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EINE INKLUSIVE SPRACHE ENTWI- stattfinden können.

Wie Erwachsene Kinder und Ju-


CKELN gendliche ansprechen, hat nämlich Auswirkungen
auf deren Identitätsentwicklung. Oft werden Wörter
Eine kritische Reflexion der Wirkung von und Formulierungen unbewusst benutzt, ohne deren
Sprache auf die Identitätsentwicklung Wirkung auf diejenigen, die sie hören, zu berücksich-
von Kindern1 tigen. Als Erwachsene, die mit Kindern und Jugend-
lichen leben und arbeiten, sind wir hier besonders
Seyran Bostancı herausgefordert. Zum einen müssen wir reflektieren,
wie Sprache wirken kann, zum anderen brauchen wir
Wir wollen übrigens das Wort nicht verachten. Es ist ein Wissen darüber, welche Bedeutung bestimmte
doch ein mächtiges Instrument, es ist das Mittel, durch Begriffe haben und welchem historischen Kontext sie
das wir einander unsere Gefühle kundtun, der Weg, auf entstammen.
den anderen Einfluss zu nehmen. Worte können un-
sagbar wohl tun und fürchterliche Verletzungen zufü-
gen. (Freud 1976, Band XIV, S. 214, zitiert nach Wo- Sprache transportiert gesellschaftliche
dak 1989, S. 1). Bewertungen

Worte können „Balsam für die Seele“ sein – und sie Kinder bekommen von Geburt an Rückmeldungen
können „im Herzen weh“ tun. Sie können jemanden aus ihrer Umgebung, die ihnen etwas über sie selbst
bestärken und einladen, oder brüskieren und aus- und andere Menschen sagen. Es sind bewertende
schließen. Sprache ist mächtig: Ausgrenzung findet Botschaften, mit denen Kinder früh gesellschaftli-
häufig in sprachlicher Form ihren Ausdruck. Sie kann che Normalitätsvorstellungen und Hierarchien er-
aber auch dazu beitragen, Inklusion zu realisieren. lernen. Über unser Sprechen erhalten Kinder Bot-
Inklusion verstanden in einem weiten Sinne als Bil- schaften über sich, über andere, über die Welt. Wir
dungskonzept, das auf Bildungsgerechtigkeit zielt, können durch Sprache mitteilen, wen wir als zugehö-
indem Unterschieden zwischen Kindern und Famili- rig und wen als nicht zugehörig definieren. So kann
en mit Wertschätzung begegnet und Herabwürdigun- beispielsweise die wiederkehrende Frage „Woher
gen eine klare Absage erteilt wird. kommst du?“ bei Kindern das Gefühl hervorrufen,
Dieser Beitrag möchte aufzeigen, welche Wir- nicht selbstverständlich als Teil der (Klassen- oder
kung inklusive beziehungsweise exkludierende Spra- Kita-)Gemeinschaft zu gelten. Auch Etiketten wie
che auf Kinder hat – auf ihre Bildungsprozesse und „I-Kind“ (Intergrationskind) oder „Schüler*in mit
auf ihre Identitätsentwicklung –, und warum ein be- Migrationshintergrund“ können bei den Kindern das
wusster Umgang mit Sprache – eine inklusive Spra- Gefühl von Abwertung hervorrufen und sie somit in
che – angeraten ist. ihrem Selbstwertgefühl schwächen, was wiederum
Im Fokus steht die Frage, wie Erwachsene Kin- zu Lernblockaden führen kann. Inzwischen steht
der und Jugendliche durch Sprache stärken und fest – auch die Hirnforschung belegt das: Zugehörig-
dafür sensibel gemacht werden können, wie durch keitsgefühl, Wohlbefinden und Lernerfolge sind eng
Sprechweisen Herabwürdigungen und Ausschluss miteinander verbunden. Die oben genannten Begrif-
fe können in bestimmten Fällen zu einer sinnvollen
Unterscheidung beitragen, zum Beispiel, wenn es um
die Finanzierung zusätzlicher Fördermittel geht, wo-
1  Der Artikel ist eine überarbeitete Fassung aus: Seyran
bei die Sinnhaftigkeit dieses Systems weiterhin hin-
Bostancı / Petra Wagner (2013): Sprache und Identitätsent-
terfragt werden sollte.
wicklung, in: Dokumentation zur Fachtagung – Materialien
für die Fortbildung, DVS: 3. Baustelle Inklusion. „Worte tun im
Herzen weh“ Die Dokumentation ist als DVD erhältlich unter:
https://baustelle2013.kinderwelten.net/

Institut für den Situationsansatz/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.): Inklusion in der Fortbildungspraxis: Lernprozesse zur
Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Ein Methodenhandbuch. Verlag wamiki, 2018. www.vorurteilsbewusst.de
Mittels Sprache wird nicht einfach auf neutrale Wei- jektiv „vollständig“ zum Ausdruck gebracht, dass in
se das benannt, was in der Lebenswelt existiert. Das ihrer Familie alles seine Richtigkeit habe. Obwohl für
erkennen wir, wenn wir versuchen, eine Beobachtung beide Kinder wahrscheinlich ihre gegenwärtigen Fa-
sachlich wiederzugeben. Es gelingt uns kaum, weil milienkonstellationen so, wie sie sind, „richtig“ sind,
wir schnell bewerten, was wir wahrnehmen. bekommen sie die Botschaft, dass die eine Konstella-
tion „normal“ sei und die andere nicht.
Eine Erzieherin läuft durch den Flur und beobachtet, wie Ein dritter Grund, warum sprachliche Äußerun-
ein vierjähriges Mädchen im Bad hin- und herläuft und gen immer auch Bewertungen enthalten, liegt darin,
Papiertücher ins Waschbecken legt, während Wasser dass es eine Rolle spielt, in welcher Position wir sind,
aus dem Hahn fließt. Ihre ersten Gedanken sind: Das wenn wir etwas sagen: Haben wir Deutungsmacht in
Mädchen treibt Schabernack und geht mit den Papier- dem Sinne, dass wir „etwas zu sagen“ haben, oder
tüchern verschwenderisch um. Ich muss schnell zu ihr zählt unsere Stimme nicht? Sind wir in der Mehrheit
eilen und sie stoppen! Auf dem Weg zum Bad kommt und anderen überlegen, oder gehören wir zur Min-
sie ins Nachdenken und fragt sich, ob sie vielleicht vor- derheit, sind gar alleine und damit schutzlos? Damit
schnell die Situation bewertet habe. Dort angekommen, machen bereits Kinder Erfahrungen:
fragt sie das Mädchen zunächst, was sie mache. Es ant-
wortet: „Jemand hat vergessen, das Wasser auszuma- Ben beschwert sich bei der Erzieherin darüber, dass an-
chen, und ich versuche hier, alles zu trocknen.“ dere Kinder „Schokokeks“ zu ihm sagen. Er hat bereits
gesagt, dass er das nicht möchte, aber die anderen ma-
Dieses Beispiel zeigt, wie schnell Erwachsene Hand- chen weiter und ärgern ihn damit. Eine Idee: Er soll zu
lungen von Kindern bewerten können. Ohne die den anderen Kindern auch etwas sagen, zum Beispiel
Reflexion, dass Kinder auch gute Gründe für ihr „Vanille“. Ben probiert es aus – und erntet Gelächter.
Handeln haben, können unsere Interpretationen ein- Diese Bezeichnung belustigt die anderen Kinder, die in
seitig bleiben. Unsere Wahrnehmungen werden ge- der Mehrheit sind; Ben ist das einzige Kind mit braunem
filtert durch unsere Vorannahmen, unsere Werte und Hautton.
Normen, auch unsere Vorurteile. Es muss mühsam
geübt werden, Beobachtungen von Bewertungen zu Bezeichnungen für Menschen oder Gruppen von
trennen, wovon alle ein Lied singen können, die sich Menschen unterscheiden sich in der Wirkung von
mit „Gewaltfreier Kommunikation“ beschäftigen. anderen sprachlichen Mitteln. Worte, die sich in
Außerdem ist die Sprache selbst nicht neutral, abwertender Weise auf Aspekte der Identität eines
sondern enthält gesellschaftlich tradierte Vorstel- Menschen beziehen, treffen ins Herz: Wenn herabge-
lungen von dem, was normal ist und was nicht. Mit würdigt oder verlacht wird, was mich ausmacht und
der Verwendung dieser sprachlichen Mittel werden ich gar nicht ändern kann wie meine →„Hautfarbe“,
jeweilige Vorstellungen zur Geltung gebracht und meine Familienkonstellation, mein Geschlecht, mei-
nicht nur, indem explizit gesagt wird, dieses oder ne Körpergröße, meine Behinderung, bin ich hilflos
jenes sei normal und anderes nicht. Es geschieht und traurig. Wenn es sogar als Begründung dafür he-
häufig implizit, beispielsweise durch Formulierun- rangezogen wird, mich auszuschließen, kann ich ver-
gen wie „Lena hat nur eine Mutter“ oder „Aleyna zweifeln. Geschieht es mir als Kind, habe ich schlech-
hat eine vollständige Familie“. In diesen Aussagen te Chancen, ein positives Selbstbild zu entwickeln.
stecken gesellschaftliche Vorstellungen von einer Hierbei kommt Erwachsenen eine große Verant-
sogenannten „richtigen“ Familie: Das Bild einer Fa- wortung zu, die Botschaften zu erkennen, die eine
milie, die aus Mutter, Vater, Kind besteht. Das in der schädigende Wirkung auf die Identitätsbildung von
Beschreibung von Lenas Familie signalisiert, dass in Kindern haben können, und ihnen etwas entgegen-
ihrer Familie vermeintlich jemand fehlt, dass ihre zusetzen. Es erfordert, sich in erster Linie im eigenen
Familie angeblich nicht komplett sei. Bei Aleynas Handeln kritisch zu reflektieren.
Familienbeschreibung wiederum wird durch das Ad-

Institut für den Situationsansatz/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.): Inklusion in der Fortbildungspraxis: Lernprozesse zur
Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Ein Methodenhandbuch. Verlag wamiki, 2018. www.vorurteilsbewusst.de
„Darf man denn gar nichts mehr sagen?“ che Weise tun. Also eine Feststellung, die für Kinder
das gedankliche Spektrum öffnet, was alles möglich
Darüber gibt es allerdings keinen Konsens. Manche sein kann. Das geht allerdings nur, wenn unser ei-
sagen: „Das ist doch vollkommen übertrieben! Die genes Vorstellungsspektrum weit ist: „Es ist normal,
Kinder nehmen das gar nicht so wahr. Man soll doch dass wir verschieden sind.“ Eine Kollegin hat berich-
nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen!“ Und ande- tet, dass sie häufig sage: „Manche Menschen machen
re: „Ich unterwerfe mich doch keiner Zensur!“, oder: es so, manche Menschen machen es so.“ So heranzu-
„Ich lasse mir doch wegen der Political Correctness gehen, ohne zu bewerten, hilft tatsächlich, nicht so
nicht vorschreiben, was ich sage.“ Daraus spricht der leicht von „normal“ und „abweichend“ zu sprechen.
Widerstand, Diskriminierung und Ausgrenzung zur Inklusive Sprache erfordert daneben klare Wor-
Kenntnis zu nehmen. Und auch die Abwehr, sich in te, wenn Herabwürdigungen im Spiel sind – um ihre
Kinder hineinzuversetzen. identitätsbeschädigenden Auswirkungen nicht hin-
Kinder sind eben erst dabei, ihr Selbstbild und zunehmen. Ein kleines Beispiel, in dem dies der Er-
ihre Bilder von anderen zu konstruieren. In diesem zieherin gut gelungen ist:
Prozess können sie nicht anders, als Informationen
über sich, über ihre Familie, über andere Menschen Mittagessen in der Kita, es gibt kleine Fleischbällchen.
und Gruppen von Menschen auf aktive und eigensin- Levon bekommt sie mit der Gabel nicht aufgespießt, ei-
nige Weise zu verarbeiten. Sind die Botschaften über nige Fleischbällchen flutschen weg und fallen vom Teller
sie selbst abwertend, so sind sie ein direkter Angriff auf den Tisch. Sein Tischnachbar Samuel sagt: „Hihi,
auf ihr Selbstwertgefühl. Sind die Botschaften über der macht das alles falsch!“ Levon ist sichtlich verunsi-
andere abwertend, so erleben Kinder früh, ihnen chert, er hört auf zu essen. Er schaut zur Erzieherin. Sie
überlegen zu sein. Beides, Minderwertigkeits- wie spürt, dass er jetzt ein Signal von ihr braucht. Sie sagt:
Überlegenheitsgefühle, beschädigen die Möglichkei- „Es gibt kein richtig oder falsch, es ist nur ein bisschen
ten für ein solidarisches Miteinander. was danebengegangen. Weil’s mit der Gabel schwer
Eine inklusive Sprache hat nichts mit Zensur ist, die Bällchen aufzuspießen, nicht wahr?" Daraufhin
zu tun. Es geht darum, zu verstehen, dass bestimmte möchte Levon lieber mit einem Löffel essen. Andere Kin-
Worte und Redeweisen in bestimmten Kontexten dis- der ziehen nach, essen ebenfalls mit Löffeln.
kriminieren und ausgrenzen. Der Widerstand dage-
gen, das anzuerkennen, hat vermutlich unterschied- Man kann Fleischbällchen so oder so essen, in der
liche Ursachen. Eine ist vielleicht Unsicherheit, was Tat. Erzieher*innen berichten, dass Kinder sich in
ich stattdessen sagen soll. Oder ein Unbehagen, weil der Folge durchaus auch bei ihren eigenen Aushand-
ich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die ver- lungen an solchen Botschaften orientieren. Damit ist
wendeten Bezeichnungen Abwertungen transportie- viel gewonnen: Kinder sind Herabwürdigungen nicht
ren, die ich gar nicht beabsichtigt habe. mehr ausgeliefert, weil sie ein verbales Repertoire
zur Verfügung haben, um zu widersprechen. Sie kön-
nen darüber hinaus mit dafür sorgen, dass auch ande-
Sprache und Empowerment re vor Herabwürdigung geschützt werden.

Worte können wohltun und bestärken. Was kenn-


zeichnet Worte, die wir brauchen, um eine inklusive, Inklusive Sprache ist nicht alles – aber wichtig!
das heißt vorurteilsbewusste Sprache zu entwickeln?
Pädagogische Fachkräfte brauchen selbst Klar- Eine weitere Ebene, die häufig Verunsicherung her-
heit darüber, was sie im Umgang miteinander anstre- vorruft ist die Überprüfung von Bezeichnungen für
ben, und sie müssen es verbalisieren können. In der bestimmte Merkmale: zum Beispiel die Beschrei-
Situation hilft ein sprachliches Repertoire, um aus- bung von →„Hautfarben“ entlang der Farbskala. So
zudrücken, dass Menschen Dinge auf unterschiedli- sind die Bezeichnungen →Schwarz und →weiß als

Institut für den Situationsansatz/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.): Inklusion in der Fortbildungspraxis: Lernprozesse zur
Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Ein Methodenhandbuch. Verlag wamiki, 2018. www.vorurteilsbewusst.de
Bezeichnungen zu verstehen, wenn wir über Un- immer wieder in Aushandlungs- und Reflexions-
gleichheitsphänomene sprechen wollen. Der Ver- prozesse darüber zu begeben, welche Wirkungen
zicht zum Beispiel auf den Gebrauch des →N-Worts sprachliches Handeln hat, gerade im Machtverhältnis
oder ähnlicher verletzender Worte beruht nicht auf zwischen Erwachsenen und Kindern. Und sich dann
„Gutmenschentum“, sondern auf der bewussten Ent- bewusst für andere Sprachverwendungen entschei-
scheidung, nicht dazu beitragen zu wollen, Menschen den, wenn die Vermutung naheliegt oder wir darauf
weiterhin zu verletzen. hingewiesen werden, dass Worte wehtun.
Eine inklusive Sprache ist wichtig, weil sie ver-
hindern hilft, dass Ausgrenzung und Herabwürdi-
gung in Alltagssituationen stattfinden. Eine inklusi- Literatur:
ve Sprache meint nicht nur das einmalige Ersetzen -- Wodak, Ruth (1989): Sprache und Macht: Sprache und
bestimmter Worte durch andere. Sondern eher: Sich Politik, Wien: Österreichischer Bundesverlag

Institut für den Situationsansatz/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.): Inklusion in der Fortbildungspraxis: Lernprozesse zur
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