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Anhang 4: Hausaufgabentext «Suizid ist keine überlegte Handlung»

Hausaufgabe – ASSIP

Suizid ist keine überlegte Handlung

Viele von uns kennen Momente im Leben, in denen wir an die Möglichkeit denken, dem Leben, in das
wir hineingeboren wurden, ohne gefragt zu werden, ein selbstgewähltes Ende zu setzen. Das ist
ziemlich normal. Tatsächlich haben wir Menschen ja – zumindest theoretisch – diese Freiheit. Die
Situation, in der sich der akut suizidale Mensch befindet, hat aber herzlich wenig mit solchen
Überlegungen zu tun.

Seelischer Schmerz

Der akute suizidale Zustand entsteht in Lebenssituationen, die uns in unseren Grundfesten erschüttern,
die eine Bedrohung unseres gewohnten Selbsterlebens darstellen. Es sind Situationen, in denen wir
etwas erleben, was die meisten Menschen als «seelischen Schmerz» (mental pain) beschreiben.
Seelischer Schmerz ist ähnlich einem schlimmen körperlichen Schmerz und kann Folge sein von
seelischen Verletzungen, Enttäuschungen, Trennungen von wichtigen Personen, aber auch von
Gefühlen des Versagens und des Verlustes von wichtigen Zielen in unserem Leben. Gefährlich wird es,
wenn wir in solchen Momenten uns selbst nicht mehr akzeptieren können, wenn Gedanken auftauchen,
dass wir tatsächlich zu nichts taugen, ja wenn plötzlich Gefühle des Selbsthasses auftauchen. Nicht alle
Menschen kennen Zustände von seelischem Schmerz, aber diejenigen, die solche erlebt haben, wissen,
wie schlimm sie sind. Sie lösen in unserem Körper einen Alarmzustand aus, den wir oft kaum mehr unter
Kontrolle bringen können. Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben, berichten, dass sie sich
wie in einem Nebel oder in einem Trancezustand fühlten, nicht mehr klar denken konnten und vor allem
sich und ihren Körper nicht mehr spürten. Fachpersonen sprechen von «dissoziativen Zuständen», das
sind psychische Ausnahmezustände, in denen das harmonische Erleben von Wahrnehmung, Gefühlen,
Gedanken und Körperempfindungen vorübergehend gestört ist. In einem solchen Zustand sind wir nicht
mehr in der Lage, klar zu denken und überlegt zu handeln. Unser gesamtes Erleben ist aus dem Ruder
gelaufen.

Kennen Sie solche Zustände? Bitte beschreiben Sie sie:

Das emotionale Hirn und das Vernunfthirn

Mithilfe der modernen Hirnforschung verstehen wir heute besser, was in der akuten suizidalen Krise im
menschlichen Gehirn abläuft. Unser Verhalten hängt zu einem wesentlichen Teil vom Zusammenspiel
zweier wichtiger Hirnregionen ab. Auf der einen Seite steht das «emotionale Hirn», das im Bereich des
Zwischenhirns liegt, auf der anderen Seite das «Vernunfthirn», das im Stirnhirn lokalisiert ist. Im
emotionalen Hirn befindet sich unsere Alarmzentrale – die Amygdala –, die rasch und ohne unser
bewusstes Überlegen in bedrohlichen Situationen Alarm schlägt und einen Adrenalinschub auslöst.
Dabei wird das Vernunfthirn (frontaler bzw. praefrontaler Kortex), das Zentrum, wo wir planen und nach
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Lösungen für schwierige Situationen suchen, praktisch ausgeschaltet. Wir sind in diesem
Ausnahmezustand für eine gewisse Zeit nicht mehr in der Lage, «überlegt» und unserem Ich
entsprechend zu handeln. Dies lässt sich mit den modernen bildgebenden Verfahren, die wir zum
Studium der Hirnaktivität zur Verfügung haben, eindrücklich zeigen: Wenn Menschen, die suizidale
Krisen durchgemacht haben, sich im MRI (Magnetresonanzverfahren) kurzzeitig wieder an diesen
Moment erinnern, sieht man, dass die Aktivität im Stirnhirn deutlich abnimmt, während sie in der
Amygdala zunimmt.

Ja, das leuchtet mir ein.

Nein, das verstehe ich nicht.

Kommentar:

Emotionale Krisen können unser Gehirn überfordern

Erfahrungen, die seelischen Schmerz auslösen, bewirken also einen akuten Stresszustand, der das
Stirnhirn lähmt und überlegtes Handeln verunmöglicht. Unser Hirn reagiert, als ob es in einer existenziell
bedrohlichen Situation wäre (der drohende Zusammenbruch des Ich-Erlebens ist ja tatsächlich eine
existenzielle Bedrohung – nicht körperlicher, sondern psychischer Natur). Dann sieht unser Hirn keinen
anderen Ausweg, als diesem Zustand und damit dem – zumindest momentan – ungeliebten Ich ein
Ende zu setzen. Langfristige Lebenspläne und alternative Lösungen sind im akut suizidalen Zustand
nicht mehr greifbar. Unser Gehirn handelt, wie wenn es von einem Autopiloten gesteuert würde.
Überleben wir die suizidale Krise, ist der Normalzustand meist rasch wiederhergestellt, und
lebensorientierte Ziele sind plötzlich wieder im Vordergrund. Eine durchgemachte suizidale Krise
hinterlässt aber in jedem Fall Spuren in unserem Gehirn. In einer nächsten emotionalen Krise – und
diese kann nach Tagen oder Jahren eintreten – greift das Hirn sofort wieder zum Notfallplan («Suizid ist
die Lösung»), womit die Schwelle für eine tödlich endende Suizidhandlung gesenkt ist.

Können Sie sich vorstellen, dass der Handlungsplan im Gehirn gespeichert wird?

Gewisse Faktoren erhöhen das Suizidrisiko

Frühe traumatische Erfahrungen werden in der Amygdala praktisch für immer gespeichert und führen oft
zu einem labilen Alarmsystem. Es ist somit verständlich, dass Menschen, die in ihrer Vorgeschichte
negative Erfahrungen wie sexuellen Missbrauch und andere traumatische Situationen haben, mehr als
andere suizidgefährdet sind – weil das emotionale Hirn zu überschießenden und unkontrollierbaren
Reaktionen neigt. Dies ist übrigens besonders in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter eine
Gefahr; das Stirnhirn reift nämlich erst in der Adoleszenz ganz aus und kann deshalb emotionale
Impulse in dieser Zeit oft nur ungenügend steuern.

Könnte es sein, dass frühere traumatische Erfahrungen bei Ihnen eine Rolle spielen?

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Depressionen erhöhen die Gefahr

Ein ganz großes Risiko stellen viele psychische Störungen dar, allen voran die Depression. Die
Depression ist nämlich ein Zustand, in dem das emotionale Hirn überaktiv ist, während das Stirnhirn,
also der Teil des Gehirns, den wir brauchen, um überlegt zu handeln, in seiner Funktion stark reduziert
ist. Depressive Menschen haben also viel mehr Mühe, das emotionale Hirn zu steuern; dazu kommt,
dass sie sich selbst durch die depressiven Funktionsstörungen als sehr negativ erleben und die Schuld
für die Veränderungen fälschlicherweise bei sich suchen – die Voraussetzungen für das Erleben von
seelischem Schmerz sind in der Depression also besonders ausgeprägt. Wenn eine Depression vorliegt,
sind die suizidalen Impulse langanhaltend und besonders gefährlich. Depressive Menschen ziehen sich
zurück, schämen sich und haben große Mühe, sich jemandem anzuvertrauen. Sie behalten
Suizidgedanken also oft für sich. Man sagt, dass 50 bis 70 % der Menschen, die durch Suizid sterben,
an einer Depression gelitten haben. Darum ist es derart wichtig, Depressionen zu behandeln, bevor es
zu spät ist. Depressionen können jeden Menschen treffen, aber sie können heute erfolgreich, meist
ambulant, behandelt werden. Sie sind Zustände von veränderter Hirnfunktion, die mit dem Willen allein
nicht überwunden werden können und die jeden Menschen treffen können.

Ja, ich denke, dass Depressionen bei mir eine Rolle spielen. *

Nein, ich denke nicht, dass Depressionen bei mir eine Rolle spielen.

*) Symptome, die ich bei mir kenne:

Mit Suizidgedanken ist nicht zu spaßen

Wie und ob wir eine emotionale Krise meistern, hängt nun von vielen Faktoren ab. Viele Menschen
können seelischen Schmerz aushalten. Vielleicht verlieren sie den Glauben daran nicht, dass auch
scheinbar unerträglicher seelischer Schmerz vorbeigeht, vielleicht haben sie das Glück, dass ihr Gehirn
auch unter extremem Stress nicht zu überschießenden Reaktionen neigt. Oft hilft ein Gespräch mit
einem vertrauten Menschen, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Wenn wir aber den
Schmerz nicht aushalten können oder denken, dass es nur noch schlimmer werde, tauchen fast
automatisch Suizidgedanken auf: «Suizid könnte die Lösung sein, dem unerträglichen Schmerz und
Selbsthass ein Ende zu setzen.» Viele Menschen greifen in solchen Momenten zu Medikamenten, um
diesen Zustand zu beenden. Sie erwarten dabei oder nehmen es zumindest in Kauf, dass die Sache
tödlich ausgehen könnte, was zum Glück mit den heutigen Medikamenten meistens nicht der Fall ist. Es
gibt natürlich Suizidmethoden, die wenig Chancen zum Überleben lassen; besonders gefährlich ist es,
wenn ein Mensch sich in der Vergangenheit schon damit befasst hat, was für ihn allenfalls eine sichere
Methode sein könnte, d. h., wenn ein fertig durchgedachter Notfallplan vorliegt.

Ich kann mir vorstellen, dass folgende Strategien helfen könnten, um eine suizidale Krise zu
bewältigen:

Fazit

Es ist extrem wichtig, zu verstehen, dass es zum Suizid kommen kann, wenn unser Gehirn in der
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Steuerung emotionaler Impulse überfordert ist und der akute Stresszustand unser überlegtes Handeln
lähmt. Suizid ist also eine Handlung in einem neurobiologischen Ausnahmezustand. Zustände von
seelischem Schmerz in außerordentlichen Lebenssituationen können lebensgefährlich sein. Solche
Krisen sind ein klarer Grund für eine Notfallkonsultation bei einer Fachperson, sei es beim Hausarzt,
beim Psychiater oder Psychologen, beim Notfallarzt, auf der Notfallstation des nächsten Krankenhauses
oder beim psychiatrischen Notfalldienst. Es kann nicht sein, dass wir wegen eines Wespenstichs den
Arzt aufsuchen, in einer psychischen Krise aber nichts unternehmen! Wenn wir Menschen, die einen
Suizidversuch überlebt haben, fragen, was sie im Falle einer nächsten suizidalen Krise machen würden,
sagen alle, sie würden sich beim nächsten Mal mit Sicherheit an eine der oben erwähnten Stellen
wenden – sie hätten vorher nicht gewusst, dass es für solche Situationen Hilfe gibt.

Fachpersonen/Fachstellen, an die ich mich in einer Krise in Zukunft wenden kann:

1)

2)

3)

Bitte die Fragen beantworten und den Text zur nächsten Sitzung mitbringen.

<<Name Behandler/Behandlerin>>

Version 01/2012, rev. 24.10.12

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