur künftigen Verfassung, Au lärung des Volkes. Schnell von 200 auf etwa 1 200
Mitglieder (darunter viele Nichtparlamentarier) anwachsend, spaltete sich der Klub im
Sommer 1791 unter dem Schock des Fluchtversuchs Ludwigs XVI. und seiner Familie sowie des
Marsfeldmassakers in eine gemäßigte Mehrheit (Club des Feuillants) und eine republikanische
Minderheit. Doch diese konnte im Herbst 1791 unter Maximilien Robespierres Führung ihre
Schwäche in der Hauptstadt durch die A liation und Neugründung von insgesamt 552
Tochtergesellschaften in der Provinz kompensieren: eine Mobilisierung von
Revolutionsaktivisten, die im Frühjahr 1794 mit etwa 6 000 Klubs ihren Höhepunkt erreichte
und die Jakobiner zur landesweit herrschenden politischen Kraft machte [22. Bd. 1–2].

Das parlamentarische Debattierkollegium hatte sich in einen Verbund militanter Klubs


verwandelt. Politisch wie sozial nahmen die überwiegend bürgerlichen Jakobiner somit eine
spannungs- und kon iktreiche revolutionäre Mittelposition ein: zwischen den Montagnards
(Bergpartei) im Konvent auf der einen und den Sansculotten mit ihren Volksgesellschaften und
Sektionsversammlungen auf der anderen Seite [28]. Nach dem Sturz Robespierres am 9.
Thermidor (27./28. Juli 1794) wurden zwar die meisten Klubs geschlossen und ihre Mitglieder
verfolgt, aber 1797–1799 erlebten sie eine kurze Renaissance [16].

Dass der franz. J. die Revolution stärker prägte als konkurrierende Gruppierungen, verdankte er
seiner überragenden Potenz auf drei komplementären innenpolitischen Feldern: Zum Ersten
verstanden es seine Wortführer, allen voran Robespierre, sich fünf Jahre lang rhetorisch als die
reinsten, kompromisslosen Vorkämpfer der nationalen Wohlfahrt zu inszenieren, auch auf die
sozialen Forderungen der Sansculotten einzugehen und sich so immer wieder an die Spitze der
revolutionären Radikalisierung zu setzen [20]. Dies bedingte eine ständige Kontrolle und
Neuformulierung der politischen Grundpositionen, die sich in regelmäßigen ideologischen
Überprüfungen der Klubmitglieder und in regelrechten Säuberungen niederschlugen (vgl.
Abb. 1).

Zweitens verfügten die Jakobiner mit ihrem dichten Netz


von Tochtergesellschaften über ein einzigartiges
Verteilersystem für ihre politischen Richtlinien in Form
von Briefen, Zirkularadressen und einer eigenen Zeitung,
dem Journal de la Montagne (»Bergzeitung«). Damit
förderten sie drittens landesweit eine massenhafte
Mobilisierung radikaler Deputationen, Korrespondenzen
und Konventsadressen, die sie in Paris gezielt als
Machtinstrument einzusetzen wussten [11]. Erst ein Blick
in das reich dokumentierte Innenleben beispielsweise der Abb. 1: Der Säuberungskessel der
»Verfassungsfreunde« von Tulle im Département Corrèze Jakobiner 1793 (anonyme
[29] oder der Jacobins der Normandie und des Elsass [34]; kolorierte Radierung, 1794). Die
[25] macht deutlich, mit welcher Intensität die Bildsatire entstand anlässlich
/
provinzialen Jakobiner sich auch untereinander durch Robespierres Konventsrede vom
Korrespondenzen und Besuche vernetzten und 12. 12. 1793 gegen den
kontrollierten, Zeitungen rezipierten, diskutierten und revolutionsbegeisterten
produzierten, Grundsatzdebatten über die revolutionären Anacharsis Cloots aus Kleve, der
Schlüsselereignisse führten (Septembermorde, Krieg in als reicher dt. Bankier aus dem
der Vendée etc.), eigene Initiativen zur Brotversorgung Pariser Jakobinerklub
oder »Missionierung« des platten Landes (politische auszustoßen sei. Hier überprüft
Katechismen) ergri fen, »Verdächtige« verfolgten oder Robespierre, mit
den Kult der »Freiheitsmärtyrer« Le Peletier und Jean- Jakobinermütze (tatsächlich trug
Paul Marat feierten (Freiheitshelden). Der damit er nur seine Perücke),
verbundene ideologische Rigorismus schien es zu Fleischermesser (unter der
rechtfertigen, Andersdenkende zu ihrem »Glück« zu Schürze) und Lupe ausgerüstet,
zwingen, und bildete eine wesentliche Grundlage der kritisch die im Wasserkessel
Terreur. abgesonderten verdächtigen
Mitglieder. Gerade hat er Cloots
Rolf Reichardt herausge scht und sieht seinen
Verdacht bestätigt: Aus dessen
3. Europäische Varianten Taschen fallen
Bestechungsgelder. Die
Außerhalb seines Ursprungslandes blieb der J. zumeist
Karikatur verbildlicht die
eine üchtige Erscheinung, weil die revolutionären
zunehmende Praxis auch der
Rahmenbedingungen nur ansatzweise vorhanden waren
provinzialen franz.
oder fehlten. Dennoch sind in dichter Zeitfolge und über
Jakobinerklubs, ihre Mitglieder
weite Entfernungen so viele parallele Ansätze zu
turnusmäßig auf Treue zur
beobachten, dass man von einer Modellwirkung des
Revolution zu überprüfen und
franz. J. sprechen kann. So gelang es dem poln. General
im Zweifelsfall auszuschließen.
Tadeusz Kościuszko, in Krakau nach dem Muster der
Pariser Jakobinerdiktatur eine Revolutionsregierung zu
organisieren (März–Oktober 1794), bis seine Armee der russ.-preuß. Übermacht unterlag [26].
Für das gleiche Ziel der nationalen Unabhängigkeit organisierten ungar. Intellektuelle unter
Führung von Ignác Martinovics, eines ehemaligen Geheimagenten, ab 1792 eine breite
Flugschriften-Kampagne zur Mobilisierung der Landbevölkerung, bis die Polizei ihre
demokratischen Zirkel im Herbst 1794 zerschlug [3].

Größere Vielfalt und Nachhaltigkeit erlangte der J. auf der Apenninhalbinsel. Ansätze zur
Bildung politischer Reform-Gesellschaften wurden zwar auch hier zunächst unterdrückt – so
in Neapel, wo die Polizei 1794 einen Geheimzirkel mit 56 »Jakobinern« aushob –, doch unter
franz. Besatzung formierten sich die ital. »Patrioten«, wie sie sich selbst nannten, 1796–1798
spontan in einer unüberschaubaren Fülle meist kleinerer Klubs: vom »Verfassungszirkel«
(Circolo Constituzionale) in Bologna über die »Freunde der Freiheit und Gleichheit« (Società
degli amici della libertà e dell’uguaglianza) in Mailand bis zum »Zirkel der Nacheiferer des
Brutus« (Circolo degli Emuli di Bruto) in Rom.

/
Vor welchem Dilemma sie dabei standen, zeigt exemplarisch die Mailänder »Akademie für
Literatur und ö fentliche Bildung« (Accademia di letteratura e d’istruzione pubblica). Als ihr
Vorsitzender Carlo Salvador, der 1793/94 enge Beziehungen zu Robespierre unterhalten hatte,
im November 1796 mit 500 Gleichgesinnten für »die Freiheit Italiens« demonstrierte, wurde
der Klub von den Behörden der Cisalpinischen Republik verboten. Und als dieser, unter
anderem Namen sogleich wiedererö fnet, rasch von 50 auf 200 Mitglieder anwuchs und mit
Delegierten der »Schwestergesellschaften« von Brescia und Ancona, Mantua und Venedig,
Padua, Cremona und Bologna fraternisierte, wurde er vom Polizeiminister im Juli 1797 erneut
geschlossen: Das Pariser Directoire duldete im franz. Ein ussbereich keine Neuau age
jakobinischer Netzbildung und Agitation und ließ die politischen Klubs in den ital.
Schwesterrepubliken durch Erlass vom 1. September 1798 verbieten [13]; [39]. Derart in ihrer
Entfaltung begrenzt, engagierten sich die ital. Patrioten umso mehr in der Publizistik; bis 1799
propagierten sie in Flugschriften und in wenigstens 140 Zeitungen ein geeintes,
republikanisches Italien [5] ( Republikanismus).

Auf den Brit. Inseln manifestierte sich der J. dagegen als außerparlamentarische Opposition,
und zwar nacheinander in zwei verschiedenen Formen. Zunächst entwickelte sich ab Januar
1792 in Schottland und England von Edinburgh über Manchester und She eld bis nach
Norwich [21] ein dichtes Netz radikaldemokratischer Sozietäten nach dem Muster der London
Corresponding Society [4]. Anders als bei den vorrevolutionären bürgerlichen
Reformbestrebungen um die Society for Constitutional Information handelte es sich um eine
Massenbewegung kleiner Handwerker und Krämer, die sozial den franz. Sansculotten glichen
(Mitgliedsbeitrag: ein Penny pro Monat), organisatorisch aber eher den Jacobins nahestanden.

Jede Gesellschaft gliederte sich in Sektionen von bis zu 45 Mitgliedern mit rotierenden
Wahlämtern (Präsident, Sekretär, Kassenführer, Türwart); sie bildete eigene Unterausschüsse
und entsandte Delegierte in ein General Committee. Ihre wöchentlichen Sitzungen in
Wirtshäusern dienten zum einen der kollektiven Lektüre (Vorlesen) radikaler Flugschriften
und Zeitungen sowie der Einübung einer disziplinierten Gesprächskultur, zum anderen der
basisdemokratischen Meinungsbildung (Referendum) mit dem Ziel einer Demokratisierung
des engl. Parlaments. Untereinander vernetzten sich die Klubs nicht nur durch
Korrespondenzen und ein landesweites Verteilersystem für ihre Adressen und Flugblätter
(darunter eigene Organe wie den She elder Patriot oder das Londoner Moral and Political
Magazine), sondern auch durch Massenveranstaltungen wie im April 1794 bei einem Tre fen
von 2 000 Mitgliedern in Chalk Farm bei London.

Vom Erfolg des J. im eigenen Lande alarmiert – allein der Londoner Klub zählte auf seinem
Höhepunkt etwa 3 000 Mitglieder –, ergri fen die regierenden Tories eine Reihe von
Gegenmaßnahmen. Hatten sie im Winter 1792/93 die Gründung von über tausend
Loyalistenvereinen durch John Reeves unterstützt, so ließen sie die Führung der London
Corresponding Society (LCS) im Frühjahr 1794 festnehmen, bevor diese den geplanten Konvent
aller Reformgesellschaften durchführen konnte. Die gesetzliche Einschränkung der Rede- und

/
Versammlungsfreiheit (1796) und die Verhaftung des General Committee der LCS im April 1797
taten ein Übriges, um den Mitgliederschwund zu beschleunigen und den Niedergang der
radikaldemokratischen Reformbewegung zu besiegeln [27].

An ihre Stelle trat 1798 ein militanter Untergrund-J. in Form republikanischer


Geheimgesellschaften. Während zwei dieser Gruppierungen, die United Scotsmen und die
United Englishmen, in der Bevölkerung völlig isoliert blieben, wurden die United Irishmen für
kurze Zeit zum Machtfaktor. Hervorgegangen aus bürgerlichen Klubs, die mit ihren
Forderungen nach politischer Liberalisierung und Gleichberechtigung der Katholiken am
Widerstand der anglikanischen Herrschaftseliten brit. Herkunft gescheitert waren (1791–1794),
verbündeten sie sich mit den bäuerlich-irischen Selbsthilfekommandos der Defenders und
mobilisierten binnen weniger Jahre 280 000 bewa fnete Mitglieder (1795–1797). Als sie jedoch
Verbündete in Frankreich suchten und im Mai 1798 den Aufstand gegen das »engl. Joch«
probten, kamen 30 000 von ihnen um [14].

Rolf Reichardt

4. »Jakobiner« im deutschen Sprachraum

Da der J. im dt. Sprachraum nicht wie in Irland und England auf einer parlamentarischen
Kultur au auen konnte (sei sie auch »aristokratisch«), sondern sich ähnlich wie in Italien erst
einmal (konspirativ) mit Traditionen des Absolutismus auseinandersetzen musste, waren seine
Entwicklungsmöglichkeiten von vornherein viel begrenzter – ausgenommen einige franz.
besetzte linksrheinische Gebiete, allen voran die Mainzer Republik. Mehr als anderswo von
einzelnen national-patriotischen Republikanern wie Georg Friedrich Rebmann getragen, blieb
er i. Allg. ein theoretischer Entwurf intellektueller Bildungsbürger mit einer gewissen »Pöbel-
Phobie« [32]. Ebenso wie ihre ital. und engl. »Brüder« bedienten sich freilich auch die dt.
Jakobiner bewusst aller Gattungen populärer Medien, um ihre Vorstellungen möglichst weit zu
verbreiten: von Gebeten, Predigten und Katechismen über Straßenballaden und Satiren bis hin
zum Jahrmarktstheater [35]. Doch im Einzelnen waren die Erscheinungsformen ihres J. ebenso
vielfältig wie die Territorien, in denen sie agierten.

In Norddeutschland konzentrierten sich die »jakobinischen« Aktivitäten auf die Zeit von
Oktober 1792 bis Februar 1793. Während in Kiel eine patriotische Gesellschaft gegen die
ungerechten Steuern protestierte, diskutierte in Hamburg ein dt.-franz. Lese- und
Debattierklub über die neuen politischen Prinzipien im revolutionären Frankreich. Mehr
Radikalität bewies ein plebejischer Demokratenzirkel im liberalen Altona unter dän.
Rechtshoheit, indem er sich Rechtmäßiger Jakobinerklub echter Republikaner zu Altona, Brüder
der Freiheit und Gleichheit nannte. Auf unbeholfenen Flugblättern und nächtlichen
Maueranschlägen wandte er sich einerseits gegen Herrscherwillkür, Zünfte und Feudalität, um
andererseits für Menschenrechte und Souveränität des Volks [19] einzutreten – Grundsätze, die
gleichzeitig von lokalen Publizisten wie H. Ch. Albrecht und Heinrich Würzer radikal
weiterentwickelt wurden [18].

/
Gleichzeitig begann sich auch in Wien ein lockerer Kreis jakobinischer Intellektueller zu
bilden: von den josephinischen Reformen der 1780er Jahre geprägte Bildungsbürger und
Staatsbeamte, die gegen die konservative Wende unter Leopold II. au egehrten. Da sie über
keine eigene agitatorische Plattform verfügten, suchten sie ihre freiheitliche
Untergrundpublizistik [8] über Wirts- und Ka feehäuser zu verbreiten. Von ihren führenden
Köpfen propagierte der ehemalige fürstliche Mathematiklehrer Baron Andreas Riedel
Rechtsgleichheit und repräsentative Demokratie [23], während der ehemalige Abt Franz
Hebenstreit ein religiös motiviertes Widerstandsrecht und einen utopischen Egalitarismus
predigte. Doch nachdem ihre Aufstandspläne für November 1792 von der Polizei entdeckt und
sie mit ihren Anhängern verhaftet worden waren (Juli–September 1794), bereitete ihre
Verurteilung in den sog. Jakobinerprozessen (8. 1. 1795) revolutionären Ansätzen in Österreich
ein jähes Ende [37].

Vielfältiger waren 1794–1800 die »jakobinischen Umtriebe« im süddt. Raum; davon zeugt schon
allein eine ganze Reihe demokratischer Aufrufe und Maueranschläge, Rechteerklärungen und
Verfassungsentwürfe [10]. Konkrete Aktivitäten, soweit (aus Polizeiakten) überhaupt bekannt,
reichen von Ansätzen demokratischer Klubbildung in Freiburg i. Br. und in der Ortenau
(1794/95) über einen Aufstandsversuch im badischen Lahr (1797) bis hin zur Ulmer
Bürgerbewegung für eine »Alemannische Republik« (1798). Das noch ehrgeizigere »Projekt
einer dt. Republik«, die von Baden ausgehen sollte, verfolgten seit 1794 der Geschäftsmann
Ernst Jägerschmid aus Kandern und der Fayence-Produzent Johann Georg Friedrich List aus
Basel; als der von ihnen geplante demokratische Aufstand am Oberrhein und in Schwaben
jedoch zweimal mangels franz. Unterstützung nicht zustande kam (1796/98), mussten sie sich
der Verfolgung durch Flucht in die Schweiz entziehen [33].

Zwischen dem Süden und dem Norden wies der J. im rheinischen Deutschland den
vergleichsweise höchsten Organisationsgrad auf: zunächst in der Mainzer Republik von
1792/93, sodann in der sog. Cisrhenanischen Bewegung von 1797/98. Anfangs in
republikanischen Korrespondenzbüros nach Mainzer Vorbild im politischen Untergrund
agierend, begannen sich die Cisrhenanen nach Matthias Metternichs Aufruf vom 30. 7. 1797
ö fentlich zu formieren. Von Speyer bis Kleve – bes. in Koblenz, Bonn und Köln – entwickelten
sich 19 konstitutionelle Klubs. Der Kölner Klub zählte bald über 200 Mitglieder, unter ihnen
eine Führungsgruppe von 20 Intellektuellen [24]. Gestützt auf Statuten nach dem Modell der
Koblenzer »Patrioten« (von Joseph Görres als Sekretär gezeichnet), praktizierten sie in ihren
Sitzungen die Regeln demokratischer Diskussion und Beschlussfassung, verbanden sich durch
eine Mittelkommission in Bonn sowie durch Korrespondenzen zur »Cisrhenanischen
Föderation« und betrieben engagiert eine republikanische Publizistik, bis 1801 die
napoleonische Reaktion auch hier alle jakobinischen Ansätze unterdrückte [9].

Rolf Reichardt

5. Zwischen »Fanatismus« und Demokratie

/
Der Artikel »Jakobiner« eines anonymen Pamphletwörterbuchs von 1799 [1] erscheint
symptomatisch für die internationale Dämonisierung und Verteufelung des J. durch die
Gegenrevolution. Deren »Bibel« waren die erstmals 1797 verö fentlichten Mémoires … du
Jacobinisme des Abbé Augustin Barruel, die den J. als Werkzeug einer »Verschwörung« der
Philosophen und Freimaurer gegen Religion und Monarchie zu entlarven suchten – standen
die »Jakobiner« seit der Terreur doch überall unter dem Generalverdacht des politisch-
religiösen »Fanatismus« und des staatsgefährdenden »Anarchismus«. Bonaparte nahm daher
auch Anfang 1801 einen gegen ihn gerichteten missglückten Sprengsto fanschlag zum Anlass,
um das Attentat den »Jakobinern« anzulasten und 130 bes. Missliebige deportieren zu lassen.
In England, wo das Wochenblatt The Anti-Jacobin (1797/98) und anschließend die monatlich
erscheinende Antijacobin Review (1798–1821) alle demokratischen Reformbestrebungen als J.
denunzierten, prägte James Gillray die visuelle Formel des antijakobinischen Feindbilds (vgl.
Abb. 2). In der Tat waren versprengte Jakobiner und überzeugte Republikaner, wollten sie sich
nach 1800 und unter den Bedingungen der Restauration politisch engagieren, auf
Vereinigungen im Untergrund wie die Carbonari angewiesen [17].

Nichtsdestoweniger hat der J. einen wichtigen Beitrag zur


Entwicklung einer demokratischen Kultur in Europa
geleistet. Bewirkte er in Frankreich, wo 15–20 % aller
erwachsenen Männer zeitweise einem Jakobinerklub
beitraten, eine anhaltende »Fundamentalpolitisierung«
der breiten Bevölkerung, so trug er in England und
Schottland die Regeln und Praxis politischer Erziehung
und rationaler kollektiver Meinungsbildung in die klein-
und unterbürgerlichen Schichten hinein. In Italien, in der
Habsburgermonarchie und im Alten Reich blieb er zwar
mehr oder weniger in bürgerlichen Anfängen stecken,
brachte aber folgenreiche patriotisch-republikanische
Bewegungen auf den Weg: Unter den Aufständischen der
Pariser Julirevolution ebenso wie unter den Teilnehmern
Abb. 2: James Gillray, Alarm in
des Hambacher Festes (1832) war so mancher durch eine
der London Corresponding
jakobinische Familientradition vorgeprägt.
Society, 20. 4. 1798 (kolorierte
Verwandte Artikel: Französische Revolution | Mainzer Aquatintaradierung, gedruckt
Republik | Republikanismus | Revolution | und verö fentlicht von Hannah
Schwesterrepubliken | Terreur Humphrey in London). Mit
polemischer Ra nesse setzt
Rolf Reichardt Gillray das konspirative Ende
des führenden engl.
Jakobinerklubs ins Bild, um ihn
Bibliography insgesamt als fanatische Bande
primitiver Verschwörer aus dem
Quellen untersten Pöbel zu
kennzeichnen. Unter den
/
[1] Art. Jakobiner, in: WB der franz. Revolutionssprache, Portraits ihrer »Hausideologen«
1799, 24–25 John Horn Tooke und Thomas
Paine verliest der mit einer
[2] F.-A. A (Hrsg.), La Société des Jacobins. Recueil Jakobinermütze bekleidete
de documents pour l’histoire de l’esprit du Club des Vorsitzende einem armseligen
Jacobins de Paris, 6 Bde., 1889–1897 Häu ein Gleichgesinnter voll
Schrecken einen staatlichen
[3] K. B (Hrsg.), A Magyar Jakobinusok Iratai, 3 Bde.,
Haftbefehl gegen einige
1952–1957
führende Mitglieder, der
[4] M. T. D (Hrsg.), London Corresponding Society, tatsächlich am 28. 2. 1798
1792–1799, 6 Bde., 2002 ergangen war. Das Protokollbuch
des Klubs lehnt an seinem Stuhl
[5] R. D F (Hrsg.), I giornali giacobini italiani, 1962 und kann nun wohl für immer
zugeschlagen werden.
[6] H. W. E (Hrsg.), Gedichte und Lieder dt. Ansonsten entwirft Gillray ein
Jakobiner, 1971 absichtsvoll verzerrtes Bild der
LCS: Ihre zahlreichen Mitglieder
[7] W. G (Hrsg.), »Freyheit oder Mordt und Todt«. waren kein »Abschaum der
Revolutionsaufrufe dt. Jakobiner, 1979 Gosse«, sondern zumeist
ehrbare kleine Handwerker und
[8] A. K (Hrsg.), Die Wiener Jakobiner, 1972
Ladenbesitzer; ihre Sitzungen
[9] A. K (Hrsg.), Linksrheinische dt. Jakobiner. fanden nicht im Verborgenen
Aufrufe, Reden, Protokolle, Briefe und Schriften 1794– dunkler Keller, sondern in der
1801, 1987 plebejischen Ö fentlichkeit von
Wirtshäusern statt; und um sich
[10] H. S (Hrsg.), Jakobinische Flugschriften aus diszipliniert an der
dem dt. Süden Ende des 18. Jh.s, 1965. gemeinschaftlichen Information
und Meinungsbildung zu
Sekundärliteratur beteiligen, durften die Mitglieder
dabei weder rauchen noch ihren
[11] J. B et al., Les sociétés politiques (Atlas de la geliebten Porter trinken wie der
Révolution Française 6), 1992 Präsident und eine Gestalt links
im Bild, deren Physiognomie an
[12] A. C / S. L , »Dt. Jakobiner« im
den Oppositionsführer Charles
franz. Exil. Paris und Straßburg – Wege zwischen
James Fox erinnert.
radikaler Akzeptanz und Ablehnung der Revolution, in:
Francia 31/2, 2004, 95–119

[13] V. C , Die Franz. Revolution und die italienischen Jakobiner, in: H. T


(Hrsg.), Die Franz. Revolution und Europa 1789–1799, 1989, 493–512

[14] N. F. C , The United Irishmen. Popular Politics in Ulster and Dublin 1791–1798, 1994

[15] F. F , Augustin Cochin. Die Theorie des Jakobinismus, in: F. F , 1789 – Vom Ereignis
zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, 1980, 182–227 (franz. Orig. 1978)
/
[16] B. G , 1799, un nouveau jacobinisme? La démocratie représentative, une alternative à
Brumaire, 2001

[17] B. G / P. S (Hrsg.), Secret et République, 1795–1840, 2003

[18] W. G , Norddt. Jakobiner, 1967

[19] W. G , Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der dt. Jakobiner, 1984

[20] J.-P. G , Fair Shares for All. Jacobin Egalitarism in Practice, 1997

[21] C. B. J , The Jacobin City. A Portrait of Norwich in Its Reaction to the French
Revolution, 1975

[22] M. L. K , The Jacobin Clubs in the French Revolution, 3 Bde., 1982–1999

[23] A. K , Andreas Riedel. Ein politisches Schicksal im Zeitalter der Franz. Revolution,
1969

[24] A. K , Jakobiner im Rheinland. Der Kölner konstitutionelle Zirkel von 1798, 1976

[25] S. L , Information und Propaganda. Die Presse dt. Jakobiner im Elsaß (1791–
1800), 2004

[26] B. L , Polscy Jakobini, 1960

[27] G. L , Politische Au lärung und plebejisches Publikum. Zur Theorie und Praxis des
engl. Radikalismus im späten 18. Jh., 1979

[28] W. M (Hrsg.), Jakobiner und Sansculotten. Beiträge zur Geschichte der franz.
Revolutionsbewegung 1793–1794, 1956

[29] C. P , Les jacobins de l'ouest: sociabilité révolutionnaire et formes de politisation


dans le Maine et la Basse-Normandie, 1789–1799, 1996, 60–86

[30] R. R , Das Blut der Freiheit. Franz. Revolution und demokratische Kultur, 32002,
60–86

[31] H. R , Franz. Revolution und Mitteleuropa. Erscheinungsformen und Wirkungen


des Jakobinismus, seine Gesellschaftstheorien und politischen Vorstellungen, 1988, 39–55

[32] W. R , Mythenbildung und Nationalismus. Dt. Jakobiner zwischen Revolution und


Reaktion (1789–1800), 1999

[33] H. S , Süddt. Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im dt.


Süden Ende des 18. Jh.s, 1965

/
[34] D. S , Der Weg in die Terreur. Radikalisierung und Kon ikte im Straßburger
Jakobinerklub (1790–1795), 2002

[35] I. S , Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789–1800), 1976

[36] M. V , Les Jacobins de Robespierre à Chevènement, 1999, 104–175

[37] W. W , Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen, 1966

[38] H. W , Politik und Geschichte. Jakobinismusforschung in Deutschland, 2 Bde., 1984

[39] C. Z , L’Italia giacobina, 1989.

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Reichardt, Rolf, “Jakobinismus”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit
den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_286534>
First published online: 2019

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