GREVEN (1993) - Ist Die Demokratie Modern
GREVEN (1993) - Ist Die Demokratie Modern
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Vierteljahresschrift
Michael Th.^Greven
1. Die Probleme
„Moderne" und „Demokratie" scheinen spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
überwiegend so zusammengedacht worden zu sein, daß die Frage zunächst unsinnig
erscheinen muß. Eine längst zum Selbstbewußtsein, mindestens aber zum 'abgesun
kenen Kulturgut' der Epoche gewordene Modernisierungstheorie1 rechnet „Demokra
entscheidende „evolutionäre Mechanismus" ist, wie z.B. Eisenstadt (1964) schon früh be
zweifelt hatte; siehe zum Überblick auch: Alexander/Colomy (1990).
2 Zu beachten ist allerdings die Differenz zum üblichen Demokratiebegriff.
Während nun aber spätestens seit Mitte dieses Jahrhunderts die „Dialektik der Auf
klärung" (Horkheimer/Adorno 1969)oder auch die „Ambivalenz der Moderne" (Bau
man 1992) zum Gemeinwissen wenigstens kritischer Sozialwissenschaft und Theorie
geworden ist, steht die Reflexion über „Demokratie", verbleibt vor allem die politik
Siehe zu „Modernity and Totalitarism" auch Anthony Giddens in seinem großen Buch „The
Nation-State and Violence" (1985: 294-310); neben dem einzigartigen Gewaltpotential des
modernen Nationalstaates gehört auch die (fast) alles durchdringende „surveillance" zu
den vier Indikatoren der Modernisierung; zum Zusammenhang mit der Demokratie siehe:
Melossi (1990).
Ich verstehe meine an die Tradition von Max Weber und die Frankfurter Schule anschließ
ende Reflexion über die Zweiwertigkeit von Modernisierungsprozessen weder als anti
noch gar als post-modern, sondern als den reflexiven Aspekt der Modernisierung selbst;
zur strukturalistischen Variante der „Post-Moderne" und ihrer Bedeutung für die politische
Theorie siehe vor allem White (1991), der contre coeur den apolitischen Charakter post-mo
derner Theorien vorführt - was natürlich nur in diesem Zusammenhang ein Einwand gegen
sie sein kann.
Ahnliches gilt für den Staat und die ihm angeblich zukommende „nationale Souveränität"
siehe dazu den interessanten Versuch von Rolf Knieper (1991); zum Zusammenhang zw
schen Modernität und souveränem Staat vor allem 27-47.
Die Anführungsstriche, weil der Terminus ein weites und gänzliches inkohärentes Feld von
„Theorien", die sich irgendwie mit „Demokratie" beschäftigen, umspannt.
naive Vertrauen in diesen vermeintlich letzten normativ sicheren Grund auch hier das
„If democracy is not to become a political ghetto confined to the territorial state, the
contemporary globalization of capital, labor, and contingency must be shadowed by a
corollary globalization of politics ... What does it mean to say that late modernity is a time
without a corresponding political place?"; Connolly (1991: 215ff.) ist bisher einer der
wenigen, der diese Fragen demokratietheoretisch aufgeworfen hat.
frühen Neuzeit die revolutionären Prozesse, in deren Verlauf die Menschenrechte und
jene großen Prinzipien entwickelt und institutionalisiert werden, auf die sich die
politische Moderne und die Demokratie normativ berufen. Selbstverständlich produ
zieren sie hernach einen „normativen Überschuß" und verweisen über die Anlässe
ihrer unmittelbaren Entstehung hinaus, aber es muß bezweifelt werden, ob die Ideale
der Demokratie unter allen Voraussetzungen ausreichende Handlungsmotivation für
gesellschaftliche Konstitutionsprozesse ergeben, deren Ergebnis das Prädikat „demo
kratisch" verdient.
Nur die Verächter der Demokratie benutzen solche Hinweise in denunziatorischer
Absicht, vor allem, wenn sie die Proklamation demokratisch-normativer Standards
als „Intellektuellen-Ideologie", als neue Variante des „Priesterbetrugs" an den popu
listischen Pranger stellen, wie dies beispielhaft in Helmut Schelskys großer Schmäh
schrift in den siebziger Jahren geschah (Schelsky 1975). Aber die Anti-Kritik der De
mokraten wird selbst ideologisch, wenn sie die appellative Propaganda der „Demo
kratie" gegen die verständlichen materiellen Lebensnotwendigkeiten und Bedürfnisse
von Menschen ausspielt, denen angesichts von Hunger, Gewalt und allgemeiner Not
das zum Überleben notwendige Hemd näher steht als der anempfohlene demokratische
Rock.
Und es ist höchst fraglich, ob sich das kontingente Entwicklungsmodell der sogenann
ten „Westlichen Demokratien", in denen im 18. und 19. Jahrhundert und teilweise bis
weit in das 20. Jahrhundert hinein Minderheiten in gesellschaftlich-funktionalen
Schlüsselpositionen und auf der Basis eines für sie auch subjektiv realisierten Wohl
standes und Sicherheitsstandards die „Demokratie" als ihre Herrschafts- und Lebens
form durchsetzten, auf Dauer beispielsweise in Indien, China und jetzt gerade Nigeria,
oder auch in wesentlichen Teilen der ehemaligen Sowjetunion wiederholen läßt. Und
was in diesen vier Ländern passiert, betrifft in weniger als einer Generation mehr als
zwei Drittel aller auf der Welt lebenden Menschen und bleibt nicht ohne Rückwirkun
gen auf uns. Keine „Festung Europa" kann dem dauerhaft standhalten und die Rüc
kopplungen der Globalisierung aufhalten.
Die Stabilisierung der demokratischen Regime des Westens über ein Jahrhundert ge
- wo sie überhaupt kontinuierlich gelang! - gegen den auf materieller Depriva
beruhenden Umverteilungsdruck und Sozialprotest „von unten" überwiegend durch
wohlfahrtsstaatliche Inklusion immer weiterer Bevölkerungskreise „von oben". Od
anders gesagt: angesichts des sich als scheinbar unendlich erweisenden industrielle
Wachstums eines entfesselten kapitalistischen Wirtschaftssystems in Verbindung
den angesprochenen globalen Ausbeutungsverhältnissen gab es stets noch genug zu
Umverteilen von „oben" nach „unten", um die Akzeptanz der gegebenen Verhältni
einigermaßen ausreichend zu sichern. Selbstverständlich wurde dabei kaum et
freiwillig gegeben - aber das durch die Arbeiterbewegungen und andere gefordert
Stück vom Wohlfahrtskuchen war doch meistens in ausreichendem Maße vorhanden
und schuf auch politisch die Voraussetzungen zur „demokratischen" Integration des
latent stets systemwidrigen Protests. Wo dies nicht mehr der Fall war, erwiesen sich
die breiten Schichten „unten" genauso wenig als zuverlässige Freunde der Demokratie
wie die ihres einmal erworbenen Besitzes und Status unsicher gewordenen weiter
„oben".
Heute stellt sich die Frage kaum noch, ob jener demokratieförderliche „Wohlfahrts
11 Das ist trotz einiger Zusammenhänge nicht zu verwechseln mit den Argumenten vom
Beginn der siebziger Jahre, daß die Demokratie, z.B. innerorganisatorisch, auch effizienter
und effektiver sei als andere Organisationsweisen. Siehe dazu: Naschold (1971).
12 Diese „Freiheiten" entstammen keinem natürlichen Recht, sondern sind ein Kampfmittel
zunächst der Könige gegen die „feudale Anarchie", dann gegen diese selbst in den Händen
der Städte und schließlich des Bürgertums; siehe Günther (1979: 64ff.).
13 Walzer (1992) stellt die Entstehung dieser „liberties" eindruckssvoll als die „Kunst de
Trennung" (42) vor und zeigt zugleich die Unvollkommenheit der Konstruktion in der bi
heute unzureichenden „Trennung" zwischen Markt und Staat oder Ökonomie und Politik,
die nur durch „Wirtschaftsdemokratie" und einen „Liberalismus, der in einen demokrati
schen Sozialismus übergeht" (52), weiter verbessert werden könnte.
Für eine anspruchsvollere Perspektive der Demokratie, die nicht nur Legitimations
beschaffung, sondern auch noch problemlösende Politikproduktion umfaßt, sind das
genau zwei Schritte zuviel. Ein solches Programm muß also zwischen der Scylla eines
konsensualistischen Rationalitätsaprioris und der Charybdis eines inhaltslosen Auto
referenzialismus auf unsicherem Grunde und hart an jenem freiheitlichen Winde er
segelt werden, der nach Max Webers Erkenntnis vom Beginn des Jahrhunderts von
Westen, „von jenseits des Meeres" weht (Weber 1958: 61).
Aber auch ohne den Nachvollzug dieser beiden Schritte ist inzwischen unausweichlich
davon auszugehen, daß Demokratie vernünftige Problemlösungen oder rationale P
litikergebnisse nicht garantieren kann; mehr noch: in einer modernen Gesellschaft mit
14 Siehe zur Kritik dieses „myth of political representation" wiederum Zolo (1992: 54ff.).
15 Das Argument seit Luhmann (1965) unverändert; jüngst wieder in Willke (1992), der aber
vielleicht sogar noch einen Schritt weitergeht, wenn er behauptet, daß die „eine, allgemeine,
'letzte' Legitimationsgrundlage" von Politik als der „Operationalisierung von Willkür"
nicht in der Demokratie, sondern in der „Staatsidee" zu suchen sei (ebd., 30f.).
wissenschaftlich-technologisch gen
gehört Demokratie selbst zu den
deshalb gegen sie votieren wollte
bedenken, daß alle anderen mode
ohne doch ihre Vorzüge zu besitzen
Risiken betrieben werden, die sie se
oder noch besser: skeptisch.
Die unvermeidbare Ambivalenz, die
Moderne nicht abschütteln kann, b
Bürgertypus zutreffend benannte,
„Die Einsicht, daß die Geltung der e
unerschrocken für sie einzustehen,
baren" (Rortyl989: 87 und III)17.
Literaturverzeichnis
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