Sprachwandel
Sprachwandel
1 Einleitung
Das heutige Standarddeutsch verfügt über hochgradig entwickelte (grammatika-
lisierte) Satztypen, d.h. ausdrucksseitige Repräsentationen von elementaren Il-
lokutionen: Behauptungen, Fragen und Aufforderungen sowie ferner auch Wün-
schen und Ausrufen (s. Altmann 1987, 1993, Meibauer 1999, Hengeveld 2004).
Formal werden neben dem deklarativen, interrogativen und imperativen auch
der optative und der exklamative Funktionstyp1 (sog. Satzmodus) markiert.
Tabelle 1 zeigt jedoch, dass sich die einzelnen Formtypen im Deutschen auf
komplexe Weise ergeben – und zwar aus der Kombination von morphologischen,
syntaktischen und intonatorischen Eigenschaften, die für sich genommen unein-
deutig sind (Altmann 1987, 1993). So reicht die Zweitstellung der finiten (indika-
tivischen) Verbform allein nicht zur eindeutigen Markierung eines Deklarativsat-
zes aus, da sie bspw. auch in Interrogativsätzen (genauer: Ergänzungsfragen)
auftritt, die ebenfalls mit fallender Intonation geäußert werden. Erst durch
die Besetzung der präfiniten Position (durch das Subjektspronomen bzw. das
w-Wort) werden beide Strukturen unterschieden:
1 Bei den Funktionstypen handelt es sich um die strukturelle Bedeutung der einzelnen Satz-
typen, die vom sprachlichen und außersprachlichen Äußerungskontext unabhängig ist. Nur
wenn die konkrete Verwendungssituation passt, wird bspw. ein Deklarativsatz Sie kommt nach
Mainz ‚gerade‘, d.h. als direkter assertiver Sprechakt interpretiert. Bei indirekten Sprechakten er-
folgt die ‚ungerade‘ Interpretation, d.h. eine Anpassung der Äußerungsbedeutung an den Kon-
text. So kann derselbe Satz zum Ausdruck des Versprechens verwendet werden (Altmann 1993:
1008ff.).
Satztyp und Sprachwandel 739
Sie kommt nach Mainz. Wer kommt nach Mainz? Wer da doch immer nach Mainz kommt!
Deklarativsatz E-Interrogativsatz Exklamativsatz
Verb-Zweit-Stellung Verb-Zweit-Stellung
+ satzinitialer w-Ausdruck satzinitialer w-Ausdruck
Der Sprachwandel, der zur Herausbildung der Satztypen geführt hat, umfasst
eine Reihe von unabhängigen Prozessen wie Verfestigung der Verbposition oder
Obligatorisierung der Subjektspronomina. In Anlehnung an Ronneberger-Sibold
(1991) kann man also die Satztypen als Ergebnis einer „Verschwörung“ heteroge-
ner Entwicklungen betrachten.
3.1 Reihenfolgeeigenschaften
Für die neuhochdeutschen (nhd.) Satztypen spielt die Verbstellung eine zentrale
Rolle. Dies spiegelt auch die Terminologie wider, die zwischen drei verbstellungs-
bezogenen Satzformen unterscheidet (Altmann 1993):
Verb-Zweit-Satz: Ich wasche mir die Hände, Wer wäscht sich hier die Hände?
Verb-Erst-Satz: Wasch dir die Hände!, Wäschst du dir die Hände?
Verb-Letzt-Satz: Ich frage mich, ob sie heute kommt.
742 Renata Szczepaniak
(2) Ich habe gehört, [dass sie nach Mainz kommt]. (Deklarativsatz)
Die Verb-Letzt-Stellung grenzt die illokutiv unselbstständigen Sätze von den selbst-
ständigen ab. Zu betonen ist aber, dass sie kein zuverlässiger Marker der illoku-
tionären Unselbstständigkeit ist, da sie in Kombination mit einem entsprechen-
den Einleitungselement und intonatorischen Merkmalen auch in selbstständigen
Sätzen möglich ist, z.B. Ob sie wohl nach Mainz kommt? oder Wenn sie nur nach
Mainz käme! Zugleich ist die Verb-Erst- und Verb-Zweit-Stellung in unselbststän-
digen Sätzen nicht ausgeschlossen, was man bspw. im Falle der vorangestellten
Verb-Erst-Konditionalsätze auf ihre Entstehung aus direkten Fragesätzen zurück-
führen kann, z.B. Wäre er rechtzeitig gekommen, hätten wir den früheren Zug neh-
men können (s. Abschnitt 4). Darüber hinaus sind bei Verben des Sprechens und
Denkens Verb-Zweit-Objektsätze möglich (Ich dachte, sie kommt rechtzeitig).2
Die Distribution der Verbstellung in selbstständigen Sätzen ist äußerst
komplex. Beschränkt man sich jedoch auf die drei Hauptfunktionstypen, so
zeigt sich eine gegensätzliche Verteilung der Verb-Erst- und Verb-Zweit-Stellung
(s. Tabelle 2): Das Verb steht in Deklarativsätzen, die – vereinfacht gesagt – die
Welt beschreiben, gewöhnlich an zweiter Stelle. Spitzenstellung markiert Ent-
scheidungsinterrogativ- und Imperativsätze, die den Wunsch des Sprechers zum
Ausdruck bringen, dass etwas der Fall sein möge. Die Endstellung ist in Hauptsät-
zen für besondere Aufgaben reserviert: So drücken Verb-Letzt-Interrogativsätze
deliberative Fragen aus, die keine Antwort erfordern. Imperativische verbfinale
dass-Sätze werden verwendet, um eine bekannte Aufforderung zu bekräftigen,
z.B. Dass du mir ja bald nach Hause kommst! (s. Artikel 10 in diesem Band und
Abschnitt 4).
2 Die uneingeleiteten V2-Objektsätze stellen indirekte Aussagesätze dar, deren Illokution vom
Sprechaktverb im Hauptsatz (nicht vom Sprecher wie in unabhängigen Sätzen) bestimmt wird.
Satztyp und Sprachwandel 743
Diese Struktur wird im Mhd. selten verwendet, lebt dann aber Ende des 15. Jhs.
wieder auf und ist im Frühnhd. reichlich belegt (Maurer 1924: 183, Behaghel 1932:
37ff., Önnerfors 1997: 10, 224–231, Axel 2007). Heute kommt sie u.a. in Witzen –
keinesfalls nur an deren Anfang – vor, z.B. Fragt ’ne Ameise ’nen Elefanten oder
Kommt ein Mann zum Arzt. Sie ist jedoch nicht auf Witze beschränkt, sondern
wird v.a. in der gesprochenen Sprache gebraucht, um in narrativen Texten Ex-
pressivität zu erzeugen (Önnerfors 1993, 1997):
(5) Ich wurd dann hier als Peppone bezeichnet. Kommt ein Kumpel, das Kir-
chenblatt hat er mir gebracht. (aus Önnerfors 1997: 101)
Zu Beginn der deutschen Sprachgeschichte existierte noch die Option, das Verb
im Deklarativsatz später bzw. sogar am Satzende zu platzieren. Diese Strukturen
sind v.a. in älteren Sprachdenkmälern des 9. Jhs. (Isidor, Tatian) bezeugt (Schrodt
2004: 201, Ramers 2005, Axel 2007: 201, Lötscher 2009). Die häufigste Abwei-
chung ist die Verb-Dritt-Stellung, die durch die Voranstellung von unbeton-
ten Pronomina, z.B. ih ‚ich‘ in (6), und Adverbien, Satzadverbien oder Adver-
bialphrasen entsteht, vgl. (7).
(7) thaz giscrib iz êristen uuard gitan / In syriu (…) (T 35, 10–11)
diese Aufzeichnung zum ersten Mal wurde gemacht in Syrien
‚Diese Aufzeichnung wurde zum ersten Mal in Syrien (…) gemacht.‘
In Schriften von Notker und Williram (d.h. im 10. und 11. Jh.) kommt die Verb-
Spät- oder Verb-End-Stellung nur noch sehr selten vor (Näf 1979, Brodführer
1906). Im Mhd. gerät sie schließlich fast außer Gebrauch und tritt eher metrisch
bedingt in poetischen Werken auf. Im 15. und 16. Jh. wird sie von Humanisten und
lateinisch Gebildeten als Ausdruck des gehobenen Sprachstils gebraucht (Lenerz
1985b, Ebert 1986, Ebert et al. 1993).
Außer Betracht bleibt in dieser Darstellung der Positionswandel der infiniten
Prädikatsteile, da sie keine satztypunterscheidende Funktion übernehmen, vgl.
Sie ist nach Mainz gekommen vs. Ist sie nach Mainz gekommen? Die zunehmende
Tendenz zur Distanzstellung führt im Frühnhd. zur Herausbildung der Haupt-
satzklammer (s. u.a. Schildt 1976, Härd 22003).
rhetorische Fragen. Diese haben vielmehr eine assertive Funktion und bringen
die Stellung des Sprechers zum Gesagten (z.B. Verwunderung) zum Ausdruck,
z.B. thu bist meistar / israhelo Inti thu niuueist thiz ‚Du bist der Lehrer Israels und
du weißt das nicht?‘ (T 197, 4–5, zitiert nach Petrova/Solf 2009: 20). Interessanter-
weise sind solche sog. assertiven Fragen, in denen eine für Interrogativsätze typi-
sche steigende Intonation mit der Verb-Zweit-Stellung kombiniert wird, auch im
heutigen Deutsch in spezifischen Kontexten zugelassen (Altmann 1993: 1022). Sie
werden als Rück- oder Nachfragen genutzt, wenn der Hörer eine Äußerung nicht
verstanden hat, z.B. Die Bayern spielen schlecht?, oder wenn er sich wundert wie
in Du gehst einkaufen? oder Du weißt es nicht? Eine authentische, d.h. nicht
auf eine lateinische Übersetzungsvorlage zurückführbare Verb-Spät-Stellung ist
schon im Ahd. kaum belegt.
Die Obligatorisierung der Verb-Zweit-Stellung in Ergänzungsfragen (w-Inter-
rogativsätzen) ist bereits im Ahd. sehr weit fortgeschritten. Eine davon abwei-
chende Spät-Stellung des Verbs ist äußerst selten belegt. Petrova/Solf (2009) zäh-
len insgesamt fünf Belege aus dem Isidor und Tatian auf. Bei Notker kommt das
Verb (wie im heutigen Deutsch) bereits regelmäßig nach dem w-Ausdruck (Näf
1979: 162ff.).
Direkte Fragesätze mit einleitendem ob sind seit dem Ahd. belegt. Im Tatian
steht das Verb bis auf wenige Ausnahmen nach dem Subjekt (Bernhardt/Davis
1997: 61f.), während die von Paul (252007: 431) zitierten selbstständigen ob-Frage-
sätze im Mhd. bereits die heute obligatorische Verb-Letzt-Stellung aufweisen.
(10) Mittelhochdeutsch: op sîn wirt iht mit im var? (Pz 23, 11)
‚War sein Gastgeber nicht mit ihm?‘
(12) uuio uuunderlih din namo ist in allero uuerlte (NP 29.3)
‚Wie herrlich dein Name ist in der ganzen Welt‘
Aus der bisher einzigen systematischen Untersuchung von Näf (1992) geht hervor,
dass die Verbstellung in den eingeleiteten Exklamativsätzen im Mhd. variabel ist.
So tritt das finite Verb in Gottfried von Strassburgs „Tristan und Isold“ (um 1210)
in drei Viertel aller eingeleiteten Exklamativsätze an zweiter Stelle (vgl. nhd. Wie
laut ist es hier!). Dabei ist die Verb-Zweit-Stellung auf den häufigsten Typus, den
wie-eingeleiteten Exklamativsatz beschränkt, während die (viel weniger frequen-
ten) daz- und waz-Sätze die Nachzweitstellung verlangen. Zum Nhd. hin setzte
sich nur in den dass-Sätzen die Endstellung durch, während die wie-, aber auch
was-Sätze Verb-Zweit- und Verb-Letzt-Stellung zulassen.
In nicht-eingeleiteten Optativsätzen herrscht seit dem Ahd. die Spitzenstel-
lung des Verbs, s. (13). In den wenigen Belegen für daz-eingeleitete Optativsätze
ist die Später- bzw. Endstellung des Verbs anfänglich nicht zwingend (Wunder
1965, Paul 252007: 431).
b. ohne Moduspartikel
Bist thu helias (T 47,12)
‚Bist du Elias?‘
lat.: helias es tú
3 Primär dienen Modalpartikeln dazu, auf eine präsupponierte, jedoch nicht explizit versprach-
lichte Proposition zu verweisen. So drückt die partikelhaltige Äußerung Deutsch ist eben schwer
aus, dass sich der Sprecher auf die präsupponierte (d.h. vorausgesetzte) Proposition ‚Deutsch ist
schwer‘ bezieht, die er im aktuellen Diskurs für relevant hält und sie daher äußern möchte (Die-
wald 2007).
750 Renata Szczepaniak
Meibauer 1994: 104–131, Molnár 2002: 112). Mit ihrer Obligatorisierung wird doch
(neben bloß und nur) zum satztypkonstituierenden Merkmal der optativen Verb-
Letzt-Sätze und trägt dazu bei, den Optativ- vom Konditionalnebensatz zu unter-
scheiden, s. (19)-(20).
Die Modalpartikel nur ist seit dem 16. Jh. in abhängigen dass-Objektsätzen belegt,
die einen Wunsch ausdrücken (Ich wolte, dasz ich nur todt wäre) und seit dem
17. Jh. in Verb-Erst-Wunschsätzen (o hett ich nur gethan kein sünd; s. Diewald 1997:
96). Auch die jüngste der drei Partikeln, bloß, die erst im 19. Jh. entstanden ist,
wird allmählich in die optative Struktur eingebunden (Diewald 1997: 87).
Die Herausbildung der Verb-Letzt-Optativsätze ist bisher nicht systematisch
erforscht. Die Grammatiken weisen darauf hin, dass der heute wenig gebrauchte,
veraltete dass-Satz seit dem Ahd. existiert (s. Abschnitt 3.1.4 und 3.2.2). Über die
Entwicklung des wenn-Satzes liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Es ist zu
vermuten, dass seine Entwicklung eng mit der Obligatorisierung der Modalparti-
keln einhergeht.
Doch, bloß, nur können (mit Einschränkung) als Optativpartikeln bezeichnet
werden. Im Gegensatz zu voll ausgebildeten Moduspartikeln sind sie nicht auf
diesen Satzmodus beschränkt: Bloß und nur gehören zu der Partikelgruppe, die
im dass-Verb-Letzt-Imperativsatz auftreten müssen. Nur kann fakultativ auch in
w-Interrogativsätzen verwendet werden.
Satztyp und Sprachwandel 751
Im Nhd. setzen sich Imperativsätze von allen anderen Satztypen dadurch ab, dass
die Setzung des Subjektspronomens bei Verben in der 2. Person nicht obligato-
risch ist und emphatisch wirkt, vgl. Koch bitte die Suppe! vs. Du koch die Suppe!
oder Koch du die Suppe! In allen anderen Satztypen hat sich das Subjektsprono-
men zum obligatorischen Teilmarker entwickelt. Es wird nicht nur referenziell
verwendet, d.h. um auf einen spezifischen Referenten wie sie in (21) zu verwei-
sen, sondern auch nicht-referenziell, v.a. in Verbindung mit unpersönlichen Ver-
ben wie in (22) und sogar als syntaktischer Platzhalter wie in (23)-(25).
(22) Es regnet.
Das frühe Ahd. gehört aufgrund der häufigen Nullrealisierung der Subjektspro-
nomina (sog. Nullsubjekte) zu den (zumindest partiellen) pro-drop-Sprachen
(Held 1903, Eggenberger 1961, Harbert 1999, Axel 2005, Szczepaniak 22011). Sub-
jektlose Sätze sind zu Beginn der deutschen Sprachgeschichte nicht auf be-
stimmte Satztypen beschränkt. Das Nebeneinander von subjektlosen und sub-
jekthaltigen Strukturen betrifft alle Sätze, auch die Imperativsätze.
Die zunehmende Durchsetzung der Subjektspronomina verläuft jedoch u.a.
syntaktisch gesteuert. Zum einen setzen sich overte Subjekte in unselbstständi-
gen Sätzen früher durch als in selbstständigen. Im ahd. Isidor sind nur 9 % aller
Nebensätze subjektlos, während sich im Hauptsatz die overten und Nullsubjekte
die Waage halten. Bei Otfrid enthalten schon ca. 75 % aller Hauptsätze ein overtes
Subjekt. Obwohl die Obligatorisierung der referenziellen Subjektspronomina im
Spätahd. schon weit fortgeschritten ist, sind subjektlose Hauptsätze vereinzelt
noch im 17. Jh. belegt (Volodina 2009). Zum anderen ist die Nichtrealisierung der
752 Renata Szczepaniak
Im Nhd. können mit dass verbfinale Imperativ-, Optativ- und Exklamativsätze ge-
bildet werden. Zur Einleitung von realen und irrealen Optativsätzen wird dass (in
Kombination mit einem Verb im Konj.Präs. bzw. Konj.Prät.) schon im Ahd. ver-
wendet. Bei Otfrid stehen solche Wunschsätze in Parenthesen, d.h. sie werden in
einen Trägersatz als Schreiberkommentar eingeschoben (Wunder 1965: 234ff.,
Greule 1998). Aufgrund der breiten Semantik von ahd. daz, das u.a. auch Final-
nebensätze einleiten kann, sind Optativsätze häufig von Finalnebensätzen nicht
formal zu trennen, vgl. ahd. iltun al bi gahin thaz sie nan gisahin ‚Sie eilten alle so-
fort, um ihn zu sehen‘ (O II 14,94). Im folgenden Beispiel (28) kann der daz-Satz
Satztyp und Sprachwandel 753
(28) Thaz det er, thaz thu iz uuessis, thih thara ingegin rustis,
uuant er hiar in libe thin ahtit io zi nide. (O II 3, 61–62)
‚Das tat er, dass du es nur wüsstest, dass du dich gegen ihn rüstest,
weil er dich hier in diesem Leben aus Neid verfolgen wird.‘
dikativ auf.
(31) Exklamativsatz: daz dû niht eine wîle mohtest bîten! (Wa 83, 11)
‚Dass du nicht etwas warten konntest!‘
Zur Einleitung von Exklamativsätzen ist wie seit dem Ahd. belegt (Näf 1979,
Schrodt 2004: 204, Lühr 2009):
(32) uuio uuunderlih din namo ist in allero uuerlte (NP 29.3)
‚Wie herrlich dein Name ist in der ganzen Welt‘
Im Mhd. ist wie die häufigste Einleitung für Exklamativsätze. So beobachtet Näf
(1992), dass mehr als drei Viertel aller siebzig Exklamativsätze in Gottfried von
Strassburgs „Tristan und Isold“ (um 1210) das satzinitiale wie enthalten, während
daz- und v.a. waz-Sätze selten auftreten.
Selbstständige Fragesätze mit einleitendem ob sind bereits seit dem Ahd. be-
legt (s. Abschnitt 3.1.4). Gleichzeitig dient ob auch als Subjunktion für indirekte
Fragesätze und Konditional- und Konzessivsätze (Dal 31966: 214f., Wunder 1965:
282ff.). Abschnitt 4 wird näher auf die Entstehung der selbstständigen ob-Verb-
Letzt-Sätze eingehen.
754 Renata Szczepaniak
Aufgrund von vielen Synkretismen tragen die verbalen Flexionsformen heute nur
geringfügig zur Konstituierung der Satztypen bei (Altmann 1993). Dies betrifft
nicht nur den Konjunktiv I, der bis auf die 3.Sg. mit dem Indikativparadigma über-
einstimmt (eine Ausnahme bildet das Verb sein). Auch im Indikativ Präsens sind
alle Formen bis auf 1. und 2.Sg. uneindeutig, so dass das Subjektspronomen (wenn
vorhanden) zur Disambiguierung herangezogen wird, z.B. wir/sie kommen, sie/
er/ihr kommt. Darüber hinaus stimmt die 2.Pl. im Indikativ und Imperativ (kommt)
überein. Durch die e-Apokope fallen 1.Sg.Präs.Ind. und 2.Sg.Imp. bei starken Ver-
ben ohne Hebung (ich komm’ und komm!) und bei schwachen Verben formal zu-
sammen. Da die Imperativformen damit uneindeutig sind, reichen sie allein nicht
aus, um Imperativsätze zu markieren.
Die heutigen Synkretismen entstehen im Laufe der Sprachgeschichte als Re-
sultat von phonologischen und morphologischen Ausgleichprozessen. Dagegen
enthalten die ahd. verbalen Flexionsparadigmen nur ganz wenige uneindeutige
Formen: Betrachtet man zunächst Tabelle 3 horizontal, so stellt man fest, dass sich
die Indikativ- und Konjunktivformen im Präsens und Präteritum (heute Konj. I und
II) nie formal überschneiden. Im Unterschied zum heutigen Deutsch ist der Kon-
junktiv formal deutlich vom Indikativ getrennt. Nur vertikal treten gleiche Formen
in der 1. und 3. Sg.Prät. Ind. (suohta) und in der 1. und 3. Sg.Prät. Konj. (suohti) auf.
Die Abschwächung der Nebensilben, die sich in der Reduktion der unbetonten
Vokale zu Schwa, z.B. ahd. suochu > nhd. suche (1.Sg.Ind.Präs.), im Abbau
der dreisilbigen Formen, z.B. ahd. suocheme–s > mhd. suochen > nhd. suchen
(1.Pl.Ind.Präs.) und in der Vereinfachung von auslautenden Konsonantenclus-
tern, z.B. ahd. suochent > mhd. suochent > nhd. suchen (3.Pl.Ind.Präs.) äußerte,
führte letztendlich dazu, dass schon im Mhd. die meisten der heutigen Synkretis-
men entstanden sind.
Vergleicht man jedoch die Beteiligung der einzelnen Verbmodi an der Bil-
dung von Satztypen, so stellt man fest, dass sich diese vom Alt- zum Nhd. nur ge-
Satztyp und Sprachwandel 755
ringfügig geändert hat (Petrova 2008). Es sind drei bewahrende bzw. innovative
Entwicklungen vom Alt- zum Nhd. hervorzuheben:
Zweitens: In Imperativsätzen tritt im Ahd. neben dem Imperativ auch der Kon-
junktiv Präsens auf. Im folgenden Beispiel fordert der Engel Josef auf, das Leben
Jesu zu beschützen. Im ersten Satz steht das Verb im Imperativ, die Folgesätze
enthalten hingegen den Konjunktiv Präsens, der heute mit dem Modalverb sollen
wiedergegeben werden kann:
Der Konjunktiv I wird im heutigen Deutsch nur noch in den Imperativsätzen der
3.Sg. (den sog. „Heischesätzen“) verwendet, wobei er hier in der Umgangsspra-
che durch die 2.Sg.Imp. abgelöst wird (Altmann 1993: 1014):
(37) Sage mir keiner/Sag mir keiner, er hätte nichts gewusst! (Altmann 1993:
1014)
Drittens: Adhortative Aufforderungen werden im Ahd. mit der anfangs noch ein-
deutigen Form der 1.Pl.Präs.Konj. gebildet (Petrova 2008: 105). Mit dem formalen
Zusammenfall mit der 1.Pl.Präs.Ind. verliert der Adhortativsatz (38) dieses flexions-
morphologische Merkmal, so dass er sich heute vom E-Interrogativsatz (39) und
V1-Exklamativsatz (40) nur noch durch zum Teil feine intonatorische Merkmale
unterscheidet. Beim Verb sein wird die formal distinkte Konjunktivform seien in
756 Renata Szczepaniak
4 Theoretische Probleme
Vor dem Hintergrund, dass sich die Verb-Letzt-Stellung in der deutschen Sprach-
geschichte allmählich zum Merkmal der syntaktischen Abhängigkeit entwickelt
hat, wird die Existenz der selbstständigen Verb-Letzt-Sätze besonders interes-
sant. Dabei wird in der Forschungsliteratur zur synchronen Syntax vielerorts
darauf hingewiesen, dass diese Sätze nicht als elliptisch anzusehen sind, d.h. sie
werden nicht durch die Tilgung eines übergeordneten Satzes abgeleitet (zur Über-
sicht s. Artikel 10 in diesem Band). Zur historischen Entwicklung der Verb-Letzt-
Sätze fehlen bisher entsprechende Untersuchungen. Historische Daten sprechen
jedoch dafür, dass sich diese Satztypen allmählich und nicht etwa abrupt durch
die Ellipse des Trägersatzes herausgebildet haben. Dies wird im Folgenden am
ob-Verb-Letzt-Interrogativsatz gezeigt.
Im Ahd. leitet ob sowohl selbstständige als auch unselbständige Fragesätze
ein (s. Abschnitt 3.1.4 und 3.2.3). Es dient also einerseits als Interrogativpartikel in
Entscheidungsfragesätzen, anderseits als Subjunktion. Interessanterweise unter-
scheiden sich beide Satztypen hinsichtlich der Verbstellung: In selbstständigen
ob-Fragesätzen folgt das Verb im Ahd. dem Subjekt, während die eingebetteten
Fragen Spätstellung des Verbs aufweisen. Zudem leitet ob im Ahd. Konditional-
und Konzessivsätze ein (Wunder 1965, Bernhardt/Davis 1997).
(43) Konditionalsätze:
Thia hant duat si furi sar, ob iaman ramet es thar (O III 1, 35)
‚Ihre Hand hält sie [=die Mutter] davor, wenn jemand es [=das Kind] angreift.‘
Satztyp und Sprachwandel 757
(44) Konzessivsätze:
Ob ih iz sagen (…) iu, ir ni giloubet thoh bi thiu (O III 22, 15)
‚Auch wenn ich es euch sage, so glaubt ihr mir dennoch nicht.‘
(45) Mittelhochdeutsch: op sîn wirt iht mit im var? (Pz 23, 11)
‚War sein Gastgeber nicht mit ihm?‘
Zum anderen nimmt er – möglicherweise unter dem Einfluss des formalen Wan-
dels – die Funktion einer deliberativen Frage auf, auf die keine Antwort erwar-
tet wird, z.B. Ob sie noch ihre Brille trägt? (= ‚Ich möchte wissen/Ich frage mich
selbst, ob sie noch ihre Brille trägt‘, s. Artikel 10 in diesem Band). Diese teilt er
heute mit dem formal ähnlichen w-Verb-Letzt-Interrogativsatz (Wen sie wohl ein-
lädt? = ‚Ich frage mich, wen sie einlädt‘). Wie Truckenbrodt (Artikel 10 in diesem
Band) beobachtet, unterscheidet sich die Gruppe der selbstständigen Verb-Letzt-
Sätze in ihrer Verwendungsweise von Verb-Erst- und Verb-Zweit-Sätzen. Die pro-
758 Renata Szczepaniak
5 Zusammenfassung
Der Sprachwandel führt zur Herausbildung von Satztypen, die auf mehreren Ebe-
nen, d.h. auf komplexe Weise markiert werden. Es bilden sich mehrere ambige
Satztypmarker heraus, die in Kombination den Ausdruck von Satzmodi leisten.
Die indirekte (koverte) Markierung löst die ältere Schicht von Moduspartikeln
ab, die einst ein overtes (direktes) Satzmodussystem bildeten. Während im Ahd.
noch die Interrogativpartikel inu allein den Satzmodus signalisieren konnte, wird
der E-Interrogativsatz heute durch die Kombination aus (1) der Verb-Erst-Stel-
lung, (2) dem postfiniten Subjekt(spronomen), (3) der indikativischen Verbform
und (4) dem steigenden Intonationsverlauf konstituiert. Damit stellen Satztypen
komplexe grammatische Konstruktionen zum Ausdruck des Satzmodus dar.
Die Herausbildung von Satztypen stellt eine Grammatikalisierung dar, in der
sich für bestimmte Funktionstypen Ausdrucksformen entwickeln. Dabei weisen
einzelne Satzmodi unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade auf: Am weites-
ten fortgeschritten ist die Grammatikalisierung im Bereich des deklarativen Satz-
modus. Für diesen wird im unmarkierten Fall der V2-Deklarativsatz verwendet.
Für die zwei weiteren Grundmodi, den interrogativen und den imperativen, ste-
hen ebenfalls weit entwickelte Formen zur Verfügung. Der Ausdruck von Ausru-
fen und Wünschen ist hingegen sehr variabel, d.h. am wenigsten grammatikali-
siert.
Interessanterweise bilden Satztypen mit Merkmalen der syntaktischen Ab-
hängigkeit (dass, ob, wenn und w-Ausdrücke als Einleiter + Verb-Letzt-Stellung)
eine Makrostruktur, die mit Randfunktionen assoziiert wird. Die bisher uner-
forschte Entwicklung dieser Form-Funktion-Korrespondenz wirft spannende Fra-
gen auf, die zu künftigen Aufgaben der historischen Syntax gehören.
Satztyp und Sprachwandel 759
6 Literatur
6.1 Primärliteratur
Er = Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. v. M. G. Scholz. Übers. v. S. Held. Frankfurt/Main 2004.
I = Der althochdeutsche Isidor. Nach der Pariser Handschrift und den Monseer Fragmenten.
Neu hrsg. v.H. Eggers. Tübingen 1964.
NB = Notker der Deutsche: Boethius „De consolatione philosophiae“. Hrsg. v. P.W. Tax.
Tübingen 1986.
NMC = Notker der Deutsche: Martianus Capella „De nuptiis philologiae et Mercurii“. Hrsg.
v. J.C. King. Tübingen 1979.
NP = Notker der Deutsche: Der Psalter. Hrsg. v. P.W. Tax. Tübingen 1979.
NL = Das Nibelungenlied. Hrsg., übers.u. m. e. Anh. vers. v.H. Brackert. 26. Aufl. Frankfurt/Main
2000.
O = Otfrid von Weissenburg: Evangelienbuch. Hrsg. und bearb. v. W. Kleiber u. Mitarb.
v. R. Heuser. Tübingen 2004.
Pz = Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mhd. Text nach der 6. Ausg. v. K. Lach-
mann. Übers. v. P. Knecht. Einführung zum Text v. B. Schirok. Berlin/New York 1998.
T = Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56. Hrsg.
v. A. Masser u. Mitarb. v. E. De Felip-Jaud. Göttingen 1994.
Wa = Walther von der Vogelweide. Hrsg. v. K. Lachmann. 13., aufgrund der 10. v. C. v. Kraus
bearb. Ausg. neu hrsg. v.H. Kuhn. Berlin 1965.
6.2 Sekundärliteratur
Renata Szczepaniak