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Ist die Demokratie modern?

Zur Rationalitätskrise der politischen Gesellschaft


Author(s): Michael Th. Greven
Source: Politische Vierteljahresschrift , September 1993, Vol. 34, No. 3 (September 1993),
pp. 399-413
Published by: Springer

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/24196092

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ABHANDLUNGEN

Ist die Demokratie modern?

Zur Rationalitätskrise der politischen Gesellschaft^

Michael Th.^Greven

Politikwissenschaftliche Demokratietheorie impliziert zumeist eine normativ positiv b


Modernisierungstheorie und reflektiert selten deren Rationalitätsproblematik. Der A
nimmt in einem ersten Schritt die Erkenntnisse über die „Ambivalenz der Moderne"
demonstriert zweitens, inwiefern auch die moderne Demokratie davon infiziert ist, um
lich am Beispiel der üblichen Rationalitätsannahmen zu verdeutlichen, daß auch prak
Demokratie kein Garant vernünftiger Politik sein kann. Die Begründung der Demokra
deshalb in den Selbstbestimmungs- und Partizipationsansprüchen von Bürgern un
rinnen, während ihr Anspruch auf größere Rationalität nicht zu halten ist.

Jeder Fortschritt ist ein Zuwachs an Macht, der


in einem fortschreitenden Zuwachs an Ohn
macht mündet. Robert Musil

1. Die Probleme

„Moderne" und „Demokratie" scheinen spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
überwiegend so zusammengedacht worden zu sein, daß die Frage zunächst unsinnig
erscheinen muß. Eine längst zum Selbstbewußtsein, mindestens aber zum 'abgesun
kenen Kulturgut' der Epoche gewordene Modernisierungstheorie1 rechnet „Demokra

1 Ich gebrauche diese Formulierung sehr bewußt, weil: „Moderne-Begriffe, Moderne-Inhalte,


Moderne-Parolen sind also ... höchst divergent", wie Welsch (1987: 51) zurecht festgestellt
und der einen nach wie vor sehr guten Überblick über die teils verblüffend widersprüchli
chen Inhalte des Modernekonzepts geboten hat; im sozialwissenschaftlichen Kontext ist
„Modernisierung" hier aber relativ eindeutig als jenes Muster angeblich zielgerichteter
Entwicklung zu verstehen, das Westeuropa und Nordamerika seit dem Ausgang des späten
Mittelalters durchlaufen haben und das vom dichotomischen Gegensatz zur traditionalen
Gesellschaft lebt. Für die politische Entwicklung (und Theorie) bedeutsame Prozesse waren
dabei vor allem die Säkularisierung, der Aufbau des anstaltlichen Nationalstaates, die
Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die Bildungsexpansion - und eben die
Demokratie. Entgegen der deutschsprachigen, gemeinsam von Luhmann und Habermas
geprägten Debatte ist dabei keineswegs unkontrovers, ob „(Aus-)Differenzierung" der

Politische Vierteljahresschrift, 34. Jg. (1993), Heft 3, S. 399-413 © Westdeutscher Verlag

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400 Michael Th. Greven

tie" ebenso zu den Effekten des ih


trizität, abstrakte Malerei und ges
in der positiven Antwort auf die F
Praxis moderner Demokratie irritie
einmal gerade so und nicht anders
ein sicheres Fundament für die Zu
wie nicht erst das 20. Jahrhunder
repräsentative Demokratie ist vor
die unterschwellige oder theoretisc
Demokratie gewährleisteten eine p

2. Ambivalenz der Moderne

Es gehört seit den französischen Aufklärern und Frühmaterialisten, spätestens dann


aber seit der Kulmination der deutschen Philosophie in Hegels Entwicklungsgeschichte
des Geistes und seit den großen Entwürfen gesetzesbestimmter Stadienmodelle der
Positivisten des 19. Jahrhunderts zu den nicht mehr befragten Gewißheiten, daß „De
mokratie" - ungeachtet ihrer antiken Herkunft - als „moderne Demokratie" zu den
uneingeschränkt positiv bewerteten Modernisierungsergebnissen und darüber hinaus
dort, wo letztere noch fehlt, auch zu deren begünstigenden Voraussetzungen gehört.
Nur diese zugebilligte Doppelstellung als günstige Voraussetzung und sichere Folge
begründet die Forderung nach der Einführung der „Demokratie" auch dort, wo die
übrigen Effekte der Moderne noch kaum gegenwärtig sind.
Der Fortschritt des Menschengeschlechts, die Entwicklung der Gattung, die in diesem
Selbstverständnis gelegentlich verzögert, aber nicht aufgehalten, regional unterschied
lich verbreitet, aber normativ nicht partikulär, sondern universalistisch angesehen
wird, schlägt sich politisch in der Verbreitung dieser „Demokratie" nieder.
Bei Karl Marx - hier zitiert als dem neben Darwin und Comte wesentlichen Reprä
sentanten des bereits angesprochenen Fortschritts- und Modernisierungspathos des
19. Jahrhunderts - heißt es zur „Demokratie": „Die Demokratie ist das aufgelöste
Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach,
sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen
Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eigenes Werk gesetzt
... Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament.
Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz des Menschen wegen da, es
ist menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein
ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie" (Marx 1964: 231).2
Mit Schopenhauers unter Zeitgenossen noch ganz marginal bleibender Hegelkritik,
dann fanfarenartig mit F. Nietzsche sich ins gesellschaftliche Bewußtsein hineinfres
send, vor allem aber über Max Weber in die moderne Sozialwissenschaft vermittelt,
beginnt der normative Zweifel an den ausschließlich positiven Gehalten der Moder

entscheidende „evolutionäre Mechanismus" ist, wie z.B. Eisenstadt (1964) schon früh be
zweifelt hatte; siehe zum Überblick auch: Alexander/Colomy (1990).
2 Zu beachten ist allerdings die Differenz zum üblichen Demokratiebegriff.

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Ist die Demokratie modem? 401

nisierung das Fortschrittspathos der jungf


derts im Säurebad der Rationalisierungen u
Was Marx noch durch Aufspaltung in das
rischer Vorgeschichte und die Emanzipa
und begründender Weltrevolution allein d
schaftlich begrenzter Vernunft als „Alp" z
der klasseninteressierten und herrschaftli
ren Rücken sich erfolgreich behauptenden
gemäßen Produktionsverhältnissen, das
nicht mehr vor oder außerhalb der Moder
nur noch nicht hatte vordringen könne
„okzidentalen Rationalismus" selbst. Nich
régime noch nicht siegreich gewordene Au
entzaubert den morgenrötlichen Siegesansp
„Kult der Vernunft" der bürgerlichen und
fährliche Folklore erscheinen. War es in G
der „Schlaf der Vernunft", der die „Ungeh
schreckliche Erfahrung des 20. Jahrhunde
Sittlichkeit entfesselter konsequenter Gebr
und gut qualifizierte Funktionäre zu den
von Katyn, Pnom Penh und Sarajewo werd
Heide Gerstenberger zieht im Kontext der
Moderne zugehörenden Totalitarismus di
dikalisierung der Kritik hat mit einer Strat
hier geht es nicht um die Bewertung der ei
mit anderen Formen der Gewalt, sondern um die bittere Erkenntnis, daß nicht nur
die Gleichsetzung von wissenschaftlich-technischem Fortschritt mit Emanzipation und
Humanität und die Annahme, daß die zivilisierte Kontrolle der Affekte die Greuel in
der Welt verhindere, durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts als widerlegt gelten
müssen, sondern daß auch die parlamentarische Konstitution von Politik und deren
legale Implementierung sich nicht als derart unverbrüchliche Vorkehrungen gegen
Barbarei erwiesen haben, daß der alte Streit über Moral als wirklich überholt gelten
könnte" (1993: 67f.).

3. Die Demokratie teilt die Ambivalenzen der Moderne

Während nun aber spätestens seit Mitte dieses Jahrhunderts die „Dialektik der Auf
klärung" (Horkheimer/Adorno 1969)oder auch die „Ambivalenz der Moderne" (Bau
man 1992) zum Gemeinwissen wenigstens kritischer Sozialwissenschaft und Theorie
geworden ist, steht die Reflexion über „Demokratie", verbleibt vor allem die politik

Siehe zu „Modernity and Totalitarism" auch Anthony Giddens in seinem großen Buch „The
Nation-State and Violence" (1985: 294-310); neben dem einzigartigen Gewaltpotential des
modernen Nationalstaates gehört auch die (fast) alles durchdringende „surveillance" zu
den vier Indikatoren der Modernisierung; zum Zusammenhang mit der Demokratie siehe:
Melossi (1990).

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402 Michael Th. Greven

wissenschaftliche Reflexion über „Demokratie" nach wie vor im Stande intellektueller


Unschuld - jedenfalls bei ihren „Freunden". Das Eintreten für Demokratie bedarf
danach keiner Begründung; vor allem aber kommt es ganz ohne Skepsis über deren
mögliche Folgen aus.
Wie problematisch die Doppelgestalt der Modernisierung4 sich auch immer in Ge
schichte und Gesellschaft auszuwirken vermag, in der „Politik" scheint es mit der
„einmal gefundenen Form" des demokratischen Gemeinwesens5 keine Probleme und
keine Ambivalenzen zu geben. Prima facie wird solche Naivität ja auch durch die
Erfahrung gestützt, daß es im 20. Jahrhundert nicht etablierte Demokratien, sondern
ein Mangel an Demokratie oder ihr gänzliches Fehlen gewesen sind, die zu Völkermord,
Ausrottung und Krieg, die zur Unterdrückung individueller Selbstbestimmung in all'
ihren Formen geführt haben. Da scheint die Forderung nach „Demokratisierung" der
Zweiten, der Dritten und im Sinne einer Steigerung auch der Ersten Welt nicht nur
uneingeschränkt empfehlenswertes Ziel, sondern auch angemessenes und bewährtes
Mittel zur Lösung all' jener Probleme zu sein, die man in der westlichen Moderne
gemeinhin „Entwicklungsprobleme" zu nennen pflegt. Es könnte sich aber schon bald
als ein gefährlicher und keineswegs plausibler Umkehrschluß erweisen, die nach den
üblichen Kriterien als „moderne Demokratie" verstandene Regierungspraxis als aus
reichende Barrière gegen moderne Barbarei im Innern der Gesellschaften wie im
Verkehr zwischen ihnen zu betrachten.

Denn bei dieser allgegenwärtigen Denkweise geschieht nach J. Habermas' zutreffende


Analyse folgendes: „Die Modernisierungstheorie nimmt an Webers Begriff der 'Mo
derne' eine folgenreiche Abstraktion vor. Sie löst die Moderne von ihren neuzeitlich
europäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten
Muster für soziale Entwicklungsprozesse überhaupt" (Habermas 1985: 10). Analoge
gilt für den Demokratiebegriff der vorherrschenden „Demokratietheorien"6: unreflek
tiert universalisiert und normativ interpretiert wird ein in ganz spezifischen west-e
ropäischen Geschichtskonstellationen entstandenes und sozio-ökonomisch und kultu
rell überaus voraussetzungsreiches politisches Regime zu einem abstrakten Konzept
von Demokratie überhaupt.
Die Frage, ob die Demokratie modern sei, ist also weder die nach ihrer zureichenden
Akzeptanz unter modernen gesellschaftlichen Verhältnissen, noch stellt sie ihre Zu
gehörigkeit - jedenfalls in ihrer im Westen cum grano salis praktizierten institutionelle
Gestalt - zur Moderne in Frage; vielmehr handelt es sich gerade angesichts der B
wußtwerdung oder -machung der Modernität der Demokratie darum, sich gegen alles

Ich verstehe meine an die Tradition von Max Weber und die Frankfurter Schule anschließ
ende Reflexion über die Zweiwertigkeit von Modernisierungsprozessen weder als anti
noch gar als post-modern, sondern als den reflexiven Aspekt der Modernisierung selbst;
zur strukturalistischen Variante der „Post-Moderne" und ihrer Bedeutung für die politische
Theorie siehe vor allem White (1991), der contre coeur den apolitischen Charakter post-mo
derner Theorien vorführt - was natürlich nur in diesem Zusammenhang ein Einwand gegen
sie sein kann.
Ahnliches gilt für den Staat und die ihm angeblich zukommende „nationale Souveränität"
siehe dazu den interessanten Versuch von Rolf Knieper (1991); zum Zusammenhang zw
schen Modernität und souveränem Staat vor allem 27-47.
Die Anführungsstriche, weil der Terminus ein weites und gänzliches inkohärentes Feld von
„Theorien", die sich irgendwie mit „Demokratie" beschäftigen, umspannt.

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Ist die Demokratie modern ? 403

naive Vertrauen in diesen vermeintlich letzten normativ sicheren Grund auch hier das

Reflexivwerden der Moderne zu vergegenwärtigen.


Ist die Demokratie modern? Die zwangsläufig bejahende Antwort kann und m
heißen, daß auch sie Teil hat an jener schreckenerregenden, ungeheuerlichen Ambi
valenz und Dialektik des Fortschritts, daß uns jedes blinde Vertrauen auf ihre heilend
Kraft angesichts zukünftiger Probleme geraubt wäre, daß wir auch diese „feste Bur
mit dem vielleicht letzten Schritt der Säkularisierung noch verlassen müssen.
Epistemologisch hat die positive Antwort die Konsequenz, daß der verbreitete n
mative Universalismus des Demokratisierungsgebots nicht zu halten ist und auch h
der die Moderne kennzeichnende Pluralismus, d.h. wechselseitige Relativismus u
Partikularismus aller Positionen, die „Demokraten" einholt und sie zum Selbstbewußt
sein und zur Anerkennung eines „demokratischen Dezisionismus" zwingt (Grev
1992).
Das bedeutete im Innern bereits einigermaßen demokratischer Gesellschaften, daß es
keinen ein für allemal geschaffenen Vorrat an zureichenden Gründen und Überzeu
gungen für die Demokratie gibt, auf deren „Geltung" nur zu pochen schon ausreichte,
um ihr reales Fundament in den Überzeugungen und in dem Verhalten der stets neu
hinzukommenden Gesellschaftsmitglieder zu schaffen, zu erhalten oder gar auszu
bauen. Auch die Verselbständigung solcher ja stets und jeweils individuell zu habenden
Überzeugungen zu einer Zivilreligion, etwa in Form des vorgeschlagenen „Verfas
sungspatriotismus" (Dolf Sternberger/Jürgen Habermas), faßt eher einen erwünschten
und funktional notwendigen Verhaltenskodex zu einer Maxime politischer Bildungs
arbeit zusammen, als daß sie eine Gewähr dafür bieten könnte, gegenüber prinzipieller
Kritik und praktisch bloß undemokratischem Verhalten letztlich zu obsiegen.
Im Verhältnis der wenigen „Demokratien" dieser derzeit insgesamt so wenig von
demokratischen Werten tatsächlich beeinflußbaren Staatenwirklichkeit nach außen, zu
den anderen Gesellschaften mit politischen Systemen, die, wie immer sie sich selbst
bezeichnen mögen, noch nicht einmal jenen minimalen normativen Standards an
freiheitlicher Selbstregierung und Achtung der Menschenwürde genügen, mit denen
wir uns im Alltag zufrieden geben, bedeutet die obige Einsicht, daß hinter vielerlei
kreditheischendem Lippenbekenntnis die sogenannten „realpolitischen" Optionen sich
als die zukunftsmächtigeren erweisen könnten. In einer sich zunehmend globalisie
renden7, durch ökonomische Verflechtungen, kommunikative Vernetzung und vor
allem faktische Mobilität nicht nur in einer Richtung gekennzeichneten Welt können
die Rückwirkungen dieser „realpolitischen" Optionen auf die sogenannten „Westlichen
Demokratien" auf Dauer nicht ausbleiben. Deren einseitige säkulare kolonialistische
und imperialistische Penetration fast der gesamten restlichen Welt basierte im wahrsten
Sinne des Wortes auf einer „splendid isolation" vor allen unerwünschten Rückkopp
lungen - und welche wäre neben dem ausbeuterischen Reichtumstransfer und dem
fiktionalen Anregungspotential für Künstler und Ethnologen ehemals schon erwünscht
gewesen. Heute lassen sich die „Rückschläge" dauerhaft durch die trotz des Einsatzes

„If democracy is not to become a political ghetto confined to the territorial state, the
contemporary globalization of capital, labor, and contingency must be shadowed by a
corollary globalization of politics ... What does it mean to say that late modernity is a time
without a corresponding political place?"; Connolly (1991: 215ff.) ist bisher einer der
wenigen, der diese Fragen demokratietheoretisch aufgeworfen hat.

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404 Michael Th. Greven

modernster elektronischer Mittel po


„Festungsbaus" nicht mehr verhinde
Soziologisch folgt aus der Einsicht in
oder gar Kampf für sie nicht, auch n
Heilsgeschehen oder spätchiliastisch
darf, sondern ganz immanent und tr
konkreten Auswirkungen der Ambiv
Bedürfnissen relevanter Bevölkerung
Im Gegensatz dazu würde eine stets w
der Demokratie nur zu einer Varia
ihre auf Emanzipation gerichtete Int
Richard Rorty formulierte „Vorrang
ist in Wirklichkeit ein Vorrang der
lichungsbedingung der Demokratie
Formen der Fremdherrschaft in der Geschichte seit Kleisthenes immer wieder von
dem Interesse, dem Willen, den politischen Ressourcen und dem Erfolg einer ausrei
chenden Zahl von aktiven Menschen abhängig war, so bleibt sie auch heute mehr als
alles andere auf politische Unterstützung angewiesen. Nur was sich in ausreichendem
Maße unmittelbar an Handlungsmotive und nachfolgend Handlungen von mündigen
Individuen anschlösse, als Ergebnis kontingenter Entscheidungen zur und für die
Demokratie im Bewußtsein ihrer Risiken, könnte hier und da der Demokratie eine
Zukunft verschaffen. Ohne diese Verankerung im Handeln nützt auch ein „moralisch
reflexiver Konstitutionalismus" (U.K. Preuß) nichts; die beste Verfassung bleibt auf
Unterstützung angewiesen und versagt angesichts einer Übermacht ihrer Feinde. So
ziologisch ist aber über die Wahrscheinlichkeit der Bedingungen, die Menschen eher
als andere zur Demokratie motivieren, nicht nur zu spekulieren. Allerdings sind die
demokratiebegünstigenden „Strukturen" und „Verhältnisse" ihrerseits als geschicht
liche handlungstheoretisch wiederum kontingent.
Nicht die apersonale Logik von ausdifferenzierten Systemen, sondern die kontingente
Praxis handelnder Individuen hätte die Demokratie stets neu zu „konstituieren" oder
weiter zu entwickeln. „Der normative Kern der Konstitutionstheorien ist die Idee der
Selbstbestimmung", schreibt Hans Joas. „Durch die Verknüpfung mit differenzierungs
theoretischen Überlegungen wird die abstrakte Idee der Selbstbestimmung zu einer
Theorie der Demokratie" (Joas 1992: 347).
Aber was sich in der Theorie zwingend als Schlußfolgerung ergibt, bleibt in der Praxis
realer Gesellschaften prekär oder knappe Ressource: mögen sich Freiheit, Selbstbe
stimmung und Mündigkeit philosophisch oder in kodifizierten Rechten auch präskrip
tiv als das eigentliche Wesen der Menschen auszeichnen lassen, die motivbildende
und handlungsbestimmende Kraft dieser und ähnlich ehrwürdiger Prinzipien hängt
in der Gemengelage konkreter Interessen und gesellschaftlicher Konflikte zumeist von
der Kopplung mit viel profaneren Zielen ab. Deren Realisierung erst gibt in den Augen
von vielen jenen Prinzipien rückwirkend jene der Moderne angemessene „Legitimität",
die nach Max Weber bekanntlich auf einem rationalisierten Glauben beruht. Als un
gerechtfertigt empfundene Besteuerung, Unterdrückung religiöser, ethnischer oder
heute auch national konstituierter Identität, übermäßige Pressung zum Kriegsdienst,
steigende Brot- und fallende Kornpreise und ähnliche Mühsal mehr initiieren seit der

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Ist die Demokratie modem? 405

frühen Neuzeit die revolutionären Prozesse, in deren Verlauf die Menschenrechte und
jene großen Prinzipien entwickelt und institutionalisiert werden, auf die sich die
politische Moderne und die Demokratie normativ berufen. Selbstverständlich produ
zieren sie hernach einen „normativen Überschuß" und verweisen über die Anlässe
ihrer unmittelbaren Entstehung hinaus, aber es muß bezweifelt werden, ob die Ideale
der Demokratie unter allen Voraussetzungen ausreichende Handlungsmotivation für
gesellschaftliche Konstitutionsprozesse ergeben, deren Ergebnis das Prädikat „demo
kratisch" verdient.
Nur die Verächter der Demokratie benutzen solche Hinweise in denunziatorischer
Absicht, vor allem, wenn sie die Proklamation demokratisch-normativer Standards
als „Intellektuellen-Ideologie", als neue Variante des „Priesterbetrugs" an den popu
listischen Pranger stellen, wie dies beispielhaft in Helmut Schelskys großer Schmäh
schrift in den siebziger Jahren geschah (Schelsky 1975). Aber die Anti-Kritik der De
mokraten wird selbst ideologisch, wenn sie die appellative Propaganda der „Demo
kratie" gegen die verständlichen materiellen Lebensnotwendigkeiten und Bedürfnisse
von Menschen ausspielt, denen angesichts von Hunger, Gewalt und allgemeiner Not
das zum Überleben notwendige Hemd näher steht als der anempfohlene demokratische
Rock.

Und es ist höchst fraglich, ob sich das kontingente Entwicklungsmodell der sogenann
ten „Westlichen Demokratien", in denen im 18. und 19. Jahrhundert und teilweise bis
weit in das 20. Jahrhundert hinein Minderheiten in gesellschaftlich-funktionalen
Schlüsselpositionen und auf der Basis eines für sie auch subjektiv realisierten Wohl
standes und Sicherheitsstandards die „Demokratie" als ihre Herrschafts- und Lebens
form durchsetzten, auf Dauer beispielsweise in Indien, China und jetzt gerade Nigeria,
oder auch in wesentlichen Teilen der ehemaligen Sowjetunion wiederholen läßt. Und
was in diesen vier Ländern passiert, betrifft in weniger als einer Generation mehr als
zwei Drittel aller auf der Welt lebenden Menschen und bleibt nicht ohne Rückwirkun

gen auf uns. Keine „Festung Europa" kann dem dauerhaft standhalten und die Rüc
kopplungen der Globalisierung aufhalten.
Die Stabilisierung der demokratischen Regime des Westens über ein Jahrhundert ge
- wo sie überhaupt kontinuierlich gelang! - gegen den auf materieller Depriva
beruhenden Umverteilungsdruck und Sozialprotest „von unten" überwiegend durch
wohlfahrtsstaatliche Inklusion immer weiterer Bevölkerungskreise „von oben". Od
anders gesagt: angesichts des sich als scheinbar unendlich erweisenden industrielle
Wachstums eines entfesselten kapitalistischen Wirtschaftssystems in Verbindung
den angesprochenen globalen Ausbeutungsverhältnissen gab es stets noch genug zu
Umverteilen von „oben" nach „unten", um die Akzeptanz der gegebenen Verhältni
einigermaßen ausreichend zu sichern. Selbstverständlich wurde dabei kaum et
freiwillig gegeben - aber das durch die Arbeiterbewegungen und andere gefordert
Stück vom Wohlfahrtskuchen war doch meistens in ausreichendem Maße vorhanden

und schuf auch politisch die Voraussetzungen zur „demokratischen" Integration des
latent stets systemwidrigen Protests. Wo dies nicht mehr der Fall war, erwiesen sich
die breiten Schichten „unten" genauso wenig als zuverlässige Freunde der Demokratie
wie die ihres einmal erworbenen Besitzes und Status unsicher gewordenen weiter
„oben".
Heute stellt sich die Frage kaum noch, ob jener demokratieförderliche „Wohlfahrts

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406 Michael Th. Greven

Überschuß" in ausreichendem Maße v


maßen vergleichbar günstige sozio-öko
dingungen für demokratische Regime
noch: nicht nur in den vormals als „
henen Vereinigten Staaten von Amerik
absolut Armen und den sich mehr und
Reichen, sondern auch in den paradi
sich für jeden, der es nicht verdränge
Stabilisierung und Integration der D
Wohlstandswachstum zu Ende gehen
richtende Gewalt verbirgt ja, wo sie s
ist, kaum ihren instrumentellen Sinn,
nur mitessende „Fremde", gegen „Para
Sinn, der sich im häufig oberflächli
Ressentiments auf der Straße entläd
ubiquitär wachsenden „gewöhnlichen"
besorgt, was jedem in der alltäglichen
hend verheißen, aber materiell einer w
vorenthalten werden muß - denn daß
und aus ökologischen Gründen nicht g
eigentlich jeder. Deshalb kann auch ein
davor nicht ewig die Augen verschließ
Kurz: der Beweis, daß die westlichen D
kultur auch in Zeiten der Verknappun
verfügbaren materiellen Befriedigung
same Einstellungs- und Handlungsmot
scheinlichkeit, daß die soziokulturel
gleich ungünstigeren Bedingungen in
gering. Der Begriff der „Schönwetter
eine Kampfparole der Anti-Demokrate
gesellschaftlichen Sinnkern, den jene
sollten, denen es wirklich um die Zuk
Natürlich gilt auch der Umkehrschluß
und des sogenannten freien Marktes g
chen: Kapitalismus und Demokratie
äußerst aktuell liest sich, was Max Web
damals noch zaristischen Rußland schr
listischen' Lebenswerte auf Schritt un
Umwelt zu rechnen hat, - so wenig kö

8 Daß die „Schreibtischtäter" in der Prop


einfachen Gewalttätern vorausgehen, be
Kaltenbrunner herausgegebene Band 4
grammatischen Titel: „Schmarotzer brei
Hinweis verdanke ich nicht zufällig mein
lich nach rechts Ausschau hielt, als die
waren!)

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Ist die Demokratie modem? 407

Entwicklung' überlassen werden. Es stün


'Demokratie' und des 'Individualismus', wen
'gesetzmäßige' Wirkung materieller Intere
lich, dem heutigen Hochkapitalismus, wie
in Amerika besteht, - dieser 'Unvermeidlich
- Wahlverwandtschaft mit 'Demokratie' od
sinn) zuzuschreiben, während doch die Fra
Herrschaft, alle diese Dinge überhaupt auf
Und trotz der Länge des Zitats verdient auc
„Sie sind es tatsächlich nur da, wo dauernd
nicht wie eine Schafherde regieren zu lass
materiellen Konstellationen sind wir 'Ind
scher' Institutionen" (Weber 1958: 60 und

4. Demokratie und Rationalität

Waren die bisherigen Überlegungen aus der Perspektive des skeptisch-besorgten De


mokraten formuliert, der angesichts der wachsenden Probleme glaubt befürchten zu
müssen, daß die auf aktive Zustimmung und Loyalität angewiesene demokratische
Lebens- und Regierungsweise in Zukunft Probleme bekommen könnte, ausreichend
Unterstützung zu erfahren, so gibt die konkrete Analyse dieser Probleme Anlaß,
darüber hinaus eine Selbstreflexion des Zusammenhanges von Demokratie und Ra
tionalität auch für sich selber zu beginnen.
Auch wenn die Phrase vom Eigenwert der Demokratie, davon, daß Demokratie nicht
nur Mittel, sondern auch Wert oder Ziel sei, weit verbreitet ist, zeigt genaueres Hin
schauen oder Nachdenken doch schnell deren einer Rationalitätsprüfung zugängliches
instrumentelles Verhältnis zu anderen Werten oder Zielen.

Am stärksten kommt die Behauptung einer wechselseitigen Konstitution von Demo


kratie und emphatisch als „Vernunft" bestimmter Rationalität in jener heute bei Ha
bermas vorläufig kulminierenden, ich möchte sagen, optimistischen Tradition zum
Ausdruck, die mit der Gewährleistung demokratischer Verfahren mehr oder wenig
eine Garantie für die Vernünftigkeit der Politikergebnisse als gegeben anzunehmen
können glaubt; dies ist ja der normative Gehalt der ständigen Formel von den „ratio
nalitätsverbürgenden prozessualen Aspekten demokratischer Verfahren". In Analogi
zum Habermasschen sprachphilosophischen Apriori vom Innewohnen der „Verst
digung als dem Telos der Sprache" und der Gleichsetzung von Verständigung un
Vernunft oder Wahrheit, wird demokratietheoretisch die angestrebte Vernünftigke
der Politikergebnisse teleologisch in die demokratischen Verfahren eingebaut.
Auf dem Hintergrund früherer Kritik (siehe meine Beiträge in Greven 1991 sowie i
Parekh/Pantham 1987) will ich die Einwände nur ganz knapp zusammenfassen: erste
wird der Vernunft- oder Rationalitätsbegriff hier ganz unverständlich von allem Wiss
um seine „Ambivalenz" oder „Dialektik" freigehalten und damit ausgeblendet, da
selbst wenn demokratische Verfahren rationale Politikergebnisse determinieren kön
ten, damit noch keineswegs von ihrer vorbehaltlosen normativen Akzeptabilität aus
zugehen wäre. Dazu gleich mehr. Zweitens führt die Habermassche Analogisierun

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408 Michael Th. Greven

demokratie- und politiktheoretisch


fes von Konsens in Rationalität - s
längst belehren können, daß Konse
Schmitt), manchmal in dem auch b
(Max Weber), manchmal aber eben
fahren zur praktischen Ermöglich
trägt.9 Eben erst haben in „Rest-J
vieler Beeinträchtigungen im einze
Wahlen entsprochen haben - und i
rung und Unterstützung einer gra
sistischen und atavistischen Züg
üblichen Praxis von Wahlen - und
lichkeit"10 ja im Kern jener abstra
die aus politologischer Sicht unre
kratiekonzeption erkennen, die hin
die dominierende Praxis der Demok
Einschätzung des Rationalitätspote
auf nichtidentitärer Repräsentation
gen, die sich weniger der Übereins
mulation strategisch-instrumentel
stemischen Optimismus der Mande
ster in öffentliche oder besser s
prinzipielle Rationalitätszuschreib
pirisch informierten Demokratieb
reich der politischen Theorie de
überzeugte Neoliberale.

9 Auch in seinem neuesten Werk „F


natürlich nicht gerecht werden kan
Begriff der „deliberativen Politik",
Demokratie bei Beachtung eines pro
konform erzielten Ergebnisse die Ve
Dabei geht er von der wiederum ko
parlamentarischer Körperschaften
strukturiert," (373) und auch der allg
traut er die vernunftgenerierende Q
ganze politische Prozeß erscheint in
in der die besten Argumente und die
Interessen, Macht und politischer W
attraktive Utopie!
10 Gegen die optimistische Inanspruc
Melossi (1990:175): „The public is the
of control based on consent - 'socia
democracy." Wohlgemerkt handelt e
rie übliche Kontrollfunktion der Po
Bevölkerung vermittels der Öffentlic
Öffentlichkeit, M.G.) auch - ander
politischen Unschuld, sondern von An
nur die Kritik an Herrschaft, sonder
vollzogen oder jedenfalls legitimie
(1992).

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Ist die Demokratie modem? 409

Vor allem der erste von den drei angespro


kritischen Einwand gegen Habermas' opt
blem einer kritischen Demokratietheorie g
aus Selbstbestimmungs- und Mündigkeitsp
fahren und Rechte hinaus Argumente für
nalität von Politikergebnissen beibringe
schichtlich erst mit der durchgesetzten M
abwendbaren Brisanz gesteigert worden, a
tietheorie verharrt traditionalistisch über
Berücksichtigung von Folgen realisierter
und Nachteile schon für einen Angriff au
selbst hält, oder - und das ist eine in Teile
Weiteres die partizipatorische Steigerung a
Politik ansieht.11 Die geschichtliche Unbef
gungen ist Überhang einer vergangenen E
wicklung noch mehr oder weniger natur
zwar im Sinne der Ereignisgeschichte als be
Entwicklung, in ihren langfristigen Trend
haupt quasi-transzendent vorausgesetzt we
Fortsetzung war nur in eschatologischem
denten in den Gang der Dinge, als Weltenen
war Politik zu allen Zeiten auch für Kat
Hungersnöte subjektiv bestimmtem Hande
immer wieder - und meist zurecht - zuger
tionell eben doch nur verantwortlich für
Zusammenhang nicht zu beeinflussen verm
zudem optimistisch und als Säkularisation
Erlösungshoffnung als „Fortschritt". Daß
doch immer besser ginge, diesen ursprüng
die Aufklärung selbst in ihrer religionskrit
materialisten übernommen und auf der Gr
konnte die grundsätzliche Skepsis daran -
leicht als bloße „Kulturkritik" und als im
werden.

Die ungeheure Mobilisierung der Möglichkeiten durch den technisch-wissenschaftli


chen „Fortschritt", die vor allem im 20. Jahrhundert in der Waffenentwicklung, im
Verkehrswesen und in der Kommunikationstechnologie der Politik gänzlich neuartige
Mittel zur Verfügung gestellt hat, wirkt in Verbindung mit der sich seit einem knappen
Jahrhundert ebenfalls als Modernisierungsfolge explosionsartig entwickelnden demo
graphischen Revolution an einer immensen Ausweitung der qualitativen und quan
titativen Eindringtiefe und zeitlichen Folgenentgrenzung politischer Entscheidungen
mit. Der politische Wille des Zentralkomitees der kommunistischen Partei Chinas

11 Das ist trotz einiger Zusammenhänge nicht zu verwechseln mit den Argumenten vom
Beginn der siebziger Jahre, daß die Demokratie, z.B. innerorganisatorisch, auch effizienter
und effektiver sei als andere Organisationsweisen. Siehe dazu: Naschold (1971).

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410 Michael Th. Greven

betrifft Lebensweise und Entwick


noch vor etwa 80 Jahren überha
knapp die Hälfte ihrer heutigen B
Energieerzeugung und Waffentech
Jahren zum Teil nur um die Hälft
sind inzwischen breit ins öffentli
nur unzureichend, daß im Laufe v
getische Effekte mit großer Wahr
wesentlich beeinflussen und verän
ob Neugeborene dann noch „das Li
neuer Metaphern bedarf, um dere
Mit einem Wort: „Politik" erzeugt
als jemals zuvor in der bisherigen
reich sozialer und individueller
sammenhang.
Die Frage, ob nicht Politik selbst unter diesen Bedingungen zu etwas grundsätzlich
Neuartigem, etwas, das wir bisher kaum zu fassen vermögen, mutiert, drängt sich
auf. Festhalten kann man aber bereits, daß Politik heute in bestimmten Bereichen und
Dimensionen eine Qualität hat, die das, was man die weltgeschichtliche Fehlertoleranz
der natürlichen Umwelt wie der menschlichen Gesellschaften nennen könnte, sprengt
oder zu sprengen droht. Das ist das grundsätzlich Neue - und, daß es uns zunehmend
bewußt wird. Günther Anders sprach hinsichtlich des Verhältnisses des Menschen zu
der von ihm geschaffenen Technik von seiner „Antiquiertheit" (Anders 1980) - gilt
dies nicht inzwischen auch für die Politik? Sind die Menschen individuell und kollektiv

den Möglichkeiten gewachsen, die ihnen politisch heute gegeben sind?


Partizipatorische Demokratietheorie basiert heute auf der präskriptiven Vorausse
zung, daß Mündigkeit die einzige Instanz rationaler Bestimmung von Eigeninteresse
darstellen kann und daß die strategische Verfolgung dieser persönlichen Nutzenfunk
tion über Beteiligungsakte legitim sei. Darüber hinaus schützen menschen- und grun
rechtlich abgesicherte Nichtkontingenzbereiche die Gesellschaftsmitglieder - zumin
dest in der Form normativ gesicherter Berufungsstandards - vor bestimmten Arten
des unmittelbaren politischen Eingriffs. Das ist der Kern der liberalen Demokrat
konstruktion, wie er die Wirklichkeit westlicher Gesellschaften bestimmt. Der erste
Aspekt zielt einigermaßen realistisch auf die Willensbildungsprozesse und Teilhab
rechte, der zweite trifft aber nur unzureichend das oben angesprochene Problem
unerwünschter Politikfolgen. Die Grund- und Menschenrechte waren ja zunächst im
Kampf mit vordemokratischer Herrschaft mühsam errungene Schutzklauseln, „liber
ties"12 gegen Willküreingriffe, und verloren diesen Charakter nach der bürgerlichen
Revolution in der Phase der Etablierung des Rechtsstaates auch nicht.13 Sie schützen

12 Diese „Freiheiten" entstammen keinem natürlichen Recht, sondern sind ein Kampfmittel
zunächst der Könige gegen die „feudale Anarchie", dann gegen diese selbst in den Händen
der Städte und schließlich des Bürgertums; siehe Günther (1979: 64ff.).
13 Walzer (1992) stellt die Entstehung dieser „liberties" eindruckssvoll als die „Kunst de
Trennung" (42) vor und zeigt zugleich die Unvollkommenheit der Konstruktion in der bi
heute unzureichenden „Trennung" zwischen Markt und Staat oder Ökonomie und Politik,
die nur durch „Wirtschaftsdemokratie" und einen „Liberalismus, der in einen demokrati
schen Sozialismus übergeht" (52), weiter verbessert werden könnte.

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Ist die Demokratie modem? 411

gegen gesetzeswidrigen Eingriff des Sta


den Folgen schädlicher Politik. Versuche
neuartigen Probleme, etwa im Sinne ein
bleiben demgegenüber appellativ.
Dieser Mangel wird angesichts der neuar
mehr dadurch aufgehoben, daß in der
mindestens idealiter als selbstverursacht
müssen. Dieser Vorstellung liegt ein han
wortung und Verantwortbarkeit zugrun
Praxis ethisch oder politisch deshalb z
Möglichen als absehbar und kalkulierbar
eine Partei über diese oder aber über sei
soll sich hernach nicht beschweren - un
eine andere wählen. Hier bleibt die Nutz
rende Subjekt bezogen, und schon bei
Revidierbarkeit oder Kompensation bestim
von der alterierenden Parteienregierun
punkt der strukturellen, längerfristigen
tikfolgen bleibt die ganze Konstruktion
Unverantwortbarkeit, denn die im Wahl
wünschter Effekte auf vorangegangenes
der überwiegend individualisierten Ra
Kompliziertheit und teilweise auch gänzl
eine bloß symbolische Deutung, die zwar
rungsgesichtspunkt relevant ist. Systemth
Verhältnisse durch die Reduzierung d
diffuser Legitimation, deren Entkopp
Vorzug einschätzt.15 Mit der Behauptung
- wenn auch überwiegend nicht-intendie
scher Logiken, macht sie den Schritt vo
schen Konstruktivismus.

Für eine anspruchsvollere Perspektive der Demokratie, die nicht nur Legitimations
beschaffung, sondern auch noch problemlösende Politikproduktion umfaßt, sind das
genau zwei Schritte zuviel. Ein solches Programm muß also zwischen der Scylla eines
konsensualistischen Rationalitätsaprioris und der Charybdis eines inhaltslosen Auto
referenzialismus auf unsicherem Grunde und hart an jenem freiheitlichen Winde er
segelt werden, der nach Max Webers Erkenntnis vom Beginn des Jahrhunderts von
Westen, „von jenseits des Meeres" weht (Weber 1958: 61).
Aber auch ohne den Nachvollzug dieser beiden Schritte ist inzwischen unausweichlich
davon auszugehen, daß Demokratie vernünftige Problemlösungen oder rationale P
litikergebnisse nicht garantieren kann; mehr noch: in einer modernen Gesellschaft mit

14 Siehe zur Kritik dieses „myth of political representation" wiederum Zolo (1992: 54ff.).
15 Das Argument seit Luhmann (1965) unverändert; jüngst wieder in Willke (1992), der aber
vielleicht sogar noch einen Schritt weitergeht, wenn er behauptet, daß die „eine, allgemeine,
'letzte' Legitimationsgrundlage" von Politik als der „Operationalisierung von Willkür"
nicht in der Demokratie, sondern in der „Staatsidee" zu suchen sei (ebd., 30f.).

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412 Michael Th. Greven

wissenschaftlich-technologisch gen
gehört Demokratie selbst zu den
deshalb gegen sie votieren wollte
bedenken, daß alle anderen mode
ohne doch ihre Vorzüge zu besitzen
Risiken betrieben werden, die sie se
oder noch besser: skeptisch.
Die unvermeidbare Ambivalenz, die
Moderne nicht abschütteln kann, b
Bürgertypus zutreffend benannte,
„Die Einsicht, daß die Geltung der e
unerschrocken für sie einzustehen,
baren" (Rortyl989: 87 und III)17.

Literaturverzeichnis

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York.
Anders, Günther, 1980: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde., München, 5. erw. Aufl.
Bauman, Zygmunt, 1992: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg.
Beck, Ulrich, 1991: Politik in der Risikogesellschaft, Frankfurt a.M.
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Ithaca/London.
Eisenstadt, Shmuel, 1964: Social Change, Differentiation and Evolution, in: American Sociological
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Gerstenberger, Heide, 1993: Verantwortung und Moral, in: Mittelweg 36, 2. Jg, 65-71.
Giddens, Anthony, 1985: The Nation-State and Violence, Oxford.
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Jürgen Habermas, in: ders. (Hrsg.), Macht in der Demokratie, Baden-Baden, 213-238.
Greven, Michael Th., 1992: Über demokratischen Dezisionismus, in: D. Emig/C. Hüttig/L. Raphael
(Hrsg.), Sprache und Politische Kultur in der Demokratie, Frankfurt a.M. u.a.
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Welt, Frankfurt a.M.
Habermas, Jürgen, 1985: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M.
Habermas, Jürgen, 1992: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M.
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Frankfurt a.M.
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Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hrsg.), 1981: Schmarotzer breiten sich aus. Parasitismus als Lebens
form, Freiburg.

16 So faszinierend Zolo (1992), die Traditionalismen der politischen Theorie dekonstruiert, so


sehr verkennt seine eigene „realistische" Bestimmung der Politik deren Gefährlichkeit:
„Within this fresh perspective the political system is seen as a social structure which fulfils
the essential function of reducing fear through the selective regulation of social risks"
(180f.). Haben denn Kriege, Rüstungswahnsinn, Staatsterrorismus, Ausbeutung etc. ihre
Ursache nicht auch im „politischen System"?!
17 Dort auch das Schumpeter-Zitat.

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Ist die Demokratie modem? 413

Knieper, Rolf, 1991: Nationale Souveränität, Fr


Luhmann, Niklas, 1965: Legitimation durch V
Marx, Karl, 1964: Zur Kritik der Hegeischen R
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Melossi, Dario, 1990: The State of Social Con
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Naschold, Frieder, 1971: Organisation und Dem
Rorty, Richard, 1988: Der Vorrang der Demok
Objektivität?, Stuttgart, 82-125.
Rorty, Richard, 1989: Kontingenz, Ironie und
Schelsky, Helmut, 1975: Die Arbeit tun die a
Intellektuellen, Opladen.
Walzer, Michael, 1992: Zivile Gesellschaft und
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Politische Schriften, Tübingen, 2. erw. Aufl.
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Willke, Helmut, 1992: Ironie des Staates, Frankf
Zolo, Danilo, 1992: Democracy and Complexit

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